Westfälische Forschungen, Band 63-2013: Sportgeschichte als Gesellschafts- und Kulturgeschichte am Beispiel Westfalens 3402153963, 9783402153963

Die Sportgeschichtsschreibung hat sich in den letzten etwa zwanzig Jahren sehr verändert. Längst wird sie nicht mehr vor

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German Pages 558 [559] Year 2013

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INHALT
SPORTGESCHICHTE ALS GESELLSCHAFTSUND KULTURGESCHICHTE AM BEISPIEL WESTFALENS
125 JAHRE PROVINZIALORDNUNG FÜR WESTFALEN – HISTORISCHE UND AKTUELLE PERSPEKTIVEN
WEITERE BEITRÄGE
TAGUNGSBERICHT
PROJEKT
JAHRESBERICHTE 2012
ZEITSCHRIFTENSCHAU
BUCHBESPRECHUNGEN
Band 61
Band 62
Vorschau auf Band 64
Vorschau auf Band 65
Die Westfälischen Forschungen in der Digitalen Bibliothek des Aschendorff Verlages
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Westfälische Forschungen, Band 63-2013: Sportgeschichte als Gesellschafts- und Kulturgeschichte am Beispiel Westfalens
 3402153963, 9783402153963

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.. WESTFALISCHE FORSCHUNGEN 63/2013

Zeitschrift des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte

Themenschwerpunkt: Sportgeschichte als Gesellschaftsund Kulturgeschichte am Beispiel Westfalens Herausgegeben von Olaf Stieglitz

Herausgegeben von Bernd Walter und Thomas Küster

Geschäftsführende Redaktion: Thomas Küster

Die „Westfälischen Forschungen“ erscheinen in Jahresbänden. Bezug durch jede Buchhandlung. Manuskripte bitte an das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte Karlstraße 33, 48147 Münster Weitere Informationen im Internet unter: www.lwl-regionalgeschichte.de © 2013 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54, Abs. 2 UrhG werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wargenommen. Gesamtherstellung: Griebsch & Rochol, Hamm

ISBN 978-3-402-15396-3

INHALT

SPORTGESCHICHTE ALS GESELLSCHAFTSUND KULTURGESCHICHTE AM BEISPIEL WESTFALENS Olaf Stieglitz: Michael Krüger: Harald Lönnecker:

Jörn Esch: Lorenz Peiffer/ Henry Wahlig: Stefan Goch: Uwe Wick: Anke Strüver:

Die Bedeutung der Region für eine Sozial- und Kulturgeschichte des Sports Sportgeschichte in Westfalen als lokale und regionale Kulturgeschichte „Turner-Führer“ – Akademische Turnvereinigungen in Münster und ihre Vorstellungen von gesellschaftlicher Elite vom 19. Jahrhundert bis zum Ende der Weimarer Republik Die Geschichte des deutschen Fußballs zwischen Region und Nation. „Subjektivierungsregimes“ und „Formen der Ausarbeitung“ im Kaiserreich Die Geschichte des jüdischen Sports in Westfalen vor und während der NS-Zeit Zwischen Mythos und Selbstinszenierung: Fußball im Ruhrgebiet und das Image der Region „Der Roten Erde größte Stadt“ – Dortmund als westfälische Sportmetropole Münster − Eine Stadt im Zeichen des Sports: Die „laufende“ Konstruktion von städtischem Sportraum

1 15

37 57 77 103 119 141

125 JAHRE PROVINZIALORDNUNG FÜR WESTFALEN – HISTORISCHE UND AKTUELLE PERSPEKTIVEN

Ewald Frie:

Begrüßung und Eröffnung

159

Provinz – Staat – Nation. Über Potentiale von Verwaltung und Selbstverwaltung

165

Podiumsgespräch und Diskussion: „Der LWL – Verantwortung und Herausforderungen eines modernen Dienstleisters für die Region“

177

IV

Inhalt

WEITERE BEITRÄGE Dieter Gewitzsch: Markus Köster: Birgit Bernard: Ralf Blank:

Eine Straße als kommunales Gemeinschaftsprojekt. Der Chausseebau von Lüdinghausen über Selm und Bork nach Lünen 1850-1870 Fotografien von Front und Heimatfront – Der Erste Weltkrieg in Bildsammlungen aus Westfalen „... daß den Reichssender Köln einwandfreie Persönlichkeiten leiten“ – Personalpolitik am Westdeutschen Rundfunk 1933-1935 „Battle of the Ruhr“. Luftangriffe auf das Ruhrgebiet 1943

201 241 295 319

TAGUNGSBERICHT Verena Christina Spicker:

Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert

343

PROJEKT Marcus Weidner:

Online-Datenbank zur Straßenbenennungspraxis in Westfalen und Lippe während des Nationalsozialismus (http://www.strassennamen-inwestfalen-lippe.lwl.org) – ein Werkstattbericht

351

NACHRUF Bernd Walter:

Karl Teppe 1943-2012

361

V

Inhalt

JAHRESBERICHTE 2012 Karl Ditt/Bernd Walter:

LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte

369

Burkhard Beyer/ Sebastian Watermeier:

Historische Kommission für Westfalen

377

Vera Brieske:

Altertumskommission für Westfalen

381

Christiane Cantauw:

Volkskundliche Kommission für Westfalen

386

Rudolf Grothues:

Geographische Kommission für Westfalen

390

Markus Denkler:

Kommission für Mundart- und Namenforschung Westfalens

395

LWL-Literaturkommission für Westfalen

399

Walter Gödden:

ZEITSCHRIFTENSCHAU Klaus Schultze:

Ausgewählte Beiträge zur geschichtlichen Landeskunde Westfalens in Periodika des Jahres 2012

405

BUCHBESPRECHUNGEN

Politische Geschichte, Verwaltungs- und Rechtsgeschichte Jürgen Brautmeier/ Kurt Düwell/ Ulrich Heinemann/ Dietmar Petzina (Hg.):

Heimat Nordrhein-Westfalen. Identitäten und Regionalität im Wandel, Essen 2010 (B. Brunner)

445

VI Wulff E. Brebeck/ Frank Huismann/ Kirsten John-Stucke/ Jörg Piron (Hg.): Paul Leidinger:

Sabine Mecking:

Inhalt

Endzeitkämpfer. Ideologie und Terror der SS, Berlin/München 2011 (J. Mühlenberg) Von der karolingischen Mission zur Stauferzeit. Beiträge zur früh- und hochmittelalterlichen Geschichte Westfalens vom 8.-13. Jahrhundert, Warendorf 2012 (O. Meiners) Bürgerwille und Gebietsreform, Demokratieentwicklung und Neuordnung von Staat und Gesellschaft in Nordrhein-Westfalen 1965-2000, München 2012 (J. Bellers)

Georg Mölich/Veit Veltzke/ Bernd Walter (Hg.): Rheinland, Westfalen und Preußen. Eine Beziehungsgeschichte, Münster 2011 (E. Trox) Werner Paravicini (Hg.): Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Grafen und Herren, 2 Teilbde., Ostfildern 2012 (M. Hecht) Julia Volmer-Naumann: Bürokratische Bewältigung. Entschädigung für nationalsozialistisch Verfolgte im Regierungsbezirk Münster, Essen 2012 (B. Weber) Ansgar Weißer: Die „innere“ Landesgründung Nordrhein-Westfalens. Konflikte zwischen Staat und Selbstverwaltung um den Aufbau des Bundeslandes (1945-1953), Paderborn 2012 (J. Brautmeier)

447

449

453 454 459

461

464

Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Jens Adamski (Hg.):

Kirsten Bernhardt: Susanne Hilger:

Gewerkschaftlicher Wiederbeginn im Bergbau. Dokumente zur Gründungsgeschichte der Industriegewerkschaft Bergbau 1945-1951, Essen 2012 (M. Frese) Armenhäuser. Die Stiftungen des münsterländischen Adels (16.-20. Jahrhundert), Münster 2012 (R. Klötzer) Kleine Wirtschaftsgeschichte von Nordrhein-Westfalen. Von Musterknaben und Sorgenkindern, Köln 2012 (Th. Küster)

468 471 473

VII

Inhalt

Atsushi Kataoka/ Regine Mathias/ Pia-Tomoko Meid/ Werner Pascha/ Shingo Shimada (Hg.): Michael Prinz:

Jochim Scholtyseck:

„Glückauf“ auf Japanisch. Bergleute aus Japan im Ruhrgebiet, Essen 2012 (M. Frese) Der Sozialstaat hinter dem Haus. Wirtschaftliche Zukunftserwartungen, Selbstversorgung und regionale Vorbilder: Westfalen und Südwestdeutschland 1920-1960, Paderborn 2012 (K. Fehn) Die Geschichte der National-Bank 1921 bis 2011, Stuttgart 2011 (S. Hilger)

475

478 481

Stadt- und Ortsgeschichte Jörn Brinkhus: Mirko Crabus:

Mirko Crabus: Harald Dierig: Werner Freitag (Hg.) (unter Mitarbeit von Dörthe Gruttmann und Constanze Sieger):

Luftschutz und Versorgungspolitik. Regionen und Gemeinden im NS-Staat, 1942-1944/45, Bielefeld 2010 (H. Lensing) Fürsorge und Herrschaft. Das spätmittelalterliche Fürsorgesystem der Stadt Münster und die Trägerschaft des Rates, Münster 2013 (L. Schütte) Kinderhaus im Mittelalter. Das Leprosorium der Stadt Münster, Münster 2013 (L. Schütte) Der leidvolle Weg zu einem neuen Zuhause. Ostdeutsche Heimatvertriebene im Landkreis Münster nach 1945, Münster 2013 (J. Kuropka)

Geschichte der Stadt Billerbeck, Bielefeld 2012 (N. Damberg)

484

486 486 489

490

Volker Jakob/ Stephan Sagurna:

Zeitenwende. Aspekte der westfälischen Fotografie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, Bönen 2012 (G. Strotdrees) Manfred Lück/Willy Meise: Walstedde. Entwicklung einer mittelalterlichen Kulturlandschaft, Münster 2011 (O. Meiners) Rico Quaschny (Hg.): Friedrich Wilhelm IV. und Bad Oeynhausen. Eine Spurensuche zum 150. Todestag des preußischen Königs, Bielefeld 2011 (H. Conrad)

493 497 500

VIII Daniel Stracke Marcus Termeer:

Inhalt

Monastische Reform und spätmittelalterliche Stadt. Die Bewegung der Franziskaner-Observanten in Nordwestdeutschland, Münster 2013 (L. Schütte) Münster als Marke. Die „lebenswerteste Stadt der Welt“, die Ökonomie und ihre Vorgeschichte, Münster 2010 (K. Minner)

501 503

Wissenschaft Gerd Dethlefs/PeterIlisch/ Stefan Wittenbrink (Hg.):

Daniel Droste: Werner Herold (Hg.):

Westfalia Numismatica 2013. Festschrift zum 100-jährigen Bestehen des Vereins der Münzfreunde für Westfalen und Nachbargebiete e.V., Osnabrück 2013 (W. Reininghaus) Zwischen Fortschritt und Verstrickung. Die biologischen Institute der Universität Münster 1922 bis 1962, Münster 2012 (U. Hunger) Reinher von Paderborn − Computus Emendatus: Die verbesserte Osterfestberechnung von 1171, Paderborn 2011 (H. Conrad)

Hans-Ulrich Thamer/ Daniel Droste/Sabine Happ (Hg.): Die Universität Münster im Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Brüche zwischen 1920 und 1960, 2 Bde., Münster 2012 (U. Hunger)

507 510 508

510

Biographie Martin Dröge (Hg.): Thomas Flammer/ Werner Freitag/ Alwin Hanschmidt (Hg.):

Ulf Morgenstern:

Die biographische Methode in der Regionalgeschichte, Münster 2011 (B. Brunner) Franz von Fürstenberg. Aufklärer und Reformer im Fürstbistum Münster. Beiträge der Tagung am 16. und 17. September 2010 in Münster, Münster 2012 (G. Dethlefs) Bürgergeist und Familientradition. Die liberale Gelehrtenfamilie Schücking im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn 2012 (B. Weber)

513

515 518

IX

Inhalt

Kultur und Sprache Markus Denkler (Hg.): Anselm Heinrich: Jürgen Kloosterhuis (Hg.):

Gunter Müller:

Claudie Paye:

Daniela Twilfer:

Münsterländische Nachlassinventare aus der Frühen Neuzeit. Edition mit Einleitung und Registern, Frankfurt a.M. 2013 (L. Schütte) Theater in der Region. Westfalen und Yorkshire 1918-1945, Paderborn 2012 (K. Dussel) Streifzüge durch Brandenburg-Preußen. Archivische Beiträge zur kulturellen Bildungsarbeit im Wissenschaftsjahr 2010, Berlin 2011 (H. Conrad) Westfälischer Flurnamenatlas, 5. Lfg., bearb. im Auftrag der Kommission für Mundart- und Namenforschung Westfalens, Bielefeld 2012 (L. Schütte) „Der französischen Sprache mächtig“. Kommunikation im Spannungsfeld von Sprachen und Kulturen im Königreich Westphalen 1807-1813, München 2013 (A. Bethan) Dialektgrenzen im Kopf. Der westfälische Sprachraum aus volkslinguistischer Perspektive, Bielefeld 2012 (T. Smits)

521 523

525

527

530 533

Nachbarregionen Gerd Steinwascher/ Detlef Schmiechen-Ackermann/Karl-Heinz Schneider (Hg.): Geschichte Niedersachsens, Bd. 5: Von der Weimarer Republik bis zur Wiedervereinigung, Hannover 2010 (K. Schultze)

536

Autorinnen und Autoren

542

X

Inhalt

SPORTGESCHICHTE ALS GESELLSCHAFTS- UND KULTURGESCHICHTE AM BEISPIEL WESTFALENS

Olaf Stieglitz

Die Bedeutung der Region für eine Sozial- und Kulturgeschichte des Sports Sport zwischen Moderne und Postmoderne „Alle sporten sie jetzt;“, schrieb 1927 der Film- und Literaturkritiker Siegfried Kracauer in einem Essay für die Frankfurter Zeitung, „Winters und Sommers in ihren Kostümen. ... Die Sportsaisons, die zahlreicher als die Jahreszeiten sind, werden von Hotels im Zeichen prächtigen Sportwetters eröffnet. Der Sport greift in die höchsten Kreise, selbst Könige wohnen rasensportlichen Veranstaltungen bei ... Seit der Sport so epochal geworden ist, wissen die Menschen endlich, was sie anfangen sollen. ... Was haben die Menschen früher gemacht, ehe es einen Sport gab?“1 In einer Vorbemerkung der Redaktion hieß es damals, Kracauers Groteske geißele den „unbegrenzte[n] Anspruch des Sports und seine phantastische Ideologie“, sie bestätige aber auch „seine unleugbare Bedeutung als ein bestimmender Zug für die Physiognomie der Zeit.“2 Mehr als ein halbes Jahrhundert später fiele die Verwunderung des Intellektuellen noch größer aus. Seit einigen Jahrzehnten forcieren die Freizeit-, Gesundheits- und Fitnessindustrien hierzulande die Rede vom unter Bewegungsarmut leidenden Körper zu immer umfassender werdenden Verhaltensnormen. Die Kultur- und Sportwissenschaftlerin Gabriele Klein hat das so formuliert, dass „der hyperaktive Körper ... sich in selbstaufopfernder, selbstkontrollierender Weise und auch in einer Art vorauseilendem Gehorsam einem Leistungsparadigma [unterwirft], das die Gesellschaft noch gar nicht von

1

2

Siegfried Kracauer, Sie sporten, in: ders., Schriften, Bd. 5.2: Aufsätze 1927–1931, hg. von Inka Mülder-Bach, Frankfurt a. M. 1990, S. 14–18, hier S. 14; vgl. auch Gabriele Klein, Körper, Bewegung und Subjekt. Zur historischen Genese des Sports in der europäischen Moderne, in: Bettina Kratzmüller u.a. (Hg.), Sport und Identitätskonstruktion, Wien 2007, S. 94–103, hier S. 102. Kracauer, Sie sporten, S. 18.

2

Olaf Stieglitz

ihm fordert – und dies nicht selten mit Hilfe von technischen Mitteln und künstlichen Präparaten.“3 Sport und die Bilder vom Sport sind heute omnipräsent, in allen erdenklichen Darreichungsformen. Sport treiben und/oder Sport konsumieren sind bedeutende Elemente im Leben vieler Menschen. Sie „sporten“ gemeinsam in Vereinen oder Sportstudios oder gehen allein nach einem langen Arbeitstag laufen oder klettern. Sie orientieren sich dabei an Leistung, Erholung, Geselligkeit oder Gesundheit, und oft genug investieren sie in ihren Sport viel Zeit und Geld. Anlässlich großer Sportereignisse trifft man sich vor Großbildleinwänden, oder man reist den Mannschaften und Stars hunderte von Kilometern weit nach. „Sport verbindet“, heißt es, und gerade beim und über das Zusammen- und Herumkommen verknüpft sich die Praktik Sport mit dem lokalen Verein, der Region, der Nation. Diese Beobachtungen machen vergessen, dass das Phänomen Sport, so wie wir es heute tagtäglich wahrnehmen, erfahren, anschauen oder vielfach auch selbst praktizieren, eine vergleichsweise junge Praktik ist, der moderne Sport entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Kulturkritiker Kracauer konnte sich über deren rasante Verbreitung zu Beginn des 20. Jahrhunderts wundern, ärgern, oder lustig machen. Der entfachten gesellschaftlichen Dynamik, „seine[r] unleugbare Bedeutung als ein bestimmender Zug für die Physiognomie der Zeit“, konnte und wollte er sich aber nicht entziehen. Er schrieb seinen Essay in ironischer Distanz, unterstrich auf diese Weise aber auch zahlreiche (vermeintliche) Säulen innerhalb der Debatten um den Stellenwert von Sport. So diskutierte er etwa seinen Wert für die „Volksgesundheit“ oder seine Relevanz bei der „Charakterbildung“ junger Menschen. Er sprach über die Bedeutung von Sport für die Freizeit der „Massen“ und wie auf diese Weise so etwas wie ein modernes Lebensgefühl entstand, für das Konsum von großer Bedeutung war. Kracauer thematisierte auch die Prominenz des Sports in den Medien sowie den damit verbundenen Aspekt der Stars und Idole. Und nicht zuletzt fragte er danach, was Sport für das Zugehörigkeitsgefühl der Menschen zu regionalen Gemeinschaften bedeutete, für ihr Selbstverständnis als Bürgerin oder Bürger einer bestimmten Stadt oder einer Nation. Sport, so wird aus Kracauers Groteske deutlich, hatte sich sehr rasch sowohl zu einem Ausdruck als auch zu einem Antrieb einer vielschichtigen, ambivalenten und konfliktreichen Moderne entwickelt.4 Der „bewegte, trainierte und leistungsorientierte Körper des Sportlers [wurde] zum Motor und Darstellungsmittel einer Moderne ..., die sich selbst durch Bewegung bestimmt sah“, wie es die Literaturwissenschaftlerin Anne Fleig in ihrer Studie zu „Robert Musils Ästhetik des Sports“ formuliert.5 Es sind diese wesentlich körperlichen Elemente, die Sport und Bewegungskultur zu ihrem zentralen Stellenwert im Projekt der Moderne verhalfen. Dem Sport kommt in der kulturwissenschaftlichen Analyse der Moderne eine zentrale Bedeutung zu, einer Moderne, die sich in 3 4

5

Klein, Körper, Bewegung und Subjekt, S. 101. Uta Fenske/Olaf Stieglitz, Sport treiben, in: „What can a body do?“. Praktiken und Figurationen des Körpers in den Kulturwissenschaften, hg. vom Netzwerk Körper in den Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M./New York 2012, S. 111–126. Anne Fleig, Körperkultur und Moderne. Robert Musils Ästhetik des Sports, Berlin/New York 2008. Vgl. auch Michael Cowan/Kai Marcel Sicks (Hg.), Leibhaftige Moderne. Körper in Kunst und Massenmedien 1918 bis 1933, Bielefeld 2005.

Die Bedeutung der Region für eine Sozial- und Kulturgeschichte des Sports

3

hohem Maße über den Zugang, die Bestimmung sowie die Regulierung eines als „natürlich“ gedachten Körpers auszeichnete. Sexualität spielte darin die Hauptrolle, doch insbesondere die öffentlich immer wieder aufs Neue präsentierten, kategorisierten, im Hinblick auf vermeintliche Leistungsfähigkeit vermessenen und gegeneinander zum Wettkampf herausfordernden Körper dienten in prägnanter Weise der Zuweisung und Selbstbildung von individuellen wie kollektiven Subjektformen. Moderner Sport bestimmte mit darüber, wie Gesellschaften geordnet und stratifiziert wurden, er war Teil der Aushandlungsprozesse um den Zugriff auf ökonomisches, soziales sowie kulturelles Kapital. Strukturkategorien wie Klasse, Geschlecht, Ethnizität oder „Rasse“, aber auch andere vermeintlich am Körper abzulesende Differenzkriterien wie zum Beispiel Alter oder Leistungsfähigkeit lassen sich mit Hilfe der Linse Sport vortrefflich in ihrer Wirkmacht untersuchen. Denn die Etablierung des modernen Sports korrespondierte mit der Herausbildung einer biopolitischen Gesellschaftsordnung in der individuelle, leistungsund reproduktionsfähige Körper effizient zu einem „gesunden“ und starken Kollektivkörper verschmelzen sollten. Darüber hinaus verhalf der Sport Menschen dabei, sich auch in den sich verändernden Räumen der Moderne zu verorten. Sport bekam auch rasch eine nationale, mitunter darüber hinaus weisend auch eine koloniale Bedeutung. Dazu trug nicht zuletzt, und das ist keineswegs paradox, die sich als transnational begreifende olympische Bewegung entscheidend bei.6 Die auch bei Kracauer angesprochenen Begriffe von „Volksgesundheit“, „Charakterbildung“ sowie die ebenfalls häufig angesprochene Verbindung von sportlicher Ertüchtigung mit „Wehrhaftigkeit“ sind hierfür kennzeichnend. Doch auch unterhalb dieser Ebene des Nationalen half der Sport dabei, räumliche Stabilität in einer sich dynamisch wandelnden Welt herzustellen bzw. zu suggerieren. Die für die moderne Entwicklung des Sports so wichtige Identifizierung mit Vereinen oder (Hoch-)Schulen, mit deren Mannschaften und Farben, mit Wettkämpfen und Rivalitäten zwischen Clubs und Städten trug dazu bei, Region als eine zentrale Kategorie moderner Identitätsentwürfe aufzuladen – der moderne Staatsbürger war (und ist) eben auch Lokalpatriot. Im Zusammenhang mit Phänomen wie etwa Migration, Urbanisierung, Industrialisierung oder Ausbau der Verkehrsinfrastruktur kommt diesen Identitätsfragen eine große Relevanz zu. Diese und andere Effekte des Sports sind in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts unübersichtlicher geworden – der scheinbaren Eindeutigkeit körperlicher Zuschreibungen steht heute, in der Postmoderne, ein sehr viel fluideres Verständnis von Körpern gegenüber, die sich häufiger und selbstverständlicher den Versuchen eindeutiger Zuschreibung entziehen wollen und können. Auch das Gefühl von Gemeinschaft durch Sport artikuliert sich auch nicht länger vor allem in lokalen Vereinen oder 6

Thomas Alkemeyer, Körper, Kult und Politik. Von der „Muskelreligion“ Pierre de Coubertins zur Inszenierung von Macht in den Olympischen Spielen von 1936, Frankfurt a. M./New York 1996; sowie ders., Aufrecht und biegsam. Eine politische Geschichte des Körperkults, in: Matthias Marschik/Rudolf Müllner/Otto Penz/ Georg Spitaler (Hg.), Sport Studies, Wien 2009, S. 47–59. Vgl. auch die Ausführungen zur Etablierung des Internationalen Olympischen Komitees in Emily Rosenberg, Transnationale Strömungen in einer Welt, die zusammenrückt, in: dies. (Hg.), 1870–1945. Weltmärkte und Weltkriege, Cambridge/München 2012, S. 815– 998, hier S. 834 ff.

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Olaf Stieglitz

regionalen Ligen mit festen, kontinuierlichen Strukturen, sondern immer öfter in losen, immer wieder neu zusammen gesetzten Gruppen, spontan organisiert über soziale Netzwerke. Doch heißt das keineswegs, dass die modernen Bestimmungen des Sports obsolet geworden sind, im Gegenteil. Sie zeigen sich heute nur anders, in verschobenen Konstellationen und gewandelten Gewichtungen. Gabriele Kleins Hinweis auf den Sport als Bestandteil gegenwärtiger Gesundheitsdebatten verweist in eine Richtung, die mit Sportgroßereignissen wie etwa Fußball Weltmeisterschaften einher gehenden „Public Viewing“-Events in eine andere. Mehr denn je, so scheint es, muss Sport als gesellschaftlich-kulturelles Phänomen ernst genommen und untersucht werden – und die Geschichtswissenschaft kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Sport als Untersuchungsobjekt in einer Geschichtswissenschaft im Wandel „Seit sie alle sporten, möchten sie erfahren warum“, heißt es an einer Stelle in Kracauers Essay.7 Die Geschichtswissenschaft hatte an diesen Anstrengungen aber lange Zeit nur einen untergeordneten Anteil, die wissenschaftliche Beschäftigung mit Sport im engeren Sinne und Bewegungskultur als umfassenderer Zusammenhang führte sowohl in den Historischen Seminaren als auch in den interdisziplinär aufgestellten Sportwissenschaften bis vor wenigen Jahren nur ein Schattendasein.8 Doch darf daneben nicht übersehen werden, dass sich mit Beginn der Hinwendung zur Sozialgeschichte zunächst im anglo-amerikanischen Sprachraum, dann aber auch bald in Deutschland eine kleine, aber ernst zu nehmende historische Sportforschung etablierte. Seit den 1980er-Jahren erschienen mehr und mehr Studien, die sich am Zuschnitt universitärer Geschichtsforschung orientierten und ein profundes sozialhistorisches Wissen über organisiertes und unorganisiertes Sporttreiben generierten. Dabei rückten einige Aspekte besonders in den Fokus: Erstens die Spezialisierung, Professionalisierung und Kommerzialisierung des Sports auf allen Ebenen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zweitens nahm man die spezifisch moderne Organisations- und Verwaltungsstruktur des Sports, die Verbände, Vereine, Ligen, Regelsysteme, Wettkampf-, Trainings- und Managementformen in den Blick. Drittens fragte man nach Unterschieden in der regionalen Verbreitung von Sport (was insbesondere britische Historiker im Zusammenhang mit dem Kolonialismus diskutierten), viertens begann man, das Zusammenspiel von Sport und Medien zu untersuchen. Fünftens schließlich waren es nicht zuletzt Fragen aus dem Kontext geschlechterhistorischer Perspektiven, die die Neuausrichtung dynamisch vorantrieben.

7 8

Kracauer, Sie sporten, S. 14. Vgl. hierzu den sehr informativen Beitrag von Michael Krüger in diesem Heft. Siehe auch Matthias Marschik/Rudolf Müllner, Sportgeschichte – Geschichte des Sports, in: dies. u.a. (Hg.), Sport Studies, S. 255– 258; sowie Jürgen Martschukat/Olaf Stieglitz, Sportgeschichte, in: Docupedia Zeitgeschichte, Februar 2012, URL:https://docupedia.de/zg/Sportgeschichte?oldid=81632 (29.5.2013).

Die Bedeutung der Region für eine Sozial- und Kulturgeschichte des Sports

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Hierzulande setzten sich mit Christiane Eisenbergs „‘English sports‘ und deutsche Bürger“9 sozialhistorische Ansätze in einer spezifisch bundesdeutschen Zuspitzung als Gesellschaftsgeschichte durch. Eisenbergs Studie fragt danach, wie die vielfältigen Wechselbeziehungen, Berührungspunkte und Schnittflächen zwischen Sport und Gesellschaft in den Blick genommen werden können. Eine so verstandene gesellschaftsgeschichtliche Sportforschung in Deutschland hat in den zurückliegenden Jahren eine große Zahl an wichtigen Beiträgen produziert.10 Allerdings haben verschiedene zuletzt erschienene Texte die konzeptionellen Grenzen vieler dieser Arbeiten kritisiert. In einem Forschungsüberblick betonte Uta Balbier, selbst mit einer umfassenden Studie zum deutsch-deutschen Sport ausgewiesen, wie zäh und langlebig die institutions- und politikgeschichtliche Verhaftung der deutschen Sportgeschichtsforschung gewesen sei und dass als kulturhistorisch zu bezeichnende Sportanalysen bestenfalls um die Konstruktion nationaler Identitäten kreisten.11 Die historische Sportforschung war und ist mithin Teil einer sich wandelnden und in ihren Ansätzen und Methoden pluraler und ausdifferenzierter werdenden Geschichtswissenschaft. In ihr wurde zum Beispiel der gesellschaftshistorische Zuschnitt mit seiner Betonung „großer Strukturen“ schon während seiner Entwicklung und Durchsetzung etwa durch alltags- und mikrohistorische Perspektiven kontrastiert oder erweitert, und gerade in den lokalen und regionalen Geschichtswerkstätten stand die Thematisierung von Sport als wichtiger Bestandteil von Alltag und Lebenswirklichkeit „vor Ort“ hoch im Kurs.12 Die Untersuchung lokaler Vereine, ihrer Mitglieder und deren Rollen in regionaler Politik, Gesellschaft und Kultur unterstrich die Relevanz einer „Geschichte von unten“ im Verhältnis zum „Überbau“ der Strukturen. Beide Ansätze zusammen, Gesellschafts- wie Alltagsgeschichte, sorgten dafür, dass sich Sport als Thema in der Geschichtsschreibung etablieren konnte. In jüngerer Zeit prägen aber vor allem zwei Trends die Entwicklung der Geschichtswissenschaft, die zum einen mit der Gesellschaftsgeschichte und zum anderen mit Alltags- und Mikrogeschichte in Widerspruch 9

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11

12

Christiane Eisenberg, „English Sports“ und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800–1939, Paderborn 1999. Siehe auch Wolfram Pyta, Sportgeschichte aus Sicht des Allgemeinhistorikers – Methodische Zugriffe und Erkenntnispotentiale, in: Andrea Bruns/Wolfgang Buss (Hg.), Sportgeschichte erforschen und vermitteln, Hamburg 2009, S. 9–21. Andre Gounot, Die Rote Sportinternationale 1921–1937. Kommunistische Massenpolitik im europäischen Arbeitersport, Münster 2002; Christian Tagsold, Die Inszenierung der kulturellen Identität in Japan. Das Beispiel der Olympischen Spiele in Tokio 1964, München 2002; Franz-Josef Brüggemeier, Zurück auf dem Platz. Deutschland und die Fußballweltmeisterschaft 1954, München 2004; Harald Oelrich, „Sportgeltung – Weltgeltung“. Sport im Spannungsfeld der deutsch-italienischen Außenpolitik von 1918–1945, Münster 2004; Uta Andrea Balbier, Kalter Krieg auf der Aschenbahn: Der deutsch-deutsche Sport 1950–1972. Eine politische Geschichte, Paderborn 2007. Uta Andrea Balbier, „Spiel ohne Grenzen“. Zu Stand und Perspektiven der deutschen portgeschichtsforschung, in: Archiv für Sozialgeschichte 45 (2005), S. 585–598. Sabine Horn und Miriam Rürup stellten im Editorial eines 2006 erschienenen Themenhefts „Sport“ von „WerkstattGeschichte“ ein ähnliches Urteil aus. Vgl. auch Kirsten Heinsohn/Jürgen Martschukat/Olaf Stieglitz, Sportreportage: Sportgeschichte als Kulturund Gesellschaftsgeschichte, in: H-Soz-u-Kult, Mai 2009, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2009–05-001 (29.5.2013). Auch wenn das, wie Hans Langenfeld zu recht betont, nicht immer akademischen Standards genügt; siehe Hans Langenfeld, Regional-, Orts- und Vereinsgeschichte, in: Michael Krüger/ders. (Hg.), Handbuch Sportgeschichte, Schorndorf 2010, S. 253–262.

6

Olaf Stieglitz

zu stehen scheinen: einerseits die transnationale Geschichte mit ihren Bemühungen, Wechselbeziehungen zwischen Gesellschaften in einem globalen, weltgeschichtlichen Rahmen zu beleuchten sowie andererseits die mit dem Stichwort vom „cultural turn“ gekennzeichnete Hinwendung zu Fragen von Bedeutung und Sinn in der Neuen Kulturgeschichte. Beides hat Konsequenzen sowohl für die Sportgeschichtsschreibung insgesamt als auch für eine Regionalgeschichte des Sports im Besonderen. „Hat die global- und makrogeschichtliche Seite über die lokal- und mikrogeschichtliche den Sieg davon getragen?“, fragte Angelika Epple kürzlich in einem programmatisch für eine „relationale Geschichtsschreibung“ argumentierenden Aufsatz.13 Tatsächlich erscheint es augenblicklich so, als ob historische Forschung um eine transnationale, transkulturelle, weltgeschichtliche Perspektive nicht herum kommt. „Transnational“ oder „global“ sind in den letzten Jahren zu wichtigen Fahnenwörtern avanciert, um Innovation und gesellschaftliche Relevanz einer veränderten Geschichtswissenschaft anzuzeigen.14 Und das auch durchaus mit großer Berechtigung. Erstens hatten die Alltags- und Mikrogeschichten gezeigt, dass die scheinbar so unhinterfragbare Bezugskategorie des Nationalstaats keineswegs als selbstverständlich und selbsterklärend gelten kann. In diesem Sinne ist die Hinwendung zu größeren räumlichen Einheiten als die Nation auch eine produktive Reaktion auf die fruchtbaren Irritationen, welche die alltags- und mikrohistorischen Studien hervorgerufen haben. Zweitens antwortet der transnationale Perspektivenwechsel auf den berechtigten Vorwurf des Eurozentrismus, mit dem sich die Geschichtswissenschaft auseinandersetzen muss, seitdem sich in ihr Stimmen von Historikerinnen und Historikern aus anderen, bislang unterrepräsentierten Regionen der Welt mehr und mehr Gehör verschafft haben. Insbesondere die koloniale bzw. postkoloniale Geschichte ist hier ein gutes Beispiel dafür, wie reich der Ertrag einer Forschung sein kann, welche die Beziehungen zwischen Metropole und Kolonie nicht länger als eindimensional, sondern als in wechselseitiger Weise eng miteinander verwoben analysiert.15 Drittens schließlich antwortet die Geschichtswissenschaft so auch auf jene außerwissenschaftlichen Entwicklungen, die man verkürzt mit dem Begriff der „Globalisierung“ belegt. In einer scheinbar rasch kleiner und komplexer werdenden Welt wie derjenigen des beginnenden 21. Jahrhunderts kann die Geschichtswissenschaft mit einer historischen Akzentuierung von transnationalem und transkulturellem Transfer, von Austauschbeziehungen, Verbünden und Netzwerken einen wertvollen Beitrag zu gegenwärtigen Debatten leisten. Allerdings scheint dieser augenblicklich 13

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Angelika Epple, Lokalität und die Dimension des Globalen. Eine Frage der Relation, in: Historische Anthropologie 21 (1) 2013, S. 4–25, hier S. 5. Die Zahl der programmatischen Publikationen wird nach wie vor rasch größer, einen guten und durchaus kritischen Überblick gibt Philipp Gassert, Transnationale Geschichte, in: Docupedia Zeitgeschichte, Oktober 2012, URL: http://docupedia.de/zg/Transnationale_Geschichte_Version_2.0_Philipp_Gassert (5.6.2013); einführend siehe auch Jürgen Osterhammel, Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2001; Kiran Klaus Patel, Nach der Nationalfixiertheit. Perspektiven einer transnationalen Geschichte, Berlin 2004; sowie Gunilla Budde/Sebastian Conrad/Oliver Janz (Hg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorie, Göttingen 2006. Sebastian Conrad (Hg.), Globalgeschichte: Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt a. M./New York 2007; Claudia Kraft/Alf Lüdtke/Jürgen Martschukat (Hg.), Kolonialgeschichten. Regionale Perspektiven auf ein globales Phänomen, Frankfurt a. M./New York 2010.

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so ausgeprägte Trend zur Weltgeschichte auch Fragen aufzuwerfen. Aller Absichtsbekundungen zum Trotz, man wolle auch lokalen Einheiten und Akteuren Rechnung tragen: Was bleibt von den Ansätzen, Methoden und Ergebnissen einer kleinräumig argumentierenden Sozial-, und Alltagsgeschichte, wie soll man das Verhältnis von Global und Regional/Lokal genau bestimmen? Neben der transnationalen oder globalen Geschichte sind es insbesondere Ansätze der Neuen Kulturgeschichte, die seit einigen Jahren vom Rand der „Zunft“ mehr und mehr ins Zentrum der Geschichtswissenschaft drängen. Diese widmet sich „Kultur“ nicht mehr länger als einem Sektor menschlicher Gesellschaften neben Politik, Wirtschaft, Technik oder Recht, wie dies in der Gesellschaftsgeschichte geschieht, sondern fragt auf Basis eines erweiterten Kulturbegriffs danach, wie „Gesellschaften die sie umgebenden Wirklichkeiten mit bestimmten Bedeutungsnetzen ausstatten“.16 Sie definiert sich also nicht über einen Gegenstand („die Kultur“), sondern über eine bestimmte Perspektive, eine Haltung. Die Neue Kulturgeschichte beleuchtet „das Kulturelle“ als einen Prozess von Sinn- und Bedeutungskonstitution, der sich in allen gesellschaftlichen Phänomenen finden und analysieren lässt. Dies hat zur Konsequenz, und hierin artikuliert sich das Selbstverständnis dieser Richtung, dass sich Geschichte immer als in hohem Maße offen und kontingent darstellt. Statt der Fakten und Ergebnisse der Geschichte stehen die vielschichtigen, komplexen und stets von Macht beeinflussten Aushandlungsprozesse um Deutungshoheit im Zentrum der Analysen. Es ist nicht überraschend, dass sich eine so verstandene Neue Kulturgeschichte gerade den Untersuchungsgegenständen zugewandt hat, die lange als scheinbar überhistorisch stabil angesehen wurden, dem Körper beispielsweise, der nun zunehmend selbst als historisch geworden beschrieben wird.17 Damit rückte auch der Sport bzw. das umlaufende Feld der Bewegungskultur insgesamt in den Blick, und so verwundert es nicht, dass sich neben einigen programmatischen Entwürfen18 inzwischen auch einige empirische Arbeiten finden, die sich einer solchen Körpergeschichte des Sports und der Bewegungskultur zuwenden.19 Methodisch beziehen sich viele dieser Arbeiten auf Kon-

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Achim Landwehr, Kulturgeschichte, Stuttgart 2009, S. 9. Vgl. Maren Lorenz, Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte, Tübingen 2000; siehe hierzu auch Martschukat/Stieglitz, Sportgeschichte. Einen Überblick über die frühe Forschung dazu gibt Roberta J. Park, A Decade of the Body: Researching and Writing about the History of Health, Fitness, Exercise and Sport, 1983–1993, in: Journal of Sport History 21,1 (1994), S. 59–82; programmatisch siehe vor allem Patricia Vertinsky, Body History for Sport Historians: The Case of Gender and Race, in: K.B. Wamsley (Hg.), Method and Methodology in Sport and Cultural History, Dubuque 1995, S. 50–61. Siehe auch Bernd Wedemeyer-Kolwe, Körpergeschichte, in: Krüger/ Langenfeld (Hg.), Handbuch Sportgeschichte, S. 104–113. Beispiele sind etwa Svenja Goltermann, Körper der Nation. Habitusformierung und die Politik des Turnens 1860–1890, Göttingen 1998; Daniel Wildmann, Begehrte Körper. Konstruktion und Inszenierung des „arischen“ Männerkörpers im „Dritten Reich“, Würzburg 1998; Maren Möhring, Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890–1930), Köln 2004; Bernd Wedemeyer-Kolwe, „Der neue Mensch“. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004; Jürgen Martschukat, „The Necessity for Better Bodies to Perpetuate Our Institutions, Insure a Higher Development of the Individual, and Advance the Conditions of the Race“. Physical Culture and the Formation of the Self in the Late Nineteenth and Early Twentieth Century USA, in: Journal of Historical Sociology 24 (2011), S. 472–493.

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zepte von Norbert Elias, Michel Foucault oder Pierre Bourdieu, andere verweisen eher auf Anleihen auf der Performanz- oder Ritualforschung.20 Zu den (vielen) Traditionslinien dieser jüngeren Kulturgeschichtsschreibung gehören auch die Alltags- und Mikrogeschichte der 1980er Jahre. Anders als bei der transnationalen oder globalen Geschichte ist es also weniger die Frage nach der Relevanz des Regionalen bzw. Lokalen, die nun aufgeworfen ist. „Dichte Beschreibungen“ und das Beharren auf Handlungsmacht und Eigensinn von lokalen Akteuren gehören zentral zum Selbstverständnis dieser historiografischen Richtung. Ein Spannungsverhältnis ist eher gegenüber der Gesellschaftsgeschichte auszumachen, und die Kontroversen verlaufen auf einer grundlegenden, theoretischen Ebene. Sehr viel stärker als viele andere Bereiche der Geschichtswissenschaft ist die Neue Kulturgeschichte vom „linguistic turn“ und dessen Folgen beeinflusst. Sie orientiert sich zumeist ausdrücklicher an Vorstellungen einer nicht hintergehbaren Sprachgebundenheit jeglicher Erkenntnis und davon abgeleitet an der Betonung einer notwendigen Instabilität jeden historischen Wissens. Ferner fordert sie, die Formen historiografischen Schreibens selbstreflexiv in die Analysen mit einzubeziehen, also die kreative Rolle von Historikerinnen und Historiker im Erkenntnisprozess besonders zu unterstreichen. Zwar haben sich die in den 1990er Jahren oft polemisch geführten Debatten inzwischen beruhigt und man ist zu einem kooperativen Miteinander übergegangen, doch bleibt festzuhalten, dass Missverständnisse und Verwunderung über unterschiedliche Zugänge zu Quellen und die Reichweiten der Resultate nicht ausgeräumt sind. Das gilt umso mehr, je ferner die forschenden Historikerinnen und Historiker den gegenwärtigen Methodendebatten des Fachs stehen – oder so wahrgenommen werden. Gerade Regionalgeschichte steht im Ruf, mit einem eher naiven Wahrheitsbegriff an die Quellen heranzutreten und selten über das Anekdotenhafte herauszukommen – ein Vorwurf, den sie im Übrigen mit dem noch immer verbreiteten Bild vom Sporthistoriker teilt, und man kann sich vorstellen, was das dann womöglich für regionalhistorisch arbeitende Sporthistorikerinnen und -historiker heißen kann. Dieses Urteil mag sicher auch mitunter berechtigt sein, aber es verkennt doch auch, dass ein nur rudimentäres Theorie- und Methodenverständnis erstens beileibe nicht allein in der Regional- bzw. Sportgeschichte vorzufinden ist, sondern auch nach wie vor eine Reihe andere Bereiche historischer Forschung kennzeichnet, und dass zweitens regionalhistorische Forschung in ihren Methoden sehr heterogen ist und dabei nicht selten eng in professionell-akademische Verbünde integriert ist, die für eine solide Verankerung und Qualitätssicherung Sorge trägt. Deutlich wird aber, dass die beschriebenen Trends innerhalb der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft die Frage nach der Rolle und Relevanz der regionalen bzw. lokalen Perspektive neu stellen. Am Beispiel der Sportgeschichte kann gezeigt werden, wie man sich diesen Herausforderungen zuwenden kann.

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Als Überblick siehe Michael Thomas, Sportgeschichte und Kulturwissenschaft – Probleme, Konzepte und Perspektiven, in: Bruns/Buss (Hg.), Sportgeschichte erforschen und vermitteln, S. 35–50.

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Stadt und Region als Teile einer Kulturgeschichte des Sports Sporthistorische Untersuchungen der Ebenen unterhalb des Nationalen, so hat es Hans Langenfeld ebenso zusammenfassend wie als Arbeitsauftrag formuliert, „gestatten es, das Sporttreiben bzw. vergleichbare Aktivitäten vor Ort konkret zu erfassen, in der Wahrnehmung durch die aktiv und passiv Beteiligten zu analysieren, den Sport in verschiedenartige soziale Mikroprozesse einzubetten, den Einfluss bestimmter Gruppierungen und Persönlichkeiten zu analysieren und so seine Bedeutung im gesellschaftlichkulturellen Umfeld zu bestimmen.“21 Dem ist zunächst ohne Vorbehalt zuzustimmen – will sich eine Sportgeschichtsschreibung zu Beginn des 21. Jahrhunderts den vielfältigen und konfliktreichen Dimensionen des Sports als gesellschaftlichem und kulturellen Phänomen der Moderne widmen, dann muss sie ihren Leitfragen – gesellschaftliche Stratifizierung, Ressourcenzugriff, Inklusion und Exklusion, Beharrung und Wandel, Entwürfe von Identität und Differenz, politische wie ökonomische Verzahnung, um nur einige zu nennen – insbesondere auch dort nachgehen, wo diese Aushandlungsprozesse lokal immer wieder neu ausgetragen wurden. Dabei, so betont es auch Langenfeld, muss die Frage nach den wechselseitigen Einflussnahmen zwischen unteren und oberen Ebenen stets mit berücksichtigt werden.22 Doch genau hier beginnen die Schwierigkeiten. Um die Umsetzung des Programms einer regionalhistorischen Sportforschung ist es nämlich nur zum Teil gut bestellt. Liest man Langenfelds Beitrag weiter, dann findet man darin Hinweise auf eine Reihe gelungener Ansätze, aber auch Klagen darüber, dass viele solcher „Arbeiten [...] sich auf chronikartige Berichte und Funktionärslisten mit Amtszeiten und Verdiensten sowie Mannschaftsaufstellungen und Sportergebnisse“ beschränken.23 Festschriften für Vereine oder Verbände seien eine verbreitete Publikationsform, deren Charakter oftmals nicht unbedingt durch kritische Analyse geprägt sei. Auch seien lokale und regionale Überlieferungen mitunter sehr lückenhaft, weil entweder die Archive schlicht überfordert oder aber von der gesellschaftlich-historischen Relevanz des Sports nicht zu überzeugen seien. Vor diesem Hintergrund erinnert man sich an das inzwischen so oft zitierte Bonmot des britischen Historikers Tony Mason, Sportgeschichte sei lediglich etwas für „Fans mit Schreibmaschinen“ – geschrieben aus purer Leidenschaft zu einem Hobby, recherchiert auf Basis einer privaten Sammlung von bunten Vereinsheftchen und gelesen von gleichgesinnten Anhängern ohne Interesse an größere gesellschaftliche oder kulturelle Zusammenhänge.24 Die oben angesprochenen Vorurteile gegen die Regionalgeschichte des Sports scheinen sich also zu bestätigen. Doch gilt es, diesem Bild in zweifacher Weise zu begegnen. Erstens: Den (noch immer zu) zahlreichen unkritischen, anekdotenhaften und unprofessionellen lokalen 21 22 23 24

Langenfeld, Regional-, Orts- und Vereinsgeschichte, S. 253. Ebd. Ebd., S. 253 f. Tony Mason in dem unpublizierten Beitrag „Writing the History of Sport“ (1991), hier zit. nach Jeffrey Hill, British Sports History: A Post-Modern Future?, in: Journal of Sport History 23,1 (1996), S. 1–19, hier S. 2. Masons Ausspruch war selbstironisch und als Provokation gedacht.

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und regionalen Sportgeschichten stehen gerade in den letzten Jahrzehnten durchaus ambitionierte und durchdachte Projekte von Historikerinnnen/Historikern oder auch Journalistinnen/Journalisten gegenüber. In ihnen zeigt sich, dass Ansätze der Alltagsbzw. Mikrogeschichte über die universitäre Ausbildung ihre Wirkung entfaltet haben und auf die Arbeit von engagierten Autorinnen und Autoren zurück wirkt. Zudem haben sich mancherorts Verbünde etabliert, die der Sportgeschichte einen festen Rahmen, eine akademische Orientierung sowie einen sichtbaren Stellenwert zuweisen. Auf Ebene der deutschen Bundesländer sei auf das Niedersächsische Institut für Sportgeschichte (http://www.nish.de/) oder auf das Institut für Sportgeschichte Baden-Württemberg (http://www.ifsg-bw.de/) hingewiesen. Und auch in Westfalen steht mit dem Westfälisch-Lippischen Institut für Turn- und Sportgeschichte in Hamm eine wenn auch enger regional zugeschnittene Einrichtung zur Verfügung. Die am dortigen Gustav-Lübcke-Museum im Jahre 2006/07 organisierte Ausstellung „SportGeist“ kann zusammen mit dem aus diesem Anlass entstandenen Katalog als beispielhaft angesprochen werden.25 Damit verbindet sich der generelle Hinweis, dass der Sport und seiner Geschichte zuletzt immer häufiger zum Anlass von Ausstellungsprojekten geworden ist, viele von ihnen in regionaler Ausrichtung oder zumindest mit einem regionalen Akzent. Dabei ist die Einbindung von regionalen/lokalen Perspektiven in größere Fragen und Zusammenhänge sicher mal mehr, mal weniger gelungen, insgesamt zeigt sich aber doch, dass Ausstellungen erfolgreicher sind wenn sie auf die mannigfaltigen Wechselwirkungen von unten und oben verweisen.26 Zweitens, und beinahe noch wichtiger: Der zentralen Frage nach eben dieser Verwobenheit von lokalen, regionalen, nationalen und transnationalen Ebenen wird in einer wachsenden Anzahl von Forschungsbeiträgen durchaus aktiv nachgegangen. Hier setzt offenbar ein methodischer Bewusstwerdungsprozess ein, der möglicherweise zum einen durch das veränderte Vokabular der augenblicklich so sichtbaren Globalgeschichte mit angeregt ist. Denn Vergleich, Transfer oder Verknüpfung sind ja nicht allein häufig gehörte Schlagwörter, sondern haben darüber hinaus in den letzten Jahren zu angeregten methodischen Debatten geführt; mit diesen Begriffen lassen sich inzwischen Anleitungen zur empirischen Arbeit verknüpfen. Zum anderen lässt sich diese Sensibilisierung für die Verwobenheit der unterschiedlichen regionalen Bezugsgrößen auch als durch Ideen der Neuen Kulturgeschichte inspiriert verstehen. Nicht erst seit Ausrufung des „spatial turn“ betont die Kulturgeschichtsschreibung die Relevanz räumlicher Kategorien für die Geschichte.27 Doch mit der gesteigerten Aufmerksamkeit, die den Räumen in sozialer Praxis, Vorstellung, Wahrnehmung und Erinnerung in letzter Zeit gewidmet wurde, rückte auch die Frage nach der Konstitution von Lokalität und Region in den Fokus. Dabei ist deutlich geworden, dass der historisch spezifischen Relationen zwi25

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Maria Perrefort/Diana Lenz-Weber (Hg.), SportGeist. Die Kulturgeschichte von Turnen und Sport in Westfalen, Hamm 2006. Susanne Wernsing, Auf die Plätze. Sport ausstellen, in: Auf die Plätze: Sport und Gesellschaft. Begleitbuch zur Ausstellung in Dresden vom 16. April 2011 bis zum 26. Februar 2012, hg. von Susanne Wernsing, Katarina Matiasek und Klaus Vogel, Göttingen 2011, S. 17–22. Vgl. als Überblick Susanne Rau, Räume: Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen, Frankfurt a. M./New York 2013.

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schen unterschiedlichen regionalen Größen eine besondere Aufmerksamkeit zukommen muss. Angelika Epple hat das programmatisch so formuliert: „[Die relationale Geschichtsschreibung] muss eine doppelte Herausforderung meistern. Es muss ihr einerseits gelingen, Einheiten als relational und damit als dynamisch, veränderlich, nicht abgeschlossen und nicht begrenzt zu fassen. Andererseits muss sie diese Einheiten zugleich klar konturieren, um Veränderungen, Dynamiken, Entwicklungen überhaupt erklären zu können.“28 Regionale Sportgeschichte kann ein inhaltliches Feld sein, auf der dieser doppelten Herausforderung empirisch nachgegangen werden kann. Vielleicht bietet sich der Sport dafür sogar in besonderer Weise an, denn eine Reihe charakteristischer Merkmale verweisen auf die Relationalität der Räume: der örtliche Verein, die regionale Liga, die Gliederung der Verbandstrukturen. Auch die sportliche Bewegung als solche ist beeinflusst z. B. durch Trainingssteuerung nationaler Experten oder die Aussicht auf Teilnahme am internationalen Wettkampf. „Die Stadt“ wurde in jüngster Zeit häufig als ebenso pragmatische wie aufschlussreiche Bezugsgröße getestet, markiert sie doch nicht selten eine Scharnierfunktion zwischen unterschiedlichen räumlichen Größen. Das drückt sich oft sprachlich aus: Sie steht „im Mittelpunkt einer Region“, „strahlt auf das Umland aus“, „zieht Menschen von nah und fern an“, „ist das Tor“ zu einer anderen regionalen Einheit. „Die Stadt“ verbindet, im Sinne Epples gesprochen, die Dynamiken von permanenten Wandel und vergleichsweise klarer Struktur. Es ist vor diesem Hintergrund keine Überraschung, dass sich auch einige wichtige deutsche sporthistorische Projekte der letzten Jahre auf Städte und ihre Funktionen an der Schnittstelle von oberen und unteren regionalen Größen konzentriert haben.29 Und auch international scheint man insbesondere den Blick auf die Stadt als Untersuchungsgröße immer öfter zu favorisieren. Ein im Jahr 2010 hauptsächlich für ein britisches und nordamerikanisches Publikum publiziertes „Companion to Sports History“ etwa enthält einen langen Beitrag zur „Stadt“, während man Einträge zu anderen regionalen Zusammenhängen vermisst, sieht man einmal von der „Nation“ ab, die freilich im Zentrum des Bands steht.30 Gerald Gems, der Autor des Beitrags, betont die vielen Anknüpfungspunkte, die sowohl regionale, nationale wie transnationale Sportgeschichten beim Blick auf Städte gewinnen können. Zu den hier bereits angesprochenen fügt er zwei weitere Themen hinzu, den mit dem Sport und Bewegungskultur gerade in jüngerer Vergangenheit so eng verbundenen Tourismus sowie die Relevanz von Sport für die Architektur der Städte.31 Zusammen mit Fragen nach sozialen Gruppen und Hierarchien, nach Entwürfen von Identität und Differenz, nach ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapital spannt sich so ein 28 29

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Epple, Lokalität und die Dimension des Lokalen, S. 7. Eine Auswahl: Hans Langenfeld/Klaus Prange, Münster. Die Stadt und ihr Sport, Münster 2002; Stefan Nielsen, Sport und Großstadt. Komparative Studien zur Entstehung bürgerlicher Freizeitkultur, Frankfurt a. M. u.a. 2002. Ein wichtiger Beitrag, der in mancher Hinsicht am Anfang dieser Entwicklung steht, ist von Henning Eichberg, Race-Track and Labyrinth. The Space of Physical Culture in Berlin, in: Journal of Sport History 17,2 (1990), S. 245–260. S.W. Pope/John Nauright (Hg.), Routledge Companion to Sports History, London/New York 2010; siehe auch John Bale, Sport, Space and the City, London 1993. Gerald R. Gems, The City, in: Pope/Nauright (Hg.), Companion to Sports History, S. 51–70.

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vielfältiger, interessanter Bogen von Fragestellungen auf, von denen sich einige in den hier versammelten Beiträgen dieses Themenbandes wiederfinden. Die Beiträge dieses Bandes Die hier im Band vorgestellten Aufsätze repräsentieren durchaus unterschiedliche Perspektiven auf eine Regionalgeschichte des Sports, zusammen aber dokumentieren sie zum einen die produktive Vielfalt der Ansätze und die Bandbreite der Fragestellungen sowie zum anderen die Bedeutung und das Interesse, die einer Regionalgeschichte des Sports für Westfalen zukommen. Mit Michael Krüger skizziert zu Beginn ein ausgewiesener Experte der bundesdeutschen Sportgeschichtsschreibung das Forschungsfeld insgesamt sowie seine besondere Ausprägung für Westfalen. Er greift eine Reihe der in dieser Einleitung angerissenen Aspekte wieder auf und vertieft sie: die Geschichte der Sportgeschichte in Deutschland zwischen Geschichts- und Sportwissenschaften, die wachsende Bedeutung einer „Sportgeschichte von unten“ sowie Versuche, eine solche Perspektive wissenschaftlich umzusetzen. In einem Überblick über die Geschichte des Sports in Westfalen kann Krüger auf umfangreiche Literatur verweisen und deutlich machen, dass die Region einen wichtigen und eigenständigen Anteil an der Verbreitung organisierten Sports im Verlauf des 20. Jahrhunderts hatte. Zugleich unterstreicht Krüger aber auch Desiderate und appelliert für eine Intensivierung der Forschung. Dabei betont er insbesondere die notwendig relationale Ausrichtung einer solchen Forschung wenn er darauf hinweist dass „Turnen und Sport in Stadt und Land ... nicht für sich [stehen]. Sie bilden einerseits die Basis des „großen“, überregionalen Sports, und sind andererseits auch von den nationalen und internationalen Entscheidern über Regeln, Medien, Marktzugänge, Fördersysteme u. v. a. m. abhängig; denn nach welchen Regeln gespielt und Sport getrieben wird, wird nicht im Vereinsheim und nicht einmal in Münster entschieden. Und doch besteht auch für Sportgruppen auf dem Land oder sogar für einzelne Athleten die Möglichkeit, ihren Sport nach ihrem Gusto zu gestalten und zu betreiben.“32 Im Anschluss daran widmet sich Harald Lönnecker den akademischen Turnvereinigungen an der Universität Münster. Lönnecker richtet seine Analyse an der Frage aus, inwieweit die Mitgliedschaft in derlei Vereinigungen und das Turnen an der Hochschule selbst mit Vorstellungen und Idealen von gesellschaftlicher Elite, an „Führerschaft“ an der Universität und darüber hinaus gekoppelt waren. Von besonderer Bedeutung war dabei nach 1900 das Verhältnis zwischen den akademischen Turnvereinigungen und den bürgerlichen Turnvereinen, mit denen man um soziale Reputation, Einfluss und Führungsanspruch rang. Über diesen Rückbezug auf eine größere Debatte gelingt es Lönnecker ebenfalls, die Ergebnisse seiner regionalen Studie an die Verhältnisse und Entwicklungen in Deutschland vom 19. Jahrhundert bis in die Weimarer Republik anzubinden.

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Dieses sowie die folgenden Zitate stammen jeweils aus den angesprochenen Beiträgen dieses Themenbandes.

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Jörn Esch greift in seinem Beitrag die Frage nach der Relationalität regionaler Einheiten gleichfalls ausdrücklich auf, wenn er seine Geschichte des Fußballs im Deutschen Kaiserreich zwischen Nation und Region platziert. Es ist dies eine Geschichte der Körper, an die Esch unter anderem Fragen nach den zeitgenössischen Vorstellungen von Gesundheit, nach der Bedeutung von Bewegungen, „aber auch solche nach Männlichkeit, Weiblichkeit und sozialer Intelligibilität“ stellt. Zu diesem Zweck untersucht er das zeitgenössische Training von Fußballern, wie es einerseits durch national publizierte Lehrbücher angeleitet und andererseits auf lokale Begebenheiten angepasst praktisch umgesetzt wurde. Zusammen entwickelte sich so laut Esch die mit Bedeutung aufgeladene Figur des „Fußballers“ als ein in die Gemeinschaft optimal eingepasstes Glied. Ein besonders augenscheinliches Verhältnis zwischen nationalen Regulierungen und deren regionale Konsequenzen thematisieren Lorenz Peiffer und Henry Wahlig in ihrem Text über den jüdischen Sport in Westfalen vor und während der Zeit des Nationalsozialismus. Regionalgeschichtliche Studien dieser Art sind nach wie vor ein Desiderat der Forschung, und Peiffer und Wahlig legen mit ihrem Beitrag erste überaus interessante Ergebnisse für die Region vor. Sie konzentrieren sich dabei in erster Linie auf den Fußball und können zeigen, wie sehr sich ein anfangs in den bürgerlichen Sportbetrieb integrierter jüdischer Sport schon im Verlauf der 1920er Jahre mit „Distanzierungstendenzen der Mehrheitsgesellschaft“ konfrontiert sah. Vor diesem Hintergrund verdienen die Erkenntnisse zur Rolle des Sports für jüdische Menschen zwischen 1933 und 1938 besondere Aufmerksamkeit, denn Peiffer und Wahlig können zeigen, „dass der Sport zu einem führenden Teil des jüdischen Alltagslebens wurde“ gerade weil unter den Bedingungen des Nationalsozialismus Sport zu einer gemeinschaftsbildenden Praktik werden konnte. Die letzten drei Beiträge akzentuieren den besonderen Zusammenhang von Sport mit Stadt und Region für Versuche, Image und so nicht zuletzt auch Identität nach innen wie außen zu kommunizieren. Zunächst wendet sich Stefan Goch dem Ruhrgebiet zu und veranschaulicht am Beispiel der Geschichte des Fußballs dort, wie die wechselseitigen Bezüge zwischen Sportvereinen, ihren Heimatstädten sowie der verbundenen Großregion mit tradierten Geschichtsbildern umgehen, um mit ihrer Hilfe eine Vorstellung von Tradition immer wieder neu mit Sinn aufzuladen. Diese Bilder fußen gleichermaßen auf sozialhistorischen Fakten wie auf deren mythischer Überhöhung. Dabei, und das kann Goch durch sein Studium überregionaler Zeitungen zeigen, sind die Imageund Identitätsbemühungen der Vereine (ihrer Verantwortlichen wie der Fans) eng mit Wahrnehmungen und Interpretationen verknüpft, die von außerhalb des Ruhrgebiets an die Region und ihre Sportvereine herangetragen werden. Selbstbilder von der historisch gewachsenen und historisch verankerten Bedeutung des Fußballs im „Ruhrpott“ werden so auch immer wieder mit den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen einer Region abgeglichen. Uwe Wick geht es gleichfalls um Fragen städtischer wie regionaler Identitätskonstruktion, wenn er die Sportmetropole Dortmund in den Blick nimmt und dort insbesondere dem architektonischen Ausdruck dieses Anspruchs nachgeht. In einem chronologischen Überblick beleuchtet Wick „repräsentative Sportanlagen als Teilaufgabe kommunaler Baupolitik, die Bedeutung dieser Sportanlagen für das städtische Image und

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die Funktion solcher Anlagen bei der lokalen und regionalen Identitätsstiftung“. Der Autor widmet sich dem Stadion Rote Erde, der Westfalenhalle sowie dem Westfalenstadion und veranschaulicht, die diese Sport- und Veranstaltungsorte in sich wandelnde Konzepte einer „Sportmetropole“ eingebunden waren und sind. Sport, Sportpolitik und Stadtplanung gingen, das kann der Beitrag sehr aufschlussreich zeigen, bei der Ausformung eines spezifischen Dortmunder Identitätsentwurfs Hand in Hand. Der Beitrag schließlich von Anke Strüver zeigt in besonders anschaulicher Weise, wie der Raum der Stadt durch eine sportliche Praktik selbst konstituiert und mit Sinn aufgeladen wird. Im Zentrum steht die „Laufstadt Münster“, und die Autorin geht der Frage nach, wie ein verändertes Körper- und Gesundheitsbewusstsein die identitätspolitische Inszenierung einer Stadt mit beeinflusst. Strüver skizziert, wie der Aufstieg und Boom des Laufsports einen urbanen Lebensstil kreierte, auf den sich nicht allein die praktizierenden Sportlerinnen und Sportler selbst bedeutungsvoll beziehen, sondern der auch für die Stadt Münster und deren Selbstverständnis wie Außendarstellung von großer Wichtigkeit wurde. Raum, Stadt, Region, so kann Strüver zeigen, werden in ihren changierenden Bedeutungsdimensionen und wechselseitigen Bezügen auch durch (sportliche) Praktiken immer wieder aufs Neue hergestellt. Dieser Hinweis markiert auch abschließend so etwas wie das Fazit der Beiträge insgesamt. Regionale Sportgeschichte ist schon deshalb ein lohnendes Unterfangen, weil sowohl auf die Praktik des Sporttreibens als auch deren veränderte Organisationsformen besonders geeignet erscheinen, gesellschaftlichen und kulturellen (Bedeutungs-)Wandel sowie gesellschaftliche Stratifizierung in einer räumlichen Dimension zu untersuchen, die unter anderem die Stadt, die Region, die Nation und das Transnationale in historisch je spezifischer Weise relational denken muss.

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Sportgeschichte in Westfalen als lokale und regionale Kulturgeschichte Sportgeschichte ist inzwischen in den Geschichtswissenschaften angekommen. Immer zahlreicher werden fachwissenschaftliche Artikel etablierter Historiker zu unterschiedlichsten Themen und Aspekten aus der Sportgeschichte. Dies gilt für den internationalen Raum genauso wie für die deutschsprachige (Sport-)Geschichtsschreibung. Jüngste Beispiele sind erstens die von den britischen Historikern Schiller und Young verfasste Geschichte über die Olympischen Spiele in München, eine in erster Linie „politische Geschichte“, die aber zugleich auch eine Kulturgeschichte des deutschen Nachkriegssports sowie eine olympische Sportgeschichte der Stadt München und des Bundeslandes Bayern ist.1 Zweitens wäre die von dem Kulturhistoriker Wolfgang Behringer vorgelegte „Kulturgeschichte des Sports“ zu nennen.2 Beim Blick auf den Buchmarkt oder in internationale sporthistorische Zeitschriften wie „Sport in History“ oder das „International Journal of the History of Sport“ hat man gelegentlich den Eindruck, dass deutsche Sportgeschichte im Ausland auf größeres Interesse zu stoßen scheint als in Deutschland selbst. Sogar in japanischen Fachzeitschriften wird über Forschungen zur deutschen Turngeschichte geschrieben.3 In diesem Beitrag geht es um zwei Aspekte: Erstens um die Entwicklung der Sportgeschichte zwischen Sport- und Geschichtswissenschaften und zweitens um einen Abriss zur Lokal- und Regionalgeschichte des Sports mit besonderem Bezug zur westfälischen Turn- und Sportgeschichte.

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Kay Schiller/Christopher Young, München 1972. Olympische Spiele im Zeichen des modernen Deutschland, Göttingen 2012. Wolfgang Behringer, Kulturgeschichte des Sports. Vom antiken Olympia bis ins 21.Jahrhundert, München 2012. Einen Überblick zu sozial- und kulturhistorischen Fragestellungen im Rahmen der Sportgeschichte geben Olaf Stieglitz/Jürgen Martschukat/Kirsten Heinsohn, Sportreportage. Sportgeschichte als Kultur- und Sozialgeschichte, in: H-Soz-u-Kult, 28.5.2009, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2009–05–001, die jedoch ebenso wie Behringer oder auch Schiller und Young sporthistorische Arbeiten im Rahmen der Sportwissenschaft(en) kaum zur Kenntnis nehmen. Siehe besonders die Übersetzungen deutschsprachiger Beiträge zur deutschen Sportgeschichte von Ikutoshi Aruga in Ritsumeikan Social Sciences Review, z. B. 46/1 (2011): „Zehn Thesen zur Entwicklung der deutschen Sportgeschichte: Anmerkungen zu Christiane Eisenberg, Soziologie, Ökonomie und ,Cultural Economics‘ in der Sportgeschichte. Plädoyer für eine Neuorientierung“ (in japanischer Sprache) sowie 46/4 (2011) die Übersetzung von Michael Krüger, 60 Jahre Sport in Deutschland. Unter den japanischen sporthistorischen Arbeiten, die sich mit deutscher Turn- und Sportgeschichte beschäftigen sei die Arbeit von Junichi Matsuo zum Thema „Die Geschichte der nationalen Turnfeste im modernen Deutschland (1860–1880)“ (Tokio 2010) genannt.

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1. Zur Geschichte der Sportgeschichte „Das Haus der Geschichte hat viele Zimmer“, meinte einst Jürgen Kocka,4 aber Fakt ist, dass darin bis heute für die Sportgeschichte noch keines vorgesehen ist. Die großen Räume, die von der Politikgeschichte, der Sozialgeschichte, der Wirtschaftsgeschichte oder auch der Kulturgeschichte belegt sind, stellen bei Bedarf gelegentlich einen Schrank oder eine Schublade zur Verfügung, aber zu mehr hat es bisher nicht gereicht. Das „Haus der Sportwissenschaft“ als einer jungen Wissenschaftsdisziplin an den Universitäten wurde einst auf dem Fundament der Geschichte der Leibeserziehung und des Sports errichtet. Heute erinnert sich daran jedoch kaum noch jemand. Die neuen Eigentümer bauen kräftig aus und ignorieren zunehmend die historischen Grundlagen ihrer Disziplin. Nach dem Ende des Kalten Krieges, als der deutsche Sport und die deutsche Sportwissenschaft zusammengeführt wurden, brauchte man die historische und ideologische Legitimation des Faches nicht mehr. Heute gibt es deshalb weder an westnoch an ostdeutschen Universitäten in der oder den Sportwissenschaft(en) Lehrstühle oder professoral geleitete Arbeitsbereiche, die sich ausschließlich mit Sportgeschichte beschäftigen. An der Deutschen Sporthochschule (DSHS) in Köln, der einzigen SportUniversität in Deutschland, ist noch eine W2-Professur als „Sportgeschichte“ denominiert, dessen Stelleninhaber auf „Olympic Studies“ spezialisiert ist. Die Sektion Sportgeschichte in der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs) zählte zu den ersten Fachgruppen im erst seit 1976 bestehenden Berufsverband für Sportwissenschaftler. Heute gibt es sie nicht mehr. Die damals noch zahlreichen und jungen aktiven Sporthistoriker hatten sich damit entschieden, die Zukunft der Sportgeschichte im neuen Fach Sportwissenschaft zu suchen und nicht, wie dies bis dahin aus Mangel an Alternativen der Fall war, die Geschichte der Leibesübungen und Leibeserziehung, der Gymnastik, des Turnens und des Sports im Rahmen und als Teilgebiet der alten und traditionsreichen Geschichtswissenschaft und der Pädagogik zu untersuchen. Hajo Bernett forderte seinerzeit von der neuen, modernen Sportgeschichte im Rahmen der Sportwissenschaft, sich durch aktuelle, vor allem zeitgeschichtliche Themen und Fragestellungen zu legitimieren.5 In den 1970er und 1980er Jahren wurde Sportgeschichte an (fast) jedem Sportinstitut gelehrt und auch geforscht. Horst Ueberhorsts sechsbändige Universalgeschichte des Sports war im Entstehen,6 die beiden Bände über Deutschland (Teilbände 3/1 und 3/2) waren gerade fertig geworden, deutsche Sporthistoriker aus Ost und West waren in internationalen Gremien wie der – westlich ausgerichteten – Internationalen Vereinigung für Sportgeschichte (HISPA) oder seinem sozialistischen Pendant ICOSH vertreten, und Sporthistoriker leiteten große Sportinstitute etwa in Münster und Göttingen.7 4 5

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Jürgen Kocka, Das Haus der Geschichte hat viele Zimmer; in: Frankfurter Rundschau vom 20.6.1989. Hajo Bernett, Der Beitrag der Sportgeschichte zur Bewußtseinsbildung von Sportpädagogen, in: Sportunterricht (8), S. 337–344. Horst Ueberhorst (Hg.), Geschichte der Leibesübungen, 6 Bde., Berlin u.a. 1972–1989. Siehe dazu auch die Schriften Hans Langenfelds; vgl. Michael Krüger (Hg.), Impulse für die Sportgeschichte. Zum 80. Geburtstag von Hans Langenfeld, Hildesheim 2012.

Sportgeschichte in Westfalen als lokale und regionale Kulturgeschichte

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Ueberhorst und Bernett selbst zählten zur mittleren Generation der deutschen Sporthistoriker, die das Dritte Reich und den Krieg miterlebt hatten, die in der Turn- und Sportbewegung groß geworden waren und die Tradition der alten Turn- und Leibeserziehungsgeschichte mit neuen Akzenten fortsetzten. Ihr Ziel war es, die deutsche Turn- und Sportgeschichtsschreibung der Weimarer Republik und der Zeit des Nationalsozialismus zu überwinden − mit anderen Worten: ein neues Kapitel der Sportgeschichtsschreibung aufzuschlagen. Die „Klassiker“ Saurbier (mit E. Stahr, erstmals 1939) und Neuendorff (4 Bde., 1930–1936),8 deren Bücher noch in den 1930er Jahren geschrieben worden sind, aber bis weit in die 1970er Jahre in den Fachbibliotheken der Sportinstitute standen und – unter anderem aus Mangel an Alternativen – eifrig genutzt wurden, sollten endgültig in die Archive gestellt werden. Ähnliches gilt im Übrigen für die Schriften Carl Diems und Hermann Altrocks,9 die das historische Selbstverständnis des Faches Leibesübungen, Leibeserziehung und Sport in den 1950er und 1960er Jahren prägten. Als Personen waren sie außerdem an der Neukonstituierung der Leibeserziehung und der Sportwissenschaft nach 1945 maßgeblich beteiligt. Wenn man gegen diesen Aufbruch einer „neuen“ Generation der Sportgeschichte in den 1970er und 1980er Jahren die heutige Situation der Sportgeschichte stellt, muss man feststellen, dass nicht viel davon übrig geblieben ist. Sportgeschichte spielt, wie erwähnt, in der Sportwissenschaft nur noch eine untergeordnete Rolle − obwohl ein nicht unbeträchtliches öffentliches Interesse an sporthistorischen Themen besteht. Man denke nur an die Fußball-Weltmeisterschaften und die Olympischen Spiele, die jeweils eine erhebliche öffentliche Nachfrage nach sporthistorischem Wissen auslösen. Angesichts dieses Sportgeschichtsbooms muss man sich fragen, warum die Sportgeschichte im Rahmen der Sportwissenschaft in Deutschland immer mehr an den Rand gedrängt wurde. Den Bedeutungsverlust der Sportgeschichte in der akademischen Sportwissenschaft kann man eigentlich nur verstehen, wenn man sich die Entwicklung des Faches Sportwissenschaft und die politischen Rahmenbedingungen seiner Genese vor Augen führt. Sportwissenschaft in Ost und West – ein Rückblick Die akademische Disziplin Sportgeschichte existiert im Rahmen der Sportwissenschaft in Deutschland im Grunde erst seit den späten 1960er und 1970er Jahren, als sich die Sportwissenschaft als akademisches Fach mit interdisziplinärem Charakter an den Universitäten in Westdeutschland etablierte. Der wichtigste Grund für die akademische Nobilitierung des Sports als Wissenschaft an der Universität bestand in erster Linie darin, die Entwicklung des Sports und besonders des Leistungs- und Hochleistungssports in Deutschland wissenschaftlich zu begleiten und zu fördern. Die Olympischen 8

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Bruno Saurbier, Geschichte der Leibesübungen, 7. Aufl., Frankfurt a. M. 1970; Edmund Neuendorff, Geschichte der neueren deutschen Leibesübung vom Beginn des 18 Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Dresden 1930–1932. Carl Diem, Weltgeschichte des Sports, Stuttgart 1971; Hermann Altrock/Carl Diem/Arthur Mallwitz/Edmund Neuendorff, Handbuch der Leibesübungen, Berlin 1924.

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Spiele von München 1972 standen auf der Tagesordnung, von denen die junge Wissenschaft vom Sport in hohem Maße profitieren konnte; und darüber hinaus wurde der Sport im deutsch-deutschen Dauerkonflikt als vermeintlich wirksame Waffe im Kalten Krieg auch wissenschaftlich aufgerüstet. In der DDR diente dazu auch die Sportgeschichte, weil sie sich als Mittel der ideologischen Kriegsführung und politischen Bewusstseinsbildung der Sportlehrer und -funktionäre nutzen ließ. Außerdem war es eine Aufgabe der Sporthistoriker in der DDR, die turn- und sporthistorischen Traditionen in Deutschland im Sinne der DDR zu besetzen. Am Beispiel der GutsMuths- und Jahnrezeption, aber auch der Coubertin- und Olympiarezeption in der DDR wurden diese Traditionen auch schon aufgearbeitet. Das erklärt, warum die Sportgeschichte in der DDR einen vergleichsweise hohen Stellenwert erhielt – neben den Fächern und Disziplinen, die dazu dienten, das „Sportwunder DDR“ Wirklichkeit werden zu lassen. Die DDR-Sportgeschichtsschreibung hatte eine klare ideologische, marxistisch-leninistische Ausrichtung. Ihr Ziel bestand darin, ein „neues, nationales Geschichtsbild der Körperkultur“ zu zeichnen, wie es einer der Ideologen der DDR-Sportgeschichte, Lothar Skorning, 1973 formulierte.10 In der Bundesrepublik setzte man weniger auf Tradition und Kultur, sondern mehr auf Technologie und Pädagogik. Gleichwohl konnte sich auch in der westdeutschen Sportwissenschaft die Sportgeschichte zunächst als eine Teildisziplin etablieren und entwickeln, insbesondere durch Professoren, die aus der Tradition des Turnens, der „Turnphilologie“ und der „Leibeserziehung“ kamen und nach dem Krieg die reformpädagogisch inspirierte „Theorie der Leibeserziehung“ und später Sportwissenschaft an den Universitäten vertraten. Nach dem Ende der DDR und des Kalten Krieges wurde der Sportgeschichte im Rahmen der Sportwissenschaft die politisch-ideologische Grundlage entzogen; dies gilt sowohl für Ost- als auch Westdeutschland. Die ostdeutsche akademische Sportgeschichte wurde nach der Wende komplett abgewickelt, und die verbliebenen Professuren im Westen wurden nach dem Ausscheiden der jeweiligen Personen nicht mehr mit Sporthistorikern besetzt. Im Ergebnis gibt es heute in Deutschland nur noch eine Professur für Sportgeschichte an der deutschen Sporthochschule in Köln. Als eigene Teildisziplin ist die Sportgeschichte so gesehen in der deutschen Sportwissenschaft nicht mehr repräsentiert, obwohl sich natürlich einige Professorinnen und Professoren der Sportwissenschaft, zum Teil auch mit sportsoziologischer und besonders sportpädagogischer Ausrichtung, mit der Geschichte des Sports, zum Teil sehr spezialisiert und differenziert, beschäftigen. Auf der Ebene des sogenannten akademischen Mittelbaus sowie der Privatdozenten und außerplanmäßigen Professoren wird Sportgeschichte vor allem in der Lehre, aber auch mit beachtlichen Anstrengungen und Leistungen in der Forschung betrieben.11

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Lothar Skorning, Geschichte der Körperkultur. Ergebnisse der sportwissenschaftlichen Forschung und Entwicklung in der DDR, in: Theorie und Praxis der Körperkultur 21 (1971), Beiheft 3, S. 15–17; außerdem Wolfgang Eichel/Lothar Skorning/Wilhelm Beier, Geschichte der Körperkultur in Deutschland, Berlin 1973. Siehe dazu auch die Ausführungen von Langenfeld und Krüger in Michael Krüger/Hans Langenfeld (Hg.), Handbuch Sportgeschichte, Schorndorf 2011, bes. S. 12–37.

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Nachdem die Sportwissenschaft ab den frühen 1970er Jahren etabliert war, hatte dies auch zur Folge, dass die Vertreter der sogenannten Mutterdisziplinen zunehmend weniger Interesse an dem Gegenstandsbereich „Sport“ zeigten, zumal es ja ein ganzes Fach gab, dessen Aufgabe darin bestand, den Sport wissenschaftlich an Universitäten zu erforschen. Die Ausflüge der allgemeinen Historiker in die (neuere) Sportgeschichte waren bis in die 1990er Jahre hinein eher selten. Erst in den letzten Jahren hat im Rahmen des neuen Paradigmas der Gesellschafts- und Kulturgeschichte das Interesse der Historikerinnen und Historiker aus der Geschichtswissenschaft wieder zugenommen. Bis zu dem Buch von Christiane Eisenberg (1999) gab es niemanden aus der Allgemeinen Geschichte, der sich intensiv mit dem „Sport“ beschäftigte. Eisenberg verfasste m.W. die erste Habilitationsschrift, die bis dahin zu einem sportgeschichtlichen Thema in der Allgemeinen Geschichte eingereicht und als Habilitationsleistung anerkannt wurde. Sportgeschichte aus der Sicht der Geschichtswissenschaft(en) Seitdem lässt sich jedoch in der deutschen Historiographie eine interessante Veränderung der Beschäftigung mit dem Thema Sport feststellen. Allgemeinhistoriker widmen sich sportnahen Themen, und die wenigen verbliebenen Sporthistoriker aus der Sportwissenschaft versuchen, die Impulse aus der Geschichtswissenschaft und -theorie aufzugreifen. Sie treffen sich in der Gesellschaftsgeschichte, Körpergeschichte, Nationalgeschichte, Kulturgeschichte usw. Dies geschieht jedoch nicht ohne kommunikative Schwierigkeiten; leider werden die jeweiligen Forschungsergebnisse nicht immer ausreichend wahrgenommen. Henning Eichberg ist vielleicht der prominenteste Vertreter aus den Verzweigungen der neueren deutschsprachigen Geschichtswissenschaften, der sich schon Ende der 1970er Jahre mit der Sport- und Bewegungsgeschichte aus einer kulturhistorischen und anthropologischen Denkrichtung heraus beschäftigte und wichtige Impulse setzte.12 Seine geistigen Väter waren zum einen der historische Anthropologe August Nitschke und zum anderen der Soziologe und „Menschenwissenschaftler“ Norbert Elias, die beide aus ganz unterschiedlicher Richtung Ideen für eine kultur- und zeitspezifische Erforschung von Körperlichkeit, Bewegung, Spiel und Sport lieferten. Dabei ging es auch nicht mehr nur um die Aufarbeitung historischer Fakten, sondern ebenso um die Analyse der historisch geprägten Wahrnehmung von körperbezogenen Verhaltensweisen, Gesten und Symbolen, wie sie in Turnen und Sport seit Beginn der Neuzeit gepflegt wurden. Die Habilitationsschrift des Kultur- und Sportwissenschaftlers Bernd WedemeyerKolwe trägt den Titel „Der neue Mensch“13 und handelt von den neuen Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in denen sowohl ein neues sportlich-bewegtes Welt- als 12 13

Henning Eichberg, Der Weg des Sports in die industrielle Zivilisation, Baden-Baden 1973. Bernd Wedemeyer-Kolwe, „Der neue Mensch“. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004.

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auch ein neues Menschenbild geprägt wurde. Vor wenigen Jahren legte der Sozial- und Wirtschaftshistoriker Peter Borscheid sein Buch mit dem Titel „Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung“ vor,14 in dem er aus einer ganz anderen Richtung demselben Phänomen einer veränderten Erlebnis- und Erfahrungswelt nachgeht. Der Pädagoge Eckard Meinberg spricht vom „Homo Sportivus“, der im 20. Jahrhundert geboren worden sei.15 Die hundertjährigen Jubiläen des Deutschen Fußball-Bundes im Jahr 2000 und des Internationalen Fußballverbandes (FIFA) 2004 sowie der fünfzigste Jahrestag des Gewinns der Fußballweltmeisterschaft 1954 provozierten außer den offiziellen Jubiläumsbänden und einigen Ausstellungsprojekten eine Reihe von historischen Arbeiten zur Geschichte des Fußballs in Deutschland.16 Hervorzuheben ist die Studie von Nils Havemann (2005) unter dem Titel „Fußball unterm Hakenkreuz“.17 Diese Arbeit wurde vom Deutschen Fußball-Bund in Auftrag gegeben, nachdem harsche öffentliche und publizistische Kritik am DFB im Umgang mit seiner Geschichte, insbesondere im „Dritten Reich“, geäußert worden war. Mit dem Buch von Havemann liegt nun eine durch Quellen gestützte, gründliche wissenschaftliche Untersuchung vor, die (trotzdem) gut und spannend zu lesen ist. Im Zusammenhang mit dem historischen und soziologischen Modethema „Körper“ sind in den letzten Jahren zahlreiche Arbeiten entstanden, unter anderem das viel besprochene Buch von Philipp Sarasin mit dem Untertitel „Eine Geschichte des Körpers“.18 Vorsichtigerweise schreibt er von einer und nicht von der Geschichte des Körpers. Gleichwohl sollte man von einer solch fundamentalen Studie erwarten dürfen, dass auch andere als nur (s)eine Körpergeschichte wahrgenommen wird und eine entsprechende Auseinandersetzung mit diesen anderen Körpergeschichten und Körperkonzepten stattfindet, z. B. auch mit der Geschichte des Körpers, die aus der Sicht der Sportgeschichte bzw. der Theorie und Geschichte der Leibeserziehung geschrieben wurde. Dies geschieht leider kaum oder nur in Ansätzen. Neben körpergeschichtlichen Ansätzen sind Biographien in der Sportgeschichte wieder sehr gefragt. Abgesehen von der Vielzahl populärer Sportlerbiographien (z. B. Volker Kluge über Max Schmeling),19 ist auch das Interesse an Sportfunktionären und an deren Vergangenheit, insbesondere ihre Verstrickung in den Nationalsozialismus, gestiegen. Havemann hat in seinem Buch über den Deutschen Fußball-Bund während der Zeit 14

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Peter Borscheid, Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt a. M./New York 2004. Eckart Meinberg, Homo sportivus − Die Geburt eines neuen Menschen, in: Michael Krüger (Hg.), Menschenbilder im Sport, Schorndorf 2003, S. 95–114. Christiane Eisenberg, FIFA 1904–2004. 100 Jahre Weltfußball, Göttingen 2004; Franz-Josef Brüggemeier (Hg.), Der Ball ist rund. Katalog zur Fußballausstellung im Gasometer Oberhausen im CentrO anlässlich des 100-jährigen Bestehens des Deutschen Fußball-Bundes 12. Mai bis 15. Oktober 2000, Essen 2000; Markwart Herzog/Andreas Bode, Fußball zur Zeit des Nationalsozialismus. Alltag − Medien − Künste − Stars, Stuttgart 2008. Nils Havemann, Fußball unterm Hakenkreuz. Der DFB zwischen Sport, Politik und Kommerz, Bonn 2005. Siehe auch seine aktuelle Geschichte der Fußballbundesliga: Nils Havemann, Samstag um halb 4. Die Geschichte der Fußballbundesliga, München 2013. Philipp Sarasin, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914, Frankfurt a. M. 2001. Volker Kluge, Max Schmeling. Eine Biographie in 15 Runden, Berlin 2004.

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des Nationalsozialismus eine Reihe von Biographien eingearbeitet, von Otto Nerz und Sepp Herberger bis zu Felix Linnemann und Peco Bauwens. Schließlich verfasste Frank Becker eine Biographie über den Sportfunktionär und Sportwissenschaftler Carl Diem, die sowohl in den Medien als auch in der Fachwissenschaft intensiv und kritisch diskutiert wurde.20 Sportgeschichte „von unten“ Der Begriff Sportgeschichte ist genauso wenig geschützt wie die Berufsbezeichnung des Sporthistorikers. Es handelt sich weder nur um Personen, die sich im Rahmen von akademischen Sportinstituten mit historischen Aspekten des Sports beschäftigen und dazu publizieren, noch um andere, die als Allgemeinhistoriker den Sport und was dazu gehört (insbesondere den Körper) als neues Thema entdecken. Diese sporthistorischen Experten stellen einen vergleichsweise geringen Teil der sporthistorisch aktiven Personen dar. In Deutschland gibt es – wie auch in vielen anderen Ländern − eine rührige Szene ehrenamtlich tätiger Sporthistorikerinnen und Sporthistoriker in den regionalen Instituten für Sportgeschichte, Sportmuseen, Häusern der Geschichte, Archiven der Vereine und Verbände usw. Die Archivare in Stadt-, Landes- und Staatsarchiven beschäftigen sich zunehmend auch mit Anfragen zum Sport, etwa aus Anlass des Verfassens einer Vereinsfestschrift oder einer Ausstellung zum Jubiläum von Vereinen und Verbänden. Einige regionale Institute für Sportgeschichte wie in Sachsen, Berlin, Niedersachsen oder Baden-Württemberg, aber auch in Rheinland-Pfalz und Hessen arbeiten systematisch mit den Vereinen und Verbänden vor Ort sowie den Stadt- und Landesarchiven bzw. auch – wie in Leipzig – mit dem Stadtmuseum zusammen.21 Zu Fragen der regionalen und lokalen Sportgeschichtsschreibung in Deutschland sind mehrfach Tagungen, Workshops und Kongresse abgehalten worden. Ebenso gibt es Initiativen verschiedener Institute und Museen, die Arbeit von „Graswurzelhistorikern“ zu fördern, deren Ergebnisse sichtbar zu machen und gegebenenfalls zu koordinieren. Die kulturelle Dynamik des Sports (im weitesten Sinn) äußert sich gerade in der Arbeit dieser regionalen und lokalen Sporthistorikerinnen und Sporthistoriker, aber auch von Fachhistorikern zu einzelnen Sportarten und Bewegungsfeldern, von der Turn- über die Radsport- bis zur Fußballgeschichte, die in der Deutschen Arbeitsgemeinschaft von Sportmuseen, Sportarchiven und Sportsammlungen e. V. (DAGS) institutionell verbunden sind und ein gemeinsames Forum für Sportgeschichte geschaffen haben. Man sollte dabei auch nicht vergessen, dass Laien und Autodidaktiker ganz wesentlich zur Entwicklung des akademischen Fachs Sportgeschichte beigetragen und wichtige Arbeiten und Vorarbeiten für die Entwicklung einer professionellen wissenschaftli20 21

Frank Becker, Den Sport gestalten, Duisburg 2011. Vgl. als Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen regionalen und lokalen Instituten für Sportgeschichte und professionellem Archivwesen: Michael Krüger, Von Klimmzügen, Aufschwüngen und Riesenwellen. 150 Jahre Gymnastik, Turnen, Spiel und Sport in Württemberg. Jubiläumsschrift des Schwäbischen Turnerbundes, Tübingen 1998; Martin Furtwängler/Christiane Pfanz-Sponagel/Martin Ehlers (Hg.), Nicht nur Sieg und Niederlage. Sport im deutschen Südwesten im 19. und 20. Jahrhundert, Ostfildern 2011.

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chen Disziplin geleistet haben. Die sporthistorischen Werke des gerühmten, aber auch geschmähten und kritisierten Carl Diem stehen dabei ganz oben; aber auch Edmund Neuendorff ist letztlich dazu zu rechnen. Sie alle haben Sportgeschichte als Kulturgeschichte gesehen und geschrieben, weil sie Turnen und Sport als eigenständige kulturelle Kraft der modernen Zeit seit dem 19. Jahrhundert interpretierten. Auch wenn diese Arbeiten nicht strengen und schon gar nicht modernen wissenschaftlichen Kriterien standhalten können, konnten sie gleichwohl Impulse geben und Maßstäbe setzen, an denen auch die moderne, professionelle Sportgeschichtsschreibung nicht vorbei kann − egal, ob sie ihre Heimat in der Allgemeinen Geschichte oder in der Sportwissenschaft hat. Wer sich für Sportgeschichte interessiert, hat inzwischen vielfältige Möglichkeiten, sein sporthistorisches Wissen zu erweitern. Zu den nach wie vor lesenswerten älteren Darstellungen zu den verschiedensten sporthistorisch relevanten Themen und Fragestellungen sind neue Lehr- und Handbücher sowie eine Vielzahl neuerer Ansätze hinzugekommen.22 Die wichtigsten Anstöße gingen aber nicht mehr aus einer im engeren Sinn sportwissenschaftlich und sportpädagogisch verankerten Sportgeschichte hervor, sondern sind Ergebnis eines breiten, im weitesten Sinn gesellschaftsgeschichtlich ausgerichteten Geschichtsverständnisses. Festzustellen sind eine gewachsene Nachfrage und großes öffentliches Interesse an Sportgeschichte – allerdings meistens nur anlässlich aktueller Sportereignisse und Jubiläen. Dasselbe gilt auch im lokalen und regionalen Rahmen für Jubiläen von Turn- und Sportvereinen und -verbänden. Es gibt viele Beispiele von sporthistorisch interessierten und -engagierten Sport- und gegebenenfalls Geschichtslehrerinnen und -lehrern, die Schul- und Stadtjubiläen dazu nutzen, die Geschichte von Turnen und Sport in ihrer Stadt oder auch an ihrer Einrichtung mit den Schülern aufzuarbeiten und in Form von Ausstellungen, Postern und Schriften zu dokumentieren. Profis und Amateure der Sportgeschichte sind aufeinander angewiesen und können voneinander profitieren. Ohne das große Detailwissen und die differenzierten Interessen der verschiedensten Zweige der Liebhaber-Historiker auf dem Gebiet des Sports bliebe vieles im Dunkel der Vergangenheit. Aber ebenso wichtig ist es, dass die akademische Sportgeschichte, also im Wesentlichen die an Universitäten tätigen Hochschullehrer, die wissenschaftlichen und theoretischen Perspektiven der Geschichte von Bewegung, Gymnastik, Turnen, Spiel und Sport verdeutlichen. 2. Regionalgeschichte von Turnen und Sport in Westfalen Im Unterschied zu Niedersachsen, Baden-Württemberg, Sachsen und Berlin, wo es etablierte regionale sporthistorische Zentren, Institute oder Museen, zumindest aber Arbeitsgemeinschaften gibt, verfügt Nordrhein-Westfalen über keine vergleichbare Institution. Dafür sind in NRW die Deutsche Sporthochschule Köln und das Deutsche 22

Michael Krüger, Einführung in die Geschichte der Leibeserziehung und des Sports, Schorndorf 2004/05; ders./Langenfeld (Hg.), Handbuch Sportgeschichte.

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Sport- und Olympiamuseum beheimatet. Beide sind jedoch nicht regionalhistorisch ausgerichtet, sondern international und „olympisch“. 1996 wurde am Sitz des Westfälischen Turnerbundes in Oberwerries ein WestfälischLippisches Institut für Turn- und Sportgeschichte gegründet, das bis heute Bestand hat. Neben der Herausgabe einer Zeitschrift entfaltete das Institut eine Reihe weiterer, wenn auch bescheidener Aktivitäten.23 Eine Sportgeschichte der ehemaligen westfälischen Provinzialhauptstadt Münster legten 2002 Hans Langenfeld und Klaus Prange vor.24 In dieser einmaligen und vorbildlichen Stadt-Sportgeschichte findet sich alles, was eine lokale bzw. regionale Sportgeschichte auszeichnet: Neben den spezifischen sozialen, politischen und kulturellen Rahmenbedingungen der Stadt bzw. der Region werden auch die Entwicklung von Turnen, Spiel und Sport in Vereinen, an Schulen und der Universität, aber auch in Betrieben und privaten Einrichtungen, die Wechselbeziehungen zwischen (körper-)kultureller, politischer und sozialer Entwicklung und schließlich die Verknüpfungen mit dem „großen“, überregionalen, in Einzelfällen auch olympischen Sportgeschehen dargestellt. Am Beispiel dieser Stadt-Sportgeschichte kann man zeigen und sehen, dass und wie Bewegung, Turnen, Gymnastik, Spiel und Sport zum Alltag und zur Freizeit der Menschen im lokalen bzw. urbanen Raum gehörten, wie sie ihr Körper- und Selbstbild prägten, wie sich Geschlechterbeziehungen und Geschlechterbilder im Sporttreiben äußerten und veränderten, wie sich Körpererziehung oder Leibeserziehung zu einem festen Element der Bildung und Erziehung an den Schulen, an der Universität und in der Armee entwickelten. 2006 präsentierte das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm (unter Leitung von Maria Perrefort und Diana Lenz-Weber) unter der Überschrift „Sportgeist“ eine Ausstellung über „Die Kulturgeschichte von Turnen und Sport in Westfalen“ mit einem entsprechenden Ausstellungskatalog.25 Das Themenspektrum reichte von den Anfängen der Turnbewegung in Westfalen seit dem frühen 19. Jahrhundert über den Turn- und Sportunterricht an den Schulen und in der Armee, die Arbeitersportbewegung und den Fußball bis zur Jugendbewegung und Lebensreformbewegung, der Entwicklung der Turn- und Sportkleidung und der Turnhallenarchitektur. Der Anhang des Katalogs enthält eine Zeitleiste zur Turn- und Sportgeschichte Westfalens, beginnend mit dem Entstehen des ersten Turnplatzes im westfälischen Minden, der Gründung erster Fußballmannschaften und -vereine Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Nachkriegssportgeschichte in NordrheinWestfalen, die 1947 mit der Gründung des LSB Nordrhein-Westfalen ihren Anfang nahm.

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Turn- und Sportgeschichte in Westfalen und Lippe. Zeitschrift des Westfälisch-Lippischen Instituts für Turnund Sportgeschichte, Hamm 1996. Hans Langenfeld/Klaus Prange, Münster − die Stadt und ihr Sport. Menschen, Vereine, Ereignisse aus den vergangenen beiden Jahrhunderten, Münster 2002. Inzwischen liegen auch für NRW weitere Stadt-Sportgeschichten vor, z. B. für Bonn von Dittmar Dahlmann/Norbert Schloßmacher/Joachim Scholtyseck (Hg.), Bonn in Bewegung: eine Sportgeschichte, Essen 2011. Maria Perrefort/Maria Lenz-Weber (Hg.), Sportgeist. Die Kulturgeschichte von Turnen und Sport in Westfalen, Bönen 2006.

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Die Anfänge von Turnen und Sport in Westfalen – ein historischer Abriss26 Sport ist ein wichtiger Bestandteil unserer zeitgenössischen Alltagskultur in Städten und Regionen, ein sozio-kulturelles Phänomen, das alle Gesellschaftsschichten erfasst. Allein der Teilbereich des organisierten Vereinssports erreicht mehr Menschen in Deutschland als jede andere Form vereinsgebundener Freizeitgestaltung. Rund ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland ist Mitglied in einem Turn- und Sportverein. Dem 1947 in Hagen gegründeten Landessportbund Nordrhein-Westfalen (LSB NRW) als Landesvertretung des Deutschen Sportbundes gehören über hundert Mitgliedsorganisationen an, darunter die Vertretungen diverser Sportarten vom Fußball bis hin zu asiatischen Kampfsportarten, aber auch Organisationen mit besonderer Aufgabenstellung wie der Lebensrettung (DLRG). Insgesamt waren 2010 rund 5 Millionen Bürgerinnen und Bürger Nordrhein-Westfalens in über 20.000 Vereinen im Landessportbund NRW organisiert. Damit ist das bevölkerungsreichste Bundesland auch das mit den meisten Mitgliedern innerhalb des Deutschen Olympischen Sportbundes, des Dachverbandes des Sports in Deutschland.27 Der Sport, wie wir ihn heute kennen, ist historisch gesehen ein relativ junges Phänomen, dessen Ursprünge wenige Generationen zurückreichen. Erst seit etwa zweihundert Jahren betreiben die Deutschen eine Art von Leibesübungen, die nach unserem Verständnis als „Sport“ bezeichnet werden kann. „Sport“ als eine Ausprägung moderner Massenkultur ist eine Erscheinung des ausgehenden 19., in seiner kulturpolitischen Bedeutung mehr noch des 20. Jahrhunderts. Während „Sport“ heute als Sammelbegriff für nahezu alle Ausprägungen aktiver körperlicher Betätigung steht, war dies noch vor hundert Jahren anders. In der damaligen Zeit galt es zu trennen zwischen dem „Deutschen Turnen“ und dem, was aus dem „Mutterland“ des Sports England auf den europäischen Kontinent hinüberschwappte und binnen weniger Jahrzehnte die Entwicklung der Leibesübungen zu beeinflussen und zu dominieren begann. Die Unterschiede zwischen „Turnen“ und „Sport“ lagen nicht allein in der Art der Ausübung von bestimmten Leibesübungen, ihre Entwicklung ist vielmehr während des gesamten 19. und frühen 20. Jahrhunderts innerhalb eines politischen, sozialen und kulturellen Kontextes zu sehen. „Turnen“ und „Sport“, das waren im 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht nur zwei verschiedene methodische Ansätze, sich körperlich zu betätigen, es waren zugleich zwei verschiedene Ausdrucksweisen in Politik, Kultur und Gesellschaft. Die 1815 gebildete preußische Provinz Westfalen, aufgeteilt in die Regierungsbezirke Münster, Minden und Arnsberg mit dem Sitz des Oberpräsidenten in Münster, war im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine in ihrer Sozial- und Wirtschaftsstruktur breit gefächerte Region, bestehend aus einigen Groß-, Mittel- und Kleinstädten sowie noch überwiegend ländlich geprägtem Raum. Städte mit sich entwickelnder Industrie wie die Montan- und Textilindustriestandorte Bochum, Gelsenkirchen, Bocholt, Gronau und 26

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Die folgenden Ausführungen stützen sich auf den Beitrag von Stefan Nielsen und Michael Krüger im Katalog zur Ausstellung in Hamm (2006), in: Perrefort/Lenz-Weber (Hg.), Sportgeist, S. 14–26. Vgl. dazu die Angaben im Jahrbuch des Sports. Deutscher Olympischer Sportbund 2010.

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Rheine sowie die durch eine diversifizierte Industriestruktur gekennzeichneten Städte Dortmund, Bielefeld, Hagen und Siegen existierten neben Dienstleistungszentren mit den Schwerpunkten Verwaltung und Militär wie Münster, Minden oder Paderborn. Ein sich in der Phase der Industrialisierung und Hochurbanisierung bis zum Ersten Weltkrieg überproportional entwickelndes großstädtisches Zentrum, wie es das benachbarte Rheinland mit Köln besaß, fehlte in Westfalen. Neben industriell geprägten Regionen wie Minden-Ravensberg, dem märkischen Sauerland und natürlich den nördlichen Ausläufern des Ruhrgebietes als einem industriell-urbanen Verdichtungsraum bisher nicht gekannten Ausmaßes war Westfalen von Regionen mit ländlicher Siedlungsstruktur geprägt. Zentren des Katholizismus waren das Münsterland, wo ca. 90 Prozent der Einwohner römisch-katholisch waren, das Sauerland und die Region um Paderborn. Stärker protestantisch geprägte Regionen waren Minden-Ravensberg, die Mark und das Siegerland. Im Ruhrgebiet als dem Migrationszentrum Westfalens lebten Angehörige beider Konfessionen. Zu Beginn des Kaiserreichs zählte die Bevölkerung etwa 2 Millionen Einwohner, bis 1914 hatte sich die Zahl durch den Bevölkerungszuwachs vor allem in den Industriezentren bereits auf ca. 4 Millionen verdoppelt.28 Anfänge der Leibesübungen und des Turnens Das „Deutsche Turnen“ entwickelte sich nach 1800 als eine originär deutsche Form von Körper- und Bewegungskultur. Es bildete neben dem „englischen Sport“ und der „schwedischen Gymnastik“ die Basis der modernen Leibesübungen.29 Die Ursprünge turnerischer Übungen in Deutschland lagen in traditionellen Bewegungsformen, die sich zum Teil bis in das Mittelalter zurückverfolgen lassen. Hierzu zählten spielerische und sportliche Wettkämpfe im Laufen, Schießen, Springen, Werfen, Reiten, Ringen oder in den Ballspielen als Volksbelustigung. Die „Übung des Leibes“ diente aber auch einer erhöhten Wehrfähigkeit, die in den Städten zur Bildung von bürgerlichen Schützen- und Fechtgesellschaften führte. Ebenso waren ritterliche Exerzitien der höfischen Kultur und Ritterturniere Bestandteil dieser mittelalterlichen Leibesübungen. Im 17./18. Jahrhundert erlebte die traditionell-volkstümliche Ausprägung der Leibesübungen einen Niedergang. Er war durch die Folgen des Dreißigjährigen Krieges bedingt sowie durch einen zum Teil religiös motivierten Werte- und Sittenwandel, der sich in einer zunehmenden Schamhaftigkeit, Gewaltkontrolle und einer Abkehr von Körperlichkeit bemerkbar machte. Die ritterlichen Übungen Fechten, Reiten und Voltigieren in Verbindung mit gesellschaftlichen Kulturtechniken wie höfischem Tanz und Habitus prägten nun die Bewegungskultur. Höfisch-ritterlich geprägte Leibesertüchtigung wurde 28

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Vgl. zur Bevölkerungsentwicklung Westfalens: Stephanie Reekers, Westfalens Bevölkerung 1818–1955. Die Bevölkerungsentwicklung der Gemeinden und Kreise im Zahlenbild, Münster 1956; sowie zur kulturellen Entwicklung Karl Ditt, Kultur in Westfalen 1870–1970. Kategorien und Thesen, in: Westfälische Forschungen 47 (1997), S. 1–29. Vgl. im Folgenden Michael Krüger, Einführung in die Geschichte der Leibeserziehung und des Sports, Teilbde. 2 und 3, 2. Aufl., Schorndorf 2005.

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auch an vielen Bildungseinrichtungen für die Söhne des gehobenen Bürgertums ausgeübt, so etwa am Jesuitenkolleg zu Münster in Westfalen.30 Von den Philanthropen zu „Turnvater“ Jahn Im ausgehenden 18. Jahrhundert erfuhren die Leibesübungen eine Neubelebung durch die „Philanthropen“, die der Körperertüchtigung neue Bedeutungsinhalte zuwiesen und dabei die Ideale der Aufklärung zur Erziehung einer „neuen Menschenedition“ aufnahmen. Die 1784 von Christian Gotthilf Salzmann in Schnepfenthal in der Nähe Gothas gegründete Erziehungsanstalt wurde neben dem 1774 gegründeten „Philanthropinum“ in Dessau ein Zentrum philanthropischer Pädagogik. Hier lehrte ab 1785 Johann Christoph Friedrich GutsMuths seine „Gymnastik“. Er entwickelte neuartige künstliche Geräte mit Sprossen, Stangen und Seilen und setzte einfache Methodiken zur Leistungsmessung ein. Die Ideen der Aufklärung und der Philanthropen erreichten auch Westfalen. Der fortschrittliche Minister für das Hochstift Münster, Freiherr Franz von Fürstenberg, Gründer der Universität Münster, ließ in die Schulordnung für die Gymnasien von 1776 auch Vorschriften für die Übung des Leibes einfließen. Zum Kreis der katholischen Aufklärer um den Freiherrn von Fürstenberg zählte auch die in Angelmodde bei Münster wohnende Amalia Fürstin von Gallitzin. Goethe besuchte die Fürstin 1792 auf seiner Rückkehr von der Champagne und berichtete von den „rousseauischen Maximen über bürgerliches Leben und Kinderzucht“ der Fürstin, die ihre Kinder Schwimmen und Reiten lehrte, „vielleicht auch Balgen und Ringen“. Anderen Berichten zufolge sollen ihre Kinder in der Werse nackt gebadet haben.31 Vor allem GutsMuths und Gerhard Ulrich Anton Vieth begründeten mit ihrer Systematisierung traditioneller und neu konzipierter Übungsformen die Leibesübungen, die dann vom „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn aufgegriffen und als „Turnen“ bezeichnet wurden. Jahn formte das Turnen auf den Turnplätzen, die nach dem Vorbild der Berliner Hasenheide (1811) in Deutschland Verbreitung fanden, zu einem Erziehungskonzept abseits des traditionellen Schulwesens und verhalf dem Turnen als einer nationalpädagogischen Bewegung langfristig in ganz Deutschland zu Popularität. In Westfalen entstand 1818 auf Initiative des Bückeburger Mediziners Dr. Faust ein Turnplatz in Minden; auch in Siegen existierte zu diesem Zeitpunkt eine Turngemeinde. Ein nahes Zentrum der Turnbewegung wurde die Rheinprovinz um Köln und Düsseldorf. Neuartig an diesem „Deutschen Turnen“ war die zusammenfassende Bezeichnung, aber auch die Systematisierung dieser traditionellen Übungen und Spiele und die von Beginn an einsetzende Verknüpfung mit einer gesellschaftspolitischen Zielsetzung. Jahn war es, der die politische Instrumentalisierung der Leibesübungen intensivierte. Der Turner des 19. Jahrhunderts war stets auch Vertreter einer politischen, nationalen Zielvorgabe: Wer turnte, bekannte sich zum einigen deutschen Vaterland. Die 1816 erschie30 31

Langenfeld/Prange, Münster, S. 8–10. Hermann Lübbe, Sport − egalitär und elitär, in: Michael Krüger (Hg.), Der deutsche Sport auf dem Weg in die Moderne. Carl Diem und seine Zeit, Berlin 2009, S. 11–24, hier S. 13; außerdem Langenfeld/Prange, Münster, S. 14 f.

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nene „Deutsche Turnkunst“ mit ihren „Turngesetzen“ wurde zur Fibel (und Bibel) der Turnplätze, die sich fast alle nach dem Modell der Hasenheide einrichteten. Der Turnbewegung sollen sich bis 1818 etwa 12.000 Turner in 150 Turngesellschaften angeschlossen haben, davon 100 in Preußen. Jahn selbst brachte sich mit seinen öffentlichen Auftritten zunehmend in Widerspruch zu der herrschenden politischen Linie. Mit der Auflösung der Turnplätze, der Verhaftung Jahns 1819 und der preußischen „Turnsperre“ vom 2. Januar 1820 wurde das Turnen als pädagogische wie als politische Bewegung unterdrückt. In der Zeit zwischen 1820 und der Mitte des 19. Jahrhundert fand Turnen nahezu ausschließlich in Form einer von jeder politischen Zielsetzung entkleideten schulischen Leibeserziehung statt, die sich im 19. Jahrhundert flächendeckend zunächst in den Städten, schließlich auch in den Landschulen etablierte. Das Turnen im Freien blieb zunächst auf wenige, meist private Turnanstalten beschränkt, deren Existenz vom politischen Umfeld abhängig war. So gelang es dem Mindener Turnplatz offenbar, die Zeit des Turnverbots zu überdauern. Der erste preußische Oberpräsident der Provinz Westfalen, Ludwig Freiherr Vincke, errichtete von 1819 bis 1825 hinter seinem Haus in Münster einen privaten Turnplatz, auf dem sein Sohn mit Mitschülern turnen konnte. Freiwilliger Turnunterricht wurde seit 1828/29 auch am städtischen Gymnasium Paulinum erteilt. Diese frühen Bestrebungen zur Etablierung des Turnens blieben im katholischen Münster jedoch zunächst folgenlos. So kam es nicht zur Etablierung eines Schüler-Turnvereins wie in zahlreichen anderen deutschen Städten, wo solche Vereine den Beginn eines organisierten Vereinsturnens bedeuteten. Turnunterricht gab es in den 1830er und 1840er Jahren auch an höheren Schulen in Bielefeld, Iserlohn und Siegen. Die sich hier herausbildende (schul-)turnerische Tradition förderte die Entstehung von frühen Turnvereinen in Iserlohn und Siegen.32 Die Konstituierung des organisierten Turnens Mit der Aufhebung der Turnsperre in Preußen im Jahr 1842 lebte das Jahn’sche Turnen wieder auf. Die Turnbewegung entwickelte sich in der Zeit zwischen Vormärz und Reichsgründung im Wechselspiel zwischen staatlicher Unterdrückung und politischer Anpassung von einer schwärmerischen Jugendbewegung der Schüler und Studenten zu einer von Kleinbürgertum und bürgerlichem Mittelstand repräsentierten Massenbewegung, der 1862 innerhalb des Deutschen Bundes 1.279 Turnvereine mit 134.507 Mitgliedern angehörten. In stärkerem Maße als in der frühen Phase ihrer Verbreitung etablierte sich die Turnbewegung nunmehr in der zeittypischen bürgerlichen Konstitutionsform des Vereins mit formeller Mitgliedschaft, einer Satzung und einem gewählten Vorstand. Unter organisationsgeschichtlichem Blickpunkt lässt sich erst jetzt vom Beginn eines organisierten und strukturierten Turnwesens in Deutschlands sprechen. Erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bildeten sich institutionelle Strukturen, die für 32

Stefan Nielsen/Klaus Prange, Soziale und kulturelle Funktionen von Turnen und Sport in Münster während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, in: Westfälische Forschungen 47 (1997), S. 498–515; sowie Wolfgang Hufnagel, Die Entwicklung der westfälischen Turnvereine 1842–1862, Münster 1983, S. 27 ff.

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moderne Sportsysteme kennzeichnend sind. Die Entstehung eines nationalen Turnverbandes mit dem Namen „Deutsche Turnerschaft“, des ersten deutschen „Sportverbandes“ im Jahre 1868, zeitigt den vorläufigen Höhepunkt dieser institutionellen Entwicklung.33 Auch in Westfalen zeigte sich nach der Aufhebung der Turnsperre „neues turnerisches Leben, was durch Gründung einer ganzen Reihe von Turnvereinen zum Ausdruck kam“.34 Der erste Turnverein Westfalens entstand im März 1846 in Iserlohn auf Initiative eines aus Hamburg zugewanderten Turners mit Unterstützung Iserlohner Schullehrer. Am Frankfurter Turnfest im August 1847 nahmen Turnvereine aus Altena, Olpe und Siegen teil. Zwei Monate später veranstaltete der Iserlohner Turnverein ein erstes Turnfest, an dem neben dem Altenaer auch ein Verein aus dem nahe Iserlohn gelegenen Menden teilnahm. Wie in ganz Deutschland führte die Aufbruchstimmung des Revolutionsjahres 1848 zur Bildung weiterer Vereine in Bochum, Bielefeld, Dortmund, Halver, Lippstadt, Schwelm und Witten. Insgesamt sind bis 1848 elf Vereinsgründungen innerhalb Westfalens belegbar. Überwiegend waren es Gründungen in den frühindustriellen Migrationszentren des Ruhrgebiets, daneben des Sauerlandes und der Region MindenRavensberg. Im Regierungsbezirk Münster kam es dagegen zu keiner Gründung. Erkennbar wird das typische Gründungsmuster in der frühen Etablierungsphase von Turnvereinen durch die Zuwanderung von Turnern oder durch „Turnfahrten“ in benachbarte Orte. Kurzfristig kam es sogar auf Initiative des Iserlohner Vereins zur Etablierung eines Niederrheinisch-westfälischen Bezirksvereins des Deutschen Turnerbundes von 1848. Das Erstarken der politischen Reaktion ab 1850 bedeutete für das Turnen in Westfalen zunächst das Ende. Obwohl 1854 und 1856 in Kamen und Dortmund Turnvereine gegründet wurden, setzte die eigentliche Verbreitung des organisierten Turnens in Westfalen erst nach der Übernahme der Regentschaft durch Wilhelm I. ein, der Preußen seit 1858 regierte und einen liberaleren Kurs einschlug. Turnvereine entstanden bis 1863 in über dreißig westfälischen Orten, wobei erneut die regionale Nähe zu den entstehenden Industriezentren signifikant ist: bereits 1859 in Hamm, ab 1860 unter anderem in Altena, Arnsberg, Barop bei Dortmund, Bünde, Gelsenkirchen, Hagen, Haspe, Hattingen, Hemer, Herford, Hörde, Lippstadt, Lüdenscheid, Lünen, Minden, Rheda, Siegen, Soest, Unna und in Wetter an der Ruhr. Auch innerhalb des Regierungsbezirkes Münster bildeten sich nun erste Turnvereine.35 Wie schwierig noch in den 1860er Jahren die Etablierung des politisch-revolutionär inkriminierten Turnens in einer Region war, deren katholische Bevölkerung von der preußisch-protestantischen Obrigkeit argwöhnisch beäugt wurde, zeigt das Beispiel der Gründung des ersten Turnvereins in Münster im Jahr 1862. Mitbegründer und erster Vorsitzender war ein aus Minden stammender protestantischer Justizrat, der ausreichend preußisch-protestantische Gesinnung verkörperte, um die Genehmigung für die Bildung 33

34 35

Michael Krüger, Körperkultur und Nationsbildung. Die Geschichte des Turnens in der Reichsgründungsära. Eine Detailstudie über die Deutschen, Schorndorf 1996, S. 26–52, 79–81, 296; Neuendorff, Geschichte der neueren deutschen Leibesübung, Bd. 3, S. 415–461 sowie Bd. 4, S. 137 ff. Rudolf Gasch, Handbuch des gesamten Turnwesens und der verwandten Leibesübungen, Wien 1928, S. 523. Ebd., S. 523; Hufnagel, Entwicklung der westfälischen Turnvereine, S. 32–105, bes. S. 62, 69, 105.

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eines Turnvereins zu erhalten. Auch die weiteren münsterischen Turnvereine, 1883 und 1897 gegründet, waren zunächst preußisch-protestantisch dominiert. Innerhalb der katholischen Bevölkerung der Provinzialhauptstadt verbreitete sich das Turnen zunächst kaum; ein Bild, das sich beim Aufkommen des organisierten Sports ab 1882 wiederholen sollte. So kann es auch nicht verwundern, dass dem Turnverein Münster zunächst kaum weitere Gründungen innerhalb des Regierungsbezirks nachfolgten, nur in Burgsteinfurt (1862), Recklinghausen (1863), Bottrop (1865) und Bocholt (1867) entstanden weitere Vereine.36 Die Deutsche Turnerschaft entwickelte sich im Kaiserreich zu einer der großen deutschen Verbandsorganisationen und zu einem tragenden, (klein-)bürgerlichen Element des neuen Reiches. 1910 hatte der Verband die Millionengrenze überschritten. Die Mitgliederzahlen waren höher als etwa bei den sich parallel entwickelnden Massenorganisationen wie den Gewerkschaften oder politischen Parteien. Der SPD gelang dies beispielsweise erst 1912. In der Zeit des Kaiserreichs verbreitete sich das organisierte Turnen innerhalb Westfalens, wobei auch hier die regionale Nähe zu Orten mit bereits etablierten Turnangeboten maßgeblich war. Insgesamt kam es innerhalb der Regierungsbezirke Arnsberg und Minden früher zu einer flächendeckenden Verbreitung des Turnens als im Regierungsbezirk Münster. Während in den Bezirken Arnsberg und Minden bis 1900 zahlreiche Kleinstädte unter 5.000 Einwohnern wie Warstein, Meschede, Berleburg, Halle, Versmold, Löhne oder Lübbecke einen Turnverein vorweisen konnten, gab es im Regierungsbezirk Münster noch zur Jahrhundertwende Orte wie Dülmen, Emsdetten, Herten, Marl, Telgte, Werne oder Oer-Erkenschwick, in denen Turnen in organisierter Form nicht stattfand. Der Paradigmenwechsel von „linken Revolutionären“ zur Zeit der demokratischen deutschen Revolution von 1848/49 zu „rechten Konservativen“ im Deutschen Kaiserreich, von einer scheinbar vorrangig politisch motivierten Oppositionsbewegung zu einer staatstragenden, bürgerlichen Kulturbewegung im Kaiserreich, fügte sich in die Grundstruktur der gesellschaftlichen Differenzierung des Wilhelminismus ein. So begann sich auch das Turnen sozial zu differenzieren. Ähnlich wie die politischen Führungskräfte im Reich sah sich die Führung der Deutschen Turnerschaft nicht in der Lage, mit dem Phänomen der industriellen Arbeiterklasse anders als durch Ausgrenzung umzugehen. Als Folge entstand 1893 der Arbeiter-Turner-Bund (ATB), dessen Mitgliedsvereine polizeilich überwacht wurden. Die Turnbewegung blieb gleichwohl, trotz zeitweiliger Annäherungen an politische Führungskasten durch ihre Führer, ein Element des kleinbürgerlichen Kulturspektrums. Der Einbruch in die „satisfaktionsfähige“ höhere Gesellschaft gelang nie. Der Rückzug des Bildungsbürgertums aus dem Turnen und seine Hinwendung zum gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden Sport ist ein wesentlicher Grund für den trotz steigender Mitgliederzahlen politisch-sozialen Abstieg des Turnens im frühen 20. Jahrhundert. Das Turnen wurde zum staatlich beaufsichtigten Sammelbecken kleinbürgerlicher Interessen, das die Verhaltensformen und 36

Langenfeld/Prange, Münster, S. 56–68; zum katholischen Milieu Münsters: Doris Kaufmann, Katholisches Milieu in Münster 1928–1933. Politische Aktionsformen und geschlechtsspezifische Verhaltensräume, Düsseldorf 1984, S. 39 ff.

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-normen der wilhelminischen Gesellschaft in sich aufsog. Die zunehmende politische, soziale und auch methodische Erstarrung des Turnens, das Verharren in antiquierten Verhaltensformen machte das Turnen gerade für die aufstrebenden städtischen Eliten unattraktiv. Das Aufkommen des „englischen Sports“ In die Krise des Turnens stieß gegen Ende des 19. Jahrhundert der aus England kommende Sport. Als ein nennenswerter und beachteter Kulturfaktor trat Sport erst in der Zeit des Kaiserreichs in Erscheinung. In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg entwickelten sich die Strukturen des organisierten Sports, wie wir sie bis heute kennen. Die Etablierung des Sports fiel zusammen mit den Modernisierungsprozessen, die vor dem Ersten Weltkrieg mit der Hochindustrialisierung und Urbanisierung ihren Höhepunkt fanden. Im Gegensatz zum biederen, kleinbürgerlich besetzten Turnen verkörperte der aus dem Mutterland allen industriellen Fortschritts importierte Sport die neue, moderne und schnelllebige Zeit. Gerade das, was dem Turnen fremd war, der Wettkampf, das Streben nach individuellen Rekorden und Höchstleistungen, begeisternde und unvorhersehbare Spielabläufe statt reglementierter Ordnungsübungen in ständiger, kaum zu differenzierender Wiederholung, schließlich auch die für einen prosperierenden Wirtschaftsstaat nötige Internationalität anstelle einer nationalen Fremdenfeindlichkeit, all dies machte den „modernen“ Sport für den „modernen“ Bürger reizvoll. Er betrieb Sport nicht (bzw. nicht in erster Linie) „fürs Vaterland“. Sport war hier bereits Freizeitvergnügen, Ausgleich zum industriellen Alltag, Ausdruck eines neu erwachten Lebensgefühls. Im Sport konnten sich sowohl bestehende gesellschaftliche Klassen wie auch neu entstehende, sozial noch wenig verortete Schichten wie die Angestellten oder die Industriearbeiter zusammenfinden. Vor allem in den urbanen Ballungszentren diente der Sport auch als ein Hilfsmittel eines von gemeinsamen Interessen geprägten gesellschaftlichen Zusammenfindens hinzugezogener, aus ihrem gewohnten sozialen und ökonomischen Umfeld gerissener Einwohner. Die Verbreitung der englischen Sportarten erfolgte zunächst durch Imitation englischen Sporttreibens in Städten wie Hamburg, Hannover oder Baden-Baden, in denen Engländer lebten oder die von englischen Touristen besucht wurden. Auf diese Weise entstanden die ersten deutschen Sportvereine. Diese „Clubs“ unterschieden sich entscheidend von den traditionellen deutschen Turnvereinen. Sie waren Phänomene der urbanen Kultur, insbesondere in der Anfangsphase sozial distinktiv, und ihre Mitglieder entstammten überwiegend dem mittleren bis gehobenen Bürgertum mit Tendenzen in die Adelsschicht. Im Kaiserreich etablierte sich der Sport in seinen vielschichtigen Dimensionen, angefangen beim traditionellen Reit- und Rudersport, dem im Kaiserreich sehr populären Radfahren über die „leichte Athletik“, die Elemente der turnerischen

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„volkstümlichen Übungen“ beinhaltete, bis hin zum Fußballspiel, das zu einer Angelegenheit des Bürgertums und nicht wie in England der Arbeiterschaft wurde.37 Binnen weniger Jahrzehnte gelang es dem Sport, dem Turnen vergleichbare Strukturen auszubilden, ja aufgrund seiner prinzipiellen Offenheit für Neuerungen und Veränderungen diese noch zu verfeinern. Den Vereinsgründungen folgten binnen kurzer Zeit Verbände (zuerst 1883 Deutscher Ruderverband, 1900 Deutscher Fußballbund), die wiederum Regeln, Normen und Verhaltensweisen ausarbeiteten, es entstanden hierarchische Strukturen durch Wettkampfordnungen, Spielbetriebe und Meisterschaften. Was dem Turnen nur ansatzweise gelungen war − zu einem konstituierenden Kulturfaktor für die Gesellschaft zu werden −, das realisierte sich im Sport. Sowohl das Herrscherhaus als auch der Großindustrielle, der Intellektuelle wie der Kaufmann, schließlich auch und dann gerade die breite Masse der Arbeiterschaft, sie alle fanden sich nach 1900 im Sport zusammen. Bereits im Kaiserreich lässt sich dem Sport der Stempel einer Erscheinungsform der Massenkultur aufdrücken. Auch unter quantitativen Aspekten war der organisierte Sport zu einer Massenorganisation herangewachsen. Etwa 1,3 Millionen Turnern standen 400.000 bürgerliche Sportler und diesen zusammen wiederum etwa 320.000 Arbeiterturner und -sportler gegenüber; insgesamt waren also ca. 2 Millionen von insgesamt ca. 65 Millionen Deutschen (= 3,1 Prozent) Mitglied eines zum Zweck des Betreibens von Leibesübungen gegründeten Vereines.38 In den Jahrzehnten zwischen 1880 und 1900, verstärkt jedoch nach der Jahrhundertwende setzte die Verbreitung des organisierten Sports in Westfalen ein. Frühe Gründungen betrafen Vereine für das Schwimmen, das sich im Kontext turnerischer Leibesertüchtigung, schulischer Erziehung und der Einrichtung kommerzieller (Fluss-)Badeanstalten bereits frühzeitig als eine Übergangsform vom Turnen zum Sport erwiesen hatte. Schwimmvereine entstanden primär an Orten, die über natürliche Wasservorkommen wie Flüsse oder Seen verfügten, 1891 in Kamen und Münster, 1894 in Hagen, 1895 in Iserlohn, 1896 in Bochum und Dortmund. Nach 1900 nahm die Zahl der Schwimmvereine dann stark zu, gefördert nun auch durch den Bau von Schwimmhallen in den größeren Städten. Zeittypisch sind die frühesten nachweisbaren Sportarten solche, die zunächst individuell und vereinsunabhängig von Angehörigen des Besitz- und Bildungsbürgertums als Ausdruck modernen Lebensstils ausgeübt wurden, in erster Linie waren dies Radfahren, Tennis und, bei geeigneten Wasserwegen, das Rudern. Rudern war beispielsweise eine der ersten Sportarten, die in Münster zur Bildung eines bis heute bestehenden Sportvereins führte, des Rudervereins Münster von 1882. Die Sportart Rudern ging aus einer bürgerlichen Freizeitgestaltung hervor, dem sonntäglichen Ausflugsrudern, das dann wie das Schwimmen eine „Versportlichung“ erfuhr. Auch Tennis und Radfahren waren primär Sportarten für die gehobene Gesellschaft, die zunächst meist in privatem Rahmen betrieben wurden. Frühe Radfahrvereinsgründungen in den 1880er 37

38

Vgl. Karl Ditt, Zweite Industrialisierung und Konsum. Energieversorgung, Haushaltstechnik und Massenkultur am Beispiel nordenglischer und westfälischer Städte 1880–1939, Paderborn/München/Wien/Zürich 2011. S. 639. Zur Entwicklung des Sports als Massenphänomen vgl. u.a. Christiane Eisenberg, Massensport in der Weimarer Republik. Ein statistischer Überblick, in: Archiv für Sozialgeschichte 33 (1993), S. 137–177.

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und 1890er Jahren sind für Bochum, Bocholt, Bottrop, Dortmund, Iserlohn, Osterfeld, Rhede, Wanne-Eickel und Witten belegt. Radsportvereine entstanden im Kaiserreich in großer Zahl, meist als nur kurzlebige Erscheinungen, mitgliederschwach und in ihrer Mitgliederstruktur sozial eng verortet.39 Allein für das in der Sportentfaltung eher zurückstehende Münster, wo 1881 der erste Radfahrverein entstand, sind bis 1914 mindestens sieben weitere Vereinsgründungen nachweisbar.40 Höhepunkt der Münsteraner Frühgeschichte des Radsports war die Teilnahme von Bernhard Knubel, eines von drei radsportbegeisterten Brüdern der Familie Knubel, am 100-Kilometer-Rennen bei den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit 1896 in Athen.41 Das Radfahren wurde schnell auch zu einer bevorzugten Sportart der Arbeiter, für die sich eine Möglichkeit zur Flucht aus den beengten Wohn- und Arbeitsbedingungen bot. So waren etwa in den Industriegebieten des Ruhrgebiets und MindenRavensbergs zahlreiche Radfahrvereine Arbeitervereine, mitunter waren Arbeiter-Radfahrvereine sogar die frühesten Sportvereinsgründungen am Ort, so in Dortmund 1899 oder in Herford 1904. Nach 1900 nahm die Gründungsfrequenz der Sportvereine rapide zu. Als dominant erwiesen sich nun zunehmend der Rasensport, die Leichtathletik und dann vor allem das wettkampfbetonte Fußballspiel als die englische Sportart schlechthin. Sportvereine entstanden in einem Prozess des „Überspringens“ von größeren auf mittlere und dann auf kleinere Orte in allen drei Regierungsbezirken Westfalens. Die Gründung des Westfälischen Spielverbandes im Jahr 1899 und des Rheinisch-Westfälischen Spielverbandes im Jahr darauf bewirkten eine Strukturierung durch die Einrichtung eines geregelten Spielbetriebes. Insgesamt jedoch „hinkten“ die Westfalen „fußballerisch damals den Rheinländern ziemlich“ hinterher. Frühe Fußballvereine entstanden etwa 1895 in Dortmund durch ehemalige Gymnasiasten und 1900 in Bocholt. Auch Turnvereine öffneten sich nun, eher zaghaft, dem Sport, der Siegener Turnverein „Jahn“ nahm 1900 mit einer Fußballabteilung als nur einer von drei westfälischen Vertretern am Spielbetrieb des Verbandes teil. Auch im ländlich geprägten Ostwestfalen und im Münsterland sind noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs Sportangebote zu verzeichnen, wenngleich es in der Provinzialhauptstadt Münster erst 1906 zur Gründung des ersten Fußballclubs kam, des 1906 von preußisch-protestantischen Schülern der Oberrealschule gegründeten Fußball-Clubs „Preußen“.42 Im 19. Jahrhundert waren oft Schüler aus bürgerlichen Familien die Gründer der frühen Fußballvereine, aufgrund ihres Alters hatten sie mit einem Mangel an Reputation zu kämpfen. In Münster war der Fußballclub „Preußen“ auf die Unterstützung durch den Oberbefehlshaber der Garnison angewiesen, der dem 37 Mitglieder starken Schüler39

40 41 42

Vgl. Nielsen/Prange, Soziale und kulturelle Funktionen; zur Urbanisierung des Sports generell: Stefan Nielsen, Sport und Großstadt 1870 bis 1930. Komparative Studien zur Entstehung bürgerlicher Freizeitkultur, Frankfurt a. M. 2002. Langenfeld/Prange, Münster, S. 139–143. Ebd., S. 142. Uwe Wick (Hg.), 100 Jahre Fußball im Westen. Zwischen Alm, Wedau und Tivoli. Das Buch zum Jubiläum des Westdeutschen Fußballverbandes, Kassel 1998; für Deutschland allgemein: Brüggemeier (Hg.), Der Ball ist rund.

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verein einen Exerzierplatz als Spielgelände zur Verfügung stellte. Um 1928 gehörten die beiden Rasensportvereine Preußen 06 und Sport-Club Münster 08 mit ca. 800 bzw. 1.000 Mitgliedern zu den größten Vereinen der Stadt, deren Mitglieder sich nun nicht mehr nur aus preußischen Beamten und Militärs rekrutierten, sondern auch aus der katholisch-einheimischen Bevölkerung. Die Vereinsgründungen unter preußischem Einfluss bahnten dann auch dem Sporttreiben in Münster den Weg.43 Sport nach 1918 Nach dem Ersten Weltkrieg konsolidierte und nivellierte sich der organisierte Sport auf der Grundlage der im Kaiserreich geschaffenen Strukturen. Obwohl die Bestimmungen des Versailler Vertrages mit ihren Rüstungsbeschränkungen den bereits im 19. Jahrhundert bedeutsamen Aspekt der Leibesertüchtigung im Sinne einer Wehrhaftmachung erneut zu Tage treten ließen, gelang es dem Sport in den 1920er Jahren, sich zunehmend von Instrumentalisierungsversuchen frei zu machen. Das vorhandene Angebot an kommerziellen Sporteinrichtungen sowohl für die Sportler durch Tennisplätze, Eisbahnen und Schwimmhallen wie auch für die Zuschauer durch Sportstadien, Fußballplätze, Sporthallen und Radrennbahnen vergrößerte sich, zugleich nahm die Zahl der öffentlichen, aus staatlichen oder kommunalen Mitteln erbauten Sportanlagen für die Bevölkerung zu. Innerhalb der Freizeitkultur der städtischen Industriegesellschaft entwickelte sich der Sport endgültig zu einem Dienstleistungsangebot. Obwohl in vielen Bereichen der dem Kaiserreich entstammende „Klassensport“ mit seinen sozialen Abgrenzungen bestehen blieb, wurden Sportarten wie Schwimmen, Radfahren und schließlich auch das Fußballspiel für alle sozialen Schichten akzeptabel und finanziell möglich. Der Sport selbst begann sich zu differenzieren, es entstand ansatzweise das, was in der modernen Terminologie unter dem Begriff „Breitensport“ firmiert, ein nicht an Wettkampfverhalten oder Rekorden, sondern am körperlichen Ausgleich orientiertes, spielerisches Bewegungsverhalten. Sport blieb außerdem nicht mehr allein, wie noch im Kaiserreich, den ihn Ausübenden überlassen, sondern er erreichte, langsam aber stetig, die sogenannten breiten Massen an interessierten Zuschauern. Der sporttreibende und der sportinteressierte Mensch wurden zum Synonym für den modernen und zeitgemäßen Menschen. Die Bedeutungszunahme des Sports zeigte sich auch auf kommunaler Ebene. Die Einrichtung städtischer Dienststellen zur Verwaltung des Sportes stellte das Resultat einer notwendigen Aufwertung der Sportverwaltung innerhalb der Kommunen dar. Das Entstehen einer Leistungsverwaltung mit differenzierten kommunalen Verwaltungsstrukturen anstelle einer Honoratiorenverwaltung, die Ausweitung der kommunalen Daseinsvorsorge auch auf kulturellem Gebiet und schließlich die allgemeine politische Aufwertung des Sports durch den Staat waren hierfür maßgebliche Wegbereiter. 1927 gab es unter den insgesamt 539 deutschen Gemeinden mit mehr als 10.000 Einwohnern 98, die eine eigene Dienststelle für die Pflege und Förderung der Leibesübungen einge43

Nielsen/Prange, Soziale und kulturelle Funktionen.

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richtet hatten, in weiteren 211 wurden die Leibesübungen „nebenbei“, meist innerhalb der Schulverwaltung, betreut. Fünf westfälische Städte hatten ein Stadtamt für Leibesübungen, darunter Bochum und Gelsenkirchen. Bis 1930 hatte sich die Zahl der deutschen Städte mit einem Stadtamt für Leibesübungen dann bereits auf 123 erhöht.44 Zusammenfassend lassen sich für die Zeit nach 1918 folgende Merkmale der Sportentwicklung in Westfalen wie in ganz Deutschland nennen: 1. die Ausweitung des Sportangebots durch neue Sportarten wie Handball, Boxen, Schießsport oder Motorsport, 2. die Mehrspartigkeit von Sport- und Turnvereinen, 3. die Konsolidierung des Arbeitersports, 4. das Aufkommen des Frauensports (Tennis, Schwimmen, Radfahren, Leichtathletik und Rasenspiele wie Hockey oder Handball), der gleichwohl mit sittlichen Vorbehalten, etwa von Seiten der katholischen Kirche, zu kämpfen hatte, 5. die Entstehung von Firmen-, Betriebs- und Behördensportvereinen, 6. die Bedeutungszunahme des unorganisierten Sports, z. B. des Sportes in der freien Natur (Wandern, Skifahren etc.), 7. die zunehmende Beachtung durch die Medien, die Presse und dann auch den Rundfunk, 8. die forcierte Kommerzialisierung und damit auch Professionalisierung des deutschen Sports, etwa beim Fußball, die von den Amateursportverbänden bekämpft, aber nicht verhindert werden konnten. Die Aufspaltung des Sports in verschiedene Organisationen, unterschieden nach sozialen, religiösen, ethnischen, politischen oder sonstigen Kriterien, nahm in der Weimarer Republik erheblich zu. Das führte einerseits zu einer einmaligen Angebotsvielfalt, andererseits aber auch zur oftmals beklagten „Aufsplitterung“ des Sports in Klein- und Kleinst-Assoziationen. In einer katholischen Stadt wie Münster etwa war der Anteil der Mitgliedsvereine und damit der Einfluss der 1920 gegründeten katholischen Sportorganisation „Deutsche Jugendkraft“ (DJK) immens. Ende der zwanziger Jahre gehörte nahezu ein Drittel (31 Prozent) aller männlichen Turn- und Sportvereinsmitglieder einem der Deutschen Jugendkraft angeschlossenen Verein an, ein Anteil, der deutlich über dem anderer Zentren des DJK-Sports wie Hamm (9 Prozent) oder Paderborn (13 Prozent) lag.45 Die wichtigste Dachorganisation des Sports war jedoch der Deutsche Reichsausschuss für Leibesübungen (DRA) als Zentralverband des bürgerlichen Sports. Gegen Ende der Weimarer Republik repräsentierte der DRA 38 Verbände mit ca. 7 Millionen Mitgliedern, was einem Anteil von 11 Prozent der Gesamtbevölkerung entsprach. Im Dritten Reich wurde die in den zwanziger Jahren entstandene Vielfalt des organisierten Sports durch die zwangsweise „Gleichschaltung“ innerhalb des Deutschen Reichsbundes für Leibesübungen DRL (1936, ab 1938 Nationalsozialistischer Reichsbund für Lei44

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Krüger, Einführung in die Geschichte der Leibeserziehung und des Sports, Bd. 3, S. 92–110; Christiane Eisenberg, „English sports“ und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800–1939, Paderborn 1999, S. 342 ff. Nielsen/Prange, Soziale und kulturelle Funktionen.

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besübungen NSRL) als Zentralbehörde des Sports beendet. Die Einrichtung von „Fachämtern“ führte zu einer auf den ersten Blick einheitlichen Struktur des deutschen Sports. Bei näherem Hinsehen konkurrierten jedoch Parteiorganisationen wie die Hitlerjugend und die Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“ mit den Turn- und Sportvereinen. Der Nationalsozialismus brachte deshalb nicht nur die gewaltsame Zerschlagung konfessioneller Sportorganisationen und des Arbeitersports, sondern bedeutete auch das Ende der freien, bürgerlichen und bürgerschaftlichen Turn- und Sportbewegung.46 Dem weitgehenden Erliegen des Sporttreibens während des Zweiten Weltkriegs folgte nach 1945 die Zweiteilung des deutschen Sportsystems in das der Bundesrepublik und das der DDR. Zwischen 1947, dem Gründungsjahr des Landessportbundes Nordrhein-Westfalen, und 1950, als mit dem Deutschen Sportbund (DSB) in Hannover die Dachorganisation des Sports gegründet wurde, entstanden mit den Landessportbünden und den Fachverbänden auf freiwilliger Basis die Vertretungen des organisierten Sports, die bis heute das Bild des in Vereinen und Verbänden organisierten Sports prägen. 3. Zusammenfassung und Ausblick Die Geschichte von Turnen und Sport in Westfalen stellt nach wie vor ein Desiderat der geschichtswissenschaftlichen Forschung der Region dar. Sie ist weit mehr als westfälische Heimatkunde; vielmehr ist sie ein Beispiel für die lokale und regionale Basis des Sports als einem Massenphänomen der Moderne. Überall ist Sport heute präsent, und er ist in den Städten und Gemeinden Westfalens zuhause. Ein regionalhistorischer Zugang zur Sportgeschichte kann genau das zeigen, was für den Sport und die Sportentwicklung typisch ist. Er hat seine Basis vor Ort in der Turnhalle und auf dem Sportplatz, reicht aber weit darüber hinaus in andere Regionen, Länder und Nationen, weil Sport eben nicht nur an einem Ort, sondern überall auf der Welt betrieben wird. Die Sprache des Sports ist international verständlich, wird aber zuhause, im Verein und auf dem Platz gelernt. Von dieser Basis aus ermöglicht der Sport Kontakte mit anderen Sportlern und Mannschaften auf Turnieren, Meisterschaften sowie Turn- und Sportfesten. Und manchmal gelingt es sogar einem herausragenden Athleten aus einem kleinen Dorf auf der ganz großen Bühne des Sports bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen mitzuspielen. Dann sind zuhause alle stolz auf ihren Star, der einst der nette Junge oder die das talentierte Mädchen von nebenan waren und die in ihrem Verein groß geworden sind. Auf diese Weise verbinden sich lokale und regionale mit nationalen und sogar internationalen Perspektiven, die über den Sport auch multiple Identitäten ausbilden können. Turnen und Sport in Stadt und Land stehen nicht für sich. Sie bilden einerseits die Basis des „großen“ überregionalen Sports, und sind andererseits auch von den nationalen und internationalen Entscheidern über Regeln, Medien, Marktzugänge, Fördersysteme und vielem anderen abhängig, denn nach welchen Regeln gespielt und Sport getrieben wird, wird nicht im Vereinsheim und nicht einmal in Münster entschieden. 46

Vgl. Hajo Bernett, Sportpolitik im Dritten Reich. Aus den Akten der Reichskanzlei, Schorndorf 1971; Krüger, Einführung in die Geschichte der Leibeserziehung und des Sports, S. 130–163.

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Und doch besteht auch für Sportgruppen auf dem Land oder sogar für einzelne Athleten die Möglichkeit, ihren Sport nach ihrem Gusto zu gestalten und zu betreiben. Dieser knappe Überblick zur Geschichte der Vereine und Verbände von Turnen und Sport in Westfalen gibt nur einen Ausschnitt zahlreicher weiterer, unterschiedlichster Aspekte regionaler Sportgeschichte wieder. Außer diesem eher sportpolitischen und organisationsgeschichtlichen Zugang bieten sich weitere an, z. B. die Geschichte des Schulturnens und Schulsports in Westfalen im Rahmen einer Geschichte der Schule und der Erziehung im Westen Preußens und dann in Nordrhein-Westfalen. Dazu würde auch die Geschichte der Turn- und Sportlehrerausbildung zählen, in der die westfälische Landesuniversität, die Westfälische Wilhelms-Universität zu Münster, stets eine herausragende Rolle gespielt hat.47 Eine eher sozialhistorische Perspektive müsste die Frage beantworten, welche sozialen Schichten und Bevölkerungsgruppen geturnt und Sport getrieben haben, welche Sportarten von wem aus welchen Gründen bevorzugt wurden, welcher Sport sich als Merkmal sozialer Distinktion eignete, wie gebildete und Arbeiterschichten über den Sport miteinander in Kontakt kamen oder wie ländliche und städtische Regionen in Westfalen in sportlicher Hinsicht zueinander standen. Diese sozialhistorische Sicht ist wieder von der rein sportgeschichtlichen nach einzelnen Sportarten und deren Entwicklung nicht zu trennen. Dasselbe gilt für kulturhistorische Zugänge, zumal Bewegung, Turnen, Spiel und Sport Teil unterschiedlicher Alltagskulturen in Stadt und Land in Westfalen waren und sind: natürlich häufig getrennt nicht nur nach sozialen Schichten, sondern ebenso nach Altersgruppen – Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen, Älteren und Alten – sowie nach Geschlechtern. Eine eher körpergeschichtliche Perspektive müsste wiederum den Fokus auf unterschiedliche Körperpraktiken, körperbezogene Sitten und Bräuche, gesundheitliches Verhalten bis hin zu alltäglichen Ess- und Bewegungsgewohnheiten, generell den Habitus, also das körperliche Verhalten und Empfinden der Menschen richten, die durch die Verbreitung des Sports eine gewisse „Versportlichung“ erfahren haben. Im weiteren Sinn gehören dazu auch die Verbreitung sportlicher Kleidung und sportlicher Ernährung, die sogar zur Veränderung regionaler Essgewohnheiten beigetragen haben mögen – wofür natürlich auch noch andere Faktoren eine Rolle spielen. So gesehen steht also eine regionalhistorische Erforschung von Turnen, Spiel und Sport speziell in Westfalen − aber auch generell in anderen Regionen − erst am Anfang. Der besondere Erkenntnisgewinn regional- und lokalhistorischer Forschungsperspektiven zeigt sich darin, dass Bewegung, Turnen, Spiel und Sport nicht wie die traditionelle Heimatgeschichte auf die Region beschränkt sind, sondern ihre Verschränkung mit der Welt verdeutlichen.

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Vgl. Michael Krüger, Leibesübungen, Sport und Sportwissenschaft an der Universität Münster von den Anfängen bis in die 1960er Jahre, in: Hans-Ulrich Thamer (Hg.), Die Universität Münster im Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Brüche zwischen 1920 und 1960, Münster 2012, S. 903–926.

Harald Lönnecker

„Turner-Führer“ – Akademische Turnvereinigungen in Münster und ihre Vorstellungen von gesellschaftlicher Elite vom 19. Jahrhundert bis zum Ende der Weimarer Republik

1931 bestanden an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster 56 zugelassene studentische Verbindungen bzw. Korporationen und Vereine.1 Von diesen waren 26 katholisch-konfessionell.2 Nur drei bzw. vier waren turnerisch-sportlich orientiert und fielen auch von ihrer Mitgliederzahl her hinter die konfessionellen Zusammenschlüsse weit zurück. Es handelte sich um die Akademische Ruderverbindung (ARV) Westfalen im Akademischen Ruderbund (ARB),3 die Akademische Turnverbindung (ATV) Westmark im Akademischen Turnbund (ATB)4 und die Turnerschaft Rhenania zu Münster im Ver-

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Michael Doeberl u.a. (Hg.), Das akademische Deutschland, Bd. 2: Die deutschen Hochschulen und ihre akademischen Bürger, Berlin 1931, S. 985 ff.; Hartmut H. Jess, Specimen Corporationum Cognitarum 2000. Das Lexikon der Verbindungen (CD), 3. Folge, Köln 2010, Findex: Münster; zur Geschichte der münsterischen Studentenschaft nach 1918: Rainer Pöppinghege, Absage an die Republik. Das politische Verhalten der Studentenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster 1918–1935, Münster 1994, hier S. 35; für die vorhergehende Zeit fehlt eine Zusammenfassung. Doeberl, Das akademische Deutschland, S. 988 ff.; Pöppinghege, Absage, S. 36–40; zu einzelnen katholischen Verbindungen: Jess, Specimen, Gruppe 5: Konfessionelle Verbindungen; Siegfried Schieweck-Mauk, Lexikon der CV- und ÖCV-Verbindungen. Die Korporationen und Vereinigungen des Cartellverbandes der Katholischen Deutschen Studentenverbindungen (CV) und des Cartellverbandes der katholischen österreichischen Studentenverbindungen (ÖCV) in geschichtlichen Kurzdarstellungen, Vierow b. Greifswald/Köln 1997; allgemein Harald Lönnecker, „Demut und Stolz, . . . Glaube und Kampfessinn“. Die konfessionell gebundenen Studentenverbindungen – protestantische, katholische, jüdische, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Universität, Religion und Kirchen, Basel 2011, S. 479–540. Gegr. 30.5.1891, Farben: hellblau-weiß-dunkelblau, Wahlspruch: „Dem Vaterland ergeben – den Kräften vertrauend!“; Bestand im WS 1930/31: 61 Studenten, 116 Alte Herren und 14 sonstige Mitglieder; Doeberl, Das akademische Deutschland, S. 987; zum ARB: Ernst Fritz Giese, Akademischer Ruderbund (A.R.B.), in: ebd., S. 439–440; Hellmut Herbst, Geschichte des A.R.B. 1904–1964, Hamburg 1964; Friedhelm Golücke, Studentenwörterbuch. Das akademische Leben von A bis Z, 4. Aufl., Graz/Wien/Köln 1987, S. 16; Jess, Specimen, Gruppe 4, Nr. 1–000: Akademischer Ruderbund, hier Nr. 1–010: Westfalen Münster; eine wissenschaftlichem Anspruch genügende Geschichte des ARB steht noch aus. Gegr. 13.12.1902, Farben: rot-weiß-gold; Wahlspruch: „Für Ehre, Freiheit, Vaterland!“; Bestand im WS 1930/31: 75 Studenten und 80 Alte Herren; Doeberl, Das akademische Deutschland, S. 987; zum ATB: Johannes Müller, Akademischer Turnbund (A.T.B.), in: Doeberl, Das akademische Deutschland, S. 423–436; Martin Pabst, Zwischen Verein und Korporation: Die nicht farbentragenden Gesangs- und Turnverbindungen im SV bzw. ATB, in: Harm-Hinrich Brandt/Matthias Stickler (Hg.), „Der Burschen Herrlichkeit“. Geschichte und Gegenwart des studentischen Korporationswesens, Würzburg 1998, S. 321–336; Altherrenbund (AHB), Akademischer Turn-Bund (ATB) (Hg.), 1883–1983. Akademischer Turnbund. Festschrift aus Anlaß des 100-jährigen Bestehens, Melsungen 1983, hier S. 342 f.; Golücke, Studentenwörterbuch, S. 16 f.; Jess, Specimen, Gruppe 4, Nr. 2–000: Akademischer Turnbund, hier Nr. 2–031: Westmark Münster; eine wissenschaftlichem Anspruch genügende Geschichte des ATB steht noch aus.

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treter-Convent der Turnerschaften an deutschen Hochschulen (VC),5 eingeschränkt auch die ehemalige Turnerschaft und nunmehrige Burschenschaft Franconia zu Münster in der Deutschen Burschenschaft (DB).6 Dazu kamen der 1924 gegründete Akademische Schwimmverein (ASV), entstanden aus der „Akademischen Abteilung des Schwimmvereins Münster von 1891 e. V.“,7 die „Akademische Abteilung des Sportklubs PreußenMünster“ – unter „den Namen der Mitglieder finden wir die der beiden deutschen Meis-

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Gegr. 6.11.1850, Farben: blau-weiß-rot, Fuxenfarben: rot-weiß-rot, weiße Mütze, Wahlspruch: „In amicitia firmitas!“, Waffenspruch: „Furchtlos und treu!“; Bestand im WS 1930/31: 59 Studenten und 63 Alte Herren; Walther H. Meifert, 80 Jahre Rhenania zu Münster in Westfalen. Abriß der Geschichte der ehemaligen Landsmannschaft, jetzigen Turnerschaft im V.C. „Rhenania“ zu Münster in Westfalen 1850–1930, Dortmund o. J. (1930); W. Schellmann, 120 Jahre Alte Münster’sche Landsmannschaft im CC Rhenania von 1850, Münster i.W. 1970; Walter R. Brandenburg, 140 Jahre Alte Münster’sche Landsmannschaft im CC Rhenania von 1850, Münster 1990; Doeberl, Das akademische Deutschland, S. 986; Theodor Hölcke, Unsere Korporationen nach 1933 – Veränderungen in CC, LC und VC, o. O. (Jever) 1987, S. 157 f., 245, 272; ders. (Hg.), Die Wappen der Bünde des Coburger Convent, o. O. (Stuttgart) 1982/83, S. 184 f.; ders./Heinz Kraus, Die Landsmannschaften und Turnerschaften des CC, o. O. o. J. (Stuttgart 1978), S. 170; Erich Müller (Hg.), Turnerschafterbuch, Mainz 1933, S. 353; Paulgerhard Gladen, Landsmannschaften und Turnerschaften im Coburger Convent, Hilden 2009, S. 106; zum VC: Norbert Boeder, Der V.C., Verband der Turnerschaften auf deutschen Hochschulen, in: Paul Grabein (Hg.), Vivat Academia. 600 Jahre deutsches Hochschulleben, Berlin o. J. (1931), S. 123–127; Kurt Schmidt, Verband der Turnerschaften auf deutschen Hochschulen (V.C.), in: Doeberl, Das akademische Deutschland, S. 335–343; Max Mueller, Geschichte des Vertreter-Conventes (VC), Verbandes der Turnerschaften auf den deutschen Hochschulen 1872–1938, Stuttgart 1972; Paul Dietrich, Die Deutsche Landsmannschaft. Ein Beitrag zur geschichtlichen Entwicklung der DL im Rahmen des deutschen Korporationswesens, o. O. o. J. (Stuttgart 1958/59), hier S. 60, 71, 87; Golücke, Studentenwörterbuch, S. 489; Jess, Specimen, Gruppe 3, Nr. 406–000: Vertreter-Convent, hier Nr. 5–092: Rhenania Münster; eine wissenschaftlichem Anspruch genügende Geschichte des VC steht noch aus. Gegr. 4.8.1878, Farben: violett-weiß-rot, Fuxenfarben: violett-weiß, violette Mütze, Wahlspruch: „Ehre, Freiheit, Vaterland!“, Waffenspruch: „Hosti pectus, cor amico!“; Bestand im WS 1930/31: 61 Studenten und 131 Alte Herren; Doeberl, Das akademische Deutschland (s. Anm. 1), S. 985, 988 f.; Pöppinghege, Absage, S. 40; Wim Schmidt-Wegenast, Hundert Jahre Burschenschaft Franconia Münster. 1878 – 3. August – 1978. Eine Chronik über das Entstehen und Werden der Burschenschaft Franconia und der Akademischen Freiheit in Münster, o. O. o. J. (Münster i.W. 1978); Hans-Georg Balder, Die Deutschen Burschenschaften. Ihre Darstellung in Einzelchroniken, Hilden 2005, S. 335 f.; Mueller, Geschichte, S. 64; Max Droßbach/Hans Hauske (Hg.), Handbuch für den Deutschen Burschenschafter, 6. Aufl., Berlin 1932, S. 437; zur DB: Helma Brunck, Die Entwicklung der Deutschen Burschenschaft in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Eine Analyse, Diss. phil. Mainz 1996 (als gekürzter Druck: Die Deutsche Burschenschaft in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, München 1999); dies., Ideologische Strömungen in der Deutschen Burschenschaft zur Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, in: Einst und Jetzt. Jahrbuch des Vereins für corpsstudentische Geschichtsforschung 45 (2000), S. 161–175; dies., Burschenschaften und Burschenschafter in der Weimarer Republik, in: Klaus Oldenhage (Hg.), Jahresgabe der Gesellschaft für burschenschaftliche Geschichtsforschung e. V. (GfbG) 2008, Koblenz 2009, S. 7–66; zur vorhergehenden Zeit siehe den Literaturüberblick bei Harald Lönnecker, „Unzufriedenheit mit den bestehenden Regierungen unter dem Volke zu verbreiten“. Politische Lieder der Burschenschaften aus der Zeit zwischen 1820 und 1850, in: Max Matter/Nils Grosch (Hg.), Lied und populäre Kultur. Song and Popular Culture, Münster/New York/München/Berlin 2004, S. 85–131, hier S. 85 f.; Golücke, Studentenwörterbuch (s. Anm. 3), S. 82–85, 110; Jess, Specimen, Gruppe 2, Nr. 6–000: Deutsche Burschenschaft, hier Nr. 2–130: Franconia Münster. Gegr. 4.11.1924, Farben: rot-weiß-rot, Wahlspruch: „Mens sana in corpore sano!“; Doeberl, Das akademische Deutschland, S. 994; Jess, Specimen, Gruppe 4, Nr. 379–000: Freie Turn- und Sportvereine, hier Nr. 4– 379085: Akademischer Schwimmverein Münster; allgemein zu Sportvereinen in Münster: Hans Langenfeld/ Klaus Prange, Münster – die Stadt und ihr Sport, Münster 2002.

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ter Buchgeister (Speerwerfen) und Hoffmeister (Diskus)“8 und die „Akademische Abteilung im Sport-Club Münster 08 e. V.“.9 Über zwei weitere Vereine ist kaum mehr als die Tatsache ihrer Existenz bekannt, den am 24. Juni 1926 gegründeten Akademischen Tennis-Club und den am 15. Januar 1929 entstandenen, der katholischen Jugendbewegung nahestehenden „Verein für Leibesübungen Akademische Deutsche Jugendkraft“.10 Dass die Sportvereine Münsters eigene Riegen für die Hochschüler und Akademiker unterhielten und die akademischen Tennisspieler sich von den bürgerlichen der Stadt Münster separierten, gibt einen ersten Hinweis auf den akademischen Elitarismus und die mangelnde Exklusivität bürgerlicher Turn- und Sportvereine. Außerdem konnten seit etwa 1910 Studentinnen Mitglied der letztgenannten akademischen Vereinigungen werden, was bei den Verbindungen nicht der Fall war. Zudem waren Schwimmverein, Akademische Abteilungen und Tennis-Club interkorporativ, es gab zahlreiche Doppelmitgliedschaften, unter anderem mit den exklusivsten Korporationsformen, den Corps und Burschenschaften, die die Spitze der informellen Hierarchie akademischer Vereinigungen bildeten.11 Franconia, 1932/33 Vorsitzende Burschenschaft der Deutschen Burschenschaft, gab in ihrem ersten Vorsitz-Rundschreiben bekannt, sie habe an der „vom Klerikalismus befallen[en]“ westfälischen Hochschule nicht nur eine überkonfessionelle und damit antipartikularistische, vor allem gegen die katholischen Verbindungen – die „akademischen Handlanger der Zentrums-Partei“ – gerichtete Politik getrieben, sondern auch „durch Turnen und Sport stets das Panier der akademischen Freiheit hoch[ge]halten“.12

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Gegr. 10.7.1913, Wahlspruch: „Mens sana in corpore sano!“; Doeberl, Das akademische Deutschland, S. 994; Jess, Specimen, Gruppe 4, Nr. 379–000: Freie Turn- und Sportvereine, hier Nr. 4–379038: Preußen Münster. – Heinrich Buchgeister (1891–1977), zwischen 1913 und 1921 fünfmal Deutscher Meister im Speer- bzw. Diskuswurf, nach ihm ist das Stadion in Werl benannt; Hans Hoffmeister (1901–1980), war dreimal Deutscher und 1928 Weltmeister und Olympiasieger im Diskuswurf; ebd. Gegr. 1919, Farben: gelb-rot-weiß (Stadtfarben, wie Sport-Club Münster 08), Wahlspruch: „Mens sana in corpore sano!“; Doeberl, Das akademische Deutschland, S. 994; Jess, Specimen, Gruppe 4, Nr. 379–000: Freie Turn- und Sportvereine, hier Nr. 4–379084: Akademische Abteilung Sportclub 08 Münster. Jess, Specimen, Gruppe 4, Nr. 379–000: Freie Turn- und Sportvereine, hier Nr. 4–379111: Akademischer Tennis-Club Münster; ebd., Nr. 4–376112: Verein für Leibesübungen Akademische Deutsche Jugendkraft. Zu dieser informellen Hierarchie: Harald Lönnecker, „. . . gilt es, das Jubelfest unserer Alma mater festlich zu begehen . . .“ – Die studentische Teilnahme und Überlieferung zu Universitätsjubiläen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Jens Blecher/Gerald Wiemers (Hg.), Universitäten und Jubiläen. Vom Nutzen historischer Archive, Leipzig 2004, S. 129–175, hier S. 139–144; ders., „. . . nur den Eingeweihten bekannt und für Außenseiter oft nicht recht verständlich“. Studentische Verbindungen und Vereine in Göttingen, Braunschweig und Hannover im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 82 (2010), S. 133–162, hier S. 152 f. Bundesarchiv, Koblenz, Bestand DB 9 (Deutsche Burschenschaft) (künftig zit.: BAK, DB 9): IV. 1. Vorsitzende Burschenschaft/Bundesführung, 1918–1935, Franconia Münster, Rundschreiben, o.D.; zu diesem Bestand und seiner Geschichte: Harald Lönnecker, „Das Thema war und blieb ohne Parallel-Erscheinung in der deutschen Geschichtsforschung“. Die Burschenschaftliche Historische Kommission (BHK) und die Gesellschaft für burschenschaftliche Geschichtsforschung e. V. (GfbG) (1898/1909–2009). Eine Personen-, Institutions- und Wissenschaftsgeschichte, Heidelberg 2009; zusammenfassend ders., 100 Jahre Archiv und Bücherei der Deutschen Burschenschaft – 100 Jahre Burschenschaftliche Historische Kommission (BHK)/ Gesellschaft für burschenschaftliche Geschichtsforschung e. V. (GfbG), in: Archivar. Zeitschrift für Archivwesen 63 (2010), H. 2, S. 181–183.

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Die sich hier andeutenden Sichtweisen und politischen Fronten hatten eine lange Geschichte und mehrere Voraussetzungen und schlugen sich in der korporationseigenen Geschichtsschreibung in entsprechenden Spitzen bis in die Gegenwart nieder: Franconia war 1878 als (national-)liberale Abspaltung der 1847 gegründeten katholischen Verbindung Sauerlandia entstanden, eine direkte Folge des auch in Münster tobenden Kulturkampfs.13 1. Voraussetzungen Erstens sind Studenten als künftige Akademiker das Führungspersonal von morgen. Das macht sie als Gegenstand der Forschung interessant. Zudem vereinen sich in der Studentenschaft Aspekte einer juristisch, kulturell und gesellschaftlich relativ geschlossenen Gruppe: Zunächst ist das Studententum eine zeitlich begrenzte Phase im Leben junger Erwachsener, die ein ausgeprägtes, studentische Traditionen weitergebendes Gruppenbewusstsein aufweisen und daher wenig soziale Kontakte zu anderen Schichten pflegen. Studenten sind familiärer Sorgen weitgehend ledig, auf Grund des deutschen, wissenschaftlichen und nicht erzieherischen Studiensystems in ihrem Tun und Lassen ausgesprochen unabhängig und wegen ihrer vorrangig geistigen Beschäftigung wenig auf vorhandene Denkmodelle fixiert. Besonderen Nachdruck verleihen studentischem Engagement die berufliche, soziale und finanzielle Ungewissheit, der instabile Sozialstatus: Studenten sind noch nicht gesellschaftlich integriert und stehen daher auch Kompromissen weitgehend ablehnend gegenüber. In ihren politischen Ideen und Idealen neigen Studenten deshalb zum Rigorismus. Daraus resultiert, Gegner zu bekehren, oder, wenn das nicht möglich ist, sie niederzukämpfen oder zu vernichten. Zudem: Bis weit in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein begriffen die Gesellschaft wie die Studenten sich selbst als Elite, die als Akademiker die führenden Positionen des öffentlichen Lebens einnehmen würden, woraus letztlich das für eine Avantgarderolle unerlässliche Selbstbewusstsein entstand. Damit einher ging eine anhaltende Überschätzung der eigenen Rolle, aber auch eine Seismographenfunktion gesellschaftlicher Veränderungen. Mehr noch, studentische Organisationen, die akademischen Vereine und Verbindungen, hatten für die politische Kultur des bürgerlichen Deutschland von jeher eine Leitfunktion, spiegeln die Vielgestaltigkeit des gesellschaftlichen Lebens und sind mit den Problemen der einzelnen politisch-gesellschaftlichen Kräfte und Gruppen verzahnt.14

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Schmidt-Wegenast, Franconia Münster, S. 2–16; Meifert, Rhenania Münster, S. 43; vgl. Pöppinghege, Absage, S. 40; zur korporationseigenen Geschichtsschreibung zuletzt: Lönnecker, BHK/GfbG, S. 353 f. Harald Lönnecker, Quellen und Forschungen zur Geschichte der Korporationen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Ein Archiv- und Literaturbericht, in: Matthias Steinbach/Stefan Gerber (Hg.), „Klassische Universität“ und „akademische Provinz“. Studien zur Universität Jena von der Mitte des 19. bis in die

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Zweitens schlossen sich seit Beginn der mitteleuropäischen Universitätsgründungen im 14. Jahrhundert deutsche Studenten an der Hochschule zusammen.15 Diese Zusammenschlüsse, die akademischen Verbindungen oder Korporationen, sind keine rein kulturelle Besonderheit der deutschsprachigen Hochschulen, sondern beruhen auf einer eigenen Entwicklung. Sie war seit dem späten Mittelalter durch den Modus des freien Wohnens, Studierens und Lebens der Studenten und nicht zuletzt durch Territorialisierung geprägt, die ihren Ausdruck in den Staat und Kirche mit akademisch gebildeten Juristen und Klerikern versorgenden „Landesuniversitäten“ fand. Dies galt nach der Reformation jedoch nicht mehr für die katholisch gebliebenen oder neugegründeten Universitäten, wo Studium und Studenten einem mehr oder weniger strengen Reglement unterworfen wurden. An den nicht-katholischen Hochschulen entwickelte sich im 18. Jahrhundert, gebrochen durch die studentische, selbstdisziplinierend und verantwortungsethisch wirkende Reformbewegung ab etwa 1750, der Typus der Korporation, der für das 19. und 20. Jahrhundert bestimmend wurde. Sie war Integrations-, Symbol-, Ritual-, Hierarchisierungs-, Werte- und Weltanschauungs- sowie Lebensbundgemeinschaft. Da die neuhumanistische Universität Humboldts die selbständige geistige und sittliche Entwicklung des Studenten propagierte und das jugendliche Gemeinschaftsbedürfnis ignorierte, bildete, aber nicht erzog, bot sich diesem Typus ein weites Feld von Ansprüchen, die er sich zu eigen machte und auszufüllen suchte. Verbindung war

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dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, Jena 2005, S. 401–437, hier S. 402; ders., „In Leipzig angekommen, als Füchslein aufgenommen“ – Verbindungen und Vereine an der Universität Leipzig im langen 19. Jahrhundert, in: Jens Blecher/Gerald Wiemers (Hg.), Die Matrikel der Universität Leipzig, Teilbd. II: Die Jahre 1833 bis 1863, Weimar 2007, S. 13–48, hier S. 14–16; ders., „Ehre, Freiheit, Männersang!“ – Die deutschen akademischen Sänger Ostmitteleuropas im 19. und 20. Jahrhundert, in: Erik Fischer (Hg.), Chorgesang als Medium von Interkulturalität: Formen, Kanäle, Diskurse, Stuttgart 2007, S. 99–148, hier S. 99 f.; ders., „. . . freiwillig nimmer von hier zu weichen . . .“. Die Prager deutsche Studentenschaft 1867–1945, Bd. 1, Köln 2008, S. 18 f.; ders., Der Student im Garten, in: Eva-Maria Stolberg (Hg.), Auf der Suche nach Eden. Eine Kulturgeschichte des Gartens, Frankfurt a. M./Berlin/Brüssel/New York/Oxford/Wien 2008, S. 111–133, hier S. 115–118; ders., Studenten und Gesellschaft, Studenten in der Gesellschaft – Versuch eines Überblicks seit Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Universität im öffentlichen Raum, Basel 2008, S. 387–438, hier S. 392–396; ders., „Goldenes Leben im Gesang!“ – Gründung und Entwicklung deutscher akademischer Gesangvereine an den Universitäten des Ostseeraums im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Ekkehard Ochs/Peter Tenhaef/Walter Werbeck/Lutz Winkler (Hg.), Universität und Musik im Ostseeraum, Berlin 2009, S. 139–186, hier S. 140 f.; ders., Peregrinatio Academica. Beispiele nordwestdeutscher Bildungsmigration nach Halle, Jena und Göttingen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 81 (2009), S. 271–296, hier S. 273 f.; ders., Deutsche studentische Zusammenschlüsse in Ostmitteleuropa zwischen 1800 und 1920: Grundlagen – Quellen – Forschungen – Literatur, in: Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 17 (2009 [2010]), S. 185–214, hier S. 186 f.; ders., Der „Grenzlandkampf“ deutscher Studenten in Königsberg, Danzig, Breslau, Prag, Brünn und Czernowitz 1918– 1935, in: Beate Störtkuhl/Jens Stüben/Tobias Weger (Hg.), Aufbruch und Krise. Das östliche Europa und die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg, München 2010, S. 481–507, hier S. 481 f. Hierzu und im Folgenden: Lönnecker, Universitätsjubiläen, S. 132 f.; ders., Quellen und Forschungen, S. 403 f.; ders., „In Leipzig angekommen“, S. 15; ders., Studenten und Gesellschaft, S. 396–398; ders., Peregrinatio Academica, S. 273 f.; ders., Zusammenschlüsse, S. 187 f.

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daher auch ein Bildungsinstrument und -element, das nach eigenem Verständnis eine Lücke als Korrektiv der akademischen Freiheit ausfüllte und im Rahmen einer innerkorporativen Charakterbildung die wissenschaftlich-berufliche Ausbildung der Universität abzurunden versuchte, zugleich aber auch die Erziehung für die Zugehörigkeit zur Oberschicht der deutschen Gesellschaft bezweckte. In einem Satz: „Die Universitäten unterrichteten, die Verbindungen erzogen.“16 Drittens differenzierten sich die studentischen Vereinigungen immer mehr aus. Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts beherrschten Landsmannschaften und Orden die Studentenschaft. Sie stellten einen älteren Korporationstyp dar, korporativ-regionalistisch mit unpolitischer, geselliger Orientierung oder standen unter aufklärerischfreimaurerischem Einfluss. Ihnen trat ab 1815 die Burschenschaft entgegen, ein neuer, assoziativ-nationaler Organisationstypus mit außeruniversitärer Orientierung an Nation und bürgerlicher Freiheit. „Burschenschaft“ bedeutete zuvor nicht mehr als „Studentenschaft“, erst ab diesem Zeitpunkt begann es einen bestimmten Korporationstypus zu bezeichnen, der sich selbst zunächst nicht als solcher verstand, sondern als Gesamtverband der organisierten Studierenden.17 Die Burschenschaft wurzelte in den Freiheitskriegen, stand unter dem Einfluss von „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn, Ernst Moritz Arndt und Johann Gottlieb Fichte, war geprägt durch eine idealistische Volkstumslehre, christliche Erweckung und patriotische Freiheitsliebe. Diese antinapoleonische Nationalbewegung deutscher Studenten 16

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Zusammenfassend und mit weiteren Nachweisen: Lönnecker, Universitätsjubiläen, S. 134 f.; ders., „. . . nur den Eingeweihten bekannt“, S. 137; ders., BHK/GfbG, S. 1 f.; ders., Quellen und Forschungen, S. 404 f.; ders., „In Leipzig angekommen“, S. 15 f.; ders., Student im Garten, S. 118–120; ders., Studenten und Gesellschaft, S. 399 f.; ders., Peregrinatio Academica, S. 274; ders., Zusammenschlüsse, S. 188; vgl. ders., Prager deutsche Studentenschaft, S. 17–19. Hierzu und im Folgenden: Harald Lönnecker, Profil und Bedeutung der Burschenschaften in Baden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Achim Aurnhammer/Wilhelm Kühlmann/Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hg.), Von der Spätaufklärung zur Badischen Revolution – Literarisches Leben in Baden zwischen 1800 und 1850, Freiburg i.Br./Berlin/Wien 2010, S. 127–157, hier S. 129–133; ders., Robert Blum und die Burschenschaft, in: Bundesarchiv (Hg.), Martina Jesse/Wolfgang Michalka (Bearb.), „Für Freiheit und Fortschritt gab ich alles hin“. Robert Blum (1807–1848). Visionär – Demokrat – Revolutionär, Berlin 2006, S. 113–121, hier S. 113; ders., Rebellen, Rabauken, Romantiker. Schwarz-Rot-Gold und die deutschen Burschenschaften, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Bonn (Hg.), Flagge zeigen? Die Deutschen und ihre Nationalsymbole (Ausstellungskatalog), Bielefeld/Leipzig 2008, S. 27–33; ders., Unzufriedenheit, S. 85 f.; ders., „. . . nur den Eingeweihten bekannt“, S. 139 f.; ders., BHK/GfbG, S. 2– 5; ders., Peregrinatio Academica, S. 276–278; ders., Zusammenschlüsse, S. 189; nach wie vor unverzichtbar: Paul Wentzcke/Georg Heer, Geschichte der Deutschen Burschenschaft, 4 Bde., Heidelberg 1919–1939, 2. Aufl., 1965–1977; vor allem darauf stützt sich Hans-Georg Balder, Geschichte der Deutschen Burschenschaft, Hilden 2007; ders., Die Deutsche Burschenschaft in ihrer Zeit, Hilden 2009; politik- bzw. sozialwissenschaftlich, „überdies dem Typus sich ideologiekritisch gerierender, in der Attitüde des Anklägers daherkommender Entrüstungsliteratur verhaftet, die, meist ohne überzeugende Quellenfundierung, dem heutigen Verbindungswesen pauschal eine Avantgardefunktion bei der Herausbildung eines neuen organisierten Rechtsextremismus unterstellt“ (Matthias Stickler in: Das Historisch-Politische Buch 51/6, 2003, S. 622): Ludwig Elm/Dietrich Heither/Gerhard Schäfer (Hg.), Füxe, Burschen, Alte Herren. Studentische Korporationen vom Wartburgfest bis heute, Köln 1992, 2. Aufl. 1993; Dietrich Heither/Michael Gehler/Alexandra Kurth/Gerhard Schäfer, Blut und Paukboden. Eine Geschichte der Burschenschaften, Frankfurt a. M. 1997; Alexandra Kurth, Männer – Bünde – Rituale. Studentenverbindungen seit 1800, Frankfurt a. M. 2004; Dietrich Heither, Burschenschaften, Köln 2013.

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war politische Jugendbewegung – die erste in Europa – und die erste gesamtnationale Organisation des deutschen Bürgertums, deren schwarz-rot-goldene Farben zu den deutschen wurden, die 1817 mit dem Wartburgfest die erste gesamtdeutsche Feier ausrichtete – wo mit den „Beschlüssen des 18. Oktober“ erstmals in Deutschland Grund- und Freiheitsrechte formuliert wurden – und die mit rund 3.000 Mitgliedern 1818/19 etwa ein Drittel der Studentenschaft des Deutschen Bundes umfasste. Dem Wartburgfest, der Gründung der Allgemeinen Deutschen Burschenschaft als erster überregionaler bürgerlicher Organisation des deutschen Sprachraums und der Ermordung August von Kotzebues durch den Burschenschafter und Turner Carl Ludwig Sand folgten 1819 die Karlsbader Beschlüsse und die Unterdrückung der Burschenschaft. Sie wurde zu einer sich mehr und mehr radikalisierenden Bewegung an den deutschen Hochschulen, die bald mehr, bald weniger offiziell bestand. Der Stuttgarter Burschentag fasste im Dezember 1832 einen Beschluss zur Tolerierung und Förderung revolutionärer Gewalt zum Zweck der Überwindung der inneren Zersplitterung Deutschlands. Das mündete in die Beteiligung am Hambacher Fest und am Preß- und Vaterlandsverein – der erste Versuch einer politischen Partei in Deutschland – sowie in den Frankfurter Wachensturm vom 3./4. April 1833 und löste eine neue Welle der Verfolgungen bis in die vierziger Jahre hinein aus, die der älteren burschenschaftlichen Bewegung das Rückgrat brach und den Wiederaufstieg alter – der Corps – und den Aufstieg neuer Korporationstypen – etwa der jüngeren Landsmannschaften und Fachvereine – ermöglichte.18 Der Einfluss der Burschenschaft auf das nationale Bewusstsein der Deutschen, ihren Einheits- und Freiheitswillen, ist überhaupt nicht hoch genug zu veranschlagen, vielfach haben die Burschenschaften dieses Bewusstsein erst geschaffen: viele der führenden Liberalen des Vormärz und weit darüber hinaus waren Burschenschafter,19 und in der Revolution von 1848/49 spielte die Burschenschaft noch einmal eine wichtige Rolle.20 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entpolitisierte sie sich zumindest äußerlich und näherte sich bei aller gegenteiligen Rhetorik immer mehr dem traditionellen, vor allem von den Corps repräsentierten Korporationstypus mit eher gesellschaft-

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Lönnecker, Unzufriedenheit, S. 86–88; ders., „. . . nur den Eingeweihten bekannt“, S. 141; ders., Studenten und Gesellschaft, S. 405–407; ders., „In Leipzig angekommen“, S. 15–18; ders., Zusammenschlüsse, S. 190; ders., Robert Blum, S. 113. Zahlreiche Beispiele in Helge Dvorak, Biographisches Lexikon der Deutschen Burschenschaft, Bd. I: Politiker, Teilbd. 1–7, Heidelberg 1996–2013; Peter Kaupp (Hg.), Burschenschafter in der Paulskirche. Aus Anlaß der 150. Wiederkehr der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 im Auftrag der Gesellschaft für burschenschaftliche Geschichtsforschung (GfbG), o. O. (Dieburg) 1999. Zusammenfassend zuletzt Björn Thomann, Die Rolle der Burschenschaften in Jena, Bonn und Breslau in der Revolution 1848/49, in: Günter Cerwinka/Peter Kaupp/Harald Lönnecker/Klaus Oldenhage (Hg.), 200 Jahre burschenschaftliche Geschichte. Von Friedrich Ludwig Jahn zum Linzer Burschenschafterturm, Heidelberg 2008, S. 312–401; ders., „Das politische Gewissen der deutschen Burschenschaft“ – Geschichte und Gesichter der Breslauer Raczeks in Vormärz und Revolution, in: Helma Brunck/Harald Lönnecker/Klaus Oldenhage (Hg.), „. . . ein großes Ganzes . . ., wenn auch verschieden in seinen Teilen“ – Beiträge zur Geschichte der Burschenschaft, Heidelberg 2012, S. 147–428.

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lich-sozialem Schwerpunkt an, der nach 1850 und endgültig nach der Reichsgründung 1871 bestimmend wurde:21 Die Corps waren um 1880 „nicht nur der stärkste waffenstudentische Verband geworden, sondern auch in gesellschaftlicher Hinsicht zur Nr. 1 aufgestiegen“.22 2. Akademische Turnvereine und Turnerschaften Die frühe Burschenschaft war äußerst eng verzahnt mit der Turnbewegung. Der „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852) war mit seiner Burschenordnung von 1811/12 unmittelbar mitverantwortlich für die Gründung der Burschenschaft gewesen.23 Turnen sollte in der Tradition Jahns „Volksertüchtigung“ sein. Er hatte geschrieben: „Das Turnen darf nicht Selbstzweck, sondern muß das Mittel zum Zweck der Wehrhaftmachung unseres deutschen Volkes sein!“ Keiner sollte „zur Turngemeinschaft kommen, der wissentlich Verkehrer der deutschen Volksthümlichkeit ist, und Ausländerei liebt, lobt, treibt und beschönigt“.24 Das war weitgehend deckungsgleich mit den nationalen Imperativen der Burschenschaft. In Münster lebten seit Beginn der 1820er Jahre ehemalige Bonner und Hallesche Burschenschafter, die 1823/24 angeblich auch Turnübungen veranstalteten. Spätestens Ende 1824 wurde das von den Behörden unterdrückt. In den 1830er Jahren und um 1843 soll es zu einer Wiederbelebung gekommen sein, doch ist dies keineswegs sicher.25 Eine Beziehung zur damaligen münsterischen „Akademischen Lehranstalt“ ist nicht nachweisbar. Das Turnen war 1820 verboten und in der Folge vielfach als „demagogisch“ und „staatsgefährlich“ unterdrückt worden. Nur sporadisch ist es nachzuweisen, 1828 an der Universität München, ab 1834 am Polytechnikum in Hannover, ab 1838 an der Leipziger Universität. Als es nach 1842 von den Behörden – zunächst in Preußen – nach und nach wieder freigegeben wurde, machte seine Beurteilung und Ausübung in den Bur21 22

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Lönnecker, „. . . nur den Eingeweihten bekannt“, S. 146; ders., BHK/GfbG, S. 4 f. Kaiser Wilhelm II., der deutsche Kronprinz, König Wilhelm II. von Württemberg usw. waren Corpsstudenten; Brandenburg, Münster’sche Rhenania, S. 17; grundlegend: Manfred Studier, Der Corpsstudent als Idealbild der Wilhelminischen Ära. Untersuchungen zum Zeitgeist 1888 bis 1914, Schernfeld 1990; Silke Möller, Zwischen Wissenschaft und „Burschenherrlichkeit“. Studentische Sozialisation im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, Stuttgart 2001, S. 109 f. Nach wie vor grundlegend: Willi Schröder, Burschenturner im Kampf um Einheit und Freiheit, Berlin 1967; siehe auch Klaus Ries, Burschenturner, politische Professoren und die Entstehung einer neuen Öffentlichkeit, in: Brunck u.a., „. . . ein großes Ganzes“, S. 1–123; Peter Kaupp/Josef Ulfkotte, Die Jahn-Friesensche Burschenordnung von 1811/12, in: Cerwinka u.a., 200 Jahre, S. 1–81; ohne Bezug auf die Burschenschaft: Dieter Düding, Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808–1847). Bedeutung und Funktion der Turner- und Sängervereine für die deutsche Nationalbewegung, München 1984. Harald Lönnecker, Rudern, Segeln, Fliegen – Aktivitäten akademischer Verbindungen und Vereine zwischen Sport und Politik ca. 1885–1945, in: SportZeiten. Sport in Geschichte, Kultur und Gesellschaft 9 (2009), H. 3, S. 7–36, hier S. 11. BAK, DB 9: C. I. 4. Gauverbände und einzelne Vereinigungen Alter Burschenschafter (VAB), Münster 1824; ebd., 1831; ebd., 1837/38; ebd., 1843; die Beteiligten finden sich in: Alexander Pflüger, Mitgliederverzeichnis der alten Bonner Burschenschaft (1818–1833), Bonn 1894; Harald Lönnecker, Die Mitglieder der Halleschen Burschenschaft 1814 – ca. 1850, in: Cerwinka u.a., 200 Jahre, S. 82–311.

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schenschaften eine bemerkenswerte Wandlung durch. Parallel zur Zunahme ihrer sozialen Distinktion und Abschottung wurde das Turnen immer unattraktiver, schließlich ermangelte ihm im Kaiserreich vollends die akademische Exklusivität, galt als „unfein“.26 Das führte seit 1858 zur Gründung eigener akademischer Turnvereine – zuerst in Jena, bestehend bis 1874 – und traf sich mit dem Wiederaufleben der allgemeinen Turnbewegung nach dem Ende der Reaktionszeit 1859/60: 1860 entstand ein akademischer Turnverein in Berlin, 1863 in Graz und 1868 in Leipzig. In schneller Folge kam es zu weiteren Gründungen. Die Vereine schlossen sich bei Gelegenheit des 4. Deutschen Turnfestes am 4. August 1872 in Bonn zum „Cartellverband akademischer Turnvereine“ zusammen, der sich am 11./12. Juni 1885 in „Vertreter-Convent (VC), Cartellverband Akademischer Turnvereine auf deutschen Universitäten“ mit unbedingter Satisfaktion und dem Prinzip der Bestimmungsmensur umbenannte und am 28. Februar 1891 in „Vertreter-Convent, Verband farbentragender Akademischer Turnvereine auf deutschen Universitäten“. Das Wort „Universitäten“ wurde am 26. Juli 1894 durch „Hochschulen“ ersetzt, um auch Verbindungen Technischer Hochschulen aufnehmen zu können. Die Turnvereine wurden am 5. Juni 1897 zwecks Reputationsgewinn und analog zu „Burschenschaft“ in „Turnerschaften“ umbenannt, der VC entsprechend in „VC, Verband der Turnerschaften auf deutschen Hochschulen“, der 1914 58 Turnerschaften in Deutschland und Österreich zählte, bei der Verbandsauflösung 1935 waren es 86. Bereits 1883 spalteten sich die Vereine als „Akademischer Turnbund“ ab, die zwar unbedingte Satisfaktion geben, aber weder Mensuren schlagen noch Farben tragen wollten. Der ATB zählte 1935 47 Vereine, VC und ATB zusammen um die 16.000 Mitglieder, wovon zwei Drittel auf den VC entfielen.27 Die Chronologie verdeckt zum einen den politischen Wandel der Studentenschaft und mit ihr der Vereine, ihren zunehmenden Nationalismus und den seit etwa 1880 zunehmenden Antisemitismus, den der VC 1897 mit der in diesem Jahr beschlossenen Ablehnung der Aufnahme jüdischer Studenten zum Verbandsprinzip erhob,28 zum anderen die sich herausbildende informelle akademische Hierarchie. Denn Verbindung war 26

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Vgl. H. Dietz, Die Turnfrage und ihre Bedeutung für die deutsche Burschenschaft, in: Burschenschaftliche Blätter 11 (1896), H. 2, S. 48–51. Siehe Anm. 4 und 5. – Satisfaktion oder Genugtuung ist die Wiedergutmachung einer wörtlichen oder tätlichen Beleidigung durch einen Zweikampf mit schweren Waffen, wozu der Beleidigte seinen Gegner herausfordert; für eine Mensur ist kein Ehrengrund notwendig, ihr Zweck ist ein erzieherischer, da Mut, Kraft, Haltung, Selbstbeherrschung usw. gezeigt werden sollen; zu Begriffen, Hintergrund, Entwicklung und theoretischer Einordnung: Harald Lönnecker, „. . . bis an die Grenze der Selbstzerstörung“. Die Mensur bei den akademischen Sängerschaften zwischen kulturellem Markenzeichen, sozialem Kriterium und nationalem Symbol (1918–1926), in: Einst und Jetzt. Jahrbuch des Vereins für corpsstudentische Geschichtsforschung 50 (2005), S. 281–340; ders., Perspektiven burschenschaftlicher Geschichtsforschung. Erforderliches – Wünschbares – Machbares, in: Klaus Oldenhage (Hg.), 200 Jahre burschenschaftliche Geschichtsforschung – 100 Jahre GfbG – Bilanz und Würdigung, Koblenz 2009, S. 111–128, hier S. 119–127; siehe auch AHB/ ATB, Akademischer Turnbund, S. 175–179; Müller, Turnerschafterbuch, S. 156–174. Zur politischen Entwicklung: Lönnecker, „. . . nur den Eingeweihten bekannt“, S. 148–152; ders., Studenten und Gesellschaft, S. 407–413; ders., „In Leipzig angekommen“, S. 19; ders., Rudern, Segeln, Fliegen, S. 8– 10; zum Antisemitismus der akademischen Turner: Thomas Schindler, Studentischer Antisemitismus und jüdische Studentenverbindungen, o. O. (Jever) 1988, S. 58–72, 73–75; Norbert Kampe, Studenten und „Judenfrage“ im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus, Göttingen 1988, S. 156–160, 162, 191 f.

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keineswegs gleich Verbindung. Es gab ein deutliches soziales, mentales und habituelles Gefälle zwischen den älteren Korporationen wie Corps und Burschenschaft und den jüngeren, ab etwa 1860 und vor allem ab 1880 entstehenden Korporationen und akademischen Vereinen. Den eher groß- und besitzbürgerlich, in geringerem Maße auch adlig geprägten Corps standen die eher bildungsbürgerlichen Burschenschaften gegenüber, gefolgt von eher mittelständischen Landsmannschaften, Turnerschaften und Sängerschaften, bei denen der kleinbürgerliche Anteil von Korporationstypus zu Korporationstypus zunahm. Bei den Turnern betrug er um 50 Prozent.29 Weiteres Unterscheidungsmerkmal waren unbedingte Satisfaktion und Mensur und das Tragen von Farben in Band und Mütze. Das traf auf Corps, Landsmannschaften, Turnerschaften und Sängerschaften zu, während die konfessionellen Verbindungen zwar teilweise Farben trugen, sich aber grundsätzlich nicht schlugen. Auch die ATB-Vereine schlugen keine Mensuren und trugen keine Farben, gaben jedoch Satisfaktion auf Säbel. Die Handhabung von Waffen und Farben konstituierte graduelle Unterschiede in der Studentenschaft, welche jedem Studenten bewusst waren, von denen im Kaiserreich jeder zweite einer Korporation angehörte. Noch um 1930 war das bei jedem dritten männlichen Studenten der Fall.30 Die Zunahme der Zahl der deutschen Hochschüler von 1871 etwa 14.000 auf rund 60.000 1914 und um die 100.000 1930 beförderte auch die Zahl der Verbindungsund Vereinsgründungen, denn die neuen, aus eher bildungsfernen Schichten an die Hochschulen drängenden Studenten wurden von den alten Korporationen kaum einmal aufgenommen.31 Trotzdem begriffen sich die Mitglieder der neuen Verbindungen und Vereine und damit auch die Turner seit der Reichsgründung mehr und mehr als elitär und exklusiv, als Akademiker berechtigt und befähigt, gesellschaftlich-soziale Führungspositionen zu besetzen. Der Nachweis war jedoch weniger durch Turnen zu erbringen, denn durch als studentisch-traditionell begriffene Formen wie Farbentragen in Band und Mütze, Duell und Mensur. Stets werden in den Bundesgeschichten die Farbenannahme und das Bekenntnis zum Prinzip der unbedingten Satisfaktion als Meilensteine der Entwicklung hervorgehoben, garantierten akademische Exklusivität und elitäres Selbstverständnis.32 Die „Aeußerlichkeiten“ Mensur und Farben standen aber auch für soziale Abgrenzung und Festschreibung in einer sich schnell verändernden Umwelt, feste, institutionalisierte Formen der Geselligkeit und Freundschaft gewährend. Die Studenten setzten auf gesellschaftlich-soziale Abgrenzung nach unten in einer immer größer werdenden, sozial nach oben drängenden Studentenschaft. Sie wollten den Weg vom bloßen Verein zur Verbindung, von der bloßen Verbindung zur angesehenen, ja „elitären Waffenkorporation“ in einer Hierarchie beschreiten, in der man sich seine Stellung im wahrsten Sinne des Wortes erfechten musste. In den kleinen, im späten Kaiserreich gegründeten Korporationen war dieser Weg rasch begonnen und vollendet. Hier fehlte die hemmende 29 30 31 32

Siehe Anm. 11. So auch in Münster; Pöppinghege, Absage, S. 35. Lönnecker, „. . . nur den Eingeweihten bekannt“, S. 146 f. Meifert, Rhenania Münster, S. 13 f., 20–24, 31 f., 35–38, 43–45; Brandenburg, Münster’sche Rhenania, S. 11–14, 43–46, 69, 95–140; Schmidt-Wegenast, Franconia Münster, S. 5, 7, 98–120; vgl. Balder, Burschenschaften, S. 335; Lönnecker, „Goldenes Leben“, S. 163–166.

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Tradition des akademischen Vereins, meist verkörpert durch zahlreiche ehemalige Mitglieder, die Alten Herren. Sie bremsten und trugen die Verantwortung dafür, dass die Korporatisierung der älteren Vereine sich langsam und teilweise über Jahrzehnte vollzog. Dabei stand im Vordergrund stets der bewusste Rückgriff auf als traditionell, ehrwürdig und angesehen begriffene korporative Formen vor allem der Corps.33 Diese Entwicklung hatte prozesshaften Charakter, der das äußere Erscheinungsbild der akademischen Turnvereine zwischen Jahrhundertmitte und Erstem Weltkrieg nachhaltig veränderte, sie mehr und mehr zu einer Beachtung und Gehör beanspruchenden Variante des deutschen Korporationsstudententums machte, die sich am Vorabend des Krieges kaum mehr von Burschenschaften und Corps und dem auch von ihnen vertretenen nationalen Idealen und Prämissen unterschied. Dieser Weg verlief jedoch keineswegs geradlinig, ihm gingen oft Flügelkämpfe zwischen rein korporativen und vor allem turnerisch interessierten Mitgliedern voraus, die in Spaltungen und Neugründungen mündeten.34 Schon die Trennung in VC und ATB 1882/83 war nicht im Turnen begründet, sondern in unterschiedlichen Anschauungen vom Korporativen, vornehmlich über das Duellund Farbenwesen.35 Die Entwicklung lässt sich auch in Münster beobachten, wo bereits 1872 ein ATV bestand, der zwar in Bonn dabei war, sich aber nicht an der Verbandsgründung beteiligte und bald wieder einging.36 Dies lag auch daran, dass die Akademie in Münster erst 1902 Volluniversität wurde, münsterische Studenten von ihren auswärtigen Kommilitonen nicht als gleichwertig betrachtet wurden.37 Der VC urteilte: „Wenig besser entwickelten sich die Verhältnisse in Münster, das 1902 zum erstenmal und 1911 zum zweitenmal dem Verbande verloren ging, bis 1920 Rhenania wieder aufgetan wurde.“38 Hinter der Formulierung verbarg sich eine aus VC-Sicht wenig erfreuliche Entwicklung: Die mit stark antikatholischer Tendenz entstandene Franconia – bezeichnend ihre zuerst gewählten „liberalen“ schwarz-rot-goldenen Farben, geändert, weil sie „in der konservativen Provinzhauptstadt nicht sonderlich beliebt waren“39 – „nannte sich bald nach der Gründung Burschenschaft. Wegen der ungünstigen örtlichen Verhältnisse gelang es ihr nicht, Anschluß an den Verband der Burschenschaften zu bekommen.“40 Dieser lehnte es ab, eine Korporation zu den seinen zu zählen und damit anzuerkennen, die nicht an einer Volluniversität bestand und die auf Grund der ihr angehörenden Pharmazie-Studenten Mitglieder hatte, die das Gymnasium nicht bis zum Abitur besucht hatten – es ging um das „Maturitätsprinzip“, ein weiteres, überaus wichtig genommenes Merk33 34 35

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Studier, Corpsstudent; Möller, Wissenschaft, S. 110. Lönnecker, „. . . nur den Eingeweihten bekannt“, S. 154; siehe Anm. 32. AHB/ATB, Akademischer Turnbund, S. 56, 143–145; vgl. ebd., S. 63 f.; Akademischer Turnbund (Hg.), ATB-Merkheftchen, o. O. o. J. (1932), S. 2; Müller, Turnerschafterbuch, S. 265 f. Ebd., S. 264. Das war auch bei Studenten Technischer und Tierärztlicher Hochschulen der Fall; Lönnecker, „. . . nur den Eingeweihten bekannt“, S. 156–159; ders., BHK/GfbG, S. 81–83; Rudern, Segeln, Fliegen, S. 17 f.; grundlegend: Frank Grobe, Zirkel und Zahnrad. Ingenieure im bürgerlichen Emanzipationskampf um 1900. Die Geschichte der technischen Burschenschaft, Heidelberg 2009. Müller, Turnerschafterbuch, S. 267. Schmidt-Wegenast, Franconia Münster, S. 8. Balder, Burschenschaften, S. 335.

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mal der Distinktion und Segregation.41 Derartige Vorbehalte hatte ein landsmannschaftlicher Verband, der Goslarer Chargierten-Convent (GCC), nicht und nahm Franconia 1884 auf. Als Landsmannschaft scheint sie sich aber nicht gefühlt zu haben, bereits 1886 verließ sie den Verband wieder und bestand danach verbandsfrei, behielt die Typusbezeichnung „Landsmannschaft“ jedoch bei, obwohl die Mitglieder sich nicht aus Franken, sondern vor allem aus Westfalen rekrutierten. „Der politische Kulturkampf schlug in Münster besonders hohe Wogen und zeitigte auch für Franconia derartig ungünstige Verhältnisse, daß ihre Suspendierung im SS 1894 erfolgen mußte. 1896 tat sie sich aber wieder auf und paukte [= focht, H.L.] mit der Turnerschaft GermaniaBonn, was zum Anschluß an den Vertreter-Convent der Turnerschaften führte. Nach der Erhebung der Akademie Münster zur Volluniversität trat sie 1902 aus und wurde . . . Burschenschaft“ in der Deutschen Burschenschaft.42 Franconia hatte damit ihr bereits bei der Gründung angestrebtes Ziel erreicht. Überdeutlich wird mit dieser Entwicklung die Nachrangigkeit des Ansehens der Landsmannschaften und Turnerschaften gegenüber den Burschenschaften.43 Nicht die Herkunft der Mitglieder gab den Ausschlag für Franconias GCC-Zugehörigkeit, sondern dass sie einem Verband angehören wollte. Verbandszugehörigkeit schuf ein Netz von Außenbeziehungen, erhöhte die Reputation und den Repräsentationswert.44 Das des GCC entsprach aber nicht dem des Coburger Landsmannschafter-Convents (CLC), des 1868 gegründeten ältesten, größten und in studentischen Augen vornehmsten landsmannschaftlichen Verbandes, der eine Aufnahme Franconias aus den bereits bekannten Gründen und auf Grund des Widerspruchs Rhenanias – seit 1882/83 Landsmannschaft – ablehnte. Folglich war der GCC eher eine Verlegenheitslösung, was auch später auf den VC zutraf. Der VC war aber immer noch besser als gar kein Verband, die Deutsche Burschenschaft jedoch bei weitem besser als der VC.45

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BAK, DB 9: III. 2. ADC-Tag/Burschentag, 1881; ebd., 1884. – ADC = Allgemeiner Deputierten-Convent, seit 1902 Deutsche Burschenschaft; zum Maturitätsprinzip: Grobe, Zirkel, S. 48–54, 71–75, 86–88, 194– 196, 206–208, 217–222, 248–250; vgl. Brandenburg, Münster’sche Rhenania, S. 14. Balder, Burschenschaften, S. 335; vgl. Gladen, Landsmannschaften und Turnerschaften, S. 184; SchmidtWegenast, Franconia Münster, S. 23; Meifert, Rhenania Münster, S. 53, 65; Brandenburg, Münster’sche Rhenania, S. 14; BAK, DB 9: I. Einzelne und örtliche Burschenschaften, Münster: Franconia. Dies galt nur für die an Universitäten bestehenden Burschenschaften in der Deutschen Burschenschaft, nicht für die in anderen Verbänden, etwa den Allgemeinen Deutschen Burschenbund, der zwar an Universitäten bestand und unbedingte Satisfaktion gab, aber keine Mensuren schlug, oder den Rüdesheimer Verband der Burschenschaften an Technischen Hochschulen; siehe Anm. 37. Nachdem Franconia am 5.6.1897 VC-Turnerschaft wurde, wurde sie auch durch eigens nach Münster entsandte Mitglieder der Turnerschaft Normannia Leipzig unterstützt, die 1868 als einer der ältesten akademischen Turnvereine gegründet worden war; unter Normannias über 300 Alten Herren befanden sich zahlreiche Funktionäre der Turnverbände, u.a. auch Gustav Oskar Berger (1862–1934), turnerischer Multifunktionär und 1919–1929 Vorsitzender der Deutschen Turnerschaft; Schmidt-Wegenast, Franconia Münster, S. 17; Marco Arndt/Harald Lönnecker, Wahrheit, Muth und Kraft! 125 Jahre Burschenschaft Normannia zu Leipzig – Normannia-Leipzig zu Marburg (1868–1993), Leipzig/Marburg a.d. Lahn 1993, S. 40; Dvorak, Lexikon I/1, S. 82. Vgl. Meifert, Rhenania Münster, S. 48 f.; Turnerschaft Teutonia Münster (Hg.), Zur Lage des V.C. in Münster, Dortmund o. J. (1907), S. 16 f.; zu einer ähnlichen Entwicklung beim ATV Leipzig, der 1907 bzw. 1909 Burschenschaft wurde: Arndt/Lönnecker, Normannia Leipzig, S. 61–72.

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Auch stand das Turnen niemals im Vordergrund der Korporationstätigkeit, nur ein wöchentlicher Abend während des Semesters „war dem Turnen gewidmet“. 1900 wurde auch geschwommen und gerudert: „Zwei Franken gelang es sogar, in einer heute nicht mehr gebräuchlichen Rennbootgattung, dem Riemen-Dollenzweier, für den akademischen Ruderverein je einen Sieg auf den Regatten in Münster und Essen zu erringen“ – ein Hinweis auch auf den damals noch interkorporativen Charakter des Rudervereins, der späteren Ruderverbindung Westfalen. Die sportliche Betätigung Franconias nimmt sich neben den weitaus häufigeren geselligen Veranstaltungen wie Kneipen, Kommersen, Spielabenden usw. und der täglichen Fechtstunde bescheiden aus.46 Diese standen im Mittelpunkt und dienten vor allem der Vermittlung von sozialer Identität und Intimität, der Stärkung des Zusammenhalts nach innen. Zusammengefasst unter dem Begriff der „Bundesbrüderlichkeit“, gaben sie dem einzelnen persönlichen Rückhalt wie nach außen einen sozialadäquaten Platz in der Hierarchie der Korporationen und dienten zugleich der beständigen Unterstreichung und Hebung des Elite-, des nationalen und politischen Bewusstseins.47 Der Entwicklung Franconias war die Rhenanias nicht unähnlich.48 Sie war Ende 1850 von Rheinländern – daher ihr Name – als „Verbindung“ gegründet worden. „Ziel war: Pflege der Freundschaft, rheinischer Art und einer edlen Geselligkeit. . . . Schon in den ersten Jahren des Bestehens lassen sich duellistische Verwicklungen der Rhenania nachweisen, die sich natürlich auf andere Universitäten, namentlich Bonn, erstreckten, da Münster kein geeignetes Feld für das Fechten war. . . . Das liberale Prinzip im allgemeinen und das Fechten im besonderen führten dazu, daß der Cardinal-Erzbischof im Mai [18]60 ein besonderes Verbot für Theologen für den Bereich seiner Diözese erließ, in der Rhenania aktiv zu werden.“ Im Sommersemester 1879 „gelang es der Rhenania infolge der Gründung der Frankonia-Münster endlich, sich ein festes Paukverhältnis am Ort zu schaffen und regelmäßig Bestimmung[smensuren] zu fechten“. Seit dem 1. August 1881 nannte sich Rhenania „Landsmannschaft“ und wurde im Sommersemester 1882 vom CLC aufgenommen, den sie zwanzig Jahre später – als Münster Volluniversität wurde und damit akzeptabel für den Corpsverband, den Kösener Senioren-Convents-Verband – verließ, um Corps zu werden. Allerdings nahmen die Kösener Corps Rhenania „auf Grund mangelnder Vornehmheit“49 nicht auf, und am „24.7.[1906] verschmolz sie sich dann mit der VC.-Turnerschaft Alemannia Münster, die am 25.4.06 von VC.-Burschen . . . gegründet worden war. Die Alemannia führte die Farben d’grün46 47

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Abschnitt „Aus der VC-Zeit der Franconia“, in: Schmidt-Wegenast, Franconia Münster, S. 17–21. Harald Lönnecker, „. . . dienten stets auch der freundlichen Zusammenkunft“. Geselligkeit in akademischen Verbindungen und Vereinen an deutschsprachigen Hochschulen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Dietmar Klenke/Rainer Pöppinghege (Hg.), Universität und Geselligkeit (Tagungsband der gleichnamigen Tagung, veranstaltet von der Universität Paderborn, Historisches Institut, Lehrstuhl für Neueste Geschichte und der Gemeinschaft für deutsche Studentengeschichte e. V. in Paderborn vom 10.–12. November 2011; im Druck). Hierzu und im Folgenden siehe Anm. 5. BAK, DB 9: III. 1. Geschäftsführende Burschenschaft, Jahresbericht 1902 der Vereinigung der Inaktiven der Deutschen Burschenschaft zu Münster, 1903, o.S.; bereits am 3./4.8.1880 „wird über die Erhebung der Rhenania zum Korps oder zur Landsmannschaft gesprochen“; Meifert, Rhenania Münster, S. 45; vgl. Brandenburg, Münster’sche Rhenania, S. 17 f.

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weiß-d’rot. Als Datum der Aufnahme der Rhenania in den VC. gilt das Gründungsdatum der Alemannia 25.4.06. Infolge Aktivenmangel sah sie sich am 25.7.11 abermals gezwungen, zu suspendieren, und konnte erst am 5.1.20 wieder aufgetan werden“. Auch bei Rhenania war der VC die zweite Wahl gewesen und sie sollte sich zunächst sogar mit Alemannias Gründungsdatum bescheiden, ihr eigentliches, 1850, wurde vom VC erst nach Protesten anerkannt. Das war wichtig, weil sich die „Anciennität und Würde“ der Turnerschaften nach dem Gründungsjahr richtete. Landsmannschaften und Burschenschaften lehnten Rhenanias Mitgliedschaft in ihren Verbänden schon vorher ab.50 Erst 1934 gelang Rhenania die Rückkehr zu den Landsmannschaften: Ihre mit dem CLC-Austritt von 1902 unzufriedenen Mitglieder hatten ihrerseits Rhenania verlassen und die Landsmannschaft Borussia gegründet, die vom Verband sofort aufgenommen worden war. Unter dem Druck von NS-Auflagen schloss sich Borussia Ende Oktober 1934 mit Rhenania unter deren Namen und Gründungsdatum zusammen, die dadurch wiederum Verbandsmitglied wurde. Borussia hatte ihrerseits bereits am 26. Januar 1907 die Turnerschaft Teutonia Münster aufgenommen, die am 1. Januar 1887 als Akademisch-Pharmazeutischer Verein gegründet worden war und seit 1904 bzw. 1906 dem VC angehörte – der dadurch seine dritte Turnerschaft in Münster verlor.51 Sowohl Franconia wie Rhenania und Teutonia zeigten durch ihr Verhalten ihre Orientierung „an den oberen Klassen der Verbindungen“,52 besonders Rhenania wollte sich nach Ansicht der Zeitgenossen „durch den Eintritt in den S[enioren-]C[onvent] verbessern“.53 Diesem wollte sie gleichkommen und offenbarte damit zugleich die innerkorporative Wertigkeit einer Verbindung. Corps und Burschenschaft waren die Referenzsysteme, nicht das Turnen und nicht die turnerischen Verbände. Ganz anders der ATV Westmark Münster, der 1902 von Mitgliedern des ATV Germania München gegründet worden war. Der Verein wurde im Sommersemester 1903 „als Renoncekorporation“ und im Sommersemester 1904 „endgültig in den A.T.B. aufgenommen . . . . Am 25.11.05 nahm er den Namen Akademische Turn-Verbindung Westmark an“.54 Der Wandel vom „Verein“ zur „Verbindung“ zeigt, auch die „von Studenten mit kleine[m] Wechsel“ bevorzugte Westmark war nicht frei von korporativen Tendenzen. Sie waren jedoch niemals so stark wie bei Franconia und Rhenania, die ihrerseits Westmark „über die Achsel“ ansahen und als eine „Blase“, d. h. nicht als „richtige Verbindung“ betrachteten.55 Allerdings vermochte Westmark „durch eifriges Turnen, bei dem sie immer her-

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BAK, DB 9: III. 1. Geschäftsführende Burschenschaft, Jahresbericht 1902 der Vereinigung der Inaktiven der Deutschen Burschenschaft zu Münster, 1903, o.S.; vgl. Teutonia, Zur Lage, S. 18; Meifert, Rhenania Münster, S. 69–74, 81 f.; Brandenburg, Münster’sche Rhenania, S. 15. Siehe Anm. 5; zu den Problemen Teutonias: Teutonia, Zur Lage; Rhenania betrachtete Teutonia zuerst als „grimmigste Feindin“; Meifert, Rhenania Münster, S. 49, 51, 72, 83; vgl. Brandenburg, Münster’sche Rhenania, S. 15, 18–26, 71. Siehe Anm. 49. Teutonia, Zur Lage, S. 9. Doeberl, Das akademische Deutschland, S. 987; Jess, Specimen, Gruppe 4, Nr. 2–000: Akademischer Turnbund, Nr. 2–031: Westmark Münster. BAK, DB 9: III. 1. Geschäftsführende Burschenschaft, Jahresbericht 1902 der Vereinigung der Inaktiven der Deutschen Burschenschaft zu Münster, 1903, o.S.

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vorstach, manchen Lorbeer an ihre Fahne zu heften. Hierin kommt ihr in Münster kaum eine Verbindung gleich“.56 Bei Kriegsausbruch 1914 war Rhenania seit drei Jahren suspendiert, Westmark stellte ihren „Aktivenbetrieb“ zum Wintersemester 1914/15 ein, ebenso die meisten anderen Verbindungen.57 Franconia verlor 16 Gefallene, Rhenania 8, Westfalen 27, Westmark ließ verlauten: „63 Westmärker haben am Weltkriege teilgenommen, 20 sind nicht wieder heimgekehrt. Getreu ihrem Wahlspruch haben sie ihr Leben dahingegeben für des Vaterlandes Freiheit und Größe. Eine schlichte Gedenktafel aus westfälischem Eichenholz hält auf der Kneipe ihre Namen in ehrendem Gedächtnis.“58 Ein Fünftel der Gesamtstudentenschaft fiel, ein weit größerer Anteil als bei allen anderen Bevölkerungsgruppen. Die aus dem Weltkrieg zurückkehrenden Studenten waren andere geworden. Der vergangene Massen- und Materialkrieg verlangte nach einer Sinngebung. Vor 1914 waren die Studenten national. Nun wandte sich der studentische Nationalismus erstmals gegen den Staat. Wie das Bürgertum, dem die Mehrzahl der Studenten nach wie vor entstammte, gehörten sie „zu den zunächst unterlegenen und wurzellos gewordenen Mächten“, fühlten sich deklassiert, gedemütigt und orientierungslos, waren aus der Bahn geworfen worden, konnten den Umwälzungen innerlich nicht zustimmen. Das studentische Leben wurde politischer und nationalistischer, radikaler und unmittelbarer, der Stil einfacher.59 Erhalten blieben Avantgardebewusstsein und studentischer Elitarismus, der sich seit den frühen 1920er Jahren in den Schlagworten „Führertum“ und „Volkstum“ bzw. „Volksgemeinschaft“ manifestierte. „Gemeinschaft“ wurde zum Topos und Gegenentwurf der bürgerlichen Gesellschaft: Sich selbst begriffen die Studenten und mit ihnen die Turner als künftige Führer, die Leibesübungen wichen mehr und mehr einer sportlichen Betätigung, die ab 1928 in den „Wehrsport“ mündete, der als studentischer Beitrag zur Wiedererringung deutscher Größe gedacht war. Mitglieder Westmarks bekleideten lange Semester das „Amt des Beauftragten für die körperliche Ertüchtigung der Studentenschaft, welches einen, wenn auch nur geringen, Ersatz für

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Ebd., Jahresbericht 1911 der Vereinigung der Inaktiven der Deutschen Burschenschaft zu Münster, 1912, o.S. Ebd., Jahresbericht 1914 der Vereinigung der Inaktiven der Deutschen Burschenschaft zu Münster, 1915, o.S.; zur Studentenschaft während des Ersten Weltkriegs: Marc Zirlewagen (Hg.), „Wir siegen oder fallen“ – Deutsche Studenten im Ersten Weltkrieg, Köln 2008. Siehe Anm. 3–6; zu den Gefallenen gehörte der Schriftsteller, Lyriker und Dramatiker Gustav Sack, ein Mitglied Rhenanias; Helmut Scheffler, Gustav Sack. 1885–1916. Leben und Werk, 2 Bde., Schermbeck 1985/91; Walter Gödden/Steffen Stadthaus, Gustav Sack – ein verbummelter Student. Enfant terrible und Mythos der Moderne (Ausstellungskatalog), Bielefeld 2010; Meifert, Rhenania Münster, S. 76–78, 86; Brandenburg, Münster’sche Rhenania, S. 199. – Zu den Denkmälern studentischer Verbindungen und ihrer Verbände einschließlich VC und ATB: Harald Lönnecker, „Nicht Erz und Stein, Musik soll unser Denkmal sein!“ – Die Singbewegung und das nie gebaute Denkmal der Deutschen Sängerschaft (Weimarer CC), in: Einst und Jetzt. Jahrbuch des Vereins für corpsstudentische Geschichtsforschung 47 (2002), S. 321–352; ders., „Wuchs riesengross das Wort: Ein Volk! Ein Reich!“ – Der Linzer Burschenschafterturm zwischen nationalem Bewusstsein, Heldenkult und Friedensmahnung, in: Cerwinka u.a., 200 Jahre, S. 402–527. Pöppinghege, Absage, S. 16 f.; Lönnecker, Studenten und Gesellschaft, S. 414–416.

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Harald Lönnecker

die fortgefallene Wehrpflicht bringen“ sollte.60 Zudem wies die „sportliche Betätigung der Westmark . . . manch bedeutsame Höhepunkte auf. Neben teilweise sehr guten Einzelleistungen der Verbindungsbrüder ist sie seit 1924 ununterbrochen erster Sieger im Korporations-Wett-Turnen und seit S.-S. [19]26 auch in den leichtathletischen Kämpfen“ der Universität.61 Dabei waren Turnen und Sport längst kein Alleinstellungsmerkmal mehr. Die politischen Umwälzungen bewirkten, dass auch andere Korporationen sich ihnen widmeten, wenn auch niemals in solcher Breite und Ausgiebigkeit wie die Turner. Die Burschenschaft Guestphalia betonte: „Es wurden . . . die körperliche Ertüchtigung, die durch den Fortfall der allgemeinen Wehrpflicht nunmehr besonders dringend geworden ist, betont und durch Säbelfechten, Turnen, Leichtathletik usw. betrieben.“62 Auch andere Verbindungen äußerten sich so oder ähnlich, besonders das Segeln und das Rudern auf der Werse und dem Dortmund-Ems-Kanal erlebten einen großen Aufschwung. Sofern es noch nicht der Fall war, legten sich alle Korporationen, sogar die katholischen, eigene Bootshäuser zu.63 Rhenania, obwohl Turnerschaft, hatte nur einen „wöchentlichen Turnabend“, unternahm jedoch „Turnfahrten“ zum Wandern, schwamm, ruderte und widmete sich „der Pflege der Leibesübungen . . . . Besonders Tennis spielte hierbei eine große Rolle“.64 Er wurde vor allem im Rahmen des Akademischen Tennis-Clubs gespielt, dessen Mitglieder in erster Linie Korporierte waren.65 Rudern, Segeln und Tennis waren „akademisch angemessen“, als „weißer“ Oberschichten-Sport verortet, exklusiv und mit erheblichen Kosten verbunden, so dass auch hier der soziale Abstand zu den nichtakademischen Turnern und Sportlern stets gewahrt blieb.66 Ähnlich verhielt es sich mit dem exklusiven Akademischen Reiter-Verein, der um 1920 entstand und der von ehemaligen, nunmehr studierenden Offizieren gegründet worden war, die fast immer auch einer münsterischen Verbindung angehörten. Nachrichten über den Verein fehlen

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66

BAK, DB 9: IV. 1. Vorsitzende Burschenschaft/Bundesführung, 1918–1935, Jahresbericht 1929 der Vereinigung der Inaktiven der Deutschen Burschenschaft zu Münster, 1930, o.S.; vgl. Pöppinghege, Absage, S. 153–159; zum studentischen Wehrsport zusammenfassend: Lönnecker, Rudern, Segeln, Fliegen , S. 21– 25; ders., Burschenschafterturm, S. 509–518; allgemein zuletzt: Frank Reichherzer, „Alles ist Front!“ Wehrwissenschaften in Deutschland und die Bellifizierung der Gesellschaft vom Ersten Weltkrieg bis in den Kalten Krieg, Paderborn/München/Wien/Zürich 2012; zu Münster: Michael Krüger, Leibesübungen, Sport und Sportwissenschaft an der Universität Münster von den Anfängen bis in die 1960er Jahre, in: Hans-Ulrich Thamer/Daniel Droste/Sabine Happ (Hg.), Die Universität Münster im Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Brüche zwischen 1920 und 1960, Bd. 2, Münster 2012, S. 903–926, hier S. 916 f. Doeberl, Das akademische Deutschland, S. 987. Ebd., S. 985; allgemein: Krüger, Leibesübungen, S. 908–916. Doeberl, Das akademische Deutschland, S. 987–991; vgl. Meifert, Rhenania Münster, S. 94 f. Ebd., S. 78 f., 91, 96. BAK, DB 9: IV. 1. Vorsitzende Burschenschaft/Bundesführung, 1918–1935, Jahresbericht 1929 der Vereinigung der Inaktiven der Deutschen Burschenschaft zu Münster, 1930, o.S.; ebd., Jahresbericht 1930 der Vereinigung der Inaktiven der Deutschen Burschenschaft zu Münster, 1931, o.S. Lönnecker, Rudern, Segeln, Fliegen, S. 12 f.

„Turner-Führer“ – Akademische Turnvereinigungen in Münster

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weitgehend, doch unterhielt er „ausgezeichnete Beziehungen“ zur Reichswehr.67 Dabei stand der Sport bei Rhenania stets im Schatten des (Mensuren-)Fechtens, dessen beständige Übung – allein 68 Mensuren im Wintersemester 1920/21, 18 im Sommersemester 1926, 34 im Wintersemester 1928/29 – dazu führte, daß sie bei „den Universitätssportmeisterschaften . . . mehrmals den ersten Preis im Säbelfechten mit nach Hause nehmen“ konnte.68 In § 1 der ATB-Satzung von 1920 hieß es, man schreibe sich „gemeinsam mit der Deutschen Turnerschaft“ die Ausbreitung der Turnsache auf die Fahnen und sei zu diesem Zweck „zum Volk hinabgestiegen“. Denn obwohl als Akademiker „zu den Auserwählten zählend“, wolle man im Turnen „Klassengrenzen schwinden . . . lassen“.69 Die Wissen und Leistung kumulierenden Akademiker sahen sich als „natürliche Führer“ der bürgerlichen Turnvereine.70 Verstärkt wurde das durch die ehemaligen Mitglieder, die Alten Herren, ein Status, in den ein Student nach Abschluss seines Studiums übertrat – weshalb auch ein Fünfundzwanzigjähriger schon Alter Herr sein konnte. Der Status entwickelte sich im Zuge der Korporatisierung als Ausdruck der organisatorischen Verfestigung seit etwa 1850 und war um 1880 fest etabliert. Er gründete auf dem „Lebensbundprinzip“, dem wichtigsten Unterscheidungsmerkmal gegenüber bürgerlichen Vereinen. Mit seiner Durchsetzung blieb der ehemalige Student zeitlebenslang Mitglied der Korporation, bestehen blieb die bis zum Tode geltende „Lebensgemeinschaft“ der Korporierten, unbeschadet der späteren örtlichen, beruflichen, sozialen oder parteipolitischen Entwicklung des Einzelnen. Die Verklammerung über Generationen hinweg gab den Verbindungen Halt und Dauerhaftigkeit, machte die Altherrenschaften aber auch zum bestimmenden Faktor gegenüber den fluktuierenden Studentenpopulationen, sicherte diesen den materiellen Rückhalt und sorgte zugleich für ideologische und erzieherische Kontinuität. Feststellbar, jedoch kaum mess- oder beschreibbar ist allerdings die Investition erheblicher emotionaler Werte durch die Alten Herren, „die weit über den Vereinszweck hinausgehen“, die „starke und dauerhafte emotionale Bindung, die über den Horizont des bürgerlichen Vereins hinausreicht“: „Es werden menschliche Beziehungen aufgebaut, in die die Mitglieder ihre Gesamtpersönlichkeit einbringen und die auch auf Dauer angelegt sind.“ Die Alten Herren schlossen sich wiederum in eigenen, bürgerlichrechtlich organisierten Verbänden zusammen – die Rhenanias zwischen 1879 und 1881, die Westmarks im Wintersemester 1903/04 –, die ihrerseits dort, wo mehrere Alte Herren verschiedener typusgleicher Korporationen wohnten, örtliche Verbände bildeten. Die Altherrenverbände der einzelnen Verbindungen und die Ortsvereinigungen schlossen sich seit etwa 1890 zu Gesamtaltherrenverbänden zusammen. Der ATB verfügte so über den Alt-Herren-Bund (AHB), der VC über den Verband Alter Tur67

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Siehe Anm. 65; vgl. Robert Frank, Akademischer Reiterbund, in: Doeberl, Das akademische Deutschland, S. 575–577. – Zu den guten Beziehungen zwischen Studenten und Offizieren und deren Hintergründen seit 1871: Harald Lönnecker, Studenten und der Krieg 1870/71, in: Jan Ganschow/Olaf Haselhorst/Maik Ohnezeit (Hg.), Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71. Vorgeschichte – Verlauf – Folgen, Graz 2009, S. 265– 281; siehe Anm. 60 zum studentischen Wehrsport. Meifert, Rhenania Münster, S. 91 f., 96; Brandenburg, Münster’sche Rhenania, S. 134. AHB/ATB, Akademischer Turnbund, S. 144; vgl. ebd., S. 145. BAK, DB 9: IV. 1. Vorsitzende Burschenschaft/Bundesführung, 1918–1935, Jahresbericht 1929 der Vereinigung der Inaktiven der Deutschen Burschenschaft zu Münster, 1930, o.S.

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Harald Lönnecker

nerschafter (VAT). Mit ihnen entstanden personale, gesellschaftlich weit verzweigte Organisationen durch vertikale, horizontale und territoriale Vernetzung.71 Aus AHB und VAT rekrutierten sich zahlreiche Vorstände von Turnvereinen, Funktionäre, Trainer und Vorsitzende. Seit ihrer Gründung gehörte Westmark „der Deutschen Turnerschaft an (Kreis VIIIa Westfalen-Lippe) und beteiligte sich regelmäßig an deren Veranstaltungen (Deutsches Turnfest, Kreis- und Gauturnfest). Besondere Erwähnung verdient das Deutsche Turnfest in München 1923, auf dem die Verbindung fast vollzählig vertreten war.“72 Vorsitzender des Kreises VIIIa war nach 1920 fast immer ein Alter Herr, das Führungs- und Funktionspersonal von Preußen-Münster und Münster 08 rekrutierte sich, sofern akademisch gebildet, fast ausschließlich aus den Reihen des ATB, darunter zahlreiche Alte Herren Westmarks.73 Der ATB wie Westmark nahmen das als selbstverständlich, denn der „ATB ist eine Gemeinschaft ganz eigener Art, eine Besonderheit im Deutschen Turner-Bund und im Bereich des Sportes überhaupt. Er ist gleichsam eine Ordens-Bruderschaft, der durch geistige Potenz und aktives Wert-Erleben seiner Mitglieder und durch seine Unabhängigkeit im Denken und Handeln besonders günstige Voraussetzungen für die Wahrnehmung von Führungsaufgaben in der Turnbewegung aufweist. Wer die Geschichte der Turnerei kennt, der wird auch nicht leugnen können, dass der ATB tatsächlich an ihrer Gesamtentwicklung maßgeblichen Anteil hat. Eine ganze Reihe führender Männer des Deutschen Turner-Bundes ist durch die Erziehungsschule des ATB gegangen und hat durch ihn prägende Impulse zu ihrer Persönlichkeitsbildung, zu ihrer Lebenshaltung und zu ihrer Gemeinschaftseinstellung erfahren, die sich auch in ihrer Tätigkeit im Deutschen Turner-Bund fühlbar ausgewirkt haben.“74 Die bekanntesten dürften Carl Diem (1882–1962) und Reichskanzler Hans Luther (1879–1962) sein.75 In seinen Erinnerungen beschreibt Luther die Aktivität in einem ATV als prägend für seine spätere politische Tätigkeit.76 Und um nur einen 71

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76

Akademischer Turnbund, ATB-Merkheftchen, S. 4; Müller, Turnerschafterbuch, S. 274–279; Meifert, Rhenania Münster, S. 33, 44 f., 49 f., 52, 79, 84 f., 91; Brandenburg, Münster’sche Rhenania, S. 14, 161, 225; Erich Wieprecht, Entstehung, Werdegang und Aufgaben des Verbandes Alter Turnerschafter (V.A.T.), in: Doeberl, Das akademische Deutschland, S. 343–346; Conrad Schulz, Der Alt-Herren-Bund des Akademischen Turnbundes, in: ebd., S. 436–438; ein Überblick über die Entwicklung: Harald Lönnecker, „. . . die Zugehörigkeit ist von größter Bedeutung für die Hochschul-Laufbahn“ – Mitgliedschaft in studentischen Verbindungen und Vereinen als Qualifikationsmerkmal für die Berufung von Professoren, in: Christian Hesse/Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Professorinnen und Professoren gewinnen. Zur Geschichte des Berufungswesens an den Universitäten Mitteleuropas, Basel 2012, S. 257–284, hier S. 276–283. Doeberl, Das akademische Deutschland, S. 987. Siehe Anm. 70. AHB/ATB, Akademischer Turnbund, S. 8. Ebd., S. 194–196, 198–200; zu Diem und den gegenwärtigen Debatten über seine Person: Michael Krüger (Hg.), Emanuel Hübner (Red.), Erinnerungskultur im Sport. Vom kritischen Umgang mit Carl Diem, Sepp Herberger und anderen Größen des deutschen Sports, Berlin 2012; Michael Krüger (Hg.), Der deutsche Sport auf dem Weg in die Moderne. Carl Diem und seine Zeit, Berlin/Münster 2009; ders. (Hg.), Erinnerungen an Carl Diem, Berlin/Münster 2009; Ralf Schäfer, Militarismus, Nationalismus, Antisemitismus. Carl Diem und die Politisierung des bürgerlichen Sports im Kaiserreich, Berlin 2011; Frank Becker, Den Sport gestalten. Carl Diems Leben (1882–1962), 4 Bde., Duisburg 2009–2011; zusammenfassend: Horst Thum, Nationalist, Militarist, Antisemit. Carl Diem im Spiegel seiner Kritiker und Apdogeten, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 60 (2012), H. 10, S. 831–842. Hans Luther, Politiker ohne Partei. Erinnerungen, Stuttgart 1960, S. 28.

„Turner-Führer“ – Akademische Turnvereinigungen in Münster

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besonders bekannten Alten Herrn Westmarks herauszugreifen: Felix Linnemann (1882– 1948) studierte Jura und gehörte zur Gründergeneration des ATV, in München war er bereits Mitglied des dortigen ATV Germania gewesen. In Berlin wurde er 1908 Vorstandsmitglied des FC Preußen, nach dem Kriegsdienst 1918 Vorsitzender im Verband Brandenburgischer Ballspielvereine, 1919 zweiter, 1925 erster Vorsitzender bzw. Präsident des Deutschen Fußballbunds (DFB), was er bis 1945 blieb. Zugleich war er bis zu dessen Auflösung 1933 dritter Vorsitzender des Deutschen Reichsausschusses für Leibesübungen, danach Leiter des Fachamts Fußball in dessen Nachfolgeorganisation, dem Deutschen Reichsbund für Leibesübungen. Linnemann führte das bis in die Gegenwart geltende Ligensystem ein, war Kurator der Berliner Hochschule für Leibesübungen, Mitglied der Amateurkommission der Fédération Internationale de Football Association (FIFA) und maßgeblich an der Organisation der Fußballspiele der Olympischen Spiele 1936 beteiligt, wurde danach aber schleichend entmachtet. Seit 1910 im Polizeidienst, stieg Linnemann bis zum Leiter der Berliner Kriminalpolizei auf, wurde 1937 aber als Leiter der Fachschule der Kriminalpolizei nach Stettin versetzt, eine Folge der ihm angelasteten 0:2-Niederlage Deutschlands gegen Norwegen bei den Olympischen Spielen und dem damit verbundenen Ausscheiden aus den Fußball-Wettkämpfen. Bisher nicht NSDAP- und SS-Mitglied – für einen Polizeibeamten ungewöhnlich –, trat Linnemann beiden bei, wurde Leiter der Kriminalpolizei in Hannover und bis 1945 SS-Standartenführer. Er war unter anderem mitverantwortlich für die „Deportation der in der Region Hannover lebenden Zigeuner“.77 3. Fazit Trotz der personellen Verzahnung zwischen akademischen und bürgerlichen Turnern und Sportlern war das Verhältnis ambivalent: Einerseits achteten die Akademiker seit etwa 1880 verstärkt auf soziale Distanz zu den nicht als gleichwertig begriffenen nichtakademischen Vereinen, zu denen es auf der vereinsoffiziellen Ebene nur wenig Beziehungen gab, da die Turner sich vorrangig an den anderen akademischen Korporationen orientierten und das allzu offene Zusammengehen mit bürgerlichen Turnvereinen dem akademischen Ansehen abträglich gewesen wäre.78 Andererseits adaptierten die bürgerlichen Turnvereine nur zu gern akademische Formen vom Kommers bis hin zu Abzei77

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Hubert Dwertmann, Sportler – Funktionäre – Beteiligte am Massenmord. Das Beispiel des DFB-Präsidenten Felix Linnemann, in: SportZeiten. Sport in Geschichte, Kultur und Gesellschaft 5 (2005), H. 1, S. 7–46; mit Linnemann befasst sich die Ausstellung „Ordnung und Vernichtung – Die Polizei im NS-Staat“, gezeigt im niedersächsischen Landtag ab 20.9.2012; Schreiben Ltd. Min.-Rat Albrecht Pohle, Sprecher der Niedersächsischen Gruppe des Vereins Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V., Gehrden b. Hannover, vom 17.7.2012. – Anderseits gab es auch Alten Herren, die auf Grund ihrer „oppositionellen Einstellung“ Repressalien erlitten; Brandenburg, Münster’sche Rhenania, S. 34. Bezeichnend ist, dass die bürgerlichen Turn- und Sportvereine außer den Vereinsspitzen zum im Sommersemester 1925 begangenen 75. Stiftungsfest Rhenanias – ein mehrtägiges erstes gesellschaftliches Ereignis mit Gästen von Regierung, Stadt und Reichswehr, Kommers mit Rede des Oberbürgermeisters, Fackelzug und Ball, Berichten in der Presse usw. – nicht eingeladen waren; Meifert, Rhenania Münster, S. 97; BAK, DB 9: IV. 1. Vorsitzende Burschenschaft/Bundesführung, 1918–1935, Jahresbericht 1925 der Vereinigung der Inaktiven der Deutschen Burschenschaft zu Münster, 1926, o.S.

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Harald Lönnecker

chen und Ritualen und beriefen Alte Herren von ATB- und VC-Korporationen in Leitungspositionen, gewannen dadurch an sozialer Reputation und Repräsentationswert. Ein Akademiker in den eigenen Reihen bedeutete eine nicht zu unterschätzende Aufwertung; stets suchten die Turnvereine deshalb Akademiker als Mitglieder für führende Stellen zu gewinnen. Zugleich bildeten die Akademiker eine Vorstände wie Mitgliederversammlungen und Turnertage beherrschende „Turnaristokratie“, in die aufzurücken dem durchschnittlichen nichtakademischen Vereinsmitglied kaum möglich war, fehlte ihm doch der Führungs- und Leitungserfahrung vermittelnde akademische Habitus, gab es „feine Unterschiede“ (Pierre Bourdieu), die jedem Turner bewusst waren, auch wenn sie kaum einmal thematisiert wurden. Dabei waren die akademischen Turnereliten keineswegs geheim, für Nichtzugehörige aber weitgehend unsichtbar; außerdem überspielten und überlagerten die gegenseitigen Interessen stets die Unstimmigkeiten. Die Akademiker gewannen – wie es etwa 1930 hieß – als „Turner-Führer“ das notwendige „Volk“; die Nichtakademiker verfügten über eine einflussreiche Funktions-, Leistungsund kulturelle Elite mit besten Beziehungen bis in höchste gesellschaftliche und Regierungskreise.79 Das änderte sich erst nach der mehr oder weniger erzwungenen „freiwilligen Auflösung“ der Turnerschaften und akademischen Turnvereine 1935/36.80 Ihre frühere Position sollten sie nach 1945 nicht mehr erreichen.

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Siehe Anm. 70. – Ähnliche Symbiosen gab es zwischen akademischen Sängern und bürgerlichen Gesangvereinen, zwischen akademisch-landwirtschaftlichen Vereinen und Verbindungen und Agrarverbänden, zwischen akademisch-juristischen Vereinen und Juristenverbänden; Lönnecker, „Ehre, Freiheit, Männersang!“; ders., „Goldenes Leben im Gesang!“; ders., „. . . der zu Recht bevorzugte unsichtbare Kreis, der sich nur den unsrigen erschließt“ – Studentische Korporationen zwischen Elitedenken und den Selbstverständlichkeiten der Zugehörigkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Volkhard Huth (Hg.), Geheime Eliten II (Tagungsband der gleichnamigen Tagung, veranstaltet im Rahmen der „Bensheimer Gespräche“ [Fortsetzung der „Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte“] vom Institut für Personengeschichte, Bensheim und von der Ranke-Gesellschaft, Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e. V., Köln, im Fürstenlager in Auerbach-Bensheim vom 14.–16. April 2011; im Druck); ders., „. . . der deutschen Studentenschaft und unserem Rechtsleben manchen Anstoß geben“ – Zwischen Verein und Verbindung, Selbsthilfeorganisation und Studienvereinigung. Juristische Zusammenschlüsse an deutschen Hochschulen ca. 1870–1918, Aachen 2013. Siehe Anm. 4 und 5; allgemein Lönnecker, BHK/GfbG, S. 258; ders., Studenten und Gesellschaft, S. 421 f.

Jörn Esch

Die Geschichte des deutschen Fußballs zwischen Region und Nation. „Subjektivierungsregimes“ und „Formen der Ausarbeitung“ im Kaiserreich

1. Fußball, Kultur- und Körpergeschichte Die Geschichte des Fußballs ist nach wie vor in erster Linie eine Sache von „Fans with Typewriters“,1 wie es Tony Mason bereits 1991 zugespitzt formuliert hat. Dabei soll keineswegs in Abrede gestellt werden, dass die Arbeiten von Vereinsanhängern und/oder ambitionierten Sportjournalisten sowohl einen hohen Wert für erinnerungskulturelle Fragestellungen haben als auch – da sie auf der teilweise minutiösen Durchsicht von Protokollen, Vereinszeitschriften u. ä. basieren – relevante Ergebnisse für HistorikerInnen liefern. Eine Auseinandersetzung mit dem Fußball vermag allerdings – ähnlich wie bereits für andere Bewegungspraktiken und Sportarten geschehen2 – sehr wohl mehr geschichtswissenschaftlich relevante Ergebnisse zu erzielen als lediglich eine Aufsummierung von Spielern, Ergebnissen oder Titeln. Geht man davon aus, dass eine Bewegungspraxis, ein Sport und andere kulturelle Ausformungen körperlicher Praktiken nicht 1

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Tony Mason, Writing the History of Sport. Unpublished Seminar Paper, Centre for the Study of Social History, University of Warwick, 10 October 1991, zit. nach Jeffrey Hill, British Sports History. A Post-Modern Future?, in: Journal of Sport History 23 (1996), S. 1–19, hier S. 2, Anm. 6. Vgl. u.a. als Überblick: Daniel Siemens, Von Marmorleibern und Maschinenmenschen. Neue Literatur zur Körpergeschichte in Deutschland zwischen 1900 und 1936, in: Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), S. 639–682; ferner Thomas Alkemeyer, Körper, Kult und Politik. Von der ,Muskelreligion’ Pierre de Coubertins zur Inszenierung von Macht in den Olympischen Spielen von 1936, Frankfurt a. M. 1996; Pal Augestad, Architecture and the Education of the Body. The Gymnasium in Norwegian Physical Training, 1889–1930, in: The International Journal of the History of Sport 20 (2003), S. 58–76; Jens Elberfeld, ,Lasst unseren Körper weihen zum Tempel jüdischer Schönheit!’. Normalisierung des Selbst im Diskurs der Jüdischen Turnerschaft (1898–1914), in: ders./Marcus Otto (Hg.), Das schöne Selbst. Zur Genealogie des modernen Subjekts zwischen Ethik und Ästhetik, Bielefeld 2009, S. 169–206; Svenja Goltermann, Körper der Nation. Habitusformierung und die Politik des Turnens 1860–1890, Göttingen 1998; Michael Hau, Körperbildung und sozialer Habitus. Soziale Bedeutungen von Körperlichkeit während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 125–141; Michael Krüger, Sport, Habitus und Staatsbildung in Deutschland, in: Annette Treibel/Helmut Kuzmics/Reinhard Blomert (Hg.), Zivilisationstheorie in der Bilanz. Beiträge zum 100. Geburtstag von Norbert Elias, Opladen 2000, S. 211–220; Maren Möhring, Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur 1890–1930, Köln u.a. 2004; August Nitschke, Der Kult der Bewegung. Turnen, Rhythmik und neue Tänze, in: ders./Rüdiger vom Bruch/Gerhard Ritter/Detlev J.K. Peukert (Hg.), Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880–1930, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 258–285; Peter Tauber, ,Sport und Entartung’. Biologistische Argumente im Streit zwischen Turnen und Sport zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: SportZeiten 5 (2005), S. 33–56; Daniel Wildmann, Der veränderbare Körper. Jüdische Turner, Männlichkeit und das Wiedergewinnen von Geschichte in Deutschland um 1900, Tübingen 2009.

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Jörn Esch

in einem sozialen Vakuum entstehen, so lassen sich an deren Beispiel unter anderem Fragen nach den zeitgenössischen Vorstellungen von Gesundheit, vom Körper, von den Bewegungen des Körpers, aber auch solche nach Männlichkeit, Weiblichkeit und sozialer Intelligibilität stellen. Das Beispiel des Fußballs im Deutschen Kaiserreich stellt für solche Fragen einen besonders geeigneten Gegenstand dar, da seine Anfänge zum einen in die Zeit der Reichsgründung fielen (der Versuch einer zielgerichteten Einführung wurde erstmals 1874 in Braunschweig unternommen);3 somit bieten die zeitgenössischen Diskussionen zur Frage, ob und wie ein englisches Spiel für den deutschen Charakter geeignet sein könne, auch Aufschlüsse über den Prozess des nation building im Kaiserreich.4 Zum anderen war der Fußball das erste Mannschaftsspiel in der zeitgenössischen Körperkultur, in welchem die Spieler in unmittelbaren Körperkontakt miteinander gerieten. Untersuchungen zur Geschichte des Kaiserreichs am Beispiel des Fußballs erlauben daher Einblicke in zeitgenössische Konzeptualisierungen kollektiver und individueller Körperlichkeit im praktischen Vollzug. Der Fokus der Regionalgeschichte kann sich in diesem Zusammenhang z. B. auf Aspekte der Wahrnehmung richten. Regionen sind nicht nur administrative Untereinheiten einer Nation, nicht nur lediglich politische, geographische oder wirtschaftliche Entitäten, sondern eignen sich auch als Wahrnehmungskategorien. Mithin erlaubt es eine regionalgeschichtliche Untersuchung, folgende Fragen zu stellen: War die Umsetzung der programmatischen Aussagen zum Körper deckungsgleich zwischen Region und Nation? Schrieben sich spezifisch regionale Ausprägungen in das Sprechen über die Praxis, ihre Akteure und deren Körper ein? Über den Körper im Kaiserreich5 wurden bereits einige aufschlussreiche Arbeiten veröffentlicht, allerdings bietet das Beispiel Fußball die Möglichkeit Einblicke in bisher noch vernachlässigte Aspekte zu gewinnen. Gegenstand des vorliegenden Aufsatzes ist eine kulturgeschichtlich argumentiende Auseinandersetzung mit der Entwicklung des Fußballs und der Ausbildung des Fußballers im Deutschen Kaiserreich. Zunächst wird hierzu die Relevanz und Möglichkeit einer regionalgeschichtlichen Perspektive auf den Sport geprüft (2.). Darauf folgt ein Exkurs in die Geschichte des Fußballs vor der Gründung des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) (3.). Die Körperpolitik des Fußballs wird 3

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Vgl. Konrad Koch, Fußball. Regeln des Fußball-Vereins der mittleren Classen des Martino-Catharineums zu Braunschweig, Braunschweig 1875, der über die Einführung des Fußballs am Martino-Catharineum im Jahre 1874 berichtet. Vgl. exemplarisch die Debatte zwischen Konrad Koch und einem Autor namens Peter zur Frage: Wie kann Fußball ein deutsches Spiel werden?, in: Deutsche Turn-Zeitung (1894), S. 549–550, S. 828, S. 866. Moritz Föllmer, Der ,kranke Volkskörper’. Industrielle, hohe Beamte und der Diskurs der nationalen Regeneration in der Weimarer Republik, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Neue Ideengeschichte, Göttingen 2001, S. 41–67; Hau, Körperbildung; Martina Kessel, The ,Whole Man’: The Longing for a masculine World in Nineteenth-Century Germany, in: Gender and History 15 (2003), S. 1–31; Ute Planert, Der dreifache Körper des Volkes. Sexualität, Biopolitik und die Wissenschaften vom Leben, in: Ute Frevert (Hg.), Körpergeschichte, Göttingen 2000, S. 539–576; Philipp Sarasin/Jakob Tanner (Hg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1998; Heiko Stoff, Degenerierte Nervenkörper und regenerierte Hormonkörper. Eine kurze Geschichte der Verbesserung des Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 11 (2003), S. 224–239; Paul Weindling, Health, Race and German Politics between national Unification and Nazism. 1870–1945, Cambridge 1989.

Die Geschichte des deutschen Fußballs zwischen Region und Nation

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anschließend unter zwei theoretischen Vorannahmen untersucht: 1. Um Zugang zur Praxis zu erhalten waren bestimmte „Formen der Ausarbeitung“6 (4.) notwendig; 2. diese Formen der Ausarbeitung waren abhängig von einem fußballspezifischen „Subjektivierungsregime“7 (4.1). Die Ergebnisse werden dann auf ihre Tragfähigkeit am Beispiel eines Fußballvereins überprüft (4.2). Zuvor sind jedoch einige Bemerkungen zum Begriff „Fußballspiel“ notwendig. Bis etwa 1900 waren sowohl der Begriff wie auch die Form seiner Ausübung unklar bestimmt. Mit Fußball konnten die heute ausdifferenzierten Sportarten Rugby-Union, Rugby-League, das (nach FIFA-Regeln ausgeübte) Fußballspiel oder eine Mischform aus diesen drei Sportarten gemeint sein. Ausgeübt wurde das Spiel entweder in der Schule, in ,wilden Mannschaften’ oder in den – vor allem seit den 1890er Jahren entstehenden – Vereinen, die sich in mehr oder weniger großen und recht unsteten Ligen betätigten. Eine Untersuchung all dieser Fußballvarianten und ihrer zeitgenössischen Thematisierung in verschiedensten Feldern – Pädagogik, Politik, Medizin, Naturwissenschaften und anderen – kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht geleistet werden, ist aber Gegenstand einer anvisierten größeren Studie.8 Stattdessen wird die Zeit von 1900 bis 1913 in den Mittelpunkt gerückt, da mit der Gründung des DFB am 28. Januar 1900 ein Dachverband ins Leben gerufen wurde, der die Einhaltung der Regeln und die Formen der Ausübung streng überwachte.9 Die durch die Gründung eines Dachverbandes induzierte relative Ausdifferenzierung des Fußballs bietet einen hilfreichen Ansatzpunkt für diesen Aufsatz und erlaubt eine Eingrenzung des Materials. Die Quellengrundlagen bilden überwiegend die „Jahrbücher des Deutschen FußballBundes“ (kurz: Jahrbuch) sowie die „Monatsschrift des Kölner-Fussball-Clubs“ (kurz: Monatsschrift). Die Jahrbücher erschienen seit 1904. Sie richteten sich in der ersten Ausgabe an 9.000 und vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs bereits an 200.000 aktive und passive Fußballer.10 Die Monatsschrift des Kölner Vereins wurde 1908 ins Leben gerufen, und jedes Mitglied, d. h. etwa 200 aktive und passive Fußballer, erhielt sie. Neben umfangreichem statistischem Material (Ergebnisse, Tabellen) enthalten beide Periodika essayistische Artikel über Themen wie: „Alkohol und körperliche Leistungsfähigkeit“11 oder „Wie ein Fußballspieler trainieren soll“.12 Bevor programmatische Aussagen von nationalem Geltungsanspruch mit ihren konkreten regionalen Umsetzun6 7

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Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste (Sexualität und Wahrheit, Bd. 2), Frankfurt a. M. 1989, S. 38. Ulrich Bröckling, Regime des Selbst. Ein Forschungsprogramm, in: Thorsten Bonacker/Andreas Reckwitz (Hg.), Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart, Frankfurt a. M., S. 119–139, hier S. 125. Arbeitstitel: „Das Subjekt des Fußballs“. Vgl. o.A., Bekanntmachung des Spielausschusses des DFB, in: Monatsschrift des Kölner-Fussball-Club 1899 e. V. 3 (1910/11), S. 169–170. In dieser Bekanntmachung wurde explizit darauf hingewiesen, dass das Spielen in „wilden Vereinen“ untersagt sei. Vgl. Ferdinand Hueppe, Ueber die Spielbewegung in Deutschland und die Entstehung des Deutschen Fußballbundes, in: DFB (Hg.), 25 Jahre Deutscher Fußballbund, Düsseldorf 1925, S. 51–58, hier S. 56. Im Folgenden wird das männliche Genus der Nomen nicht aus Gründen der besseren Lesbarkeit genutzt, sondern weil sich im hier untersuchten historischen Feld des Fußballs ausschließlich Männer betätigten. Artur Luerßen, Alkohol und körperliche Leistungsfähigkeit, in: Deutscher Fußball-Bund (Hg.), [Fußball-] Jahrbuch 7 (1910), S. 87–95. O.A., Wie ein Fußballspieler trainieren soll, in: Monatsschrift 1 (1908), S. 140–141.

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gen verglichen und kontrastiert werden können, muss der Begriff der Region genauer erläutert werden. 2. Fußballverein und Region als methodisches Problem Im Folgenden stütze ich mich theoretisch und methodisch vor allem auf die Arbeiten von Michel Foucault. Viele Untersuchungen, die sich auf Foucault berufen, neigen dazu, programmatischen Texten ein Primat einzuräumen, da diese nach diskursanalytischen Gesichtspunkten aufgrund ihrer hohen Normativität fruchtbar erscheinen. Dabei wird allzu oft die konkrete Umsetzung der programmatischen Schriften vernachlässigt. Regionalgeschichtliche Perspektiven können dabei helfen, das zu vermeiden, da mit ihrer Hilfe quasi mikroskopische Einblicke in die Umsetzung programmatischer Forderungen gewonnen werden können. Es ist also das Ziel, makroskopisch-programmatische Diskursformationen in einen mikrogeschichtlichen Zusammenhang zu überführen und ihre Tragweite zu bestimmen. In diesem Aufsatz soll die „Korrekturfunktion“13 der Regionalgeschichte genutzt werden, um die in den Jahrbüchern des DFB und anderen Schriften formulierten programmatischen Aussagen zur Praxis des Fußballspielens und -trainings auf ihre konkrete Umsetzung in den Vereinen hin zu überprüfen. Fokussiert wird der Aspekt der mentalen Strukturen. „Region“ wird also auch als „spezifische Wahrnehmungsweise geografischer und politisch-kultureller Bedingungen“ verstanden.14 Als Untersuchungsgegenstand dient hier der Kölner-Fussball-Club (KFC). Die regionalen Unterschiede der politisch-kulturellen Bedingungen und deren Relevanz für die Verbreitung des Fußballs wurden auf nationaler Ebene, d. h. in den Reihen des DFB, durchaus wahrgenommen. So argumentierte Alfred Perls im Jahrbuch von 1912, dass die „örtlichen Verschiedenheiten ... zu groß“ seien,15 als dass man ein nationales Programm zur Förderung des Jugendsports auflegen könne. Vielmehr solle an den einzelnen Orten auf Grundlage der Kenntnisse über deren Besonderheiten Werbung für den Jugendsport in den Schulen gemacht werden. Spätestens in der Saison 1910/11 hatte der KFC eine Schülerabteilung eingerichtet und betrieb an den Kölner Schulen Werbung für deren Aktivitäten.16 Neben anderen Städten wurde Köln für diese Bemühungen um die Jugendpflege im Jahrbuch von 1912 lobend hervorgehoben.17 Organisatorisch war der KFC in den Westdeutschen Spielverband (ehemals Rheinisch-Westfälischer Spiel-Verband) eingegliedert; seine 1. Mannschaft spielte in der höchsten Spielklasse. Unter anderem trat sie gegen Mannschaften aus Duisburg, Bonn, Düsseldorf, Aachen, Mönchengladbach und Essen – also rheinische Mannschaften – an. 13

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Werner Freitag, Landesgeschichte als Synthese. Regionalgeschichte als Methode, in: Westfälische Forschungen 54 (2004), S. 291–305, hier S. 291. Harald Schmid, Regionale Erinnerungskulturen. Ein einführender Problemaufriss, in: ders. (Hg.), Erinnerungskultur und Regionalgeschichte, München 2009, S. 7–22, hier S. 14. Alfred Perls, Förderung des Jugendsports durch den Deutschen Fußball-Bund und die Verbände, in: Jahrbuch 9 (1912), S. 82–87, hier S. 85. Vgl. o.A., Zur Schülerfrage!, in: Monatsschrift 3 (1910/11), S. 30–31. Vgl. Theodor Sorber, Jugendsport. Ein Ausschnitt aus der Entwicklung der Berliner Verbandsarbeit, in: Jahrbuch 9 (1912), S. 95–98, hier S. 98.

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In der Monatsschrift finden sich jedoch keine Bezüge zu diesem Zusammenhang. Zwar wurde über die Spiele der 1. Mannschaft gegen diese und andere Mannschaften berichtet, aber eine Thematisierung geographischer oder politisch-kultureller Wahrnehmungsmuster blieb aus. Ebensowenig wurden Topoi des civic pride bedient, wie sie vor allem in der britischen Sporthistoriographie als identifikatorisches Wahrnehmungsmuster für den Fußball in England untersucht worden sind.18 Auch hinsichtlich einer Wahrnehmung der ,Nachbarregionen’ ist das Material wenig ergiebig. Lediglich über ein Spiel gegen eine Fußballmannschaft aus Münster wird berichtet. Die akademische Mannschaft des KFC trat gegen den Akademischen S.C. Münster an und gewann mit 5:3. Abgesehen davon, dass es „ein angenehmes Zusammentreffen zweier Gegner“ war, „denen man es sofort ansah, daß die Sucht, Punkte zu erjagen, bei ihnen nicht ausgeprägt“ war, bietet der Bericht keine Informationen, die über die Schilderung des Spielverlaufs hinausgehen.19 Mit dem Hinweis auf die wenig ausgeprägte Sucht, Punkte zu erjagen, verwies der Autor darauf, dass es sich um ein Freundschaftsspiel zweier AkademikerMannschaften handelte. Möglicherweise lässt sich diese Wendung auch als eine Art „habituelle Passung“ zwischen Akteure deuten, die über ähnliches symbolisches und kulturelles Kapital verfügten. Referenzen zum ,Rheinland’ lassen sich in der Monatsschrift ebenfalls nicht nachweisen. Einem spezifisch regionalen Wahrnehmungsmuster schienen die Vertreter des KFC, eines im Rheinland beheimateten Vereins, nicht zu folgen. Allerdings wurde über die Spiele der Auswahlmannschaft des Westdeutschen Spielverbandes im Kronprinzenpokal ausführlich berichtet,20 so dass die Leser einen Eindruck von der Stärke der besten Spieler des Verbandes im Vergleich zu denen anderer Verbände gewinnen konnten.21 Des Weiteren finden sich vereinzelte Berichte über Spiele gegen ausländische Mannschaften, die entweder in Köln antraten oder die die Kölner Mannschaft besuchte. In beiden Fällen wurde immer wieder darauf verwiesen, dass Sportsleute, egal aus welchem Land, stets fair und freundlich auftreten.22 Das Ethos des Sports wurde als grenzüberschreitendes Phänomen wahrgenommen und somit eine Art transnationale Welt des Sports als mentale Struktur geschaffen und reproduziert. Auf der anderen Seite schien in der Monatsschrift an einigen Stellen spezifisches Kölner ,Lokalkolorit’ durch, das sich allerdings nur demjenigen erschloss, der wusste, wovon

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Vgl. vor allem Tony Collins, Review Article: Work, Rest and Play. Recent Trends in the History of Sport and Leisure, in: Journal of Contemporary History 42 (2007), S. 397–410; ders., Rugby’s great Split. Class, Culture and the Origins of Rugby League Football, London u.a. 1998. Vgl. Peco, Akademische Mannschaft des K.F.C. 99 gegen Akademischen S.C. Münster I 5:3, in: Monatsschrift 3 (1910/11), S. 30, Zitat ebd. Der sogenannte Kronprinzenpokal war ein Wettbewerb, in welchem die einzelnen Landesverbände um einen von Kronprinz Wilhelm gestifteten Pokal konkurrierten. Vgl. u.a. Hofmann, Sportliche Uebersicht der ersten drei Monate der Wintersaison 1908/09, in: Monatsschrift 1 (1908), S. 14–18; Hans Passauer, Kronprinzenpokal! Süddeutschland gegen Westdeutschland 4:1, in: Monatsschrift 2 (1909/10), S. 171–173. Vgl. u.a. Pfadfinder, K.F.C. 99 gegen West Norwood F.C. 3:3, in: Monatsschrift 1 (1908), S. 73–75; D-E-T-M-A-R, K.F.C. 99 I gegen Dordrecht I 3:2, in: Monatsschrift 4 (1911/12), S. 30–31; Peco, C.S. Verviétois gegen K.F.C. 99 I 2:2, in: Monatsschrift 4 (1911/12), S. 31–33.

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die Rede war. Es lassen sich Referenzen auf den Karneval, den Kölner Ring, die Kölnischen Stadtfarben und andere Kölnische Spezifika finden.23 Somit wird deutlich, dass die Schrift Angebote für die Wahrnehmung ,größerer’ und ,kleinerer’ Raumzusammenhänge machte. Die Leser konnten den Wirkungskreis des Westdeutschen Spielverbandes über die Berichte zu den Spielen des Kronprinzenpokals als ,ihren’ Raum wahrnehmen oder aber sich durch die Andeutung von Lokalkolorit mit Köln und seinen lokalen Besonderheiten identifizieren. Am Beispiel des KFC zeigt sich, dass der Fußball – wie der Sport im Allgemeinen – in der Lage war und ist, „Sinnprovinzen“24 zu errichten, die von politisch-administrativen Grenzziehungen abweichen. 3. Der Fußball und seine Körper vor 1900: Überbürdung und Volkskörper Das Sprechen über den Fußball war bis in die späten 1890er Jahre eingebettet in den übergeordneten Zusammenhang des Sprechens über Spiele an frischer Luft. Bis in die 1890er Jahre wurde der Körper in Bezug zum Fußball fast ausschließlich hinsichtlich seiner potenziellen Gefährdung zum Gegenstand des Sprechens. Exemplarisch schlugen sich diese Debatten im Streit über einfachen oder gemischten Fußball nieder.25 Wenn es beim Sprechen über den Fußball um so etwas wie eine zielgerichtete Vorbereitung auf das Spiel ging, dann stand weniger der Erwerb von spezifischen Körpertechniken im Mittelpunkt26 als vielmehr die Vorbereitung des Körpers auf eine ungefährdete Teilnahme am Spiel. Die Debatten über eine Gefährdung des Körpers bezogen sich nicht ausschließlich auf den Körper des Einzelnen. Innerhalb der im „organizistischen Bild des ,Zellenstaats’“ imaginierten Gesellschaft des Kaiserreichs, in der jedes Individuum seinen Platz innerhalb des Volkskörpers hatte, wurden sowohl der individuelle wie auch der kollektive (Volks-)Körper als grundsätzlich gefährdet beschrieben. Der „immanente[n] Logik der Metapher“27 folgend, wurde jede einzelne Abweichung, wie etwa die Zunahme von „Zivilisationskrankheiten“, als potenzielle Erkrankung der gesamten Nation gedeutet. Die Konzeption der Nation als Kollektivkörper und der daran anschließende Diskurs der Degeneration, der seine Metaphern, Wirkungen und Lösungsvorschläge aus eben dieser Vorstellung bezog, bildeten seit dem Beginn des Sprechens über den Fußball einen zentralen Referenzpunkt. Somit stellte die Gefährdung des Einzelnen im Fußballspiel zugleich eine mittelbare Gefährdung der gesamten Nation dar. Spätestens seit der „Überbürdungsdebatte“ der frühen 1880er Jahre, in der betont wurde, dass die Schuljugend zu viel geistiger und sitzender Tätigkeit sowie zu wenig 23

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Vgl. u.a. Hans Hofmann, K.F.C. 99 I. gegen Germania I. Düren 2:1, in: Monatsschrift 1 (1908), S. 4–5; ders., Das Spiel gegen K.B.C. I 4:3 und seine Lehren, in: Monatsschrift 2 (1909/10), S. 34–37. Vgl. Alfred Schütz, Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft, in: Gesammelte Aufsätze I, Den Haag 1971, 331–411. Vgl. Emil von Schenckendorff, Einfacher oder gemischter Fußball, in: Zeitschrift für Turnen und Jugendspiel 2 (1893), S. 338–344. Zum Begriff Körpertechniken: Marcel Mauss, Der Begriff der Technik des Körpers, in: Wolf Lepenies/Henning Ritter (Hg.), Marcel Mauss. Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, München 1975, S. 199–220. Planert, der dreifache Körper, S. 564.

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Bewegung an frischer Luft ausgesetzt sei, wurden „Bewegungsspiele im Freien“ zur Gesundung der Schuljugend zunehmend empfohlen.28 Stellte der sogenannte „Spielerlass“ des preußischen Kultusministers Gustav von Goßler von 1882 eine administrative Reaktion auf die Überbürdungsfrage dar, so überführten zahlreiche Pädagogen, Lehrer, Turner und andere diese Frage in einen praktischen Kontext und veröffentlichten in den 1880er Jahren zahlreiche Spielesammlungen und -anleitungen.29 Sowohl der Erlass als auch die Spielesammlungen reproduzierten den Topos der körperlichen und geistigen Überbürdung und empfahlen Spiele an frischer Luft als Gegenmittel. Die Spielesammlungen boten verschiedene Formen – unter anderem auch Fußball – didaktisch aufbereitet an. Bezugnehmend auf „Urväter“ wie Johann Christoph Friedrich GutsMuths und Friedrich Ludwig Jahn wurde immer wieder der Wert solcher Spiele für die anhaltende körperliche Bewegung an frischer Luft hervorgehoben. Das Fußballspiel wurde dabei vielfach besonders herausgestellt. Gerade der Fußball ließe, so Friedrich Clasen 1882, „das Blut am fröhlichsten in den Adern kreisen“, und man könne es „mit Fug und Recht als Stahl- und Stählbad der Gesundheit bezeichnen“.30 Spätestens seit Mitte der 1890er Jahre ging es nicht mehr nur um eine Überbürdung des Schülerkörpers in der stickigen Schulstube. Das Problem wurde weitreichender und drastischer beschrieben: Das deutsche Volk, metaphorisch im Volkskörper gefasst, war krank, der Volkskörper beschädigt. Der als exemplarisch anzusehende gemeinsame Aufruf der Deutschen Turnerschaft (DT) und des 1891 gegründeten Zentralausschusses zur Förderung der Volks- und Jugendspiele (ZA) von 1894 forderte zum kollektiven Kampf gegen die „Schäden an unserem Volkskörper“ auf. Gefährdungen des Volkes und des kollektiven Volkskörpers lauerten überall, so die pessimistische Einschätzung. Die Jugend verlöre im „öden Wirtshausleben, läppischen Vergnügungen und nichtssagenden Unterhaltungen“31 ihr Bestes an Kraft und Gemüt; die der Schule entwachsene männ-

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Vgl. exemplarisch Friedrich Ernst Clasen, Bewegungsspiele im Freien zur Gesundung des Körpers und Erfrischung des Geistes. Für das heranwachsende Geschlecht, Stuttgart 1882; Emil Hartwich, Woran wir leiden. Freie Betrachtungen und praktische Vorschläge über unsere moderne Geistes- und Körperpflege in Volk und Schule, 2. Aufl., Düsseldorf 1882; R. Heeger, Schulturnen und Körperpflege. Ein Beitrag zu der von dem königlichen Amtsrichter Hartwich, Düsseldorf, verfassten Broschüre: ,Woran wir Leiden.’ Vortrag, gehalten auf der zwölften Versammlung des Sächsischen Turnlehrervereins zu Reichenbach i. V. am 15. Mai 1883, Leipzig 1883. Vgl. exemplarisch F.W. Racquet, Moderne englische Spiele. Zum Zwecke der Einführung in Deutschland, Göttingen 1882; Hermann Raydt, Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Englische Schulbilder in deutschem Rahmen. Nach einer Studienreise aus der Bismarck-Schönhausen-Stiftung, Hannover 1889; Ernst Kohlrausch/Adolf Marten (Hg.), Turnspiele nebst Anleitung zu Wettkämpfen und Turnfahrten für Lehrer, Vorturner und Schüler höherer Lehranstalten, Hannover 1884; Schettler, J.C.F. GutsMuths’ Spiele zur Erholung des Körpers und Geistes. Gesammelt und Bearbeitet für die Jugend, ihre Erzieher und alle Freunde unschuldiger Lebensfreuden, 6. Aufl., Hof 1884; Eduard Trapp/Hermann Pinzke, Das Bewegungsspiel. Seine geschichtliche Entwicklung, sein Wert und seine methodische Behandlung, nebst einer Sammlung von über 200 ausgewählten Spielen und 25 Abzählreimen. Auf Grund und im Sinne des Ministerial-Reskripts vom 27. Oktober 1882, 6., verm. Aufl., Langensalza 1897. Clasen, Bewegungsspiele im Freien, S. 56. O.A., Der gemeinsame Aufruf des Zentral-Ausschusses und der Deutschen Turnerschaft, in: Jahrbuch für Jugend- und Volksspiel 4 (1895), S. 325–328, hier S. 327.

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liche Jugend bedürfe dringend der körperlichen Wohltat, da sie ihre Zeit im Fabriksaal, der Werkstube, im Kontor oder am Studiertisch zuzubringen habe. Generell sei die gesamte Nation durch die schädlichen Einflüsse des Kulturlebens gefährdet. Es findet sich kaum ein Artikel zum Fußball, kaum eine Einleitung einer Einführung zum Fußballspiel, in welcher nicht vorab die gefährdete Volksgesundheit beschrieben wird. Die Lösung lag für die Autoren auf der Hand: Bewegung an frischer Luft zur physischen Heilung des einzelnen Körpers werde vor allem durch das Fußballspiel ermöglicht. Gesundheit war zeitgenössisch aber nicht auf den Körper reduziert, sondern bezog sich immer auch auf ,innere Werte’, die zeitgenössisch in der Regel unter dem Begriff des Geistes subsummiert wurden. Nicht umsonst stellte Philipp Heineken seiner Einführung in das Fußballspiel von 189332 das Motto mens sana in corpore sano voran (eine Wendung die sich in zahlreichen weiteren Schriften ebenfalls findet). Den gleichzeitigen Zugriff auf Körper und Geist, so die Argumentation, bewirke vor allem der Fußball. Neben den positiven Auswirkungen auf zahlreiche Körperregionen wurde die durch die Logik der Praxis33 induzierte Arbeit am Selbst – d. h. Selbstdisziplin für das Wohl des Ganzen, Unterwerfung unter allgemeinverbindliche Regeln (siehe 4.1) – als ideale Strukturübung34 in einer zunehmend krisenhaft wahrgenommenen Moderne hervorgehoben. 4. Der Fußball und der Fußballerkörper: Training, Lebensführung und Formen der Ausarbeitung In den pädagogisch-erzieherischen Schriften, die das Feld bis etwa 1900 bestimmt hatten, blieben die Topoi der Gesundung und Gefährdung auch nach der Jahrhundertwende dominant. Allerdings differenzierte sich die Fußballliteratur etwa ab Mitte der 1890er Jahre in drei Richtungen aus: Es entstanden 1. die genannten pädagogisch-erzieherischen Schriften, 2. Spezialliteratur zum Erlernen des Fußballs, 3. Periodika, die wiederum in Spezialzeitschriften sowie Vereins- und Verbandperiodika unterteilt werden können. Die Spezialliteratur zum Erlernen des Fußballs, die in der Regel im Format des Handbuchs erschien, fokussierte den Körper des Akteurs sehr viel konkreter, als es in den Spielbüchern der 1880er und frühen 1890er Jahre der Fall gewesen war. Abgesehen von einigen sehr kurzen Regelheftchen – wie beispielsweise dem schon angesprochenen Heft von Konrad Koch (1875) – und Aufsätzen über die Regeln und Grundprinzipien des Fußballspiels gab es bis in die 1890er Jahre keine eigenständigen Handbücher zum Erlernen des Fußballspiels. Es waren der bereits angesprochene Philipp Heineken und 32

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Philipp Heineken, Die beliebtesten Rasenspiele. Eine Zusammenstellung der hauptsächlisten englischen Out Door Games zum Zwecke ihrer Einführung in Deutschland, Stuttgart 1893. Vgl. zu diesem Konzept vor allem: Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M 1987, S. 174 ff. Vgl. zu diesem Konzept: Michael Meuser, Strukturübungen. Peer Groups, Risikohandeln und die Aneignung des männlichen Geschlechtshabits, in: Karin Flaake/Vera King (Hg.), Männliche Adoleszenz, Frankfurt a. M./New York, 2005, S. 309–323.

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Karl Schwalm, die 1898 unabhängig voneinander erste Handbücher veröffentlichten.35 Im Laufe der Jahre folgten weitere.36 Neben den gängigen Topoi der Gesundung des Volkskörpers durch Fußball boten diese Handbücher umfangreiche Hinweise zum Erwerb der fußballspezifischen Spieltechniken, wie Schuss, Pass und Kopfball. In Text und Bild wurde dem Anfänger in diesen Büchern das Einmaleins des Fußballs näher gebracht. Beispielsweise beschrieb Karl Schwalm das Dribbling wie folgt: „Das ,Treiben’ oder ,Ackern’ (dribbling) ist ein spielgesetzlich zulässiger Kniff (trick), welcher darin besteht, dass ein Spieler den Ball durch wiederholte Berührung mit der Innenkante eines Fußes oder durch schwache Stöße abwechselnd mit dem linken und dem rechten Fuße langsam, aber sicher vorwärts bringt.“37 Albert Otto Paul nannte drei zentrale Vorübungen um die „Technik des Fußballspiels zu erlernen“: das Stoßen, das Treiben und das Stoppen. Das Treiben beschrieb er ein wenig anders als Schwalm: „Durch kleine Stöße treibt man den Ball mit beiden Füßen vor sich her. Man muß den Ball immer möglichst tief treffen, damit er nicht zu weit vorwärts läuft und man ihn so aus der Gewalt verliert.“38 Ähnlich wie Schwalm betont auch Paul, dass die Berührung des Balls nicht zu stark geschehen habe. Im Gegensatz zu ersterem bringt Paul aber auch ein ,praktisches Argument’ dafür: Wenn man den Ball zu tief trifft, dann verliert man die Kontrolle über ihn. Die meisten Anleitungen zeichnen sich durch einen solchen oder ähnlichen Praxisbezug aus. Ferner wird immer wieder auf die enorme Relevanz des praktischen Einübens verwiesen. Pointiert formulierte Heineken: „Den Stoss auf dem Papiere zu beschreiben, hält [sic] ziemlich schwer, er kann nur durch Uebung erlernt werden.“39 Zusätzlich zu dem methodischen Erwerb von Körpertechniken beinhaltete die Spezialliteratur weitere Hinweise zum Training des Fußballers. Dabei bezeichnete der zeitgenössische Begriff des Trainings aber mehr als lediglich eine räumlich und zeitlich gesonderte Sphäre der sportiven Vorbereitung. Das Training war eine Chiffre für eine spezifische Form der Lebensführung. So brachte Georg Wenderoth gegen die Vorwürfe der DT, der Fußball verführe zum ungesunden Übertrainieren, den Einwand vor, dass sich der Trainierende im richtigen „Training [einer] strengen Selbstzucht“ unterziehe.40 Bereits 1893 hatte Heineken einen sehr umfassenden Trainingsplan für den angehenden Sportsmann aufgestellt. Idealtypisch beschrieb er in diesem Plan, der in „Verhaltungsmassregeln für den Körper“ und „zu einem bestimmten Zweck vorzunehmende Uebungen“ aufgeteilt war, den Lebenswandel eines Sportlers und verband diese Darstellung 35

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Philipp Heineken, Das Fußballspiel. Association und Rugby, Stuttgart 1898, Repr. Hannover 1993; Karl Schwalm (Hg.), Bewegungsspiele in Einzelbeschreibungen für Schüler und Studierende, für Turner und Ausflügler, wie für gesellige Kreise, H. 1: Fussball ohne Aufnehmen, Leipzig/Wien 1898. Vgl. u.a. Kurt von Eberbach, Rasenspiele, Bd. 2: Fussball, Leipzig o. J. [1902]; Paul Faber, Der Fußballsport, Berlin/Leipzig/Paris 1907; Albert Otto Paul, Das Fussballspiel, Leipzig 1905; Johannes Scharfe, Fußball ohne Aufnehmen des Balles, Leipzig 1909; Hermann Schnell, Handbuch der Ballspiele, Tl. 2: Das Fußballspiel, Leipzig 1900. Schwalm, Bewegungsspiele in Einzelbeschreibungen, S. 27. Paul, Das Fussballspiel, S. 38. Heineken, Das Fußballspiel, S. 63. Georg Wenderoth, Die erzieherischen Werte von Sport und Spiel, in: Norddeutscher Fußball-Verband (Hg.), Was wir wollen. Ein Mahn- und Weckruf an Eltern und Behörden, Hamburg 1910, S. 22–26, hier S. 24.

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mit Hinweisen, wann dieser aufzustehen habe, was er wann essen solle und wie er seinen Körper durch Spaziergänge und Läufe stählen könne. Die Verbands- und Vereinsschriften stellen gerade für diesen Aspekt, d. h. den Zugriff auf die Lebensführung des Fußballers, ein besonders ergiebiges Quellenkorpus dar. Da sie sich im Gegensatz zur Handbuchliteratur an Fußballer und nicht an solche, die es werden wollten, richteten, geben sie Aufschluss darüber, was für den Fußballspieler − zusätzlich zur Beherrschung der Spieltechniken − als relevant galt. So beklagten einige Autoren in den Jahrbüchern, wie auch in der Monatsschrift die mangelhafte sportliche Lebensführung, d. h. eine nicht ausreichende Unterwerfung unter das Training. Martin Brustmann klagte im Jahrbuch von 1907: „Solides Leben! Hier sitzt das grosse Hemmnis, das jeden Sport in Deutschland aufhält. Das Erholungsleben der weitaus meisten deutschen jungen Männer war von jeher durch die Alkohol- und die Liebesindustrie entscheidend bestimmt“.41 Ähnlich äußerte sich ein anonymer Autor in der Monatsschrift: „Die Vorbedingung zu einem guten Training ist ein solides Leben! Vor allen Dingen Alkohol und Rauchen meiden.“42 Aus dem Gesagten wird deutlich, dass Training zeitgenössisch nicht nur eine Arbeit am Körper, sondern eine Arbeit am Selbst bedeutete, d. h. eine Modifikation der gesamten Lebensführung. Diese Modifikation lässt sich analytisch als Form der Ausarbeitung begreifen. Die Ausarbeitung bildet in den Überlegungen Foucaults eine spezifische Art der Selbstführung, die als praktische Arbeit an seinem Selbst konzipiert ist. Eine Arbeit, „die man an sich selber vornimmt – und zwar nicht nur, um sein Verhalten einer gegebenen Regel anzupassen, sondern um zu versuchen, sich selber zum moralischen Subjekt seiner Lebensführung umzuformen“.43 Als Orientierungsgrößen für diese Arbeit fungierten vor allem die Jahrbücher, die im Folgenden als strukturbildend für das fußballerische Subjektivierungsregime analysiert werden. Subjektivierungsregime stellen „disparate historische Konfigurationen [dar], in denen bestimmte Modelle, das Subjekt zu denken, sich mit spezifischen Verfahren verbinden, es praktisch zu formen“.44 Die Jahrbücher boten also Anhaltspunkte, wie sich die Akteure diesem Regime unterwerfen konnten, sich innerhalb dieses Regimes formten, sich aber gleichzeitig auch erst Mitspielfähigkeit unter den Regeln dieses Regimes erwarben. 4.1. Die Jahrbücher: Struktur des fußballerischen Subjektivierungsregimes Im Folgenden soll es um die Struktur des fußballerischen Subjektivierungsregimes gehen, das die Formen der Ausarbeitung figurierte. Die Jahrbücher des DFB erschienen seit 1904; seit der Ausgabe von 1907, die den 3. und 4. Jahrgang bündelte, wurden sie jeweils nach dem Ende der Spielzeit veröffentlicht.45 Spätestens seit dem 5. Jahrgang 41 42

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Martin Brustmann, Fussball und Athletik, in: Jahrbuch 3/4 (1907), S. 110–113, hier S. 112. X., Etwas über die Notwendigkeit des Trainings für die kommende Saison, in: Monatsschrift 2 (1909/10), S. 124–125, hier S. 125. Foucault, Gebrauch der Lüste, S. 38. Bröckling, Regime des Selbst, S. 125. E. Horowitz/Hugo Kubaseck/ O.Neumann, Vorwort, in: Jahrbuch 3/4 (1907), S. 1–2.

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können sie als heterogenes Ensemble verschiedenster Textsorten bezeichnet werden.46 Allen Jahrbüchern gemein war, dass sie verschiedene thematische Bereiche, wie Regelund Gesundheitsfragen, Fußballplätze oder die Verbindung des Fußballs zu anderen Feldern, beispielsweise der Schule oder dem Militär, bündelten. Innerhalb dieses Korpus finden sich explizite und implizite Hinweise auf die Struktur des fußballerischen Subjektivierungsregimes. Der Fußballer und das Fußballspiel wurden in den Jahrbüchern vor allem ausgehend von den eng verwobenen Konzepten Erziehung, Wehrkraft und Volksgesundheit thematisiert. Zeitgenössisch wurde Wehrkraft als „Fähigkeit zur kraftvollen kriegerischen Betätigung“ mit der Ausbildung und Erziehung der „Wehrfähigen ... für den Krieg“ verstanden,47 während die Volksgesundheit in der Regel an den „Tauglichkeitsziffern ... der allgemeinen Wehrfähigkeit“ gemessen wurde.48 Wehrkraft und Volksgesundheit verbanden sich also zu einem Komplex von biopolitischen Maßgaben, die auf den menschlichen Körper zielten. Das Fußballspiel wurde sowohl in den Jahrbüchern als auch an anderen Orten des Sprechens häufig als positiv im Sinne der Erhaltung dieser biopolitisch formatierten Normalität hervorgehoben. In den Jahrbüchern des DFB finden sich einige Aufsätze von Angehörigen des Militärs, die sich mit der Beziehung des Fußballs zum Krieg, zu den einzelnen Waffengattungen oder zum Militärdienst beschäftigten,49 außerdem solche, die den Körper allgemein im Hinblick auf die Volksgesundheit thematisierten.50 Aus militärischen Sprecherpositionen wurde dem Fußball zunächst sein Potenzial zur Produktion „gelehriger Körper“51 – im Sinne Foucaults – positiv angerechnet, d. h. die grundsätzliche körperliche Befähigung zum Militärdienst wurde betont. So galt der Fußball als hervorragende „Schulung des Körpers“, die dem Rekruten „die Strapazen der Militärzeit als kaum beschwerlich erscheinen lassen“, da er ja bereits vor dem Militärdienst die „härtere Schule des Trainings durchgemacht“ habe.52 Ähnlich argumentierte ein ,Bekehrungsbericht’, in dem der vorbereitende Charakter des Trainings hervorgehoben wurde. Gleichzeitig sei das Spiel aber auch noch während des Wehrdienstes ein 46

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Vgl. die Zusammenfassung der verschiedenen Charaktere der vorangegangenen Jahrbücher: Johannes Scharfe, Die Pflichten der ,toten Saison’, in: Jahrbuch 5 (1908), S. 138 f. Neuber, Die Bedeutung der Volks- und Jugendspiele für die Wehrkraft des deutschen Volkes. Auszug aus dem Vortrag beim 10. Deutschen Kongreß für Volks- und Jugendspiele in Gleiwitz am 4. Juli 1909, abgedr. in: Norddeutscher Fußball-Verband (Hg.), Was wir wollen, 1910, S. 26–35, hier S. 26. Meisner, Über die Beziehungen zwischen Heer und Schule. Vortrag auf dem siebenten deutschen Kongreß für Volks- und Jugendspiele, abgedr. in: Hermann Raydt, Siebenter Deutscher Kongreß für Volks- und Jugendspiele vom 15. bis 18. September 1905 zu Frankfurt a. M. Reden und Verhandlungen, in: Körper und Geist 14 (1905/06), S. 193–292, hier S. 202. Vgl. Hans Donalies, Die Entwicklung unseres Militärsports, in: Jahrbuch 8 (1911), S. 145–157; Dietrich von Hülsen, Fußballsport und Wehrfähigkeit, in: Jahrbuch 9 (1912), S. 123–128; Löffler, Wie ich zum Fußballspiel bekehrt wurde. Ein Ausschnitt aus dem deutschen Militärsport, in: Jahrbuch 8 (1911), S. 158–163; Scheibert, Sport und Wehrkraft, in: Jahrbuch 7 (1910), S. 35–38; Sichhardt, Der Fußballsport im deutschen Heere, in: Jahrbuch 7 (1910), S. 63–69. Vgl. Arthur Mallwitz, Sporthygiene, in: Jahrbuch 7 (1910), S. 80–86; Ferdinand August Schmidt, Sport und Volksgesundheit, in: Jahrbuch 7 (1910), S. 24–29; Ernst Schottelius, Sport und Hygiene, in: Jahrbuch 8 (1911), S. 96–103; Ernst Würtemberg, Sport und Kultur, in: Jahrbuch 7 (1910), S. 9–23. Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt a. M. 1994, S. 173. Scheibert,Sport und Wehrkraft, S. 36.

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gutes Mittel zur Aufrechterhaltung der körperlichen Fähigkeiten. Dem Autor dieses Berichts hatte schon das Zuschauen bei nur einem Fußballspiel genügt, um sowohl „bekehrt“ zu werden als auch um zu erkennen, dass es „kein besseres Kampfspiel für die Ertüchtigung unserer heranwachsenden männlichen Jugend und für die Übung aller militärischen Tugenden vor dem Eintritt zum aktiven Dienste wie auch im Heere“ gebe.53 Entscheidend an diesem Bericht ist, dass der Körper des Fußballers durch das Spiel und das Training als potenziell bearbeitbar betrachtet wurde und dass diese Bearbeitung nicht nur als notwendige Bedingung für den sportlichen Erfolg, sondern als Arbeit des Einzelnen zum Wohle der Gesamtheit im organizistischen Zellenstaat gedacht wurde. So stellte Hermann Raydt am Ende seiner Ausführungen zur Notwendigkeit der Förderung von Fußballspielplätzen fest, dass sich die Fußballer bewusst seien: Wenn „wir unser kräftiges Fussballspiel üben und fördern“, tragen „wir damit ein gut Teil zur Volksgesundung und Erhaltung unserer Wehrkraft bei“.54 Die Arbeit am Körper um seiner selbst willen erhob der DFB in einer nationalen Wendung dieser Argumentation zum zentralen Unterschied zwischen dem deutschen und dem englischen Fußball. Im Gegensatz zu England solle der Fußball in Deutschland eben „nicht als Schaustellung, sondern als eine der besten Methoden zur Erziehung eines kräftigen, widerstandsfähigen Körpers um seiner selbst willen betrieben werden.“55 So wie die Disziplinierung der „gelehrigen Körper“ in Foucaults Konzeption nicht nur auf die Physis, sondern auch auf das Innere abzielt,56 wurde dem Fußball nicht nur für die Produktion eines fähigen Körpers, sondern auch für die eines spezifischen Selbstverhältnisses eine besondere Eignung zugesprochen. Zunächst lässt sich dies am deutlichsten am Beispiel der Schule zeigen: So erinnerte ein Beitrag aus dem Jahr 1911 daran, wie im Kontext der sogenannten Überbürdungsdebatte der Zusammenhang von Sport und Erziehungswesen thematisiert worden sei. Der Sport habe sich in den Schulen schon vor 1900 „eines gewissen Wohlwollens erfreut – allerdings nur wegen seiner gesundheitlichen Bedeutung“. Gerade das Innere des Schülers, sein Wille zur Tat sei es aber, die speziell das Fußballspiel anspreche, welches deshalb nicht nur bezüglich seiner positiven Auswirkungen auf die Physis des Schülers unbedingt in die Schule gehöre. „Das Fußballspiel [weckt] die im Schüler schlummernden Fähigkeiten ... und [gewährt] ihrer Entwickelung ein eigenartiges und fast unübersehbares Betätigungsfeld“.57 Und auch jenseits der Schule galt der Fußball als besonders geeignet für die Einwirkung auf das Selbst, nämlich für die Erziehung zu militärischer Männlichkeit. So benannte der Chef der Marinestation der Ostsee, Admiral von Prittwitz-Gaffron, zunächst die bereits erwähnten Vorzüge des Sports für den Körper und hob dann hervor, dass gerade „der Fußballsport noch den großen Vorzug [habe,] dem Manne die Notwendigkeit des Unterordnens und den Erfolg des Zusammenarbeitens“ zu zeigen.58 Diese 53 54 55 56 57 58

Löffler, Wie ich zum Fußballspiel bekehrt wurde, S. 163 (Hervorhebung J.E.). Hermann Raydt, Die Spielplatzfrage, in: Jahrbuch 3/4 (1907), S. 96–98, hier S. 98. O.A., England 1908/09, in: Jahrbuch 6 (1909), S. 115–125, hier S. 115. Vgl. Foucault, Überwachen und Strafen, S. 173–294, vor allem S. 251 ff. A. Streibich, Der Sport im Erziehungswesen, in: Jahrbuch 8 (1911), S. 85–90, hier S. 85. Widmung des Admirals von Prittwitz-Gaffron, in: Jahrbuch 7 (1910), S. 8.

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demonstrative Funktion wurde vor allem in der Struktur der Praxis gesehen. Die Verwobenheit der Akteure im Spielgeschehen, in der Figuration59 des Fußballspiels, so die Überzeugung einiger Autoren, befähige die Fußballer zu einer bedingten Flexibilität. Flexibel deshalb, weil im Spiel nicht „blinder Knutengehorsam“ erlernt werde, sondern „jede Lage ... besondere Maßnahmen [erfordere], die richtig zu treffen Denken und Urteil“ verlange;60 bedingt deshalb, weil die Spieler lernten, sich und ihre Affekte dem Regelwerk zu unterwerfen. So betonte Dietrich von Hülsen, dass das Spiel „kampffrohe und energische Männer erzieht und Menschen, die sich in den schwersten Situationen trotz Hingabe all ihre Temperaments, trotz Drangabe all ihrer Kraft doch immer zu beherrschen wissen und nie die Gesetze der Fairneß verletzen“.61 Während die konkret appellativen Aussagen, wie etwa der Aufruf zu einem soliden Leben, sich auf die Ausarbeitung bezogen, finden sich die Hinweise auf die Struktur des fußballerischen Subjektivierungsregimes in den Jahrbüchern eher auf einer deskriptiven Ebene. Das Subjektivierungsregime war anhand biopolitisch formatierter und auf das Selbst der Akteure zielender Aussagen strukturiert. Paradigmatisch kommt das in der dritten Strophe des „D.F.B.-Liedes“ zum Ausdruck: „Das heisst kein eitles nutzlos’ Streben, Nein, dem Entschlusse folgt die Tat, Gestählt der Körper für das Leben. Und droht dem Reiche einst Verrat, Dann sende sorglos deine Jugend Hinaus zum Kampf, sie fechtet gut, Der Fussballsport hat Mut und Tugend Gewurzelt fest in Mark und Blut.“62 Das Gros der angeführten Aussagen zum Fußball in den Teilen des Jahrbuchs, die „aktuellen Zeitfragen“ gewidmet waren,63 implizierte einen quasi-automatischen Formationsprozess des Subjekts durch dessen Teilnahme an der Praxis. Nur in wenigen Beiträgen wurde explizit die Notwendigkeit körperlicher Zucht und solider Lebensweise für den sportlichen Erfolg betont. Neben dem bereits erwähnten programmatischen Aufsatz Martin Brustmanns aus dem Jahr 1907 waren es vor allem regelmäßige ,Wasserstandsmeldungen’ zur Entwicklung des Fußballs in Deutschland, die die Fußballer aufforderten, sich vor Augen zu führen, dass „ein intensiver und erfolgreicher Sportbetrieb ohne eine rationelle Lebensweise heute nicht mehr denkbar“ sei.64 Angesichts des eher marginalen Status solcher

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Vgl. Norbert Elias, Was ist Soziologie?, Weinheim 2004, S. 139–145. Scheibert, Sport und Wehrkraft, S. 37. Hülsen, Fußballsport und Wehrfähigkeit, S. 126. Fritz Müller, D.F.B.-Lied, in: Jahrbuch 3/4 (1907), S. 128 (Hervorhebung J.E.). Scharfe, Pflichten der ,toten Saison’, S. 138. Felix Boxhammer, Bericht über die internationalen Angelegenheiten, in: Jahrbuch 6 (1909), S. 16–23, hier S. 16.

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und ähnlicher Appelle, die eine „sorgfältige körperliche Vorbereitung für das Wettspiel“ anmahnten,65 können die Jahrbücher des DFB als primär programmatische Quellen bezeichnet werden, die zwar das Subjektivierungsregime als Struktur erkennbar machen, aber bei denen unklar bleibt, wie und ob die Fußballer an sich, an ihrem Körper und ihrem Selbst, arbeiten sollten. Die Frage ist also, ob diese Aussagen auf einer programmatischen Ebene verblieben oder ob sie sich zu konkreten Appellen und Praktiken verdichteten. 4.2. Die Monatsschrift: Wahrheit des Ergebnisses und Aufruf zur Selbstbildung Der KFC wurde 1899 als Internationaler Fußball-Club Cöln gegründet und kurz nach der Gründung in Kölner Fußball-Club umbenannt.66 Der KFC ist der älteste Fußballverein in Köln. Mit Camillus ,Peco’ Bauwens war ein späterer DFB-Präsident Mitglied des Vereins. 1910 erbaute der Verein einen eigenen Sportplatz, dessen Anlage von Bauwens im Jahrbuch als mustergültig für andere Vereine geschildert wurde.67 Der KFC hatte mehrere Herren- und Jugendmannschaften sowie eine Akademiker- und eine Altherrenmannschaft,68 bot seinen Mitgliedern daneben – wie viele andere Sportvereine auch – Leichtathletik, Rudern, Turnen und andere Bewegungspraktiken an. Ähnlich wie in anderen Vereinen bot der KFC einen Ort der Geselligkeit für Angestellte und bürgerliche Mittelschichten.69 Auf regelmäßigen Clubabenden wurden vereinsinterne Angelegenheiten besprochen, aber auch sportspezifische und politische Vorträge gehalten. Beispielsweise wurde die Generalversammlung am 1. Oktober 1914, d. h. kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, nicht nur dazu genutzt, englische Mitglieder von Funktionärspositionen auszuschließen, sondern auch um die Vaterlandsliebe mit einem „kräftig gesungenen Vaterlandsliede“70 performativ zu bestätigen. Der KFC stellte also, gemessen an dem was Christiane Eisenberg für die Fußballvereine des Deutschen Kaiserreichs herausgearbeitet hat,71 einen geradezu prototypischen Verein dar. Die Monatsschrift für jedes der ungefähr 200 Mitglieder dieses verhältnismäßig großen Fußballvereins erschien seit 1908.72 Inhaltlich war die Schrift etwas anders gelagert als die DFB-Jahrbücher. Thematische Aufsätze zum Zusammenhang zwischen Fußball 65 66 67 68

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O.A., Die deutsche Saison 1908/1909, in: Jahrbuch 6 (1909), S. 91–104, hier S. 94. Vgl. http://www.vfl99koeln.de/%C3 %BCber-uns/geschichte/ (zuletzt aufgerufen am 5.12.2012). Vgl. Camillus Bauwens, Der Fußballplatz, in: Jahrbuch 8 (1911), S. 125–133. Es gab bis zu vier Herrenmannschaften. Man wurde je nach Leistungsstärke einer der Mannschaften zugeordnet, wobei die erste Mannschaft die leistungsstärkste war. Ferner gab es eine Akademikermannschaft, Schülermannschaften und eine Altherrenmannschaft. Vgl. vor allem Christiane Eisenberg, Fußball in Deutschland 1890–1914. Ein Gesellschaftsspiel für bürgerliche Mittelschichten, in: Geschichte und Gesellschaft 20 (1994), S. 181–210; dies., ,English Sports’ und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte, 1800–1939, Paderborn u.a. 1999, hier vor allem S. 147–152 und 178–193. Feller, Protokoll der General-Versammlung am 1. Oktober 1914 im Hotel ,Kaiser Wilhelm’, in: Monatsschrift 6 (1913/14), S. 134–136, hier S. 136. Vgl. Eisenberg, Fußball in Deutschland; dies., ,English Sports‘. Offiziell waren die Mitglieder zum Abonnement der Monatsschrift verpflichtet. Vgl. o.A., Bekanntmachungen, in: Monatsschrift 1 (1908), S. 2–3.

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und anderen Feldern, die im Jahrbuch einen großen Teil ausmachten, finden sich in der Monatsschrift kaum. Zweck der Monatsschrift war es, den Mitgliedern eine „getreue Schilderung der Clubgegebenheiten, unparteiische Darstellung der Wettspiele ohne die Ueberhebung des eigenen Könnens unter Anerkennung der Tüchtigkeit des Gegners [sowie] rücksichtslose Aufdeckung der eigenen Mängel und Schwächen“ zu bieten.73 Mit Hilfe der Monatsschrift lassen sich daher die zeitgenössischen Einschätzungen zum Status quo der spielerischen Fähigkeiten der einzelnen Mannschaften ablesen. Im Gegensatz zum Jahrbuch finden sich in der Monatsschrift zwar verstreute, dafür aber sehr konkrete Appelle an das Ethos der Spieler. Bereits im ersten Jahrgang richtete Hans Passauer ein Mahnwort an die Vereinsmitglieder. Es hatte wohl Streit im Verein gegeben, und Passauer bemängelte, dass ein „solches Handeln ... doch von einer sehr geringen sportlichen Gesinnung“ zeuge. Er erinnerte die Leser an die „ersten Jahre des K.F.C.“, in denen die Spieler Freunde waren und der KFC „überall wie ein Mann zusammen“ gestanden habe.74 Explizit wurde in den „11 Merksteine[n] des K.F.C.aners“ an die ethischen Grundsätze des Sportbetriebs appelliert. Gegenüber dem Gegner und dem Schiedsrichter solle man sich als Sportsmann zeigen, sich seinen Mitspielern gegenüber in Kameradschaft üben; der Spieler selbst solle nur in der „körperlichen Verfassung [zum Spiel erscheinen], welche die Ausdauer bis zum Schluß“ garantiere.75 Neben diesen und weiteren expliziten Appellen an die Spieler,76 finden sich in der Monatsschrift noch zwei Artikel zum sogenannten „Kanonentum“,77 die aus anderen Zeitschriften übernommen und „zur Kenntnis unserer Leser“ abgedruckt wurden.78 In beiden Artikeln werden negative Gegenbeispiele zum Typus des ,wahren’ Sportsmanns vorgeführt: herausragende fußballerische Fähigkeiten bei einem gleichzeitigen Mangel an Disziplin, Kameraderie und Fleiß. Die Beispiele erlaubten es dem Einzelnen zu überprüfen, ob und inwieweit er dieser Negativfolie eines Fußballers entsprach und welche Handlungen er daher gegebenenfalls unterlassen sollte. In den Monatsschriften finden sich bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs lediglich vier Artikel,79 die sich ganz konkret auf das Training des Fußballers beziehen. Grundlage jeder dieser Anleitungen war die Sporthygiene, ein Sonderbereich der allgemeinen Hygiene, die Philipp Sarasin treffend als einen „der diffusen und omnipräsenten Schlüsselbegriffe des 19. Jahrhunderts“ bezeichnet.80 Die „Sporthygiene“ beschäftigte sich vor 73 74 75 76

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Lange, Zum Geleite, in: Monatsschrift 1 (1908), S. 1. Hans Passauer, Ein Mahnwort, in: Monatsschrift 1 (1908), S. 42–45, hier S. 43 f. Pfadfinder, Die 11 Merksteine des K.F.C.-aners, in: Monatsschrift 5 (1912/13), S. 16. Vgl. o.A., Zum Ausschneiden für unsere Clubmitglieder, in: Monatsschrift 5 (1912/13), S. 155–156; Albert Pott, An unsere Aktiven!, in: Monatsschrift 2 (1909/10), S. 45–46. O.A., ,Kanonentum’, in: Monatsschrift 4 (1911/12), S. 150–152. X., Kanonen, in: Monatsschrift 5 (1912/13), S. 187–189, hier S. 187. Moger, Wie man Wettspiele gewinnt, in: Monatsschrift 1 (1908), S. 31–33; o.A., Wie ein Fußballspieler trainieren soll, in: Monatsschrift 1 (1908), S. 140–141; Paul Marum, Das Training für Leichtathleten und Fußballspieler, in: Monatsschrift 4 (1911/12), S. 98–100; o.A., Winke für Fußballspieler, in: Monatsschrift 4 (1911/12), S. 138–139. Philipp Sarasin, Subjekte, Diskurse, Körper. Überlegungen zu einer diskursanalytischen Kulturgeschichte, in: Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Kulturgeschichte Heute, Göttingen 1996, S. 131–164, hier S. 147.

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allem mit den Auswirkungen des Sports auf den Körper der Akteure.81 Ähnlich wie die allgemeine Hygiene ging es in der Sporthygiene grundsätzlich um die Topoi Luft, Enthaltsamkeit und Diätetik. Den Fußballern des KFC wurde unter anderem empfohlen, sich von Alkohol und Tabak fernzuhalten, da die Lunge und das Herz im Sport großen Belastungen ausgesetzt seien. Allerdings könne man „Lunge und Herz ... selbst nicht trainieren“ und müsse daher die beiden Organe durch Enthaltsamkeit vor Schaden bewahren.82 Ferner wurden dem Fußballer regelmäßige Bäder, eine gesunde Ernährung und „andere Erfordernisse der Hygiene“,83 wie „gewaschene und gelüftete Kleidung“,84 nahegelegt. Neben diesen Empfehlungen für eine hygienische Lebensweise enthalten die genannten Aufsätze auch Hinweise auf das konkrete körperliche Training des Fußballers. So empfahl Paul Marum seinen Vereinskameraden ein „persönliche[s] Training“, welches aus Gehen, Schwimmen und Massagen bestand. Morgens solle „10–15 Minuten ziemlich andauernd geschwommen werden“, während sich das Gehen mit dem täglichen Tagesablauf gut vereinbaren lasse: „Morgens zum Geschäft und des Abends vom Geschäft gehen in einem Tempo von ca. 6–7 km pro Stunde lockert die Muskeln der Oberschenkel, treibt das Blut in Wallung und erhitzt das Fett, das zwischen den Muskeln sitzt und treibt dieses aus.“ Interessierten Vereinsmitgliedern bot er ferner an, über „die Massage im Allgemeinen ... in den Uebungsstunden Anleitung [zu] geben“.85 Lediglich an einer Stelle gibt es direkte Hinweise auf die Verfeinerung und den Erwerb fußballspezifischer Körpertechniken. In der Monatsschrift von 1908 hieß es, dass „die Uebung im Fußballspiele selbst auf dem Clubplatze schon sehr früh während des Trainings begonnen haben“ muss. Zu diesem Zweck wurde den Spielern empfohlen, „einen Fußball an einer Decke oder einem Querbalken aufzuhängen, den Ball in Schwingung zu versetzen und ihn empor zu treten, wenn er nach unten fällt“.86 Wenn auch verstreut und vereinzelt, so finden sich in der Monatsschrift des KFC doch ähnliche Strukturmerkmale des fußballerischen Subjektivierungsregimes wie in den Jahrbüchern des DFB: Die Anrufung zur Einwirkung auf das Selbst wie auch biopolitische Argumente lassen sich in beiden Formaten feststellen, wobei beide Kategorien in der Monatsschrift zwar weniger umfassend, dafür aber deutlich expliziter ausgearbeitet sind. Der zentrale Unterschied zwischen Monatsschrift und Jahrbuch besteht darin, dass in ersterer das appellative Moment zur Unterwerfung unter das Subjektivierungsregime wesentlich stärker betont wird. Während das Jahrbuch eher programmatisch die quasi-automatische Produktion von gelehrigen Körpern und idealen Gesellschaftsgliedern formulierte, stellten die zahlreichen Spielberichte die Pflicht zum Training und den Verzicht auf Egoismus in den Vordergrund. 81

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Vgl. Mallwitz, Sporthygiene, S. 80–86; ders., Die Sportabteilung der Internationalen Hygiene-Ausstellung, in: Jahrbuch 8 (1911), S. 193–199. Marum, Training für Leichtathleten und Fußballspieler, S. 99. O.A., Wie ein Fußballspieler trainieren soll, S. 141. O.A., Winke für Fußballspieler, S. 139. Alle Zitate: Marum, Training für Leichtathleten und Fußballspieler, S. 99 f.; ähnliche Hinweise zum Gehen finden sich bei o.A., Winke für Fußballspieler, S. 138. O.A., Wie ein Fußballspieler trainieren soll, S. 141.

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So bemängelte ein Bericht zum Verlauf des Spiels zwischen dem Essener Turnerbund und dem KFC in der Saison 1910/11, dass sich „genau wie beim Duisburger Spiel ... bei Köln allmählig [sic] aber sicher ein Nachlassen der Kräfte bemerkbar“ gemacht habe. Dieser „chronisch gewordene[n] Schwäche“ hätte der KFC „den Verlust des einen Punktes zu verdanken“.87 Diese und weitere Beschreibungen einer defizitären körperlichen Konstitution führten dazu, dass auf der ordentlichen Versammlung des Vereins im darauf folgenden Jahr beschlossen wurde, den Besuch der vereinsinternen Turnabende für die Mitglieder der ersten drei Herrenmannschaften obligatorisch zu machen, denn: „Die Resultate der 1. Mannschaft in den Wettspielen zeigen recht deutlich, daß ihr das Training fehlt, das ihr die Kraft gibt, schwere Spiele durchzuhalten.“88 Die Appelle und internen Maßnahmen zur Hebung der körperlichen Kraft aller Mitglieder als Beitrag zum Erfolg der Mannschaft beruhten, wie die Beispiele deutlich machen, auf einer auf rationaler Grundlage basierenden Beobachtung: der Beurteilung der Ergebnisse der Mannschaft im Wettkampf. In den Jahrbüchern wurde sehr oft postuliert, dass die Akteure durch die Teilnahme an der Praxis quasi automatisch sowohl bessere Fußballer als auch bessere Staatsbürger und gesunde Männer würden. Diese Quasi-Autoformation wurde durch die Spielberichte gebrochen. Gesundheit und Männlichkeit waren kaum Thema. Ferner waren die Mitglieder der Mannschaften des KFC durchaus innerhalb des Vereins als Fußballer per se erkennbar. Aus den Spielberichten lässt sich aber nicht ablesen, dass die Vereinsmitglieder damit zufrieden waren, wenn die Akteure Fußball spielten und mithin Fußballer waren: Sie sollten nicht nur Fußballer sein, die Mannschaften sollten auch erfolgreich spielen. Um den Erfolg zu gewährleisten, benannten die Spielberichte zwei Bereiche, in denen Verbesserungen erzielt werden mussten: den einzelnen Fußballer und das Zusammenwirken der Fußballer im Spiel. Nahezu jeder Spielbericht enthielt ein Moment der Einzelkritik; in den seltensten Fällen fand sich eine positive Rückmeldung. Beispielsweise wurde dem Torhüter Schwellenbach wiederholt vorgeworfen, zu langsam zu spielen: „Nur Schwellenbach im Tor, der allein ein Durchschnittsspiel lieferte, muß ich dringend anraten, wenn er ein erstklassiger Torwächter heißen will, die Bälle schneller fortzubringen.“89 Es könnten zahlreiche weitere Beispiele wie dieses angeführt werden. Zentral an der Art und Weise der Kritik ist, dass sie in der Regel mit relativ konkreten Verbesserungsvorschlägen verbunden war.90 Ähnlich funktionierte die Kritik an der Gesamtleistung der Mannschaft. So urteilte ein Autor, dass die „Einzelleistungen der Spieler unserer ersten Mannschaft“ gut seien

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Duobus, Essener Turnerbund I gegen K.F.C. 99 I 4:4, in: Monatsschrift 3 (1910/11), S. 18–19. Müller, Protokoll der ordentlichen Versammlung am 22. Februar 1912 im Hotel ,Kaiser Wilhelm‘, in: Monatsschrift 4 (1911/12), S. 52–54, hier S. 52. Hofmann, K.F.C. 99 I. gegen Germania I. Düren 2:1, in: Monatsschrift 1 (1908), S. 4–5. Eines der seltenen Gegenbeispiele: Willi Rassenberg, Die süddeutsche Reise, in: Monatsschrift 1 (1908), S. 38–39, hier S. 38. Rassenberg kritisierte den Spieler Reiff, der sich „selber sehr verschlechtert hat. Laufen und Ballabnehmen sind sehr nette Sachen, wovon unser Reiff wenig Ahnung hat“.

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und dass lediglich „ein gutes und zielbewußtes Zusammenspiel“ nötig sei,91 um eine erfolgreiche Saison zu spielen. Auch in der Kritik der Gesamtleistung der Mannschaft fanden sich in der Regel Hinweise, wie das jeweilige Defizit zu beheben sei. Nachdem er sein Missfallen an dem „schlappe[n], zerfahrene[n] Stoß- und Lauf-Spiel“ bekundet hatte, wies der Autor eines anderen Spielberichts darauf hin, dass „Uebungen mit dem Ball ohne Tor zu dreien oder vieren ... in dieser Hinsicht auch unserer ,ersten Klasse’ nichts schaden“ könnten.92 Obwohl recht bissig formuliert, verwies der Autor hier auf bekannte Übungsformen zur Verbesserung des Zusammenspiels, wie sie unter anderem in einigen Anleitungsbüchern gegeben wurden.93 Das Resümee Willi Rassenbergs nach einer eher harschen Kritik könnte als Grundtenor nahezu aller Spielberichte gelten: „Die Mannschaft hat das Trainieren bitter nötig.“94 Die Spielberichte in den Monatsschriften des KFC stellten ein sehr engmaschiges Geflecht von Referenzbeziehungen zwischen einzelnen Berichten und der außertextuellen Welt dar. Die Spielberichte waren mehr als nur eine Wiedergabe der Ereignisse: Sie riefen die Spieler auf der Grundlage der gemeinsam geteilten Erfahrung des vergangenen Spiels dazu auf, sich genau zu prüfen. Entscheidend war, dass die Autoren für sich in Anspruch nahmen, die Wahrheit zu sagen: „Unsere Berichte sind, soviel ich beurteilen kann – und dafür sorgt auch die Schriftleitung – von strengster Objektivität und Sachlichkeit.“ Durch das Versprechen, die Wahrheit zu sagen, wurden dem Leser, d. h. vor allem dem aktiven Spieler, an den die Berichte in erster Linie gerichtet waren, vergleichende Maßstäbe und Kriterien vermittelt, an denen er sich orientieren konnte bzw. deren Befolgung zum Gelingen der Ausbildung und zum erfolgreichen Spiel beitragen sollten. Gleichzeitig förderten sie ein vertieftes Wissen um den Fußball: „Hätte K. den Bericht studiert, – ich gebrauche absichtlich diesen Ausdruck, denn ein Bericht, der einen Zweck erreichen soll, muß studiert werden – dann wäre das dritte Tor von Alemannia nicht gefallen und wir wären um einen Punkt reicher.“95 Die Spielberichte der Monatsschrift stellen ein Musterbeispiel für „praktische Texte“ im Sinne Foucaults dar, d. h. Texte die „geschrieben wurden, um gelesen, gelernt, durchdacht, verwendet, erprobt zu werden“.96 Sie boten den Spielern die Gelegenheit, ’sachlich-korrigierend’ auf persönliche fußballerische Defizite hingewiesen zu werden, riefen sie auf, sich selbst aufgrund der ihnen kundgetanen fachlichen Ratschläge zu prüfen und gaben Hinweise darauf, welche Formen der Ausarbeitung sie vorzunehmen hätten.

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Pfadfinder, Fußballclub M.-Gladbach I gegen Kölner F.C. 99 I 0:1, in: Monatsschrift 2 (1909/10), S. 2–4, hier S. 3. (Von ,Pfadfinder’ wie auch von ,Beowulf’ stammen zahlreiche Artikel in der Monatsschrift. Auch in anderen Medien, wie den Zeitschriften ,Sport im Wort’ oder ,Spiel und Sport’, veröffentlichten zahlreiche Autoren, die nur unter einem Alias schrieben). Hofmann, K.F.C. 99 I. gegen Germania I. Düren 2:1, in: Monatsschrift 1 (1908), S. 4–5, hier S. 4. Vgl. u.a. Schnell, Handbuch der Ballspiele, S. 94; Schwalm, Bewegungsspiele, S. 58. Rassenberg, Die süddeutsche Reise, S. 39. Wegweiser, Etwas über das Lesen unserer Clubzeitung, in: Monatsschrift 3 (1910/11), S. 95–96, hier S. 95. Foucault, Gebrauch der Lüste, S. 20.

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5. Fazit Anhand zweier Quellenkorpora wurde in diesem Aufsatz dem Subjektivierungsregime des Fußballs sowie den Formen der Ausarbeitung, derer sich die Fußballer bedienen sollten, nachgegangen. An beiden konnte die Struktur des Subjektivierungsregimes aufgezeigt werden, die durch biopolitische Maßgaben und auf das Selbst der Akteure zielende Aussagen formatiert waren. Dabei konnte gezeigt werden, dass eine Analyse lediglich programmatischer Aussagen, wie sie vor allem in den DFB-Jahrbüchern anzutreffen sind, zwar das Regime in seiner Struktur beschreibbar macht, aber doch auch gewisse blinde Flecken induziert. Erst durch eine Analyse lokaler und regionaler Ausformungen solcher Einwirkungen auf den Fußballer, wie in diesem Aufsatz durch ein close reading der Monatsschrift des KFC geschehen, konnte der programmatische Anspruch hinsichtlich seiner Wirkmächtigkeit bestätigt werden. Darüber hinaus wurde deutlich, dass die quasi-automatische Formierung des Individuums zum Fußballer, gesunden Mann und regelbefolgenden Glied der Gemeinschaft durch Teilnahme am Spiel, wie sie in den Jahrbüchern behauptet wurde, in ihrer konkreten Umsetzung bei weitem nicht so reibungslos vonstatten ging. Erst auf der Grundlage einer „rationalen Wahrheit“ des Ergebnisses von Fußballspielen, die sich auf einer lokalen und regionalen Ebene abbildete, konnte den Akteuren die Notwendigkeit zur Unterwerfung unter das Regime des Trainings plausibel gemacht werden. Die Berichte der Monatsschrift über Spiele des KFC gegen ausländische Mannschaften evozierten darüberhinaus aber auch eine Art transnationale sportliche ,Gesinnungsgemeinschaft’. Ferner konnten die Leser aus Berichten zu den Spielen um den Kronprinzenpokal lernen, die Stärke der Spieler ,ihres’ Fußballverbandes einzuschätzen. Die Perspektive auf Nation und Region erweitert somit den Blick auf die Formierung des Vereinsfußballers im Kaiserreich und auf die an ihn gerichteten Anrufungen.

Lorenz Peiffer/Henry Wahlig

Die Geschichte des jüdischen Sports in Westfalen vor und während der NS-Zeit 1. Einleitung Das vielfältige Engagement von Juden im deutschen Vorkriegssport ist von der Geschichtswissenschaft bis heute nur wenig untersucht worden. Das gilt insbesondere für Regionalstudien, die die Geschichte jüdischer Sportvereine aufarbeiten und in ihren lokalhistorischen Kontext einbetten. Mit dem Handbuch „Juden im Sport während des Nationalsozialismus“, das die Entwicklung jüdischer Sportvereine in Niedersachsen und Bremen vor und während der NS-Zeit aufarbeitet, haben die Autoren Anfang 2012 eine erste Studie vorgelegt, die hinsichtlich ihres methodischen Zuschnitts als Vorbild für den vorliegenden Aufsatz gelten kann.1 Für ganz Westdeutschland liegen bis heute lediglich Studien zum jüdischen Sportleben in Köln, Düsseldorf, Essen, Mönchengladbach sowie Bochum vor.2 Die Geschichte anderer jüdischer Sportgruppen, insbesondere aus ländlichen Regionen in Westfalen, ist bis heute noch völlig unbekannt, so dass nicht einmal das ungefähre Ausmaß der jüdischen Sportentwicklung in der Region eingeschätzt werden kann. Die vorliegende Studie versteht sich als erste Annäherung an dieses Forschungsdesiderat. Sie will auf Basis der in den bisherigen Projekten erhobenen Quellen3 sowie der dort entwickelten Methodik einen ersten kurzen Querschnitt über die Entwicklung des jüdischen Sportlebens in Westfalen vor und nach 1933 geben. Die im Titel gewählte Bezeichnung „Jüdischer Sport“ ist dabei als thematische Abgrenzung zu verstehen, da die Geschichte des jüdischen Sports bzw. die des Sports der Juden in Deutschland als „doppelte“ Geschichte verstanden werden muss: Unter dem Titel „Juden im Sport“ kann dabei das Engagement von Juden als Sportler, Funktionäre und Mäzene im deut1

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Lorenz Peiffer/Henry Wahlig, Juden im Sport während des Nationalsozialismus. Ein historisches Handbuch für Niedersachsen und Bremen, Göttingen 2012. Martin Meyer, Vom J.T.V. 02 zum TuS Makkabi. 100 Jahre Jüdischer Sport in Köln, Köln 2002; Heiko Zielke, „Unsere Kraft unserem Volk“. Makkabi und der jüdische Sport in Düsseldorf 1924 bis 1938, in: Angela Genger/Kerstin Griese (Hg.), Aspekte jüdischen Lebens in Düsseldorf und am Niederrhein, Düsseldorf 1997, S. 130–141; Pascal Boeti, Der jüdische Turn- und Sportclub Hakoah Essen 1923–1938, Diplomarbeit an der Deutschen Sporthochschule Köln 1995; Günter Erckens, Juden in Mönchengladbach. Jüdisches Leben in den früheren Gemeinden M. Gladbach, Rheydt, Odenkirchen, Giesenkirchen-Schelsen, Rheindahlen, Wickrath und Wanlo, Bd. 1, Mönchengladbach 1988, S. 559–574; Henry Wahlig, Die vergessenen Meister: Die jüdische Sportgruppe Bochum 1925–1938, in: SportZeiten. Sport in Geschichte, Kultur und Gesellschaft 8 (2008), H. 2, S. 61–80. Die wichtigste Quellengrundlage des Projektes bilden mehrere tausend Seiten mit Sportmeldungen jüdischer Zeitungen, die in dieser Form noch nicht zusammen getragen worden sind. Sie wurden auch für die Recherchen dieses Beitrags ausgewertet. Für nähere Informationen zu diesem Quellenbestand vgl. Peiffer/Wahlig, Handbuch, S. 11–15.

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schen paritätischen Sport verstanden werden. Dies soll aus Platzgründen an dieser Stelle nicht im Vordergrund der Überlegungen stehen. Mit der Bezeichnung „Jüdischer Sport“ sind hingegen die Aktivitäten selbstständiger jüdischer Turn- und Sportvereine gemeint, die sich bereits lange vor dem 30. Januar 1933 gegründet hatten. Ihre historische Entwicklung in Westfalen bis 1938 bildet den Mittelpunkt des folgenden Aufsatzes. Die jüdischen Turn- und Sportvereine orientierten sich in ihrem Aufbau und ihrem sportlichen Angebot an den paritätischen Vereinen. Dominierte in den Gründungsjahren der ersten jüdischen Vereine um die Jahrhundertwende das Turnen, erweiterte sich das Angebot spätestens Anfang der 1920er Jahre – inspiriert durch die immer populärer werdenden Spiele wie Fußball und Handball und die athletischen Sportarten wie Leichtathletik, Schwimmen und Boxen. Für die historische Forschung ist die Aufarbeitung dieser Vereinsgeschichten von besonderem Interesse, da der Sport wichtige, bislang unbeachtet gebliebene Perspektiven zur Sozial- und Alltagsgeschichte der jüdischen Bevölkerung beigesteuert hat. Bisherige Untersuchungen zeigen, dass Sportvereine nach 1933 vielfach zu den mitgliederstärksten jüdischen Organisationen der Gemeinde zählten und sich zu wichtigen sozialen Treffpunkten entwickelten, deren Bedeutung weit über den eigentlichen sportlichen Rahmen hinausreichte. Vor diesem Hintergrund soll der vorliegende Aufsatz als Impuls für Lokalstudien aus dem westfälischen Raum dienen, die sich dieses bislang weithin vergessenen Themas der jüdischen Alltagsgeschichte annehmen wollen. Aus pragmatischen Gründen konzentriert sich diese Studie schwerpunktmäßig auf die Analyse und Darstellung der Geschichte des jüdischen Fußballs. Eine Betrachtung der Gesamtpalette der sportlichen Aktivitäten in den jüdischen Vereinen würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen. 2. Juden und Fußball vor 1933 Auch in Westdeutschland gründeten sich wie überall im Deutschen Reich bereits um die Jahrhundertwende erste jüdische Turnvereine, die auf die bekannte Forderung Max Nordaus auf dem Zionistenkongress 1898 nach einem neuen „Muskeljudentum“ reagierten. Ihr Zusammenschluss war die 1900 in Berlin begründete Jüdische Turnerschaft. Das erste – und lange Zeit einzige – Mitglied dieses Verbandes in der Region war der Jüdische Turnverein Köln 1902 (J.T.V. 02 Köln).4 Die übergroße Mehrheit der sportlich aktiven Juden gehörte in Westfalen wie in Gesamtdeutschland zunächst überkonfessionellen Vereinen an, die in den paritätischen deutschen Sportdachverbänden zusammengeschlossen waren. Über die Zahl jüdischer Sportler in diesen Organisationen können keine näheren Angaben gemacht werden, da die Vereine ihre Mitgliederlisten in dieser Zeit in aller Regel nicht nach konfessionellen Kriterien ausdifferenzierten.

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Vgl. Meyer, Jüdischer Sport in Köln, S. 39–41.

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Mitte der 1920er Jahre setzte in den deutschen Turn- und Sportvereinen eine Phase antisemitischer Ausgrenzungen ein, die zur Gründung weiterer jüdischer Sportvereine führte.5 Diese Vereine schlossen sich in aller Regel entweder dem zionistisch orientierten Deutschen Makkabikreis,6 dem Nachfolger der Jüdischen Turnerschaft oder dem deutschnational geprägten Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF) an,7 der eine Überwindung der antisemitischen Vorurteile in der nichtjüdischen Mehrheitsbevölkerung und damit eine Rückkehr seiner Mitglieder in die paritätischen Sportvereine anstrebte. In einigen westfälischen Gemeinden entstanden außerdem seit Anfang der 1920er Jahre Sportabteilungen innerhalb jüdischer Jugend- oder Wanderbünde.8 Eine besondere Rolle nahm in dieser Entwicklung das Ruhrgebiet ein, da sich hier bereits 1925 mit dem VINTUS (Verband jüdisch neutraler Turn- und Sportvereine) ein eigenständiger jüdischer Sportverband gründete. Diese Form einer frühen Selbstorganisation jüdischer Sportler ist vor Beginn der NS-Zeit in Deutschland einzigartig, von der Wissenschaft bislang jedoch kaum untersucht worden.9 Die Entstehung und Entwicklung des VINTUS soll daher im Mittelpunkt der folgenden Untersuchungen zum jüdischen Sport vor 1933 stehen. Die Wurzel des VINTUS bildete der im Oktober 1923 ins Leben gerufene Turn- und Sportklub Hakoah Essen.10 Zu den ersten Abteilungen des neugegründeten Vereins zählte eine Fußballabteilung, die dafür sorgte, dass der Verein sich bereits nach wenigen Monaten in der Essener Öffentlichkeit präsentierte. Nachdem die Fußballer der Hakoah am 16. Dezember 1923 zu einem ersten Spiel beim J.T.V. 02 Köln angetreten waren und ein 1:1 erreicht hatten, kam es am 20. Januar 1924 zu einem ersten Spiel zweier jüdischer Mannschaften in Essen. Das Spiel fand auf dem ehemaligen E.T.B.-Platz an der Meisenburgstraße in Bredeney statt.11 5

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Ein großes Echo in der jüdischen Öffentlichkeit löste vor allem der Ausschluss jüdischer Mitglieder aus dem Deutschen und Österreichischen Alpenvereins im Jahr 1924 aus. Vgl. hierzu zahlreiche Artikel in verschiedenen jüdischen Zeitungen, vor allem der „C.V-Zeitung“ sowie „Der Schild“ mit den entsprechenden Jahrgängen. Dem Deutschen Makkabikreis gehörten Ende der 1920er Jahre lediglich vier Vereine aus Westdeutschland an (Bar Kochba Hamborn, Bar Kochba Köln, Maccabi Oberhausen, Bar Kochba Remscheid), davon keiner aus dem Raum Westfalen; vgl. Der Makkabi 29 (1928) 4, S. 15. Der RjF gründete in den Jahren 1925 und 1926 in seinen Ortsgruppen zahlreiche Sportabteilungen, darunter auch in westfälischen Städten wie Hamm oder Hörde (vgl. Schild, 4.1.1926). Eine besondere Bedeutung besaß die Boxabteilung der RjF-Gruppe Dortmund, die dem Westfälischen Boxverband angehörte; vgl. Schild, 1.2.1926. Das Reichsadressbuch der deutschen Turn- und Sportvereine aus dem Jahr 1929 listet für Westfalen fünf solcher Vereine auf, die alle lediglich über 10 bis 70 Mitglieder verfügten: den Jüdischen Wanderbund Kameraden Münster (gegr. 1920), den Jüdischen Wanderbund Esra Gelsenkirchen (gegr. 1926), den Deutsch-jüdischen Wanderbund Kameraden Unna (gegr. 1923), den Jüdischen Jugend- und Literaturverein Herne (gegr. 1922) sowie den Jüdischen Jugendverein Wanne-Eickel (Gründungsdatum unbekannt); vgl. Reichsadressbuch der Behörden, Verbände und Vereine für Leibesübungen, Übungsstätten, Jugendherbergen, Jugendheime, Bd. 1–2 (Preußen), Düsseldorf 1929. Ansätze zur Aufarbeitung der VINTUS-Geschichte finden sich lediglich bei Boeti, Hakoah Essen, S. 44–50. Zur Geschichte von Hakoah Essen vgl. ebd. Hakoah-Blätter 1 (1924), H. 1, S. 9. Das Spielergebnis ist nicht bekannt, da die Hakoah-Blätter nicht vollständig überliefert sind. So fehlt u.a. Heft 2 (Februar 1924). Die überlieferten Hakoah-Blätter wurden eingesehen im Pierre Gildesheim Archiv/Ramat Gan Israel.

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Da das Fußballspiel Anfang der 1920er Jahre in den noch immer relativ wenigen jüdischen Vereinen nicht sehr stark verbreitet war und die Mannschaft des J.T.V. 02 Köln die einzige jüdische Fußballmannschaft in erreichbarer Entfernung war, waren die potentiellen Gegner in den eigenen Reihen sehr begrenzt. In dieser Situation boten sich die im Westdeutschen Spielverband (WSV)12 organisierten Vereine im Essener Raum als Spielpartner an. Offensichtlich gab es bei den sogenannten paritätischen Vereinen keine Probleme bzw. Vorbehalte, gegen einen jüdischen Verein zu spielen, da bereits am 6. April ein Rückspiel gegen den Sportklub Grün-Weiß Essen stattfand, das die Hakoahner mit 5:3 verloren.13 Am 29. Mai 1924 errang die Hakoah Essen ihren ersten großen Erfolg. Im Endspiel gegen die VT Hannover siegte sie in Hannover mit 1:0 und gewann den Wanderpokal der Firma Rudolf Mosse Filiale Hannover.14 Mit diesem großen Erfolg endete aber auch bereits wieder die kurze Geschichte der Fußballabteilung. Im Juni 1924 war die Abteilung, bestehend aus zwei Fußballmannschaften, aus nicht näher bekannten Gründen bereits wieder aufgelöst.15 Trotz der Bereitschaft der paritätischen Vereine, gegen jüdische Vereine anzutreten, litten nicht nur die Fußballer unter fehlenden Vergleichs- und Wettkampfmöglichkeiten. Insbesondere der leistungsstarken Leichtathletikabteilung, die bereits nach wenigen Monaten ca. 80 Mitglieder hatte, fehlten Wettkampfangebote. Die Teilnahme am RjFWerbesportfest im August 1924 in Berlin war aus finanziellen Gründen nur wenigen Athleten möglich; das galt auch für die Teilnahme am Internationalen Sportfest des Makkabi-Weltverbandes am 11. September 1924 in Hannover.16 Mit der Teilnahme an Sportveranstaltungen des RjF sowie des Makkabi machte Hakoah Essen deutlich, dass sich der Verein bezüglich der Verbandszugehörigkeit nicht festlegen wollte und auf seiner politisch-neutralen Ausrichtung beharrte, in der lediglich die sportliche Betätigung abseits politischer Hintergründe im Fokus der Vereinsarbeit stehen sollte. Vor dem Hintergrund der unzureichenden Wettkampfmöglichkeiten wandte sich der Verein am 30. Juni 1924 an den WSV mit der Bitte um Aufnahme in den Verband. Mit der Begründung, „daß die augenblickliche Ueberfüllung der Essener Spielklassen soviel Schwierigkeiten mit sich bringt, daß die Aufnahme weiterer Vereine garnicht in Betracht kommen kann“, wurde der Antrag auf Aufnahme abgelehnt.17 Die vom WSV vorgeschlagene Fusion mit einem anderen Essener Verein bot aus Sicht der Verantwortlichen der Hakoah keine Lösung. Das unmittelbare Antwortschreiben des Vorstands von Hakoah Essen an den WSV war moderat und konziliant formuliert. Zunächst bedankte sich der Vorstand für die „unparteiische und gerechte Beurteilung der Angelegenheit“, wies den WSV dann jedoch darauf hin, dass der Verein zurzeit nicht über Fußballmannschaften verfüge, eine Neuaufstellung zwar vorgesehen sei, aber „eine Beteiligung an 12 13

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Der WSV war eine regionale Untergliederung des Deutschen Fußball-Bundes (DFB). Hakoah-Blätter 1 (1924), H. 7, S. 10 f. In den vorliegenden Berichten werden zahlreiche Essener Spieler genannt. Hakoah-Blätter 1 (1924), H. 9, S. 5. Hakoah-Blätter 1 (1924), H. 13, S. 5. Boeti, Hakoah Essen, S. 56 ff. Hakoah-Blätter 1 (1924), H. 13, S. 5. Das Schreiben der Hakoah an den WSV mit der Beantragung der Mitgliedschaft im WSV liegt nicht vor.

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Wettspielen für diese Mannschaften für die nächste Zukunft garnicht in Frage“ komme und die „intensiven und wiederholten Bemühungen um Aufnahme in den W.S.V. . . . lediglich den Zweck [verfolgt hätten], Kampfmöglichkeiten für unsere starke Leichtathletik-Abteilung zu schaffen“. In der nächsten, fettgedruckten Passage des Antwortschreibens wird die unverständliche und falsche Begründung für die Ablehnung des Antrages auf Aufnahme in den Verband noch einmal deutlich herausgestellt: „Aus Ihrem Schreiben geht ganz klar und eindeutig hervor, daß sich die von Ihnen angegebenen technischen Schwierigkeiten nur auf die Spielklassen der Fußball-Vereine beziehen. Daß eine Ueberfüllung bei den leichtathletischen Wettkämpfen nicht in Frage kommt, ist ja so bekannt, daß eine nähere Erörterung sich hier erübrigt.“18 In diesem offiziellen Antwortschreiben des Vereins an den WSV wird nicht die Vermutung oder der Vorwurf geäußert, dass rassistische bzw. antisemitische Motive für die Ablehnung entscheidend gewesen seien: „Wir haben es zwar für selbstverständlich gehalten, aber trotzdem mit großer Genugtuung begrüßt, daß andere Gründe für unsere Nichtaufnahme nicht maßgebend waren.“19 Die Enttäuschung und der Verdacht, dass doch andere Gründe als die angegebenen „technischen Schwierigkeiten“ für die Ablehnung ausschlaggebend gewesen seien, kommt jedoch in einer Stellungnahme in den Hakoah-Blättern, der offiziellen Vereinszeitung, zum Ausdruck: „Der Westdeutsche Spiel-Verband hat unsere Aufnahme unter Angabe wenig stichhaltiger Gründe abgelehnt. Man will uns keine Gelegenheit geben, zu zeigen, daß wir ebenbürtiges zu leisten im Stande sind. Man scheint uns also zu fürchten! Nur weil wir ein Verein mit Mitgliedern jüdischen Glaubens sind, hat man uns abgelehnt. Sind wir denn nicht Deutsche? War es denn nicht unsere Pflicht, im blutigen Völkerringen neben unseren christlichen Mitbürgern zu kämpfen und zu sterben und ist es nicht unser ehrlich erworbenes Recht, heute neben ihnen in friedlichem Wettkampf zu stehen?“20 In der Sorge, dass wegen der fehlenden Wettkampfmöglichkeiten und der damit in Zusammenhang stehenden sportlichen Isolation als jüdischer Verein, Mitglieder den Verein verlassen und sich einem der paritätischen Vereine anschließen würden, suchte der Vorstand der Hakaoh jetzt nach einer Alternative. Einer der großen Aktivisten für die Weiterentwicklung des Vereins und die Erschließung neuer Wettkampfmöglichkeiten für die Vereinsmitglieder war Siegbert Riesenfelder. Die von ihm favorisierte Lösung war die Initiierung und Unterstützung weiterer jüdischer Sportvereine im Ruhrgebiet. Dazu entsandte der Verein von nun an „ziemlich regelmäßig Turnwarte und Vorturner zu Hakoah Gelsenkirchen und ab und zu nach Elberfeld und Dortmund“. Als 18 19

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Hakoah-Blätter 1 (1924), H. 13, S. 5. Hakoah-Blätter 1 (1924), H. 13, 5. Hervorhebung im Original. Für seine Aussage, dass der „WSV die Aufnahme jüdischer Vereine unter Berufung auf die konfessionelle Neutralität des Sport abgelehnt“ hat, gibt Schäfer keine Quelle an; vgl. Ralf Schäfer, Sportvereine bis 1933, in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 5: Organisationen, Institutionen, Bewegungen, Berlin/Boston 2012, S. 580. Hakoah-Blätter 1 (1924), H. 9, S. 4; zit nach Pascal Boeti, „Muskeljudentum“. Der Turn- und Sportklub „Hakoah Essen − ein jüdischer Sportverein im Ruhrgebiet, in: Jan-Peter Barbian/Michael Brocke/Ludger Heid (Hg.), Juden im Ruhrgebiet. Vom Zeitalter der Aufklärung bis in die Gegenwart, Essen 1999, S. 601–617, hier S. 609.

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Erfolg dieser Bemühungen konstatierte die Hakoah-Führung, dass sich „ueberall in Rheinland-Westfalen . . . die neutrale Turn- und Sportidee mit Gewalt Bahn“ breche. Neben den bereits bestehenden jüdischen Vereinen in Köln, Essen, Gelsenkirchen, Elberfeld, Dortmund und Düsseldorf standen im Frühjahr 1925 auch in Düren, Bochum und Krefeld weitere jüdische Vereine vor der Gründung und benötigten – wie Riesenfeld resümierte – „dringend die Unterstützung des Verbandes“.21 Damit war zwar ein engmaschiges Netz von jüdischen Vereinen in der Region geschaffen, das Gelegenheit bot, Freundschaftsspiele und freundschaftliche Vergleichswettkämpfe auszutragen, aber es konnten keine Meisterschaften ausgespielt werden. Diese konnten nur durch einen Verband organisiert und verantwortet werden. Im Mai 1925 wurde in den Hakoah-Blättern die erfolgreiche Gründung des „Verband(es) jüdisch-neutraler Turn- und Sportvereine Westdeutschlands ,VINTUS‘“ bekannt gegeben. Am 26. April 1925 hatte Hakoah Essen die Delegierten der jüdischen Vereine aus Köln, Düsseldorf, Aachen, Mönchengladbach, Gelsenkirchen, Elberfeld, Osnabrück und Hannover zu einer Tagung nach Essen eingeladen, um einen eigenen, jüdisch-neutralen Verband zu gründen.22 Der Verband setzte sich die „körperliche Ertüchtigung der jüdischen Jugend“ zum Ziel. Dabei erwartete er die „Unterstützung aller jüdischen Corporationen und Verbände“ und strebte „eine Interessengemeinschaft mit dem R.J.F.“ an. Neben dieser Einbindung in die jüdische Gemeinschaft blieb aber das Ziel bestehen, „die Anerkennung durch die deutsche Sportbehörde“ und damit die Integration in die deutsche Sportbewegung zu erreichen.23 Die offizielle und öffentliche Gründungsversammlung fand am 2. August 1925 im städtischen Saalbau in Essen statt. Den Rahmen bildeten die ersten Verbandsmeisterschaften in der Leichtathletik.24 Die Anwesenheit von Vertretern der Synagogengemeinde Essen, des Landesverbandes Westdeutschland im R.J.F., des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens − Ortsgruppe Essen sowie der Zionistischen Ortsgruppe Essen macht deutlich, dass die Gründung des VINTUS mehr als nur die Gründung eines regionalen Sportverbandes war, sondern eine Angelegenheit der gesamten jüdischen Gemeinde, die von großer Bedeutung für das kulturelle Leben der Gemeindemitglieder war.25 Von den bereits bestehenden jüdischen Sportorganisationen, der zionistisch ausgerichteten Makkabi-Bewegung und dem deutsch-nationalen Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, wurde die Gründung des ausdrücklich weltanschaulich neutralen VINTUS abgelehnt. Das Präsidialmitglied des Deutschen Makkabi-Bundes, Fritz A. Lewinson, sah in der Gründung des VINTUS eine „klare Abgrenzung gegenüber den nationaljüdisch zionistischen Vereinen des Makkabi“.26 Auch der RjF brachte auf seiner Dele21 22

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Hakoah-Blätter 2 (1924), H. 29, S. 1. Vgl. Angela Genger, Hakoah − Die Kraft. Ein jüdischer Turn- und Sportverein in Essen, in: Angela Genger (Hg.), Zwischen Alternative und Protest. Zu Sport und Jugendbewegungen in Essen 1900–1933, Essen 1983, S. 8–25, hier S. 21. Hakoah-Blätter 2 (1924), H. 31, S. 6. Schild, 31.7.1925, S. 275. Schild, 21.8.1925, S. 298. Fritz A. Lewinson, Turn- und Sport-Klub Essen – einer der großen jüdischen Sportvereine, 1923–1938, in: Hermann Schröter (Hg.), Geschichte und Schicksal der Essener Juden, Essen 1980, S. 283–289, hier S. 287.

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giertenversammlung am 10. Januar 1926 große Vorbehalte „gegen jüdische Sportverbände, wie VINTUS“ vor: „Sie führen zur Isolierung der Juden im Sport, statt zur Gemeinsamkeit“.27 Dabei waren Vertreter des Landesverbandes des RjF bei der Gründung des VINTUS anwesend und hatten „ihr Einverständnis und die Glückwünsche zu der vollzogenen Konstituierung“ überbracht.28 Die vom RjF geforderte Gemeinsamkeit mit den paritätischen Sportvereinen und -verbänden war gerade von der Essener Hakoah angestrebt, aber vom WSV brüsk abgelehnt worden. Bemerkenswert an den vorgebrachten Einwänden gegen die Gründung dieses regionalen jüdischen Sportverbandes ist, dass das Ziel des VINTUS, für seine Mitgliedsvereinen und deren Sportlerinnen und Sportler in der Region autonome Meisterschaften zu organisieren, in keiner Weise thematisiert wurde. Die Gründung des VINTUS stellte den ersten regional beschränkten Zusammenschluss jüdischer Sportvereine auf deutschem Boden dar29 und bot damit erstmals die Möglichkeit, Wettkämpfe und Spielrunden innerhalb des jüdischen Sports in Eigenregie durchzuführen. Somit waren die jüdischen Vereine nicht mehr auf das Wohlwollen der paritätischen Vereine beim Abschluss von Freundschaftsspielen angewiesen. Die organisatorischen Voraussetzungen für die erste Austragung der VINTUS-Fußballmeisterschaft waren schon nach kurzer Zeit geschaffen, da nach den vorliegenden Berichten30 bereits im November 1925 die ersten Rundenspiele starteten. Am 22. November 1925 nahm die erste eigenständige jüdische Fußball-Liga auf deutschem Boden mit folgenden Spielpaarungen ihren Spielbetrieb auf: – J.T.V.02 Köln Jtus Bochum – – Makkabi Düsseldorf Hakoah Essen war spielfrei.

Hakoah Gelsenkirchen Sportgruppe J.J.V. Recklinghausen Sportgruppe R.j.F. Crefeld

(4:1) (1:4) (4:4)

Damit startete die VINTUS-Liga in ihrem ersten Jahr mit sieben Mannschaften. Mit Hin- und Rückspielen dauerte die Spielrunde bis zum 28. März.31 Erster Fußballmeister des VINTUS wurde die Mannschaft des J.T.V. 02 Köln.32 Spielfreie Sonntage in der 27 28 29

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Schild, 1.2.1926, S. 39. Schild, 21.8.1925. Von den bei der Gründung des Verbandes anwesenden norddeutschen Vereinen aus Hannover und Osnabrück wurde die Gründung eines Verbandes „Norddeutschland“ angekündigt. Die Gründung eines weiteren Regionalverbandes ist ebensowenig bekannt wie die Ankündigung der Gründung eines Gesamtverbandes für Deutschland; vgl. Hakoah-Blätter 2 (1924), H. 31, S. 6. Da die Überlieferung der Hakoah-Blätter in den Jahrgängen 1925 mit dem Maiheft abbricht und auch von den VINTUS-Blättern nur die Ausgaben Oktober und Dezember 1925 vorliegen, ist es sehr schwierig, den Verlauf der ersten Meisterschaftsrunde im Jahre 1925/26 zu rekonstruieren. Durch weitergehende Recherchen in den zeitgenössischen jüdischen Zeitungen wie „Der Schild“, „Jüdische Rundschau“, „CV-Zeitung“ konnten wenigstens einige Spielberichte ermittelt werden. VINTUS-Blätter, Dezember 1925. Vor allem über die Spiele der Sportgruppe des R.j.F. Crefeld (so die damalige Schreibweise) wurde in der verbandseigenen Zeitung „Der Schild“ regelmäßig berichtet. Im Bericht über das Endspiel im Juli 1927 wird die Mannschaft des J.T.V. 02 Köln als Titelverteidiger angekündigt; vgl. Schild, 18.7.1927.

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Saison wurden genutzt, um Gesellschaftsspiele auszutragen, wie bei der Begegnung der Sportgruppe R.j.F. Crefeld mit der neugegründeten Fußballmannschaft des Jüdischen Turnklubs Aachen.33 Für die Saison 1926/27 hatten sich neben der Mannschaft des RjF Elberfeld mit Hakoah Mönchengladbach, Jtus Herne, J.J.V. Buer, Bar Kochba Dortmund weitere Mannschaften für die Meisterschaftsrunde gemeldet, so dass die Spiele in zwei Gruppen (Ruhrkreis und Rheinkreis) ausgetragen wurden. Zum Ruhrkreis zählten die Mannschaften von Hakoah Bochum, Hakoah Essen, Bar Kochba Dortmund, Hakoah Recklinghausen, J.J.V. Buer, Herne und Gelsenkirchen-Wanne.34 An der Spielrunde des Rheinkreises beteiligten sich die Mannschaften des J.T.V. 02 Köln, Makkabi Düsseldorf, Sportgruppe RjF Crefeld, RjF Elberfeld, Hakoah Mönchengladbach.35 Damit nahmen im zweiten Jahr mindestens zwölf Mannschaften an der VINTUS-Fußballmeisterschaft teil. Sieger des in Dortmund ausgespielten Meisterschaftsfinales wurde der J.T.V. 02 Köln vor Hakoah Essen. Im Spiel um den dritten Platz siegte die Mannschaft von Hakoah Dortmund gegen die Sportgruppe des RjF Elberfeld.36 Im Mai 1927 berichtete die Zeitschrift „Der Schild“ über eine Fusionierung des VINTUS mit dem RjF Westdeutschland,37 allerdings richtete der Verband auch in der Folge weiter eigene Meisterschaften aus. Nur drei Monate später nahm der VINTUS zusätzlich zu den Meisterschaftsspielen eine Pokalrunde auf, an der die Mannschaften der Vereine aus Bochum, Dortmund, Düsseldorf, Elberfeld, Essen, Hagen, Herne, Mönchengladbach und Recklinghausen teilnahmen. Im Endspiel siegte die Mannschaft aus Elberfeld gegen Herne mit 2:0. In einem kurzen Bericht wird hervorgehoben, „daß Elberfeld bereits im ersten Jahre des Bestehens seiner Fußballabteilung die Trophäe nach Hause bringen konnte“.38 Mit der Ausrichtung von Meisterschaftsrunden und einer zusätzlichen Pokalrunde orientierte sich der Verband an den Gepflogenheiten des DFB und seiner Untergliederungen. In der Saison 1927/28 wurden die Mannschaften des Rhein- und Ruhrgaues wieder in einer Liga zusammengefasst. An dieser dritten Meisterschaftsrunde beteiligten sich zehn Mannschaften. Die Mannschaften von Jtus Herne und Hakoah Recklinghausen nahmen nicht mehr an der Meisterschaft der ersten Mannschaften teil, sondern beteiligten sich nach der Zusammenlegung mit ihren zweiten Mannschaften an den Rundenspielen der zweiten Mannschaften. Neu im Kampf um die VINTUS-Meisterschaft war der J.J.V. Duisburg. Dagegen zog Hakoah Mönchengladbach seine Mannschaft nach

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Schild, 15.3.1926. Für die beiden letztgenannten Vereine werden keine exakten Vereinsnamen genannt; vgl. Hakoah-Blätter 3 (1926), H. 14. Gelsenkirchen hatte seine Mannschaft gegen Ende der ersten Serie zurückgezogen. Diese Mannschaften konnten aufgrund von Spielberichten in den zeitgenössischen jüdischen Zeitungen als Teilnehmer identifiziert werden. Ob noch weitere Mannschaften teilgenommen haben, lässt sich zurzeit in Anbetracht der unzureichenden Quellenlage nicht klären. Schild, 18.7.1927, S. 221. Schild, 20.6.1927, S. 186. Der Bericht bezieht sich auf eine Versammlung des RjF und VINTUS, die am 22. Mai 1927 in Essen stattfand. Es ist davon auszugehen, dass die im Text beschriebene Fusionierung der beiden Verbände letztlich nicht vollzogen wurde, die beiden Organisationen aber eng zusammenarbeiteten. Schild, 26.9.1927.

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drei Spieltagen zurück, so dass die Meisterschaft unter neun Mannschaften ausgespielt wurde.39 VINTUS-Meister wurde Hakoah Bochum vor Hakoah Essen, RjF Elberfeld und Hakoah Dortmund.40 Die 2. Mannschaften trugen ihre Rundenspielen in zwei Gruppen aus: vier Mannschaften im Rheinbezirk und sechs Mannschaften im Ruhrbezirk. Neben den jeweils zweiten Mannschaften des J.T.V 02 Köln, RjF Elberfeld, Makkabi Düsseldorf und J.J.V Duisburg (Rheinbezirk) spielten im Ruhrbezirk noch die Mannschaften von Jtus Herne, Hakoah Recklinghausen und Hakoah Hagen neben den zweiten Mannschaften von Hakoah Bochum, Hakoah Essen, Bar Kochba Dortmund.41 Damit beteiligten sich in der Saison 1927/28 insgesamt 15 Mannschaften an den Rundenspielen des VINTUS. Wie in den beiden Jahren zuvor richtete der VINTUS auch im Jahre 1928 wieder eine Pokalrunde aus mit Vorrunden in Düsseldorf und der Zwischenrunde in Dortmund.42 Da die Hakoah-Blätter mit der Ausgabe 24 vom 15. Dezember 1928 ihr Erscheinen einstellten und andere Zeitungen über die Aktivitäten des VINTUS kaum berichteten, können über die weitere Entwicklung des jüdischen Fußballs in Westfalen in den Jahren 1929 bis 1933 – bis auf wenige Ausnahmen – kaum Angaben gemacht werden. Im Jahre 1929 gewann Makkabi Düsseldorf die Fußballmeisterschaft des VINTUS.43 Weiterhin berichtete die „Jüdische Gemeindezeitung für den Synagogenbezirk Düsseldorf“ über die Ausrichtung der Dr. Kurt Heimann-Gedächtnis-Pokalrunde im Juni 1931,44 an der die Mannschaften von Hakoah Essen, Hakoah Bochum, Hakoah Köln, Itus Duisburg und Makkabi Düsseldorf teilnahmen. Nach der Vor- und Zwischenrunde, die am 7. Juni in Düsseldorf ausgetragen worden war, hatten sich Hakoah Bochum und Hakoah Köln für das Endspiel am 14. Juni in Köln qualifiziert.45 Die Fußballmeisterschaft des Jahre 1932 wurde offensichtlich wieder in zwei Gruppen ausgetragen, da das „Israelitische Familienblatt“ am 7. Januar 1932 meldete, dass die Vereine aus Köln, Aachen, Jülich und Düsseldorf in einer Rheingruppe und in einer Ruhrgruppe die Vereine aus Bochum, Dortmund, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen, Mülheim spielten.46 Nach diesen Angaben spielten damit am Vorabend der NS-Machtübernahme immer noch zehn Vereine um die Fußballmeisterschaft des VINTUS. Diese erste Form der Selbstorganisation einer eigenständigen jüdischen Fußballiga ermöglichte den jüdischen Vereinen regelmäßige Wettkampfspiele unter eigener Leitung. Trotz der regionalen Begrenzung des Verbandes waren die Fahrten zu den Auswärtsspielen immer noch mit einem relativ hohen Kostenaufwand verbunden, und die Anzahl der gegnerischen Mannschaften blieb weiterhin begrenzt. Vor diesem Hinter39 40 41

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Hakoah-Blätter 5 (1928), H. 2, S. 6–7. Hakoah-Blätter 5 (1928), H. 24, S. 9. Hakoah-Blätter 5 (1928), H. 5, S. 13. Das Endspiel um die Meisterschaft der 2. Mannschaften trugen Elberfeld und Essen aus. Das Ergebnis ist leider nicht überliefert. Hakoah-Blätter 5 (1928), H. 24, S. 9. Protokoll der Jahreshauptversammlung vom 2. Februar 1930; zit nach Philipp Palenzatis, Geschichte des jüdischen Sports am Niederrhein in den 1920er und 1930er Jahren. Masterarbeit Hannover 2012, S. 67. Dr. Kurt Heimann war bis zu seinem Tode im Jahre 1929 Vorsitzender des VINTUS. Jüdische Gemeindezeitung für den Synagogenbezirk Düsseldorf Nr. 21/1931, S. 11–12. Das Ergebnis des Endspiels konnte nicht ermittelt werden. Israelitische Familienblatt, 7.1.1932, S. 7.

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grund und um seinen Mitgliedern weitere Wettkampfspiele zu ermöglichen, beantragte Makkabi Düsseldorf am 9. März 1930 die Aufnahme in das Vereinsregister. Dazu nahm der Verein in § 2 seiner Satzung die Verpflichtung zu politischer und konfessioneller Neutralität auf, behielt allerdings seinen Namen Makkabi Düsseldorf bei. Nach diesem Verzicht auf seine explizite konfessionelle Ausrichtung stellte der Verein einen erneuten Aufnahmeantrag an den WSV. Diesem wurde nun innerhalb weniger Monate entsprochen, so dass der TuS Makkabi Düsseldorf (so der neue Vereinsname) bereits im November 1930 als erster − zumindest nominell − jüdischer Verein aus Westdeutschland Mitglied im WSV wurde.47 Ab 1931 spielte der Verein in der Düsseldorfer Gauklasse I gegen Mannschaften aus der unmittelbaren Umgebung.48 An den Meisterschafts- und Pokalspielen des VINTUS nahm der Verein jedoch weiterhin teil. Der unterschiedliche Umgang des WSV mit den Aufnahmegesuchen der beiden jüdischen Vereine Hakoah Essen und Makkabi Düsseldorf zeigt die verbandspolitische Haltung des Verbandes: Der WSV war offensichtlich erst zur Aufnahme jüdischer Mannschaften bereit, nachdem diese sich offiziell von ihrer konfessionellen Bindung losgesagt hatten und auch nichtjüdische Mitglieder in ihre Reihen aufnahmen. Ein solches Vorgehen musste von Seiten vieler Juden als antisemitisch motivierte Ausgrenzung empfunden werden, hat aber offenbar auch konfessionelle Gliederungen wie die DJK getroffen. Die vergleichsweise schnelle Entfaltung des VINTUS an Rhein und Ruhr kann somit auch als Antwort auf die mittelbare Diskriminierung durch den paritätischen Sport aufgefasst werden: Aus anderen Regionalverbänden des DFB wie dem Süddeutschen Fußballverband ist bekannt, dass der Organisation bis Anfang 1933 mindestens acht jüdische Vereine angehörten, die in ihrer Mehrheit parallel im zionistisch MakkabiVerband aktiv waren und sich somit offensiv zu ihrer jüdisch-nationalen Ausrichtung bekannten.49 3. Juden und Fußball im Jahr 1933 Nur wenige Wochen nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten begannen die paritätischen Turn- und Sportverbände Deutschlands ohne behördlichen Zwang mit dem Ausschluss ihrer jüdischen Mitglieder und der Abschaffung ihrer demokratischen Strukturen durch die Einführung des ,Führerprinzips‘. Auch der WSV forcierte nun die Entfernung seiner noch verbliebenen jüdischen Mitglieder: Im April 1933 veröffentlichte die Verbandsführung den sofortigen Ausschluss von Makkabi Düsseldorf.50 Der Verein, der bis zu diesem Tag in den Ligabetrieb des WSV integriert war, durfte fortan keine 47

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Ein weiteres „jüdisches“ Mitglied des WSV, jedoch nicht aus dem westdeutschen Raum, war Bar Kochba Kassel, der ähnlich wie Makkabi Düsseldorf aber auf eine eindeutige konfessionelle Ausrichtung verzichtete. Vgl. Sören Drews, Wehrhaftigkeit dank Körperkultur. Die „bürgerliche“ Turn- und Sportlandschaft in Kassel, in: Klaus-Dieter Weber (Hg.), Verwaltete Kultur oder künstlerische Freiheit? Momentaufnahmen aus der Weimarer Republik, Kassel 2002, S. 201–273, hier S. 214–219. Vgl. Palenzatis, Geschichte des jüdischen Sports am Niederrhein, S. 44 f. und 66 f. Jüdische Rundschau, 9.5.1933. Volksparole, 27.4.1933; vgl. Palenzatis, Geschichte des jüdischen Sports am Niederrhein, S. 47.

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Liga- oder Freundschaftsspiele mehr gegen WSV-Vereine bestreiten und verlor alle öffentlichen Zuschüsse. Die jüdischen Fußballer, die anderen WSV-Vereinen angehörten, wurden vom neuen Verbandsführer, dem SS-Mann Josef Klein, mit einer Spielsperre belegt. Im Mai 1933 verkündete Klein in einer seiner ersten Amtshandlungen, dass ab sofort „nur Deutschstämmige“ an den Meisterschaftsspielen des Verbandes teilnehmen dürften.51 Einige Vereine reagierten auf diese Anordnung mit dem sofortigen Ausschluss ihrer jüdischen Mitglieder.52 In vielen Fällen waren es jedoch auch die Juden selbst, die von sich aus den Austritt aus „ihrem“ Verein erklärten, um sich und dem Klub weitere Unannehmlichkeiten, aber vor allem sich selbst die Schmach des Ausschluss zu ersparen.53 Nur in wenigen Ausnahmefällen kann eine weitere Mitgliedschaft jüdischer Sportler bis ins Jahr 1935 nachgewiesen werden, wie sie etwa Joachim Meynert anhand einiger Beispiele aus dem Raum Bielefeld belegt.54 Auch für den VINTUS änderten sich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten die Verhältnisse grundlegend. Im Mai 1933 wurden alle jüdischen Sportvereine in Preußen aus den städtischen Ausschüssen für Jugendpflege und Leibesübungen ausgeschlossen, ihre bisherigen finanziellen Vergünstigungen gekappt.55 Noch schwerer wog, dass nun die meisten Stadtverwaltungen ihre Pachtverträge mit jüdischen Vereinen zur Nutzung öffentlicher Sportanlagen kündigten. Da kein VINTUS-Verein über einen vereinseigenen Sportplatz verfügte, kam der Spielbetrieb des Verbandes seit dem Frühjahr 1933 weitestgehend zum Erliegen. Aus allen verfügbaren Quellen kann bis Ende 1933 nur die Austragung eines einzigen Pokalspiels belegt werden, das zwischen Hakoah Essen und Itus Duisburg ausgetragen wurde.56 Erst gegen Ende des Jahres zeichneten sich langsam die Konturen ab, unter denen der von der NS-Führung im April 1933 eingesetzte Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten bereit war, den Juden die Wiederaufnahme eines eigenen Sportverkehrs zu ermöglichen. Um die Vereine besser kontrollieren zu können, verlangte die Reichssportführung unter anderem, dass nur noch zwei Dachverbände existieren durften, die die jeweiligen Weltanschauungen des deutschen Judentums widerspiegelten: Dem traditionsreichen Makkabi, der weiterhin als Sammelbecken aller zionistischen Sportler fungierte, traten die zum Sportbund Schild ausgebauten Sportgruppen des RjF gegenüber, die all jene jüdischen Sportler ansprachen, die auch nach 1933 zunächst für ein Verbleiben der Juden im Deutschen Reich plädierten. Aufgrund dieser Anordnung mussten sich alle VINTUS-Vereine für den Beitritt zu einem der beiden Verbände ent-

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Fußballwoche, 15.5.1933, S. 20. Ein solches Vorgehen ist bei Alemannia Aachen zu vermuten; vgl. Ingo Deloie/Rene Rohrkamp, Schattenseiten. Alemannias falsches Andenken, in: In der Pratsch 11/2007, S. 10–16. Dr. Paul Eichengrün, bis 1933 Vorstandsmitglied beim FC Schalke 04, musste sein Amt „schweren Herzens“ selbst niederlegen; vgl. Stefan Goch/Norbert Silberbach, Zwischen Blau und Weiß liegt Grau. Der FC Schalke 04 im Nationalsozialismus, Essen 2005, S. 239 f. Vgl. Joachim Meynert, Was vor der Endlösung geschah? Antisemitische Ausgrenzung und Verfolgung in Minden-Ravensberg 1933–1945, Münster 1988, S. 134. Niedersächsisches Staatsarchiv Osnabrück, Rep. 451 Lin Nr. 165, Jugendpflege im Kreis Lingen (galt für ganz Preußen). Israelitisches Familienblatt, 26.10.1933.

88

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scheiden. Im November 1933 kam es zu einer stürmischen internen Diskussion, bei der sich eine Mehrheit der Vereine für den Beitritt zum Makkabi aussprach.57 Hakoah Bochum und Hakoah Gelsenkirchen, die beiden wichtigsten Klubs auf westfälischem Gebiet, entschieden sich jedoch für den Sportbund Schild und sollten damit die weitere Entwicklung des jüdischen Sports in Westfalen entscheidend mitprägen. 4. Entwicklung des jüdischen Sports in Westfalen 1934–1938 Mit Rücksicht auf die Boykottandrohungen westlicher Staaten im Vorfeld der Olympischen Spiele von Berlin gewährte NS-Reichssportführer von Tschammer und Osten den jüdischen Sportvereinen Anfang 1934 größere Freiräume im Rahmen ihrer Selbstorganisation. Alle Vereine, die dem Sportbund Schild oder dem Deutschen Makkabikreis angehörten, erhielten in den „Richtlinien für den Sportbetrieb von Juden und sonstigen Nichtariern“ umfangreiche Rechte zugesprochen, so unter anderem das Recht, wieder öffentliche Sportplätze in den Gemeinden anmieten zu können.58 Diese Anordnung führte zu einem raschen Ausbau des jüdischen Sportlebens in allen Teilen Deutschlands: Westdeutschland bildete von Beginn an einen der Schwerpunkte, so dass es hier bereits seit Anfang 1934 zur (Wieder-)aufnahme eines umfangreichen Sportverkehrs kam. Zur dominierenden Sportart in beiden Verbänden entwickelte sich zunächst der Fußballsport. Die westdeutsche Makkabi-Liga, die im Januar 1934 ihren Spielbetrieb aufnahm,59 stützte sich vor allem auf die vorherigen VINTUS-Vereine aus dem Rheinland, die Ende 1933 zum Makkabi übergewechselt waren. In der Saison 1934/35 nahmen die folgenden acht Vereine am Spielbetrieb teil: Hakoah Köln, Makkabi Düsseldorf, Itus Duisburg, Hakoah Essen, Hakoah Wuppertal, Makkabi Gladbach, Hakoah Dortmund60 sowie teilweise Makkabi Moers.61 Mit dieser Größe hatte die Makkabi-Liga, die bis 1937 „trotz großer Schwierigkeiten“ fortgesetzt wurde,62 bereits ihre maximale Kapazität erreicht. Auffällig an dieser Übersicht ist, dass in Westfalen während der gesamten NS-Zeit kaum Makkabi-Vereine entstanden. Seit 1933 gründeten sich in der gesamten Region neben Dortmund lediglich in Bielefeld, Brakel, Hagen und Recklinghausen kleinere Makkabi-Klubs, die alle nicht die erforderliche Größe erreichten, um sich am Spielbetrieb der Makkabi-Fußballliga zu beteiligen.

57 58 59 60 61

62

Gemeindeblatt Köln, 15.12.1933. Für eine Veröffentlichung der Direktive vgl. Israelitisches Familienblatt, 11.10.1934. Jüdische Rundschau, 19.1.1934. Diese Vereine werden genannt in Jüdische Rundschau, 1.2.1935. Moers wird letztmals in einer Tabelle der Jüdischen Rundschau, 4.5.1934 aufgeführt. Es wurde schon zuvor darauf hingewiesen, dass der Verein keinerlei Trainingsmöglichkeiten besitzt; Jüdische Rundschau, 14.4.1934. Makkabi, 29.5.1936.

Die Geschichte des jüdischen Sports in Westfalen vor und während der NS-Zeit

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Damit verlief diese Entwicklung völlig konträr zum Ausbau des Sportbunds Schild, dem sich in Westfalen während der NS-Zeit mindestens 18 Vereine anschlossen. Da das Verhältnis von Makkabi- und Schild-Vereinen in anderen Regionen Deutschlands in etwa ausgewogen war, muss die starke Konzentration in Westfalen überraschen. Über die Hintergründe dieser Sonderentwicklung können an vorliegender Stelle keine abschließenden Antworten gegeben werden: Vermutet werden kann lediglich, dass die eher assimilatorisch ausgerichtete Ideologie des Sportbundes der Weltanschauung der jüdischen Landbevölkerung in Westfalen mehr entsprach als die des streng zionistischen Makkabi. Um diese These zu untermauern, wären jedoch eingehende Vergleichsstudien zur Entwicklung des sonstigen jüdischen Vereinslebens in der Region notwendig. Der sportliche Aufbau des Schild-Sportbundes in Westdeutschland begann Ende des Jahres 1933: Entscheidende Bedeutung bei der Entwicklung neuer Verbandsstrukturen kam dem ersten Landessportleiter Erich Bendix aus Köln zu. Sein Vater Simon Bendix hatte um die Jahrhundertwende zu den Gründern des Kölner Rasensportverbandes gezählt und war in den folgenden Jahrzehnten als wichtige Persönlichkeit im Kölner Fußballsport bekannt.63 Bereits an dieser Lebensgeschichte zeigt sich, dass der Schild in seiner Entwicklung entscheidend vom Engagement ehemaliger Funktionäre paritätischer Sportvereine profitierte, die nach ihrem dortigen Ausschluss ihre Erfahrungen in den jüdischen Sport einbrachten. Zwei der wichtigsten Persönlichkeiten, die die Entwicklung des jüdischen Fußballs in Westfalen prägen sollten, waren Dr. Julius Goldschmidt und Dr. Paul Eichengrün. Goldschmidt stammte aus dem sauerländischen Eslohe, wo er 1920 den dortigen Ballsportclub (BSC) mitbegründet hatte. Noch 1932 war der Zahnarzt wegen seiner großen Verdienste zum Ehrenvorsitzenden des BSC ernannt worden. Nach der NS-Machtübernahme kam es im Verein zu „zeitbebedingten Spannungen“ mit Goldschmidt, wie es eine nach dem Krieg erschienene Festschrift euphemistisch formulierte.64 Goldschmidt zog daraufhin selbst die Konsequenzen und wechselte 1933 in den jüdischen Sport. Im Sportbund Schild übernahm er die Führung des ehemaligen VINTUS-Vereins Hakoah Bochum, den er dank seiner praktischen wie finanziellen Unterstützung zu einem der erfolgreichsten Vereine des jüdischen Fußballs in ganz Deutschland machte. Im Sportbund stieg Goldschmidt schnell zum Fußball-Obmann des Landesverbands Westdeutschland auf; damit war er für die Organisation des gesamten Spielbetriebs in der Region verantwortlich.65 Goldschmidt handelte in enger Abstimmung mit seinem Freund und Berufskollegen Dr. Paul Eichengrün. Der Gelsenkirchener gehörte bis zur NS-Machtübernahme zum Vorstand des FC Schalke 04, der bereits damals zu den führenden Fußballvereinen Deutschlands zählte. Nachdem er hier 1933 „von seinem Posten zurücktrat“,66 wie ein Zeitungsartikel von 1936 lapidar vermerkt, führte ihn auch sein Weg in den jüdischen Sport. Eichengrün übernahm nun die Geschicke der Gelsenkirchener VINTUS-Gruppe und schloss sie Ende 1933 dem Sportbund an. Bereits nach wenigen Monaten wurde 63 64 65 66

Vgl. Nachruf auf den 1935 verstorbenen Simon Bendix, in: Schild, 7.6.1935. Zit. nach Wahlig, Vergessene Meister, S. 68. Vgl. ebd. Schild, 30.10.1936.

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Eichengrün sportlicher Leiter des Ruhrbezirks, später dann sogar Reichsobmann für Fußball im Sportbund.67 Unter der Leitung der beiden fußballbegeisterten Zahnärzte erreichte der jüdische Fußball an Rhein und Ruhr seine größte Ausdehnung: Im Vorfeld der Olympischen Spiele waren die jüdischen Vereine noch weitgehend frei von Repressalien und konnten sich in ihrem internen Zirkel relativ ungehindert entfalten. Nach außen hingegen sorgten die NS-Behörden dafür, dass der jüdische Sport so wenige Berührungspunkte wie möglich zum sogenannten „arischen“ Sport aufwies. In diesem Rahmen entstand eine jüdische Parallelwelt mit eigenen Ligen und Meisterschaften, eine Art „sportliches Ghetto“ der Juden, das bald völlig abgeschottet vom nichtjüdischen Sport existierte. Westdeutschland entwickelte sich mit fast 4.000 aktiven Sportlern zum größten Schild-Landesverband im Reich. Die Größe des Landesverbandes entsprach dabei in etwa den heutigen Ausmaßen des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, wobei auch die beiden kleineren „hannoverschen“ Sportgruppen Fürstenau und Bentheim zu Westfalen, Minden dafür zu Norddeutschland gezählt wurde. Daneben gehörten die ehemaligen Rheinprovinzen Koblenz und Trier zum Rheinbezirk des Landesverbandes. So stark wie in keiner anderen Region lag der Schwerpunkt der sportlichen Aktivitäten im Westen auf dem Fußball. Bis zu 52 Vereine beteiligten sich in Spitzenzeiten am Spielbetrieb und bestritten rund 250 Ligaspiele in einer Saison.68 In der Rheinstaffel beteiligten sich zwischenzeitlich so viele Aktive an den Meisterschaften, dass separate Ligen für die zweiten Mannschaften sowie für Schülerteams eingerichtet werden mussten.69 Für die Hobbyfußballer waren die fast semiprofessionellen Strukturen des Verbandes mit großen Belastungen verbunden: Liga- und Pokalspiele fanden Mitte der 1930er Jahre praktisch an jedem Wochenende statt. In einem Kalenderjahr musste ein Schild-Verein fast 2.500 Kilometer zu Auswärtsspielen zurücklegen, wie die Verbandszeitung errechnete.70 Ein solcher Aufwand war nur durch die Unterstützung zahlungskräftiger Mäzene oder durch die Synagogengemeinden möglich, die trotz akuter Finanznöte den Bau jüdischer Sportstätten finanzierten. Einen bemerkenswerten Blick in das Innenleben des Schild-Verbandes vermitteln Rundschreiben der westdeutschen Verbandsleitung, die sich in einem Aktenbestand der Wiener Library in London erhalten haben.71 Sie dokumentieren in erster Linie die große Akribie, mit der Schild-Funktionäre wie Julius Goldschmidt trotz der immer stärkeren nationalsozialistischen Verfolgung das Sportleben ihres Verbandes ordneten und kontrollierten. So wurden Vereine, die Spieler ohne gültigen Spielerpass einsetzten oder die den Spielberichtsbogen nicht in der vorgegebenen Zeit in dreifacher Ausfertigung an die Verbandsleitung zurückschickten, unnachgiebig mit Geldbußen oder gar mit Spielsperren bestraft. Ein besonderes Anliegen der Funktionäre war es, Regelveränderungen, die der DFB für seine Vereine verkündete, so schnell wie möglich im eigenen Sportbund einzuführen. Offensichtlicher Hintergrund dieser Maßnahmen war, dass sich der jüdi67 68 69 70 71

Ebd. Schild, 1.10.1937. Vgl. Übersicht in Anhang 3. Schild, 31.12.1937. Wiener Library / Doc. 609.

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sche Sport trotz der immer stärkeren Herausdrängung aus der deutschen Gesellschaft nicht völlig vom „deutschen“ Sport entfremden sollte. In der Saison 1935/36 wurde die westdeutsche Schild-Meisterschaft erstmals in vier Staffeln ausgespielt. Die westfälischen Vereine waren nun in einer eigenen Liga zusammengefasst, deren Meister gegen die drei anderen Staffel-Sieger den westdeutschen Meister ermittelte. Die erfolgreichsten Teams aus Westfalen bildeten die früheren VINTUS-Vereine Schild Bochum und Schild Gelsenkirchen sowie die vom ehemaligen DFB-Schiedsrichter Adalbert Anhalt geführte „Sportgruppe 100“ Paderborn.72 Die im Anhang aufgeführte Übersicht verdeutlicht jedoch, dass sich jüdische Sportgruppen nicht nur in Ballungsregionen gründeten, sondern auch und gerade in Kleingemeinden. So umfasste die Schild-Sportgruppe aus Dülmen und Coesfeld Jugendliche aus dem gesamten westlichen Münsterland, die aus einem Umkreis von mindestens 25 Kilometern anreisten, um gemeinsam Fußball zu spielen.73 In Zeiten massiver Ausgrenzung aus dem öffentlichen Leben bedeutete der gemeinsame Sport für sie häufig die letzte verbliebene Freizeitaktivität, in der sie ein Stück Ablenkung und Selbstbestätigung finden konnten.74 Generell entwickelten sich Sportvereine in vielen jüdischen Gemeinden während der NS-Zeit zu den mitgliederstärksten und aktivsten jüdischen Vereinen am Ort. Über die genauen Mitgliederzahlen westfälischer Sportgruppen haben sich in den Quellen leider nur sehr wenige Informationen erhalten. Lediglich aus einigen Vereinen sind stichprobenartige Zahlen überliefert, die jedoch bereits ein gutes Bild von der Größe und Bedeutung der Vereine vermitteln. Überzeugt von der sozialen und identitätsstiftenden Funktion des Sports initiierte in Minden der Rabbiner Julius Hellmann die Gründung einer Sportgruppe, die sich den Namen Schild „Hellmania“ Minden gab. Diesem Verein traten bei seiner Gründung im Oktober 1934 einem Zeitungsbericht zufolge 61 Jugendliche bei.75 Bei einer Gesamtzahl von 192 Juden in Minden76 dürfte damit nahezu jeder junge jüdische Mann Mitglied bei „Hellmania“ geworden sein. Ähnliche Rekrutierungsquoten lassen sich auch für ländliche Gemeinden wie Meschede, Soest oder Wiedenbrück vermuten. Die dortigen Schild-Vereine verfügten über so viele Mitglieder, dass sie sich noch bis 1936 bzw. 1937 mit einer Fußballmannschaft am Spielbetrieb der Schild-Liga beteiligen konnten. Ein Zeitzeuge des jüdischen Sportlebens, der ehemalige Spieler von Schild Fürstenau (im Osnabrücker Land) Bernard Süskind, gibt an, dass sich auch in dieser Region nach 1933 praktisch alle jüdischen Jugendlichen dem Fußballverein anschlossen.77 Besonders 72

73 74

75

76

77

Die Sportgruppe erhielt diesen Namen, weil sie sich im Februar 1934 als 100. Sportgruppe dem Sportbund Schild anschloss; vgl. Schild, 16.2.1934. Schild, 5.10.1934. Vgl. Henry Wahlig, Fußball im sportlichen Ghetto, in: Diethelm Blecking/Gerd Dembowski (Hg.), Der Ball ist bunt. Fußball, Migration und die Vielfalt der Identitäten in Deutschland, Frankfurt a. M. 2010, S. 258– 269, hier S. 264 f. Schild, 12.10.1934. Zur Geschichte von Hellmania Minden vgl. Hans-Werner Dirks/Kristan Kossack, Sport und Kultur jenseits des NS-Staates. Rabbiner Julius Hellmann baut nach der Ausgrenzung gesellschaftliches Leben der Mindener Juden auf, in: Mindener Tageblatt, 14.4.2007, S. 11. Der Volkszählung zufolge lebten im Jahr 1933 192 Juden in der Stadt Minden; vgl. http://www.verwaltungsgeschichte.de/minden.html. Peiffer/Wahlig, Handbuch jüdischer Sport, S. 44.

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die kleineren jüdischen Vereine waren in ihrer Entwicklung jedoch bald mit schwerwiegendsten Problemen konfrontiert, die ihre Existenz in Frage stellten. Als vordringlichste Probleme erwiesen sich dabei fehlende Sportstätten sowie die personelle Auszehrung der Vereine. 4.1. Fehlende Sportstätten Fast alle Städte und Gemeinden entzogen den jüdischen Vereinen 1933 die Mietverträge für öffentliche Sportanlagen. Mit Rücksicht auf die bevorstehenden Olympischen Spiele genehmigte der Reichssportführer den jüdischen Vereinen zwar Mitte 1934 wieder die Nutzung öffentlicher Anlagen, allerdings wurde diese Anordnung in den NS-gleichgeschalteten Stadtverwaltungen sehr unterschiedlich umgesetzt. Beispiele aus verschiedenen Kommunen zeigen, dass jüdische Vereine auch weiterhin mit Hinweis auf die angebliche Überbelegung der Sportstätten keine Plätze am Ort erhielten oder lediglich solche Anlagen zugeteilt bekamen, die weit außerhalb an der Peripherie der Städte lagen.78 Über das Verhalten westfälischer Kommunalverwaltungen in dieser Frage liegen bislang keine Untersuchungen vor. Allerdings zeigen die Berichte in der jüdischen Sportpresse, dass sich der Mangel an Sportstätten auch in Westfalen zum vordringlichsten Problem des jüdischen Sports entwickelte: Im Februar 1936 meldete die Schild-Verbandszeitung, dass alle Schild-Vereine der Westfalen-Staffel nur noch über einen einzigen Sportplatz in Wiedenbrück verfügten, auf dem an jedem Sonntag nur eine Partie ausgetragen werden konnte. Erstmals geriet der Spielplan der Schild-Liga dadurch erheblich in Verzug.79 Auch im östlichen Ruhrgebiet stand allen Schild-Vereinen Ende 1936 nur noch die Anlage von Schild Gelsenkirchen zur Verfügung.80 In dieser Lage mussten die jüdischen Vereine auf der Suche nach Sportanlagen immer stärker improvisieren. Ende 1936 entstand in Ochtrup im westlichen Münsterland auf den Viehweiden des jüdischen Bauern Julius Terhoch eine notdürftig angelegte Sportanlage, die fortan der Sportgruppe Bentheim als Fußballplatz diente.81 Aus dem fränkischen Bamberg ist bekannt, dass sogar der Biergarten einer jüdischen Gastwirtschaft zu einem behelfsmäßigen Fußballplatz umgebaut wurde.82 In zahlreichen Städten beteiligten sich aber auch die jüdischen Gemeinden trotz knapper Kassen am Kauf bzw. Bau neuer Sportstätten – so in Hannover, wo die frühere Synagoge der Stadt zu einer Turnhalle umgebaut wurde.83

78

79 80 81 82 83

Henry Wahlig, Die Verdrängung jüdischer Sportler aus dem öffentlichen Raum in NS-Deutschland, in: Dietmar von Reeken/Malte Thießen (Hg.), Volksgemeinschaft als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort, Paderborn 2013, S. 257–274. Schild, 14.2.1936. Wahlig, Vergessene Meister, S. 71. Vgl. Peiffer/Wahlig, Handbuch jüdischer Sport, S. 77. Vgl. Herbert Loebl, Juden in Bamberg. Die Jahrzehnte vor dem Holocaust, Bamberg 2000, S. 130 f. Vgl. Peiffer/Wahlig, Handbuch jüdischer Sport, S. 208 f.

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Diese großen und vielschichtigen Anstrengungen, mit der die jüdische Öffentlichkeit auf den akuten Mangel an Sportstätten reagierte, zeugen von der großen Bedeutung, die der Sport nunmehr im Sozial- und Alltagsleben der jüdischen Bevölkerung einnahm. Eine andere Folge des Sportplatz-Mangels war es, dass sich das sportliche Angebot in den jüdischen Vereinen veränderte: Statt Fußball rückte Tischtennis immer stärker in den Fokus der Sportarbeit, da dieser Sport auch von wenigen Personen in einfachsten Räumlichkeiten betrieben werden konnte. Ende 1935 gab die westdeutsche Schild-Verbandsleitung in einem Rundschreiben bekannt, dass Tischtennis ab sofort als „Pflichtsportart“ in allen Vereinen der Region zu gelten habe.84 4.2. Personelle Auszehrung der Vereine Bereits seit 1933 wanderten immer mehr jüdische Familien vom Land in größere Ballungszentren ab, da sie sich hier zumindest vorübergehend einen größeren Schutz vor antisemitischen Übergriffen erhofften. Als auch hier die Verfolgung durch die Nationalsozialisten immer größere Ausmaße annahm, stiegen seit 1937 die Zahlen jüdischer Flüchtlinge, die Deutschland verließen und ins benachbarte Ausland, in die USA oder nach Palästina auswanderten, sprunghaft an. Diese Entwicklung lässt sich auch an der Entwicklung der jüdischen Sportvereine in Westfalen ablesen. Kleine ländliche Sportgruppen litten besonders schnell unter starker personeller Auszehrung, konnten jedoch in der Regel ihre Beteiligung am Fußball- Spielbetrieb bis etwa 1936 aufrechterhalten. Sportvereine in größeren jüdischen Gemeinden litten erst in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre unter der immer stärkeren Auswanderung und Flucht ihrer Mitglieder. Zunächst bemühten sich die Klubs darum, auch diejenigen Jugendlichen für ihre Vereinsarbeit zu aktivieren, die dem Sport bis dahin fernstanden. Etwa seit 1936 wurden in größeren Gemeinden jüdische Schulsportfeste veranstaltet, durch die weitere Jugendliche von der Mitgliedschaft im Sportverein überzeugt werden sollten.85 Seit spätestens 1937 war jedoch auch hier ein deutlicher Niedergang in der Entwicklung des jüdischen Sports unverkennbar: Nunmehr meldeten sich auch immer mehr Vereine aus mittleren Gemeinden vom Spielbetrieb ab, größere Klubs wie Schild Dortmund oder Schild Bochum mussten zumindest ihre zweiten Mannschaften auflösen, da nicht mehr ausreichend Spieler zur Verfügung standen. Zu Beginn der Saison 1937/38 beteiligten sich nur noch fünf Vereine an der westfälischen Schild-Liga.86 In ganz Westdeutschland war der einst rege Fußballbetrieb im Schild von 52 Vereinen auf nur noch 13 Klubs zusammengeschrumpft.

84 85

86

Wiener Library / Doc. 609 / Rundschreiben, 4.10.1935. Vgl. Hans-Martin Ehlert, Schulsport an jüdischen Schulen in Deutschland während der Zeit des Nationalsozialismus 1933–1942, in: Toni Niewerth/Tomasz Jurek/Wolf-Dieter Mattausch (Hg.), Jüdischer Sport und jüdische Gesellschaft. Jewish Sport and Jewish Community, Berlin 2010, S. 339–354. Vgl. Schild, 22.10.1937.

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5. Das Ende des jüdischen Fußballs Die Pogrome des 9. November 1938 beendeten die Existenz aller noch verbliebenen jüdischen Sportvereine in Westfalen. Infolge der Pogrome wurden die Vereine nicht unmittelbar verboten, ihnen wurde aber ein Betätigungsverbot erteilt, dass im Laufe der folgenden Monate zur Selbstauflösung der Organisationen führte.87 Über den genauen Verlauf dieser Liquidierungen liegen für die westfälischen Sportvereine keine Informationen vor. Wenige Monate zuvor hatte jedoch ausgerechnet im Schatten der bereits aufziehenden Katastrophe ein westfälischer Verein den bis dahin größten Erfolg im jüdischen Fußball erreicht: Die Elf von Schild Bochum, die zwischen 1934 und 1937 bereits dreimal westfälischer Meister bzw. Meister des Industriebezirks geworden war, sicherte sich 1938 nicht nur den Titel ihrer Klasse, sondern erreichte nach Siegen gegen Schild Frankfurt (6:2) und Schild Hamburg (1:0) als erste westdeutsche Mannschaft überhaupt das Finale um die Deutsche Meisterschaft. Gegner war am 26. Juni 1938 auf dem Sportplatz Fort Deckstein in Köln-Müngersdorf das Team von Schild Stuttgart, das als Titelverteidiger und hoher Favorit in dieses Finale ging. Trotz seiner Außenseiterstellung siegte jedoch Bochum nach 0:1-Rückstand noch überraschend deutlich mit 4:1 und wurde damit erster jüdischer Fußballmeister aus dem Westen. Im September 1938 startete der westdeutsche Verband wieder in eine neue Spielzeit, wobei sich jetzt nur noch elf Vereine am Spielbetrieb beteiligen konnten.88 Der vorherige Meister Schild Bochum, dessen Manager und Mäzen Julius Goldschmidt kurz zuvor in die USA geflohen war, konnte nur noch zwei Partien bestreiten. Das letzte dokumentierte Spiel des jüdischen Fußballs in Westfalen fand am 8. Oktober 1938 vor 200 Zuschauern in Dortmund statt. Es war ausgerechnet eine Platzweihe, da es Schild Dortmund trotz aller Einschränkungen gelungen war, einen neuen Sportplatz zu errichten.89 Nur vier Wochen später endete die Geschichte des selbstorganisierten jüdischen Fußballs in Westdeutschland. Alle Juden, die noch in Deutschland verblieben waren, waren dem offenen Terror der nationalsozialistischen Verfolgung und dem Kampf um ihr physisches Überleben ausgesetzt. 6. Fazit Die Entwicklung des jüdischen Fußballs in Westdeutschland vollzog sich in mehreren Etappen, die auch die gesellschaftliche Wahrnehmung der Juden in der Region widerspiegeln: Anfänglich in den bürgerlichen Sport integriert, zeigten sich bereits in den 1920er Jahren gewisse Distanzierungstendenzen der Mehrheitsgesellschaft gegenüber jüdischen Sportvereinen. In Westdeutschland fand dies durch die Gründung des VIN87

88 89

Als Beispiel dient der Verein Schild Leipzig, dessen Selbstauflösung die NS-Behörden mit immer neuen bürokratischen Hürden in die Länge zogen, so dass der Verein erst nach Beginn des Krieges formal aufgelöst war; vgl. hierzu den Aktenbestand im Sächsischen Staatsarchiv Leipzig, P-PV 4534. Vgl. Schild, 14.10.1938. Vgl. ebd.

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TUS, der 1925 die erste jüdische Fußballliga auf deutschem Boden einrichtete, einen besonderen Ausdruck. Die große Mehrheit der jüdischen Fußballer blieb jedoch bis zur NS-Machtübernahme in den überkonfessionellen Vereinen des paritätischen Sports. Das Jahr 1933 markierte auch in Westfalen den schnellen Ausschluss jüdischer Mitglieder aus den paritätischen Sportvereinen und -verbänden. Der WSV als Dachverband der westdeutschen Fußballvereine übernahm hierbei im regionalen Vergleich eine führende Rolle, indem er bereits im Mai 1933 ein Spielverbot für alle nichtarischen Spieler verkündete. Danach finden sich nur noch in Ausnahmefällen Belege für Mitgliedschaften jüdischer Fußballer in paritätischen Vereinen. Der Aufbau eines selbstorganisierten jüdischen Sportsystems lässt sich in Westfalen seit Anfang 1934 nachvollziehen. Auffällig ist dabei zunächst das deutliche Übergewicht an Vereinen des Sportbundes Schild, das sich mit der eher assimilatorisch ausgeprägten Weltanschauung der jüdischen Landbevölkerung Westfalens erklären lässt. In den Jahren 1934 bis 1936 entstanden in allen Regionen Westfalens jüdische Sportvereine. Die Funde zeigen, dass der Sport zu einem wesentlichen Element des jüdischen Alltagslebens wurde. Insbesondere in kleinen Landgemeinden erreichten die Vereine erstaunliche Rekrutierungsquoten, da fast alle Jugendlichen des Ortes im Sportverein aktiv waren. Der Fußball bildete seit 1933 den Schwerpunkt des jüdischen Sportlebens in der Region. Mit der zunehmenden Abwanderung der jüdischen Bevölkerung wurde seine Vormachtstellung jedoch durch das Tischtennisspiel abgelöst, das sich auch unter einfacheren Bedingungen und mit weniger Aktiven spielen ließ. Die hier aufgeführten Belege dokumentieren die große Bedeutung des Sports im Leben jüdischer Gemeinden, insbesondere während der Zeit des Nationalsozialismus. Die Autoren hoffen, mit dieser Übersicht einen Ansatzpunkt für weitere Studien zum jüdischen Sportleben in der Region geben zu können.

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Anhang 1: Schild-Sportgruppen in Westfalen und ihre Anschriften (Stand: Oktober 1934)90 Anschriften der Sportgruppen im Bezirk Ruhr Bezirkssportleiter: Dr. Paul Eichengrün, Gelsenkirchen, Neustr. 7 Gelsenkirchen: Windmüller R. v.d. Reckestr. 9 Bochum: Kurt Lindau, Alleestr. 12a Witten: Louis Schacher, Ardeystr. 70 Dortmund: Kahn, Fuhrgabelstr. 13 Herne: Edgar F. Wahl, Schäferstr. 9 Hagen: Dr. Eichenwald, Wittekindstr. 33 Paderborn: Adalbert Anhalt, Westermauer 40 ... Anschriften der Sportgruppen im Bezirk Westfalen Bezirkssportleiter: Fritz Windmüller, Münster, Klosterstr. 9 Münster i/W.: Paul Wolff, Schlageterstr. 47 Burgsteinfurt: Karl Steinmann, Hindenburgstr. 12 Rheine: Erich Baum, Münsterstr. Bentheim: D. Zilversmidt, Autofernstr. 65 Paderborn: Heinz Reifenberg, Wilhelmstr. 11 Beckum: Hermann Stein, Nordstr. 24 Soest: Erwin Schürmann, Thomasstr. 63 Bielefeld: Julius Frankenberg, Am Damm 14a Hamm: Karl Blumenthal, Feidikstr. 29a Coesfeld: Max David, Marienring 16 Dülmen: Walter Davidsohn, Hindenburgstr. 19 Makkabi-Sportgruppen aus Westfalen und ihre Anschriften (Stand: Februar 1934)91 Brakel Dortmund Gelsenkirchen Hagen/W. Recklinghausen

90 91

Makkabi Hazair Hakoah Makkabi Makkabi Jüd. Sportverein

Werner Rothenberg, Brakel, Kreis Höxter i.W. A. Feilmann, Weißenburger Str. 9 H. Ullendorf, Hindenburgstr. 33 Simon Janowski, Mittelstr. 3 Weißbraun, Göresstr. 20

Vollständiger Abdruck der Liste nach Wiener Library / Doc. 609 / Adressenliste, 14.10.1934. Auszug einer vollständigen Liste aller Makkabi-Vereine aus: Makkabi 02/1934, S. 41.

Die Geschichte des jüdischen Sports in Westfalen vor und während der NS-Zeit

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Anhang 2: Jüdische Fußballvereine in Westfalen und ihre Teilnahme am Spielbetrieb 1933–1938 92 Vereinsname

Teilnahme am Spielbetrieb

Schild Bielefeld

1936–1938

Schild Bochum

1933–1938

Schild Coesfeld-Dülmen

1934–1935

Schild Dortmund

1934–1938

Schild Gelsenkirchen

1933–1938

Schild Herford

1936

Schild Herne

1934–1936

Schild Meschede

1934–1936

Schild „Hellmania“ Minden

1934–1938

Schild Münster

1934–1937

Schild-„Sportgruppe 100“ Paderborn

1934–1937

Schild Rheine

1935

Schild Soest

1934–1936

Schild Wiedenbrück

1934–1937

Schild Witten

1934

Makkabi Bielefeld

193493

Makkabi Brakel

193494

Hakoah Dortmund

1934–1936

Hakoah Hagen

1936

92 93 94

Diese Übersicht bezieht sich auf projekteigene Recherchen. Bei beiden Vereinen ist lediglich die Austragung eines einzelnen Freundschaftsspiels überliefert. Ebd.

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Anhang 3: Jüdische Fußballligen in Westdeutschland 1933–193895 Sportbund Schild 1933/34 96 Herren Mittelrhein

Ruhr-Westfalen

Schild Bonn (Sieger)

Schild Bochum (Sieger)

JTV 02 Köln

Schild Gelsenkirchen

Schild Gladbach

Schild Münster

Schild Düren

n.N.97

Schild Mayen Schild Dierdorf Schild Bonn II JTV Köln II Schild Gladbach II Schild Düren II

Schüler Mittelrhein JTV 02 Köln Schild Gladbach Schild Bonn Schild Düren

95

96 97

Soweit bekannt wird der Sieger der jeweiligen Staffel aufgeführt. In den Fällen, in den kein Sieger aufgeführt wird, ist dieser aus den vorliegenden Quellen nicht zu erschließen. Der Spielbetrieb wurde Anfang 1934 aufgenommen. Wahrscheinlich gab es weitere in den Quellen nicht aufgeführte Teilnehmer.

99

Die Geschichte des jüdischen Sports in Westfalen vor und während der NS-Zeit

1934/35 Herren Ruhr-Westfalen

Rheinbezirk Gruppe Nord

Rheinbezirk Gruppe Süd

Schild Gelsenkirchen (Sieger)

Schild Bonn (Sieger)

Schild Trier (Sieger)

Schild Bochum

Schild M’gladbach

Schild Wittlich

Schild Paderborn

TuSPA Krefeld

Schild Castellaun

Schild Dortmund

Schild Cleve

Schild Koblenz

Schild Münster

Schild JTV 02 Köln

Schild Dierdorf

Schild Rheine

Schild Düren

Schild Herne

Schild Oberhausen

Schild Meschede Schild Soest

1935/36 Herren, 1. Mannschaften Mittelrhein Gruppe Nord

Mittelrhein Gruppe Süd

Industriebezirk

Westfalenbezirk

Schild Bonn (S.)

Schild Neuwied

Schild Bochum (Sieger)

Schild Wiedenbrück

Schild Düsseldorf

Schild Koblenz

Schild Herne / Gelsenk.

Schild Soest

Schild Düren

Schild Castellaun

Schild Duisburg/ Oberh.

Schild Paderborn

Schild Gladbach

Schild Trier

Schild Dortmund

Schild Meschede

JTV 02 Köln

Schild Gießen

TuSPA Krefeld

Schild Münster

100

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Herren, 2. Mannschaften Mittelrhein JTV 02 Köln II Schild M’gladbach II TuSPA Krefeld II Schild Düren II Schild Bonn II Schild Euskirchen

1936/37 Mittelrhein

Westfalen

Industriebezirk

Schild Bonn (Sieger)

Schild Wiedenbrück

Schild Bochum (Sieger)

JTV 02 Köln

Schild Bentheim

Schild Dortmund 1a

Schild M’gladbach

Schild Meschede

Schild Dortmund 1b

Schild Düsseldorf

Schild Paderborn

Schild Duisburg/Oberhausen

Schild Düren

Schild Bielefeld

Schild Neuwied

Schild Münster

TuSPA Krefeld

1937/38 Herren, 1. Mannschaften Mittelrhein

Westfalen

Schild Bochum (Sieger)

Schild Dortmund

Schild Düsseldorf

Schild Gelsenkirchen

Schild Aachen-Düren

Schild Münster

JTV 02 Köln

Schild Bielefeld

Schild Bonn

Schild Minden

TuSPA Krefeld Schild M’gladbach Schild Neuwied

Die Geschichte des jüdischen Sports in Westfalen vor und während der NS-Zeit

Herren, 2. Mannschaften Mittelrhein JTV 02 Köln II Schild Bonn II Schild M’gladbach II TuSPA Krefeld II Schild Düsseldorf II Schild Aachen/Düren II

Schüler Mittelrhein JTV 02 Köln I und II Schild Bonn Schild M’gladbach I und II TuSPA Krefeld Schild Düsseldorf Schild Aachen/Düren

Makkabi 1933/3498 Itus Duisburg I (Sieger) Makkabi Düsseldorf Itus Duisburg II Hakoah Essen Hakoah Köln I Hakoah Köln II Hakoah Dortmund Makkabi Moers

98

Der Spielbetrieb wurde Anfang 1934 aufgenommen.

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102 1934/35 Makkabi Gladbach Itus Duisburg Hakoah Essen Hakoah Köln Hakoah Wuppertal Hakoah Düsseldorf Hakoah Dortmund

1935/36 Hakoah Essen (Sieger) Itus Duisburg Makkabi Gladbach Hakoah Köln Hakoah Wuppertal Makkabi Düsseldorf

1936/37 Makkabi Düsseldorf (Sieger) Hakoah Essen Makkabi M’gladbach Itus Duisburg Hakoah Köln Hakoah Wuppertal

1937/38 Austragungsmodus/Teilnehmer unbekannt, Sieger: Makkabi Düsseldorf.

Lorenz Peiffer/Henry Wahlig

Stefan Goch

Zwischen Mythos und Selbstinszenierung: Fußball im Ruhrgebiet und das Image der Region Der Fußballkaiser Franz Beckenbauer meinte vor einigen Jahren, das Herz des deutschen Fußballs schlage im Ruhrgebiet.1 Und es sind auch vor allem die Ruhrgebietsvereine, die den Bayern Paroli bieten können. Die erfolgreichen Fußballvereine FC Schalke 04 und Borussia Dortmund werden also von außerhalb in hohem Maße mit ihrer Region identifiziert, und auch in der Region und nicht nur in der „eigenen Stadt“ werden sie als regionale Vertreter im Kampf und Tore und Punkte gesehen. Wie die Ruhrgebietsvereine ihre Herkunftsregion repräsentieren, so haben auch andere Vereine ihren „Ruf“, oder ihnen werden bestimmte (regionale) Eigenschaften zugeschrieben − Leverkusen ist eine Werksmannschaft, Wolfsburg wohl auch, Kaiserlauterer sind Rote Teufel, Bremen liegt an der Weser, die Löwen sind die einen Münchner, die arroganten Bayern die anderen, die Fohlen waren die Gladbacher usw. In Zeiten von Professionalisierung, Kommerzialisierung, Merchandising und auch Globalisierung des Fußballsports sind solche Zuschreibungen von großer Bedeutung für die Unverwechselbarkeit eines Vereins, für die Mobilisierung von Anhängern und auch für die die Gewinnung von Sponsoren und öffentlicher Unterstützung. Für die Herkunftsregion sind die Vereine wichtige Imageträger. Die Geschichte der Vereine, ihre Selbstdarstellung, ihre Mythenbildung und ihre Inszenierung im sportlichen Showgeschäft vermengen sich mit der Wahrnehmung ihrer Region. Die Identifizierung erfolgt teilweise von außen, teilweise wird sie aktiv von Vereinen und regionalen Akteuren gestaltet. Das Ruhrgebiet als zentrale Fußballregion, in der sich Woche für Woche wohl bundesweit der größere Teil der Fußballfans in den Stadien versammelt, ist ein Beispiel. Fußballgeschichte und Regionalgeschichte Die Vorstellung, dass Fußball und Ruhrgebiet zusammengehören oder doch mindestens zusammenpassen,2 hat wohl auch historische Gründe: Nach der eher süddeutschen und eher großstädtischen Frühgeschichte des Fußballs in Deutschland stiegen die Schalker Fußballer aus diesem Stadtteil Gelsenkirchens mit ihrem legendären Spielsystem, dem „Schalker Kreisel“, zur Spitze des Fußballs auf und erreichten in den Jahren des „Drit1

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Vorwort, in: Stefan Goch/Ralf Piorr (Hg.), Wo das Fußballherz schlägt. Fußball-Land Nordrhein-Westfalen, Essen 2006, S. 9. Vgl. Süddeutsche Zeitung, 2.2.2004, S. 37. Überblick Stefan Goch/Ludger Claßen, Von der Fußlümmelei bis zum Massensport. Fußball im Westen bis 1945, in: ebd., S. 16-36; Uwe Wick (Hg.), Katalog zur Ausstellung „Fußballregion Ruhrgebiet“, Göttingen 2005; Hartmut Hering (Hg.), Im Land der tausend Derbys. Die Fußball-Geschichte des Ruhrgebiets, Göttingen 2002.

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ten Reichs“ sechs Meisterschaften. In Zeiten des Amateurprinzips wurden die Schalker nicht ganz zu Recht als Mannschaft Fußball spielender Arbeiter bzw. Bergarbeiter gesehen; im Umfeld des Vereins begann man, sie als „die Knappen“ darzustellen.3 Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus wurden die gealterten Schalke-Stars aber wieder von süddeutschen Vereinen überholt. Legendär wurde aber die Oberliga West mit ihren zahlreichen mit der Montanindustrie verbundenen Vereinen (wieder FC Schalke 04, BVB Dortmund 09, VfL Bochum, Rot-Weiss Essen, Schwarz-Weiß Essen, SG Wattenscheid, Rot-Weiß Oberhausen, SF Katernberg, STV Horst-Emscher, Westfalia Herne, SpVgg Erkenschwick und den Duisburger Vereinen). Woche für Woche waren die Stadien voll, wenn die Vereine der eng beieinander liegenden Städte bzw. Stadtteile gegeneinander antraten. Das Ruhrgebiet wurde zum „Land der tausend Derbys“.4 Die Vereine aus dem Ruhrgebiet setzen sich dann auch in der Bundesrepublik ab Mitte der 1950er Jahre wieder mit anderen an die Spitze des bundesdeutschen Fußballs, wobei die aus der Stahlarbeiterstadt stammenden Dortmunder nun die Schalker als Spitzenmannschaft aus dem Ruhrgebiet ablösten. Die Professionalisierung und beginnende Kommerzialisierung des Fußballsports mit der Einführung der Bundesliga ab 1963 überstanden nicht alle Ruhrgebietsvereine, viele sogenannte Zechenvereine traten ihren Weg in die Bedeutungslosigkeit an.5 Der Verlust von Sponsoren aus der seit Ende der 1950er Jahre kriselnden Schwerindustrie und überkommene Strukturen mit viel unprofessioneller (ehrenamtlicher) Vereinsmeierei führten in die Erfolglosigkeit (z. B. Rot-Weiß Essen, SG Wattenscheid, Rot-Weiß Oberhausen, SF Katernberg, STV Horst-Emscher, Westfalia Herne). Übrig blieben von den großen Ruhrgebietsmannschaften der FC Schalke 04 und der BVB Dortmund 09, die lediglich vorübergehend in die 2. Liga abstiegen, und wenige „Fahrstuhlmannschaften“, bei denen sich Ab- und Wiederaufstiege in rascher Folge abwechselten (z. B. VfL Bochum, MSV Duisburg). Die Schwierigkeiten der Ruhrgebietsvereine wurden in der öffentlichen Wahrnehmung sowohl innerhalb wie außerhalb der Region mit der Strukturkrise der Montanindustrie des Ruhrgebiets verbunden. Zu den „schwarzen Fahnen“ an der Ruhr passte das traurige Bild, das die dortigen Fußballer und ihre Vereine nicht nur beim Spiel, sondern auch in ihrer zum Teil chaotischen Vereinspolitik und ihrem unsoliden Finanzgebaren zeigten.6 Und dann stellte sich der FC Schalke 04 am Beginn der

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Georg Röwekamp, Der Mythos lebt. Die Geschichte von Schalke 04, 8. Aufl., Göttingen 2012; Stefan Goch/ Norbert Silberbach, Zwischen Blau und Weiß liegt Grau − Der FC Schalke 04 im Nationalsozialismus, Essen 2005 (auch zur Sozialstruktur). Dieter Baroth, „Jungens, Euch gehört der Himmel!“. Die Geschichte der Oberliga West 1947-1963, 4. Aufl., Essen 1990; Ralf Piorr, Fußballtage im Westen. Die Oberliga West 1947 bis 1963 im Bild, Essen 2008; Hering, Im Land der tausend Derbys; Überblick: Ralf Piorr (Hg.), Der Pott ist rund. Das Lexikon des RevierFußballs, Bd. 1: Die Chronik 1945 bis 2005, Bd. 2: Die Vereine, Essen 2006. Ralf Piorr/Thomas Tartemann, Tradition schießt keine Tore. Fußball im Hinterhof der Großen, in: Goch/Piorr, Fußballherz, S. 93-101. Dietrich Schulze-Marmeling, Der Ruhm, der Traum und die Leidenschaft. Die Geschichte von Borussia Dortmund, 2. Aufl., Göttingen 2011, S. 109, 148 ff. Beispiele auch in Gerd Voss/Thomas Spiegel/Jörg Seveneick (Hg.), 100 Schalker Jahre – 100 Schalker Geschichten. Das offizielle Jubiläums-Buch des FC Schalke 04, Essen 2004.

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1970er Jahre mit einer der besten Mannschaften7 als „FC Meineid“ (im Bundesliga-Bestechungsskandal) selbst ein Bein. Währenddessen dominierten in den 1970er und beginnenden 1980er Jahren „moderne“ Mannschaften aus Westdeutschland das Geschehen − der 1. FC Köln und Borussia Mönchengladbach.8 Deren Spieler traten nun eher wie Popstars auf und umgaben sich mit dazu passenden Accessoires wie schönen Frauen und schnellen Autos. Und daneben begann der Siegeszug des FC Bayern. Die Spieler der neuen Spitzenmannschaften verkörperten eher die heraufziehende Dienstleistungsgesellschaft, eine weitere Kommerzialisierung und Professionalisierung und auch einen neuen Maßstab an materiellen Ansprüchen, obwohl sich nicht grundsätzlich etwas daran geändert hatte, dass der Sport für die Spieler eine Durchgangsschleuse zu besseren materiellen Verhältnissen war.9 In dieser Zeit waren auch die Ruhrgebietsfußballer schon länger nicht mehr normale Malocher. Auch wenn sie vielleicht noch in der Umgebung ihres Fußballklubs wohnten, so hatten sie doch den Fußball als eine der wenigen Chancen zum sozialen Aufstieg genutzt. Als Aufsteiger erster Generation blieben sie aber ihrem Herkunftsmilieu verbunden und wurden von dort auch für ihren berechtigten Erfolg geliebt, jedenfalls, wenn es ein Aufstieg durch Leistung oder doch wenigstens durch harte Arbeit war.10 In der öffentlichen Wahrnehmung passte der Niedergang des als Arbeiterfußball angesehenen Fußballs aus dem Ruhrgebiet nur zu gut zum krisenhaften Strukturwandel dieser Region. Ausgehend vom Beginn der Kohlekrise ab 1958, die sich in einer „2. Kohlekrise“ um 1966/67 besonders zuspitzte, und vom seit Mitte der 1970er Jahre folgenden Niedergang der Eisen- und Stahlindustrie sowie den bis in die Gegenwart andauernden krisenhaften Strukturwandlungen der deutschen und europäischen Wirtschaft insgesamt erlebte gerade das von der Schwerindustrie geprägte Ruhrgebiet einen schwierigen Strukturwandelprozess.11 Die alten Mythen vom Arbeiterverein und von der großen Tradition erwiesen sich in den 1970er und 1980er Jahren teilweise als hinderlich, weil das Beschwören der Tradition oft Modernisierungen in den Vereinen behinderte, was gerade beim Schalker Fußballverein immer wieder zu denkwürdigen Mitgliederversammlungen führten, in denen dann auch wenig professionelle Vereinsvorstände gewählt wurden, die aber die „gute alte Zeit“ beschworen.12 Mitte der 1990er Jahre rückten dann aber zuerst die Dortmunder Borussia mit modernisierten Vereinstrukturen und dann auch der FC Schalke 04 wieder zur Spitze des deut7

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Jürgen Thiem, Helden für einen Sommer. Die Geschichte der besten Schalker Mannschaft aller Zeiten, Göttingen 2012. Vgl. Ulrich Homann/Achim Nöllenheidt (Hg.), Don Hennes und die Liebe zur Liga. Geschichten aus der Bundesliga 1973-1982, Essen 1992. Vgl. Christiane Eisenberg, Vom „Arbeiter-“ zum „Angestelltenfußball“? Zur Sozialstruktur des deutschen Fußballsports 1890-1950, in: Sozial- und Zeitgeschichte des Sports 4 (1990), H. 3, S. 21. Zum Beispiel Olaf Thon, Lothar Emmerich (Süddeutsche Zeitung, 16.8.2003, S. 35), aber auch Manager wie Rudi Assauer (Süddeutsche Zeitung, 23.8.2003, S. 25 und dann zum Alzheimer-Bekenntnis Assauers: Süddeutsche Zeitung, 2.2. und 7.2.2012). Stefan Goch, Eine Region im Kampf mit dem Strukturwandel. Strukturpolitik und Bewältigung von Strukturwandel im Ruhrgebiet, Essen 2002. Franz-Josef Brüggemeier: Entscheidend ist längst nicht mehr „auf‘m Platz“. Zur Instrumentalisierung des Fußballs, in: Goch/Piorr, Fußballherz, S. 136 ff.

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schen Fußballs neben den Bayern aus München auf. 1997 gingen die beiden bedeutenden internationalen Trophäen des Vereinsfußballs (UEFA-Cup, Champions League mit Weltpokal) ins Ruhrgebiet. Der Erfolg beruhte − soweit Fußball überhaupt planbar ist − auf einer Modernisierung und Professionalisierung des Gelsenkirchener und des Dortmunder Vereins, der andere Fahrstuhlmannschaften aus dem Ruhrgebiet nicht mehr folgen konnten. Wiederum interpretierte man dieses Comeback des Ruhrgebietsfußballs als Ergebnis eines neuen Aufbruchs der vom Strukturwandel gebeutelten Region an Ruhr und Emscher.13 Traditionspflege, Selbstinszenierung und Wahrnehmung von außen Die Wahrnehmung des Ruhrgebiets und seines Wandels bzw. die Bewältigung des Strukturwandels und die Entwicklung des Fußballs im alten „Revier“ erschienen also miteinander verkoppelt. Die Ruhrgebietsvereine leisten ihrer Identifizierung mit dem Ruhrrevier bei ihrer Traditionspflege und Selbstdarstellung auch Vorschub. Die beiden dominanten Vereine, deren ausgeprägte Konkurrenz eigentlich erst seit den 1990er Jahren von den Medien und in ihrer Folge auch von Teilen der Anhängerschaften hochgespielt wird,14 gehören zu den ersten Bundesligavereinen, die sich fundiert mit ihrer Geschichte auseinandersetzten und dann auch professionell gestaltete Museen zur Vereingeschichte geschaffen haben (Abb. 1).15 Dabei knüpften sie an die Traditionspflege ihrer Vereine an. Während die Dortmunder auf eine lange Verbundenheit mit der inzwischen in Dortmund weitgehend verschwundenen Eisen- und Stahlindustrie (Hoesch) zurückblicken können, waren die Schalker eher mit dem Steinkohlenbergbau und der 1993 geschlossenen Zeche Consolidation verbunden.16 Der Knappen-Mythos wird bis zur Gegenwart hochgehalten, etwa wenn Mannschaftsfotos vor der Kulisse einer zur Industriekultur umgestalteten stillgelegten Schachtanlage gemacht werden oder die erste Mannschaft in eines der wenigen verbliebenen Bergwerke einfährt und Fotos der vom Kohlenstaub mehr oder weniger geschwärzten Spieler durch die Medien gehen.17 Auch 13

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Knapp zum erfolgreichen Strukturwandel: Stefan Goch, Von der Kohlekrise zum neuen Ruhrgebiet: Strukturwandel und Strukturpolitik, in: Jana Golombek/Dietmar Osses (Hg.), Schichtwechsel. Von der Kohlekrise zum Strukturwandel. Katalog zur Ausstellung im LWL-Industriemuseum Zeche Hannover in Bochum, Essen 2011, S. 6–19. Sebastian Kisters, „Ruhrpott, Ruhrpott“. Wie die Europapokaltriumphe von Schalke 04 und Borussia Dortmund Image und Identität des Ruhrgebiets veränderten (Materialien zur Raumordnung, Bd. 56), Bochum 2000. Vgl. zur Bedeutung der Medien die Beiträge in: Jürgen Mittag/Jörg-Uwe Nieland (Hg.), Das Spiel mit dem Fußball. Interessen, Projektionen und Vereinnahmungen, Essen 2007. Zum Beispiel Röwekamp, Mythos; Voss/Spiegel/Seveneick, Jahre; Goch/Silberbach, Zwischen Blau und Weiß. Vgl. zu den schon früh sinkenden Anteilen von Bergleuten unter den Spielen. Dagegen dürften sich unter den Anhängern der Schalker viele Bergarbeiter befunden haben. In Gelsenkirchen arbeiteten Ende der 1950er Jahre gut 50.000 Menschen (fast ausschließlich Männer) auf den Zechen, und noch um 2000 waren 40 Prozent der Erwerbstätigen in der Stadt im produzierenden Gewerbe beschäftigt. Bekannte Spieler wie der Stahlarbeiter August Lenz in Dortmund stützten diese Mythen. Beispielsweise besuchte am 21. November 2000 die ganze Lizenzspielerabteilung die Zeche Auguste-Viktoria in Haltern-Lippramsdorf; Voss/Spiegel/Seveneick, Jahre, S. 53. Das Mannschaftsfoto von 1997 wurde vor der Kulisse der (stillgelegten) Zeche Nordstern aufgenommen; Kisters, „Ruhrpott, Ruhrpott“, S. 57.

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Abb. 1: Das Borusseum. Das Museum zur Geschichte des Fußballvereins Borussia Dortmund an der Nordostecke des Signal-Iduna-Stadions wurde 2008 anlässlich des 99-jährigen Bestens des Vereins eröffnet. Aufnahme aus dem Jahr 2009 (Foto: Esther Sobke/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

bei den Dortmundern wirkten die langjährige Nähe und die Beziehungen zur Firma Hoesch nach, so dass die Fußballer aus der Stahlstadt mit dem Milieu der Arbeiterschaft der Eisen- und Stahlindustrie verbunden werden.18 Vermutlich hielten auch die langjährige Dominanz der Sozialdemokratie im Ruhrgebiet, die dortige Stärke der Gewerkschaften und das zähe Ringen um die Bewältigung des Strukturwandels die Vorstellung aufrecht, dass es sich bei den Ruhrgebietsvereinen nur um Arbeitervereine handeln könne.19 Für das Ruhrgebiet, das den Strukturwandel weitgehend beendet hat, aber weiter offensichtlich ein Imageproblem hat,20 ist es also ausgesprochen bedeutsam, dass die Fußballspieler aus den im früheren Ruhrrevier beheimateten Vereinen als „Botschafter“ 18 19 20

Schulze-Marmeling, Ruhm, S. 112 f. Zu den Aktionen der Ruhrarbeiterschaft ansatzweise: Goch, Kampf. Achim Prossek, Bild-Raum Ruhrgebiet. Zur symbolischen Produktion der Region, Detmold 2009; Daniela Fleiß, Auf dem Weg zum „starken Stück Deutschland“. Image- und Identitätsbildung im Ruhrgebiet in Zeiten von Kohle- und Stahlkrise, Duisburg 2010.

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der Region wahrgenommen werden. Tragen die Nachrichten über die Ruhr-Kicker zur Verstetigung von Vorurteilen über eine heruntergekommene altindustrielle Region bei, befördern sie ein Bild vom ewigen Ruhr-Proleten oder sind sie „Aushängeschilder“ des „neuen Ruhrgebiets“? Das Bild des Ruhrgebiets in der Sportberichterstattung zeigt sich exemplarisch in der Darstellung der beiden erfolgreichsten Ruhrgebietsvereine. Da sich die Schalker und die Dortmunder die Spitzenstellung im Fußball mit dem FC Bayern teilen (müssen), ist es von besonderem Interesse, wie sich der Ruhrgebietsfußball in der süddeutschen Wahrnehmung widergespiegelt.21 Berichterstattung zur Modernisierung des Ruhrgebietsfußballs Als die beiden Ruhrgebietsvereine FC Schalke 04 und Borussia Dortmund nach längerer Durststrecke ab Ende der 1980er Jahre wieder in die Spitzengruppe der Bundesliga vorrückten, lieferten die Schalker zunächst noch passende Geschichten zum Durcheinander in einem Ruhrgebietsverein und „Schalkes langer Skandalgeschichte“.22 Geradezu prophetisch wurde Geschäftsführer Peter Peters zitiert: „Dieser Verein hat ein so großes Potential, aber das wird immer nur genutzt, um sich gegenseitig fertigzumachen. Es kommen einem die Tränen, wenn man daran denkt, wie Schalke dastehen könnte, wenn es auch nur einmal über ein paar Jahre eine Phase der Ruhe geben würde“.23 Die Dortmunder erkannten dagegen dieses Potential der regionalen Verankerung schon unter dem Präsidenten Gerd Niebaum und dann Manager Michael Meier, die auf eine Modernisierung des Vereins bei Wahrung und Pflege der Traditionen setzten.24 Diese notwendige Ruhe kehrte in Gelsenkirchen ausgerechnet in Person des ehemaligen Steigers der Zeche Westerholt, Gerd Rehberg, ein. Dieser typische bürgernahe Sozialdemokrat war in „seinem“ Stadtteil Hassel 1975 bis 2004 direkt gewählter Stadtverordneter und Bürgermeister in Gelsenkirchen von 1979 bis 2004. Gerd Rehberg brachte ab 1994 jene Ruhe in der Verein, die notwendig war, damit man sich auf die Professionalisierung der Arbeit im und für den Fußball konzentrieren konnte. Der basisnahe Sozialdemokrat,25 der mit dem auf Kooperation und Kompromissbildung ausgelegten Politikmodell im Ruhrgebiet vertraut war,26 hielt mit seiner Fähigkeit als Moderator, seiner

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Daher wird die Darstellung der Dortmunder und der Schalker Fußballer in der Süddeutschen Zeitung seit Mitte der 1990er Jahre in den Blick genommen. Der Sportteil der Süddeutschen Zeitung hat journalistische Standards der Sportberichterstattung gesetzt und kann als durchaus repräsentativ für die Außensicht auf das Ruhrgebiet und den Fußball dort gelten. Im elektronischen Archiv wurde im Sportteil von 1995 bis zum deutschen Champions-League-Endspiel in Wembley 2013 nach „Schalke“ und „Ruhrgebiet“ sowie nach „Dortmund“ und „Ruhrgebiet“ recherchiert. Süddeutsche Zeitung, 11.3.1995, S. 45. Ebd. Schulze-Marmeling, Ruhm, S. 197 ff. Vgl. z. B. den Bericht der Süddeutschen Zeitung, 4.1.1995, S. 902. Michael Zimmermann, Basisnahe Stellvertretung. Zur sozialdemokratischen Dominanz im Ruhrgebiet, in: Revierkultur 2 (1987), H. 2, S. 46-53.

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Abb. 2: Veltins-Arena Gelsenkirchen. Stadion des Fußballvereins FC Schalke 04 und Multifunktionshalle mit beweglichem Dach sowie ein- und ausfahrbarer Rasenfläche. Das Stadion wurde 2001 fertiggestellt und trug bis 2005 den Namen „Arena Auf Schalke“. Aufnahme aus dem Jahr 2007 (Foto: Siegbert Kozlowski/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

Integrationskraft und der Bescheidenheit, eben nicht immer ins Rampenlicht zu drängeln, dem eher extrovertierten Manager Rudi Assauer den Rücken frei. Auch im Prozess der Professionalisierung, der nicht zuletzt mit der Schaffung neuer attraktiver Spielorte verbunden war, passten die Entwicklungen im Fußball immer wieder nur allzu gut mit den Begleiterscheinungen des Strukturwandels in der vormals schwerindustriell geprägten Region zusammen. So ließ sich in der Berichterstattung gut darstellen, dass der FC Schalke 04 übertage mit der Arena eines der modernsten Fußballstadien errichtete, während untertage noch Kohle abgebaut wurde − von einer Zeche, die bei Fertigstellung der Arena stillgelegt werden sollte (Abb. 2). Dieser Untergang des Alten und die Ankunft der Moderne fanden natürlich eine entsprechende Kommentierung: „... auf der Geschäftsstelle des FC Schalke 04 haben sie im ausgehenden 20. Jahrhundert begriffen, dass man vom Mythos, den die Verbindung von Kohle und Fußball geschaffen hat, allein nicht leben kann. Die Fans mögen sich in verklärter Romantik und quasireligiösem Pathos ergehen, die Funktionäre denken pragmatisch: wenn das Zauberwort nicht mehr Mythos, sondern Marketing ist, braucht Fußball ein

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neues Zuhause. Und so reifte ab Mitte der neunziger Jahre die Idee, das ungemütliche Parkstadion durch eine Arena mit allem Komfort zu ersetzen.“27 Auch als nun die beiden Ruhrgebietsvereine recht erfolgreich waren und moderne Großprojekte umsetzten, kam kaum ein Bericht über den Ruhrgebietsfußball ohne Hinweis auf die untergegangene Schwerindustrie und hohe Arbeitslosenzahlen sowie daraus folgende soziale Probleme aus. Die Ruhrgebietsbevölkerung bzw. die Bewohner von Dortmund und Gelsenkirchen erschienen dabei als Menschen in einer Dauermisere, die in ihrem freudlosen Dasein nur den Fußball haben und dabei insbesondere durch Triumphe im Derby der beiden regionalen Rivalen eine vorübergehende Aufmunterung erfahren.28 Um die Ruhrgebietsvereine von den in der Bundesliga dominanten Bayern abzugrenzen, scheinen also das alte Argumentationsmuster vom Süd-Nord-Gefälle29 in der Bundesrepublik und das Bild von der eher strahlenden bayrischen Metropole und der Subventionsruine im Ruhrgebiet immer noch bedient werden zu müssen. Allerdings kamen wohl auch die Ruhrgebietsstädte mit einem gewissen Minderwertigkeitsgefühl solchen Argumentationsmustern entgegen, wenn es populär bei Herbert Grönemeyer über Bochum heißt: „auf Deiner Königsallee finden keine Modenschauen statt“ oder etwas selbstbewusster beim Kabarettisten Frank Goosen: „woanders is auch scheiße“.30 Als erster Ruhrgebietsverein bewerkstelligte Borussia Dortmund mit professionelleren Strukturen die Rückkehr an die Spitze des deutschen Fußballs, holte 1989 den DFB-Pokal, 1995, 1996 und 2002 die Deutsche Meisterschaft und gewann 1997 die Champions League und den Weltpokal. Zu Beginn der 1990er Jahre legte Schalke die Grundsteine für neue Erfolge, die dann etwas später erzielt werden konnten − 1997 den UEFA-Cup und Pokalsiege 2001 und 2002. Beide Repräsentanten des Ruhrgebiets haben sich reorganisiert und auch „durchkommerzialisiert“ sowie darüber hinaus für attraktive Spielstätten, die Schalker Arena und das Westfalenstadion, gesorgt. Angesichts der Entwicklungen im kommerzialisierten Fußballsport sind dabei wirtschaftlich mehr oder weniger waghalsige Unternehmungen entstanden, die nicht unbedingt für den Unverstand der Fußballvereine sprechen, nun aber genauso fragil sind wie die wirtschaftlichen Verhältnisse anderer Fußballvereine der Weltspitze.31 Im Unterschied zu anderen Vereinsstadien sind die Arenen im Ruhrgebiet und in Westdeutschland insgesamt seit Beginn des neuen Jahrtausends fast bei jedem Spiel ausverkauft. Mit dem 27 28

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Süddeutsche Zeitung, 28.7.1999. Zum Beispiel besonders deutlich in der Süddeutschen Zeitung, 4.2.2006; Süddeutsche Zeitung, 1.7.2010, S. 37 (zum öden Herkunftsort von Mesut Özil); Süddeutsche Zeitung, 13.4.2012 („Seite 3“). Eher die Ausnahme: „Die Erfolge des BVB helfen der ganzen Stadt, sich von alten Klischees zu befreien“, Süddeutsche Zeitung, 11.3.2013. Dagegen schafft es wenigstens das FAZ-Feuilleton den Wandel der Region und positive Entwicklungen wahrzunehmen; vgl. Andreas Rossmann, Der Rauch verbindet die Städte nicht mehr − Ruhrgebiet: Orte, Bauten, Szenen, Köln 2012. Vgl. Jürgen Friedrichs/Hartmut Häußermann/Walter Siebel (Hg.), Süd-Nord-Gefälle in der Bundesrepublik? Sozialwissenschaftliche Analysen, Opladen 1986. Zum Stadtmarketing z. B. Stefan Goch, Mehr als der Kampf Dortmund vs. Essen um die „Vorherrschaft“. Innerregionale Konkurrenzen im Ruhrgebiet, in: Jürgen Mittag/Ingrid Woelk (Hg.), Bochum und das Ruhrgebiet: Großstadtbildung im 20. Jahrhundert, Essen 2005, S. 329–362. Voss/Spiegel/Seveneick, Jahre, S. 324–327, 344–351; durchaus selbstkritisch Dietrich Schulze-Marmeling/ Gerd Kolbe, Ein Jahrhundert Borussia Dortmund 1909 bis 2009, Göttingen 2009, S. 224 f., 255 ff.

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sozialen Wandel hat sich dabei auch die Zusammensetzung der Zuschauer in den neu gestalteten Spielstätten geändert; die neuen Mittelschichten legen dabei eben auch Wert auf ein gewisses Maß an Bequemlichkeit, Bewirtung, PKW-Anreise und sehen in den Fußballspielen auch ein Element der Unterhaltungswirtschaft. In Schalke besuchen in einer Spielzeit etwa 1 Million Zuschauer die Heimspiele, in Dortmund mit dem größeren Westfalenstadion kommen über 1,3 Millionen Menschen pro Saison. Der Rekordmeister Bayern München folgt erst dahinter. Die beiden wichtigsten Ruhrgebietsvereine haben jeweils etwa doppelt so viele Zuschauer wie der Durchschnitt der Bundesliga.32 Auch die anderen Ruhrgebietsmannschaften sind in ihren jeweiligen Ligen unangefochtene Spitzenreiter der Zuschauerstatistik. Letztlich haben es die großen Ruhrgebietsfußballvereine geschafft, Ausdruck des regionalen Selbstbewusstseins bzw. des Regionalbewusstseins des Ruhrgebiets zu werden, das ansonsten politisch-administrativ zersplittert ist, aber aufgrund seiner besonderen Wirtschafts- und Sozialgeschichte und einer lange recht homogenen, durch die Arbeit in der Montanindustrie geprägten Bevölkerung zu einer identifizierbaren Region geworden ist.33 Vor allem einzelne Spielerpersönlichkeiten bzw. Spielerporträts eigneten sich schon immer, (vermeintliche) Eigenschaften des Ruhrgebiets und seiner Menschen in den Spielern und ihren Mannschaften wiederzufinden. Dabei waren es im globalisierten Fußballsport mit seinen internationalen Spielertransfers immer nur wenige Spieler, die aus der Stadt oder der Region stammten, die jedoch von den Vereinen zur Wahrung oder Selbstdarstellung ihrer Identität gebraucht wurden.34 So stand der Dortmunder Michael Zorc für die etwas sturen „bodenständigen“ westfälischen Ruhrgebietler und verkörperte auch das Ethos der schwer mit den Elementen kämpfenden Montanarbeiterschaft. Ihm wurde das Zitat zugeschrieben: „Fußball ist immer Ausdruck der Region, in der er gespielt wird. Im Ruhrgebiet bedeutet das: Kampf.“35 In Schalke war es z. B. Olaf Thon, der vom Straßenkicker zum Star aufstieg und immer der nette Junge von nebenan blieb, der dem Bild vom Ruhrgebietsjungen entsprach. Seltener schafften es Zugewanderte, in der Migrationsregion Ruhrgebiet mit der Region identifiziert zu werden. Dafür mussten

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Gerd Kolbe/Dietrich Schulze-Marmeling, Westfalenstadion: Die Geschichte einer Fußball-Bühne, Göttingen 2004, S. 79, 108; vgl. die Statistiken in: Schulze-Marmeling/Kolbe, Ein Jahrhundert Borussia. Vgl. auch Siegfried Gehrmann, Fußballklubs als Mittel regionaler Identitätsbildung: „Schalke“ und „Borussia“ und das Ruhrgebiet, in: ders. (Hg.), Fußball und Region in Europa. Probleme regionaler Identität und die Bedeutung einer populären Sportart, Münster 1999, S. 92 f.; Rainer Franzke, Spiele, Medien und Moneten, in: Deutscher Fußball-Bund (Hg.), 100 Jahre DFB. Die Geschichte des Deutschen Fußball-Bundes, Berlin 1999, S. 395 ff. Stefan Goch, Die Selbstwahrnehmung des Ruhrgebiets in der Nachkriegszeit, in: Klaus Tenfelde (Hg.), Raumbildung als mentaler Prozess: Schwerindustrielle Ballungsregionen im Vergleich, Essen 2008, S. 21– 47. Zur Zersplitterung u.a. ders., Im Dschungel des Ruhrgebiets. Akteure und Politik in der Region, Bochum 2004 und neu Christa Reicher/Klaus Kunzmann/Jan Polivka/Frank Roost/Yasemin Utku/Michael Wegener (Hg.), Schichten einer Region. Kartenstücke zur räumlichen Struktur des Ruhrgebiets, Berlin 2011. Zu Schalke und Dortmund: Gehrmann, Fußballklubs, S. 94 f. Zu den Altstars im kollektiven Gedächtnis: Hans Dieter Baroth/Erik Eggers/Stefan Goch/Ralf Piorr/Ben Redelings/Lars Reinefeld, Unsere NRW-Elf des Jahrhunderts − Spielerporträts, in: Goch/Piorr, Fußballherz, S. 234–277. Süddeutsche Zeitung, 27.5.1995, S. 45; zum „ganz normalen Lars Ricken“: Süddeutsche Zeitung, 16.11.1996, S. 58.

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sie schon Eigenschaften und Verhaltensweisen mitbringen, die zum Selbstbild der Menschen in der Region und in der jeweiligen Anhängerschaft passten. In Schalke schafften das z. B. Marc Wilmots als „Willi, das Kampfschwein“ oder „Blondie“ Gerald Asamoah. In jüngerer Zeit verkörpert der Dortmunder Trainer Jürgen Klopp (in Stuttgart geboren, Spieler in Mainz!) Bodenständigkeit und klare Worte, die für die Menschen im Ruhrgebiet typisch sein sollen.36 Vor allem erwartet man in der früheren Arbeiterregion von den Fußballheroen offensichtlich ein bestimmtes Arbeitsethos. Vor der Meisterschaft 1995, als diese gerade doch noch verloren zu gehen schien, äußerte sich Dortmund-Trainer Ottmar Hitzfeld in diesem Sinne: „Aber solange wir alles geben, ist das für die Leute akzeptabel, wenn wir es am Ende nicht schaffen sollten.“37 Und der Dortmunder Präsident Gerd Niebaum machte den Zusammenhang zur Ruhrgebietskultur noch deutlicher: „Trotzdem wird von den Nichtkennern unserer Mentalität angenommen, dass im Falle des Scheiterns die große Depression ausbricht. Das wird nicht so sein. Die Münchener oder Hamburger übertragen ihre Maßstäbe ihrer erfolgsverwöhnten Städte auf uns. Aber der Ruhrgebietler ist geübter in der Überwindung von Rückschlägen und Enttäuschungen. Da hat er schon viel zu viele erlebt, im Arbeitsleben, in der Wirtschaft. Es wird eine kurze lähmende Trauer geben − aber kein Scherbengericht.“38 Eine solche Nähe zur Lebenswelt der regionalen Bevölkerung wird auch in schwierigen Zeiten sorgsam gepflegt, wenn beispielsweise immer wieder in Schalke Verbindungen zur Steinkohle und zum Bergbau hervorgehoben werden.39 1997 solidarisierten sich die Fußballvereine des Ruhrgebiets mit den in einer erneuten „Kohlerunde“ mit harten Auseinandersetzungen um ihre Arbeitsplätze kämpfenden Bergleuten. Bei der größten Menschenkette, die in der Geschichte der Bundesrepublik je zustande kam, mit 220.000 Menschen reihten sich auch die Mannschaft des VfL Bochum und in Schalke der Vereinspräsident Gerd Rehberg ein. Als Bergleute aus Wut über den wortbrüchigen Bundeskanzler die Bonner Bannmeile stürmten und nur mühsam besänftigt werden konnten, erhielten beim Heimspiel der Schalker gegen die Duisburger 5.000 Bergleute freien Eintritt ins Parkstadion und die Möglichkeit für ihre Sache zu demonstrieren − unter dem Beifall der Zuschauer.40 Solche Aktionen fanden sich in den Ruhrstadien immer wieder, ob die Dortmunder sich mit „ihren“ Stahlarbeitern solidarisierten oder die Opel-Belegschaft in Bochum bei ihrem Kampf um den Erhalt von Arbeitsplätzen unterstützt wurde.41 In der Fußballkultur lebt das alte Ruhrgebiet also weiter, und dieses Fortleben wird von den Vereinen als

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Zum Beispiel Süddeutsche Zeitung, 10.8.2008; Interview in der Süddeutschen Zeitung, 24.12.2009, S. 35. Süddeutsche Zeitung, 10.6.1995, S. 44. Ebd. Kisters, „Ruhrpott, Ruhrpott“, S. 2. Vgl. mit Chronologie ebd., S. 45-59. Markus Franz, Die Jungs von der Castroper Straße. Die Geschichte des VfL Bochum, Göttingen 2005, S. 191.

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Identität auch bewusst gepflegt und inszeniert. Umgekehrt dürften die lokale und regionale Bevölkerung und die Anhängerschaft solche Solidarität auch erwarten.42 Die Selbstdarstellung hat natürlich auch Konsequenzen für die Außenperspektive: Von außen galt entsprechend die Schalker Mannschaft, als sie den UEFA-Cup gewann, als „Malocherbrigade“, die handelnden Personen wie der Trainer und der um klare Aussagen nie verlegene Manager wurden als hart, aber herzlich dargestellt.43 Der Mythos von den Arbeitervereinen verdeckt allerdings eine etwas komplexere Realität: Obwohl die beiden Vereine aus Gelsenkirchen und Dortmund der Arbeiterregion Ruhrgebiet entstammen und auch die Anhänger harte Arbeit auf dem Rasen erwarten und verlangen, entstanden beide Vereine eher in kleinbürgerlichen und aufstiegsorientierten Milieus, die Schalker im protestantisch-masurischen Umfeld,44 die Dortmunder im katholischen Milieu, von dem sie sich dann trennten. Bei den Schalkern hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg eine Umstrukturierung der Mannschaft ergeben, in der nun die Arbeiterschaft dominierte. Der Mythos von den kickenden Bergarbeitern und die Selbstinszenierung als „die Knappen“ aus der Kohlestadt Gelsenkirchen bzw. der „Stadt der tausend Feuer“ hatten hier ihren Ausgangspunkt. Vielfältig waren die Schalker mit der örtlichen Zeche Consolidation verbunden. Dort waren der Vereinsvorsitzende und auch verschiedene Spieler beschäftigt. Darüber hinaus stellte die Zeche dem Verein auch Gelände für Spielplätze zur Verfügung. Der Bau eines eigenen Stadions wurde ebenfalls durch die Zeche unterstützt. Mit dem Namen „Kampfbahn Glückauf“ drückte eine Mitgliederversammlung des Fußballvereins durch die Verwendung des Bergmannsgrußes die Verbundenheit zur lokalen Industrie und vor allem zum Bergbau und der Bergarbeiterschaft aus. Dieser Name begleitete fortan die Geschichte des Vereins.45 Da aber erfolgreicher Amateurfußball kaum von hart arbeitenden Beschäftigten der Schwerindustrie praktiziert werden konnte, sorgten die Vereine auch unter dem rigiden Amateurprinzip des deutschen Fußballs dafür, dass die Spieler mit einer Arbeit oder Möglichkeit, sich eine selbständige Existenz aufzubauen, ausgestattet wurden, die ihnen das Fußballspielen erlaubten.46 42

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45 46

„Nach dem Niedergang der realen Industrie hat diese Geschichte ein kulturelles Eigenleben entwickelt. Das zeigt das Beispiel Herbert Grönemeyer, das zeigt sich im solidarischen Habitus der Menschen im Ruhrgebiet, bis hin zu ihrer Sprache und ihrer Fußballkultur: So kann sich der FC Schalke 04 immer noch eine lokale Arbeiterfassade geben, obwohl bezeichnenderweise nicht die Ruhrkohle AG, sondern die russische Gasfirma Gasprom als Sponsor des Vereins auftritt“; Süddeutsche Zeitung, 31.1.2007, S. 4. Vgl. Stefan Goch, Fußball im Ruhrgebiet. Der Mythos vom Arbeitersport, in: Mittag/Nieland, Spiel, S. 117–142. Süddeutsche Zeitung, 23.5.1997, S. 48. „Arbeiterklub“ aus dem Ruhrgebiet in: Süddeutsche Zeitung, 22.10.2010, S. 32. So grenzten sich die Schalker deutlich von den polnischen Zuwanderern im Ruhrgebiet ab: Stefan Goch, Immer Ärger mit der polnischen Verwandtschaft. Der FC Schalke 04 wurde 1934 deutscher Meister und betrieb Ahnenforschung, in: Ralf Piorr (Hg.), Glückauf Polonia. Nordrhein-Westfalen & Polen. Die Menschen − der Fußball − die Geschichte, Essen 2012, S. 46–51; Stefan Goch, Polen nicht Deutscher Fußballmeister. Die Geschichte des FC Gelsenkirchen-Schalke 04, in: Diethelm Blecking/Gerd Dembowski (Hg.), Der Ball ist bunt. Fußball, Migration und die Vielfalt der Identitäten in Deutschland, Frankfurt a. M. 2010, S. 239–248. Ausführlich zu den sozialen Strukturen: Goch/Silberbach, Zwischen Blau und Weiß. Zu Dortmund zuletzt Schulze-Marmeling, Ruhm, gleich im ersten Satz und dann S. 24 ff., 61 ff. Vgl. auch Röwekamp, Mythos Zum Beispiel für den FC Schalke 04: Goch/Silberbach, Zwischen Blau und Weiß.

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Stefan Goch

Derby und harte Arbeit Obwohl es viele Derbys in der Fußballregion Ruhrgebiet gibt und möglicherweise ein Derby auch nur ein Spiel zwischen zwei Mannschaften einer Stadt ist, gilt das Spiel der Schalker gegen die Dortmunder als „das Derby“. Abgesehen vom erfreulichen Blick auf das Ruhrgebiet als einer mehr oder weniger einheitlichen Region, die es mit ihren zahlreichen politisch-administrativen Grenzen leider immer noch nicht ist,47 erscheint das Derby als gelungene mediale Großveranstaltung.48 Wohl erst in den 1990er Jahren wurden die Emotionen hochgefahren − ob durch mediale Inszenierung, Marketingaktionen der Vereine oder Entwicklungen in der Fanszene ist im Rückblick nicht ganz klar. Noch 1995 wusste die Süddeutsche Zeitung zu berichten, dass der (Wieder-)Schalker Olaf Thon nach einem Derby den Dortmundern die Meisterschaft gönne und die Schale vor allem im Ruhrgebiet sehen wolle.49 Und 1996 schilderte die Zeitung, dass die Schalker Fankurve mit dem Ruf „Ruhrpott“ selbst die Meisterschaft der Dortmunder anerkannte, als auf der Anzeigentafel im Stadion eine entsprechende Meldung zu lesen war.50 1999 stellte man nach einem torlosen Derby fest, dass erstens das Gelsenkirchener Parkstadion nicht einmal voll gewesen war und zweitens „von irgendwelchem Hass ... nicht viel zu spüren [war], nicht einmal richtig laut wurde es zwischendurch“.51 Zumindest aus süddeutscher Sicht blieb das Derby zwar ein besonderes Spiel, die Emotionen kochten aber nach der Berichterstattung nicht allzu hoch (Abb. 3 und 4).52 So war es nicht verwunderlich, dass die internationalen Erfolge der Dortmunder und der Schalker 1997 zur Verbreitung des Schlachtrufes „Ruhrpott“53 führten. Nach dem Selbstbild des „Ruhrpotts“ verlangen Ruhrgebietszuschauer bis in die Gegenwart von ihren teuren Fußballsöldnern aus aller Welt Arbeitertugenden wie „ehrliche Arbeit“ oder wenigstens sichtbare harte körperliche Anstrengung; bemühen muss man sich, und eine gewisse kollegiale Teamfähigkeit und die Fähigkeiten zu einem offenen Wort werden auch geschätzt. Ansonsten wird heftig auf die „Fußball-Millionäre“ geschimpft,54

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Goch, Dschungel; Reicher/Kunzmann/Polivka/Roost/Utku/Wegener, Schichten. Sandra Heck/Andreas Luh/Paul Nierhaus, Myth or Reality of the Revier Derby? Schalke 04 versus Borussia Dortmund (1947–2007), in: The International Journal of the History of Sport 29 (2012), S. 2030–2049. Alle wesentlichen Spiele in: Gregor Schnittker, Revier-Derby: Schalke 04 − Borussia Dortmund. Die Geschichte einer Rivalität, 2. Aufl , Göttingen 2012, als journalistisches Produkt mit einer differenzierten, aber zu wenig auf die Wirkung der Medien eingehenden Einleitung. Aus Dortmunder Perspektive: Schulze-Marmeling, Ruhm, S. 274–284. Vgl. z. B. auch Süddeutsche Zeitung, 9.3.2013 in der Serie „50 Jahre Bundesliga“. Süddeutsche Zeitung, 10.4.1995, S. 19. Süddeutsche Zeitung, 14.8.1996, S. 52. Süddeutsche Zeitung, 17.12.1999, S. 40; auch im folgenden Jahr eher friedlich: Süddeutsche Zeitung, 1.12.2000, S. 38. Zum Beispiel Süddeutsche Zeitung, 4.2.2006; Interview mit Gerald Asamoah mit heruntergespielten Emotionen: Süddeutsche Zeitung, 18.8.2007, S. 32. Schnittker, Revier-Derby, S. 194–198; Schulze-Marmeling, Ruhm; mit Chronologie bei Kisters, „Ruhrpott, Ruhrpott“, S. 45–59. Schulze-Marmeling, Ruhm, S. 318.

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Abb. 3: Borussia-Dortmund-Anhänger im Westfalenstadion (seit 2005: Signal Iduna Park). Aufnahme aus dem Jahr 1994 (Foto: Olaf Mahlstedt/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

die nicht recht laufen wollen. Positiv hieß es von Manager Assauer nach dem Arbeitssieg gegen Teneriffa auf dem Weg zum UEFA-Pokal: „Mit dieser ehrlichen Maloche schlägt man jede Mannschaft auf der Welt.“55

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Zit. nach Kisters, „Ruhrpott, Ruhrpott“, S. 54. Gerade der FC Schalke 04 wird gerne als „Polacken- und Proletenverein“ tituliert; vgl. Britta Lenz,. „Polen deutscher Fußballmeister“? Polnischsprachige Einwanderer im Revierfußball der Zwischenkriegszeit, in: Dietmar Dahlmann/Albert S. Kotowski/Kapus Zbigniew (Hg.), Schimanski, Kuzorra und andere. Polnische Einwanderer im Ruhrgebiet zwischen der Reichsgründung und dem Zweiten Weltkrieg, Essen 2005, S. 237-250.

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Abb. 4: Fanblock des Gelsenkirchener Fußballvereins Schalke 04 in der Schalke-Arena (seit 2005: VeltinsArena). Aufnahme aus dem Jahr 2004 (Foto: Siegbert Kozlowski/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

Zur sorgsam gepflegten Verbundenheit mit der Region und mit den Fans gehört mittlerweile eine auch kommerziell wohl lohnende Beschäftigung mit der Geschichte der Vereine. So leisten sich große Vereine wie Borussia Dortmund und der FC Schalke 04 Museen zur Vereinsgeschichte, die professionell gestaltet über Pokalsammlungen oder Raritätenkabinette weit hinausgehen. Zu Vereinsjubiläen erscheinen Geschichtsbücher, die immer professioneller geschrieben und gestaltet sind. Der Fußballsport bietet dabei zahlreiche Anlässe zur Legendenbildung, die wiederum das kollektive Gedächtnis der Fans und der Heimatregion der Vereine prägen und Verbundenheit erzeugen bzw. festigen.56 Natürlich sind diese schriftlichen, visuellen und musealen Selbstdarstellungen von der Liebe zum Verein geprägt, man drückt sich dabei aber auch nicht um Niederlagen, Krisen und politische Fehler wie etwa eine zu große Nähe zum NS-Regime herum. Ein nachdenklicher Kommentar der Süddeutschen Zeitung erfasste den schwierigen Balanceakt der beiden erfolgreichen Ruhrgebietsvereine zwischen der Tradition, der

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Hering, Land der tausend Derbys, S. 16.

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Anhängerschaft im Ruhrgebiet, dem Strukturwandel der Region und der (erfolgreichen) Professionalisierung der Fußballvereine: „Jetzt, wo Dortmunds Fußballer nicht mehr nach Pütt riechen, sondern sich in italienisches Tuch hüllen, kämpft Manager Meier gegen jeden, der seinen Klub dem Geldadel der Balltreter-Branche zurechnet. Gar nicht so einfach, so ein Strukturwandel. Denn ins Westfalenstadion kommen noch immer sehr viele Menschen, die einen Arbeitsplatz verteidigen, den unsere Dienstleistungsgesellschaft nur noch sehr ungern subventioniert. Wie Dortmund qualifizierte sich der FC Schalke für ein europäisches Halbfinale. Der Aufstieg von Libudas Enkeln zu internationalen Repräsentanten germanischer Fußballkunst ist einem bewundernswerten Teamspirit und niederländischer Trainerkunst (die Manager Assauer importierte) zu verdanken. Weiter nach oben geht es nur, wenn auch die Schalker aus der engen Welt ihrer Anhänger ausbrechen. Ihre Träume werden sie aber weiter bedienen müssen. Hoffentlich verkraftet der Mythos S 04 seinen Erfolg.“57 Im Medienzeitalter mit seinem durchkommerzialisierten Fußball haben die schwächeren Mannschaften des Ruhrgebiets gegenüber den professionalisierten Gelsenkirchenern und Dortmundern keine rechte Chance mehr. Diese Entwicklung ist nicht wirklich ruhrgebietstypisch, für den süddeutschen Blick eignet sich der Niedergang von Ruhrgebietsvereinen aber gut, um eine Parallelität mit dem Niedergang der Montanregion zu konstruieren − noch 2013 konnte man lesen: „Bochum, Ballspiel und Bergbau gehören zusammen. Doch der Bergbau ist dem Niedergang geweiht, und wie es dem VfL Bochum ergeht, werden die nächsten Wochen zeigen.“58 Solche Aussagen beruhen aber zum Teil auf Unkenntnis: Der Verein ist ein in der NS-Zeit geschaffenes Kunstprodukt aus einem alten Turnverein, einem bürgerlichen Fußballverein „der Schlipsträger“ und einem proletarisch geprägten Verein. Dem VfL Bochum fehlte entsprechend lange eine klare Identität (und der Erfolg);59 und die letzte Bochumer Zeche schloss 1973 (also vor vierzig Jahren!).60 Die eigentlichen Probleme des Vereins lagen wohl eher im schlechten Management und im Verlust an Basis und Breite insgesamt. Fazit: Fußballtradition und neues Ruhrgebiet Allerdings trägt man im Ruhrgebiet mit der etwas nostalgischen Selbstdarstellung immer wieder auch selbst dazu bei, das Vorurteil, „im Revier“ würden die „Briketts immer noch tief fliegen“, aufrechtzuerhalten.61 Die Vereine selbst knüpfen auch an das von 150 Jahren Montangeschichte geprägte Selbstbewusstsein der Ruhrgebietler und großer Teile ihrer Anhängerschaft an. Im Ruhrgebiet hat sich die vergangene Charakte57 58 59

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Süddeutsche Zeitung, 21.3.1997, S. 48; für Dortmund: Süddeutsche Zeitung, 11.3.2013, S. 23. Süddeutsche Zeitung, 25.2.2013, S. 28. Piorr, Der Pott ist rund, Bd. 2, S. 26–32; Henry Wahlig, „Anne Castroper“. 100 Jahre Fußball mitten in Bochum, Göttingen 2011. Süddeutsche Zeitung, 25.2.2013, S. 28: „Sie war’n das Ruhrgebiet“; im Beitrag können dann auch nur Erfolgsgeschichten genannt werden, die dreißig bis vierzig Jahre zurückliegen. Differenziert und korrekt: Süddeutsche Zeitung, 31.1.2007, „Glück auf!“ Ulrich Heinemann, Industriekultur: Vom Nutzen zum Nachteil für das Ruhrgebiet, in: Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur 2003, H. 1, S. 56–58.

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ristik der Region als Hochburg der schwerindustriellen Arbeiterschaft mit Geschichten aus der regionalen Fußballgeschichte verbunden und mit den Deutungen dieser Geschichten „verknäult“. Dabei herausgekommen ist die Vorstellung vom Arbeiterfußball im Ruhrgebiet, der es immer schwer hatte, sich auch gegen die vielen außersportlichen Widerstände durchzusetzen, womit das oft diffuse und erstaunlich unideologische Emanzipationsstreben der Arbeiterschaft bzw. der „kleinen Leute“ des Ruhrgebiets62 auch in den regionalen Fußballmythen „durchschimmert“. Solche Vorstellungen und Selbstbilder führen letztlich dazu, dass (nicht nur) der FC Schalke 04 und die Dortmunder Borussen bis in die Gegenwart trotz aller Kommerzialisierung und Globalisierung des Fußballsports eine Verbundenheit zwischen Verein, zusammengekaufter Mannschaft und unterschiedlichsten Fangruppen in Stadt und Region erhalten können. So reflektieren der Ruhrgebietsfußball bzw. seine großen Vereine den etwas verklärten Blick auf die Region und zeigen die Problematik regionalen Bewusstseins: Man weiß zwar woher man kommt, ist traditionsbewusst, kann aber schlecht sagen, wo die Region steht und noch schwerer, wohin sie will.63 So leistet man Beihilfe zum arroganten Blick auf das vom Niedergang der nur noch in Resten vorhandenen und im Falle der übrig gebliebenen Eisen- und Stahlindustrie recht florierenden Montanindustrie. Hier haben die Fußballvereine große Bedeutung für die Wahrnehmung und das Image ihrer Stadt und Region. Einer Stadt und Region kann also letztlich nicht völlig egal sein, wie sich der heimische Spitzensport präsentiert. Und auch dem Fußballverein kann es nicht gleichgültig sein, welches Image eine Stadt besitzt.64 Die Fußballvereine des Ruhrgebiets eignen sich besonders als Imagefaktoren der Region, ihr Wert als mögliches Instrument des Stadt- und Regionalmarketings wird aber kaum genutzt. Dabei könnten die erfolgreichen Fußballvereine des Ruhrgebiets sicherlich dazu beitragen, die Kunde von der durchaus erfolgreichen Bewältigung des Strukturwandels im Ruhrgebiet und vom „neuen Ruhrgebiet“ zu verbreiten.

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Zum Beispiel Bernd Faulenbach: Merkmale und Entwicklungslinien der politischen Kultur des Ruhrgebiets, in: Rainer Bovermann/Stefan Goch/Heinz-Jürgen Priamus (Hg.), Das Ruhrgebiet − Ein starkes Stück Nordrhein-Westfalen. Politik in der Region 1946–1996, Essen 1996, S. 3651–377. In der Süddeutsche Zeitung 25./26.5.2013 anlässlich des Champions-League-Finales FC Bayern – Borussia Dortmund fiel es dem Kabarettisten Fritz Eckenga im Interview schwer mitzuteilen, worauf Dortmunder stolz sein könnten. Zur „Ununterscheidbarkeit“ von Fußballverein und Stadt vgl. Süddeutsche Zeitung, 11.3.2013, S. 23.

Uwe Wick

„Der Roten Erde größte Stadt“ – Dortmund als westfälische Sportmetropole Bei einer Darstellung Dortmunds als Sportstadt in Westfalen sind drei Faktoren von besonderer Relevanz: die Erstellung repräsentativer Sportanlagen als Teilaufgabe kommunaler Baupolitik, die Bedeutung dieser Sportanlagen für das städtische Image und die Funktion solcher Anlagen für die lokale und regionale Identitätsstiftung. Dortmund ist ein gutes Beispiel für die kontinuierliche Fortentwicklung repräsentativer kommunaler Sportanlagen seit den 1920er Jahren. Diese begann in Dortmund mit der Schaffung des Volksparks, zu dem − typischerweise für die Weimarer Republik − ein zentrales Stadion, ungewöhnlich für diese Zeit auch eine große Halle für Sportveranstaltungen gehörte. Der erste Schwerpunkt dieses Aufsatzes liegt auf der Anfangsphase dieser repräsentativen Anlage, stellt den Baumeister Hans Strobel vor, ohne den diese Anlage wohl nie in dieser Form und in diesem Stadtgebiet realisiert worden wäre, beschreibt Stadion und Halle näher, widmet sich dann der Terminologie und der Funktionalität der Sportanlage. Interessant ist, dass Dortmund bei dieser repräsentativen Sportanlage immer wieder deutlich macht, dass sich die Stadt als Teil Westfalens sieht und als größte westfälische Stadt versteht und damit natürlich auch die westfälische Sportmetropole sein will. Das ist für den Bereich des Sports noch einmal besonders zu betonen, weil durch die mediale Omnipräsenz des Fußballs in Deutschland sportlich eher ein anderes Bild vermittelt wird. Hier spielt Dortmunds städtischer Repräsentationsverein BV Borussia 09 Dortmund ein vermeintlich „ewiges Revierderby“, das eigentlich als Westfalenderby begann, mit dem Gelsenkirchener Konkurrenzklub Schalke 04 aus.1 Erschwerend für die Wahrnehmung als westfälische Sportmetropole kommt hinzu, dass die Borussia seit Ende 2005 ihre Heimspiele nicht mehr im Westfalenstadion, sondern im Signal Iduna Park austrägt. Also ausgerechnet in der heute populärsten Sportart gelingt es Dortmund anscheinend nicht mehr, sich erfolgreich als westfälische Sportmetropole darzustellen. Dabei soll natürlich nicht geleugnet werden, dass man Dortmund – auch in sportlicher Hinsicht – als Teil des Ruhrgebiets betrachten kann und muss. Dortmund hat sich natürlich auch an sportlichen Initiativen und Ereignissen des Ruhrgebiets beteiligt – wie z. B. 1

Das Derby wird in diesem Aufsatz nicht eigens thematisiert. Einen guten Überblick über die Entwicklung der einzelnen Spiele seit 1925 liefert Gregor Schnittker, Revier-Derby. Schalke 04 – Borussia Dortmund. Die Geschichte einer Rivalität, Göttingen 2011; die besondere Bedeutung des Fußballs für die Region behandelt auch Andreas Luh, „Wir sind die Ruhrpott-Kanaken“ – Fußball und Identität im Ruhrgebiet 1920–2000, in: Arnd Krüger/Wolfgang Buss (Hg.), Transformationen: Kontinuitäten und Veränderungen in der Sportgeschichte, Hoya 2002, S. 203–212; Uwe Wick, Sportregion Ruhrgebiet – ein Beispiel für regionale Identitätsstiftung durch Sport? in: Roland Naul/Arnd Krüger/Werner Schmidt (Hg.), Kulturen des Jugendsports. Bildung, Erziehung und Gesundheit, Aachen 2009, S. 191–242, bes. S. 224–233 (mit weiterer Literatur).

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an der Ruhr-Olympiade oder der gescheiterten Olympiabewerbung des Ruhrgebiets.2 Aber es ist schon auffallend, wie sehr sich Dortmund auch im sportlichen Bereich bemüht, als „die“ westfälische Metropole wahrgenommen zu werden. Den zweiten Schwerpunkt des Beitrags bildet die Entwicklung der Sportstadt Dortmund seit 1945 unter besonderer Berücksichtigung der weiteren Entwicklung des Stadions Rote Erde, der Funktion der neuen Westfalenhalle und der Erweiterung um zusätzliche Hallen, der Errichtung des Westfalenstadions für die Fußball-Weltmeisterschaft 1974 und dessen fortgesetzten Ausbaus bis zur Fußball-Weltmeisterschaft 2006. Der Baumeister Hans Strobel Zwischen 1925 und 1927 schuf Dortmund mit der Einweihung der Alten Westfalenhalle,3 mit der Kampfbahn Rote Erde und der Schwimmbahn Volkspark die Basis für seine heutigen repräsentativen Sportanlagen. Einerseits handelte es sich hier in den Grundzügen um die Realisierung der Volksparkidee, die zu jener Zeit auch in anderen Städten umgesetzt wurde, andererseits wurde mit der Alten Westfalenhalle ein Element hinzugefügt, das ursprünglich nicht dazugehörte, nicht als reine Sportstätte geplant war, aber der Sportstadt Dortmund eine besondere Note verlieh. Dass das Dortmunder Sportareal in dieser Form realisiert wurde, ist vor allen Dingen einem Mann zu verdanken: Hans Strobel, nach dem später die Strobelallee benannt wurde. Heute sind an der Strobelallee die Westfalenhallen Dortmund GmbH (Nr. 45) und der Signal Iduna Park (Nr. 50) beheimatet. Unter der letzten Hausnummer findet man auch die Gaststätte Rote Erde, liegt doch das traditionsreiche Stadion Rote Erde inzwischen unmittelbar im erdrückenden Schatten des ehemaligen Westfalenstadions, das in der vorerst letzten Ausbaustufe mit einer Kapazität von knapp über 80.000 Zuschauern das größte Fußballstadion Deutschlands ist. Hans Strobel (1881-1953),4 der an der TU München Architektur studiert hatte, begann seine berufliche Laufbahn in einem Bremer Architekturbüro, bevor er als Angestellter in kommunalen Bauverwaltungen – zunächst in Bremen (1908-1910), dann in Leipzig (1910-1914) – arbeitete. Dort war er jeweils mit Fragen der Stadterweiterung beschäftigt. Nachdem er zuletzt schon in Leipzig in leitender Funktion tätig war, wechselte er im Oktober 1914 nach Dortmund. Von 1915 bis 1927 war er als Dezernent für Stadterweiterung in der Stadtverwaltung tätig. Nachdem seine Stelle gestrichen worden war, arbeitete er seit November 1927 als freiberuflicher Architekt und Stadtplaner in 2 3

4

Vgl. dazu Wick, Sportregion Ruhrgebiet, S. 204–222. In Dortmund ist es geläufig, zur Unterscheidung von der heutigen Großen Westfalenhalle die Westfalenhalle von 1925 als Alte Westfalenhalle zu bezeichnen. Diese Begrifflichkeit wird hier übernommen. Zu Person und Tätigkeit von Hans Strobel vgl. auch Renate Kastorff-Viehmann/Yasemin Utku, Stadtbaurat Hans Strobel. Dortmund, Dortmund 1998; Renate Kastorff-Viehmann/Ursula von Petz/Manfred Walz, Stadtentwicklung Dortmund: Die moderne Industriestadt 1918-1946. Standortsicherung der Industrie, Wohnungsbau, Stadtplanung, Dortmund 1995, bes. S. 89–114; 167–174; 299–303; Renate Kastorff-Viehmann, „Vier Städte“. Provinzstadt und moderne Großstadt, halbländliche industrielle Region und moderne Industriestadt – das alles war Dortmund! in: Die 1920er Jahre. Dortmund zwischen Moderne und Krise. Sonderausgabe der Zeitschrift „Heimat Dortmund“ (Doppelheft 1–2/2012), S. 17–25.

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Dortmund. Nach langer Krankheit ist er 1953 in Dortmund gestorben. Strobel, der in seiner Funktion viel zur Entwicklung Dortmunds zur Großstadt beigetragen hat, war durchaus nicht unumstritten.5 Er war zwar nicht Mitglied der SPD, stand der Partei aber nahe. Das spielte sowohl bei der Umsetzung des Volksparkkonzeptes als auch – zumindest indirekt – bei seiner durch die Stellenstreichung bedingten Entlassung aus städtischen Diensten eine Rolle.6 Wie wichtig Hans Strobel für die Modernisierung Dortmunds in den Jahren zwischen 1918 und 1927 war und welche Ziele er mit seiner Arbeit verband, belegen folgende Zitate: „Für die Dortmunder schien er vor allem Mitte der 20er Jahre der Dreh- und Angelpunkt für alle Veränderungen im Stadtgefüge. ..., so zeigt sich, daß er, der Dezernent für Stadterweiterung in Dortmund, sich mehr über Architekturen denn über Bebauungspläne definierte; daß er viel lieber Gebäude und Stadträume entwarf, als sich mit der Stadt als funktionalem Gefüge auseinanderzusetzen. ... Hans Strobel wollte die Stadt als Ganzes formen und widersetzte sich bloß wirtschaftlich oder gar spekulativ begründeten Interessen in der Stadtentwicklung.“7 Dabei war Strobel wohl kein Protagonist moderner Stadtplanung. „Aber er baute für die neue Gesellschaft in der Weimarer Republik. Sein ,Thema‘ war die sozial befriedete Stadt.“8 Die Dortmunder Städtebauhistorikerinnen Renate Kastorff-Viehmann und Yasemin Utku gehen davon aus, „daß Hans Strobel die Jahre nach dem 1. Weltkrieg wirklich als eine Phase betrachtete, nach deren Abschluß man wieder an die fortschrittlichen Entwicklungen im Kaiserreich anknüpfen konnte“.9 Aus heutiger Sicht betrachtet steht sein Werk „für den idealistisch fundierten Versuch, Strukturen und Bilder der Vergangenheit in die damalige Gegenwart der wachsenden Industriestadt zu transportieren; in gewisser Weise für eine andauernde Vergegenwärtigung von Tradition, Bildung und Einfühlung“.10 Der Volkspark – mehr als nur ein Stadion11 Am 24. März 1924 beschloss der Rat der Stadt Dortmund, die „Kleingartendaueranlage und Spiel- und Sportplätze im Volksgartengelände hinter dem Steinernen Turm“12 zu realisieren. Am 1. April konnten die Arbeiten für die Kleingartendaueranlage beginnen, 5

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Vgl. dazu besonders die Ausführungen „Die Planer und Städtebauer“ bei Karstorff-Viehmann/von Petz/ Walz, Stadtentwicklung Dortmund, S. 299–309. Vgl. ebd., S. 301; Kastorff-Viehmann/Utku, Strobel, S. 14, 113–120. Kastorff-Viehmann/ Utku, Strobel, S. 9. Ebd., S. 10. Ebd., S. 11. Ebd., S. 12. Ebd., S. 128. Am zuverlässigsten, auch für die Beschreibung der Details, erscheinen die beiden Aufsätze, die Strobel selbst über die Kampfbahn veröffentlicht hat: Hans Strobel, Die Dortmunder Kampfbahn „Rote Erde“, in: Bauwelt 33 (1926), S. 1–8; ders., Die Kampfbahn /Rote Erde/ im Dortmunder Volkspark, in: Stadt Dortmund (Hg.), Zur Einweihung der Dortmunder Kampfbahn Rote Erde, Dortmund 1926, S. 10–33; vgl. auch Gerd Kolbe, Rote Erde. Geschichte und Geschichten, in: Stadt Dortmund (Hg.), Treffpunkt Dortmund. Festschrift 50 Jahre Stadion Rote Erde. Pfingstsonntag, 6. Juni 1976, Dortmund 1976, S. 9; zum Folgenden auch S. 8–10.

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die schon im Sommer des Jahres eröffnet wurde. Anschließend begannen die Arbeiten an der Kampfbahn Rote Erde, die am 1. Juni 1926 abgeschlossen wurden. Durch die Kombination mit einer Kleingartenanlage und einer großzügigen Auslegung der entsprechenden Verordnungen durch die Stadt Dortmund konnte das gesamte Projekt, zu dem auch noch zwei Nebenplätze gehörten, als staatlich geförderte Notstandsmaßnahme durchgeführt werden. Die aus Ruhrsandstein erbaute Kampfbahn Rote Erde selbst bot neben 2.300 überdachten Sitzplätzen auf der steinernen Tribüne noch ca. 33.000 weiteren Zuschauern auf den Stehrängen Platz, die nicht überdacht waren.13 Gegenüber der Tribüne befand sich ein Musikpavillon, im Süden lag das Marathontor. Neben dem Spielfeld besaß die Kampfbahn eine Laufbahn und weitere leichtathletische Einrichtungen. Die Kampfbahn verfügte neben Umkleidekabine und Garderoben über Verwaltungs-, Wärter- und Geräteräume, Räume für Spielleiter, Post und Presse, besaß Konferenzzimmer, eine Gaststätte und natürlich öffentliche Toiletten. Schon 1928 wurde die Kapazität der Stehränge um einige tausend Besucher erhöht, indem man durch Einbau einer Steinkante die Breite der Doppelstehreihen verringerte (Abb. 1).14 Noch vor der Eröffnung hatte die Stadt Dortmund die großen Sportverbände kontaktiert, darunter auch den Deutschen Fußball-Bund (DFB) und den für die Rheinprovinz und Westfalen zuständigen DFB-Landesverband, den Westdeutschen Spielverband, um die Verbände zu bewegen, Tagungen oder Wettkämpfe nach Dortmund zu verlegen.15 Die Versuche blieben vergeblich, so dass die Eröffnungsfeier in Form einer Sportwoche vom 6. bis 13. Juni durchgeführt wurde, organisiert von den lokalen Sportverbänden. Genutzt wurden auch andere Sportstätten der Stadt.16 Letztlich war es eine doppelte Eröffnungsfeier der Kampfbahn Rote Erde. Am 6. Juni durften die sogenannten „bürgerlichen“ Sportverbände, organisiert im Stadtverband für Leibesübungen, die Stadioneinweihung begehen, am 13. Juni folgte die Einweihung durch das örtliche Arbeiter-Sportkartell. Obwohl im Rahmen der ersten Eröffnung ein Fußballspiel zwischen einer Dortmunder Stadtauswahl und Wacker München (Endergebnis: 1:11) ausgetragen wurde, hielten sich die Zuschauerzahlen – wohl auch wegen des regnerischen Wetters – im bescheidenen Rahmen, lediglich 8.000 Zuschauer waren im Stadion. Das Arbeiter-

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Vgl. zum Folgenden neben Strobel, Dortmunder Kampfbahn, S. 4–6 auch ders., Dortmunder Volkspark, S. 26–30; Kolbe, Rote Erde, S. 9–11; Dietrich Schulze-Marmeling, Stadion „Rote Erde“. Eine typische deutsche Kampfbahn, in: Werner Skrentny (Hg.), Das große Buch der deutschen Fußballstadien, Göttingen 2001, S. 87–88; Gerd Kolbe/Dietrich Schulze-Marmeling, Westfalenstadion. Die Geschichte einer Fußballbühne, Göttingen 2004, S. 15–17; Christian Kleinschmidt, Die „Kampfbahn Rote Erde“, in: Industrie-Kultur 2000, H. 3, S. 8–10; ders., Die „Kampfbahn Rote Erde“ und die Dortmunder Volkspark-Anlage. Fußball und Städtebau in den 1920er Jahren. in: Anstoß. Streifzüge durch die Geschichte des Revierfußballs (Heimat Dortmund 1/2006), S. 23–24. Vgl. Kolbe, Rote Erde, S. 16. Vgl. Stadtarchiv Dortmund (StdA Do), Akte 3, 2392. Vgl. Programm der Einweihung der Dortmunder Kampfbahn Rote Erde und der Dortmunder Sport- und Werbe-Woche, StdA Do, Akte 3, 2392; abgedruckt auch in Stadt Dortmund (Hg.), Kampfbahn Rote Erde, S. 4–9; vgl. auch zum Folgenden Kolbe, Rote Erde, S. 13–15; Kolbe/Schulze-Marmeling, Westfalenstadion, S. 18; Günther Högl, Die Troika der Massenkultur. Der Dortmunder Volkspark: Westfalenhalle – Stadion Rote Erde – Volksbad, in: Die 1920er Jahre, S. 92–98.

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Abb. 1: Ansicht der Kampfbahn Rote Erde, links die Tribüne. Postkarte aus dem Jahr 1926 (LWL-Industriemuseum Dortmund, Sammlung historischer Ansichtskarten)

Sportkartell bot bei seinen Vorführungen eine Woche später schon 8.000 aktive Teilnehmer auf, die ihre Vorführungen, darunter eine lebende Schachpartie, vor einer Kulisse von 30.000 Besuchern absolvierten. Zum Zeitpunkt der Eröffnung der Kampfbahn war die Baugrube für die Schwimmbahn Volkspark schon ausgehoben. Ein Jahr später, am 17. Juli 1927, konnte auch das Schwimmbad eröffnet werden.17 Die Stadt Dortmund hatte im Vorfeld Kontakt zum Deutschen Schwimm-Verband aufgenommen, dessen Gau- und Kreisvertreter bei einer Besichtigung am 23. April 1927 das Schwimmbad in den höchsten Tönen lobten.18 Im Gegensatz zu schon existierenden Dortmunder Freibädern betonte die deutlich größere Schwimmbahn Volkspark, für die sich später der Name Volksbad einbürgerte, mehr den Wettkampfaspekt.19 Eine Besonderheit bildete das Extrabecken für das Wasserspringen.

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Vgl. Festliche Einweihung der Schwimmbahn „Volkspark“, in: Dortmunder General-Anzeiger vom 13.7.1927 (StdA Do, Akte 3, 2395). Vgl. Besichtigung des neuen Dortmunder Schwimmstadions durch den Deutschen Schwimmverband, in: Dortmunder Zeitung vom 25.4.1927 (StdA Do, Akte 3, 2395). Vgl. Högl, Troika, S. 98; Ralf Ebert unter Mitarbeit von Michael Schneider, Das Dortmunder VolksparkKonzept: Mehr Sportanlage als Volkspark? in: Gisela Framke (Hg.), 8 Stunden sind kein Tag. Freizeit und Vergnügen in Dortmund 1870-1939, Heidelberg 1993, S. 157.

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Bei der Einweihung der Schwimmbahn war Strobel noch im Amt, die weitere Vollendung des Volksparkkonzeptes, z. B. die geplanten Bauten für das Licht- und Luftbad, wurden allerdings nicht mehr unter seiner Leitung ausgeführt. Die Alte Westfalenhalle Wenden wir uns nun der Alten Westfalenhalle zu, die schon 1925 eröffnet werden konnte, ursprünglich aber aus anderen Gründen geplant wurde und an einem anderen Ort gebaut werden sollte. Für Strobel gehörte sie zu seinem Volksparkkonzept: „Nach mehreren Besprechungen mit den Vertretern der beteiligten Kreise, insbesondere der Turn- und Sportvereine, nach der Besichtigung und dem eingehenden Studium auswärtiger neuzeitlicher Stadionanlagen und nach mehrmaligen Umänderungen und Ergänzungen erhielt das Projekt die vorstehend abgebildete Gestalt. Es umfaßt: a) eine große Kampfbahn mit allen erforderlichen Nebenanlagen nebst Erweiterungsgelände, b) zwei große Übungs- und Aufstellungsfelder, c) eine Schwimmbahn, d) Luft- und Lichtbad, e) Kleingartendaueranlage, Volkswiese und Ausstellungsgelände und Stadthalle. Früher als erwartet, ist die Ecke Hindenburgdamm und Hohe Straße geplante ,Fest- und Ausstellungshalle‘ als Westfalenhalle mit erweiterter Zweckbestimmung zur Ausführung gekommen.“20 Strobel gab selbst zu, dass er für eine „Versportlichung“ der ursprünglichen Pläne und für den jetzigen Standort gekämpft habe, um die Halle mit dem Volksparkkonzept zu verbinden – mit für ihn vorbildlichem Ergebnis: „Größte und wohl auch schönste Holzhalle, wohl auch größte wettersichere Sportarena Deutschlands, thront heute die Westfalenhalle auf dem höchsten und zugleich stadtnächsten Punkte des vorbeschriebenen Geländes als Krone des ,Dortmunder Volksparkes‘, dessen Herz die Kampfbahn ,Rote Erde‘ ist.“21 Die Dortmunder Pläne für eine große Ausstellungshalle gingen ursprünglich auf Strobel zurück, der sich dazu schon 1916 geäußert hatte.22 Infolge der hohen Kriegslasten wurde das Projekt zunächst nicht weiter verfolgt. Erst 1922 konkretisierten sich erneut Pläne zur Einrichtung einer solchen Halle, mit der sich Dortmund als möglicher Standort für die alljährliche Körung der Zuchthengste Westfalens ins Spiel bringen wollte. Vorangetrieben wurden die Pläne vor allen Dingen von Stadtrat Dr. Eduard Cremer. Die damalige öffentliche Diskussion in Dortmund zeigt, dass das Großprojekt nicht unumstritten war, die Zielsetzung bis Anfang 1925 dabei immer noch auf eine Messe- und Ausstellungshalle mit hauptsächlich landwirtschaftlich-industrieller Nutzung gerichtet 20 21 22

Strobel, Dortmunder Kampfbahn, S. 3; ähnlich ders., Dortmunder Volkspark, S. 20–22. Strobel, Dortmunder Kampfbahn, S. 4; ähnlich ders., Dortmunder Volkspark, S. 22–24. Vgl. auch zum Folgenden: Michael Tiermann, Die alte Westfalenhalle, in: Framke (Hg.), 8 Stunden, S. 131– 141; Westfallenhalle GmbH Dortmund (Hg.), 1925–1975: 50 Jahre Westfalenhalle. Ihre Geschichte und die Geschichten am Rande, Dortmund 1975, S. 9; Westfalenhallen Dortmund GmbH (Hg.), Westfalenhallen Dortmund. Die Chronik, Dortmund 2000, S. 10–23; Högl, Troika, S. 95–97.

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war. Erst Strobels Beschwerde über den ursprünglichen Standort am 7. Februar 1925 setzte eine erneute Diskussion in Gang, die am 26. März dazu führte, dass man sich für den Standort in der Nähe des im Entstehen begriffenen Volksparks entschied. Mit diesem Wechsel war auch eine Neuausrichtung des Veranstaltungsprogramms verbunden, das nun mehr in Richtung Show- und Sportveranstaltungen ging. So heißt es auch zum Zweck der 1925 gegründeten Westfalenhalle AG Dortmund: „Deutschen Sport in allen seinen Zweigen zu pflegen u[nd] zu fördern u[nd] zu diesem Zwecke Darbietungen zu veranstalten, welche die Befriedig[ung] des Bedürfnisses nach körperlicher Ertüchtig[ung] u[nd] nach Erhol[ung] dienen.“23 In Rekordzeit wurde nun gebaut.24 Die architektonische Leitung seitens der Stadt lag bei Dr. Friedrich Wilhelm Heinrich Delfs, der seit 1922 als Baurat in Dortmund tätig war und im April 1925 zum Stadtbaurat für Hochbau gewählt wurde.25 Die frei tragende Halle, damals die größte ihrer Art in Europa, konnte am 28. November 1925 nach nur halbjähriger Bauzeit eröffnet werden. Schon einige Wochen vor der Eröffnung, am 11. November 1925, konnte die gewünschte westfälische Hengstekörung durchgeführt werden. Die Alte Westfalenhalle bestand aus steinernen Umfassungsmauern bis zur Höhe des ersten Stockwerks, darüber eine Halle aus Holz und Glas mit sechs weit geschwungenen Bögen aus zusammengepressten Balken, die das Glasdach trugen.26 Der besondere Clou der Halle bestand in einer 200 Meter langen Radrennbahn, die innerhalb von 24 Stunden montierbar war. Die Zuschauerkapazität lag bei 5.800 Sitzplätzen und 2.500 Stehplätzen. Die Halle war für ihre Zeit innovativ, weil sie eben nicht nur zur Durchführung von Sportveranstaltungen diente, sondern auch für Unterhaltungsdarbietungen, Ausstellungen und Messen genutzt werden konnte. Sie wurde unter großer Beteiligung der lokalen Sportverbände und -vereine eröffnet, die ein umfangreiches sportliches Schauprogramm boten.27

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Abgedruckt in Westfalenhallen Dortmund GmbH (Hg.), Chronik, S. 25; vgl. auch Westfallenhalle GmbH Dortmund (Hg.), 50 Jahre, S. 9. Vgl. zum Folgenden: Westfalenhallen Dortmund GmbH (Hg.), Chronik, S. 27–34. Zu Delfs’ Biografie vgl. Kastorff-Viehmann/von Petz/Walz, Stadtentwicklung Dortmund, S. 310–311. Delfs ist aus zwei Gründen interessant: Einerseits zählte ihn Strobel zu seinen Konkurrenten, die Anteil an seiner Entlassung hatten (vgl. Kastorff-Viehmann/Utku, Strobel, S. 118–119); andererseits war Delfs, der 1937 als Stadtbaurat aus städtischen Diensten ausschied, im Mai 1945 wieder als Technischer Beigeordneter bei der Stadt Dortmund angestellt worden und auch am Neubau der Großen Westfalenhalle beteiligt (vgl. Westfalenhallen Dortmund GmbH (Hg.), Chronik, S. 153, 158; Westfallenhalle GmbH Dortmund (Hg.), 50 Jahre, S. 11). Zur Beschreibung vgl. auch Hans Ost, Die Westfalenhalle als zentrale Sportstätte Dortmunds, in: Sportstadt Dortmund (Heimat Dortmund 1/1998), S. 16. Einweihungsfeier der Westfalenhalle zu Dortmund. 28. November 1925, Dortmund 1925, S. 9–12; Westfalenhallen Dortmund GmbH (Hg.), Chronik, S. 36; Westfallenhalle GmbH Dortmund (Hg.), 50 Jahre, S. 9–11.

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Zur Terminologie und Funktionalität des Dortmunder Volksparks Bei der Namensgebung merkt man deutlich, dass Dortmund seine Lage in Westfalen berücksichtigte, verbunden mit dem Anspruch, die westfälische Metropole – auch im Sport – zu sein. „Die Westfalenhalle – Westfalens Stolz“ lautet der Titel der Hallenbeschreibung in der Festschrift zur Einweihung der Alten Westfalenhalle.28 Der Name für die Kampfbahn Rote Erde – Strobel selbst benutzte teilweise noch die alte Schreibweise Rothe Erde – leitet sich einerseits vom alten Namen für Westfalen ab, wird gleichzeitig aber auch benutzt, um Dortmunds Zugehörigkeit zum Industriegebiet zu beschreiben und auf die besonderen Bedürfnisse der dort lebenden Menschen im Hinblick auf Erholungsflächen zu verweisen.29 Strobel, der sich selbst sehr detailliert zu den Intentionen des Volksparks äußerte,30 formulierte es so: „Der Roten Erde größte Stadt ist Dortmund. Sie hatte aber für die Austragung bedeutender Wettspiele und größerer Veranstaltungen, die zur Aneiferung unbedingt nötigen, geeigneten Anlagen bisher nicht zur Verfügung.“31 Damit postulierte er nicht nur den Anspruch Dortmunds als westfälische Metropole, sondern formulierte auch die besondere Ambition des Volksparks: Er sollte Dortmund in die Lage versetzen, Austragungsort für größere sportliche Veranstaltungen zu sein. Damit wurde das ursprüngliche Volksparkkonzept umgedeutet.32 Im Dortmunder Süden entstand eine neue Freizeitanlage, die sich von den Anlagen im proletarisch geprägten Dortmunder Norden unterschied (Abb. 2).33 Mit seinem Volkspark blieb Dortmund nicht einzigartig, bot aber ein gutes Beispiel für den Bau repräsentativer Sportanlagen in der Weimarer Republik. Der Sport wurde damals in zweierlei Hinsicht zum Volkssport: Einerseits stiegen die Mitgliederzahlen in den Vereinen rapide an, weil viele Menschen aktiv Sport treiben wollten, andererseits wollten immer mehr Menschen bei sportlichen Spitzenveranstaltungen dabei sein. Das galt sowohl für Hallensportveranstaltungen wie Radrennen und Boxen als auch für leichtathletische Events und Fußballspiele im Rahmen von Endrunden um regionale Meisterschaften und um die Deutsche Meisterschaft sowie für Freundschaftsspiele gegen lukrative deutsche und ausländische Spitzenklubs. Die meisten Städte entdeckten in dieser Zeit den Sport als kommunale Aufgabe für sich. Dabei ging es einerseits um einen breit angelegten Bau von kleineren Sportstätten, um eine sportliche Grundversorgung auch in den Stadtteilen zu gewährleisten, andererseits um den Bau einer zentralen repräsentativen Sportanlage, die auch für größere sportliche Ereignisse genutzt werden konnte. Im Mittelpunkt stand dabei zumeist ein großes Stadion für Fußball und Leicht-

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M.N., Die Westfalenhalle – Westfalens Stolz, in: Einweihungsfeier, S. 3–8. Zur Semantik und Etymologie des Begriffs Ro(h)te Erde, auch zum Vorkommen des Namens außerhalb Westfalens, vgl. Michael Käding, Rot(h)e Erden, in: Paul Thomes (Hg.), Rohstoffbasis und Absatzmarkt. Die Schwerindustrie des Großherzogtums Luxemburg und das Aachener Revier, Aachen 2005, S. 13–20. Vgl. Strobel, Dortmunder Kampfbahn, S. 1–2; ders., Dortmunder Volkspark, S. 10–12. Strobel, Dortmunder Kampfbahn, S. 2. Vgl. dazu ausführlich Ebert, Dortmunder Volkspark-Konzept, S. 153–161. Vgl. dazu Tiemann, Alte Westfalenhalle, S. 132.

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Abb. 2: „Herz“ und „Krone“ des Volksparks: Postkarte mit Ansicht der Kampfbahn Rote Erde während eines Fußballspiels im Jahre 1930, im Hintergrund die Alte Westfalenhalle (LWL-Industriemuseum Dortmund, Sammlung historischer Ansichtskarten)

athletik, häufig Kampfbahn genannt, ergänzt um mehrere Sportstätten für die Austragung von Wettkämpfen in anderen Sportarten.34

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Vgl. zum Folgenden: Axel Heimsoth, Bauten der Leidenschaft – Volksparks und Kampfbahnen, in: FranzJosef Brüggemeier/Ulrich Borsdorf/Jürg Steiner (Hg.), Der Ball ist rund. Katalog zur Fußballausstellung im Gasometer Oberhausen im CentrO. anlässlich des 100-jährigen Bestehens des Deutschen Fußball-Bundes, Essen 2000, S. 134–141; Werner Skrentny, „In der Ehrenloge müssen Störungen vermieden werden“. Zur Geschichte der deutschen Stadien – Einleitung, in: ders. (Hg.), Fußballstadien, Göttingen 2001, S. 9–12; Erik Eggers, Fußball in der Weimarer Republik, Kassel 2001, S. 130–137; zu den Stadien im Ruhrgebiet auch Hartmut Hering, Fußballstadien im Ruhrgebiet. Von der Kampfbahn zur Arena, in: ders. (Hg.), Im Land der tausend Derbys. Die Fußball-Geschichte des Ruhrgebiets, Göttingen 2002, S. 382–392; Hartmut Hering/Uwe Wick, Großstadien und Kampfbahnen. Stadionlandschaft Ruhrgebiet (ca. 1920–1945), in: Fußball- und Leichtathletik-Verband Westfalen/Willibald Gebhardt Institut (Hg.), Fußballregion Ruhrgebiet. Katalog zur Ausstellung, Göttingen 2005, S. 217–224; Uwe Wick, Sportregion Ruhrgebiet, S. 198–199.

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Bekannte Beispiele aus Nordrhein-Westfalen bilden der heutige Sportpark Wedau (eingeweiht 1926),35 das Rheinstadion in Düsseldorf (eingeweiht 1926) und das Müngersdorfer Stadion in Köln (eingeweiht 1923). In einigen Städten bauten auch Vereine eigene Stadien, teilweise mit städtischen Bürgschaften oder Zuschüssen abgesichert, die dann auch von den Kommunen für andere Veranstaltungen angemietet wurden. Dazu zählen in Westfalen das Stadion Alm von Arminia Bielefeld und das Preußen-Stadion von Preußen Münster (beide 1926 eingeweiht), im Ruhrgebiet die Glückaufkampfbahn von Schalke 04 in Gelsenkirchen (eingeweiht 1928) und das Stadion Am Uhlenkrug von Schwarz-Weiß Essen.36 Die Stadt Essen war zwar bereits 1924 mit einer großzügig geplanten repräsentativen Sportanlage in die Öffentlichkeit gegangen, realisiert wurde das Stadion letztlich erst zum Deutschen Turnfest 1963 in Essen, womit Essen im Vergleich zu Dortmund eher ein Negativbeispiel für die Entwicklung einer repräsentativen kommunalen Sportanlage darstellt.37 Die Realisierung so vieler Großstadien bedeutete natürlich auch, dass die entsprechenden Städte um sportliche Großveranstaltungen konkurrierten. Wie schlug sich der Dortmunder Volkspark in diesem Umfeld? Die innovative Alte Westfalenhalle wurde bestens angenommen: Boxveranstaltungen und Radrennen, besonders die populären Sechstagerennen, machten die Halle zu einem Publikumsmagneten.38 Sie war dabei nicht nur von lokaler, sondern auch von regionaler und überregionaler Bedeutung, erfüllte also den mit ihrem Namen verbundenen Anspruch. Neben sportlichen Events wurde die Halle allerdings von Beginn an auch für andere Veranstaltungen genutzt: Es fanden regelmäßig gewerbliche und kulturelle Veranstaltungen statt, es wurden Ausstellungen und Messen durchgeführt, Kongresse und Tagungen organisiert.39 Auch das Volksbad wurde von der Dortmunder Bevölkerung sehr gut angenommen, erreichte aber als Wettkampfstätte selten eine überregionale Bedeutung. Immerhin war es so beliebt, dass an machen Sommertagen wegen Überfül35

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Das Stadion selbst wurde schon seit 1922 für größere Veranstaltungen genutzt, das Wedaustadion ist nach dem für die – dann wegen des Ersten Weltkriegs ausgefallenen – Olympischen Spiele 1916 in Berlin errichteten Deutschen Stadion von 1913 das erste kommunale Stadion in Deutschland gewesen (zum Wedaustadion vgl. Hermann Kewitz, Als ein Stück Tradition fiel: Abschied vom Wedau-Stadion, in: Duisburger Jahrbuch 2005, S. 54–62; Werner Skrentny, Wedau-Stadion. Tribünenbau erst nach 44 Jahren, in: ders. (Hg.), Fußballstadien, S. 101–103; zum Deutschen Stadion vgl. Volker Kluge, Olympiastadion Berlin. Steine beginnen zu reden, Berlin 1999, S. 32–47). Der heutige Sportpark Wedau und dessen Lage im Stadtgebiet zeigen durchaus Parallelen zum Dortmunder Volkspark. Auch in der weiteren Entwicklung gibt es durchaus Ähnlichkeiten. Beide Städte sind auf jeden Fall heute die profiliertesten Sportstädte des Ruhrgebiets, weil Anfänge in den 1920er Jahren kontinuierlich fortentwickelt wurden (vgl. Wick, Sportregion Ruhrgebiet, in: Naul/Krüger/Schmidt, Kulturen, S. 198–199). Die wichtigsten Angaben zu den hier aufgezählten kommunalen und vereinseigenen Stadien findet man in den alphabetisch nach Städten geordneten Beiträgen in: Skrentny, Fußballstadien. Vgl. dazu Winfried Timmler/Uwe Wick, Essener Sportbund. 75 Jahre Selbstorganisation des Essener Sports, hg. vom Essener Sportbund e. V. in Verbindung mit dem Willibald Gebhardt Institut e. V., Essen 1996, S. 52– 53, 145–151; Uwe Wick/Georg Schrepper, An der Hafenstraße RWE! Die Geschichte des Georg-MelchesStadions, Göttingen 2011, S. 20, 32, 47, 94–95, 174–175. Vgl. dazu Uwe Wick, Der Begriff „Kampf“ im Sport – die alte Westfalenhalle als Wettkampfstätte für Radsport und Boxen, in: Forum Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur 2/2006, S. 64–68; Ost, Westfalenhalle, in: Sportstadt Dortmund, S. 16–18; Westfalenhallen Dortmund GmbH (Hg.), Chronik, S. 49–101. Einen guten Überblick über dieses Programm findet sich in: Westfalenhallen Dortmund GmbH (Hg.), Chronik, S. 102–129.

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lung die Kassenhäuser schließen mussten.40 Unter Breitensportgesichtspunkten und unter volksgesundheitlichen Aspekten betrachtet, erfüllte es also auch seinen Zweck. Schwieriger ist der Erfolg der Kampfbahn Rote Erde zu beurteilen. Der älteste Dortmunder Fußballklub, der Dortmunder SC 95, durfte im Ausgleich dafür, dass für den Stadionbau seine dort gelegene vereinseigene Sportanlage geopfert werden musste, die Kampfbahn für seine verschiedenen Mannschaften nutzen.41 Zumeist wurden nur die Nebenflächen vom Verein in Anspruch genommen, um die Rasenfläche des Hauptfeldes zu schonen.42 Weder der DSC 9543 noch Borussia Dortmund zählten damals zur westdeutschen Fußballelite. Immerhin fungierte die Kampfbahn zwischen 1929 und 1939 zehnmal als Austragungsstätte eines Endrundenspiels um die Deutsche Meisterschaft, neunmal mit Beteiligung von Schalke 04. Am 8. Mai 1935 fand das Fußballländerspiel zwischen Deutschland und Irland in der Roten Erde statt.44 Seit 1937, nach dem Verlust des Borussen-Sportparks, spielte auch Borussia Dortmund − inzwischen in einer der oberen Klassen, der Gauliga Westfalen, spielend − regelmäßig in der Kampfbahn, konnte sie aber nur ausnahmsweise füllen.45 Dazu kamen noch einige größere leichtathletische und nicht-sportliche Veranstaltungen. Die hochkarätigste sportliche Veranstaltung, bei der Alte Westfalenhalle, Volksbad und Kampfbahn Rote Erde genutzt wurden, fand vom 21. bis 25. Juli 1932 statt: das 3. Reichstreffen der Deutschen Jugendkraft – Reichsverband für Leibesübungen in katholischen Vereinen.46 Die Alte Westfalenhalle wurde schon kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs von der Wehrmacht beschlagnahmt.47 Zeitweilig wurde sie als Kriegsgefangenenlager genutzt, zum 1. Januar 1943 wurde sie dann wieder für die Öffentlichkeit freigegeben. Das Ende kam durch einen Brandbombenangriff in der Nacht vom 22. auf den 23. Mai 1944. Der unversehrt gebliebene Südanbau wurde durch Brandstiftung am 13. April 1945 schwer beschädigt. In der Kampfbahn Rote Erde, in der weiterhin Sportveranstaltungen, insbesondere Fußballspiele, durchgeführt wurden, sorgte am 12. März 1945 ebenfalls ein Bombenangriff für große Zerstörungen: Die Tribüne und die darunter liegenden Räume wurden komplett zerstört, auf dem Spielfeld zählte man nicht weniger als 95 Bombentrichter.48 40 41

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Vgl. Högl, Troika, S. 98. Die Stadt besaß zwar schon Teile des Geländes, auf dem der Volkspark später entstand, hatte auch versucht, den Rest anzukaufen, musste dann aber ein Enteignungsverfahren einleiten, um das Gelände zu komplettieren. Vgl. dazu Strobel, Dortmunder Kampfbahn, S. 3; ders., Dortmunder Volkspark, S. 18–20; TSC Eintracht von 1848/95 Kooperation zu Dortmund/ Fußballabteilung (Hg.), 100 Jahre in Dortmund am Ball ... die „95er“, Dortmund 1995, S. 18. Vgl. Gerd Rensmann, Personen Persönlichkeiten, große Ereignisse, in: Stadt Dortmund (Hg.), Treffpunkt Dortmund, S. 18–29, bes. S. 19. Zur Geschichte des Dortmunder SC 95 vgl. Uwe Wick, Dortmunder FC 95. Der älteste Dortmunder Fußballverein, in: Anstoß, S. 18–22. Vgl. Kolbe/Schulze-Marmeling, Westfalenstadion, S. 19–22. Vgl. dies., S. 22–24. Vgl. zum DJK-Reichstreffen Uwe Wick, Das 3. DJK-Reichstreffen 1932 in Dortmund und die Geschichte des DJK-Fußballs in Dortmund, in: Anstoß, S. 27–32. Vgl. zum Folgenden: Westfalenhallen Dortmund GmbH (Hg.), Chronik, S. 144–147. Vgl. Kolbe/Schulze-Marmeling, Westfalenstadion, S. 24; Rensmann, Personen, S. 19.

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Das Stadion Rote Erde und Borussia Dortmund Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Tribüne im Stadion Rote Erde baupolizeilich gesperrt, Umkleidemöglichkeiten standen nur im benachbarten Schwimmbad zur Verfügung.49 Erst 1952 konnte die neu gebaute Tribüne, nun mit Platz für 3.300 Zuschauer, wiederhergestellt werden. Anlass für die Wiederherrichtung waren die Weltstudentenspiele, die 1953 in Dortmund stattfanden. Vorher waren schon einige Leichtathletikveranstaltungen in der Roten Erde abgehalten worden, weitere folgten in den kommenden Jahren.50 Zwischenzeitlich wurde sie auch zur Austragung von Profiboxveranstaltungen genutzt.51 Bundes- und europaweit bekannt wurde das Stadion Rote Erde seit dem Jahr 1947 als Heimstätte von Borussia Dortmund. Der Klub hatte sich als Westfalenmeister1947 für die in NRW zur Saison 1947/48 als oberste Spielklasse im Fußball eingerichtete Oberliga West qualifiziert.52 1949 wurde in dieser und den anderen drei Oberligen sowie in der Stadtliga Berlin zum ersten Mal der bezahlte Fußball in der Bundesrepublik eingeführt. Diese Neuerung bedeutete im Vergleich zum Spielbetrieb im Nationalsozialismus auf der einen Seite die Reduzierung der Anzahl der erstklassig spielenden Vereine, auf der anderen Seite den Beginn der Professionalisierung im deutschen Fußball. Beides zusammen bewirkte eine wachsende Attraktivität des erstklassigen Fußballs, was sich in gesteigerten Zuschauerzahlen bei den Partien dieser Vereine auswirkte.53 Noch beliebter waren die Endrundenspiele um die Deutsche Meisterschaft, Spiele im 1955 eingeführten Europapokal der Landesmeister und Freundschaftsspiele, besonders gegen ausländische

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Vgl. Rensmann, Personen, S. 19; Kolbe/Schulze-Marmeling, Westfalenstadion, S. 24. Vgl. dazu Rensmann, Personen, S. 19–29; einen knappen Überblick über andere Veranstaltungen im Stadion Rote Erde bieten auch Kolbe/Schulze-Marmeling, Westfalenstadion, S. 34–35. Vgl. Alfred Heymann, Die Entwicklung des Profiboxsports in Dortmund, in: Sportstadt Dortmund, S. 22–24. Zur Einführung der OberligaWest und des Vertragsspielerwesens vgl. Uwe Wick/Markus Fiesseler, 100 Jahre Fußball im Westen. Zwischen Alm, Wedau und Tivoli. Das Buch zum Jubiläum des Westdeutschen Fußballverbandes, hg. vom Westdeutschen Fußballverband e. V. in Verbidung mit dem Willibald Gebhardt Institut e. V., Kassel 1998, S. 101–111; allgemein Uwe Wick, Die Zeit der Oberligen, in: Brüggemeier/ Borsdorf/Steiner (Hg.), Der Ball ist rund, S. 212–221; aus der Perspektive des Revierfußballs vgl. Hartmut Hering, Einführung: Die große Zeit des Westens. Nachkriegszeit und Oberliga West, in: Hering (Hg.) Derbys, S. 211–229; Hartmut Hering/Uwe Wick, Wirtschaftswunder im Revierfußball. Oberliga West und 2. Liga West (1949–1963), in: Fußball- und Leichtathletik-Verband Westfalen/Willibald Gebhardt Institut (Hg.), Fußballregion Ruhrgebiet, S. 109–118; dies., „Schicht am Schacht“ für Zechenfußball“. Zwischen Oberliga West und Amateurfußball (1949–1963), in: Fußball- und Leichtathletik-Verband Westfalen/Willibald Gebhardt Institut (Hg.), Fußballregion Ruhrgebiet, S. 119–126; einen guten Überblick über den Spielbetrieb in der Zeit der Oberligen bietet Hardy Grüne, Vom Kronprinzen bis zur Bundesliga 1890–1963, Kassel 1996, S. 267–419. Die Zuschauerzahlen waren zwar sehr unterschiedlich ausgeprägt, doch zählte Borussia Dortmund neben dem 1. FC Köln, Rot-Weiss Essen, Schalke 04, Fortuna Düsseldorf zu den Klubs, die die höchsten Zuschauerzahlen in der Oberliga West aufweisen konnten (vgl. dazu nur die abgebildeten Einnahmenachweise der Klubs der Ersten und Zweiten Liga West für die Saison 1958/59 bei Hering/Wick, Wirtschaftswunder, S. 111).

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Spitzenklubs. Genau in dieser Zeit startete Borussia Dortmund in seine erste erfolgreiche Phase.54 Der Verein wurde sechsmal westdeutscher Meister, stand fünfmal im Endspiel um die Deutsche Meisterschaft, davon dreimal erfolgreich (1956, 1957, 1963), so dass man auch dreimal im Europapokal der Landesmeister spielte. Der Bekanntheitsgrad des Stadions Rote Erde wurde noch einmal dadurch gesteigert, dass sich Borussia Dortmund als Gründungsmitglied für die 1963 neu eingeführte Bundesliga qualifizierte. Die Qualifikation zur Bundesliga bedeutete auch die einzige größere bauliche Veränderung im Stadion Rote Erde seit 1952. Der traditionelle Musikpavillon wurde verdrängt, weil die Gegengerade überdacht und um einige Sitzränge aufgestockt wurde, die Südkurve mit dem Marathontor wurde um eine Stahlrohrtribüne ergänzt, auch die Laufbahn verschwand weitgehend, so dass das Stadion nur noch für den Fußball nutzbar war. Das Fassungsvermögen betrug zu Bundesligazeiten 42.000 Zuschauer.55 Das Stadion Rote Erde blieb ebenso wie Borussia Dortmund von 1963 bis 1972 „erstklassig“, erlebte die ersten Erfolge von Borussia Dortmund zu Bundesligazeiten – den DFB-Pokalsieg 1965 und den Sieg im Europapokal der Pokalsieger 1966 –, aber auch den Abstieg in die Regionalliga West und blieb auch in der Zweiten Liga noch knapp zwei Jahre lang Spielstätte der Borussen. Zu dieser Zeit hatten sowohl der Verein als auch das Stadion viel vom alten Glanz verloren. Abschließend muss hier noch angemerkt werden, dass die Erbauer bei der Einweihung der alten Kampfbahn Rote Erde 1926 wohl kaum erwartet haben, dass das Stadion der westfälischen Sportmetropole Dortmund einmal in einem solchen Ausmaß nationale Aufmerksamkeit verschaffen würde. Das hatte allerdings weniger mit der Einzigartigkeit des Bauwerks zu tun, sondern lag vor allem im immensen Popularitätsschub der Sportart Fußball und im erfolgreichen Abschneiden von Borussia Dortmund in dieser Sportart begründet. Die Große Westfalenhalle Beim anderen zentralen „Element“ der Sportstadt Dortmund stellte sich das ganz anders dar (die Große Westfalenhalle wird noch in einem Aufsatz von 1998 zu Recht als „zentrale Sportstätte Dortmunds“ bezeichnet):56 Der Wiederaufbau der Westfalenhalle gehörte im Dortmund der Nachkriegszeit zu den Zielen mit oberster Priorität und wurde von den höchsten städtischen Stellen unterstützt.57 Es ging um Identifikation, aber auch um die Konkurrenzfähigkeit mit anderen Großstädten. Als Bauplatz für die Große West54

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Vgl. zur Vereinsgeschichte und den Erfolgen von Borussia Dortmund zwischen 1947 und 1974 besonders Alfred Heymann, BV Borussia 09 Dortmund. Von Spielzeit zu Spielzeit, in: Stadt Dortmund (Hg.), Treffpunkt Dortmund, S. 31–56; Kolbe/Schulze-Marmeling, Westfalenstadion, S. 24–33; Dietrich Schulze-Marmeling/Werner Steffen, Die Geschichte von Borussia Dortmund, Göttingen 2002, S. 63–145; vgl. zu den internationalen Spielen im Stadion Rote Erde außerdem Hans Ost, Internationale Begegnungen, in: Stadt Dortmund (Hg.), Treffpunkt Dortmund, S. 58–70. Vgl. zu den Umbaumaßnahmen Kolbe/Schulze-Marmeling, Westfalenstadion, S. 27 f. Hans Ost, Die Westfalenhalle als zentrale Sportstätte Dortmunds, in: Sportstadt Dortmund, S. 16–21. Vgl. zum Folgenden: Westfalenhallen Dortmund GmbH (Hg.), Chronik, S. 151–164.

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falenhalle wurde der alte Standort gewählt: „Der Bauplatz stand im Unterschied zur Planungsphase der alten Halle nie zur Diskussion, denn in den knapp sechzehn Betriebsjahren der alten Halle, ... hatte sich der Standort am Steinernen Turm als ausgesprochen günstig erwiesen. Einerseits bettete die Nähe zum Volkspark und dem Stadion Rote Erde die Halle harmonisch in ein großes Vergnügungs- und Erholungsgebiet ein, und zum anderen war die Lage an zwei wichtigen Verkehrsadern – Hindenburgdamm und Hohe Straße verkehrstechnisch optimal.“58 Nachdem die Frage der Finanzierung gelöst war, begann im März 1950 die Bauphase, an der einige Dortmunder Firmen beteiligt waren, mit der Enttrümmerung des Geländes. „Sowohl die alte Westfalenhalle als auch die neue Westfalenhalle stellten jeweils zu ihrer Zeit technisch und baulich absolute Neuheiten dar.“59 Der stählerne Bau wurde als Mehrzweckhalle mit einer 200 Meter langen Radrennbahn, die möglichst schnell einund ausgebaut werden konnte, sowie einer einzubauenden Rollschuh- bzw. Eislaufbahn konstruiert, wobei in der Realisierung auch berücksichtigt wurde, dass das traditionelle Dortmunder Reit- und Springturnier weiterhin stattfinden konnte. Als größtes Fassungsvermögen wurden 23.000 Zuschauer angegeben.60 Nachdem der ebenfalls wieder aufgebaute Goldsaal mit einem Fassungsvermögen von 900 Zuschauern als „Dortmunds gute Stube“ schon am 27. Januar 1952 eingeweiht werden konnte,61 folgte Anfang Februar mit einer hochkarätigen Sportveranstaltung die Eröffnung der Westfalenhalle.62 Am 2. und 3. Februar 1952 kamen insgesamt 25.000 Zuschauer, davon 5.000 mit Sonderzügen der Bundesbahn, um bei einer Veranstaltung dabei zu sein, mit der die beiden Spitzenverbände des deutschen Sports das Olympiajahr 1952 einleiteten.63 Die Zuschauer waren begeistert von Programm und Halle. Am Samstag gab es ein ausführliches Eissportprogramm mit Eishockeyspiel und Eisschnelllaufwettbewerben sowie Eiskunstlaufdarbietungen, am Sonntag folgten Radrennen in verschiedenen Disziplinen und Demonstrationen in verschiedenen Sommersportarten: fünfzehnminütige Varianten eines Basketball- und eines Handballspiels, leichtathletische Laufwettbewerbe, Demonstrationen im Ringen, Gewichtheben, Fechten und Boxen und Turnvorführungen der Deutschlandriege am Barren.64 Nach dem Festspiel „Olympische Lobpreisung“ begann der feierliche Schlussakt, zu dem auch Ansprachen von Willi Daume, dem Präsidenten des Deutschen Sportbundes, von Dr. Karl Ritter von Halt, dem Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland, und von Bundespräsident Theodor Heuss gehörten. Neben den Genannten zählten viele weitere pro58 59 60 61 62 63

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Ebd., S. 160. Ebd., S. 161. Vgl. Westfalenhalle GmbH Dortmund (Hg.), 50 Jahre, S. 13. Vgl. Westfalenhallen Dortmund GmbH (Hg.), Chronik, S. 165. Vgl. ebd., S. 167–171. Da Deutschland bei den Olympischen Spielen 1948 noch nicht teilnehmen durfte, galt die Eröffnung nicht nur irgendeinem Olympischen Jahr, sondern dem Jahr, in dem Deutschland zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg wieder an der internationalen sportlichen Spitzenveranstaltung teilnehmen durfte – was die Besonderheit dieser Veranstaltung ebenso wie die hochrangige Schirmherrschaft verdeutlicht. Zum Programm der zweitägigen Eröffnungsfeier vgl. Westfalenhalle A.G. (Hg.), Olympia ruft! Werbeveranstaltung des Deutschen Sportbundes und des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland unter der Schirmherrschaft des Herrn Bundespräsidenten Professor Dr. Theodor Heuss zur Eröffnung des Olympischen Jahres in der Westfalenhalle zu Dortmund, Dortmund 1952.

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minente Sportfunktionäre und Politiker zu den Ehrengästen – darunter zahlreiche Präsidenten nationaler Sportfachverbände und von NRW-Sportverbänden, einer der prominentesten wohl Dr. Peco Bauwens, Präsident des Deutschen Fußball-Bundes und Vorsitzender des Landessportbundes Nordrhein-Westfalen. Die Eröffnungsreden am ersten Tag wurden vom Dortmunder Oberbürgermeister Fritz Henßler und vom NRW-Ministerpräsidenten Karl Arnold gehalten. Auch mit dem Medienecho konnte Dortmund zufrieden sein. In der Westfälischen Rundschau vom 4. Februar 1952 prognostizierte man: „Der Welt größte und modernste Veranstaltungshalle wird als Schauplatz künftiger Massendemonstrationen des sportlichen, kulturellen, politischen und geselligen Lebens ein magnetisches Zentrum für Millionen Besucher aus dem In- und Ausland sein“ (Abb. 3).65 Der Sport nahm zunächst großen Raum bei den Veranstaltungen in der Großen Westfalenhalle ein. Allein im Jahr 1952 fanden folgende Sportveranstaltungen in der Halle statt:66 Zwei Steherrennen, das 10. und 11. Sechstagerennen, die Deutsche Hallenmeisterschaft im Handball, ein Eisbahn-Großkampf mit einem internationalen Eishockeyspiel, der Box-Länderkampf Iran – Deutschland, ein mehrtägiger Auftritt der amerikanischen Basketball-Truppe Harlem Globetrotters, die Weltmeisterschaft im Rollkunstlaufen, ein 100-Kilometer-Mannschaftsrennen nach Art des Sechstagerennens, das Europa-Kriterium Américaine (100-Kilometer-Mannschaftsrennen), ein Internationaler Box-Vergleichskampf Westfalen – Helsinki, das traditionelle Weihnachtsrennen (Steherrennen), eine Eisveranstaltung mit Eishockeyspielen internationaler und deutscher Klubmannschaften, mit Eiskunstlauf und Eistanz. Dazu kamen noch drei Showveranstaltungen mit sportlichem Charakter: Olympiasieger und Weltmeister − Sportliche Eleganz, Roller-Follies (amerikanische Rollschuhrevue) und Holiday on Ice. Demgegenüber standen nur drei Veranstaltungen mit nicht-sportlichem Charakter: ein „Blumen-Paradies“, die 1. Westfälische Hotel- und Gaststätten-Fachmesse und der Weihnachtsmarkt 1952. Ungefähr fünfzig Jahre lang gelang den Dortmundern mit Hilfe der Großen Westfalenhalle ein Imagegewinn als westfälische Sportmetropole von nicht nur nationaler, sondern auch europa- bzw. weltweiter Bedeutung.67 Einerseits durch populäre, jährlich wiederkehrende Veranstaltungen wie das Sechstagerennen oder weitere Hallensportveranstaltungen, z. B. im Boxen und im Reitsport, andererseits durch die schiere Größe der Halle, die dazu führte, dass Dortmund entweder für deutsche, Europa- oder Weltmeisterschaften in bestimmten Hallensportarten alleiniger Austragungsort wurde – z. B. Turn-Weltmeisterschaften 1966 und 1994, Boxkämpfe um die Weltmeisterschaft im Halbschwergewicht mit Henry Maske 1994-1996 – oder bei Europa- oder Weltmeisterschaften in besonders populären Hallensportarten als einer der Austragungsorte quasi „gesetzt“ war: Das galt unter anderem für die Spiele der Eishockey-Weltmeisterschaften 1955, 1975, 1983 und 1993 sowie der Handball-Weltmeisterschaften 1982 und 2007. 65 66

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Zit. nach Westfalenhallen Dortmund GmbH (Hg.), Chronik, S. 170. Die folgende Aufzählung basiert auf einer Auswertung der Programmhefte für das Jahr 1952: Westfalenhalle AG (Hg.), Westfalenhalle [Programmhefte], Dortmund 1952. Gute Überblicke über die Sportveranstaltungen in der Großen Westfalenhalle finden sich bei Ost, Westfalenhalle, S. 18–20; Westfalenhallen Dortmund GmbH (Hg.), Chronik, S. 257–289.

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Abb. 3: Ansicht der Kampfbahn Rote Erde, davor das Schwimmbad Volkspark, im Hintergrund die Große Westfalenhalle. Postkarte um 1960 (LWL-Industriemuseum Dortmund, Sammlung historischer Ansichtskarten)

Allerdings wurde schon in den 1950er Jahren deutlich, dass man mit Sportveranstaltungen alleine nicht genug Geld erwirtschaften konnte, um die jährlichen Unterhaltskosten zu tragen. Im Vergleich zu den 1920er Jahren sollten nun auch neue Geschäftsfelder hinzukommen, vor allen Dingen wollte sich Dortmund im Messe- und Ausstellungsbereich verstärkt engagieren.68 Zu dieser Entwicklung gehörte auch, dass die Große Westfalenhalle, die inzwischen auch als Westfalenhalle 1 bezeichnet wird, durch weitere Hallen ergänzt wurde. Zwischen 1955 und 1959 wurden die Hallen 2 bis 4 gebaut, die allerdings wiederum vorrangig die örtlichen Vereine als Trainingsstätten nutzten, was schlecht mit dem Messebetrieb zu verbinden war.69 Erst mit dem Bau von Halle 5 (1972), der Helmut-Körnig-Halle (1980) als Leichtathletikzentrum und der damit verbundenen Freigabe der Halle 4 für den Messebetrieb sowie mit dem Bau der Hallen 6 (1985), 7 (1989), und 8 (1996) ausschließlich für den Messe- und Ausstellungsbetrieb wurde deutlich, dass dieses Geschäftsfeld verstärkt werden sollte. Auch eine Namensänderung in den 1980er Jahren machte das deutlich. Seit der Änderung der Wirtschafts68

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Zur Entwicklung bei Messen und Ausstellungen vgl. Westfalenhallen Dortmund GmbH (Hg.), Chronik, S. 175–197. Vgl. auch Ost, Westfalenhalle, S. 18 f.

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form 1961 hieß die Gesellschaft Westfalenhalle GmbH Dortmund, 1987 erfolgte die Namensänderung in Westfalenhallen Dortmund GmbH.70 Sowohl die Große Westfalenhalle selbst mit den Nebensälen als auch die anderen Hallen dienten neben dem Messe- und Ausstellungsgeschäft dazu, Dortmund als Kongresszentrum zu profilieren.71 Eine Entwicklung, die bis heute anhält und durch den zwischenzeitlichen Bau von Hotels auf dem Gelände noch verstärkt wurde. Ein weiterer Geschäftszweig wurde die Ausrichtung von Musik-, Show- und Unterhaltungsveranstaltungen.72 Heute ist der Sport ein integrativer Geschäftsbereich, aber auch ein besonderer Förderbereich der Westfalenhallen Dortmund GmbH. Das zeigen die derzeitigen Geschäftsbereiche Messen, Gastronomie, Veranstaltungen und Sportförderung sowie der Wortlaut des Gesellschaftsvertrags, in dem es unter anderem heißt: „Gegenstand und Ziel der Gesellschaft ist ... Veranstaltungen aller Art, insbesondere ... Kultur-, Sport- und Unterhaltungsveranstaltungen, durchzuführen ...; den Sport in allen seinen Zweigen zu pflegen und zu fördern und zur Erreichung dieses Zieles Veranstaltungen durchzuführen.“73 Sport, gerade der Spitzensport, ist nicht nur ein Imagefaktor, sondern auch ein Kostenfaktor. Im Endeffekt zeigt das auch die Entwicklung des zentralen Hallensportzentrums in Dortmund. Zu den dort ansässigen Sportstätten gehören die Helmut-Körnig-Halle als Leichtathletikzentrum, das Eissportzentrum und der Olympiastützpunkt Westfalen, der 1995 aus der Fusion zweier Olympiastützpunkte entstanden ist.74 Allerdings agieren die Westfalenhallen inzwischen in Deutschland in einem Umfeld von immer mehr Städten mit Großhallen, d. h. man bemüht sich, nur noch Sportveranstaltungen in Dortmund zu organisieren, die zu einer Imageförderung beitragen und – als wichtigstes Kriterium – sich selbst tragen.75 Die verschärfte Konkurrenzsituation zeigt sich auch darin, dass die Große Westfalenhalle, bis 1998 hinsichtlich ihrer Größe die Nummer 1, inzwischen gerade noch zu den Top Ten der großen Mehrzweckhallen in Deutschland zu zählen ist, die auch für Sportveranstaltungen in Frage kommen.76 Der Westfalenpark als Zugabe Ausgerechnet der Erfolg einer der drei nicht-sportlichen Veranstaltungen im Eröffnungsjahr der Großen Westfalenhalle, der Blumenschau Blumenparadies, war der 70 71 72 73 74 75

76

Vgl. dazu auch Westfalenhallen Dortmund GmbH (Hg.), Chronik, S. 293. Vgl. auch ebd., S. 199–225. Vgl. dazu ebd., S. 227–255. Vgl. dazu ebd., S. 291–297, Zitat S. 293. Vgl. ebd., S. 285–287. Vgl. dazu Jochen Meschke, Akquise und Bedeutung von Sportgroßveranstaltungen in den Westfalenhallen, in: Regionalverband Ruhr (Hg.), Sportforum Ruhr: Workshop „Sportevents und Metropolstrategien. Dokumentation des Workshops vom 28. Januar 2010 beim Ruhrverband, Essen 2010, S. 40–43. Vgl. dazu Hans Martin Stork, Statement ... aus Sicht eines Olympiastützpunktes. Identifikation, Marken und Idole, in: Sportforum Ruhr: Workshop „Perspektiven im Leistungs- und Spitzensport“. Dokumentation des Workshops vom 30. Oktober 2008 beim Essener Turn- und Fechtklub ETUF e. V., Essen 2009, S. 52–55.

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Anfang von Planungen, in Dortmund die Bundesgartenschau zu veranstalten.77 1958 erfolgte die offizielle Bewerbung, die erfolgreich war. „Die Westfalenhalle sollte den Rahmen für die Hallenausstellungen bieten, das anschließende Gelände zwischen Westfalenhalle und Kaiser-Wilhelm-Hain zum Ausstellungspark umgestaltet werden. Der vorgesehene Bereich, schon im Bebauungsplan 1938 als Dauergrünfläche ausgewiesen, befand sich zum größten Teil in städtischem Besitz.“78 Der Park zur Bundesgartenschau 1959 wurde zum Dortmunder Westfalenpark, in dem inzwischen zwei weitere Bundesgartenschauen abgehalten wurden.79 Der Westfalenpark rundet aus städtebaulicher Sicht die alten Planungen zum Dortmunder Volkspark ab, wertet den gesamten Bereich als städtebaulich zentrales Sport-, Freizeit- und Erholungsgebiet auf.80 Dabei knüpfte man auch an ein Gelände an, dass schon seit hundert Jahren als Dortmunder Park genutzt wurde, an den Kaiser-WilhelmHain.81 Das Westfalenstadion Zu den bekannten drei Dortmunder „W’s“ gehört neben der Westfalenhalle und dem Westfalenpark seit einigen Jahrzehnten aber auch das Westfalenstadion.82 Mit Einführung der Bundesliga 1963 mehrten sich in Dortmund die Stimmen, die entweder eine grundlegende Renovierung und einen großzügigen Ausbau des Stadions Rote Erde oder einen Neubau forderten.83 Schließlich mündete eine Idee des damaligen Sportdezernenten Fritz Kauermann, die schon im Sportausschuss des Rates der Stadt Dortmund im 77

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Vgl. auch Heike Fischer, Ausflugsziel für Millionen im Schatten der Hochöfen. Der Westfalenpark und seine Geschichte, in: Museum für Kunst- und Kulturgeschichte der Stadt Dortmund (Hg.), Dortmunds Westfalenpark und seine hundertjährige Tradition, Essen 1991, S. 78–160. Fischer, Ausflugsziel, S. 78. Vgl. Robert Baasner/Heike Fischer, Zu einer Gartenschau müssen die Sachen blühen! Gärtnermeister Baasner und seine drei Bundesgartenschauen, in: Museum für Kunst- und Kulturgeschichte der Stadt Dortmund (Hg.), Dortmunds Westfalenpark, S. 161–164. Zur stadtgeschichtlichen Bedeutung des Westfalenparks, auch im Hinblick auf den Dortmunder Volkspark, und zur Einordnung der Dortmunder Bundesgartenschau in die Geschichte der Gartenschau-Idee vgl. Ralf Ebert/Michael Schneider, Aus grauer (Ruinen-)Städte Mauern ... in die grüne Stadt von morgen? Hintergrund und Bedeutung der Bundesgartenschau für den Wiederaufbau Dortmunds nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Museum für Kunst- und Kulturgeschichte der Stadt Dortmund (Hg.), Dortmunds Westfalenpark, S. 165–176. Vgl. dazu Oskar Jünger, Ein Stadtpark für ewige Zeiten ... Der Kaiser-Wilhelm-Hain – Vorläufer und Keimzelle des Westfalenparks, in: Museum für Kunst- und Kulturgeschichte der Stadt Dortmund (Hg.), Dortmunds Westfalenpark, S. 20–73; weitere Literatur zum Westfalenpark, der hier nur kurz behandelt wird, findet sich in: 50 Jahre Westfalenpark (Heimat Dortmund 2/2009). Das passende Zitat dazu findet sich in einem Aufsatz des ehemaligen Sportdezernenten Erich Rüttel über das Westfalenstadion: ders., Das Westfalenstadion – von der Idee zur Wirklichkeit, in: Sportstadt Dortmund, S. 3–7: „Am 21. April 1972 schlug ich dem damaligen Oberbürgermeister Heinrich Sondermann schriftlich vor, dem neuen Stadion im ,Dreiklang‘ mit der Westfalenhalle und dem Westfalenpark den Namen Westfalenstadion zu geben, was dann auch der Ältestenrat des Rates am 24. April 1972 beschloß“ (ebd., S. 6). Vgl. ausführlich auch zum Folgenden und zu den finanziellen Aspekten, die in diesem Aufsatz nicht berücksichtigt werden: Rüttel, Westfalenstadion, S. 3–7; Kolbe/Schulze-Marmeling, Westfalenstadion, S. 36–57; Schulze-Marmeling/Steffen, Borussia Dortmund, S. 183–186.

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April 1965 durchaus positiv diskutiert wurde, im Oktober 1967 in den Antrag, mit einer neuen Stadionplanung zu beginnen; vorgesehen war, neben dem Stadion Rote Erde ein reines Fußballstadion zu errichten. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Deutsche Fußball-Bund (DFB) schon als Ausrichter der Weltmeisterschaft 1974 beworben. Noch im Oktober 1967 schickte Kauermann eine Bewerbung Dortmunds als Ausrichterstadt für diese WM an den DFB. Mitte der 1960er Jahre war die Absicht, in Deutschland ein reines Fußballstadion zu bauen, noch absolut innovativ. Damals galt die Verbindung zwischen Fußball und Leichtathletik noch als etwas Naheliegendes, das es zu pflegen galt. Alle anderen für die WM 1974 gebauten bzw. aus- oder umgebauten Stadien waren keine reinen Fußballarenen, sondern Stadien, die neben dem Spielfeld auch Leichtahletikeinrichtungen besaßen. Darunter eben auch eine Laufbahn, die den Abstand der Zuschauer zum Geschehen auf dem Rasen vergrößerte. Dazu zählten die beiden Olympiastadien, das alte von 1936 in Berlin sowie das neue für die Olympischen Spiele 1972 gebaute in München, außerdem gehörten das Neckarstadion in Stuttgart, das Niedersachsenstadion in Hannover, das Parkstadion in Gelsenkirchen, das Rheinstadion in Düsseldorf, das Volksparkstadion in Hamburg und das Waldstadion in Frankfurt dazu. Das Westfalenstadion reihte sich zunächst ebenfalls in diese Liste ein, schied dann aber wieder aus. Erst als Köln seine Ausbaupläne für das Müngersdorfer Stadion aufgab, wurde Dortmund im August 1971 als Ersatzstadt aus NRW nachnominiert. Im Oktober 1971 entschied der Rat der Stadt Dortmund mit einer Mehrheit von 40 zu 13, das Stadion zu bauen. Gleichzeitig entschied man, das alte Stadion Rote Erde nach der Vollendung des neuen Westfalenstadions zu renovieren, es mit einer neuen Kunststofflaufbahn auszustatten und es der Leichtathletik zu überlassen (Abb. 4). Nach der Vollendung bot das Westfalenstadion 54.000 Zuschauern Platz, die 17.000 Sitzplätze (Ost- und Westtribüne) waren alle überdacht, ebenfalls 80 Prozent der Stehplätze auf der Nord- und Südtribüne. Während die größte Entfernung vom Spielfeldrand 44 Meter betrug, befand sich der höchste Sitzplatz 17 Meter über dem Spielfeld. In den Untergeschossen der Tribünen wurden die verschiedenen Funktionsräume eingerichtet: Umkleide- und Aufwärmbereiche, Pressearbeitsbereiche und Pressekonferenzraum, zwei Verkaufskioske, Räume für Ehrengäste und eine Gaststätte sowie Fitnessräume, in denen sich auch Trainingsmöglichkeiten für Boxer, Ringer, Judokas, Tischtennisspieler und Kraftsportler und zusätzliche Damen- und Herrenumkleideräume, eine Sanitätsstation und Toilettenanlagen befanden.84 Wieder gab es eine Doppeleröffnung für ein Dortmunder Stadion. Der eher inoffizielle Teil fand am 2. April 1974 statt. Nach einem Fußballspiel zweier regionaler Damenmannschaften folgte ein Benefiz-Freundschaftsspiel zugunsten der finanziell seit dem Bundesligaabstieg 1972 angeschlagenen Borussen. Gegner des inzwischen nur noch zweitklassigen Regionalligisten Borussia Dortmund war der erstklassige Bundesligist und Rivale Schalke 04 (Endstand: 0:3). Die offizielle Eröffnung fand dann in Form eines Länderspiels am 17. April 1974 statt: Deutschland schlug Ungarn mit 5:0 in

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Eine ausführliche Beschreibung findet sich bei Kolbe/Schulze-Marmeling, Westfalenstadion, S. 55.

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Abb. 4: Neu und Alt nebeneinander: Postkarte mit Ansicht des Westfalenstadions im Vordergrund, dahinter das Stadion Rote Erde im Jahr 1974 (LWL-Industriemuseum Dortmund, Sammlung historischer Ansichtskarten)

einem Freundschaftsspiel. Das neue Westfalenstadion erhielt in der Presse eine nicht nur positive, sondern schon begeisterte Kritik.85 Während der WM fanden drei Spiele der Gruppe 3 im Westfalenstadion statt sowie das entscheidende Spiel zwischen den Niederlanden und Brasilien in der Finalgruppe B, in dem sich die Niederlande durch einen Sieg in Höhe von 2:0 für das Finale qualifizierten.86 Anders als im Stadion Rote Erde, in dem gerade einmal zwei Länderspiele der deutschen Nationalmannschaft stattfanden (1935 gegen Irland und 1967 gegen Albanien), fanden im Westfalenstadion häufiger Länderspiele statt. Nach dem Einweihungsspiel 1974 folgten bis zur WM 2006, also in 32 Jahren, elf weitere Länderspiele ohne Niederlage. Erst im Halbfinale der WM 2006 gegen Italien endete diese Serie.87

85 86

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Einen Überblick bieten Kolbe/Schulze-Marmeling, ebd., S. 56. Zur Weltmeisterschaft 1974 vgl. neben Kolbe/Schulze-Marmeling, Westfalenstadion, S. 58-66 auch Gerd Kolbe, Die Fußball-WM 1974 in Dortmund, in: Anstoß, S. 47-50. Während der WM 2006 fanden in Dortmund neben diesem Halbfinale vier Spiele in der Gruppenphase und eines der Achtelfinalspiele statt.

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Abb. 5: Ansicht des Westfalenstadions, dahinter halb verborgen das Stadion Rote Erde. Postkarte um 2005 (LWL-Industriemuseum Dortmund, Sammlung historischer Ansichtskarten)

Zu diesem Zeitpunkt war das Stadion schon mehrmals umgebaut worden, und es war auch kein rein städtisches Stadion mehr – eine von Borussia Dortmund gegründete Stadionbetreibergesellschaft hatte das Stadion 1995 ohne Grund und Boden von der Stadt übernommen, weil die Stadt keine Mittel besaß, um das Westfalenstadion weiter auszubauen (Abb. 5).88 Borussia Dortmund hatte seinen Wiederaufstieg aus der Zweitliga Nord in die Bundesliga 1976 auch dem neuen Stadion zu verdanken, da die Zuschauerzahlen und damit die für den Klub wichtigen finanziellen Einnahmen fast verdreifacht werden konnten.89 Umgekehrt hat der Verein durch seine nationalen Erfolge seit 1989, besonders aber mit den zahlreichen Teilnahmen an europäischen Pokalwettbewerben, der Stadt Dortmund einen internationalen Bekanntheitsgrad verschafft, der auch mit immensen finanziellen Mitteln auf anderen Kommunikationswegen kaum zu erreichen wäre.

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Vgl. zu den verschiedenen Umbaumaßnahmen und zum Erbbauvertrag von 1992 bis zur Weltmeisterschaft 2006: Kolbe/ Schulze-Marmeling, Westfalenstadion, S. 69–84. Vgl. dazu ebd., S. 100–101.

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Ein kurzes Fazit In den Anfangsjahren war es die Alte Westfalenhalle, später die Große Westfalenhalle, heute ist es das größte Fußballstadion Deutschlands, das das besondere Merkmal der Sportstadt Dortmund ausmacht. Der kleine Unterschied dabei: Der von der Stadt mit seinen repräsentativen Sportbauten verbundene und gern kommunizierte westfälische Bezug und der damit verbundene Anspruch, die sportliche Metropole Westfalens zu sein, sind den finanziellen Mechanismen des modernen Sports zum Opfer gefallen. Die auch von einem Teil der Fans nicht gerne gesehene Namensänderung in Signal Iduna Park90 sind andererseits wohl heute notwendig, um im immer teurer werdenden Fußballsport auf der Erfolgsspur zu bleiben. Ein kleiner Trost bleibt: Wegen des exklusiven Marketings bei Sportveranstaltungen hieß das Stadion während der WM 2006 offiziell WM-Stadion Dortmund. Für Spiele in der UEFA Champions League lautet der Name offiziell BVB Stadion Dortmund. Insgesamt ist die Entwicklung der westfälischen Sportmetropole Dortmund ein Beispiel dafür, dass sich sowohl der Mut zu innovativen Sportbauten als auch eine kontinuierliche Weiterentwicklung dieser Bauten über mehrere Jahrzehnte für eine Stadt auszahlen können: Dortmund hat durch seine repräsentativen Sportbauten an Image nicht nur im Ruhrgebiet und in Westfalen gewonnen und in gewisser Hinsicht ein Alleinstellungsmerkmal als Sportstadt erreicht. Gleichzeitig tragen diese Sportbauten angesichts der Veranstaltungen, zu denen eine große Zahl von Zuschauern in die Westfalenmetropole Dortmund kommt, auch zur lokalen und regionalen Identitätsstiftung bei.

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Schon 2004 hatte der Klub seine Verwertungsrechte verkauft, dann aber wieder zurückgekauft (vgl. ebd., S. 78).

Anke Strüver

Münster – Eine Stadt im Zeichen des Sports: Die „laufende“ Konstruktion von städtischem Sportraum Einleitung In der Märzausgabe des Jahres 2008 zeichnete die Deutschland-Edition von „Runner’s World“ („dem größten Laufmagazin der Welt“) die Stadt Münster als Läufer-Hauptstadt Deutschlands aus. Auf Basis eines vierzehn Punkte umfassenden Kriterienkataloges, der sich aus gleichermaßen „unwissenschaftlichen“ wie „unsportlichen“ Aspekten zusammensetzte, machte Münster „das Rennen“ unter den 25 größten Städten Deutschlands, und der Westfalenmetropole gelang der Sprung auf Platz eins, dicht gefolgt von Karlsruhe und Köln. Zu den Bewertungskriterien gehörten vorrangig die Anzahl der Lauftreffs und Laufwettkämpfe sowie der online-registrierten Laufstrecken (jeweils in Relation zur EinwohnerInnenzahl) und schließlich der Grünflächenanteil an der Gesamtfläche des Stadtgebietes. Daneben spielten die durchschnittlichen Niederschlags-, Schneeund Eistage pro Jahr sowie die Sonnenscheinstunden eine Rolle – aber auch die Fälle von Gewaltkriminalität und die Anzahl von Autos und Hunden im Verhältnis zur Zahl der EinwohnerInnen. Schließlich gingen auch das Angebot an Laufausrüstungsläden sowie die Zahl von „Runner’s World“ AbonnentInnen („als Indiz für die Laufbegeisterung“) in die Bewertung mit ein (Abb. 1).1 Obwohl der Titel bereits 2010 nicht mehr gesichert werden konnte, sondern an Karlsruhe vergeben wurde (Münster auf Platz 2 – was auch am veränderten Kriterienkatalog liegen könnte),2 macht dieses Beispiel auch jenseits populärkultureller Überlegungen einerseits und lokaler wie überregionaler Medienaufmerksamkeit andererseits deutlich, wie sehr sich Laufen bzw. Laufsport zur sportlichen Massenbewegung entwickelt hat, die den Stadtraum zu einem Sportraum – und den städtischen Sportraum zur Stadtmarketingsstrategie werden lässt. Dieser Beitrag thematisiert diese Entwicklungen als Ausdruck eines veränderten Körper- und Gesundheitsbewusstseins und der sogenannten „gesellschaftlichen Sportisierung“. Am Beispiel der Stadt Münster wird dabei erörtert, inwiefern in der postfordistischen Stadt Sporttreiben im Allgemeinen und Laufsport im Besonderen zum bedeutender Teil des urbanen Lebensstils geworden ist, der sich über die Selbstinszenierungen 1

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Vgl. RunnersWorld, The best RunnersWorld Cities: Münster ist top, Wuppertal ein Flop, 2008 (online abrufbar unter http://www.runnersworld.de/sixcms/media.php/10/rw_0308_best_cities.pdf, aufgerufen am 12.3.2009). RunnersWorld, Runner’s-World-City-Ranking 2010 (online abrufbar unter http://cms.runnersworld.de/ sixcms/media.php/10/RUNNERS_WORLD_Staedteranking.pdf, aufgerufen am 16.7.2012), sowie RunnersWorld, Auszeichnung für Karlsruhe (online abrufbar unter http://www.runnersworld.de/training/auszeichnung-fuer-karlsruhe.157186.htm, aufgerufen am 16.7.2012).

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der SportlerInnen und LäuferInnen, aber auch über die kultur- und wirtschaftspolitischen Inszenierungen der Städte als „sportgerechte Stadt“3 erschließen lässt. Nach einer kurzen Einführung in aktuelle überregionale gesellschafts- und sportpolitische Entwicklungen ist es das Ziel des Artikels zu zeigen, dass und wie Laufsporttreibende den städtischen Raum Münsters als sportiv belebten und erlebten Bewegungsraum aktiv konstituieren. Dies gilt nicht nur für die Raumaneignung durch den alltäglichen Promenaden- oder Aaseelauf, sondern beispielsweise auch für innerstädtische Laufwettkämpfe über unterschiedlichste Distanzen, die den Stadtraum durch die körperliche Praxis des Laufens – aber auch durch den Eventcharakter für die ZuschauerInnen – „laufend“ konstruieren.

Abb. 1: Münsters Bürgermeisterin Karin Reismann, selbst passionierte Läuferin, nahm im Februar 2008 von Chefredakteur Frank Hofmann als Auszeichnung ein Ortseingangsschild „Münster − Deutschlands beste Läuferstadt“ entgegen (Foto: Stadt Münster, Presse- und Informationsamt)

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LSB-NRW, Leitbild, Handlungsprogramm und Wettbewerb „Sportgerechte Stadt 2012“ des Landessportbundes Nordrhein Westfalen, 2004 (online abrufbar unter http://www.wir-im-sport.de/templates/lsb/ show.php3?id=772&nodeid, aufgerufen am 16.1.2009).

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Individualisiertes Körper- und Gesundheitsbewusstsein Die stark gewachsene innerstädtische Präsenz von LäuferInnen wie auch von über das ganze Jahr verteilten Laufwettkämpfen und Stadtmarathons lässt sich „darauf zurückführen, dass die kollektive Suche nach körperlichen Selbsterfahrungen, etwa von Authentizitäts-, Gegenwarts- oder Grenzerfahrungen, zugenommen hat“.4 Die kollektive Suche nach körperbezogenen Selbsterfahrungen wiederum verweist auf das veränderte – individualisierte – Körperbewusstsein sowie die stetige Zunahme sportlicher Aktivitäten und lässt sich in der alltäglichen Freizeitgestaltung, aber auch in der Stadt-Gestalt(-ung) wiederfinden. Die gesellschaftlichen Veränderungen im Übergang von Fordismus zu Postfordismus haben zu einem veränderten Körperbewusstsein geführt – zu einer Körperkultur, die sich als „Körperkult“5 sowie in einem „Sportboom“ und „Fitnesswahn“ niederschlägt. Laufsport bzw. allgemeiner: Freizeitsport als gesundheitlicher und auch sozialer Wert ist ein Beispiel dafür, wie gesellschaftliche Prozesse inkorporiert werden. Unter Sport werden dabei nicht nur Training und Bewegungsabläufe gefasst, sondern auch Sport als Lifestyle-Element, als gesellschaftliches Zeichensystem, das neben der aktiven Bewegung den Körper – aber auch den Stadtraum – formt und normt. Die durch Globalisierung und Neoliberalisierung bedingten Umstrukturierungen des Ökonomischen und Gesellschaftlichen – und auch des Städtischen – haben zu einem veränderten Körper- und Gesundheitsbewusstsein geführt, das weniger Arbeitskörper – und damit Arbeit mit dem Körper – denn Körperarbeit und damit Arbeit am Körper erfordert.6 Diese Arbeit am Körper ist ebenso alltäglich und vermeintlich überlebenssichernd wie die körperliche Arbeit der fordistischen Industriegesellschaft, wird allerdings oftmals nicht als Pflicht, sondern als Spaß empfunden und dient nicht der Einkommenssicherung, sondern setzt meist ein gesichertes Einkommen voraus. Der Körperkult in der postfordistischen Gesellschaftsordnung geht dabei weit über das individuelle Wohlbefinden hinaus. „Sich körperlich (Un-)Wohlfühlen“ oder sich – im doppelten Sinne – „in Form fühlen“ sind keine autonomen Gefühle, sondern gesellschaftliche Konventionen und Konstruktionen. Der Körper wird zunehmend als „Option“7 verstanden, der gesund, schön und fit sein muss, um sich auf dem Arbeitsmarkt sowie dem Freizeitmarkt der Lebensstile durchsetzen zu können. Der Körper wird zur „sinnstiftenden Instanz“,8 zur „sichtbarsten Visitenkarte“ des Alltags9 und wird verstanden als soziokulturelle Situation, die gleichermaßen individuell wie gesellschaftlich 4

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Robert Gugutzer, Sport im Prozess gesellschaftlicher Individualisierung, in: Kurt Weis/ders. (Hg.), Handbuch Sportsoziologie, Schorndorf 2008, S. 88-99, Zitat S. 96. Thomas Alkemeyer, Aufrecht und biegsam. Eine politische Geschichte des Körperkults, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 18/2007, S. 6-18, Zitat S. 8, sowie Markus Schroer, Zur Soziologie des Körpers, in: ders. (Hg.), Soziologie des Körpers, Frankfurt a. M. 2005, S. 7-47, Zitat S. 10. Vgl. Thomas Alkemeyer, Bewegung und Gesellschaft. Zur „Verkörperung“ des Sozialen und zur Formung des Selbst in Sport und populärer Kultur, in: Gabriele Klein (Hg.), Bewegung: Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte, Bielefeld 2004, S. 43-78. Schroer, Zur Soziologie des Körpers, S. 35. Robert Gugutzer, Körperkult und Schönheitswahn – Wider den Zeitgeist, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 18/2007, S. 3-6, Zitat S. 3. Paula-Irene Villa, Der Körper als kulturelle Inszenierung und Statussymbol, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 18/2007, S. 18-26, Zitat S. 22.

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reguliert ist. Speziell der sporttreibende Körper wird assoziiert mit der Selbstverantwortung für die eigene Gesundheit und folgt dabei doch weniger individuellen, denn kulturell-idealisierten und gesellschaftlich-normierten Regulativen. Doch es geht nicht nur um die gesellschaftliche Prägung des Körpers, sondern auch um die Verkörperung des Sozialen: Verkörperung umfasst neben dem Prozess der Inkorporation („Verinnerlichung“) auch den der Repräsentation („Darstellung nach außen“) – und beide Prozesse verweisen in ihrem Zusammenspiel auf eine Symbolisierung des Sozialen als Somatisierung.10 Noch konkreter und in Erweiterung der Ebene der Symbolisierung bezeichnet Nina Degele den Prozess, durch den sich gesellschaftliche Strukturen als Normen in den Körper einschreiben, als „Bodyfication“ – als Verkörperung von Gesellschaft sowie als Vergesellschaftung von Körpern.11 Sowohl die Somatisierung des Sozialen als auch der Bodyfication-Prozess wirken dabei auch konstitutiv auf Räume (s. u.). Die zunehmende „Versportlichung des Alltags“12 lässt Sportivität zum weitgehend unhinterfragten gesellschaftlichen Konsens werden: „Sportlichkeit ist zum Leitwert unserer Gesellschaft geworden. Wer sportlich ist, der ist gesund und leistungsfähig, schön und jugendlich, fair und ehrlich, beharrlich und belastbar. Dem sportlichen Menschen werden gar Merkmale zugeschrieben, die als Vorraussetzung für Erfolg und Zufriedenheit im Alltagsleben gelten. Sport bestimmt darum die Lebensführung von immer mehr Menschen“.13 Der eingangs kurz angesprochene Körperkult sowie der Gesundheits- und Sportboom lassen sich in Anlehnung an Foucault14 als individualisierte Selbstformung bzw. als „selbsttechnologische Subjektivierungspraktik“ und „performative Verkörperung des präventiven Selbst“ begreifen. Wie bereits angedeutet, sind diese Selbsttechniken nicht unabhängig von gesellschaftlichen Verhältnissen: Vielmehr zwingt „die postfordistischneoliberale Transformation der Produktionsstrukturen ... die Akteure tendenziell dazu, ihrer Existenz eine unternehmerische Form zu geben. Sie müssen spezifische Selbststeuerungskapazitäten entwickeln und entsprechend ihre Beziehungen zu sich selbst verändern und ,optimieren’. ... dies alles in Verbindung mit einer aktiven Vermarktung des Selbst durch performative Strategien der Selbstdarstellung und -inszenierung“.15 10

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Vgl. Pierre Bourdieu, Programm für eine Soziologie des Sports, in: ders. (Hg.), Rede und Antwort, Frankfurt a. M., S. 193-207. Nina Degele, Bodyfication und Beautification: Zur Verkörperung von Schönheitshandeln, in: Sport und Gesellschaft 1/2004, S. 244-268. Matthias Marschik, Phantome der Einmütigkeit. Räume, Orte und Monumente urbaner Sportkulturen, in: Jürgen Funke-Wieneke/Gabriele Klein (Hg.), Bewegungsraum und Stadtkultur. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2008, S. 129-143, Zitat S. 138. Corina Turnes, Extremsport Triathlon und Michel Foucaults Konzept der Formung von Subjektivität, in: Franz Bockrath/Bernhard Boschert/Elk Franke (Hg.), Körperliche Erkenntnis. Formen reflexiver Erfahrung, Bielefeld 2008, S. 199-213, Zitat S. 202 f. Michel Foucault, Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit III, Frankfurt a. M. 1986; ders., Technologien des Selbst, Frankfurt a. M. 1993; ders., Geschichte der Gouvernementalität, Bd. II: Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt a. M. 2004. Thomas Alkemeyer/Robert Schmidt, Habitus und Selbst, in: Thomas Alkemeyer/Bernhard Boschert/Robert Schmidt/Gunter Gebauer (Hg.), Aufs Spiel gesetzte Körper. Aufführungen des Sozialen in Sport und populärer Kultur, Konstanz 2003, S. 77-102, Zitat S. 97 f.; siehe auch Anke Strüver, Der Konstruktivismus lernt laufen: „Doing more-than-representational geography“, in: Social Geography 6 (2011), S. 1-13; sowie dies., Fit oder fett – Körperkult(-ur) und die Erforschung der Interdependenzen sozialer und räumlicher Kategorisierungen, in: Geographische Zeitschrift 100 (2012), S. 17-33.

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Der Sport eröffnet dem Subjekt dabei ein weites Feld an Individualisierungs- und Selbstbildungsmöglichkeiten – und all diese Möglichkeiten sind unmittelbar an die Körperlichkeit gebunden. Der Körper wird zum zentralen Medium individualisierter Sportund Bewegungspraktiken und erfährt eine Aufwertung zum sinn- und identitätsstiftenden Medium: „Der Sport als ein explizit körperorientiertes Sozialsystem profitiert hier vom Körperkult der Gegenwart, zugleich fördert er diesen aber auch“.16 Und desgleichen kommt die Selbst-Sorge, die Sorge um die Form(-ung) des Körpers und die soziale Distinktion entlang des Körpers „nirgendwo besser zum Ausdruck als dort, wo eine Mitgliedschaft im sozialen Feld ohne den Einsatz des Körpers nicht möglich ist: im Sport“.17 Diese Selbst-Sorge zielt dabei weniger auf eine Optimierung messbarer Leistungen ab (wie beispielsweise im Wettkampfsport) als auf die Optimierung des Selbst, d. h. des Subjekts an sich. Sporttreiben wird somit zu einem zentralen Moment der Selbst-Sorge, zum „Lebensstilmuster“18. Die Verkörperungen dieses Musters wiederum prägen den urbanen Raum als Bewegungsraum für nicht-institutionalisierte Sportaktivitäten wie z. B. Laufen. Sie verweisen neben der Transformation des verkörperten Subjekts insbesondere auf die Entgrenzungsbewegung des Sports und seine Durchmischung mit anderen kulturellen „nicht-sportlichen“ Räumen. Diese Entgrenzungsbewegungen des Sports verweisen zudem auf die gesellschaftlichen Transformationsprozesse der Individualisierung, Informalisierung, De-Regulierung und De-Institutionalisierung, die mit der Entstehung neuer Gemeinschaftsformen und neuer Selbstverhältnisse verbunden sind.19 Das neue Selbstverhältnis basiert zunehmend auf Körpertechnologien im Sinne Foucaults, die der Normierung und Ökonomisierung mit dem Ziel der Optimierung dienen. Das veränderte Verhältnis zum Selbst, zur individualisierten und präventiven Selbst-Sorge, sowie die zunehmende Bedeutung von sozialer Exklusion entlang körperlicher Distinktion lassen sich beispielsweise an den neuen Lifestyle-Sportarten im urbanen Raum, an der Inszenierung der körperlichen Präsentation ablesen. Solche Inszenierungen schließen im Prozess der Identitäts- und Raumkonstitution zugleich diejenigen symbolisch oder auch faktisch aus, die diesen Lifestyle nicht ausdrücken können oder wollen.20 Zudem gewinnt die Rolle des sportlichen Körpers durch massenmedial transportierte Sportereignisse und die Aufladung von Konsumgütern mit der Gesundheitsund Sportsymbolik noch an Bedeutung – und verstärkt zugleich die gesellschaftliche Stigmatisierung und De-Platzierung von Unsportlichkeit.

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Gugutzer, Sport im Prozess gesellschaftlicher Individualisierung, S. 95. Michael Meuser, Frauenkörper – Männerkörper. Somatische Kulturen der Geschlechterdifferenz, in: Markus Schroer (Hg.), Soziologie des Körpers, Frankfurt a. M. 2005, S. 271-294, Zitat S. 282. Gabriele Klein, Urbane Bewegungskulturen. Zum Verhältnis von Sport, Stadt und Kultur, in: Funke-Wieneke/dies. (Hg.), Bewegungsraum und Stadtkultur, S. 13-27, Zitat S. 22. Vgl. Bernhard Boschert, Die Stadt als Spiel-Raum – zur Versportlichung urbaner Räume, in: Wolkenkuckucksheim 7 (2002), o.S. (online abrufbar unter: http://www.tu-cottbus.de/theo/Wolke). Vgl. Strüver, Fit oder fett.

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Sportive Raumkonstruktionen Die sich verändernden Lebens- und Arbeitsformen der letzten Jahrzehnte haben zu einer neuen Bewertung des Körperlichen geführt – und diese Körperlichkeit wird einerseits in verschiedenen Räumen erlangt sowie anderseits in unterschiedlichsten Räumen eingesetzt. In Zeiten des gesellschaftlichen Körperbooms, der individualisierten „Sorge um das Selbst“21 und des wachsenden Stellenwerts von Sport zur „geregelten Manipulation des Körpers“,22 spielen der sportliche Körper bzw. die Somatisierung und „Sportisierung“ des Sozialen daher eine beachtliche Rolle bei der Strukturierung und Inszenierung des Räumlichen. Verkörperte Subjekte sind zugleich Produkte und Produzenten sozialer und räumlicher Verhältnisse. Das heißt: Räume und ihre Bedeutungen werden unter anderem durch verkörperte Subjekte und deren Praktiken performativ konstituiert, und sporttreibende Körper sind nicht nur Medium des Raumerlebens, sondern auch Raum-„Produzenten“. Sie schreiben Räumen nicht nur Bedeutungen zu, sondern konstituieren und materialisieren sie durch die in ihnen aus- und aufgeführten (Sport-)Praktiken, z. B. durch Joggen, Skaten, Walken oder Inlinern im sogenannten öffentlichen Raum.23 Die wachsende Bedeutung von sportlicher Bewegung als Teil der Alltagskultur und damit des öffentlichen Lebens und Raum-Erlebens ist mittlerweile unumstritten: „Die gestiegene kulturelle Bedeutung des Sports [äußert sich] in einer Versportung der Alltagskultur: Immer mehr Zeichen und Attribute des Sports dringen in nicht-sportliche Alltagsbereiche [und -räume] ein“.24 Die Individualisierung von Lebensstilen und Tagesabläufen sowie die performativen Inszenierungen von verkörperten Subjekten haben auch zu einer zeitlichen wie räumlichen Individualisierung von Sportaktivitäten geführt: Sportvereine verlieren aufgrund ihrer zeitlichen Inflexibilität sowie ihrer Ausrichtung auf Gruppenaktivitäten an Attraktivität – wohingegen kommerzielle Sportanbieter wie Fitnessstudios und „alleine laufen“ einerseits sowie selbst-organisierte Nachbarschafts-Laufgruppen und Lauftreffs im Bekanntenkreis andererseits an Bedeutung gewinnen.25 An die Stelle des durch Vereine geschaffenen Gemeinschaftsgefühls tritt eine spontane, oftmals unverbindliche und flexible Gemeinsamkeit, deren Zugehörigkeit mehr über Kleidungscodes und Körperformen bzw. -normen denn über vereinsbezogene Konventionen hergestellt wird. Der Sport der „Generation Körperboom“ verlässt damit die angestammten Sportstätten (wie Turnhallen), „betritt die Straße“ und eignet sich den öffentlich-städtischen Raum, d. h. den gesellschaftlichen Raum an. Gepaart mit der sich immer stärker durchsetzenden sportlich-konnotierten (Marken-)Kleidung führt dies zu einer Durchsetzung der Gesellschaft 21 22 23

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Foucault, Technologien des Selbst. Bourdieu, Programm für eine Soziologie des Sports, S. 206. Vgl. Strüver, Der Konstruktivismus lernt laufen, sowie dies./Claudia Wucherpfennig, Spielerische-sportliche Raumaneignung. Zur Performativität von Körpern und Räumen im Spiegel aktueller Forschung, in: Feministische Studien 30 (2012), S. 66-74. Kurt Weis/Robert Gugutzer, Einleitung. Sport in Gesellschaft und Soziologie, in: dies. (Hg.), Handbuch Sportsoziologie, S. 7-14, Zitat S. 8. Vgl. Thomas Alkemeyer/Bero Rigauer/Gabriele Sobiech (Hg.), Organisationsentwicklungen und De-Institutionalisierungsprozesse im Sport, Schorndorf 2005.

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mit der Sportsymbolik auf unterschiedlichsten Ebenen, nicht nur der der tatsächlich sportiven Bewegung. Laufsport scheint zunächst primär der individuellen Bedürfnisbefriedigung zu dienen – oftmals als zeitlich flexibel praktizierbarer Ausgleich zum Arbeitsalltag und zur Erlangung einer Fitness, die das körperliche wie seelische Wohlbefinden fördert. Laufen als Teil der Alltagskultur mündet in eine „Versportung von Alltagskultur“26 in städtischen Räumen; die verkörperten Subjekte erfahren und strukturieren dabei den Raum. „Die individualisierten Lebensstile ... werden dabei zu Taktgebern der Sportentwicklung sowie zu Motoren einer veränderten Struktur der Sportnachfrage. In den Verdichtungsräumen der Städte zeigen sie zunehmend ihre determinierende Kraft“.27 Die wachsende Bedeutung von zeitlicher und räumlicher Unabhängigkeit von sportlichen Aktivitäten einerseits sowie die Zunahme von breiten- und gesundheitssportlichen gegenüber leistungs- und wettkampfsportorientierten Interessen andererseits führen somit zu einer Verschiebung der Nutzung von sportlichen Funktionsräumen (wie beispielsweise Sporthallen, Tartanbahnen oder Vereinsheimen) hin zur Nutzung von öffentlichen Alltagsräumen, denen wiederum durch die sportiven Nutzungen veränderte Bedeutungen zugewiesen werden, durch die Sporttreibenden wie durch die übrigen NutzerInnen: „Sie [die sportlichen Akteure] konstituieren diese Plätze und Orte als sportive urbane Bedeutungsräume sozusagen erst, sie machen sie sich zu eigen und stellen sie sich in einem aktiven Prozess körperlicher Praxis in ihrer besonderen Aura her. Die sportlichen Akteure nehmen so gewissermaßen einerseits am öffentlich-städtischen Leben teil und sind andererseits zugleich selbst tragendes Element dieses öffentlichstädtischen Lebens. Sie erfüllen es mit einer pulsierenden Lebendigkeit und stellen somit selbst eine Repräsentation und Verkörperung städtischer Öffentlichkeit dar“.28 Zu den pulsierenden und verkörperten Aspekten urbaner Sporträume gehört auch das „Sehen und Gesehenwerden“,29 denn städtische Alltagsräume stellen auch eine Bühne zur Selbst-Darstellung und -Inszenierung bereit. Das heißt: Einerseits wird dadurch der Raum konstituiert, und andererseits konstituiert er diejenigen, die sich in ihm aufhalten: „Durch die gemeinsamen Bewegungspraxen ... wird eine Form von Gemeinschaft erzeugt, die ihren Akteuren eine Form von Exklusivität verschafft. ... Indem sie mit ihren Aktivitäten einen öffentlichen Ort besetzen, werden sie im sozialen Raum zugleich verortbar und verortet. Und diese Platzierung im sozialen Raum geht wiederum mit einer besonderen Sichtbarkeit einher, indem sie sozusagen auf einer körperlichen Aufführung beruht [und] in Szene gesetzt [wird]“.30

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Gugutzer, Sport im Prozess gesellschaftlicher Individualisierung, S. 96. Volker Ritter, Stadt und Sport, in: Weis/Gugutzer (Hg.), Handbuch Sportsoziologie, S. 208-218 (Zitat von Seite 208). Boschert, Die Stadt als Spiel-Raum, o.S. Hannelore Bublitz, Sehen und Gesehenwerden – Auf dem Laufsteg der Gesellschaft. Sozial- und Selbsttechnologien des Körpers, in: Robert Gugutzer (Hg.), body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld 2006, S. 341-361, Zitat S. 341. Boschert, Die Stadt als Spiel-Raum, o.S.

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Anke Strüver

Stadtmarketing und Stadträume In der postfordistischen Stadt wird Sporttreiben zum bedeutenden Teil des urbanen Lebensstils, der sich über die Selbstinszenierungen der „Innenstadtfigur des Sportlers“31 – wie auch über die Inszenierungen der Städte z. B. als „sportgerechte Stadt“ erschließen lässt. Nach Eva Kreisky folgt diese Innenstadtfigur dem Leitbild: „Nur ein sportlich-schlanker ist auch ein disziplinierter Körper“ – wie ihn die neoliberale Politik und Ökonomie benötige; eine Politik, in der der Körper als sozialer Platzanweiser fungiere bzw. in der sich neue Differenzkategorien entlang des gesunden und sportlich-fitten Körpers etablierten: „Die neoliberale Gesellschaft besteht aus zwei Körperklassen, aus jener sozialen Gruppe, die ihren Körper angeblich im Griff hat, sich also ,selbst‘ zu ,führen‘ vermag, und aus jener Klasse, deren Körper durch andere diszipliniert und normalisiert werden muss“.32 Derartige (Sport-)Entwicklungen sowie die Inszenierungen der Städte als „sportliche Städte“ werden zunehmend auch in Stadtentwicklungsprogrammen aufgegriffen – in Nordrhein-Westfalen beispielsweise als Konzept der „sportgerechten Stadt“,33 das unter anderem aus der Schaffung bzw. Erhaltung innenstadtnaher Grün- und Freiflächen für Sportaktivitäten besteht (vgl. Abb. 2 und 3) – sowie einer Konkurrenz um Auszeichnungen wie „Läufer-Hauptstadt Deutschlands“ (s. o.), „schönster innenstadtnaher Sportpark“ oder auch den „Green Cities Fit for Life“-Award bzw. die Kürung zur „European Green Capital“.34

Abb. 2: Sportpark am Aasee 2009 (Foto: Anke Strüver) 31 32

33 34

Klein, Urbane Bewegungskulturen, S. 25. Eva Kreisky, Fitte Wirtschaft und schlanker Staat: das neoliberale Regime über die Bäuche, in: Henning Schmidt-Semisch/Friedrich Schorb (Hg.), Kreuzzug gegen Fette. Sozialwissenschaftliche Aspekte des gesellschaftlichen Umgangs mit Übergewicht und Adipositas, Wiesbaden 2008, S. 143-161, Zitat S. 147. LSB-NRW, Leitbild, Handlungsprogramm und Wettbewerb „Sportgerechte Stadt 2012“. European Commission (online abrufbar unter http://ec.europa.eu/environment/europeangreencapital/ green_cities_submenu/finalists_2010_2011.html, aufgerufen am 2.5.2012), sowie Aaseepark Münster (online abrufbar unter http://www.aaseepark.de/, aufgerufen am 16.1.2009).

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Die Inszenierungen des (sportlichen) Selbst stehen in engem Verhältnis zur Inszenierung der (sportlichen) Stadt – und die Inszenierungen des Selbst basieren zunehmend auf einer Form von Sportlichkeit, die „Lifestyle auf Bodystyle“ reduziert und den individualisierten Körper als Teil eines kollektiven Sportevents in der Stadt präsentiert. Der sozioökonomische Wandel der letzen zwei Jahrzehnte lässt sich somit nicht nur am „Sport-Körper“, sondern auch am „Stadt-Körper“, in der Stadtgestalt und -entwicklung ablesen – und das Zusammenspiel von beidem äußert sich unter anderem in der sportiven Verkörperung der städtischen Öffentlichkeit und in neuen Aneignungsformen des Städtischen: Dazu gehören die veränderten kulturellen Codes und Zeichensysteme einerseits, aber auch die verkörperten – und insbesondere sportiven – Aneignungen des Stadtraumes durch z. B. Läufer, Skater, Rad(renn)fahrer und Inliner im Alltagsleben oder auch durch Beachvolleyballer und Reiter im Rahmen von Turnierveranstaltungen andererseits. Der Strukturwandel hin zur postfordistischen Stadt zeigt sich darüber hinaus explizit im Umbau der Innenstädte zu Anziehungspunkten für (Tages-)TouristInnen, die mit Hilfe von Kulturfestivals, Sportgroßevents und vielem anderen angelockt werden sollen. „Die neoliberale Stadtpolitik befördert die Vermarktung und Eventisierung von Kultur und Sport und die Festivalisierung des urbanen Raumes“.35 Das bedeutet, dass im Wettbewerb der Städte zunehmend auch „weiche“ Standortfaktoren der Lebensqualität eine Rolle spielen und dass diese neben den „Klassikern Kunst, Kultur und Kulinaria“ verstärkt auch den Konsum von Sport(groß)events – sei es als aktiv-Teilnehmende oder als Zuschauende – als Teil der Standortprofilierung umfassen.36 Die Ausführungen haben verdeutlicht, dass sporttreibende Körper städtische Räume als sportiv belebte und erlebte Bewegungsräume konstituieren. Dies gilt neben der Raumaneignung durch den alltäglichen Freizeitsport auch für sportliche Wettkämpfe, die den Stadtraum durch den Event des Laufes bzw. die körperliche Praxis des Laufens „laufend“ konstruieren. „Sportkörper sind daher zum einen (körperlich) Sport treibende Körper und zum anderen Sport fühlende, sich sportlich oder unsportlich spürende Leiber, die in ihrer Verschränktheit einen Ort, eine Region, ein Land ,spürbar‘ verändern können“.37 Wenn zum Beispiel ein Marathonlauf einen ganzen Sonntag die (Innen-)Stadt bzw. das Stadtleben beherrscht und neben Tausenden von LäuferInnen auch das Publikum an die Straßen lockt, kann von einer „Sportisierung des Räumemachens, Räumeschaffens und Räumeerlebens“38 gesprochen werden. Die Sportisierung bzw. Versportlichung städtischer Räume korrespondiert wiederum mit einer Kulturalisierung des Sports: Beide Prozesse unterliegen der ökonomisch motivierten Festivalisierung und Eventisierung. 35

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Gabriele Klein, Marathon, Parade und Olympiade: Zur Festivalisierung und Eventisierung der postindustriellen Stadt, in: Sport und Gesellschaft 1 (2004), S. 269-280, Zitat S. 270. Vgl. Christoph Rasche, Metropolenprofilierung durch Dienstleistungen des Sports. Sozialökonomische Perspektiven, in: Funke-Wieneke/Klein (Hg.), Bewegungsraum und Stadtkultur, S. 257-270, sowie Philipp Andrews/Frank Daumann, Die Stadtmarathon-Branche in Deutschland. Eine ökonomische Analyse der Marktposition der Veranstalter, in: Sport und Gesellschaft 2 (2005), S. 67-91. Daniel Schrödl, Die „Sportisierung“ Schwedens – Geographische Überlegungen zur Rolle des Sports in Schweden, in: Würzburger Geographische Manuskripte 72 (2007), S. 60-75, Zitat S. 65. Vgl. ebd., S. 67.

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Sportisierung des Räumeerlebens In Münster sind die Turn- und Sportvereine seit fast hundert Jahren im Stadtsportbund (SSB) organisiert (gegründet 1919), der die Interessen der Vereine und ihrer Mitglieder gegenüber der Stadtverwaltung vertritt. Größter Sportanbieter in der Stadt ist der Hochschulsport, mit einem Angebot in rund hundert verschiedenen Sportarten und ca. 18.000 Teilnehmenden pro Woche (Wettkampf- wie Breitensport). Dazu gehört auch ein eigenes Laufteam im Bereich der sogenannten „Individualsportarten“39 sowie der jährliche Laufwettkampf „Leonardo Campus Run“.40 Neben dem ca. 180 aktive LäuferInnen umfassenden Laufteam des Hochschulsportes sind 16 weitere Münsteraner Lauftreffs im Stadtsportbund organisiert, darunter auch die „Laufsportfreunde Münster e. V.“, einer der größten deutschen Laufvereine mit derzeit mehr als 750 LäuferInnen:41 Insbesondere die „Laufsportfreunde“ haben wiederum neben der Sportisierung des städtischen Alltagslebens und -raumes auch die Eventisierung des Münsteraner Laufsports in Form von mittlerweile fest institutionalisierten Laufwettkämpfen maßgeblich vorangetrieben: Durch die Organisation des jährlich stattfindenden „Internationalen Silvesterlaufs“ am Aasee seit 1989, den LSF-Straßenlauf seit 1996, die aktive organisatorische wie läuferische Beteiligung am Münster Marathon (seit 200242) sowie am Brooks City Run (seit 2007) (Abb. 4).43 Die Teilnahme am seit 2002 regelmäßig im September stattfinden Münster Marathon – als aktiv Laufende oder Zuschauende – stellt dabei sicherlich den jährlichen Höhepunkt des läuferischen Räume- bzw. Stadterlebens dar und steht zugleich in Konkurrenz zum Stadterleben in anderen Städten, wie sich an einer Befragung von MarathonläuferInnen ablesen lässt: −„Ich laufe in Lissabon, weil es für mich Anlass – und Ausrede – ist, dort mal wieder hinzufahren. MüMa [Münster Marathon] laufe ich wegen den Freunden und Bekannten am Straßenrand.“ −„Chicago – das ist schon im Alltag eine sehr sportliche Stadt. ... Chicago-Marathon war für mich [als Deutsche] keine sportliche Herausforderung, sondern ein Stadterlebnis. Man läuft durch diese Häuserschluchten, dann entlang am Seeufer, das ist eine 39

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Vgl. http://www.hsp-ms.uni-muenster.de sowie http://www.laufteam-muenster.de (beide aufgerufen am 8.10.2012). Vgl. http://www.uni-muenster.de/Leonardo-Campus-Run (aufgerufen am 26.10.2012). Vgl. Stadtsportbund Münster (online abrufbar unter http://www.stadtsportbund-ms.de, aufgerufen am 2.5.2012) sowie Laufsportfreunde Münster e. V. (online abrufbar unter http://www.lsf-muenster.de, aufgerufen am 2.5.2012); zum Vergleich: 1992 hatten die Laufsportfreunde 133 Mitglieder, im Jahr 2002 bereits 499 Mitglieder. Vgl. http://www.volksbank-muenster-marathon.de (aufgerufen am 14.7.2012) Der Brooks-City-Run basiert auf der Kooperation der Laufsportfreunde Münster mit der Laufschuh- und -bekleidungsfirma brooksrunning. Zugleich ist Münster Firmensitz der europaweit agierenden Brooks Sports GmbH, einem Tochterunternehmen des US-amerikanischen Laufschuh- und Laufbekleidungsherstellers „Brooks“ (http://brooksrunning.de/396053/52/de/Zahlen-Daten-Fakten.html, aufgerufen am 26.10.2012). „Brooks“ wiederum kooperiert eng mit dem in Deutschland wohl bekanntesten Hobbyläufer „Achim Achilles“ (Hajo Schumacher), der ebenfalls aus Münster stammt. Mit seiner Spiegel-Online-Laufkolumne „Achilles Verse“ sowie seiner eigenen Homepage ist er gleichwohl eher national denn regional orientiert (http://www.achim-achilles.de; http://www.spiegel.de/sport/achilles/ – aber auch: http://www.spiegel.de/ sport/achilles/achilles-spezial-muenster-du-hauptstadt-der-laeufer-a-535451.html, alle aufgerufen am 25.5.2012).

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Abb. 3: Laufen „im Herzen der Stadt“: Werbepostkarte von Münster Marketing (im Verkauf seit 2008)

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Anke Strüver Abb. 4: Brooks Münster City Run. Plakat in Münsteraner Innenstadt (Foto: Anke Strüver)

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Abb. 5: Screenshot: „Ganz Münster ist ... auf den Beinen“ beim Lauf „durch die historische Innenstadt“ (www.brooksrunning.de/461/de/index.php?page=news/, aufgerufen am 14.7.2012)

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großstädtische Erfahrung, ein Erlebnis während des Laufs! In Münster..., Laufen in Münster ist für mich Alltag. Wie fast jeder hier laufe ich die Runde Promenade und Aasee. ... Fast jeder wohnt entweder nah an der Promenade oder dicht am Aasee, d. h. die Strecke ist im Prinzip für alle gleich, nur der Startpunkt variiert.“ −„Wenn ich in New York laufe, will ich was sehen, wenn ich in Münster laufe, will ich gesehen werden!“ −„Ich bin nur in Stockholm Marathon gelaufen, wie ich die Stadt mal sehen wollte; also die Stadt als solche und die Stadt während des Laufens. ... Münster Marathon laufe ich auch immer wieder gerne, aber da spielen andere Beweggründe eine Rolle: In Münster, da fühle ich mich läuferisch zuhause ... und da kenne ich natürlich jede Menge Leute an der Strecke. ... Und auch im Alltag, also im Laufalltag... in Münster brauchst Du Dich zum Laufen am Aasee eigentlich nicht verabreden, da triffst Du immer jemanden, den Du kennst!“44 Zwei der zitierten MarathonläuferInnen nehmen hier neben den unterschiedlichen Gründen für die Teilnahme am Münster Marathon „zuhause“ und am Stadterlebnis im Ausland direkten Bezug auf ihren läuferischen Alltag(-sraum) in Münster, der sich auf den mitten in der Stadt gelegenen Aasee konzentriert.45 Sportisierung des Räumemachens Für viele MarathonläuferInnen von außerhalb ist gleichwohl die Stadt Münster im Zusammenhang mit dem Marathon genau ein solches (Kurz-)Urlaubsziel, d. h. während städtischer Lauf- bzw. Marathonevents vermischt sich die Perspektive des Räumeerlebens (als stadttouristische Attraktion) mit der des „laufenden“ Räumemachens (in der Alltagspraxis, „dann läuft ganz Münster“, siehe Abb. 6). Allerdings spricht sich Bernadette Spinnen, die Leiterin von „Münster Marketing“, einem im Jahr 2000 gegründeten städtischen Eigenbetrieb als operatives Pendant zum Amt für Stadt- und Regionalentwicklung, im Kontext des Symposiums „Sport findet Stadt“ (2004)46 eher für eine auf Sport-bezogene Stadtmarketingstrategie jenseits von sportlichen Großveranstaltungen aus: Anstelle von Eventisierung und Festivalisierung favorisiert sie eine Konzentration auf den Sport als profilbildende Lebens- und Erlebnisqualität für das Alltagsleben in der Gesamtstadt.47 44

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Ausführlicher Anke Strüver, Marathonevents als Urlaubsziel – zur „laufenden“ Konstruktion von Tourismusräumen, in: Karlheinz Wöhler/Andreas Pott/Vera Denzer (Hg.), Tourismusräume. Zur soziokulturellen Konstruktion eines globalen Phänomens, Bielefeld 2010, S. 225-244. Einer der Interviewten äußert sich dazu wie folgt: „Der See in der Mitte, der spielt schon eine große Rolle für die Attraktivität Münsters als Läuferstadt – gerade auch im Vergleich zur landschaftlich wenig reizvollen Umgebung“ (vgl. Strüver, Marathonevents als Urlaubsziel). Vgl. Bernadette Spinnen, Lebenswerte Stadt – Sport im Stadtmarketing von Münster, in: Sport findet Stadt. Dokumentation des 12. Symposiums zur nachhaltigen Entwicklung des Sports vom 09.-10. Dezember 2004 in Bodenheim/Rhein (Schriftenreihe „Sport und Umwelt“ des Deutschen Sportbundes 23/2005), S. 71-82. In aktueller Umsetzung siehe: http://www.muenster.de/stadt/tourismus/sport_laufen.html (aufgerufen am 8.10.2012).

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Abb. 6: Screenshot: Münster Marketing. Hier wird die enge Verbindung zwischen der Vermarktung der „Läuferstadt“ für die lokale Bevölkerung einerseits („Paradies für Läufer mitten in der Innenstadt“) und für die TouristInnen andererseits deutlich („vom Hotel aus loslaufen“) (www.muenster.de/stadt/ tourismus/sport_laufen.html, aufgerufen am 8.10.2012).

Hervorgehoben wird in diesem Zusammenhang einerseits „Münsters Stadttopographie, seine runde Form und die für eine Großstadt zahlreichen und großzügigen Grünflächen“ sowie andererseits „die Bewegungsfreude und das gesundheitsbewusste Verhalten“ der Bevölkerung.48 Im Jahr 2008 wurde durch Münster Marketing „der Beitrag des Sports zur Profilierung von Münster als ,Stadt in Bewegung’ im Rahmen des Markenbildungsprozesses“ konkretisiert. Als sogenannte Profilanker galten bzw. gelten: – „Münster als bewegungsaktive Stadt, – Münster als Ort eines gesundheitsbewussten Lebens mit einer Vielzahl von Laufveranstaltungen, – Münster als ,Grüne Stadt’ mit einem sehr hohen Anteil an Grün- und Freiflächen, die ... beste Voraussetzungen für Bewegung und Sport in qualitativ hochwertigen und gut erreichbaren Stadt- und Landschaftsräumen bietet, – Münster als Hochschulstandort mit sport- und bewegungsaktiven Studierenden“.49 48 49

Spinnen, Lebenswerte Stadt – Sport im Stadtmarketing von Münster, S. 77 f. Beschlussvorlage der Stadt Münster zum „Sport als Marketingfaktor für die Stadt Münster“ (2008), S. 4.

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Fazit Sportliche Aktivitäten wie Laufen im Alltag, aber auch Laufwettkämpfe und Stadtmarathons sowie die damit jeweils einhergehenden Prozesse der Selbst-Inszenierung der Sporttreibenden lassen die Stadt zur Bühne oder Kulisse für Alltags- wie Trendsportarten und prestigesträchtige Sportevents werden. In beiden Fällen wird die Stadt zur Sport-Landschaft, die über und in der Bewegung wahrnehmbar und erfahrbar wird – für Sporttreibende wie für Zuschauende – und die im Sinne eines wechselseitigen Konstitutionsverhältnisses von sporttreibenden Körpern und sportisierten Räumen den Stadtraum „laufend“ konstituieren. Städtische Raumstrukturen können die sportiven Bewegungen von Körpern ermöglichen wie behindern – und sind damit konstitutiv für diese Bewegungen. Im Falle Münsters wirken sich die topographischen Gegebenheiten – insbesondere die Zentralität von Aasee und Promenade – sicherlich ermöglichend für die ohnehin als sehr bewegungsfreudig bzw. läuferisch aktiv charakterisierte Bevölkerung aus. So erschließen sich neue Bewegungskulturen in der Stadt neue Sporträume, die durch andere Funktionen, Nutzungen und Bedeutungszuschreibungen gekennzeichnet waren und nun durch die sportliche Betätigungen neu codiert und umdefiniert werden. „Diese neuen urbanen Sporträume [wie beispielsweise die Promenade in Münster] sind somit Räume, in denen sich ein anderes Sportverständnis artikuliert, das wiederum auf gesamtgesellschaftliche Veränderungen hindeutet, so dass sich die sportive Besetzung von urbanen Räumen und die dort erlebte körperliche Bewegungs-Praxis zugleich als ein Bedeutungs- und Erfahrungsraum darstellt“.50 Eine Konzentration auf sportliche Bewegungen im Stadtraum – auf sportliche Akteure, die den Raum über ihre Bewegungen wahrnehmen und konstituieren – leistet damit einen weiteren Beitrag zum sogenannten Spatial turn, der im vorliegenden Kontext nicht nur auf den Raum als Analysekategorie verweist, sondern auch auf die (stadt-)theoretischen Debatten zu Raumkonzeptionen bzw. zur Ko-Konstitution von Räumlichem und verkörpertem Sozialen.51 Räumliche Strukturen sind dann mehr als das Abbild gesellschaftlicher Gegebenheiten, nämlich ein Medium sozialer Ordnungen. Die „andere Seite der Medaille, dass auch das Soziale räumlich konstruiert ist“52 bzw. dass die räumliche Organisation von Gesellschaft relevant für ihr Funktionieren ist, spielt dabei eine ebenso wichtige Rolle, so dass zum einen die Konstruktion von Raum durch die Wechselbeziehung mit dem Gesellschaftlichen bestimmt ist und zum zweiten die Rolle des Räumlichen in gesellschaftlichen Entwicklungen von besonderem Interesse ist. Anhand der „Versportung“ von städtischen Alltagsräumen lässt sich dabei insbesondere das ko-konstitutive Wechselverhältnis von verkörperten (sporttreibenden) Subjekten und sportisierten (städtischen) Räumen verdeutlichen. Die aktuellen sozialund kulturwissenschaftlichen Debatten um die Kategorie des Raumes lassen sich somit 50

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Bernhard Boschert, Der Sport und der Raum – der Raum des Sports, in: SportZeiten 2 (2002), S. 19-37, Zitat S. 29. Vgl. Strüver, Der Konstruktivismus lernt laufen. Doreen Massey, Politik und Raum/Zeit, in: Bernd Belina/Boris Michel (Hg.), Raumproduktionen. Beiträge der Radical Geography – eine Zwischenbilanz, Münster 2007, S. 111-132, Zitat S. 116.

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ähnlich führen wie die Erörterung des Körpers – da sowohl Körper als auch Räume nicht (mehr) nur im Hinblick auf ihre sozial konstruierten Bedeutungen, sondern auch umgekehrt als „Produzenten“, als Konstituierungsmerkmale für Sozialität und Gesellschaft konzeptionalisiert werden. Unter „sporttreibenden Körpern“ werden also Subjekte verstanden, die sich sportlich betätigen und fühlen, Orte und Räume prägen und verändern können: Wenn zum Beispiel die innenstadtnahen Grüngürtel und Freiflächen rund um die Uhr „be-joggt“ werden, kann von einer ,Sportisierung des Stadtmachens‘ gesprochen werden. Denn „Sport kann zwar überall betrieben werden, jedoch ist der moderne, professionalisierte, kommerzialisierte und ökonomisierte Massensport von Urbanität nicht zu trennen: Er bedarf der Stadt als Entfaltungsraum“.53 Gerade in der postfordistischen Stadt ist Sporttreiben bedeutender Teil des urbanen Lebensstils, der sich über die Selbstinszenierungen der Sporttreibenden – wie auch über die Inszenierungen der Städte, z. B. als „sportgerechte Stadt“ oder gar als „Läuferhauptstadt Deutschlands“ − erschließen lässt.

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Matthias Marschik, Phantome der Einmütigkeit. Räume, Orte und Monumente urbaner Sportkulturen, in: Funke-Wieneke/Klein (Hg.), Bewegungsraum und Stadtkultur, S. 129-143, Zitat S. 129.

125 JAHRE PROVINZIALORDNUNG FÜR WESTFALEN – HISTORISCHE UND AKTUELLE PERSPEKTIVEN

Die Inkraftsetzung der „Provinzialordnung“ für die Provinz Westfalen durch den preußischen Staat am 1. August 1886 markiert eine grundlegende Zäsur in der Geschichte der landschaftlichen Selbstverwaltung Westfalens. Sie machte aus dem „ständischen“ Provinzialverband einen Kommunalverband in der Trägerschaft der Kreise und kreisfreien Städte, dessen Aufgaben und Zuständigkeiten sich zu einem komplexen Dienstleistungssystem im modernen Industrie- und Wohlfahrtsstaat entwickelten. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) steht in der Tradition der damals geschaffenen verfassungsmäßigen Ordnung. Grund genug für eine Erinnerung an das Ereignis 125 Jahre danach. Daher richteten der LWL und das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte am 7. November 2011 im Plenarsaal des Landeshauses in Münster eine Vortrags- und Diskussionsveranstaltung aus. Die Retrospektive, die im Folgenden dokumentiert wird, nahm und nimmt die westfälische Provinzialordnung als Ausgangspunkt für einen grundlegenden Überblick über die Geschichte des Verhältnisses von Staat, Provinz/Region und kommunaler Selbstverwaltung. Vor dem Hintergrund der historischen Befunde ging und geht es aber auch um aktuelle Aspekte und Perspektiven dieses Verhältnisses. Darüber diskutierte der LWL mit Vertretern aus den Geschichts-, Rechts- und Verwaltungswissenschaften sowie mit interessierten Bürgerinnen und Bürgern.

Konzeption/Redaktion: Franz-Werner Kersting/Katharina Stütz, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte

Begrüßung und Eröffnung

Dr. Wolfgang Kirsch, LWL-Direktor Sehr geehrte Damen und Herren, Ihnen allen ein herzliches Willkommen hier im LWL-Landeshaus in unserem schönen, neuen Plenarsaal. Der moderne Umbau darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die beiden Landschaftsverbände in Nordrhein-Westfalen eine lange geschichtliche Tradition besitzen. Ihre Vorläufer waren die preußischen Provinzen, die nach dem Wiener Kongress 1815 gebildet wurden. Nach den ständisch verfassten Provinzialständen erfolgten in den Jahren nach 1871 entscheidende Schritte zur Verwirklichung und Festigung der provinzialen Selbstverwaltung. Wir würdigen mit der heutigen Veranstaltung 125 Jahre Provinzialordnung. Ein historisches Ereignis, das eine grundlegende Zäsur in der Geschichte der landschaftlichen Selbstverwaltung Westfalens bedeutete: Mit der neuen verfassungsrechtlichen Ordnung, die am 1. August 1886 in Kraft trat, wurde aus dem ständischen Provinzialverband ein Kommunalverband. Die Provinzialversammlung wurde nicht mehr vom bevorrechtigten Grundbesitz gewählt, sondern durch die Stadt- und Landkreise. Die mit der Provinzialordnung geschaffene verfassungsmäßige Struktur der Provinzialverwaltung hat sich in Westfalen-Lippe und im Rheinland im Großen und Ganzen bis heute erhalten. 1886 ging es ganz bescheiden los mit gerade einmal 21 Beamten und 570 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Heute arbeiten beim LWL über 13.000. Die Aufgaben und Zuständigkeiten haben sich in den letzten 125 Jahren zu einem komplexen Dienstleistungssystem im modernen Industrie- und Wohlfahrtsstaat weiterentwickelt. Ein Schwerpunkt – damals wie heute – war die soziale Fürsorge. Der Provinzialverband kümmerte sich um all diejenigen, für die sonst keine Gemeinde zuständig war. Das war damals vor allem die Fürsorge für „Geisteskranke“, „Idioten“ und „Epileptische“ in den Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten. Heute bietet der LWL-PsychiatrieVerbund Westfalen-Lippe mit rund 6.600 Betten und Plätzen vielfältige Leistungen zur Behandlung, Rehabilitation, Eingliederung und Pflege von psychisch kranken Menschen an. Damals lag zudem die Fürsorge für Taubstumme, für Blinde, für „gefährdete und verwahrloste Kinder“ sowie für „Krüppel“ beim Provinzialverband. Heute betreibt der LWL 35 Förderschulen an verschiedenen Orten in Westfalen-Lippe, in denen rund 6.400 Kinder und Jugendliche ihren Fähigkeiten entsprechend gefördert werden. Nicht zuletzt ist der LWL für die Behindertenhilfe zuständig. Mehr als 85 Prozent des LWL-Haushalts fließen heute in soziale Aufgaben. Den größten Posten macht dabei die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung aus. Darüber hinaus gehört damals wie heute die Kultur- und Denkmalpflege zu den wichtigen Aufgaben des Verbandes. Es gab aber auch vielfältige Veränderungen bei den Aufgaben der Provinzial- und der Landschaftsverbände. Immer wieder gab es gesetzliche Aufgabenübertragungen und

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Wolfgang Kirsch

-änderungen. Der Verband war beispielsweise zeitweise auch Landesversicherungsanstalt und Landesarbeitsamt − Aufgaben, für die heute andere Organisationen zuständig sind. Über 125 Jahre fiel zudem das Straßen- und Wegewesen in die Zuständigkeit der Kommunalverbände. Bereits seit 1875 wurde die Verwaltung und Unterhaltung der Staatschausseen an die Provinzialverbände übertragen. Seit 2001 nehmen nicht mehr die Landschaftsverbände die Aufgabe des Straßenbaus war, sondern das Land NRW mit dem Landesbetrieb Straßen.NRW. Das Besondere an dem Verband der damaligen Zeit war, dass er in seinem Bereich das Recht der „subsidiären Allzuständigkeit“ hatte. Es gab – anders als heute in der Landschaftsverbandsordnung – keinen festen Zuständigkeitskatalog, sondern eine umfassende „Aufgabenwahrnehmungsmöglichkeit“. Der Provinzialverband konnte das tun, was die Städte und Kreise nicht tun konnten oder wollten. Das war neu, modern und entsprach dem Subsidiaritätsprinzip – damals wie heute. Die Landschaftsverbände fordern seit Längerem wieder die Verankerung einer Öffnungsklausel in der Landschaftsverbandsordnung, mit der dem LWL weitere Aufgaben durch die Mitgliedskörperschaften übertragen werden können. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die umfangreichen Aufgaben der preußischen Provinzialverbände konnten natürlich nur mit einer ausreichenden Finanzausstattung gewährleistet werden. Einen großen Teil der Einnahmen im Haushalt der Provinz machten die staatlichen Dotationen aus, die der preußische Staat zur Verfügung stellte. In einem Buch zur provinziellen Selbstverwaltung von 1909 wird beschrieben, dass die Dotationen des preußischen Staates für die ersten Jahre der Selbstverwaltung „reichlich bemessen waren“. Weitere Einnahmequelle war vor allem die sogenannte Provinzialsteuer. Die Provinzialsteuer entspricht der heutigen Landschaftsumlage, war also von den Stadt- und Landkreisen zu zahlen und umfasste einen bestimmten Prozentsatz von den Steuereinnahmen der Mitgliedskörperschaften. Im Jahr 1891 betrugen die Provinzialsteuer 600.000 Mark und die staatlichen Dotationen über 3 Mio. Mark. Das war ein Verhältnis von 1:5. Im Haushaltsjahr 1909 waren es dann 3,7 Mio. Mark Provinzialsteuern gegenüber 3,8 Mio. Mark staatlicher Dotationen, also schon ein Verhältnis von fast 1:1. Diese Entwicklung wurde schon Anfang des vergangenen Jahrhunderts sehr kritisch gesehen. Die früheren staatlichen Dotationen entsprechen im heutigen LWL-Haushalt den Schlüsselzuweisungen durch das Land. Während im Jahr 1954 die Schlüsselzuweisungen des Landes und Erträge aus der Landschaftsumlage sich genau wie schon im Jahr 1909 nahezu die Waage hielten, klafft die Schere bis heute immer mehr auseinander. Das Land beteiligt sich nur noch mit ca. 20 Prozent an den Ausgaben, und die Mitgliedskörperschaften müssen 80 Prozent der Ausgaben aufbringen. Heute erfolgt deshalb die Finanzierung des LWL somit weit überwiegend durch die Mitgliedskörperschaften. Insbesondere aufgrund der steigenden Kosten in der Behindertenhilfe steuert der LWL dabei in diesem Jahr auf das größte Defizit in seiner Geschichte in einer Größenordnung von rund 160 Millionen Euro zu. Wir fordern daher seit langem eine Entlastung in diesem Bereich durch Land und Bund.

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Schlüsselzuweisungen und Ausgabensteigerungen bei den sozialen Aufgaben driften bei den Landschaftsverbänden wesentlich weiter auseinander als bei Städten und Gemeinden. Bei der Diskussion um das Gemeindefinanzierungsgesetz 2012 werden wir uns daher für eine Neuaufteilung der Schlüsselmasse und einen Soziallastenansatz einsetzen. Nach einem im Auftrag der Landesregierung NRW erstellten, finanzwirtschaftlichen Gutachten von Herrn Prof. Junkernheinrich müsste der Anteil der Landschaftsverbände statt bei heute 9,8 Prozent eigentlich bei 15,4 Prozent liegen – das wären nach dem GFG 2010 zusätzlich etwa 358 Mio. Euro gewesen. Die kommunale Selbstverwaltung beruht auch auf dem Vertrauen, dass sie von Bund und Land respektiert wird und ihr die notwendigen Freiräume und Mittel zur Verfügung gestellt werden. Heute besteht die große Gefahr, dass die kommunale Selbstverwaltung auf der Strecke bleibt und damit ein wesentliches Stück bürgerlicher Freiheitsrechte. Meine sehr geehrten Damen und Herren, vor 125 Jahren wurde mit der Provinzialordnung der Grundstein für die landschaftliche Selbstverwaltung in Westfalen-Lippe gelegt. Das Haus, das daraus bis heute entstanden und gewachsen ist, ist angesichts der aktuellen Rahmenbedingungen extrem einsturzgefährdet. Wir werden alles daran setzen, dies zu verhindern, um die kommunale Selbstverwaltung in Westfalen-Lippe zu erhalten, damit auch zukünftig die LWL-Landschaftsversammlung und nicht ein von der Landesregierung eingesetzter Sparkommissar über die Geschicke unseres Landesteils Westfalen-Lippe entscheidet! Vielen Dank!

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Franz-Werner Kersting

Prof. Dr. Franz-Werner Kersting, Münster Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie/Euch ebenfalls ganz herzlich begrüßen. Ich tue dies im Namen des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte und seines Leiters, meines Kollegen Professor Walter. Die LWL-Verbandsgeschichte sowie die allgemeine Verwaltungsgeschichte – beide stets verstanden als Teil und Spiegelbild der zeitgenössischen Politik, Gesellschaft und Kultur insgesamt – sind Themenfelder, denen sich das LWL-Institut immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven gestellt hat − und auch weiterhin stellen wird! Der Bogen unserer wissenschaftlichen Auseinandersetzung spannt sich von der Ideengeschichte der provinziellen regionalen Selbstverwaltung über die Geschichte des Verhältnisses von Staat und Selbstverwaltung sowie die Geschichte ihrer Institutionen, Akteurinnen und Akteure, Aufgabenfelder und Klientel bis hin eben zur Geschichte auch der allgemeinen öffentlichen Verwaltungstätigkeiten und -strukturen. Zur Veranschaulichung nenne ich stellvertretend nur aus den jüngsten Institutsveröffentlichungen: die Herausgabe der Tagebücher des nationalsozialistischen Landeshauptmanns Karl Friedrich Kolbow (1899–1945) durch Martin Dröge,1 die Quellensammlung von Matthias Frölich zur Geschichte der Heimerziehung (und Heimkinder) in Westfalen 1945–19802 sowie den von Sabine Mecking und Janbernd Oebbecke vorgelegten Sammelband zur zeithistorischen Standortbestimmung der Kommunalen Gebiets- und Funktionalreformen der 1960er und 70er Jahre „Zwischen Effizienz und Legitimität“.3 Das Instituts-Internet-Portal „Westfälische Geschichte“ eröffnet ebenfalls vielfältige Wege zu Quellen und Forschungspfaden der modernen Verwaltungsgeschichte. Unter „www.westfaelische-geschichte.de“ führen entsprechende Suchmöglichkeiten unter anderem eben auch rasch zum damaligen preußischen Gesetz über die Einführung der Provinzialordnung sowie zum vollen Wortlaut der Ordnung selbst. Und beide Dokumente kann man sich dort natürlich auch herunterladen. Lassen Sie mich, auch im Lichte der gerade exemplarisch genannten Publikationen und Dienstleistungen des Instituts, kurz und mehr thesenhaft vier Punkte nennen, die die Geschichte von Verwaltung und Selbstverwaltung seit dem frühen 19. Jahrhundert aus Sicht des Historikers zu einem wichtigen und spannenden Untersuchungsfeld machen: Da ist – erstens – die erstaunliche Kontinuität zumindest der Grundstrukturen öffentlicher Verwaltung über viele Umbrüche des staatlich-politischen Systems sowie auch 1

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Vgl. Martin Dröge (Hg.), Die Tagebücher Karl Friedrich Kolbows (1899–1945). Nationalsozialist der ersten Stunde und Landeshauptmann der Provinz Westfalen, Paderborn 2009. Vgl. Matthias Frölich (Hg.), Quellen zur Geschichte der Heimerziehung in Westfalen 1945–1980, Paderborn 2011. Vgl. Sabine Mecking/Janbernd Oebbecke (Hg.), Zwischen Effizienz und Legitimität. Kommunale Gebietsund Funktionalreformen in der Bundesrepublik Deutschland in historischer und aktueller Perspektive, Paderborn 2009.

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über den funktionalen Wandel von der alten klassischen Ordnungs- zur modernen Leistungsverwaltung hinweg. Schon Max Weber hat – zugespitzt − formuliert, dass „eine einmal voll durchgeführte Bürokratie . . . zu den am schwersten zu zertrümmernden sozialen Gebilden“ gehört!4 Dieses Phänomen der epochenübergreifenden Verwaltungskontinuität gilt es zu erklären. Die administrativ-strukturelle Kontinuitätssicherung erforderte und bewirkte allerdings – zweiter Punkt – immer wieder Prozesse der Anpassung an die sich verändernden Rahmenbedingungen des politischen Systems und der sozialen Welt. Wie die Akteurinnen und Akteure diese Prozesse im Einzelnen gestalteten, ist ebenfalls eine spannende Frage: Es geht um die Optionen und Spielräume von Verwaltungshandeln, seine Praxis, Reichweite, Grenzen und Folgen. Dabei konnte die sogenannte Aufgabenerledigung – in der historischen Rückschau besehen – ein durchaus breites, zum Teil aber auch erschreckendes Spektrum annehmen: von positiven wohlfahrtsstaatlichen Dienstleistungen der Fürsorge und Inklusion bis hin eben zum genauen Gegenteil, wie vor allem die aktive Beteiligung des westfälischen Provinzialverbandes und seiner damaligen Heilanstalten an den „Euthanasie“-Verbrechen im „Dritten Reich“ gezeigt hat.5 Nicht zuletzt der historische Befund, dass Verwaltung und Selbstverwaltung, mit den Worten Thomas Ellweins, auch für den „Vollzug von Unrecht“ stehen können,6 mahnt – dritter Punkt – zu einem besonderen Blick gerade auf ihre Klientel, also auf die Menschen, für die sie verfassungs- und auftragsgemäß Dienstleistungen vorhalten bzw. unternehmen: Wie war und ist es um das Spannungsverhältnis von politischer Planung, Behördenlogik und Verwaltungsroutine auf der einen und effektiver, lebens- und bürgernaher Dienstleistung im Interesse der Menschen/der Hilfsbedürftigen auf der anderen Seite bestellt? Und welchen Unterschied macht es in historischer und aktueller Perspektive, ob der Staat oder eine kommunale Selbstverwaltungsorganisation (wie der LWL) Aufgaben der Daseinsfürsorge inhaltlich ausfüllt und praktisch wahrnimmt? Es geht also immer auch – vierter und letzter Punkt – um die grundlegende Frage der Legitimität und ideellen Substanz kommunaler Selbstverwaltung. Die Idee kommunaler Selbstverwaltung hat, ich habe das eingangs bereits angedeutet, ebenfalls eine facetten4

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Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte, Teilbd. 4: Herrschaft, hg. von Edith Hanke/Thomas Kroll, Tübingen 2005, S. 208; hier zit. nach Hedwig Schrulle, Verwaltung in Diktatur und Demokratie. Die Bezirksregierungen Münster und Minden/Detmold von 1930 bis 1960, Paderborn 2008, S. 1. Der Einleitung von Hedwig Schrulle verdankt mein Statement wichtige Impulse. Vgl. aber auch Ansgar Weißer, Die „innere“ Landesgründung Nordrhein-Westfalens. Konflikte zwischen Staat und Selbstverwaltung um den Aufbau des Bundeslandes (1945–1953), Paderborn 2012; Karl Teppe (Hg.), Selbstverwaltungsprinzip und Herrschaftsordnung. Bilanz und Perspektiven landschaftlicher Selbstverwaltung in Westfalen, Münster 1987; Thomas Kleinknecht, „Staatsgesinnung“ und „Selbstverwaltung“. Die Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft (Gegr. 1952) im Prozess der inneren Staatsgründung der Bundesrepublik, Münster 2011. Vgl. hier nur die beiden Dokumentationen: Karl Teppe, Massenmord auf dem Dienstweg. Hitlers „Euthanasie“-Erlass und seine Durchführung in den Westfälischen Provinzialheilanstalten (Texte aus dem Landeshaus 15), Münster 1989; Der Provinzialverband Westfalen in der Zeit des Nationalsozialismus. Psychiatrie im Dritten Reich (Texte aus dem Landeshaus 25), Münster 1996. Thomas Ellwein, Der Staat als Zufall und als Notwendigkeit. Die jüngere Verwaltungsentwicklung in Deutschland am Beispiel Ostwestfalen-Lippe, Bd. 2: Die öffentliche Verwaltung im gesellschaftlichen und politischen Wandel 1919–1990, Opladen 1997, S. 299.

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reiche Geschichte. Immer wieder gab es spannungsgeladene Diskussionen zwischen Befürworten eines (mehr) zentralisierten Staats- und Verwaltungsaufbaus und Verfechtern (mehr) regionaler und kommunaler Handlungsmodelle aus den Ideen der Subsidiarität sowie des Föderalismus. Zwar lassen sich Tradition und Kontext dieser Auseinandersetzungen nicht oder nur sehr bedingt mit jenen ideellen und institutionellen Linien vergleichen, entlang derer die gegenwärtigen Diskussionen und Konflikte um mehr bürgerschaftlichen Eigensinn, Partizipationsanspruch und Gestaltungsspielraum laufen (Stichwort vor allem: „Stuttgart 21“!). Gleichwohl verweisen eben auch diese aktuellen Tendenzen auf die grundlegende Bedeutung der Selbstverwaltungsidee als Diskurs und soziale Praxis. Im Sinne dieser vier knappen einführenden Anmerkungen aus mehr historischer Sicht freue auch ich mich auf den weiteren Verlauf des Abends und bin gespannt auf den Vortrag, das Podiumsgespräch und die Stimmen aus dem Publikum! Vielen Dank für Ihre/Eure Aufmerksamkeit!

Prof. Dr. Ewald Frie, Tübingen

Provinz – Staat – Nation. Über Potentiale von Verwaltung und Selbstverwaltung Vor fünfundzwanzig Jahren hat der Landschaftsverband das 100. Jubiläum der Provinzialordnung für Westfalen mit einer wissenschaftlichen Tagung gefeiert. 67 Teilnehmer, zwölf wissenschaftliche Vorträge, ein Sammelband mit dem Titel „Selbstverwaltungsprinzip und Herrschaftsordnung. Bilanz und Perspektiven landschaftlicher Selbstverwaltung in Westfalen“.1 Der Band steht in meinem Bücherregal. Der Schutzumschlag hat ein wenig gelitten, der Inhalt nicht. Es ist das Buch, auf das Menschen sich beziehen, wenn sie über die Geschichte landschaftlicher Selbstverwaltung und von dort ausgehend über Gegenwart und Zukunft landschaftlicher Selbstverwaltung verantwortlich nachdenken. Fünfundzwanzig Jahre später ist das Jubiläumsprogramm verändert. Ein Historiker ersetzt die zwölf Wissenschaftler von 1986. Andererseits gibt es eine Podiumsdiskussion. Das mag dem Zufall oder außerwissenschaftlichen Umständen geschuldet sein. Möglicherweise aber, so werde ich am Ende dieses Vortrags argumentieren, steckt auch eine Aussage über die veränderte Bedeutung von Geschichte und Region für die Selbstbeschreibung und Zukunftsplanung landschaftlicher Selbstverwaltung im Allgemeinen und des LWL im Besonderen dahinter. Über den Zusammenhang von Provinz, Staat und Nation, von Verwaltung und Selbstverwaltung möchte ich mit Ihnen gemeinsam nachdenken. Nicht in nostalgischer Absicht – keine Sorge, Historiker sollen, wie Nietzsche gezeigt hat, zwar auch, aber nicht nur Antiquare sein –, sondern im Hinblick auf eine vielleicht situationsadäquatere Selbstbeobachtung. Um einen Standpunkt für Selbst- und Weltbeobachtung zu gewinnen, brauchen wir – Sie ahnen es – Geschichte. Hier interessiert zunächst die Situation des Anfangs. Von dort aus werde ich mit Ihnen das ausgehende 19. und das 20. Jahrhundert im Geschwindschritt durcheilen. Die unterwegs gesammelten Befunde sollten uns helfen, abschließend die Frage nach den Veränderungen der letzten fünfundzwanzig Jahre wieder aufzunehmen. 1. Der Anlass Die Geschichte der Provinzialverbände begann mit einem Krieg. Nach dem preußischösterreichischen Krieg von 1866 annektierte Preußen das bis dahin selbständige Königreich Hannover, das Kurfürstentum Hessen-Kassel, das Herzogtum Nassau, die freie 1

Karl Teppe (Hg.), Selbstverwaltungsprinzip und Herrschaftsordnung. Bilanz und Perspektiven landschaftlicher Selbstverwaltung in Westfalen, Münster 1987. Die Beiträge des Sammelbandes bilden eine wichtige Grundlage für diesen Vortrag, der für den Druck nur wenig überarbeitet wurde. Anmerkungen sind auf das Notwendigste beschränkt.

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Stadt Frankfurt sowie Schleswig-Holstein. Die neuen Territorien erhielten provinzialständische Verfassungen. Die Stände in Hannover und Hessen-Kassel erhielten darüber hinaus regelmäßige Finanzmittel zur eigenen Verfügung, um die Kosten ihres Landtages zu bestreiten sowie eigenständig in den Bereichen Straßenbau, Soziales und Kultur tätig zu werden. Auf den ersten Blick ging es 1866 also um Integration durch Verwaltung. Dieses Motiv war der preußischen Administration nicht unbekannt. Friedrich Wilhelm I., der „Soldatenkönig“, hatte nach 1713 erstmals ein einheitliches Verwaltungsnetz über seine ziemlich disparaten Territorien geworfen. 1815 nach dem Wiener Kongress waren die vielen Neuerwerbungen Preußens durch eine administrative Neuordnung des gesamten Staatswesens integriert worden. So waren Westfalen und das Rheinland überhaupt erst zu administrativen Einheiten geworden – beide hatten vor 1806 aus zahlreichen Territorien bestanden, von denen in Westfalen nur wenige, im Rheinland fast keine preußisch gewesen waren. Das uns bis heute bekannte System aus Provinzen, Regierungsbezirken und Kreisen ist nach 1815 flächendeckend entstanden. 1866 aber hatte sich die Situation gegenüber 1713 und auch gegenüber 1815 deutlich verändert. Menschen ließen sich nicht mehr einfach neuen Herren zuordnen. Regionale Identitäten hatten größere Bedeutung gewonnen. Sie wurden öffentlich verhandelt, und Zensurmaßnahmen eigneten sich immer weniger, dies zurückzudrängen. In dieser Situation reichte Integration durch Verwaltung nicht mehr aus. Hinzugefügt wurden Selbstverwaltungsrechte auf regionaler Ebene: eine Verfassung, ein ständisches Parlament und Finanzmittel. So sollte der Verlust von Selbständigkeit für die Eliten kompensiert und eine neue preußische Identität generiert werden. Die Entscheidungen für Hannover und Hessen riefen die alten preußischen Provinzen auf den Plan, die gegenüber den neuen nicht zurückstehen wollten. Auch ihnen wurde schnell die selbständige Verwaltung der provinzialständischen Institutionen gewährt. Allerdings fehlten die Finanzmittel zur eigenständigen Bewirtschaftung. Die kamen nach dem nächsten Krieg hinzu, dem deutsch-französischen von 1871. Die französischen Kriegsentschädigungen schufen den finanziellen Spielraum, der die Überweisung einer jährlichen Rente an die Provinzen ermöglichte. Im Zusammenhang damit wurde ein weiterer Schritt getan: Die provinzialständischen wurden in kommunale Verbände umgewandelt. Die parlamentarischen Vertreter wurden nicht mehr durch die Stände der Provinz (Standesherrliche Virilstimmen, Adel, Städtisches Bürgertum, Landbesitzer) gewählt, sondern durch die Kreistage bzw. die Magistrate und Stadtverordneten.2 Das war nicht ohne innere Logik. Die Provinzialstände waren in den 1820er Jahren als Vertretung des Landes gegenüber dem Souverän gegründet worden, eine Art Ersatz für das fehlende gesamtpreußische Parlament. Dieses Parlament gab es seit der 1848er

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Vgl. Kurt Adamy/Kristina Hübener (Hg.), Geschichte der brandenburgischen Landtage, Potsdam 1998.

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Karte: Provinzen im Königreich Preußen 1883 (Quelle: IEG-Maps − Kartenserver am Institut für Europäische Geschichte Mainz, Andreas Kunz)

Revolution. Danach waren die Provinziallandtage wenig spektakuläre Veranstaltungen gewesen. Nun wurden sie als Parlament der lokalen Selbstverwaltungsorgane in den Instanzenzug eingebaut. Eine Administration wurde angelagert, die solche sozialen, ökonomischen und kulturellen Themen bearbeitete, die die unteren Verwaltungsbehörden allein nicht gut bewältigen konnten. Diese Konstruktion stärkte und schwächte das regionalidentifikatorische Moment der Provinziallandtage gleichermaßen. Einerseits konnten sie sich als Sachwalter kommunaler Interessen verstehen: Im Laufe der Jahre sollten immer mehr Landräte und Bürgermeister im Provinziallandtag sitzen. Das stärkte ihre Verbundenheit mit den Kommunen und Kreisen der Provinz. Andererseits verloren sie den direkten Kontakt zu einer landschaftlich definierten (westfälischen, rheinischen o. ä.) Bevölkerung.

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Die neue Provinzialordnung von 1875 galt zunächst nur für die östlichen Provinzen. In Westfalen und dem Rheinland wurde die Einführung hinausgeschoben, weil befürchtet wurde, die Provinziallandtage und Provinzialverwaltungen würden zu Widerstandsnestern kulturkämpferischer Katholiken ausgebaut. Erst als der Kulturkampf in den 1880er Jahren abflaute, ergingen Provinzialordnungen auch für die Westprovinzen: 1886 für Westfalen und 1887 für die Rheinprovinz. Deswegen sitzen wir heute hier zusammen und haben dies nicht bereits vor elf Jahren getan. Wir feiern eine „Umgründung“ (Harm Klueting), keine Neugründung. Sie war ein Produkt politischer Aushandlungsprozesse, die ein Ergebnis hervorbrachten, das bei Beginn des Prozesses, dem Krieg von 1866, nicht hatte vorhergesehen werden können. 2. Die Debatte im Westfälischen Provinziallandtag 1885 1885 beriet der Westfälische Provinziallandtag, noch nach dem alten ständischen Wahlmodus zusammengesetzt, über die Einführung der in den östlichen Provinzen bereits geltenden Provinzialordnung. Der Oberpräsident von Hagemeister befürchtete Widerstand der Stände, die ja bewogen werden sollten, dem Untergang der ständischen Wahlordnungen zuzustimmen. Er verwies daher bereits in seiner Eröffnungsansprache auf die Notwendigkeit der Rechtseinheit im Staate Preußen und auf die gemeinsame Treue zum Kaiser und König.3 Der Landtagsmarschall Freiherr von Bodelschwingh-Plettenberg, der Präsident des Landtages also, äußerte sofort Bedenken.4 Rechtseinheit sei ein hoher Wert, so lässt sich sein zentrales Argument überspitzt zusammenfassen, Gleichmacherei nicht. Die notwendigen Eigenheiten der Provinz müssten gewahrt bleiben, politische Einflüsse auf die allein zählende Sache ausgeschaltet werden. Das zielte auf das ständische Wahlverfahren, das viele Abgeordnete erhalten wollten. Eine Wahl durch die Kreistage werde das Parlament zerfasern lassen. Die korporative Einigkeit, die die Stände gewährleisteten, werde verloren gehen. Am Ende fehlte im Parlament eine Stimme an der notwendigen Zweidrittelmehrheit für die Provinzialordnung. Dennoch kam die Ordnung ein Jahr später. Das Votum des Provinziallandtages band die Staatsregierung nicht. Schon der Oberpräsident hatte in seiner Schlussansprache die Debatten dahingehend interpretiert, „dass der Provinzial-Landtag unbeschadet seiner Abänderungs-Anträge nicht beabsichtigt hat, die porta Westfalica den neuen Reformgesetzen gänzlich zu verschließen“.5 Der Landtagsmarschall machte in seiner Schlussansprache die „Schwierigkeiten der gesammten Materie“ und die „bei den verschiedensten Punkten hervorgetretenen Meinungsverschiedenheiten“ für die Ablehnung verantwortlich.6 Als der erste nach dem neuen Modus zusammengesetzte Provinziallandtag 1887 zusammentrat, setzte er ein Kontinuitätszeichen. Zum Landtagsmarschall wurde Freiherr von Bodelschwingh-Plettenberg gewählt, der dieses Amt bereits im alten Landtag 3

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Vgl. Verhandlungen des im Jahre 1885 abgehaltenen 28sten Westfälischen Provinzial-Landtages, Münster 1885, S. 5–7. Vgl. ebd., S. 8–9. Vgl. ebd., S. 162. Vgl. ebd., S. 163.

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verkörpert hatte. Bodelschwingh-Plettenberg äußerte in seiner Eröffnungsansprache Freude darüber, dass so viele Mitglieder des alten Landtages auch nach dem neuen Modus wieder gewählt worden waren.7 In der Tat sorgte das neue Wahlrecht – die Kreistage und Stadtparlamente, die die Abgeordneten wählten, waren ihrerseits nach dem Dreiklassenwahlrecht zusammengesetzt – wie das alte für zuverlässige konservativ-nationalliberale Mehrheiten. Selbst im Rheinland blieb die katholische Zentrumspartei in der Minderheit. Sozialdemokraten kamen nicht vor. Wenn im westfälischen Parlament gelegentlich geäußert wurde, für Parteienkämpfe sei in diesem Hause kein Platz, so verdankte sich dies einem Wahlrecht, das nur einem relativ homogenen Teil des Parteienspektrums eine realistische Chance einräumte, ins Parlament zu kommen. Da war es leicht, sich für überparteilich zu halten. Die 125 Jahre landschaftliche Selbstverwaltung, die wir heute feiern, sind also ein schwieriger Feiertag, jedenfalls für eine Demokratie. Sie hängen, das zeigt die Einführungsgeschichte, mit sich entwickelnden Regionalismen und deren Einbindung in den preußischen Staat zusammen. Aber dem preußischen Staat war nicht jeder Regionalismus recht. Erst als der Kulturkampf abflaute, war er bereit, Selbstverwaltung mit Parlament im Westen zu akzeptieren. Im Osten, im polnischen Posen, wurde dieser Schritt bis zum Ersten Weltkrieg nicht gegangen. Zu groß war die Angst, dem polnischen Nationalismus einen institutionellen Ort zu geben. In Westfalen war 1885 nicht die Notwendigkeit regionaler Identifikation über Parlament und Verwaltung umstritten, sondern die Frage, welcher Wahlmodus regionalen Zusammenhalt befördern würde. Das neue Wahlrecht verabschiedete die Stände. Ein die Bevölkerung angemessen repräsentierendes Parlament brachte es nicht. Das neue Parlament und die neue Administration schauten nicht mehr vor allem auf Berlin, sondern auf Bielefeld, Bochum und Beverungen. Sie waren Teil einer Selbstverwaltungskonzeption, deren Nutzen sich erst erweisen musste. 3. „Age of Territoriality“ Die eigentliche Dynamik der landschaftlichen Selbstverwaltung entstammt nicht dem Gründungsmoment, sondern der vorwaltenden Tendenz, mit der sie sich nach 1885 verschwisterte. Entscheidend war der schnelle Staatsausbau in der „Hochmoderne“8 oder im „Age of Territoriality“.9 Der Staat griff nun in die Ökonomie und in das Soziale ein und begann sich auch für die Kultur zu interessieren, die Identitäten stiften oder bewahren konnte. Genau dies aber waren die Felder, in denen die neuen Provinzialverbände tätig waren. Nach Charles S. Maier gewannen die Nationalstaaten am Ende des 19. Jahrhunderts eine solche Bedeutung, dass „territory“, „identity space“ und „decision 7

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Vgl. Verhandlungen des im Jahre 1887 abgehaltenen 29sten Westfälischen Provinziallandtages, Münster 1887, S. 9–10. Ulrich Herbert, Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: Journal of Modern European History 5 (2007), S. 5–21. Charles S. Maier, Consigning the Twentieth Century. Alternative Narratives for the Modern Era, in: American Historical Review 105 (2000), S. 807–831.

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space“ zusammenfielen. „Territory“, so Charles Maier wörtlich – und ich übersetze mit Ihrer freundlichen Erlaubnis etwas holprig ins Deutsche –, „wurde durchzogen von Präfekturen und Subpräfekturen, Postämtern, Eisenbahnen und Infrastruktur, Massenblättern, Telegrafen und all dem, was man mit elektrischem Strom machen kann. Territorialbewusstsein hieß nun, dass kein Punkt innerhalb der Grenze frei bleiben sollte von Staatskontrolle ... Administrative Energien in Form von Volksschulen, Präfekturen und Eisenbahnen durchdrangen und füllten den Raum der Nation.“10 Die Nation wurde nicht einfach nur an der Grenze geschützt, sondern im Innern in charakteristischer Weise ausgestaltet: infrastrukturell, sozial, kulturell. Dieser Prozess spielte sich nun nicht nur im nationalen, sondern − wie die Nationalismusforschung in den letzten Jahren herausgearbeitet hat − gleichzeitig auch im regionalen Rahmen ab. Mit dem Nationalismus, nicht gegen ihn, wuchsen die Regionalismen. Aus der Tradition des Alten Reiches heraus wurde der Staatsausbau in Deutschland regional gestaltet. Dabei spielte der soziale Bereich deswegen eine besondere Rolle, weil der Ausbau des Sozialstaats seit den 1880er Jahren zu einem wichtigen Bestandteil des Bismarck’schen Staatsmodells wurde und in den 1920er Jahren im Weimarer Wohlfahrtsstaat einen legitimatorischen Kern des Staatsmodells bildete. Doch dieser Ausbau konnte nicht allein von oben bewerkstelligt werden. Armenfürsorge war eine kommunale Aufgabe gewesen, und genau in der Mitte zwischen Kommune und Staat lag in Preußen die Provinz. Die Provinzialverwaltungen waren auf verschiedenen Feldern stark im Wohlfahrtsstaatsausbau engagiert: in der Psychiatrie und in der Jugendfürsorge vor allem, aber auch in Teilen der Sozialversicherung, des Wohnungsbaus, der Arbeitsvermittlung und der Jugendpflege.11 Regionale Territorialisierung bedeutete, dass die Provinzen nicht einfach mitgesogen wurden. Sie hatten an der Gestaltung der neuen Politikfelder ihren Anteil. Sowohl in der Fürsorgeerziehung als auch in der Psychiatrie zeigt ein Vergleich zwischen den Provinzen, dass zwar im Ganzen eine gleiche Expansionstendenz herrschte – das hatte mit preußischer Fürsorgegesetzgebung zu tun, die den Provinzen neue Aufgaben und neue Mittel zuwies –, inhaltlich aber eigene Akzente gesetzt wurden.12 Anstalten konnten von der Provinz selbst gebaut oder der Anstaltsbau konnte privaten Trägern, in der Regel also den Kirchen, überlassen werden. Der Bau selbst konnte unterschiedlichen Leitlinien folgen. Fachliche und administrative Logiken divergierten. In ähnlicher Weise kann für den Straßenbau die Unterschiedlichkeit der einzelnen Provinzen gezeigt werden. Hier liegen Differenzen vor allem zwischen Ost und West, und gerade die westfälische Verwaltung zeigte sich als stark gestaltende Kraft. 10 11

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Maier, Consigning the Twentieth Century, S. 820. Vgl. Elisabeth Elling-Ruhwinkel, Sichern und Strafen. Das Arbeitshaus Benninghausen (1871–1945), Paderborn 2005; Bernd Walter, Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne. Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime, Paderborn 1996; Ewald Frie, Wohlfahrtsstaat und Provinz. Fürsorgepolitik des Provinzialverbandes Westfalen und des Landes Sachsen 1880–1930, Paderborn 1993. Vgl. Kristina Hübener, Adel in der leistenden Verwaltung der Provinz Brandenburg. Die Landesdirektoren und das Beispiel der Anstaltsfürsorge (1876–1930), in: Kurt Adamy/dies. (Hg.), Adel und Staatsverwaltung in Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert. Ein historischer Vergleich, Berlin 1996, S. 145–166.

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In noch stärkerem Maße waren provinziale Politiken sichtbar auf Feldern, die weniger verrechtlicht waren: in der Wirtschaftsförderung zum Beispiel, in Teilbereichen der Wohlfahrtspolitik (alleinstehende Wohnungslose, Arbeitsvermittlung, im Ersten Weltkrieg die Hilfe für Kriegsopfer), vor allem aber in der Kulturpolitik. Untersuchungen, die am LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte angefertigt worden sind, haben Handlungsspielräume und Handlungslogiken der Provinzialverbände herausgearbeitet.13 Die Logiken waren teils inneradministrativ (die westfälische Kulturpolitik hatte, wie Karl Ditt verschiedentlich gezeigt hat, auch die Aufgabe, den Raum Westfalen als einheitlich gewachsenen und damit auch in Zukunft einheitlich zu verwaltenden Raum zu erweisen), teils waren sie konfessionell (der westfälische wie der rheinische Provinzialverband arbeiteten eng mit den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden zusammen und erhofften sich davon nicht nur Spareffekte, sondern auch ein besseres Outcome für Fürsorgezöglinge und Psychiatriepatienten). Durch all diese Initiativen gestalteten die Provinzialverbände den Wohlfahrts-, den Kultur-, den Wirtschaftsstaat mit. Sie gaben ihm ein regionales Gepräge. Wirklich als Akteure sichtbar wurden die Provinzialverbände während des Kaiserreichs jedoch selten. Es gehört zu den Topoi zeitgenössischer Erzählungen über den westfälischen Provinzialverband, ihn als öffentlichkeitsfern, abseits, unbeeinflusst von den Zeitläuften zu beschreiben. Während der Weimarer Republik änderte sich das.14 Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht zum Provinziallandtag lenkte in den 1920er Jahren die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit jedenfalls während der Wahlkämpfe stärker auf die Landtage. Aus den neuen politischen Kräfteverhältnissen resultierten andere Personalentscheidungen. Leitende Verwaltungsbeamte konnten nun dem katholischen Zentrum, teils sogar der bis 1918 ganz im Abseits stehenden SPD entstammen. Die Parlamente selbst unterzogen die Arbeitsfelder der Provinzen einer kritischen Diskussion, die in eine breitere Öffentlichkeit hineinwirkte. Vor allem am Beispiel der Jugendhilfe (Heimrevolten, Heimskandale) ist das gezeigt worden.

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Markus Köster/Thomas Küster (Hg.), Zwischen Disziplinierung und Integration. Das Landesjugendamt als Träger öffentlicher Jugendhilfe in Westfalen und Lippe (1924–1999), Paderborn 1999; Andreas Wollasch (Hg.), Wohlfahrtspflege in der Region Westfalen-Lippe während des 19. und 20. Jahrhunderts im historischen Vergleich, Paderborn 1997; Markus Köster, Jugend, Wohlfahrtsstaat und Gesellschaft im Wandel. Westfalen zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik, Paderborn 1999; Karl Ditt, Kultur in Westfalen 1870– 1970: Kategorien und Thesen, in: Westfälische Forschungen, 47 (1997), S. 1–30; ders., Raum und Volkstum. Die Kulturpolitik des Provinzialverbandes Westfalen 1923–1945, Münster 1988; Ewald Frie, Fürsorgepolitik zwischen Kirche und Staat. Wanderarmenhilfe in Preußen, in: Jochen-Christoph Kaiser/Wilfried Loth (Hg.), Soziale Reform im Kaiserreich. Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik, Stuttgart 1997, S. 114– 127. Vgl. Ewald Frie, Die Provinzialverbände Rheinland und Westfalen in Preußen und dem Reich 1920–1932, in: Georg Mölich u.a. (Hg.), Preußens schwieriger Westen. Rheinisch-preußische Beziehungen, Konflikte und Wechselwirkungen, Duisburg 2003, S. 374–388.

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Ewald Frie

Abb. 1 und 2: Oben der Ständesaal im Ständehaus am Domplatz in Münster. Sitz des Provinziallandtages von 1862 bis 1901 (Aufnahme um 1890). Unten ein Beispiel für die Kulturarbeit des Provinzialverbandes: Dokumentation eines Langdielenhauses mit Anbau in der Nähe von Gütersloh, 1955 (Fotos: LWL-Medienzentrum für Westfalen, Hans Hild)

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Abb. 3 und 4: Der Bau und die Instandhaltung von Landstraßen lagen bis 2001 in der Zuständigkeit des Provinzial- bzw. Landschaftsverbandes – oben eine Landstraße bei Rödgen im Siegerland um 1920. Unten die 1883 eingerichtete Provinzial-Heilanstalt Eickelborn um 1930 (Fotos: LWL-Medienzentrum für Westfalen)

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Schließlich erhielten die Provinzialverbände, das hing mit Reichsreformplänen zusammen, politische Mitspracherechte auf Reichsebene. Das brachte sie in eine Konkurrenz zum preußischen Staat im Ganzen und zwang die leitenden Verwaltungsbeamten zu politischen Stellungnahmen. Man kann den Eindruck gewinnen, dass erstmals, um mit Charles Maier zu sprechen, auch in den Provinzen „territory“, „identity space“ und „decision space“ wirklich zusammenfielen. Die Provinzen schienen eine Zeitlang auf dem Weg in Richtung Länder. Karl Teppe hat davon gesprochen, dass die Provinzen in der Weimarer Republik ihre Blütezeit hatten.15 Über die politische und soziale Öffnung des Parlaments und der Administration nahmen die Provinzialverbände an der demokratischen Entwicklung Deutschlands teil und gestalteten sie mit. Lange dauerte das nicht. Ende der 1920er Jahre verengte sich zunächst der finanzielle Spielraum. Eine eigenständige Politik in Bereichen wie der Jugendpflege wurde unmöglich. In der Jugendfürsorge mussten Entscheidungen getroffen werden, die den Politiken der mittleren 1920er Jahre zuwiderliefen. Mit dem Jahr 1933 endete dann zunächst die Zeit freier Wahlen wie der Parlamente überhaupt. Es hat in den 1990er Jahren eine lebhafte Debatte über die modernisierende Wirkung des Nationalsozialismus gegeben, und Mitarbeiter des Instituts für westfälische Regionalgeschichte waren über das Projekt „Gesellschaft in Westfalen. Kontinuität und Wandel 1930–1960“ auch führend an ihr beteiligt. Ein Sammelband von Matthias Frese und Michael Prinz ist ein wichtiger Referenzpunkt der wissenschaftlichen Diskussion,16 zahlreiche Einzelstudien unterfüttern empirisch die Thesen. Die Provinzialverbände waren als funktionierende Verwaltungen in Politik und Administration der NS-Zeit eingebunden. Das westfälische Parlament tagte ab dem 12. April 1933 nicht mehr, der Provinzialverband wurde dem Oberpräsidenten zugeordnet und existierte als „quasi-staatliche, aber selbständige Behörde“ fort.17 Er hatte zwar an der intensiveren Durchdringung ländlicher und städtischer Räume in infrastruktureller, ökonomischer und sozialpolitischer Hinsicht, aber auch an den Verbrechen dieser Jahre seinen Anteil. Die Entscheidungsspielräume, die in der Weimarer Zeit gegeben waren, verengten sich. Die verbleibenden Spielräume wurden eher zur Behauptung der eigenen Position im polykratischen Kampf der Bürokratien verwendet als zur Rettung von Klienten. 1945 war der Staat Preußen am Ende. Einige Provinzen gingen unter (man denke nur an die östlichen Provinzen von Ostpreußen bis Schlesien), einige veränderten ihre Gestalt: Schleswig-Holstein und Brandenburg wurden Länder, Hannover und Sachsen bildeten die Kerne neuer Länder wie Niedersachsen oder Sachsen-Anhalt. Die Rheinprovinz wurde geteilt, der südliche Teil wurde dem neuen Land Rheinland-Pfalz zugeschlagen. Der nördliche Teil ging als Nordrhein in das von den Briten aus wirtschafts15 16

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Karl Teppe, Einleitung, in: ders. (Hg.), Selbstverwaltungsprinzip und Herrschaftsordnung, S. 1–8, hier S. 3. Vgl. Matthias Frese/Michael Prinz (Hg.), Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Regionale und vergleichende Perspektiven, Paderborn 1996; ferner auch: Matthias Frese/Julia Paulus/Karl Teppe (Hg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn 2003; Michael Prinz (Hg.), Gesellschaftlicher Wandel im Jahrhundert der Politik. Nordwestdeutschland im internationalen Vergleich 1920–1960, Paderborn 2007. Wolfgang Leesch, Verwaltung in Westfalen 1815–1945. Organisation und Zuständigkeit, Münster 1992, S. 244.

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und außenpolitischen Gründen aus der Taufe gehobene Nordrhein-Westfalen ein. Dieses Land war, wie sein Name schon zeigte, ein von außen geformtes Kunstprodukt, und als der CDU-Ministerpräsident Franz Meyers um 1960 eine Kampagne zur Generierung eines NRW-Landesbewusstseins startete, wurde er belächelt.18 Das politische und administrative Zentrum NRWs lag im nördlichen Teil des halbierten Rheinlandes. Es ist daher vielleicht nicht eine ganz so große Überraschung, dass in Westfalen, das anders als das Rheinland ganz zu NRW geschlagen wurde, die Kräfte für die Fortexistenz der Provinzialverbände in NRW stärker waren als im Rheinland. Während der Provinzialverband Rheinland durch die Teilung der Provinz zerschlagen war und zwischen 1945 und 1953 faktisch nicht existierte, lebte der westfälische Provinzialverband auch ohne Provinz weiter. Der Haushalt wurde durch den NRW-Landtag verabschiedet, an die Stelle des westfälischen Parlaments trat ein vom Landeshauptmann einberufener beratender Ausschuss. Diese merkwürdige Situation wurde 1953 durch die Landschaftsverbandsordnung beendet.19 Das direkte Wahlrecht der Weimarer Republik kehrte nicht zurück, der Charakter des höheren Gemeindeverbandes wurde durch die indirekte Wahl wieder deutlicher. Der Name Landschaftsverband brachte zum Ausdruck, dass nicht mehr die Verwaltungsfunktion („Provinz“), sondern die Repräsentanz einer Landschaft, eines historisch gewachsenen regionalen Zusammenhangs, im Zentrum des Selbstbildes stehen sollte. Das führt wieder auf die Überlegung zurück, die territoriality-Vorstellung von Charles S. Maier von der nationalen auf die regionale Ebene zu übertragen. Die Jahre 1885 bis 1975 lassen sich also mit Charles S. Maier beschreiben als eine Zeit intensiver staatlicher Durchdringung der Region Westfalen. Der Provinzialverband gestaltete diesen Prozess mit. Im ersten Jahrzehnt der Weimarer Republik schien er auf dem Weg zur Prägung einer westfälischen Landschaft zu sein. Während der NS-Zeit seiner Handlungsspielräume teilweise beraubt und an Staatstätigkeit und Verbrechen beteiligt, war er nach 1945 für das Überleben der Provinzialverbände in NRW als Landschaftsverbände verantwortlich. 4. Ende von „territoriality“ Der heikelste Punkt meines Vortrags ist der letzte, denn nun nähern wir uns der Gegenwart. Historiker sind keine guten Propheten. Charles S. Maier beendet sein „age of territorialiy“ in den 1970er Jahren. Ulrich Herbert lässt die Hochmoderne in den 1970er Jahren auslaufen. Der Nationalstaat, so Maier, höre auf, die dominierende Ebene von Entscheidungsfindung und Identität zu sein. Ähnliches ließe sich über die regionale Ebene sagen. Identifikationen unter- und oberhalb der Ebenen „Westfalen“ und „Rheinland“ gewinnen an Bedeutung. Erinnert sei an die nun periodisch wiederkehrenden Ruhr-

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Vgl. Stefan Marx, Stiftung von Landesbewusstsein − das Beispiel des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Franz Meyers, in: Geschichte im Westen 16 (2001), S. 7–19. Vgl. jetzt Ansgar Weißer, Die „innere“ Landesgründung Nordrhein Westfalens. Konflikte zwischen Staat und Selbstverwaltung um den Aufbau des Bundeslandes (1945–1953), Paderborn 2012.

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gebietsdiskussionen,20 an die Imagekampagne „Wir in NRW“,21 die in den 1980er Jahren – ganz anders als unter Franz Meyers in den frühen 1960ern – erfolgreich war, und an die Frage, wer bzw. was mit dem Europa der Regionen nun eigentlich gemeint ist. „Territoriality“, „decision space“ und „identity space“ können nun deutlich und dauerhaft auseinanderfallen. Historische Begründungen für gewissermaßen natürliche Administrationsräume können daher immer weniger überzeugen. An ihre Stelle treten Leistungskriterien, Opportunitätserwägungen und – dies zum Trost – Pfadabhängigkeiten. Ein einmal eingeschlagener Weg wird ungern verlassen, lieber baut man gute oder gängige Argumente in die eigene Struktur ein. Von diesen Überlegungen aus lässt sich eine Brücke schlagen zu den Bemerkungen des Vortragsbeginns. Vielleicht ist der Unterschied zwischen der Feier zum 100. und der zum 125. Jubiläum des Landschaftsverbandes doch kein Zufall. Überzeugend und vielleicht auch ein wenig stolz hat der Landschaftsverband 1986 aus seiner Geschichte und seiner Leistungsbilanz Perspektiven landschaftlicher Selbstverwaltung entwickelt. Fünfundzwanzig Jahre später generiert die Geschichte weniger eindeutige Antworten. Die Zeit der relativ homogenen Durchdringung spezifischer Räume durch Administrationen, die gleichzeitig Identitäten prägen und auf ihnen aufruhen, geht zu Ende. Das freilich bedeutet nicht, dass Landschaftsverbände oder Geschichtswissenschaft wertlos würden. Das Jubiläum, das wir feiern, ist ein schwieriges. Aus der Anfangsentscheidung führt kein notwendiger Weg in die Gegenwart, sondern einer, der mit der spezifischen Geschichte von Staatsbildung in Preußen bzw. Deutschland im Allgemeinen und in Westfalen im Besonderen zusammenhängt. Die Zukunft wird der LWL vor allem dann erfolgreich gestalten, wenn er Legitimation über die Kreise und Städte, über seine Klienten und über die Stärkung des Identitätsraums Westfalen beschaffen kann, der sich in steter Konkurrenz zu anderen Identifikationsräumen befindet. Bei Letzterem kann die Geschichtswissenschaft helfen. Nicht mehr, indem sie beharrliches Identifikationswissen bereitstellt. Das monumentale Werk „Der Raum Westfalen“, das in den 1920er Jahren begonnen wurde, diesem Zweck gedient hat und damit noch einmal das Maier-Argument vom „age of territoriality“ stützt, wirkt ebenso beeindruckend wie vergangen. Sie kann vielmehr, wie ein wenig in diesem Vortrag geschehen, Einsicht in die Fremdheit der Vergangenheit und die Dynamik der Verwandlung von Vergangenheiten in unsere Gegenwart gewähren. Sie kann Aufschluss über den Reichtum von Identifikationsmöglichkeiten und die Wege von Identifikation geben. Es gilt deshalb: Geschichtswissenschaft und die Landschaftsverbände sitzen vielleicht nicht in einem Boot, aber wir können uns immerhin auch in Zukunft bei der Navigation behilflich sein. Insofern und auch in eigenem Interesse einen herzlichen Glückwunsch zum 125-jährigen Bestehen und: „ad multos annos“.

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Vgl. Karl Ditt/Klaus Tenfelde (Hg.), Das Ruhrgebiet in Rheinland und Westfalen. Koexistenz und Konkurrenz des Raumbewusstseins im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn 2007. Vgl. Guido Hitze, Geburtsstunde einer politischen Identifikationskampagne. „Wir in Nordrhein-Westfalen“ und der Landtagswahlkampf 1985, in: Geschichte im Westen 20 (2005), S. 89–123.

Podiumsgespräch und Diskussion: „Der LWL – Verantwortung und Herausforderungen eines modernen Dienstleisters für die Region“1 Moderation: Klaus Bellmund, Fernsehredakteur Teilnehmer Podium: Prof. Dr. Ewald Frie, Universität Tübingen Dieter Gebhard, Vorsitzender der LWL-Landschaftsversammlung Prof. Dr. Janbernd Oebbecke, Universität Münster Teilnehmer Plenum: Prof. Dr. Franz-Josef Jakobi, Münster Dr. Wolfgang Kirsch, LWL-Direktor Angela Lück, Löhne, Mitglied des Landtags Nordrhein-Westfalen Josef Rickfelder, Münster, Mitglied des Landtags Nordrhein-Westfalen (2010–2012) Klaus Bellmund Professor Ewald Frie, vielen herzlichen Dank für Ihren Vortrag! Den heikelsten Punkt haben Sie als letzten genannt, Punkt Nummer 4.2 Der wird uns jetzt auch in den kommenden dreißig bis vierzig Minuten noch etwas weiterbeschäftigen, und ich würde mich freuen, Herr Frie, wenn Sie einfach noch hier oben bei uns auf dem Podium bleiben würden, auch wenn es sich da vorne natürlich bequemer sitzt, aber wir haben die Stehtische zumindest mit einem wunderschönen Rot überzogen. Ich freue mich auf zwei weitere Mitstreiter heute auf dem Podium: Auf den Juristen Professor Janbernd Oebbecke, der hat auch in Münster studiert, beim LWL als Verwaltungsbeamter gearbeitet und ist dann über viele weitere Stationen wieder zurückgekehrt an die Universität Münster. Hier ist er heute als Professor für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre zugleich Direktor des Kommunalwissenschaftlichen Instituts sowie des Freiherr-vom-Stein-Instituts des Landkreistages Nordrhein-Westfalen. Willkommen Herr Oebbecke! Und auf einen Mann, für den dieser Plenarsaal auch so etwas wie das

1

2

Die Wiedergabe des Podiumsgesprächs und der Diskussion mit dem Plenum beruht auf einer Transkription und leichten redaktionellen Bearbeitung des Audiomitschnitts. Die vorliegende Textfassung wurde von den Teilnehmern geprüft und freigegeben. Der Referent hatte den Vortrag in seiner Powerpoint-Präsentation in die vier folgenden zusammenfassenden Thesen einmünden lassen: 1. „Wir feiern eine Umgründung, keine Neugründung.“ 2. „1886 ist für eine Demokratie kein ganz einfaches Erinnerungsdatum.“ 3. „Die Jahre 1885–1975 waren gekennzeichnet von sich stetig intensivierender staatlicher Durchdringung. Diese hat den Provinzialverband geprägt, er hat seinerseits die staatliche Durchdringung in Westfalen geprägt.“ 4. „Ab den 1970er Jahren haben sich Alternativen zu den bisher dominierenden Herrschafts- und Identifikationsräumen entwickelt. Infolgedessen ist die Zukunft der Landschaftsverbände wie anderer administrativer Einheiten strittig.“ An diese Präsentation knüpfte der Moderator einleitend an.

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Wohnzimmer ist, nämlich den Vorsitzenden der Landschaftsversammlung WestfalenLippe, Dieter Gebhard. Seien auch Sie herzlich willkommen, Herr Gebhard! Wir haben dieses Podiumsgespräch überschrieben mit den Worten „Der LWL – Verantwortung und Herausforderungen eines modernen Dienstleisters für die Region“. Herr Gebhard, wo sehen Sie denn die größten Herausforderungen für die Zukunft, auch vor dem Hintergrund der gerade angebotenen historischen Perspektive? Dieter Gebhard Die größte Herausforderung sehe ich darin, dass wir es schaffen müssen, in der Gemeinsamkeit mit unseren Mitgliedskörperschaften die Finanzkrise zu überwinden. Das ist natürlich jetzt leicht gesagt, und ich habe auch kein Patentrezept, wie das gehen könnte. Aber ich sehe auch keine Alternative, um unsere Zukunft sichern zu können. Klaus Bellmund Das heißt, das ist das, was Ihnen auf den Nägeln brennt? Dieter Gebhard Ja, das ist das, was mir auf den Nägeln brennt, selbstverständlich. Wobei ich das jetzt nicht so weit fassen würde, als würde ich die Existenz des Landschaftsverbandes infrage stellen, gar nicht. Denn die Begründung für die Existenz der Landschaftsverbände ist ja immer noch dieselbe, die sowohl Herr Professor Frie als auch Herr Dr. Kirsch vorhin dargestellt haben. Wir sind zuständig für Dinge, die die Kommunen gar nicht machen wollen. Ich nehme als Beispiel die Forensik. Da wird keine Kommune wirklich Vorreiter sein und sagen: Gebt doch die Aufgabe uns, als Dortmund oder als Bottrop oder sonst wie. Und es gilt auch, dass wir für viele Dinge zuständig sind, die die Kommunen gar nicht können – jedenfalls nicht so, dass sie damit auch dem Verfassungsanspruch in Nordrhein-Westfalen gerecht würden. Ich sage das wirklich ganz bewusst so. Der eine oder der andere wird wissen, dass ich aus der kreisfreien Stadt Gelsenkirchen komme, die nicht zu den Betuchten in diesem Lande gehört. Und man kann sich sehr gut vorstellen, wie die Förderschulen in Gelsenkirchen im Vergleich zu gut oder besser situierten Städten aussehen. Da wäre also wohl eine Vergleichbarkeit der Lebensverhältnisse aus finanziellen Gründen überhaupt nicht machbar. Damit knüpfe ich jetzt wieder an meine Eingangsbemerkung an: Wir müssen ein Instrument finden, um über die finanzielle Ausstattung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, aber auch des Landschaftsverbandes Rheinland, dafür sorgen zu können, diesem Anspruch überhaupt gerecht zu werden, nämlich der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Land. Klaus Bellmund Mahnende Worte, die zumindest hier im Saal offenkundig auch ankommen – wenn auch hier nicht die Entscheidungsträger sitzen, so aber immerhin doch einige, die sich damit im Landtag NRW beschäftigen werden, wie Frau Lück. Ich komme nachher noch zu Ihnen, Frau Lück. Erweitern wir jetzt erst einmal die Sicht von der historischen und politischen Ebene auf eine verwaltungsjuristische Perspektive. Herr Professor Oebbecke: Was sind aus Ihrer Perspektive die Herausforderungen des LWL für die Zukunft?

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Abb. 1: Die Teilnehmer auf dem Podium: Prof. Janbernd Oebbecke, der Vorsitzende der Landschaftsversammlung Dieter Gebhard und der Referent des Abends Prof. Ewald Frie (Foto: Wolfgang Busse)

Janbernd Oebbecke Der LWL hat gewissermaßen von Hause aus das Problem, dass es für die Mittelebene der Verwaltung, auf der er tätig ist, keine verfassungsrechtlichen Vorgaben gibt. Gemeinden dagegen kann man, ohne die Verfassung im Bund und in den Ländern relativ grundlegend zu ändern, überhaupt nicht abschaffen. Wo es aber keine Vorgaben gibt, kann man, wenn man will, eine ganze Menge Änderungen vornehmen. Das ist in den Ländern in den letzten Jahrzehnten auch in einem gewissen Umfang geschehen. BadenWürttemberg hat aus zwei Landeswohlfahrtsverbänden einen gemacht, Niedersachsen hat seine Regierungspräsidien weitgehend geschleift, Rheinland-Pfalz ebenso. Das sind eine ganze Menge Änderungen, die sind also im Grunde möglich. Es gibt aber, das hat Herr Frie völlig richtig gesagt, so eine Pfadabhängigkeit. Die kann man in der gegenwärtigen Situation sehr schön sehen. Im Moment gibt es ja auch in Westfalen keine verwaltungspolitischen Diskussionen. Man bleibt bei dem, was man hat, weil alles andere im Moment zu aufwändig ist . . . Klaus Bellmund Zu teuer.

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Janbernd Oebbecke Ja, möglicherweise teurer wird. Aber jedenfalls gibt es eine solche Diskussion im Moment nicht – auch weil man die jetzt relativ lange geführt hat. Dann ist erfahrungsgemäß immer erst einmal Ruhe. So eine Reform führt in der Regel zu einer gewissen Ermüdung, dann kommt die nächste, fünfzehn Jahre wird das schätzungsweise dauern. Das wäre jedenfalls der normale Verlauf der Dinge. Strategisch auf diese längere Sicht gesehen, muss man erklären können, warum es einen Landschaftsverband geben soll. Und das ist nicht so ganz einfach. Ich glaube, dass die alten Rezepte – also: die Leute fühlen sich als Westfalen, Stichwort „Identifikationsraum“ – nicht mehr funktionieren werden. Das war schon 1986, beim Jubiläum „100 Jahre Provinzialordnung“, alles sehr zweifelhaft. Kann man also sagen, wir können etwas Besseres, wir können etwas besser als andere? Ich habe das noch einmal nachgelesen: Damals hieß das Dienstleistungsverwaltung, damit meinte man Kommunalverwaltung gegen Hoheitsverwaltung. Zehn Jahre später hatten wir die Diskussion über die Neue Steuerung und Verwaltungsreform und diese Dinge. Und da war ja dann plötzlich alles Dienstleistungsverwaltung. Es gab nur noch Kunden, bis hinüber zum Strafvollzug, nur noch Kunden, also auch nur noch Dienstleistung. Damit kann man sich dann auch nicht mehr absetzen. Zentral und dezentral – die Landschaftsverbände, so wie sie in Nordrhein-Westfalen sind, können niemandem erklären, dass sie dezentraler sind als das Land. Es macht aus der Sicht einer Gemeinde, auch eines Kreises und schon gar nicht der Bürger, keinen Unterschied, ob das Land eine Aufgabe wahrnimmt oder die Landschaftsverbände. Also, man wird nicht darum herumkommen, denke ich, sich über die Aufgaben, über das, was man tut, zu definieren – das ist das, was Herr Frie Klientelbezug nennt – und über die Aufgaben zu erklären, dass man es richtigerweise weitermacht. Klaus Bellmund Ich gehe jetzt einfach noch einmal auf die Präsentation von Herrn Professor Frie zurück, und wir schauen uns gemeinsam noch einmal sein vierte These an: „Ab den 1970er Jahren haben sich Alternativen zu den bisher dominierenden Herrschafts- und Identifikationsräumen entwickelt. Infolgedessen ist die Zukunft der Landschaftsverbände wie anderer administrativer Einheiten strittig“. Ich möchte mit Ihnen zunächst noch etwas weiter über diese „Identifikationsräume“ reden. Was ist denn Identifikationsraum? Sie haben ja schon ein paar Dinge angesprochen, Herr Frie. Daher jetzt an Herrn Gebhard die Frage: Was würden Sie sagen? Wie und womit muss sich der Landschaftsverband identifizieren? Auf welche Weise kann er einen/seinen Identifikationsraum kreieren, schaffen und nach außen tragen? Dieter Gebhard Ich glaube, dass vor allem die landschaftliche Kulturpflege, die dem Landschaftsverband ja als wesentliche Aufgabe übertragen wurde, sehr gut geeignet ist, genau diesem Anspruch gerecht zu werden. Und von daher glaube ich auch, dass wir hier in verstärktem Maße tätig werden müssen. Ich bin nicht ganz der Meinung von Herrn Professor Oebbecke, der also glaubt, das Land könne das – zumindest in der Wahrnehmung unse-

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rer Mitgliedskörperschaften oder unserer Menschen in Westfalen-Lippe – in gleicher Weise bewerkstelligen wie wir. Ich glaube, die Tatsache, dass wir in den Kommunen selbst auch Verantwortung übernehmen und ihnen vermitteln, was wir machen und wofür wir das Geld ausgeben, das wir dort mühsam einsammeln, ist ein wesentlicher Beitrag zur Akzeptanz der Landschaftsverbände. Und ich meine, in dieser Hinsicht hat der Landtag doch noch eine etwas größere Entfernung von den Bürgerinnen und Bürgern. Die Möglichkeit, die Identifikationsräume mit kulturellen Inhalten zu füllen, sollte man, meine ich, noch ergänzen dürfen. Es wäre, nach meiner Ansicht jedenfalls, eine Überlegung wert, dass die Aufgaben der Landschaftsverbände sich nicht nur auf die Kultur selbst beziehen, sondern auch auf die „Vermarktung“ – jetzt in Anführungsstrichen – der Kultur. Ich glaube, dass mit zunehmendem Freizeitgewinn der Bevölkerung touristische Aktivitäten einen noch höheren Stellenwert gewinnen werden. Und ich glaube, dass unsere Einrichtungen – wir haben ja eine große Anzahl von Museen und sonstigen kulturellen, sehr wichtigen Instituten und Institutionen – geeignet sind, in ein Kulturkonzept einzufließen. Es wäre, wie ich finde, sehr lohnend, wenn der LWL oder auch der LVR an dieser Stelle eine Aufgabe bekämen, um das auszufüllen. Klaus Bellmund Das hat Fritz Pleitgen auch gesagt. Fritz Pleitgen, der ehemalige Intendant des Westdeutschen Rundfunks, danach Geschäftsführer der Ruhr2010, macht sich jetzt stark für eine Metropole Ruhr. Das hat er auch bei einer Veranstaltung des Regionalverbandes Ruhr (RVR) getan. Herr Frie, ist eine solche Diskussion – also der Verlust dieser alten Identifikationsräume, wie wir sie z. B. jetzt in Nordrhein-Westfalen erleben, und der Versuch, mit der Metropole Ruhr möglicherweise einen neuen Identifikationsraum mit neuen Aufgaben zu schaffen – die logische Konsequenz all dessen? Ewald Frie Dass Alternativen diskutiert werden, ist eine logische Konsequenz und gehört dazu. Ich habe vor zehn Jahren einen Vortrag vor der Landschaftsversammlung Rheinland gehalten und dabei auch gesagt: Die Zeit der Identifikationsräume ist zu Ende, wir können nicht immer über „das Rheinland“ nachdenken usw. Nach dem Vortrag habe ich dann mit einem Landrat – ich glaube irgendwo aus der Eifel – zusammengestanden, und der war kurz davor, mich zu erschlagen. In seiner rheinischen Mundart sagte er mir, dass sei eine Unverschämtheit gewesen. Dahinter steckt ja nun Folgendes: Es gibt verschiedene Identitäten, die konkurrieren, die westfälische ist eine davon. Die Logik kann nun nicht mehr darin bestehen zu sagen, wir werden versuchen, dieses Westfälische zu pushen, was immer auch kommt. Das wird nicht gehen. Aber man kann ja zeigen (und wenn ich etwa die Industriemuseen richtig im Kopf habe, dann ist das eine solche Idee): Dieser Raum Westfalen besteht aus vielen räumlichen Einheiten und deren Zusammenspiel können wir in einer Weise gewährleisten, wie das andere vielleicht nicht können. Das ist, glaube ich, eine Lösung, die man anstreben kann. Also nicht Identifikationsraum Westfalen über alles, sondern

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verschiedene Teilräume tragen in spezifischer Weise dazu bei und ermöglichen es dem einzelnen, sich auf verschiedenen Ebenen heimisch zu fühlen. Wenn ich aber eines noch sagen darf zu Ihnen, Herr Gebhard: Ich bin natürlich völlig damit einverstanden, dass Kultur sehr stark gemacht werden muss. Aber es geht natürlich auch darum, dass auf den anderen Feldern, auf denen der Landschaftsverband tätig wird, Menschen ebenfalls das Gefühl haben, es wird beim Landschaftsverband getan und es wird dort sehr gut gemacht. So muss die Identifikation funktionieren und nicht etwa dadurch, dass der Kulturbereich am Ende sozusagen nur noch die Sauce darüber gießt. Das muss in den verschiedenen Bereichen gleichzeitig erwachsen. Klaus Bellmund Sie haben etwas Widerspruch bekommen von Herrn Oebbecke, der hat zwischendurch mal den Kopf geschüttelt. Herr Oebbecke, warum? Janbernd Oebbecke Weil die Industriemuseen, das war die Stelle, wirklich ein sehr zwiespältiges Beispiel sind. Die Industriemuseen – das muss man doch, wenn man sich die Entwicklung ansieht, sehr deutlich sagen – sind zustande gekommen, weil das Land sie finanziert hat. Und das Land hat im Wesentlichen auch erzwungen, dass das Format sich sehr ähnelt. Also, wenn Sie bei Google eingeben: „Industriemuseum NRW“, dann kommen die ganzen Abteilungen − Rheinland, Westfalen −, das ist gar kein Problem. Da zeigt sich die Schwierigkeit, dass – wenn man selber nicht mehr mit dem Geld überkommen will oder kann und das Land einspringen lässt – man auch die Möglichkeit verliert, sich über so eine Aufgabe darzustellen. Wir haben ja ohnehin in Nordrhein-Westfalen eine Besonderheit − und jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke, staune ich, dass sich die so lange hält –, dass nämlich bei uns das Land praktisch auf seine eigene Repräsentation durch Kultur weitestgehend verzichtet. Es gibt nur diese beiden Dinger da in Düsseldorf, K20/K21, und die Archive, okay. Aber alles andere überlässt man den Landschaftsverbänden. Das ist schon ein erstaunlicher Umstand, vor allem wenn man vergleicht, was andere Länder machen, Schleswig-Holstein, Hessen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg – überall ist das anders. Das wird sich auf mittlere Sicht nicht ändern, aber langfristig tickt hier natürlich auch so eine Art Zeitbombe. Wir haben ja nicht mehr die Situation wie zu früheren Zeiten, als man nur in Berlin die großen Museen hatte, die es dort natürlich heute auch noch gibt, und im großen Abstand davon im Lande diese Provinzialkultur. Der Abstand ist ja gar nicht mehr so groß. Klaus Bellmund Schauen wir noch einmal auf die vier Thesen von Herrn Frie und gehen vielleicht ein Stückchen weiter. Sie haben ja als eine mögliche Folge aufgeschrieben, dass auch die Zukunft administrativer Einheiten wie die der Landschaftsverbände strittig sein könnte. Heißt das, dass wir wieder einmal eine solche Diskussion rund um die Existenzfrage bekommen könnten, Herr Frie?

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Ewald Frie Herr Oebbecke hat gesagt, alle fünfzehn Jahre. Ich weiß es nicht genau. Janbernd Oebbecke Es sind meistens fünfzehn Jahre. Ewald Frie Ich glaube nicht, dass es sich lohnt, darüber zu jammern, sondern das ist Teil von Gegenwart und Zukunft. Wer weiß, wie sich das entwickelt. Aber wir können nicht davon ausgehen, dass man einfach noch sagen kann: Zu dieser Administration gibt es keine Alternative, weil sie eben den Raum Westfalen abdeckt. Das wird nicht funktionieren. Hinzu kommt – wenn Sie sich noch einmal an die Karte von vorhin erinnern –, dass die Provinzialverbände eine Funktion in einem Land hatten, das deutlich größer war als Nordrhein-Westfalen. Dort haben sie Regionen gebildet. Und Nordrhein-Westfalen heute ist ein Teil von dem, was da links liegt. Das ist eine Besonderheit in Nordrhein-Westfalen, auf die gelegentlich auch das Augenmerk gerichtet wird. Herr Oebbecke hat das aus einer anderen Perspektive ganz am Anfang auch schon angesprochen. Er hat zugleich darauf verwiesen, dass in anderen Ländern die Regierungsbezirke geschleift werden. Das heißt, diese regionalen Verwaltungen können nicht mehr davon ausgehen, dass sie einfach dadurch, dass sie eine bestimmte Region repräsentieren, überleben. Da muss es andere Begründungen geben. Klaus Bellmund Herr Gebhard, diese leidige Diskussion um die Existenz des Landschaftsverbandes, die ja jetzt gerade einmal wieder etwas ruhiger geworden ist – haben Sie Angst davor? Dieter Gebhard Nein, überhaupt nicht. Ich möchte darauf so antworten: Bevor ich auf den Stuhl unter dem weißen Pferd gewählt wurde, war ich fünfzehn Jahre lang Fraktionsvorsitzender. Das heißt, ich habe exakt fünfzehn Haushaltsreden gehalten, und oft genug war Bestandteil dieser Rede der Hinweis auf einschlägige Gutachten, wie gut, wie effizient, wie effektiv der Landschaftsverband seinen Aufgaben gerecht wird. Und das wurde dann immer wieder auch angezweifelt mit Gegengutachten. Aber letztlich haben wir uns durchgesetzt und ich stelle fest, dass im Moment nicht die Neigung besteht, uns wieder mit dieser Frage zu beschäftigen. Ich habe es schon in den letzten zwei Jahren als Fraktionsvorsitzender nicht mehr tun müssen und sehe es jetzt, angesichts der politischen Willenserklärungen bei allen Parteien in Düsseldorf, tatsächlich als gegeben an, dass wir nun in Ruhe an den wirklichen Problemen des LWL arbeiten können. Klaus Bellmund Herr Oebbecke, sehen Sie das ähnlich?

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Janbernd Oebbecke Was die mittelfristige Perspektive für die nächsten zehn Jahre anbelangt, sehe ich das sehr ähnlich. Das Land ist gegenwärtig mit ganz anderen Dingen beschäftigt, nämlich mit der Finanzpolitik. Einmal, weil das Land sich selber auf die Schuldenbremse einstellen muss. Dies ist vielleicht noch nicht so ganz in allen Köpfen. Im Moment steht die kommunale Finanzkrise, die ja bei weitem nicht nur die Landschaftsverbände erfasst, im Vordergrund. Ich bin ein wenig skeptisch, ob das mit den Mitteln, die da jetzt diskutiert werden, wirklich gelöst wird. Denn alles, was diskutiert wird, läuft ja im Grunde darauf hinaus, dass Geld umverteilt wird. Es sieht also für mich ein bisschen so aus, dass zu wenig Geld im System ist. Darüber muss man sich Gedanken machen. Sobald man das so sieht, hat man aber auch die Kommunen wieder im Blick. Es ist ja nicht so, dass die Kommunen, jedenfalls die Gemeinden, keine Möglichkeit hätten, an das Geld heranzukommen. Wenn man das einmal gelöst hat, dann stellen sich auch wieder andere Fragen. Und dann, darauf muss man sich einrichten, wird es ein Problem sein für einen Verband, der das Gros seines Geldes im Sozialbereich ausgibt, alleine mit der Kultur zu überleben. Denn man muss sagen können, warum das richtig wichtig ist, dass man im Sozialbereich tätig ist, warum man das gut macht und warum das so bleiben muss, dass es in Nordrhein-Westfalen die Landschaftsverbände machen und nicht, wie in anderen Ländern, vielleicht auch das Land. Da sehe ich im Moment ein gewisses Problem. Nehmen Sie z. B. die Forensik. Und dann kommt auch, die Dinge sind absehbar, die Diskussion über die Inklusion. Das wird ja nicht dazu führen, dass der Landschaftsverband stärker wird oder die Landschaftsverbände stärker daraus hervorgehen. Sondern im Zweifel wird das zu einer gewissen Schwächung führen, weil die Inklusion dazu führt, dass viele Kinder, die heute Förderschulen des LWL besuchen, auf die Regelschulen gehen. Wie viele das sind, muss man erst noch sehen. Es sind aber sicher einige Schulen davon betroffen. Also die Dinge sind permanent in Bewegung, und da wird man sich positionieren müssen. Klaus Bellmund Wir haben, als wir diese Veranstaltung vorbereitet haben, drei Leitfragen und -perspektiven formuliert. Ich finde es ganz prima, dass sie sich als so passend erwiesen haben, denn man kann sie jetzt quasi als Zusammenfassung des ersten Teils unserer Diskussion nehmen. Wir sollten sie uns jetzt noch einmal anschauen: 1. Kommunale Selbstverwaltung: Substanz und Legitimation einer Idee? 2. Der LWL als moderner Dienstleister für die Region: Spezifische Stärken und mögliche Schwächen? 3. Der LWL in Finanznot: Wie können die notwendigen Freiräume und Mittel gesichert werden? Durchweg aktuelle Fragen, die Sie gerade hier vorne auch alle aufgeworfen haben. Die nächsten zwanzig bis dreißig Minuten möchte ich das jetzt etwas erweitern und auch mit Ihnen im Plenum diskutieren. Die Thesen lassen wir oben auf der Tafel stehen und schauen uns die kommunale Selbstverwaltung unter dem Aspekt der Substanz, der Legitimation und des Images an. Und da möchte ich mit Ihnen, Frau Lück, beginnen: Sie

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sitzen im Landtag für den Kreis Herford. Sie haben ja auch eine ganze Menge kommunalpolitische Erfahrung, weil Sie für die Stadt Löhne kommunalpolitische Arbeit gemacht haben. Aus Ihrer Perspektive: Kommt das an, was der Landschaftsverband Westfalen-Lippe für die Menschen macht? Angela Lück Als Kommunalpolitikerin kann ich dazu sagen, dass es natürlich immer auch ein Wermutstropfen ist, die Beiträge für den Landschaftsverband abzugeben. Aber bei den Menschen kommt das natürlich an. Wer sich als Person oder auch als Familie in eine Situation gesetzt fühlt, in der man Hilfe und Unterstützung braucht, für den ist der Landschaftsverband einfach der Kümmerer, der die Hilfestellung leistet und der für den einzelnen Menschen auch Wege aus der Tragödie findet. Klaus Bellmund Der als moderner Dienstleister auch als solcher gesehen wird – ist das so Ihre Erfahrung? Angela Lück Ja, das ist meine Erfahrung. Klaus Bellmund Es gibt aber ja manchmal auch schwierige Themen, also wenn man sich z. B. die Forensik anschaut. Das führt dann eher zu einem negativen Image, weil die niemand möchte. Barbara Steffens, die NRW-Gesundheitsministerin, hat es jetzt gesagt: Sucht neue Forensikstandorte! Da wird dann geschaut und jeder sagt natürlich, niemand möchte so etwas in der Nachbarschaft haben, auch wenn man das grundsätzlich vielleicht gut findet. Ich habe manchmal den Eindruck, solche Diskussionen überschatten das positive Image des Dienstleisters LWL. Angela Lück Das ist natürlich ein Diskussionspunkt. Es muss die Maßnahme Forensik geben, aber niemand möchte die vor seiner Haustür haben. Und so ist das ja auch mit ganz vielen anderen Dingen: Erneuerbare Energien zum Beispiel. Sieht jeder ein, wollen wir haben, brauchen wir, aber nicht vor meiner Haustür! Also möchte auch jeder natürlich wissen, dass die Menschen, die eine entsprechende Maßnahme brauchen, auch in einer forensischen Klinik untergebracht werden. Aber in der Nachbarschaft möchte die natürlich niemand haben. Klaus Bellmund Ich gebe die Perspektive, die Sie aufgeworfen haben – die Menschen sehen das, was der LWL als moderner Dienstleister macht – zurück ans Podium: Stimmt das, ist das so? Wie würden Sie es einschätzen, wer von Ihnen möchte antworten? Herr Gebhard.

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Dieter Gebhard Ich weiß, dass das so ist, weil ich die gleichen Erfahrungen in meiner Kommune natürlich auch mache und mannigfaltige Möglichkeiten habe, das in Diskussionen auch immer wieder bestätigt zu bekommen. In der Tat ist die Umlagediskussion, da sind wir uns einig Herr Oebbecke, eine der schwierigsten überhaupt. Und ich habe vorhin ja versucht anzudeuten, dass wir mit einer stärkeren Umlage auf Dauer natürlich die Finanzprobleme nicht lösen können. Aber das ist jetzt nicht das Thema, sondern ich möchte nur darauf hinweisen, dass die Umlage, die von den Kreisen und Städten geleistet wird, ja nicht dem LWL zugutekommt. Das ist eine vollkommen schiefe Diskussion, denn das Geld fließt ja zurück, das fließt auch in den Kreis Herford, das fließt auch in die Stadt Gelsenkirchen. Unterm Strich meine ich nachweisen zu können – unser Kämmerer könnte es viel besser als ich –, dass der LWL auch eine Art Finanzausgleichsfunktion wahrnimmt, die seinesgleichen sucht. Und irgendein schlauer Mensch hat einmal gesagt: Wenn wir den LWL nicht hätten, dann müssten wir ihn erfinden. Denn das GFG (Gemeindefinanzierungsgesetz) mit all den Dingen zu belasten, würde, denke ich mal, nicht funktionieren. Insofern glaube ich, dass die Kommunen, die diese Gelder hier nach Münster überweisen, das Geld gut anlegen und genau wissen, dass damit solche Aufgaben erledigt werden, die sie sonst selber machen müssten. Und das ist ja genau die Idee, von der wir auch anfangs ausgegangen sind. Klaus Bellmund Jetzt sind wir schon fast bei Punkt Nummer 3. Weil der halt so wichtig ist, steht er auch oftmals über allem. Ich möchte aber noch einmal einen Schritt zurückgehen. Herr Frie – oder wollen Sie auch in die Finanzbresche springen? Ewald Frie Nein, davon verstehe ich leider nicht so viel. Aber ich wollte an eines noch erinnern: Frau Lück hat nicht gesagt „Dienstleister“, Frau Lück hat gesagt „Kümmerer“. Das ist ein interessantes Wort, und man denkt so ein bisschen an Johannes Rau. Aber „Kümmerer“ ist etwas anders konnotiert, sagt auch etwas anderes, darüber muss man sich im Klaren sein. Wenn dieses Bild – also nicht Dienstleister, sondern Kümmerer – funktionieren soll, muss man sich von der enumerativen Aufzählung von Aufgaben lösen. Wenn man so ein Bild anstrebt, dann ist man mit der Beschränkung auf Aufgaben, die man jetzt hat, in Schwierigkeiten. Darauf wollte ich nur hinweisen, das müsste man sich überlegen. Klaus Bellmund Herr Oebbecke: Was ist für Sie das Entscheidende, wenn wir über einen modernen Dienstleister, einen modernen Kümmerer, reden? Wie kann sich der LWL da zukünftig positionieren?

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Janbernd Oebbecke Also, ich glaube in der Tat, dass Herr Frie da einen wichtigen Punkt angesprochen hat. Es wird schwierig, sich darüber zu profilieren, wenn man in diesem relativ engen gesetzlichen Korsett steckt. Oder anders gesagt: Wir rechnen und gehen mal die zwei weiteren Verwaltungsreformdiskussionen weiter, also vielleicht vierzig oder fünfzig Jahre, und der Landschaftsverband übersteht sie. Irgendwann wird/ist er dann eine Größe, über die man gar nicht mehr ernsthaft diskutieren muss. Weil dann nur noch so wenig Aufgaben übergeblieben sind, dass das nicht mehr relevant ist. Bei der jetzigen gesetzlichen Regelung besteht keine Chance, sich eines neuen Problems anzunehmen. Denken wir etwa an die Frage der Ausländerintegration, das war so ein Thema der letzten zwanzig Jahre. Da hatte der Landschaftsverband keine Chance, weil das im Gesetz ausdrücklich nicht vorgesehen war. Wenn es aus irgendeinem Grunde bei den jetzigen Aufgaben natürliche Abgänge gibt, weil die Aufgaben entfallen, weil sich eine Lösung herausstellt, dass man es völlig anders machen sollte, dann kommt doch nichts nach. Es bleibt bei dem, was da ist im Gesetz, und das wird peu à peu immer weniger. Dies ist ein ganz erhebliches Risiko, das man sehen muss. Ich sehe aber offen gestanden keine Chance für eine Öffnung dieser enumerativen Zuständigkeitszuordnung, politisch jedenfalls nicht. Weil Widerstände da extrem breit sind, auch bei den Kreisen und kreisfreien Städten, bei den Gemeinden sowieso, wird sich das nicht oder kaum machen lassen. Klaus Bellmund Herr Dr. Kirsch hat ja gleich zu Beginn schon einmal gesagt, er würde sich wünschen, dass die Kreise und die Kommunen die eine oder andere Aufgabe noch mehr auf den LWL übertragen könnten. Ich komme noch mal zu Ihnen, Herr Dr. Kirsch. Was wären das denn für Aufgaben, die Sie sich wünschen würden? Wolfgang Kirsch Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen: Schon heute geben wir den Gemeinden die Möglichkeit, die Beihilfe für Beamte zentral zu bearbeiten. Wir machen das mit großem Erfolg für viele Städte, Gemeinden und Kreise. Das heißt, in allen zentralen Aufgaben, die nicht zum Kernbestand der kommunalen Selbstverwaltung gehören, sind wir im Bereich des Service in der Lage, dies besser und leichter durchzuführen. Wir machen das auch für die Kindergeldabrechnung, ein rechtlich hochkompliziertes Thema, wo wir diesen Service den Gemeinden anbieten können. Das könnten wir in allen anderen Verwaltungsbereichen auch – Informationstechnologie, Personalverwaltung und ähnliches. Da sind wir absolut in der Lage, das besser zu machen. Andere Arbeiten, die in den Gemeinden durchgeführt werden, wie Ordnungsverwaltung und Jugendamt, wollen die natürlich vor Ort haben. Das ist auch vor Ort ganz richtig angesiedelt, auf der Kreisebene oder in einer Gemeinde. Was jedoch den Service angeht in einer Verwaltung, da könnten wir sehr viel mehr leisten. Wir haben aber auch neue Aufgaben bekommen, Herr Oebbecke, das darf man nicht verschweigen. Das ist nicht nur die Kriegsopferfürsorge, sondern auch das Opferentschädigungsgesetz. Hier handelt es sich um ganz komplexe schwierige Rechtsgebiete,

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für die man Spezialisten braucht. Und da ist man zu den Landschaftsverbänden gekommen und hat gefragt: Könnt Ihr das machen? Kein Mensch hat den Übergang von einer staatlichen Verwaltung in eine kommunale Verwaltung bemerkt, weil das ohne Probleme bei uns lief. So kann ich mir das auch für andere Bereiche vorstellen. Herr Gebhard hat vorhin einen Bereich genannt – die touristische Vermarktung im Fremdenverkehr. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass vor fünf Jahren im Bereich des Nahverkehrs die Zuständigkeit der Landschaftsverbände gekommen wäre. Das ist anders gekommen durch die Regionalverbünde. Ich halte das nicht für sachgerecht. Das hätte der Landschaftsverband für ganz Westfalen-Lippe hervorragend machen können, zusammen mit dem Landschaftsverband Rheinland. Also, da ist ein weites Feld, wo wir aufgrund unserer Stärke, aufgrund der Größe spezielle Dienstleistungsangebote aufbauen und vorhalten können im Interesse von Gebiets- und Mitgliedskörperschaften. Klaus Bellmund Ich glaube, Sie erhalten keinen großen Widerspruch, wenn wir einmal auf den Bereich des Verwaltungsservicecenters schauen. Ich nenne das jetzt einmal etwas flapsig so. Wäre das eine solche mögliche Aufgabe? Was würden Sie sagen, Herr Oebbecke? Janbernd Oebbecke Dem kann man zustimmen, wenn es so ist, dass niemand den Übergang von der staatlichen auf die kommunale Verwaltung bemerkt. Wie kann man dann aber erklären, dass es eine kommunale Verwaltung sein muss? Das Besondere, was den Landschaftsverband und die Verwaltung des Landschaftsverbandes auszeichnet, etwa gegenüber einer Landesbehörde, ist doch gerade, dass es hier das gibt, was immer so schön als Westfalenparlament bezeichnet wird. Braucht man das, um das Opferentschädigungsgesetz zu exekutieren oder die Beihilfen zu berechnen? Nein, ganz sicher nicht, da ist die Schwierigkeit. Also Sie finden natürlich – mit Verlaub gesagt: so ähnlich wie die Ruhrknappschaft – neue Betätigungsfelder. Aber ist das wirklich strukturadäquat? Das ist die Frage. Klaus Bellmund Herr Dr. Kirsch atmet tief durch und bekommt, damit Sie es auch alle hören, noch einmal das Mikrofon. Wolfgang Kirsch Danke schön. Ich möchte ausdrücklich Herrn Professor Frie zustimmen, der sagt: Die Existenzberechtigung für einen Landschaftsverband ist nicht Westfalen als Region. Ich predige meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, dass unsere Existenzberechtigung in der Qualität unserer Arbeit liegt. Unsere Existenzberechtigung ist, dass wir gut und wirtschaftlich verschiedene Felder bearbeiten. Aus meiner Sicht gibt es nichts Anderes, als dass wir das mit westfälischen Tugenden machen, die uns von anderen Regionen unterscheiden. Das sage ich genauso offen und genauso deutlich. Aber eine Region ist für mich keine Berechtigung für eine Verwaltungsbehörde, die wir letztend-

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lich ja nur sind. Die Berechtigung liegt in der Qualität unserer Arbeit für die Menschen. Und daran werden wir gemessen. Solange wir das gut und wirtschaftlich machen, kommt man, glaube ich, an uns nicht vorbei. Würden wir hier abheben, dann hätten wir ein Problem. Dass wir unsere Arbeit anders machen, Herr Oebbecke, sehen Sie zum Beispiel an den Sprechstunden, die wir im Bereich der Kriegsopferfürsorge und bei anderen Fragen anbieten. Regional, vor Ort, in den einzelnen Gemeinden – das gab es so vorher nicht. Wir haben eben eine andere Denke, wir denken kommunal. Das wollte ich nur noch einmal sagen, deshalb habe ich so tief durchgeatmet. Rechtfertigung ist allein die Qualität unserer Arbeit für die Menschen hier. Klaus Bellmund Also, für die Menschen, die Qualität der Arbeit, da spricht er Ihnen aus dem Herzen, nicht Herr Frie? Ewald Frie Ja. Klaus Bellmund Oder nicht ganz, sagt Herr Professor Kersting. Ewald Frie Ja, nicht ganz, in der Tat. Ich möchte nicht so verstanden werden, als wollte ich das Element der Region einfach rauswerfen. Das ist nicht der Punkt. Vielmehr gibt es auf dieser regionalen Ebene Konkurrenzen, und man muss erweisen, was die Region Westfalen jeweils leistet. Ökonomie oder Effizienz ist ein Kriterium, aber nicht das einzige. Denn man darf auch dieses Element der Identifikation, der kulturellen Identifikation der Menschen, für die Sie arbeiten und die mit Ihnen arbeiten, nicht unterschätzen. Man muss sehen, dass man sich in einem Raum konkurrierender Identifikationen bewegt, stärker vielleicht als vor dreißig oder vierzig Jahren. Klaus Bellmund Gute, qualitative Arbeit – für Sie auch wichtig, Herr Gebhard? Da können Sie doch eigentlich gar nicht nein sagen, oder? Dieter Gebhard Also, ich habe ernsthaft nicht daran gedacht, da nein zu sagen, ganz bestimmt nicht. Um aber noch einmal auf den Punkt 2 zu sprechen zu kommen: Das Wesen unserer Arbeit hier im Parlament halte ich schon für eine spezifische Stärke und damit für einen wirklichen Vorteil des LWL als Kommunalverband. Wir können Interessen unserer Mitgliedskörperschaften zur Sprache bringen, nicht nur im Kulturbereich, sondern insbesondere auch im Sozialbereich. Das ist ja nicht alles nur gesetzlich geregelt, wenn ich etwa an die Förderschulen oder ähnliches denke. Es gibt kein Gesetz, das sagt, in den Förderschulen müssen Bewegungsbäder sein oder andere Therapieeinrichtungen. Also, da gibt es schon einiges zu diskutieren. Und die spezifische Stärke hängt gleichzeitig

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damit zusammen, dass die Abgeordneten natürlich einerseits die Interessen der Mitgliedskörperschaften hier zur Sprache bringen, andererseits dann aber auch die Entscheidungen zurücktransportieren und um Verständnis dafür werben, dass das natürlich auch Geld kostet. Zu den möglichen Schwächen: Ein Problem ist verbunden mit der Ehrenamtlichkeit der Abgeordnetenarbeit hier. Wir sind – das ist in der Landschaftsverbandsordnung so festgelegt, ich will auch nicht daran rütteln, ich will das lediglich als Problem darstellen – ja nicht nur beruflich tätig, sondern wir sind auch Mitglied einer Körperschaft, also des Rates oder des Kreistages, und machen das dann hier noch zusätzlich. Das geht schon manchmal an die Grenzen dessen, was man überhaupt persönlich schaffen kann. Und das halte ich für eine mögliche Schwäche. Wenn man dann noch die Tatsache hinzunimmt, dass wir anders als die Mitglieder des Landtages von Nordrhein-Westfalen nicht direkt gewählt sind, sondern nur mittelbar über die Mitgliedskörperschaften dieses Mandat bekommen haben, dann schwächt uns das in der Durchsetzungskraft unserer Vorstellungen schon etwas. Klaus Bellmund Sollte man das wieder ändern? Sollte man eine direkte Wahl dieses westfälischen Landesparlaments durchsetzen? Dieter Gebhard Dann hätten wir auch wieder einen Marschall und einen Landeshauptmann. Es gibt genügend Leute, die davon träumen, das weiß ich wohl. Aber ich bin, wie Herr Professor Oebbecke, auch der Meinung, dass man da auf dem Teppich bleiben muss. Man muss sehen, dass das absolut nicht in die Zeit passen würde. Jetzt vom Landtag in Nordrhein-Westfalen eine Entscheidung darüber zu verlangen, hielte ich für vermessen, und da kommt auch keiner ernsthaft drauf. Klaus Bellmund Wir bleiben noch bei Punkt 2, bei den spezifischen Stärken und bei den möglichen Schwächen des LWL als moderner Dienstleister. Herr Oebbecke: Wo machen Sie denn mögliche Schwächen aus? Janbernd Oebbecke Die Schwäche ist, glaube ich, strukturell vorgegeben, das ist auch kein neues Phänomen. Es gibt, was eben schon Herr Kirsch gesagt hat, keine Alternative dazu, als die Arbeit möglichst gut zu machen. Das heißt aber, dass gerade bei den Aufgaben, die erfüllt werden, Fachlichkeit immer einen sehr hohen Stellenwert hat. Wenn ich mich an fachlichen Standards orientiere, heißt das aber zugleich, dass der politische Spielraum schwindet. Wenn ich eine Straße – bleiben wir mal bei dem für den Landschaftsverband jetzt überholten Beispiel – nach fachlichen Gesichtspunkten so baue, dass sie LKWs aushält und möglichst viele Winter, habe ich nicht so sehr viele Spielräume bei der Entscheidung, wie ich das eigentlich machen soll. Und solche fachlichen Vorgaben gibt es auch, wenn auch vielleicht schwächer, im Kulturbereich, und sie gibt es, wenn auch

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nicht für alles, was entschieden werden kann, im Sozialbereich. Da liegt eine Schwäche, das muss man sehen. Man muss, wenn man die Landschaftsverbände aufrechterhalten will, auf die Dauer erklären können, warum man diesen politischen Apparat braucht. Das fällt zunehmend schwerer, wenn man gleichzeitig selber kommuniziert, dass man immer kurz vor dem Kollaps steht. Das ist . . . Klaus Bellmund Kontraproduktiv, aus Ihrer Perspektive? Kontraproduktiv? Janbernd Oebbecke Ja, so kommt das über. Wer kurz vor dem Kollaps steht, der hat keinen Spielraum mehr. Der wird versuchen, noch ein wenig Luft zu schnappen. Das ist ein Problem. Man muss, glaube ich, weggehen von dieser ganz allein auf die Finanzen bezogenen Debatte. Das Problem muss sowieso gelöst werden. Das ist kein spezifisches Problem der Landschaftsverbände. Für die Landschaftsverbände ist es wichtiger darzulegen, warum es bei den Aufgaben, die sie wahrnehmen, Spielräume gibt, die eine politische Diskussion lohnen, und diese Diskussion dann auch so führen, dass sie glaubwürdig wahrgenommen wird. Klaus Bellmund Herr Gebhard möchte noch ergänzen. Dieter Gebhard Ich möchte zu dem Beispiel, Herr Professor Oebbecke, das Sie genannt haben, feststellen, dass Sie das sehr eingeengt haben. Das Beispiel mit dem Straßenbau haben Sie eingeengt auf die Qualität und die fachlichen Vorgaben, die man beim Straßenbau beachten muss. Sie lassen ganz außen vor, dass, bevor die Straße gebaut wird, noch eine Menge zu entscheiden ist. Nämlich, wird sie überhaupt gebaut? Wenn ja, wo? Welche Linienführung? Bekommt die Straße einen Radweg oder nicht? Gibt es Flüsterasphalt? – also die Frage der Lärmentwicklung usw. Das sind alles Dinge, die in der politischen Diskussion hier eine Rolle spielen, die zu unseren Stärken gehören, weil es uns – so nehme ich selbst es zumindest bisher wahr – in der Vergangenheit immer gelungen ist und auch jetzt immer noch gelingt, in unsere Kommunen hineinzutransportieren, dass die Entscheidung vernünftig war und dass eben die Straße von X nach Y noch warten muss. Das ist ein Prozess, den kann man allein mit fachlichen Vorgaben, mit dem Qualitätsargument, dass die Straße ihren technischen Standard erhält, nicht erklären. Das ist eben etwas mehr, und genau das macht – für mich persönlich kann ich das sagen – den Reiz der Arbeit hier beim LWL in der politischen Vertretung aus. Klaus Bellmund Gehen wir einmal weg von der Straße, da können Sie ohnehin nichts beeinflussen im Augenblick, das macht ja „Straßen.NRW“. Und wenn ich mir die Buckelpisten nach dem letzten Winter anschaue, bin ich mir gar nicht so sicher, ob die das Aufgabenfeld wirklich haben wollen. Denn der Landesbetrieb NRW hat ja auch kein Geld. Wechseln

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wir also einmal vom Thema Straßenbau zu den spezifischen Stärken, die der LWL auch hat, nicht nur im Sozialbereich, sondern auch in kleineren Bereichen. Wir machen ja heute eine Veranstaltung, die eine historische Dimension hat. Und deswegen gehe ich jetzt mit dem Mikrofon einmal zu Herrn Professor Jakobi, Historiker und ehemaliger langjähriger Leiter des Stadtarchivs hier in Münster: Warum ist es denn wichtig, Herr Jakobi, dass der LWL sich auch historisch betätigt und genau in diesem Feld auch ein wenig für Identifikation sorgt? Franz-Josef Jakobi Ich möchte, wenn Sie gestatten, Herr Bellmund, die Frage noch etwas genereller beantworten. Klaus Bellmund Das mögen Journalisten ja nicht so gerne, wenn der Antwortende die Frage umdreht. Franz-Josef Jakobi Also, weil es ja die Antwortmöglichkeiten zu Ungunsten des Landschaftsverbandes einengt, deswegen! Klaus Bellmund Okay, ist erlaubt. Franz-Josef Jakobi Vielleicht darf ich noch einmal anknüpfen an den Begriff „Kümmerer und Dienstleister“, den Sie, Frau Lück, ins Spiel gebracht haben. „Kümmerer“ ist etwas vorbesetzt, sagen wir mal, mit Nothilfe und Daseinsfürsorge, ist etwas eingeengt, aber im Ganzen trifft das vielleicht doch zu. Und da hängen – ich verweise noch einmal auf das Votum von Herrn Oebbecke – immer gewaltige Finanzen, Personalbedarf und institutionelle Bedarfe dran. Bei Kultur ist das in dem finanziellen Teil etwas anders dimensioniert, in dem Wirkungsfaktor meiner Ansicht nach aber mindestens genau so groß, wenn nicht in der Reichweite, in der Erreichbarkeit von Personen, sogar noch viel größer. Nehmen Sie nur die Besucherzahlen der insgesamt 17 LWL-Museen – das sind nicht nur die Industriemuseen, sondern die sind über den gesamten Raum, den Zuständigkeitsbereich, verteilt. Ich will den Namen Westfalen hier vermeiden, denn Lippe gehört ja auch noch dazu. Das macht das Problem noch größer. Also, die Reichweite der Dienstleistung Kultur, der Kulturdienstleistungen, die ist ungeheuer groß, und sie wird aus meiner Sicht politisch zu gering eingeschätzt. Herr Gebhard hat das Fähnlein der Kultur immer ein bisschen hochzuhalten versucht und es wird immer gegen die sozialen Bedarfe gegengerechnet, was nur unter dem quantitativen Gesichtspunkt der Finanzen sinnvoll ist. Mit Blick aber auf die Erreichbarkeit, die Bedienung von Erwartungen, die Möglichkeit an Investitionen wie z. B. einem Museum zu partizipieren, mit Blick auf die Freizeitgestaltung großer Bevölkerungsteile und ähnliche Dinge ist das Kulturangebot ein ganz erheblicher Faktor. Und hier kommt Dienstleistung zusammen mit Reichweiten.

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Abb. 2: Mitdiskutant Prof. Franz-Josef Jakobi und Moderator Klaus Bellmund (Foto: Wolfgang Busse)

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Herr Frie hat den Westfalenbegriff als Kulturraum so ein bisschen dekonstruiert. Das ist sicher sinnvoll und notwendig, weil er ja ein Konstrukt ist und keine gewachsene historische Größe. Das ist er jedenfalls nur zu Teilen. Darunter liegen sehr viel wirksamere, kleinteiligere historische Räumlichkeiten, die man aber genau mit Kultur bedienen kann und bedienen muss. Die Museen habe ich als Trägerinstitutionen für so etwas schon genannt. Die kann eine Kommune in der Regel in dieser Größenordnung mit diesen Angebotsparametern überhaupt nicht vorhalten. Da ist sie auf eine Mittelinstanz angewiesen. Ich möchte aber noch ein weiteres Element anfügen, das ebenfalls der Koordinierung in einer mittleren und vielleicht sogar auch in einer nicht-staatlichen – eben einer kommunal geprägten – Ebene verlangt: Das ist die Koordination eines ungeheuer großen Potentials an Ehrenamtlichkeit. Also, die gemeinsame Möglichkeit etwas zu tun, was eine einzelne Kommune, vielleicht auch eine einzelne Gruppe, nicht leisten kann, liegt zum Beispiel in den Kommissionen des Landschaftsverbands, in den westfälischen Kommissionen, sechs an der Zahl, die alle eine Zusammenführung von großer Bereitschaft zu ehrenamtlichem Engagement sind. Das darf man nicht unterschätzen, und das ist in Sachen Kultur eine große – ich sage mal – Spielwiese von Freiwilligkeit. Das gibt es im Sozialen natürlich auch, und da soll es genauso gelten. Dieses Ehrenamt hat neben den stärker institutionalisierten LWL-Kommissionen noch eine zweite Komponente: Das sind die vielfältigen kulturell tätigen Vereine in der Region, die der Landschaftsverband ebenfalls fördert. Ich kann das z. B. sagen für den – auf den Gesamtraum bezogenen – Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, der weder von einer kommunalen Trägerschaft leben könnte noch staatlich alimentiert werden will. Hier stellt der Landschaftsverband in der Person des Landesdirektors sozusagen den Kurator und damit die Koordinierungsadresse. Das könnte man noch sehr viel stärker ausbauen, und das würde einem großen Potential an freiwilliger Bereitschaft zum Engagement entsprechen und natürlich auch die Reichweiten in der Binnenstrukturierung vergrößern. Das war ein Versuch, das aufzugreifen, was hier in den einzelnen Diskussionsbereichen schon thematisiert worden ist. Man könnte das jetzt konkretisieren an sehr vielen Einzelbeispielen von Projektförderung und anderem. Klaus Bellmund Das machen wir an dieser Stelle nicht. Ich habe Sie ja eigentlich gefragt, wie wichtig so ein historisches Bewusstsein ist. Davon gehe ich jetzt mal aus, das hätten sie auch beantwortet mit: Ja, das ist sehr wichtig! Ich mache es einmal etwas kürzer: Sie haben hier einen Prospekt liegen, den ich mir einfach einmal nehme. Darauf sieht man den Varus. Das war ja ein riesiges Museumsprojekt in Haltern, hat für eine unglaublich große Öffentlichkeit gesorgt, hat dafür gesorgt, dass der LWL dort tatsächlich in aller Munde war, definiert über ein Kulturprojekt. Also, sind Kulturprojekte nicht ungeheuer wichtig, Herr Gebhard?

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Dieter Gebhard In der Tat war die Aktion der Varus-Ausstellung ja eine Kooperation mit zwei weiteren Standorten. Es hat zur Popularität sicherlich auch beigetragen, dass wir in Detmold und in Kalkriese ebenfalls entsprechende Aktivitäten hatten. Aber, man muss sich das vorstellen: Der Nukleus war in Haltern, einer kleinen Gemeinde im Kreis Recklinghausen. Ich sage das deswegen so ausdrücklich, weil wir gerade gehört haben, dass es viele, insbesondere auch kulturelle, Aktivitäten gibt, die eine Kommune, auch ein großer Kreis, gar nicht stemmen könnte. Und insofern ist die Bedeutung so eines Zweckverbandes – ich bezeichne jetzt den LWL einmal als einen kulturellen Zweckverband – schon gegeben. Man braucht keinen anderen, der macht das ganz gut. Klaus Bellmund Damit die Menschen sehen, dass der LWL die Arbeit gut macht, egal in welchem Bereich, braucht man Geld: „Der LWL in Finanznot“ – Thema Nummer drei, heute Abend unser letztes Thema, meine Damen und Herren. Und damit beschließen wir das auch, auch wenn wir damit keinen versöhnlichen Ausklang hinkriegen. Oder vielleicht doch, Frau Lück? Aus der Perspektive einer Landespolitikerin: Was können Sie denn dafür tun, dass die notwendigen Freiräume und Mittel gesichert werden? Angela Lück Zunächst müssen wir natürlich die Mitglieder stärken, und das tun wir mit unserer Landesregierung. Es wird der Stärkungspakt Stadtfinanzen auf den Weg gebracht, und es wird in die Kommunen so viel Geld fließen wie noch nie zuvor. Das reicht natürlich nicht aus. Wir haben 396 Kommunen in NRW, und von denen hat nur eine gute Handvoll einen ausgeglichenen Haushalt. Da gibt es noch viel mehr Bedarf an finanzieller Unterstützung durch die Landesregierung, und man muss sagen, dass das Land das nicht einfach alleine auffangen kann. Hier ist auch der Bund gefordert mitzumachen und natürlich Institutionen wie den Landschaftsverband ebenfalls finanziell zu unterstützen. Gerade im Bereich der Eingliederungshilfen – das ist ja der größte Teil im Haushalt des Landschaftsverbandes – muss die Bundesregierung mit dabei sein. Da muss sie mitfinanzieren, um diese wichtigen und notwendigen Maßnahmen vor Ort gewährleisten zu können. Das kann das Land nicht mehr alleine schaffen. Klaus Bellmund Das klang jetzt politisch ganz brav, Frau Lück. Ich frage daher noch ein bisschen provokanter nach: Wenn Sie von dieser Veranstaltung heute Abend zurückkommen und morgen vielleicht Hannelore Kraft treffen im Landtag, gehen Sie dann zu ihr hin und sagen: Mensch, das war eine tolle Veranstaltung, jetzt habe ich mal gesehen, wie wichtig so ein Verband eigentlich ist, und auch noch historisch motiviert! Hannelore, wir müssen die Schlüsselzuweisungen deutlich erhöhen, die das Land leistet! Also: Gibt es so einen Satz von Ihnen, Frau Lück?

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Angela Lück Ach, wissen Sie, ich bin ja eine ganze Zeit hierher gefahren im Auto und habe dabei Nachrichten gehört, und es ist nun klar: Es gibt Steuersenkungen. Die Bundesregierung wird uns Steuerzahler da etwas erleichtern. Wenn ich das höre, frage ich mich doch, in welchem Spannungsfeld wir da eigentlich sind. Wir haben hier im Lande große Not, dass die Kommunen überhaupt ihre Pflicht, ihre Pflichtdinge, leisten können, geschweige denn die freiwilligen Leistungen noch weiter erhalten können. Und da nimmt sich die Bundesregierung einfach aus der Pflicht heraus zu sagen, wir müssen auch die Kommunen bei uns im Land finanziell am Leben erhalten. Natürlich gehört der Landschaftsverband als kommunales Selbstverwaltungsorgan auch dazu. Auch hier muss natürlich für einen finanziellen Rahmen gesorgt werden. Und da kann man keine Steuersenkung gewissermaßen als Geschenk verteilen. Klaus Bellmund Sie haben mir nicht gesagt, was Sie Hannelore Kraft sagen werden. Angela Lück Hannelore Kraft ist, glaube ich, gut im Thema. Die weiß auch, was die beiden Landschaftsverbände bei uns in Nordrhein-Westfalen an Themen und auch an finanziellen Nöten haben. Wir wollen einen vorsorgenden Sozialstaat haben. Das ist uns wichtig, das haben wir auch gesagt und das setzen wir dadurch um, dass wir viel Geld geben wollen in die Kommunen, aber auch in Bildung. Das ist der Bereich, wo wir Prioritäten setzen – die frühkindliche Bildung, aber auch die Studiengebühren, die wir abgeschafft haben –, weil wir den Menschen bei uns im Lande auch wieder eine Perspektive geben wollen. Dazu gehört natürlich auch, gerade was das Schulwesen angeht, die Einbringung der Inklusion. Da müssen wir ebenfalls vorankommen, und auch das wird eine Menge Geld kosten. Man weiß also gar nicht, wo es eigentlich alles herkommen soll. Wir haben . . . Klaus Bellmund Ich merke schon, ich bringe Sie in totale Schwierigkeiten. Sie können die Frage, die ich Ihnen gerade gestellt habe, auch nicht beantworten. Deswegen drehen wir uns hier ja auch im Kreis: Auch die Kommunen, denen Sie viel Geld gegeben haben, haben sich in dieser Woche schon wieder positioniert mit diversen Pressekonferenzen. Die kleinen Kommunen haben gesagt, das reicht alles nicht aus, und trotzdem müssen sie mehr für die Landschaftsumlage zahlen. Finanzierung – das letzte große Stichwort gebe ich noch einmal in die Runde zurück. Und da melden sich auf dem Podium gleich alle drei. Ich kann mir sogar aussuchen, wer davon antwortet. Das ist ja auch ein Blick in die Geschichte: Da hatten wir auch das Verhältnis zwischen staatlicher Leistung und dem, was dann über Steuern letztendlich finanziert wurde aus den einzelnen Körperschaften. Wie lösen wir diese Misere, meine Herren? Wer die beste Idee hat, der darf anfangen. Ewald Frie Ich fange an.

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Klaus Bellmund Ja bitte, Herr Frie. Ewald Frie Nicht, weil ich die besten Ideen habe, keine Sorge, sondern weil dann die beiden Anderen die kompetenteren Antworten geben können. Ich verstehe ja von der Sache nicht viel, ich will nur einen Gedanken zum Besten geben: Wenn der Landschaftsverband sich entwickelt zu einer Institution, die finanziert wird aus Bundesmitteln, aus Landesmitteln und aus Umlagemitteln – sagen wir mit einer steigenden Tendenz zu Landesmitteln und Bundesmitteln –, dann muss er damit leben, dass er wahrgenommen wird als ein Element in einem Instanzenzug wie viele andere auch. Wenn er ein Selbstbild hat, dass von einer Selbstverwaltungsinstitution ausgeht und von diesem Raum, von dem Parlament, in dem wir hier sitzen – wenn er das vor sich herträgt, dann liegt in der Logik dieser Argumentation, dass die Umlage das beherrschende Element ist, denn deswegen sitzen hier ja Parlamentarier aus den Kreisen und arbeiten daran oder fällen die entscheidenden Beschlüsse. Ansonsten scheint mir, dass da Dinge – jetzt einmal historisch gesehen – irgendwie in Spannung zueinander geraten. Am Anfang, im 19. Jahrhundert, standen die staatlichen Dotationen. Darauf hat Herr Kirsch in der Eröffnung hingewiesen. Aber in dem Moment, wo die Landschaftsverbände oder damals die Provinzialverbände beginnen, selbständig eine Region zu prägen, tun sie das im überwiegenden Maße mit den Geldern aus den Kommunen. Man kann das als eine Negativgeschichte erzählen, man kann aber auch sagen: Dann ging damals der Provinzialverband oder geht heute der Landschaftsverband dorthin, von wo seine Legitimation kam und kommt und wo gewissermaßen seine Stärken lagen und liegen. Klaus Bellmund Herr Gebhard. Dieter Gebhard Ja, ich werde gleich ein Wort zu Professor Frie sagen, aber vorab würde ich ganz gerne ein Zitat bringen von heute. Die WAZ hat heute getitelt: „Für jeden eine Tasse Kaffee am Tag mehr“. Das ist also das Ergebnis der sogenannten Steuerentlastung. Im Ergebnis, wenn man die 40 Millionen Tassen Kaffee täglich zusammenzählt, sind es wohl vier Milliarden, wenn ich das richtig in Erinnerung habe. Und an der Stelle spricht mir Frau Lück wirklich aus dem Herzen: Die vier Milliarden wären für die Stärkung der Kommunalfinanzen wesentlich besser angelegt als durch diese Gießkanne mit dem Kaffee, um in dem Bild zu bleiben. Zu Herrn Professor Frie: Es wäre, denke ich, ein großes Missverständnis, wenn Sie meinen, dass der Kommunalverband hier sagt: Berlin, schick uns die Milliarden, die wir brauchen! Es gibt andere Modelle, die viel besser funktionieren. Da schwebt mir zum Beispiel vor, dass unsere Kundinnen und Kunden, also die behinderten Menschen, die hier zu 85 Prozent in ihren Leistungen von uns finanziert werden, eine Art Teilhabegeld bekommen, dass sie über ein Budget in der Lage sind, sich die Leistung, die sie haben

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möchten, einzukaufen. Und da sind wir ein sehr leistungsstarker Anbieter. Das wäre einerseits ein Stück mehr Menschenwürde, würde ich formulieren, und zum zweiten auch ein Stück weit die Lösung unseres Problems. Klaus Bellmund Ich sehe eine Wortmeldung! Sie beziehen sich auf Herrn Gebhard, nicht? Josef Rickfelder Ja, ich beziehe mich noch mal auf die Finanzen. Ich habe bisher den Abend als eine sehr faire und ausgewogene Veranstaltung erlebt, über die Zukunft des LWL ernsthaft nachzudenken. Aber wenn ich jetzt höre, wie parteipolitisch die Finanzen und die Finanznot dargestellt werden, dann darf ich mir als Oppositionspolitiker doch die Frage erlauben, wieso eine Landesregierung, wenn Kommunen eine so große Finanznot haben, dann hergeht – und so ist es ja auch in der Öffentlichkeit, in der Fachöffentlichkeit, angekommen – die Beitragsfreiheit z. B. in den Kitas als großen Fehler darzustellen, vor allem in der Fachlichkeit, dass man das dritte Jahr genommen hat und nicht das erste Kindergartenjahr. Und darüber hinaus erlebt man, dass am Ende in erster Linie die Beitragszahler, denen es finanziell relativ gut geht, von den Gebührenzahlungen freigestellt werden. Ich darf als Beispiel die Stadt Münster nennen. Dort hat man eine Beitragsfreiheit bis 37.000 Euro Jahreseinkommen. Ich glaube, wenn eine Landesregierung an dieser Stelle Wahlgeschenke verteilt, dann darf man sich nicht beschweren, wenn auch die Bundesregierung hergeht und sagt: Ein Wahlversprechen, das wir gegeben haben, wird auch umgesetzt. Das, denke ich, muss man an dieser Stelle auch einmal deutlich sagen. Dankeschön. Klaus Bellmund Nein, Frau Lück, leider nicht noch mal. Wir haben hier, das stimmt, auch parteipolitisch argumentiert, und das war jetzt die Replik. Vielleicht war sie an der Stelle nötig, aber weiterführen möchte ich die parteipolitische Diskussion jetzt nicht. Und deswegen bin ich eigentlich ganz froh, dass Sie, Herr Oebbecke, jetzt fast so etwas wie ein Schlusswort bekommen für Ihre Idee zur Finanzierung des LWL jenseits der Parteipolitik. Janbernd Oebbecke Ich kann dazu zwei Beobachtungen beisteuern. Die erste ist: Bei dem Jubiläum „100 Jahre Provinzialordnung“ 1986 war die Forderung aktuell und wurde aus diesem Hause auch erhoben, dass der Bund doch bitte eine Pflegeversicherung einführe, mit dem Unterton (also da war so ein Grund-, so ein Generalbass dabei): Dann sind unsere Finanzprobleme gelöst! Die Pflegeversicherung haben wir jetzt seit den Neunzigern. Die Kommunen schreien trotzdem, der Bund solle mehr tun. Dann geht der Bund hin und übernimmt die Grundsicherung in den nächsten drei Jahren, peu à peu. Jetzt ist das nächste auf dem Tapet: Der Bund soll auch noch die Kosten für die Eingliederungshilfe übernehmen. Niemand redet davon, mit welchen Kollateralschäden das verbunden ist. Die Regulierung der Pflege in Deutschland ist bei näherem Hinsehen – ich musste das

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jetzt oder durfte das tun im Rahmen eines Projekts am Freiherr-vom-Stein-Institut – ein solch aberwitziges Unternehmen, dass man sich wundert, dass das auch nur annähernd so funktioniert wie es funktioniert. Eigentlich dürfte das so gar nicht funktionieren, so völlig verrückt ist das. Niemand kann doch glauben, dass der Bund immer nur Geld gibt und dafür nicht auch etwas bestimmen will. Das ist die eine Beobachtung. Die zweite Beobachtung ist: Es läuft immer gleich – im Übrigen auch völlig unabhängig davon, wer da in Düsseldorf dran ist. Die Kommunen sagen: Land, gib uns mehr Geld! Das Land sagt: Bund, gib mehr Geld! Aber niemand sagt – ich kann mich nicht erinnern, dass ein Landespolitiker das irgendwann mal gesagt hat: Bund, gib uns Besteuerungsmöglichkeiten! Technisch wäre es überhaupt kein Problem, dass beispielsweise bei der Einkommenssteuer der Bund runtergeht. Das macht der sofort, wenn man ihn danach fragt, und die Länder haben die Möglichkeit selber zu entscheiden, wie viel Einkommenssteuer sie auf das, was der Bund nimmt, dann als Aufschlag nehmen. Dann muss das Geld auch gar nicht umgeleitet werden. Es geht immer darum, dass man den anderen bittet, den Bürger in die Tasche zu fassen, und sich selbst großzügig bereit erklärt, das Geld auszugeben. Das wird nicht funktionieren. Das machen auch die Gemeinden, die selber Besteuerungsmöglichkeiten hätten. Das Land, alle Länder halten sich seit fünfzig Jahren über vierzig einschlägige Grundgesetzänderungen – weit davon ab, selbst zu besteuern. Das ist so ein ekliges Geschäft, das lass den Bund mal machen! Und immer muss es der andere richten. Die Wahrheit ist doch: Wenn der Bund immer die Steuern kassiert, dann muss man ihm auch gestatten zu sagen, jetzt mache ich nämlich einmal etwas weniger. Wenn er mehr nimmt, gibt es auch Geschrei im Lande. Letztlich ist es unvernünftig, es so zu regeln, dass die einen entscheiden und die anderen das Geld eintreiben müssen. Es wäre viel besser, das Land könnte seine vorsorgende Sozialpolitik über eine eigene, selbst erhobene Steuer finanzieren. Dann würde man ganz gut sehen, wie das funktioniert. Klaus Bellmund Ob wir diese Perspektive jemals erleben werden, wage ich auch zu bezweifeln. Meine Damen und Herren, Sie merken schon: An dieser Stelle, wenn wir über Finanzen reden, können wir parteipolitisch, wir können konzeptionell, wir können lange weiter diskutieren – tun wir aber nicht. Ich schaue auf die Uhr: Keine Schlussrunde, sondern von jedem hier auf dem Podium jeweils nur einen Satz! Herr Oebbecke, ich fange bei Ihnen an: Sehen wir uns in 25 Jahren hier wieder und feiern dann „150 Jahre Provinzialordnung“? Janbernd Oebbecke Hätten Sie gefragt, ob es die Landschaftsverbände in 25 Jahren noch gibt, dann hätte ich relativ leichten Herzens geantwortet: Davon gehe ich aus! Bezogen auf die Feier: Wenn die im Vergleich zu 1986 noch mal so viel kleiner wird, dann kann die ja in einer Telefonzelle stattfinden, denn vor 25 Jahren war das ein ganz anderer Akt. Klaus Bellmund Herr Gebhard, vor wie vielen Leuten feiern wir und feiern wir überhaupt?

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125 Jahre Provinzialordnung für Westfalen

Dieter Gebhard Keine Ahnung, ich werde nicht mehr dabei sein. Ich möchte ganz gerne zum Ausdruck bringen, dass ich vor 27 Jahren dabei war, als wir hier die Pflegeversicherung gefordert haben. Das war eine sehr wichtige Entscheidung und eine sehr segensreiche Einrichtung, das will ich also wirklich unterstreichen. Allerdings: Vor 27 Jahren habe ich selbst sowieso nicht damit gerechnet – und ich glaube, auch die Experten haben das nicht getan –, dass wir es erleben, dass Menschen mit schweren, schwersten Behinderungen durchaus die Chance haben, so alt zu werden wie Sie und ich. Und es ist ja tatsächlich so, wie wir vorhin mehrfach gehört haben, dass es in der Behindertenhilfe, allgemein Eingliederungshilfe genannt, enorme Steigerungsraten gibt – allein schon, was die Anzahl der Köpfe angeht. Das ist ein neues Problem – ich betone: ein neues Problem –, das eine neue Lösung und möglicherweise auch ein neues Finanzierungsinstrument braucht. Klaus Bellmund Das war noch einmal die Replik, und die kurze Antwort von Ihnen, Herr Gebhard, fasse ich so zusammen: Also, wahrscheinlich wird weiter gefeiert, nur ohne Sie! Herr Frie hätte, glaube ich, noch eine gute Chance, in 25 Jahren erneut zu kommen ... Ewald Frie Das weiß ich nicht genau, da sollte besser jemand reden, der dann das Alter hat, das ich jetzt habe. Ich habe eine Zeitlang in Rheinland-Pfalz gearbeitet und bin jetzt in Baden-Württemberg. Dort gibt es eine Menge Leute, die Nordrhein-Westfalen um die Landschaftsverbände beneiden. Aus meiner Perspektive, mit Blick auf den Bereich der Kultur, ist das verständlich. Darauf hat auch Herr Jakobi hingewiesen. Aber das ist ein doppelseitiges Geschäft, wie ich schon am Anfang gesagt habe: Auf der einen Seite wird die Kultur gefördert, auf der anderen Seite gibt sie etwas zurück, das für die Legitimation dieses Verbandes ganz wichtig ist. Aus anderer Perspektive und mit der Erfahrung in anderen Bundesländern kann man, glaube ich, sagen, dass es ganz gut wäre, wenn wir in 25 Jahren, in welcher Runde auch immer, wieder zusammensäßen und die Dinge insgesamt noch so gut funktionieren würden wie jetzt. Klaus Bellmund Also, ich persönlich finde – vor dem Hintergrund der Vorträge, der Äußerungen hier auf dem Podium sowie nach allem, was ich auch von Ihnen aus dem Plenum noch gehört habe −, diese Runde hätte größer sein können, wir hätten ein größeres Publikum verdient gehabt. Und vielleicht sitzen wir ja in 25 Jahren mit mehr Leuten hier. Vielen herzlichen Dank fürs Zuhören, fürs Mitmachen, fürs Mitdiskutieren, vielen herzlichen Dank an meine Gäste hier auf dem Podium! Schönen Abend – draußen gibt es Kerzen und etwas zu essen!

WEITERE BEITRÄGE Dieter Gewitzsch

Eine Straße als kommunales Gemeinschaftsprojekt. Der Chausseebau von Lüdinghausen über Selm und Bork nach Lünen 1850–1870

1. Einleitung Von 1850 bis 1857 hatte auch die deutsche Wirtschaft in Gestalt des Zollvereins Anteil am „großen Spurt“,1 in dessen Verlauf der Welthandel seinen Umsatz nahezu verdoppelte. Die sieben Jahre industriellen Wachstums mündeten in eine Krise, in der manche Zeitgenossen erste Erfahrungen mit den wirtschaftlichen Wechsellagen machten.2 Aufhalten oder gar umkehren ließ sich die Entwicklung hin zu einer industriell geprägten Gesellschaft aber nicht. Abseits konjunktureller Schwankungen konnte man auf mittlere Sicht von stabilen Rahmenbedingungen ausgehen. Nach der Revolution von 1848/49 ließen sich Teile des Bürgertums auf eine Art Arbeitsteilung mit Adel, Grundbesitz und Verwaltung ein. Die „wirtschaftlich Führenden anerkannten die traditionelle politische Führungsschicht“, und diese ließ die Unternehmer wirtschaften.3 In diesem Kontext veränderte sich die Stellung der Stadt Dortmund in ihrem Umfeld grundlegend; sie gewann wirtschaftlich an Bedeutung und beeinflusste eine ganze Region. Zwischen 1852 und 1858 erhielten 35 Gesellschaften der Montanindustrie eine Konzession, 14 von ihnen in Dortmund und Umgebung. Hier wurde in den „1850er Jahren mehr Kapital investiert und wurden mehr Unternehmen gegründet als in den konkurrierenden Städten Bochum, Duisburg und Essen zusammengenommen“.4 Jetzt zahlte sich aus, dass Dortmund 1847/48 zu einem Verkehrsknotenpunkt geworden war, an dem sich die Köln-Mindener und die Bergisch-Märkische Eisenbahn trafen. Schon 1841 sah David Hansemann die Stadt als eine Art Drehscheibe. Sie würde „vermittels der Eisenbahn ... ihre glückliche Lage in der Mitte zwischen einem kornreichen und einem gewerbetreibenden Lande und in der unmittelbaren Nähe der Steinkohlen-Produktion besser als bisher“ nutzen können.5 1

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Helmut Böhme, Prolegomena zu einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1968, S. 51. Vgl. Hans Rosenberg, Die Weltwirtschaftskrise 1857–1859, Göttingen 1974. Böhme, Prolegomena, S. 43 f. Gustav Luntowski, Das Jahrhundert der Industrialisierung 1803–1914, in: ders./GüntherHögl/Thomas Schilp/ Norbert Reimann (Hg.), Geschichte der Stadt Dortmund, Dortmund 1994, S. 243. Ebd., S. 242.

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Eisenbahnen veränderten auch die bestehenden Strukturen, und die infrastrukturfördernde Politik nahm durch sie eine neue Richtung. Drei Jahrzehnte – bis zur Mitte der 1840er Jahre – war der Straßenbau Staatsaufgabe. In dieser Zeit wurden Fernstraßen und bedeutende Verbindungswege angelegt,6 die nun Konkurrenz durch die Schiene bekamen. Andererseits benötigte man Zubringerstraßen. Eine Kommission des preußischen Abgeordnetenhauses stellte 1857 fest, dass Eisenbahnen den „Gegenden ... nicht die bezweckten Vortheile gewähren könnten, wenn nicht Chausseen aus der Nähe und Ferne die Zufuhr der zu transportirenden Gegenstände möglich machten“.7 Für den weiterhin notwendigen Straßenbau, die Verdichtung des Wegenetzes, forderte das zuständige Ministerium die „Kraftanstrengung der Eingesessenen“ und beschränkte den staatlichen Beitrag auf die Gewährung von Fördergeldern. Als sich der Staat in der Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem Straßenbau weitgehend zurückzog, trat im südlichen Münsterland ein Zweckverband kleinerer Gemeinden in die Lücke und mutete sich einen finanziellen Kraftakt zu. Mit den Menschen und den Mitteln der Region bauten die Stadt Lüdinghausen und die Gemeinden Lüdinghausen, Selm und Bork eine Chaussee durch das „platte Land“, einen Anschluss an das Ruhrgebiet. 2. Preußen, Westfalen und das Münsterland Chausseebau fand in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in staatlicher Regie statt und wurde zum „Dreh- und Angelpunkt einer Modernisierung des Verkehrswesens in Preußen“.8 Die Bauentscheidungen dienten eher der gewerblichen Durchdringung eines Raumes als der gesamtstaatlichen Zielvorstellung, die Unterschiede zwischen den Provinzen abzubauen. So besaßen die gewerblichen Zentren im Westen und in Sachsen eine bessere Verkehrsinfrastruktur als in anderen Provinzen.9 In Westfalen verdreifachte sich in der Zeit von 1816 bis 1848 die Gesamtlänge der staatlichen Chausseen von etwa 690 auf knapp 2.000 Kilometer.10 Münster wurde zum Knotenpunkt eines den nordwestlichen Teil der Provinz erschließenden Straßennetzes. 1860 gab es von dort Verbindungen nach Holland (Glanerbrug). Chausseen führten nach Ibbenbüren und Wiedenbrück, andere über Hamm nach Arnsberg und über Lünen nach Dortmund. Über Dülmen und Haltern war Münster mit Wesel verbunden. Von Haltern kam man auf Staatsstraßen nach Bochum oder nach Dorsten und von Dorsten nach Düsseldorf oder Bochum (Abb. 1).11 6

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Rudi Gador, Die Entwicklung des Straßenbaues in Preußen 1815–1875 unter besonderer Berücksichtigung des Aktienstraßenbaues, Diss. FU Berlin 1966, S. 166. Ebd., S. 165; Gador zitiert die Drucksachen des Hauses der Abgeordneten, 2. Session, IV. Legislatur-Periode, 1856–1857, IV. Bd. Berlin 1857, Nr. 182, S. 2. Clemens Wischermann, Chausseebau und Landverkehr in Westfalen während der Frühindustrialisierung, in: Wilfried Reininghaus/Karl Teppe (Hg.), Verkehr und Region im 19. und 20. Jahrhundert. Westfälische Beispiele, Paderborn 1999, S. 81. Ebd. Berechnet nach ebd., S. 80, Tabelle 1. Statistische Nachrichten über den Regierungs-Bezirk Münster. Nach amtlichen Quellen bearb. vom Regierungs-Rat König, Münster 1860, S. 48.

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Abb. 1: Verkehrsknotenpunkt Münster im Straßennetz von 1860 (Umzeichnung des Verfassers)

Doch die große Zeit des Staatsstraßenbaus war in der Mitte des Jahrhunderts bereits vorbei. Als der Elberfelder Bankier August von der Heydt (1848) das Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Aufgaben übernahm, änderte sich auch die preußische Straßenbaupolitik.12 Das Netz der in staatlicher Regie gebauten Hauptverkehrswege war im Wesentlichen fertig, und der Minister stellte sich auf den Standpunkt: „Der Ausbau

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Wischermann, Chausseebau in Westfalen, S. 81.

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der Nebenstraßen im Anschluß an die Staatschausseen ... braucht nur durch Prämien aus der Staatskasse befördert werden.“13 1860 hatten die Chausseen im Regierungsbezirk Münster eine Gesamtlänge von 1.168 Kilometer und waren zu über 90 Prozent bereits vorschriftsmäßig ausgebaut. Zu 38 Prozent bestand das Netz aus Staatsstraßen und zu 20 Prozent aus Kreisstraßen. Den größten Anteil hatten aber schon die Gemeindestraßen, die 40 Prozent abdeckten. Aktien- und Privatstraßen spielten im Regierungsbezirk Münster mit nur zwei Prozent eine Nebenrolle.14 Die allgemeine Entwicklung hatte damit auch den Bezirk erreicht. Der Staatsstraßenbau stagnierte, an seine Stelle trat der mit staatlichen Prämien geförderte Bau von Bezirks-, Kreis- und Gemeindechausseen. Der Bau der Chaussee von Lüdinghausen nach Lünen ist beispielhaft für diese Phase. Auf dem „platten Land“ drängte vor allem das Gewerbe auf verbesserte Verkehrswege. Der Holzhändler Franz Ostermann aus Nordkirchen wandte sich z. B. im November 1856 mit folgendem Anliegen an den Borker Amtmann Föcker: „Bei meinen nicht unbedeutenden Transport mit Holz, theils zur Anfuhr zum Kohlen-Bergwerk von Dortmund theils zur Anfuhr nach der Lippe nach Dahl, bin ich leider gehindert solches Holz welches eilig befördert werden muß, der so schlechten Wegesstrecken [wegen] namentlich von Selm nach Bork unmittelbar hinter dem Gute Botzlar an Ort und Stelle transportiren zu können. Und ergeht hiermit schließlich mein gehorsamstes Gesuch um keinen ferneren Nachtheil zu erleiden, diesem Uebelstand des baldigsten geneigtest Abhülfe leisten zu wollen, wenn ich nicht Veranlassung nehmen müßte mich entgegengesetzten Falls dieserhalb beschwerend höheren Orts zu verwenden. – Bereits habe ich in diesen Frühjahr den Herrn Ortsvorsteher Weischer [Selm] von diesem Uebelstand in Kenntniß gesetzt.“15 Ostermanns Gesuch umreißt eine Lage, in der sich auch andere befanden. Die Geschäfte verließen vermehrt den lokalen Rahmen, der Handel suchte Wege zum Kohlenrevier. Die betroffenen Gemeinden waren nicht unwillig, ihren Beitrag zu leisten; sie fühlten sich aber mitunter überfordert.16 Zu der Zeit, als sich der Holzhändler an das Amt Bork wandte, war man im Landratsamt in Lüdinghausen allerdings schon mit Plänen für eine Chaussee nach Süden befasst.

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Ebd.; Wischermann zitiert einen Text aus einem Tätigkeitsbericht von der Heydts nach Gador, Entwicklung, S. 75 f. Statistische Nachrichten, S. 48 ff.; Angaben vom Verfasser zusammengestellt, umgerechnet und geringfügig ergänzt (1 Meile = 2000 Ruten, 1 Rute = 3,766 m). StdA Selm, AB-1 98, Schreiben vom 3.11.1856. Vgl. StdA Selm, AB-1 105, Verzeichnis der Hauptverbindungsstraßen im Amtsbezirk Bork 1857: „Die Seelenzahl der Gemeinde Bork beträgt 2459, die für den Wegebau in den letzten 6 Jahren aufgewendeten Kosten betragen in Sa. 12,860 Thlr. macht auf den Kopf der Bevölkerung 5 Thaler, 6 Silbergroschen, 10 7/8 Pfennige“.

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3. Die Chaussee von Lüdinghausen nach Lünen Pläne und Beschlüsse Im Juli 1852 erhielt die Regierung in Münster einen Bericht des Landrats Max von Korff-Schmising aus Lüdinghausen zum Chausseebau „von Selm über Bork nach Lünen“.17 Die ausführliche Begründung der Anbindung der südlichen Gemeinden des Kreises Lüdinghausen in Richtung Lünen und Dortmund enthält eine Situationsbeschreibung und Argumente, die im Schriftverkehr des folgenden Jahrzehnts im Kern beibehalten und wiederholt werden:18 „Indem ich die Königliche Regierung gehorsamst bitte, die Bewilligung dieses Antrags hochgeneigtest erwirken zu wollen, erlaube ich mir zur Unterstützung desselben aufmerksam zu machen, daß diese Chausseé für viele Gemeinden hiesigen Kreises von ganz besonderer Wichtigkeit ist, weil für sie der nächste Weg nach Lünen und Dortmund über Selm und Bork führt. Die Städte Lünen und Dortmund gewinnen für die hiesige Gegend stets mehr an Bedeutung. – Der Kornmarkt in Lünen ist schon seit einigen Jahren sehr in Aufnahme und es ist vorauszusehen, daß bei stets zunehmender Ausdehnung des Verkehrs und bei immer mehr anwachsender Bevölkerung der Stadt Dortmund die Nachfrage auf dem Kornmarkt in Lünen auch stets größer werden wird. Soll die hiesige Gegend, die fast ausschließlich vom Ackerbau und der Viehzucht lebt, und im Uebrigen nur Holz auszuführen hat, an diesem Marktverkehr mit Nutzen Theil nehmen, so ist eine erleichterte Verbindung mit Lünen nothwendig. Die Wichtigkeit einer Verbindung mit der Stadt Dortmund für den Verkehr leuchtet von selbst ein. Es kömmt aber hinzu, daß aus den Bergwerken bei Dortmund der Steinkohlenbrand für die hiesige Gegend herangeholt wird und daß umgekehrt die Stadt Dortmund und Umgegend auch die dortigen Bergwerke vieles Bauholz gebrauchen, welches bei guten Wegen am vortheilhaftesten von hier geliefert werden kann. Auch die bedeutende Eisenhütte Westphalia bei Lünen fordert viele Holzkohlen und die Salinen bei Unna, mit denen die hiesige Gegend nach Fortsetzung der Chausseé von Lünen nach Camen in Verbindung kömmt, hat alljährlich großen Bedarf an Hölzern aller Art und anderem. Wenn nun vorerst eine ChausseéVerbindung zwischen Selm und Lünen resp. Dortmund hergestellt ist, dann wird es mehreren Gemeinden hiesigen Kreises, die seither von den Vortheilen des Verkehrs mit Dortmund und Lünen fast ausgeschlossen waren, möglich, sich an diesem zu betheiligen. Zudem eröffnet sich die Aussicht, daß, wenn erst von Lünen bis Selm eine Chausseé führt, diese auch über Selm hinaus weiter in den Kreis hinein fortgesetzt wird.“19 Mit der Strecke von Lünen nach Bork war der Anfang gemacht. Die Anbindung Selms wurde 1852 als eine wünschenswerte Station auf dem Weg in den Kreis Lüdinghausen 17 18 19

LAV NRW W, Regierung Münster, Abt. II-13–92, Schreiben vom 8.7.1852. Vgl. LAV NRW W, Oberbergamt Dortmund, Nr. 615, Bl. 115 f., Schreiben vom 19.11.1857. LAV NRW W, Regierung Münster, Abt. II-13–92, Schreiben vom 8.7.1852.

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gesehen, wo schon Teile des künftigen Netzes bestanden oder geplant waren. Man blickte auf die Verbindungen innerhalb des Kreisgebietes und zu den Nachbargemeinden, dachte vor allem in Richtung Süden zum Märkischen hin und suchte den Anschluss an Zonen industriellen Wachstums und an die Eisenbahn. Die Aussicht auf Teilhabe am ökonomischen Fortschritt war ein starkes Motiv. Der Kreis wollte grundsätzlich dabei sein, aber auf den Gemeinden lasteten schon die für den Chausseebau aufgenommene Schulden. Das Projekt einer von Lüdinghausen über Bork nach Lünen und damit nach Dortmund führenden Chaussee wurde deshalb erst im Jahr 1857 mit Entschlossenheit angegangen. Im Kreis Lüdinghausen lag das Vorhaben für ein gutes Jahr in den Händen des Freiherrn Franz Jacob von Hilgers. Hilgers hatte dort vom 27. Oktober 1856 bis zum 15. März 1858 als Landrat z.D. die Position des Landratsamtsverwalters inne (dem gewählten Amtsinhaber Schmising war im März 1856 ärztlich attestiert worden, dass er „nicht zur ferneren Ausübung seines Amtes befähigt“ sei).20 Hilgers wandte sich bereits im November 1856 an die Königliche Regierung zu Münster und machte auf die unzureichende Anbindung des Kreises aufmerksam: „Der Kreis Lüdinghausen hat, wenn die Castrop-Münsterer Straße ausgebaut seyn wird, drei von Süden nach Norden laufende Straßen. Es fehlen aber gänzlich die von Westen nach Osten laufenden Verbindungen, und es fehlt dem größten Theil des Kreises eine Verbindung mit Lünen resp. mit Dortmund.“21 Für den Straßenverlauf wurden mehrere Alternativen diskutiert. Einfach und auch nicht kostspielig schien es, eine Verbindung nach Olfen zu schaffen, aber Hilgers sah bei den Beteiligten wenig Bereitschaft und favorisierte aus der Sicht des Kreises eine große Lösung: „Ich bin damit nicht der Meinung, den Ausbau der Straße von Olfen nach Bork ganz fallen zu lassen, vielmehr nehme ich an, daß dieser Bau sich später von selbst ergeben wird, wenn den Zeitungs-Nachrichten nach, Olfen von der projektierten Bahn berührt und dort ein Stations-Punkt hergestellt wird. Das Projekt, was ich vorerst im Auge habe, ist der Bau einer Straße von Lüdinghausen über Nordkirchen nach Lünen, woran später der Bau einer Straße von Nordkirchen nach Horn auf der Straße von Herbern nach Lünen angeschloßen werden kann. Damit wäre dem größeren Theil des Kreises der Weg nach Dortmund geöffnet.“22

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LAV NRW W, Regierung Münster Nr. 4895, Attest des Oberstabsarztes Dr. Werlitz vom 25.3.1856. LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Landratsamt Nr. 879, Schreiben vom 29.11.1856. Ebd.

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Dortmund

Abb. 2: Diskutierte Trassenführungen (Umzeichnung des Verfassers)

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Über die Strecke von Lüdinghausen nach Nordkirchen gab es keine Differenzen, „wohl aber in betreff der Richtung von Nordkirchen nach Lünen“. Zur Wahl stand, den Weg nach Bork über Südkirchen und Cappenberg oder über Selm zu nehmen. Für Hilgers bot sich die Trasse über Südkirchen und Cappenberg an, aber er sah Probleme, die Gemeinde Bork und den Grafen von Kielmannsegge für diese Variante zu gewinnen. Kielmannsegge unterhielt in Cappenberg bereits eine ausgebaute Privatstraße und würde es wohl „nicht gern sehen, daß ihm eine Masse schweren Fuhrwerks über seine Straße geht und auch nicht, dass ihm eine ... Straße über seinen Grund und Boden gelegt wird“.23 Auch die Regierung in Münster bevorzugte den Weg von Lüdinghausen über Nordkirchen, Südkirchen und Cappenberg nach Bork.24 Selm wäre damit außen vor geblieben. – 1852 hatte man sich den Ausbau noch von Lünen über Bork und Selm nach Norden in den Kreis fortschreitend gedacht. Fünf Jahre später suchte man von Lüdinghausen aus fächerförmig Verkehrslinien nach Süden (Abb. 2). Münster gab dem Landrat auf, in spätestens sechs Monaten rechtsverbindliche Verpflichtungen der Gemeinden zu erwirken und den ganzen Vorgang den Vorschriften und Bestimmungen entsprechend in eine genehmigungsfähige Form zu bringen. Der projektierten Verbindung wurde in Münster ein eher örtliches als allgemeines Interesse attestiert, weshalb „auf eine hohe Staatsprämie nicht zu rechnen sein“ würde.25 In Aussicht gestellt wurden 3.000 Taler pro Meile, das Recht zur Erhebung eines Chausseegeldes und „fiskalische Vorrechte“, z. B. das Recht „zur zwangsweisen Erwerbung des erforderlichen Grund und Bodens“.26 Im Frühjahr 1857 geriet die vom Landratsamt und von der Regierung in Münster favorisierte Trasse über Nordkirchen erneut in die Diskussion. Hilgers wollte die Streckenführung über Selm erst betreiben, wenn eine endgültige Erklärung der Gemeinde Nordkirchen vorläge. Die Entscheidungen fielen gegen die bevorzugte Streckenführung. Südkirchen wollte zwar die Chaussee im eigenen Gemeindebezirk bauen, aber nicht für den Anschluss auf Borker Gebiet aufkommen. Die Gemeinde scheute die Kosten, und Amtmann Grunenberg machte aus seiner Meinung und Verärgerung kein Hehl: „An dem Starrsinn der Gemeindeverordneten von Südkirchen ist jedoch dieses schöne Bauproject gescheitert.“27 Die Straße, so Grunenberg weiter, sei für Nord- und Südkirchen eine Lebensfrage und Opfer wert. Später könnten sich die Gemeinden nur durch Nebenstrecken anschließen, „deren Unterhaltung ihnen aber dann ganz allein obliegt“. Diese Straßen erhielten dann nicht das Privileg zur Erhebung von Chausseegeld, und es „würde auch nicht ein solcher lebhafter Verkehr als wie durch die projectirte Linie entstehen“. – Beschlossen wurde also der Weg über Selm nach Süden. Der Gemeinde Nordkirchen stellte man einen einseitigen Anschluss an die Chaussee in Aussicht. 23 24 25 26 27

Ebd. LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Landratsamt Nr. 879, Schreiben vom 1.2.1857. Ebd. Ebd. LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Landratsamt Nr. 879 (Text folgt dem Schreiben vom 8.5.1857), weitere Zitate ebd.

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Bauen im Zweckverband Die Chaussee von Lüdinghausen über Selm nach Lünen ist typisch für eine der „Nichtstaatsstraßen“. Der Staat trat nicht mehr als Bauträger auf, sondern beschränkte sich auf die Förderung der Projekte durch Prämien und Privilegien. Um in den Genuss der begehrten Vorteile zu gelangen, mussten sich die beteiligten Gemeinden zum Bau und zur Unterhaltung der Straße verpflichten. Dieser „Prämienstraßenbau“ hatte in den 1850er Jahren so stark zugenommen, dass für die sieben Jahre von 1853 bis 1859 mit ca. 6,5 Millionen Talern mehr an Prämien ausgeschüttet wurden als in den 38 Jahren zuvor. Von 1815 bis 1852 hatte die Summe der Prämien nur 5,7 Millionen Taler betragen.28 Damit war der beabsichtigte Kurswechsel in der Straßenbaupolitik in Preußen vollzogen. Gleichzeitig nahm man Abschied von der Vorstellung, Chausseen von Aktiengesellschaften bauen zu lassen, obwohl der erste Oberpräsident der Provinz Westfalen, Ludwig Freiherr Vincke, 1816 angesichts leerer Kassen fand, es sei an der Zeit, „daß Privat-Unternehmen den Staat der Sorge überheben und das Publikum selbstthätig ins Mittel tritt für sein anerkannt wichtiges Bedürfnis“.29 Fast vierzig Jahre später gab Minister von der Heydt in einem Verwaltungsbericht die veränderte Richtung vor: „Nachdem die Erfahrung gelehrt hat, dass Chausseebauten, zumal in größerer Ausdehnung, nicht geeignete Unternehmungen für Aktiengesellschaften sind, weil sie nur in den seltensten Fällen dauernd einen unmittelbaren Gewinn – durch reine Einnahmeüberschüsse – gewähren, die Mitglieder solcher Gesellschaften aber zu Zuschüssen für die Unterhaltung nicht verpflichtet sind, diese mithin jeder Garantie entbehrt, habe ich es mir vorzugsweise angelegen sein lassen, Kreis-Korporationen und Gemeinden zu Chausseebauten anzuregen, und durch angemessene Neubauprämien zu unterstützen.“30 Mitte des Jahres 1857 fassten die Stadt und die Landgemeinde Lüdinghausen sowie die Gemeinden Selm und Bork jeweils zwei ähnlich lautende Beschlüsse. In Anwesenheit des Landrats erklärten sich die Gemeindevertreter bereit, zur Bauausführung mit den anderen Gemeinden in einen Verband einzutreten und sich später an einer Kommission unter der Leitung des Landrats zu beteiligen. Ein weiterer Beschluss betraf die übernommene Verpflichtung, die in das Gemeindegebiet fallende Strecke zu bauen und zu unterhalten.31 Mit dem ersten Beschluss wurde das gesamte Projekt bereits sehr konkret beschrieben. Nach erfolgter Genehmigung sollte der Ausbau zwei Jahre in Anspruch nehmen. Den finanziellen Beitrag der Gemeinde gedachte man durch eine Anleihe und aus Steuermitteln aufzubringen. Gemeinsam wollte man eine Baukasse gründen und einen Bauführer einstellen. Die Kontrolle würde der erwähnten Kommission, in die jede Gemeinde zwei Mitglieder entsenden sollte, übertragen werden. Man 28 29

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Gador, Entwicklung, S. 138. Hans-Joachim Behr/Jürgen Kloosterhuis (Hg.), Ludwig Freiherr Vincke, Ein westfälisches Profil zwischen Reform und Restauration in Preußen, Münster 1994, S. 610 ff. (Quelle 16); Abdruck eines Artikels Vinckes aus: Hermann. Zeitschrift von und für Westfalen, Jg. 1816. Gador, Entwicklung, S. 19; Gador zitiert den Verwaltungsbericht 1852/54. LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Landratsamt Nr. 879, Protokoll der Sitzung des Selmer Gemeinderats vom 5.6.1857; vgl. auch StdA Lüdinghausen, 9–84, Protokoll der Sitzung der Stadtverordneten und des Magistrats der Stadt Lüdinghausen vom 1.8.1857.

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beschloss, sonstige Kosten und Erträge grundsätzlich entsprechend den Streckenanteilen der Gemeinden zu verteilen.32 Der zweite Beschluss spiegelte ein für den Prämienstraßenbau typisches Verhältnis von Verpflichtungen und an sie geknüpfte Bedingungen. Die Gemeinden fassten ihre Beschlüsse nur unter dem Vorbehalt, dass der Staat die Staatsprämie und weitere Privilegien gewährte. Das war im Kern die von der Politik geforderte „Kraftanstrengung der Eingesessenen“,33 die allerdings mit „Prämien aus der Staatskasse“ befördert wurde.34 Ein Blick auf die zu schulternden Gesamtkosten wird aber deutlich machen, dass es nicht der verhältnismäßig kleine Prämienbeitrag war, der die Gemeinden zum Chausseebau motivierte. Die weiteren bei dieser Gelegenheit gefassten Beschlüsse betrafen vor allem die Verhältnisse und besonderen Bedürfnisse der Gemeinden. Die künftige Straßenlinie sollte in Selm ausdrücklich durch das Dorf geführt werden und dabei der Straßendamm des bestehenden Weges von Bork nach Lüdinghausen genutzt werden. Die Landgemeinde Lüdinghausen wünschte im Sinne einer gerechteren Lastenverteilung, dass die Stadt Lüdinghausen den Bau eines Teils der im Gebiet der Landgemeinde liegenden Strecke übernehme. Dazu war die Stadt Lüdinghausen zwar nicht bereit, aber sie beschloss, der „Gemeinde Selm als Beihülfe für die dort zu bauende große Strecke auf deren Antrag Tausend Thaler aus städtischen Mitteln zu zahlen“.35 Auch Bork war bereit, die Gemeinde Selm zu unterstützen. Tausend Taler, von Selm einst für den Straßenbau an Bork gegeben, sollten zurückgezahlt werden.36 Das innerhalb nur eines Monats erwirkte Bündel von Beschlüssen und der erreichte Planungsstand wurden auch von der Regierung in Münster gewürdigt, die Landrat Hilgers zum Jahresende 1857 versicherte, dass Prämien und Privilegien für das Chausseebauvorhaben in Aussicht gestellt werden.37 Die Chausseebaukommission Die konstituierende Sitzung der Chausseebaukommission fand am 16. Januar 1858 im Geschäftslokal des Landrats statt. Folgende Vertreter waren von den Gemeinden in das Gremium gewählt worden: Stadt Lüdinghausen: Stadtverordnetenvorsteher B. Tems, Posthalter J. Cremer Amtmann Hülskötter, Gemeindeverordneter Merten Landgemeinde Lüdinghausen: Gemeinde Bork: Kaufmann Hermann Schürmann, Verwalter Heindorf Gemeinde Selm: Direktor Brüning zu Botzlar, Gemeindeverordneter Hagen gen. Göcke.38 32 33

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LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Landratsamt Nr. 879, Protokoll vom 5.6.1857, Bl. 1–3. Wischermann, Chausseebau in Westfalen, S. 81; Wischermann zitiert einen Text aus einem Tätigkeitsbericht von der Heydts nach Gador, Entwicklung, S. 75 f. Ebd. StdA Lüdinghausen, 9–84, Beschlüsse vom 30.6.1857 und 4.7.1857. LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Landratsamt Nr. 879, Protokoll vom 2.7.1857. Ebd., Schreiben vom 30.12.1857. Ebd., Einladung vom 11.1.1858 und Wahlprotokolle.

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Weil es die erklärte Politik des Staates war, den Chausseebau in die Hände der Eingesessenen zu legen, lohnt es, die Funktion des Landrates, der den Vorsitz in der Kommission innehatte, genauer zu beleuchten. Als Behörde war er vorrangig dazu ausersehen, „die Interessen der Regierung zu vertreten“,39 aber es gab eine „lange Tradition der Mittlerschaft zwischen Staats- und Regionalverwaltung“,40 die nach 1848 nicht einfach aufzuheben war. Schon 1816 beschrieb eine Instruktion des preußischen Innenministers auch die moderierende Rolle der Landräte. Die Forderung des Paragraphen 51 war für den Amtsträger in Lüdinghausen auch ein halbes Jahrhundert später noch aktuell: „Mit gleicher Sorgfalt muß der Landrat auch für das Emporkommen der Städte wirksam zu werden streben und sich das Beste der Städte und des platten Landes jederzeit und überall als zusammenhängend und unzertrennlich denken.“41 Hilgers spielte diesen Part. Der gebürtige Rheinländer lebte vor und nach seiner Abordnung ins Münsterland in Köpenick bei Berlin. Er hatte die Chance, mit fremdem Blick die ihm gestellten Aufgaben anzusehen, und nahm sich – wie die Regierung Münster später fand42 – „mit Eifer, Umsicht und Energie“ der Angelegenheiten an. Vor allem erkannte man an, dass „es ihm gelungen war, Einfluß auf die Gemeinde-Vertretungen zu gewinnen“. Gewürdigt wurde auch sein Engagement für den Chausseebau: Für „größere neue Straßenanlagen sowie die Wiederaufnahme älterer Projecte hat er die Theilnahme der Gemeinde kräftig angeregt“. In der Kommission trafen sich Personen, die sich schon von Amts wegen engagieren sollten und solche, denen man wegen ihres Gewerbes und ihrer gesellschaftlichen Position ein gewisses Verständnis für die Aufgabe und die Umsetzung des Vorhabens unterstellen durfte. Der Kaufmann, der Posthalter, der Gutsverwalter – sie alle waren wirtschaftlich so bewandert, dass sie verhandeln und Verträge abschließen konnten, und sie hatten Erfahrung im Umgang mit Beschäftigten. Aus der Landwirtschaft kamen zwei Gemeindeverordnete, was ebenfalls als günstiger Umstand gewertet werden kann, denn am Bau der Straße waren rund zweihundert Leute aus vornehmlich bäuerlichen Erwerbsverhältnissen beteiligt. Die in die Kommission gewählten Gemeindevertreter waren mit den örtlichen Verhältnissen vertraut und mit den Menschen bekannt, die sie für die Arbeiten gewinnen und vertraglich binden sollten. Aber alle Vereinbarungen bedurften der Zustimmung der Kommission, hier konnte der Landrat als Vorsitzender die Fäden in der Hand behalten. In diesem Zusammenhang ist auch der Kreissekretär Hentze zu erwähnen, der dieses Amt von 1847 bis 1866 ausübte43 und sicher einen Beitrag zur Kontinuität der Verwaltung − bei wechselnden Landräten − geleistet hat. Als Hilgers 1858 sein Amt an Ignatz von Landsberg abgeben musste, leitete Hentze einige der anstehenden Sitzungen der Chausseebaukommission. Der 39

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Margun Schmitz, Der Landrat. Mittler zwischen Staatsverwaltung und kommunaler Selbstverwaltung, Baden-Baden 1991, S. 51. Ebd. Ebd., S. 49. GStA PK Berlin, I. HA Rep. 77, Nr. 1233, Bl. 37 f., Regierungsvizepräsident von Holzbrink an den Oberpräsidenten von Düesberg, Abschrift eines Schreibens vom 12.3.1858. LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Landratsamt Nr. 903, Mitteilungen der Regierung vom 3.6.1847 und 29.12.1865.

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Übergang auf den neuen Landrat vollzog sich ohne erkennbare Auswirkungen auf die Arbeit des Gremiums. Man befasste sich in der Kommission umgehend mit den konkreten Fragen zur Durchführung des Projekts. Offenbar waren die Beteiligten fest entschlossen, die Straße zu bauen.44 Einstimmig sprach man sich dafür aus, nicht auf die Bewilligung der Prämie oder das Recht zur Expropriation zu warten, sondern mit den Bauvorbereitungen zu beginnen. Im Bereich der Stadt und der Landgemeinde Lüdinghausen waren größere Grunderwerbungen nicht erforderlich.45 In Selm und Bork sollte die Baukommission mit den betreffenden Grundbesitzern wegen gütlicher Überlassung des erforderlichen Bodens verhandeln. Für die technische Leitung suchte man einen geprüften Baubeamten. Der Vorsitzende wurde beauftragt, eine qualifizierte Person zu finden. Beim Ankauf des Baumaterials wollte man gemeinschaftlich handeln. Als Bauführer wählte man einen Praktiker. Bauleiter Gertmann gab an, dass er zwar über eine zweijährige Berufserfahrung verfüge, aber nach den Bestimmungen über die Prüfung der Staatsbaumeister als „Bauführer unter der Oberleitung eines Bau-Inspectors“ tätig sein müsse. Seine weitere berufliche Qualifikation wolle er im Kreis Lüdinghausen erwerben. Er hoffe, dass die Prüfungsbehörde die Anstellung anerkenne und ihm die Revision ermögliche, damit er ein entsprechendes Zeugnis erlangen könne.46 Dieser Umstand war aber offensichtlich nicht von Bedeutung und fand in dem zu schließenden Vertrag keine Berücksichtigung.47 Gertmann wurde verpflichtet, bei der Bauausführung den vom Ministerium in Berlin genehmigten Plänen zu folgen. Die Arbeiten sollten am 1. April 1858 beginnen. Der Vertrag lief bis zum 15. Oktober 1859 und konnte zum Ablauf mit einmonatiger Frist gekündigt werden. Pro Tag sollte Gertmann einen Taler und 20 Silbergroschen als Diäten erhalten. Schreibauslagen und das „Außensein in dem Bau-Rayon [Baugebiet]“ bekam er mit weiteren 10 Silbergroschen vergütet, so dass sich die Bezüge auf monatlich 60 Taler beliefen. Auslagen für Kettenzieher, Tagelöhner usw. hatte der Bauführer nicht zu tragen. Die Baukommission bestätigte den Vertrag48 und verlangte, dass Gertmann an den Sitzungen der Kommission teilnehmen müsse und für die Anfertigung der Pläne und Kostenanschläge zuständig sei. Auf ihrer konstituierenden Sitzung hatte die Baukommission den Bürgermeister der Stadt Lüdinghausen, Josef Wormstall, zum Rendanten der Baukasse bestimmt.49 Formal war das eine korrekte Wahl, aber Hilgers äußerte Bedenken angesichts der zahlreichen Ämter, die Wormstall auszuüben hatte, und die Regierung folgte ihm in dieser Einschätzung.50 Nachfolger Wormstalls wurde der Kämmereirendant Meyer.51 Für die Verwal-

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LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Landratsamt Nr. 879, Protokoll vom 16.1.1858. Nach der genaueren Bestimmung der Trasse wurden in Bereich der Landgemeinde Lüdinghausen mit den betroffenen Anliegern Entschädigungszahlungen für „Absplisse“ vereinbart. LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Landratsamt Nr. 879, Schreiben vom 18.2.1858. Ebd. (Text folgt dem Vertragsentwurf vom 20.2.1858). Ebd., Protokoll vom 3.3.1858. Ebd., Protokoll vom 16.1.1858. LAV NRW W, Regierung Münster, Abt. II-13–92, Bl. 128, Schreiben vom 27.1.1858 bzw. 10.2.1858. LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Landratsamt Nr. 879, Protokoll vom 3.3.1858.

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tung der Fonds bekam er Hebegebühren in Höhe von „1/2 Prozent der reinen Ausgabe“.52 Meyer musste eine Kaution in Höhe von 1.500 Taler stellen.53 Vom Landratsamt erhielt der Rendant eine detaillierte vierseitige Instruktion für die Verwaltung der Kassen und das Führen der Bücher.54 Darin wurden zunächst die Aufgaben des allgemeinen Baufonds von denen der Spezialfonds der Gemeinden abgegrenzt. Der allgemeine Baufonds hatte die Aufwendungen zu bestreiten, die den Gemeinden nicht einzeln zugerechnet werden konnten. Dazu gehörten die Vergütung des Bauaufsehers und seiner Gehilfen, die Anschaffung von Geräten, besonders einer Steinwalze, wie auch die Entschädigung des Rendanten. Der Fonds finanzierte sich aus Beiträgen der Gemeinden, die nach dem längenmäßigen Anteil an der zu bauenden Chaussee bemessen wurden.55 Das Hauptgeschäft sollten die Spezialfonds – die Baukassen der Gemeinden – abwickeln. 4. Das Aufbringen des Kapitals Staatliche Chausseebauprämie Im Dezember 1857 bezifferte Landrat Hilgers gegenüber der Regierung in Münster die zu erwartenden Gesamtkosten auf 70.000 Taler und rechnete vor, dass von „der Staatsregierung ... nur der geringe Satz von 3.000 Thlr pro Meile oder circa 9.000 Thlr für die ganze Straßenstrecke erbeten [wird]“ und vom Oberbergamt ein Zuschuss von 1.000 Talern, „während von den Gemeinden und den Privaten eine Last von etwa 60.000 Thlr. übernommen wird“.56 Zu diesem Zeitpunkt reichten der Verwaltung die Verpflichtungserklärungen der Gemeinden; es wurde nicht gefragt oder dargestellt, wie die Gemeinden die beträchtlichen Summen für den Bau aufbringen wollten. Die Lasten des Unterhalts wurden sogar völlig ausgeblendet. Damit entsprach das hiesige Vorhaben aber ganz der Linie von der Heydts. „Die Vorteile des Prämienstraßenbaus lagen“, so der Wirtschaftshistoriker und Volkswirt Rudi Gador, „nicht nur darin begründet, daß der Staat für den Neubau statt der vollen Bausumme nur eine geringere Unterstützung zu zahlen brauchte, sondern auch darin, daß [der Staatskasse] der Zuschuß zu den von den Chausseegelderträgen nicht gedeckten Unterhaltungskosten ... erspart blieb“.57 Auch die Bezirksregierung formulierte ganz adressatenbezogen in Richtung Berlin, dass nur die verhältnismäßig kleine Last von nicht ganz 9.000 Talern vom Staat zu tragen sei. Nicht ohne Grund bemühten sich die Beamten in Münster, den Umfang der gewünschten Prämie klein zu reden, denn es war bekannt, dass die Töpfe in Berlin zu dieser Zeit leer waren. Bereits im März 1857 hatte Minister von der Heydt die Regierung in Münster ausführlich über die aktu-

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StdA Lüdinghausen, 9–84, Schreiben des Landratsamts vom 19.3.1858. LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Landratsamt Nr. 879, Schreiben vom 6.3.1858. StdA Lüdinghausen, 9–84, Instruktion vom 18.3.1858. Ebd. LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Landratsamt Nr. 879, Schreiben vom 18.12.1857. Gador, Entwicklung, S. 85.

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elle Lage informiert und auf die finanziell angespannte Situation des Chaussee-Neubaufonds hingewiesen.58 Der Vorgang spiegelt ein grundsätzliches Problem einer Haushaltpolitik, die reguläre Ansätze niedrig hielt, um sie dann nach Gunst und Kassenlage durch außerordentliche Zuschüsse aufzubessern. Das war keine gute Basis für die gewünschte verlässliche Förderung. Wichtig blieb dem Minister, die mit dem Prämiensystem erhoffte Hebelwirkung nicht zu gefährden, mit der kleinere Beträge aus der Staatskasse größere Kapitalien mobilisieren sollten. Es ging um die Motivation der Beteiligten, darum, „daß der Wetteifer und das Vertrauen der Bau-Unternehmer rege gehalten werde, daß die Staatshülfen nicht zu karg bemessen werden, und daß mit Sicherheit darauf gerechnet werden kann, die Zahlung werde dem Fortschritte der Bauten entsprechend erfolgen“.59 In Münster hatte man deshalb eine Formel gesucht, mit der die von den Gemeinden gestellten Bedingungen als erfüllt betrachtet werden konnten, ohne dass sich das Ministerium veranlasst sah, einen festen Zahlungstermin zuzusagen.60 Die klammen königlichen Kassen konnten allerdings die vier Gemeinden Ende 1857 nicht davon abhalten, den angefangenen Chausseebau weiter zu betreiben und – wie noch zu berichten ist – weiter in Vorlage zu treten. Der Staat sah seinen Beitrag erst zum Ende der Maßnahme fällig werden und verfügte über genug bürokratische Mittel, den Zeitpunkt zu bestimmen. Alle Vorgaben sollten erfüllt sein und alle Atteste vorliegen, bevor tatsächlich Geld floss. Mitte des Jahres 1859 setzte Minister von der Heydt selbst den Prämienantrag aus und begründete das mit der von der Landgemeinde Lüdinghausen „gestellten, ganz unzulässigen Bedingung, daß der Staat außer der Prämie noch einen Geldbetrag von 1.000 Thalern beschaffe“.61 Erst wenn die Landgemeinde ihre Forderung aufgegeben hätte, könne die Regierung ihren Antrag wieder aufnehmen. Es handelte sich um den unten abgehandelten Zuschuss der Westfälischen Bergbau-Hilfskasse, ein vergleichsweise kleines finanzielles Zugeständnis an eine Landgemeinde, die enorme Straßenbaulasten zu tragen hatte. Berlin nahm an der schon seit eineinhalb Jahren bekannten Abmachung formal Anstoß, worauf Münster den Minister durch die Blume an seine früheren Positionen erinnerte. Die Regierung bat, das Projekt nicht grundsätzlich fallen zu lassen und das Interesse der „willigen Gemeinden“ am Chausseebau zu erhalten.62 58

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StdA Selm, AB-1 105, Schreiben vom 1.3.1857 (Text folgt dem Abdruck für das Amt Bork). Es sei eigentlich eine erfreuliche Entwicklung, so der Minister, die zu der gegenwärtigen Klemme geführt habe, denn insbesondere bei den Kreiskorporationen sei die Zahl der beschlossenen Chausseebauten ansehnlich gewachsen. Was verkehrspolitisch zu begrüßen sei, hätte andererseits den Chaussee-Neubaufonds an seine Grenzen geführt. Dessen Etat beschränke sich auf eine Million Taler, eine Summe, die auf Jahre nicht ausreichen werde. Außerordentliche Zuschüsse aus der Staatskasse erwarte man nicht und die geübte Praxis, die Zahl der nur aus staatlichen Mitteln finanzierten Bauvorhaben klein zu halten, um mehr und öfter private und kommunale Initiativen mit Prämien zu locken, könne das fehlende Geld nicht ersetzen. Den Trägern laufender Vorhaben solle man raten, nicht vollständig finanzierte Projekte zurückzustellen. Bewilligungen erteile man mit dem Vorbehalt, dass die Prämien erst später, wenn der Fonds wieder flüssig sei, gezahlt würden. Gador, Entwicklung, S. 87. LAV NRW W, Regierung Münster, Abt. II-13–92, Bl. 113, Randnotiz vom 30.12.1857. Ebd., Bl. 187, Schreiben vom 17.5.1859. Ebd., Bl. 188.

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Im April 1860, zweieinhalb Jahre nach dem ersten Antrag, bewilligte Berlin einen Abschlag auf die Prämie in Höhe 6.000 Talern.63 Die Zentrale wollte vor allen anderen gefragt werden und nach allen anderen zahlen. Die Auszahlungsanweisung an die Regierungshauptkasse Münster lautete:64 Gemeinde Bork 3.200 Taler Gemeinde Selm 1.200 Taler Landgemeinde Lüdinghausen 1.400 Taler Stadtgemeinde Lüdinghausen 200 Taler Zuschuss der Westfälischen Bergbau-Hilfskasse Im Landratsamt wurde die Belastung der Landgemeinde Lüdinghausen von Anfang an anerkannt. Hilgers bemühte sich schon im November 1857 um einen Zuschuss von 1.000 Talern aus der Westfälischen Bergbau-Hilfskasse, den er beim Oberbergamt in Dortmund beantragte.65 Die Bergbauhilfskasse „sollte der Förderung und Entwicklung des Ruhrbergbaus dienen“,66 und so betonte der Landrat die Bedeutung der Straße für den Bezug von Grubenholz und den Absatz von Steinkohle im Landkreis Lüdinghausen: „Die in der Grafschaft gelegenen Gruben haben deshalb ebenwohl ein großes Interesse, mit hiesiger Gegend in Verbindung zu treten, da damit der Kohlen-Consum hierselbst in großem Maaße steigen, und der Holzbezug nach dorthin ansehnlich erleichtert wird. Noch größeren Werth wird fragliche Straße aber erhalten, wenn es gelingt, eine Fortsetzung über Seppenrade nach Dülmen zu schaffen, was innerhalb des hiesigen Kreises nicht schwer werden wird, da damit ein noch weiteres Feld für Holzabzug und Kohlenbezug gegeben sein würde.“67 Der Zuschuss wurde ausdrücklich für die Landgemeinde Lüdinghausen und nicht für das gesamte Projekt beantragt, „damit nicht das mit so vielen Mühen vorbereitete gemeinnützige Unternehmen an dem verhältnismäßig geringen Kostenbetrag scheitere“.68 Es dauerte gut zwei Jahre, bis das Geld endgültig bereitgestellt war. Der Versuch der Stadt Lüdinghausen, ebenfalls einen Zuschuss aus der Bergbauhilfskasse zu bekommen, scheiterte. Auf die umfangreiche Bittschrift des Magistrats vom 20. September 185969 beschied das Oberbergamt, dass die Unterstützung von 1.000 Talern nur einmal gewährt werden könne und der Landrat vor Ort entscheiden dürfe, welche Gemeinde das Geld erhalten solle.70 63 64 65 66

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LAV NRW W, Regierung Münster, Abt. II-13–93, Bl. 20, Schreiben vom 4.4.1860. LAV NRW W, Regierung Münster, Abt. II-13–92, Bl. 21, Schreiben vom 7.4.1860. LAV NRW W, Oberbergamt Dortmund Nr. 615, Bl. 115 f., Schreiben vom 19.11.1857. Vgl. www.archive.nrw.de, Bergbauliche Verbände, Beständeübersicht, Erläuterungen zu Bestand 120 Westfälische Berggewerkschaftskasse, Bochum (15.7.2011). LAV NRW W, Oberbergamt Dortmund Nr. 615, Bl. 116, Schreiben vom 19.11.1857. Ebd. Ebd., Bl. 154 f., Schreiben vom 20.9.1859. Ebd., Bl. 161, Schreiben vom 12.10.1859.

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Die Gemeinden tragen die Last 1852 stellte der damalige Landrat Schmising den Bau der Castroper Chaussee als Schrecken dar, den es in der Landgemeinde Lüdinghausen zu überwinden galt, bevor man dort zu erneuten Kraftanstrengungen bereit sein würde. Immerhin leisteten die Eingesessenen ihren Beitrag nicht oder nur selten als Aktionäre oder Darlehnsgeber, sondern vielmehr als Steuerzahler in sich fortschreitend verschuldenden Kommunen. Es blieb jeder Gemeinde überlassen, wie sie das nötige Geld zur Finanzierung der eingegangenen Verpflichtungen aufbringen wollte.71 Das kurze von der Stadt Lüdinghausen zu bauende Stück Straße erforderte 2.000 Taler. Die Landgemeinde Lüdinghausen hatte für den Weg bis zur Selmer Gemeindegrenze rund 17.500 Taler aufzubringen. Selm musste etwas mehr als 25.000 Taler finanzieren, und die Gemeinde Bork ging neue Verpflichtungen in Höhe von 6.500 Talern ein. Landrat Landsberg schätzte die finanzielle Lage der Gemeinden so ein, dass das Geld „mit Rücksicht darauf, daß anderweitige Gemeindemittel nicht disponibel sind, durch Anleihen beschafft“ werden müsse und gab den Hinweis, die „Provinzial-Hülfskasse“ sei nicht abgeneigt, Darlehen zu bewilligen „und zwar auf 24 jährige Amortisation“.72 Damit kam ein Geldgeber ins Spiel, der unter anderem durch die Vergabe von Krediten an Kommunen für eine sichere und gewinnbringende Anlage von Sparkassengeldern sorgen sollte. Die 1832 gegründete Provinzial-Hilfskasse war Vorläufer der Landesbank.73 Aus dieser Quelle bedienten sich Selm mit 13.000 Talern und Bork in einer Höhe von 5.500 Talern. Als zweiter öffentlicher Darlehnsgeber trat die Kreissparkasse Lüdinghausen auf, die für die Stadt 2.000 und für die Landgemeinde 16.000 Taler bereitstellte, bei der sich aber auch die Gemeinde Selm mit weiteren 5.000 Talern verschuldete. Den Gemeindekassen wurden für den Chausseebau nur 3.400 Taler entnommen, 6.000 Taler kamen aus privater Hand. Die Regierung legte der fortschreitenden Verschuldung der Gemeinden für den Chausseebau keine Steine in den Weg. Auf Antrag des Landrats stimmte man in Münster der Kreditaufnahme bei der Provinzial-Hilfskasse meist umgehend zu. Wollten die Gemeinden dagegen zu „neuen Bedürfnissen“ bei Sparkassen Darlehen aufnehmen, war die Genehmigung des Oberpräsidenten einzuholen.74 Das Reglement über die Einrichtung des Sparkassenwesens von 1838 bestimmte im Paragraphen 8 außerdem, dass eine Genehmigung nur erteilt werden kann, „wenn die Verzinsung und Tilgung eines solchen Darlehens im Voraus vollständig gesichert ist“.75 Als die Gemeinde Selm im Mai 1859 weitere 4.000 Taler bei der Kreissparkasse aufnehmen wollte, reichte die Regierung Münster den Antrag an den Oberpräsidenten mit der Bemerkung weiter, dass „Tilgung und Amortisirung der Schulden ... geregelt“ seien und die Gemeinde „zur Deckung des 71

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Den Nachvollzug der tatsächlichen Einnahmen und Ausgaben ermöglichen die in den Jahren 1860 und 1861 vom Rendanten Meyer vorgelegten Abrechnungen der Gemeindebaukassen, die für die Stadt Lüdinghausen und die Gemeinden Selm und Bork erhalten sind. Die Abrechnung für die Landgemeinde Lüdinghausen konnte aus der Akte „Belege zur Chaussee-Baukassen-Rechnung der Landgemeinde Lüdinghausen“ rekonstruiert werden; vgl. Tabelle 1. LAV NRW W, Regierung Münster, Abt. II-13–92, Bl. 142, Schreiben vom 14.5.1858. Vgl. www.finanz-lexikon.de/provinzialhilfskasse und www.aktiensammler.de/br/archiv. Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten. 1839, Nr. 1956, S. 7. Ebd.

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Gesamt-Communal-Deficits für das laufende Jahr mit der Grundsteuer 97,47 % und mit der Klassensteuer 102 2/9 % aufbringen müsse“.76 Zum Vergleich: Die Steuerzahler der Gemeinde Lüdinghausen wurden mit Hebesätzen von rund 40 bzw. 42 Prozent deutlich weniger gefordert. Die Genehmigung wurde den Selmern verweigert, aber nicht, weil man die Belastungsgrenze der Gemeinde erreicht sah, sondern mit Rücksicht auf die Kreissparkasse. Der Oberpräsident lehnte ab, weil „die zur Amortisation dieser Anleihe ... jährlich zu verwendende Summe zu gering bemessen ist, als daß dadurch eine den Interessen des darleihenden Instituts [Kreissparkasse] entsprechende, auf eine nicht zu sehr ausgedehnte Zeitdauer berechnete Tilgung ermöglicht würde“.77 Angemessene Tilgungsraten und eine geordnete Rückführung der Verschuldung forderte der Oberpräsident auch von der Landgemeinde Lüdinghausen. Er rechnete vor, dass die für den Chausseebau von Lüdinghausen nach Selm gemachten Schulden nach Anrechnung des Zuschusses aus der Bergbauhilfskasse noch 15.000 Taler betragen würden; diese müssten „auf den nächsten Gemeinde-Etat übernommen werden, wovon die Zinsen à 4 % mit jährlichen 600 Reichsthalern und außerdem zur Verminderung der Schuld noch jährlich 600 Reichsthaler aufzubringen sind“.78 5. Verwendung des Kapitals Erwerb der Grundstücke Vergleicht man den späteren Verlauf der Straße mit den vorher vorhandenen Wegen, dann fällt auf, dass im Bezirk der Gemeinde Selm beträchtliche Teile der Strecke nicht den bis dahin benutzten Verbindungen folgten, sondern neu trassiert wurden. Das Dorf wurde wie gewünscht von der Chaussee durchzogen. Nach Süden – auf Bork zu – suchte man einen direkten Weg, westlich am Hof Weischer vorbei und im Bogen um Haus Botzlar herum (Abb. 3 und 4). Das preußische Allgemeine Landrecht verlangte von den Grundbesitzern, dass sie dem Staat den für den Chausseebau erforderlichen Grund und Boden gegen eine Entschädigung überlassen. Dabei war es durchaus üblich, die Besitzer mit den Flächen alter, nicht mehr betriebener Wege zu entschädigen.79 Auf diese Art wurde aber nur der Beitrag des Grafen Landsberg ausgeglichen, die anderen Grundbesitzer erhielten einen Geldbetrag. Enteignungen waren möglich, sie sollten aber erst dann in Erwägung gezogen werden, wenn eine gütliche Einigung nicht möglich war.80

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LAV NRW W, Regierung Münster, Abt. II-13–92, Bl. 181, Schreiben vom 10.6.1859. Ebd., Bl. 183, Schreiben vom 20.6.1859. Ebd., Bl. 202, Schreiben vom 8.9.1859. Patrick Fengler, Motive für den preußischen Chausseebau in den Jahren 1815 bis 1835, München/Ravensburg 2003, S. 5 f. Ebd., S. 6.

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Abb. 3: Haus Botzlar in der Preußischen Kartenaufnahme 1:25.000, Uraufnahme 1836-1850 (Geobasisdaten der Kommunen und des Landes NRW © Geobasis NRW)

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Abb. 4: Haus Botzlar in der Preußischen Kartenaufnahme 1:25.000, Neuaufnahme 1891-1912 (Geobasisdaten der Kommunen und des Landes NRW © Geobasis NRW)

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Die Verhandlungen mit Grundbesitzern lagen in Händen der Baukommission, an deren zweite Sitzung sich eine Begehung der Baulinie anschloss.81 Man versuchte, „den etwa erforderlichen Grund und Boden im Wege des Übereinkommens zu acquiriren“. Am Ende des Tages hatte die Baukommission alle für den Bau notwendigen Grundstücke erworben. In einem Fall konnte zunächst keine Einigung über die abzugebenden Grundstücke erzielt werden, also „wurde in betreff der letzteren die Expropiration beschloßen“. Das Recht dazu war zwar noch nicht von höchster Stelle verliehen worden, aber die gezeigte Bereitschaft zur Enteignung reichte aus. Das Protokoll vermerkt, dass der Entschädigungssatz von eineinhalb bzw. zwei Talern pro Rute schließlich akzeptiert wurde. Auch dort, wo die zu bauende Chaussee bereits vorhandene Wege nutzte, war es nötig, von den Anliegern Grund und Boden für die „Erbreiterung“ des Verkehrsweges bzw. die „Begradigung des Erdplanums“ zu erwerben. Die Verhandlungen wurden in den Gemeinden von den örtlichen Vertretern der Baukommission geführt; die vertraglichen Vereinbarungen mussten dann von der Chausseebaukommission insgesamt genehmigt werden. Dabei folgte man offensichtlich dem schon bekannten Grundsatz, sich mit den Eigentümern über die Abtretungen im Guten zu einigen. Nur ein Vertrag wurde von der Kommission zurückgewiesen, weil der Grundbesitzer das Doppelte der üblichen Vergütung forderte.82 Für die Quadratrute Wiese oder Ackerland wurden 1 bis 11/2 Taler gezahlt und für den Verlust einer Hecke oder Einfriedung je nach Beschaffenheit 5 bis 10 Silbergroschen pro lfd. Rute.83 Die vielfältigen Nebenabreden verdeutlichen einerseits eine flexible Haltung der Kommission, andererseits ein beachtliches Selbstbewusstsein, mit dem die Eigentümer ihre Interessen vertraten. Für eine grundsätzlich positive Haltung zugunsten des Chausseebaus sprechen die Fälle, in denen Grundbesitzer das für die Chaussee notwendige Land ohne Entschädigung abgaben. Erdarbeiten Es war beschlossene Sache, von Lüdinghausen über Selm nach Bork zu bauen. Damit war die grobe Richtung vorgegeben. Bei der Festlegung der konkreten Trasse hatte die verantwortliche Baukommission auch allgemeine Vorgaben zu erfüllen. Die „Anweisung zum Bau und zur Unterhaltung der Kunststraßen“ von 1834 koppelte die Wahl der Straßenlinie an den Grundgedanken der Chaussierung: „Es kommt darauf an, diejenige Linie auszumitteln, in welcher die Kunststraße am leichtesten entwässert und trocken erhalten werden kann, und die Lasten mit dem geringsten Kraft- und Zeit-Aufwande

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LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Landratsamt Nr. 879 (Text folgt dem Protokoll vom 23.1.1858), Zitate ebd. Ebd., Protokoll vom 19.10.1858. Der Kötter Heinrich Möller hatte für Grund und Boden 2 Taler pro Quadratrute und für die Hecke 10 Silbergroschen pro lfd. Rute verlangt. Ebd. (mehrere Verträge aus den Jahren 1858 und 1859).

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fortzuschaffen sind.“84 Eine Kunststraße sollte demnach85 „den Sonnenstrahlen und dem Luftzuge möglichst ausgesetzt sein“, und überall, wo keine Hindernisse im Weg liegen, sei „die gerade Linie zwischen zwei Ortschaften, welche berühret werden sollen, als Richtung der Straße zu wählen“. Biegungen müsste reichlich Raum gegeben werden, sie seien mit einem möglichst großen Radius anzulegen. Steigungen und Gefällstrecken ergäben sich zunächst aus den Gegebenheiten des Terrains, denen die Straßenkrone aber nicht ohne weiteres folgen könne. Auf- und Abtragungen sollten Höhenunterschiede wenn möglich ausgleichen. Im April 1858 beschloss die Baukommission, den „Verding der erforderlichen Erdarbeiten möglichst bald abzuhalten resp. selbige in kleinen Sectionen zu vergeben [und] den Bauführer Gertmann mit baldiger Anfertigung der Bedingungen zum Verding der Erdarbeiten zu beauftragen“.86 Zwei Monate später besichtigte die Kommission die Strecke zwischen Selm und Lüdinghausen und legte die Baulinie fest. Über die Ergebnisse der Begehung des Teilstücks „von Lüdinghausen nach Selm bis Osterhues“ liegt ein detailliertes Protokoll vor.87 Die Festlegungen betrafen Auf- und Abtragungen, die Verbesserung einiger Wegbiegungen sowie Brücken und Durchlässe. Es wurde genau bestimmt, wo das Planum der künftigen Straße höher anzulegen sei und wo das notwendige Material durch eine Abtragung zu gewinnen wäre. Von Norden kommend, erkannte man unregelmäßige Biegungen des Weges sowohl vor der Brücke über den Beverbach als auch vor dem Dorf Selm, wo es galt, eine Kurve zu entschärfen. Ab August 1858 schritt man dreimal zum Verding, bevor am 27. September für die letzte Abteilung der Zuschlag erteilt wurde. Die Termine hatte man öffentlich bekannt gemacht. Verhandelt wurde auf der künftigen Chaussee, wo die interessierten Unternehmer Gelegenheit hatten, sich mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut zu machen. Auf der Grundlage des vom Bauführer aufgestellten Kostenanschlags sollte der „Mindestfordernde“ ermittelt werden. Zuvor wurde den „Unternehmungslustigen“ eine ansehnliche Liste von in 22 Paragraphen gefassten Bedingungen vorgelesen. Es gibt Abschriften dieser Verhandlungen, die der Chausseebaukommission zur Genehmigung eingereicht wurden und die dann in der betreffenden Akte des Landratsamts verblieben. Als Bieter waren nur „als gehörig angesessen“ bekannte Personen zugelassen, die bei den von der Gemeinde Lüdinghausen geschlossenen Verträgen auch noch einen selbstschuldnerisch haftenden Bürgen zu stellen hatten.88 Übernahmen mehrere Unternehmer den Auftrag, dann galt: „Jeder für das Ganze. Einer für Alle, Alle für einen.“ Nach dreimaliger Anfrage erhielt der „Wenigstfordernde“ den Zuschlag, wobei sich die Gemeinde vorbehielt, „unter den drei Letztbietenden den Unternehmer zu wählen“. Die Bieter blieben an ihr Gebot gebunden, bis die Baukommission den Vertrag genehmigte.

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Anweisung zum Bau und zur Unterhaltung der Kunststraßen, Berlin 1834, S. 1 (www.europeana.eu, Digitale Sammlung der Zentral- und Landesbibliothek Berlin). Ebd. (Text folgt den Ausführungen S. 2 ff.). StdA Lüdinghausen, 9–84, Abschrift des Protokolls vom 14.4.1858. LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Landratsamt Nr. 879, Protokoll vom 11.6.1858. Ebd., Abschriften der Verhandlungen vom 14.8., 14.9. und 27.9.1858. Der folgende Text bezieht sich auf die Verhandlung vom 14.9., alle Zitate ebd.

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Mit einer Reihe von Bedingungen wollte man verhindern, dass absehbare oder zu befürchtende Ereignisse die reibungslose Durchführung der Arbeit oder die Vertragsabwicklung störten. Die Unternehmer wurden streng verpflichtet, Anweisungen der Bauleitung zu befolgen. Besonderen Wert legte die Baukommission auf das Ausschließen von Umständen, die zu Nachforderungen Anlass geben könnten. Sollten sich die Maß- und Mengenangaben des Kostenanschlags nicht mit der vorzufindenden Situation decken, war der Unternehmer trotzdem verpflichtet, die Arbeiten zum vereinbarten Preis auszuführen. Nur die Änderung des Kostenanschlags durch die Baukommission konnte dazu führen, dass so begründete Mehr- oder Minderleistungen im Verhältnis verrechnet wurden. Der Kostenanschlag war Leistungsverzeichnis und Instrument einer strikten Budgetkontrolle. Bei Nichterfüllung der qualitativen oder terminlichen Vorgaben haftete grundsätzlich der Auftragnehmer. Die Behörde behielt sich vor, bemängelte oder ausstehende Arbeiten ohne Rücksicht auf Mehrkosten zu Lasten des Unternehmers anderweitig zu vergeben. Schließlich war auch in den Zahlungsbedingungen eine vorsichtige Bestimmung zu finden, nach der auf vollendete Arbeiten Abschläge nur bis zu einer Höhe von vier Fünfteln der vereinbarten Summe gezahlt wurden. Das restliche Fünftel wollte man zahlen, wenn die Steinbahn fertig war und man sicher sein konnte, dass keine Nachbesserungen des Erdplanums nötig wurden. Über all diese Punkte konnten Unternehmer und Baukommission in Streit geraten. Für diese Fälle versprachen die Vertragsparteien, sich unbedingt dem Urteil der Königlichen Regierung zu unterwerfen und auf den Rechtsweg zu verzichten. Die Gerichte sollten nicht bemüht werden, aber es stand den Streitenden frei, sich über Entscheidungen der Regierung Münster beim Finanzministerium in Berlin zu beschweren. Andere Regelungen betrafen das Bauvorhaben im engeren Sinne und legten fest, wie mit dem Material umzugehen sei, wer welche Gerätschaften zu stellen habe, welche speziellen Leistungen der Auftrag einschloss und wie die Baustelle mit Rücksicht auf den bestehenden Verkehr einzurichten und zu betreiben sei. Das zu bewegende Erdreich wurde als grundsätzlich wertvoll angesehen. Die Unternehmer waren angehalten, Erde und Sand zu trennen und dafür zu sorgen, dass sandige Erde in der Mitte der Fahrbahn und fruchtbare Erde in den Böschungen verbaut wurde. Für das Aussondern von Steinen, Sand und Lehm gewährte die Baukommission eine Vergütung. Rasen durfte nicht verschüttet werden, er war sorgfältig drei Zoll stark abzustechen und für die Anlage der Böschungen zurückzulegen. Der Straßendamm sollte zwei Fuß tief von allem Holzwerk gereinigt werden. Dabei entstehender Mehraufwand konnte nicht zusätzlich in Rechnung gestellt werden. Brauchbares Holz lagerte man seitlich, nachdem man vorher die Grundeigentümer verständigt hatte. Alle erforderlichen Gerätschaften hatten die Unternehmer zu stellen, die auch die Kosten des Verdings (Stempelgebühren u. ä.) in Form einer Umlage trugen. Während der Arbeiten blieb die bestehende Straße in Betrieb; alle Beteiligten waren aufgefordert, sich zu arrangieren: „Da der öffentliche Verkehr außerhalb des alten Weges nicht kann verlegt werden, so muß der Unternehmer sich alle Hindernisse, Hemmungen, Nachtheile gefallen laßen, welche aus dem freien Verkehr auf der alten Straße unvermeidlich entstehen, ohne deßhalb besondere Ansprüche auf Entschädigung machen zu können, weshalb die Auf- und Abträge in der Art müssen bearbeitet werden,

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daß der öffentliche Verkehr dadurch nicht gehemmt wird und es muß die nöthige Vorsicht beobachtet werden, daß kein Schaden und keine Unglücksfälle durch die Arbeiten veranlaßt werden, widrigenfalls die Folgen der Unvorsichtigkeit dem Unternehmer zur Last fallen, so daß dieselben alle hierdurch verursachten Beschädigungen zu vertreten haben.“89 Für den Bauträger war die Vergabe an die Mindestfordernden ein wirtschaftlicher Erfolg. Die Gesamtsumme blieb um etwas mehr als 170 Taler unter dem Kostenanschlag, der für die auf dem Wege des Verdings ausgesetzten Erdarbeiten 2.516 Taler und 10 Pfennig vorsah. Im Selmer Abschnitt konnte die Baukommission bei einem Volumen von rund 1.377 Talern nur zehn Taler besser als der Anschlag abschließen. Vielleicht ist das ein Hinweis auf fehlenden Wettbewerb, für den auch spräche, dass eine Abteilung in der laufenden Verhandlung keinen Interessenten fand und ein Unternehmer sich erst im Nachhinein anbot, die Arbeiten zum Anschlagspreis auszuführen. Gewinnung und Anfuhr des rohen Materials Zu den Privilegien, die den Bauherren gewährt worden waren, gehörte „das Recht zur Entnahme der Chausseebau- und Unterhaltungs-Materialien“.90 Die Bestimmung knüpfte an das Allgemeine Landrecht an, das jeden verpflichtete, Grund und Boden und die „auf der benachbarten Feldflur befindlichen Materialien“ gegen eine Entschädigung dem Staat zu überlassen.91 Diesen Grundsatz übernahm die Kabinettsorder von 1825, auf die sich spätere Verfügungen, wie die vom 7. November 1859, mit der die hier beteiligten Gemeinden privilegiert wurden, beriefen. So konnte das für den Chausseebau erforderliche Material aus der unmittelbaren Umgebung der Trasse entnommen werden. Einen Baustoffhandel mit konfektionierten Produkten aus Steinbrüchen gab es noch nicht, und die bestehenden Verkehrsverhältnisse hätten den Transport solcher Massengüter nicht zugelassen. Also suchte man die nahe liegenden Fundorte und den jeweils kürzeren Weg. Dabei stand das Privileg, die Herausgabe des Materials von den Grundeigentümern verlangen zu können, zunächst nur auf dem Papier. Mit Zirkularverfügung vom 25. Mai 1858 erinnerte Minister von der Heydt daran, dass das „Vorrecht zur Entnahme von Chaussee-Bau und Unterhaltungs-Materialien mit der den Interessen der Grundbesitzer schuldigen Rücksicht zur Anwendung gebracht“ werden solle.92 Eine entscheidende Rolle wurde den Landräten zugeschrieben, deren Autorität Konfliktpotential mindern und unvermeidliche Auseinandersetzungen entschärfen sollte. Als Vorsitzender der Chausseebaukommission hatte der Landrat demnach die Aufgabe, „mit Zuziehung der Interessenten zu ermitteln, von welchen Grundstücken, in welchem Flächenumfange, und zu welcher Zeit die für den Chausseebau nothwendigen Materialien

89 90 91 92

Ebd., Verhandlung vom 14.9.1858. Gesetz-Sammlung 1859, Nr. 5152, S. 656. Gador, Entwicklung, S. 23. – Texte des Landrechts auch unter www.smixx.de, PrALR_II_15. Zeitschrift für das Bauwesen 8 (1858), S. 541 (Verfügung vom 25.5.1858).

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mit möglichster Schonung der Interessen der Landescultur und der betheiligten Grundbesitzer entnommen werden können“.93 Tatsächlich enthalten die Akten keinen Hinweis, dass die Baukommission versucht hätte, Kooperation bei der Materialbeschaffung zu erzwingen. Im Gegenteil, es wurden auf allen Streckenabschnitten geeignete Steine für die jeweilige Bauaufgabe angeboten. Die Grundbesitzer und Unternehmer schlossen Verträge mit den Gemeinden, die durch ihre Baukommissionsmitglieder vertreten wurden. Bei den Ausgaben der Gemeindebaukassen war das Material der jeweils größte Posten.94 In Selm schlugen 14.149 Taler zu Buche, das waren 56 Prozent der von der Gemeinde zu tragenden Gesamtkosten. Bei der Gemeinde Lüdinghausen waren es 10.356 Taler oder knapp 60 Prozent und bei der vergleichsweise kurzen Strecke, die die Stadt Lüdinghausen herzustellen hatte, entfielen mit 1.594 Talern sogar 65 Prozent der Aufwendungen auf die Gewinnung und den Transport der Steine. Gezahlt wurde für das Brechen und die Anfuhr des Materials. Grundeigentümer entschädigte man für die Entnahmen aus ihrem Grund und Boden und für die Anlage zeitweiliger Wege zu den Steinbrüchen. Die in den Verträgen genannten Entnahmeorte und Steinbrüche befanden sich in der unmittelbaren Nachbarschaft der Straße. Zeitgenössische geologische Untersuchungen sprechen von kalksandigem Gestein und einem Steinbruch auf dem Hofe des Ökonomen Struckmann in Cappenberg „welcher dieses zum Strassenbau benutzte Material liefert, ... Weiter nach Norden und nach Nordwest gehen diese mürben Gesteine allmälig in sehr feste, meistens weisse, anscheinend rein quarzige Massen über, welche bei Solm [Selm] und Netteberg vielfach gewonnen und als beliebtes Strassenbaumaterial benutzt werden“.95 Geliefert werden sollten „Steine zur Packlage“ oder „Pack- und Oberlagensteine“, manchmal reichte die Bezeichnung „Bruchsteine“, oder es wurden – etwas spezieller – „Kopf- und Bruchsteine“ geordert. Zur Qualitätssicherung machte man einen Probestein zum Vertragsgegenstand, oder es wurde die Herkunft der Steine, das Feld, der Steinbruch vorgeschrieben. Die Bauleitung hatte das Recht, ungeeignete Steine beim „Aufruthen“ auszusortieren und auf Kosten des Lieferanten zu ersetzen. Gemessen wurde in „Schachtruthen“, die im Allgemeinen eine Rute lang und breit und einen Fuß hoch waren; das ergibt bei einer Rute zu zwölf Fuß 144 Kubikfuß je Schachtrute. In den Verträgen vereinbarte man indes die Schachtrute zu 156 Kubikfuß und verpflichtete die Unternehmer so, ein Zwölftel „Übermaß“ zu liefern. Bei der Anfuhr mussten die Lieferanten genau bezeichnete Abladeorte einhalten oder den Anweisungen der Bauleitung folgen. Das Bereitstellen der Steine entlang der geplanten Trasse, das „Aufruthen“ des Materials, geschah in Regie der Gemeinde und wurde von Tagelöhnern ausgeführt.96 Mit dem Messen der Liefermenge war auch die Abnahme erfolgt, beides Voraussetzun93 94

95

96

Ebd. Die Gemeinde Bork ist hier ausgenommen; wegen der ins Projekt eingebrachten Vorleistungen war der Gesamtmaterialbedarf geringer. W. von der Marck, Chemische Untersuchungen von Gesteinen der oberen westfälischen Kreidebildungen, in: Zeitschrift der Deutschen geologischen Gesellschaft 8 (1856), S. 147 f. In den Abrechnungen erscheinen diese Arbeiten unter „Zubereitung des rohen Materials“.

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gen für die vereinbarten Abschlagszahlungen an die Unternehmer. Mit Nachdruck setze man die Termine. Dem säumigen Lieferanten drohte die Ersatzlieferung auf seine Kosten, und/oder er haftete allgemein für Schäden infolge Terminüberschreitung. Die Lage der Steinbrüche ist in den Akten nicht immer so bezeichnet, dass wir sie heute eindeutig identifizieren können. „Bei Wördemann“ wurden Steine für Lüdinghausen gebrochen, für Selm sollte das Material „in der Geist“ und bei „Haverkamp“ gewonnen werden. Der Ökonom Haverkamp zu Althoff aus dem Kirchspiel Bork räumte „der Gemeinde Selm das Recht ein, drei Jahre lang ... Steine in seiner Wiese ... behuf Chausseebau zu brechen und zu gewinnen“.97 Einen Taler zahlte man Grundbesitzern als Entschädigung für jede Schachtrute Steine, die auf ihrem Grund gebrochen wurde. Bis in den Herbst des Jahres 1859 drehte sich in Selm alles um die Gewinnung der Steine und die Transporte. Um das Brechen der Steine, die „Gewinnung des Materials“, bewarben sich drei Unternehmer. Verhandelt wurde am 17. September 1858.98 Wie üblich wurden die Bieter zunächst mit den Bedingungen bekannt gemacht: Dem in der Selmer Geist gelegenen Land sollten alle zum Straßenbau tauglichen Bruchsteine entnommen und „auf dem Ufer des Bruches“ zur bequemen Abfuhr bereitgestellt werden. Alle angewiesenen Steine sollten bis zum 1. April 1859 ausgebrochen sein. Umsicht galt der „guten Ackererde“, die neun Zoll tief abzugraben sei und zur Seite gebracht werden müsse, damit sie bis zum späteren Planieren des Geländes unversehrt bliebe. Mit dem Protokoll war zwar der Verding abgeschlossen, aber der Auftrag noch nicht vergeben. Die günstigsten Bieter hatten sich nur in eine engere Wahl gebracht. Die genehmigende Baukommission (Landrat und Vertreter aller Gemeinden) sah sich bei ihren Entscheidungen durch das Verding-Ergebnis nicht gebunden. Man folgte anderen Überlegungen und Interessen und gab nicht nur dem „Wenigstfordernden“ den Vorzug. Die Bieter kannten den Vorbehalt und gingen auch bewusst damit um, denn einige suchten ihren Vorteil in einer Nachverhandlung und hatten Erfolg damit. Etwa fünfzig Männer betätigten sich zeitweilig und nebenbei als Fuhrleute. Das Fuhrgeschäft hatte ein Volumen von 9.878 Talern und wurde ebenfalls auf dem Wege des Verdings organisiert.99 Selm, auf der Mitte der Neubaustrecke zwischen Lüdinghausen und Bork gelegen, vergab 1858 zunächst die Fuhren für den Ausbau in Richtung Bork100 und schloss 1859 die Verträge über das Anfahren von Steinen für den Anschluss nach Norden. Ausgesetzt wurden 16 Abteilungen zu je zehn Schachtruten. 14 Auftragnehmer erhielten den Zuschlag bei Forderungen zwischen fünf Talern und drei Talern 16 Silbergroschen. Als Fuhrleute betätigten sich Bauern und ein Wirt, die aus dem Dorf Selm und den umliegenden Bauerschaften kamen. Genannt werden die Ortsteile Ondrup, Beifang, Ternsche und Netteberge, aber auch „Dinkel“ und „Unstedden“. Die Transporte erfolgten in zwei Etappen. Solange der Erddamm nicht fertig und befahrbar war, sollten „den Unternehmern Plätze angewiesen werden, wo die Steine vorläufig 97

98 99 100

LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Landratsamt Nr. 879, Vertrag vom 3.2.1858; die folgenden Vereinbarungen ebd. Ebd., Verhandlung vom 17.9.1858 (Text folgt dem Protokoll), Zitate ebd. StdA Selm, AB-1 92; vgl. auch Tabelle 1. LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Landratsamt Nr. 879, Verhandlung vom 25.5.1858 (Text folgt dem Protokoll), Zitate ebd.

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abgeladen werden können. Diese Steine müssen dann von dem Unternehmer später auf den Chausseekörper ... geschafft werden“. Zwischenlager wurden an der Kapelle bei Hof Selm, an der Ölmühle, vor dem Garten zu Botzlar, vor der (Botzlarschen) Geist und an „Schapers Kämpchen“ eingerichtet. An dieser Stelle lassen die vorhandenen Angaben eine vorsichtige Kalkulation für eine Schachtrute Steine (Pack- und Oberlage) zu. Der Grundeigentümer erhält einen Taler als Entschädigung. Für das Brechen der Steine verlangte der Unternehmer zwei Taler und 17 Silbergroschen. Der durchschnittliche Fuhrlohn betrug vier Taler und sieben Silbergroschen. Die Schachtrute Steine kostete demnach zwischen sieben und acht Taler. Anfertigung der Steinbahn Zeitgenössische Abhandlungen forderten, dass Planung und Ausführung mit jedem Schritt und in allen Teilleistungen darauf auszurichten seien, jegliches Wasser von dem Bauwerk fernzuhalten.101 Trocken und fest müsse die Steinbahn sein, nur so sei sie tauglich für den rollenden Verkehr. In der Art und Weise, wie die Steindecke gefertigt wurde, äußerte sich der Charakter einer Chaussee, verwirklichte sich die technische Idee von der dauerhaft befestigten Straße. Vermutlich waren es französische Vorbilder, die frühe Anleitungen zum Chausseebau beeinflussten. Immer sollten mehrere Lagen unterschiedlich großer Steine verbaut werden, die größeren nach unten und nach oben die kleineren. Der Belag erhielt eine zu den Wegrändern abfallende Wölbung, er war also in der Mitte der Fahrbahn dicker als an den Seiten. Die schweren Steine der Packlage legte man mit ihrer jeweils größten Seite nach unten, auf dass sie fest verkeilt einen Verbund bildeten, der an den Rändern von Bordsteinen gehalten wurde. Beim späteren Befahren sollten sie sich nicht ins Erdreich eindrücken oder seitlich verschieben. Kantige Steine waren gefragt, runde wurden entsprechend behauen. Kleinere, auf Maß zurechtgehauene Steine, füllten die Zwischenräume; mit der letzten Lage schuf man eine glatte, gut befahrbare Oberfläche. Die hier betrachteten Anleitungen forderten im Großen und Ganzen den oben beschriebenen Aufbau. Eine andere Methode ging sogar in den Sprachgebrauch ein. Die „von John Loudon McAdam propagierte Schotterstraße, die auf ein Steinbett verzichtete und nur noch auf einer wenig bombierten [gewölbten], 25–30 cm dicken Schotterlage beruhte ... erlangte in kurzer Zeit eine solche Bekanntheit, dass fortan jede verdichtete Schotterstraße als ,macadamisiert‘ und McAdams Methode als State-of-the-Art galt“.102 101

102

Vgl. Kurze Abhandlung vom Chaussee-Bau, Nürnberg 1791, M.F. van Alten, Kurze practische Anleitung zur Anlegung und Erhaltung der Kunst- und Land-Strassen, Berlin 1816, F.W. Selig, Praktische Anleitung zum Straßenbau nebst Unterricht in den dazu nöthigen Vorkenntnissen, Kassel 1829; Franz Anton Umpfenbach, Theorie des Neubaues, der Herstellung und Unterhaltung der Kunststraßen, Berlin 1830; Hamilcar von Paulucci, Der Chaussee-Bau in England mit besonderer Rücksicht auf die dortigen Schlegelstein- und macadamisirten Straßen, Wien 1838 (digitalisiert www.gateway-bayern.de/BV001632801). Hans-Ulrich Schiedt, Die Entwicklung der Straßeninfrastruktur in der Schweiz zwischen 1740 und 1910, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2007, H. 1: Verkehrsgeschichte auf neuen Wegen, Berlin 2007, S. 46.

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Abb. 5: Bau einer Steinbahn nach dem McAdam-Prinzip im Jahr 1823. Eines von zahlreichen Verkehrsmotiven des in Düsseldorf und München ausgebildeten amerikanischen Illustrators Carl Rakeman, um 1930 (U.S. Department of Transportation/Federal Highway Administration)

Das englische Vorbild, das Westfalen durch den Oberpräsidenten Vincke vermittelt wurde, lässt sich aber nicht auf den technischen Aspekt reduzieren. Bereits 1838 sah Paulucci, der England in Sachen Chausseebau bereiste, die „macadamisierten Straßen“ als Teil eines Verkehrssystems, in dem schwere Lasten über See, auf Kanälen und per Eisenbahn transportiert werden konnten. Chausseen dagegen ermöglichten auch wegen der guten Wartung einen komfortablen, schnellen Leichtverkehr (Abb. 5).103 Landsberg, der Vorsitzende der hiesigen Chausseebaukommission, sah die Anfertigung der Steinlage als eine die Gemeinden übergreifende Bauaufgabe, und es darf unterstellt werden, dass er sie deshalb gern in eine Hand vergeben hätte. Sein Favorit war der Unternehmer Stork aus Hamm, den Landsberg Ende Juni 1858 über den Baubeginn und den weiteren Zeitplan in Kenntnis setzte. Der Landrat signalisierte dem Unternehmer, dass er ihm die Arbeiten übertragen wolle und lud ihn zu einem persönlichen Gespräch ein.104 Allerdings brach sich die Vorstellung von einer gemeinsamen Vergabe an der Konstruktion des Zweckverbandes, die vorsah, dass die Gemeinden die Ver103 104

Paulucci, Chaussee-Bau in England, S. 71. LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Landratsamt Nr. 879, Schreiben vom 30.6.1858.

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träge auf Rechnung der örtlichen Baukassen schlossen. Dem musste auch die Form der Ausschreibung Rechnung tragen. Im Oktober 1858 beschloss daher die Baukommission, dass „der Ausbau der Chausseestrecke von Bork bis Lüdinghausen ... in kürzester Frist an den Mindestfordernden gedungen werden [sollte] und zwar in 3 ... Abteilungen“.105 Zum Verding im November 1858 trafen sich die Amtmänner aus Lüdinghausen und Bork mit sechs Bewerbern. Die Preisforderungen gingen von den folgenden Ansätzen des Kostenanschlags aus, die die Unternehmer übernahmen oder im Wettbewerb unterboten: „a, Zurichtung der Bord und Packlage Steine106 pro Schachruthe 10 Silbergroschen b, Zerkleinerung der Mittel und Oberlage Steine pro Schachtruthe 1 Thaler 25 Silbergroschen c, Anfertigung der Steinbahn pro laufende Ruthe 25 Silbergroschen d, Aufbringen des Lehm und Sandes pro Schachtruthe 71/2 Silbergroschen“.107 Wie üblich hatte sich die Baukommission vorbehalten, unabhängig vom Ergebnis des Verdings ihre Entscheidungen über die endgültige Vergabe zu treffen, und so stand bei der nächsten Sitzung zunächst die Frage an, ob das Legen der Steinbahn mit den dazu gehörigen Nebenarbeiten für die gesamte Strecke vergeben werden sollte oder in drei Abteilungen an verschiedene Unternehmer. Die Abstimmung ergab ein Patt. Stadt und Landgemeinde Lüdinghausen votierten für eine geschlossene Vergabe, Selm und Bork wollten „die Uebertragung der Arbeiten an verschiedene Unternehmen und namentlich an Unternehmen aus den Gemeinden Bork und Selm, um die Zufriedenheit in diesen Gemeinden zu erhalten“.108 Die Aufträge wurden schließlich getrennt vergeben. Stadt und Gemeinde Lüdinghausen beauftragten den Unternehmer Stork aus Hamm, im Amt Bork ging der Auftrag an die ortsansässige Arbeitsgemeinschaft Bördeling & Schönewald. Technisch verlangte der Vertrag den herkömmlichen Aufbau mit Bord- und Packlagesteinen und zerkleinertem Material für die Mittel- und Oberlage. Das zur Verdichtung der Chausseestrecke zu liefernde Material wurde in einer bestimmten Mischung gefordert. Im Vertrag heißt es: „Der nöthige Sand muss zur Hälfte mit Thon versetzt, Senkel und zur Hälfte reiner Sand sein“.109 Der Zweckverband der vier Gemeinden verfügte nicht über eine eigene Walze. Kirchspiel und Stadt Lüdinghausen hatten gemeinsam mit Senden und Olfen für 250 Taler ein solches Großgerät angeschafft, und der Landrat setzte sich zeitig dafür ein, dass den Gemeinden Selm und Bork eine Miteigentümerschaft angeboten wurde.110 Für das „Bewegen der Walze“ wurde auf der südlichen Strecke pro Stunde ein Taler und neun Silbergroschen und auf der nördlichen ein Taler gezahlt. Was dafür zu leisten war, hatte man beim Ver105 106

107

108 109 110

Ebd., Protokoll vom 19.10.1858. Hier endet der vermutlich von Hülskötter vorbereitete Text, die nachstehenden Eintragungen sind von der Hand Föckers. LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Landratsamt Nr. 879, Protokoll vom 12.11.1858 (Text folgt dem Protokoll). Ebd. Ebd., Vertrag vom 6.9.1859. StdA Lüdinghausen, 9–84, Schreiben vom 17.2.1859.

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ding mit allen Einzelheiten vorgelesen und so den Bietern bekannt gemacht: „Die Arbeit der Bewegung der Walzmaschine auf der bezeichneten Strecke wird stundenweis verdungen. Das Object des Aussatzes und Abgebothes bildet die Entschädigung für eine jede Stunde dieser Arbeit. ... Die Walzmaschine wird auf der neuen Steinbahn bewegt und muss hierbei mindestens Sechs Zugpferden bespannt sein, welche der Art stark und kräftig sein müssen, und die Maschine mit der erforderlichen Leichtigkeit und Gleichmäßigkeit ohne erhebliche Auflockerung der Steinbahn bewegen zu können. ... Das Abwalzen der Steinbahn resp. die Walzenarbeit beginnt, sobald die hierzu erforderliche geeignete nasse Witterung eintritt, oder die Anfeuchtung der Steinbahn auf künstlichem Wege bewirkt worden ist. Der Unternehmer ist verpflichtet, unmittelbar nach der an ihn ergangenen Aufforderung sofort die erforderliche Bespannung der Walze zu stellen und so lange zu unterhalten, als die Bauverwaltung solches verlangt.“111 In der Stadt und in den Dörfern sollten die Durchfahrten auf der Chaussee gepflastert werden. In Lüdinghausen und Bork bekam der Pflastermeister für das Anlegen eines „Rauhen-Pflasters“ pro Quadratrute (knapp 14,2 Quadratmeter) einen Taler und 15 Silbergroschen. Der Unternehmer fand das Pflasterbett vorbereitet. Steine, Sand und die notwendigen Gerätschaften (Rammen, Brecheisen und Schubkarren) wurden von der Gemeinde gestellt. In Bork nahm sich die örtliche Baukommission das Recht zu bestimmen, mit wie viel Leuten die Arbeiten aufzunehmen waren. Man wollte in gut zwei Monaten fertig sein.112 Die Stadt Lüdinghausen verpflichtete den Pflasterer, eine zweijährige Garantie zu gewähren; gegenüber der Gemeinde Bork musste der Unternehmer drei Jahre für die Qualität seiner Arbeit gerade stehen und eine Kaution von zweieinhalb Silbergroschen pro Quadratrute hinterlegen, etwa 5,5 Prozent des vereinbarten Lohns.113 Anfertigung von Brücken und Durchlässen Anlässlich der oben schon erwähnten Begehung der Straßenstrecke von Lüdinghausen nach Selm am 11. Juni 1858114 kamen die Beteiligten unter anderem zu der Feststellung, dass auf der Strecke von Lüdinghausen bis Selm sieben Brücken und zwei Durchlässe chausseetauglich herzurichten seien. Für die von der Gemeinde Lüdinghausen zu vergebenden Bauarbeiten engagierte der Amtmann vor Ort Maurer und Zimmerer. Über den Flothbach sollte eine massive, gewölbte Brücke gebaut werden, die auch „Böckenkemper-Brücke“ genannt wurde.115 Die Brücke lag auf der Grenze zwischen Lüdinghau-

111 112 113 114

115

LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Landratsamt Nr. 879, Vertrag vom 6.6.1859. Ebd., § 7 des Vertrags vom 8.5.1858. Ebd., Verträge vom 8.5.1858 (Bork) und 26.11.1858 (Stadt Lüdinghausen). Ebd. Das Protokoll vom 11.6.1858 vermerkt die Bauvorhaben mit der jeweiligen Stationsnummer, in einigen Fällen um eine Ortsangabe ergänzt. Ohne Einsicht in die damaligen Pläne können bestimmte Zuordnungen nur erschlossen werden. Ebd., Angebot vom 1.9.1858 und Vertrag 15.5.1859.

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sen und Selm, „unweit Schulze Osterhaus“ und kostete 328 Taler und vier Pfennige, die sich die beiden Gemeinden teilten.116 Holzarbeiten fielen bei den Brücken über den Beverbach (Bewerickbach) und den Teufelsbach an. Die Zimmerer übernahmen die Fertigung der hölzernen Brücken-Oberkörper.117 Etwas mehr als 200 Taler kostete die Brücke über den Beverbach; für die über den Teufelsbach mussten rund 300 Taler aufgewendet werden. In Selm erörterte die Baukommission Alternativen zur Ausführung der Brücke beim Gut Botzlar. Zur Wahl standen die ältere Variante, eine Steinbrücke mit hölzernem Oberkörper, und eine vom Bauführer ins Gespräch gebrachte reine Steinbrücke. Der massiven Bauart sollte wegen günstigerer Unterhaltungskosten der Vorzug gegeben werden.118 Zwei weitere Brückenbauten hatte Selm auf der Strecke von der nördlichen Gemeindegrenze bis zum Eingang des Dorfes zu vergeben: die Brücke am „Rothenhahn“ und die über die Funne. Die Aufträge gingen an örtliche Maurer und an Landwirte, die den Materialtransport übernahmen.119 Etwas mehr als 1.300 Taler wandte die Gemeinde für Brücken und Durchlässe auf.120 Baumpflanzungen „So lange eine neu gebaute Straße an den hohen Dammstellen nicht mit Schutz-Anlagen, und ihrer ganzen Länge nach nicht mit Baumpflanzungen versehen ist, kann sie den Passanten eine Sicherstellung nicht gewähren. Die Baumpflanzung bezeichnet durch die Spitzen und Aeste der Bäume auch zur Nachtzeit die Richtung der Straße. Ermangelt dieselbe so sind die Passanten gegen einen Unfall, der zu Verantwortlichkeiten führen kann, nicht gesichert.“121 Diese Randnotiz findet sich in einer Korrespondenz, die deutlich werden lässt, dass die Auffassungen von Regierung und Landratsamt nicht immer deckungsgleich waren. Nach Auffassung des Landrats war die Fahrbahn des Abschnitts von Bork zur Kreisgrenze nach Lünen im Frühjahr 1858 so weit fertiggestellt, dass sie befahren werden konnte. Also wollte man Chausseegeld erheben122 und die noch fehlende Ausstattung der Chaussee mit Steinen und Bäumen nachholen. Die Kassen waren leer − Bork und Selm standen kurz davor, Anleihen für den bevorstehenden Weiterbau der Straße nach Norden aufnehmen zu müssen. Doch die Regierung in Münster verlangte erst die vorschriftsmäßige Fertigstellung des nach Süden führenden Abschnitts in allen Teilen und lehnte das Gesuch ab: „Wenn wie in vorliegendem Falle ... die Anbringung von Schutzsteinen und der Baumpflanzung Behufs Sicherstellung der Passage auf einer neugebauten Chaussee förderlich zu erachten ist, dann darf auch, wie 116 117

118 119 120 121 122

StdA Lüdinghausen, 6–219, Zusammenstellung der Kosten vom 18.3.1859. LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Landratsamt Nr. 879. Der Vertrag und die Kostenanschläge sind für beide Bauten als Abschriften in der Akte des Landratsamts erhalten. Sie vermitteln einen detaillierten Eindruck von den Bauwerken. Ebd., Protokoll vom 7.5.1858. Ebd., Verhandlungen vom 15.8.1859 und Protokoll vom 9.7.1859. StdA Selm, AB-1 92. LAV NRW W, Regierung Münster, Abt. II-13–92, Bl. 141, Randnotiz vom 21.4.1858. Ebd., Bl. 140, Antrag vom 6.3.1858.

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dies in der Natur der Sache liegt, die Straße dem öffentlichen Verkehre nicht eher über[geben] werden, bis die anschlagsmäßige Herstellung der Schutzsteine und Baumpflanzung erfolgt und nachgewiesen worden ist.“123 Die Bäume waren also mehr als schmückendes Beiwerk; ihnen wurden Funktionen für den Betrieb der Straße zugeschrieben. Gepflanzt wurden in erster Linie Pappeln, aber auch einige Tannen und Weiden. Zusammen mit den Schutzsteinen sollten die Bäume auf den erhöhten Dämmen der Chaussee dafür sorgen, dass die Verkehrsteilnehmer auf der Fahrbahn blieben. 6. Privilegierung und Abrechnung Der „Allerhöchste Erlaß vom 7. November 1859“124 genehmigte, was in weiten Teilen schon fertig in der Landschaft lag. Die Gemeinden hatten ihre Leistungen fast vollständig erbracht. Die Grundstücke waren erworben oder das Land wurde ohne Anwendung des Expropirationsrechts abgetreten. Das Material war gekauft, bezahlt und eingebaut. Man hatte sich auf Jahre hin verschuldet. Jetzt verlieh der Staat das Recht zur Erhebung des Chausseegeldes „gegen Uebernahme der künftigen chausseemäßigen Unterhaltung der Straße“.125 Ob die ersehnten Einnahmen die Kosten würden decken können, durfte bezweifelt werden. 1861 schloss Rendant Meyer die Baukassen und rechnete die von den Gemeinden gebildeten Spezialfonds ab (vgl. Tabelle 1). Die Baukommission durfte mit ihrer Arbeit zufrieden sein. Finanziell wurde der Rahmen eingehalten. Die Chaussee konnte wie geplant zwei Jahre nach der Beschlussfassung dem Verkehr übergeben werden. In der Stadt Lüdinghausen war man bereit, die neuen Möglichkeiten zu nutzen. Ein gutes halbes Jahr bevor die Hebestellen eingerichtet wurden, wandte sich Bürgermeister Wormstall mit einer konkreten Vorstellung von der künftigen Nutzung an das Landratsamt in Lüdinghausen: „Nachdem der Ausbau der neuen Chaussee von hier nach Borck seiner Vollendung entgegen geht, und damit die so lange gewünschte Directe Verbindung mit Dortmund resp. mit der Eisenbahn hergestellt ist, wodurch der geschäftliche Verkehr hiesiger Stadt neuen Aufschwung erlangen wird, ist es nothwendig, schon jetzt auf die Einrichtung einer directen Post Verbindung mit Dortmund, resp. zum Anschlusse an die Eisenbahn Züge Bedacht zu nehmen. Im Interesse des hiesigen und des reisenden Publikums so wohl in Bezug auf den gewerblichen und Geschäfts Verkehr, als auf den sonstigen schriftlichen und Personen Verkehr muß es als durchaus wünschenswerth erkannt werden, daß mit der Einrichtung der neuen Post Verbindung nach Dortmund gleichzeitig eine täglich zweimalige Verbindung mit der Eisenbahn und zwar zu verschiedenen Zeiten des Tages hergestellt wird.

123 124 125

Ebd., Bl. 140, Bescheid vom 26.4.1858. Gesetz-Sammlung 1859, Nr. 44, S. 565. Ebd.

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Tabelle 1: Übersicht über die Abrechnung der Baukassen 1860/61 (Taler, Silbergroschen, Pfennige) Bork Gemeinde Selm vom 22.3.1861 Gemeinde vom 22.3.1861 Einnahmen

6.500 – 0 – 0 25.204 – 25 – 0

Lüdinghausen Gemeinde 17.426 – 26 – 5

1. Anteil an der Chausseebauprämie 2.200 – 0 – 0

1.190 – 3 – 5

25 – 28 – 4

16.000 – 0 – 0

2.000 – 0 – 0

4 – 25 – 0

236 – 13 – 0

3–0–0

6.434 – 19 – 5 25.182 – 16 – 3

17.377 – 9 – 9

2.448 – 28 – 4

3. Darlehen von öffentlichen Instituten

5.500 – 0 – 0

18.000 – 0 – 0

4. Darlehen von Privaten

1.000 – 0 – 0

5.000 – 0 – 0

5. außerordentliche Einnahmen

1. Erdarbeit

2.448 – 28 – 4 420 – 0 – 0

2. Beiträge der Gemeindekasse

Ausgaben

Lüdinghausen Stadt vom 16.8.1860

587 – 5 – 6

2.754 – 7 – 11

1.065 – 14 – 1

158 – 27 – 8

495 – 28 – 1

14.149 – 2 – 3

10.356 – 6 – 3

1.594 – 7 – 6

3. Zubereitung des Materials

84 – 23 – 9

510 – 15 – 1

258 – 23 – 6

37 – 8 – 0

4. Anfertigung der Steinbahn

1242 – 23 – 8

3.750 – 21 – 6

2.568 – 4 – 9

385 – 0 – 1

26 – 20 – 9

1.306 – 23 – 7

1.460 – 24 – 1

100 – 15 – 0

6. Baumpflanzung

147 – 26 – 0

220 – 16 – 2

32 – 19 – 0

0–0–0

7. Sicherheitsanlagen, Meilen- und Nummernsteine

219 – 10 – 3

148 – 3 – 7

181 – 23 – 0

15 – 29 – 9

681 – 21 – 11

1024 – 1 – 4

670 – 0 – 1

166 – 0 – 7

622 – 17 – 5

361 – 25 – 7

86 – 2 – 6

31 – 5 – 8

122 – 5 – 8

84 – 26 – 0

11 – 22 – 8

128 – 13 – 3

573 – 21 – 9

336 – 24 – 5

65 – 10 – 7

22 – 8 – 9

49 – 6 – 6

2. Gewinnung und Anfuhr des rohen Materials

5. Anfertigung der Brücken und Durchlässe

8. Grundentschädigung 9. Zuschüsse zum allgemeinen Baufonds 10. Entschädigung des Rendanten 11. außerordentliche Ausgaben Mehreinnahme

„balancirt“

Quelle: StdA Selm AB-1 90; StdA Lüdinghausen 1–187; StdA Lüdinghausen 6–219. Rekonstruktion mit Hilfe der Akte „Belege zur Chaussee-Baukassen-Rechnung der Landgemeinde Lüdinghausen“; die Entschädigung des Rendanten bezieht sich allerdings auf „reine Ausgaben“ in Höhe von 16.972 – 24 – 10. Die Differenz kann hier nicht aufgeklärt werden.

Eine Straße als kommunales Gemeinschaftsprojekt

233

Während nun durch die tägliche Post Verbindung nach Münster für den Anschluß an die Eisenbahn zur Morgenzeit gesorgt ist, wäre es dringend zu wünschen, daß die directe Post Verbindung mit Dortmund so eingerichtet würde, daß dadurch ein Anschluß zur Eisenbahn für die Abendzüge hergestellt würde. Indem ich mit erlaube das Königl. Landraths Amt hierselbst gehorsamst hierauf aufmerksam zu machen, bitte ich, geneigtest das Geeignete veranlassen zu wollen, damit bei dieser Einrichtung das Interesse des hiesigen so wohl als des reisenden Publikums so viel möglich gewahrt werde.“126 Es dauerte keine zwei Wochen, bis der Oberpostdirektor dem Landrat versicherte, er werde hinsichtlich der „Errichtung einer täglichen Personenpost zwischen dort und Dortmund ... das Interesse und die Verhältnisse der Stadt Lüdinghausen im Auge ... behalten“.127

7. Der Betrieb nach Fertigstellung Kapitaldienst Die Gemeinden trugen die Last. Sie gingen für den Chausseebau Darlehnsverpflichtungen mit bis zu 24-jährigen Laufzeiten ein. Eine fortgeschriebene Rechnung, wie die Kredite über die Jahre abgetragen wurden, steht hier nicht zur Verfügung, aber es gibt aus anderen Anlässen entstandene Dokumente, die einige Rückschlüsse ermöglichen. Im Zuge der Genehmigung von Krediten veranlasste der Oberpräsident die Gemeinden, Verzeichnisse über ihre finanziellen Verhältnisse aufzustellen.128 Die Borker Meldung von 1870 ist erhalten: 1.000 Taler aus privater Quelle wurden weiterhin mit viereinhalb Prozent verzinst. Ein Tilgungstermin war nicht notiert. Auch die beiden Darlehen der Provinzial-Hilfskasse aus den Jahren 1858 und 1859 erschienen mit zusammen 5.500 Talern und mussten mit jährlich 385 Talern bedient werden. 1882/83 sollten diese Verpflichtungen auslaufen.

126 127

128

StdA Lüdinghausen, 9–483, Schreiben vom 19.9.1859. LAV NRW W, Kreis Lüdinghausen, Landratsamt Nr. 784, Schreiben vom 28.9.1859 (Original in der Akte StdA Lüdinghausen, 9–483). StdA Selm, AB-1 62, Schreiben der Regierung Münster vom 1.12.1869.

234

Dieter Gewitzsch

Für Selm liegt eine ähnliche Rechnung vor, die aufgrund einer Verfügung aus dem Jahre 1878 erstellt wurde. In der „Schuldennachweisung der Gemeinde“129 wurden die Kredite der Provinzial-Hilfskasse nach wie vor geführt. Die 13.000 Taler standen jetzt mit 39.000 Mark in den Büchern und sollten 1882/83 abgetragen sein. Ebenso die Verbindlichkeiten gegenüber der Kreissparkasse in Höhe von 5.000 Talern, jetzt 15.000 Mark. Einem privaten Geldgeber gegenüber hatte die Gemeinde eine Verbindlichkeit von nun 6.000 Mark, die weiterhin mit vier Prozent verzinst wurde. Vermutlich diente die Nachweisung dem Zweck, einen Überblick über die Anstrengungen beim Abbau kommunaler Schulden zu gewinnen. In der Vergangenheit mussten die Aufsichtsbehörden immer wieder geordnete Vorstellungen zur Tilgung der geliehenen Kapitalien anmahnen. Auf dem Rand des Formblattes findet sich die folgende Erläuterung: „Im Etat sind zum Capitalabtrag jährlich 1500 Mark vorgesehen und werden zur Ansammlung eines Fonds bei der Sparkasse belegt sofern keine dringenden Anforderungen an die Gemeinde-Kasse gestellt werden. Nach Abtragung der Kapitalien an der Provinzial-Hülfskasse werden die jährlichen Amortisationsrenten von 1.470 und 1.260 Mark = 2.730 Mark zu dieser Schuldabtragung verwendet. Im Jahre 1887 würden die Schulden sonach gänzlich abgetragen sein. – Sobald der Fond die Höhe eines Capitals erreicht, erfolgt die Kündigung und Abtragung.“ 1870 forderten private Investoren die Rückzahlung eines Darlehens in Höhe von 3.000 Talern. Selm war darauf nicht vorbereitet, konnte aber bei der Kreissparkasse Bestandsgelder in Höhe von 2.050 Talern kündigen und den Gesamtbetrag bereitstellen. Einnahmen aus den fiskalischen Privilegien Zunächst beeindrucken die Summen, die der Zweckverband für den Bau der Straße aufzubringen hatte. Ebenso bedeutend waren die Lasten aus der Verpflichtung zum Unterhalt der Chaussee, die jede der beteiligten Gemeinden fortan schultern musste. Die Verlagerung der Zuständigkeit und der Lasten auf Kreise, Gemeinden und gegebenenfalls private Träger war eines der Ziele des seit Mitte der 1850er Jahre vom preußischen Staat favorisierten Prämienstraßenbaus. Chausseegeld war in Preußen von Beginn an ein wichtiges Finanzierungsinstrument für den Staatsstraßenbau. Regierung und Landrat achteten bei den Beschlüssen der Gemeindevertretungen sehr auf die Genauigkeit der Formulierungen. Die Zusagen hinsichtlich des späteren Unterhalts der Chaussee mussten eindeutig abgefasst sein, damit als Gegenleistung für die eingegangenen Verpflichtungen das Recht zur Chausseegelderhebung in Aussicht gestellt werden konnte. „Zweck dieser Einnahmen war es, dem Eigentümer der Straße die Last der Unterhaltung zu erleichtern.“130

129

130

StdA Selm, AB-1 63, „Acta betr. die Schulden der Gemeinde Selm und die Tilgung derselben“ (Text folgt der Akte), Zitate ebd. Gador, Entwicklung, S. 148

Eine Straße als kommunales Gemeinschaftsprojekt

235

Nach mehrmaliger Beratung durch die Baukommission beantragte der Landrat die Errichtung von drei Hebestellen, an denen für je eine Meile Straßenbenutzung Chausseegeld zu zahlen war. Die Barrieren sollten – bei Hülswitt in Ermen im Kirchspiel Lüdinghausen, – im Dorf Bork, beim Ausgang nach Lünen am Haus des Wirts Berkenkamp und – an der südlichen Kreisgrenze bei Döttelbeck errichtet werden.131 Zwischen Selm und Lüdinghausen, bei Hülswitt in Ermen, wollte man die Barriere an der Einmündung des Weges von Nordkirchen so positionieren, dass alle Passanten auf dem Weg nach Lüdinghausen Chausseegeld zu bezahlen hätten. Davon wären auch diejenigen betroffen gewesen, die von weiter her aus Südkirchen, Werne und Herbern kamen. Hinsichtlich der Verteilung und Verrechnung der erwarteten Chausseegelder kam die Baukommission überein, dass die Einnahmen an der Barriere Döttelbeck zunächst der Gemeinde Bork zufließen sollten, die dann mit der Stadt Lünen deren Anteil abrechnen würde. Die Einnahmen an der Barriere Bork sollte die Gemeinde Selm erhalten, die „sich mit Bork zu berechnen habe“, und die Barriere Ermen hatte die Gelder zunächst in die Kasse der Gemeinde Lüdinghausen einzuzahlen, die mit der Stadt Lüdinghausen und der Gemeinde Selm abrechnen musste.132 Man wollte jetzt bald Einnahmen erzielen und wünschte, die Eröffnung der Hebestellen zum 1. März 1860. Seit einem Monat waren an allen Hebestellen die Schlagbäume aufgestellt und die Tariftafeln angeschlagen. Dem Verkehr stand die Chaussee schon seit mehreren Monaten unentgeltlich zur Verfügung.133 Es dauerte jedoch noch bis zum 17. April 1860, bevor mit der Chausseegelderhebung begonnen werden konnte, obwohl keine Stelle, die beteiligt werden musste, Einwände erhoben hatte und das Anliegen jeweils unverzüglich bearbeitet wurde. Bei der Regierung in Münster war die Abteilung des Innern mit dem Chausseebau befasst. Für die Errichtung von Hebestellen musste sie auch die Zustimmung des Provinzial-Steuer-Direktors einholen. Das entsprach der Aufgabenteilung in Berlin, wo seit 1848 „das kurz zuvor gebildete Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten die Leitung der Chausseebauangelegenheiten [übernahm], während die Chausseegeldeinnahmen auch weiterhin dem Finanzministerium verblieben“.134 Die ersten Betriebsjahre der drei Hebestellen sind im Stadtarchiv Selm gut dokumentiert, hier liegen die Pachtverträge für die Barrieren Döttelbeck und Bork und Nachweise über die Einnahmen und ihre Verteilung für die Jahre bis Ende 1866 vor. Der im Februar 1860 geschlossene Vertrag verpflichtete den Pächter der Barriere Bork auf den allgemeine Tarif von 1840 und die Anwendung ortsbezogener Bestimmungen wie die Befreiung für die Eingesessenen der Bauernschaft Bork und des Dorfes Bork. 131 132 133 134

LAV NRW W, Regierung Münster, Abt. II-13–93, Bl. 7 (Text folgt dem Schreiben vom 20.1.1860). Ebd. Ebd., Bl. 11, Schreiben vom 22.2.1860. Gador, Entwicklung, S. 20. Vgl. LAV NRW W, Oberfinanzdirektion Münster Nr. 1287, Auf Privat- und Gemeinderechnungen zu erhebende oder zu verausgabende Wege- und Brückengelder, Bd. 14 – darin 24. Gemeinde-Chaussee von Lüdinghausen nach Lünen.

236

Dieter Gewitzsch

15 Prozent der Einnahmen erhielt der Pächter als „Remuneration“. Formulare und besonders die Chausseezettel wurden von den Gemeinden gestellt. Die Pächter belehrte man, dass er „solche bei Kenntnis der gesetzlichen Strafe nicht selbst beschaffen resp. drucken lassen“ dürfe. Immerhin war der Chausseezettel eine Art Wertpapier; über die Bestände wurde Buch geführt und die Anzahl bei der monatlichen Abrechnung geprüft. Die Gemeinden waren berechtigt, von den Pächtern eine Kaution zu fordern, in Bork waren das 60 Taler.135 Anfangs rechneten die Pächter monatlich mit dem Amtmann oder einem beauftragten Mitglied des Gemeinderates ab. Von 1862 an wurde vierteljährlich abgerechnet, eine Vereinfachung, in der sich auch gewachsenes Vertrauen in die Pächter ausdrückte. In den Akten findet sich kein Hinweis auf Unstimmigkeiten bei den Abrechnungen. Festgestellt wurden die „wirklichen Einnahmen“, die davon abzuziehenden Hebegebühren und im Fall der Hebestelle Bork die Anteile, die Selm und Bork an den Einnahmen zu beanspruchen hatten. Die an der Barriere Döttelbeck eingenommenen Gelder flossen in den ersten Jahren komplett in die Borker Gemeindekasse, später wurde die Stadt Lünen beteiligt. Die Gemeinde Selm, die selbst keine Hebestelle betrieb, erhielt auch Anteile aus den Einnahmen der Barriere in Ermen. Tabelle 2: Bruttoeinnahmen an den Hebestellen 1860–1866 Jahr

Ermen

Bork

Döttelbeck

Gesamt

Tl.

Sgr.

Pf.

Tl.

Sgr.

Pf.

Tl.

Sgr.

Pf.

Tl.

Sgr.

Pf.

1860*

174

10

0

246

4

0

356

12

4

776

26

4

1861

261

4

8

355

13

2

479

22

0

1.096

9

10

1862

256

5

6

351

4

7

399

29

8

1.007

9

9

1863

296

1

10

329

4

10

392

6

6

1.017

13

2

1864

316

5

10

378

10

4

394

17

0

1.090

3

2

1865

345

6

10

437

19

10

464

7

8

1.247

4

4

1866

367

18

8

458

19

16

362

1

2

1.188

10

2

*(April – Dezember) Quelle: StdA Selm AB-1 99; Amtmann Hülskötter trug in seine Mitteilungen zur Hebestelle Ermen die Nettoeinnahmen und oft nur den Selmer Anteil ein. Diese Angaben wurden für die Jahre 1861 bis 1863 unter der Annahme hochgerechnet, dass der Pächter ebenfalls 15 Prozent der Bruttoeinnahmen erhielt. Bei den Werten für die Jahre 1864 bis 1866 handelt es sich um Bruttoeinnahmen, die Hülskötter 1868 auf Anforderung dem Landratsamt meldete (StdA Lüdinghausen 6–217).

135

StdA Selm, AB-1 99, Vertrag vom 11.2.1860 und Bürgschaft zu Gunsten des Pächters Berkenkamp vom 4.3.1860.

Eine Straße als kommunales Gemeinschaftsprojekt

237

In den ersten fünf Jahren wurden jährlich gut 1.000 Taler Chausseegeld eingenommen, danach etwas mehr. Die Pächter kamen an der Barriere Döttelbeck auf durchschnittliche Jahreseinkünfte von 60 Talern und in Bork auf 57 Taler. Eine überschlägige Rechnung ergibt für den Pächter in Ermen jährlich 45 bis 50 Taler. Die Nettoeinnahmen der Hebestellen flossen in die Gemeindekassen. Nach der ursprünglichen Idee sollte das Chausseegeld die Gemeinden in die Lage versetzen, die zum Unterhalt der Straße eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen. Eine Buchführung, die Einnahmen und Ausgaben für den laufenden Betrieb der Straße einander gegenüberstellt, gab es nicht. Im Amt Bork wurde aber die Akte „Lüdinghauser-Lünerstraße“ geführt,136 die vor allem Belege über Aufwendungen für den Unterhalt aus dem Jahr 1867 enthält, unter anderem Lohnabrechnungen für die Monate Januar bis November. 774 Taler wurden in diesem Zeitraum an Löhnen gezahlt, und die wichtigste Materialrechnung, die für Steine zum Unterhalt, endet mit einer Summe von 1.250 Talern. Mehr als 2.000 Taler mussten demnach 1867 aufgewendet werden, während der Anteil der Borker Amtsgemeinden an den Netto-Chausseegeldeinnahmen 1866 bei etwas weniger als 750 Talern lag. Da es keinen Hinweis gibt, dass das Jahr 1867 besonders aufwändig war, kann davon ausgegangen werden, dass der Unterhalt der Chaussee die Haushalte der Gemeinden Jahr für Jahr erheblich belastete. Bis Ende 1866 war die Chaussee von Lüdinghausen nach Lünen auch bezüglich der finanziellen Verwaltung eine Gemeindestraße. Das sollte sich mit Beginn des Jahres 1867 ändern, wie einer Mitteilung des Landrats an den Bürgermeister der Stadt Lüdinghausen zu entnehmen ist: „Da mit dem 1. Januar k.J. die Gemeindechausseen in die Unterhaltung des Kreises übergehen, und somit auch die Hebung des Chausseegeldes vom Kreise bewirkt wird, so wollen mir Ew. Wohlgeboren bis zum 5. Januar den Bestand der am 1. Januar c. noch nicht verausgabten Chausseezettel angeben, um der Gemeinde Stadt Lüdinghausen den Kostenbetrag erstatten zu können, da die Zettel vom Kreise übernommen werden.“137 8. Strukturelle Wirkung der Investition Konkurrenz von der Schiene bekam die Chaussee erst 1875, als die Dortmund-GronauEnscheder Eisenbahn eröffnete.138 Die beiden Verkehrswege dürften aber nicht in einen Verdrängungswettbewerb geraten sein. Vielmehr ist anzunehmen, dass sich Straße und Schiene in einem größer werdenden Markt für Transportdienstleistungen ergänzt und eine Zeit lang nebeneinander behauptet haben. Die Chaussee von Lüdinghausen nach Lünen sollte Teil eines auf die Bahnhöfe in Dortmund und Münster ausgerichteten Netzes sein. Durch die neue Bahnlinie wurden die Wege kürzer. Von Lünen nach Lüdinghausen verliefen die Schienen unweit der Chaussee, und die Bahnhöfe in Bork und Selm wurden nah der Straße gebaut. Personen und Güter kamen von den Bahnhöfen 136 137 138

StdA Selm, AB-1 101. StdA Lüdinghausen, 9–51, Schreiben vom 20.12.1866. Klaus-Dieter Walter Pomiluek, Heinrich Wilhelm Beukenberg. Ein Montanindustrieller seiner Zeit, Diss. Düsseldorf 2002, S. 36.

238

Dieter Gewitzsch

über die Chausseen aufs platte Land und umgekehrt. Die ausgebauten Straßen erhöhten „lediglich die Geschwindigkeit, nicht die Kapazitäten der Fuhrwerke“,139 sie taugten aber – verglichen mit der Bahn – eher zur Verteilung der Frachten in der Fläche. Später fanden die Automobile ein gut ausgestattetes Netz befahrbarer Wege vor, und „Mitte der 1920er Jahre entwickelte sich der Kraftverkehr ... vom Zubringer zum Konkurrenten der Bahn“.140 Die aktuellen Straßen (B 236 und L 835) folgen noch immer größtenteils der Trasse, die in den 1850er Jahren für die Chaussee festgelegt wurde. Allerdings wird der Verkehr, der damals in die Dörfer geholt werden sollte, heute mit kleineren Maßnahmen um die Ortskerne herumgeführt. Bork entlasten zwei südlich und östlich verlaufende Spangen; das Dorf Selm kann westlich umgangen werden. Auch in Lüdinghausen ist die alte Strecke nach Selm in Betrieb. In Lünen bewegt sich ein Großteil des Verkehrs von und nach Norden auf der ehemaligen Chaussee nach Bork und kreuzt dabei die Linie, die Mitte des 19. Jahrhunderts Gemeinden, Kreise und die Regierungsbezirke Arnsberg und Münster trennte. Damals sah man die Grenze durch den Wewelsbach markiert, einen Teil der Natur,141 der unverrückbar in der Landschaft lag. Heute sieht man diesen Wasserlauf nicht mehr, und die Grenzen wurden nach Norden verschoben. Links und rechts der alten Trasse entstanden großflächig Siedlungen. Immer wieder ausgebaut und angepasst, liegt die Straße, wo sie seither lag (Abb. 6). In Selm prägen die Entscheidungen der Chausseebaukommission über die Streckenführung in der Bauerschaft Beifang bis heute das Erscheinungsbild im Bereich der Kreisstraße. Diese macht einen eleganten Bogen um die Burg Botzlar, einen Schlenker, der im Kartenbild auffällt und einen Wiederkennungswert hat. Um 1909 wurde diese Situation aufgegriffen, als die Architekten Schulze aus Dortmund den ersten Bauabschnitt der Zechensiedlung Hermann nicht wie üblich auf die Bauten des Bergwerks ausrichteten, sondern die Straßen in Bögen um die Burg führten.142 Der kleinere, nach Westen weisende Chausseebogen erhielt sein östliches Gegenstück. Obwohl es sich um eine Bundesstraße handelt, wird die Kreisstraße in Selm größtenteils vom innerörtlichen Verkehr beansprucht. Auch deshalb sind die in den 1970er und 1980er Jahren geführten Debatten um eine Streckenführung abseits der Siedlungskerne nicht über das Planungsstadium hinausgekommen. Damals suchte man eine große

139

140

141 142

Lisa Tschorn, Die Entstehung des westfälischen Eisenbahnnetzes bis 1885, http://www.lwl.org/LWL/ Kultur/Westfalen_Regional/Verkehr/Bahn/Eisenbahnnetz_1885 (2010). Christian Hübschen, Stilllegungen von Eisenbahnstrecken in Westfalen, http://www.lwl.org/LWL/Kultur/ Westfalen_Regional/Verkehr/Bahn/Eisenbahn_Stilllegungen (2010). LAV NRW W, Regierung Münster, Abt. II-13–92, Bl. 83. Kristiana Hartmann/Bettina Heine-Hippler, D&K Schulze 1901–1929. Dortmunder Architekten, Bd. 1, hg. von der Stadt Dortmund, Dortmund 1989, S. 39.

Eine Straße als kommunales Gemeinschaftsprojekt

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Abb. 6: Botzlar heute (Topographisches Informationsmanagement Nordrhein-Westfalen © Geobasis NRW)

240

Dieter Gewitzsch

Lösung,143 aber das Vorhaben scheiterte an der Einsicht, dass eine neue Trasse die bestehende Strecke nicht in ausreichendem Maße entlasten würde. Heute sucht man sich mit der Bundestraße im Ort zu arrangieren. Alle Baumaßnahmen zielen auf die Vereinbarkeit der Straße mit Aspekten der Stadtentwicklung. Die B 236 soll den gesetzlich zulässigen Verkehr bewältigen, aber „stadtverträglich“ gestaltet sein.144 Angesichts einer Frequentierung von 16.000 Fahrzeugen pro Tag ist das jede Mühe wert.

143 144

Vgl. Generalverkehrsplan für die Stadt Selm, 1979. Mündliche Auskünfte von Lothar Unrast, Stadtwerke Selm, 2013.

Markus Köster

Fotografien von Front und Heimatfront − Der Erste Weltkrieg in Bildsammlungen aus Westfalen 1. Einleitung: Fotografien als Medien eines industrialisierten Krieges „Zu den Dokumenten von besonderer Genauigkeit, wie sie erst seit kurzer Zeit zur Verfügung stehen, gehören die Lichtbilder, von denen sich im Kriege ein großer Vorrat angesammelt hat. Neben den Mündungen der Gewehre waren Tag für Tag die optischen Linsen auf das Kampfgelände gerichtet . . . . Das Leben der Krieger in den Ruheorten, den Reservestellungen und der Kampfzone, die Arten der Vernichtungsmittel und der Anblick der durch sie bewirkten Zerstörung am Menschen, an seinen Werken und Siedlungen und an der Natur, das Gesicht des Schlachtfeldes in seiner Ruhe und in der höchsten Steigerung seiner Bewegung, so wie es sich dem Beobachter aus den Gräben und Trichtern oder von der Höhe des Fluges aus darstellte −, alles dies ist erfaßt und für spätere Zeiten erhalten“.1 Mit diesen Sätzen bewertete Ernst Jünger, einer der profiliertesten Vertreter der Neuen Rechten in der Weimarer Republik, 1930 in der Einleitung des von ihm herausgegebenen Bildbandes „Das Antlitz des Krieges“ die Rolle der Fotografie im Ersten Weltkrieg. Schon die Zeitgenossen waren, wie Ernst Jüngers Worte eindrucksvoll belegen, der Ansicht, dass das Völkerschlachten der Jahre 1914 bis 1918 nicht nur den ersten industrialisierten,2 sondern auch den ersten „mediatisierten Krieg“3 der Geschichte darstellte. Neben der Nutzung zahlreicher neuer Industriewaffen, vom Maschinengewehr über Handgranaten bis zum Panzer, sowie moderner Transport- und Kommunikationstechnik (Lastwagen, Flugzeuge, Telefone) prägten auch der Einsatz der Fotografie und − in Ansätzen − des Films das neue „Antlitz des Krieges“. Dementsprechend findet sich heute in Archiven, privaten Beständen, Publikationen und zunehmend auch im Internet eine Vielzahl von Fotografien, die den Ersten Weltkrieg und seine visuelle Deutung an Front und Heimatfront dokumentieren. Solche bildlichen Quellen erlauben es, wie inzwischen eine Reihe von ertragreichen Studien zur

1

2

3

Ernst Jünger, Krieg und Lichtbild, in: ders.(Hg.), Das Antlitz des Weltkrieges. Fronterlebnisse deutscher Soldaten, Berlin 1930, S. 9-11. Vgl. Rolf Spilker/Bernd Ulrich (Hg.), Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914-1918. Bramsche o. J. [1998]. Paul Virilio, zit. nach Gerhard Paul, Bilder des Krieges. Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn 2004, S. 108.

242

Markus Köster

Fotogeschichte dieses Krieges bewiesen haben,4 auch die Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg um eine Perspektive der Visual History zu erweitern. Dieses Konzept hat in Deutschland vor allem der Flensburger Historiker Gerhard Paul bekannt gemacht.5 Er beschreibt und fordert damit die Wahrnehmung und Beachtung visueller Produktionen und Praktiken durch die geschichtswissenschaftliche Zunft, insbesondere durch die Sozial- und Zeitgeschichte, die das lange sträflich vernachlässigt habe. Unter anderem geht es der Visual History nach Paul um die „Rolle der Bilder bei der historischen Sinnstiftung“.6 Bilder sind eben nicht einfach Abbildungen der Realität: „Das Rechteck der Fotografie arbeitet keineswegs wie ein unschuldiges, unbeteiligtes Auge. Der Fotograf wählt aus, inszeniert, arrangiert, er bestimmt Ort und Zeitpunkt der Aufnahme, er wählt den Blickwinkel, er arbeitet das Bild aus, beschriftet es und reicht es weiter“,7 formuliert Anton Holzer. Damit verbunden ist immer eine Deutungsabsicht − Fotografien sind Medien sozialer Selbstvergewisserung. Die Art der Darstellung von Ereignissen, Menschen und Objekten, die Formen, in denen Bilder verwendet, präsentiert, rezipiert und überliefert werden, all das gibt Auskunft über politische, kulturelle und sozialmoralische Standpunkte, Selbst- und Fremdbilder, Normen und Tabus in Gesellschaften. Dieser Aufsatz möchte anhand verschiedener Fotosammlungen, die im Bildarchiv des LWL-Medienzentrums für Westfalen überliefert sind, analysieren, welchen Quellenwert speziell das Medium Fotografie nicht nur, aber auch unter regionalhistorischer Perspektive für die Geschichte des Ersten Weltkriegs einnehmen kann. Erkenntnisleitende Fragen sind: – Wie, unter welchen Bedingungen und mit welchen Intentionen entstanden die überlieferten Fotografien bzw. Fotosammlungen? – Was zeigen sie vom Krieg, was blenden sie aus? – Wie ist ihre Bildsprache? In welchen Traditionen steht diese? – Welche typischen Plots und Narrative lassen sich aus den Bildern herauslesen? – Welche Funktionen und Wirkungen hatten die Fotos im Krieg selbst und welche in der Erinnerungskultur nach dessen Ende?

4

5 6 7

Neben den frühen Arbeiten von Bodo von Dewitz („So wird bei uns der Krieg geführt!“ Amateurfotografie im Ersten Weltkrieg, München 1989) und Bernd Hüppauf (Fotografie im Ersten Weltkrieg, in: Spilker/Ulrich (Hg.), Tod als Maschinist, S. 109-122) sowie der hervorragenden Überblickstudie von Paul, Bilder des Krieges, S. 103-171, seien ausdrücklich genannt Anton Holzer, Den Krieg sehen. Zur Bildgeschichtsschreibung des Ersten Weltkriegs, in: ders. (Hg.), Mit der Kamera bewaffnet. Krieg und Fotografie, Marburg 2003, S. 57-70; ders., Die andere Front. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Darmstadt 2007; Christine Brocks, Welt des Krieges. Bildpostkarten aus dem Ersten Weltkrieg 1914-1918, Essen 2008 und Sandra Oster, Das Gesicht des Krieges. Der Erste Weltkrieg im Foto-Text-Buch der Weimarer Republik, in: Fotogeschichte 30 (2010), H. 116, S. 23-32. Vgl. grundlegend Gerhard Paul (Hg.), Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006. Ders., Von der Historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einführung, in: ebd., S. 7-36, hier S. 7. Holzer, Die andere Front, S. 15.

Fotografien von Front und Heimatfront − Der Erste Weltkrieg in Bildsammlungen aus Westfalen

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2. Zu Entwicklung und Funktion der Kriegsfotografie Die Geschichte der Kriegsfotografie beginnt keineswegs erst 1914. Schon im Krimkrieg (1850-1953) und dann vor allem im amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) hielten Fotos in zum Teil schonungsloser Offenheit die Schrecken eines modernen Krieges fest.8 In den deutschen Einigungskriegen dominierten allerdings noch weitgehend das jahrhundertealte Genre der Kriegsmalerei sowie Holzschnitte und -stiche in Büchern das öffentliche Bild vom Krieg. Das hatte technische wie kulturelle Gründe. Technisch war die Fotografie bis Ende des 19. Jahrhunderts nur bedingt kriegstauglich: Die Kameras waren schwer und unhandlich, die Belichtungszeiten lang, was Bewegungsaufnahmen nahezu ausschloss, und die damaligen Fototräger, feuchte kollodiumbeschichtete Glasplatten, mussten sofort in nassem Zustand entwickelt werden, so dass die ersten Kriegsfotografen – z. B. der Brite Roger Fenton im Krimkrieg – komplette Dunkelkammern mit sich transportierten.9 Kulturell stand einer raschen Durchsetzung der Fotografie die lange Tradition der Kriegsmalerei entgegen, die zumindest in Europa noch bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts als Medium der Wahl in der Darstellung von Kriegen galt und etwa in den deutschen Einigungskriegen mit Genrebildern wie Anton von Werners „Im Etappenquartier vor Paris (24. Oktober 1870)“ ein weitgehend aseptisches, blut- und leidfreies sowie eigentümlich „kultiviertes“ Bild des Krieges und seiner Soldaten vermittelte.10 Auch die fotografischen Ablichtungen jener Kriege hielten sich in aller Regel an die Genrekonventionen der Malerei und inszenierten den Krieg als vorindustrielle Schlachtfeldidylle.11 Das änderte sich 1914 und zwar wiederum aus technischen wie kulturellen Gründen. Technisch revolutionierten im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts gleich eine Reihe von Erfindungen die Fotografie: Mit dem Trockenplattenverfahren, der stativlosen Plattenkamera und vor allem der von George Eastman entwickelten Kodak-Rollfilm-Kamera, die leichter, einfacher bedienbar und billiger war als die herkömmlichen Plattenapparate und deren Filme komplett ins Labor eingeschickt wurden („You push the button, we do the rest“), konnten jetzt neben professionellen Fotografen auch Amateure „ihren“ Krieg ablichten.12 Zudem wurde 1880 die Autotypie bzw. Rastertechnik erfunden, so dass es nun möglich war, Fotografien in Zeitungen und anderen Druckpublikationen zu reproduzieren statt sie wie zuvor aufwändig über ein Holzschnittverfahren zu transformieren.

8

9 10

11

12

Vgl. das bei Paul, Bilder des Krieges, S. 96 abgedruckte Foto von Timothy O’Sullivan, A harvest of Death, Gettysburg 1863. Vgl. das Foto „The Artist’s Van“, abgedruckt in: Paul, Bilder des Krieges, S. 87. Abgedruckt ebd., S. 56. Ungleich realistischer und weniger heroisierend hielt übrigens von Werners Zeitgenosse und Malerkollege Adolph von Menzel in seinen Bildern den Krieg fest. Für diesen und weitere Hinweise danke ich meinem Kollegen Dr. Volker Jakob. Vgl. Frank Becker, Die „Heldengalerie“ des einfachen Soldaten. Lichtbilder in den deutschen Einigungskriegen, in: Holzer (Hg.), Mit der Kamera, S. 39-56. Vgl. Brocks, Welt des Krieges, S. 88 f.

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Darin lag eine wesentliche Voraussetzung für das Entstehen von Illustrierten, die sich bis 1914 schon einen erheblichen Marktanteil auf dem Medienmarkt erobern konnten.13 Kulturell traf die Fotografie am Beginn des 20. Jahrhunderts den Nerv der Zeit, konkret eine Stimmung, die Bernd Hüppauf als „Realismusideologie eines positivistisch denkenden Zeitalters“ charakterisiert hat.14 Gerade wegen der Unübersichtlichkeit des industrialisierten Krieges, der in eine Vielzahl von Fronten und Einzelschlachten zerfiel, wuchs der Wunsch nach Realismus, Objektivität und Authentizität. Und genau dies schien die Fotografie zu bieten. So schrieb Josef Rieder 1915 in einem Aufsatz über „Die Fotografie im Kriege“: „Das große Publikum will heute schon keine gezeichneten Phantasiebilder aus dem Felde mehr, es will die Dinge sehen, wie sie in Wirklichkeit sind . . . . Das ist kaum eine vorübergehende Kriegserscheinung – hier findet eine Geschmacksumbildung der Massen statt.“15 Vor diesem Hintergrund erlebte die Fotografie und speziell die Amateurfotografie im Ersten Weltkrieg einen enormen Aufschwung. Der Krieg wurde zum „visuellen Kampfplatz“.16 Aus quellenkritischer wissenschaftlicher Sicht sind Fotografien − wie gesagt − keine „untrüglichen“ Abbilder der Wirklichkeit, sondern Zeichen, deren Bedeutung sich erst im Diskurs zwischen Sender und Empfänger konstituiert. „Sie erzählen“, so Anton Holzer, nicht nur vom ,Objekt‘ vor der Kamera, sondern geben auch Aufschluss über Blickweisen und Wahrnehmungsformen hinter der Kamera“.17 Mit dem Philosophen Jean Paul Sartre gesprochen: „Das Bild ist ein Akt und kein Ding“.18 Entsprechend gilt es, den Blick auf die Bedeutung von Fotografien im Kommunikationsprozess zu richten und zum einen nach den Intentionen ihrer Hersteller und Verbreiter, zum anderen nach ihrer Rolle im Prozess der Deutung von Gegenwart und Vergangenheit zu fragen. Für den Ersten Weltkrieg lassen sich idealtypisch vier Hauptfunktionen der Fotografie skizzieren: – Propaganda/Mobilisierung: Zur Modernität des Ersten Weltkriegs gehörte, dass erstmals in der Geschichte des Krieges die Beeinflussung der öffentlichen Meinung entscheidende Bedeutung für die Kriegsführung gewann.19 Die Fotografie war dabei von Beginn an ein wichtiges, wenn nicht das wichtigste Medium, wenn es darum ging, den Krieg als heroische, gerechte und vor allem siegreiche Sache zu präsentieren und zu glorifizieren. Das galt sowohl nach innen zur propagandistischen Mobilisierung der eigenen Bevölkerung als auch nach außen, gewisserma-

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Vgl. Bernd Weise, Fotojournalismus Erster Weltkrieg – Weimarer Republik, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Deutsche Fotografie. Macht eines Mediums 1870-1970, Bonn/ Köln 1997, S. 72-87, hier S. 72. Bernd Hüppauf, Kriegsfotografie und die Erfahrung des Ersten Weltkriegs, in: Barbara Naumann (Hg.), Vom Doppelleben der Bilder. Bildmedien und ihre Texte, München 1993, S. 29-50, hier S. 30. Zit nach ebd., S. 30. Paul, Bilder des Krieges, S. 106; vgl. Hüppauf, Fotografie, S. 116. Holzer, Die andere Front, S. 325. Zit nach Gerhard Paul, Das Jahrhundert der Bilder. Die visuelle Geschichte und der Bildkanon des kulturellen Gedächtnisses, in: ders. (Hg.), Das Jahrhundert der Bilder 1909 bis 1949, Göttingen 2009, S. 14-39, hier S. 28. Vgl. Paul, Bilder des Krieges, S. 104 f.

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ßen transnational: Bilder von überlegener Technik und siegesgewissem militärischem Personal sollten neutrale Staaten für die eigene Sache gewinnen und die Bevölkerung im Feindesland einschüchtern und demotivieren. – Beruhigung: Ähnlich wichtig war die psychologische Rolle der Fotografie als eine Art „kommunikativer Tranquilizer“: Fotografien in Zeitungen und Zeitschriften und vor allem Millionen von Bildpostkarten, die die visuelle Kommunikation zwischen Front und Heimat sicherten, dienten dazu, den Soldaten das Bild einer treuen und organisierten Heimatfront und den Daheimgeblieben das Wohlergehen und den erfolgreichen Kampf der Frontkämpfer zu signalisieren.20 – Militärische Verwendung: Erstmals wurde die Fotografie im Ersten Weltkrieg für unmittelbar militärische Zwecke eingesetzt. Speziell die Luftbildfotografie, egal ob mittels Flugzeug, Luftschiff, Fesselballon oder gar Brieftaube aufgenommen, gewann im Stellungskrieg an der Westfront zur Aufklärung über das Verhalten des Feindes und zur Steuerung der Artillerie enorme Bedeutung.21 – Erinnerung: Von Beginn des Krieges an war die Fotografie auch in den Dienst der Erinnerungssicherung gestellt. Soldaten schickten ihre Fotos mit dem Hinweis nach Hause, sie für die kommende Friedenszeit aufzubewahren; das 1917 von der Obersten Heeresleitung gegründete Bild- und Filmamt (BUFA) strickte schon während des Krieges an der Legendenbildung des unbesiegten deutschen Heeres, und auch an der „Heimatfront“ hielten Fotografen in öffentlichem Auftrag oder aus eigener Initiative den Kriegsbeitrag der Heimat für die Nachwelt fest. Nach 1918 übernahmen Fotografien eine wichtige Rolle in jenem „Krieg der Erinnerung“, der in der Weimarer Republik um die Deutung des Ersten Weltkriegs tobte. 3. „Westfälische“ Blicke auf den Ersten Weltkrieg – eine Sammlungsanalyse Im Folgenden sollen exemplarisch vier den Ersten Weltkrieg betreffende Sammlungsformate aus dem Bildarchiv des LWL-Medienzentrums für Westfalen vorgestellt und hinsichtlich ihrer Funktionen eingeordnet werden. – Private Amateurfotografien von Front und Etappe – Eine Fotosammlung im Kontext der Luftaufklärung – Dokumentationen des Kriegsalltags an der westfälischen „Heimatfront“ – Unterrichtsbildreihen zur Vermittlung des Krieges im Schulunterricht.

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Vgl. Brocks, Welt des Krieges. Zur Bedeutung der Verbindung zwischen Front und Heimatfront allgemein auch Wolfgang J. Mommsen, Kriegsalltag und Kriegserlebnis im Ersten Weltkrieg, in: ders., Der Erste Weltkrieg. Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters, Bonn 2004, S. 137-154, hier S. 144-146. Vgl. Anton Holzer, Das fotografische Gesicht des Krieges, in: ders. (Hg.), Mit der Kamera, S. 7-20, hier S. 10 und S. 16; Manuel Köppen, Luftbilder. Die Medialisierung des Blicks, in: Paul (Hg.), Jahrhundert der Bilder, S. 180-187; Paul, Bilder des Krieges, S. 115.

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3.1. Mit der Kamera an der Front – Die Sammlung Schirrmann 13 Millionen Deutsche, mehr als die Hälfte der männlichen Bevölkerung zwischen 16 und 60 Jahren, fanden sich im Ersten Weltkrieg „Tod, Verwundung und Vergiftung, Trommelfeuer, Stellungskrieg und Unterstandsleben ausgesetzt“.22 Diese millionenfachen Kriegserfahrungen hinterließen massenhaft fotografische Spuren. Einer von denen, die 1914 mit der Kamera an die Front zogen, war der 1874 als Sohn einer Lehrerfamilie in Ostpreußen geborene und 1961 gestorbene Richard Schirrmann.

Abb. 1: Richard Schirrmann (1874–1961) als Soldat im Ersten Weltkrieg. Atelierfoto, Elsass ca. 1915 (Sammlung Schirrmann/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

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Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten: 1914-1949, München 2003, S. 70.

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Der natur- und wanderbegeisterte Pädagoge hatte 1909 im sauerländischen Altena, wo er seit 1903 als Volksschullehrer tätig war, die erste Jugendherberge der Welt eingerichtet. Aus diesen Anfängen entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten unter der Ägide Schirrmanns und seines Mitstreiters Wilhelm Münker ein weltumspannendes Netz von Jugendherbergen, das bis heute existiert.23 Im Frühjahr 2008 übernahm das LWL-Medienzentrum für Westfalen aus Anlass des bevorstehenden 100. Geburtstags des Jugendherbergswerks von Schirrmanns jüngster Tochter Gudrun als Depositum eine Fotosammlung mit ca. 1.600 Glasnegativplatten, 150 Glaspositiven und über 100 Kleinbildfilmen aus den Jahren 1900 bis 1960.24 Obwohl längst nicht alle Fotografien des Nachlasses von ihm selbst stammen, scheint Richard Schirrmann seit jungen Jahren ein eifriger Fotoamateur gewesen zu sein, für den die Kamera „ein wichtiger und ständiger Begleiter“ war.25 Nach der Kategorisierung von Timm Starl gehörte er wohl zur Gruppe der soldatischen „Knipser“, für die die Fotografie primär eine biographisch-identitätsstiftende Funktion besaß,26 und denen es mithin – so Bernd Hüppauf − weniger darum ging, „,den‘ Krieg, als ihre Erfahrungen in diesem Krieg abzubilden“.27 Inhaltliche Schwerpunkte der Sammlung bilden zum einen Familienmotive und Landschaftsporträts aus Ostpreußen und Altena, zum anderen das Jugendwandern und die frühe Jugendherbergsbewegung. Immerhin rund 365 Aufnahmen, durchweg auf Glasplatten, entstanden aber während seiner Militärzeit im Ersten Weltkrieg. Obwohl schon 40 Jahre alt, hatte sich Schirrmann 1914 unmittelbar nach Kriegsausbruch freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet und war dem Landsturmbataillon Siegen zugewiesen worden. Noch 1914 wurde er mit seiner Einheit an die Westfront versetzt, wo dem Bataillon die Grenzsicherung des nach dem Krieg von 1870/71 annektierten „Reichslandes Elsass-Lothringen“ in den Vogesen oblag, nachdem die Franzosen dort schon in den ersten Kriegswochen eine − rasch gescheiterte − Offensive gestartet hatten. Schirrmann selbst scheint überwiegend in der Bataillonsverwaltung eingesetzt worden zu sein, leistete aber zeitweise auch Wachdienst in den befestigten Grenzanlagen. Erst in den letzten Kriegsmonaten wurde er mit seiner Einheit nach Ostflandern versetzt, auch dort entstanden noch einige Fotografien. Richard Schirrmann war also überwiegend nicht in vorderster Linie des Stellungskrieges eingesetzt. Möglicherweise gab ihm das Zeit und Gelegenheit, sich auch als Soldat seinem Hobby zu widmen. Einen Teil der Bilder ließ er vor Ort entwickeln und nutzte sie entweder als Bildpostkarten oder schickte sie mit dem Vermerk „für meine Mappe“ nach Hause.28 So hinterließ er über 350 Fotografien aus seiner Kriegszeit. Auch als Auftragsfotograf scheint sich Schirrmann betätigt zu haben; dies zeigt eine Reihe 23

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Vgl. dazu Barbara Stambolis/Jürgen Reulecke (Hg.), 100 Jahre Jugendherbergen. Anfänge − Wandlungen − Rück- und Ausblicke, Essen 2009. Bildarchiv des LWL-Medienzentrums für Westfalen, Sammlung 07: Nachlass Richard Schirrmann. Vgl. dazu schon Anikó Scharf, Richard Schirrmanns Bilderwelt: Annäherungen an seinen Fotonachlass, in: Stambolis/Reulecke (Hg.), 100 Jahre Jugendherbergen, S. 337-356. Ebd., S. 338. Vgl. Timm Starl, Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1989, München 1995. Hüppauf, Fotografie, S. 114. Scharf, Bilderwelt, S. 342.

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von sorgfältig arrangierten Einzel- und Gruppenporträts, die offenbar auf Wunsch der Porträtierten entstanden und für diese repräsentative Funktionen erfüllten.29 Die inhaltliche Erschließung des Nachlasses wurde dadurch sehr erleichtert, dass Schirrmann die meisten der Fotos abziehen ließ, rückseitig beschriftete und nach dem Krieg in Fotoalben klebte. Die Beschriftung gibt in vielen Fällen Aufschluss über abgebildete Orte, Personen und Aktivitäten. In seiner Motivik bildet der Schirrmann-Bestand ein typisches Beispiel privater Kriegsfotografie, die die eigenen Erfahrungen an der Front und in der Etappe des Ersten Weltkriegs festhalten sollte. Wie bei vielen anderen vergleichbaren Sammlungen lassen sich auch im Kriegsnachlass Schirrmann verschiedene typische Motivgruppen festmachen: Chronologisch am Anfang stehen einige Bilder, die ganz zu Beginn des Krieges noch in Altena entstanden. Sie rücken die Mobilmachung und das schon zeitgenössisch stark mystifizierte „Augusterlebnis“30 nationaler Begeisterung im Sommer 1914 ins Bild, zeigen ein aus der Vogelperspektive von der Burg Altena aus fotografiertes Menschengewimmel am Ufer der Lenne, flanierende Menschen auf der Straße und abfahrende Soldatenzüge, die von einer winkenden Menschenmenge verabschiedet werden. Eines der Fotos hat Schirrmann mit „Das Volk steht auf“ betitelt. Der Rekurs auf Theodor Körners in der Zeit der Befreiungskriege entstandene Gedichtzeile ist wie die Motivwahl selbst, die ja keineswegs die einhellige Grundstimmung der deutschen Bevölkerung spiegelte,31 ein deutlicher Hinweis auf Schirrmanns patriotisch-kriegsbejahende Gesinnung am Beginn des Ersten Weltkriegs. Drei weitere Aufnahmen aus den ersten Kriegswochen lichten Landsturmmänner, noch in Zivil, aber schon bewaffnet, bei einer „Schienenkontrolle“ sowie einer „Kaffeepause“ ab (Abb. 2). Zur Gruppe der Altena-Bilder gehört auch ein Foto, das während eines Heimaturlaubs um 1917 entstand. Im Zentrum des Gruppenporträts sitzen Richard Schirrmanns Eltern, neben und hinter ihnen sind seine beiden Schwestern, seine Ehefrau und seine Tochter postiert, während Richard Schirrmann selbst nur knapp im Bild ist und etwas angespannt in die von ihm offenbar per Selbstauslöser bediente Kamera schaut (Abb. 3).

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Zu Produktion und Verkauf von Bildern durch Amateurfotografen an der Front vgl. Brocks, Welt des Krieges, S. 47 f., 92 f. Zu diesem Mythos vgl. Mommsen, Kriegsalltag, S. 137-139 und Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 14-17. Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 16 f.

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Abb. 2: Der Landsturm in Altena im August 1914, ganz rechts Richard Schirrmann (Sammlung Schirrmann/ LWL-Medienzentrum für Westfalen)

Abb. 3: Richard Schirrmann auf Heimaturlaub mit seiner Familie, Altena ca. 1917 (Sammlung Schirrmann/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

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Eine zweite kleine Motivgruppe stellen fünf Einzelporträts dar, die im Dezember 1915 in einem Atelier in Elsass-Lothringen gefertigt und als Bildpostkarten genutzt wurden. Auf ihnen ist jeweils vor typischer Studiokulisse Richard Schirrmann in verschiedenen Formaten, Uniformen und Posen abgebildet. Am eindrucksvollsten sind zwei Ganzkörperporträts, die ihn einmal im Mantel mit einem Schäferhund zu seinen Füßen (Abb. 1) und einmal in Ausgehuniform mit neben dem Fuß aufgesetzten Gewehr darstellen. Selbstbewusst blickt er in die Kamera und damit unmittelbar auf den Betrachter des Bildes. Das konventionelle motivische Arrangement32 und die Verwendung der Fotos als Postkarten zur Kommunikation mit der Heimat sind eindeutige Indizien dafür, dass Schirrmann – wie Millionen andere Männer − von sich das Bild eines selbstbewussten und kampfbereiten deutschen Soldaten vermitteln wollte. Die größte Motivgruppe bilden Gruppenporträts, zumeist Kameradenfotos, vor unterschiedlichen Hintergründen: vor oder im Unterstand, auf freiem Feld und auch vor touristischen Motiven (Abb. 4). Manche der Aufnahmen sind in Aufstellung, Posen und Accessoires sorgfältig arrangiert, andere scheinen eher zufällig entstanden zu sein. Die Zahl der Porträtierten schwankt zwischen drei und mehreren Dutzend, zum Teil scheint Schirrmann auf deren Wunsch hin auch fremde Truppenteile porträtiert zu haben. All diese Kameradenfotos dienten letztlich in aller Regel der „Gemeinschaftsinszenierung“, sie sollen das gemeinschaftliche männerbündische Fronterlebnis und die Solidarität der Frontgemeinschaft beglaubigen und die Erinnerung an die jeweiligen Kameraden im Bild festhalten, die – so ist zu vermuten – sämtlich einen Abzug der Porträts erwarben. Als Sondergruppe innerhalb der Porträtfotografien lassen sich sieben Gruppenporträts einordnen, die britische Kriegsgefangene abbilden. Solche Gefangenenaufnahmen werden von der Forschung gemeinhin als „Trophäenfotos“ klassifiziert.33 Allerdings hat man bei den Schirrmann-Fotografien keineswegs den Eindruck, dass die Briten als „Beute“ vorgeführt werden. Im Gegenteil: Selbstbewusst stellen sie sich vor dem Fotografen in Positur. In drei Fällen haben sich Gruppen von Gefangenen in Uniform sogar sorgfältig vor Schirrmanns Kamera aufgebaut, einmal mit ihren Musikinstrumenten auf einer provisorischen Bühne, einmal sogar mit dem Wappen ihrer East-Lancashire-Division, was die Vermutung einer Auftragsfotografie nahe legt. (Abb. 5)34

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Vgl. zu den typischen Mustern solcher Atelier-Soldatenporträts Brocks, Welt des Krieges, S. 58-62. Vgl. Holzer, Die andere Front, S. 166-189; Thomas Flemming, Zwischen Propaganda und Dokumentation des Schreckens. Feldpostkarten im Ersten Weltkrieg, in: Matthias Karmasin/Werner Faulstich (Hg.), Krieg – Medien – Kultur. Neue Forschungsansätze, München 2007, S. 67-88, hier S. 80 f. Da die 42nd East Lancashire Infantry Division in den ersten Kriegsjahren in Arabien und erst seit Ende 1917 an der Westfront eingesetzt war (siehe en.wikipeida.org/wiki/42nd_(East_Lancashire)_Division), dürften die Aufnahmen 1918 in Flandern entstanden sein, wo auch Schirrmanns Einheit im letzten Kriegsjahr stationiert war.

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Abb. 4: Abendfreizeit in der „Baracke auf Pflanzschule“ – Inszenierte Gruppenfotografie, März 1916 (Sammlung Schirrmann/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

Abb. 5: Britische Kriegsgefangene mit dem Wappen ihrer Einheit, ca. 1918 (Sammlung Schirrmann/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

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Wie fast alle vergleichbaren Bestände von Amateurfotografen entstanden auch Schirrmanns Kriegsfotos in der Ruhestellung und „konnten damit nicht mehr dokumentieren als den Alltag der Soldaten zwischen den Kampfphasen“.35 Die Ablichtung von Kampfhandlungen wäre schon technisch kaum möglich gewesen, zumal Schirrmann mit einer Glasplattenkamera fotografierte, die sich für „Schnappschüsse“ nicht eignete. Ein mit „Anmarsch auf die Stellungen am Chaume de Lusse“ betiteltes Foto (Abb. 6) wirkt nur auf den ersten Blick, als sei es während eines Gefechts entstanden. Zwar liegen die meisten Soldaten am Boden, doch ein Offizier steht seelenruhig aufrecht vor ihnen und auch die Position des Fotografen schließt eine Kampfsituation aus. Allerdings finden sich einige Fotos, die die Härte des Kriegseinsatzes auch im eher ruhigen VogesenFrontabschnitt andeuten, vor allem jene, die Schirrmann und seine Kameraden beim Wachdienst am tiefverschneiten Berg Chaume de Lusse zeigen. In offenbar klirrender Kälte harren sie mit betont entschlossenen Mienen vor und in ihren Stellungen aus (Abb. 7). Auf mehreren anderen Fotos posieren die Soldaten an deutsch-französischen Grenzsteinen und demonstrieren so ihre Bereitschaft zur Verteidigung des Vaterlandes. Ähnliche Botschaften signalisieren Aufnahmen sorgfältig errichteter Stacheldrahtbarrikaden und eines ebenso akkurat angelegten, aber menschenleeren Schützengrabens. Auffällig ist, dass bestimmte, in vergleichbaren Sammlungen dominante Motivgruppen bei Schirrmann nicht vorkommen. So fehlen – bis auf wenige Ausnahmen − sowohl Abbildungen moderner Kriegstechnik als auch solche der Zerstörungen, die diese anrichtete.36 Auch das dürfte zum Teil dem Einsatzgebiet Schirrmanns geschuldet sein, wahrscheinlich spiegelt es aber auch die fehlende Technikaffinität des naturverbundenen Pädagogen wider. Nur ein einziges Mal hat Schirrmann ein zerstörtes Gebäude fotografiert, vor dem sich eine Menschenmenge versammelt hat, zwei weitere Bilder dokumentieren „Gefechtsschäden“ in einem Bergwald. Bei einem anderen Foto, das eine unspektakuläre gebirgige Waldlandschaft ablichtet, enthüllt erst die Bildunterschrift „Blick auf den Bois de Chena, während der Beschießung am 12./13.2.1916“ den kriegerischen Kontext.37

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Brocks, Welt des Krieges, S. 94. Zu den blinden Flecken der Soldatenfotografie des Ersten Weltkriegs vgl. Hüppauf, Fotografie, S. 116 f. Vgl. zu diesen Motivgruppen: Brocks, Welt des Krieges, S. 105-109 und 111-114. Das Foto ist im Online-Bildarchiv Westfalen nicht verfügbar, aber abgedruckt bei Scharf, Bilderwelt, S. 354.

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Abb. 6: „Anmarsch auf die Stellungen am Chaume de Lusse“, Vogesen März 1915 (Sammlung Schirrmann/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

Abb. 7: Wachdienst am Berg Chaume de Lusse, Vogesen ca. 1915 (Sammlung Schirrmann/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

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Wesentlich mehr Raum nehmen Aufnahmen von Arbeitseinsätzen ein, die im engeren oder weiteren Kontext des Auftrags der Grenzsicherung standen: Sie zeigen die Befestigung und den Bau von Stellungen, Wegen und Unterständen, inklusive dazu nötiger Tätigkeiten wie Holzfällen und Holztransport, die Reparatur von Hochspannungsleitungen und Zäunen, aber auch landwirtschaftliche Tätigkeiten wie die Heu- und Kartoffelernte sowie das Schlachten eines Schweines (Abb. 8). Überhaupt dreht sich ein Gutteil der Fotografien um das Essen,38 denn die Mahlzeiten und deren Zubereitung nahmen natürlich einen erheblichen Teil der soldatischen Freizeit ein. Die Ablichtung solcher Motive und ihr Versand in die Heimat erfüllten zudem den wichtigen Zweck zu signalisieren, dass die Versorgungssituation an der Front gesichert war. Eine ähnliche Funktion hatten Bilder, die die tägliche Hygiene und das gesellige Beisammensein darstellen, z. B. das gemeinsame Rasieren, Kartenspielen und Musizieren. Relativ häufig hat Schirrmann seine Kameraden in ihren mehr oder minder provisorischen Unterkünften porträtiert. Dabei fällt auf, dass die verschiedenen Baracken und Unterstände keineswegs „behaglich“, „aufgeräumt und sauber“ erscheinen und eine „gutbürgerliche, gepflegte Umgebung“ konnotieren, wie dies in anderen Sammlungen der Fall ist.39 Vielmehr sind selbst in hoch inszenierten Bildern wie jenen, die die Abendgestaltung festhalten, die drangvolle Enge, die materiellen Entbehrungen und auch die psychischen Anspannungen sichtbar, die die Soldaten an der Front erleben mussten. Besonders ins Auge sticht eine Abbildung, auf der man vier unrasierte Soldaten in einem unwirtlichen, unaufgeräumten und verschmutzten Unterstand sieht (Abb. 9). Die Gesichter der Männer offenbaren frappant deren tiefe körperliche Erschöpfung und seelische Bedrückung – und damit die existenziellen Kriegserfahrungen einer ganzen Generation.40 Fotos von Verwundeten fehlen hingegen in der Sammlung, nur eine fast skurril wirkende Detailaufnahme einer offenbar neugefertigten Unterarmprothese spiegelt zumindest mittelbar die blutige Realität des Krieges.

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Zu Darstellungen rund um Essen und Hygiene im Feld vgl. Brocks, Welt des Krieges, S. 127. Vgl. ebd., S. 102 f. und S. 129 sowie Paul, Bilder des Krieges, S. 120. Zu diesen Fronterfahrungen und ihren lang andauernden Wirkungen vgl. Mommsen, Kriegsalltag, S. 139-154 und Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 102-106.

Fotografien von Front und Heimatfront − Der Erste Weltkrieg in Bildsammlungen aus Westfalen

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Abb. 8: Soldaten mit geschlachtetem Schwein auf einem Hof in Oberschaeffolsheim/ Elsass (Sammlung Schirrmann/LWLMedienzentrum für Westfalen)

Abb. 9: Soldaten des Landsturm Infanteriebataillons Siegen in einem Unterstand, 1916 (Sammlung Schirrmann/LWLMedienzentrum für Westfalen)

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Einem besonderen Tabu unterlag in der privaten wie in der offiziellen Kriegsfotografie das Zeigen des Todes, jedenfalls dem der eigenen Seite.41 Das gilt auch für den Nachlass Schirrmann, in dem die Toten des Krieges nur indirekt ins Bild gerückt werden: in einer Reihe von Aufnahmen von Bestattungen und Gefallenenehrungen, einzelnen Grabkreuzen und ganzen Soldatenfriedhöfen. Motive wie das vom Grab des Freundes Albert Malcus zeigen bei aller Betroffenheit „ein friedliches Gesicht des Todes“42 und suggerieren einen würdigen Umgang mit dem Tod, der angesichts des anonymen Massensterbens de facto keineswegs immer gewährleistet war.43 Ein ganz anderes Bild des Krieges vermitteln touristische Motive, die Sehenswürdigkeiten und Besonderheiten jener Orte ins Bild rücken, in deren Nähe Schirrmanns Landsturmbataillon stationiert war. Sie nehmen in seiner Sammlung − wie in vielen anderen privaten Soldatennachlässen auch − großen Raum ein. In solchen Motiven wird der Charakter des Kriegserlebnisses als „Reise“ besonders deutlich.44 Für den natur- und kulturaffinen Pädagogen, für den das Reisen ja schon vor 1914 weit mehr als ein Hobby darstellte, dürfte dieser Aspekt zu den positiven Kriegserfahrungen gehört haben. Auffällig ist, dass Richard Schirrmann nicht nur hervorstechende historische Gebäude wie Kirchen, Schlösser, Klöster und Rathäuser im Bild festhielt, sondern ein besonderes Auge für idyllische Orts- und Naturimpressionen sowie die Darstellung ländlich-bäuerlicher Arbeitswelten besaß. So gelangen ihm zahlreiche malerische Aufnahmen, zumeist mit arrangiert wirkenden Personenkonstellationen: Familien vor ihren Hofeingängen, verwinkelte Hinterhöfe und mittelalterliche Fachwerkensembles, ein Angler an einer Kanalschleuse, Bauern mit Ochsengespannen und Pferdefuhrwerken, eine Weinprobe in einem Winzerkeller, Frauen am Waschplatz (Abb. 10), eine Tracht tragende Elsässerin am Webstuhl und viele mehr. Ganz ähnliche Motive hat Schirrmann auch vor und nach dem Ersten Weltkrieg im Rahmen seiner Arbeit für das Jugendherbergswerk abgelichtet; sie entsprechen dem romantischen Bildkanon der Jugendbewegung, wie ihn etwa der Wandervogel-Fotograf Julius Groß in zahlreichen Abbildungen manifestiert hat,45 und spiegeln eine zeittypische Sehnsucht nach vormoderner Echtheit und Ursprünglichkeit.46 Zu vermuten ist, dass der nostalgische Blick auf Naturidyllen und die vermeintlich „heile Welt“ vorindustrieller Kulturen für den Soldaten Schirrmann zwischen 1914 und 1918 auch eine Art Flucht vor der rauen Realität des Krieges ermöglichte.

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Vgl. dazu Brocks, Welt des Krieges, S. 247-250; Holzer, Gesicht des Krieges, S. 13 f. Zur fotografischen Darstellung des Kriegstodes allgemein: Holzer, Die andere Front, S. 272-295. Scharf, Bilderwelt, S. 343. Vgl. dazu Mommsen, Kriegsalltag, S. 141 f.; Flemming, Propaganda, S. 77. Vgl. Daniela Neuser, Der Krieg als Reise – Private Fotografien und Feldpostkarten, in: Sabine Autsch (Hg.): Der Krieg als Reise. Der Erste Weltkrieg – Innenansichten, Siegen 1999, S. 86-103. Vgl. Winfried Mogge, Bilder aus dem Wandervogel-Leben. Die bürgerliche Jugendbewegung in Fotos von Julius Groß 1913-1933, 2. Aufl., Köln 1991, vor allem S. 24 f. Vgl. dazu Christiane Cantauw, Landlust. Von der Lust aufs Land und ihren Visualisierungen, in: Westfälische Forschungen 58 (2008), S. 297-314.

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Ähnliches dürfte für eine weitere Motivgruppe gelten, die im Weltkriegsnachlass Schirrmann bemerkenswert zahlreich vertreten ist: Porträtfotografien, die entweder den Jugendherbergsgründer und seine Kameraden im Kreis (vor allem weiblicher) Zivilisten oder nur diese Einheimischen zeigen. Besonders ins Auge fällt das Einzelporträt einer jungen Frau, betitelt als „Madelaine [!] Nebel auf Strebshof“ (Abb. 11). Mit offenen Haaren und breitkrempigem Hut sowie einer Zigarette im Mund, eine legere Bluse und Hosen tragend sitzt sie auf einem Pferd. Auf einem anderen Foto sieht man die gleiche junge Frau mit zwei anderen Damen und dem Geige spielenden Schirrmann bei der gemeinsamen Hausmusik auf einem Gutshof in der Nähe der elsässischen Stadt Zabern/ Saverne. Ohne über die Hintergründe solcher Motive spekulieren zu wollen, lässt sich doch festhalten, dass die Bilder ein unkompliziertes, herzliches, ja freundschaftliches Verhältnis zwischen den einquartierten Soldaten und der einheimischen Bevölkerung spiegeln47 und diese Spiegelung vermutlich keine reine Propaganda war. Förderlich dürfte gewesen sein, dass die Kriegsfolgen in der elsass-lothringischen Grenzregion weniger gravierend waren als weiter nordwestlich und die Bevölkerung dort teilweise deutsch sprach und deutschfreundlich gesinnt war. So oder so holten solche Fotos auch „ein Stück Zivilleben und Heimat an die Front“48 und besaßen damit gleichfalls eine psychische Entlastungsfunktion. Insgesamt stellt der Schirrmann-Bestand trotz einiger besonderer Schwerpunktsetzungen sowohl in seiner Motivik als auch in seiner Verwendung ein typisches Beispiel privater Kriegsfotografie dar. Die fotografische Tätigkeit des JugendherbergswerkGründers speiste sich wie das vieler Tausend anderer „Schützengrabenphotographen“, wie sie schon zeitgenössisch etwas irreführend genannt wurden,49 aus der berechtigten Einschätzung, dass die eigene Kriegsteilnahme einen biographisch absolut außergewöhnlichen Lebensabschnitt darstellte. An diesem wollte man Familie und Bekannte in der Heimat teilhaben lassen und sich daran später erinnern können.50 Seitens der Militärführung war diese Form der Kommunikation durchaus erwünscht, aus einem einfachen Grund:51 Die Soldaten vermittelten mit ihren Fotografien in aller Regel ein beschönigendes, gleichsam euphemistisches Bild des Krieges. Das entsprach den bis heute gültigen Konventionen der privaten Fotografie, „das Andere, das Schöne, die Reise und das Fest“ ins Bild zu rücken52 und die gewöhnlichen und unansehnlichen Seiten der Wirklichkeit auszublenden. Es entsprach aber auch der Beruhigungsfunktion, die Kriegsfotografien – genau wie Feldpostbriefe – im Kommunikationsprozess zwischen Front und Heimat hatten.53

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Zur Darstellung vor allem weiblicher Zivilisten in der Kriegsfotografie vgl. Holzer, Die andere Front, S. 222-226, der für die offiziellen österreichischen Kriegsfotografien zu einem ähnlichen Urteil kommt, die Bilder aber stärker als propagandistische Inszenierung deutet. Brocks, Welt des Krieges, S. 104. Curt Elkeles, Der Schützengraben-Photograph, in: Photographische Chronik 1916, S. 139; vgl. dazu Paul, Bilder des Krieges, S. 16. Zu dieser doppelten intendierten Funktion vgl. Hüppauf, Fotografie, S. 117 f. Vgl. Mommsen, Kriegsalltag, S. 145. Willy Puchner, zit. nach Brocks, Welt des Krieges, S. 89. Zur Bedeutung der Feldpost für die „Moral der Truppe“ vgl. z. B. Flemming, Propaganda, S. 67.

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Abb. 10: Frauen am Waschplatz, Elsass (Sammlung Schirrmann/LWLMedienzentrum für Westfalen)

Abb. 11: „Madelaine Nebel auf Strebshof“, Zabern/Saverne im Elsass ca. 1915 (Sammlung Schirrmann/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

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Die Kernbotschaft lautete entsprechend auch auf Schirrmanns Fotos fast immer, dass es seinen Kameraden und ihm trotz aller Strapazen und Herausforderungen gut gehe und die Daheimgebliebenen sich keine Sorge zu machen brauchten. Über die Kommunikationsfunktion mit der Heimat hinaus hatten die Bilder auch einen gleichsam „selbsttherapeutischen“ Zweck in der mentalen Verarbeitung der Kriegserlebnisse.54 Das zeigt sich in den Grabmotiven und Zivilistenporträts ebenso wie in den touristischen Aufnahmen. Und auch die Kameradenfotos dürften die Funktion gehabt haben, beim Betrachten das Selbstbild einer fast familienähnlichen soldatischen Gemeinschaft zu stiften55 und so über die Tristesse und Grausamkeit des normalen Kriegsalltags hinwegzuhelfen. Neben der Sammlung Schirrmann lagern im Bildarchiv des LWL-Medienzentrums mehrere weitere private Kriegsfotografie-Sammlungen, die sich für vergleichende Untersuchungen anbieten. Neben dem allerdings fotografisch weit weniger ambitionierten und nur aus Kleinbildabzügen bestehenden Nachlass von Bernhard Mangels, der im Folgenden vorgestellt wird, verdienen zwei außergewöhnliche stereoskopische Sammlungen besondere Erwähnung: Beide wurden von Amateurfotografen angefertigt, die im Ersten Weltkrieg als Offiziere an der Westfront kämpften.56 Als absolute fototechnische Raritäten zeigen sie das Leben und Sterben auf den Schlachtfeldern Nordfrankreichs und Flanderns in eindrücklicher Unmittelbarkeit im 3D-Format. Die beiden Sammlungen mit insgesamt rund 750 Fotografien, die dem LWL-Medienzentrum 2012 aus Privatbesitz überlassen wurden, befinden sich zur Zeit in der Digitalisierung und Erschließung und sollen ab 2014 in einer Wanderausstellung mit begleitendem Bildband-Katalog gezeigt und kontextualisiert werden. 3.2. Der technische Blick der Luftaufklärung – Die Sammlung Mangels Auch wenn sich die Fotografie des Ersten Weltkriegs – wie oben ausgeführt – idealtypisch nach ihren Funktionsweisen differenzieren lässt, schließt dies natürlich nicht aus, dass Fotos für mehrere Zwecke Verwendung fanden, beispielsweise als Propagandafotos während des Krieges und Erinnerungsfotos nach 1918. Dass Fotografien, die ursprünglich im militärischen Kontext (Aufklärung) entstanden waren, nach dem Krieg auch in den Dienst privater Erinnerung gestellt wurden, zeigt die im LWL-Medienzentrum archivierte Sammlung Mangels. Der gebürtige Münsteraner Bernhard Mangels (1887-1969) nahm nach einem Lehramtsstudium von 1914 bis 1918 am Ersten Weltkrieg teil, zunächst als Infanteriesoldat, seit Sommer 1916 − nach seiner Beförderung zum Leutnant − als Befehlshaber eines

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Vgl. dazu auch Hüppauf, Fotografie, S. 118 f.; Neuser, Krieg als Reise, S. 100 f. Thomas Kater spricht von der soldatischen „Gemeinschaft als Friedensraum“; zit. nach Brocks, Welt des Krieges, S. 17. Es handelt sich um die Sammlungen Mötje aus Bevergern mit rund 600 Fotografien und Bußhoff/Tovar aus Walstedde mit rund 170 Aufnahmen.

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Fesselballonzugs im Norden Frankreichs (Abb. 12).57 Er wurde während des Krieges unter anderem mit dem Eisernen Kreuz II. und I. Klasse ausgezeichnet. Nach 1918 wirkte er als Lehrer für Latein, Griechisch, Französisch und Sport in seiner Heimatstadt Münster und machte sich dort auch als ehrenamtlicher Sportfunktionär einen Namen. 2006 übergab Mangels’ Neffe dem LWL-Medienzentrum vier Alben aus dem Nachlass seines Onkels. Eines zeigt Postkarten und Fotografien mit überwiegend münsterischen Motiven aus der Zeit vor 1914, die anderen drei enthalten insgesamt rund 620 Kriegsbilder aus den Jahren 1916 bis 1918, in denen Mangels als Ballonzugführer eingesetzt war. Die drei äußerlich identischen Kriegsalben sind wahrscheinlich kurz nach 1918 von Mangels selbst als Erinnerung an seine Soldatenzeit zusammengestellt und beschriftet worden. Die Fotos wurden aber nur zum Teil von Mangels selbst aufgenommen, der überwiegende Teil stammt von anderer Hand. Die Motive vermittelten ein weit gespanntes Bild vom Ersten Weltkrieg aus der Sicht eines Frontsoldaten. Den größten Teil nehmen „künstlerisch ambitionslose Abbildungen von Gebäuden und Landschaften ein, die mit durchaus auch touristischem Blick den Raum dokumentieren sollen, in dem Mangels sich während des Krieges aufgehalten hat“.58 Ebenfalls eine große Rolle spielen Kameradenfotos und dabei besonders solche von Offiziersgeselligkeiten und diversen Freizeitaktivitäten in der Etappe. Was Bernhard Mangels’ Kriegsalben von anderen Amateurnachlässen wie dem Richard Schirrmanns unterscheidet, ist der hohe Anteil an Fotografien, die unmittelbaren Bezug zu seinem Kriegseinsatz haben, also vor allem entsprechendes militärisches Gerät (Ballons) und dessen Verwendung und Wirkung zeigen. Über 160 Fotos, also ein gutes Viertel des Bestandes, lassen sich diesem Einsatzbereich zuordnen.59 Ballons wurden schon seit Ende des 18. Jahrhunderts für militärische Zwecke genutzt. Mit dem Erstarren der Westfront im Stellungskrieg erlebten sie seit 1915 in Form von Fesselballons, die bis zu 1.500 m hoch steigen konnten, in Verbindung mit leistungsfähigen Ferngläsern, Fotoapparaten und Funkgeräten eine Renaissance, sowohl zur Feindaufklärung als auch zur Lenkung des eigenen Artilleriefeuers.60 Die Form der Ballons war nicht rund, sondern aus Gründen höherer Windstabilität eigentümlich länglich-wurstförmig, zeitgenössisch sprach man von „Drachenballons“. Die von Mangels geführte Einheit BZ 35 bildete eine von 184 deutschen Ballonzügen, die seit 1917 aus jeweils zwei Fesselballons mit Besatzung und Bedienung bestanden (Abb. 13).

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Zu Mangels Biographie und Kriegseinsatz vgl. Tobias Arand, Der Nachlass des Leutnants Bernhard Mangels aus Münster – Exemplarische Überlegungen zur inhaltlichen und formalen Erschließung von Kriegsfotoalben deutscher Veteranen des Ersten Weltkriegs, in: Westfälische Forschungen 58 (2008), S. 421-439. So Arand, Nachlass, S. 431. Für die genaue quantitative Analyse danke ich Axel Timmermann. Vgl. Dieter Storz, Ballon, in: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz, Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 2. Aufl., Paderborn 2004, S. 368; www.oocities.org/bunker1914/Luftkrieg_Verdun_Luftaufklaerung.hml (aufgerufen am 5.9.2013); Arand, Nachlass, S. 435; Jünger, Antlitz, S. 252 f.

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Abb. 12: Bernhard Mangels (1887–1969) als Leutnant mit EK I, 1918 (Sammlung Mangels/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

Abb. 13: Deutscher Fesselballon mit komplettem Ballonzug (Sammlung Mangels/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

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Den Fotografien des Nachlasses lassen sich eine Fülle von Sachinformationen über die Technik und den Einsatz dieser Ballonzüge entnehmen. Die Mehrzahl der Aufnahmen ist am Boden entstanden. Sie zeigen besonders häufig die Fesselballons selbst in der Luft oder, zumeist mit Besatzung, am Boden. Auch die Befüllung, Verpackung und der Transport von Ballons sowie die für sie errichteten, zum Teil getarnten Unterstände sind abgelichtet und meist mit handschriftlichen Hinweisen auf Rück- oder Vorderseite dokumentiert worden. Besonders auffällig ist, dass sich im Nachlass auch 57 Luftbilder befinden, die zu Zwecken der militärischen Frontaufklärung geschossen wurden. Zwanzig von ihnen tragen auf der Rückseite einen Stempel mit Angabe der Abteilung, des Aufnahmedatums, des Namens des Ballon- bzw. Flugzeugführers und Beobachters sowie mit dem Hinweis: „Nur für den Dienstgebrauch“. Den dienstlich-militärischen Charakter unterstreichen auch Beschriftungen auf den Fotografien selbst: Zahlen, Ortsangaben, Buchstaben und Markierungen (Kreise, Kreuze, Linien), die überwiegend sauber ins Negativ eingetragen, zum Teil aber auch handschriftlich auf dem Papierabzug notiert wurden (Abb. 14). Im Stellungskrieg gewannen solche Aufnahmen zur Aufklärung über das Verhalten des Feindes und zur Lenkung der eigenen Waffen enorme Bedeutung.61 Sie entstanden überwiegend in der für Ballons typischen Schrägaufsicht, zum Teil aber auch in Senkrechtperspektive, die auf Aufnahmen aus Flugzeugen schließen lassen.62 Motivisch vermitteln die Luftbilder, die oft in ganzen Serien von drei, vier oder fünf Aufnahmen in die Alben geklebt wurden, den sehr spezifischen Blick des Luftbildes auf den Stellungskrieg. Sie zeigen Schützengrabensysteme, Festungsanlagen, vollkommen von Bomben zerpflügte Geländeabschnitte, zeitgenössisch als „zertrommelte“ Landschaften tituliert,63 aber auch zerstörte Ortschaften, deren Häuserruinen wie Zahnstümpfe aus dem Boden ragen (Abb. 15), seltener halbwegs intakte Dörfer und Städte. Obwohl diese Luftbilder also die ganze furchtbare Zerstörungskraft des industrialisierten Krieges demonstrieren, bergen sie in ihrer fast graphischen Abstraktion und Reduktion des Kriegsraums auf „ein funktionales Beziehungsgeflecht von Zeichen, dessen Dechiffrierung völlig neuer visueller Fähigkeiten bedurfte“,64 eine spezifische Ästhetik, die schon die Zeitgenossen faszinierte. Bereits 1916 begannen französische und bald auch deutsche Illustrierte, die ursprünglich rein militärischen Zwecken dienenden Fotografien abzudrucken.65

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Vgl. Holzer, Gesicht des Krieges, S. 10 und S. 16; ders., Die andere Front, S. 135 f.; Köppen, Luftbilder, S. 180-187. Vgl. Köppen, Luftbilder, S. 182; Arand, Nachlass, S. 433. Zum Beispiel bei Franz Schauwecker, So war der Krieg. 200 Kampfaufnahmen aus der Front, 8. Aufl., Berlin 1928, S. 100. Paul, Bilder des Krieges, S. 143. Vgl. Köppen, Luftbilder, S. 180.

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Abb. 14: Schrägluftbild, vermutlich aus einem Fesselballon bei Verdun (Höhe „Toter Mann“) aufgenommen. Mit Beschriftungen und Markierungen für militärische Zwecke (Sammlung Mangels/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

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Abb. 15: Senkrechtluftbild für militärische Zwecke. Hier eine zerstörte Ortschaft bei Verdun (Sammlung Mangels/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

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Nach 1918 fanden die militärischen Luftbilder, in denen die „Szenen der Destruktion wie Bilder eines grandiosen Schauspiels“ wirkten und Leiden und Tod völlig ausgeklammert blieben, vielfach Eingang in die zahlreichen Erinnerungsbildbände des Krieges.66 Insofern verwundert es nicht, dass auch Mangels, der mit diesem Bildgenre zudem persönliche Kriegserinnerungen verband, solche Fotos in seine Alben einklebte, wenngleich unklar bleibt, wie diese geheimen Militärdokumente in seinen Privatbesitz gelangten. Wie die Fotobeschriftungen enthüllen, war Mangels’ Ballonzug „BZ 35“ unter anderem in der längst völlig verwüsteten Kriegslandschaft im Norden Frankreichs nordwestlich von Verdun stationiert und dort insbesondere zur Frontbeobachtung und Geschützfeuerlenkung an den Höhen „304“ und „Toter Mann“ eingesetzt.67 Vor allem letztere gehörte zu den am meisten umkämpften Frontabschnitten des Ersten Weltkriegs und avancierte nach 1918 in der revisionistischen deutschen Kriegserinnerung zu einem Symbol für den heroischen Kampf der deutschen Soldaten. Zu zeigen, dass er an diesem Kampfgeschehen zumindest indirekt beteiligt war,68 dürfte einer der Gründe gewesen sein, weshalb der ehemalige Offizier Mangels, der noch 1934 das nur auf eigenen Antrag hin verliehene „Ehrenkreuz für Frontkämpfer“ erhielt, gerade Luftbilder von solch bekannten Schlachtorten in sein Album aufnahm. Offenbar um den distanzierten Eindruck der Luftaufnahmen durch eine komplementäre Perspektive zu ergänzen, die der soldatischen Erfahrungswelt mehr entsprach, klebte er ergänzend Bodenfotos von vorderen Frontabschnitten und Schützengräben um Verdun ein, die er als Postkarten von professionellen Fotografen erworben haben dürfte (Abb. 16).69 So effektiv Fesselballons als „Augen der Front“ für Aufklärungszwecke waren, so sehr stieg im Verlauf des Krieges auch ihre Gefährdung. Wegen ihrer Trägheit, ihrer explosiven Wasserstoffbefüllung und mangels eigener Abwehrwaffen wurden sie zunehmend ein bevorzugtes Ziel für Jagdflieger. Bis zum Ende des Krieges verlor die deutsche Armee über 500 Ballons, fast alle durch Fliegerangriffe.70 Auch Mangels’ Ballonzug war davon betroffen, wie mehrere Aufnahmen brennender bzw. abgestürzter Ballons dokumentieren (Abb. 17). Acht weitere Fotos zeigen den Absprung der Ballonbesatzungen mit Rettungsfallschirmen. Um sich gegen die Luftangriffe zu schützen, bauten die Ballonzüge mit Maschinengewehren und Geschützen eine eigene Flugabwehr am Boden auf, die in den Alben von Mangels ebenfalls durch eine Reihe von Fotografien dokumentiert ist (Abb. 18). Auf zwei Fotos sind abgeschossene Flugzeuge festgehalten. Im Zusammenhang mit dieser Fliegerabwehr steht auch eine besondere Episode des Kriegseinsatzes von Bernhard Mangels, die den Lateinlehrer aus Münster bis heute mit

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Paul, Bilder des Krieges, S. 143. Beispiele z. B. bei Jünger, Antlitz, S. 249-256; Köppen, Luftbilder, S. 184. Arand, Nachlass, S. 435. Nach eigenen Angaben war Mangels vor seiner Zeit als Ballonzugführer von Juni bis September 1916 als Infanteriesoldat auch direkt an den Kämpfen um Verdun beteiligt; vgl. Arand, Nachlass, S. 427. Vgl. ebd., S. 433. Storz, Ballon, S. 368.

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der Erinnerung an einen der berühmtesten amerikanischen Jagdflieger des Ersten Weltkriegs verbindet.71 Der in den USA als „Balloon Buster“ bekannte Pilot Frank Luke, dessen Vater in den 1870er Jahren selbst aus Westfalen nach Arizona ausgewandert war, verlegte sich in den letzten Kriegsmonaten vor allem darauf, deutsche Aufklärungsballons zu zerstören. Am 15. September 1918 gelang dem erst 21-jährigen US-Piloten der Abschuss eines Ballons aus dem von Mangels geführten Zug. Auf drei Fotos hat dieser den Vorfall dokumentiert und auf der Rückseite auch kommentiert (Abb. 19).72 Exakt 14 Tage später griff Luke erneut einen von Mangels geführten Ballon an, wurde aber nach dessen schriftlicher Aussage von einem MG abgeschossen und starb schwer verletzt noch an der Absturzstelle. Ganz anders wird der Tod des Namensgebers der größten US-Luftwaffenbasis in noch heute populären amerikanischen Darstellungen kolportiert.73 Danach musste Luke wegen Treibstoffmangels auf einem Friedhof notlanden, weigerte sich, sich zu ergeben, zog seinen Revolver und tötete noch zahlreiche deutsche Gegner, bevor er selbst im Kugelhagel fiel. Diesen stark an einen klassischen Show Down im cineastischen Western-Genre erinnernden Mythos hatte 1920 ein Reporter der Chicago Tribune in die Welt gesetzt, dem Bernhard Mangels selbst ein Interview zu dem Vorfall gegeben hatte. In mehreren Briefen, die Mangels nach dem Zweiten Weltkrieg an US-Historiker, die ihn zum Ende Lukes befragten, schrieb, legte er großen Wert darauf, dass diese propagandistisch-antideutsche Darstellung vom Tod des Fliegerhelden ebenso unzutreffend sei wie Behauptungen, der Leichnam sei anschließend misshandelt bzw. nicht bestattet worden. Allerdings ist der Abschuss und Tod Lukes weder in den Kriegsalben von Mangels noch in anderen Quellen eindeutig dokumentiert und der tatsächliche Hergang damit nach wie vor offen für konkurrierende Deutungen. So vertritt die neueste amerikanische Veröffentlichung zum Thema, die zahlreiche Fotos aus seinen Kriegsalben abdruckt, die These, dass Bernhard Mangels gar nichts mit dem Tod von Luke zu tun hatte, sondern fälschlich einen anderen abgeschossenen US-Piloten für den „Arizona Daredevil“ hielt.74 3.3. „Kriegsbildersammlungen“ von der Heimatfront Zu den umwälzenden Neuerungen, die den Ersten Weltkrieg von früheren Waffengängen abhoben, gehörte, so Hans-Ulrich Wehler, dass „die ,Heimat‘ bedingungslos in den Dienst des Krieges gestellt [wurde], sie verwandelte sich in die ,Heimatfront‘“.75

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Zu Luke, seinem Ende und der Verbindung zu Mangels vgl. Arand, Nachlass, S. 435-437 sowie Stephen Skinner, The Stand. The Final Flight of Lt. Frank Luke, Jr., Atglen 2008. Die Fotos sind abgedruckt bei Skinner, Stand, S. 196, der den Abschuss aber entgegen dem Zeugnis von Mangels einem anderen US-Flieger zuschreibt. Vgl. dazu und zum Folgenden Arand, Nachlass, S. 437, vor allem Anm. 58. Vgl. Skinner, Stand, S. 150 und S. 160 f. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 93.

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Abb. 16: Schützengraben „in der Backzahn-Stellung“ bei Verdun, Postkarte (Sammlung Mangels/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

Abb. 17: Abstürzender Ballon nach Beschuss durch ein Jagdflugzeug (Sammlung Mangels/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

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Abb. 18: Soldaten an Geschützen zur Abwehr feindlicher Jagdflugzeuge (Sammlung Mangels/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

Abb. 19: Soldaten des Ballonzugs 35 bei der Untersuchung der Überreste eines von Frank Luke abgeschossenen Ballons (Sammlung Mangels/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

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Diese Indienststellung wurde, wie das Leben und Sterben an der Front, ebenfalls vielfach mit Hilfe der Fotografie dokumentiert. So integrierte der münsterische Stadtarchivar Eduard Schulte in seine „Kriegschronik der Stadt Münster“76 systematisch mehrere Hundert selbst aufgenommene Fotografien, die das Engagement der Stadt und ihrer Bürger für den Krieg bezeugen sollten.77 Schultes Aufnahmen, die die Mobilmachung und die Spionagefurcht zu Kriegsbeginn ebenso ins Bild rücken wie die „Sammlung von Liebesgaben“ und die Behandlung der Kriegsgefangenen in den Lagern der Stadt, sind heute nicht nur eine wichtige Quelle der Stadtgeschichte, sondern besitzen als visuelle Repräsentationen der Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf das zivile Leben in Westfalen weit über Münster hinaus Bedeutung. Dass Fotodokumentationen des Alltags an der Heimatfront auch ohne offiziellen Auftrag entstehen konnten, belegt die im Bildarchiv des LWL-Medienzentrums überlieferte Sammlung Schäfer. Der 1867 im thüringischen Eichsfeld geborene Dr. Joseph Schäfer kam 1897 als Lehrer nach Recklinghausen, zunächst ans Gymnasium Petrinum, zwei Jahre später an die städtische Realschule (das spätere Hittorf-Gymnasium), deren Leitung er 1905 übernahm (Abb. 20). Auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs reagierte der promovierte Altphilologe mit patriotischer Begeisterung, die er auch seinen Schülern abverlangte.78 Während des Krieges wurden ihm zusätzlich noch mehrere weitere Schulen unterstellt. Trotz seiner hohen beruflichen Belastung betätigte Schäfer sich vor und während des Krieges umfangreich fotografisch. Diese Aktivität stand im Kontext eines intensiven heimatpflegerischen Engagements, dem er sich schon bald nach seiner Übersiedlung in den Landkreis Recklinghausen verschrieben hatte. Das Vest Recklinghausen wurde Anfang des 20. Jahrhunderts im Zuge der Nordwanderung des Kohlebergbaus voll von der Industrialisierung erfasst. Der zugewanderte Schulmeister machte es sich zu einer ehrenamtlichen Aufgabe, die in seiner kulturpessimistischen Wahrnehmung zum Untergang verdammte landschaftliche Schönheit und die altehrwürdigen baulichen Zeugnisse der Region wenigstens mit der Kamera für die Nachwelt zu bewahren. So entstand eine umfangreiche Fotosammlung, die das LWL-Medienzentrum 1996 für sein Bildarchiv ankaufte. Schäfers Nachlass umfasst rund 1.700 Glas- und Papieroriginale und bietet eine wertvolle Bestandsaufnahme von Landschaften, Dörfern und Städten in der Region zwischen Emscher und Lippe im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. 79

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Eduard Schulte, Kriegschronik der Stadt Münster 1914/18. Mit 280 Photobildern, Münster 1930. Vgl. auch Kristina Thies, Das Augusterlebnis in Münster im Spiegel der Kriegschronik Eduard Schultes, in: Tobias Arand (Hg.), Die Urkatastrophe als Erinnerung. Geschichtskultur des Ersten Weltkriegs, Münster 2006, S. 99-131. Die Fotografien sind im Stadtarchiv Münster überliefert. Vgl. Hittorf Gymnasium 1904-2004. Chronik und Festschrift der Schule, Recklinghausen 2004, S. 29. Bildarchiv des LWL-Medienzentrums für Westfalen, Sammlung 08: Nachlass Joseph Schäfer. Eine erste Begegnung mit dem Werk Joseph Schäfers bietet der Bildband Verlorene Paradiese. Der Fotograf Joseph Schäfer und das Vest Recklinghausen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, hg. von Volker Jakob und Matthias Kordes, Recklinghausen 2007.

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Abb. 20: Dr. Joseph Schäfer vor dem Portal der Städtischen Oberrealschule Recklinghausen mit Frau Maria, Tochter Maria und Sohn Hans-Joachim (Sammlung Schäfer/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

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Etwas überraschend findet sich in der Sammlung auch ein kleiner Teilbestand von rund 65 Fotografien, der bestimmte Aspekte der Heimatfront des Ersten Weltkriegs in und um Recklinghausen dokumentiert.80 Mit hoher Wahrscheinlichkeit bilden sie die Hinterlassenschaft einer „Kriegsbildersammlung“, die Schäfer im Rahmen seines Engagements für den Vestischen Heimatverein anfertigte.81 Er übernahm damit im Vest Recklinghausen ehrenamtlich eine ähnliche Aufgabe, wie sie Stadtarchivar Eduard Schulte in Münster im dienstlichen Auftrag ausübte. Fast die Hälfte der Bilder rückt Frauen bei verschiedenen Erwerbstätigkeiten ins Bild. Die Palette reicht von einer uniformierten Milchkutscherin für die „Säuglingsmilchanstalt der Stadt Recklinghausen“ über gleichfalls uniformierte Postbotinnen, Schaffnerinnen und Fahrkartenkontrolleurinnen bis zu Laborantinnen des städtischen Gaswerks, Eisenbahnarbeiterinnen am Hauptbahnhof, einer Heizerin auf einer Dampflokomotive und Fabrikarbeiterinnen in einer Weichen- und Feldbahnfabrik (Abb. 21 und 22). Die Frauenarbeitsmotive spiegeln eine doppelte sozioökonomische Problemlage der Heimatfront: Zum einen waren – wegen der viel zu geringen öffentlichen Unterstützungsleistungen für Familien, deren Männer an der Front standen oder gar gefallen waren – viele Frauen gezwungen, sich eine Lohnarbeit zu suchen, um ihre Familie ernähren zu können. Zum anderen herrschte infolge der Einberufung von reichsweit 13 Millionen Männern ein großer Arbeitskräftemangel, weshalb die verstärkte Erwerbsarbeit von Frauen ausdrücklich propagiert wurde – wenn auch notabene nur für die Dauer des Krieges. Aus beiden Gründen stieg der Anteil erwerbstätiger Frauen gerade in bis dahin männlich dominierten Branchen seit 1914 deutlich an.82 Über den konkreten Anlass für Joseph Schäfer, das Thema Frauenarbeit in Recklinghausen fotografisch über mehrere Jahre hinweg zu dokumentieren, lässt sich nur spekulieren. Die Darstellung der berufstätigen Frauen wirkt in hohem Maße inszeniert, und die visuelle Botschaft ist klar erkennbar: Die Frauen, so die eindeutige Aussage, sind in der besonderen Kriegssituation bereit und in der Lage, auch in klassischen Männerberufen „ihren Mann zu stehen“. Möglicherweise hatte Schäfer städtischerseits den Auftrag bekommen, mit Hilfe der Fotos für eine noch stärkere Gewinnung von Frauen für den Arbeitsmarkt zu werben, um so den Arbeitskräftemangel zu lindern und die öffentlichen Kassen von Unterstützungsleistungen zu entlasten. Vielleicht sollte und wollte der Fotograf aber auch nur dokumentieren, dass das in Recklinghausen bereits weitreichend geschah und die Frauen an der Heimatfront ihren Beitrag leisteten.

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Vgl. dazu schon Kerstin Burg, Wir übernehmen – Frauenarbeit im Ersten Weltkrieg, in: Im Fokus. Nachrichten aus dem LWL-Medienzentrum 1/2010, S. 19 f. Siehe den Bericht über die Aktivitäten des Vereins für Orts- und Heimatkunde Recklinghausen für das Jahr 1918, in: Vestische Zeitschrift 27 (1918), S. 96. Für den freundlichen Hinweis danke ich Dr. Matthias Kordes. In dem im Bildarchiv des LWL-Medienzentrums überlieferten Fotonachlass sind die Bilder in einer geschlossenen Rubrik „K“ zusammengefasst und fast durchweg mit „Kriegserinnerungen“ betitelt. Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 94-102; für Westfalen: Peter Borscheid, Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg (1914-1945), in: Wilhelm Kohl (Hg.), Westfälische Geschichte, Bd. 3, Düsseldorf 1984, S. 313-438, hier S. 319 und 326 f.

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Abb. 21: Bahnschaffnerinnen in Uniform, Recklinghausen März 1917 (Sammlung Schäfer /LWL-Medienzentrum für Westfalen)

Abb. 22: Lastenträgerinnen am Güterbahnhof Recklinghausen, Mai 1918 (Sammlung Schäfer /LWL-Medienzentrum für Westfalen)

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Die übrigen rund 35 Fotos der „Kriegsbildersammlung“ jedenfalls dienten eindeutig dem Zweck, die Leistungen der Daheimgebliebenen zu bezeugen. So zeigen allein zehn Motive Kriegsmetallspenden, vier den Abtransport von Verwundeten aus einem von der Front kommenden Lazarettzug, drei eine öffentliche Suppenküche, je zwei die Arbeit in den städtischen Einrichtungen Schlachthof und Gaswerk, drei Kohletransporte mittels einer Straßenbahn bzw. einer Dampfwalze (Abb. 23), eines eine 1916 als „Kriegswahrzeichen“ enthüllte steinerne „Bergmannssäule“, und sechs porträtieren französische Kriegsgefangene, die in der Landwirtschaft eingesetzt wurden. Selbstbewusst, fast lässig präsentieren sie sich vor dem Fotografen (Abb. 24). Allein in Westfalen waren bei Kriegsende 284.000 Kriegsgefangene registriert, die nur zum geringeren Teil in Lagern interniert, zum größeren Teil zu Arbeitseinsätzen, vor allem in der Landwirtschaft, verpflichtet worden waren.83 Zumindest punktuell lassen Schäfers Fotografien durchaus die Schwierigkeiten und Anstrengungen erkennen, vor die sich die Heimatfront durch den nicht enden wollenden Krieg gestellt sah: Die vor der Suppenküche auf Verpflegung wartenden Frauen und Kinder zeigen sichtlich die Entbehrungen und Anspannung in Folge des Hungers (Abb. 25), der Lazarettzug rückt das Thema Verwundung und Verkrüppelung ins Bild, der Kohletransport mittels Straßenbahn wirkt stark improvisiert, und den Gleis- und Fabrikarbeiterinnen sind die Strapazen der harten „Männerarbeit“ deutlich anzusehen. Gleichwohl transportieren Schäfers Fotografien insgesamt eine demonstrativ positive Botschaft: Die Heimatfront steht und leistet ihren Beitrag für einen siegreichen Krieg. Parallel zu seiner „Kriegsbildersammlung“ setzte Joseph Schäfer bemerkenswerterweise auch seine heimatkundlichen Fotodokumentationen unvermindert fort und hielt so in über 400 Fotografien84 Altstadtwinkel und Dorfstraßen, Kotten und Höfe, Windund Wassermühlen, aber auch Bauten des Industriezeitalters wie Zechen und Zechenkolonien, Schleusen, Kanalüberführungen und Eisenbahnbrücken, Bahnhöfe und Gasthäuser, neuerbaute Kirchen, Schulen, Krankenhäuser, Heil- und Pflegeanstalten, Rats- und Amtshäuser mit der Kamera fest. Ein bevorzugtes Motiv bilden Schlösser und Wasserburgen; sie erscheinen in der Rückschau wie melancholische Zeugnisse der zu Ende gehenden vormodernen Zeit mit ihrer gerade im nördlichen Westfalen stark von feudalen Strukturen geprägten Gesellschaftsordnung.

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Vgl. für Westfalen: Rainer Pöppinghege: Westfalen im Ersten Weltkrieg, www.westfaelische-geschichte.de/ web38; allgemein auch Uta Hinz, Gefangen im Großen Krieg. Kriegsgefangenschaft in Deutschland 1914-1921, Essen 2005. Insgesamt weist die Suche im Online-Bildarchiv des LWL-Medienzentrums für die Sammlung Schäfer und die Jahre 1914 bis 1918 607 Bilder aus, darunter sind aber ca. 100-150, die vor 8/1914 oder nach 11/1918 entstanden.

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Abb. 23: Dampfwalze als Zugmaschine für den Kohletransport, Recklinghausen ca. 1918 (Sammlung Schäfer/LWLMedienzentrum für Westfalen)

Abb. 24: Französischer Kriegsgefangener auf einem Hof in der Hohen Mark, ca. 1918 (Sammlung Schäfer/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

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Abb. 25: Wartende Frauen und Kinder vor der Suppenausgabe in der Kriegsküche Recklinghausen-Hillerheide, August 1916 (Sammlung Schäfer/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

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Abb. 26: Pferderennen auf der Galopprennbahn Gelsenkirchen-Horst, August 1916 (Sammlung Schäfer/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

Neben vielen menschenleeren Landschafts- und Gebäudebildern bannte Schäfer auch eine ganze Reihe belebter Motive auf seine Glasplatten: spielende Kinder an der Lippe und am Dorfbrunnen, Kinder auf einem Schießstand im Jahr 1915, ein Pferderennen in Gelsenkirchen-Horst im August 1916 (Abb. 26), die Einschulung des Sohnes im gleichen Jahr, Familienausflüge mit Frau und Kindern in die Umgebung, Honoratiorentreffen, Schulwanderungen „mit der Prima“ (Abb. 27), Ausflügler an den Imbissständen auf dem Halterner Annaberg und sogar den zweimaligen Besuch eines türkischen Freundes der Familie aus Konstantinopel im Oktober 1917 und Mai 1918 (Abb. 28). Solche belanglos, manchmal auch kurios wirkenden Bilder bergen durchaus einen Quellenwert für die Geschichte des Ersten Weltkriegs und seine Wahrnehmung: Sie illustrieren, dass der Krieg in der Selbstdeutung von Bildungsbürgern wie Joseph Schäfer noch kein totaler war und zumindest ein Teil des Alltagslebens weiter seinen gewohnten zivilen Gang ging. Dass Schäfers Fotografien der Jahre 1917/18 die existenzielle materielle Not der letzten Kriegsphase ebenso ausblenden wie den zunehmenden Unmut in der Bevölkerung, belegt einmal mehr, dass der Wert der Quelle Fotografie weniger in ihrer realhistorischen als in ihrer deutungshistorischen Aussagekraft liegt.

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Abb. 27: Schulausflug mit der „Prima“ der städtischen Oberrealschule. In der Mitte sitzend: Lehrer Dr. Joseph Schäfer, Juli 1917 (Sammlung Schäfer/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

Abb. 28: Der türkische Freund der Familie Mehmed Zek Alaeddin aus Konstantinopel mit Schäfers Sohn Hans-Joachim, Oktober 1917 (Sammlung Schäfer/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

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Das gilt noch stärker für einen weiteren kleinen Sammlungsbestand zur Heimatfront, der im Bildarchiv des LWL-Medienzentrums als Teil eines privaten Nachlasses überliefert ist, aber von professioneller Hand stammt und am Beginn des Ersten Weltkriegs augenscheinlich aus propagandistischem und kommerziellem Interesse entstand.85 Sämtliche Fotos sind vom in Gütersloh ansässigen Fotografen Hermann Goldbecker angefertigt und als Postkarten verkauft worden.86 Der im LWL-Medienzentrum überlieferte Sammlungssplitter hat zwei Schwerpunkte: Rund die Hälfte der 31 Fotografien dokumentiert die Mobilmachung des Sommers 1914 in der ostwestfälischen Kreisstadt Gütersloh: eine Parade, die Schießausbildung von Rekruten und vor allem die Verladung von Kriegsgerät und Verabschiedung von Soldaten auf dem Bahnhof der Stadt. Frappierend ist, wie sehr einige der Aufnahmen motivisch den bis heute in fast jedem Schulbuch abgedruckten Bildikonen zur Illustration der (tatsächlichen oder vermeintlichen) Kriegsbegeisterung von 1914 gleichen:87 Demonstrativ zuversichtlich präsentieren sich auf gleich vier Aufnahmen Soldaten in den offenen Türen und Fenstern von Zugwaggons den ihnen zuwinkenden Menschen auf dem Bahnsteig; und selbst die typischen, auf die Waggons gekritzelten markigen Siegesparolen sind zu erkennen (Abb. 29). Offenbar gehörten solche Rituale auch in der westfälischen Provinz zu festen Bestandteilen der öffentlichen Inszenierung des „Augusterlebnisses“. Den zweiten Schwerpunkt bilden Aufnahmen von Kriegsgefangenen. Vier zeigen deren Ankunft auf dem Bahnhof von Gütersloh, sechs ihre Internierung im Sennelager zwischen Bielefeld und Paderborn. Anders als auf den Schirrmann-Fotos werden die Kriegsgefangenen hier visuell eindeutig als exotische Trophäen vorgeführt, zumal drei Aufnahmen explizit „Zuaven“, also französische Kolonialsoldaten, ablichten, während ein viertes, durch die auf die Abbildung gedruckte Texterläuterung eine ausdrückliche Herabwürdigung vornimmt: „Von England für je 800 Mk. gedungene Söldner beim Minenlegen in der Nordsee abgefangen, bei der Arbeit im Sennelager“ (Abb. 30).88 Solche Fotos und Bildlegenden, die die Kriegsgegner der Deutschen als rassisch-kulturell und moralisch minderwertige Söldnertruppen diskreditierten,89 sollten gleichsam spiegelbildlich wirken: Die Deutschen – so ihre Botschaft – fochten in diesem Krieg anders als ihre Feinde mit eigenen Kräften und fairen Mitteln.

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Bildarchiv des LWL-Medienzentrums für Westfalen, Sammlung Niemöller. Der Gütersloh betreffende Teil der Aufnahmen ist parallel auch im Stadtarchiv Gütersloh überliefert. Freundlicher Hinweis des Gütersloher Stadtarchivars Stephan Grimm vom 2.9.2013. Ein Teil der im Stadtarchiv befindlichen Aufnahmen wird 2014 in einer Ausstellung zu sehen sein, die zunächst in Gütersloh und anschließend in der französischen Partnerstadt Chateauroux gezeigt wird. Zu den Stereotypien des Bildkanons vom August 1914 vgl. Hüppauf, Fotografie, S. 113. Im Stadtarchiv Gütersloh lagert übrigens eine weitere Postkartenserie Goldbeckers, die das dortige Offiziersgefangenenlager darstellt und offensichtlich mit der Intention entstand, die gute Behandlung der gefangenen Offiziere zu demonstrieren. Zu den langen Kontinuitäten des „kolonialen Blicks“ in der Kriegsfotografie des 19. und 20. Jahrhunderts vgl. Petra Bopp, „Die Kamera stets schussbereit“. Zur Fotopraxis deutscher Soldaten im Ersten und Zweiten Weltkrieg, in: Paul (Hg.), Jahrhundert der Bilder, S. 164-171, hier S. 167 f.

Fotografien von Front und Heimatfront − Der Erste Weltkrieg in Bildsammlungen aus Westfalen

Abb. 29: Verabschiedung von Soldaten auf dem Bahnhof in Gütersloh, Postkarte 1914 (Hermann Goldbecker/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

Abb. 30: Britische Kriegsgefangene im Sennelager, Postkarte 1914 (Hermann Goldbecker/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

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3.4. Fotografien im „Krieg der Erinnerung“ – Unterrichtsbildreihen der Weimarer Zeit „Wars never stop when fighting ends“90 – für kaum ein Völkerschlachten gilt dieser Satz von Susan Carruthers stärker als für den Ersten Weltkrieg. Kaum schwiegen im November 1918 die Waffen, da setzte zwischen den ehemaligen Feindstaaten, aber auch innerhalb Deutschlands ein „Krieg um die Erinnerung“ ein.91 Die Fotografie bildete in diesem Kampf um die Deutungshoheit über die Fragen nach der Schuld am Kriegsbeginn und an der deutschen Niederlage („Dolchstoßlegende“), nach der Kriegführung („Kriegsgräuel“) und nach der Sinnhaftigkeit des Krieges überhaupt eine wichtige Waffe. Nachdem zunächst der linke Pazifist Ernst Friedrich in seinem 1924 in vier Sprachen veröffentlichten Bildwerk „Krieg dem Kriege!“ die emotionale Wucht bis dahin nie veröffentlichter Schockfotos vom Leiden und Sterben an der Front und in den Lazaretten demonstriert hatte,92 antwortete die nationalkonservative Rechte mit einer ganzen Reihe von patriotischen Weltkriegsbüchern, die in Bild und Text den Mythos des unbesiegten deutschen Heeres, der technischen wie moralischen Überlegenheit der deutschen Kriegführung sowie allgemein der Faszination des Schreckens an der Front huldigten.93 Die Publikationen einer eher konservativen Richtung – beispielsweise von George Soldan und Hermann Rex94 – wurden dabei hinsichtlich der visuellen Ausdruckskraft bald überholt von Vertretern der neuen nationalistischen Rechten, etwa Ernst Jünger und Franz Schauwecker,95 die die „Stahlgewitter“ des Frontkrieges als Geburtsstunde eines neuen soldatischen Menschen und einer neuen Weltauffassung betrachteten und in ihren Bildpublikationen einer Ästhetik der Gewalt huldigten. Beide Richtungen konnten für ihre Veröffentlichungen auf die umfangreichen Sammlungsbestände des 1919 zur Untermauerung der nationalkonservativen Kriegsdeutung gegründeten „Reichsarchivs“ zurückgreifen, das die während des Krieges vom Bildund Filmamt (BUFA) der Obersten Heeresleitung zu Propagandazwecken zusammengestellten Fotografien übernommen hatte.96 Vor allem die Bücher der neuen Nationalisten nahmen aber auch Agenturbilder und Amateurfotos von „Schützengrabenphotographen“ auf.

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Zit. nach Paul, Bilder des Krieges, S. 133. Vgl. Michael Haverkamp, „Zwei Millionen Tote! Umsonst?“. Der Erste Weltkrieg in der politischen Propaganda der Zwischenkriegszeit, in: Spilker/Ulrich (Hg.), Tod als Maschinist, S. 228-239 und Gerd Krumeich, Konjunkturen der Weltkriegserinnerung, in: Rainer Rother, Der Weltkrieg 1914-1918. Ereignis und Erinnerung, hg. im Auftrag des Deutschen Historischen Museums, Berlin 2004, S. 68-73. Ernst Friedrich, Krieg dem Kriege! Guerre à la Guerre! War against War Oorlog aan den Oorlog!, Berlin 1924; vgl. dazu auch Astrid Deilmann, Grenzen des Darstellbaren in der Fotorafie. Anmerkungen zu Ernst Friedrichs „Krieg dem Kriege!“ von 1924, in: Raoul Zühlke (Hg.), Bildpropaganda im Ersten Weltkrieg, Hamburg 2000, S. 397-430. Vgl. dazu Oster, Gesicht des Krieges; Paul, Bilder des Krieges, S. 133-137. Hermann Rex, Der Weltkrieg 1914-1918 in seiner rauhen Wirklichkeit. Das Frontkämpferwerk. 600 Originalaufnahmen des Kriegs-Bild- und Filmamtes und des Fotografen Hermann Rex, Oberammergau 1926; George Soldan, Der Weltkrieg im Bild: Originalaufnahmen des Kriegs-, Bild- und Filmamtes aus der modernen Materialschlacht, Oldenburg 1926. Jünger, Antlitz; Schauwecker, So war der Krieg. Vgl. Oster, Gesicht des Krieges; S. 25-27.

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Während die visuelle Deutungsschlacht der Text-Foto-Bücher der Weimarer Republik in einer Reihe von Studien aufgearbeitet ist, hat die Tatsache, dass Kriegsfotografien auch im Schulunterricht der Zwischenkriegszeit zum Einsatz kamen, bislang keine Beachtung in der historischen Forschung gefunden. Dass der pädagogische Einsatz von Weltkriegsfotografien aber ein lohnendes Forschungsfeld sein kann, zeigt ein Bestand von 18 Unterrichtsbildreihen mit zusammen rund 550 hochwertigen Fotografien, die im Bildarchiv des LWL-Medienzentrums überliefert sind. Die Serien stammen aus dem Verleihbestand der ehemaligen Lichtbildstelle des Regierungsbezirks Arnsberg und wurden dem LWL-Bildarchiv 1998 zusammen mit einer großen Zahl von heimatkundlichen Unterrichtsbildreihen überlassen.97 Sie sind inzwischen allesamt online erschlossen und recherchierbar.98 Solche Bildreihen in Form von Glaspositiven, zumeist im Format 8 x 10 cm, etablierten sich zum Teil schon vor, flächendeckend dann nach dem Ersten Weltkrieg als wichtiges neues Medium zur Veranschaulichung des Unterrichts. Sie wurden mit lichtstarken Projektoren an die Wände der verdunkelten Klassenräume geworfen und in aller Regel durch einen Vortrag des Lehrers begleitet.99 Auch in den Geschichtsunterricht und die „vaterländische Erziehung“ fanden die Lichtbildreihen rasch Eingang. Um den wachsenden Bedarf an diesen Bildern zu decken, entstanden bald spezielle Verlage, die Diaserien für Lehrzwecke produzierten und verkauften, meist mit erläuternden Begleitheften für die Hand des Lehrers, die heute eine wichtige Erschließungshilfe bilden. Auch 15 der 18 im Bildarchiv des LWL-Medienzentrums überlieferten Bildreihen zum Ersten Weltkrieg sind eindeutig Verlagsproduktionen. Lediglich bei den drei zeitlich frühesten Reihen, die bemerkenswerterweise bereits während des Krieges entstanden und schon 1917 im Verleihverzeichnis der Lichtbildstelle Arnsberg gelistet sind,100 ist die Herkunft unklar. Sie tragen die Titel „Bilder aus dem ersten Kriegsjahre 1914“, „Bei unseren tapferen Feldgrauen in West und Ost“ und „Bilder aus den Kriegsjahren 1915-1917“.101 Motivisch zeichnen die drei Reihen ein durchaus facettenreiches Panoramabild des Krieges: Sie zeigen – natürlich immer aus deutscher Perspektive – Kriegsschauplätze, Kriegstechnik und Kriegsakteure aller Art, von Generälen über Fliegeriko97

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Vgl. dazu schon Markus Köster, Fotografien als Medien der Heimatpflege. Entstehung, Funktion und Bildprogramm westfälischer Lichtbildreihen der Jahre 1912 bis 1939, in: Westfälische Forschungen 58 (2008), S. 185-212. Bildarchiv des LWL-Medienzentrums für Westfalen, Sammlung 01: Historische Landeskunde. Die Reihen sind jeweils unter dem Kürzel „MZA“ mit der ursprünglichen Reihennummer und einem allerdings nicht immer originalen Titel verzeichnet. Vgl. Willy Scheel, Das Lichtbild und seine Verwendung im Rahmen des regulären Schulunterrichts, Leipzig 1908; Hans Ammann, Lichtbild und Film in Unterricht und Volksbildung. Lehrbuch der Technik, Pädagogik, Methodik und Ästhetik des Lichtbildes, München 1936; Joachim Paschen, AV-Medien für die Bildung. Eine illustrierte Geschichte der Bildstellen und des Instituts für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht, Grünwald 1983, S. 10-12. Siehe das Verzeichnis der Lichtbildstelle Arnsberg, in: Mitteilungen der staatlichen Zentralstelle für Jugendpflege im Regierungsbezirk Arnsberg 5 (1917), H. 3, Anhang, Nr. 3, S. 7. Dort sind mit „Der Kaiser und der Krieg“, „Durch Belgien“ und „Die Kämpfe um Verdun 1916“ noch drei weitere, nicht erhaltene Reihen gelistet. Die erstgenannte Reihe bestand aus 54 Bildern (erhalten 50), die zweite aus 71 (erhalten 39), die dritte aus 80 (erhalten 67). Im Bildarchiv des LWL-Medienzentrums tragen die Reihen die Signaturen MZA 542-544.

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nen und Kriegsgefangene bis zu einem 72-jährigen Kriegsfreiwilligen und einem deutschen Kriegselefanten namens Jenny. Einen besonderen Akzent legen die Reihen auf die Internationalität des Krieges: Neben der deutschen West- und Ostfront lernen die Schüler den Krieg in den Alpen, auf dem Balkan, in Kleinasien und in Afrika kennen. In fast touristischer Manier werden bauliche Sehenswürdigkeiten der von deutschen Truppen besetzten Regionen und Städte vorgeführt: der Dom von Reims ebenso wie die Tuchhallen in Krakau oder eine Synagoge im heute weißrussischen Lunna Wola. Aus heutiger Sicht besonders eindrücklich sind Bilder, die die Zivilbevölkerung und ihr Kriegsschicksal ins Bild rücken: Jüdische Händler, die deutschen Soldaten vor der Kulisse eines ärmlichen Shtetls Fleisch verkaufen, Flüchtlingstrecks in Ostpreußen und Galizien (Abb. 31) oder polnische Bauern, die deutsche Offiziere auf Knien um Entlassung aus der Zwangsarbeit bitten (Abb. 32). Bemerkenswert ist, dass die für den Schulunterricht erstellten Bilder auch Verwundung und Tod nicht völlig ausblenden: Ein eindrucksvolles Foto zeigt ein deutsches Lazarett mit Brandverletzten (Abb. 33), auf einem anderen transportieren österreichisch-ungarische Soldaten in einem Tragetuch einen gefallenen Kameraden und auf einem dritten liegt ein totes Pferd auf einer Straße – für Kinder ein starkes, weil nachvollziehbares Symbol für Leiden und Tod.102 Zu jeder der drei Reihen ist ein Begleitmanuskript unbekannter Autorenschaft erhalten.103 Die ausformulierten Texte ordnen den Fotografien gleichsam die erwünschten Botschaften an die Schüler zu. So heißt es zu einer Aufnahme, die vier Soldaten in einem eher beengt und primitiv wirkenden Unterstand zeigt: „Behaglich haben sich einige Soldaten am warmen Ofen eingefunden, um ihre Liebesgabenzigarren zu rauchen und von der fernen Heimat und ihren Lieben daheim zu erzählen“ (Abb. 34).104 Die unspektakuläre Abbildung eines verlassenen russischen Schützengrabens wird wie folgt kommentiert: „Die Verluste des Feindes gingen ins Ungeheure. Die weichenden Russen, aufs Schärfste verfolgt, mussten sich zu Tausenden ergeben. Das furchtbare Artillerieund Gewehrfeuer der Unsrigen lichtete ihre Reihen. Aber auch mancher Brave von unseren Feldgrauen fand sein Grab an den Karpatenhängen und in Galizien“.105 Der Kommentar zu einem Foto, auf dem deutsche Soldaten in einem Schützengraben posieren, erläutert sogar die Entstehungsbedingungen und originäre Funktion dieser Fotografie: „An einer ungefährdeten Stelle sitzen unsere Feldgrauen an den Rändern des Grabens, um sich auf die photographische Platte bannen zu lassen. Eine lichtdichte Dunkelkammer findet der Photograph in den Unterständen und bald gehen die Ansichtskarten mit Gruß und Kuss in die liebe deutsche Heimat ab“ (Abb. 35).106 102

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Zur Darstellung von toten Pferden als Symbol für Sterben und Tod im Krieg siehe z. B. die Abbildungen bei Jünger, Antlitz, S. 297-301; vgl. auch Oster, Gesicht des Krieges, S. 28 f. Die Manuskripte sind im LWL-Medienzentrum bemerkenswerter Weise als getippte DIN-A4-Seiten überliefert, die auf der Titelseite den Hinweis „Eigentum der Lichtbilderhauptstelle für Jugendpflege im Regierungsbezirk Arnsberg. Alle Rechte vorbehalten“ tragen. Trotzdem ist davon auszugehen, dass die Manuskripte nicht nur für die Lichtbildstelle Arnsberg verfasst worden, weil keinerlei regionale Bezüge erkennbar sind. Vortragsmanuskript „Bei unseren tapferen Feldgrauen in West und Ost“, S. 7 f. (Bildarchiv des LWL-Medienzentrums). Ebd., S. 19. Ebd., S. 8.

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Abb. 31: Polnische Flüchtlinge in Galizien, ca. 1915 (Unterrichtsbildreihe 1917/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

Abb. 32: Polnische Bauern bitten deutsche Soldaten um ihre Entlassung aus der Zwangsarbeit, Polen ca. 1916 (Unterrichtsbildreihe 1917/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

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Abb. 33: Verwundete und Brandverletzte in einem deutschen Lazarett, Frankreich ca. 1916 (Unterrichtsbildreihe 1917/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

Abb. 34: Soldaten im Unterstand in einem Steinbruch bei Soissons/Nordfrankreich, 1914 (Unterrichtsbildreihe 1917/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

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Fotografien von Front und Heimatfront − Der Erste Weltkrieg in Bildsammlungen aus Westfalen

Abb. 35: Deutsche Soldaten posieren in einem Schützengraben für eine Postkarte, Frankreich ca. 1914 (Unterrichtsbildreihe 1917/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

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Dass die 1917 publizierten Reihen und Begleittexte bereits in hohem Maße unter dem Eindruck der sich im vierten Kriegsjahr ausbreitenden Kriegsmüdigkeit standen und ihr durch patriotische Durchhalteparolen entgegenzutreten versuchen, verdeutlicht das Schlusswort des Vortrags zur dritten Reihe. Dort heißt es: „Möge bald nach siegreichem Ringen ein ehrenvoller, dauernder Friede der Lohn sein für all die glänzenden Heldentaten unserer tapfern [!] Feldgrauen, unserer tapfereren Blaujacken!“107 Die übrigen 15 im LWL-Medienzentrum überlieferten Reihen stammen aus der Nachkriegszeit. Acht wurden Mitte der 1920er Jahre vom „Vaterländischen Lichtbildverlag“ Stuttgart unter dem Gesamtreihentitel „Der Weltkrieg in Lichtbildern. Einzeldarstellungen mit Erläuterndem Text“ herausgebracht. Nach den im Begleitheft vermerkten Originalnummern muss der Vaterländische Lichtbildverlag insgesamt über hundert dieser Weltkriegsbildreihen publiziert haben.108 Die im LWL-Medienzentrum überlieferten Reihen enthalten fast alle je 24, zwei von ihnen 48 Bilder. Mit Ausnahme der Reihe „Unser Hindenburg“ nehmen sie einzelne Kriegsschauplätze und Schlachten in den Blick, von „Ypern 1914“ über die „Tankschlacht bei Cambrai“ bis zur „Skagerrakschlacht“. Als Begleitheftautoren fungierten durchweg ehemalige Offiziere, vom Leutnant bis zum Vizeadmiral. Sie verfassten Vorträge, die zumeist keinen unmittelbaren Bezug auf die Fotografien nahmen, sondern den Lichtbildfundus als Erzählanlass benutzten, um den Schülern mit Anekdoten und Heldengeschichten sowie militärtechnischen Erläuterungen die Bedeutung und Größe des Kampfes zu vermitteln. Augenfällig ist dabei die starke Glorifizierung der deutschen Soldaten, denen eine Herabwürdigung der Gegner, vor allem der von Briten und Franzosen eingesetzten Kolonialsoldaten entgegensteht. So beschwört Leutnant d.R. Wilhelm Schulz in seinem Begleitheft „Die deutsche Jugend in der Schlacht von Ypern im Oktober-November 1914“ den Helden- und Opfermut der jungen deutschen Kriegsfreiwilligen, die in Flandern „in grenzenloser Begeisterung und wildestem Draufgängertum einen wahrhaften Heldenkampf geliefert und ihre Leiber zum Schutze des Vaterlandes hingeworfen“ hätten,109 während sich auf der gegnerischen Seite „ein buntes Völkergemisch – Engländer, Inder, Franzosen und Neger ... zur Vernichtung des deutschen Heeres versammelt“ habe (Abb. 36).110

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Vortragsmanuskript „Bilder aus den Kriegsjahren 1915-1917“, S. 28. Die im LWL-Medienzentrum überlieferten Reihen tragen Originalnummern von 10 bis 102. Wilhelm Schulz, Die deutsche Jugend in der Schlacht von Ypern im Oktober – November 1914, S. 27. Begleitheft zur Reihe MZA 534: Ypern 1914. Der Autor rekurriert auf den „Mythos von Langemarck“, die (falsche) Behauptung der Heeresleitung, dass in den beteiligten Truppenteilen vor allem junge deutsche Kriegsfreiwillige gedient und sich bei einem Angriff westlich des Ortes Langemarck am 10. November 1914 mit dem Deutschlandlied auf den Lippen für ihre Nation geopfert hätten. Ebd., S. 7. Das Bild zeigt übrigens acht indische Angehörige der britischen Truppen mit einem englischen sowie einem französischen Offizier; ein „Neger“ ist nirgends zu entdecken.

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Abb. 36: „Ein buntes Völkergemisch“ − Indische Soldaten mit einem englischen und einem französischem Offizier, Ypern 1914 (Unterrichtsbildreihe ca. 1925/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

Die Reihe „Aus den Kämpfen um Reims und in der Champagne 1914“ eröffnet mit einer Propagandazeichnung der Entente, die deutsche Gräueltaten an der belgischen Zivilbevölkerung anprangert (Abb. 37).111 Sie wird im Begleitheft von Major a. D. Fritz Renner als „ein belgisches Hetzbild“ charakterisiert und mit den Worten kommentiert: „Jeder deutsche Soldat, der durch Belgien marschiert ist, weiß, in welch hinterhältiger, niederträchtiger und grausamer Weise sich die belgische Zivilbevölkerung an den Kämpfen beteiligt und den deutschen Vormarsch aufzuhalten versucht hat. Mancher deutsche Soldat ist den Schüssen hinterlistiger belgischer Heckenschützen zum Opfer gefallen. Daß in solchen Fällen das Kriegsrecht sprechen mußte, ist selbstverständlich, ebenso selbstverständlich und wahr aber ist, daß die deutsche Führung und der gutmütige deutsche Soldat sich niemals zu übertriebenen oder gar grausamen Handlungen, noch dazu gegen wehrlose Frauen, hergegeben haben.“112

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Dass es zu solchen Verbrechen an der Zivilbevölkerung kam, ist heute unumstritten; vgl. Laurence van Ypersele, Belgien, in: Hirschfeld/Krumeich/Renz, Enzyklopädie, S. 44-49, hier S. 45. Fritz Renner, Aus den Kämpfen um Reims und in der Champagne 1914, S. 1. Begleitheft zur Reihe MZA 535.

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Abb. 37: Belgisches Propagandabild: Deutsche Soldaten verüben Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung (Unterrichtsbildreihe ca. 1925/LWLMedienzentrum für Westfalen)

Während die Bildreihen des Vaterländischen Lichtbildverlags sich eindeutig einem unversöhnlich-revisionistischen und kriegsglorifizierenden Geschichtsbild verpflichtet zeigen, beinhalten die als dritter Teilbestand im LWL-Medienzentrum archivierten Unterrichtsreihen zum Ersten Weltkrieg eine sehr viel ausgewogenere Darstellung. Es handelt sich um sieben Reihen à 25 Bilder, die 1929 vom Leipziger Spezialverlag „E.A. Seemanns Lichtbildanstalt“ als „Seestern-Lichtbildreihen zur Geschichte, 4.Teil: Der Weltkrieg und die Nachkriegszeit“ mit einem gemeinsamen Begleitbuch herausgegeben wurden.113 Als Bearbeiter aller sieben Reihen zeichnete der Leipziger Studienrat Karl Leonhardt verantwortlich, prominenter Mitherausgeber war jedoch der ebenfalls aus Leipzig stammende Historiker, Publizist und Politiker Prof. Dr. Walter Goetz, der sich schon während des Ersten Weltkriegs als Befürworter eines Verständigungsfriedens exponiert hatte und von 1920 bis 1928 für die linksliberal-republiktreue Deutsche Demokratische Partei im Reichstag saß.114 Im Vorwort heißt es, dass „aus einer ungeheuren Zahl von Bildern (es waren über 50.000) diese 150 Bilder vom Weltkrieg ausgewählt wurden. Dabei leitete der Gedanke die Auswahl, den Weltkrieg nicht in allen Einzelheiten seines zeitlichen Ablaufs im 113

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Walter Goetz/Karl Leonhardt (Hg.), Deutsche Geschichte, 4. Teil: Der Weltkrieg und die Nachkriegszeit (Seestern-Lichtbildreihen zur Geschichte), Leipzig 1929. Vgl. Wolf Volker Weigand, Walter Wilhelm Goetz 1867-1958. Eine biographische Studie über den Historiker, Politiker und Publizisten, Boppard 1992.

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Bilde darzustellen, sondern nur seine typischen Gestalten als Graben- oder Bewegungskrieg, als Minen- oder Gaskrieg u.s.f. zu geben. Die Landschaft des Krieges und der Mensch im Kriege, wie sie sich jedem Mitkämpfer unauslöschlich eingeprägt hat, soll hier in typischen Bildern erscheinen.“115 Die Reihenstruktur folgt dem Versuch einer systematischen Gliederung: Zwei einleitende Serien zeigen Karten zum Kriegsverlauf, handelnde Personen und wichtige Ereignisse sowie die Kriegsschauplätze, dann folgen drei Reihen, die die „Technik des Weltkrieges“, unterteilt in „Infanterie“, „Artillerie und übrige Waffen“ sowie „See und Luftkrieg“, darstellen. Die beiden übrigen Reihen thematisieren „Die Heimat im Kriege“ sowie „Die Welt nach dem Kriege“. Anders als die Reihen des Vaterländischen Lichtbildverlags üben die Seestern-Lichtbildreihen zumindest partiell Kritik an der deutschen Kriegführung116 und rücken neben vielen militärtechnischen Details auch die Opfer und die Inhumanität des Krieges ins Bild. So beschreibt der Begleittext zu einem Bild der Serie „Infanterie“, das mit „Gasangriff“ überschrieben ist (Abb. 38), detailliert die Eskalationsspirale der Entwicklung und des Einsatzes von Giftgas durch beide Seiten und weist ausdrücklich darauf hin, dass der Giftgaseinsatz der Haager Landkriegsordnung widersprach.117 Und zum Foto eines russischen Leichenfeldes heißt es: „Deutlicher noch als Zahlen redet dieses Bild. Es vermittelt eine Vorstellung davon, welches Opfer an Menschen der Krieg gekostet. Er vermittelt zugleich aber auch eine deutliche Anschauung, mit welcher rücksichtslosen Geringschätzung das Leben des einzelnen oft eingesetzt wurde, ohne daß der Erfolg die Opfer auch nur lohnte“ (Abb. 39).118 Der Begleittext zur Serie „Die Heimat im Kriege“ schließlich benennt explizit eine Reihe von Missständen an der Heimatfront, beispielsweise die katastrophale Ernährungslage, den mangelnden Arbeitsschutz für erwerbstätige Frauen, die überdimensionierten Nagelungsskulpturen („Der eiserne Hindenburg“) sowie die Ausbreitung von Schiebertum und Schwarzmarkthandel.119 Zudem führt die Serie den Schülern zumindest in einem Bild, das Notwohnungen der Bevölkerung von Reims zeigt, auch das Leid der Zivilbevölkerung in den unmittelbar vom Krieg betroffenen Feindstaaten vor Augen (Abb. 40).

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Goetz/Leonhardt, Deutsche Geschichte, Vorwort. Vgl. z. B. ebd., S. 5-7 (zu den Fehlern und der Führungsschwäche des Generalstabs an der Westfront). Ebd., S. 51 f. Ebd., S. 55. Ebd., S. 78-89.

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Abb. 38: Gasangriff mit flüchtenden Soldaten (Unterrichtsbildreihe 1929/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

Abb. 39: Leichenfeld mit russischen Soldaten, Galizien 1917 (Unterrichtsbildreihe 1929/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

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Abb. 40: Notwohnung in einer Sektkellerei, Reims/Frankreich ca. 1917 (Unterrichtsbildreihe 1929/LWL-Medienzentrum für Westfalen)

Für die Seestern-Lichtbildreihen gilt genau wie für die übrigen überlieferten Reihen, dass weder die Fotografen noch die Ursprungssammlungen der zusammengestellten Bilder genannt werden. Die Aufnahmen dürften aber mit hoher Wahrscheinlichkeit im Wesentlichen aus den Beständen des BUFA bzw. des „Reichsarchivs“ sowie von Agenturen stammen und damit aus dem gleichen Fundus, aus dem auch die patriotischen Weltkriegsveröffentlichungen der Zwischenkriegszeit ihre visuellen Quellen bezogen. In einigen Fällen, wie den beiden hier beschriebenen des Gasangriffs und des russischen Leichenfeldes, ist dies auch nachweisbar.120

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Das in der Seestern-Reihe mit „Gasangriff (Martinpuich 1916)“ betitelte Bild ist auch im Bildarchiv des Bundesarchivs überliefert (www.bild.bundesarchiv.de, Nr. 83-R05923, aufgerufen am 9.9.2013) und sowohl bei Rex, Weltkrieg, S. 79 als auch bei Jünger, Antlitz , S. 119 abgedruckt, bei Rex allerdings auf das Frühjahr 1918 datiert und mit der Ortsangabe „Armentieres“ versehen; bei Jünger lautet die Bildunterschrift nur „Ein Gasangriff“. Das Bild „Leichenfeld“ ist bei Schauwecker, So war der Krieg, S. 146 abgedruckt, im Bundesarchiv aber offenbar nicht überliefert.

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Die je spezifische Kombination von Bild-Text-Programm, der didaktische Einsatz und die intendierte Wirkung dieser Unterrichtsbildreihen wäre eine eigene detaillierte Untersuchung wert; dies würde aber den Rahmen dieses Überblicksaufsatzes über regional überlieferte Sammlungsbestände sprengen. Als erste Bestandsaufnahme lässt sich festhalten, dass die Bildreihen einerseits ein sehr facettenreiches Motivspektrum ausbreiten, das für zahlreiche politik- und militärhistorische, aber auch sozial- und kulturhistorische Fragestellungen zum Ersten Weltkrieg umfangreiches visuelles Quellenmaterial bereit stellt. Andererseits vermitteln die Serien – auch wenn sie sich in ihren politischen Kriegsdeutungen und propagandistisch-pädagogischen Intentionen unterscheiden – allesamt keinen auch nur annähernd realistischen oder wenigstens neutralen Eindruck vom Krieg. Sie zeichnen vor allem in Kombination mit den Texten der begleitenden Lehrerhefte ein stark technisches und militärisches Bild, das die brutale Wirklichkeit dieses Völkergemetzels weitgehend ausblendet und in erster Linie der Rechtfertigung und Glorifizierung der deutschen Kriegsführung dienen sollte. Deshalb thematisieren die Bilder mit Ausnahme der Seestern-Lichtbildreihen weder Gefechte noch Niederlagen, weder Gewalt noch Gefahr und schon gar nicht das massenhafte Leiden und Sterben an der Front. Wenn der Tod überhaupt vorkommt, zeigt er entweder den Feind oder wird mit wenigen Ausnahmen auf den friedlichen Ort des gepflegten Soldatengrabs reduziert. Anstelle der negativen Folgen des Krieges werden die Dramatik der verschiedenen Schlachten, die meisterhafte deutsche Technik und die professionelle und moralisch integre Kriegführung der deutschen Soldaten herausgestellt. Auch da, wo die quantitative Personal- und Materialüberlegenheit des Gegners betont wird, bleiben die Deutschen scheinbar militärisch unbezwingbar. In der politischen Diskussion nach 1918 verband sich mit solchen Kriegsdeutungen untrennbar die Frage der Nichtanerkennung von Kriegsschuld, der militärischen Niederlage und des Versailler Vertrages sowie in weiten Bevölkerungskreisen auch die ablehnende Haltung gegenüber der Weimarer Republik als vermeintlicher Nachwirkung des „Dolchstoßes“ in den Rücken der kämpfenden Soldaten. Wenn man davon ausgeht, dass die Schulbildreihen als populäre „neue Medien“ im Unterricht der Weimarer Zeit weiten Einsatz fanden, lassen sich daraus auch Rückschlüsse auf das Geschichtsbild einer ganzen Jugendgeneration hinsichtlich des für die politische Kultur der Zwischenkriegszeit so zentralen Themas der Deutung von Ursachen und Folgen des Ersten Weltkriegs ziehen. Dass die einseitig konservativ-revisionistische Kriegsdeutung im schulischen Geschichtsunterricht weitreichende Folgen für die politische Sozialisation der nachwachsenden Generation gehabt haben dürfte, hat der Publizist Paulus Bünzly schon zeitgenössisch hellsichtig so formuliert: „Aus den zahllosen Veröffentlichungen, die sich auf gefälschte Aktenauswahl stützen und die nichts von dem Blutschlamm der widerwärtigen großen Zeit wissen wollen, aus diesen Publikationen wächst eine Geschichtsschreibung heraus, in der wir auf die Nachwelt kommen. Wir sterben – die Schmöker bleiben. Und in ihnen wird vom Heldentum der deutschen Telephongenerale stehen, von den Siegen der deutschen Fahnen, von Hindenburg, dem garantiert unschädlichen General ... und von allem möglichen ... . Und weil aus den Bücherchen wiederum der

Fotografien von Front und Heimatfront − Der Erste Weltkrieg in Bildsammlungen aus Westfalen

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Extrakt in die Schulbücher kommt, so kann man sich ungefähr einen Begriff machen, wie es im Gehirn eines deutschen Knaben aus dem Jahre 1940 aussehen wird und was der Mann im Jahre 1970 für eine freundliche Anschauung von diesem Kriege, von dieser Schande, von dieser Mordkatastrophe mit den falschen Hinterbliebenen haben wird.“121 4. Schlussbetrachtung Die große Zahl von Fotografien der Jahre 1914 bis 1918, die, weit über die Überlieferung im LWL-Medienzentrum hinaus, überall in Westfalen in Museen, Archiven und Privatsammlungen aller Art zu finden sind, verdeutlicht, dass der Erste Weltkrieg auch in der weit abseits der Front gelegenen westfälischen Provinz ein „Krieg der Bilder“ war und dass er in einer Weise visuell wahrgenommen und miterlebt wurde, wie sie bis dahin kaum vorstellbar war. Nahezu jeder Soldat, der aus Westfalen an die Front ziehen musste, ließ sich zum Abschied in einem Fotoatelier seiner Heimatstadt ablichten, viele Soldaten kauften an der Front die von professionellen Fotografen oder „Knipser-Kameraden“ gefertigten „Schützengrabenfotografien“, um sie als Gruß nach Hause zu schicken, und mancher zog, wie die beiden Lehrer Richard Schirrmann und Bernhard Mangels, mit einer eigenen Kamera an die Front, um die Vielfalt der Eindrücke in diesem existenziellen Lebenseinschnitt fotografisch festzuhalten. Gleichzeitig hatte die Fotografie auch in der Heimat Hochkonjunktur, sei es in Form von Einzel- oder Familienporträts, die die Daheimgebliebenen in Ateliers fertigen ließen, um sie an den Vater, den Ehemann, den Sohn oder Bruder zu schicken, sei es als offizielle Propagandafotografien, die den Kriegsbeitrag der „Heimatfront“ ins rechte Licht rücken sollten, oder als private Dokumentationen der Entwicklungen vor Ort, wie die des Recklinghäusers Joseph Schäfer, auch er bemerkenswerterweise Lehrer von Beruf. Nach dem Krieg fanden dann die im „Erinnerungskulturkampf“ der Weimarer Republik entstehenden Bildbände ihren Weg massenhaft auch in westfälische Bücherregale, während gleichzeitig in den Schulen zahlreiche Bildserien zum Einsatz kamen, die den Heranwachsenden nicht nur ein geschöntes Bild des Krieges vermittelten, sondern − wenn ihre Lehrer die Fotografien entsprechend kommentierten − ihre Einstellung zum Versailler Vertrag und zur Weimarer Republik auch negativ prägten. Dass mit allen vier vorgestellten Sammlungen in besonderer Weise Pädagogen verbunden waren, ist vordergründig bloßer Zufall. Vielleicht spiegelt sich darin aber auch die besondere pädagogische Anschauungskraft des Mediums Bild. Wie bemerkte einst spöttisch der Kabarettist Matthias Beltz: „Bildung kommt von Bild, sonst hieße sie ja Buchung.“ Die Sammlungsanalyse hat gezeigt, dass sich aus den vielen in Westfalen lagernden Fotosammlungen nicht nur für Lehrer, sondern auch für Historiker höchst lohnende Fragestellungen zum Ersten Weltkrieg entwickeln lassen. Alle beschriebenen Bestände laden zu weiteren, eingehenderen Untersuchungen ein. Zu wünschen ist, dass Fotogra-

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Zit. nach Haverkamp, „Zwei Millionen Tote“, S. 230.

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Markus Köster

fien als visuelle historische Quellen nicht eine Domäne weniger Spezialisten bleiben, sondern insgesamt noch stärker als bisher zum Gegenstand thematisch orientierter geschichtswissenschaftlicher Forschungen werden und dabei nicht als illustratives Beiwerk für textorientierte Studien dienen, sondern als faszinierende ereignis-, sozial- und vor allem mentalitätshistorische Quellen sui generis ernst genommen werden.

Birgit Bernard

„... daß den Reichssender Köln einwandfreie Persönlichkeiten leiten“ – Personalpolitik am Westdeutschen Rundfunk 1933–1935 Nach den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 und der Gründung des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda am 13. März 1933 setzte eine groß angelegte „Säuberung“ bei der Westdeutschen Rundfunk GmbH in Köln ein.1 Obwohl kaum eine Organisationseinheit – außer der Putzkolonne − vom personalpolitischen Prozess der „Gleichschaltung“ ausgenommen wurde, offenbarten sich die Konsequenzen, d. h. die Professionalisierungsdefizite der neuen Mitarbeiter, am eklatantesten in den redaktionellen Bereichen und innerhalb der Verwaltungsspitze des Hauses. Aufgrund von Empfehlungen, die maßgeblich aus der Gauleitung Westfalen-Nord unter Gauleiter Dr. Alfred Meyer stammten, wurden zum Teil vollkommen fachfremde Mitarbeiter in führende Positionen im Rundfunkbetrieb lanciert, unter ihnen der Intendant, der Adelsarchivar Dr. Heinrich Glasmeier, sein persönlicher Referent und zeitweiliger Personalchef, Dr. Otto Barlage, der Leiter der Abteilung Musik, Dr. Adolf Raskin, der Leiter der Schallplattenabteilung und Bunten Abende, Hermann Keiper, der Leiter der Programmverwaltung, Wilhelm Tara, sowie der Abteilungsleiter des Bereiches Politik und Zeitfunk, Wilhelm Heikhaus.2 Resultat waren eine Destabilisierung des Betriebes und eine Kette von Affären, die nach der „Gleichschaltung“ des Jahres 1933 zu einem zweiten Personalrevirement in den Jahren 1934 und 1935 führte. Bis heute rekurriert die deutsche Rundfunkgeschichte organisationstheoretisch immer noch auf den Bürokratieansatz Max Webers aus den 1920er Jahren.3 Dieser geht von der Theorie aus, dass die formale Struktur der Instanzenzüge in Behörden und Unternehmen (visualisierbar etwa anhand von Organigrammen) und die durch Arbeitsvertrag entstandenen Befehls- und Gehorsamsketten das dienstliche Handeln des Personals in ausreichendem Maße erklären und abbilden. Neuere organisationstheoretische Ansätze gehen hingegen von einer Wechselbeziehung zwischen der formalen und der informellen Struktur in Unternehmen (Netzwerke, Unternehmenskulturen, individuelle 1

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Birgit Bernard, Gleichschaltung im Westdeutschen Rundfunk 1933, in: Geschichte im Westen 11 (1996), H. 2, S. 186–194 sowie Christa Nink, Folgen nationalsozialistischer Personalpolitik im Westdeutschen Rundfunk 1933. Biographische Notizen − Ein Arbeitsbericht, in: Mitteilungen des Studienkreises Rundfunk und Geschichte 19 (1993), S. 176–191. Zu Meyer vgl. Heinz-Jürgen Priamus, Alfred Meyer. Biographische Skizze eines NS-Täters, in: Stadt Detmold (Hg.), Nationalsozialismus in Detmold. Dokumentation eines stadtgeschichtlichen Projekts, Bielefeld 1998, S. 42–79 und ders., Meyer. Zwischen Kaisertreue und NS-Täterschaft. Biographische Konturen eines deutschen Bürgers, Essen 2011. Heinz Pohle, Der Rundfunk als Instrument der Politik, Hamburg 1955; Ansgar Diller, Rundfunkpolitik im Dritten Reich, München 1980; Konrad Dussel, Hörfunk in Deutschland. Politik, Programm, Publikum (1923–1960), Potsdam 2002. Auch die neue Goebbels-Biographie von Peter Longerich bietet keine neuen diesbezüglichen Forschungsansätze; vgl. Peter Longerich, Goebbels. Biographie, München 2010.

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Birgit Bernard

Motivationen der handelnden Personen etc.) aus, wobei Mitarbeiter teilweise und je nach Opportunität, d. h. Erfolgsaussicht, zwischen formalen und informellen Strukturen wechseln.4 Die Öffnung des Blickwinkels durch die Fokussierung auf informelle Strukturen, die insbesondere durch biografische Untersuchungen flankiert und gestützt wird, erlaubt eine differenziertere Wahrnehmung der Gesamtorganisation des Rundfunks und seiner ausführenden Organe im Dritten Reich. Wie im Laufe der folgenden Fallstudie zu zeigen sein wird, lief der „Propagandaapparat“ mitnichten so reibungslos wie bisher angenommen. Führungsdefizite in der Intendanz: Dr. Heinrich Glasmeier Im Frühjahr 1933 hielt man im Gau Westfalen-Nord Ausschau nach Karriereoptionen für den Gaukulturwart Dr. Heinrich Glasmeier (1892–1945/1950 für tot erklärt), Direktor der Vereinigten Westfälischen Adelsarchive und Leiter der Archivberatungsstelle Westfalen, dessen wirtschaftliche Situation labil war.5 Glasmeiers Entrée für seinen weiteren Aufstieg war die bis 1945 währende Protektion durch Hitler, den er möglicherweise schon 1932 in Münster, spätestens aber im Rahmen des „Lippischen Wahlkampfes“ im Dezember 1932/Januar 1933 persönlich kennengelernt hatte. In einem Schreiben vom 15. März 1933 an das Preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung interventierte Gauleiter Meyer für seinen Gaukulturwart, indem er ihn für das Amt eines Kurators der Universität Münster ins Spiel brachte. Die Forderung wurde mit der „Führermeinung“ unterfüttert, Hitler halte Glasmeier für den „besten[n] Kenner der Geschichte und Kultur dieses Landes“. Eine Kopie des Schreibens ging am 19. März an die Reichskanzlei. Anfang April sickerten im Westdeutschen Rundfunk Informationen über den künftigen Intendanten durch. Glasmeier war zu diesem Zeitpunkt zwar formal Mitglied des − dann allerdings nicht mehr tagenden − Programmbeirates des Westdeutschen Rundfunks, ansonsten in Rundfunkfragen jedoch völlig unbedarft. Symptomatisch sind seine Äußerungen im Rahmen einer Pressekonferenz in Münster im Mai 1933, wonach er nur „ungern und der Pflicht gehorchend“ Intendant in Köln geworden sei, und ein Artikel vom April 1933, in dem er als eine seiner ersten Amtshandlungen die Gründung einer Archivberatungsstelle beim Rundfunk zur intensiveren Verbreitung von Archiv- und genealogischen Fragen ins Spiel brachte und einen „Nachtwächterruf“ zum Programmschluss forderte.6 Glasmeier vermochte Akzente im Bereich von Heimatsendungen und der rheinisch-wesfälischen Heimatkunde zu setzen, insgesamt war er jedoch sowohl verwaltungstechnisch als auch fachlich mit der Führung eines Rundfunkbetriebes von ca. 300 Mitarbeitern überfordert. 4

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Überblick über die verschiedenen historischen und zeitgenössischen Ansätze bei Georg Schreyögg, Organisation. Grundlagen moderner Organisationsgestaltung, 5. Aufl., Wiesbaden 2008. Norbert Reimann, Heinrich Glasmeier, in: Friedrich Gerhard Hohmann (Hg.), Westfälische Lebensbilder, Bd. 17, Münster 2005, S. 154–184 sowie Norbert Fasse, Katholiken und NS-Herrschaft im Münsterland. Das Amt Velen-Ramsdorf 1918–1945, Bielefeld 1996. Westdeutscher Beobachter vom 21.5.1933 und Heinrich Glasmeier, Archivpflege und Rundfunk, in: Richard Kolb/Heinrich Siekmeier (Hg.), Rundfunk und Film im Dienste nationaler Kultur, Düsseldorf 1933, S. 409– 413.

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Durch eine Revisionsprüfung seitens der organisatorisch vorgesetzten Dachgesellschaft des deutschen Rundfunks, der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft (RRG) in Berlin, und Nachforschungen des Winterhilfswerks wurden ein Missmanagement ungeahnten Ausmaßes und eine Korruptionsaffäre aufgedeckt, in die der Leiter des Ressorts Kammermusik und der „Bunten Abende“, Hermann Keiper, maßgeblich verwickelt war.7 Hierbei wurden Gelder der NSV zu Lasten des Winterhilfswerks und des Reichssenders Köln veruntreut. Glasmeier hatte den zuvor arbeitslosen Cellisten Keiper eingestellt und ihm bei der verwaltungstechnischen Abwicklung der „Bunten Abende“ vollkommen freie Hand gelassen. Eine Kontrolle der Rechnungslegung Keipers erfolgte zu keiner Zeit, weder durch die Verwaltungsabteilung noch durch den Intendanten. Glasmeier begnügte sich mit Keipers pauschalen Versicherungen, dass „alles in Ordnung“ sei. Im Sommer 1934 eskalierte die Situation am Sender, und sie wurde vor allem durch mangelnde Expertise von Mitarbeitern in leitenden Stellungen heraufbeschworen. Im Zuge der Affäre wurde Glasmeier vom Propagandaministerium für zehn Monate vom Dienst suspendiert, eine Strafversetzung behielt sich Goebbels vor. Hermann Keiper wurde am 12. Juni 1934 − unter anderem wegen Urkundenfälschung − fristlos entlassen, ebenso seine Sekretärin Esch. In Berlin waren sowohl das Propagandaministerium als auch die RRG alarmiert und entfalteten eine hektische Betriebsamkeit. Ein Skandal in Köln war jedoch politisch nicht opportun, da die Vorbereitungen für die Eröffnung des großen „Rundfunkprozesses“ gegen „Magnus und Genossen“, d. h. gegen führende Vertreter des Rundfunks der Weimarer Republik, gleichzeitig in Berlin auf Hochtouren liefen. Als eigentlicher Drahtzieher der Unternehmung erhoffte sich Reichssendeleiter Eugen Hadamovsky von der RRG eine medienwirksame Generalabrechnung mit dem vermeintlich hoffnungslos korrupten Rundfunk der „Systemzeit“. So hatte er anlässlich einer Rede im Berliner Sportpalast vom 12. August 1933 gefordert, es müsse endlich „Schluß“ sein mit dem „Korruptionsskandal im deutschen Rundfunk“, weshalb er von Goebbels den Befehl erhalten habe, im Rundfunk „aufzuräumen“. Der erhoffte Effekt in dem schließlich am 5. November 1934 vor dem Landgericht in Moabit eröffneten Prozess sollte jedoch ausbleiben. Damit ergab sich eine paradoxe Situation für das Regime: Während der „Rundfunkprozess“ in Berlin keine Korruptionsskandale zutage förderte, offenbarte sich in Köln ein veritabler Skandal, den es zu vertuschen galt. Die Schuld an den Kölner Zuständen wurde allein dem Ressortleiter Keiper zugeschoben, während Glasmeier sich, auch im Keiper-Prozess vom 15. bis 30. April 1935, darauf zurückzog, nichts gewusst und von den Zuständen nichts mitbekommen zu haben – was allerdings schwer zu widerlegen war, da sich Glasmeier ungewöhnlich häufig auf Dienstreise befand. Eine strafbare Handlung konnte ihm nicht nachgewiesen werden. Die Übernahme der Verantwortung für die Misswirtschaft am Sender lehnte er jedoch ab und stilisierte sich in einer Devotionsadresse an Goebbels Ende 1934 zum Opfer der Ereignisse und der Fehlentwicklungen, die andere „ihm angerichtet“ hätten. In einem Schreiben an Alfred Meyer vom 16. März 1935 spielte er die Misswirtschaft am Sender

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Hierzu ausführlich Birgit Bernard, Korruption im NS-Rundfunk. Die Affäre um die „Bunten Abende“ des Reichssenders Köln, in: Geschichte im Westen 23 (2008), S. 173–203.

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Abb. 1: Heinrich Glasmeier (Foto: WDR-Foto)

Birgit Bernard

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zu „Irrungen und Wirrungen“ herunter, die „mit dem wahren Nationalsozialismus aber auch garnichts zu tun haben“.8 Zum Prozessende resümierte das Kölner Gau-Presseorgan, der „Westdeutsche Beobachter“: „Das, worauf man spekulierte, und was man allzu gern bestätigt gefunden hätte, nämlich das Versagen nationalsozialistischer Führung, fand in diesem Prozeß eine glänzende und klare Widerlegung. In jedem Stadium des Prozesses wurde ersichtlich, daß den Reichssender Köln einwandfreie Persönlichkeiten leiten.“9 Die Affäre wurde durch das Propagandaministerium in Rücksprache mit den Gauleitungen „nach politischer Opportunität“ geregelt, da inszwischen auch die Auslandspresse auf den Vorfall aufmerksam geworden war und eine Strafversetzung Glasmeiers als Schuldeingeständnis hätte gewertet werden können. Glasmeier wurde politisch rehabilitiert und als Intendant im Amt bestätigt. In Köln ging er fortan den Weg des geringsten Widerstandes. Im März 1937 stieg er, obwohl nicht Wunschkandidat von Goebbels, aber mit der Protektion Hitlers, zum Reichsrundfunkintendanten und Direktor der RRG in Berlin auf. Dr. Eugen Kurt Fischer − Professionelle Standards erhalten Zusammen mit Glasmeier wurde Dr. Eugen Kurt Fischer (1892–1964) als Sendeleiter nach Köln beordert.10 Diesbezügliche Gespräche wurden zwischen Glasmeier und Fischer in Berlin „kurz vor Ostern“ während der Aufbauphase des Propagandaminsteriums in Gegenwart des (noch amtierenden) Reichsrundfunkkommissars Gustav Krukenberg geführt. Offenbar war man sich im Ministerium und in der RRG darüber im Klaren, dass der Kölner Sender in den maßgeblichen Verwaltungspositionen für sein reibungsloses Funktionieren in der Umbruchsituation des Frühjahrs 1933 ein Mindestmaß an rundfunkfachlicher Expertise benötigte, zumal es sich um den zweitgrößten Sender des Deutschen Reiches handelte. Die Berufung eines Experten als Sendeleiter ist nach dem Befund von Lilian-Dorette Rimmele zu diesem Zeitpunkt eher die Ausnahme im deutschen Rundfunk, da das Amt als „politisch“ interpretiert und aus diesem Grunde häufig mit Gaufunkwarten besetzt wurde.11 Als Garant hohen fachlichen Know-hows konnte Fischer in der Funktion als Sendeleiter, d. h. als Stellvertretender Intendant und Hauptprogrammverantwortlicher, zweifelsohne gelten. In der Tat sollte Fischer seine Aufgabe auf souveräne Weise meistern – wenn auch nicht in der von der Partei intendierten Weise. Die Steuerung des Senders zur Zeit der Affären 1934/35 ist maßgeblich Fischers Verdienst, wobei er sich auf den neuen Verwaltungsleiter Paul Behrendt und den „harten Kern“ der am Sender verbliebenen „Rundfunkpioniere“ aus den Anfangsjahren des Westdeutschen Rundfunks stützen konnte. 8 9 10 11

Bundesarchiv Berlin (BArch), Bestand R55 Reichspropagandaministerium. R55/1022, fol. 60. Westdeutscher Beobachter vom 5.5.1935. Winfried B. Lerg, Eugen Kurt Fischer †, in: Publizistik 9 (1964), H. 4, S. 364 f. Lilian-Dorette Rimmele, Der Rundfunk in Norddeutschland 1933–1945. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Organisations-, Personal- und Kulturpolitik, Hamburg 1977, hier S. 110.

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Fischer hatte in München, Berlin und Tübingen Germanistik studiert und zeitweise als Hilfslehrer an einem Realgymnasium in Heilbronn unterrichtet. 1915 promovierte er in Tübingen mit einer Untersuchung „Zur Stoff- und Formengeschichte des neuren Volkslieds: Das Lied von der Amsel“. In den folgenden Jahren arbeitete Fischer in der Redaktion des „Schwäbischen Wörterbuchs“ und fungierte als Herausgeber der Bände über Lessing, Klopstock und Hölderlin innerhalb der „Kunstwart-Bücherei“. Ab 1920 begegnet Fischer im Printjournalismus als Feuilletonredakteur in Chemnitz bzw. als Ressortleiter bei der als liberal geltenden „Königsberger Hartungschen Zeitung“. 1929 wechselte er als Leiter der Literaturabteilung zum Mitteldeutschen Rundfunk nach Leipzig, im Januar 1933 als Koordinator der Hörspielproduktion an die RRG nach Berlin. Die nötige Fachkenntnis war bei Fischer gegeben, wie auch Winfried Lerg in einem Nachruf auf ihn hervorhob: „Er schrieb Hörspiele, Dokumentationen, Funkbearbeitungen und entwickelte für diese Gattungen Gestaltungsprinzipien, die lange Zeit gültig blieben.“12 Über seine Motivation, den Posten des Sendeleiters in Köln anzunehmen, schreibt Fischer aus der Rückschau nach der Unterredung mit Glasmeier: „Ich hatte den Eindruck, daß zwar Welten zwischen uns lagen, daß es aber möglich sein müßte, mit dem etwas bullerig auftretenden Manne mit den wasserblauen, listigblickenden Äuglein zurechtzukommen, entwarf ihm auf Wunsch ein Organisationsschema, wobei ich sofort merkte, daß er völlig rundfunkfremd und gewillt war, mich als seinen Stellvertreter – er gebrauchte das Wort mehrfach – so ziemlich nach Gutdünken schalten zu lassen.“13 Fischer erhielt den zugesicherten Freiraum und nutzte ihn, indem er zwischen der formalen Struktur und der informellen Struktur (zum Teil auf dem „kleinen Dienstweg“ und ohne Glasmeier davon in Kenntnis zu setzen) navigierte. So erhielt z. B. der religionslose, 1933 als „Jude“ entlassene Literaturredakteur Fritz Worm bis zu seiner Emigration nach Brasilien Mitte der dreißiger Jahre mit Rückendeckung Fischers verdeckte Lektoratsarbeiten von seiner früheren Redaktion zugewiesen. Plausibel ist die Aussage des 1933 entlassenen Dramaturgen Eduard Reinacher, Glasmeiers Arbeit sei im Grunde durch Fischer erledigt worden. „Fischers selbstgewählte Aufgabe war es, hier und in jeder Stellung, zu der man ihn weiterhin berief, in dem möglichen Maße die kulturelle Tradition zu wahren. Der Segen seiner hintergründigen Tätigkeit kam auch mir zugute.“14 1936 wechselte Fischer als Leiter der Hauptabteilung Feierabendgestaltung (später: Kunst und Unterhaltung) zum Deutschen Kurzwellensender, d. h. zum Auslandsrundfunk, nach Berlin; von 1942 bis 1945 fungierte er als Bibliothekar, Kustos der Kunstsammlungen und Leiter der „Morgenfeiern“, d. h. literarisch-musikalischer Sendungen im Stift St. Florian (Österreich), das Glasmeier nach 1942 zu einer „Produktionsstätte des deutschen Rundfunks“ ausgebaut hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete

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Lerg, Fischer, S. 364. Deutsches Rundfunkarchiv Frankfurt a. M. (DRA), Historisches Archiv. Bestand A 18. Erinnerungsberichte, A18/3: Eugen Kurt Fischer, Die Programmabteilung der Reichsrundfunkgesellschaft Berlin, S. 83. Historisches Archiv des Westdeutschen Rundfunks Köln (HA WDR) D 450: Eduard Reinacher, Bei Ernst Hardt in Köln (unveröff. Typoskript), hier S. 7.

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Abb. 2: Eugen Kurt Fischer (rechts) (Foto: WDR-Foto)

Fischer zunächst als freier Journalist, ehe er 1951 Leiter der Abteilung Publizistik (ab 1952: Hörermeinung und Programmbeobachtung) beim Hessischen Rundfunk wurde. Als Geschäftsführer der Historischen Kommission der ARD ab 1953 erwarb er sich hohe Verdienste um die deutsche Rundfunkgeschichte. „Eine einmalige rundfunkpropagandistische Begabung“: Dr. Adolf Raskin Die wohl ungewöhnlichste Karriere unter den 1933 neu eingestellten Mitarbeitern war die des Kölner Musikwissenschaftlers Dr. Adolf Raskin (1900–1940).15 Er leitete ab Mai 1933 das Ressort „Musik, Literatur und Unterhaltung“ in der Dagobertstraße. Raskin war seit dem 1. Mai 1933 formal Mitglied der NSDAP, assoziierte sich im Sender jedoch dem Netzwerk der „Rundfunkpioniere“ um Eugen Kurt Fischer, die Lite15

Ausführlich hierzu: Birgit Bernard, „Eine einmalige rundfunkpropagandistische Begabung“. Adolf Raskin (1900–1940), in: Musikwissenschaft im Rheinland um 1930, in: Klaus Pietschmann/Robert von Zahn (Hg.), Kassel 2012, S. 137–193.

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raturredakteure Willi Schäferdiek und Martin Rockenbach, Dr. Karl Holzamer (Schulfunk), den Schauspieler und Ansager Albert Oettershagen sowie den Unterhaltungschef und Komponisten Gustav Kneip. Hier bekannte Raskin sich offen zu seiner opportunistischen Haltung gegenüber dem NS-Staat, die seiner treibenden Motivation, nämlich der dezidierten Absicht, „Karriere zu machen“, geschuldet war und die es bis zu seinem Tod bei einem Flugzeugabsturz im November 1940 auch blieb. Trotz seines steilen Aufstiegs innerhalb des NS-Systems behielt er seinen zivilen Habitus bei und verwendete sich auf äußerst geschickte Weise für seine Mitarbeiter und nicht zuletzt für „Kulturbolschewisten“ wie den Bildhauer Christoph Voll, deren berufliche Existenz durch das Regime bedroht war. Dabei lavierte Raskin schon während der Weimarer Jahre zwischen den Fronten, indem er in Essen sowohl für Hannes Küppers neusachliche Kulturzeitschrift „Scheinwerfer“ arbeitete als auch für den NS-Kampfbund für deutsche Kultur. Während der „Systemzeit“ hatte sich Raskin mit einer nach Willi Schäferdieks Erinnerung „hymnischen“ Kritik der Aufführung von Ernst Kreneks Oper „Jonny spielt auf“ in Essen exponiert. Als Dank habe er deshalb ein „Neger-Portrait“ des Bühnenbildners Hein Heckroth erhalten – das auch während der NS-Zeit stets in seinem Dienstzimmer gehangen habe (und das sich heute im Besitz seines Enkels befindet).16 Raskins Entrée für den beruflichen Aufstieg war ein Wink aus Essen, wo er seit 1929 als Musikkritiker und Feuilletonjournalist für die „Rheinisch-Westfälische Zeitung“ arbeitete. „Auf Empfehlung der Gauleitung Essen holte ich ihn im Mai 1933 zum Reichssender Köln und damit in den Deutschen Rundfunk“, führte Glasmeier bei Raskins Trauerfeier aus.17 Raskin überzeugte durch die Beherrschung des journalistischen Handwerkszeugs, seine breit angelegte Fachkenntnis als Musikwissenschaftler, ein bis dahin ungeahntes Talent als Programmmacher im Hörfunk, und er verstand es, sich innerhalb der richtigen „klientelorientierten Substruktur“, d. h. der richtigen „Seilschaft“, zu verorten und diese Position zu verfestigen.18 So fungierte er in Köln nicht nur als Fachberater Glasmeiers in Sachen Musik, sondern schlug sich im Rahmen der Glasmeier-Keiper-Affäre offen auf die Seite des supendierten Intendanten sowie von Reichssendeleiter Hadamovsky, indem er Keiper vor Gericht belastete. Auf diese Weise entzog sich Raskin dem Sog der Ereignisse, obwohl er zu Beginn der Affäre formal als nächst höherer Vorgesetzter Keipers fungierte. Allerdings hatte Raskin zum Zeitpunkt des Keiper-Prozesses schon zu einer steilen Karriere außerhalb des Reichssenders Köln angesetzt. Seine Entdeckung als „einmalige rundfunkpropagandistische Begabung“, die Propagandaminister Goebbels in höchstem Maße goutierte, resultierte spätestens aus seiner Bewährung als Leiter 16

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Mündliche Auskunft von Bernhard Raskin gegenüber der Verfasserin vom 7.11.2009 anlässlich eines Vortrages über Raskin im Deutschen Zeitungsmuseum Wadgassen. Heinrich Glasmeier, Gedenkrede für Dr. Adolf Raskin, in: Schul-Rundfunk, Jg. 1940/41, H. 19, S. 361–363, hier S. 362. Frank Bajohr, Parvenüs und Profiteure. Korruption in der NS-Zeit, Frankfurt a. M. 2001. „Ausschlaggebend für die Stellung des einzelnen war dessen personale Bindung an den nächsthöheren ,Führer’ bzw. seine Einbindung in parteiinterne Personalgeflechte. Die klientelorientierte Substruktur der Partei regelte die Beziehungen der Nationalsozialisten untereinander sehr viel stärker als formale Organisationszugehörigkeiten“; Zitat S. 20 f.

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Abb. 3: Adolf Raskin (Foto: Deutsches Rundfunkarchiv)

des „Westdeutschen Gemeinschaftsdienstes“ in den Jahren 1934/35, der zur Koordinierung der Rundfunkpropaganda im Vorfeld der Saarabstimmung vom Januar 1935 eingerichtet worden war. Als Dank erhielt Raskin den Posten des Intendanten des 1936 gegründeten Reichssenders Saarbrücken. Nach Glasmeiers Berufung zum Reichsrundfunkintendanten fungierte Raskin unter anderem 1938 als Sonderbeauftragter für die Liquidation der österreichischen Rundfunkgesellschaft RAVAG in Wien, interimistischer Intendant des neuen Reichssenders Wien und Leiter der Abteilung Zeitgeschehen bei der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft. Im Grunde nahm er die Funktion einer „grauen Eminenz“ innnerhalb der RRG ein, regierte mit Rückendeckung Glasmeiers in fremde Ressorts − wie zum Beispiel den Fernsehsender − hinein und akkumulierte Ämter und Funktionen in einer für den NS-Rundfunk einmaligen Weise. Nach Kriegsbeginn 1939 erhielt Raskin zudem die kommissarische Leitung des Kurzwellenrundfunks und der nun neu geschaffenen NS-Geheimsenderkette „Concordia“. In dieser Eigenschaft koordinierte er, mehrmals von Goebbels und Glasmeier ob seines „Einfallsreichtums“ lobend erwähnt, die antifranzösische und antibritische Rundfunkpropaganda der Jahre 1939/40.

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Ein Fall von Alkoholmissbrauch: Dr. Otto Barlage Zwei Tage nach dem neuen Intendanten Heinrich Glasmeier, am Karsamstag des Jahres 1933, traf Dr. Otto Barlage aus Münster am Kölner Sender ein. Er war für das Personalressort vorgesehen. Außerdem hatte Glasmeier sich ihn als persönlichen Referenten ausbedungen, und zwar, wie er während des späteren Arbeitsgerichtsverfahrens Barlage ./. RRG zu Protokoll gab, „damit ich jemand als Vertrauensperson hatte“. Ihm sei bekannt gewesen, dass die Gau-Ortskartei Barlage, der zu diesem Zeitpunkt Angestellter bei der Landesversicherungsanstalt Westfalen in Münster war, für die dortige Sendestelle des Westdeutschen Rundfunks empfohlen hatte. Von einer persönlichen Bekanntschaft ist nicht die Rede, Glasmeier verließ sich offenbar blindlings auf die Empfehlung aus dem Gau. Otto Barlage stammte aus Beckum, wo er 1898 als Sohn eines Oberpostsekretärs zur Welt kam. Er verfügte über eine Ausbildung am Humanistischen Gymnasium, eine Kaufmännische Lehre, ein Universitätsstudium (vermutlich der Volkswirtschaftslehre) und die Promotion zum Dr. rer. pol. Praktische Berufserfahrung hatte er zudem als Leiter eines Verkaufsbüros in Würzburg erworben. Barlage war am 10. August 1932 in die Partei eingetreten (Pg. Nr. 1.322.589) und hatte sich nebenberuflich in der „parteiamtliche[n] Pressearbeit“ engagiert.19 Formal gesehen erfüllte Barlage durchaus die Kriterien für eine Tätigkeit als Personalchef. Dennoch übte er sie offenbar nur interimistisch aus – ein Zusatz auf seiner Karteikarte vermerkt: „kommissarisch“, „am 18. VI. 34 fristlos entlassen“! Diese Entlassung war von Sendeleiter Fischer im Rahmen der Glasmeier-Keiper-Affäre veranlasst worden (Glasmeier wurde erst am 6. Juli von der RRG suspendiert, dürfte aber zum Zeitpunkt der Kündigung Barlages die Geschäfte schon nicht mehr geführt haben). Der frühe Kündigungstermin spricht dafür, dass Fischer willens war, sich Barlages zum frühest möglichen Zeitpunkt zu entledigen. Die Kündigung wurde aufgrund von Privatfahrten mit Fahrzeugen des Arbeitgebers begründet, die der Intendanzreferent im Rahmen des folgenden Arbeitsgerichtsprozesses auch teilweise zugab. Dennoch wurde der Anklagepunkt vom Arbeitsgericht nicht näher geprüft, da der zweite Kündigungsgrund, fortgesetzter Alkoholkonsum im Dienst, als hinreichend erwiesen angesehen wurde.20 Im Laufe des Monats Juli versuchte Barlage, mit der RRG zu einer außergerichtlichen Einigung zu gelangen. Insbesondere strebte er die Umwandlung der fristlosen Kündigung in eine fristgerechte an, die ihn zum Weiterbezug seines Gehaltes innerhalb der Kündigungsfrist berechtigt hätte. Dabei handelte es sich um eine Summe von 2.100 RM. In einem Privatschreiben an Verwaltungsdirektor Voß von der RRG drohte er – erfolglos −, dass er im Falle eines Gerichtsverfahrens „einige Episoden“ zur Sprache bringen werde, wie z. B. eine Fahrt zum Rheinhotel Dreesen nach Bad Godesberg, an der Voß selbst sowie die Herren Glasmeier, Fischer und Behrendt teilgenommen hätten 19 20

BArch, ehemaliges Berlin Document Center (BDC), Reichskulturkammer (RKK) 2025: Dr. Otto Barlage. Urteil des Arbeitsgerichtes Köln vom 27.9.1934 mit Abweisung der Klage Barlage . /. RRG. Die Abschrift des Urteils ist überliefert als Anlage zum Schreiben der RRG an das RMVP vom 5.10.1934 in BArch R 55/1023. Hier auch vollständiges Prozessstenogramm, fol. 7 ff.

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und die mitnichten eine hundertprozentige „Dienstfahrt“ gewesen sei. Das Arbeitsgericht Köln hielt in seinem Urteil vom 27. September 1934 – Barlage hatte gegen die fristlose Kündigung geklagt – folgendes fest: „Bei einer Prüfung der Verhältnisse des Reichssenders Köln durch die Hauptverwaltung habe man feststellen müssen, dass der Kläger den Dienstwagen zu Privatfahrten benutzt, trotz eines von ihm selbst erlassenen ausdrücklichen Verbots wiederholt angetrunken sich im Betrieb aufgehalten und nach dem in kleineren Städten vom Rundfunk veranstalteten Bunten Abenden ein Auftreten gezeigt habe, welches mit seiner Stellung nicht vereinbar gewesen sei.“21 Belastet wurde Barlage in eindeutiger Weise von mehreren Zeugen, unter anderem von der Chefsekretärin Gaa und der Stenotypistin Lensch, die mit ihm arbeiteten, sowie vom Empfangsmitarbeiter Steffens, der von seiner Pförtnerloge aus den Durchgang zur „Funkschänke“ im Blick hatte, die sich im Erdgeschoss des Funkhauses in der Dagobertstraße befand. Um dem Treiben Einhalt zu gebieten und das Servieren von Alkoholika in den Betrieb zu unterbinden, sah sich Verwaltungsleiter Behrendt schließlich veranlasst, die Verbindungstür schließen und die Klinke abmontieren lassen. Dies hatte zudem den nützlichen Nebeneffekt, dass Gäste der „Funkschänke“ nicht mehr unkontrolliert in Studios eindringen konnten, wo sie den Sendebetrieb störten. Der Pförtner Steffens gab in der Vernehmung zu Protokoll, dass es im Hause ein „offenes Geheimnis“ gewesen sei, dass Barlage sich „die meiste Zeit des Dienstes in der Funkschenke“ aufgehalten habe. Im Gegensatz zu allen anderen Zeugen stellte allein Glasmeier Barlage ein gutes Zeugnis aus. Sein Referent sei beliebt gewesen, fleißig, wenn nicht unermüdlich und unbedingt zuverlässig. Er habe ihn nicht ein einziges Mal, weder dienstlich noch außerdienstlich, in betrunkenem Zustand erlebt, und das, obwohl sie über ein Jahr lang eng zusammen gearbeitet hätten. Die Äußerung wurde bezeichnenderweise durch den Vorsitzenden Richter umgehend relativiert, indem er zu bedanken gab, dass Glasmeier sich, wie auch aus anderen Arbeitsgerichtsprozessen schon hervor gegangen sei, sehr häufig auf Dienstreise befunden habe. Nach der Prozessniederlage mit der Abweisung der Klage Barlages intervenierte Glasmeier am 20. Oktober 1934 zugunsten seines ehemaligen Referenten bei der RRG. Barlage könne bei der Stadt Münster unterkommen, sofern die RRG ihm bescheinige, dass ihm keine „kriminellen Vorwürfe“ in der „Keiper-Affäre“ gemacht werden könnten. Glasmeier bat darum, den „an und für sich nicht schlechten Menschen“ nicht völlig „aus dem Lebensgeleise“ zu werfen.22 Im Folgenden verstieg er sich zu der Aussage, das Prozessstenogramm enthalte „Unwahrheiten“. Der gerichtliche Abschluss der Glasmeier-Keiper-Affäre stand noch aus, und Glasmeier blieb auch hier seiner Linie treu, sich als unwissend darzustellen. Unter dem Datum 18. Dezember 1935 findet sich der letzte Vorgang zum Fall Barlage: Es handelt sich um das Konzept eines Schreibens von Staatssekretär Rüdiger an den Landeshauptmann Kolbow in Münster, in dem mitgeteilt wird, dass Barlage keine „strafrechtliche[n| Vorwürfe“ bezüglich der „Vorfälle am Reichssender Köln“ zu 21 22

BArch R55/1023, fol. 8. Zit. in Voß/RRG an RMVP, 25.10.1934, BArch R55/1023.

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machen seien, dass jedoch „seine damalige Lebensführung“ zur Kündigung geführt habe. „Ich würde es begrüssen, wenn Dr. Barlage wieder in den Arbeitsprozess eingegliedert würde und glaube, dass er auch für eine verantwortliche Tätigkeit geeignet ist. Seine Erlebnisse beim Reichssender Köln werden ihm sicherlich eine Lehre fürs Leben gewesen sein.“23 „Säubern“ und Überwachen: Wilhelm Tara Aus dem Gelsenkirchener Substrat der NSDAP stieß Wilhelm Tara zum Westdeutschen Rundfunk. In einem selbstverfassten Lebenslauf von 1937 schrieb er: „Ich wurde am 31. Mai 1898 zu Gelsenkirchen geboren. Nach meiner Entlassung aus der I. Klasse der evang. Volksschule im Jahre 1912 trat ich bei den Vereinigten Stahlwerken in Gelsenkirchen in die Kaufmännische Lehre. Bei den Vereinigten Stahlwerken war ich mit einer einjährigen Unterbrechung durch Kriegsdienst (ich bin Kriegsbeschädigter) bis 1924 tätig, und zwar seit Ende 1919 in verschiedenen kaufmännischen Abteilungen, danach bis zu meinem Austritt, also 5 Jahre lang, als Sekretär beim Generalbevollmächtigten der Direktion.“24 Nach der Demobilisierung hatte sich Tara dem Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund angeschlossen und war in den Deutschen Handlungsgehilfenverband (DHV) eingetreten. Zur NSDAP stieß er am 1. Mai 1931 (Pg. Nr. 538.387); in die SA trat er Mitte desselben Jahres ein (Austritt: 1935 im Zuge des Eintritts in die SS). Im Juni 1924 ging Tara nach Essen zum Girardet-Verlag. Nach eigenen Angaben arbeitete er dort in der Schriftleitung der „Essener Allgemeinen Zeitung“ sowie der Illustrierten „Wochenschau“, wobei er berufliche Erfahrungen in den Bereichen Redaktion, Verwaltung und Archiv sowie Spezialkenntnisse in der „Bilder-Redaktion“ erworben habe. Die Arbeitsabläufe in einem Medienunternehmen waren ihm daher zumindest nicht fremd, auch wenn er keine leitende Tätigkeit in der Redaktion ausübte. Außerdem betrieb er seine Weiterbildung in Abendkursen und widmete sich im Selbststudium der Literatur und Kunstgeschichte. Seine Funktionärskarriere begann in der Ortsgruppe Gelsenkirchen in den Bereichen Presse, Propaganda und Nachrichtendienst. Im Dezember 1930 wurde Tara Pressewart der Ortsgruppe Gelsenkirchen, zu einem nicht näher zu ermittelnden Zeitpunkt Bezirkspropaganda- und Bezirksnachrichtendienstleiter sowie, 1932, Stellvertreter des GauNachrichtendienstleiters. Die Kontakte Taras zu Gauleiter Meyer resultierten ebenfalls aus seiner Zeit in der Gelsenkirchener Ortsgruppe der NSDAP. 1933 stand ein weiterer Karrieresprung in eine leitende Tätigkeit in einem Medienunternehmen an: Am 8. Mai 1933 wurde Tara als Nachfolger von Dr. Wilhelm Tigges Leiter der Abteilung „Programmstoffverwaltung“. Nachdem er in Köln zunächst zur Untermiete logiert hatte, 23 24

BArch R55/1023, fol. 38. Biografische Angaben zu Tara nach BArch, BDC RKK 2025 und BDC SSO. Vgl. insbesondere den handschriftlichen Lebenslauf Taras vom 10.7.1937. Teilnahme am Ersten Weltkrieg vom 27.2.1918 bis zum 4.2.1919 als Maschinengewehrschütze im I.R. 67 und I.R. 30, 7. Kompagnie, mit zwanzigprozentiger Kriegsbeschädigung, Eisernes Kreuz II. Klasse.

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bezog das Ehepaar Tara eine Interimswohnung in Nippes, um schließlich im Oktober 1933 auf dem Gelände des Senders Raderthal im Süden Kölns unterzukommen. Das Gehalt Taras betrug 450 RM. Über Tara und den mit ihm aus Gelsenkirchen gekommenen Abteilungsleiter Wilhelm Heikhaus schrieb die Programmzeitschrift „Werag“: „Wir haben es hier mit zwei Männern zu tun, die das gemeinsame Erlebnis der härtesten Kampfzeit zusammenschweißte, und die sich der Bedeutung der ihnen beim Rundfunk gestellten großen Aufgabe in jeder Hinsicht bewußt sind.“25 Nach Aussage des ehemaligen Pressechefs der WERAG, Hermann Tölle, ging die „Säuberung“ des umfangreichen Pressearchivs auf das Konto Taras. Auch das von Fritz Lewy aufgebaute Bildarchiv, in dem sich unter anderem Fotos bedeutender neusachlicher Fotografen wie August Sander oder Albert Renger-Patzsch befanden, wurde zum allergrößten Teil vernichtet: „Im Rundfunkhaus begann ein großer ,Reinigungsprozess’. Die wertvollen Apparate und die Laboreinrichtung der Bildstelle kamen für ein Spottgeld an die Firma Photo-Brenner-Köln. Negative und Bilder fand ich 1934 auf dem Hausboden wieder – zum Teil von Feuchtigkeit und Schmutz zerfressen. Das noch zu verwendende Material sammelte und ordnete ich, so dass wieder an die tausend Photos zur Verfügung standen. Sie gingen im Zweiten Weltkrieg verloren. ,Fort mit dem liberalistischen Plunder’ – hiess es. Mit sanftem Nachdruck verkaufte man den Angestellten Hitlers Buch ,Mein Kampf’ – und Bilder des neuen Intendanten.“26 Sendeleiter Fischer charakterisierte Tara in der Rückschau als „kleinen, gelbhäutigen und schwarzhaarigen Gesellen, von dem man nie erfahren konnte, was er eigentlich tat“, und der „zuweilen gefährlich“ werden konnte.27 In der Tat begann Tara zum 1. Oktober 1934 mit einer nebenamtlichen Tätigkeit für den Sicherheitsdienst (SD) der SS. Es ist zu vermuten, dass sich seine Dienste für die SS spätestens seit diesem Zeitpunkt auch auf die Bespitzelung des Personals im Funkhaus Dagobertstraße erstreckten. Fischer berichtet, seine Sekretärin Käthe Nachtsheim, die über eine gute Menschenkenntnis verfügt habe, habe ihn eindringlich vor Tara gewarnt und ihn gebeten, während der Programmbesprechungen „keinen Augenblick“ Taras Anwesenheit zu vergessen.28 Taras Karteikarte bei der Reichskulturkammer trägt den schräg überschriebenen Vermerk: „ausgeschieden am 16. II. 35 – fristlos entlassen“. Aus welchem Grund – und er dürfte schwerwiegend gewesen sein – Tara die fristlose Kündigung mit der Einwilligung der RRG und des Propagandaministeriums erhielt, konnte bislang mangels Personaloder Sachakten nicht geklärt werden. Am 6. August 1935 wurde Tara als hauptamtlicher Mitarbeiter in den SD-Oberabschnitt West in Düsseldorf übernommen, wenige Monate

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Werag 9 (1934), H. 27 vom 1.7.1934, S. 4 f. HA WDR D 512: Hermann Tölle, Der Reichsintendant des Deutschen Rundfunks und Generaldirektor der Reichsrundfunk-GmbH, Berlin, Dr. Heinrich Glasmeier − wie ich ihn erlebte, Paderborn 1965, hier S. 13. HA WDR D 477: Eugen Kurt Fischer, Rundfunkerinnerungen. IV. Der Westdeutsche Rundfunk und spätere Reichssender Köln 1933–1935 (undat. Manuskr.), hier S. 14. Eine Fotografie aus dem Jahre 1934 zeigt Tara in der Haltung eines „Oberaufsehers“ in der Bibliothek des Reichssenders Köln; Werag 9 (1934), H. 12 vom 18.3.1934, S. 11. HA WDR D 477: Eugen Kurt Fischer, Rundfunkerinnerungen IV. Der Westdeutsche Rundfunk, hier S. 14.

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später, am 20. Dezember, in die SS (Nr. 272.454). 1937 wurde er als Stabsführer des SD-Unterabschnitts von Düsseldorf nach Münster versetzt, 1939 nach Frankfurt/Main. Bis 1940 brachte er es zum SS-Sturmbannführer. Seine finanziellen Verhältnisse waren laut Personalbericht „beengt“, seine Weltanschauung jedoch „in jeder Beziehung gefestigt“, das dienstliche und private Auftreten „tadellos“. Von den Vorgesetzten wurde er als „klare Persönlichkeit“ charakterisiert, „sehr regsam, energisch und hart“; hervorgehoben wurden des weiteren „überdurchschnittliche Allgemeinbildung, vorbildliche Führerqualitäten“.29 Über sein weiteres Schicksal liegen bislang nur einzelne Informationen vor: So meldete er am 1. Juli 1942 aus dem „Generalgouvernement“, Dienstort Krakau, die Verleihung des Verdienstkreuzes 2. Klasse ohne Schwerter (verliehen ab dem Jahre 1940 „für sonstige Kriegsaufgaben“). Am 25. Oktober 1944 erfolgte eine Adressänderung mit der neuen Dienstanschrift: „b. Befehlshaber der Sipo und des SD. Beilen (Provinz Drenthe) über Deutsche Dienstpost Niederlande“. In den Niederlanden verliert sich die Spur von Wilhelm Tara.30 Vom Seemann zum Politik- und Wirtschaftsredakteur: Wilhelm Heikhaus Besonders dramatisch war der Schub der Entprofessionalisierung am Sender im Ressort Politik und „Wirtschaft und Soziales“, die sich 1933 im Wechsel von Dr. Hans Stein zu Wilhelm Heikhaus manifestierte. Während Hans Stein (1894–1941) als promovierter Wirtschaftshistoriker aus der Schule des Kölner Ordinarius Bruno Kuske über ausgewiesene Expertise in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, besonders aber in der Wirtschaftsgeschichte verfügte, stellte Heikhaus’ alleiniges Ticket zum Aufstieg die Zugehörigkeit zur „richtigen“ Gelsenkirchener NS-Seilschaft dar. Hans Stein, der 1933 nach Holland emigrierte und dort beim Internationalen Institut für Sozialgeschichte als Wissenschaftlicher Mitarbeiter unterkam, war nicht nur fachlich exzellent, sondern auch ein brillanter Dialektiker, der zudem das Handwerkszeug als Journalist beherrschte.31 Wilhelm Heikhaus, 1892 als ältester Sohn eines Lokführers in Gelsenkirchen geboren, verließ die Oberrealschule vermutlich sogar ohne mittleren Abschluss. Er verdingte sich als Schiffsjunge bei der Kaiserlichen Marine, legte das kleine und große Seemannsexamen ab und reiste von 1907 bis 1914 an Bord der „S.M.S. Gneisenau“ sowie der „Goeben“ rund um den Globus.32 Ein Kapitänspatent besaß er – wie nach dem Krieg von der Presse über „Käpt’n Heikhaus“ kolportiert wurde – definitiv nicht. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs befand sich Heikhaus im östlichen Mittelmeer. Sein Schiff 29 30

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BArch, BDC SSO und Dienstlaufbahn Tara laut SS-Personalhauptamt. Bei Redaktionsschluss lag die Antwort auf eine Anfrage der Verfasserin beim Niederländischen Institut für Kriegsdokumentation noch nicht vor. Renate Schumacher, Hans Stein – „mit allen Wassern der Dialektik gekocht“. Mitarbeiter der Westdeutschen Rundfunk AG (1927–1933), in: Carl-Erich Vollgraf u.a. (Hg.), Quellen und Grenzen von Marx’ Wissenschaftsverständnis, Hamburg 1994, S. 174–189. Vgl. Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen. Ich verdanke Dr. Daniel Schmidt zahlreiche Informationen zu Heikhaus aus der Datenbank des ISG im Schreiben vom 22.1.2013.

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wurde in türkische Dienste gestellt. Zweimal knapp mit dem Leben davon gekommen, wurde er als Maschinengewehrschütze bei den Kämpfen von Gallipoli in den Dardanellen schwer verwundet.33 Erst 1916 kehrte Heikhaus nach Deutschland zurück und diente in der II. Matrosendivision auf einem U-Boot. Die folgenden Jahre sind durch Heikhaus’ 1936 im Walter Dorn-Verlag in Bremen erschienene Monographie „Hoffnung auf morgen“ gut belegt, die er vermutlich nach seiner Entlassung beim Reichssender Köln verfasste: 1917 geriet Heikhaus in französische Kriegsgefangenschaft. Zu diesem Zeitpunkt diente er als Steuermann auf einem Luftschiff der Kriegsmarine. Während eines Angriffs auf Ostengland wurde es während eines Orkans bei gleichzeitigem Teilausfall der Motoren über Flandern nach Nordfrankreich abgetrieben. Heikhaus überlebte die Bruchlandung des Zeppelins – hinter der Front in den Vogesen − und wurde in einem Kriegsgefangenlager in Rouen interniert. Bis zu seiner Entlassung im Oktober 1922 machte er die Bekanntschaft diverser Lager und Miltärgefängnisse, zuletzt in Avignon und auf der Festung Toulon. Vier Fluchtversuche scheiterten; seine vierzigprozentige Kriegsbeschädigung resultierte unter anderem aus seinem letzten Ausbruchsversuch, bei dem er einen Oberschenkeldurchschuss davon trug und an der rechten Hand verletzt wurde. Drei „widerliche Neger“ hätten ihn in ein Lazarett eingeliefert. Aus der Monographie werden starke antifranzösische Ressentiments deutlich, die einerseits aus rassistischen Anschauungen, andererseits aus der Behauptung eines in der Kaiserzeit viel beschworenen Gegensatzes zwischen einer (höherwertigen) deutschen „Kultur“ und einer (minderwertigen) französischen „Zivilisation“ resultierten. Für Heikhaus existierten „rassische Grundsätze“ in Frankreich allenfalls bei den „alten Kolonialsoldaten“; ansonsten ließen Ordnung, Sauberkeit, Arbeitsmoral und Gemeinschaftssinn (ablesbar an der niedrigen Geburtenquote der „gallischen“ Bevölkerung) sehr zu wünschen übrig. Deutlich wird in seiner Darstellung auch das Ohnmachtsgefühl, den Zusammenbruch der Monarchie fernab der Heimat in der Gefangenschaft zur Kenntnis nehmen zu müssen, und das Gefühl, von „jämmerlichen Parteien“ und „Kriegsgewinnlern“ um die für das Vaterland erbrachten Opfer betrogen worden zu sein. Insofern erfährt Heikhaus, dem das „Politisieren“ nach eigenen Angaben bis dahin fern gelegen habe, einen Prozess der Resignation, persönlichen Verbitterung und politischen Radikalisierung: „Manchmal packt mich eine sinnlose Wut gegen das Schicksal und die Heimat, die sich in einem hündischen Pazifismus großtut und schließlich die wenigen Kameraden [beim Freikorps Oberland, B.B.] in Oberschlesien noch verleugnet. Diesen Staatsinhalt zu zerschlagen und ihn neu auszufüllen, scheint mir die Aufgabe zu sein. Wartet nur, wenn wir nach Hause kommen!“34 Von der Gründung der NSDAP erfuhr Heikhaus durch einen entlassenen Mithäftling, dem es gelang, das Parteiprogramm und den „Völkischen Beobachter“ in Lebensmittelpakten mit doppeltem Boden ins Lager zu schmuggeln. „Da lesen wir den Namen Adolf Hitler, den unser heimgekehrter Gefährte immer wieder in den Briefen erwähnt, der in 33

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Artikel von W.H. in der Werag 10 (1935), H. 12 vom 17.3.1935, S. 8, „Der 18. März 1915 in den Dardanellen“. Wilhelm Heikhaus, Hoffnung auf morgen. Schicksal von gestern, Bremen 1936, hier S. 258.

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München keine Ahnung hat, dass hier in dieser Festung dreißig fanatische Anhänger sitzen. Nur dreißig, aber bereit, als absolut geläuterte Deutsche mit ihm für Deutschland zu kämpfen. . . . die ungeheuere Spannung, die seit Jahren auf uns liegt, muß ein gesundes Ventil bekommen, und deshalb glauben wir an die neue Weltanschauung“.35 Nach seiner Entlassung arbeitete Heikhaus in den 1920er Jahren zunächst als Handlungsgehilfe und Fremdsprachenkorrespondent, wobei ihm vermutlich seine in der Kriegsgefangenschaft erworbenen Französischkenntnisse zugute kamen. Am 15. Mai 1923 trat er mit der prestigeträchtig niedrigen Mitgliedsnummer 46.555 in die NSDAP ein. Von 1923 bis 1924 leitete er die Ortsgruppe Gelsenkirchen, als deren Gründer er gilt.36 Am 1. Januar 1930 avancierte er zum Gauredner sowie zum Leiter von Groß-Gelsenkirchen, eingesetzt von Gauleiter Meyer.37 Vom 1. Januar 1931 bis zum 30. Januar 1933 war Heikhaus Bezirksleiter von Emscher-Lippe.38 Er wurde als Reichsredner bestätigt, war ab April 1932 Mitglied des Preußischen Landtages und 1933 Mitglied des Provinziallandtages für den Wahlkreis Bottrop.39 Zum 1. Mai 1933 stand die Neubesetzung der im Rahmen der „Gleichschaltung“ beim Westdeutschen Rundfunk vakant gewordenen Ressortleiterposten an. Quellen zum Besetzungsverfahren fehlen, so dass über die Hintergründe und die persönliche Motivation für den Wechsel Heikhaus’ aus einer Funktionärstätigkeit innerhalb der westfälischen NSDAP in einen redaktionell-journalistischen Bereich nur spekuliert werden kann. Seine fachlichen Voraussetzungen waren gleich Null. Doch auch hier trägt die Personalie die Handschrift der Gauleitung in Westfalen-Nord. Mit seiner Familie zog Heikhaus in Köln in das ehemalige Transformatoren- und Technikerhaus auf dem Gelände des stillgelegten Senders in Raderthal.40 Als Leiter der Abteilung „Politik und Wirtschaft“ trat er seinen Dienst am 8. Mai 1933 im Funkhaus an. Sein Gehalt belief sich auf 630 RM, ein trotz der Gehaltskürzungen der Jahre 1932 und 1933 immer noch weit überdurchschnittliches Salär. Im Juli 1933 wurde Heikhaus’ Ressort außerdem die vormals eigenständige Abteilung „Zeitfunk“ unter Dr. Bernhard Ernst und Dr. Toni Maus zugeschlagen, die für den Nachrichtendienst und tagesaktuelle Sendereihen wie „Stimme der Zeit“ oder „Vom Tage“ zuständig war. Bernhard Ernst war ein „Rundfunkpionier“ der ersten Stunde und 35 36

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Ebd., S. 304. Möglicherweise nahm er schon am 1. Parteitag der NSDAP im Jahr 1923 teil. „Die Eindrücke, die die Führer der jungen Ortsgruppe Gelsenkirchen auf dem ersten Parteitag im Januar 1923 in München gewannen, führten zu dem Entschluss auch in Gelsenkirchen eine Sturmabteilung zu gründen“; zit. nach Priamus, Meyer, S. 454. BArch, BDC RKK: Wilhelm Heikhaus. Laut Vorgang vom April 1940 in BArch, RKK Heikhaus, wurde die Zuerkennung des Goldenen Ehrenzeichens der NSDAP für Alte Kämpfer abschlägig beschieden, da eine mindestens dreimonatige karteimäßige Unterbrechung der Mitgliedschaft im Jahre 1930 festgestellt wurde, wobei Heikhaus eine neue Parteinummer erhielt (249.558). Auch das ISG dokumentiert eine karteimäßige Unterbrechung der Mitgliedschaft und der aktiven Betätigung, allerdings für die Zeit von 1927 bis Ende 1929. Heikhaus selbst berief sich auf eine „verworrene Lage“ in Gelsenkirchen, die Beiträge seien seinerzeit nach Münster abgeführt worden. Information laut Datenbank des Instituts für Stadtgeschichte Gelsenkirchen. Vgl. Reportage über Heikhaus in: Werag 9 (1934), H. 27 vom 1.7.1934, S. 4 und Homestory S. 4–5. Abschiedsfoto in der Bilddatenbank des Instituts für Stadtgeschichte in Gelsenkirchen; Mitteilung Dr. Daniel Schmidt vom 21.1.2013.

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bis in die 1950er Jahre einer der renommiertesten Sportreporter des deutschen Rundfunks. In der Zusammenarbeit mit Toni Maus sowie den Routiniers des Ansagendienstes − Rudi Rauher, Hermann Probst und Albert Oettershagen −, die die „Gleichschaltung“ ebenfalls überlebt hatten, handelte es sich beim „Zeitfunk“ im Grunde genommen um einem „Selbstläufer“, der keiner besonderen Führung bedurfte. Zumal Ernst seinem neuen Vorgesetzen fachlich hoch überlegen war. Heikhaus’ Tätigkeit als Abteilungsleiter kann mangels Quellen nicht beurteilt werden, Zeitzeugenberichte lassen jedoch auf fachlichen und verwaltungsmäßigen Dilettantismus schließen, auf die Patronage von Gelsenkirchener Kontaktpersonen wie Edgar Maria Moog, mangelnde Arbeitsdisziplin und ein Alkoholproblem.41 So schreibt etwa Sendeleiter Eugen Kurt Fischer: „Eine absonderliche Akquisition war ,Käpten Heikhaus’ . . . Er war ein finster blickender hagerer Gesell aus dem Kohlenpott, der stets in einer abgetragenen, fleckigen braunen Uniform herumlief . . . . Er erzählte von Heldentaten, die er als Seemann vollbracht haben wollte und von einem Schnellboot, dessen Kommando er einmal habe übernehmen müssen. Alle paar Tage fuhr er nach Gelsenkirchen und brachte stümperhafte Manuskripte einer angeblichen Wirtschaftsexpertin mit, die mit großer Mühe umgeschrieben werden mussten. Als man mir mehrere Elaborate dieser Art vorgelegt hatte, fuhr ich, in Begleitung des neuen kaufmännischen Leiters Berendt [!] und, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, auch des Dr. Maus mit Heikhaus nach Gelsenkirchen, wo er uns zunächst in sein Stammlokal führte, dessen eindeutiger Charakter Schlüsse zuließ auf den ,bürgerlichen Beruf’ der Mitarbeiterin, die man uns törichterweise noch vorstellte. Zwei, drei Fragen stellten klar, daß sie von ihrer Autorschaft keine Ahnung hatte“.42 Manuskripte oder Tondokumente von Heikhaus’ Beiträgen haben sich nicht erhalten.43 Dokumentiert sind aber seine Mitwirkung bei einer Reportage „Unter Tage“ von der Zeche „Graf Bismarck“ in Gelsenkirchen, an der auch Edgar Maria Moog und der Arbeiterdichter Heinrich Lersch beteiligt waren, und ein etwa fünfminütiger „Hörbericht“ anlässlich der Eröffnung der Saarausstellung in Köln am 26. August 1934 aus der Messehalle in Köln-Deutz.44 Beim Sender versuchte Heikhaus offenbar, sich Episoden aus seinem wahrlich bewegten Leben als Erzähler zunutze zu machen. Erstmals war er mit einer eigenen Sendereihe unter dem Titel „Junge, Junge, kannst du flunkern!“ am 1. Juni 1933, einem Donnerstag, im Vorabendprogramm von 18.10 Uhr bis 18.20 Uhr zu hören. Albert Oettershagen vom Ansagedienst erinnerte sich später: „Als H. zum erstenmal zu mir ins Dienstzimmer kam, um vor dem Mikrofon zu wirken, fragte ich ihn pflichtgemäß nach dem Manuskript seines Vortrags, das ich nicht – wie üblich – in der Tagesmappe vorfand. ,Quatsch – Manuskript, Mensch’, sagte er. ,Ich spinne Seemannsgarn. An euren 41

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Vgl. HA WDR D 512: Tölle, Glasmeier, S. 34 ff. mit Fragment der „Große[n] Fastelovendzeitung der Westfunker“ von 1934 („Der Wurm ist drin“), mit der der 1933 übernommene Kern der Belegschaft massivem Umnut unter dem Deckmantel des Karnevals Luft machte. So heißt es etwa unter der Rubrik „Funk-Briefkasten“: „Wer hilft Verzweifeltem? Welcher edeldenkende Mensch kann Alkoholentziehungskur empfehlen, die den Erfolg garantiert? Angebote bitte unter Stichflamme Käpten § 11 an die Redaktion“; Zitat S. 36. HA WDR D 477: Fischer, Der Westdeutsche Rundfunk IV, hier S. 12 f. Freundliche Auskunft von Jörg Wyrschowy vom Deutschen Rundfunkarchiv in Frankfurt a. M., 6.3.2013. Foto von Heikhaus, Moog und Lersch anlässlich der Reportage in Gelsenkirchen in: Werag 9 (1934), H. 27 vom 1.7.1934, S. 5.

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Manuskripten seid ihr ja eben Pleite gegangen. Jetzt wird ohne Manuskript gesprochen – frisch vom Faß und ohne Blatt vor dem Mund.“45 Dabei hatte sich Heikhaus eine der anspruchsvollsten Hörfunkgattungen überhaupt ausgesucht. Glasmeiers Vorgänger, der 1933 entlassene Dichter, Theaterintendant und Hörspielregisseur Ernst Hardt hatte bereits anlässlich der 1929 in Kassel stattfindenden Arbeitstagung der RRG zum Thema „Dichtung im Rundfunk“ als Skeptiker zu Protokoll gegeben, dass er die improvisierte Erzählung nicht als Kunstform sui generis betrachte. Außerdem bezweifelte er, dass sich die Gattung im Rundfunk angesichts periodischer, fester Sendeplätze, quasi auf Knopfdruck (und im Studio ohne die Resonanz des Publikums) bewähren könne bzw. beliebig reproduzieren lasse. „Daß es Menschen gibt, die entzückend erzählen können, das wissen wir alle“, argumentierte er. „Wenn wir also jemanden senden, der das auch vor dem Mikrophon kann, so bleibt das wie im Leben ein Sonderfall.“46 Auch Heikhaus sollte mitsamt Gattung und Sendereihe Schiffbruch erleiden. Oettershagen beobachtete weiter: „Und er spann sein Seemannsgarn. Aus dem Stegreif spann er und mit Kraftausrücken stark verknotet. Ich ließ ihn spinnen. . . . er hatte nichts anderes gelernt und schließlich war er ja verantwortlich für seine Abteilung ,Seemannsgarn’. Wochen und Monatelang spann H. ,Seemannsgarn’, und immer wieder denselben Faden. Und der Faden wurde immer dünner und riß öfter ab . . . . Der Hörer bediente sich zum Schimpfen des Telefons, denn das Telefon gab den Schimpfenden nicht preis. Seit Wochen riefen die Hörer nun schon an. Sie schimpften zuerst ironisch, dann erbost und zuletzt nur noch wimmernd: ob denn der wiederliche [!] Bandwurm (sie meinten H’s Seemannsgarn) nicht bald ,abging’ – aber mit Kopf. Bei einem solchen Anruf kam H. einmal hinzu, als er gerade mit spinnen fertig geworden war, und nahm mir den Hörer aus der Hand. Was er dann dem Anrufer sagte, war aus ,Götz von Berlichingen’.“47 Wann sich die Episode ereignete, hat Oettershagen nicht überliefert, wohl aber dass Heikhaus mit Mikrofonverbot belegt wurde. Ob er schon in diesem Zuge eine Abmahnung erhielt, ist ebenfalls nicht klar; möglicherweise geschah dies erst im Rahmen der Affäre um die sexuelle Belästigung einer freien Mitarbeiterin, die schließlich zu Heikhaus’ Entlassung am 28. Februar 1935 führen sollte. Auch hier nutzte Sendeleiter Eugen Kurt Fischer die Suspendierung Glasmeiers während der Glasmeier-Keiper-Affäre zu einer Korrektur der Personalpolitik. Sendemitschnitte von Heikhaus’ „Seemannsgarn“ wurden nicht angefertigt, so dass nur indirekt Rückschlüsse auf Form und Inhalt gezogen werden können − etwa anhand der „Werag“-Reportage vom Juli 1933. Hier wurde er als „guter Erzähler“ charakterisiert, der seine Geschichten „stets deftig ,hinlegt’“. Allerdings seien sie „nicht so ganz salonfähig“, sondern „mehr für Herrenabende bestimmt“.48 Stellt man den offiziösen Charakter der Programmzeitschrift und die Tatsache der Gleichschaltung des Presseap45 46 47 48

HA WDR D 172: Albert Oettershagen, Erinnerungen (Typoskript, Juni 1968), hier S. 9. Zit. nach Hans Bredow, Aus meinem Archiv: Probleme des Rundfunks, Heidelberg 1950, hier S. 344. HA WDR D 172: Oettershagen, Erinnerungen, S. 9 f. Werag 9 (1934), H. 27 vom 1.7.1934, S. 4.

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Abb. 4: Wilhelm Heikhaus (aus: W. Heikhaus, Hoffnung auf morgen)

parates in Rechnung, ist klar, dass es keine substanzielle Kritik geben konnte. Die Verklausulierung deutet vielmehr darauf hin, dass es sich bei Heikhaus’ Seemannsgarn um Zoten gehandelt haben dürfte, die für einen Sendeplatz im Vorabendprogramm nach damaligen Maßstäben als ungeeignet galten. Erhalten ist eine Geschichte aus Heikhaus’ Feder für die Programmzeitschrift „Werag“ mit dem Titel „Käpten Heikhaus erzählt: Mexikanisches Erlebnis“.49 Sie handelt von einer Messerstecherei und einem Mord in einer Bar namens „Southern Cross“ in Tampico, Mexiko, und erlaubt Einblicke in Heikhaus’ Weltbild. Dabei umgibt sich der Erzähler mit der Aura des abgeklärten Weltenbummlers („Damals, 1908, war Tampico noch nicht so ein Riesenhafen wie heute. . . . Tampico war ein Fieberplatz schlimmster Art“), der eine „Episode“, einen Schwank aus seiner Jugendzeit zum Besten gibt. Sie 49

Da das Urmanuskript fehlt, ist nicht zu ermitteln, ob es sich um einen Originalbeitrag oder um eine redaktionelle Überarbeitung handelt; Werag 9 (1934), H. 47 vom 18.11.1934, S. 50.

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lebt vom exotischen Lokalkolorit und der Beschreibung eines Außenseitermilieurs. Beschrieben werden die rüden Sitten in der Hafenbar „Southern Cross“, in der es beim Pokern hoch herging, die Colts locker saßen und die Besucher sich einen Spaß daraus machten, reihenweise Glühbirnen zu zerschießen. In dieser Atmosphäre erfährt das „Greenhorn“ von einst seine Initiation in die Abstumpfung gegenüber Gewalt. Sie vollzieht sich in Gesellschaft von underdogs, der „armen Teufel von Seeleuten“, die in tropischer Hitze die Winden bedienen mussten und dabei „schaufelweise Chinin“ schluckten. Gepriesen werden Solidarität, Kamaradschaftlichkeit und Freigebigkeit „bis zum letzten“. Das Fazit lautete: „Es waren prachtvoll selbstbewußte Burschen, immer bereit, ihr Leben für ein Nichts zu wagen.“ Obwohl es sich bei den Abenteurern selbst um sozial Deklassierte handelte, „unter denen das nordische Element überwog“, waren sie sich doch einig in ihrem Patriotismus und dem Bewusstsein ihres Herrenmenschentums, in der „Abneigung gegen den Farbigen und den Mischling“. Im Jahre 1934 kochte dann eine Affäre um Heikhaus hoch. Den Stein ins Rollen brachte eine Aktennotiz des Regierungsrates im Propagandminiserium, Dr. Flügel, vom 14. Dezember 1934 über ein Gespräch mit Helmy W. aus Gelsenkirchen. In diesem legte sie eidesstattliche Erklärungen und Korrespondenz mit dem Reichssender Köln vor und beschuldigte Heikhaus der sexuellen Belästigung.50 Sie habe Heikhaus in Gelsenkirchen über einen Verehrer, auch er Mitglied der NSDAP, kennengelernt. Dieser habe Heikhaus darüber informiert, dass sie ausgebildete Sängerin sei und ihn gebeten, am Reichssender für sie zu intervenieren. Ungebeten sei Heikhaus dann zwei Tage später in der Wohnung ihrer Mutter erschienen und habe kurz darauf begonnen, sie zu bedrängen und in eindeutiger Weise zu verstehen gegeben, in welcher Weise er sich eine Rekompensation für sein Entgegenkommen vorstellte. Aufgrund ihrer beengten wirtschaftlichen Situation als Witwe und wenig beschäftigte Sängerin habe sie schließlich widerwillig einige Male mit Heikhaus intim verkehrt.51 Zunächst schien die Rechnung für Helmy W. aufzugehen. Nach eigenen Angaben absolvierte sie am 5. April ein erfolgreiches Probesingen „vor 5 Herren“. Tatsächlich debütierte sie nur knapp drei Wochen später, am 23. Mai, als Sängerin beim Reichssender Köln. Außerdem wurde sie in etwa drei- bis vierwöchigen Abständen als Autorin beschäftigt.52 Allem Anschein nach blieben jedoch weitere Aufträge aus. Nach Darstellung von Helmy W. gegenüber dem Propagandaministerium hatte Heikhaus nämlich, nachdem sie sich seinen Zudringlichkeiten verweigert hatte, den Kontakt abgebrochen.53 Aktenkundig ist, dass Helmy W. sich daraufhin an Sendeleiter Fischer wandte, der ein Gespräch am 14. November im Sender anberaumte, in dem sie Heikhaus in Gegenwart von Fischer, Verwaltungsleiter Behrendt und Notenwart Rings mit den Vorwürfen konfrontierte. Über den Verlauf des Gespräches ist nichts weiter bekannt, wohl aber dürfte Fischer die Personalabteilung der vorgesetzten RRG in Berlin informiert haben, während Helmy 50 51 52

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Vorgang in BArch R 55/1023, fol. 104 ff. BArch R55/1023, fol. 105r. Belegt anhand der Akten für den 6.7., 23.7., 22.8., 8.9. und 3.10. Eine Mitwirkung im Programm ließ sich in den Programmausdrucken allerdings nicht nachweisen. BArch R55/1023, fol. 105v.

Personalpolitik am Westdeutschen Rundfunk 1933–1935

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W. sich direkt ans Propagandaministerium wandte, wo das besagte Gespräch mit Regierungsrat Flügel am 14. Dezember 1934 stattfand. Allem Anschein nach schlossen sich die beiden Parteien der Darstellung von Helmy W. an. Das Ministerium handelte rasch und ungeachtet der Tatsache, dass Heikhaus als AltParteigenosse galt. Weitere Affären am Reichssender Köln sollten in Anbetracht der Glasmeier-Keiper-Affäre und angesichts der öffentlichen Meinung nicht bekannt werden. Am 20. Dezember unterrichtete Flügel die Sängerin über die Beurlaubung von Heikhaus, der „nicht mehr am Sender tätig ist“.54 Damit war die Angelegenheit jedoch noch nicht erledigt. In einem Schreiben vom 3. Januar 1935 unterrichtete Helmy W. das Propagandaministerium über einen jüngst erlittenen Nervenzusammenbruch. Der eigentliche Grund des Schreibens war jedoch die Forderung nach einer freien Mitarbeit am Sender. Sie wurde mit der gleichzeitigen Bitte um Überprüfung der Beschäftigungspraxis der Chansonnette Marita Gründgens, der Schwester des Schauspielers Gustaf Gründgens, unterfüttert, die ihr offenkundig vorgezogen werde. In korrekter Form forderte das Propagandaministerium eine Stellungnahme des Reichssenders zu den Angelegenheiten Marita Gründgens und Helmy W. an. Zwei Tage später, am 13. Januar 1935, kam es in Gelsenkirchen zu einem Eklat. Heikhaus nutzte die Anwesenheit eines Ü-Wagens zu Aufnahmen eines Konzertes des Männergesangsvereines „Sangeslust“ dazu, die eigene Sicht der Affäre in unautorisierten Statements gegenüber Vertretern des Deutschen Nachrichtenbüros (DNB) kundzutun.55 Dabei habe er, so Helmy W. in einem Schreiben an Regierungsrat Flügel zwei Tage später, „den Anschein erweckt, als ob er der Leiter dieser Aufnahme sei“.56 Tatsächlich erschienen am nächsten Tag Pressenotizen in Gelsenkirchener Zeitungen zu Heikhaus’ „Stellungnahme“. Der Reichssender Köln beorderte daraufhin den Pressechef des Reichssenders, Hermann Tölle, nach Berlin, und mit Unterstützung des Propagandaministeriums gelang es, eine weitere Verbreitung der Meldung durch das DNB zu unterdrücken. In der Darstellung Heikhaus’ hieß es, die in Gelsenkirchen kursierenden „böswilligen Gerüchte beruhten auf blosser Erfindung und Unwahrheit“. Weiter gab er zu Protokoll: „Richtig sei, dass er [Heikhaus] unter Rückkehr in seinen früheren Beruf und zugleich aus wirtschaftlichen Gründen . . . aus dem Reichssender Köln ausscheide, um eine Stellung als Schiffahrts-Inspekteur zu übernehmen. Bei dieser Gelegenheit widerlegte Heikhaus auch die über den in Urlaub befindlichen Intendanten [Glasmeier] . . . umlaufenden Gerüchte. Den Intendanten des Reichssenders Köln treffe an den aufgedeckten Unterschlagungen des Angestellten [Keiper] keine Schuld.“57 Laut „Gelsenkirchener Zeitung“ hatte Heikhaus zudem bekundet, er habe aus „wirtschaftlichen Gründen“ zum 1. März 1935 in Köln gekündigt – das Gegenteil war jedoch der Fall, denn schon vor der improvisierten „Pressekonferenz“ in Gelsenkirchen war das Maß voll. Fischer erinnerte sich nach dem Krieg: „Ich mußte handeln, holte mir von 54 55

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BArch R 55/1023, fol. 107r. Schreiben der RRG mit Schilderung des Hergangs an Ministerialrat Rüdiger im RMVP vom 26.1.1933, BArch R55/1023, fol. 112. BArch R55/1023, fol. 108r. Zit. nach dem Text der telefonischen Durchsage von Hermann Tölle an den Reichssender Köln, BArch R55/1023, fol. 116r.

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Berlin Deckung, die ich erstaunlicherweise auch erhielt, kündigte dem kecken Manne fristgemäß, erteilte ihm aber gleichzeitig ab sofort Hausverbot“.58 Gleichzeitig erhielt das Deutsche Nachrichtenbüro eine diesbezügliche Information. Die offizielle Kündigung des Abteilungsleiters erging zum 28. Februar. Am 26. Januar 1935 teilte der Reichssender Köln der RRG auf Anfrage mit, dass die Ausführungen von Heikhaus nicht über den Sender gegangen seien. Heikhaus’ Karriere bis 1945 konnte bisher nicht lückenlos rekonstruiert werden. Fischer berichtet, er habe einen Anruf aus der Gauleitung Westfalen-Nord bekommen, wonach Heikhaus als Wirtschaftsreferent des Gauleiters eingestellt worden sei; Oettershagen erinnert sich an ein zufälliges Treffen in Köln, bei dem Heikhaus bekundet habe, „er gehe nun ,zur Kommune’ über“.59 Bei Kriegsende war die Familie in Gelsenkirchen gemeldet. Heikhaus geriet in britische Kriegsgefangenschaft und wurde laut Meldekartei der Stadt Gelsenkirchen am 29. Mai 1947 aus dem Internierungslager Sennelager entlassen. Abgesehen von einem kurzen Stuttgarter Intermezzo fristete Heikhaus seinen Lebensunterhalt als „Anzeigenkorrespondent“ in seiner Vaterstadt Gelsenkirchen. Hier starb er am 7. November 1957. Für Helmy W. blieb die Affäre nach Heikhaus’ Entlassung in doppelter Hinsicht unerledigt. Mitte Januar 1935 berichtete sie in einem Schreiben an Regierungsrat Flügel über Repressalien von NS-Sympathisanten, denen sie sich im Zuge der Affäre in Gelsenkirchen ausgesetzt sehe: „Die Anhänger des Heikhaus drohen mir in unverhülltester Form. Ich wage mich nicht mehr aus dem Hause. Man beobachtet mein Haus, wagt es sogar spät abends anzuschellen und dergleichen mehr.“60 Am 24. April war die Rede von einem Überfall und Schlägen ins Gesicht, der nun kriminalpolizeilich untersucht werde. Verängstigt bat sie deshalb das Propagandaministerium, den vorliegenden Schriftwechsel mit ihren Beschuldigungen keinem Dritten auszuhändigen, auch nicht der Polizei. Dem Ziel ihrer Existenzsicherung beim Reichssender Köln war sie nicht näher gekommen, im Gegenteil. In einem Schreiben vom 30. Januar 1935 unterrichtete die RRG das Propagandaministerium über die Stellungnahme des Reichssenders in Bezug auf eine weitere Zusammenarbeit mit Helmy W. So sei ihre Mikrofonprobe seinerzeit nur „bedingt positiv“ ausgefallen und in der Sendung selbst habe sie enttäuscht, wohingegen man Marita Gründgens „sehr gern heranziehe, da sie sehr vielseitig sei, besonders als Chansonsängerin, Parodisten und Sprecherin leichter Sachen“.61 Durch die Konkurrenz der Bewerberinnen − das Angebot „besserer Kräfte“ sei im Sendegebiet „ausserordentlich groß“ – und ihr persönliches Verhalten (will sagen: die wiederholte Umgehung des Dienstweges durch die direkten Interventionen beim Ministerium) sei der Bereitschaft, ihr in Köln entgegenzukommen, nicht gewachsen. Das als Konzept erhaltene Schreiben Flügels an Helmy W. vom 11. Februar zeigt, dass er sich der Vorlage der RRG anschloss. In knappen Worten teilte er mit, dass ihre Verwendung im Reichssender 58 59 60 61

HA WDR, D 477: Fischer, Der Westdeutsche Rundfunk IV, S. 13. HA WDR D 172: Oettershagen, Erinnerungen, S. 10. BArch R55/1023, fol. 109r. BArch R55/1023, fol. 121.

Personalpolitik am Westdeutschen Rundfunk 1933–1935

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Köln nicht möglich sei, da sie den Anforderungen nicht in genügendem Maße entspreche.62 Doch noch war Helmy W. nicht bereit aufzugeben. Sie fuhr wiederum nach Köln, wo sie nur mit Mühe bis zu Sendeleiter Fischer vordrang, der sich „feindselig“ verhalten und ihr vorgeworfen habe, dass ihm Berlin ihretwegen „hier auf den Kopf“ käme. Fischer war demnach, abgesehen von den atmosphärischen Störungen, nicht bereit, einen Blankoscheck auf mäßige Leistungen zu erteilen. Immerhin habe er die Angelegenheit jedoch an Paul Heinrich Gehly (Abteilungsleiter Musik) und den Leiter der Abteilung Unterhaltung, Gustav Kneip, delegiert. Während Gehly ausweichend antwortete, behandelte Kneip die Angelegenheit dilatorisch, erst am 28. Februar erging eine endgültige Absage. Und im Ministerium teilte man ihr ein weiteres Mal mit, dass sie den Anforderungen nicht genüge und von weiteren Interventionen tunlichst absehen möge. Helmy W. zog nun das letzte Register, das ihr noch blieb: Sie bat um einen persönlichen Termin bei Propagandaminister Goebbels (der ihr verweigert wurde) und drohte, den „Führer“ über die Affäre zu unterrichten. In der Akte bricht der Vorgang an diesem Punkt ab. Helmy W. hatte nichts erreicht. Die Konsequenz war, dass sie nun nicht etwa häufiger, sondern gar nicht mehr beschäftigt wurde, und dass Marita Gründgens als „Doppelverdienerin“ auf Anweisung des Propagandaministeriums von nun an seltener zu hören war. Fazit Die partielle Korrektur der während des Gleichschaltungsprozesses von 1933 betriebenen Personalpolitik durch Sende- und Verwaltungsleitung führte insgesamt zu einer Beruhigung im Betrieb. Fischer besetzte die frei werdenden Posten mit Vertrauenspersonen aus dem Kreis der schon vor 1933 tätigen, fachlich versierten „Rundfunkpioniere“ wie z. B. Christian Rings und Oberspielleiter Josef Kandner. Bei einem Besuch in Köln im Februar 1935 verschaffte sich Verwaltungsdirektor Voß von der RRG selbst ein Bild, indem er vertrauliche Gespräche mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus allen Organisationseinheiten des Hauses führte – vom Chauffeur über die Chormitglieder bis hin zu den leitenden Mitarbeitern. Seiner Einschätzung nach erwies sich das Tandem Fischer/Behrendt als effizient: „Das Zusammenarbeiten der beiden Herren ist erfreulich gut, auch habe ich den Eindruck gewonnen, dass in der Belegschaft selbst zu beiden Herren absolutes Vertrauen vorhanden ist. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, mich in einem Ameisenhaufen zu befinden, in dem vorher jemand mit einem Stock herumgerührt hat.“63 Die Quellenlage zu einer eingehenderen Betrachtung der Personalpolitik des NSRundfunks ist generell bescheiden. Akten der Reichssender, der RRG und des Propagandaministeriums sind nur zu einem geringen Prozentsatz überliefert. Die vorlie-

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BArch R55/1023, fol.122. BArch R55/1022, fol. 54.

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gende Mikroanalyse kann deshalb nicht mehr als ein Schlaglicht auf die 1933 in Gang gesetzte Personalpolitik bei den deutschen Rundfunksendegesellschaften liefern. Dennoch wirft sie eine Reihe von Fragen auf, die bisher von der Rundfunkgeschichte nicht gestellt worden sind. Diese berühren die Aspekte der Linearität von Karrieren, also einer differenzierteren Betrachtung von Kontinuität und Diskontinuität von Rundfunkkarrieren über das Jahr 1933 hinaus, der Persistenz von Netzwerken und ihrer informellen, teilweise „subkutanen“ Funktionsweise, der Professionalisierung der Mitarbeiter sowie der durch Entprofessionalisierung heraufbeschworenen Krisen, des Wirkens „alter“ Unternehmenskulturen, der Bedeutung der persönlichen Motivation von Mitarbeitern in der Wechselwirkung mit der Unternehmensstruktur und nicht zuletzt die Frage, in welchen Bereichen des Rundfunksendebetriebs (Intendanz, Verwaltung, Technik, Redaktionen) welches Maß von Expertise benötigt wurde, um den Betrieb als solchen funktionsfähig zu erhalten und damit der intendierten Propagandafunktion gerecht zu werden. Allein die Analyse weniger Karriereverläufe beim Reichssender Köln deutet darauf hin, dass sich der NS-Rundfunk nicht so monolithisch darstellt wie bisher gedacht. Das Bild zeigt im Gegenteil erhebliche „Unwuchten“ in der Mikrostruktur der „Propagandamaschinerie“. Indem der Rundfunk selbstreferentiell auf seine Propagandafunktion und die Fokussierung auf wenige (Spitzen-)Produktionen (und neuerdings auch erstärkt auf die Rezeption) reduziert wird, bleibt der Blick auf ein differenziertes Bild seiner Tiefenstrukur verstellt.

Ralf Blank

„Battle of the Ruhr“. Luftangriffe auf das Ruhrgebiet 1943

Der Ballungsraum an Rhein und Ruhr wurde im Zweiten Weltkrieg besonders intensiv bombardiert. Auf dem europäischen Kriegsschauplatz war keine andere Region vom Luftkrieg derartig stark betroffen.1 Das Ruhrgebiet galt sowohl auf deutscher als auch auf alliierter Seite als die „Waffenschmiede des Reiches“. Diese Einschätzung geht vor allem auf die Bedeutung zurück, die der Krupp-Werke in Essen seit Mitte des 19. Jahrhunderts für den Bau von Artilleriegeschützen besaßen.2 Der Unternehmer Alfred Krupp (*1812, †1887) erwarb sich damals als Lieferant der Armeen fast aller europäischen Staaten den Ruf eines „Kanonenkönigs“. In der historischen Forschung werden das durch Krupp und die Stadt Essen vor allem auch im „Dritten Reich“ gepflegte Bild der „Waffenschmiede“ und die tatsächliche Rolle des Ruhrgebiets für die deutsche Kriegsrüstung jedoch etwas differenzierter gesehen.3 Unstrittig ist, dass diese Region eine bedeutende Rolle in der deutschen Rüstungswirtschaft spielte, die der nationalsozialistische Rüstungsminister Albert Speer (*1905, †1981) seit 1943 vor dem Hintergrund eines verschärften Bombenkriegs auch immer wieder hervorhob.4 Als Lieferant

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Für einen grundlegenden Überblick über die militärische und technologische Entwicklung vgl. Horst Boog, Der anglo-amerikanische Luftkrieg über Europa und die deutsche Luftverteidigung, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 6: Der globale Krieg, Stuttgart 1990, S. 429–560; ders., Strategischer Luftkrieg in Europa und Reichsluftverteidigung 1943–1944, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 7: Das Deutsche Reich in der Defensive, Stuttgart 2001, S. 3–415; ders., Die alliierte Bomberoffensive gegen Deutschland und die Reichsluftverteidigung in der Schlußphase Schlussphase des Krieges, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 10: Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches und die Folgen des Zweiten Weltkriegs, Teilbd. 1: Die militärische Niederwerfung der Wehrmacht, Stuttgart 2008, S. 777–884. Zur Entwicklung des Luftkriegs vgl. auch Olaf Groehler, Bombenkrieg gegen Deutschland, Berlin 1990; Rolf-Dieter Müller, Der Bombenkrieg 1939–1945, Berlin 2004. Einen Überblick über die einzelnen britischen Luftangriffe geben Martin Middlebrook/Chris Everitt, The Bomber Command War Diaries. An operational reference book, 1939–1945, Harmondsworth u.a. 1985. Zum Luftkrieg gegen das Rhein-Ruhr-Gebiet vgl. Ralf Blank/Gerhard E. Sollbach, Das Revier im Visier. Bombenkrieg und „Heimatfront“ im Ruhrgebiet 1939–1945, Hagen 2005; Ralf Blank, „Ruhrschlacht“. Das Ruhrgebiet im Kriegsjahr 1943, Essen 2013. Zur Geschichte des Unternehmens vgl. Lothar Gall, Krupp. Der Aufstieg eines Industrieimperiums, München 2000; ders. (Hg.), Krupp im 20. Jahrhundert. Die Geschichte des Unternehmens vom Ersten Weltkrieg bis zur Gründung der Stiftung (1914–1967), Berlin 2002. Fokussiert auf die Rüstungsproduktion in der Kaiserzeit und im Ersten Weltkrieg auch Zdenèk Jindra, Der Rüstungskonzern Fried. Krupp AG, 1914–1918. Die Kriegsmateriallieferungen für das deutsche Heer und die deutsche Marine, Prag 1986. Vgl. Lutz Budraß, Das Ruhrgebiet und die nationalsozialistische Rüstungspolitik. Einige Anmerkungen zum Bild der „Waffenschmiede des Reiches“, in: Manfred Rasch (Hg.), Technikgeschichte im Ruhrgebiet, Technikgeschichte für das Ruhrgebiet, Essen 2004, S. 687–709. Vgl. etwa Anlage zum Reisebericht Speers vom 15.9.1944, Bundesarchiv Berlin, R 3/1539, Bl. 4 f. Hier besonders die Aussage: „... ohne das Rheinisch-Westfälische Industriegebiet ist eine Fortführung des Krieges nicht möglich“.

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von Gehäusen (Wannen, Aufbauten und Drehtürme) für nahezu alle deutschen Kampfpanzer,5 von Zubehör- und Ausrüstungsteilen für zahlreiche Waffensysteme der Luftwaffe und Marine, von Flugabwehr-, Artillerie- und Panzerabwehrgeschützen sowie als Produzent von Munition unterschiedlichster Kaliber besaß die Industrieregion an Rhein und Ruhr im „Dritten Reich“ und während des Zweiten Weltkriegs zweifellos eine große Bedeutung.6 Der Steinkohlenbergbau und die Energiewirtschaft nahmen im Deutschen Reich ebenfalls eine deutlich überregionale Funktion ein. Hinzu kamen ein gut ausgebautes Schienen- und Straßennetz sowie die Binnenschifffahrt, die das Ruhrgebiet mit anderen Industrieregionen im Reich, den Nachbarländern und den Nord- und Ostseehäfen verbanden. Gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich die an den Flüssen Rhein und Ruhr gelegene Region zu einem der größten Bevölkerungszentren und leistungsstärksten Wirtschaftsräume des Kontinents entwickelt. Im Jahre 1939 lebten hier mehr als 4 Millionen Menschen. Das eigentliche Ruhrgebiet, um das es auch in diesem Beitrag geht, umfasst den im Jahre 1920 gegründeten Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk (SVR), den Vorläufer des heutigen Regionalverbandes Ruhrgebiet (RVR, seit 2004). Geographisch erstreckt sich dieses Gebiet vom Rhein bei Duisburg im Westen bis nach Hamm im Osten sowie annähernd zwischen den Flüssen Lippe im Norden und Ruhr im Süden.7 Das Ruhrgebiet war bis Ende der 1960er Jahre, als die Krise in der Stahlwirtschaft und das Zechensterben begannen, von der Stahlindustrie und vom Steinkohlenbergbau geprägt. Bergwerke, Kokereien und Hochöfen bestimmten für mehr als 150 Jahre das Erscheinungsbild der Region. Doch zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich dieses Zentrum der Schwerindustrie und des Bergbaus grundlegend verändert. Heute sind die Industriebetriebe von gestern Denkmale und Museen − begrünte Abraumhalden und nur noch einzelne Fördertürme markieren eine Landschaft, deren struktureller Wandel im Jahre 2010 als Kulturhauptstadt Europas international wahrgenommen wurde. Im Ruhrgebiet waren neben dem Bergbau und der Stahlindustrie auch andere Industriezweige vertreten.8 In der südwestfälischen Großstadt Hagen hatte die Accumulatoren Fabrik AG, der wichtigste deutsche Hersteller von Batterien (vor allem Spezialbatterien für U-Boote, Torpedos, Flugzeuge und Raketen), ihr Stammwerk.9 Bei Lünen (in der 5

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Hierzu Harmut H. Knittel, Panzerfertigung im Zweiten Weltkrieg. Industrieproduktion für die deutsche Wehrmacht, Herford 1988; Dieter Hanel, Die Panzerindustrie, Bonn 2000. Zusammenfassend vgl. Blank, „Ruhrschlacht“, S. 43 f., S. 228 ff. Zum Ruhrgebiet vgl. Karl Ditt/Klaus Tenfelde (Hg.), Das Ruhrgebiet in Rheinland und Westfalen. Koexistenz und Konkurrenz des Raumbewusstseins im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn u.a. 2008. Einen Überblick über die Produktion sowie teilweise auch über die produzierten Waffen und Zubehörteile geben die von 1939 bis Frühjahr 1944 erhaltenen Tagebücher der Rüstungsbehörden, Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg, RW 21–14: Kriegstagebuch Rüstungskommando Dortmund, RW 21–41: Kriegstagebuch Rüstungskommando Lüdenscheid, RW 20–6: Kriegstagebuch Rüstungsinspektion VI. Ab 1962 in Varta Batterie AG umbenannt, seit 1995 ein Teil der EnerSys – Hawker GmbH; vgl. Ralf Blank, Energie für die „Vergeltung“. Die Accumulatoren Fabrik AG Berlin-Hagen und das deutsche Raketenprogramm im Zweiten Weltkrieg, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 66 (2007), S. 101–118; ders., Hagen im Zweiten Weltkrieg. Rüstung und Kriegsalltag in einer westfälischen Großstadt 1939–1945, Essen 2008, S. 86–139; Joachim Scholtyseck, Der Aufstieg der Quandts: Eine deutsche Unternehmerdynastie, München 2011.

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Nähe von Dortmund) lag das ,Lippewerk’ der Vereinigten Aluminiumwerke AG, das im Zuge der forcierten Autarkiepolitik ab 1936 zu einem wichtigen Lieferanten für Aluminium aufstieg. In Marl-Hüls entstanden zur gleichen Zeit die ausgedehnten Betriebsanlagen der IG Farben zur Herstellung von synthetischem Gummi (Buna), einem „strategischen Rohstoff“.10 Bis 1940 wurden den in großer Zahl im Ruhrgebiet vorhandenen Kokereien eigene Betriebe zur Erzeugung von synthetischem Benzin über die Kohlehydrierung (Fischer-Tropsch-Verfahren) sowie anderen chemischen Produkten angeschlossen.11 Die größten Hydrierwerke lagen in Gelsenkirchen (Nordstern und Scholven) sowie in Bottrop, Oberhausen, Bergkamen, Wanne-Eickel und Dortmund. Von großer Bedeutung waren auch die zahlreichen Kraftwerke, die nicht nur Elektrizität für die Region an Rhein und Ruhr produzierten, sondern auch über ein weit verzweigtes Verbundnetz andere Gebiete des Deutschen Reiches mit Energie versorgten. Besonders aber der Steinkohlebergbau spielte eine ungemein wichtige Rolle in der deutschen Wirtschaft. Die Ruhrkohle wurde als Rohstoff für den Fahrbetrieb der Reichsbahn, für die Energieerzeugung in Kraftwerken und Industriebetrieben sowie vor allem auch als Heizmittel in Privathaushalten benötigt. Der aus Steinkohle erzeugte Koks befeuerte die Hochöfen der Stahlwerke. Zusätzlich zur industriellen Bedeutung besaß das Ruhrgebiet eine zentrale Funktion für den Güter- und Personenverkehr im Deutschen Reich, nicht zuletzt aber auch für den militärischen Nachschub auf dem Schienenweg.12 Die gesamte Region funktionierte wegen ihrer günstigen geographischen Lage wie eine gewaltige Drehscheibe und als

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Zur Buna-Produktion und das Werk in Marl-Hüls vgl. Wilhelm Treue, Gummi in Deutschland. Die deutsche Kautschukversorgung und Gummi-Industrie im Rahmen weltwirtschaftlicher Entwicklung, München 1955; Wolfgang Fleischer, Gummi und Krieg. Zur militärischen Verwendung von Gummi in Deutschland bis 1945, in: Ulrich Giersch/Ulrich Kubisch (Hg.), Gummi. Die elastische Faszination, Berlin 1995, S. 144–151; Bernhard Lorentz/Paul Erker, Chemie und Politik. Die Geschichte der Chemischen Werke Hüls 1938–1979, München 2003; Stefan Hörner, Profit oder Moral. Strukturen zwischen IG Farbenindustrie und Nationalsozialismus, Bremen 2012. Zur Hydrierindustrie siehe Wolfgang Birkenfeld, Der synthetische Treibstoff 1933–1945. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Wirtschafts- und Rüstungspolitik, Göttingen u.a. 1964; Boy Cornils, Die FischerTropsch-Synthese von 1936 bis 1945. Treibstoff-Synthese oder Benzinreaktion für Chemierohstoffe, in: Technikgeschichte 64 (1997), S. 205–230. Die Hydrierwerke produzierten auch chemische Beiprodukte wie z. B. Nitrogen und Ethylen. Bis Sommer 1944 lieferten allein die Fischer-Tropsch-Hydrierwerke in Oberhausen-Holten (Ruhrchemie), Wanne-Eickel (Krupp) und Castrop-Rauxel (Gewerkschaft Victor) monatlich rund 4.000 Tonnen des zur Herstellung von Sprengstoffen wichtigen Nitrogen. Von den 1943 produzierten 643.000 Tonnen Benzol wurden allein 60 Prozent von Kokereien im Ruhrgebiet geliefert. Im ersten Halbjahr 1944 fanden 56 Prozent des Produktionsausstoßes von Benzol für Treibstoff, 24 Prozent für Sprengstoffe, 15 Prozent in der chemischen Weiterverarbeitung und 5 Prozent bei der Herstellung von synthetischem Gummi Verwendung. Gleichzeitig lieferten die Benzolbetriebe der Kokereien 68 Prozent des zur Herstellung von TNT-Sprengstoff notwendigen Toluol; in der zweiten Hälfte des Jahres 1944 war dieser Anteil durch den Ausfall von Hydrierwerken nach Bombenangriffen auf 82 Prozent gestiegen; USSBS Oil Division, Final Report, National Archiv, College Park, RG 243:100. Die Reichsbahndirektion (RD) Essen und die angrenzenden Gebiete der Reichsbahndirektionen Wuppertal, Köln, Münster und Kassel waren von großer Bedeutung. In der RD Essen wurden 10 Prozent der gesamten Rangierkapazität abgefertigt, gleichzeitig übernahm sie die Abfuhr von 35 Prozent aller Kohletransporte im Reich. Die wichtigsten Verschiebahnhöfe waren: Hamm (RD Essen, 10.000 Wagen tägl.), Wedau (RD Essen, 7.000 Wagen tägl.), Hagen-Vorhalle (RD Wuppertal, 3.800 Wagen tägl.), Soest (RD Kassel, 4.000 Wagen

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Knotenpunkt für den Bahnverkehr in allen Himmelsrichtungen. Über die sogenannten Kohlenpforten, gut ausgebaute Verschiebebahnhofe an den Rändern des Ruhrgebiets, wurde Steinkohle von der Ruhr in alle Gebiete Deutschlands weitergeleitet. Der Verschiebebahnhof in Hamm war der größte Rangierbahnhof im Deutschen Reich und zählte zu den wichtigsten Bahnhöfen auf dem europäischen Kontinent.13 Im „Dritten Reich“ verteilte sich das Gebiet des rheinisch-westfälischen Industriegebiets auf fünf Parteigaue der NSDAP, die sich an den Bezirken der vorhandenen preußischen Regierungsbezirke und Verwaltungsprovinzen orientierten.14 Im Norden lag der Gau Westfalen-Nord mit seiner Gauhauptstadt Münster, die gleichzeitig auch Sitz der Verwaltungsprovinz Westfalen war. Der Gau Westfalen-Süd umfasste den Regierungsbezirk Arnsberg und hatte Bochum als Gauhauptstadt. Der Gau Essen reichte bis an den Niederrhein und schloss sich westlich und südlich an den größeren Gau Düsseldorf an. Köln war nicht nur die wichtigste Stadt der von Koblenz aus verwalteten preußischen Rheinprovinz, sondern auch Sitz des Gauleiters im Gau Köln-Aachen. Zur politischen Steuerung der Mittelinstanzen in der staatlichen Landesverwaltung und der Kommunen wurde am 1. September 1939 zunächst der Gauleiter Josef Terboven (*1898, †1945) zum Reichsverteidigungskommissar für den Wehrkreis VI (Münster) ernannt.15 Nachdem es immer wieder zu Kompetenzproblemen unter den nach territorialer Hegemonie strebenden Gauleitern gekommen war, wurden sie im November 1942 zu Reichsverteidigungskommissaren in ihren Gaugebieten berufen. „Battle of the Ruhr“ 1943 Mit einem schweren Angriff auf die Stadt Essen eröffnete das britische Bomber Command am 5./6. März 1943 eine bis Ende Juli 1943 andauernde Angriffsserie, in deren Folge fast sämtliche Großstädte im Rheinland und Ruhrgebiet schwer zerstört wurden.16

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tägl.), Schwerte-Geisecke (RD Wuppertal, 3.000 Wagen tägl.), Wanne-Eickel (RD Essen, 6.800 Wagen tägl.), Münster (RD Münster, 2.000 Wagen tägl.) und Osterfeld-Süd (RD Essen, 5.000 Wagen tägl.). Vgl. auch USSBS-Report No. 200: The Effects of Strategic Bombing on German Transportation, January 1947, National Archiv, College Park, RG 243:200. Zusammenfassend vgl. Alfred C. Mierzejewski, Bomben auf die Reichsbahn. Der Zusammenbruch der deutschen Kriegswirtschaft 1944–1945, Freiburg i.Br. 1993. Ralf Blank, „Target Gudgeon“ − Hamm und die alliierte Luftkriegsführung 1940 bis 1944, in: Der Märker 59 (2010). Exemplarisch für die Regionalherrschaft der Nationalsozialisten vgl. Armin Nolzen, Die westfälische NSDAP im „Dritten Reich“, in: Westfälische Forschungen 55 (2005), S. 423–469. Terboven war auch Oberpräsident der Rheinprovinz und wurde im April 1940 zum Reichskommissar für die besetzten norwegischen Gebiete ernannt. Anschließend übernahm Josef Grohé, Gauleiter in Köln-Aachen und neuer Oberpräsident der Rheinprovinz, das Amt, bis im November 1942 die Neuorganisation der Reichsverteidigungsbezirke erfolgte. Zu den Reichsverteidigungskommissaren vgl. Karl Teppe, Der Reichsverteidigungskommissar. Organisation und Praxis in Westfalen, in: Dieter Rebentisch/ders. (Hg.), Verwaltung contra Menschenführung im Staat Hitlers. Studien zum politisch-administrativen System, Göttingen 1986, S. 278–301. Zu den Luftangriffen auf Essen vgl. Norbert Krüger, Die Luftangriffe auf Essen. Eine Dokumentation, in: Essener Beiträge 113 (2002), S. 159–328. Zur „Battle of the Ruhr“ vgl. Blank, „Ruhrschlacht“.

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Unter der zeitgenössischen Bezeichnung „Battle of the Ruhr“ („Ruhrschlacht“) fand diese Luftoffensive dann auch Eingang in die Geschichtsschreibung. Über 15.000 Menschen verloren in diesem Zeitraum im Rhein-Ruhr-Gebiet ihr Leben, darunter auch mehr als 1.500 ausländische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, die in der Rüstungsindustrie eingesetzt waren. Doch auch rund 3.000 Angehörige der Royal Air Force fanden während der „Battle of the Ruhr“ den Tod; über 760 gerieten in deutsche Kriegsgefangenschaft.17 Spektakuläre Angriffe, wie die Zerstörung der Möhne-Talsperre am 16./17. Mai 1943 und der erste „Feuersturm“-Angriff gegen Wuppertal am 29./30. Mai 1943, waren die Höhepunkte dieser vom Bomber Command getragenen Kampagne. Auf Flugblättern, die in millionenfacher Auflage täglich über Deutschland und den durch die Wehrmacht besetzten Ländern abgeworfen wurden, verglichen die Alliierten die „Ruhrschlacht“ mit der entscheidenden Niederlage in Stalingrad zur Jahreswende 1942/43, mit der ruhmlosen Kapitulation des „Afrikakorps“ im Mai 1943 und mit dem im Sommer des Jahres gescheiterten U-Bootkrieg im Atlantik.18 Mit dieser Einschätzung hatten die Westalliierten insofern Recht, als diese Luftoffensive ein Wendepunkt in der Luftkriegsführung gegen Deutschland war. Gleich zu Beginn der „Battle of the Ruhr“ hatte die seit Sommer 1942 in England stationierte 8. United States Army Air Force (USAAF) zum erstem Mal ihre Präsenz am Himmel tief im Hinterland des Reichsgebiets gezeigt.19 Bereits im Februar 1943 versuchten US-amerikanische Bomber wiederholt, den Verschiebebahnhof Hamm anzugreifen. Doch die ungünstigen Wetterbedingungen verhinderten immer wieder den Einflug in das deutsche Reichsgebiet. Am 4. März des Jahres gelang es dann einem kleinen Angriffsverband von 16 „Fliegenden Festungen“ (Boeing B17), den Verschiebebahnhof in Hamm zu bombardieren. Erstmalig wurde damit ein Ziel tief im deutschen Hinterland von amerikanischen Bomben getroffen.20 Die Auswirkungen des US-amerikanischen Angriffs auf Hamm am 4. März 1943, dem nach Behördenangaben 158 Menschen zum Opfer fielen, beeinflussten die weitere Luftkriegsstrategie der Amerikaner in Europa erheblich. Der britische Premier Winston Churchill musste seine bis dahin zur Schau getragenen Skepsis, dass US-amerikanische Maschinen am Tage und aus großer Flughöhe überhaupt ein Ziel weit im Hinterland Deutschlands zu treffen vermochten, grundlegend revidieren. Das für die 8. USAAF entwickelte Konzept von möglichst präzisen Tagesangriffen auf ausgewählte Industrie- und Verkehrsanlagen im deutschen Hinterland hatte dagegen eine Bestätigung gefunden. 17

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19 20

Eine Übersicht über die einzelnen Angriffe geben Middlebrook/Everitt, Bomber Command, S. 362 ff.; eine ausführliche Darstellung der Einsätze mit Erlebnisberichten von Besatzungsmitgliedern findet sich in Alan Cooper, Air Battle of the Ruhr, Shrewsbury 1992 und Alwyn J. Phillips, The Valley of the Shadow of Death. An account of the Royal Air Force Bomber Command night bombing and minelaying operations including „The Battle of the Ruhr“, Chippenham 1991. Vgl. exemplarisch die britischen Flugblätter G. 14 „Schlag auf Schlag – Ostfront: Vernichtung der 6. Armee bei Stalingrad – Westfront: Kruppwerke in Essen zerschlagen“ (Einsatzzeit: 29.3.–5.5.1943), G. 40 „Was kann Deutschland noch tun?“ (Einsatzzeit: 24.6.–30.7.1943), G. 47 „Atlantikfront − Ruhrfront“ (Einsatzzeit: 27.7.–10.8.1943); vgl. Klaus Kirchner, Flugblattpropaganda im Zweiten Weltkrieg, Bde. 1–12, Erlangen 1977–1995, hier Bd. 5 (Flugblätter aus England, G-1943, G-1944), S. 51–53, 138–139, 150–151. Vgl. ausführlich Blank, „Target Gudgeon“. Die deutsche Luftwaffe setzte gegen den US-amerikanischen Tageinflug 180 ein- sowie 46 zweimotorige Jagdmaschinen ein, die zehn Abschüsse meldeten; vgl. Die geheimen Tagesberichte, Bd. 6, S. 199.

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Abb. 1: Durch Trümmer verschüttete Straße am Steinplatz im Dortmunder Nordviertel nach dem Luftangriff am 4./5. Mai 1943 (Foto: Stadtarchiv Bochum)

Für die deutsche Propaganda stellte der Tagesangriff auf Hamm eine Zäsur dar. Auch sie behauptete bis dahin, die US-amerikanischen Bomber seien für Luftangriffe auf deutsche Ziele kaum geeignet und würden von der Flak- und Jagdabwehr an Bombenabwürfen gehindert. Der Sicherheitsdienst der SS (SD) berichtete eine Woche nach dem Angriff auf Hamm, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Luftabwehr durch diesen Tagesangriff schwer gestört worden sei. Die ständigen Behauptungen der Propaganda, dass die amerikanische Bomberflotte das Reichsgebiet nicht am Tage angreifen könne,

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seien unübersehbar Lügen gestraft worden.21 Doch die „Battle of the Ruhr“ war weniger von ,Präzisionsbombardements’ am Tage geprägt, als nahezu ausschließlich von nächtlichen ,Flächenangriffen’, die vor allem das Ziel verfolgten, die Infrastruktur in den Großstädten zu zerstören. Die Auswirkungen der „Ruhrschlacht“ werden in der Forschung unterschiedlich bewertet, wobei die britische Luftoffensive teilweise unterschätzt und sogar als Fehlschlag gedeutet wird, was wohl auch der oft einseitigen und auf einer unzureichenden Quellengrundlage basierenden, eher oberflächlichen Beurteilung geschuldet ist.22 Werden die Ergebnisse der Bombardierungen jedoch unter dem Blickwinkel ihrer Folgen und hinsichtlich ihrer Intention betrachtet, bewirkte die „Battle of the Ruhr“ zum ersten Mal seit Kriegsbeginn zusammenhängende und sich nachhaltig auswirkende Zerstörungen in einer Industrieregion. Der vom Reichsminister für Propaganda und Volksaufklärung, Dr. Joseph Goebbels, am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast ausgerufene „Totale Krieg“ und die ideologische Konstruktion einer ,Volksgemeinschaft’ unter Bomben formierten sich während der „Ruhrschlacht“ zur Kulisse einer ,Heimatfront’. Sie war nicht nur der Schauplatz einer umfassenden, von Goebbels gelenkten Propagandaoffensive, sondern auch das Feld verschiedener innenpolitischer Maßnahmen, die dazu dienten, die gravierenden Folgen der Luftangriffe wenigstens aufzufangen und in halbwegs kontrollierbare Bahnen zu lenken. Dem als Rüstungsmanager auftretenden Speer bot die „Ruhrschlacht“ eine Bühne, um sich gegenüber Hitler und dem NS-Regime als erfolgreicher Krisenbewältiger und ,Retter des Ruhrgebiets‘ zu präsentieren. In diese Rolle begab sich Speer bis Kriegsende und dann auch in der Nachkriegszeit − gegenüber alliierten Vernehmungsoffizieren, im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess und in mehreren apologetischen Darstellungen nach seiner Haftentlassung 1966.23 Auf alliierter Seite ermöglichte es der erste umfassende Einsatz des damals neu eingeführten Funkleitverfahrens ,Oboe‘ den britischen Bombern, unabhängig vom Wetter und vom über dem Ruhrgebiet lagernden Industriesmog ihre Ziele zu bombardieren.

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Heinz Boberach (Hg.), Meldungen aus dem Reich. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS 1938–1945, 17 Bde., Herrsching 1984, hier Bd. 13, S. 4923, 4927 (Nr. 366 vom 11.3.1943). Vgl. die relativierenden Aussagen bei Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004, S. 66 f. Der Luftkriegshistoriker Horst Boog verzichtet in seiner erstaunlich kurz gehaltenen Darstellung über die „Battle of the Ruhr“ völlig auf sozialgeschichtliche und innenpolitische Aspekte und behandelt fast ausschließlich militärische und technische Fragen. Rüstungswirtschaftlich sieht er die „Ruhrschlacht“ sogar als Fehlschlag, da die Schäden und Folgen nach seiner Meinung bis zum Herbst 1943 wieder restlos beseitigt worden seien; vgl. Boog, Strategischer Luftkrieg in, S. 16–21. Für eine gegenteilige, wohl auch realistischere Einschätzung der wirtschaftlichen Auswirkungen vgl. Dietrich Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft, Bde. 1–3, Berlin (O) 1969, 1984, Berlin 1996, hier Bd. 2, S. 143 ff.; Adam Tooze, Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2007, S. 685 ff. Zur Diskussion der unterschiedlichen Bewertungen vgl. Blank, „Ruhrschlacht“, S. 226 ff. Immer noch aktuell: Matthias Schmidt, Albert Speer. Das Ende eines Mythos, Bern/München 1982.

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Abb. 2: Blick über den Hansaplatz in Dortmund auf den Bläserbrunnen und die ausgebrannten Ruinen des 1240 urkundlich erwähnten Rathauses und der Stadt- und Landesbibliothek, August 1943 (Foto: Willi Lehmacher/Stadtarchiv Hagen)

Parallel zur „Ruhrschlacht“ verlaufend, vollzog sich im Bomber Command der Royal Air Force der Ausbau der Bomberflotte. Die strategischen Luftstreitkräfte wurden auf überwiegend viermotorige Langstreckenbomber der Typen Avro Lancaster und Handley Page Halifax sowie auf die zweimotorige De Havilland Mosquito umgerüstet. Angefangen mit Essen, das vor allem im März und April 1943 mehrfach bombardiert wurde,24 versanken nacheinander alle Großstädte an Rhein und Ruhr in Schutt und Asche. Im Mai 1943 dehnte das Bomber Command seine Flächenangriffe auf das gesamte rheinisch-westfälische Industriegebiet aus. In den durchweg von ungünstiger Flugwetterlage über Westdeutschland geprägten beiden vorausgegangenen Monaten hatten sich die britischen Luftangriffe, neben weiteren Städten im Reich und in Norditalien, ausschließlich gegen Essen und Duisburg gerichtet. Auch Köln und Düsseldorf blieben von Bombardierungen verschont, mehrere geplante Operationen mussten wegen der Wetterlage vor dem Start abgesagt werden, ein Luftangriff auf Bochum am 29./30. März 1943 erwies sich als Fehlschlag.25 24

25

Im Herbst 1943 konstatierte der Führungsstab des Bomber Command in einer zusammenfassenden Darstellung über die Luftoperationen gegen das Ruhrgebiet, dass es während der „Battle of the Ruhr“ sogar eine eigene „Battle of Essen“, dem Ort der „blast furnaces of the devil“, gegeben habe; Headquarters Bomber Command: The Battle of the Ruhr, Sept. 1943, National Archiv London, AIR 20/4893. Blank, „Ruhrschlacht“, S. 141 ff.

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Die Stadt Duisburg stand auch noch zu Monatsbeginn auf den Angriffsbefehlen, die schlechte Wetterlage verhinderte allerdings die vorgesehenen Luftoperationen. In der Nacht des 4./5. Mai 1943 war dann aber eine für damalige Verhältnisse gewaltige Luftstreitmacht von 596 überwiegend viermotorigen Langstreckenbombern gegen Dortmund gestartet. Nach diesem Angriff lag die bis dahin von schweren Auswirkungen des Bombenkriegs in geringerem Umfang betroffene alte Hanse- und Reichsstadt in Trümmern. Mindestens 693 Menschen fanden in Dortmund den Tod, weitere 1.075 Personen wurden schwer verletzt: die bis zu diesem Tag höchste Zahl an Bombenopfern im Deutschen Reich.26 Unter den Todesopfern befanden sich auch zahlreiche in der Dortmunder Industrie eingesetzte Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter. Allein im Lager in der Hildestraße 1, das mehrere Bombentreffer erhielt, starben 184 sowjetische Kriegsgefangene, weitere 287 wurden dort verletzt. Rund 40.000 Personen standen in dieser Nacht binnen einer Stunde ausgebombt und obdachlos auf der Straße. Ein Dortmunder Bürger schreibt nach dem Angriff folgendes: „Der Posteingang sieht aus, als wenn ein Erdbeben gewesen wäre. Man könnte dieses Bild mit der Zerstörung von Pompeji vergleichen.“27 In der Nacht des 16./17. Mai 1943 unternahm das Bomber Command mit 17 umgebauten Lancasters eine lange vorbereitete Spezialoperation gegen die Talsperren im Sauerland und auf die Edertalsperre im Waldecker Land − das Unternehmen „Chastise“ („Züchtigung“).28 Durch den Bruch der Staumauer der Möhnetalsperre, die ebenfalls angegriffenen Staudämme von Sorpe, Diemel und Ennepe blieben unversehrt, entstanden gewaltige Zerstörungen im Ruhrtal. Der Angriff auf die Möhnetalsperre führte zu einer tsunamigleichen, bis zu acht Meter hohen Flutwelle. Sie hatte katastrophale Auswirkungen im Ruhrtal zwischen Neheim und Wetter zu Folge: Mindestens 1.579 Menschen fanden nach behördlichen Angaben den Tod, darunter mehr als 1.020 ausländische Arbeitskräfte.29 Zwei Tage nach dem Angriff fasste der westfälische Landeshauptmann Karl Friedrich Kolbow dieses Ereignis in einem Schreiben so zusammen: „Die Zerstörung der Möhne-Talsperre übersteigt alle Vorstellungen. Das untere Möhnetal und das Ruhrtal zwischen Neheim und Hengsteysee sind völlig zerstört. Wie oft hat die Menschheit schon solche fürchterlichen Rückschläge aus ihrer technischen Tätigkeit erleben müssen! Niemand hätte im Jahre 1911 bei der Fertigstellung der Möhne-Talsperre geglaubt, dass sie der Heimat mehr Unheil als Segen bringen würde.“30 26 27 28

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Kriegschronik der Stadt Dortmund, Stadtarchiv Dortmund, Bestand 424–35. Tagebuch von Clemens Birkefeld (*1902, †1974) aus Dortmund-Hörde, Stadtarchiv Dortmund. Helmut Euler, Als Deutschlands Dämme brachen. Die Wahrheit über die Bombardierung der Möhne-EderSorpe-Staudämme 1943, Stuttgart 1979; John Sweetman, The Dambusters Raid, London 2004; Ralf Blank, Die Nacht vom 16. auf den 17. Mai 1943 − „Operation Züchtigung“. Die Zerstörung der Möhne-Talsperre, in: Internet-Portal Westfälische Geschichte, Münster 2006. URL: www.lwl.org/westfaelische-geschichte/portal/Internet/ku.php; ders., Die „Möhnekatastrophe“ im Mai 1943 als Teil des europäischen Kriegsgedenkens, in: Der Märker 61 (2012), S. 97–121. „Die endgültigen Zahlen der Opfer des Luftangriffes auf die Möhne-Talsperre“, in: Hagener Zeitung vom 1.6.1943, Stadtarchiv Hagen. Unter den in diesem Artikel genannten Todesopfern befanden sich auch 1.026 ausländische Arbeitskräfte; 56 Deutsche und zahlreiche Ausländer galten bis zu diesem Zeitpunkt noch als vermisst. Euler nennt dagegen − ohne Quellenangabe – 1.069 Tote und 225 Vermisste (Euler, Deutschlands Dämme, S. 218). Kolbow an Dr. Runte, 19.5.1943, Westfälisches Archivamt, Nachlass Kolbow.

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Abb. 3: Am 19. Mai 1943 sind Sperrballone zum Schutz der Möhnetalsperre stationiert worden. Das Gelände unterhalb der zerstörten Staumauer ist vollständig verwüstet (Foto: Stadtarchiv Bochum)

Die Region an Rhein und Ruhr kam im Frühjahr und Sommer 1943 nicht mehr zur Ruhe. Bereits in der Nacht des 23./24. Mai 1943 wurde wiederum auf Dortmund der bis dahin schwerste Luftangriff gegen eine deutsche Stadt geflogen.31 Mehr als 800 meist viermotorige Bomber warfen über 2.500 Tonnen Spreng- und Brandbomben ab. Dieses Abwurfgewicht entsprach fast der doppelten Menge, die im Mai des Vorjahres während des 1000-Bomber-Angriffs auf Köln gefallen war, und ziemlich genau der Abwurftonnage, die von der deutschen Luftwaffe im gesamten Kriegsjahr 1943 auf englische Städte abgeworfen werden sollte. Mindestens 650 Menschen fanden in Dortmund den Tod, darunter über 200 sowjetische Kriegsgefangene in einem von Bomben getroffenen Barackenlager. Die zahlreichen Großbrände ließen sich wegen Wassermangels, hervorgerufen durch die überfluteten Pumpwerke im Ruhrtal, nur unzureichend bekämpfen, so dass im Bereich der Innenstadt ausgedehnte Flächenbrände entstanden. „Am schwersten trifft uns Dortmunder wohl die Vernichtung des Alten Rathauses mit dem bekannten

31

Ralf Blank, Die Stadt Dortmund im Bombenkrieg, in: Gerhard E. Sollbach (Hg.), Dortmund. Bombenkrieg und Nachkriegsalltag 1939–1948. Mit einer Einleitung von Hans Mommsen, Hagen 1996, S. 15–55, hier S. 30 f.

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Abb. 4: Am 30. August 1953 entschärft der Cheffeuerwerker Karl Zellerhoff vom Kampfmittelräumdienst des Regierungspräsidiums Arnsberg in Wattenscheid eine 3,6 t schwere Minenbombe. Blindgänger sind bis heute die häufigsten Hinterlassenschaften des Bombenkriegs (Stadtarchiv Hagen, Nachlass Zellerhoff)

Festsaal, das auf das Jahr 1232 zurückgeht. Auch das Haus der bildenden Künste ist vollständig vernichtet. Die Dortmunder Stadt- und Landesbibliothek, eine der bedeutendsten Bibliotheken Westdeutschlands, ist zerstört, nahezu 200.000 Bände und eins der bedeutendsten Zeitungsinstitute des Reiches sind dem Bombenterror zum Opfer gefallen“,32 beschrieb der Dortmunder Stadtrat Dr. Klein die unersetzbaren Verluste von Kulturgut. Auch Bochum, die südwestfälische Gauhauptstadt, wurde mehrfach getroffen. Während die Luftangriffe am 29./30. März, 13./14. Mai und 12./13. Juni 1943 direkt gegen die Stadt gerichtet waren, erlebte die Bevölkerung am 25./26. Juni und 9./10. Juli 1943 zwei schwere Luftangriffe, die vom Bomber Command nicht geplant waren.33 Das 32

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Kriegschronik der Stadt Dortmund, Bericht Dr. Klein vom 10.6.1943, Stadtarchiv Dortmund, Bestand 424– 36. Blank, „Ruhrschlacht“, S. 210 ff., 217 ff.

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Angriffsziel war nämlich Gelsenkirchen − Bochum wurde nur wegen der vom Wind abgetriebenen Zielmarkierungen bombardiert. Insgesamt fanden auf dem Gebiet des Luftschutzortes Bochum, der auch Wanne-Eickel, Witten, Wattenscheid, Castrop-Rauxel und Herne umfasste, zwischen Mai und Juli 1943 rund 1.000 Menschen bei britischen Luftangriffen den Tod. Doch auch außerhalb des eigentlichen Ruhrgebiets war die Bevölkerung schweren Luftangriffen ausgesetzt. Beim ersten Flächenangriff von 719 Maschinen des Bomber Command auf die Stadt Wuppertal am 29./30. Mai 1943 entstand im Stadtteil Barmen zum ersten Mal das Phänomen eines alles verzehrenden „Feuersturms“, wie er sich später auch in Hamburg (27./28. Juli 1943), Kassel (22./23. Oktober 1943), Heilbronn (4./5. Dezember 1944), Dresden (13./14. Februar 1945), Pforzheim (23./24. Februar 1945) und Würzburg (16./17. März 1945) zeigen sollte. Etwa 3.500 Menschen fielen in Wuppertal dem Angriff in der vom Luftkrieg bis dahin fast völlig unberührt gebliebenen Stadt zum Opfer.34 Auf den Angriffsbefehlen des Bomber Command stand immer wieder auch Köln. Dort fanden in der Nacht des 28./29. Juni 1943 mehr als 3.800 Menschen den Tod,35 die bis dahin höchste Zahl an Todesopfern eines Luftangriffs im Deutschen Reich. In der darauffolgenden Nacht war erneut Wuppertal an der Reihe. Diesmal traf es den Stadtteil Elberfeld, wo sich nach dem Angriff von 630 Maschinen ein Flächenbrand entwickelte, dem nicht weniger als 1.900 Menschen zum Opfer fielen. Im Verlauf der „Ruhrschlacht“ flog das Bomber Command weitere Luftangriffe auf Gelsenkirchen, Mülheim, Düsseldorf und Oberhausen sowie immer wieder auf Essen, Duisburg und Köln. Daneben wurden auch Angriffe auf Münster, Aachen und Krefeld geflogen, die von den Alliierten zum Ruhrgebiet gezählt wurden. Mit einem Luftangriff auf die bergische Stadt Remscheid am 30./31. Juli 1943, der nochmals über 1.000 Tote forderte, war die „Battle of the Ruhr“ dann aber beendet. Nach dem Ende der „Ruhrschlacht“ blieben das südwestfälische Hagen und das bergische Solingen als einzige noch unzerstörte Großstädte in Westdeutschland übrig – bis auch sie im Oktober und November/Dezember 1943 schwere Luftangriffe erlebten. Propaganda Im Frühjahr und Sommer 1943 wirkten sich die schweren Bombenangriffe und die sich verschlechternde Kriegslage auch auf die Kriegsmoral in der Bevölkerung und bei den Bergleuten und Industriearbeitern aus. Das Bild einer „standhaften“ und den Bomben trotzenden ,Volksgemeinschaft’ an Rhein und Ruhr, das von der NS-Propaganda vermittelt werden sollte, überdauerte das Kriegsende und wird bis heute immer wieder aufgegriffen, wenn es darum geht, die Auswirkungen der alliierten Bombardierung zu relativieren. Doch wie viele andere Überlieferungen des Alltags im „Dritten Reich“ ist auch dieses Deutungsmuster eher kritisch zu betrachten und kann viel eher durch einen schon 34 35

Herbert Pogt (Hg.), Vor fünfzig Jahren. Bomben auf Wuppertal, Wuppertal 1993. Middlebrook/Everitt, Bomber Command, S. 403 f.

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in den Kriegsjahren aufgekommenen Mythos ,Heimatfront‘ erklärt werden.36 Die während der „Battle of the Ruhr“ entstandenen Sachschäden und Zerstörungen an Rhein und Ruhr waren so umfangreich, dass sie von der NS-Propaganda nicht mehr verheimlicht werden konnten. Im Frühjahr und Sommer 1943 reisten viele Menschen sogar aus weit entfernten Regionen an, um sich die in Essen und anderen Städten an Rhein und Ruhr vorhandenen Zerstörungen anzuschauen.37 Diesen „Bombentourismus“ konnte die NS-Führung nur durch Androhung eines Beförderungsverbots unterbinden. Im Reichsgebiet kursierten sehr bald nicht mehr zu kontrollierende Gerüchte, die beispielsweise nach dem Angriff auf die Möhnetalsperre im Mai 1943 von über 30.000 Toten im Ruhrtal berichteten.38 Auf solche Gerüchte versuchten die vom Propagandaministerium und den ihm unterstellten Reichspropagandaämtern in den Gauen gesteuerten Maßnahmen und Aktivitäten flexibel zu reagieren. In der Presse des NS-Gaues Westfalen-Süd wurden im Juni 1943, begleitet von NS-konformen Kommentierungen, ausnahmsweise die wirklichen Zahlen der bei Luftangriffen auf die Möhnetalsperre, Bochum und Dortmund getöteten Personen genannt. Auf diesem Weg versuchte das Regime die kursierenden Gerüchte einzudämmen und Glaubwürdigkeit zu demonstrieren. Die Verantwortung für die Zerstörung der Möhnetalsperre versuchte die NS-Führung den Juden zuzuweisen.39 Diese auf eine Falschmeldung der britischen Nachrichtenagentur Reuters zurückzuführende, daraufhin von Goebbels gestartete Kampagne, die Teil einer antisemitisch ausgerichteten Propaganda an der ,Heimatfront‘ war, schlug jedoch fehl. Nach den Berichten des SD wurde in der Bevölkerung nun die Frage aufgeworfen, warum nicht die deutsche Luftwaffe einen ähnlich schweren Luftschlag gegen England ausführte.40 Doch das war eine Forderung, die von deutscher Seite aufgrund der ungünstigen Kriegs- und Materiallage sowie der Schwäche der deutschen Bomberflotte längst nicht mehr erfüllt werden konnte. Bereits der schwere Luftangriff auf Essen zu Beginn der „Ruhrschlacht“ am Abend des 5. März 1943 war für den Propagandaminister Goebbels ein alarmierendes Signal, denn in seinem Tagebuch vermerkte er zwei Tage später: „Wenn die Engländer in diesem Stil den Luftkrieg fortsetzen, so werden sie uns damit außerordentlich große Schwierigkeiten bereiten. Denn das Gefährliche an dieser Sache ist, rein psychologisch gesehen, der Umstand, dass die Bevölkerung keine Möglichkeit entdeckt, dagegen etwas zu unternehmen.“41 Die Sorgen von Goebbels waren in der Tat nicht ganz unbegründet, denn die Lageberichte des SD sprachen im Frühjahr 1943 von einer deutlichen Verschlechterung der „Stimmungslage“ sowie einem Anstieg der Gerüchtebildung. So berichte der SD am 22. März des Jahres: „Die Erzählungen über die Verluste und Schä36

37 38 39

40 41

Vgl. Ralf Blank, Kriegsalltag und Luftkrieg an der „Heimatfront“, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, München 2004, Bd. 9, Teilbde. 1–2: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945, Teilbd. 1: Politisierung, Vernichtung, Überleben, S. 357–461, hier S. 376 ff. Generalanzeiger Essen vom 12.3. und 29.5.1943, Stadtarchiv Essen. Meldungen aus dem Reich 1938–1945, Bd. 13, S. 5277 (Nr. 385 vom 23.5.1943). Bochumer Anzeiger vom 19.5.1943, Stadtarchiv Bochum. Westfälisches Tageblatt vom 19.5.1943, Stadtarchiv Hagen. Meldungen aus dem Reich, Bd. 13, S. 5290 f. (Nr. 386 vom 30.5.1943). Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil I (Aufzeichnungen 1923–1941), Teil II (Diktate 1941–1945), hg. von Elke Fröhlich, München u.a. 1993–2006, hier Teil II, Bd. 7, S. 549 (7.3.1943).

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den in den zuletzt betroffenen Städten seien vielfach ungeheuer übertrieben. Man wolle von einer fast völligen Zerstörung der Stadt Essen, vor allem der Krupp-Werke, von enormen Verlusten unter der Bevölkerung und anschließenden Unruhen wissen, die mit Waffengewalt hätten bekämpft werden müssen. Selbst in der näheren Umgebung, z. B. in Düsseldorf, sei das Gerücht verbreitet, dass in Essen der Belagerungszustand verhängt sei.“42 Andere Gerüchte, so der SD-Bericht, verbreiteten Geschichten über angeblich abgeworfene Flugblätter, die einen Luftangriff auf Essen in der Nacht des 18./19. März 1943 angekündigt hätten. Daraufhin sei in Essen schon am Nachmittag des vermeintlichen Angriffstags eine „Völkerwanderung“ in die Bunker gezogen. Auch wurden bevorstehende Luftangriffe auf das Ruhrgebiet an bestimmten Feiertagen, freitags oder aber in Vollmondnächten prophezeit. Um die angeschlagene Kriegsmoral in der Bevölkerung an Rhein und Ruhr wieder zu festigen, initiierte die NS-Propaganda auf persönliche Weisung Goebbels, der im April und Juni 1943 das Ruhrgebiet besuchte, um in Essen, Düsseldorf, Wuppertal und Dortmund einige Arbeitssitzungen und Großkundgebungen abzuhalten,43 eine gezielte Informationspolitik. Durch Presseberichte, über die örtlichen NS-Funktionäre und in Veranstaltungen wurde der Bevölkerung eine bevorstehende Wende des Krieges durch den Einsatz von neuartigen „Vergeltungswaffen“ suggeriert. Goebbels hoffte damals auf die kurzfristige Fertigstellung und einen schnellen Einsatz der ihm von Albert Speer im März des Jahres vorgestellten Flugbombe Fi(esler) 103, eines Vorläufers der heutigen Marschflugkörper, und der Fernrakete A(ggregat) 4, die nach ihrem ersten Einsatz im Juni bzw. September 1944 in V1 und V2 umbenannt wurden.44 Doch auch der Propaganda mit illusionären Wunder- und Vergeltungswaffen war letztlich kein Erfolg beschieden, denn gerade im Ruhrgebiet berichtete der SD vermehrt über die in der Bevölkerung nun geweckten Hoffnungen und Erwartungen, die an diese neuen Waffen geknüpft wurden. Als dann im Herbst 1943 die versprochene „Vergeltung“ immer noch ausgeblieben war, glaubte die enttäuschte Bevölkerung schließlich eher an einer Propagandalüge als an reale Projekte. Das erkannte Goebbels recht schnell, so dass er im Spätsommer 1943 die Kampagne stoppte und im Dezember 1943 der Presse sogar die Verwendung des Wortes „Vergeltung“ verbot.45 Die Realität des verschärften Bombenkriegs und das Ausbleiben der erhofften ,Vergeltung’ durch die angekündigten „neuartigen Waffen“ forderten jedoch vermehrt Kritik an dieser Wunschpropaganda heraus. Der SD berichtete im Juli 1943 über ähnlich kritische Stimmen. Er zitierte etwa einen Ingenieur, der sich in Hagen in einer Straßenbahn mit anderen Fahrgästen unterhalten hatte, mit der Äußerung: „Goebbels sagt, dass einst der Tag kommen wird, an dem die Vergeltung verübt wird, also nicht einmal in absehbarer Zeit. Bis dahin ist es aus mit uns.“46 Diesen begründeten Vorbehaltungen zum

42 43 44 45

46

Meldungen aus dem Reich, Bd. 13, S. 4983 (22.3.1943). Zu den Rundreisen von Goebbels vgl. Blank, Kriegsalltag, S. 434. Ebd. Ebd., S. 436. Im Sommer 1944 kam das Schlagwort jedoch wieder auf und wurde offiziell Bestandteil der Propagandabezeichnung „Vergeltungswaffe“. Meldungen aus dem Reich, Bd. 14, S. 5428 (Meldung des SD-Abschnitts Dortmund vom 2.7.1943).

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Abb. 5: Der Eingang zum Gefechtsstand der 4. Flak-Division an der ,Wolfsburg‘ im Speldorfer Wald bei Mülheim an der Ruhr. Das Gelände und die Zufahrt sind unter Tarnnetzen und teilweise auch durch künstliche Bäume vor Fliegersicht verborgen, Herbst 1943 (Foto: Willi Lehmacher/Stadtarchiv Hagen)

Trotz rief der Gauleiter Alfred Meyer auf dem Friedhof in Marl über den offenen Gräbern der bei einem US-amerikanischen Luftangriff auf das dortige Buna-Werk am 22. Juni 1943 getöteten Menschen ihren Angehörigen zu: „So müssen wir, um nicht vernichtet zu werden, diesen Krieg auch als Vernichtungskrieg führen. Sie müssen es am eigenen Leibe spüren, wie es ist, wenn friedliche Städte in Schutt und Asche sinken und unter ihren Trümmern unschuldige Frauen und Kinder begraben. So muss es kommen, und wir wissen, dass der Krieg der Vergeltung kommen wird. Wenn der Führer dann zuschlägt, wird es ein furchtbares Erwachen für England geben.“47 Meyer setzte auf seine Autorität als Gauleiter und klammerte sich wohl selbst an diese Hoffnungen, obwohl die Entwicklung des Krieges und auch die Auswirkungen der Luftangriffe deutlich zeigten, dass der vom NS-Regime eingeschlagene Weg in die Sackgasse führte. Dennoch hatte die NS-Propaganda ihr Ziel erreicht, weil sie im Sommer 1943 als Ventil eine illusionäre Hoffnung angeboten hatte, die über alle Zerstörungen und Verlus47

„Gefallen an der Front der Heimat“, in: Westfälischer Beobachter − Gladbecker Zeitung, 29.6.1943, Stadtarchiv Gladbeck.

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te hinweg den Blick auf eine doch noch günstig verlaufende Kriegswende eröffnet hatte. Denn es war ja nicht nur der Luftkrieg an der ,Heimatfront‘, sondern auch die Wirkung der katastrophalen Niederlage in Stalingrad zu Beginn des Jahres 1943 und der auf allen Kriegsschauplätzen folgenden militärischen Misserfolge, die nicht mehr ignoriert werden konnten. Hinzu kam der offenkundig werdende Verlust der Luftherrschaft, denn ab Sommer 1943 flogen nun auch US-amerikanische Bomberverbände beinahe täglich tief in das Reichsgebiet hinein, um Industrie- und Verkehrsziele zu bombardieren. Auswirkungen Die Folgen der „Ruhrschlacht“ waren nachhaltig und führten zu verschiedenen Maßnahmen an der ,Heimatfront‘, die sich teilweise auch auf das gesamte Reichsgebiet auswirkten. Die von Rüstungsminister Albert Speer im Frühjahr 1943 als gravierend eingestuften Industrieschäden erwiesen sich letztlich als weniger langfristig. Da die „Battle of the Ruhr“ im Juli des Jahres mit zwei letzten Flächenangriffen auf Essen (25./26.7.) und Remscheid (30./31.7.) beinahe schlagartig beendet wurde, konnten die von Speer seit Mai 1943 forciert betriebenen Maßnahmen sowie die Unterstützung der zum „Luftkriegsgebiet“ erklärten Region aus anderen (nicht vom Luftkrieg betroffenen) Teilen des Reiches greifen.48 Durch die Verlagerung von wichtigen Industriefertigungen in „luftsichere“ Gebiete sowie aufgrund der zügig voranschreitenden Wiederaufbaumaßnahmen beschädigter Betriebe und Anlagen gelang es, die zunächst schwerwiegenden Angriffsfolgen bis Anfang 1944 weitgehend auszugleichen. Hierzu hatte Speer im August 1943 einen eigenen „Ruhrstab“ mit Sitz in Essen-Kettwig etabliert,49 der mit Vertretern aus Politik und Wirtschaft als Koordinierungsinstanz bis Kriegsende im Ruhrgebiet verblieb. Der dauerhafte Einsatz der Organisation Todt (OT) seit Juni 1943 ermöglichte die systematische Beseitigung von Sachschäden und den Wiederaufbau.50 Für die Bevölke-

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Die Bezeichnung „Luftkriegsgebiet“ entstand anlässlich einer Besprechung am 28.5.1943 im Reichsministerium des Innern. Der Begriff sollte bestimmte Notstandsrechte für eine Region ermöglichen, die vom Reichsverteidigungskommissar beim Reichsminister des Innern nach einem Angriff beantragt und über die vom Interministeriellen Luftkriegs-Schadensausschusses (ILA) entschieden werden konnte; Bericht über die Sitzung am 28.5.1943, Akten der Partei-Kanzlei, 103 06541 103 06558. Zum ILA vgl. Dietmar Süß, Steuerung durch Information? Joseph Goebbels als „Kommissar der Heimatfront“ und Reichsinspekteur für den zivilen Luftschutz, in: Rüdiger Hachtmann/Winfried Süß (Hg.), Hitlers Kommissare. Sondergewalten in der nationalsozialistischen Diktatur, Göttingen 2006, S. 125–145. Zum „Ruhrstab“ vgl. Gregor Janssen, Das Ministerium Speer. Deutschlands Rüstung im Krieg, Berlin 1968, S. 147 f., 376; Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft, Bd. 2, S. 143 f.; Lagebericht der Rüstungsinspektion VI (Münster) vom 1.7.–30.9.1943, Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg, RW 20–6/10. Zum Geschäftsführer des „Ruhrstabs“ ernannte Speer den Vorstandsvorsitzenden der Vereinigten Stahlwerke, Walter Rohland („Panzer Rohland“); vgl. Manfred Rasch, Rohland, Walter, in: Neue Deutsche Biographie (NDB), Bd. 21, Berlin 2003, S. 766 f. OT-Einsatzstab Ruhr an die Oberpräsidenten von Westfalen und der Rheinprovinz, 10.6.1943, Stadtarchiv Oberhausen, Akte Tiefbauamt/47.

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rung war hingegen die ,erweiterte Kinderlandverschickung’ (KLV), die von Goebbels im Schulterschluss mit dem neuen Gauleiter in Westfalen-Süd, Albert Hoffmann,51 ab Sommer 1943 forciert betrieben wurde, von einschneidender Bedeutung.52 Als Konsequenz kam es zur Schließung von Schulen und zum Transport von Kleinkindern und Müttern sowie schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen in sogenannte Aufnahmegaue, die in den damals als „luftsicher“ angesehenen Regionen Ost- und Süddeutschlands sowie im Protektorat Böhmen und Mähren lagen.

Abb. 6: Jugendlicher Luftwaffenhelfer mit einer geschulterten 8,8 cm-Flakgranate im Mai 1943 in der Flakbatterie am Bismarckturm in Hagen (Foto: Stadtarchiv Hagen)

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Hoffmann war 1943–1945 einer der wichtigsten Entscheidungsträger im Ruhrgebiet; vgl. Ralf Blank, Albert Hoffmann. Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar in Westfalen-Süd 1943–1945, in: Westfälische Lebensbilder 17, Münster 2005, S. 255–290; ders., Albert Hoffmann als Reichsverteidigungskommissar im Gau Westfalen-Süd, 1943–1945. Eine biografische Skizze, in: Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 17 (2001), S. 189–210. Gerhard Kock, „Der Führer sorgt für unsere Kinder . . .“. Die Kinderlandverschickung im Zweiten Weltkrieg, Paderborn 1997; Carsten Kressel, Evakuierungen und erweiterte Kinderlandverschickung im Vergleich. Das Beispiel der Städte Liverpool und Hamburg, Frankfurt a. M./Berlin u.a. 1996.

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Die schweren Luftangriffe im Verlauf der „Ruhrschlacht“ hatten deutlich gezeigt, dass die bisher ergriffenen Maßnahmen für den zivilen Luftschutz völlig unzureichend waren. Zwar gehörten die Großstädte an Rhein und Ruhr zu den bevorzugten Kommunen des im Oktober 1941 von Hitler befohlenen „LS-Führerprogramms“. Doch dieses groß angelegte Bauprogramm für Hochbunker scheiterte bereits Anfang 1942 aufgrund von Rohstoffengpässen und vor allem Arbeitskräftemangel.53 In den Städten des Ruhrgebiets wurden die ersten Hochbunker erst zur Jahreswende 1942/43 für eine Benutzung durch die Bevölkerung freigegeben. Zu diesem Zeitpunkt waren sie allerdings nur ein Notbehelf, da sie häufig noch nicht einmal druckfeste Türen, Lüftungsanlagen und eine Inneneinrichtung besaßen. Darüber hinaus reichte ihre Aufnahmekapazität selbst bei einer Überbelegung nur für einen kleinen Teil der schutzsuchenden Bevölkerung aus. Angesichts dieser katastrophalen Situation initiierten die Gauleitungen in Essen und Bochum ab August 1943 ein neues „Luftschutz-Sofortprogramm“. Im NS-Gau Westfalen-Süd wurden parallel dazu auch „Einsatzbereitschaften“ aus den Reihen der SA gebildet, die als mobile Kräfte der Partei nach Luftangriffen für Lösch- und Bergungsarbeiten herangezogen wurden. Unter Beteiligung der OT, der Deutschen Arbeitsfront (DAF) und des Reichsministeriums für Rüstung und Kriegsproduktion wurde ein „Selbsthilfeprogramm Ruhr“ ins Leben gerufen. Da die Schlagkraft der Luftangriffe immer mehr zunahm und auch der Aktionsradius ausgedehnt wurde, erfolgte bis Herbst 1944 eine Erweiterung des von Privatleuten und Unternehmen betriebenen, eher improvisierten Bauprogramms auf Kleinstädte in der Randzone des Ruhrgebiets. Nicht zuletzt aber war die „Luftschutzgemeinschaft“ in Stollen und Bunkern für die NSPropaganda eine wichtige Zielgruppe. Schon seit 1942 entwickelten sich die Begräbnisfeiern für Todesopfer der Luftangriffe immer mehr zu einem Instrument der NS-Propaganda an der ,Heimatfront‘.54 Die steigende Anzahl von Toten hatte zur Folge, dass deutsche „Gefallene“ nun auch in Massengräbern und vermehrt ohne Sarg in Papiersäcken oder ohne einen Schutz beerdigt werden mussten. Um auf den Friedhöfen Platz zu sparen, waren die Behörden in Städten mit einem Krematorium schon ab August 1942 dazu übergegangen, die Leichen ausländischer Arbeitskräfte aus Ost- und Südosteuropa zu verbrennen.55 Im März 1944 verbot eine von Hitler erlassene Anordnung die Beisetzung der bei Luftangriffen umgekommenen deutschen ,Volksgenossen‘ in Massengräbern, die in der NS-Terminologie als „Kameradschaftsgräber“ bezeichnet wurden.56 Hitlers Anweisung erlaubte es Angehörigen, ihre bei einem Luftangriff getöteten Verwandten in einer vorhandenen Familiengruft beerdigen zu lassen. In der Realität des verschärften Bombenkriegs erwiesen sich solche Anordnungen sehr schnell als absurd, da in vielen bombardierten Städten 53 54

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Blank, Kriegsalltag, S. 394 ff. Hieraus auch im Folgenden. Vgl. exemplarisch Dietmar Süß, Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und England, München 2011, S. 447 ff. Schreiben des Regierungspräsidenten Arnsberg, 3.8.1942, Stadtarchiv Hagen, Einäscherungsbuch des Krematoriums Delstern (1943/44). Rundschreiben Nr. 91/44 des Gaupropagandaleiters von Westfalen-Süd vom 7.3.1944 betr. des Verbots des Führers über die zwangsweise Beisetzung in Massengräbern, Stadtarchiv Herne, Bestand Wanne-Eickel, Akte Maßnahmen zur Bekämpfung von Brandbomben.

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regelrechte Leichenberge und Massen von Luftkriegstoten bestattet werden mussten. Die auf eigens zu Beginn und während des Krieges angelegten „Ehrenhainen“ bestatteten Luftkriegstoten wurden jetzt Teil eines sich immer mehr steigernden Totenkultes.57 Die grauenvolle Realität in den deutschen Städten sah aber besonders in der Kriegsendphase 1944/45 völlig anders aus. An die (deutschen) Mitarbeiter von Friedhofsämtern mussten umfangreiche Sonderrationen an Alkohol, Zigaretten und Lebensmitteln in Form von Schwerstarbeiterzulagen ausgegeben werden, um eine gewisse Motivation zu erreichen. So erhielten die Beschäftigten des Hauptfriedhofs in Dortmund nach einem schweren Luftangriff im Mai 1944 umfangreiche Sonderzuteilungen, da sie „inmitten einer stetig ansteigenden Zahl von Leichen in allen Stadien der Verwesung und vorstellbaren Verstümmelung“ noch einigermaßen „den Überblick“ behielten und „nur selten psychische Ausfallerscheinungen“ zeigten.58 Es war Ziel der britischen Luftangriffe, im Verlauf der „Battle of the Ruhr“ nachhaltige Beeinträchtigungen der Industrieproduktion und des Bergbaus zu bewirken. In einzelnen Bereichen der Rüstungswirtschaft spielte die Stahlindustrie an Rhein und Ruhr eine wichtige Rolle.59 Dazu zählten der Bau von Kampfpanzern und die Herstellung von Flak- und Artilleriegeschützen sowie Kampfwagenkanonen; beides gehörte schon seit den Vorkriegsjahren zum Produktionsbereich mehrerer Unternehmen. An führender Stelle standen zweifellos die Essener Krupp-Werke, gefolgt vom Bochumer Verein, den Deutschen Eisenwerken (DEW) in Mülheim und Duisburg, dem Dortmund-Hörder-Hüttenverein (DHH), Hoesch in Dortmund, Demag in Wetter, Duisburg und Düsseldorf, Harkort & Eicken in Hagen, die Henrichshütte in Hattingen und die Eisen- und Hüttenwerke in Bochum, um nur die wichtigsten Werke zu nennen. Die „Ruhrschlacht“ traf z. B. den Panzerbau in einer entscheidenden Phase. Im Januar 1943 war das „Adolf-Hitler-Panzerprogramm“ verkündet worden.60 Es sah eine umfangreiche Steigerung der Produktion von Kampfpanzern, Selbstfahrlafetten und Sturmgeschützen vor. Einhergehend mit einem großen Bedarf an zusätzlichen Arbeitskräften und Rohstoffen bedeutete dieses Bauprogramm eine erhebliche zusätzliche Belastung der ohnehin schon angespannten Stahlindustrie im Reich. Parallel zum neuen Panzerbauprogramm erfolgte eine Neuausrichtung der Produktion in den Zuliefer- und Montagewerken. Im Herbst 1942 war in den Stahlwerken im Ruhrgebiet die Fertigung von Gehäusen für die neuen Panzer V ,Panther’ und VI ,Tiger’ angelaufen. Am Bau des ,Panther’ waren der DHH, Harkort & Eicken in Wetter und die Henrichshütte in Hattingen beteiligt, die Sturmgeschützfertigung war bei Harkort & Eicken in Hagen, die des ,Tiger’ in im DHH und in den Essener Krupp-Werken konzentriert. Krupp und die Eisen- und Hüttenwerke in Bochum fertigten auch Gehäuse für den Panzer IV. Die beiden Werke der DEW in Mülheim und Duisburg wurden für die Herstellung und Montage von Selbstfahrlafetten herangezogen. In ihren Betrieben in 57

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Ein Musterablauf für Bestattungsfeiern findet sich in: Die neue Gesellschaft. Das Parteiarchiv für nationalsozialistische Feier- und Freizeitgestaltung 10 (1944), S. 241–249. Antrag des Hauptfriedhofs Dortmund auf Sonderzuteilungen, 29.5.1945, Stadtarchiv Dortmund, Bestand 424–47. Blank, „Ruhrschlacht“, S. 228 ff. Hieraus auch im Folgenden. Tooze, Ökonomie der Zerstörung, S. 381 f.

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Duisburg und Wetter fertigte die Demag sowohl Panzerungen für den ,Panther’, der im Demag-Werk Düsseldorf-Benrath montiert wurde, als auch Schützenpanzerwagen und Halbkettenfahrzeuge. Krupp und DHH fertigten auch Kampfwagenkanonen für den ,Panther’ und ,Tiger’; im Bergischen Land, im Sauerland und im Raum Hagen lagen verschiedene Hersteller von Gleisketten, Laufrädern, Drehstabfedern und Fahrwerkzubehör für Panzer. Bereits im März 1943 und zu Beginn der „Ruhrschlacht“ wurde in den Essener Krupp-Werken der Fertigungsbereich ,Panzerbau 3’ zerstört, so dass ein Teil der Produktion des Panzers IV in die Gutehoffnungshütte (GHH) nach Oberhausen verlegt wurde, dort aber nur schleppend anlaufen konnte, da auch dort immer wieder Bombenschäden entstanden. Auch in Dortmund, Duisburg und Mülheim wurden nach Luftangriffen teilweise schwere Schäden hervorgerufen, die zu Produktionsverlusten führten. Im Werk Wetter der Harkort & Eicken GmbH und in der Henrichshütte in Hattingen kam es nach dem Bruch der Möhnetalsperre am 17. Mai 1943 zur Überflutung, so dass die Produktion für den ,Panther’ zeitweise ausfiel und erst nach Wochen wieder den geplanten Ausstoß erreichen konnte. Doch der Panzerbau war nicht die einzige Produktions-

Abb. 7: Arbeiterin an der Drehbank in einem Hagener Rüstungsbetrieb, Frühjahr 1943 (Foto: Willi Lehmacher/ Stadtarchiv Hagen)

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sparte, die betroffen war. Die Luftrüstung musste Engpässe vor allem bei Flakgeschützen, besonders bei Ersatzrohren, Panzerblechen für Jagdflugzeuge und Kurbelwellen für Flugmotoren hinnehmen. Bei Panzerabwehr- und Artilleriegeschützen konnte eine ausreichende Fertigung z. B. im DHH, bei Krupp und im Bochumer Verein oft nur unter großen Anstrengungen aufrechterhalten werden. Ähnliche Schwierigkeiten entstanden bei Rohlingen und fertig bearbeiteten Granaten sowie geschmiedeten Stahlhüllen für großkalibrige Sprengbomben, wie in der Geschossfabrik des Bochumer Vereins und in der Schmiedag in Hagen. Die zeitgenössische Beurteilung der kriegswirtschaftlichen Auswirkungen der „Battle of the Ruhr“ auf deutscher und alliierter Seite fällt recht ambivalent aus. Während der britische Premier Winston Churchill stets die umfangreichen Schäden in Rüstungsbetrieben wie den Essener Krupp-Werken herausstellte,61 stufte der US-amerikanische Geheimdienst Office of Strategic Services (OSS) in einem Dossier Ende Juli 1943 die Ergebnisse der Luftoffensive für die deutsche Kriegswirtschaft als unbedeutend ein.62 Im Juli 1943 glaubte das britische Joint Intelligence Committee (JIC) aber „moralische“ Auswirkungen der Luftoffensive auf die deutsche Bevölkerung erkennen zu können.63 Doch von einem bevorstehenden Zusammenbruch der ,Heimatfront‘, wie ihn das JIC als Koordinierungsstab für die britischen Geheimdienste auch noch in den folgenden Monaten für möglich hielt, konnte in Wirklichkeit keine Rede sein. Der britische Bomberchef Arthur T. Harris hingegen bewertete die Resultate der „Ruhrschlacht“ wenige Monate nach ihrem Ende verständlicherweise als großen Erfolg, doch ließ er kein gutes Haar an der spektakulären Luftoperation gegen die Möhnetalsperre, deren Auswirkungen von ihm als gering beurteilt wurden.64 Auf deutscher Seite schilderte der Rüstungsminister Speer auf einer Gauleitertagung in Berlin Anfang Juli 1943 die bis dahin bewirkten Ausfälle als wenig besorgniserregend. Speer konnte sich auf einen zusammenfassenden Bericht der Rüstungsinspektion VI (Münster) aus dem zweiten Quartal 1943 stützen, die zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen war.65 Doch schon im darauffolgenden Monat musste eben diese Rüstungsinspektion melden, dass die Auswirkungen und Folgen der Luftangriffe sich doch als gravierender und nachhaltiger herausgestellt hatten. Goebbels, als Leiter des Interministeriellen Luftkriegsschädensausschusses (ILA) einer der bestinformierten NS-Politiker an der ,Heimatfront‘, sah der weiteren Entwicklung im Luftkrieg und während der „Ruhrschlacht“ im Juli 1943 mit großer Sorge entgegen.

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Beispielsweise anlässlich seiner Rede am 19.5.1943 vor dem amerikanischen Kongress; vgl. Blank, „Ruhrschlacht“, S. 180 f. Ebd., S. 234. JIC Report, 22.7.1943; Effects of bombing offensive on German war effort, National Archives London, AIR 8/1109; JIC Report, 9.9.1943: Probabilities of a German collapse, National Archives London, PREM 3/193/6A. Blank, „Ruhrschlacht“, S. 181. Ebd., S. 226 ff.

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Abb. 8: Die in den Stahlwerken im Ruhrgebiet fertiggeschweißten und an das Montagewerk gelieferten Wannen für den Panzer VI ,Tiger‘ werden für die Ausrüstung vorbereitet (Foto: PK-Fotograf Hebenstreit/Bundesarchiv, Bild 101I-635-3965-33)

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Er konnte nicht wissen, dass die britische Luftoffensive gegen das Rhein-Ruhr-Gebiet in diesem Monat beinahe schlagartig beendet wurde. Zweifellos verschaffte das Ende der Bombardierungen der bedrängten Industrie an Rhein und Ruhr eine notwendige Ruhezeit, um die Schäden zu beseitigen und die Produktion wieder in normale Bahnen lenken zu können. Speer erwarb sich damals den Ruf eines Krisenmanagers der Rüstungsindustrie, der letztlich auch den „Mythos Speer“ in der Nachkriegszeit beförderte. Auch nach siebzig Jahren fällt es schwer, ein Fazit der „Battle of the Ruhr“ zu ziehen. Es handelte sich um die erste umfassende Luftoffensive der Alliierten, die gegen eine Industrieregion geflogen wurde. Die britischen Flächenangriffe zerstörten zwischen März und Juli 1943 die Großstädte an Rhein und Ruhr. In den Städten wurden die historisch gewachsene Baugestalt, oft auch die letzten erhalten gebliebenen mittelalterlichen Kulturdenkmäler und die während der Urbanisierung entstandene Infrastruktur zertrümmert. Die Verluste unter der deutschen Bevölkerung lagen bei rund 20.000 Menschen, wobei wirklich verlässliche Zahlen, gerade auch über die getöteten Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen, nicht vorliegen. Das britische Bomber Command verlor während der „Ruhrschlacht“ im gesamten Zeitraum über 800 Maschinen und rund 5.000 Besatzungsmitglieder, von denen ein Großteil beim Absturz getötet wurde. Aus kriegswirtschaftlicher Perspektive betrachtet war die „Ruhrschlacht“ ein schwerer Schlag gegen die Rüstungsproduktion an Rhein und Ruhr. Die Auswirkungen erstreckten sich auf alle Bereiche, vor allem auf die Stahlindustrie und den Bergbau, dort entstanden teilweise erhebliche Engpässe und Produktionsausfälle. Allerdings vermochten es das NS-Regime und die Unternehmen, die Folgen durch Teilverlagerungen sowie sofort einsetzende Reparatur- und Wiederaufbaumaßnahmen, für die zusätzliche Arbeitskräfte und die OT zur Verfügung gestellt wurden, aufzufangen. Doch als sich im Juli 1943 auf deutscher Seite die Rückwirkungen der Bombardierungen immer gravierender zeigten, beendete das Bomber Command die Luftoffensive, so dass die Region an Rhein und Ruhr eine Erholungspause erhielt. Die beiden schweren britischen Luftangriffe gegen Bochum am 29./30. September und auf Hagen am 1./2. Oktober 1943 zeigten vor Ende dieses Kriegsjahres dann noch einmal die umfangreichen Auswirkungen der Flächenbombardierung auf Großstädte im Ruhrgebiet.

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TAGUNGSBERICHT

Verena Christina Spicker

Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert1

Die von der Stiftung Westfälische Landschaft geförderte interdisziplinäre Tagung, die sich zugleich als Auftaktkonferenz des Forschungsverbundes „Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert“ verstand, setzte sich zum Ziel, einen Perspektivenwechsel in zwei sonst getrennt operierenden Disziplinen, der Agrargeschichte einerseits, der Stadtgeschichte andererseits, vorzunehmen. Die „Stadt-Land-Geschichte“ sollte als wechselseitige Beziehungsgeschichte, als eine Geschichte sowohl intensiver und flexibler Interaktionen wie wechselseitiger Wahrnehmungen etabliert werden. In diesem Sinne ging es auch um eine systematische Korrektur oder Überwindung der bekannten perspektivischen Engführung in der bisherigen Stadt-Land-Forschung (Stichwort „Zentralität“). Der Blick vom Land/vom Dorf aus sowie die historisch-kulturellen Anpassungs- und Eigenleistungen der ländlichen Akteurinnen und Akteure sollten als gleichberechtigte Größen verstanden und analysiert werden. Weiteres Ziel der Tagung waren Anstöße für eine systematische Internationalisierung des Themas. Die Tagung verknüpfte sozial-, wissenschafts-, kultur- und mediengeschichtliche Zugänge mit regional und international vergleichenden Perspektiven und gliederte sich in die folgenden fünf Sektionen: 1. Forschungsgeschichte/-konzepte (Leitung: Christine Hannemann, Stuttgart), 2. Politische Planungen und ihre Folgen (Karl Ditt, Münster), 3. Kulturelle Aufbrüche und soziale Bewegungen (Brigitta Schmidt-Lauber, Wien), 4. Visuelle Repräsentationen (Werner Freitag, Münster) und 5. Internationale Perspektiven (Michael Prinz, Münster). Darüber hinaus umfasste sie auch eine öffentliche Abendveranstaltung (Moderation: Thomas Großbölting, Münster), in deren Mittelpunkt der Vortrag des Humangeographen Gerhard Henkel (Duisburg-Essen) „Der ländliche Raum im Wandel von 1950 bis heute: Merkmale, Leitbilder und Potenziale“ stand. Die Langlebigkeit von überkommenen Selbst- und Fremdbildern – so betonte Institutsdirektor Bernd Walter (Münster) in seiner Begrüßung – verzerre das Geschichtsbild. Tatsächlich hat man es teils mit solchen hartnäckig tradierten Bildern zu tun, wie während der Tagung mehrfach aufschien, teils mit neuen medialen Konstruktionen einer Landidylle. Franz-Werner Kersting (Münster) betonte in seiner programmatischen Einführung die Notwendigkeit, Denkmuster der Stadtgeschichte und -geographie zu revi1

25. und 26. Oktober 2012, Gut Havichhorst, Münster. Veranstalter: LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte (Prof. Dr. F.-W. Kersting) und Lehrstuhl für Kultur- und Mediengeschichte, Universität des Saarlandes (Prof. Dr. C. Zimmermann).

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dieren, die stets von der Gestaltungsmacht der Stadt ausgingen. Prämisse der Tagung, so Kersting, sei, dass man weiterhin von den Polen „Stadt“ und „Land“ sprechen könne, aber hybride Zwischenräume und Identitäten mit in den Blick nehmen müsse. Ferner betonte er, dass die Beziehungsproblematik von Stadt und Land insbesondere auf globaler Ebene noch keinesfalls an ihr Ende gelangt sei. So seien Städter und Landbewohner bzw. Zuwanderer rechtlich nicht überall auf der Welt gleichgestellt. In Regionen Asiens und Lateinamerikas handele es sich um eine Zuwanderung in Städte in hierzulande unbekannten Ausmaßen, die wiederum auf die ländlichen Räume zurückwirke. In seinem anschließenden Vortrag wählte Kersting einen wissenschaftshistorischen Zugriff. Er widmete sich der soziologischen Grundlagenforschung der 1950er Jahre im sogenannten Darmstadt-Projekt. Hier waren in einer einmaligen Konstellation amerikanischer (Chicago-Schule) und deutscher Gemeindeforschung bis heute fruchtbare Ansätze von Stadt-Land-Analysen entwickelt worden, die sich um eine Integration der Perspektiven der ländlichen Gemeinden und ihrer Bewohner bemühten. Unter dem Titel „Geschichte der Stadt-Land-Forschung. Facetten einer Historisierung dualer Lebensformen und Leitbilder am Beispiel der 1950er Jahre“ arbeitete der Referent heraus, wie seit 1950 unter der Leitung von Theodor W. Adorno und Max Rolfes die sozialen Verhältnisse und Lebensstile im Einflussgebiet von Darmstadt in verschiedenen Studien untersucht wurden. Die Wissenschaftler begriffen sich auch als Anwälte des einem Anpassungsdruck ausgelieferten Ländlichen. Sie sahen vor allem im Nebenerwerbslandwirt einen „Träger und Schrittmacher der Verstädterung“, jedoch zugleich eine geglückte Synthese aus städtischen und ländlichen Lebensentwürfen. Sie distanzierten sich von jeglicher Bodenromantik und Modernekritik. Damit überwand die DarmstadtStudie, so Kersting, polare, politisch-ideologisch stark aufgeladene Denkmuster, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland Tradition besaßen. Clemens Zimmermann (Saarbrücken) beschäftigte sich, ausgehend von Grundfaktoren wie Infrastrukturentwicklung, Eigenheimpolitik und Automobilisierung sowie älteren Formen der Siedlungsentwicklung, mit dem „suburbanen“ Zwischenraum von Stadt und Land. Hierbei handelt es sich teils um ein geographisches, teils ein soziologisches Arbeitsfeld. Ansätze von Historikern sind bisher selten, können aber auf ältere Forschungsergebnisse der Sozialwissenschaften zurückgreifen. In der Suburbanität, so der Referent, hätten sich neue Formen der Soziabilität ausgebildet, die bislang nur lückenhaft bekannt seien. Dem häufigen Nichtverhältnis zwischen zugezogenen Suburbaniten und altem Dorf entspreche ein relativ intensiver Stadtbezug der Arbeitspendler. Vielfach komme es durch die Zugezogenen nach einiger Dauer zur Diversifizierung von Dorfkultur. Des Weiteren schlug Zimmermann vor, das französische Konzept der „Periurbanisierung“ für die konkrete Beschreibung der transitorischen suburbanen Räume aufzugreifen. Die überwiegende Mehrheit der Referentinnen und Referenten legte im Folgenden ihren Schwerpunkt auf die Entwicklungen der 1960er bis 1980er Jahre, was einerseits den in diesen Jahren besonders raschen gesellschaftlichen Wandel reflektierte (massive Urbanisierungs- und Suburbanisierungsprozesse), andererseits Bezüge zur heutigen zeitgeschichtlichen Forschung schuf, in denen diese Jahrzehnte mittlerweile ebenfalls

Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert

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starke Aufmerksamkeit finden. Hier seien zunächst die komparativ orientierten Beiträge genannt. Vor allem Peter Moser (Bern) trug mit seinem Vortrag zu einem internationalen Vergleich bei. Er widmete sich in historischer Perspektive den Stadt-Land-Beziehungen in der Schweiz und in Irland. Trotz einiger methodischer Einschränkungen, die der Referent selbst einräumte, zeigten sich im Ergebnis dann sehr klare Unterschiede der StadtLand-Beziehungen in den beiden Ländern. Während Irland bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts stark agrarisch geprägt blieb, gehörte die Schweiz zu den am frühesten industrialisierten Staaten Europas. Weil hier die Protoindustrialisierung auf dem Land schon vor der Gründung des Bundesstaates 1848 und der damit einhergehenden größeren Zentralisierung einsetzte, sei das Land in der Folge modernisiert, industrialisiert und verstaatlicht worden, ohne die starke Identität der Landgemeinden zu beeinflussen. Auch in den Städten fanden sich „agrarische“ Werthaltungen. Erst in den neunziger Jahren sei in der Schweiz diskursiv ein Stadt-Land-Gegensatz konstruiert worden, dessen Überwindung in einer Transformation des Ländlichen gesehen werde. Im Gegensatz dazu brach in Irland, so Moser, in der Zwischenkriegszeit ein starker Stadt-LandGraben auf, der aber unter anderen Prämissen diskutiert wurde. Denn in Irland spielten nicht Stadt-Land-Konflikte, sondern konfessionelle Gegensätze und die Differenz zur britischen Hegemonialmacht die entscheidende Rolle. Die Überwindung des Ländlichen wurde ab den 1960er Jahren als zentrale Grundvoraussetzung zur Schaffung einer zukunftsfähigen Gesellschaft betrachtet. Einen interregionalen Vergleich über die nationalen Grenzen hinweg lieferte der Werkstattbericht von Katharina Stütz (Münster) aus ihrem laufenden Dissertationsprojekt. Sie verglich niederländische und nordwestdeutsche Amateur-Fotografien und -Filmaufnahmen von Stadt und Land aus den 1930er bis 1980er Jahren. Der erfahrungsgeschichtliche Zugriff auf das Forschungsfeld wurde schon im gewählten Titel deutlich. Unter der Überschrift „Die Kamera immer griffbereit. Stadt-Land-Wahrnehmung durch das Auge des Amateurs“ setzte sich Stütz mit der „von unten“ durch einzelne Akteure wahrgenommenen Geschichte auseinander. Als ersten übergreifenden Eindruck aus ihrem Quellenmaterial hielt sie fest, dass in den Visualisierungen der Untersuchungsregionen Groninger- und Münsterland vor allem Dichotomien von Stadt und Land betont worden seien. Allerdings ging es im Schwerpunkt bei den Niederländern um die Dokumentation des Wandels der Agrarwirtschaft, ganz im Gegensatz zu den von der Stadt Münster finanzierten romantisierenden Landschaftsfilmen der 1950er Jahre, die sozusagen im offiziellen urbanen Blick „von oben“ das Land als im Dornröschenschlaf liegend und von Modernisierungstendenzen verschont geblieben zeigen sollten. Christoph Lorke (Münster) trug mit seinem Vortrag „‘Nur die Landstraße ist gerecht.‘ Visuelle Repräsentationen von ,Armut‘ in Stadt und Land. Bundesrepublik und DDR der 1960er und 1970er Jahre“ zu einem deutsch-deutschen Vergleich bei. Er untersuchte in medien- wie sozialgeschichtlicher Perspektive, welche Funktionen Land und Stadt in der Armutsdebatte der DDR (soweit diese überhaupt existierte) und der Bundesrepublik einnahmen. Es zeigten sich bei diesem Projekt interessante Quellenprobleme, denn der Großteil der herangezogenen Fotografien stammte von städtischen Journalisten. Armut passte weder in das ,Wirtschaftswunderland‘ noch in die ,sozialisti-

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sche‘ Gesellschaft. Insbesondere die Repräsentationen ländlicher Armut sind rar, jedoch gelang es Lorke, sie – differenziert nach Publikumsmedien und speziellen wissenschaftlichen Veröffentlichungen – aufzuspüren und ihre Tendenz aufzuzeigen. Unter anderem wurde ländliche Armut im Westen im Sinne eines Landstreicherlebens als ein besitzloses Glücklichsein abseits von Hektik und Konsum verklärt. Der öffentliche Abendvortrag von Gerhard Henkel lieferte einen Überblick über den Wandel des ländlichen Raumes in der Bundesrepublik. Mit Fokussierung auf dessen Merkmale und politischen Leitbilder machte er vier Phasen aus. Die erste (1945-1965) sei vom Bestreben geprägt gewesen, die Wohnungsnot zu lindern und die Agrarstruktur zu verbessern. Das führte dazu, dass die Einwohnerzahlen anstiegen und die Infrastruktur ausgebaut wurde. Neubausiedlungen an den Dorfrändern begannen das Bild zu prägen. Zur zweiten Phase einer Modernisierung von oben zählte Henkel die Jahre zwischen 1965 und 1975. Dazu gehöre die kommunale Gebietsreform als – wenig demokratisch vorgenommene − Neugliederung der ländlichen Räume. Als Fremdbestimmung wertete Henkel auch die Sanierung und Neugestaltung von Ortskernen durch städtische Architekten und die Verwirklichung des autogerechten Dorfes als Folge der zunehmenden Massenmotorisierung. Die dritte Phase (1975-1990), eingeleitet mit dem europäischen Denkmaljahr, habe zu einer Begrünung und ,Verschönerung‘ der Dorfkerne geführt, auch zu infrastrukturellen Verbesserungen, doch hätten die Dörfer in dieser Phase das allmähliche Sterben von Schulen, Polizei, Handwerk, Gasthöfen und Dorfläden zu erleiden gehabt. Die vierte Phase (1990-heute) identifizierte der Referent als diejenige der Entdeckung der ökologischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Potentiale des Dorfes. Mit dem Thema „Homosexualität jenseits der Metropolen?“ setzte sich Benno Gammerl (Berlin) auseinander. Mit Blick auf die 1960er bis 1990er Jahre wertete der Referent lesbische und schwule Perspektiven auf das Verhältnis zwischen Stadt und Land in Zeitschriften und Interviews aus. Obwohl Homosexualität in Forschung und Öffentlichkeit bisher meist als typisch urbanes Phänomen dargestellt worden ist, reichen die tatsächlichen empirischen Beschreibungen von einer Diffamierung des Dorflebens und erfahrener Intoleranz im ländlichen Kontext bis hin zur Wahrnehmung des Ruralen als idyllischer, vorteilhafter und keineswegs defizitärer Raum. Auf der einen Seite wurden Metropolen als Raum voller (sexueller) Abenteuer und Toleranz idealisiert, auf der anderen Seite wurden sie mit Vereinsamung, Anonymisierung und flüchtigen Begegnungen gleichgesetzt. Schließlich stellte Gammerl fest, dass sowohl Zwischenräume wie der Stadtrand oder die Kleinstadt als auch das Pendeln oder das lebenszyklische Wohnen und sonstige Formen der Mobilität zwischen verschiedenen Orten überkommene Dichotomien verblassen ließen. Eine Pionierstudie zu den Aneignungsprozessen ländlicher und medialer Kultur lieferte Gunter Mahlerwein (Saarbrücken/Gimbsheim). Unter dem Titel „Zwischen ländlicher Tradition und städtischer Jugendkultur?“ setzte er sich mit der musikalischen Praxis in Dörfern zwischen 1950 und 1980 auseinander. Dazu verglich er die Entwicklungen dreier, bis in die 1980er Jahre wenig suburbanisierter Dörfer in Rheinhessen, die durch ihre Lage zwischen den Agglomerationsräumen Rhein-Main und Rhein-Neckar vielfältige Stadtbezüge aufwiesen. Dennoch, so die These, hätten sich ländliche und

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städtische Musikkultur bis in die 1980er Jahre hinein unterschieden und könne man nicht von einer „Entgrenzung“ zwischen diesen beiden Räumen sprechen. Zum einen blieb die integrative Funktion von Musik im Sinne eines Musizierens und Konsumierens im dörflichen Sozialleben eine verbreitete Praxis. Zum anderen waren die Formen der Aneignung spezifisch ländlicher Art. Zum Beispiel nahmen die Tanzvereine des Dorfes die neuen Einflüsse der Popmusik in ihr Repertoire auf, ohne auf die traditionellen Stücke zu verzichten. Die verbesserten Möglichkeiten des medialen Konsums „städtischer“ Musik trugen, so der Referent, einerseits zur Diversifizierung ländlicher Jugendkultur und zur Abgrenzung verschiedener Lebensstile bei, andererseits blieb es bei Unterschieden zu städtischen Musikszenen, die noch stärker von Distinktionsmechanismen geprägt blieben. Matthias Frese (Münster) zeigte in seinem historischen Längs- und räumlichen Querschnitt durch die Tourismuswerbung für das Sauerland, den Teutoburger Wald und das Münsterland für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts auf, dass die Abgrenzung zwischen Stadt und Land eine tragende Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung spielte. Die vom Referenten erläuterte visuelle und textuelle Selbstdarstellung von Städten und Dörfern hinterließ den Eindruck, dass es zumindest in den Köpfen der Werbemacher und Tourismusverbände doch sehr feste Bilder von „Dorf“ und „Stadt“ gab. Paradoxerweise wurde gerade in den 1960er Jahren, als sich die Landwirtschaft massiv technisierte und ökonomisierte, im Zuge der „Ferien auf dem Bauernhof“-Kampagnen der traditionellländliche Charakter der Urlaubsziele betont. Die Bauernverbände hingegen betrachteten die Verniedlichung des bäuerlichen Lebens in der Werbung kritisch – angesichts der wachsenden faktischen Überbelastung von Bauernfamilien, die auf den Tourismus als drittes Standbein angewiesen waren. Julia Rinser (München) stellte ihr Dissertationsvorhaben zur „Entwicklung bayerischer Gemeinden nach der kommunalen Gebietsreform der 1970er Jahre“ vor. Dieses sucht verschiedene sozial- und wahrnehmungsgeschichtliche Dimensionen auf der Basis interkommunaler und -regionaler Vergleiche in sechs Gemeinden zu erfassen. So geht es um die Identifizierung von Einwohnern mit ihrem (eingemeindeten) Ort, kommunalpolitisches Engagement, kommunale Infrastrukturmaßnahmen, wirtschaftliche Strukturen und gesellschaftliches Leben. Insgesamt laufen ihre Untersuchungsergebnisse auf erhebliche Differenzierungen von Strukturmerkmalen und Wahrnehmungsmustern hinaus. Bezüglich der Stadt-Land-Beziehungen resümierte die Referentin, dass es lokal sehr unterschiedlich sei, ob hybride Identitäten dominierten oder die (verhinderten) Eingemeindungen zu Abgrenzungen gegen das Urbane geführt hätten. Evident scheint indes die wechselseitige und wachsende Bezugnahme zwischen Stadt und Land. In seinem sozial- und kulturgeschichtlich profilierten Vortrag „Vor-Orte. Mentalitäten und Identitäten in eingemeindeten ländlichen Gebieten nach der kommunalen Gebietsreform der 1970er Jahre. Das Beispiel Bielefeld“ zeigte Hans-Walter Schmuhl (Bielefeld), wie die Erfahrungen mit der Gebietsreform bei betroffenen Bürgern in den Außenbezirken aussahen. Während nämlich durch die Reform gewachsene Strukturen aufgebrochen und politische Grenzen zwischen Stadt und Land „von oben“ neu gezogen worden seien, könne man noch heute die Grenzen der ehemals selbstständigen, nun eingemeindeten Kommunen eindeutig ausmachen. Orte, die heute zur Stadt Bielefeld

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gehören, seien noch immer durch Äcker und Wiesen von selbiger getrennt, bildeten in sich geschlossene Siedlungskerne. Man habe vor allem auf der symbolischen Ebene Verluste erlebt – wie die Einführung von Straßennamen statt ehemals ausschließlich durchnummerierter Anwesen, die jahrhundertealtes Insiderwissen zur Orientierung erfordert hatten. So sei die Eingemeindung auf der einen Seite mit einem Prozess der Anonymisierung, sozialen Nivellierung und eben „Verstädterung“ der dörflichen Gesellschaftsstruktur einhergegangen. Außerdem habe man seit dem Verlust der Selbstständigkeit in den ehemaligen Landgemeinden das Gefühl, dass die Verwaltung bürgerferner geworden sei. Dennoch bleibe festzuhalten, so der Referent, dass die Befragten insgesamt doch eher eine Erfolgsgeschichte erzählten, was etwa die Verbesserung von Infrastrukturen betreffe. Die Interviewten verorteten sich am Stadtrand und orientieren sich noch heute an den Altstadtgrenzen, wenn sie von der Stadt Bielefeld sprächen. So sei mental eine Art „Zwischenstadt“ entstanden, die keineswegs als transitorische Phase aufgefasst werde, sondern als ein die Vorzüge der Stadt (Kulturelles) und des Landes (Naturnähe) in sich vereinender Lebensraum. Die Stadt-Land-Dichotomie sei in eine hybride Sonderidentität übergegangen. Solche wahrnehmungsgeschichtlichen Ansätze erwiesen sich bei der Tagung in Beziehung zu sozialgeschichtlichen Zugriffen als fruchtbar. Hier zeigte sich die Vielschichtigkeit, die Gleichzeitigkeit von Verschwinden, Überlagerung, Aufblühen und Konservieren alter Kulturdifferenzen zwischen „dem Dorf“ und „der Stadt“. Besonders deutlich wurde dies auch in den Vorträgen von Ernst Langthaler (St. Pölten) und Ulrich Schwarz (St. Pölten). Während sich Schwarz dem Agrarmediendiskurs in Niederösterreich zwischen 1945 und 1980 anhand der statistischen Auswertung von Zeitungsartikeln einer agrarischen Wochenzeitung widmete, stand bei Langthaler mit der bäuerlichen Wirtschaftspraxis die realgeschichtliche Ebene im Vordergrund. In einer akteurszentrierten Perspektive auf zwei bäuerliche Familienbetriebe in Niederösterreich nach 1945 wurde der bis in die 1980er Jahre hinein erfolgreiche Umgang mit der Modernisierung des Agrarsystems betrachtet. Es zeigte sich, dass die Entwicklungen auf dem Land in diesen beiden Fällen in Abhängigkeit zu ihren unterschiedlichen Distanzen zur Stadt erfolgten. Die Nähe zum industriell-urbanen Zentrum Wien als Absatzmarkt galt als Standortvorteil, Stadtferne wurde zunehmend als durch Sparsamkeit und Spezialisierung auf Veredelung bestimmter Produkte auszugleichendes Defizit gewertet. Die alltäglichen Entscheidungen der Betriebe über den Einsatz der Land-, Arbeits-, Kapital- und Wissensressourcen waren somit von der Entfernung zur Stadt beeinflusst. Korrespondierend mit den Befunden des Agrarmediendiskurses bei Schwarz zeigte Langthaler auf, wie die Stadt sich „vom Gegenpol zum Maßstab“ entwickelt habe. Julia Paulus (Münster) verwendete bewusst den normativ aufgeladenen Begriff „Provinz“. Sie wollte einen Diskurszusammenhang offenlegen: Ihr Beitrag „‘Eigensinn und Loyalität‘ – Protest- und Mobilisierungskulturen in ländlichen Gebieten am Beispiel der politischen Emanzipationsbewegung von Frauen (1970-1990)“ befasste sich mit Verräumlichungen von Gender sowie mit Entgrenzungserfahrungen im Stadt-Land-Gefüge. Sie behandelte politische, aber auch ,mentale‘ Kontroversen auf dem Land (bzw. in Kleinstädten). Dabei konstatierte die Referentin Vernetzungsprozesse innerhalb der Frauenbewegung, durch die sich städtische und ländliche Lebensmuster zunehmend ver-

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mischten. Es stellte sich aber auch heraus, dass die Frauen der ländlichen Protestbewegungen teilweise eigene Ziele verfolgten, die sich speziell mit den Schwierigkeiten innerhalb des Provinziellen (als Inbegriff der Rückständigkeit) auseinandersetzten. Die Aktivistinnen auf dem Lande sahen deren Ursache aber nicht in einer defizitären Urbanität. Die Stadt war für sie lediglich der Raum, in dem Proteste für die Gleichberechtigung von Frauen besser zutage treten konnten. Sie orientierten sich also in Richtung Stadt, allerdings mit dem Anspruch, den „ländlichen“ Slogan „Mütterlichkeit als Beruf“ auf die Großstadt zu übertragen. Weil sie die dörflichen Kommunikationswege nutzten und konfessionelle Träger einbezogen, erreichten die Akteurinnen auf dem Land ganz heterogene gesellschaftliche Gruppen. In seinem Schlusskommentar kritisierte Werner Freitag (Münster) die während der Tagung doch festzustellende stärkere Fixierung auf die ländliche Gesellschaft anstelle einer ausgewogenen Betrachtung von Stadt und Land. Vor allem kritisierte der Stadthistoriker die teilweise diffus gebliebene Verwendung von Begrifflichkeiten, die eine Vergleichbarkeit der in den Vorträgen angesprochenen Verhältnisse oder gezeichneten Mental maps erschwere. Es gelte zu definieren, welches Verständnis von Raum eigentlich zu Grunde liege und was man meine, wenn man von Land, Landschaft, Provinz, ländlichem Raum, Dorf, Gemeinde, Stadtteilen, Vorort, Stadt, Kleinstadt, Mittelstadt oder Metropolregion spreche. Freilich ergeben sich solche terminologischen Probleme, wie auf der Tagung mehrfach deutlich wurde, gerade auch im Zuge eines multidisziplinären und wahrnehmungsgeschichtlich orientierten Zugriffs. Es gelte, so resümierte Freitag, die Stadt-Land-Beziehungen als Erfahrungsgeschichte noch deutlicher zu machen und die bewährten Ansätze (Kulturgeschichte, Diskursanalyse) zu vertiefen, aber künftig mehr auf Kontextualisierung und Vergleich zu achten. Der Tagung lag das Desiderat zugrunde, die Ambivalenzen und regionalen Besonderheiten des Beziehungsgeflechts zwischen Stadt und Land in den Fokus zu nehmen und vorhandene Heterogenität nicht zugunsten einer vorschnellen Typenbildung zu nivellieren. Als besondere Leistung der Referate und Diskussionen wurde hervorgehoben, dass man eben doch methodisch diszipliniert und reflektiert sowie sehr perspektivenreich über die bisherige Verlustgeschichte des Landes hinausgegangen sei. Vielmehr, so der weitgehende Konsens, habe man das Ziel verfolgt, die „Stadtlastigkeit“ der bisherigen Forschungen zu kompensieren und dem Land, seiner realgeschichtlichen Entwicklung und der Wahrnehmung durch seine Bewohner, Raum zu geben. Die Tagungsbeiträge sollen 2014 in der Reihe „Forschungen zur Regionalgeschichte“ des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte erscheinen. Ferner soll der Münsteraner Auftaktkonferenz des Forschungsverbundes „Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert“ im Frühjahr 2015 eine zweite Tagung in Saarbrücken folgen, die vor allem die Internationalisierung des Themas weiter vertiefen möchte.

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PROJEKT

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Online-Datenbank zur Straßenbenennungspraxis in Westfalen und Lippe während des Nationalsozialismus (http://www.strassennamen-in-westfalen-lippe.lwl.org) – ein Werkstattbericht Das Projekt Angesichts der enormen Forschungsleistungen der letzten Jahrzehnte und des zunehmenden Interesses an regionalgeschichtlichen bzw. erinnerungskulturellen Ansätzen erstaunt es, dass die Benennung des öffentlichen Symbolträgers „Straßenname“ in der NS-Zeit, die fast alle Kommunen Deutschlands betraf, bislang allenfalls in einigen lokalen, qualitativ und inhaltlich jedoch recht heterogenen Studien Beachtung gefunden hat, nicht aber in regionalen, die doch eine vergleichende Perspektive erlauben.1 So lag es nahe, anlässlich der wissenschaftlichen Tagung „Straßennamen als Instrument der Geschichtspolitik und Erinnerungskultur“, die das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte zusammen mit Partnern im Juli 2011 in Münster veranstaltete,2 die Straßenbenennungspraxis im Nationalsozialismus für Westfalen und Lippe einmal genauer

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Unter anderem Hermann Josef Bausch, Straßennamen: Denkmäler der Geschichte? Politisch motivierte Straßenbenennungen in Dortmund (1918-1933-1945), in: Heimat Dortmund 1/2011, S. 3-18; Erwin Dickhoff, Die Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Straßennamen. Ein Beitrag zur Geschichte der Straßenbenennung in Essen, in: Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen 101 (1986/87), S. 77-104; Dieter Fitterling, NSRassenpolitik, Antisemitismus und Straßenbenennung, in: Kulturamt Steglitz/Arbeitskreis „Nationalsozialismus in Steglitz“ (Hg.), „Straßenname dauert noch länger als Denkmal“. Die Benennung von Straßen in BerlinSteglitz 1933-1948, Berlin 1999, S. 42-54; Ursula Jennemann-Henke, Straßenschild „Adolf-Hitler-Platz“, in: Ingrid Wölk/Delia Albers (Hg.), Sieben und neunzig Sachen. Sammeln, bewahren, zeigen. Bochum 1910-2007, Essen 2007, S. 48 f.; Norbert Kruse, Weingartens Straßennamen im „Dritten Reich“. Begleitbuch zur Ausstellung im Weingartener Stadtmuseum „Schlössle“, 3.-22. November 2009, Bergatreute u.a. 2009; Jutta Schemm, Straßenumbenennungen in Kiel zwischen 1900 und 1970, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte 79 (1998), H. 5, S. 177-240; Manfred Wittmann-Zenses, Vom „Platz der Republik“ zum „Langemarckplatz“ – und zurück? Straßenbenennungen in M.Gladbach und Rheydt zur Zeit des Nationalsozialismus, in: Rheydter Jahrbuch für Geschichte, Kunst und Heimatkunde 24 (1998), S. 22-67; Marion Werner, Vom Adolf-Hitler-Platz zum Ebertplatz. Eine Kulturgeschichte der Kölner Straßennamen seit 1933, Köln 2008. Matthias Frese (Hg.), Fragwürdige Ehrungen!? Straßennamen als Instrument von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur, Münster 2011.

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zu untersuchen und im Anschluss Ergebnisse in Form einer Online-Datenbank im Internet-Portal „Westfälische Geschichte“ zu publizieren.3 Während des Nationalsozialismus wurden in nahezu allen Städten und den meisten Gemeinden die Namen von Straßen, Plätzen und Wegen geändert, obgleich es hierzu in der Regel keine polizeiliche oder bauliche Notwendigkeit gegeben hatte.4 Vorrangiges Ziel dieser Um- bzw. Neubenennungen war es, den ,neuen Staat‘ auch im öffentlichen Straßenraum sichtbar und die Bevölkerung mit den Vorbildern und Erinnerungsorten der neuen Machthaber vertraut zu machen. Zugleich aber sollten jene Namen beseitigt werden, die dieser ,nationalen Revolution‘ gleichsam im Wege standen: zunächst vor allem die Namen demokratischer Repräsentanten der Weimarer Republik und linker Parteivertreter, dann kirchliche und jüdische Namen. Straßenschilder hatten in dieser Zeit insofern nicht nur eine topografisch-räumliche Orientierungsfunktion, sondern vor allem eine dezidiert politische. Da die NS-Ideologie innerhalb eines abgesteckten Raums einen erheblichen Variantenreichtum mit unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten aufwies, bot sich den Entscheidern eine Vielzahl potenzieller Namen, Orte und Begriffe für die neuen Straßenschilder an. Aus dieser letztlich unklaren Verfügungsmasse bedienten sich die verschiedenen Instanzen entsprechend ihrer hierarchischen, räumlichen und thematischen Interessen vor dem jeweiligen zeitlichen Hintergrund des Benennungsakts. Dies war ein wesentlicher Grund dafür, dass die lokalen Straßennamenkorpora – von den häufig kombinierten Basisnamen (z. B. Hitler, Hindenburg, Wessel) einmal abgesehen – in räumlicher, zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht derart verschiedenartig ausgebildet sind. Drei Bereiche waren hier besonders stark vertreten: Nationalsozialismus (z. B. Hitler, Göring, Wessel), Militär (z. B. Schlachtenorte, Generäle des Ersten Weltkriegs) und Territorium (z. B. Gebietsverluste infolge des Versailler Vertrags). Sie verweisen auf die Entstehungsursachen und das zukünftige politische ,Konzept‘ des NS-Staats. Das massenhafte Vorkommen und die scheinbare Gleichförmigkeit von NS-Straßennamen lassen auf den ersten Blick vermuten, dass sich eine Benennungspolitik auf Verfahrenswegen abspielte, die parallel zum sogenannten ,Führerstaat‘ von oben nach unten liefen. Tatsächlich aber handelte es sich um eine Bezeichnungspraxis, deren grundlegende Regeln zwar schrittweise entsprechend der Politik des neuen Machtstaats ausgerichtet wurden, die letztlich aber vor allem von unten, den örtlichen Instanzen, mit Inhalten ausgefüllt wurde. In der Gesamtsicht war die nationalsozialistische Benennungspraxis jedoch keine ausschließliche Straßenschilderstürmerei, kein rigoroser Gegenkanon. Viele der zwi3

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Das Internet-Portal „Westfälische Geschichte“ wird vom LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte in Münster betrieben und ist seit November 2004 online (http://www.westfaelische-geschichte.lwl.org). Marcus Weidner, Westfälische Geschichte im Internet − Projektbericht zum Internet-Portal ,Westfälische Geschichte‘. Ein Kooperationsprojekt des Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte und der Stiftung Westfalen-Initiative, in: Westfälische Forschungen 53 (2003), S. 447-475; siehe auch ders., Internet und Regionalgeschichte. Die „Arbeitsgemeinschaft landesgeschichtliche und landeskundliche Internet-Portale in Deutschland“ (AG Regionalportale), in: Westfälische Forschungen 60 (2010), S. 617-629. Ausführlich zum Thema: Marcus Weidner, „Wir beantragen . . . unverzüglich umzubenennen“. Die Straßenbenennungspraxis in Westfalen und Lippe im Nationalsozialismus, in: Frese (Hg.), Fragwürdige Ehrungen!?, S. 41-98; ders., „Mördernamen sind keine Straßennamen“. Revision und Beharrung in der Straßenbenennungspraxis der Nachkriegszeit – Westfalen und Lippe 1945-1949, in: ebd., S. 99-120.

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schen 1933 und 1945 vergebenen Namen hatten keinen NS-Bezug, und mitunter führten die Bürgermeister bzw. die NSDAP jene Namenstraditionen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik fort, soweit diese Schnittmengen mit ihrer ideologischen Ausrichtung aufwiesen oder ein Integrationsangebot für spezifische Gruppen (z. B. Bürgertum, Katholiken) darstellten. Zudem wurde bis zu einem gewissen Grad Rücksicht auf historisch gewachsene Namen mit einer besonderen Bedeutung innerhalb der alten Stadtkerne genommen und wurden Umbenennungen vor allem in städtebaulich gesehen relativ jungen Vierteln durchgeführt (z. B. Bahnhofsviertel mit viel Publikumsverkehr). Von zentraler Bedeutung jedoch war, dass die Lage und Größe der Stadt der Bedeutung der Person entsprechen musste, um die Ehrung nicht in ihr Gegenteil zu verkehren. Die Zeit nach 1945 war durch zwei Phasen gekennzeichnet. In der ersten, der Eroberungsphase, befahlen die Alliierten die Beseitigung der Benennungen, wobei letztlich aber nicht gänzlich klar war − sieht man einmal von den eindeutigen NS-Namen ab −, welche nun genau zu ändern waren. Manche der eingesetzten Bürgermeister nutzten die Gelegenheit und setzten ambitionierte Benennungen bzw. großflächige Umbenennungen auch der Schlachten- und Feldherren-Namen aus dem Kaiserreich durch, um den Stadtraum zu entmilitarisieren. In der zweiten Phase, der Konsolidierungsphase (1946-1949), waren es dann die gewählten Kommunalvertretungen, die ihre Vorstellungen entsprechend den Parteilinien und den politisch-sozialen Profilen der Bürgerschaft umsetzten. Kennzeichen war die Entpolitisierung der Straßennamen, was jedoch zu Lasten der Ehrung der NS-Opfer ging, sowie die beginnende Stilisierung der eigenen Opferrolle, gepaart mit einem zum Teil starken Beharrungsvermögen, so dass nicht immer alle angeordneten Umbenennungen (z. B. im Falle Hindenburgs) auch ausgeführt wurden. So sind heute noch rund ein Drittel der Benennungsakte aus der NS-Zeit gültig, die aktuell – je nach Stadtgesellschaft – bei veränderten Blickwinkeln und fortschreitender Erkenntnis zum Teil ein nicht unerhebliches Konfliktpotenzial in sich bergen (z. B. Hindenburg, ,Kolonialpioniere‘, Schriftsteller oder Ärzte). Die Datenerhebung Ziel des NS-Straßennamenprojekts war es, erinnerungskulturell relevante Straßenumbenennungen während des Nationalsozialismus und den Umgang mit diesen Benennungen in der Nachkriegszeit für das heutige Gebiet Westfalen-Lippe zu untersuchen, in einer Datenbank zu dokumentieren und online zur Verfügung zu stellen. Die im Vorfeld 2012 erschienenen Aufsätze zur NS-Zeit und zur Nachkriegszeit sollten die zahllosen Datenbank-Informationen bündeln, ihre ,Lesbarkeit‘ erhöhen und sie in einen historischen Kontext stellen. Infolge der Vielgestaltigkeit kommunaler Politik musste die Forschungsperspektive des Straßennamen-Projekts zunächst auf die kommunale Ebene Westfalens und Lippes gerichtet sein. In den Jahren 2011 bis 2013 wurden deshalb alle westfälisch-lippischen Kommunen bzw. Kommunalarchive angeschrieben und mittels eines Fragebogens um Auskünfte über Archivalien, Quellen und Benennungsakte zu

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diesem Thema gebeten.5 Die Ergebnisse wurden in vielen Fällen durch eigene ,Tiefenbohrungen‘ vor Ort, z. B. wenn vielversprechendes Schriftgut in Verwaltung oder Archiv vorhanden war oder es sich um größere Kommunen handelte, erweitert. Diese breite Materialgrundlage war notwendig, da die eingehende synchrone und diachrone Analyse der Vergabe und Ausprägung von Straßennamen innerhalb einer Region einen umfassenden quantitativen Zugriff erforderte. Erst durch diesen breiten Ansatz war es möglich, die vielfältigen kategorialen, räumlichen oder zeitlichen Besonderheiten oder eine wie auch immer geartete Kommunal- bzw. Regionalpolitik in den sehr unterschiedlich verfassten Kommunen und ehemaligen NS-Gauen (Westfalen-Nord und -Süd) im Namenskorpus darzustellen. Obgleich es für den größten, d. h. damals preußischen Teil dieses heutigen Gebiets einheitliche rechtliche Regelungen gab,6 erwiesen sich die Resultate des einstigen Verwaltungshandelns wie auch die Antworten der Kommunen als äußerst heterogen. Der Rücklauf war erfreulich hoch, aber bis heute sind noch Lücken vorhanden, die erst nach und nach geschlossen werden können. Unerwartet war, dass manche Kommune heute keinerlei Vorstellung mehr von ihren früheren Straßennamen − insbesondere deren Genese − hat. Mitunter schien es nicht einmal mehr ersichtlich, ob es überhaupt offizielle Benennungen in der NS-Zeit gegeben hat bzw. ob die vergebenen Namen auch offizieller Art waren. Hinzu kam das Überlieferungsproblem: Informationen hierüber waren verschollen, verdrängt oder vernichtet, Pläne selten vorhanden, Schriftgut der NSZeit gar noch bei den Verwaltungen. Auch die kommunale Aktenführung dieser Zeit und die heutige Aufbewahrung waren und sind infolge des unterschiedlichen Organisationsgrads alles andere als einheitlich. Das Spektrum reicht hier von Splittern in Protokollbüchern bis hin zu umfassenden Spezialakten etwa zur „Geschichte“ einzelner Straßen, von zufälligen Erwähnungen in Zeitungen bis hin zu mustergültig geführten (Straßen-)Akten, die alle Stufen des Verwaltungsverfahrens einer Straßennamenvergabe – von der Initiative, über die Beschlussfassung bis zur Anbringung der neuen Schilder – abbilden. Kriegsverluste und (gezielte) Kassationen in der Kriegsendphase bzw. in der Nachkriegszeit taten ein übriges, um die Aktenreihen zu lichten. In der Regel, das haben die Recherchen gezeigt, sind zumeist nur Informationen über einzelne Aspekte eines Benennungsverfahrens überliefert, selten die Beweggründe und damit die Bedeutung etwa einer konkret zu ehrenden Person für die Akteure.

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Den Kommunen und Archiven möchte ich für Ihre Unterstützung an dieser Stelle ausdrücklich danken. Als öffentliche Aufgabe ist die Vergabe von Straßennamen in der NS-Zeit durch verschiedene Gesetze und Erlasse geregelt sowie durch Stellungnahmen und Hinweise für die Kommunen begleitet worden. Für die Festsetzung von Straßennamen waren zu Beginn der NS-Zeit im Land Lippe die Gemeinden zuständig, in der preußischen Provinz Westfalen hingegen der Staat (Polizeiverwaltung), jedoch spielten die Kommunen bei der Findung von Straßennamen eine maßgebliche Rolle. Mitunter verwischten beide Ebenen, wenn der Bürgermeister zugleich auch Chef der Ortspolizeibehörde war. Erst 1939 wurden reichseinheitliche Normen für die Straßenbenennung erlassen, die die sehr unterschiedlichen Regelungen der zuvor selbstständigen Länder ersetzten. Die Kompetenz fiel nun vollständig an den Bürgermeister einer Kommune, jedoch hatte dieser zuvor die Zustimmung des „Beauftragten der NSDAP“ − dies war in der Regel der Kreisleiter − einzuholen. Das Gesetz von 1939 galt, ohne NS-Kern, bis zum Inkrafttreten der neuen NRW-Gemeindeordnung vom 29.10.1952. Die Normen sind auf der Straßennamen-Website online verfügbar.

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Da der Fokus auf die erinnerungskulturelle Dimension von Straßennamen gerichtet war, repräsentieren die Ergebnisse nicht die während der Jahre 1933 bis 1945 vorhandenen Straßennamen, d. h. sie bilden in ihrer Gesamtheit keine vollständige Zeitschicht ab. Im Einzelfall erschwert dies mitunter die Untersuchung von Bezeichnungen, die schon vor 1933 vorkamen (z. B. Hindenburg), aber die Rekonstruktion ganzer Zeitschichten war grundsätzlich nicht leistbar, weder hinsichtlich der verfügbaren Ressourcen noch der vorhandenen Informationen, noch wäre dieses Einfrieren zu einem bestimmten Stichtag der Dynamik der Benennungspraxis dieser Zeit (z. B. wiederholte Umbenennungen, sich wandelnde Intentionen) gerecht geworden. Insofern handelt es sich auch nicht um eine Komplettaufnahme aller Benennungen während der NS-Zeit, denn das Erkenntnisinteresse sollte nicht durch – im weitesten Sinne – unpolitische Namen z. B. aus Flora oder Fauna verstellt werden. Folgende Benennungen wurden in die NS-Straßennamen-Datenbank aufgenommen: 1. Offizielle Benennungsakte von Straßen, Wegen oder Plätzen in den Kommunen der Regierungsbezirke Arnsberg, Detmold und Münster (Gebietsstand 1. Januar 2010) im Zeitraum vom 30. Januar 1933 bis 8. Mai 1945 sowie deren gegebenenfalls vorgenommene Änderung in der Nachkriegszeit. Nicht immer war es möglich, zwischen offiziellen und inoffiziellen − mit anderen Worten: den überlieferten − Straßennamen zu unterscheiden, auch die Bewertung von Plätzen oder Gebäuden (z. B. Hindenburgbrücke als Straßen- bzw. Gebäudename) ist noch nicht abgeschlossen. 2. Erinnerungskulturelle Bezeichnungen, z. B. nach bewusst zu ehrenden Personen (z. B. Adolf Hitler, Johann Wolfgang von Goethe), Orten (z. B. Braunau, Riga) sowie militärischen oder politischen Ereignissen (z. B. Falkland[-Schlacht]). Folgende Benennungen wurden nicht in die Datenbank aufgenommen: 1. Politisch motivierte Tilgungen von Namen, wenn der neue Name nicht in das Erfassungsraster fiel (Ja: Karl-Marx-Straße → Adolf-Hitler-Straße / Nein: KarlMarx-Straße → Blumenstraße, Judenstraße → Rathausstraße) – unter der Inkaufnahme, dass diese „Säuberungen“ als Ganzes nicht darstellbar sind. 2. Variationen von Namen, z. B. Präzisierungen oder Vereinfachungen von Schreibweisen, die an der inhaltlichen Bedeutung einer früher vorgenommenen Widmung nichts ändern (Nein: Mutter-Maria-Theresia-Straße → Maria-Theresia-Straße). 3. Verlängerungen von Straßen, bei denen der bestehende Name auf einen neuen Straßenabschnitt übertragen wurde. 4. Bezeichnungen aus Flora (z. B. Tulpenweg) und Fauna (z. B. Lerchenweg), nach Fluren (z. B. Homegge), nach Anliegern (z. B. Bezeichnung nach einem alten Hofnamen oder dem Besitzer, der das Grundstück zur Verfügung gestellt hat), nach Richtungen (z. B. Soester Straße [Straße in den Nachbarort Soest], Bahnhofstraße [Straße zum Bahnhof]), nach Objekten (z. B. Kasernenweg [Weg zur, an der Kaserne], z. B. Residenzstraße [Straße zur, an der Residenz]) und nach im Benennungsgebiet vorhandenen Geländeformen oder Flüssen.

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5. Benennungen von Gebäuden, z. B. Brücken, Stadien oder Schulen, auch wenn diese mit den Straßen korrespondieren oder, vor allem in kleineren Orten ohne Straßennamen, die Ehrungs- und Erinnerungsfunktionen übernehmen. Die Datenvisualisierung Die erhobenen Daten waren zunächst als Materialgrundlage für die oben genannte Tagung bzw. die damit verbundenen Aufsätze zum Thema gedacht. Mehr und mehr zeigte sich jedoch die Reichhaltigkeit und die Vielgestaltigkeit des Materials, und die Frage rückte in den Vordergrund, wie mit der Aktenordner füllenden Sammlung nach Abschluss des Projekts umzugehen sei. Im Sinne eines ,Service für die Region‘, insbesondere für die kommunalen Institutionen wie auch die Bürgerinnen und Bürger vor Ort, reifte der Plan, die Daten in Form einer Onlinepublikation im Internet-Portal „Westfälische Geschichte“ dauerhaft zur Verfügung zu stellen. Eine Druckpublikation verbot sich von vornherein, nicht nur wegen der noch aufzufüllenden Lücken, des Formats, der Zugänglichkeit, des Platzbedarfs bzw. der Kosten, sondern auch wegen der herausgehobenen Visualisierungspotenziale des Internet. Damit war ein erheblicher zusätzlicher Arbeitsaufwand verbunden, da nicht nur die Informationen systematisiert und aufbereitet bzw. vervollständigt und geprüft werden mussten, sondern auch ein Internet-Konzept erarbeitet und dieses technisch umzusetzen war. Auf die vielfältigen Potenziale, die das Internet für Datenvisualisierungen bietet, oder das technische Rückgrat des Projekts kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Nur soviel: Die Datenbank des Projekts umfasst drei Datentabellen, die Informationen zu den Kommunen (in ihrer Ausdehnung von 2010, insgesamt 231 Kommunen), zu den einzelnen Bezeichnungen, die für die Benennungen verwendet wurden (zurzeit 578 Bezeichnungen), und zu den einzelnen Umbenennungsakten (zurzeit 1.821 Akte) enthält. Weil die einzelnen Tabellen miteinander referenziert wurden, lassen sich z. B. einer Kommune die Umbenennungsakte zuordnen und diesen wiederum die jeweiligen Bezeichnungen. Da vor allem aus Ressourcengründen nicht in die bestehende Datenbank des Internet-Portals „Westfälische Geschichte“ eingegriffen werden konnte, wurde eine separate Visualisierungslösung ins Auge gefasst, bei der die XML-Datenexporte der Datentabellen nach Vorgaben mittels verschiedener vom Cologne Center for eHumanities (CCeH) an der Universität zu Köln (Ulrike Henny, Dr. Patrick Sahle) erarbeiteter Skripte in HTML-Dateien transformiert wurden. Zwar müssen bei Datenänderungen jeweils vollständige Transformationsläufe durchgeführt werden, aber Ergebnis und Funktionalität – z. B. die Aufbereitung von zeitlichen, räumlichen und inhaltlichen Zusammenhängen, die Georeferenzierung – wiegen den Nachteil bei weitem auf. Vorrangiges Ziel war es, das zum Teil sehr sperrige Material möglichst niedrigschwellig zu präsentieren. Von verschiedenen Seiten aus kann man das Angebot surfend, also über Hyperlinks, entdecken: Die „Kommunalseiten“ eröffnen die Möglichkeit, sich einen Eindruck von der Benennungspraxis in einer bestimmten Kommune zu verschaffen, die verschiedenen „Kategorienseiten“ ermöglichen den Einstieg über eine differenzierte Systematik, und die „Begriffsseiten“ geben den Blick frei auf eine bestimmte

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Bezeichnung, d. h. es finden sich hier Informationen zum Vorkommen einer Bezeichnung im Raum Westfalen-Lippe, was Namensräume und zeitliche Abfolgen sichtbar werden lässt. Übergreifend kann man sich somit dem Thema räumlich, chronologisch oder inhaltlich nähern.

Abb. 1: Paderborner Kommunalseite (Ausschnitt)

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Abb. 2: Beispiel für die Georeferenzierung der geänderten bzw. neuen Straßennamen in Paderborn (Ausschnitt)

Die Projektvisionen Auch wenn das online präsentierte Material bereits einen enormen Umfang erreicht hat, gibt es doch immer noch Lücken im Datenbestand, insbesondere bei jenen Kommunen, für die nicht einmal geklärt ist, ob es überhaupt Straßennamen gab. Daneben werden weiterhin Aktualisierungen vorgenommen und Recherchen in Archiven durchgeführt – beides fließt in Form von Datenupdates regelmäßig in das deutschlandweit einmalige Internet-Projekt ein. Das Straßennamenprojekt hat Möglichkeiten aufgezeigt, wie – unter Ausnutzung der Potenziale des Internet – historische Daten visualisiert, georeferenziert und mit anderen Datenbeständen verknüpft werden können. Konzipiert als historischer Informationsserver, führt es somit das Internet-Portal konsequent weiter. Da in den letzten Jahren die inhaltlichen Entwicklungsschwerpunkte des Portals insbesondere auf dem Mittelalter, der Frühen Neuzeit und dem 19. Jahrhundert lagen (u. a. „Freiherr vom Stein“, „Digitale

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Westfälische Urkunden-Datenbank“), soll das NS-Straßennamen-Projekt den Auftakt für eine stärkere Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus bilden. Im Rahmen einer geplanten „NS-Topografie für Westfalen-Lippe“ (Arbeitstitel) sollen in den nächsten Jahren verschiedene inhaltliche Module für ein neues, internetgestütztes Informationssystem zum Nationalsozialismus entstehen, in das später auch die Straßennamen-Datenbank einfließen wird. Die „NS-Topografie“, die im Internet-Portal beheimatet sein wird, soll nicht nur als Überblick über den derzeitigen Forschungsstand dienen, sondern mit ihren umfangreichen Informationen über Strukturen, Objekte, Personen und Ereignisse in der Region die vielgestaltigen Spuren des Nationalsozialismus in Westfalen und Lippe aufzeigen.

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Marcus Weidner

NACHRUF

Karl Teppe 1943-2012 Professor Dr. Karl Teppe ist am 23. August 2012 in Nottuln nach einer schweren Krankheit verstorben. Alle, mit denen er bis kurz vor seinem Tod persönlich und fachlich korrespondiert hat, werden noch lange den Mut und die Zuversicht vor Augen haben, mit denen er seiner Krankheit begegnete. Mit Karl Teppe verliert die westfälische landesund regionalgeschichtliche Forschung einen hervorragenden Wissenschaftler und Wissenschaftsmanager, der durch seine zeitgeschichtlichen Forschungen und seine wissenschaftsorganisatorischen Impulse und Initiativen in der Landeskunde der Region und Geschichtswissenschaft insgesamt prägende und nachhaltige Spuren hinterlässt. Als Wissenschaftlicher Direktor der Wissenschaftlichen Hauptstelle des „Provinzialinstituts für westfälische Landes- und Volksforschung“ (1986-1991), dann des daraus hervorgehenden „Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte“1 (1991-1999), als Geschäftsführendes Präsidialmitglied der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft (1991-2010), Landesrat für Kultur des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) (1999-2008) und akademischer Lehrer an der Universität Münster hat er sich in verschiedenen Funktionen und in vielfältiger Weise als Forscher, Förderer und Vermittler zwischen Wissenschaft, Verwaltung, Politik und gesellschaftlicher Praxis eingesetzt. Den „Westfälischen Forschungen“ ist es ein besonderes Anliegen, des Verstorbenen zu gedenken, da er die Zeitschrift von Bd. 36 (1986) bis Bd. 49 (1999) herausgegeben hat. Das breite disziplinübergreifende Engagement war das Markenzeichen Karl Teppes und gründete in einem besonderen Wissenschaftsverständnis. Wissenschaft war für ihn kein Selbstzweck, sondern stand in einem Bedingungsverhältnis zur Politik und Gesellschaft und musste sich den verändernden Erwartungen durch Demokratisierung, zunehmende Partizipation und Individualisierung, aber auch der Gefahr der Instrumentalisierung von Wissenschaft für politische Zwecke stellen. Wie eng die Erkenntnis, dass auch die Geschichtswissenschaft sich mit den Ereignissen der Welt zu berühren hat, mit den Erfahrungen und Begegnungen seines eigenen Bildungs- und Berufsweges verbunden war, machte Teppe in seiner Abschiedsrede als Kulturdezernent im Februar 2008 deutlich. Er nannte mit dem Historiker Prof. Dr. Rudolf Vierhaus, dem Verwaltungsjuristen und Unternehmensberater Prof. Dr. Eberhard Laux und mit dem ehemaligen Kulturdezernenten und späteren Ersten Landesrat des LWL Josef Sudbrock drei Gewährspersonen aus sehr verschiedenen Handlungsbereichen, die ihn maßgeblich beeinflusst und an den Wegscheiden seines Berufsweges gestanden hatten. Bevor dieser Berufsweg genauer nachgezeichnet wird, soll ein Blick auf seine Jugendzeit gerichtet werden, als die zeitgeschichtlichen Ereignisse die Lebensumstände unmittelbar bestimmten und sich als erste Lebenserfahrungen einprägten. 1

Seit 2006 „LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte“.

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Nachruf

Karl Teppe wurde am 24. Februar 1943 in Wuppertal-Elberfeld als Sohn eines Hauptwachtmeisters der Schutzpolizei geboren. Nachdem seine Familie durch die Bombardierung Barmens im Mai 1943 ihre Wohnung und gesamte persönliche Habe verloren hatte, wurde er mit Mutter und Schwester nach Volkmarsen/Nordhessen evakuiert, dem Wohnort der väterlichen Verwandtschaft. Hier verlebte er in einem ländlich-bäuerlich und katholisch geprägten Milieu eine behütete Kindheit, hier erhielt die Familie im Februar 1948 auch die Nachricht vom Tod des Vaters, der in sowjetischer Gefangenschaft tödlich verunglückt war, so dass er nun als Halbwaise aufwuchs. Ostern 1949 wurde er in die einzügige Volksschule des Ortes eingeschult, bis er auf Empfehlung eines katholischen Geistlichen als einer der wenigen aus dem bäuerlichen Volkmarsen das Gymnasium in Warburg besuchte. Nachdem die Familie 1957 nach Wuppertal zurückgekehrt war, folgte eine schwierige Lebensphase, die in die Entscheidung des nun 16-Jährigen mündete, das Gymnasium in der Obertertia zu verlassen und eine Lehre als Werkzeugmacher zu beginnen. Karl Teppe selbst hat in einem Interview im Rahmen des Projektes „Leben mit und in der Geschichte. Deutsche Historiker Jahrgang 1943“2 diesen Ausgang der gymnasialen Schulzeit als lang nachwirkende Niederlage empfunden, die dann jedoch − ergänzt durch Erfahrungen aus der Lehrzeit und ein gewachsenes Bewusstsein für die doppelte Verantwortung gegenüber der vaterlosen Familie und sich selbst − in einen von Leistungsbereitschaft und Willenskraft bestimmten neuen Anlauf mündete. Diese wirkten als „Stachel und Stimulans“, die angesichts des bevorstehenden entbehrungsreichen „Zweiten Bildungsweges“ auch notwendig waren, dann mit den ersten Erfolgen auch einen ausgeprägten Ehrgeiz förderten. Schon im ersten Lehrjahr besuchte Karl Teppe eine Abendschule, die in dreieinhalb Jahren zur Fachschulreife führte und zum Studium an einer Ingenieurschule berechtigte. Da er jedoch eher den Lehrerberuf anstrebte, bereitete er sich durch privaten Förderunterricht auch auf die Begabtensonderprüfung vor, die er nach Abschluss der Lehre an der damaligen Pädagogischen Hochschule Ruhr, Abteilung Hamm, bestand. Mit 22 Jahren begann er dort 1965 das Studium, das er nach drei Jahren mit der Ersten Staatsprüfung abschloss. Danach absolvierte er das Referendariat für Grund- und Hauptschulen in Witten. Es war ihm eine besondere Genugtuung, dass seine Abschlussnote in der ersten Staatsprüfung an der PH auch zur Allgemeinen Hochschulreife führte und ihm das Studium an einer Universität eröffnete. Durch wissenschaftliche Neugierde und akademischen Ehrgeiz angespornt immatrikulierte sich Karl Teppe im Wintersemester 1969/70 an der Universität Bochum für die Fächer Geschichte, Pädagogik und Sozialwissenschaften mit dem festen Ziel, in Geschichte zu promovieren. Diesem Ziel wurde alles andere untergeordnet. Da von Anfang an die Neuzeit den Interessenschwerpunkt bildete, fühlte er sich durch die Lehre und Person von Prof. Dr. Rudolf Vierhaus besonders angesprochen. Vierhaus wurde sein wichtigster akademischer Lehrer und „Doktorvater“, den er aufgrund seines profunden Wissens, seiner Liberalität und des ausgeprägten Verantwortungsbewusstseins besonders schätzte und zu dem ein vertrauensvolles Verhältnis entstand. Vierhaus war es auch, 2

Barbara Stambolis, Leben mit und in der Geschichte. Deutsche Historiker Jahrgang 1943, Essen 2010, Beilage (CD) mit den autorisierten Interviews, S. 498-506.

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der Teppe auf das Thema der Dissertation aufmerksam machte. Im Wintersemester 1974/75 wurde er mit einer Studie „Zur provinziellen Selbstverwaltung im Dritten Reich untersucht am Beispiel Westfalens“ an der Abteilung Geschichtswissenschaft der Ruhruniversität Bochum zum Dr. phil. promoviert. Das sich aus dieser Themenstellung eine besondere Hinwendung zur Regional- und Landesgeschichte Westfalens und auch eine berufliche Brücke zum LWL ergeben würde, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkennbar. Teppes Untersuchung zum Provinzialverband Westfalen war in den Forschungen zur regionalen Ausprägung des NS-Staates und zur „Binnenstruktur“ des NS-Regimes eine Pionierstudie, die in der damaligen Debatte über den Charakter und die Struktur der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland, über „intentionalistische“ und „strukturalistische“ Deutungsweisen neue Erklärungsmöglichkeiten aufzeigte und am regionalen Beispiel in ihrer Reichweite exemplarisch vor Augen führte. Er zeigte damit die Notwendigkeit, in der Zeitgeschichtsforschung von der hohen Ebene der Politik in die Niederungen der sozialen Praxis und des Verwaltungsvollzuges hinabzusteigen, um „die bedrückende Routine wie die spannungsreiche Dynamik der NS-Herrschaft“ einfangen zu können. Seine Studie, die auch ausdrücklich einen personengeschichtlichen Akzent setzte, legte offen, wie die vordergründig zentralistisch ausgerichtete Verwaltung in der Realität durch variierende Formen von Teilherrschaften und Regionalismen, durch den Dualismus von Partei und Staat durchbrochen wurde, welche Handlungsoptionen zwischen Mitwirkung aus politischer Überzeugung und Resistenz bestanden und wie weit im einzelnen die ideologische und personelle Durchdringung auf den verschiedenen Verwaltungsebenen und Aufgabenfeldern reichte. Ausgehend von seinen Analysen zur Rolle der Bürokratie und provinziellen Selbstverwaltung im NS-Staat hat Karl Teppe unsere Kenntnisse über das Verhältnis von Verwaltung, Staat und Gesellschaft auf seinem weiteren wissenschaftlichen Weg durch weiterführende Forschungsfragen und zahlreiche Veröffentlichungen ständig erweitert: durch die Thematisierung systematischer Fragen wie in dem zusammen mit Dieter Rebentisch 1986 herausgegebenen Sammelband „Verwaltung contra Menschenführung im Staat Hitlers. Studien zum politisch-administrativen System“, durch Studien zu übergeordneten Verwaltungsinstanzen, sprich der Ministerialbürokratie und den Reichsverteidigungskommissaren, und zu Fragen von Kontinuität und Wandel in seinen Beiträgen zur provinziellen Selbstverwaltung zwischen 1885 und 1986 – einschließlich des Tagungsbandes „Selbstverwaltungsprinzip und Herrschaftsordnung. Bilanz und Perspektiven landschaftlicher Selbstverwaltung in Westfalen“ (1987) – oder durch Studien zur Entwicklung einzelner Aufgabenbereiche der Selbstverwaltung wie der kommunalen Energiewirtschaft und psychiatrischen Anstaltsfürsorge. Eine besondere Leidenschaft für den „Faktor Mensch“ spiegelt sich dabei auch in seinen biographischen Skizzen zu Spitzenbeamten wie Bernhard Wuermeling (1845-1937), Johannes Gronowski (1874-1958), Ferdinand von Lüninck (1888-1944), Karl Zuhorn (1887-1967) und Rudolf Amelunxen (1888-1969).

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Nachruf

Noch vor seinem Rigorosum im November 1974 hatte Karl Teppe mit einer Bewerbung um eine wissenschaftliche Assistentenstelle an der Pädagogischen Hochschule Westfalen-Lippe, Abteilung Münster, Erfolg, auf die ihn Vierhaus aufmerksam gemacht hatte. Mit der Übernahme dieser Stelle am 1. April 1974 eröffneten sich vielfältige Kooperationsmöglichkeiten mit den dort lehrenden Neuzeithistorikern Prof. Dr. KarlErnst Jeismann und Prof. Dr. Erich Kosthorst in teils fachwissenschaftlich, teils fachdidaktisch ausgerichteten Forschungsprojekten. Er wirkte an Publikationen zum Problem der Teilung Deutschlands und der Entstehung zweier deutscher Staaten im Geschichtsunterricht und im Geschichtsbewusstsein mit; gleichzeitig verfolgte er jedoch auch ein Habilitationsprojekt, das „Die deutsche Sozialversicherung zwischen Kaiserreich und ,Drittem Reich‘“ zum Thema hatte. Aus diesem Forschungsfeld legte er 1977 im Archiv für Sozialgeschichte einen ersten umfangreichen Beitrag „Zur Sozialpolitik des Dritten Reiches am Beispiel der Sozialversicherung“ vor. Dieses Thema und auch die Habilitationsabsichten verfolgte er jedoch nicht weiter, da ihm zum einen die Perspektiven einer universitären Karriere, auch vor dem Hintergrund der in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre intensiv geführten Diskussion über

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die Zukunft der Hochschullandschaft und den Ort der Lehrerausbildung, zu unsicher schienen. Zum anderen eröffnete sich für Karl Teppe mit dem Angebot des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe zur Übernahme einer wissenschaftlichen Referentenstelle in der Wissenschaftlichen Hauptstelle des „Provinzialinstituts für westfälische Landesund Volksforschung“ eine attraktive Perspektive in der Landesgeschichte, die nicht nur durch das Thema seiner Dissertation begründet war. Inzwischen hatte er weitere Veröffentlichungen zur Geschichte und regionalen Selbstverwaltung in Westfalen vorgelegt und sich durch sein Engagement für die Landeszeitgeschichte einen Namen gemacht. Er gehörte zu einem Kreis von zwölf Fachleuten aus der Wissenschaft, dem Westdeutschen Rundfunk, den Staatsarchiven und der Kulturverwaltung der Landschaftsverbände, die im Oktober 1978 von Prof. Dr. Georg Droege, Institut für Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande, und Walter Först, WDR, in die Abtei Brauweiler bei Köln eingeladen wurden, um „die Grundsätze zu erörtern, die für eine engere Kooperation zwischen Landesgeschichte und regionaler Zeitgeschichte gelten sollten und gelten könnten“. Von diesem Treffen ging die Initialzündung für die Gründung des Brauweiler Kreises für Landes- und Zeitgeschichte aus, zu dessen Gründungsmitgliedern Teppe zählte. Eingeladen waren auch Dr. Alfred Hartlieb von Wallthor, damals Direktor der Wissenschaftlichen Hauptstelle im Provinzialinstitut für westfälische Landes- und Volksforschung, und Josef Sudbrock als Kulturdezernent des LWL, der dann Teppe im Jahr darauf das Stellenangebot des LWL unterbreitete. Am 1. Oktober 1979 startete Karl Teppe seine Karriere beim LWL, seitens der Kulturabteilung verbunden mit der ausdrücklichen Erwartung, in der Wissenschaftlichen Hauptstelle Forschungen zur neueren westfälischen Geschichte und Zeitgeschichte voranzutreiben und darüber zu publizieren. Dass die Realisierung dieses „Auftrages“ im Rahmen etablierter personeller Institutsstrukturen und Forschungsfragen auch Konfliktstoff bot, war zu erwarten, da hier grundverschiedene methodische Zugänge und Fragestellungen aufeinandertrafen. Nach dem Zweiten Weltkrieg knüpfte die Wissenschaftliche Hauptstelle des Instituts an die Methoden und Fragestellungen der um 1900 begründeten Kulturraumforschung an und führte das in den 1920er Jahren durch die Provinzialverwaltung initiierte sogenannte „Raumwerk“ fort. Insbesondere die Direktoren Dr. Franz Petri und Dr. Peter Schöller nutzten dieses Prestigeunternehmen zur Ausweitung des eigenen Aktionsfeldes und zur Profilierung der Hauptstelle als eigenständige Forschungsstelle mit interdisziplinärem Anspruch. Mit der Amtsübernahme von Dr. Alfred Hartlieb von Wallthor (1966) verloren die Kulturraumforschung und das „Raumwerk“ als Nukleus der Institutsentwicklung jedoch zunehmend an Integrationskraft und Orientierungsfunktion. Die Hauptstelle öffnete sich moderneren landeskundlichen Forschungen, die auch kultur- und sozialwissenschaftliche Fragestellungen mit umfassten, blieb aber konventionellen landeskundlichen und -geschichtlichen Themen verhaftet, während sich in der deutschen Geschichtswissenschaft ein grundlegender Paradigmenwechsel ereignete und in alle Forschungsbereiche ausstrahlte. Karl Teppe war maßgeblich daran beteiligt, dass der LWL 1983 eine Projektgruppe unter seiner Leitung einsetzte, die die Geschichte des Provinzialverbandes Westfalen in der Zeit des Nationalsozialismus mit den Schwerpunkten Psychiatrie und Kulturpflege untersuchen sollte. Dieses Projekt signalisierte nicht nur die Bereitschaft des Verbandes, sich ver-

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stärkt der jüngeren eigenen Geschichte zuzuwenden und dafür auch erhebliche finanzielle Mittel bereitzustellen; es kann in der Rückschau auch als Katalysator für den wissenschaftlichen Innovationsprozess innerhalb der Hauptstelle und Ausgangspunkt für weitere Entwicklungen in der westfälischen Landesforschung betrachtet werden. Als Karl Teppe im April 1986 zum Wissenschaftlichen Direktor der Wissenschaftlichen Hauptstelle des Provinzialinstituts für westfälische Landes- und Volksforschung berufen wurde, setzte er die „sozialgeschichtliche Erneuerung“ des Instituts konsequent fort. Er hatte die Gabe, wissenschaftsimmanente Entwicklungen wie den Nachholbedarf an zeithistorischer Forschung und den Paradigmenwechsel hin zur sozial- und gesellschaftsgeschichtlichen Betrachtungsweise mit wissenschaftsexternen Faktoren wie dem Bedürfnis des LWL an einer kritischen Reflexion seiner Aufgabenwahrnehmung als Voraussetzung einer selbstkritischen Haltung auf dem Feld der verbandlichen Erinnerungskultur zu verknüpfen und für den Modernisierungsprozess fruchtbar zu machen. Nur so konnte es ihm gelingen, sowohl in Verwaltung und Politik wie auch gegenüber den unter dem Dach des Provinzialinstituts vereinigten Wissenschaftlichen Kommissionen für Landeskunde grundlegende strukturelle Veränderungen durchzusetzen. Sie mündeten in der Auflösung des Provinzialinstituts, der Umwandlung der Wissenschaftlichen Hauptstelle in das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte sowie einer neuen Form der Kooperation zwischen Kommissionen und Institut. Das LWL-Institut sollte die wechselseitige Abhängigkeit von Politik und Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert in den Blick nehmen. Dabei sollte die Untersuchung des Besonderen und des Verallgemeinerbaren der politischen, kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung in Westfalen das Leitmotiv im Sinne moderner Regionalgeschichte bilden. Das fast zeitgleich mit der Verselbständigung des Instituts gestartete groß angelegte Forschungsprojekt „Gesellschaft in Westfalen. Kontinuität und Wandel 1930-1960“, das im Kreis der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Instituts konzipiert wurde, stellte mit seinem methodischen Anspruch und Themenspektrum gleichsam das Leitprojekt für die konzeptionelle Neuausrichtung dar und ermöglichte eine Neupositionierung nicht nur in der westfälischen, sondern auch in der bundesrepublikanischen Forschungslandschaft. Mit der Übernahme der Leitung der Hauptstelle bzw. des Instituts waren auch vielfältige Institutsaufgaben verknüpft: Die Herausgabe der landeskundlichen Zeitschrift „Westfälische Forschungen“, der Schriftenreihe „Veröffentlichungen des Provinzialinstituts für westfälische Landes- und Volksforschung“, die 1991 durch die Schriftenreihe „Forschungen zur Regionalgeschichte“ abgelöst wurde, und schließlich der 1993 neu begründeten Schriftenreihe „Forum Regionalgeschichte“. Es war für Karl Teppe selbstverständlich, dass er sein Engagement auch in zahlreiche Vereinigungen der Landesforschung einbrachte. Sein langjähriges Wirken im Vorstand des Brauweiler Kreises für Landes- und Zeitgeschichte wurde bereits erwähnt. 1985 wählte ihn die Historische Kommission für Westfalen zu ihrem Mitglied. Außerdem war er im Vorstand und Beirat des Vereins für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, Abt. Münster, aktiv. Gleichzeitig setzte er seine wissenschaftliche Publikations- und Herausgebertätigkeit zu landes- und regionalgeschichtlichen Grundsatzfragen und zu Forschungsthemen des Instituts fort. Beispielhaft erwähnt seien die zusammen mit anderen herausgegebenen

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Tagungsbände „Westfalen und Preußen. Integration und Regionalismus“ (1991), „Nach Hadamar. Zum Verhältnis von Psychiatrie und Gesellschaft im 20. Jahrhundert“ (1993) oder der Band „Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik“ (2003). 1996 würdigte die Universität Münster die wissenschaftlichen Beiträge Karl Teppes, seine Tätigkeit als Lehrbeauftragter des Historischen Seminars und seine Leistungen als Wissenschaftsorganisator mit der Ernennung zum Honorarprofessor. Eine Würdigung der wissenschaftlichen Leistungen Karl Teppes wäre jedoch unvollständig ohne angemessene Erwähnung seiner Tätigkeit als Geschäftsführendes Präsidialmitglied der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft von 1991 bis 2010. Zusammen mit den Präsidenten Prof. Helmut Schlesinger, Dr. Friedel Neuber, Dr. Johannes Rau, Prof. Hans Tietmeyer und schließlich Dr. Dietrich H. Hoppenstedt hat er nicht nur die Gesellschaft nach außen hin vertreten, sondern auch den Transfer zwischen Wissenschaft, Verwaltung, Politik und Gesellschaft und damit den wissenschaftlich-politischen Diskurs durch die Organisation der Cappenberger Gespräche, der Nassauer Gespräche und zahlreicher Vortragsveranstaltungen gefördert. Auch dieses Engagement spiegelt sich in Publikationen wieder wie z. B. in dem zusammen mit Eberhard Laux herausgegebenen Band „Der neuzeitliche Staat und seine Verwaltung. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte seit 1700“ (1998) oder dem zusammen mit Heinz Duchhardt herausgegebenen Tagungsband „Karl vom und zum Stein: der Akteur, der Autor, seine Wirkungsund Rezeptionsgeschichte“ (2003). Über die Stein-Gesellschaft hat Teppe auch das große wissenschaftliche Kooperationsprojekt zur „Kommunalen Neugliederung und Funktionalreform in den 1960er und 1970er Jahren“ initiiert, das dann zusammen mit dem LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte durchgeführt wurde. Gern hätte Karl Teppe seinen Einsatz für die Stein-Gesellschaft, die er fast zwei Jahrzehnte in ihrem Profil geprägt hat, in seinem Ruhestand noch lange fortgeführt − nach seiner Zeit und Tätigkeit als Landesrat für Kultur in den Jahren 1999 bis 2008, die zu würdigen anderen Professionen vorbehalten bleiben muss. Bernd Walter

JAHRESBERICHTE 2012

LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte

Das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte gab im Berichtsjahr in seiner Schriftenreihe „Forschungen zur Regionalgeschichte“, die im Schöningh-Verlag, Paderborn, erscheint, vier Bände heraus: – Bd. 68: Ansgar Weißer, Die „innere“ Landesgründung Nordrhein Westfalens. Konflikte zwischen Staat und Selbstverwaltung um den Aufbau des Bundeslandes (1945-1953), – Bd. 69: Michael Prinz, Der Sozialstaat hinter dem Haus. Wirtschaftliche Zukunftserwartungen, Selbstversorgung und regionale Vorbilder: Westfalen und Südwestdeutschland 1920-1960, – Bd. 70: Anselm Heinrich, Theater in der Region. Westfalen und Yorkshire 1918-1945, – Bd. 72: Karl Ditt/Cordula Obergassel (Hg.), Vom Bildungsideal zum Standortfaktor. Städtische Kultur und Kulturpolitik in der Bundesrepublik. Darüber hinaus gab Matthias Frese im Ardey-Verlag einen Band unter dem Titel „Fragwürdige Ehrungen!? Straßennamen als Instrument von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur“ heraus. Schließlich lieferte der Verlag Aschendorff die Westfälischen Forschungen 62 (2012) aus. Das Schwerpunktthema dieses Bandes, das von Prof. Dr. Rainer Pöppinghege organisiert und eingeleitet wurde, lautete: „Tier und Mensch in der Region“. Die Tagung des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte zum Thema „Fragwürdige Ehrungen!? Straßennamen als Instrument von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur“ im Juli 2011 und die Resonanz auf die Publikation der Tagungsergebnisse zeugen von einer wachsenden gesellschaftspolitischen Relevanz erinnerungskultureller Diskurse. An den Leiter des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte, Prof. Dr. Bernd Walter, richtete sich daher eine zunehmende Zahl von Beratungswünschen aus dem öffentlichen Raum und von Einrichtungen des LWL. So plant die Bezirksregierung Arnsberg zum Jubiläum „200 Jahre Bezirksregierung Arnsberg“ im Jahr 2015 vielfältige öffentliche Aktivitäten, insbesondere aber die wissenschaftliche Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte. Die Erwartungen richteten sich vor allem auf die Beratung bei der Konzipierung von Forschungsprojekten zu den Themen „Die Bezirksregierung Arnsberg in der Zeit des Nationalsozialismus: Verwaltungshandeln als Partizipation am Unrechtsstaat“ und „Die Geschichte des Landesoberbergamtes Dortmund und seine Rolle in der Bergverwaltung. Verwaltungshandeln im 20. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Zeit des Nationalsozialismus“. Auch verschiedene Kommunen, wie die Stadt Emsdetten aus Anlass des 75-jährigen Stadtjubiläums, erhielten Unterstützung bei ihrer Bestandsaufnahme zur Stadtgeschichte und der Beant-

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wortung der Frage nach der erinnerungskulturellen Funktion, innovativen Konzeption und finanziellen Realisierbarkeit neuer Stadtgeschichtsprojekte. Innerhalb des LWL begleitete das Institut vor allem erinnerungskulturelle Initiativen in psychiatrischen Einrichtungen. Dieses Engagement reichte von ersten Orientierungsgesprächen wie in der LWL-Klinik Münster über die konkrete Beratung und Begleitung von Projekten aus Anlass des 200-jährigen Jubiläums in der LWL-Klinik Marsberg und des 150-jährigen Jubiläums in der LWL-Klinik Lengerich bis zur konzeptionellen und inhaltlichen Mitwirkung wie bei der Umgestaltung des unter Denkmalschutz stehenden Anstaltsfriedhofs auf dem Gelände der LWL-Klinik Gütersloh zu einer öffentlichen Gedenkstätte. Dieses Vorhaben ist inzwischen in Kooperation mit dem Stadtmuseum Gütersloh um die Planung für die Errichtung einer Erinnerungsstätte, einer Ausstellung und einer Dokumentationsstätte mit vertiefenden Informationsmöglichkeiten erweitert worden. Hintergrund dieses gemeinsamen Projektes zwischen der LWL-Klinik und der Stadt Gütersloh ist eine breite Diskussion in der Gütersloher Bürgerschaft über die Umbenennung der Hermann-Simon-Straße. Hierzu organisierte die Stadt im März 2012 auch ein Forum „Straßenbenennungen“, auf dem Bernd Walter auch über den Psychiater Hermann Simon (1867-1947) vortrug. Auf Landesebene nahm Bernd Walter zusammen mit Dr. Julia Paulus an einem Fachgespräch über „Fachliche Fragen und konzeptionelle Anregungen für ein Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalen“ teil, zu dem der Präsident des Landtags NordrheinWestfalen Eckhard Uhlenberg am 19. Januar 2012 in die Villa Horion eingeladen hatte. Bernd Walter verfasste außerdem einen Beitrag zur „Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung aus regionaler Perspektive. Bilanz und neue Herausforderungen“ für den Sammelband „Räume – Grenzen – Identitäten. Westfalen als Gegenstand landes- und regionalgeschichtlicher Forschung“ und einen Nachruf auf den ehemaligen Institutsdirektors Alfred Hartlieb von Wallthor (1921-2011) für die Westfälischen Forschungen 2012. Im Referat „Neuere und Neueste Geschichte“ organisierte Prof. Dr. Franz-Werner Kersting zusammen mit Prof. Dr. Clemens Zimmermann (Saarbrücken) eine Tagung unter dem Titel „Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert“, die im Rahmen des gleichnamigen Projekts am 25./26. Oktober 2012 auf Gut Havichhorst in MünsterHandorf stattfand. Franz-Werner Kersting übernahm die Einführung und einen Vortrag über „Geschichte der Stadt-Land-Forschung. Facetten einer Historisierung dualer Lebensformen und Leitbilder am Beispiel der 1950er Jahre“. Im Anschluss daran bereitete er zusammen mit Clemens Zimmermann die Drucklegung und Herausgabe der Tagungsbeiträge in der Institutsreihe „Forschungen zur Regionalgeschichte“ vor. In seinem zweiten Arbeitsschwerpunkt „Psychiatrie“ beteiligte sich Franz-Werner Kersting an Überlegungen, wie die Kooperation der interdisziplinären Arbeitsgruppe „Transkulturelle Psychiatrie“ an der Universität Münster trotz Ablehnung ihres „Vorantrages“ durch die DFG-Gutachter fortgesetzt und wie zumindest eines der vom LWL-Institut eingebrachten Themen („Die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des psychiatrischen Reformkonzepts der ,Aktiveren Krankenbehandlung‘ nach Hermann Simon 1920-1970“ und „Die ,Anti-Psychiatrie‘ als transkulturelles Phänomen der 1960er und 70er Jahre“) weiter verfolgt werden könne.

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Darüber hinaus war Franz-Werner Kersting als Mitglied des Beirats des „Kulturvereins Haus im Park e. V.“ des Klinikums Bremen-Ost an der Vorbereitung und Begleitung der folgenden Veranstaltungen bzw. Projekte beteiligt: „iCodes. Jugendszenen in Bremen“, „Das Geheimnis des gelingenden Lebens. Eine Vortragsreihe zum Thema seelische Gesundheit“ und „Patienten-Uni“. Er moderierte auch den dortigen, von ihm mit vorbereiteten Vortragsabend „Kulturen des Wahnsinns. Psychiatrie der Stadt um 1900. Historische und aktuelle Perspektiven“. Zudem wirkte er als Co-Moderator an der von der Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde veranstalteten Tagung „Der ,therapeutische Aufbruch‘ der Psychiatrie in der Zeit zwischen den Weltkriegen. Deutschland im internationalen Vergleich“ vom 7. bis 9. Juni 2012 an der RWTH Aachen mit. Seine Vortragstätigkeit konzentrierte sich auf die Themen „Die Anstaltspsychiatrie der 1950/60er Jahre im Spiegel von Filmdokumenten aus Westfalen“ im Geschichtsort Villa ten Hompel in Münster und „NS-Krankenmord, ,Nachkrieg‘ und Reformaufbruch. Die westdeutsche Anstaltspsychiatrie 1940-1970 (mit unbekanntem Filmdokument)“ im Rahmen einer Veranstaltung des „Aktiven Museums Südwestfalen“ in Siegen. Schließlich publizierte er einen Aufsatz zur Rolle der NS-„Euthanasie“ in der bundesdeutschen Erinnerungskultur.1 Im Referat „Wirtschafts- und Sozialgeschichte“ veröffentlichte PD Dr. Michael Prinz in den „Forschungen zur Regionalgeschichte“ den Band 69 „Der Sozialstaat hinter dem Haus. Wirtschaftliche Zukunftserwartungen, Selbstversorgung und regionale Vorbilder: Westfalen und Südwestdeutschland 1920-1960“. Die Ergebnisse trug er vor dem Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, Abt. Münster, und im Bielefelder Kolloquium für Wirtschaftsgeschichte vor. Im Rahmen der Institutstagung über „StadtLand-Beziehungen“ übernahm er die Leitung der Abschlusssektion. Für das Institutsprojekt „Das moderne Westfalen 1815-2015“ bereitete er zudem zwei Beiträge vor: „Geschichte der Konsumgesellschaft in Westfalen“ und „Produktivitätsentwicklung in Westfalen“. Schließlich nahm er die Vorbereitung einer Tagung zur Konsumgeschichte 1850-2000 in Angriff, die am 29./30. November 2013 in Münster stattfinden soll. Im „Referat zur Erforschung der Arbeitergeschichte“ arbeitete Dr. Matthias Frese an der Fertigstellung seines Projekts „Arbeitsbeziehungen im öffentlichen Dienst am Beispiel kommunaler Betriebe und Verwaltungen 1920-1970“. Ferner stellte er einen Beitrag für Band 72 der „Forschungen zur Regionalgeschichte“ fertig,2 arbeitete einen Vortrag über „Erlebnis und Erholung. Stadt und Land im Fokus der Tourismuswerbung 1950 bis 2000“ für die Tagung über Stadt-Land- Beziehungen von Franz-Werner Kersting/Clemens Zimmermann aus und konzipierte einen Beitrag über „Interessenorganisationen“ für das Institutsprojekt „Das moderne Westfalen 1815-2015“. Anfang 2012 erschien der von ihm herausgegebene Band über Straßennamen und ihre Umbenennun1

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Vgl. Franz-Werner Kersting, Die NS-„Euthanasie“ als Herausforderung einer Friedenskultur, in: Novemberreden. Gedenkveranstaltungen zum 9. November 1938 in Gladbeck 1988-2011, hg. von der Stadt Gladbeck, bearb. von Andrea Niewerth, Gladbeck 2012, S. 132-145. Vgl. Matthias Frese, Von der Besichtigung zum Event. Städtische Kultur und Tourismus am Beispiel der Stadt Münster 1950-2010, in: Karl Ditt/Cordula Obergassel (Hg.), Vom Bildungsideal zum Standortfaktor. Städtische Kultur und Kulturpolitik in der Bundesrepublik, Paderborn 2012, S. 265-318.

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gen im Ardey-Verlag in Münster.3 In seinem Gefolge gab es mehrere Stellungnahmen und Beratungen für Berichte in Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen zur Diskussion um Straßenumbenennungen. Dr. Karl Ditt gab zusammen mit Cordula Obergassel die Beiträge der Tagung „Vom bürgerlichen Erziehungsideal zum Standortfaktor in der Städtekonkurrenz“ als Band 72 der „Forschungen zur Regionalgeschichte“ heraus.4 Als neues Projekt nahm er das Thema „Die Kulturpolitik des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe 1945-1980“ in Angriff. Ferner bearbeitete er das Thema „Wirtschaft“ im Rahmen des Institutsprojekts „Das moderne Westfalen 1815-2015“. Im Referat „Frauen- und Geschlechtergeschichte“ bereitete Dr. Julia Paulus die Drucklegung des Manuskripts „,Berufene Arbeit‘ – Geschlechtsspezifische Segregationen im Berufs- und Ausbildungswesen 1930-1970“ und die Herausgabe der „Briefe und Tagebücher der DRK-Schwesternhelferin Annette Schücking (1941-1943)“ vor.5 Darüber hinaus sorgte sie für die Internetpräsentation der Ausstellung des LWL-Industriemuseums „Frauen im Aufbruch zu Amt und Würden“, die am 24. April 2012 freigeschaltet wurde (http://www.westfaelische-geschichte.de/web922/). Innerhalb des Internet-Portals „Westfälische Geschichte“ entwickelte sie die Abteilung „Historische Frauen- und Geschlechtergeschichte in Westfalen“ weiter. An der Institutstagung über Stadt-Land-Beziehungen beteiligte sie sich mit einem Vortrag über „,Eigensinn und Loyalität‘ – Protest- und Mobilisierungskulturen in ländlichen Gesellschaften am Beispiel der politischen Emanzipationsbewegung von Frauen (1970-1990)“. Für das Institutsprojekt „Das moderne Westfalen 1815-2015“ stellte sie einen Beitrag über „Bildungs- und Wissenschaftspolitik in Westfalen“ fertig und begann einen Beitrag über „Religiösität und Kirchen in Westfalen“. Zur Geschlechter- und Religionsthematik hielt sie zudem zwei Vorträge. Zusammen mit Eva-Maria Silies und Kerstin Wolff gab sie einen Band über „Zeitgeschichte als Geschlechtergeschichte. Neue Perspektiven in der Bundesrepublik (1945-1980)“ heraus, der im Campus Verlag in Frankfurt erschien.6 Schließlich arbeitete Julia Paulus in den Beiräten des Projekts „Haus der FrauenGeschichte“ in Bonn, im „ZeitenLauf. Werkstatt Frauen- und Geschlechtergeschichte Münster e. V.“ und des Bistums Münster zum Thema „Frauen- und Geschlechter3

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Matthias Frese (Hg.), Fragwürdige Ehrungen!? Straßennamen als Instrument von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur, Münster 2012. Vgl. Karl Ditt/Cordula Obergassel (Hg.), Vom Bildungsideal zum Standortfaktor. Städtische Kultur und Kulturpolitik in der Bundesrepublik, Paderborn 2012, darin auch dies., Einleitung, S. 3-21; ders., Die Kulturpolitik des Deutschen Städtetages 1947-2010, S. 335-369; ders., Was bedeutet die Ernennung zur Kulturhauptstadt für das Ruhrgebiet? Bericht über eine Podiumsdiskussion und ihren wissenschaftlich-politischen Hintergrund, S. 405-420. Vgl. ferner ders., Karl Wagenfeld (1869-1939): Dichter, Heimatfunktionär, Nationalsozialist?, in: Matthias Frese (Hg.), Fragwürdige Ehrungen!? Straßennamen als Instrument von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur, Münster 2012, S. 179-232. Über Wagenfeld als Träger eines Straßennamens hielt er Vorträge in Telgte, Borken, Steinfurt, Ochtrup und Bielefeld. Zu dieser Thematik hielt sie am 1. Juni 1912 auf einer Tagung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Potsdam einen Vortrag über „Frauen an der Ostfront: Edition einer Brief- und Tagebuchsammlung“. Darin erschien von den Herausgeberinnen: Die Bundesrepublik aus geschlechterhistorischer Perspektive, in: dies. (Hg.), Zeitgeschichte als Geschlechtergeschichte. Neue Perspektiven in der Bundesrepublik (1945-1980), Frankfurt a. M. 2012, S. 11-30, und von Julia Paulus, Berufene Arbeit? Zur Berufsausbildung junger Frauen in der Bundesrepublik, in: ebd., S. 118-142.

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geschichtliche Forschungsprojekte“ sowie im interdisziplinären Netzwerk für Geschlechterforschung „genderNet“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster mit. Dr. Thomas Küster betreute die einleitend genannten Bände der Schriftenreihen des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte und den von Matthias Frese herausgegebenen Band über die Straßennamenbenennungen, zudem als Mitherausgeber die „Westfälischen Forschungen“. Darüber hinaus stimmte er die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit mit den Verlagen ab. Ferner bereitete er die Herausgabe der Vorträge vor, die im Rahmen der von ihm 2011 in Münster abgehaltenen Tagung über „Medien des begrenzten Raumes. Regional- und landesgeschichtliche Zeitschriften im 19. und 20. Jahrhundert“ gehalten wurden; sie sollen 2013 in den „Forschungen zur Regionalgeschichte“ erscheinen. Im Rahmen seines Arbeitsgebietes „Regionale Identität“ hielt er zwei Vorträge über „Erinnerung oder Identität? Deutungen der Varusschlacht im Osnabrücker Land und in Westfalen-Lippe“ und „Warum Baden ,weiterlebt‘. Regionale Identität als Thema der Landesgeschichte“.7 Schließlich initiierte Thomas Küster anlässlich des bevorstehenden 200-jährigen Jubiläums der Gründung der preußischen Provinz Westfalen im Jahre 2015 einen Sammelband unter dem Titel „Das moderne Westfalen 1815-2015“. Daran beteiligen sich alle wissenschaftlichen MitarbeiterInnen sowie zahlreiche ehemalige Autoren der Zeitschrift und der Schriftenreihen des Instituts in Form kurzer, öffentlichkeitsorientierter Beiträge, um einen neuen zeitgemäßen Überblick über Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur Westfalens im 19. und 20. Jahrhundert zu geben. Küster selbst verfasste dafür im Berichtsjahr einen Beitrag über „Unternehmer und Manager in Westfalen“. Dr. Marcus Weidner hat das Internet-Portal „Westfälische Geschichte“ (http://www.westfaelische-geschichte.lwl.org) inhaltlich und konzeptionell weiter ausgebaut, mit anderen Anbietern vernetzt und bundesweit in mehreren Vorträgen vorgestellt. Mithilfe von Werkverträgen gewann er mehrere Praktikanten und Bearbeiter für die Erschließung neuer Themenfelder und Bearbeitung von Themen und setzte die gelieferten Beiträge digital um. Im Einzelnen begann er nach Umfragen bei allen Kommunalarchiven Westfalen-Lippe und weiteren Recherchen mit der Erstellung einer Datenbank zur Benennung von Straßen in Westfalen-Lippe im Dritten Reich und in der frühen Bundesrepublik. Ein Kurzbericht im vorliegenden Band der Westfälischen Forschungen informiert über dieses Online-Projekt. Ferner publizierte er zwei Beiträge über Straßenbenennungen in dem von Matthias Frese herausgegebenen Band und hielt zu dieser Thematik Vorträge in Coesfeld, Siegen, Olpe, Marburg und Stuttgart.8 7

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Vgl. Thomas Küster, Warum Baden „weiterlebt“. Regionale Identität als Thema der Landesgeschichte, in: Heinrich Hauß/Paul-Ludwig Weinacht (Hg.), Wegmarken badischer Geschichte. Vorträge anlässlich der Landesausstellung „Baden! 900 Jahre“ im Badischen Landesmuseum Karlsruhe (Badische Heimat 1/2013), Freiburg i.Br. 2013, S. 222-244. Vgl. Marcus Weidner, „Wir beantragen ... unverzüglich umzubenennen“. Die Straßenbenennungspraxis in Westfalen und Lippe im Nationalsozialismus, in: Matthias Frese (Hg.), Fragwürdige Ehrungen !? Straßennamen als Instrument von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur, Münster 2012, S. 41-98; ders., „Mördernamen sind keine Straßennamen“. Revision und Beharrung in der Straßenbenennungspraxis der Nachkriegszeit – Westfalen und Lippe 1945-1949, in: ebd., S. 99-120.

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Eine zweite größere Arbeit bestand in dem Spielfilmprojekt „Vergangenheit, wir kommen!“, das er anregte und koordinierte. Dieser in Kooperation mit dem Stadtarchiv Rheine und dem LWL-Medienzentrum produzierte Film führt Schülerinnen und Schüler in die Nutzung des Archivs ein und macht sie mit unterschiedlichen Quellen und Archivtypen sowie mit Recherche- und Dokumentationstechniken vertraut. Er wurde am 26. Juni 2012 in Rheine uraufgeführt, ist auf DVD lieferbar sowie im Internet auf einer von Marcus Weidner erstellten Website, die zusätzliche Materialien und Informationen bietet, online verfügbar (URL: http://www.der-archivfilm.lwl.org). Dazu publizierte Marcus Weidner zusammen mit Markus Köster und Claudia Landwehr ein Begleitheft: Vergangenheit, wir kommen! Spurensuche im Archiv, Münster 2012.9 Darüber hinaus setzte Marcus Weidner die Bearbeitung der „Digitalen Westfälischen Urkunden-Datenbank“ (http://www.dwud.lwl.org) weiter fort10 und ergänzte zusammen mit Julia Paulus das Schwerpunktprojekt „Frauen- und Geschlechtergeschichte“ durch das Einzelprojekt „Frauen im Aufbruch zu Amt und Würden“, dessen Ursprünge in einer Ausstellung des LWL-Instituts, des LWL-Industriemuseums Zeche Zollern und des LWL-Museumsamtes liegen. Daraus entstand eine Digitalversion von Ausstellungskatalog, Textband und DVD.11 Ferner digitalisierte Marcus Weidner die Ergebnisse eines Seminars, das im Rahmen des „Studiums im Alter“ an der Westfälischen Wilhelm-Universität Münster über „Aufwachsen in Westfalen. Kriegsjahre und Aufbruchsstimmung – die Nachkriegszeit in Deutschland 1945-1965“ abgehalten wurde, und übertrug sie in das Internet-Portal „Westfälische Geschichte“.12 Als Geschäftsführer der „AG Regionalportale Deutschlands“ konzipierte und organisierte er zusammen mit der Bayerischen Staatsbibliothek München die inzwischen 6. Tagung der „AG landesgeschichtliche und landeskundliche Internet-Portale in Deutschland“, die unter Mitarbeit des Landesarchivs Baden-Württemberg am 8.-10. Mai 2012 in Stuttgart stattfand.13 Am 27. November 2012 hielt Marcus Weidner zudem in der Bayerischen Staatsbibliothek München den Festvortrag über „10 Jahre Bayerische Landesbibliothek Online“ (BLO): „Die Welt im Kleinen – Regionalportale im digitalen Wandel“. Schließlich betrieb er zusammen mit dem studentischen Volontär Alexander Schmidt die E-Mailing-Liste „Westfälische Geschichte“. Sie zählte Ende 2012 1.462 Abonnenten (Zuwachs gegenüber 2011: 91 Personen) und verschickte 802 Nachrichten. An die Stelle von Alexander Schmidt, der zwischen 2003 und 2012 diese Liste mitbetreute, trat am 1. Januar 2013 der studentische Volontär Pascal Pawlitta. Die wissenschaftliche Volontärin Katharina Stütz setzte die Arbeit an ihrer Dissertation über das Thema „Stadt-Land-Wahrnehmung im Spiegel historischer Filme und Fotografien der 1930er bis 1980er Jahre. Deutschland und die Niederlande im Vergleich“ weiter fort. Sie rezipierte die Forschungsliteratur zur Visual History sowie zur 9 10

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Siehe auch: „Kamera läuft!“ – ein Archivfilm für Schülerinnen und Schüler, in: arbido 4 (2011), S. 9-11. Am 14.3.2012 hielt Marcus Weidner auf dem Westfälischen Archivtag in Gronau zudem einen Vortrag über diese Urkunden-Datenbank. Die „Digitale Westfälische Urkunden-Datenbank“ (DWUD) – auch ein Fundus für die Heimatkunde, in: Heimatpflege in Westfalen 26 (2013), H. 1, S. 15-16. Vgl. URL:http://www.westfaelische-geschichte.de/web922. Vgl. URL:http://www.westfaelische-geschichte.de/web898. Website und Tagungsdokumentation: http://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/ag/tagungen.html.

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Geschichte und Theorie von Fotographie und Film und wertete die historischen Filmbestände im LWL-Medienzentrum für Westfalen in Münster und Quellen im audiovisuellen Archiv Groningen aus. Ferner führte sie eine Umfrage unter den im Münsterland ansässigen Heimatvereinen und Archiven zu historischem Film- und Fotomaterial aus der Region durch. Im Rahmen ihres Projektes hielt sie auf der Institutstagung „Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert“, die sie mitorganisierte, einen Vortrag über „Die Kamera immer griffbereit. Stadt-Land-Wahrnehmung durch das Auge des Amateurs. Deutschland und die Niederlande im Vergleich (1930-1980)“ und führte am 31. Mai 2012 einen Workshop an der Universität Paderborn zum Thema „Visual History“ durch. Zudem bereitete sie einen weiteren Workshop über „Visual History – Ein Konzept ohne Methode? Probleme des Zugangs und der Nutzung audiovisueller Quellen in der Geschichtswissenschaft“ vor. Für das Institutsprojekt „Das moderne Westfalen 1815-2015“ arbeitete sie sich in das Thema „Medienlandschaft Westfalen“ ein. Schließlich entwickelte Katharina Stütz als Sprecherin der LWL-Volontärinnen und Volontäre zwei Initiativen: Sie übernahm die eigenverantwortliche Vorbereitung und Durchführung der Volontärstagung 2012 zum Thema „Digitalisierung von Kulturgut“, die am 11. Oktober 2012 in Detmold stattfand, und organisierte im April/Mai 2012 eine Evaluation des Rahmenausbildungsplanes sowie eine Vollversammlung der LWL-Volontärinnen und Volontäre. Mithilfe des Gesamtpersonalrates sowie nach einem Austausch mit dem Ersten Landesrat des LWL und Kämmerer Matthias Löb und dem Vorsitzenden der Landschaftsversammlung Dieter Gebhard konnte eine Statusverbesserung und eine Erhöhung der Vergütung für die Volontärinnen und Volontäre erreicht werden. In die Bibliothek des LWL-Instituts arbeitete der Bibliothekar Klaus Schultze im Berichtsjahr 321 Monographien und 225 Zeitschriftenbände ein. Darüber hinaus widmete er sich umfangreichen Nacharbeiten an der konvertierten Katalogdatenbank, um die EDV-gestützte Bibliotheksverwaltung auch für die Altbestände nutzen zu können. Aufgrund der Internetpräsenz des LWL-Bibliotheksportals haben sich die Besucherzahlen im Jahre 2012 mit einer Steigerung um etwa 20 Prozent sehr positiv entwickelt. Der durch das Haushaltskonsolidierungsprogramm des LWL angestoßene und in der Sitzung des Kulturausschusses am 21. September 2011 präzisierte Prüfauftrag, Möglichkeiten einer Optimierung der fachlichen Aufgabenwahrnehmung und der Erzielung von Ressourceneinsparungen zu prüfen, konnte im Berichtsjahr noch nicht abgeschlossen werden. Nach der institutsinternen Diskussion und Meinungsbildung über die Aktivitäten unter den Gesichtspunkten Dienstleistungsorientierung, Innovation, Vermittlung der Arbeitsergebnisse, Wirtschaftlichkeit und konkret zu ergreifender Maßnahmen wurde im April 2012 eine Entwurfsvorlage für den LWL-Kulturausschuss erstellt und der LWL-Kulturabteilung vorgelegt. Diese Vorlage beschreibt präzise, wofür das LWLInstitut für westfälische Regionalgeschichte steht: die Aufgaben, das Selbstverständnis und seine Legitimation, die Positionierung im LWL-Netzwerk Kultur, die Zielgruppen des Institutsangebotes und seine Funktion als Dienstleister des LWL. Dann werden Möglichkeiten benannt, wie das Institut versuchen könnte, trotz geringerer Ressourcen als Kompetenzzentrum und führendes Veranstaltungsforum für den wissenschaftlichen Diskurs über westfälische Geschichte, insbesondere auch gegenüber den Zielgruppen

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„historisch interessierte Öffentlichkeit, kommunale Verwaltungen und Multiplikator/innen auf dem Bildungssektor“ präsent zu bleiben. Die verwaltungsinterne Abstimmung über die Vorlage dauert an. Karl Ditt/Bernd Walter

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Historische Kommission für Westfalen Jahreshauptversammlung Die Jahreshauptversammlung der Historischen Kommission für Westfalen fand am 20. April 2012 im Forum „Alte Sparkasse“ in Dülmen statt. Die 46 erschienenen Mitglieder wurden durch den Dülmener Stadtarchivar Dr. Stefan Sudmann begrüßt, der die Versammlung und den sich anschließenden Tag der Westfälischen Geschichte in einen engen Zusammenhang mit dem 2011 begangenen 700-jährigen Jubiläum der Stadt Dülmen stellte. Die Mitgliederversammlung wählte zu ordentlichen Mitgliedern der Kommission Dr. Beate Sophie Fleck, Dr. Thomas Küster und Prof. Dr. Ulrich Meier. Die ordentliche Mitgliedschaft von Prof. Dr. Hans-Joachim Behr und Prof. Dr. Heinrich Rüthing wurde ihrem Wunsch entsprechend in eine korrespondierende umgewandelt. Bei den Vorstandwahlen wurden Prof. Dr. Wilfried Reininghaus und Prof. Dr. Werner Freitag als Erster und Zweiter Vorsitzender bestätigt. Ebenfalls wiedergewählt wurden die Vorstandsmitglieder Dr. Johannes Altenberend, Prof. Dr. Thomas Schilp und Prof. Dr. Bernd Walter. Neu hinzu gewählt wurde Dr. Mechthild Black-Veldtrup. Vorstand und Versammlung dankten Prof. Dr. Franz-Josef Jakobi, der nach langer Vorstandstätigkeit aus dem Vorstand der HiKo ausschied. Den drei Neuwahlen in Dülmen standen im Laufe des Berichtsjahres 2012 vier Todesfälle gegenüber: Die Kommission verlor die Mitglieder Prof. Dr. Karl-Ernst Jeismann, Prof. Dr. Jörg Engelbrecht, Prof. Dr. Karl Teppe und Prof. Dr. Peter Berghaus. Der Nachmittag stand unter dem Leitthema „Aktuelle Herausforderungen an die Landes- und Ortsgeschichte“. In einer Podiumsdiskussion beleuchteten die Referentinnen und Referenten Dr. Mechthild Black-Veldtrup (Landesarchiv NRW, Abt. Münster), Prof. Dr. Winfried Müller (TU Dresden), Hans-Josef Vogel (Bürgermeister der Stadt Arnsberg) und Prof. Dr. Barbara Welzel (TU Dortmund) verschiedene Aspekte aus der archivalischen Arbeit, der Geschichtspädagogik und der Kulturpolitik. Den Abendvortrag als Überleitung zum Tag der Westfälischen Geschichte hielt Dr. Karsten Igel zum Thema „In Dülmen und um Dülmen herum. Westfälische Kleinstädte im Mittelalter“. Es schloss sich der Empfang der Stadt Dülmen für die Tagungsteilnehmer an. Veranstaltungen Vom 2. bis zum 16. März 2012 konnten die sechs westfälischen Kommissionen für Landeskunde mit einer gemeinsamen Ausstellung im Landeshaus in Münster auf ihre Arbeit hinweisen und die Bedeutung der Kommissionen für die landeskundliche Forschung unterstreichen. Die Historische Kommission hat sich hieran engagiert beteiligt. Neben einem Imagefilm zur Ausstellung, der auch nach Ausstellungsende über die Internetpräsenz des LWL abrufbar ist, entstand eine Broschüre, die die Arbeit aller Kommissionen darstellt und die bei Veranstaltungen fortlaufend zu Werbe- und Informationszwecken

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genutzt werden kann. Auch diese Broschüre steht auf den Seiten des LWL und der Historischen Kommission zum Download bereit. Am 4. August 2012 wurde die Reihe „Neue Klosterwelten in Westfalen und Lippe“ mit dem inzwischen 13. Termin fortgesetzt. Im Rahmen der von der Forschungsstelle Bistumsgeschichte Paderborn, dem Westfälischen Heimatbund und der Historischen Kommission gemeinsam organisierten Vortragsveranstaltung konnten in Paderborn das Mutterhaus der Vinzentinerinnen und das Michaelskloster besucht werden. In den Vorträgen ging es um die pflegerische, soziale und pädagogische Arbeit der klösterlichen Frauengemeinschaften, die auf eine jahrhundertelange Tradition zurückblicken kann und bis heute ausgeübt wird. Ergänzt wurde das Programm durch Führungen durch die Einrichtungen, in denen das Leben im Kloster und die Gestaltung des Alltags der Klostergemeinschaft erfahrbar wurden. Die Ergebnisse der Tagung werden in den fünften Band des Westfälischen Klosterbuchs einfließen. Am 20. Oktober 2012 fand in Schmallenberg-Bad Fredeburg das siebte Werkstattgespräch „Bergbau im Sauerland“ statt. Thema der sehr gut besuchten Veranstaltung war diesmal der Schieferbergbau, der im Sauerland bis heute betrieben wird. Schiefer hat als Baustoff die Architektur der Region geprägt, wurde und wird aber auch europaweit exportiert. Die unterschiedlichen geologischen Eigenschaften einzelner Schiefervorkommen ergeben verschiedene Schieferarten für unterschiedliche Verwendungsmöglichkeiten, wie in den Vorträgen von Volker Wrede, Reinhard Köhne und Fred Kaspar, der den kurzfristig erkrankten Thomas Spohn vertrat, deutlich wurde. Über die wirtschaftliche Bedeutung des Schieferbergbaus informierten die Brüder Gerd und Rainer Mengelers mit ihrer Präsentation zur Geschichte der Schieferbau-AG zu Nuttlar und Michael Menn mit einem Vortrag zu den Schiefergruben Magog in Schmallenberg-Bad Fredeburg. Zwei alternative Exkursionen beschlossen die Veranstaltung: Zur Wahl stand ein Spaziergang durch die historische Altstadt von Schmallenberg oder eine Besichtigung der Übertageproduktion der Schiefergruben Magog, bei der auch eigene Versuche der Schieferbearbeitung möglich waren. Veröffentlichungen Im Jahr 2012 konnte die Historische Kommission fünf Publikationen vorstellen. Die beiden Tagungsbände zu den 2010 abgehaltenen Tagungen „Franz von Fürstenberg. Aufklärer und Reformer im Fürstbistum Münster“ sowie „Burgen in Westfalen. Wehranlagen, Herrschaftssitze, Wirtschaftskerne (12.–14. Jahrhundert)“ erschienen als Bände 3 und 4 der Neuen Folge der „Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen“ (zugleich Bände 11 und 12 der Reihe „Westfalen in der Vormoderne“). Mit „Das Münzwesen in der Reichsgrafschaft Rietberg“ (Band 6 der Neuen Folge) von Arnold Schwede wurden die Münzgeschichte eines weiteren westfälischen Territoriums der Frühen Neuzeit aufgearbeitet und eine numismatische Forschungslücke geschlossen. Die umfangreiche Bebilderung des Bandes wahrt dabei den Standard der Vorgängerpublikationen zum Münzwesen im Stift Corvey und im Hochstift Paderborn. Die Präsentation des Bandes an den Standorten Rietberg und Verl wurde von den loka-

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len Medien und der Öffentlichkeit interessiert aufgenommen und sehr positiv gewürdigt. Ebenfalls im Berichtszeitraum erschienen ist der Sammelband „Europäische Stadtgeschichte. Ausgewählte Beiträge von Peter Johanek“ (Band 8 der Neuen Folge), der in Zusammenarbeit mit dem Institut für vergleichende Städtegeschichte entstanden ist. Er bündelt zahlreiche, in großen zeitlichen Abständen oder bisher nur im Ausland erschienene Beiträge des Autors und macht sie in dieser Form erstmalig einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Auch dieser Band trägt zwei Reihenvermerke (zugleich: „Städteforschung“, Veröffentlichungen des Instituts für vergleichende Städtegeschichte, Reihe A, Band 86). Die von Manfred Wolf bearbeitete Edition „Die Visitationen im Herzogtum Westfalen in der Frühen Neuzeit“ (Band 5 der Neuen Folge, zugleich: Veröffentlichungen zur Geschichte der mitteldeutschen Kirchenprovinz, Band 22) komplettiert die Riege der Neuerscheinungen 2012. Sie macht die Quellengattung der Visitationsprotokolle für das Herzogtum Westfalen zugänglich und erschließt darüber eine Vielzahl von Erkenntnissen sowohl über die Alltags- und Sozialgeschichte als auch kirchen- und verwaltungsgeschichtliche Fragestellungen. Alle seit 1998 durch die Kommission veröffentlichten Publikationen sind auf der Homepage der Kommission (www.historische-kommission.lwl.org) mit bibliographischen Angaben, einer kurzen Inhaltsangabe und Rezensionsnachweisen aufgeführt. Dort finden sich auch die von der Kommission elektronisch zur Verfügung gestellten Veröffentlichungen. Die geplante neue Druckfassung des Schriftenverzeichnisses wurde nicht realisiert, seit Februar 2013 steht statt dessen ein umfassendes Gesamtverzeichnis aller Veröffentlichungen als PDF-Datei zum Download bereit. Projekt „Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe“ Die Arbeiten am Regionalband „Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Detmold“ sind im Berichtsjahr weit fortgeschritten, die Daten konnten im November 2012 dem Verlag übergeben werden. Zwischenzeitlich ist der Satz erfolgt, der Band wird im September 2013 erscheinen und im LWL-Freilichtmuseum Detmold der Öffentlichkeit vorgestellt. Auch die Beiträge des Grundlagenbandes konnten im Berichtsjahr zu einem Abschluss gebracht werden, dieser Band wurde im Frühjahr 2013 in den Satz gegeben. Die Artikel des abschließenden Regionalbandes „Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Arnsberg“ wurden weiter bearbeitet. Die Arbeiten am Regionalband Arnsberg sind so weit fortgeschritten, dass seine Ergebnisse in den vorab erscheinenden Grundlagenband einfließen konnten. Dieser Band wird damit wesentliche neue Forschungserkenntnisse bereitstellen, er wird in einer territorienübergreifenden Perspektive die Grundtendenzen und Parallelentwicklungen beschreiben können. Damit wird das Handbuch der jüdischen Gemeinschaften seinem Anspruch gerecht, nicht nur ortsbezogene Erkenntnisse gesammelt darzustellen,

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sondern auch in überörtlicher, landesgeschichtlicher Perspektive Forschungsarbeit zu leisten. Projekt „Westfälischer Städteatlas“ Die Vorarbeiten zur geplanten 12. Lieferung wurden im Berichtszeitraum weiter vorangetrieben. Die Drucklegung der für die Lieferung vorgesehenen vier oder fünf Stadtmappen wird jedoch voraussichtlich erst im Jahr 2013 erfolgen können. Geschäftsstelle Die Personalsituation der Geschäftsstelle unterlag im Berichtsjahr 2012 einigen Veränderungen. Im April trat mit Sebastian Watermeier ein neuer wissenschaftlicher Volontär seinen Dienst an. Mit dem Ablauf des Novembers trat die langjährige Geschäftsführerin Dr. Anna-Therese Grabkowsky, die Ende November mit einem großen Empfang im Erbdrostenhof würdig verabschiedet wurde, in den Ruhestand. Ihr Nachfolger ist Dr. Burkhard Beyer, der bereits Mitte November den Dienst antrat, so dass eine bruchlose Übergabe der Geschäftsführung gewährleistet war. Jennifer Storch, die seit mehreren Jahren für die HiKo tätige Verwaltungsangestellte, wechselte zum Jahresende innerhalb des LWL auf eine andere Stelle. Weiterhin arbeiten bei der HiKo als studentische Volontärin Eleonora Duplica, als Kartograph Thomas Kaling und weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf Honorarbasis. Burkhard Beyer/Sebastian Watermeier

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Altertumskommission für Westfalen Mitgliederversammlung und Jahrestagung in Münster Die jährliche Mitgliederversammlung der Altertumskommission für Westfalen fand am 11. und 12. Mai 2012 in der Erlöserkirche Münster statt. Nach den Tätigkeitsberichten besprachen die Mitglieder das kommende Arbeitsprogramm und wählten Dr. Josef Mühlenbrock, Dr. Martin Kroker und Prof. Dr. Michael M. Rind zu ordentlichen sowie Ruth Pingel und Prof. Dr. Heinz Günter Horn zu korrespondierenden Mitgliedern. An die Mitgliederversammlung schloss sich eine öffentliche Fachtagung mit Exkursion zum Thema „Landwehren“ an. Verschiedene Aspekte der gerade für Westfalen charakteristischen mittelalterlichen Wehranlagen wurden aus archäologischer und historischer Sicht dargestellt: – Dr. Cornelia Kneppe (Münster), Aufbau und Funktion von westfälischen Landwehren – Prof. Dr. Dr. h. c. Torsten Capelle (Altenberge), Landwehrbau – Dr. Eva Cichy (Rösrath), Wälle, Gräben, Türme – archäologische Untersuchungen an Landwehren – Dr. Michael Koch (Höxter), Zum Nutzen des ganzen Landes: Die Landwehr um Höxter – Prof. Dr. Heinrich Rüthing (Bielefeld), Das Leben auf einer Warte und in ihrem Umfeld – Studiendirektor Hans Ludwig Knau (Kierspe), Beobachtungen an der Siegener Landhecke – Reinhard Köhne (Meschede), Landwehren als Straßensperren im sauerländischen Mittelgebirge – Dr. Peter Ilisch (Münster), Landwehren im Bereich des Kreises Coesfeld – Prof. Dr. Manfred Balzer (Münster), Die Paderborner Stadtlandwehren – Dr. Cornelia Kneppe (Münster), Landwehrbau in Deutschland an ausgewählten Beispielen – Prof. Dr. Dr. h. c. Torsten Capelle (Altenberge), Zusammenfassung der Tagungsbeiträge – Dr. Aurelia Dickers (Münster), Landwehren um Münster (Einführung zu den Zielen der anschließenden Exkursion). Die schriftlichen Fassungen der Vorträge werden als Tagungsband in der Reihe „Veröffentlichungen der Altertumskommission“ publiziert, ergänzt durch Beiträge aus Niedersachsen, dem Rheinland und Hessen sowie zu weiteren Aspekten wie Forschungsgeschichte, namenkundliche Studien, Landwehren im Digitalen Geländemodell, Untersuchungen zur Nutzung des städtischen Umlandes und archäologische Beobachtungen zur Reaktivierung der Wehranlagen im Dreißigjährigen Krieg.

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Burgenforschung An der Falkenburg bei Detmold-Berlebeck, Kr. Lippe, wurden im Zuge der laufenden Grabungen der LWL-Archäologie für Westfalen Vermessungen der Schutthügel und Bastionen im Außenbereich vorgenommen (Maja Thede). Auf diese Weise werden die durch die Grabungs- und Aufräumarbeiten sichtbar gewordenen Strukturen sukkzessive in die bestehenden Pläne der Burganlage eingearbeitet. Bereits 2011 hatte die Altertumskommission die Vermessung der Wallanlage von Borchen-Gellinghausen, Kr. Paderborn, veranlasst. Der neue Plan ist nun zusammen mit aktuellen Forschungen zu dieser eisenzeitlichen und mittelalterlichen Befestigungsanlage als Heft 33 in der Reihe „Frühe Burgen in Westfalen“ erschienen (Alexandra Stiehl). Die zum Teil bereits durch agrarische Nutzung völlig zerstörten Befestigungsareale der Jansburg bei Coesfeld-Lette und die Oldenburg bei Laer, Kr. Steinfurt, wurden im Rahmen des Burgenforschungsprogramms erstmals systematisch mit Metallsonden prospektiert. Die Begehungen der Jansburg sind bereits im Frühjahr 2012 abgeschlossen worden. Ihre Ergebnisse und weitere Forschungen zu dieser Anlage hat Torsten Capelle in einem neuen Heft (Nr. 34) der Reihe „Frühe Burgen in Westfalen“ veröffentlicht. Die im September 2012 begonnenen Forschungen an der Oldenburg bei Laer werden auch 2013 noch andauern. Unter der Leitung von Gerard Jentgens unterstützen mehrere ehrenamtliche Sondengänger die Prospektionen. Im Oktober 2012 ergab sich die Gelegenheit, Luftbildaufnahmen von mehreren Burgen und weiteren Bodendenkmälern anzufertigen. Angeflogen wurden der Hünenknäppen bei Ahlen-Dolberg und der Mackenberg bei Oelde, beide Kr. Warendorf, im Warburger Raum (Kr. Höxter) die Ausgrabungsstätte eines linienbandkeramischen Gräberfeldes bei Hohenwepel, das neolithische Erdwerk und die weiteren Befestigungsanlagen auf der Rotenbreite bei Bühne, der Desenberg, die Holsterburg, Burg Assel und der Gaulskopf, sowie der Tafelberg Obermarsberg, wo sich die in den Sachsenkriegen Karls des Großen umkämpfte Eresburg befand. Die Aufnahmen sind für Publikationen vorgesehen, dienen aber zugleich der Dokumentation des aktuellen Zustands. Wegeforschung Im April 2012 informierte eine Veranstaltung in Bielefeld über den Stand der Arbeiten des Projektteams „Wege der Jakobspilger in Westfalen“ unter der Leitung von Ulrike Steinkrüger am dritten westfälischen, von Jakobspilgern im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit genutzten Weg von Minden über Herford, Bielefeld und Lippstadt nach Soest. Die wissenschaftlichen Untersuchungen zur historischen Strecke, die Ausarbeitung einer modernen Wanderstrecke und die Arbeiten am Manuskript für den zugehörigen Jakobswegeführer wurden im Herbst abgeschlossen. Außerdem wurde in Zusammenarbeit mit dem J.P. Bachem-Verlag (Köln) ein Konzept für eine web-Applikation zu den Jakobswegen erarbeitet und mit dessen Umsetzung begonnen.

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Frühgeschichtsforschung In Verbindung mit der LWL-Archäologie für Westfalen führte die Altertumskommission ein Projekt zur Untersuchung von frühmittelalterlichen zweischneidigen Schwertern von westfälischen Fundorten durch. Mittels computertomographischer Aufnahmen (CT) konnten Klingen, Griffpartien und Schwertscheiden von 29 Spathen in ihrer Struktur analysiert werden (Ulrich Lehmann). Die Auswertung, die im Rahmen einer Dissertation an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt wird, lässt neue Ergebnisse vor allem zu den differenzierten Schweißbundtechniken erwarten, die unter dem populären, technisch allerdings nicht ganz zutreffenden Begriff „Damaszierung“ bekannt sind. In einem Workshop (30. Oktober 2012) wurden die bisherigen Ergebnisse mit Fachkollegen aus den Bereichen Archäologie und Restaurierung diskutiert. Um die Untersuchungen auf eine breite Datenbasis zu stellen und überregionale Fragestellungen zu Herstellungsverfahren, Werkstätten, Distribution und damit verbundenen sozio-kulturellen Ausprägungen zu fokussieren, hat die Kommission Kooperationen mit Landesdenkmalämtern und Forschungsinstitutionen in Schleswig-Holstein, Niedersachsen, im Rheinland, in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Thüringen und Sachsen-Anhalt initiiert. Mit dem gleichen Verfahren, den CT-Untersuchungen, wurden vier einschneidige Saxe aus Gräbern des 8. Jahrhunderts von Porta Westfalica-Barkhausen analysiert. Bei einem Exemplar war schon im zweidimensionalen Röntgenbild eine gezahnte Schweißnaht in der Klinge erkannt worden. Weitere sechs Exemplare aus Westfalen weisen diese Besonderheit auf. Diese Saxe wurden ebenfalls mithilfe der Computertomographie durchleuchtet. Aufgrund der detaillierten Messungen können nun diese technischen Besonderheiten miteinander verglichen und eventuell einer oder mehreren Werkstätten zugewiesen werden. Ausstellung Gemeinsam mit den anderen fünf Kommissionen für Landesforschung präsentierte die Altertumskommission in einer Ausstellung im Landeshaus in Münster einige ihrer Forschungsschwerpunkte (1. bis 16. März 2012). Ergänzend zur Ausstellung sind ein informativer Film und eine Broschüre mit dem Titel „Wir für Westfalen“ über die Aufgaben und Forschungen der Kommissionen entstanden. Publikationen – Alexandra Stiehl, Die Hünenburg bei Gellinghausen, Gemeinde Borchen, Kr. Paderborn (Frühe Burgen in Westfalen 33), Münster 2012. Bereits in der Eisenzeit wurde die auf einem Bergsporn über dem Altenautal bei Gellinghausen gelegene Hünenburg befestigt. Bei Ausgrabungen im Bereich des Burgtors

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wurden sogar Hinweise auf ein Gefecht freigelegt, wie Brandspuren und Waffenfunde aus dem 3. Jahrhundert v.Chr. nahelegen. Die noch heute deutlich sichtbaren Wälle stammen allerdings aus der späteren Nutzungszeit des 9./10. bis 13. Jahrhunderts n.Chr. Die Autorin hat den Forschungsstand zusammengetragen und Überlegungen zur Funktion der Anlage ergänzt. Enthalten ist ferner ein aktueller Vermessungsplan aus dem Jahre 2011. – Torsten Capelle, Die Jansburg bei Coesfeld-Lette, Kr. Coesfeld. Mit Beiträgen von Julia Menne (Frühe Burgen in Westfalen 34), Münster 2012. Von der einstigen Jansburg ist heute nur noch ein knappes Viertel erhalten, dies zeigt eindrucksvoll der Vergleich zwischen Vermessungsplänen aus den Jahren 1919 und 1998. Die erheblichen Zerstörungen, vor allem seit den 1950er Jahren, sind wahrscheinlich auf den Mangel an Verständnis für Bodendenkmäler in Verbindung mit wirtschaftlichen Interessen zurückzuführen, vielleicht auch nur auf die Unkenntnis über die geschichtliche Bedeutung des Ortes. Torsten Capelle und Julia Menne haben die spärlichen archäologischen und historischen Quellen ausgewertet und vermuten eine Entstehung der Burg bereits im 9./10. Jahrhundert, möglicherweise als Kontrollanlage für das hier durch Moorgebiet führende Wegesystem. – LWL-Archäologie für Westfalen/Altertumskommission für Westfalen (Hg.), Archäologie in Westfalen-Lippe 2011, Langenweißbach 2012. Achtzig Archäologen und Paläontologen, Restauratoren und Naturwissenschaftler berichten über die neuesten Entdeckungen und Forschungen aus dem Jahr 2011. Das Themenspektrum des dritten Bandes der inzwischen renommierten Reihe reicht von der Paläontologie über die Stein- und Bronzezeit bis zu Mittelalter und Neuzeit. Ein Rückblick auf die archäologischen Ausstellungen der Museen in Herne, Haltern am See und Paderborn rundet die Publikation ab. Geschäftsstelle Zahlreiche Personen haben neben den hauptamtlichen Mitarbeiterinnen Dr. Vera Brieske (wissenschaftliche Referentin und Geschäftsführerin) und Ute Lassmann (Assistentin) im Rahmen von zeitlich befristeten Verträgen die Kommissionsarbeit getragen. Ulrike Steinkrüger M.A. ist als Projektleiterin nach wie vor für die Erforschung historischer, auch von Jakobspilgern genutzter Wege und deren Erschließung als moderne Pilgerwege zuständig. Ulrich Lehmann M.A. erstellte einen Flyer über Jakobusspuren in Münster. Das Projekt wurde weiterhin unterstützt von den studentischen Volontären Jan Dankerl und Malte Schmiedhäuser, der mit der Eingabe in die Datenbank für die web-Applikation befasst war. Dr. Heike Tausendfreund änderte im Rahmen eines Werkvertrags Texte aus den Jakobswegeführern in prägnante kurze Informationstexte für die mobile web-Applikation. Für die Publikation „Jakobswege 10. Von Minden

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über Bielefeld und Lippstadt nach Soest“ hat Dr. Alfred Pohlmann vorwiegend bauhistorische Texte verfasst. Das Aufgabenfeld der Redaktion lag in den Händen der wissenschaftlichen Volontärin Julia Menne M.A. Sie wurde im Bereich der Bildbearbeitung vom studentischen Volontär Stefan Hofer unterstützt. Als Lektorin für den in Arbeit befindlichen Tagungsband zum Thema „Landwehren“ wurde ab November 2012 Alexandra Stiehl befristet eingestellt. Ulrich Lehmann M.A. betreute das Projekt zur Untersuchung frühmittelalterlicher Schwerter. Die Organisation und Dokumentation der Burgenprospektionen lag in den Händen von Dr. Gerard Jentgens. Vermittelt durch die LWL-Archäologie für Westfalen waren an den Geländearbeiten mehrere ehrenamtliche Mitarbeiter beteiligt. Vera Brieske

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Volkskundliche Kommission für Westfalen Mitgliederversammlung Die Mitgliederversammlung der Volkskundlichen Kommission am 26. Oktober 2012 in Hagen erbrachte die Zuwahl von insgesamt sieben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Westfalen. Der Kreis der Mitglieder der Volkskundlichen Kommission hat sich damit auf insgesamt 68 Personen erweitert. In ihrem Bericht hob die Vorsitzende vor allem den erfolgreichen Abschluss des durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft drittmittelfinanzierten Projektes zur Digitalisierung des Archivs der Volkskundlichen Kommission hervor. Alle wichtigen Archivbereiche seien nun über digitale Medien für die Forschung zugänglich. Eine Metasuche ermöglicht es, Suchanfragen auf alle Archivbereiche auszudehnen. Das Angebot der Volkskundlichen Kommission ist auch über die Portale BAM und Europeana zu erreichen. Im Rahmen eines Tagungsbeitrags (Tagung Corpora Ethnographica online in Rostock) haben Christiane Cantauw und Jutta Nunes Matias die Fachöffentlichkeit über das Erreichte informiert. Gemeinsam mit den anderen Kommissionen für Landeskunde hat die Volkskundliche Kommission im Rahmen einer kleinen Ausstellung im Landeshaus die verschiedenen Facetten der landeskundlichen Arbeit in der Region dargestellt. Sowohl die Ausstellung als auch ein begleitender Film, ein Informationsflyer und eine mehrseitige Broschüre sind sehr positiv aufgenommen worden. Die Vorsitzende informierte die Anwesenden darüber, dass Frau Dr. Jutta Nunes Matias seit dem 1. Januar 2012 das Archiv für Volkskunde in Westfalen leitet. Dieses für die Volkskunde in Westfalen zentrale Archiv beherbergt die Bereiche Bild, Ton und Schrift. Mit der Digitalisierung seit den späten 1990er Jahren erfreut sich das Archiv eines zunehmenden Bekanntheitsgrades, dem durch die Anstellung einer hauptamtlichen Archivleitung (in Teilzeit) nunmehr Rechnung getragen wurde. Dem seitens des Vorstandes formulierten Wunsch, die Volkskundliche Kommission möge sich doch auch im Social-Media-Bereich engagieren, wurde mit Unterstützung einer Praktikantin Rechnung getragen. Die Volkskundliche Kommission ist nun auch bei facebook präsent, um Fragen der westfälischen Volkskunde auch an ein jüngeres Publikum heranzutragen. Jahrestagung Im Anschluss an die Mitgliederversammlung fand eine zweitägige Jahrestagung zum Thema „Handwerk im Museum. Präsentation – Forschung – Vermittlung“ statt. Gastgeber beider Veranstaltungen war das LWL-Freilichtmuseum Hagen, das den Versammelten in der neu errichteten Museumsgaststätte einen idealen Tagungsort zur Verfügung stellte.

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Thema der Tagung, war die Korrelation von Handwerksforschung und Museum und damit die Frage, wie Ergebnisse der Forschungsarbeit gewinnbringend in die museale Präsentation eingebracht werden können. Die zahlreichen Besucher der Veranstaltung dokumentierten ein breites Interesse an Fragen der Verknüpfung von Forschung, Präsentation und Vermittlung, für die sich das LWL-Freilichtmuseum Hagen mit seinem neuen Kompetenzzentrum Handwerk und Technik in besonderer Weise stark macht. Für den öffentlichen Abendvortrag konnte der Präsident des Deutschen Museumsbundes, Dr. Volker Rodekamp, gewonnen werden. Er referierte über das Thema „Handwerk und Museum − eine problematische Beziehung“. Publikationen In der Schriftenreihe „Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland“ (WaxmannVerlag) sind erschienen: – Kirsten Bernhardt, Armenhäuser. Die Stiftungen des münsterländischen Adels (16. -20. Jahrhundert), Münster 2012 (Bd. 119) – Eva Maria Lerche/Hildegard Stratmann (Hg.), Lebenszeichen. Privatbriefe unterbürgerlicher Schichten aus den Akten des Landarmenhauses Benninghausen (1844-1891), Münster 2012 (Bd. 120). In der Schriftenreihe „Rückblick. Autobiographische Materialien“ ist erschienen: – Hubert Markmann, Lebensraum Baustelle. Ein Schlosser berichtet vom Wirtschaftswunder, Münster 2012 (Bd. 8). Außerdem ist erschienen: – Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 57 (2012), hg. von Dagmar Hähnel und Ruth E. Mohrmann. Projekte Die Volkskundliche Kommission hat sich gemeinsam mit dem Museumsdorf Cloppenburg und dem Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie beim Bundesministerium für Bildung und Forschung in dem Programm „Die Sprache der Dinge“ um Drittmittel beworben. In dem beantragten Forschungsprojekt soll es um die „second-hand-Kultur“ gehen. Das Projekt „Gemeinschaftsgärten in Westfalen“ von Evelyn Hammes, die bis März 2013 ein Volontariat bei der Volkskundlichen Kommission absolviert, steht kurz vor dem Abschluss und scheint zu spannenden Ergebnissen zu führen. In 2014 wird voraussichtlich eine entsprechende Publikation vorgelegt werden können. Christiane Cantauw hat sich im Rahmen eines Dokumentations- und Forschungsprojektes mit dem Feuerräderlauf in Lügde beschäftigt. Ein Ergebnis konnte im April im Rahmen einer Tagung in München zum Thema „Bräuche : Medien : Transformationen. Zum Verhältnis von performativen Praktiken und medialen (Re-)Präsentationen“ vor-

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gestellt werden. Der Beitrag von Christiane Cantauw wird im gleichnamigen Tagungsband veröffentlicht, der für 2013 in Aussicht gestellt wurde. Dr. Peter Höher arbeitet weiterhin am Projekt: „Religion in Krisenzeiten“. Öffentlichkeitsarbeit und Serviceleistungen Christiane Cantauw hat sich als Expertin an einigen WDR-Produktionen zu den Themen Feste und Events in Westfalen sowie Advent und Weihnachten beteiligt. Die jeweils ca. sechzigminütigen Sendungen (Kombination von Experteninterviews und historischem Filmmaterial) ermöglichen ein tieferes Eindringen in die Thematik. Sie wurden zu prominenten Sendezeiten ausgestrahlt. Darüber hinaus verfassten die Mitarbeiter der Volkskundlichen Kommission zahlreiche Pressetexte zu verschiedenen Anlässen im Jahreslauf, die seitens der Printmedien gern aufgegriffen wurden. In Radio und Fernsehbeiträgen informierten die Mitarbeiter der Volkskundlichen Kommission über Themen aus dem Bereich der Volkskunde. Die Volkskundliche Kommission hat ihre Öffentlichkeitsarbeit auch auf die social media (Web 2.0) ausgedehnt. Durch die Präsenz bei facebook soll vor allem ein jüngeres Publikum angesprochen werden. Neueste Informationen werden darüber hinaus auch auf der Website der Volkskundlichen Kommission veröffentlicht. Großer Nachfrage erfreute sich in 2012 auch das Online-Archiv der Volkskundlichen Kommission. Zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, aber auch interessierte Laien nutzten die Möglichkeit der Online-Recherche nach volkskundlichem Quellenmaterial aus der Region. Veröffentlichungen der hauptamtlichen Mitarbeiter – Christiane Cantauw, Arbeit und Freizeit in Kleinstadt und Dorf zwischen 1890 und 1930, in: Zeitenwende. Aspekte der westfälischen Fotografie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, hg. von Volker Jakob und Stephan Sagurna, Bönen 2012, S. 17-27. – Christiane Cantauw/Jutta Nunes Matias, Die Digitalisierung von Archivbeständen der Volkskundlichen Kommission für Westfalen (Online-Veröffentlichung des Wossidlo-Archivs Rostock, erscheint 2013 als Print-Version). Vorträge – Christiane Cantauw, Der Feuerräderlauf in Lügde. Ein Brauch zwischen Medialisierung und Mythisierung (Tagung: Bräuche. Medien. Transformationen. Zum Verhältnis von performativen Praktiken und medialen (Re-)Präsentationen, München)

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– Christiane Cantauw, Die Geister, die wir riefen. Zauberlehrling Volkskunde (Tagung „Verflixt!“, Geister, Hexen und Dämonen, LWL-Freilichtmuseum Detmold) – Christiane Cantauw/Jutta Nunes Matias, Die Digitalisierung von Archivbeständen der Volkskundlichen Kommission für Westfalen (Tagung Corpora ethnographica online, Rostock) – Christiane Cantauw, Bräuche und Rituale um Tod und Sterben (Mühlenhof-Museum, Münster und Legden-Asbeck) – Christiane Cantauw, Von Stutenkerlen, Roratemessen, Adventshörnern und wilden Nikoläusen (Dülmen und Rotenuffeln) – Peter Höher, Wanderhändler und ihre Kunden. Innovative Strategien zur Erschließung neuer Absatzgebiete in einem alten Gewerbe (18./20. Jahrhundert) (Möhnesee-Delecke). Christiane Cantauw

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Wichtige Arbeitsschwerpunkte der landeskundlichen Forschungen und Arbeiten der Geographischen Kommission für Westfalen und ihrer Veröffentlichungstätigkeiten waren im Berichtsjahr 2012 die Weiterentwicklung von didaktisch aufbereiteten landeskundlichen Informationen sowie die digitalen Karten- und Themenangebote. Mitgliederversammlung Die Mitgliederversammlung war Teil der Jahrestagung 2012 der Geographischen Kommission für Westfalen, die unter dem Titel „Zukunftsfähige Regionalentwicklung in Südwestfalen zwischen wirtschaftlicher Prosperität, demographischen Herausforderungen und Klimawandel“ in Arnsberg stattfand. Auf der Vortragsveranstaltung am Nachmittag des 28. September 2012 im Kloster Wedinghausen wurden nach der Begrüßung und Einleitung durch den Vorsitzenden, Prof. Dr. Klaus Temlitz, und dem ausführlichen Grußwort des Bürgermeisters der Stadt Arnsberg, Hans-Josef Vogel, die nachfolgenden Themen referiert: – „Regionalentwicklung in Südwestfalen zwischen wirtschaftlicher Prosperität, demographischen Herausforderungen und Klimawandel – Bilanz und Ausblick“ von Dr. Christian Krajewski (Institut für Geographie, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster), – „Aktuelle Wirtschaftsstruktur in Südwestfalen“ von Thomas Frye (IHK Arnsberg Hellweg-Sauerland), – „Regionale 2013 in Südwestfalen: Antworten auf die Zukunftsherausforderungen der Region“ von Dirk Glaser (Südwestfalen Agentur) sowie – „Klimawandel und planerische Herausforderungen im ländlichen Raum – am Beispiel einer Mittelgebirgsregion“ von Prof. Dr. Tillmann Buttschardt (Institut für Landschaftsökologie, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster). Am Samstag, den 29. September 2012, wurde die Jahrestagung mit einer Busexkursion zu folgenden Standorten und Themen fortgesetzt: – „Umnutzungsprojekte im historischen Stadtkern und im Stadtumbaugebiet Bahnhofsumfeld in Arnsberg, Renaturierung der Ruhr“ mit Thomas Vielhaber (Fachdienst Planen-Bauen-Umwelt der Stadt Arnsberg) und Reinhard Köhne, – „Zukunftsfähiger Wohnstandort Winterberg: Zum Umgang mit demographischer Schrumpfung und Gebäudeleerstand, Beispiel Niedersfeld-Grönebach-Hildfeld“ mit Bürgermeister Werner Eickler, Ralf Lefarth (Fachbereich Bauen, Stadtentwicklung, Infrastruktur der Stadt Winterberg) und Dr. Christian Krajewski, – „Tourismus im Sauerland – Herausforderungen und Perspektiven“ mit Eckhard Henseling (Sauerland-Tourismus e. V.)

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– sowie einem Gang über den Kyrill-Lehrpfad in Schmallenberg-Schanze mit dem Ranger des Regionalforstamtes Oberes Sauerland aus Schmallenberg, Ralf Schmidt, zum Thema „Nachhaltige Waldbewirtschaftung – Lernen aus Kyrill!“. Veröffentlichungsprojekte Nachdem Anfang 2012 der zwölfte Band der Reihe „Städte und Gemeinden in Westfalen“ (Münster – Stadtentwicklung zwischen Tradition, Herausforderungen und Zukunftsperspektiven) in den Buchhandel kam, wurde das weitere Jahr für die Fertigstellung der Bände „Gelsenkirchen“ und „Kreis Minden-Lübbecke“ genutzt. Sie erscheinen nun im Jahr 2013. Anfang 2013 erschien auch die 16. Lieferung des Geographisch-landeskundlichen Atlas von Westfalen. Die Lieferung besteht aus folgenden Blättern: – Doppelblatt 1 (Themenbereich II: Landesnatur): Flächen des Naturschutzes in Westfalen 2013 (von Karl-Heinz Otto und Thomas Schmitt). Das Doppelblatt thematisiert den Naturschutz in Westfalen und beschäftigt sich in der Hauptkarte mit den unter Naturschutz gestellten Flächen, zu denen neben Naturschutzgebieten, Natura-2000-Gebieten (= Vogelschutz- und FFH-Gebieten) auch die Naturwaldzellen gehören. Im zugehörigen Textheft werden zunächst die rechtlichen Grundlagen des Naturschutzes und der Landschaftspflege beschrieben und ausgewählte internationale (völkerrechtliche) Abkommen und Programme, geltende europäische Richtlinien und Verordnungen sowie relevante gesetzliche Regelungen auf Bundes- und Landesebene erläutert, um dann die unterschiedlichen Schutzgebietskategorien, vor allem für den Raum Westfalen, vorzustellen. Weitere Schwerpunktthemen sind das Biotopverbundsystem und der grenzüberschreitende Naturschutz, beispielhaft am deutschniederländischen Grenzbereich. – Doppelblatt 2 (Themenbereich III: Bevölkerung): Nachgewiesene Auswanderungen aus Westfalen 1700-1900 (von Erhard Treude). Mit dem Doppelblatt wird der Versuch unternommen, Auswanderungen, d. h. die dauerhaften Abwanderungen aus Westfalen ins europäische Ausland und nach Übersee zu erfassen und darzustellen; nicht als „Auswanderung“ betrachtet wird eine Übersiedlung in alle nach 1871 zum Deutschen Reich zusammengefassten Länder und die Beteiligung auch durchaus größerer Bevölkerungsgruppen an der „Binnenkolonisation“ in den preußischen Ostprovinzen. Zur Ermittlung der Auswanderer wurde eine möglichst umfassende Auswertung aller publizierten oder von Archivleitern und Heimat- bzw. Familienforschern zur Verfügung gestellten Auswanderer-Namenslisten nach der zahlenmäßigen Stärke, den Herkunfts- und den Zielgebieten vorgenommen. Für die Hauptkarte stehen Informationen für 219 der 231 Kommunen Westfalens zur Verfügung; lediglich für 12

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Kommunen liegen (noch) keine Zahlen vor. Während in einer Nebenkarte besonderes Augenmerk auf die Anzahl der Auswanderer nach Nordamerika gelegt wird, zeigt die weitere Nebenkarte Ansiedlungsorte der Sauer- und Siegerländer im Banat. – Doppelblatt 3 (Themenbereich III: Bevölkerung): Erwerbstätigkeit in Westfalen (von Peter Haumann). Die Hauptkarte zeigt die räumliche Verteilung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung und deren zeitliche Entwicklung von 2000 bis 2010 in Westfalen. Neben der absoluten Anzahl je Kommune wird dabei auch die Entwicklung der Beschäftigten in den Wirtschaftssektoren in den Fokus genommen. Die Ergebnisse zeigen unter anderem, dass ein Rückgang an Beschäftigten fast immer in einem engen Zusammenhang mit einem Verlust an Beschäftigten im sekundären Sektor und einer relativ geringen Zunahme im tertiären Sektor steht. Dies trifft vor allem für die Metropole Ruhr sowie Ostwestfalen-Lippe und das Sauerland zu. Flächenfarben geben die Arbeitsplatzversorgung innerhalb der Städte und Gemeinden an. Karte 2 zeigt zudem für 2010 die Anzahl der Arbeitslosen in den Kreisen und kreisfreien Städten. – Doppelblätter 4/5 (Themenbereich III: Bevölkerung): Berufspendler in Westfalen I und II (von Peter Haumann). In zwei Doppelblättern befasst sich der Autor mit Ein- und Auspendler(salden) 2010 für alle westfälischen Kommunen sowie mit Berufspendlerverflechtungen (Hauptkarte des ersten Doppelblattes). Für das Oberzentrum Bielefeld und das Mittelzentrum Marl werden die Einpendler innerhalb eines 60-km-Radius dargestellt. Ein Balkendiagramm zeigt eine Übersicht der Pendlersaldenentwicklung in Groß- und Mittelstädten von 2000 bis 2010. Insgesamt pendeln etwa 56 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Westfalen über ihre jeweilige Stadtgrenze hinaus. Die Hauptkarte des zweiten Doppelblattes stellt für 2010 stadt- bzw. gemeindebezogen die absoluten Pendlerzahlen sowie die sich daraus ergebenden Salden je 100 Einwohner dar. Auch hier werden die räumlichen Schwerpunkte der Beschäftigung und die unterschiedlichen räumlichen Verteilungsmuster deutlich. Siedlung und Landschaft in Westfalen, Band 38: – Am Puls der Zeit – 75 Jahre Geographische Kommission für Westfalen (hg. von Rudolf Grothues, Karl-Heinz Otto und Klaus Temlitz). Mit diesem Band legte die Kommission anlässlich ihrer 75-Jahr-Feier eine Schrift vor, deren Titel ein wesentliches Merkmal ihrer Forschungsaktivitäten widerspiegelt. Die Geographische Kommission für Westfalen versteht sich zugleich als Forschungs- und Dienstleistungseinrichtung, die in ihren Fragestellungen und Arbeiten ebenso das natürliche Raum-Potenzial wie auch die aktuelle gesellschaftliche Raum-Organisation und Raum-Nutzung berücksichtigt. Nach einem historischen Rückblick widmen sich die Autoren zunächst auch der Bedeutung von geographischer Landeskunde und Regionalforschung in der heutigen Zeit. Es folgen vier Arbeiten, die aufzeigen, in welchem Maße die Geographische Kommission für Westfalen sowohl theoretisches als auch praxisorientiertes geographisches Grundlagenwissen über ihren Untersuchungsraum in

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Bezug auf die vier Entwicklungsdimensionen von Nachhaltigkeit (Umwelt, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik) erarbeitet und publiziert sowie auf ihren Tagungen in wechselnden Teilregionen Westfalens kommuniziert hat. Den vier Beiträgen ist eine Einführung gewidmet, in der auf die Bedeutung eines entsprechenden Bildungskonzeptes als wichtige Voraussetzung für die Umsetzung und Realisierung nachhaltiger Entwicklung hingewiesen wird, um der Jugend wie auch den Erwachsenen nachhaltiges Denken und Handeln zu vermitteln. Abschließend erfolgt ein Überblick über die aktuellen Arbeiten der Geographischen Kommission. Siedlung und Landschaft in Westfalen, Band 39: – Alte Wege und neue Straßen in Ostlippe (von Willy Gerking). Der Autor hat in akribischen Archiv- und Forschungsarbeiten sowie Begehungen im heimischen Gelände versucht, das alte Wegenetz zwischen Steinheim, Blomberg und Höxter zu rekonstruieren. Gleichzeitig werden in seinen Beschreibungen auch die Erschwernisse des Reisens im 19. Jahrhundert deutlich, denn die reinen Naturwege waren je nach den klimatischen Bedingungen nur eingeschränkt oder gar nicht zu befahren. Um den Autor bei seinen historischen aber auch geographischen Beschreibungen optimal zu beraten und zu unterstützen, wurde der Band als Teil der Reihe „Siedlung und Landschaft in Westfalen“ gemeinsam von der Altertumskommission für Westfalen und der Geographischen Kommission für Westfalen herausgegeben. Das Projekt „Westfalen Regional“ entwickelte sich auch 2012 ausschließlich im Internet weiter. Nachdem in den Jahren zuvor in zwei Bänden mehr als 300 Beiträge in gedruckter Form veröffentlicht wurden, konzentrierte sich die Arbeit wieder auf den Online-Bereich. Dabei gelingt es immer wieder, neue, ehrenamtlich arbeitende Autoren zu gewinnen. Im Laufe des Berichtsjahres wurden immer wieder Gelegenheiten genutzt, die in einer Studie nachgewiesenen, qualitativen und quantitativen „Benachteiligungen“ des Landesteils Westfalen bei der Behandlung in NRW-Erdkundebüchern deutschlandweit publik zu machen. Dabei wurde aber nicht immer nur auf die Defizite verwiesen, sondern es wurden gerade auch die Publikationen der Geographischen Kommission für Westfalen, hier insbesondere „Westfalen Regional“, für die Verwendung im Unterricht vorgestellt. Im Laufe des Jahres 2013 konnte dazu sogar ein Termin im Bildungsministerium NRW genutzt werden. Digitale Umsetzung des Geographisch-landeskundlichen Atlas von Westfalen für die Anwendung im Erdkunde-/Geographieunterricht Seit 2011 arbeitet die Geographische Kommission mit dem Institut für Geoinformatik (IfGI) der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster an einem neuen Projekt mit der Zielsetzung, digitale und interaktive Westfalen-Karten mit geographischen Themen für den Erdkunde- bzw. Geographieunterricht in das Internet zu stellen. Finanziell unterstützt wurde und wird dieses Projekt von der Manfred-Engel-Stiftung aus Bielefeld. Den Schulen soll dadurch eine digitale „Mediensammlung“ zur Verfügung gestellt wer-

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den, die mithilfe sogenannter „Active-“ oder „Smart“-Boards – computergestützter interaktiver Medientafeln, die in den Schulen immer häufiger eingesetzt werden – in den Unterricht integriert werden kann. Im Jahre 2012 wurde die Software weiter entwickelt und vor allem durch Pre-Tests in Schulen anwenderfreundlich optimiert. Kooperationen Die Geographische Kommission für Westfalen hat sich sowohl textlich als auch kartographisch an dem Band 10 der „Wege der Jakobspilger in Westfalen“ der Altertumskommission für Westfalen beteiligt. Online-Aktivitäten Auch 2012 erhöhten sich die Zugriffszahlen der zwei Internetportale www.westfalen-regional.de und www.geographische-kommission.lwl.org auf über 200.000 Zugriffe. Besonders über die eigene Facebook-Seite werden immer wieder neue Interessierte auf das Angebot der Kommission hingewiesen. Auf den Internetseiten der Kommission werden immer mehr ältere und zumeist vergriffene Publikationen als PDF-Dokumente der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Dokumente bieten eine ausreichende Qualität für den privaten Ausdruck und haben eine Volltextsuche. Ebenso ausgebaut wurde das Angebot an Kartengrundlagen, die im Internet zum freien Download angeboten werden. Rudolf Grothues

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Kommission für Mundart- und Namenforschung Westfalens Jubiläum Die Kommission für Mundart- und Namenforschung Westfalens (kurz: KoMuNa) ist die zweitjüngste der westfälischen Kommissionen für Landeskunde des LWL. Ihre Gründung erfolgte im Jahr 1972 durch die Herauslösung der „Abteilung Mundart- und Namenforschung“ aus der Volkskundlichen Kommission für Westfalen, nachdem sich die beiden Abteilungen im Laufe der Zeit stark verselbstständigt hatten. Der Dokumentation und Erforschung der Sprache in Westfalen-Lippe wurde durch eine eigenständige Kommission mehr Gewicht verliehen. Schon die Gründung der Volkskundlichen Kommission im Jahr 1928 hatte das Ziel, einem Großprojekt der westfälischen Landesforschung, dem Westfälischen Wörterbuch, eine sichere Grundlage zu geben. Das Wörterbuch wurde 1972 das Hauptprojekt der neuen Mundartkommission. Anlässlich des runden Geburtstags wurde unter der Überschrift „40 Jahre Kommission für Mundart- und Namenforschung Westfalens“ am 11. Mai 2012 in Münster ein kleiner Festempfang veranstaltet. Die LWL-Kulturdezernentin Dr. Barbara RüschoffThale und Dr. Reinhard Goltz vom Institut für Niederdeutsche Sprache (Bremen) hielten Festreden. Im Anschluss fand das Kolloquium „Südwestfälisch im Fokus“ statt. Die Region südlich der Lippe hat in der Geschichte der KoMuNa einen besonderen Stellenwert: Die Pioniere der westfälischen Mundartforschung stammen fast allesamt von dort. Die Vorträge befassten sich sowohl mit der Geografie und Grammatik der südwestfälischen Mundarten als auch mit deren Verwendung in Alltag und Literatur. Es referierten Ludwig Brandes („Beobachtung und Erforschung der niederdeutschen Mundarten des südwestfälischen Raumes Breckerfeld – Hagen – Iserlohn“), Werner Beckmann („Syntaktische Besonderheiten im Südwestfälischen“), Karina Lammert („Sprachverwendung im südwestfälischen Raum. Eine qualitativ-empirische Studie“) und Peter Bürger („,Vigeleynenklank un Dunnerwiär‘. Das Projekt einer sauerländischen Mundartliteraturgeschichte“). Ausstellung „Wir für Westfalen!“ Die sechs westfälischen Kommissionen für Landeskunde präsentierten vom 1. bis zum 16. März 2012 in der multimedialen Ausstellung „Wir für Westfalen!“ in der Bürgerhalle des Landeshauses in Münster ihre Projekte und ihre Themenvielfalt. Die KoMuNa stellte unter anderem das Westfälische Wörterbuch, eine ,Archivsäule‘ mit schriftlichen Mundart-Belegmaterialien, eine Hörstation mit plattdeutschen Tonaufnahmen, das Internetportal Familiennamengeografie, einige Sprichwortwürfel und den Westfälischen Flurnamenatlas vor. Für die Ausstellung wurde auch ein Imagefilm über die Arbeit der Kommissionen gedreht, der nun im Internet abrufbar ist. Außerdem wurde eine Broschüre erstellt, die über die Kommissionen informiert.

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Kolloquium „Bäuerliche Familiennamen in Westfalen“ Am 29. und 30. November 2012 fand in Münster das namenkundliche Kolloquium „Bei uns zu Lande auf dem Lande. Bäuerliche Familiennamen in Westfalen“ statt. In sieben Vorträgen wurde die westfälische bäuerliche Familiennamenlandschaft aus linguistischer, historischer, pragmatischer und standesamtlicher Perspektive beleuchtet. Es trugen vor Konrad Kunze und Kathrin Dräger („Westfalen im Deutschen Familiennamenatlas“), Monika Hochwald („Westfälische Familiennamen in der standesamtlichen Praxis“), Georg Cornelissen („,mit doep- unnd toname‘? Personennamen als Teil einer Sprachgeschichte des Dorfes – mit Beispielen vom Niederrhein“), Roland Linde („Tradierung, Differenzierung und Brüche: Ländliche Familiennamen in der frühneuzeitlichen Grafschaft Lippe“), Kirstin Casemir („Westfälische Ortsnamen und ihr Niederschlag in der (lokalen) Familiennamengebung“), Helmut Spiekermann („Westfälische Familiennamen im Emsland“) und Norbert Nagel („Die ,armen Kinder Gottes‘? – Zum Namen des Leprosoriums Kinderhaus bei Münster“). Die Vorträge werden demnächst in einem Sammelband veröffentlicht. Auf Einladung der KoMuNa hielt außerdem Christoph Purschke vom Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas (Marburg) am 12. Februar 2012 in der Villa ten Hompel (Münster) den Vortrag „Das Lautdenkmal reichsdeutscher Mundarten. Ansätze zur (Be-)Hebung eines dialektologischen (Problem-)Schatzes“. Veröffentlichungen Die noch fehlenden Teile des ersten Bandes des „Westfälischen Wörterbuchs“ werden ehrenamtlich von Kommissionsmitglied Hermann Niebaum bearbeitet. Im Oktober 2012 ist nun die 160 Spalten umfassende 10. Lieferung erschienen. – Robert Damme arbeitet derweil am dritten Band des Wörterbuchs. Band 52 (2012) der Zeitschrift „Niederdeutsches Wort“ enthält folgende Beiträge: „Zwischen Forschung und Vermittlung – 40 Jahre Kommission für Mundart- und Namenforschung Westfalens“ von Reinhard Goltz, „Syntaktischer Ausbau im Mittelniederdeutschen. Theoretisch-methodische Überlegungen und kursorische Analysen“ von Doris Tophinke, „Zur Verbstellungsvariation im Mittelniederdeutschen. Ein Projektbericht“ von Stefan Mähl, „Syntaktische Untersuchungen mit dem ,Atlas spätmittelalterlicher Schreibsprachen des niederdeutschen Altlandes und angrenzender Gebiete‘ (ASnA)“ von Christian Fischer und Robert Peters, „,Wenn jüm von Diekbou hört und leest ...‘. Itzehoe im ,Lautdenkmal reichsdeutscher Mundarten‘ zur Zeit Adolf Hitlers“ von Christoph Purschke und „Eine wiederaufgefundene geistliche Sammelhandschrift aus dem Süsternhaus Schüttorf“ von Friedel Helga Roolfs. In der Buchreihe „Westfälische Beiträge zur niederdeutschen Philologie“ ist im Januar 2012 der Band „Dialektgrenzen im Kopf. Der westfälische Sprachraum aus volkslinguistischer Perspektive“ von Daniela Twilfer erschienen. Es handelt sich dabei um die Magisterarbeit der Autorin, für die sie Fragebögen aus etwa 2.000 Orten des westfälischen Sprachraums ausgewertet hat. In der Untersuchung geht es darum, was

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die Plattdeutsch-Sprecher in Westfalen-Lippe über ihre Sprache wissen und wie sie ihren Sprachraum wahrnehmen. Eine große Karte mit über 3.500 Pfeilen zeigt, wo die Mundartsprecher Ähnlichkeiten zwischen den Ortsmundarten wahrnehmen und wo nicht. Diese Karte ist auch online auf der Webseite der KoMuNa abrufbar. Ebenfalls online verfügbar ist nun eine alte Mundart-Grammatik aus dem Jahr 1884, die Arbeit „Entwurf einer Laut- und Flexionslehre der münsterischen Mundart in ihrem gegenwärtigen Zustande“ von Julius Kaumann. Zum einen wird ein Scan der bereits veröffentlichten Lautlehre angeboten, zum anderen die bislang unbekannte Flexionslehre, die aus dem handschriftlichen Nachlass Kaumanns herausgegeben und mit einer Einleitung versehen wurde. – Seit August 2012 sind alle von der KoMuNa herausgegebenen und mittlerweile vergriffenen Publikationen auf der Webseite als PDFs abrufbar. Westfälischer Flurnamenatlas Anfang Dezember 2012 ist die fünfte und letzte Lieferung des Westfälischen Flurnamenatlasses erschienen. Damit liegt der Flurnamenatlas mit 788 Seiten, 414 Karten und 173 Kommentaren nun vollständig vor. Der Westfälische Flurnamenatlas ist ein innovatives Forschungsinstrument, das Wissenschaftlern verschiedenster Disziplinen als wahre Fundgrube für ihre landeskundlichen Forschungen dient. In den ausführlichen Kommentaren zu den Karten wird erklärt, welchen Ursprung und welche Bedeutung die einzelnen Namen haben. Die fünfte Lieferung des Flurnamenatlasses behandelt beispielsweise das Thema „Orientierung im Raum“: Wo wird die Landschaft mit einem vorder-hinter-System gegliedert, wo mit unter-ober-Flurnamen, wo sind dagegen die Himmelsrichtungen verwendet worden? Der ehemalige Waldreichtum Westfalens wird in der Behandlung der vielfältigen Flurnamen aus dem Themenfeld „Wald, Gesträuch, Bäume“ deutlich: Häufig auftretende Wörter sind hier Loh, Wald, Hagen, Horst, Telge, Heister, Hucht und Lohde. Bei der Arbeit am Flurnamenatlas sind in erster Linie rund 180 Jahre alte Daten des Preußischen Grundsteuerkatasters zugrunde gelegt worden. Denn dieses Urkataster zeichnet noch ein Bild der westfälischen Landschaft mit ihren ursprünglichen Namen, danach haben landwirtschaftliche Veränderungen, die Industrialisierung und die Ausweitung der Städte große Teile der Landschaft und damit auch ihres Namenschatzes völlig verändert. Der erste Teil des „Westfälischen Flurnamenatlasses“ erschien im Jahr 2000. Der systematische Ausbau des Westfälischen Flurnamenarchivs und die Aufbereitung einer Flurnamendatenbank gehen allerdings schon auf das Ende der 1970er Jahre zurück. Dass der Atlas nun abgeschlossen vorliegt, ist dem Engagement des Bearbeiters Dr. Gunter Müller zu verdanken: Er hat auch nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst im November 2004 seine Arbeit am Atlas fortgeführt.

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Geschäftsstelle In der Dienststelle waren nach wie vor die wissenschaftlichen Referenten Dr. Robert Damme, Dr. Markus Denkler und Dr. Friedel Roolfs (50 Prozent), die wissenschaftliche Volontärin Maren Braun sowie die Verwaltungsangestellte Alexandra Strauß (75 Prozent) beschäftigt. Vanessa Kossowski, Kim Krall, Roswitha Meyer, Melanie Reinelt und Nicole Schlenke haben als studentische Volontärinnen die Projekte der Arbeitsstelle unterstützt; mit Hanne Grießmann, Sonja Hermes-Zafati und Linda Schwarzl sind Werkverträge abgeschlossen worden. Im November 2012 ist der bereits seit längerem ins Auge gefasste Umzug der Dienststelle der Kommission für Mundart- und Namenforschung in Angriff genommen worden. Die Dienststelle ist nun im Freiherr-vom-Stein-Haus am Schlossplatz 34 in Münster zu finden, einem Gebäude der Universität Münster. Die Bibliothek der KoMuNa ist dort in einem großen Bibliotheksraum im Keller untergebracht; durch die Nähe zu den Germanisten der Universität Münster ergeben sich für die Arbeit etliche Vorteile. Markus Denkler

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Es sei grundsätzlich auf die 2013 grundlegend überarbeitete Homepage der Kommission „www.literaturkommission.lwl.org“ verwiesen, die einen aktuellen Überblick über laufende und geplante Projekte sowie ein ausführliches Veranstaltungs- und Publikationsarchiv bietet. Die im Folgenden genannten Titel und Projekte werden dort eingehend vorgestellt. Im Berichtszeitraum (September 2012 bis September 2013) sind erschienen: Publikationen Schriftenreihe „Veröffentlichungen der Literaturkommission“ – Walter Gödden (Hg.), Westfälische Literatur im „Dritten Reich“. Die Zeitschrift „Heimat und Reich“ (2 Bde., Schriftenreihe Bd. 51) – Hartmut Steinecke (Hg.), Jenny Aloni-Heinrich Böll. Briefwechsel. Ein deutschisraelischer Dialog (Schriftenreihe Bd. 52) – Steffen Stadthaus/Martin Willems (Hg.), „Über Alles oder Nichts“. Annäherungen an das Werk von Wolfgang Welt (Schriftenreihe Bd. 53) – Walter Gödden/Peter Heßelmann/Frank Stückemann (Hg.), Johann Moritz Schwager. Sämtliche Romane und eine Reisebeschreibung (1804) in 2 Bänden (Schriftenreihe Bd. 54/1 und 54/2) – dies. (Hg.), „Er war ein Licht in Westphalen“. Johann Moritz Schwager (1738-1804) – Ein westfälischer Aufklärer (Schriftenreihe Bd. 55). In Vorbereitung befinden sich: – Arnold Maxwill (Hg.), Der Erste Weltkrieg und die Literatur, 2 Bde. Lyrik/Prosa (Frühjahr 2014) – Jochen Grywatsch (Hg.), Dokumentation zum Westfälischen Literaturpreis/Annette von Droste-Hülshoff-Preis 1953-2013. In Verbindung mit der LWL-Literaturkommission sind erschienen (Kooperation mit der Nyland-Stiftung) – Ludwig Homann, Jung Siegfried (Roman) – Birgitta Arens, Katzengold (Romanreprint) – Werner Warsinsky, Kimmerische Fahrt (Romanreprint).

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Periodikum In Vorbereitung befindet sich Bd. 13 des Periodikums „Literatur in Westfalen. Beiträge zur Forschung“ (hg. von Walter Gödden und Arnold Maxwill) mit einem Themenschwerpunkt über den 2012 verstorbenen Autor Arnold Leifert. Ausstellungen Es fanden folgende Ausstellungen statt (Museum für Westfälische Literatur auf dem Kulturgut Haus Nottbeck) – „Dat is en rieken Summer west ...“. Ausstellung zum 150. Geburtstag von Augustin Wibbelt (16. September 2012 bis 11. November 2012) (Projekt der AugustinWibbelt-Gesellschaft in Kooperation mit dem Museum für Westfälische Literatur und der LWL-Literaturkommission für Westfalen) – Ernst Meister. Der Lyriker als Maler (22. November 2012 bis 3. März 2013) (Kooperationsprojekt mit dem LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster) – Horst Dieter Gölzenleuchter: Wort und Bild. Grafik und Buchkunst (15. März bis 20. Mai 2013) – Märchenhaft – die Märchen der Brüder Grimm (und ihre westfälischen Beiträger) (24. Mai bis 25. August 2013) – Verkan(n)t und verschwägert: Johann Moritz Schwager (Wanderausstellung mit weiteren Stationen in Marienmünster, Jöllenbeck, Osnabrück und Münster) (ab September 2013). In Vorbereitung: – Werner Warsinsky, sein Roman „Kimmerische Fahrt“ und der Europäische Literaturpreis 1953 (ab November 2013) – SJ Schmidt/Andreas Grunert: Lebens Listen (ab Januar 2014) – 1914: Text und Krieg – Krieg und Text. Multimediale Inszenierungen (ab Februar 2014) – Ausstellung über Engelbert Kaempfer. Weitere Ausstellung (Wanderausstellung) – Süße Ruh’, süßer Taumel im Gras. Droste-Gedichte hören | sehen | begehen | erleben Die mobile Literaturausstellung macht in drei inszenierten Pavillons drei Droste-Gedichte („Der Knabe im Moor“, „Am Thurme“, „Im Grase“) auf neue Weise erleb- und erfahrbar.

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Ausstellungsstationen waren: Havixbeck, Burg Hülshoff (15. Juni bis 14. Juli); Marienmünster, Abtei Marienmünster (20. Juli bis 25. August); Münster, Haus Rüschhaus (31. August bis 29. September). Jeweils zur Eröffnung fanden Literaturfeste statt, bei denen das Werk der Annette von Droste-Hülshoff durch verschiedene künstlerische Zugänge und Begegnungen neu interpretiert wird (Vertonungen, Chanson, Jazz, PoetrySlam, Lesung, Rezitation). Zur Eröffnung am 15. Juni trat die Schauspielerin Martina Gedeck mit einer eigenen Droste-Lesung auf. Lesungen und literarische Konzerte (Kulturgut Haus Nottbeck/Museum für Westfälische Literatur) – – – – – – – – – – – – –

Autorenlesung mit Sabrina Janesch (15. November 2012) Literarisches Konzert mit Ingo Naujoks (23. November 2012) Literarisches Konzert mit der Gruppe „Pattu“ (1. Dezember 2012) Literarisches Konzert mit Wiglaf Droste, Uschi Brüning und Ernst-Ludwig Petrowsky (15. Dezember 2012) Autorenlesung mit Tilman Rammstedt (30. Januar 2013) Autorenlesung mit Burkhard Spinnen (15. Februar 2013) Johannes Steck liest David Mitchells „Die tausend Herbste des Jacob de Zoet“ (1. März 2013) (dem Roman liegen die Japan-Aufzeichnungen des Engelbert Kaempfer zugrunde) Literarisches Konzert mit Eva Kurowski (15. März 2013) „Dead or Alive Slam“ mit westfälischen Poetry-Slammern (13. April 2013) (Veranstaltung im Rahmen des Festivals „Literaturland Westfalen“ in Kooperation mit dem Westfälischen Landestheater Castrop-Rauxel) Autorenlesung mit Navid Kermani (26. April 2013) Laut und Luise. Wortfestival Nottbeck mit zahlreichen westfälischen Autorinnen und Autoren (28./29. Juni 2013) Lesung aus dem Werke von Johann Moritz Schwager mit Dominique Horwitz anlässlich der Schwager-Ausstellung (s. o.) (15. September 2013) Finissage des Festivals Literaturland Westfalen im Rahmen eines alternativen westfälischen „Heimat-Abends“ mit westfälischen Poetry-Slammern und Jacques Palminger (28. September 2013).

Weitere Lesung (Annette von Droste zu Hülshoff-Stiftung) – Autorenlesung mit Judith Kuckart (19. Juni 2013, Burg Hülshoff)

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Tonzeugnisse Es erschienen: – „Er war ja ein Gestirn, Meteor stieß er von sich!“. Eine Lesung aus Else LaskerSchülers „Peter Hille“-Buch mit Therese Berger und Peter Schütze (= Live! auf dem Kulturgut 13) – Walter Gödden/Steffen Stadthaus (Hg.), Michael Klaus – Black Box. Hörspiele, Tondokumente, Jazz & Lyrik (Kooperation mit der Filmstiftung NRW) (auf der MP3-DVD finden sich rund 20 Stunden Tonmaterial und 25 Hörspiele des Autors Michael Klaus). In Vorbereitung: – Akustische Literaturgeschichte Westfalens (3-Jahres-Projekt, Kooperation mit dem WDR). Bibliothek Westfalica Es erschienen (in Kooperation mit der Nyland-Stiftung) neue Online-Lesebücher zu: – Jenny Aloni (Bd. 35) – Michael Klaus (Bd. 36) – Max von der Grün (Bd. 37) – Hans Dieter Schwarze (Bd. 38) – Gerhard Mensching (Bd. 39) – Carl Arnold Kortum (Bd. 40) – Heinrich Kämpchen (Bd. 41) – Ferdinand Krüger (Bd. 42). Online-Medien Die Homepage der Kommission „www.literaturkommission.lwl.org“ wurde grundlegend überarbeitet und hat ein neues Erscheinungsbild bekommen. Die Zugriffszahlen auf die Webseiten und Internetportale der Literaturkommission sind kontinuierlich hoch. Alle Internetangebote, darunter das Internet-Magazin „www.hausblog-nottbeck.de“, wurden fortlaufend ergänzt und aktualisiert. Westfälisches Literaturarchiv Es wurden folgende neue Bestände (Vor- und Nachlässe) in das Archiv übernommen: – Arnold Leifert – Siegfried Kessemeier

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– Gerhard Mensching – Ursula Matenaer – Walter Blohm. In Vorbereitung findet sich die Übernahme von Beständen von: – Annette Gonserowski/Autorenkreis Mark-Ruhr – Heinrich Schürmann – Frank Göhre. Reihe „Aufgeblättert“ Seit 2012 erscheint die eigene Archiv-Publikationsreihe „Aufgeblättert. Entdeckungen im Westfälischen Literaturarchiv“ in Verbindung mit dem LWL-Archivamt für Westfalen. In Vorbereitung in dieser Reihe befinden sich: – Walter Gödden/Michael Kienecker/Christoph Knüppel, Beiträge zur Peter-HilleForschung (Bd. 2) (der Band dokumentiert die 2011/12 erworbenen Hille-Handschriften des Westfälischen Literaturarchivs). – Eleonore Sent, Dokumentation zum Bestand des Autors Erwin Sylvanus (Bd. 3). Findmedien Es entstanden Findbücher zu den Beständen von Jürgen P. Wallmann und Gottfried Hasenkamp. Abgeschlossen werden konnte das Projekt der Digitalisierung der Autografensammlung der Annette von Droste-Hülshoff. Die Erschließung des Nyland-Archivs wurde fortgesetzt. In diesem Zusammenhang wurde die Korrespondenz Josef Wincklers katalogisiert und teilweise digitalisiert. Droste-Forschung Es erschien als Kooperation mit der Annette von Droste-Gesellschaft und der Literaturkommission: – Cornelia Blasberg/Jochen Grywatsch (Hg.), ZwischenZeiten. Zur Poetik der Zeitlichkeit in der Literatur der Annette von Droste-Hülshoff und der BiedermeierEpoche, Hannover 2013 (Droste-Jahrbuch 9, 2011/12). Der Band dokumentiert die Tagung „Zeit-Szenen, Zeit-Krisen. Zur Literatur der Annette von Droste-Hülshoff und der Biedermeier-Epoche“, die 2011 von der Droste-Gesellschaft und der Literaturkommission durchgeführt wurde. Zu der bereits genannten mobilen Pavillonausstellung „Süße Ruh’, süßer Taumel im Gras. Droste-Gedichte sehen | lesen | erleben | begehen“ erschien ein illustrierter

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Begleitkatalog (Hg. Jochen Grywatsch). Außerdem wurde begleitend eine didaktische Beilage zur Vermittlung an Schulen erarbeitet (Dr. Ortrun Niethammer). Die zentrale Droste-Webpräsentation „www.droste-portal.lwl.org“ wurde ständig aktualisiert und ergänzt. Ein Schwerpunktfeld war dabei die bibliografische Berichterstattung. Burg Hülshoff Seit Gründung der „Annette von Droste zu Hülshoff-Stiftung“ im Herbst 2012 wird ein kulturelles Nutzungs- und Betriebskonzept für Burg Hülshoff erarbeitet. Die LWL-Literaturkommission ist in diesen komplexen Prozess maßgeblich eingebunden. Dabei wurde im Wintersemester 2012/13 ein Studierendenprojekt mit der Hochschule Konstanz (Fachbereich Architektur, Design) zur Neugestaltung der Burg Hülshoff inhaltlich begleitet. Es wurde zudem das Konzept für die Antragsstellung beim Strukturentwicklungsprogramm „Regionale 2016“ entwickelt. Zuwahlen Die Mitgliederversammlung beschloss bei ihrer Mitgliederversammlung am 14. November 2012 die Zuwahl von Dr. Bernd Füllner und Dr. Joachim Wittkowski. Walter Gödden

ZEITSCHRIFTENSCHAU

Ausgewählte Beiträge zur geschichtlichen Landeskunde Westfalens in Periodika des Jahres 2012 I. Westfalen A. Gesamtwestfalen Archäologie in Westfalen-Lippe 2011 (2012): M. Rind: In dubio pro reo? Das archäologische Jahr 2011 in Westfalen-Lippe. K.-P. Lanser: Säugetiere aus einer Verkarstung des devonischen Massenkalkes im Hönnetal bei Balve. M. Schlösser: Wadersloh – ein bedeutender Fundplatz der spätmittelpaläolithischen Keilmessergruppen. J. Holzkämper/A. Maier: Neue Erkenntnisse zur Besiedlung Westfalens am Ende des späten Jungpaläolithikums. M. Baales/M. Heinen : Frühe Hirschjäger am Hellweg bei Werl-Büderich. J. Orschiedt u. a.: Menschenreste und Besiedlungsspuren – Meso- und Neolithikum aus der Blätterhöhle. H.-O. Pollmann: Die befestigte linearbandkeramische Zentralsiedlung von Borgentreich-Großeneder. F. Kempken/K. Oehmen: Neue Hinweise zum Frühneolithikum – die linearbandkeramische Siedlung von Werl. M. Baales: Eine ungewöhnliche neolithische Steinaxtklinge aus der Hellwegzone bei Werl. J. Heinen u. a.: Lange gesucht und wieder gefunden – das Großsteingrab I von Beckum-Dalmer. S. Klingner: Die Toten in den Galeriegräbern von Erwitte-Schmerlecke – erste Erkenntnisse. E. Cichy/K. Schierhold: Von Kollektivzu Einzelbestattungen – die Kreisgräben von Erwitte-Schmerlecke. J. W. Glaw: Das mittelbronzezeitliche Halbstegbeil von Lintel-Schledebrück. H. Kröger: Eines der reichsten bronzezeitlichen Gräber Westfalens: das Brandgrab in Barkhausen. J. Gaffrey: Ein ungewöhnlicher Grabbefund in Westerkappeln. E. Cichy: Neues aus dem Höllenloch bei Brilon-Rösenbeck. J. Gaffrey: Neue 14C-Daten zu alten Funden aus Olfen. A. Stiehl: Die späteisenzeitliche Lanzenspitze aus Olfen-Kökelsum – ein Bauopfer? A.Stapel/B. Stapel: Wettringen-Bilk – ein früheisenzeitliches Gefäßdepot aus dem nördlichen Münsterland. K. Bulka: Eine eisenzeitliche Siedlung am „Wietheimer Weg“ in Geseke. J. Pape/A. Speckmann: Eisenzeitliche Stege in die Emscher – die Grabung Castrop-Rauxel-Ickern 2011. B. Tremmel: Olfen-Sülsen – ein neues Römerlager aus der Zeit der Drususfeldzüge. B. Tremmel: Prospektionen im augusteischen Marschlager Haltern-„In der Borg“ (Ostlager). S. Spiong: Archäologische Forschung in der Siedlung Aspethera in Paderborn. E. Cichy/M. Aeissen: Mit Blick auf die Seseke – Reste eines frühmittelalterlichen Gräberfeldes in Bergkamen. S. Spiong: Karolingische ■































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Funde aus zwei Wüstungen bei Bad Lippspringe. C. Grünewald: Serie und Einzelstück – spätkarolingische und ottonische Metallobjekte aus Westfalen. E. Cichy/E. Kolbe: Ein neuer Hinweis auf den mittelalterlichen Königshof in Lennestadt-Elspe. H.-W. Peine/E. Treude: Der Erzbischof im Brandschutt: Eine Schachfigur von der Falkenburg. B. Thier: Bischofsstäbe aus Münster? Ein ungewöhnlicher mittelalterlicher Geweih-Nodus. B. Song/G. Eggenstein: „Fuchsspitze“ und „Burgstätte“ in Datteln-Markfeld. S. Spiong: Eine Grundstücksentwicklung im 12. – 14. Jahrhundert im Paderborner Schildern. E. Cichy: Neufunde auf der Flur Borgstätte in Hamm-Heessen – ein Teil der Burg Nienbrügge? G. Jentgens/R. Machhaus: Wohlfeiler Tand? Ein mittelalterlicher Glasring aus Dortmund, Kuckelke 10. A. König: Gefäßkeramik des 14. Jahrhunderts aus Höxter. W. Essling-Wintzer/C. Kneppe: Ein Brand im ehemaligen Kloster Kentrop in Hamm als Glücksfall für die Archäologie. A. Bulla/F.-J. Dubbi: Die Hüffert – eine Siedlung vor den Toren der Stadt Warburg. A. Marschalkowski: Am Rande der Domburg – Ausgrabung am Geologisch-Paläontologischen Museum. U. Holtfester: Wasserbaukunst an der Werse – Ausgrabungen an der Havichhorster Mühle bei Handorf. W. Essling-Wintzer/C. Kneppe: Leben in der Stadt: Archäologie zwischen Ems- und Münsterstraße in Rheine. M. Baales u. a.: Wasserbauliche Zufallsfunde der frühen Neuzeit aus Geseke und Arnsberg. W. Best: Landsknechte in Porta Westfalica-Barkhausen. P. Ilisch: Ein Schatzfund des späten 17. Jahrhunderts aus Coesfeld-Lette. H.-W. Peine/ F.-J. Dubbi: Endlich gefunden: die Mikwe der jüdischen Gemeinde Warburg. M. Zeiler/T. Kapteiner: Feldbefestigungen des Zweiten Weltkriegs beim Hof Kapune in Arnsberg. J. Müller-Kissing: Der Splittergraben Uferstraße 4 in Höxter aus dem Zweiten Weltkrieg. M. Heinen: Ein langer Schnitt in die Vergangenheit – Ausgrabungen in Werl-Büderich. F. Kempken: Eine fast verpasste Chance – zur Verlegung einer Gasleitung zwischen Werl und Welver. L. Gomolakova u. a.: Menschliche Skelettreste aus der Weißen Kuhle bei Marsberg. F. Heinze: Erdwerk und Glockengussgrube – die Ausgrabungen an der Höggenstraße 28 in Soest. M. Straßburger: Montanarchäologie am und im Bastenberg bei Bestwig-Ramsbeck. J. Meurers-Balke u. a.: Das spätpaläolithische Fundgebiet Rietberg und die allerødzeitliche Landschaft. J. Meurers-Balke/T. Kasielke: Holozäner Landschaftswandel an der Emscher bei Castrop-Rauxel-Ickern. M. Bunzel-Drüke/L. Schöllmann: Ein Blick zurück – Neues von der Fischfauna der Emscher. B. Song: Luftbildarchäologie in Westfalen – methodische Erfahrung im Jahr 2011. W. Ebel-Zepezauer: Prospektionen und Siedlungsarchäologie in Westfalen 2011. I. Pfeffer: Digitale Geländemodelle – eine Methode zur Lokalisierung von archäologischen Fundstellen. R. Bergmann: Ergebnisse des Airborne Laserscanning am Nordrand der Warburger Börde. M. Zeiler/T. Stöllner: Eisenzeitliche Montanregion Siegerland: Forschungen und Präsentationen 2011. B. Tremmel u. a.: Die Amphoren aus den römischen Militäranlagen in Haltern. R. Bergmann/M. Thede: Ortswüstungen in den Hochlagen des Rothaargebirges. R. Bergmann: Hochmittelalterliche Rodungssiedlungen auf der Bulderner Kleiplatte des Westmünsterlandes. C. Kneppe: Auf beiden Seiten der Emscher – Adelssitze im Stadtgebiet von Gelsenkirchen. A. Weisgerber: Voxel versus STL – die Aussagekraft von 3-D-Scans archäologischer Objekte. E. Müsch: Die Rekonstruktion einer mittelbronzezeitlichen Schwertscheide aus Porta Westfalica. M. Kroker u. a.: Ausstellungen. ■















































































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Ausgewählte Beiträge zur geschichtlichen Landeskunde Westfalens in Periodika des Jahres 2012

Archivpflege in Westfalen und Lippe 2012 (76-77): [H. 76] R. Link: Lernort Archiv – Kompetenzorientierung und Historische Bildung im Archiv. C. Artmann: Arbeit von Jugendlichen in der Industrie um 1960 – eine Lernsequenz im Stadtarchiv Dülmen. E. Sent: 10 Jahre Westfälisches Literaturarchiv: Tagung „Zwischen Literaturbetrieb und Forschung – Regionale Literaturachive heute“. H. Steinecke: Braucht die Literaturwissenschaft regionale Literaturarchive? R. Polley: Der archivische Belegexemplaraustausch in vielseitiger Ausprägung als Rechtsproblem. G. Dietrich/M. von Miquel: Die Dokumentations- und Forschungsstelle der Sozialversicherungsträger und die Aktenüberlieferung zur Geschichte der sozialen Sicherung. K. Stockhecke/J. Murken: Zwei Archive unter einem Dach. Der Archivbau des Landeskirchlichen Archivs der Evangelischen Kirche von Westfalen und des Hauptarchivs der von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel. H.-J. Höötmann: Sachstandsbericht zur Landesinitiative Substanzerhalt. A. Koppetsch: Überlieferungsprofil für das nichtstaatliche Archivgut im Landesarchiv NRW. A. Diener-Staeckling: Tagungsbericht zum 20. Fortbildungsseminar der BKK in Eisenach. G. Teske: Lernort Archiv. Eine gemeinsame Veranstaltung der Archive in Münster. J. Murken: OWL – Heimat für Fremde? Ausstellungsprojekt von Archiven in Ostwestfalen-Lippe. A. Gussek/J.Kistenich: Fünf Archive aus Münster präsentieren sich am Tag der Archive. N. Assmann: Bestand „Vereinigung Westfälischer Museen“ im Archiv LWL. C. Remmele: Archiv Ruhr: Neuverzeichnung des Familienbestandes Zurmühlen. T. Dahlmanns: Nachlass „Erster Landesrat Dr. Helmut Naunin“ im Archiv LWL. M. Crabus/S. Eibl: Die Renteiverwaltung der Herrschaft Gronau. Ehrung für guten Ausbildungsabschluss. [H. 77] 64. Westfälischer Archivtag am 14. und 15. März in Gronau: A. Diener-Staeckling: Tagungsbericht. H. Terhalle: Das westliche Münsterland – die Ausbildung einer Grenzregion. Alltägliche Herausforderungen: Nutzer und Archive im Diskurs. Einführung. I. Höting: Heimatforschung in Kommunalarchiven aus Sicht einer Historikerin. U. Knopp: Heimatforschung in Kommunalarchiven am Beispiel des Stadtarchivs Hamm. C. Ewers/P. Ottilie: Aufbau eines Gemeindearchivs – Erfahrungen und Erwartungen von Politik und Verwaltung. C. Droste: Rechtssicherheit und mehr. Das Archiv als Dienstleister für die eigene Verwaltung. H. Schulze Ameling: Schülerinnen und Schüler im Archiv – Anregungen und Erfahrungen aus dem Schulalltag eines Lehrers. A. Metz: Schülerinnen und Schüler im Archiv – Die archivpädagogische Arbeit des Stadtarchivs Bocholt. N. Bruns: Diskussionsforen. Archive im Spiegel genealogischer Internetseiten. K. Tiemann: Wie nutzt man Archive? – Medienvielfalt als Chance für Informationsverbreitung. H.-J. Höötmann: Einbindung Ehrenamtlicher in Erschließung und Benutzung – Möglichkeiten und Grenzen. S. Benning: Überlegungen zur ehrenamtlichen Mitarbeit in Kommunalarchiven. M. Plassmann: Archiv ohne Lesesaal? Wie ändert sich Archivbenutzung in Zeiten vielfältiger Angebote über Archivportale? A. Pilger/P. Worm: Findbücher ins Netz! Lösungen für kleine und mittelgroße Archive. M. Scholz: Ausverkauf der Nutzungsrechte? Rechtliche Fragen bei der Digitalisierung von Archivgut durch Dritte. R. Quaschny: Reproduktion aus Archivgut – Selbsterstellung per Digital■

































































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kamera oder Einnahmequelle für Archive? M. Steinert: Und dürfen wir das alles? – Archivrechtliche Rahmenbedingungen im Überblick. G. Teske: Förderprogramm „Archiv und Schule“. V. Zaib: Web 2.0 für Archive. FaMIs präsentieren sich auf dem Archivtag in Gronau. N. Bruns: Workshop „Historische Überlieferung der Sozialversicherungsträger“. K. Tiemann: Überlieferung im Verbund am Beispiel der Versorgungsverwaltung. Th. Gießmann: „Vergangenheit, wir kommen! Spurensuche im Archiv“ – Premiere des neuen Archivfilms in Rheine. H. Schaten: Erweiterung und Neueinrichtung des Gemeindearchivs Heek. A. Pilger: Workshop „EAD und METS“. S. Eilers: Eine Wanderausstellung des LWL-Museumsamtes für Westfalen. G. Teske: Erfahrungen aus dem französischen Archivwesen. G. Teske: Vertreter des LWL-Archivamtes auf dem Internationalen Archivtag in Marokko. ■





















Beiträge zur westfälischen Familienforschung 69.2011 (2013): Bürgerliche und bäuerliche Nachkommen Bernhards VII. zur Lippe (1428-1511) bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts R. Linde: Bernhard VII. und die Edelherren zur Lippe. N. Rügge: Die Grafschaft Lippe im 16. und 17. Jahrhundert. H. Stiewe: „Bernhardiner-Bauten“. Häuser und Höfe von Nachfahren Bernhards VII. zur Lippe aus dem 16. bis frühen 18. Jahrhundert. W. Bechtel/ M. Lenniger/R. Linde/N. Rügge: Illegitime Nachkommen Bernhards VII. zur Lippe. W. Bechtel/ M. Lenniger/R. Linde/N. Rügge: IIlegitime Nachkommen Bernhards VII. zur Lippe mit unsicherer Filiation. R. Linde: Stammreihe der Edelherren zur Lippe. Anhang. ■











Denkmalpflege in Westfalen-Lippe 18.2012: D. Strohmann: Der Speise- oder Ahnensaal im Berleburger Schloss. Th. Spohn: Die Entwicklung des Fachwerkgefüges im nördlichen Siegerland. D. Davydov: Die Denkmalverträglichkeitsprüfung. D. Strohmann: Plastische „Führich-Kreuzwege“ aus Terrakotta in Westfalen. A. Herden-Hubertus: Das Kurgastzentrum in Bad Salzuflen. O. Karnau/B. Schürkamp: Treffen der westfälischen DNK-Preisträger in Dortmund 2011. H. H. Hanke u. a.: Finanzierung des Wandmalereiprojekts gesichert. A. Herden-Hubertus: „Denkmalpflege – Westfälisch – Praktisch“ – Historische Dachdeckungen und ihre Erhaltung. Fortbildung am 25. Oktober 2012 im LWL-Freilichtmuseum Detmold. B. Schürkamp: Wassermühle am Klosterbach in Werther erhielt den Westfälisch-Lippischen Preis für Denkmalpflege 2011. B. Pankoke: Zur jüngsten Sanierung des Rathauses I von Bad Oeynhausen am Ostkorso 8. S. Engelmann: Die Nikolaikirche in Siegen im 20. Jahrhundert. H. Ochsmann: Die Restaurierung der Barockorgel aus St. Johannes Baptist zu Borgentreich 1998-2011. U. Quednau: Der neue Dehio-Westfalen. M. ■

























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Ausgewählte Beiträge zur geschichtlichen Landeskunde Westfalens in Periodika des Jahres 2012

Huyer: Denkmäler in Westfalen. Zum Konzept der neuen westfälischen Reihe innerhalb des Corpuswerks „Denkmaltopographie der Bundesrepublik Deutschland“. B. Sigrist: Zur Nachsorge an konservatorisch behandelten Steinbaudenkmälern – Abschluss des DBU-Projektes „Naturstein-Monitoring“. U. Reinke: Das ehemalige Fürstlich SalmHorstmarsche Rentamt wird zum Verwaltungshaus der Caritas – Ein Solitär der 1950er Jahre. S. Schöfer: Detmold – „Handbuch energetische Sanierung von Baudenkmalen im historischen Stadtkern Detmold auf der Basis von konkreten Beispielen“. B. Schürkamp/H. H. Hanke: „natur macht technik“ – Bericht zum 5. Westfälischen Tag für Denkmalpflege. B. Schürkamp/O. Karnau: Fürstliches Engagement für die Denkmalpflege – Preisträger des Deutschen Nationalkomitees zu Gast bei der 1979 ausgezeichneten Sissi Fürstin zu Bentheim-Tecklenburg. ■









Geschichte im Westen 27.2012: Schwerpunktthema „Musealisierung von Krieg in der Region“ M. Jamin: Geschichte und Gedächtnis! Der Zweite Weltkrieg als Ausstellungsthema im Ruhrland- und Ruhr Museum. K. Fings: Erinnerungskultur entlang des Westwalls. Das Problem affirmativer Praktiken und der Sonderfall Hürtgenwald. A. Kenkmann: Museen und Kalter Krieg: Geschichte – Politik – Präsentation. N. Nowotsch: Zeitgeschichte und Ausstellungsdesign. Neue Herausforderungen durch mediale Sozialisierung. R. Stremmel: Paul Hoffmann – Gauwirtschaftsberater der NSDAP. Spuren eines gewöhnlichen Parteifunktionärs. A. Faust: Die Lageberichte der rheinischen Gestapostellen 1934-1936. Historische Bedeutung und wissenschaftlicher Quellenwert. R. Haude: Kollektive Identitäten im Selfkant 1944/45-1963. Eine dokumentierende Darstellung. H. Küppers: Rheinland-Pfalz, der Wein und Europa 1970-1990. ■













Heimatpflege in Westfalen. Rundschreiben des Westfälischen Heimatbundes 2012: K. Kösters: Anpassung – Überleben – Widerstand. Künstler im Nationalsozialismus. S. Conzen / A. Rittmann: Ida Gerhardi – Eine Malerin zwischen Paris und Berlin. J. Schäpers: Feld- und Wegraine. H. Brink-Kloke / H. H. Hanke / R. Eickel: Denkmalpflege und Westfälischer Heimatbund – eine Umfrage der Fachstelle Denkmalpflege. S. Reichart / S. Wagner: Ehrenamtliche Jugendarbeit in den Heimatvereinen Westfalens: Eine Untersuchung der Fachhochschule Bielefeld. P. Wittkampf: Westfalen in den Erdkunde-Lehrwerken der weiterführenden Schulen in Nordrhein-Westfalen. A. Straßmann: „Auf meinem Grabe sollt ihr Rosen pflanzen“. Friedhöfe in Westfalen. E. Grunsky: Der Schlossplatz in Münster. Etappen der Aneignung und Veränderung. ■













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Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 108.2012: H. D. Tönsmeyer: Magister Ludwig Dringenberg: Höxter in Westfalen und die Devotio moderna (19). M. Brecht: Antwort Martin Bucers auf Bernhard Rothmann. „Quid de baptismate infantium iuxta scripturas dei sentiendum“, 18. Dezember 1533. Eine Miszelle (39). L. Trautmann: Kirchensilber aus Dortmund. Ein barockes Abendmahlgerät in der Christuskirche von Olfen (41). J. Kampmann: Die Einführung der Seilerschen Formulare in Löhne 1794. Fragen zur Gestalt und Prägung des gottesdienstlichen Lebens in Minden-Ravensberger Landgemeinden vor der Zeit der Erweckung. Martin Brecht zum 80. Geburtstag (63). W.-A. Lewe: Die Anfänge der katholischen Gemeinde nach der Reformation in Rheda sowie die Problematik der zeitlichen Datierung des Clemens-Patroziniums (119). T. Ijewski: „Folgende Kranke in Ihre Fürbitte aufnehmen“. Tillmann Siebel und seine Briefe an Johann Christoph Blumhardt (127). D. Metz: Das 300. Jubiläum des Heidelberger Katechismus in Deutschland im Jahr 1863 (199). H. Lessing: Die Mission Gottes leben. Zum 100. Jubiläum der Gründung der Westfälischen Missionskonferenz. Die theologische und kirchliche Verankerung missionarischer Anliegen im Raum der westfälischen Provinzialkirche im 19. und 20. Jahrhundert (223). G. Lemke: Die Zerschlagung der katholischen und protestantischen Vereinslandschaft in einer westfälischen Kleinstadt unter der NS-Diktatur (245). J. Kampmann/F. Langhorst: „Sie sind gestorben, die dem Kinde nach dem Leben standen“. Die Predigt des Preußisch Ströher Pfarrers Heinz Bartsch in der Christvesper 1938 (289). G. Rödding: Aufbruch oder Restauration? Betrachtungen zur Volksschulpolitik der Evangelischen Kirche von Westfalen zwischen 1945 und 1952 (303). D. Kluge: Gemeinsame Tagung des Vereins für Westfälische Kirchengeschichte e. V. und des Vereins für Württembergische Kirchengeschichte e. V. in Tübingen 2011 (347). ■





















Jahrbuch Westfalen. Westfälischer Heimatkalender 67.2013 (2012): M. Schumacher: Als der Blitz den Heiland traf. Wegekreuz unter Gütersloher Eiche wurde bereits zweimal Opfer der himmlischen Gewalten (10). B. Tremmel: Olfen-Sülsen: Ein neues Römerlager aus der Zeit der Drususfeldzüge. Nachschubstation an der West-Ost-Route vom Rhein nach Oberaden (13). K. Arndt: „Tumultuarische Excesse“ und „freie“ Wahlen. Zur Revolution von 1848/49 im Kreis Tecklenburg (18). A. Bulla/ H.-W. Peine: Vom grünen Hügel zum Oktogon. Zur Geschichte der Holsterburg bei Warburg (24). K.-H. Stoltefuß: An Seseke und Mühlenbach. Erfolgreicher ökologischer Umbau der Gewässer in Heeren-Werve (33). S. Birker: Die Reiterzierscheibe aus Vellinghausen. Verbandslogo, Werbeträger, Grabbeigabe oder doch nur eine Replik? (38). J. Kraemer: Die Königin regiert wieder. Die größte Barockorgel Westfalens in Borgentreich begeistert nach ihrer Restaurierung die Besucher (45). A. Heimsoth: Bismarck■













Ausgewählte Beiträge zur geschichtlichen Landeskunde Westfalens in Periodika des Jahres 2012

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feiern auf der Hohensyburg. Verehrer des „Eisernen Kanzlers“ trafen sich jedes Jahr am Kaiser-Wilhelm-Denkmal (52). P. Kracht: Tyrannosaurus Rex am Sauerländer Himmel. Die internationale Warsteiner Montgolfiade ist ein wahrer Zuschauermagnet (57). B. Stambolis: „Schon reicht die Kön’gin ihm den Kranz – Es lebe unser König!“ Freizeit als ernstes Spiel: Schützenfeste in Westfalen zwischen Feierlaune und Zeremoniell (62). B. Boronowsky: „Wir sehen uns Kirmes“. 2013 lockt in Soest die 676. Auflage der Allerheiligenkirmes (73). A. Jenne: Einkaufszentren in Westfalen. „Shoppen“ hat sich zur Freizeitbeschäftigung entwickelt (84). J. Bartmann: Von Pink Floyd bis zum Florian-Turm. Der Westfalenpark und die Westfalenhallen stehen seit Jahrzehnten für Erholung, Spannung und Kultur (95). A. Hustert: Umsonst und draußen. Ein Besuch im Heimat-Tierpark Olderdissen in Bielefeld (102). U. Rößing: Erlebnisort Tiergarten Schloss Raesfeld. Kartenfund gab den Anstoß – Trägerverein und Sponsoren stemmten die Revitalisierung (106). S. Niggemann: Durch Westfalens Unterwelt. Höhlen üben bis heute eine geheimnisvolle Faszination aus (113). P. Kracht: Freizeit in Westfalen. Per pedes, mit dem Rad oder auf dem Wasser ist zwischen Ruhr, Lippe und Weser so manches neu zu entdecken (123). D. Scherle: Wo auch mal echtes Blut fließt und Engel gut gesichert schweben. Ein Blick hinter die Kulissen des „konzert theater coesfeld“ (130). P. Kracht: Dicke Bohnen und Arnsberger Wildschnitte. Vor 100 Jahren wurde die Möhnetalsperre offiziell eröffnet (136). W. Schmidt: „. . . zur Erlustigung und recreation von schweren und drückenden Regierungslasten . . .“. Eine Kultur-Wanderung durch den „Kurfürstlichen Thiergarten zu Arnsberg“ (147). R. Westheider: Grenzgeschichten. Geschichtstourismus per Rad auf der Grenzgängerroute Teuto-Ems (154). A. Roll: „Ich habe immer dran geglaubt“. Das Heinrich-Neuy-Bauhaus-Museum strahlt weit über Borghorst hinaus (163). A. Wieland: Liudger, Knipperdolling und der Send. Das Stadtmuseum Münster vereint mehr als tausend Jahre Geschichte (170). P. Kracht: Trilogie des Erfolgs: Spinnerei, Weberei, Kultur. Besondere Auszeichnung für das neue „TextilWerk“ in Bocholt (178). P. Kracht: Als der Friseur noch Zähne zog . . . Das Medizin- und Apothekenmuseum im münsterländischen Rhede überrascht mit einer umfangreichen Sammlung (185). P. Kracht: „Hier wird Dorfgeschichte geschrieben und wir sind dabei!“ Das Schwerspatmuseum in Dreislar hält die Erinnerung wach an den jahrzehntelangen Abbau des begehrten Minerals (191). E. Masthoff: „Ich habe ein weißes Blatt und das Bild entsteht durch Begeisterung“. Die westfälische Theaterzeichnerin Ingrid Schaar war in der ganzen Welt zu Hause (197). H. Großevollmer: Der „Bernhardmythos“ in Lippstadt. Carl Laumanns legte vor hundert Jahren das Fundament für seinen „Helden“ (202). P. Kracht: Stille Tage in Driburg. Friedrich Hölderlin und Susette Gontard verlebten einen schönen Sommer bei Caspar Heinrich Graf Sierstorpff (208). P. Belke-Grobe: Vom Sauerland nach Nashville. Tom Astor begeistert seine Fans seit 50 Jahren (213). A. Schwegmann: Starker Typ und Borussen-Fan. Claus Dieter Clausnitz brilliert als Taxifahrer im „Münster-Tatort“ (217). K. Fischer: Ein Schwabe saniert die Soester Wiesenkirche. Dombaumeister Jürgen Prigl hat noch eine gewaltige Aufgabe vor sich (220). V. Jakob: Dir gehört mein Leben. Die Geschichte von Anna und Hermann Scheipers (224). M. Budich-Schulte: Von Mattenschanzen und der rheinischen Emporenbasilika (231). S. Rinke: Die Ruhe an der Ruhr. Fröndenberg gibt sich sportlich und schmückt sich zu Recht mit dem inoffiziellen Titel ■





















































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„Tor zum Sauerland“ (237). C. Schulze Pellengahr: Die jüngste Stadt in Westfalen. Im münsterländischen Velen gibt es viel zu entdecken (244). M. Budich-Schulte: Geld und Fußball: Der Fall Ahlen. Sponsor Helmut Spikker sorgte für ein „Fußballwunder“ in Westfalen – doch dann ging es direkt in die Insolvenz (251). L. Peuckmann: Beim Radball immer vorn dabei. Der RV Wanderlust Methler wurde schon 1900 gegründet (255). H. Peuckmann: „Ihr fünf spielt jetzt vier gegen drei“. Westfalia Herne – vom Abstiegskandidaten zum Westdeutschen Meister (259). K. Kortmann: Leidenschaft in schwarz und gelb. Das Borusseum setzt nicht nur dem Fußball in Dortmund ein Denkmal, sondern auch seinen Fans (264). S. August/M. Haßler: “Aktiv und bärenstark“. Der VfL Bad Berleburg 1863 e. V. feiert seinen 150. Geburtstag (269). K.-T. Raab: Sternstunden an der Rehstraße. Hagen war einst die westfälische Hochburg des Feldhandballs (279). F. Zander: Ostfriesland liegt gleich um die Ecke. Beim „Boßeln“ in Marl wird so mancher Kilometer zurückgelegt (284). H. Martinschledde: „Unser größter Trumpf ist die mannschaftliche Geschlossenheit“. Der FSV Gütersloh schafft den Aufstieg in die Erste Bundesliga (287). H. Hensel: Holzschnitt, Haiku, Marathon. Der Holzschneider Berndt Pfeifer äußerst sich mit seinen Werken auch politisch (295). S. Haseley: „Sieht aus wie vorher . . .!“ Das Heimhoftheater in Burbach: Eine nicht ganz alltägliche Denkmalbaustelle (299). P. Kracht: Rettung für Burg Hülshoff naht. Stiftung soll das Geburtshaus der Droste langfristig erhalten und mit Leben füllen (305). W. Streletz: Loks im Rausch. Seit 1988 begeistert der Starlight Express in Bochum (309). ■

























Paderborner Historische Mitteilungen (PHM) 25.2012: S. Haupt: Das Mahnmal für die Opfer des KZ Niederhagen-Wewelsburg. Ein Querschnitt durch seine ästhetische, geschichtspolitische, erinnerungskulturelle und raumsoziologische Bedeutung. D. Riesenberger: Annette Kolb (1870-1967) – „Tochter zweier Vaterländer“. D. Wegener: Die Verfassung des Königreichs Westphalen – Ausdruck von Fremdherrschaft oder Modellstaatlichkeit? M. Schäfer: Tagungsbericht: Die Landschaft in Westfalen. M. Wittig: Prämierung von Geschichts-Facharbeiten mit regionalgeschichtlichem Schwerpunkt. Kurzporträts neuer Kolleginnen und Kollegen des Historischen Instituts der Universität Paderborn. M. Menne: Annotation: Blog „Brotgelehrte“. Rezensionen. ■













Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 57.2012: D. Hänel/R.-E. Mohrmann: Prof. Dr. Dietmar Sauermann (25. Februar 1937 – 9. August 2011) (11). R.-E. Mohrmann: Zur Geschichte des Schlafes in volkskundlich-ethnologischer Sicht (15). Th. Spohn: Bauherrinnen. Materialien zum Anteil von Frauen am ■



Ausgewählte Beiträge zur geschichtlichen Landeskunde Westfalens in Periodika des Jahres 2012

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Bauen in Westfalen (35). H. Stratmann: Lebenszeichen – Briefe aus den Akten des Landarmenhauses Benninghausen. Kontexte und Strategien privater Schriftlichkeit in unterbürgerlichen Schichten Westfalens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (75). K. Bauer: Mit dem Hubsteiger in den Schnullerbaum. Zur Etablierung und Eventisierung eines Übergangsrituals (103). M. Knorr: „Oranje boven!“ Der Nationalfeiertag in den Niederlanden (117). F. Schilling: Die rituellen Strukturen der Einschulung (137). F. Grundmeier: Das Treppenfegen zum 30. Geburtstag. Neue Untersuchungen zur regionalen Verbreitung (155). A. Palm: „Differenzen – zur Bedeutung sozialer und kultureller Ungleichheiten in der Biomedizin“. Bericht über das 14. Arbeitstreffen des Netzwerks Gesundheit und Kultur in der volkskundlichen Forschung vom 22. und 23. März 2012 in Göttingen (165). D. Reichenberger: „Mode als Moderne. Konjunkturen wissenschaftlicher Aufmerksamkeit“. Eine interdisziplinäre Tagung der Volkskundlichen Kommission für Westfalen (LWL) in Zusammenarbeit mit dem Seminar für Kulturanthropologie des Textilen an der Technischen Universität Dortmund, 25. und 26. November 2011 in Dortmund (169). C. Cantauw: „Audioarchive: Bewahren – Erschließen – Erforschen – Nutzen“. Tagung des Seminars für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und der Volkskundlichen Kommission für Westfalen – Landschaftsverband Westfalen-Lippe vom 14. bis 16. September 2011 in Münster (173). A. Döring/D. Hänel: „Bräuche : Medien : Transformationen. Zum Verhältnis von performativen Praktiken und medialen (Re-)Präsentationen“. Tagung der volkskundlichen Landesstellen und regional orientierten Forschungsinstitutionen in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Kooperation mit dem Institut für Volkskunde der Kommission für bayerische Landesgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften vom 26. bis 28. April 2012 in München (179). Buchbesprechungen (183). J. Hoyer: Museumsaktivitäten (259). ■





















Westfälische Forschungen 62.2012: R. Pöppinghege: Einleitung: Mensch und Tier in der Geschichte (1). A. Steinbrecher: Auf Spurensuche. Die Geschichtswissenschaft und ihre Auseinandersetzung mit den Tieren (9). I. Auerbach: Hunde in Westfalen vom 17. bis ins 20. Jahrhundert (31). M. Roscher: Westfälischer Tierschutz zwischen bürgerlichem Aktivismus und ideologischer Vereinnahmung (1880-1945) (50). V. Burhenne: Tiere anschauen. Zur Entwicklungsgeschichte zoologischer Gärten am Beispiel des Zoos in Münster (81). B. Tenbergen: Von Wölfen, Fischottern, Bibern und Bären – Westfalens Säugetierwelt unter dem Einfluss des Menschen (111). U. Gilhaus: Wildpferde, Zugpferde, Grubenpferde: Pferdenutzung und Tierschutz im Vergleich (135). A. Sternschulte/G. Apel: „Die freien Sennerpferde waren es . . .“ – Senner Pferde und Wildbahngestüte (163). S. Ebers: Wie der Pferderennsport nach Westfalen kam (173). B. Mütter: Tiere als Nahrungsmittel. Rinderhaltung und Milchwirtschaft im Herzogtum Oldenburg 1871-1914 – mit einem Ausblick auf die Region Paderborn („Hochstift“) (187). U. Heitholt: Zwischen Lieb■



















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haberei und Wirtschaftlichkeit – die Anfänge der Geflügelzucht in Westfalen (219). D. Osses: Vom Hobby zum Profisport. Brieftaubenzucht im Ruhrgebiet (241). R. Pöppinghege: Die dritte Front: Kartoffelkäfer im Totalen Krieg (251). W. Reininghaus: Das 18. Jahrhundert als Herausforderung an die westfälische Landesgeschichtsforschung (263). T. Mayer: Die Bedeutung der „Betriebsfamilie“ für die Gründung der Textilnischenfirma Johann Borgers im Jahr 1866 (283). B. Mütter: Katholische Hochschule im protestantischen Staat. Die Akademie Münster als Fallbeispiel der konfessionellen Imparität und Integration im Preußen des 19. Jahrhunderts (299). B. Schulte: Die Verweigerung des Friedens. Die Ruhrkrise 1923 als Ausdruck gescheiterter kultureller Demobilisierung nach dem Ersten Weltkrieg (349). R. Blank: Der Hagener Museumsleiter Dr. Gerhard Brüns – eine Karriere im „Dritten Reich“ zwischen Wissenschaft und NS-Ideologie (377). B. Bernard: „Die Werkpause“ – Ein Unterhaltungsformat des NS-Rundfunks (389). Nachrufe: B. Walter: Alfred Hartlieb von Wallthor 1921-2011 (419). K. Temlitz: Hildegard Ditt 1921-2011 (425). C. Cantauw: Dietmar Sauermann 1937-2011 (429). Jahresberichte 2011 (433). K. Schultze: Zeitschriftenschau. Ausgewählte Beiträge zur geschichtlichen Landeskunde Westfalens in Periodika des Jahres 2011 (465). Buchbesprechungen (499). ■



























Westfälische Zeitschrift 162.2012: E. Balzer: St. Gudula in Rhede und St. Lambertus in Coesfeld – zwei frühe Kirchen im Bistum Münster? (11). G. Isenberg: Heiligenleben als Geschichtsquelle. Ein schwieriger Zugang: der Fall Ida von Herzfeld (23). R. Klötzer/E. Laubach: Kontroverse Fragen zur Täuferherrschaft in Münster. Eine Podiumsdiskussion (46). G. Teske: Das Handbuch des Sweder Schele zu Weleveld und Welbergen, Erbkastellan zu Vennebrügge (1569-1639) – ein Selbstzeugnis zur westfälischen Landesgeschichte (81). O. Schulz: „Um einen wesentlichen Teil unseres Eigentums zu retten“. Der Adel der Grafschaft Mark in einer Zeit des Umbruchs am Beispiel von Friedrich Alexander von Hövel (1766-1826) und Levin von Elverfeldt (1762-1830) (105). Beiträge des Kolloquiums „100 Jahre Prof. Dr. Franz Darpe“ am Samstag, dem 22. Oktober 2011, im Zentrum für Wissen, Bildung und Kultur in Coesfeld: S. Pätzold: Franz Darpe – der Nestor der Bochumer Stadtgeschichtsschreibung (131). W. Reininghaus: Franz Darpe und der „Codex Traditionum Westfalicarum“ (140). N. Damberg: Franz Darpe und das Ende der guten alten Zeit? (147). N. Nagel: Franz Darpe als Lehrer und Editor in Coesfeld. Mit einem Ausblick auf die Neubearbeitung Coesfelder Urkunden im digitalen Zeitalter (155). J. Wunschhofer: Schreiben des Beckumer Kollegiatstifts gegen die Ansiedlung der Kapuziner in Beckum vom Juni 1695 (167). H. Rüthing: Das Fegefeuer des westfälischen Adels. Ein Beitrag zur Frühgeschichte einer populären Sage (175). M. Paprotta: Reisen bildet, aber wen? Gestaffelte Teilhabe des Landadels an den Erfolgsfaktoren der Kavalierstour im 17. Jahrhundert (199). M. Ströhmer: Von Unzucht, Mühlen und sturen Pfarrern. Dringenberg zwischen Stadtautonomie und Beamtendespotie ■























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Ausgewählte Beiträge zur geschichtlichen Landeskunde Westfalens in Periodika des Jahres 2012

im 18. Jahrhundert (229). W. Neuhaus: „Preßfreiheit“ oder „Freßfreiheit“? Ursachen, Verlauf und Ergebnisse der Revolution von 1848/49 im kölnischen Sauerland unter besonderer Berücksichtigung des Amtes Balve (249). K. Hohmann: Gestorben im Widerstand. Heinrich Vedder – Leiter der Paderborner Abteilung des Vereins für Geschichte und Altertumskunde in schwieriger Zeit 1938-1944 (275). A. Müller: Kienzle versus Nixdorf. Kooperation und Konkurrenz zweier großer deutscher Computerhersteller (305). T. Süss: Die Paderborner Kanzleiordnungen Ferdinands von Bayern (329). B. Mütter: Domkapitular Ignaz Theodor Liborius Meyer (1773-1843), der Gründer des „Vereins für vaterländische Geschichte und Altertumskunde Westfalens“ (Paderborn 1824) (341). A. Hanschmidt: „. . . zum Volksunterrichte, und zur Erhaltung der öffentlichen Moralität . . .“. Zwei Bittschriften zur Erhaltung des Franziskanerklosters Rietberg und der Gymnasien in Rietberg und Wiedenbrück 1811 (351). Bericht der Abteilung Münster für die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 2011 (362). H.-J. Schmalor: Bericht der Abteilung Paderborn für die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 2011 (272). Bericht über den 63. Tag der Westfälischen Geschichte am 6. und 7. Mai 2011 in Olpe (379). ■

















Westfalen 90.2012: J. Schäfer: . . . nach dem Mustergefängnis in London neu zu errichtende Straf- und Besserungsanstalt – Die heutige Justizvollzugsanstalt in Münster (5). M. Koch/C. Heuter: Historische Blickbeziehungen und Sichtachsen im Umfeld der Reichsabtei Corvey (39). C. Heuter: Rheinische Förderung westfälischer Eleganz. Die Akzentuierung der Stadtsilhouette von Warburg um 1900. Hiltrud Kier zum 75. Geburtstag (59). B.-W. Linnemeier: Eines Rätsels Lösung. Zur westfälischen Herkunft des hannoverschen Hof- und Kammeragenten Leffmann Behrens (75). R. Pons: Ein Möbel für den Krieg. Der Verkauf eines Kabinettschranks durch Graf Ludwig I. von Sayn-Wittgenstein (1569) (93). T. Schenk: Reichsgeschichte als Landesgeschichte. Eine Einführung in die Akten des kaiserlichen Reichshofrats (107). O. Glißmann: Aus alt mach neu. Die Umgestaltung der barocken Kanzel der Mindener Petrikirche (163). P. Barthold: Drei mittelalterliche Holzfenster im Mindener Dom. Neues zu drei sehr alten Fenstern (173). ■













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B. Westfälische Regionen 1. Münsterland Dülmener Heimatblätter 2012: G. Scholz: Clemens Brentano in Dülmen (2). A. Bödiger: Die Männer mit den geschulterten Spaten – das Lager des Reichsarbeitsdienstes auf der Karthaus (20). St. Sudmann: Seide für den König – Seide für den Führer: Die erfolglosen Bestrebungen zur Anpflanzung von Maulbeerbäumen im Dülmener Raum (33). F. König: Es lebe unser Waldfriedhof – und sein Haus der Toten. Ihre Beziehung zueinander und zur Stadt (41). St. Sudmann: Müllabfuhr auf dem Lande: Die Anfänge der geregelten Müllentsorgung in den Dülmener Umlandgemeinden (47). D. Rabich: Der Krupp’sche Schieß- und Versuchsplatz in Visbeck (66). L. Domnick: Das Erbe des Nationalsozialismus in Dülmen (79). M. Trautmann: Altäre und Reliquien in St. Viktor (93). St. Sudmann: Aus dem Magistrat mitgeteilt: Polizeidiener Ludwig B. entlassen (102). St. Sudmann: Licht ins Dorf – Zur Straßenbeleuchtung in den Dörfern des Dülmener Umlands nach dem Zweiten Weltkrieg (105). L. David: Die Entwicklung der Hausdülmener Schule von den Anfängen bis zur Gegenwart (Sonderheft). ■



















Geschichtsblätter des Kreises Coesfeld 36.2011 (2012): P. Ilisch: Soldaten in und aus Billerbeck zu Zeiten des Fürstbistums Münster (1). R. Ilisch: Familienanzeigen am Beispiel Billerbecks (37). N. Nagel: Franz Darpe (1842-1911) – Forschungen und Forschungsperspektiven zu Leben und Werk des Gymnasialdirektors, Landeshistorikers und Verbandsfunktionärs. Eine Bestandsaufnahme (61). P. B. Steffen: Pater Franz Vormann SVD (1868-1929) aus Billerbeck – Mitbegründer der katholischen Mission und Kirche in Neuguinea (105). S. Sudmann: Vor 100 Jahren: Wer will Bürgermeister werden? Ein Blick in die Bewerbungen zu Dülmens Bürgermeisterwahl 1912 (121). M. Kertelge: Sonderzug nach Riga. Zum 70. Jahrestag der ersten Deportation von Juden aus dem Kreis Lüdinghausen nach Riga (141). P. Ilisch: Die Darfelder Kirche, eine Marienkirche (175). N. Nagel: Die mittelniederdeutsche Bauinschrift an der Kapelle des Hauses Hameren bei Billerbeck aus dem Jahr 1493 (177). K. Hagenbruch: Von Berlin nach Coesfeld – Pfarrdechant Josef Ruland von St. Lamberti in Coesfeld und seine Ansprache als Kaplan von St. Hedwig in Berlin bei der Ehrung der Märzgefallenen auf dem Gendarmenmarkt 1848 (181). A. Grütters: Chronik des Kreises Coesfeld 2011 (193). ■

















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Ausgewählte Beiträge zur geschichtlichen Landeskunde Westfalens in Periodika des Jahres 2012

Beiheft 2011: A. Schnepper: Prozesse der Machtergreifung in einer katholischen Kleinstadt: Das Beispiel Billerbeck. Gütersloher Beiträge zur Heimat- und Landeskunde 83.2012: A. H. Murken: vom Geschäftshaus zum Gütersloher Altenheim (1924-2010). Ein Architekturdenkmal des Liechtensteinischen Baumeisters Ernst Sommerlad. J. W. Glaw: Gütersloh in der Urgeschichte 3. Funde und Befunde der Vorrömischen Eisenzeit. E. Daum: Unfallkreuze am Straßenrand. Neue Formen der Trauer und des Totengedenkens. J. Reinert: „. . . wurde so unglücklich überfahren, daß der Tod auf der Stelle eintrat“. Bewegende persönliche Schicksale im Gütersloh des 19. Jahrhunderts. H.-D. Musch: Der Chronist wird abgelöst. Nach dreizehn Jahren legt Hans-Dieter Musch den Stift aus der Hand. H.-D. Musch: Es geschah in Gütersloh. Chronik für 2009. ■









Münsterland. Jahrbuch des Kreises Warendorf 61.2012: J. Gojny: Ankunft und Eingliederung deutscher Ostflüchtlinge und Ostvertriebener im Kreis Warendorf nach 1945 (11). P. Leidinger: 50 Jahre türkische Migrantinnen und Migranten im Kreis Warendorf (1961-2011). H. Petzmeyer: Stadt Sendenhorst im Spiegel der Geschichte (67). H. Specht: 100 Jahre Rathaus Sendenhorst – Zur Geschichte des Verwaltungsgebäudes. (70) G. Konert / M. Bäcker / P. Leidinger: Zur Baugeschichte der Pfarrkirche St. Ludgerus und Geschichte in Albersloh (107). V. Dörken: Das Freigericht auf der Hohen Ward bei Albersloh – Zum Gerichtswesen in früherer Zeit in unserer Heimat (115). R. Schepper: „Aobends gaohet de Düörn to“ – Ein Gedenken zum 150. Geburtstag von Augustin Wibbelt (168). A. J. Rottendorf: Der letzte Besuch bei Augustin Wibbelt (185). R. Spiegel: Ein Naturschützer aus Überzeugung – Erinnerungen an Franz Graeber (1943-1997) (202). F. Häring: Hans Jaenisch (1907-1989) – Malerei – Graphik – Skulpturen – Sein Werk ist nun Bestandteil des Fritz-Winter-Hauses in Ahlen (209). H. Gövert: Georg Kemper – Ein fast vergessener Künstler aus unserer Heimat – zur 130. Wiederkehr seines Geburtstages (228). M. J. Bensch: Eine römische Gemme in Beckum. P. Leidinger: Museum Heinrich Friederichs in Warendorf eröffnet – Zum Gedenken an den Bildhauer Heinrich Friederichs (1912-1944) (242). P. Leidinger: Zum Gedenken an Etti Drerup (1920-2011) (245). B. Priddy: Baumaßnahmen legen Kirchturm von 1100 im Museum Abtei Liesborn frei (246). H. Fortmann / P. Leidinger: Vom Kaplan in Beckum zum Bischof in Mainz – Wilhelm Emanuel Freiherr von Ketteler (1811-1877) – Leben und Wirken ( 249). H.-J. Dünnewald: Valentin Dünnewald (1841-1926) – Ein Sendenhorster als Pfarrer im öster■































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reichischen Salzkammergut (255). P. B. Steffen: Pater Eberhard Limbrock SVD (1859-1931) – Ein Ahlener als Missionspionier in China, Gründer der Steyler Mission in Neuguinea und apostolischer Präfekt (261). P. Leidinger: Monsignore August Jakob Happe (1860-1951) – Pfarrer in den USA, Wohltäter und Ehrendomherr des Bistums P. Leidinger: Der Priesterdichter Franz Engelbert Happe Ventimiglia (275). (1863-1897) – Ein Lyriker des Heimatgefühls (279). K.-W. Bornemann: Dr. Dr. Ignaz Dunker (1861-1948), Pfarrer in Einen – ein Lebensbild (282). H.-J. Kellner: Franz Bornefeld-Ettmann (1881-1961) – Landwirt – Verbandspräsident – Politiker – Ehrenbürger der Gemeinde Wadersloh – Förderer des Siedlungswesens nach 1945 (284). P. Leidinger: Prof. Dr. Theodor Heinemann (1889-1946) – Zur Erinnerung an einen Warendorfer Komponisten (292). H. W. Gummersbach: Zum Gedenken an Imo Moszkowicz (1925-2011) – Theater-, Film- und Fernsehregisseur und Ehrenbürger seiner Heimatstadt Ahlen (295). P. Leidinger: Sprachrohr des Niederdeutschen – Zum Tod von Werner Brüggemann (1923-2011) (306). P. Leidinger: Zum Gedenken an Siegfried Schmieder (314). W. Plümpe: Trauer um große Liesborner Persönlichkeit – Zum Gedenken an Artur Steinke (1921-2011) (316). S. Krebs: Ein zweites Großsteingrab im Süden Beckums – In der Bauerschaft Dalmer geortet (323). E. Buntenkötter: Kriegswirren, Kriegslasten, Kriegsnöte – Das Münsterland und Everswinkel im Niederländischen Freiheitskampf und im Dreißigjährigen Krieg (329). W. M. Schneider: An bedeutenden Fernstraßen gelegen: Die Freistühle von Diestedde, Dünninghausen und Liesborn (338). W. Tillmann: Eine Tanzordnung und Karnevalsverbote im Obrigkeitsstaat zwischen 1800 und 1848 (346). P. Gabriel: Die evangelische Volksschule in Drensteinfurt – Friedrich Schreiber unterrichtete 63 Jungen und Mädchen (364). ■





























Rheine gestern – heute – morgen 2012 (67-68): [H. 67] B. Weber: 100 Jahre Verkehrsverein Rheine. Engagierte Arbeit für die Ausstrahlung der Stadt. B. Rudolph: Veranstaltungen für ein attraktives Rheine unter der Devise. „Wir bringen Leben in die Stadt!“. B. Rudolph: Touristische Potenziale. Und warum Tourismusförderung für Rheine wichtig ist. B. Rudolph: Marketing-Initiativen – zeitgemäß und nachhaltig. A. Johann: 75 Jahre Naturzoo Rheine. Fortschreibung der Zoogeschichte. O. Pötter: De amtlicke Uutkunft. [H. 68] L. Kurz: Die Städtische Volksbücherei „Dietrich Eckart“ als Vorgängerin der Stadtbibliothek Rheine (1937-1949). Th. Gießmann: Stadtbücherei Rheine 1950-2007. Erfolgsgeschichte an verschiedenen Standorten. E. Wigger: Von der Stadtbücherei zur Stadtbibliothek. Umzug im Jahr 2007. M. Niesert: In der Stadtbibliothek. L. Meier: Katholische Öffentliche Büchereien – (KÖB) – in Rheine. F. Greiwe: 150 Jahre Katholische Öffentliche Bücherei Mesum. F. Greiwe: Die Bibliothek im Hause Sterthues/Steggemann. F. Toczkowski: Lesegesellschaften und Leihbüchereien. T. Bücksteeg: Die Europäische Märchenbibliothek in Kloster Bentlage. Th. Gießmann: Die Bibliothek des ■



























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Ausgewählte Beiträge zur geschichtlichen Landeskunde Westfalens in Periodika des Jahres 2012

Stadtarchivs Rheine. I. Winter: „Der wahre Jakob auf dem Keuschheitskongress“. Über die Laienspielschar der Gesellschaft „Verein“. Buchvorstellungen. ■



Unser Bocholt 63.2012: [H. 1] H. Westerhoff/A. Wiedemann: „Dann goat wej no Dobbs!“ – Lieutenant Colonel Cyril Montague Dobbs, 1945 bis 1949 Kommandant des „208 Military Government Detachment“ und „Kreis Resident Officer“ in Borken. W. Tembrink: „Wir haben uns hier sehr wohl gefühlt“ – Das einstige Hotel Kaisereck in Bocholt – seine Besitzer, Pächter und Gäste. F. Ostwald: Blütenpflanzen im Stadtbereich Bocholt – Eine Bestandsaufnahme – 14. Teil. [H. 2] B. Wansing: „Bocholt ist Europa“. Bocholt feiert Städtepartnerschaftsjubiläen. P. Nebelo: „Bocholt ist Europa!“ U. Rüter: Frauen im mittelalterlichen Bocholt des 15. Jahrhunderts. N. Henze: Sieben Reiterkompanien plündern in Suderwick. W. Tembrink: Verklungene Zeiten“. Zur Erinnerung an die Musikkapelle der städtischen Freiwilligen Feuerwehr Bocholt (1928-1938). F. Ostwald: Blütenpflanzen im Stadtbereich Bocholt. Eine Bestandsaufnahme. 15. Folge. G. Ketteler: Zur Erinnerung an den vor 150 Jahren geborenen westfälischen Priester und Dichter Augustin Wibbelt. W. Tembrink: Chronik des Bocholter Raumes. 1. Oktober bis 31. Dezember 2010. [H. 3] J. H. Brunswick: Mein Leben. D. Danzig/R. Wielinski: 1912-2012: 100 Jahre Trinkwasser für Bocholt. A. Wiedemann: Gerhard Mercator und der „Atlas Minor“ des Pfarrarchivs St. Georg. Ein Beitrag aus Anlass seines 500. Geburtstags. F. Ostwald: Blütenpflanzen im Stadtbereich Bocholt. Eine Bestandsaufnahme. 16. Folge. W. Tembrink: Chronik des Bocholter Raumes. 1. Januar bis 31. März 2011. [H. 4] Schwerpunkt: 100 Jahre Kapu. P. H. Stahl: Die Kapuziner in Bocholt. Geschichte von Kloster und Schule. U. Müller: Neue Wendungen am Kapu: Gott und der Welt zugewandt – jetzt auch dem Nachbarland oder: Wenn franziskanischer Geist auf „drempels“ stößt. S. Sczesny: Schülerbibliothek und Selbstlernzentrum am St.-Josef-Gymnasium. Orte der klassischen und modernen Bildung. E. Reiche: Pater Bernward vom Kapuzinerkloster. G. Ketteler: Faszination Baum. Eröffnungsvortrag zu einer gleichnamigen Ausstellung im Stadtmuseum Bocholt vom 26. August bis 4. November 2012. U. Rüter: Johannes Ernst, Wilhelm Rabbe, Simon Kaele – drei bedeutende Bocholter Pfarrer des 15. Jahrhunderts. F. Oostendorp: „Ein halber Holländer“. Versuch einer Lebensbeschreibung. W. Tembrink: Chronik des Bocholter Raumes. 1. April bis 30. Juni 2011. ■













































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Warendorfer Schriften 41/42.2012: K. Gruhn: Das Gymnasium Laurentianum Warendorf als „Studienschule“ im 19. Jahrhundert (5). W. Reisner: Ein Nachbarschaftsstreit 1869 im Schatten der Laurentiuskirche (21). M. Wolff: Hugo Ewringmann. Bürgermeister von 1904–1924. J. Gojny: Erinnerungen an Dr. Franz Rohleder (1888-1975). Pädagoge, Geograph und Historiker in der Kreisstadt Warendorf (33). E. Gühne: Die Familie des Siegmund Cohen (1873-1938). Schicksale Warendorfer Juden im Schatten der Schoah (43). E.-K. Hackmann: Feldpostbriefe von Bürgermeister Kurt Hachmann 1942/43. Dokumente zur Zeitund NS-Geschichte Warendorfs (55). H. Hellmann: Hedwig Leffmann 1917-2001 – Schicksal einer Halbjüdin (67). W. Reisner: „Sogenannte Heimatfreunde“ oder „ außerparlamentarische Opposition“. Der Warendorfer Heimatverein und die Kommunalpolitik – ein nicht immer spannungsfreies Verhältnis (73). K. H. Neufeld: Von Warendorf über Rom nach Schweden und wieder nach Rom. Zum Leben und Wirken des Franziskaner-Paters Heinrich Stratmann OFM Conv (1788-1845) (115). P. Leidinger: Von Warendorf nach Nordamerika 1875. Eine schlimme Überseereise als FranziskusSchwester im Kulturkampf (123). K. Neufeld: Hermann J. Zurstraßen SJ (1823-1881) (137). K. G. Ring: Der Sophiensaal und seine Figuren (149). S. Drerup-Gloskiewicz/H. J. Gloskiewicz: Die Warendorfer Textilkünstlerin Elisabeth (Etti) Drerup (1920-2011) (159). F. Bülte: Wieder ein kleines Jubiläum. 110 Jahre Heimatverein Warendorf (201). W. Reisner/M. Wolff: Zum 80. Geburtstag von Prof. Dr. Paul Leidinger (205). M. Wolff: Wilhelm Veltmann – Laudatio zur Enthüllung der Gedenktafel am 9. September 2012 (210). W. Reisner: Protokolle der Jahreshauptversammlungen 2011 und 2012. Vereinschronik (215). ■

































2. Ostwestfalen- Lippe Historisches Jahrbuch für den Kreis Herford 19.2012 (2011): M. Fiedler: Förmlich überrollt. Die Liquidationsbeihilfe von 1956 und ihre Auswirkungen auf die Zigarrenindustrie im Zollamtsbezirk Bünde (8). C. Laue: Eine „Elektrische“ durch Hiddenhausen (23). K. Buchna: „Diplomat im Lutherrock“. Anmerkungen zu Leben und Wirken des Stiftberger Pfarrers Hermann Kunst als EKD-Bevollmächtigter in Bonn (36). R. Meierkord: Herfords Einstieg in das Luftfahrtzeitalter 1909-1912. Die ersten Begegnungen mit Luftschiffen (55). C. Kathe-Hinkenjann: Recht und Gerichtsbarkeit im mittelalterlichen Kloster und Stift Quernheim (88). G. Eggenstein: Wer ist die Dame? Ein barockzeitliches Portrait aus der Werburg in Spenge (97). A.-W. König: Der Geschichte ein Gesicht geben. Landschaft und Menschen zwischen Exter und Herford im Mittelalter (101). L. Volmer: Bäuerliche Repräsentationskultur im 18. ■













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Ausgewählte Beiträge zur geschichtlichen Landeskunde Westfalens in Periodika des Jahres 2012

und 19. Jahrhundert. Fachwerkzierformen auf dem Gebiet der Stadt Herford (112). M. Guist: Heimat ist ein Gefühl. Das interkulturelle Theaterprojekt „Königskinder“ beim Geschichtsfest in Löhne (136). C. Laue: Die Keramik der Siedlungen Enger, Hüllhorst und Kirchlengern und die Chronologie der Römischen Kaiserzeit (142). R. Linde: Die ravensbergischen Sattelmeier. Eine frühneuzeitliche bäuerliche Dienstpflicht zwischen Sage und historischer Wirklichkeit (152). J. Kuschke / M. Stickdorn: Das Gefecht bei Gohfeld, 1. August 1759. Schlachtfeldarchäologie in Löhne (176). C. Laue: 1000 Jahre Marienstift auf dem Berge vor Herford. Der Stiftberg in 10 mal 100 Jahren (188). P. Biresch: Der Rote Punkt in Herford (209). K. Bodarwé: Die Visitatio – ein Herforder Bericht über die Marienvision des 10. Jahrhunderts (229). W. Hausmann: Entgegnung zu: Florian Mildenberger „Heilstrom, Wunderheilung, Hysterie? – Das Phänomen Bruno Gröning in Herford 1949 und Deutschland (bis 1959)“, in: Historisches Jahrbuch für den Kreis Herford 17.2010 (254). ■















Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg 97.2012: V. Eikelmann: Die Siedlungsgeschichte der Heepensenne. Ein regionalgeschichtlicher Beitrag für das Gebiet der heutigen Sennestadt bis 1685 (7). F. Stückemann: Der Bielefelder Prozess des Klosters Marienfeld gegen den Publizisten Peter Florens Weddigen aus dem Jahre 1788/89 im Spiegel der zeitgenössischen Presse (27). K.-U. von Hollen: Inklusion und Exklusion am Beispiel der Juden in Bielefeld-Schildesche (45). J. M. Schwager: Schriften von Johann Moritz Schwager (1738-1804) über das ravensbergische Leinengewerbe in den Annalen der Märkischen ökonomischen Gesellschaft und im Westfälischen Anzeiger. Hrsg. und bearb. von F. Stückemann (59). H. Hüffmann: Bruchherren, Vierziger und das Bürgerbuch der Stadt Lübbecke (99). C. Möller: Abfallpolitik zwischen Ökonomie und Ökologie. Die lange Suche nach Entsorgungswegen in Bielefeld (1957-1995) (129). J. Wibbing: Die Altkatholische Gemeinde in Bielefeld (163). B. Frey: Darf der General bleiben? Die Lettow-Vorbeck-Straßen in Halle und anderen Städten im Ravensberger Land (185). E. Becherer: Untersuchungen zur Frühgeschichte der NSDAP in Bielefeld (Stadt und Region) (207). Vereinsbericht über das Jahr 2011 (233). ■

















Lippische Mitteilungen aus Geschichte und Landeskunde 81.2012: U. Meier: Bernhard VII. und seine Zeit (11). R. Linde: Bernhard VII. zur Lippe. Ein biographischer Versuch (27). F. Huismann: Bernhardus Bellicosus – Politik mit dem Schwert? Über einen Beinamen und seine Hintergründe (59). F. Hüther: Gottvertrauen und Barmherzigkeit. Zur Frömmigkeit Bernhards VII. (79). K. Priewe: Die Klosterkir■







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che zu Blomberg als Stiftergrablege Bernhards VII. zur Lippe. Memoria und Herrschaftsrepräsentation am Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert (101). U. Meier: Unter Brüdern. Simon III. zur Lippe und Bernhard VII. (123). L. Pieper: Bernhard VII. als Stifter dynastischer Traditionen (141). N. Rügge: Die illegitimen Nachkommen des Edelherrn Bernhards VII. zur Lippe. Sozialgeschichtliche Erträge eines genealogischen Projektes (161). U. Halle: Rose und Schlüssel. Eine archäologisch-historische Verbindung zwischen Lippe und Bremen am Beispiel Gerhard II. (189). J. Kleinmanns: Das Detmolder Rathaus. Klassizistische Stadtplanung in einer kleinen Residenzstadt (Teil 1) (211). J. Schöning: Die Germanenkunde Wilhelm Teudts. Methodik und Zielsetzung einer ideologisch motivierten Laienwissenschaft (243). M. Füller u. a.: Die Höhlen im lippischen Eggevorland als Winterquartier für Fledermäuse (259). J. Eberhardt: „Überlieferung im Verbund“. Zum Denkanstoß von Hermann Niebuhr (285). Buchbesprechungen (291). R. Faber: Vereinschronik 2011/12 (325). ■



















Mitteilungen des Mindener Geschichtsvereins 81.2009 (2012): C. Bernet: Was lasen die Quäker in Minden? Bemerkungen zu Buchproduktion und Literaturdistribution (7). C. Kreutzmüller: Fritz Schmidt (1903-1943). Vom NSDAPKreisleiter in Minden zum Generalkommissar in den Niederlanden (15). C. Preusse: „Von verschieden bösen Discursen“. Ehre, Unzucht und Ehebruch im frühneuzeitlichen Minden (31). M. Rink: Die Schlacht bei Minden und die „Kriegskunst“ im 18. Jahrhundert (57). M. Stenzel: „Die Sterblichkeit der Kinder ist offenbar beträchtlich . . .“. Kinderarbeit in der Minden-Ravensberger Zigarrenfabrikation vor 1914 (89). H. Wilde: Alte Nettelstedter Namen und ihre Herkunft (113). ■









Ravensberger Blätter. Organ des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg 2012: C. Loefke / B. Schmies: Kloster – Residenz – Mission: Die Aufgaben der Bielefelder Franziskaner. Zwei Rückblicke in die Geschichte des ehemaligen Bielefelder Franziskanerklosters. E. Delius: Über die Stifterin der Weihwasserbecken in St. Jodokus. U. Althöfer: Die Johanniskirche in Bielefeld – Kirche im Wandel. N. Wörmann: Karl Niemann und die „Judentaufe“. W. Schindler: Eine Bielefelder Häuserkartei – ein Werkstattbericht. J. H. Ubbelohde: Jobst Henrich Ubbelohde – Richter in Bielefeld zur Zeit des „Großen Kurfürsten“. W. Kochinke: Eine genealogische Studie über die ostwestfälische Familie Baare und die mit ihr verwandten Familien im 18./19. Jahrhundert. S. Grimm: Wilfried Strothotte und das Stadtarchiv Gütersloh – Ein Glücksfall für Familienforscher. J. Melzer: Familienforschung im Landeskirchlichen Archiv Bielefeld. T. Brakmann: Genealogische Quellen des 19. und 20. Jahrhunderts in der Abteilung Ost■



















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westfalen-Lippe des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen in Detmold. J. Rath: Quellen zur Familienforschung im Stadtarchiv Bielefeld. Gustav-Engel-Preis 2012 an Sebastian Knake. In memoriam Gerd Vogt (1935-2012). Leonardo da Vinci – Bewegende Erfindungen. Historisches Museum Bielefeld (28. Oktober 2012 bis 3. März 2013). WechselGeld – Das Bielefelder Notgeld und die Währungsumstellungen von 1871 bis heute. Historisches Museum Bielefeld (14. April bis 8. September 2013). Campingkult(ur). Sehnsucht nach Freiheit, Licht und Luft – Eine Wanderausstellung des LWLMuseumsamtes für Westfalen. Daniel-Pöppelmann-Haus, Herford (9. Juni bis 4. August 2013). ■











Rosenland. Zeitschrift für lippische Geschichte [Internet-Periodikum: http://www.rosenland-lippe.de/] 13.2012: A. Ruppert: Der Einsatz lippischer Landesschützen in Polen (September 1939 – Juni 1940) im Spiegel zweier Tagebücher der Kompanie 95/VI (2-42). J. Hartmann: Der Bestand „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV)“ in der Wiener Library in London und seine Bedeutung für die lippische Regionalgeschichtsforschung (43- 50). J. Eberhardt: Die digitalen Sammlungen der Lippischen Landesbibliothek Detmold (51- 54). Tagungsbericht A. Ruppert: „Bernhard VII. zur Lippe (1428-1511) – Neue Forschungen zum Leben und Wirken eines spätmittelalterlichen Regenten“. Tagung vom 15. Oktober 2011 in Blomberg (55-58). Rezensionen (59-64). ■







Die Warte. Heimatzeitschrift für die Kreise Paderborn und Höxter 73.2012 (153-156): [H. 153] D. Strohmann: Neues zur Baugeschichte der Kreuzkapelle in Büren. J. Köhne: Leben am Rande des Ortskerns und nicht am Rande der Gesellschaft. Ein kleines Seniorendorf soll zur Stadterhaltung beitragen. W. Stüken: Der Mann, der Hitler einen schlechten Tapezierer nannte. Kardinal George William Mundelein, Nachfahre eines Paderborner Auswanderers, sorgte 1937 mit einer Rede in Chicago für ein weltweites Echo. A. Gaidt: Die 8. Husaren beim Ruhrstreik 1912. C. D. Hillebrand: Weinanbau in Welda? Eine kleine Kulturgeschichte des Weines im Warburger Raum. [H. 154] A. Fischer: Alte Säcke, neue Säcke – Säcke für alle Lebenslagen. Das Sackmuseum Nieheim. T. Schenk: Quellen zur jüdischen Geschichte im Hochstift Paderborn. Aus den Akten des kaiserlichen Reichshofrats. H. Multhaupt: Zwei ungleiche Brüder: Dietrich und Moritz von Falkenberg aus Herstelle. Der protestantische verteidigte Magdeburg, der katholische schoss Gustav II. Adolf vom Pferd. M. Naarmann: „Wir sollen Aufrührer sein!“ Eine Petition Steinhäuser Bürger vom Februar 1834. P. Gülle: Die Dohle – Der Vogel des Jahres 2012. S. Spiong: Mit Füßen getreten: der Hellweg unter der Hei■

















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ersstraße in Paderborn. K. Zacharias: „Erster Gelehrter mit weltweiter Reputation“ – Athanasius Kircher (1602-1680). M. Wittig: Vitus und die Fohlen. A. Auer: Das Ausbesserungswerk Nord in Paderborn wird bald 100 Jahre. Straßennamen erinnern an die „Väter“ der „Wagenwerkstätte Nord“. B. Cassau: Von der Idee zum fertigen Kunstwerk. Bericht über die Erarbeitung der neuen Monstranz „Schneekristall“. M. Pohl: Die Kraft Roms – Philipp Neri und Ferdinand von Fürstenberg. R. Jäger: Bewegende Schicksale. Der Film „Spuren der Zeit“ erinnert an das leben jüdischer Familien in Bad Driburg. J. Köhne: Heimatblätter tragen die Kultur ins Dorf. Die Ortschaft Himmighausen lässt den „Emmerboten“ auferstehen. [H. 155] A. Fischer: Polizeigeschichte, Polizeitechnik, Polizeialltag. Das Deutsche Polizeimuseum e. V. in Salzkotten. H. Multhaupt: Spezialbomben auf die Staumauer. Wie ich die Bombardierung der Edertalsperre vor 70 Jahren in meinem Heimatdorf Herstelle erlebte. L. Salmen: Für die Zukunftsfähigkeit unserer Dörfer . . . . Das Dorfgemeinschaftshaus Weiberg. H. Münster: Seit zehn Jahren steht wieder ein Kreuz auf der alten Kirchstelle in Dorslon. K. Zacharias: Vor 400 Jahren gegründet: Das Paderborner Kapuzinerkloster. G. Düsterhaus: Zwei „vornehme Damen“ erleben das Kriegsende 1945 im Paderborner Land. H. W. Wichert: Nachrichtenverbindungen und Nachrichtenanlagen des US-Militärs in Ostwestfalen-Lippe von 1945 bis zum Ende des „Kalten Krieges“ 1993. H. Bewermeyer: Hans von Geisau (1889-1972) und das Gymnasium Marianum in Warburg. J. KopelVarchmin: „Schlangen ist ein einmaliger Sonderfall“. Ein Rückblick auf die kommunale Gebietsreform an der Grenze zwischen dem Paderborner Land und Lippe. K. Holtkötter: Stadtgeschichte bewahren: die Restaurierung des Bürgerbuches der Stadt Lichtenau. W. Grabe: Engagierter Journalist und mutiger Zeitzeuge. Zum Tode von Elfried Naumann. [H. 156] N. Börste: Lichtgewänder. Raum, Licht und Farbe im Hohen Dom zu Paderborn vom Mittelalter bis heute. A. Fischer: Vom Ledereimer zum Löschfahrzeug – das Feuerwehrmuseum in Steinheim-Hagedorn. L. Salmen: Denkwürdiges und Mahnendes am Wegesrand. Unterwegs im Molmschen Wald. S. Voßschmidt: „Feuer und Licht/ so bey tag als bey nacht/ mit höchstem fleiß/ und sorgen zu bewahren“. Gefahrenvorsorge zu fürstbischöflicher Zeit in Ahden. P. Möhring: 90 Jahre Studienheim St. Klemens. A. Gaidt: Der Nachlass Dr. Heinrich Vockel beim Heimatverein Schloß Neuhaus. H. Schmitz: Das Weberhaus Nieheim – Werden und Wirken einer Bildungsstätte. C. Stiegemann: „Cum lapides clament“. Das Gymnasium Theodorianum und die Stiftungspolitik des Paderborner Fürstbischofs Dietrich von Fürstenberg (1). ■















































3. Ruhrgebiet und Hellweg Beiträge zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark 102/103 (2011/12): R. Stephan-Maaser: Die älteste Karte der Grafschaft Mark – Detmar Mulher und die Kartographie um 1600 (9). S. Gropp: Moneta Nova Civitatis Imperialis Tremoniensis. Die städtische Münzprägung zu Dortmund zwischen 1541 und 1760 (51). W. G. Vogt: ■



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Das Breckerfelder Stadtpanorama anno 1856 – ein Frühwerk des vergessenen Dortmunder Zeichners Joseph Lübke (1839-1862) (117). W. Reininghaus: Hermann Becker und Karl Rübel. Die Begründer der modernen Dortmunder Stadtgeschichte (133). T. Cramm: Friedrich Harkort und Hombruch (171). E. Weiß: Franz Adickes in den Jahren von 1873 bis 1877 in Dortmund – eine biographische Skizze (217). A. Heimsoth: Wer realisierte das Kaiser Wilhelm-Denkmal auf Hohensyburg? Planung, Bau und Umbau zwischen 1890 und 1936 (253). Buchbesprechungen (304). ■









Forum Geschichtkultur Ruhr 2012: [H. 1] Schwerpunkt: Kindheit im Ruhrgebiet. T. Kössler: Perspektiven einer Geschichte der Kindheit im Ruhrgebiet. S. Schneider: Kindheit im Ruhrgebiet. R. Wulf: Eine neue Schule für Marten. Von Schulfeiern und Schulalltag im Ruhrgebiet um die Wende zum 20. Jahrhundert. „Lediglich zur Erleichterung der Haushaltungen unserer Belegschaftsmitglieder wurde die Kinderbewahrschule eingerichtet“. Bilder vom Kindergarten bei Prosper I/II in Essen-Dellwig aus dem Jahre 1931. B. Frings / U. Kaminsky: „Dieser ausgeprägte Hang zum Herumtreiben . . .“. Heimfürsorge im Ruhrgebiet während der 1950/60er Jahre. D. Hallenberger: Kindheitsdarstellungen in der Ruhrgebietsliteratur. S. Abeck: Die beiden Schulmuseen im Ruhrgebiet. A. J. Schwitanski: Das Archiv der Arbeiterjugendbewegung. U. Mehrfeld / M. Pfeiffer: Zollverein und die industrielle Kulturlandschaft Ruhrgebiet. Vorschlag für ein UNESCO-Welterbe. S. Abeck: Industriekultur 2020. Positionen und Visionen für Nordrhein-Westfalen. M. Farrenkopf: 10 Jahre Montanhistorisches Dokumentationszentrum. A. Hepprich: Steeler Archiv in neuen Räumen. H. Brink-Kloke: Neues aus der Bronzezeit im Ruhrgebiet. A. Heimsoth: Patriotismus im Bergbau. Emil Kirdorf und das Kaiser Wilhelm-Denkmal auf Hohensyburg. A. Kugler-Mühlhofer: Zwangsarbeit. „Und hier auf Zollern war ein Streb nur Russen“. M. F. Gantenberg: Ein Kämpfer und Poet. Der Bergarbeiterdichter Heinrich Kämpchen starb vor 100 Jahren. [H. 2] Schwerpunkt: Facetten des Wandels im Ruhrgebiet der 1950er Jahre. F. Ullrich: Die Künstlergruppe „junger westen“ – Ein originärer Beitrag zur deutschen Nachkriegskunst. D. Kift: Kunst und Identität im Revier nach 1945: Wandel und Kultur im Wiederaufbau. T. Kössler: Die „Bundesrepublikanisierung“ der Industriearbeiterschaft an der Ruhr – zum Machtverlust der Kommunisten in den Betrieben. K. Lauschke: „Überschichten fürs Wirtschaftswunder – Feierschichten im Wirtschaftswunder“. Der Beginn der Kohlenkrise im Ruhrgebiet. B. Schneider: Die Ansiedlung der Bekleidungsindustrie im Schatten der Montanindustrie des Ruhrgebiets. E. Haustein-Bartsch: Wiedereröffnung des Ikonen-Museums Recklinghausen. St. Goch: Das „erneuerte“ Institut für Stadtgeschichte. D. Hopp: Ein Blick in den Essener Müll des 19. und 20. Jahrhunderts. A. Heimsoth: Stahl für die Bagdadbahn. Die Rolle der Montanindustrie aus dem Ruhrgebiet. M. F. Gantenberg: „Damit etwas bleibt, woran man sich erinnern kann.“ Bergbauwanderweg im Bochumer ■













































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Südwesten bekommt neue Tafel. N. Reichling: Jüdische Zugehörigkeitserfahrungen. Eine Tagung über „Heimat – Exil – Diaspora“. ■

Heimat Dortmund. Zeitschrift des Historischen Vereins für Dortmund und die Grafschaft Mark e. V. 2012: [H 1/2] Sonderausgabe: G. Högl / K.-P. Ellerbrock (Hg.): Die 1920er Jahre. Dortmund zwischen Moderne und Krise: K.-P. Ellerbrock: Dr. Günther Högl zum 65. Geburtstag. J. Guckes: „Aufstieg zur Großstadt“ – Wie Dortmunds Bürgertum die Zukunft der Stadt sah. R. Kastorff-Viehmann: „Vier Städte“ – Provinzstadt und moderne Großstadt, halbländische industrielle Region und moderne Industriestadt – das alles war Dortmund! P. Kroos: Großstadtarchitektur für Dortmund − Das neue Gebäude der AOK am Königswall als Beispiel. M. Dudde: Personalpolitik in der jungen Demokratie − Die besoldeten Magistratsmitglieder in Dortmund 1918-1932. G. Högl: Parteien und Kommunalpolitik zwischen Revolution, Inflation und Wirtschaftskrise 1919-1929 – Die Stadtverordnetenwahlen und das politische Gefüge in Dortmund. H. Bohrmann: Die Dortmunder Presse der 1920er Jahre. K. Winter: Von der „Kieltante“ – Erinnerungen an die „Westfälische Allgemeine Volks-Zeitung“. Th. Horstmann: Plakate für Kommerz und Politik Dortmunder Plakatkünstler in den 1920er Jahren. K.-P. Ellerbrock: Die Gründung des Dortmunder Flughafens im Spannungsfeld regionaler Interessensgegensätze. N. Bodden: Kraftwagen und Flaschenbier – Neue Herausforderungen für die Dortmunder Brauwirtschaft. M. Dudde: Kraftstoffe für Automobile – Zapf- und Tankstellen während der Motorisierung in den 1920er Jahren. G. Unverferth: Zwischen Krieg und Krise − Rationalisierung und Mechanisierung im Dortmunder Bergbau. Chr. Kleinschmidt: Das „Deutsche Institut für technische Arbeitsschulung“ (Dinta) − „Menschenökonomie“ und Werksgemeinschaft in den 1920er Jahren. K.-P. Ellerbrock: Die Weltwirtschaftskrise von 1929: ein Wendepunkt in der deutschen Geschichte. G. Högl: Die Troika der Massenkultur − Der Dortmunder Volkspark: Westfalenhalle – Stadion Rote Erde – Volksbad. H. J. Bausch: Kommunismus der Kunst“ und „die Pflege des Guten im Menschen“. Das Engagement des Freidenkers und Pazifisten − Lothar Engelberg Schücking für das Kulturleben in Dortmund. A. Klotzbücher: Literarisches Leben liberal-sozial: Dortmund in den 1920er Jahren. K. Lauschke: Literatur über die Ruhrprovinz Westfalenhalle, um 1930 (Stadtarchiv Dortmund). G. ToepserZiegert: Als Dortmund auf dem Weg zur Weltstadt war. Der Pressezeichner Emil Stumpp beim Dortmunder General-Anzeiger 1926–1933. U. Gärtner: Lichtblicke – Theater und Avantgarde in Dortmund. H. Palm: Arbeitertheater in Dortmund – Bildung, Unterhaltung und Agitation. I. Grabowsky: Kesse Nuditäten und philosophische Revuen – Musik und Vergnügen im Dortmund der 1920er Jahre. O. Dommer: Paläste der Zerstreuung – Kino und Urbanität im Dortmund der 1920er Jahre. A. Zupancic: Erich Grisar – Fotografie in den „Goldenen Zwanzigern“. B. Buberl: So viele Bilder – so viel Kunst? Dortmunder Künstler der 1920er Jahre. Neue Literatur zur Dortmunder ■

















































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Stadtgeschichte. [H. 3] G. Kolbe: „Treffpunkt Dortmund“: Ein Werbeslogan wird zur Aufgabenbeschreibung. Die Arbeit des Informations- und Presseamtes der Stadt Dortmund von 1967 bis 1991. W. Dannebom: Öffentlichkeitsarbeit und Werbung im Amt für Wirtschafts- und Strukturförderung. O. Volmerich: Zwischen PR und Pressearbeit. Die „Ära Schackmann“ im Urteil der Medien. C. Rolland-Sendt: „Wo fahrt ihr denn hin?“ Die Anfänge der Stadtrundfahrten in Dortmund. G. Kolbe: „Ein intelligentes Spiel aus einer intelligenten Stadt“. Zum Imagefaktor Schach. G. Kolbe: Fan-Treffsund Public Viewings – ein Dortmunder Modell. Ein weltweites Erfolgsrezept wird 25 Jahre. Erinnerungen an 24 Jahre Amtsleitung (1967-1991). Oliver Schmidt im Gespräch mit Eugen Schackmann. E. Schackmann: Das DO-Emblem. Werben für Dortmund – Werben für unsere Stadt. K. Minner: „Ruß, dreckige Häuserfassaden, Kumpelatmosphäre, miese Maloche“? Imagewandel und Selbstdarstellung westfälischer Städte in Stadtwerbefilmen zwischen 1950 und 1980. P. Hofmann: „So lange ich laufen kann, werde ich natürlich Filme drehen . . .“. Die Dortmunder Filmchronistin Elisabeth Wilms. D. Fleiß: Die Stadt und ihr Bild. Stadtwerbung in Bottrop, Duisburg und Essen in Zeiten von Kohle- und Stahlkrise. [H. 4] J. Woda: Gründung des Philharmonischen Orchesters. Das erste Konzert am 6. Oktober 1887. Th. Schilp: Musik in der Stadt. Überlegungen zur Geschichte des musikalischen Lebens vor der Gründung des „Philharmonischen Orchesters“. S. Mühlhofer: Dortmund um 1887 – kulturlose Stadt?. M. Geck: Daniel Friedrich Eduard Wilsing, ein Komponist aus Hörde. „De profundis“ (1851), Werk für vier vierstimmige Chöre und großes Orchester. T. Rink/J. Woda: “Steckbriefe“ – Die Generalmusikdirektoren. J. Gaß: Zum Programm der Dortmunder Philharmoniker. J. Woda: Die Philharmoniker in der Stadt: „Jugendarbeit“. J. Boecker: „Der Klang weist in Richtung Konzerthaus“. Die Dortmunder Philharmoniker in der Philharmonie für Westfalen. F. Bünte: Visionen. Gegenwart und Zukunft der Dortmunder Philharmoniker. ■



































Der Märker. Landeskundliche Zeitschrift für den Bereich der ehemaligen Grafschaft Mark und den Märkischen Kreis 61.2012: S. Niggemann: Das Sauerland – Land der tausend Höhlen. V. Haller: Erzlagerstätten, Bergbau und Verhüttung am Silberg bei Herscheid. G. Dethlefs: Erfundene Ahnen. Ein neuadliger Zweig der Familie Lethmate – oder: vom Sinn der Ahnenprobe. O. Schulz: Heinrich Wilhelm von Holtzbrinck (1727-1790). Grundbesitzer, Unternehmer und Landrat im Kreis Altena. F. Petrasch: „Nachrodt marschiert gleich hinter Berlin, Hamburg, München“. Die Revolutionsjahre 1918 bis 1921 in der Gemeinde Nachrodt-Wiblingwerde. R. Blank: Die „Möhne-Katastrophe“ im Mai 1943 als Teil des europäischen Kriegsgedenkens. E. Trox: Geschichtsjubiläen. Rückblick auf 400 Jahre „Preußen im Westen“(2009) und Ausblick auf das 200jährige Jubiläum des Beginns der „Befreiungskriege“ (2013/15) aus der Perspektive der Grafschaft Mark. ■











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Märkisches Jahrbuch für Geschichte 112.2012: H. Lemke: Eine Institution im Spannungsfeld zwischen Erzbistum Köln und Grafschaft Mark: Kloster/Stift Fröndenberg an der Schnittstelle konträrer Machtstrebungen (7). S. Pätzold: Von Brief und Siegel. Bochums mittelalterliche Urkunden – Anmerkungen zu Bestand und Forschungsperspektiven (44). A. Bloch Pfister: Louisa Catharina Harkort (1718-1795) – die Märckerin (66). S. Pätzold: „Die Kirchen-Mittel sind hieselbst so schwach und deren sind so wenig . . .“. Die Prüfung der Kirchen- und Armenrechnungen der Wittener Johannis-Gemeinde im 18. Jahrhundert (89). T. Cramm: Friedrich Harkort und Hombruch (127). W. Hacke: Vom Staatsmann zum Mythos – Die Bismarck-Medaillen des Vereins für Orts- und Heimatkunde (151). R. Klein: Das Märkische Museum in Witten unter der Leitung von P.E. Noelle 1930 bis 1937 (170). Bericht über das Geschäftsjahr 2010 (JHV 2011). ■













Soester Zeitschrift. Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Heimatpflege Soest 124.2012: U. Löer: In memoriam Gerhard Köhn (1936-2011) (5). F. W. Landwehr: Klarstellung (11). F. Heinze: Archäologische Untersuchungen in der Paulikirche (13). W. Vollmer: Dinker – „eine Stelle, die von Wasser benetzt wird“ oder „Wegscheide an der Thingstätte“? Zu einer neuen Deutung des Ortsnamens (19). D. Hülsemann: Der Petrusschlüssel auf Soester Münzen (25). T. Daniels: Die Soester Fehde im diplomatischen Wirken und den historiographischen Werken des Enea Silvio Piccolomini (Papst Pius II.) (34). J. Trinkert: Eine unbekannte Stadtansicht Soests auf der Lübecker Patroklustafel (55). N. Lenke/N. Roudet: „Spam“ im 16. Jahrhundert? Ein Brief des Mathematicus Nicolaus Rensberger im Stadtarchiv Soest und seine Hintergründe (67). N. Wex: Ein Schreibheft Friedrichs des Großen im Stadtarchiv Soest (77). N. Wex: Friedrich der Große und das Ende des Soester Mittelalters (87). A. Elsner: Soester Bürger als französische Geiseln im Siebenjährigen Krieg (99). A. Heimsoth: Der Eisenbahnstreit zwischen Soest und Hamm in der Mitte des 19. Jahrhunderts (115). R. Götz: Ferdinand Freiligrath und Soest und Frankreich (139). P. Senne: Soester Badekultur des 19. Jahrhunderts (165). W. Weihs: Wilhelm Morgner – Das neue Werkverzeichnis der Gemälde (173). H.-D. Heimann: Gedeutete Geschichte – Deponierte Erinnerung: 100 Jahre Burghofsmuseum (181). G. Aumüller u. a.: Neuerscheinungen – Anzeigen und Besprechungen (199). I. Maas-Steinhoff: Jahresbericht des Vereins für Geschichte und Heimatpflege Soest e. V. für das Jahr 2010 (237). I. Maas-Steinhoff: Jahresbericht des Vereins für Geschichte und Heimatpflege Soest e. V. für das Jahr 2011 (243). ■









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Ausgewählte Beiträge zur geschichtlichen Landeskunde Westfalens in Periodika des Jahres 2012

Vestische Zeitschrift 104.2012/13: F. Schuknecht: Die Stifterin in Xanten und die Cappenberger Fälschung. Eine kritische Auseinandersetzung mit neuen Thesen zur Stifterin des vestischen Oberhofs Dorsten (5). T. Lindken/G. Schwabe: Quellen zur Geschichte des Stiftes Flaesheim im 13. Jahrhundert (II) (15). W. Koppe: Die Rolle der Stadt Recklinghausen im Hansebund (65). S. Voßschmidt: Der Baum ist nicht gezeichnet, also gestohlen. Beiträge zur Geschichte der Recklinghauser Mark im 18. Jahrhundert, insbesondere zur Markenordnung von 1786 und zum „wilden Gestüt“ (85). D. Scholz: Was einmal war, hört nicht auf, gewesen zu sein (Martin Walser). Zur Geschichte der Erforschung des frühmittelalterlichen Castrop (159). D. Scholz: Juden auf dem Wege zur Integration. Veränderungen in Schulbildung und Berufsstruktur bei jüdischen Familien in Castrop im 19. und 20. Jahrhundert (177). J. Pohl: . . . eine ehrliche Kugel für einen ehrlosen Lumpen: Die März-Ereignisse 1920 in Recklinghausen und ihre Folgen (195). U. Janczyk: Das Arbeitermassengrab in der Haard – oder doch „das Spartakistengrab“? Ein Beitrag darüber, wie die Erinnerungskultur die Überlieferung beeinflussen kann (253). ■













4. Sauerland und Siegen-Wittgenstein Sauerland. Zeitschrift des Sauerländer Heimatbundes 2012: [H. 1] R. Rath: Theodor Pröpper – ein kraftvoller Motor für Glaube und Heimat. J. Schulte-Hobein: Franz Stock und der Weg nach Europa. Sonderausstellung im Sauerland-Museum vom 20. Mai bis zum 26. August 2012. W. Pieper: Baugestaltung und Baukultur in Dörfern und Städten des ländlichen Raumes. U. Lange: „Problemberg“ Kahler Asten. E. Reuter: Vom Wald zum Naturpark – 50 Jahre Naturpark Arnsberger Wald. H. Dürr: Steinbrücke an der Helle – Grundstein im Mosaik der Ortsentwicklung. K. Baulmann: Stracken Hof. Ein Musterbeispiel Endorfer Identität. M. Schmitt: Bemerkenswerte Stiftung in Sundern: Figur der seliggesprochenen Mutter Teresa eingeweiht. W. Blanke u. a.: Kurfürstlicher Thiergarten Arnsberg – von der Idee zur Realisierung. J. Ottersbach: Arnsbergs Geschichte im „Thiergartenwanderweg“ wiedererstanden. [H. 2] F. Schrewe: Brilon und seine 16 Dörfer. Hand in Hand mit Perspektiven. W. Dickel: Briloner Heimatbund Semper Idem e. V. J. von Königslöw: Der Kahle Asten. T. Hirnstein: Hugo Bremer und seine Welt. Versuch einer Beschreibung seines Lebensbildes. I. Reich: TRILUX: 100 Jahre „Neues Licht“. P. Wirxel: Honigbienen und Bienenhonig. W. Rellecke: Von der Bürgergilde zum Mitgliederverein. Stadt, Bürger und Schützen in Belecke vom Mittelalter bis 1864 (1. Teil). R. Schmidtmann: Bestwiger Panoramaweg – ein starkes Stück Sauerland. [H. 3] H. Wevering: Sauerländer Heimatbund tagt in Brilon. G. Henkel: Stärken und Schwächen unserer Dörfer. Von ■



































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der Bürgergilde zum Mitgliederverein. K. J. Schulte: Der Königstiger von Dörnholthausen. F. W. Grote: Der Standort des „freiadeligen Hauses Kesberg“ zwischen Altenaffeln und Langenholthausen. B. C. Haberhauer-Kuschel: Niederhelden wird für besondere Leistungen in mehreren Bereichen der Dorfentwicklung ausgezeichnet. B. C. Haberhauer-Kuschel: Automotive Center Südwestfalen (ACS) in Attendorn. A. Müllmann: Aus dem Vorstand. S. Falk: Spiritualität und Südwestfalen – „Spirituelle Tage 2012“. R. Rath: Sein Wirken ragte weit über Balve hinaus. Ehrenbürger Josef Pütter zum 30-jährigen Todestag. M. Schmitt: „Mit Juchheirassassa, Sauerlandia ist da“. Vor 100 Jahren starb der Pfarrer und Volksschriftsteller Friedrich Schnettler in Hellefeld. E. Kersting: 200 Jahre Haus Hütter in Meschede-Olpe. [H. 4] H. Halbfas: Das gemeindliche Leben erodiert. Ein Zeitfenster für rettende Wege gilt nur noch ein bis zwei Jahrzehnte. W. F. Cordes: Chrysologus Heimes (1765-1835) als Musikpädagoge. B. Herlitzius: Die Drüggelter Kappelle – Neues von einem uralten Bau. C. Göbel: Pilgerwege im Sauerland. Bremscheider St. Jakobus-Kapellengemeinschaft errichtet Pilgerstein. E. Richter: Theodor Pröpper – Maria Kahle. Ein bedenkenswerter Briefwechsel. P. Bürger: Sprache und Regionalgeschichte. Neues aus dem Christine-KochMundartarchiv. F. J. Ratte: Das musikalische Schaffen Theodor Pröppers. W. Neuhaus: Revolution in einer Grenzregion: Der Raum Brilon-Marsberg in der Märzrevolution 1848. M. Zeiler u. a.: Archäologische Untersuchungen zum Spätmittelalter und der Neuzeit aus dem Sauerland. Interview mit Professor Dr. Michael Rind. S. Terren: Die Schaffung einer gesunden Natur mit den Menschen für die Menschen. Das Life-Projekt Möhneaue. B. Haberhauer-Kuschel: Prof. Dr. Hubertus Halbfas 80 Jahre. G. Müller: Wolfgang Frank wird 90 Jahre alt. G. Becker: Werner Cordes 80 Jahre. H. Lettermann: Rechtsanwalt und Notar Nikolaus Schäfer wurde 80. A. Müllmann: Trauer um Dr. Günter Cronau. ■















































Siegener Beiträge 17.2012: J. Friedhoff: Schloss Schönstein bei Wissen an der Sieg. Besitzgeschichte, bauliche Entwicklung und Ausstattung im Spiegel der archivalischen Überlieferung (7). C. Brachthäuser: Franz Josef Erbprinz von Oranien und Graf zu Chalon (1689-1703). Ein vergessener Repräsentant der katholischen Dynastie Nassau-Siegen (55). G. Klatte: Von Johann Moritz von Nassau-Siegen zu Johann Wenzel Bergl. Zur Entstehung und Rezeption der Gobelinserie „Tenture des Indes“ (93). P. Dotschev: Eine bischöfliche Visitation im Siegerland im Jahr 1729. Ein Quellenfund (117). P. Vitt: Die Firmen Achenbach und Achenbach & Hövel in Tiefenbach (135). H. Haumann: „Die Gegend wimmelt dort von Wilddieben.“ Ein Förstermord 1891 im Wittgensteinischen (173). H. Stratmann: Zwischen „lernen, und immer wieder lernen“ und „Lächerlichkeit und Ausschweifungen“. Volksschullehrerausbildung am Lehrerseminar Hilchenbach 1867-1914 (201). U. F. Opfermann: Paula Fechenbach und Robert Jagusch. Jüdische Lebensgeschichten im 20. Jahrhundert (223). M. Zeiler: Otto Krasa. Ein Heimatforscher in ■















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der Pionierphase der prähistorischen Archäologie (247). P. Kunzmann: Lieber spät als nie: Die Gründung der Ingenieurschule für Maschinenwesen in Siegen. 2. Teil (271). Rezensionen (305). ■



Siegerland. Blätter des Siegerländer Heimat- und Geschichtsvereins e. V. 89.2012: [H. 1] P. Vitt: Eisenhütten im Netpherland. J. Friedhoff: Kirchhof – kommunaler Friedhof – RuheForst. Zeugnisse der Sepulkralkultur des Siegerlandes und angrenzender Regionen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. T. Poggel: Zwischen Ohnmacht und Fortschritt: Rindviehseuchen-Präventation im Siegerland des 18. Jahrhunderts. H. R. Vitt: Gerhard Scholl (1922-1974). Regionalhistoriker und Burgenforscher. Mit einer Bibliografie seiner Veröffentlichungen. K. Schwarz: Martin Schulz – ein Maler des Lichts. A. Becker: Von wegen grün! Blattfärbungen bei Pflanzen. M. Fuhrmann: Der Buchweizen, eine entomologisch bedeutende Kulturpflanze. A. Bingener: Vorstands- und Vereinsarbeit 2011/2012. [H. 2] G. Moisel: „Auf den Spuren der Ahnen“. 50 Jahre Familienkundliche Arbeitsgemeinschaft im Siegerländer Heimat- und Geschichtsverein. L. Müller: Die Niederdresselndorfer Kirchenbücher als Spiegel der Geschichte. G. Moisel: Die Oberfischbacher Kirchenbücher oder: Die „verlorenen“ Ahnen der Familie Stahlschmidt. C. Brack: Das Kirchenbuch der Garnison Attendorn/Siegen. L. Irle (†): Mundart und Familiennamen im Siegerland. H. Schmeck (†): Über die Bildung von Familiennamen im Kirchspiel Oberholzklau. M. Spies: Natürliche Kinder, Bastarde und Hurenkinder. Illegitime Nachkommen des Hauses Selbach-Lohe im 16. und 17. Jahrhundert. R. Heetfeld: Schultheißenhäuser und Gerichtsgebäude zu Netphen und Siegen. H. Busch: Die ältesten Vertreter der Familie Busch im Kirchspiel Krombach. K. H. Gerhards: Das Legat des Admirals Jan Hendrick van Kinsbergen. Zur Geschichte der „Admiralsgelder“. R. Mets: Die Geschichte des Leonhard Kölsch (1786-1863) aus Salchendorf. Soldat in der Armee Napoleons und in der RussischDeutschen Legion. E. Hatzig: Auswanderer aus dem Johannland von 1710 bis 1945. S. Kasteleiner: Allendorf – Ein kleines nassauisches Dorf und seine familiengeschichtlichen Beziehungen zum Siegerland. G. Moisel: Siegerländer Familienkunde (16). Jahresbericht 2011/2012 der Familienkundlichen Arbeitsgemeinschaft. ■









































SüdWestfalen-Archiv. Landesgeschichte im ehemals kurkölnischen Herzogtum Westfalen und der Grafschaft Arnsberg 12.2012: M. Kirschstein: Die Auseinandersetzung zwischen Waldeck und dem Herzogtum Westfalen (Kurköln) um den Assinghauser Grund 1554/1663 (9). G. Brökel: Angeklagt in puncto magiae. Hexenprozesse um 1685 in Brilon (25). C. Heinemann: Die jüdische ■



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Familie Cohen aus Werl und ihre Verbreitung im Herzogtum Westfalen (Neheim, Erwitte, Anröchte, Rüthen, Brilon) im 17. und 18. Jahrhundert (51). H. J. Deisting: Eine Schulprämie aus dem Jahre 1751 für den späteren Werler Notar Johann Theodor Caspar Lammers (1736-1786). H. Pasternak: „Die Versuchungsgeschichte Christi“ – eine „Disputation“ aus dem Jahre 1789 von Friedrich Adolph Sauer (1765-1839) (123). B. Kirschbaum: Ein kleines Buch über die Großherzoglich-Hessischen Truppen im Russlandfeldzug 1812-1813 (157). H. Conrad: „Der Ruhm, den wir erworben, wird unvergesslich sein.“ Friedrich Wolters (1777-1862) Erinnerungen an die Napoleonischen Kriege (181). J. von Nathusius: Das Postbuch der Station Wimbern für die erste Hälfte des Jahres 1837 (239). W. Neuhaus: Die Märzrevolution von 1848 im Raum WarsteinRüthen (249). E. Richter: Bier oder Hunde – Die misslungene Einführung einer kommunalen Biersteuer in der Stadt Geseke im Jahr 1912 (275). J. Hahnwald: „Goldene zwanziger Jahre?“ Die Stabilisierungskrise 1924 und die Wirtschaftskrise 1925/1926 im Sauerland (303). H. Dürr: „Der Anfang an die deutsche Freiheit war schwer“ – Heimatvertriebene Flüchtlinge aus ehemaligen deutschen Ostgebieten in Eslohe (327). ■

















Wittgenstein. Blätter des Wittgensteiner Heimatvereins e. V. 100.2012: W. Daugsch: 300 Jahre Sohl bei Fischelbach. P. Riedesel/H. S. Riedesel: Warum stand Mannus Riedesel dem Grafenhaus zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg so nahe? B. Stremmel: Wie ich das Stünzelfest erlebte. F. Weber/F. W. Dörr: Erbkauf- und Weinkaufbriefe im Roths-Haus auf der Laaspherhütte. Das Bollwerk „Wittgenstein“ in Berlin. G. A. Beuter: 100 Jahre Frauenhilfe im Kirchspiel Wingeshausen. H. F. Petry: Die Hausgrundstücke und ihre Eigentümer in der Stadt Berleburg vor dem großen Brand von 1825. H. Weber: Von einem der auszog, glücklich werden zu wollen – Als Pfarrer Heinrich Basse von Erndtebrück nach Texas auswanderte. J. Klammer: Die IndienMissionarin Christine Belz aus Arfeld (1833-1902). T. Beuter: Die Familie von Rüspe und die Zehntrechte zu Wingeshausen. B. Geier: Kirchliches Leben in Balde, Melbach und Leimstruth. H. Imhof: Seuchen, Krankheiten und deren Behandlungsmethoden in früheren Zeiten. G. Born/F. Opes: Die Glocken von Girkhausen und die Familie Nölling (Schneiders): 170 Jahre im Dienst der Glocken. J. Burkhardt/H. F. Petry: Gebäudegeschichtliches zum “herrschaftlichen Haus“, später Waisenhaus und Schulhaus in Berleburg. U. Lückel: Ludwig Adolph Peter Fürst zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg in Ludwigsburg (1769-1843) 2012 in Russland geehrt. H. Imhof: Seuchen, Krankheiten und deren Behandlungsmethoden in früheren Zeiten – Teil II. P. Riedesel: Wittgensteiner im amerikanischen Bürgerkrieg: Einige Beispiele. G. Karpf: Nachruf Fritz-Walter Langner †. ■

































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II. Nachbarregionen und überregionale Zeitschriften Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein insbesondere das alte Erzbistum Köln 215.2012: K. Militzer: Fragment eines Kopialbuchs des Ursulastifts (1-16). W. D. Penning: Kurkölnischer Hofkammerpräsident und Koadjutor des Landkomturs. Der Aufstieg Caspar Antons von Belderbusch am Hofe Clemens Augusts und im Deutschen Orden von 1751-1761 (17-72). M. Müller: On dit. Die Nachrichtenrezeption des Krefelders Abraham ter Meer im Siebenjährigen Krieg (73-96). J. Poettgen: „Zwischen Rhein und Maas“. Kurfürst Clemens August und der Lütticher Glockengießer Martin Legros – eine kulturgeographische Studie (97-116). Th. Becker: Die Gründung der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bonn (117-132). H. P. Neuheuser: Christozentrik und Gesamtkunstwerk. Johannes van Acken und seine Programmatik zur Liturgie und Sakralkunst in der Moderne (133-160). Besprechungen. ■











Der Anschnitt 64.2012: [H. 4] M. Mücke: Johann Georg Bause (1699-1752) – Erste systematische Beschreibung des „teutschen“ Bergrechts. G. Grabow: Zum 110. Geburtstag von Alfred Kneschke – Ein anerkannter Mathematiker für die praxisorientierte Lehre und Forschung an der Bergakademie Freiberg. [H.5-6] Th. A. Bartolosch: Die Stahlsteingrube Guldenhardt bei Herdorf im Kreis Altenkirchen als Rohstoffbasis der Wendener Hütte im Kreis Hütte. C. Trojan: Die Wassersäulenmaschinen von Carl Ludwig Althans. G. Grabow: Zum 240. Geburtstag von Wilhelm August Lampadius, dem Wissenschaftler und Wegbereiter bei der Einführung der ersten Gasbereitungsanlage auf dem europäischen Kontinent vor 200 Jahren. E. Pasche: Koks und Cola – Das Ruhrgebiet der 1950er Jahre. H. Esken/M. Schnell: Der “Knochen-Karl“ – das Bergarbeiterdenkmal der Bochumer Zeche Constantin feiert ein doppeltes Jubiläum. K. Plewnia: (Alt-) Bergbau- und -Forschung in NRW – ein Tagungsbericht. ■













Bentheimer Jahrbuch 2012 (2011): R. R. Wandrey: Auf den Spuren der Geschichte Nordhorns. Kinder erkunden ihren unmittelbaren Lebensraum (33). U. Körner: „Erinnerungen an meine Dienstzeit beim R.A.D.“ Das Reichsarbeitsdienstlager der weibl. Jugend 4/172 in Itterbeck 1940 – eine ■

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Fotodokumentation der Arbeitsmaid Margret Beckmann aus Rheine. (367). U. Körner: Fünf Jahre hinter Stacheldraht in Matsuyama und Bando. Das Schicksal des Seesoldaten Heinrich Herms aus Kleinringe in japanischer Gefangenschaft 1914-1919 (45). A. Scholz: Briefgestaltung als Ausdruck unternehmerischen Selbstverständnisses (51). H. Voort: Als der Lehrer „mit dem Löffel“ von Hof zu Hof ging. Vom Reihetisch der Volksschullehrer in der Grafschaft Bentheim (61). R. Hesser: Ersatz-Soldat für 1000 Gulden. Ein Freikauf vom Militärdienst im Jahre 1808 (77). H. Voort: Erbschulte oder „dieses Jahres Schulze“. Das Schultenamt in den Bauerschaften des Gerichts Uelsen (81). G. Plasger: Streit um zwei Fuhren Mist. Uneinigkeit zweier Bauern in Bakelde wurde 1775 in Marburg entschieden (87). H.-J. Schmidt: Bentheim im Jahr 1705. Ein Reisebericht von Christof Wenzel Graf von Nostitz (93). H. Titz: Handwerk und Handel im Mittelalter. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte der Grafschaft Bentheim (99). A. Rötterink: Emlichheim feiert Geburtstag. Schlaglichter aus 700 Jahren Geschichte (149). G. Busmann: Als die Vechte über die Ufer trat. Augusthochwasser 2010 in der Samtgemeinde Schüttorf (161). H.-W. Schwarz: Nordhorn-Münster und zurück. Zur Notwendigkeit eines Bahnanschlusses für die Kreisstadt Nordhorn (165). B. Rasink: 5000 Jahre Geschichte auf drei Hektar Fläche. Die Ausgrabung vom Kreuzbree im Spiegel der Geschichte von Brandlecht und Hestrup (177). C. Endlich: Wo Bauern und Schmiede lebten. Ausstellung über archäologische Ausgrabungen in Nordhorn-Hestrup (195). ■

























Blätter für deutsche Landesgeschichte 147.2011 (2012): F. Kramer: Zur regionalen Dimension der europäischen Geschichte (1). H. Dopsch: Landes- und Regionalgeschichte in Österreich. Entwicklung – Organisation -Perspektiven (7). H. Heiss: Identität und Wissenschaft an der Grenze: Landes- und Regionalgeschichte in Tirol und Südtirol (31). G. B. Clemens: Italienische Regionalgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert: Traditionen und neue Wege (59). St. Sonderegger: Regionalgeschichte in der Schweiz (77). Chr. Lebeau: Was heißt Landesgeschichte in Frankreich? Aus der Perspektive der Frühen Neuzeit (103). C. Jahnke: Regionalgeschichte in Skandinavien. Stand und Zukunftsperspektiven am Beispiel Dänemarks, Schwedens und Norwegens. Eine Skizze (115). [Tagungsbericht] J. Rinser: Medien des begrenzten Raumes: Regional- und landesgeschichtliche Zeitschriften im 19. und 20. Jahrhundert (519). ■













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Düsseldorfer Jahrbuch. Beiträge zur Geschichte des Niederrheins 82.2012: L. Peters: „... sehr große mutationes absonderlich zu Düsseldorff ...“. Zerstreute stadtgeschichtliche Nachrichten Düsseldorfs aus dem 17./18. Jahrhundert im Archiv der Freiherren von Spiering. C. Ilbrig: Georg Arnold Jacobis berufliche Laufbahn in Düsseldorf im Spannungsfeld von Revolution und Restauration. B. Severin-Barboutie: Zwischen lokal und global. Düsseldorf in napoleonischer Zeit (1806-1813). J. Rudersdorf: Francois Etienne Damas (1764-1828), Militärkommandant und Staatsrat im Großherzogtum Berg. A. Becker: Johann Friedrich Jacobi und die napoleonische Kirchenpolitik im nördlichen Rheinland. Th. Merkelbach/W. Merkelbach/D. Heimer: Die letzten Lebensjahre Clara Viebigs. Die Rollen ihres Bevollmächtigten, Ernst Leo Müller, Berlin, und des Stadtarchivars Paul Kauhausen, Düsseldorf. B. Braun/D. Ahlemann: Die Familie Bawyr zu Böckum, Rommeljan und Hohenholz. Zwei Briefe und ein Rechtsstreit aus dem Jahr 1661. P.-G. Custodis: Die Düsseldorfer Familie Custodis. Hinweise auf Briefquellen aus dem 19. Jahrhundert. I. Zacher: Krankheit, Tod und Nachruhm des Akademiedirektors Dr. Wilhelm von Schadow. M. Crass: Constantin Nörrenberg: Aus Anlaß seines 150. Geburtstages. A. Büttner: Kaiserswerth als Lazarettstandort. Cl. Lange: Der Zentral-Dahliengarten in Düsseldorf. H. Fischer: Stadterneuerung durch Umnutzung. Der Strukturwandel der 1960er bis 2010er Jahre und die Stadtplanung in Düsseldorf. Ch. Leitzbach: Schneider Wibbel – die Geschichte einer Theaterlegende. Rezensionen Stadtchronik Denkmalbericht Vereinsbericht. ■

































Emsländische Geschichte 19.2012: M. Fickers: Enttäuschte Erwartungen – Die Eisenbahn und die wirtschaftliche Entwicklung im südlichen Emsland von 1804 bis 1880 (63). G. Steenken: Die Meppener Eisenhütte – Die Geschichte eines bedeutenden Industriebetriebs von 1859 bis heute (218). Biographien zur Geschichte des Emslandes und der Grafschaft Bentheim: H. Lensing: Art. van Acken, Stephan Rüttger, gen. Rüdiger (Drucker/Verleger) (313). H. Lensing: Art. van der Linde, Carl (Drucker/Dichter) (331). B. Stegemann: Art. Remarque, Erich Maria (Lehrer/Schriftsteller) (364). S. Rosenboom: Als „Fliegerass“ in Ost und West – Der Grafschafter Dietrich Averes im Ersten Weltkrieg (393). F. J. Buchholz: Wie kam im Zweiten Weltkrieg Chicorée nach Holte? – Briefe der emsländischen Familie Buchholz aus Holte im Kreis Meppen und eines belgischen Kriegsgefangenen (415). W. Straukamp: „Menschen, Mode und Maschinen“ – Das Textilzentrum Nordhorn. Eine vorläufige Geschichte des Stadtmuseums Nordhorn (434). A. Geppert: Emsländische Burgenfahrt – 12. Das „Amtshaus“ Nienhus bei Aschendorf (482). G. Harpel: Ergänzungen und Fortführung zu Kapitel 12 der „Emsländischen Burgenfahrt“: Nienhaus (487). S. Surberg-Röhr: Ein fürstliches Verlangen ... Von kurfürstlichen Jagden und ■



















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Jagdwaffen auf Schloss Clemenswerth (503). S. Kreyenschulte: Das Grundwort -ham in Ortsnamen. Probleme der Zuordnung am Beispiel des Siedlungsnamens „Scapa-ham“ − „Scapa-hem“ – Schapen im Emsland (535). ■

Hansische Geschichtsblätter 130.2012: C. A. Franzke: Die persönlichen Handelsrechnungen des preußischen Kaufmanns Johannes Plige (1391-1399) (1). A. Huang / C. Jahnke: Bermudadreieck Nordsee: Drei Hamburger Schiffe auf dem Weg nach London (59). M. Seier: Die Hanse auf dem Weg zum Städtebund: Hansische Reorganisationsbestrebungen an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert (93). M. Ressel: Von der Hanse zur hanseatischen Gemeinschaft. Die Entstehung der Konsulatsgemeinschaft von Bremen, Hamburg und Lübeck (127). J. Weststrate: Die niederländische Geschichtsschreibung über die Hanse (175). H. Weczerka: Paul Johansen (1901-1965), Hanse- und Osteuropahistoriker. Bemerkungen zu einer neuen Publikation (211). Hansische Umschau. ■











Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 62.2012: H. Ramge: Die Waldschmidts und die Waldschmieden: zur Entstehung und Verbreitung eines hessischen Familiennamens (1). G. N. Strickhausen-Bode / G. Strickhausen: Burg Kronberg in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (23). H. Th. Gräf: Die Grablegen der Landgrafen von Hessen : der Einfluss von Reformation und Territorialisierung auf die landesherrliche Sepulkralpolitik (57). A. Jensdorff: „Dem Eisenhut dienen, aber unter dem Bischofshut wohnen“. Niederadel und Landesherrschaft im Hochstift Fulda und im Hessen der Frühen Neuzeit (83). E. Bender: Der Große Inselsberg: zur hessisch-thüringischen Grenze in der Frühen Neuzeit anhand der zeitgenössischen Publizistik (125). Th. Notthoff: Strohfeuer oder Symbolakt?: Executio in effigie im Hessen des Siebenjährigen Krieges (149). St. Aumann / H. Th. Gräf: Hessische Truppen im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg : ein neues Datenbankprojekt der Historischen Kommission für Hessen und des Hessischen Landesamtes für geschichtliche Landeskunde (169). W. A. Eckhardt: Dorfgerichtsstätten im nördlichen Hessen (183). Besprechungen (197). ■















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Industriekultur. Denkmalpflege, Landschaft, Sozial-, Umwelt- und Technikgeschichte 18.2012: [H. 1] Schwerpunkt Wasserkraftwerke: T. Horstmann: Das Pumpspeicherkraftwerk Koepchenwerk Herdecke des RWE. O. Dommer: Harte Arbeit. ArbeiterskulpturenSammlung des Gelsenkircheners Werner Bibl. M. Krause: „Die andere Schönheit“ Fotoausstellung zur Industriekultur auf Zollverein. A. Kugler-Mühlhofer: Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg. Internationale Wanderausstellung im LWL-Industriemuseum Zeche Zollern. [H. 2] F. Bluhm: Wasser und Wind wiesen den Weg. Die HollandRoute in den Niederlanden. H. Palm / I. Telsemeyer: Der Bergarbeiterdichter Heinrich Kämpchen. A. Kierdorf: Ruhrmuseum zeigt 200 Jahre Krupp. A. Kunkel: Heinrich Kley: Die Krupp’schen Teufel. W. Kulke: Möbel kommen aus OstwestfalenLippe! [H. 3] Schwerpunkt Die Straße: J. Wietschorke: Glänzender Asphalt und unsicheres Pflaster. K. Holthaus: Michael Funk ist tot. T. Janssen: Jens Titus Freitag: Unterwegs mit der Camera obscura. N. Schober/K. Telaar: Das EU-Projekt Artmuse: Medienkunst und Industriekultur. S. Niederhagemann/N. Tempel: Malakowtürme im Ruhrgebiet – eine Bestandsaufnahme. [H. 4] Schwerpunkt Nahrung und Genuss: N. Gilson: Lebensmittel, Schlachthöfe, Märkte. C.-J. Virnich: Zucker aus Rüben – eine Erfolgsgeschichte der Lebensmittelindustrie. F. Welgemoed: Religiöse Dampfmaschine im Kesselhaus Steyl bei Venlo. H. Krumlinde: Schlägel & Eisen 3/4/7 in Herten: Abriss statt Umnutzung. D. Sobanski/I. Trocka-Hülsken: Stadt der Guten Hoffnung – Bilder aus Oberhausen. ■































Internationale Kirchliche Zeitschrift 102.2012: St. Sudmann: Die Gründung der altkatholischen Kirchengemeinde Münster und der Streit um die Ignatiuskirche 1939. Kulturkampfmechanismen im Nationalsozialismus? (269-285). Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes 58.2012: H. Bröring: „God is myn leidsman“. In memoriam Dr. Werner Remmers (1930-2011). Th. Mönch-Tegeder / H. Schüpp / G. Wilhelm: 200 Jahre Ludwig Windthorst – Jubiläum fragt nach der heutigen Bedeutung des Zentrum-Politikers. Ch. Haverkamp: Das Meppener Grenztraktat von 1824 – ein folgenreiches deutsch-niederländisches Vertragswerk. J. Menne: Das vergessene Großsteingrab von Werpeloh – Neue Untersuchungen zu den Megalithgräbern im Hümmling. R. Schiel: „Wandle auf Rosen und Vergißmein■







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nicht“ – ein Lingener Album Amicorum von 1792. S. Kulling: Verbunden – getrennt -gestohlen -gefunden. Die wechselhafte Geschichte einer Königskette der Schützengesellschaft Freren. K. Schulte-Wess: Gewildert – gewonnen? Über Wilderei und ihre Bestrafung. H. H. Bechtluft: Als Vorsänger bei den „Rammern“ – Die Neuentdeckung des Erzählers Egbert Gerrits im linksemsischen Moor. H. Lemmermann: „... die Unterthanen güthlich zu tractiren ...“. Ein Beitrag zur Entstehungeschichte von Schloss Clemenswerth. A. Eiynck: Hausmarken – geheimnisvolle Zeichen an Häusern und Antiquitäten. St. Schwenke: Staatliche Verwaltungsbauten in Lingen im 20. Jahrhundert – ein Überblick. ■











Jahrbuch für das Oldenburger Münsterland 61.2012: Lastrup – dynamisch, sympathisch, aktiv! Cl. Lanfermann: Die Geschichte des ersten Lastruper Friedhofs (25). M. Hirschfeld: Glaube und Adelsstand als Motivation für politisches Engagement – zur Biographie der Reichstagsabgeordneten Ferdinand Heribert (1831-1906) und Friedrich Matthias von Galen (1865-1918) (49). A. Hanschmidt: Von der Normalschule zur Universität Vechta (1830-2010) (73). M. A. Zumholz: „Wer in der Zukunft lesen will, muss in der Vergangenheit blättern“ (André Malraux) (96). R. Weber: Zur Lage der Heuerlingsleute in den Ämtern Vechta und Cloppenburg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (115). A. Bauerochse / H.-H. Leuschner / A. Metzler: Das Campemoor im Neolithikum – Spuren früher Besiedlung in der südlichen Dümmerniederung (135). E. Hasenkamp: Abgeschossen über dem „Großen Moor“ – Erinnerungen an den Luftkrieg in unserer Heimat vor 65 Jahren (154). B. Muhle: Henk Lont aus Amsterdam fand in Varnhorn seine Rettung (171). H. Küster: Hat das Modell Dorf noch eine Zukunft? (204). W. Klohn: Bodennutzungswandel und Maisanbau im Oldenburger Münsterland (217). ■



















Jahrbuch für Regionalgeschichte 30.2012: G. Fouquet/S. Rabeler: Juden in den Ostseestädten Wismar und Rostock im Mittelalter – ein Vergleich. M. Rheinheimer: Schiffe für die Ewigkeit. Grabsteine und regionale Kultur an der Nordseeküste. M. Ströhmer: Modernisierung via Traditionalismus? Beobachtungen, Fragen und Thesen zur ,Jurisdiktionskultur‘ des 18. Jahrhunderts im Hochstift Paderborn. G. Lingelbach: Eine Welle der Hilfsbereitschaft ergoß sich über die Menschen an der Küste. Die Spendenflut zur Sturmflut in Hamburg 1962. ■





Ausgewählte Beiträge zur geschichtlichen Landeskunde Westfalens in Periodika des Jahres 2012

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Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 38.2012: M. Schmandt: Der Pfalzgraf, sein Pfarrer und der „gute Werner“. Oder: Wie man zu Bacharach und Oberwesel ein antijüdisches Heiligtum erschuf (1287-1429) (7). G. Kneib: Die Synagoge von Bad Sobernheim (39). K. Schneider: Grenzau und Sporkenburg im Unterwesterwald – zwei Falschmünzerwerkstätten an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert (79). J. Friedhoff: Geschichte, bauliche Entwicklung und Ausstattung des Schlosses Schönstein an der Sieg (109). P. Brommer: Die Teilnahme der anhaltschaumburgischen Prinzen Christian und Franz Adolph am ersten schlesischen Krieg auf der Seite Preußens aus der Sicht des Hofmeisters von Königslöw und des Sekretärs Knöchel (169). W. H. Stein: Das Französische im Rheinland. Zum Stand der Forschung über die Sprachenfrage in den rheinischen Departements 1794-1814 (213). W. Laufer: Von der Leyens „Rückkehr“ auf den Linksrhein. Die Verwaltungsstelle Blieskastel nach der Aufhebung des Sequesters über die linksrheinischen Güter (1804-1808) (239). M. Knichel: Wandern ist menschlich ... Ein kulturgeschichtlicher Streifzug für Wanderer in der Eifel (277). U. Liessem: Die Schlosskapelle in Sayn und das Madonnenfresko von Franz Ittenbach in der Kapelle am Ortseingang von Arzheim (287). A. Redmer: Der Konflikt in der Obersteiner Metallbranche 1906/07 als Beispiel eines frühen Arbeitskampfs außerhalb großstädtischer Industriereviere (303). F. Trinkaus: „. . . aus allen Himmelsgegenden wird die Bevölkerung durch den gebotenen Erwerb herbeigelockt“. Zuwanderung und Industriearbeiterschaft in den Hüttenstädten Neunkirchen/Saar und Düdelingen/Luxemburg vor dem Ersten Weltkrieg (339). E. Hemmerich: Von der Ostfront nach Sibirien. Die Kriegsgefangenschaft des Katzenelnbogeners Wilhelm Pfeiffer 1915-1920 (369). Th. Schnitzler: Bilder für die Propaganda. Das unbekannte Kriegswerk des Malers Martin Mendgen (429). M. Storm: Parlamentarische Neuanfänge. Landtagsjahre in Koblenz (1946/47-1951) (445). St. Frank: Von Frankfurt nach Bonn. Die Vertretung des Landes. Organisationsgeschichte (467). ■

























Nassauische Annalen 123.2012: E. Schallmayer: Römer und Germanen in Hessen. Ausgewählte Beispiele zu den jüngsten Forschungen (7). D. von Winterfeld: Die Vierung der Klosterkirche in Eberbach (43). St. Weinfurter: Ludwig der Bayer und sein Koblenzer Programm von 1338 (55). B. Fuhrmann: Städtewesen im Spätmittelalter. Das Beispiel der Regionen Siegen, Wittgenstein und Dillenburg (81). H.-W. Herrmann: Die Grafen von Nassau links des Rheins (99). V. Reinhardt: Von der Stadtrepublik zum fürstlichen Territorialstaat. Calvinismus zwischen Genf und Nassau im 16. Jahrhundert (147). J. Freedman: Johann Heinrich Alsteds ,Philosophia digne restituta‘ (1612). Ein kurzer Überblick über Inhalt und Bedeutung des Werkes (161). H. Hotson/R. Störkel: Die Herborner ,Encyclopaedia ■













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septem tomis distincta‘ von Johann Heinrich Alsted. Nassauischer Ursprung und internationale Rezeption (183). G. Menk: Deutsche Landesgeschichte mit transatlantischen Horizonten. Das Beispiel Johann Moritz von Nassau-Siegen (1604–1679) (225). H. Th. Gräf: Grafenbild und Kunsttransfer. Ein neuer Fund zur Ikonographie Graf Johanns VIII. von Nassau-Siegen (1583-1638) (257). S. Groenveld: Fürst und Diener zugleich. Die Grafen und Fürsten von Nassau-Diez als Statthalter von Friesland im 17. Jahrhundert (269). H. Wunder/D. Wunder: Herrendienst, Konfession und „im Stande“ bleiben. Die österreichischen Freiherren von Hohenfeld im Reich und im „vatterland“ (305). F. Jürgensmeier: Kanonische Visitation der Benediktinerinnenabtei St. Rupertsberg-Eibingen im Kriegsjahr 1641 (349). M. Th. Kloft: Zwischen Reichsdienst, Hausinteressen, Katholizismus und Landesherrschaft. Die jüngere Linie Nassau-Hadamar und ihr Fürstentum (367). E. Treichel: Sicherung der Eigenstaatlichkeit im Rahmen einer deutschen Föderation. Die nassauische Politik auf dem Wiener Kongress und die Entstehung des Deutschen Bundes (405). H. Duchhardt: Der Freiherr vom Stein und der Verein für nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung (425). M. Wettengel: Der Idsteiner Kongress und die Reichsverfassungskampagne in Nassau 1849 (433). G. U. Großmann: Bau- und Burgenforschung im Werk Karl August von Cohausens (453). H.-W. Hahn: Zwischen wirtschaftspolitischen Erfolgen und geschichtspolitischer Niederlage. Karl Braun und der Deutsche Zollverein (481). I. J. Demhardt: „Hin nach Texas, hin nach Texas ...“. Bodenspekulation, Landvermessung und Katasterwesen im 19. Jahrhundert unter Berücksichtigung des Texasvereins (505). B. Dölemeyer: Popularisierung der Römerzeit. Die Saalburg-Forschungen Gustav Friedrich Habels und der Brüder Jacobi (539). J. Flemming: Preußische Pressepolitik und konservative Provinzzeitungen in der Ära Bismarck: ,Kasseler Journal‘ und ,Wiesbadener Zeitung‘ (561). St. Zibell: Der Friede von Versailles und der Mittelrhein. Zur Entstehung des ,Freistaats Flaschenhals‘ im Oktober/November 1918 (585). Chr. Vanja: Von der herzoglichen Irrenanstalt zum modernen Gesundheitskonzern. Die Geschichte der nassauischen Psychiatrie (603). P. Forster / M. O. Merz: Kulturelle Ausbeutung in der NSZeit. Provenienzforschung im Museum Wiesbaden 2009-2011 (635). D. Degreif: Identitätsstiftung und Integration. Die Entstehung des Bundeslandes Hessen (667). ■



































Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 84.2012: Niedersachsens östliche Grenzen. Vorträge auf der Jahrestagung 2011: G. Fiedler: Helmstedt und das Braunschweiger Land nach 1945: zur wirtschatlichen Entwicklung einer Grenzregion (1). D. Schmiechen-Ackermann: Die innerdeutsche Grenze als Problem und Thema der niedersächsischen Zeitgeschichte (43). Th. Schwark: Niedersachsens DDR-Grenze 1945-1990. Überlegungen zur Ausstellung „Grenzerfahrungen ...“ im Historischen Museum Hannover (57). M. Mahlke / A. de Rudder: Zur Konzeption der Ausstellung „Grenzerfahrungen − Niedersachsen und die innerdeutsche Grenze 1945-1990“ (71). Chr. Hellwig / L. Kelich: „GrenzImpressionen“. Ein Ausstellungsfilm ■







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Ausgewählte Beiträge zur geschichtlichen Landeskunde Westfalens in Periodika des Jahres 2012

in Theorie und Praxis (81). S. Schiessl: Das Lager Friedland als Tor zur Freiheit. Vom Erinnerungsort zum Symbol bundesweiter Humanität (97). M. Steinbach: Geschichten, die anders sind: Warum man hierzulande nicht über Grenzen redden kann (123). Adel zwischen Stadt und Land. Repräsentation und Rezeption, Ökonomie und Herrschaft einer Elite in der Frühen Neuzeit in Nordwestdeutschland. Vorträge der Sitzungen des Arbeitskreises Wirtschafts- und Sozialgeschichte [9 Beiträge] (133-314). H. Stübig: Die Scharnhorst-Biographie von Georg Heinrich Klippel. Untersuchungen zur ersten umfassenden Lebensbeschreibung des späteren preußischen Generals und Heeresreformers (315). Chr. van den Heuvel: Quellen zur politischen Geschichte der hannoverschenglischen Personalunion im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien. Ein Überblick (343). A. Hoffrichter: Heinrich Albertz und die SBZ-Flucht – zur Rolle Niedersachsens, der Presse und des Durchgangslagers Uelzen-Bohldamm im Prozess der Notaufnahmegesetzgebung 1949/1950 (377). ■











Oldenburger Jahrbuch 112.2012: H. Haiduck: Neue Erkenntnisse zur Baugeschichte und Architektur der mittelalterlichen Kirchen von Rodenkirchen und Golzwarden. M. Pauly: Zur Herkunft der Schweiburger Altarplatte. R. Holbach: Die Hanse und der deutsche Nordwesten im 15. Jahrhundert. T. Koopmann: „... auch deroselben mit aufwartung undt tractation so viel Ehren bezeigen“. Der Besuch des Kurprinzen Friedrich Wilhelm in Oldenburg als Beispiel höfischer Repräsentation bei Graf Anton Günther. E. Seeber, Neue Funde alter Bauerschaftsverfassungen links und rechts der Weser. K.-P. Müller: Die Reisetagebücher von Ulrich Jasper Seetzen in der Landesbibliothek Oldenburg. D. Freist: „Die Frau der Zukunft wird sich ihrer Eigenart als Frau klarer bewusst sein. Sie will nicht sein wie der Mann.“ – Bertha Ramsauer und die Selbstbildung des Menschen. A. Heckötter: Die Staatliche Galerie Neuerer Malerei. Zur Geschichte einer Sammlung moderner nordwestdeutscher Kunst (1909-1921). G. Presler: Georg Düser als Sammler, Arzt, Dichter und Stifter. M. Kenzler: Das Landesmuseum Oldenburg und die Leipziger Schule. Eine Sammlungsgeschichte ostdeutscher Malerei und Grafik in der Galerie Neue Meister. M. Henneberg/R. Stamm: Nachruf Gerhard Wietek (1923-2012). B. Rothmann, Eine eisenzeitliche Nachbestattung in einem neolithischen Großsteingrab. P. Weiler/I. Wigge: Schätze auf dem Schlossplatz: Die archäologische Baubegleitung Oldenburg „Schlossplatz“ 2011. J. E. Fries: Bericht der archäologischen Denkmalpflege 2011. H. Dirk: Der Kranich – Hauptdarsteller einer Erfolgsgeschichte. K. Fuhrmann/C. Ritzau: Otto Ernst Oppermann und die Gründung des heutigen Landesmuseums Natur und Mensch in Oldenburg. H. Engler: In memoriam Rudolf Drost (1892-1971). ■































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Osnabrücker Mitteilungen. Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Landeskunde Osnabrück (Historischer Verein) 117.2012: K. Igel: Gemeindebildung in der Kathedralstadt. Osnabrück im 12. und frühen 13. Jahrhundert (9). P. Veddeler: Das Leben des Grafen Bernhard I. von Bentheim (um 1330-1421) (39). N. Rügge: Bürgermeister und Pfarrer in den Osnabrücker Hexenverfolgungen (65). Th. Heese: Das Kuriositätenkabinett des Dr. Meuschen. Als das Museum in Osnabrück das Laufen lernte – Sammeln und Staunen im 18. Jahrhundert (101). Chr. Haverkamp: Der Osnabrücker Regierungspräsident Adolf Sonnenschein (115). F. Brändle: Der Zweite Weltkrieg in Osnabrück in den Selbstzeugnissen Karl Lilienthals und Marie-Luise Koschnicks (143). S. Weitkamp: „Polenhure“. Lina Gräbig, Bissendorf und eine nicht gezahlte Entschädigung (159). H. Voort: Haus Twickel und die Herrlichkeit Lage. Die Regulierung kirchlicher Angelegenheiten einer Patronatsgemeinde in der Grafschaft Bentheim (173). E. Kosche: Wilhelm Koch – Totengräber und Friedhofsgärtner in Osnabrück (183). M. Siemsen: Levin Schücking – Justus Möser – Elisabet Ney. Eine vergessene Möser-Statue im Münsteraner Ständehaus (195). T. Schröder: Osnabrücker Bibliographie zur historischen Landeskunde (Berichtszeit: Juli 2011-Juni 2012) (203). Besprechungen. ■





















Rheinische Vierteljahrsblätter 76.2012: Th. Klein/J. Micha: Nachruf Walter Hoffmann 1944-2012 (IX). W. Lütkenhaus: Die Verwaltung der beiden gallischen Diözesen zu Beginn des 5. Jahrhunderts. Zivil- und Militärherrschaft (1). M. Schmauder: Transformation oder Bruch? Überlegungen zum Übergang von der Antike zum Frühen Mittelalter im Rheinland (34). E. Hlawitschka: Kaiser Heinrich II., der Hammersteinische Eheprozess und die Ezzonen (53). H. Hawicks: „Wie die drei Jünglinge im Feuerofen“. Xanten und die kölnischklevischen Fehden des 14. und 15. Jahrhunderts vor dem Hintergrund des großen abendländischen Schismas (91). P. A. Heuser: Tabula asinaria, inscitiae vivum exemplum (Köln 1582 und 1612). Zur historischen Verortung eines zeitkritischen illustrierten Flugblattes (123). W. Janssen: Unterherrschaft. Anmerkungen zu einem Strukturmerkmal niederrheinischer Territorien in der frühen Neuzeit (152). M. Leibetseder: Ein umstrittener sozialer Raum. Der herzoglich-klevische Stadthof als brandenburgisch-preußische Residentur in der Reichststadt Köln (1609-1772) (176). G. B. Clemens: Der rheinische Kunstmarkt, Mäzene und Sammler im langen 19. Jahrhundert (205). St. Günther: Die kommunalpolitische Vereinigung der DVP Rheinprovinz als Impulsgeberin der volksparteilichen Kommunalpolitik 1919-1933 (226). K. Fehn: Zur Vorgeschichte des „Geschichtlichen Atlas der Rheinlande“ 1970-1980. Anmerkungen zu einem Stück Wissenschaftsgeschichte (247). E. Büthe/Cl. Wich-Reif: Das „Historische Rheinische Wörter■



















Ausgewählte Beiträge zur geschichtlichen Landeskunde Westfalens in Periodika des Jahres 2012

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buch“ als Addendum zum „Rheinischen Wörterbuch“. Die ge- + -ze/-s Kollektivbildungen (268). T. Daniels: Ämterkauf in der Kölner Bistumsfehde 1414/15. Ein Kommentar zur Aktivität des Kurialen Hermann Dwerg in der Schrift Concilia wie man sie halten sol aus dem Jahr 1442 (284). M. Kaiser: Das kurze 17. Jahrhundert der Kölner Stadtgeschichte. Anmerkungen zu Bergerhausens „Köln in einem eisernen Zeitalter“. H. Fenske: Anmerkungen zum Hambacher Fest (312). Besprechungen. ■







Romerike Berge. Zeitschrift für das Bergische Land 62.2012: [H. 1] K. Goebel: Die Vorfahren von Bundespräsident Johannes Rau (1931-2006) (2). P. Krug: Wer erfand eigentlich den Dübel? (22). R. Gaida [u.a.]: Sieben Wege zur Roßkamper Höhe, einem ehemaligen Verkehrsknotenpunkt zwischen Solingen-Gräfrath, Wuppertal-Vohwinkel und Wuppertal-Sonnborn (28). [H. 2] A. M. Frese: Das älteste Laienorchester Deutschlands und der Orchesterverein Burscheid (2). U. Eckardt: „. . . nach Kräften zur Erhaltung dieser Ruine beizutragen“. Anmerkungen zur Zusammenarbeit zwischen dem Schlossbauverein Burg an der Wupper und dem Bergischen Geschichtsverein (14). A. Sassen/C. Sassen: Vom „Kuxthurm“ zum Batterieturm. Zur Entstehung des Geschüzturms von Ludwig Arntz in Schloss Burg an der Wupper (26). B. Battenfeld: Mit dem „Pöttekieker“ über die Wupper. 60 Jahre Seilbahn in SolingenBurg (34). [H. 3] U. Eckardt: „Sei gegrüßt im Morgenglanz, Stolz der Heimat, du Schloß Burg“. Schloß Burg im Gedicht (2). A. M. Frese: Fritz Halbach – „nur“ ein Heimatdichter? (14). P. H. Specht: Ein Wimpernschlag Kulturgeschichte. Bergischer Bibliophilen-Abend in Elberfeld 1929-1930 (1933) (17). H. Eggerath/H. Neunzig: Der jüdische Friedhof in Ratingen am Blomericher Weg (20). H. L. Brenner: Ein ungewöhnlicher Totenzettel aus dem Bergisch Gladbacher Mutz (26). G. Helbeck: Bergischer Technologietransfer in die brandenburg-preußische Grafschaft Mark im frühen 18. Jahrhundert (30). H. Sassin: Zwischen Deutschnationalen und Sozialdemokraten. Anmerkungen zu Heinz Rosenthals Umgang mit Goerdelers Solinger Einheitsschulentwurf (35). ■

























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BUCHBESPRECHUNGEN

Politische Geschichte, Verwaltungs- und Rechtsgeschichte Jürgen Brautmeier/Kurt Düwell/Ulrich Heinemann/Dietmar Petzina (Hg.), Heimat Nordrhein-Westfalen. Identitäten und Regionalität im Wandel (Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens, Bd. 83). Klartext Verlag, Essen 2010. 400 S., geb., E 26,95. Die Frage nach der spezifischen Identität und dem regionalen Charakter des einwohnerstärksten deutschen Bundeslandes zieht nach wie vor ein nicht unerhebliches Forschungsinteresse auf sich. Ob der durch die Alliierten neu geschaffene Staat, der 1950 seine Landesverfassung verabschiedete, für die Bürger seines Landes zur „Heimat“ geworden ist, dieser Frage gehen die Beiträge des 2010 erschienen Sammelbandes nach. Der Band gliedert sich – nach einem Grußwort des damaligen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers und dem Vorwort der Herausgeber – in zwei Teile (im Folgenden werden aufgrund des großen Umfangs nicht alle Aufsätze Berücksichtigung finden). Im ersten Teil finden sich Aufsätze zum Thema „Landesbewusstsein im Wandel. Prozesse – Protagonisten – Strategien“. Den Anfang macht Hans Boldt mit einem kurzen Beitrag zum Verhältnis von „Landesverfassung und Landesbewusstsein“. Er zeigt hier die großen Schwierigkeiten auf, die sich schon durch die Landesverfassung für die Entwicklung eines positiven nordrhein-westfälischen Landesbewusstseins ergeben haben. Besonders in Westfalen habe man sich mit der Aufgabe der Eigenständigkeit schwer getan. Das „Kunstprodukt“ (S. 17) NRW habe also einen schweren Start gehabt. In eine ähnliche Richtung geht der Beitrag von Kurt Düwell, der eben diese Entwicklung von einem starken regionalen Bewusstsein zum Landesbewusstsein zu rekonstruieren versucht. Überaus anregend ist sein Ansatz, eine mental map NRWs zu entwickeln, die er dann − angesichts einer fortschreitenden Pluralisierung der Lebensformen − sogleich auf den Prüfstand stellt. Die Religionswissenschaftlerin Raida Chbib untersucht in ihrem Beitrag den Islam im öffentlichen Leben Nordrhein-Westfalens. Sie gibt nicht nur einen konzisen Überblick über die Bedeutung des Islam, sondern konturiert auch die Probleme, die einer Integration des Islam entgegenstehen, ebenso wie die Potentiale, die ein Gelingen dieses Integrationsprozesses gerade in NRW, „welches seit seiner Entstehung die Organisierung und Gestaltung von Vielfalt eingeübt hat“ (S. 71), wahrscheinlich machen. Guido Hitze zeichnet in seinem Aufsatz nach, in welchem Maße Landesbewusstsein und Landesidentität in den Integrationsstrategien von Regierungen, Parteien und Parlament eine Rolle gespielt haben. Klaus Pabst macht Walter Först, Wolfram Köhler und Peter Hüttenberger als „Protagonisten des Landesbewusstseins“ (S. 73 ff.) aus, wohingegen Ulrich Pätzold die Rolle des Westdeutschen Rundfunks als Landessender untersucht.

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Buchbesprechungen

Dietmar Petzina widmet seinen Beitrag dem Thema der „Landesstrategien zur regionalen Modernisierung“. Er kommt zu dem Ergebnis, dass diese Strategien mehr als nur wirtschaftlich dominierte Strukturpolitik gewesen seien, sondern vielmehr die Zukunftsfähigkeit des Landes insgesamt im Blick gehabt hätten. Neben der Wirtschaftspolitik seien es vor allem auch die Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Infrastrukturpolitik gewesen, denen man sich modernisierend gewidmet habe. In diesen Modernisierungsprozessen hätten die Regionen, die sich in diesem Zeitraum zum Teil neu erfunden hätten, eine bedeutsame Rolle gespielt; sie stünden für einen „Prozess der Modernisierung ganz neuer Art“ (S. 145) mit Regionen wie Ostwestfalen-Lippe, Südwestfalen oder der Städteregion Aachen. Abgeschlossen wird der erste Abschnitt mit einem Beitrag von Hein Hoebink zum Thema „Nordrhein-Westfalen. Eine deutsche Region in Europa und eine europäische Region in Deutschland“ sowie einem Aufsatz von Ursula Rombeck-Jaschinski zum Haus der Geschichte in Baden-Württemberg. Der zweite Abschnitt des Bandes versammelt Aufsätze zum Leitthema „Regionalität im Wandel. Entwicklungen – Elemente – Akteure“. In einem konzeptionell anregenden Aufsatz referiert Frank Göttmann über landsmannschaftliche Prägungen „zwischen Rhein und Ruhr, Lippe und Weser seit der Frühen Neuzeit“ (S. 211). Ihm gelingt es, die beiden Begriffe analytisch klar zu definieren und sie damit für die Benutzung in der Forschung operationalisierbar zu machen. Die beiden nachfolgenden Beiträge widmen sich auf unterschiedlicher Art und Weise der kommunalen Ebene. Horst Matzerath skizziert NRW als das „Land der Städte“ (S. 227). Er geht dabei insbesondere auf kommunale Konkurrenzsituationen ein, die seiner Ansicht nach ein Katalysator für die Ausbildung von Identität(en) sein können. Sabine Mecking geht in ihrem Beitrag auf die Auseinandersetzungen im Rahmen der Gebietsreform der späten 1960er und frühen 1970er Jahre ein. Diese habe sich im Spannungsfeld von Effizienz und Legitimität ausgebildet, wie sich anhand der unterschiedlichen Konflikte (bzw. auch des Ausbleibens eben solcher) gut zeigen lasse. Der Ökonom Wulf Noll gibt sodann luzide Einblicke in „Das Ruhrgebiet im globalen Strukturwandel“. Noll zeigt in einem wirtschaftshistorischen Abriss, wie das Ruhrgebiet sich immer wieder erfolgreich neuen und nicht selten globalen Rahmenbedingungen angepasst hat. Er bezeichnet es deshalb auch als ein „Innovationssystem“ (S. 263 f.). Noll glaubt, dass sich das Ruhrgebiet, verstanden als Soziokultur, früher oder später auflösen müsse, um sich ganz den neuen Herausforderungen der Gegenwart anzupassen (vor allem S. 276). Ulrich Heinemann exemplifiziert Strukturwandel an der Region „Südwestfalen“. In seinem dichten und einleuchtenden Text referiert er die historischen Ausgangslagen ebenso wie die gegenwärtige Situation der Wirtschaftsregion Südwestfalen. Er schließt mit einem Ausblick auf die Zukunftspotentiale dieser Region zwischen „Flexibler Spezialisierung und kulturelle[m] Eigensinn“ (S. 277). Einen ungewöhnlichen aber sehr lesenswerten Ansatz verfolgt der Aufsatz von Gertrude Cepl-Kaufmann, die „NRW als Krimiregion“ analysiert. Sie zeigt auf, wie die Autoren der Krimiserien als „,Schöpfer‘ von Region“ (S. 341) fungieren können. Allerdings müsste hier noch stärker der Frage nachgegangen werden, wie sich die Rezeption dieser Krimiserien tatsächlich auf ein vermeintliches Regionalgefühl auswirkt. Abgerundet wird der zweite Abschnitt des Sammelbandes dann noch durch einen Beitrag von

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Hermann Niebuhr zum Landesbewusstsein in Lippe, eine Verhältnisbestimmung von Regionalität und „Zentralität“ von Rainer Danielzyk sowie einen Aufsatz von Susanne Hilger zu den ,Hidden Champions‘ in NRW.1 Abgesehen von gelegentlich spürbar werdenden Qualitätsunterschieden nähert sich der Sammelband dem ihm gestellten Thema aus einer Fülle von Perspektiven und Herangehensweisen, die durchaus anregend sind. Es wird auch deutlich, dass die Erforschung des Verhältnisses von Identität und Regionalität durchaus innovative Arbeiten hervorbringen kann und noch lange nicht zu den Akten gelegt werden sollte. Münster

Benedikt Brunner

Wulff E. Brebeck/Frank Huismann/Kirsten John-Stucke/Jörg Piron (Hg.), Endzeitkämpfer. Ideologie und Terror der SS (Schriftenreihe des Kreismuseums Wewelsburg, Bd. 8). Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2011. 464 S., brosch., E 24,90. Am 15. April 2010 eröffnete nach langjähriger Planungsphase eine vollständig neu konzipierte Dauerausstellung im heutigen Kreismuseum Wewelsburg, die den Anspruch über einen lokalhistorischen Schwerpunkt hinaushob und stattdessen eine Gesamtgeschichte der SS unter dem Titel „Ideologie und Terror der SS“ zeigt.2 Seit Frühjahr 2012 liegt nun auch der dazugehörige, umfangreiche Ausstellungskatalog vor.3 Die Wewelsburg, ein Renaissanceschloss aus dem 17. Jahrhundert und in der Nähe von Paderborn gelegen, wurde 1934 vom Reichsführer-SS Heinrich Himmler gepachtet, um es als zentralen Versammlungs- und Schulungsort für die selbsternannte Elite der SS auszubauen. Obwohl sich die SS-Gruppenführer lediglich ein einziges Mal 1941 in Wewelsburg trafen und auch die gigantischen baulichen Planungen für das Dorf Wewelsburg in den nachfolgenden Jahren immer umfangreicher (aber größtenteils nicht umgesetzt) wurden, rankten sich doch immer Mythen und Legenden um den Ort, und es wurde den Räumlichkeiten eine rechtsradikale oder auch spirituelle Nutzung unterstellt: Der Ort schien sich auch in der Nachkriegszeit nicht völlig vom historischen Erbe der SS befreien zu können. Mehr noch als die Konzeption der Ausstellung, der es nicht immer gelingt, die räumlich bedingten Brüche für die Besucher inhaltlich nachvollziehbar zu gestalten, überzeugt der Ausstellungskatalog. Dieser spiegelt die Mehrzahl der gezeigten Objekte, Fak1

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Bei den sogenannten „Hidden Champions“ handelt es sich um relativ unbekannte, kleinere Unternehmen, die in ihrem Gebiet jedoch Marktführer sind, wie zum Beispiel die Aachener Firma Neuman & Esser, die Weltmarktführer bei Kompressorsystemen ist. Zum Konzept vgl. Hermann Simon, „Hidden Champions“. Erfolgsstrategien unbekannter Weltmarktführer, Frankfurt a. M. 1995. Hilger weist überzeugend nach, dass diese Firmen eine besonders hohe „Corporate Social Responsibility“ für ihre Region entwickelt haben. Zur Ausstellung und ihren Inhalten vgl. Jan Erik Schulte (Hg.), Die SS, Himmler und die Wewelsburg, Paderborn 2009; Karsten Wilke, Ausstellungsrezension zu: Wewelsburg 1933-1945 – Ideologie und Terror der SS Büren-Wewelsburg, in: H-Soz-u-Kult, 4.9.2010, http://www.hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/ id=138&type=rezausstellungen (Zugriff: 14.3.2013). Vgl. auch die Angaben zum Katalog auf der Website des Kreismuseums Wewelsburg: http://www.wewelsburg.de/de/aktuelles/meldungen/Ausstellungskatalog-03-2012.php (Zugriff: 16.3.2013).

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Buchbesprechungen

similes, Kurzbiografien und Fotos und bietet den Leserinnen und Lesern durch die lineare Struktur und ein Personenregister im Anhang die Möglichkeit, sich mit einer überblickartigen Gesamtdarstellung der SS auseinandersetzen zu können. Die im Katalog nicht reproduzierbaren Medienstationen, Filmmodule und Hörstationen werden im Anhang genannt. Berichte von Zeitzeugen sind zum Teil transkribiert in den Ausstellungskatalog aufgenommen worden. Neben den vier Herausgebern, Wulff E. Brebeck, Frank Huismann, Kirsten John-Stucke und Jörg Piron, kommentieren noch neun weitere Autorinnen und Autoren (Norbert Ellermann, Mattias Hambrock, Sabine Kritter, Markus Moors, Andreas Neuwöhner, Oliver Nickel, Moritz Pfeiffer, Dana Schlegelmilch und Jan Erik Schulte) die Ausstellungsstücke. Doch der Reihe nach: Nach einer einleitenden Vorrede, in der der historische Ort, konzeptionelle Grundsätze und die Gliederung der Ausstellung „Ideologie und Terror der SS“ vorgestellt werden, folgen zwölf Kapitel, in denen die SS „in ihrer Vielgestaltigkeit und ihrer sich radikalisierenden Entwicklung von den Anfängen bis zum Zusammenbruch des NS-Regimes 1945 dokumentiert“ ist (S. 21). Das erste, einführende Kapitel greift dabei das Jahr 1941 – als Schlüsseljahr – auf. Im Juni 1941 trafen sich die SSGruppenführer auf der Wewelsburg, wenige Tage vor Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Außerdem wandelte Himmler im September 1941 das bisherige KZ-Außenlager in das selbständige Konzentrationslager Niederhagen/Wewelsburg um. Damit benennt das einleitende Kapitel bereits die zentralen Kriterien, die die SS als verbrecherische Organisation charakterisieren. Die beiden nächsten Kapitel behandeln dann Organisation und Struktur der SS – unter anderem am Beispiel der Biografien von SS-Führern sowie der miteinander verwobenen Geschichten der Wewelsburg als SS-Versammlungsort und des örtlichen Konzentrationslagers Niederhagen. Die Kurzbiografien verdeutlichen die tiefe Verstrickung einzelner „Endzeitkämpfer“ in die nationalsozialistischen Verbrechen. Himmler in seiner zentralen Position als Reichsführer-SS gerät aber immer wieder in den Mittelpunkt der Darstellung – einerseits: indem deutlich wird, inwieweit er die Planungen der SS-Burganlagen oder strukturelle Veränderungen innerhalb der SS-Organisation beeinflusste und bestimmte, andererseits (visuell): weil er regelmäßig auf Abbildungen zu sehen ist. Das vierte Kapitel „Weltanschauung, Mentalität, Verbrechen“ verortet die SS in der nationalsozialistischen Gesellschaft, benennt ihre politischen und weltanschaulichen Gegner und veranschaulicht daran „die Innenwelten der SS“. Leider bleibt die Darstellung gerade im letztgenannten Punkt blass. Die Komplexität der Mythen und Rituale, die insbesondere in der Darstellung der SS-Sippengemeinschaft (S. 176-181) nun auch die ganze Gesellschaft, Männer und Frauen, hätte in den Blick nehmen können, wird nicht erfasst, eine Gelegenheit zur Analyse vergeben. Frauen werden zwar immer wieder sichtbar – als Bräute, Ehe- und Zweitfrauen (S. 70, 87, 177), als jubelnde Zuschauerinnen (S. 129), als Zivilangestellte (S. 77, 262), als „Beschließerin“ und Burgmädel (S. 265) – jedoch nie als selbständig handelnde Subjekte. Das fünfte Kapitel erzählt die Geschichte der Burg und des Dorfes Wewelsburg vor Kriegsbeginn und dokumentiert dabei alltägliche Kontakte zwischen der SS und den Bewohnerinnen und Bewohnern des Dorfes (S. 204). Das daran anschließende sechste Kapitel über die „Verbrechen der SS im Krieg“ zeugt von dem Anspruch, den Terror,

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den die SS verbreitete, in allen Facetten abzubilden. Das siebte Kapitel kehrt zurück zur Wewelsburg im Krieg und rückt die gigantomanischen architektonischen Planungen des Dorfes in den Blick. Die Kapitel 8 und 9 sind dem Konzentrationslager Niederhagen gewidmet, wobei das eine den Aufbau und die Organisation des Konzentrationslagers behandelt, während das andere die Opfer ins Zentrum rückt, und zwar durch biografische Porträts, die wesentlich auf teils sehr eindrücklichen Erfahrungsberichten aufbauen (diese wurden für den Katalog aus den Hörstationen transkribiert). Diese Kapitel stellen das KZ Niederhagen als integralen Bestandteil des Terrorsystems vor, zeigen den menschenverachtenden und mörderischen Lageralltag sowie das Nebeneinander von KZ und Dorf(-bewohnern). In den letzten drei Kapiteln werden das Kriegsende und seine Folgen behandelt: die Räumung und die Befreiung des KZ Niederhagen und das Kriegsende in Wewelsburg (Kapitel 10), das Weiterleben von Tätern und Opfern sowie der gesellschaftliche Umgang mit beiden Gruppen nach Kriegsende (Kapitel 11). Abschließend wird die Geschichte des Ortes und der Burg Wewelsburg bzw. der dortigen Ereignisse „zwischen Aufklärung und Verklärung“ (Kapitel 12) bis in die Gegenwart weiterverfolgt. Der Katalog löst den Anspruch ein, eine erste museale Gesamtdarstellung der SS abzubilden: Das Themenspektrum ermöglicht Einblicke in die Struktur und das Selbstverständnis dieser nationalsozialistischen Organisation und zeigt die Beteiligung der SS an den Massenverbrechen im Nationalsozialismus. Die vielfältigen Ausstellungsstücke – Baupläne, Literatur, Porzellan, Uniformen und Waffen – veranschaulichen den Kosmos der SS durch die Darstellung ihrer charakteristischen Merkmale. Der Gefahr einer Mystifizierung, die durch mangelnde Kenntnisse stets vergrößert wird, wird durch die Darstellung und Kontextualisierung vorgebeugt.4 So sind auch heutzutage Symbole rechtsradikaler Gesinnung nur für diejenigen zu erkennen, die über sie informiert sind. Anschaulich wird dies an einer rosa Damenunterhose, auf die eine „Schwarze Sonne“ gedruckt ist (S. 424 f.). Hamburg

Jutta Mühlenberg

Paul Leidinger, Von der karolingischen Mission zur Stauferzeit. Beiträge zur früh- und hochmittelalterlichen Geschichte Westfalens vom 8.-13. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Kreises Warendorf, Bd. 50). Kreisgeschichtsverein Beckum-Warendorf e. V., Warendorf 2012. 702 S., geb., E 30,-. Mit diesem anlässlich des 80. Geburtstags Paul Leidingers herausgegebenen 50. Band seiner Reihe „Quellen und Forschungen zur Geschichte des Kreises Warendorf“ ehrt der Kreisgeschichtsverein Beckum-Warendorf seinen langjährigen Vorsitzenden und versammelt insgesamt 27 kleinere und größere Beiträge des Jubilars aus über fünfzig Jah4

Siehe als vergleichbares Projekt die Edition von „Mein Kampf“ des Münchener Instituts für Zeitgeschichte: http://www.ifz-muenchen.de/mein_kampf.html (Zugriff: 25.3.2013).

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Buchbesprechungen

ren Forschertätigkeit zur früh- und hochmittelalterlichen Geschichte Westfalens. Aus diesen ergibt sich eine vielfältige Gesamtdarstellung der Geschichte der Region in der Zeit zwischen Karl dem Großen und Friedrich II. Im einzelnen handelt es sich um 24 zwischen 1966 und 2011 an verschiedenen Stellen, mitunter in nur schwer erreichbaren lokalgeschichtlichen Zeitschriften, erschienene Texte, die im Originalsatz und -layout wieder abgedruckt wurden, sowie um drei erstmals veröffentlichte Vortragsmanuskripte, die zu drei Großkapiteln zusammengeschlossen wurden. Das erste dieser Kapitel widmet sich der „karolingischen Mission in Westfalen im 8. und 9. Jahrhundert“. Im Zentrum der Darstellung stehen hierbei die frühmittelalterlichen Verkehrswege sowie der Dreingau, den Leidinger als wichtiges Zentrum der Christianisierung Westfalens, insbesondere in der Zeit vor der Bistumsgründung Münsters, stark macht. Der Autor betont in dem Aufsatz „Der westfälische Hellweg als frühmittelalterliche Etappenstraße zwischen Rhein und Weser“ dessen überregionale Bedeutung und erkennt in Westfalen für die Zeit der Ottonen und Salier eine „Königslandschaft“ (S. 28). Die darauf folgenden Beiträge setzen sich vor allem mit der karolingischen Mission auseinander, wobei deren Entwicklung für verschiedene Orte des Ostmünsterlandes nachgezeichnet wird. Für den Leser angenehm ist hierbei die klare argumentative Linie, die die verschiedenen Beiträge verbindet. Gegenstand der Untersuchungen ist die kirchliche Raumorganisation, die Frage, wie die Region durch Missionszentren und daran anschließende Kirchengründungen erschlossen wurde. Angesichts der quellenarmen Zeit stützt sich Leidinger auf die Patrozinien der jeweiligen Kirchen sowie das Wegenetz Westfalens. An dessen Hauptlinien bildeten sich militärische Stützpunkte, von denen aus die Mission des Hinterlandes erfolgt ist. Für die Anfänge der Christianisierung Westfalens ist der Dreingau dementsprechend höher einzuschätzen als das sich erst später im Rahmen der Bistumsgründung 805 zum religiösen Zentrum herausbildende Münster. Die Ergebnisse sind insbesondere im Aufsatz „Zur Christianisierung des Ostmünsterlandes im 8. Jahrhundert und zur Entwicklung des mittelalterlichen Pfarrsystems. Ein Beitrag zum 1200-jährigen Bestehen des Bistums Münster 2005“ umfassend dargestellt. Die hieran anschließenden Beiträge wiederholen die bereits gewonnenen Erkenntnisse für einzelne Ortschaften, wie Warendorf, Freckenhorst und Beckum, ergänzen die Hauptthese aber nicht wesentlich. Der zweite Teil steht unter dem Titel „Beiträge zur Geschichte Westfalens unter den sächsischen und salischen Herrschern“, die ,Hauptakteure‘ stellt das Grafengeschlecht von Werl-Arnsberg, zu dem fast alle in diesem Abschnitt versammelten Artikel in Bezug stehen und deren Erforschung (seit seiner Dissertation aus dem Jahr 1963) einen Interessenschwerpunkt des Verfassers darstellt. Die Betonung der Bedeutung Westfalens und seiner Großen für das Reich ist hier das Ziel der Darstellung, was zumindest für den letzten Grafen von Werl-Arnsberg, Friedrich den Streitbaren, sowie seinen Bruder Heinrich gelingt („Graf Friedrich der Streitbare von Arnsberg (1092-1124) und das zeitpolitisches [sic!] Umfeld des Münz-Schatzfundes von Halver“). Seine Nähe zu Kaiser Heinrich IV. während des Investiturstreits sowie die Seitenwechsel in den kriegerischen Auseinandersetzungen des sächsischen Adels und des Erzbischofs von Köln gegen

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Heinrich V. machen ihn zu einer schillernden Persönlichkeit, die Leidinger facettenreich darstellt. Die Ableitung großer politischer Nähe aus verwandtschaftlichen Verbindungen des Werl-Arnsberger Grafengeschlechts zum salischen Königshaus ist hierbei weniger überzeugend, ebenso die Einschätzung, Heinrich V. und Friedrich der Streitbare seien nicht nur aufgrund ihrer gemeinsamen Ururgroßmutter Gerberga, sondern „auch in ihrem politischen Denken und Verhalten verwandt, das sprunghaft, widersprüchlich und auch gewaltbereit war“ (S. 157). Grundsätzlich ist die Darstellung der Wirkungen reichspolitischer oder überregionaler Ereignisse auf Westfalen schlüssiger als das Bemühen, umgekehrt die Bedeutung Westfalens und westfälischer Akteure für das Reich zu belegen. Gelungen, da eher diese Perspektive einnehmend, ist hier insbesondere der Artikel „Westfalen im Investiturstreit“. Aus heutiger methodisch-theoretischer Perspektive besonders interessant ist die Analyse des Freikaufens der Soester von den Verwüstungen, die „Der Heerzug Kaiser Heinrichs V. gegen Westfalen 1114“ in vielen Orten Westfalens angerichtet hat. Leidinger deutet hier eine frühe Identitätsbildung als städtische Gemeinschaft und entsprechendes kollektives Handeln im Angesicht der Bedrohung an. Auch der zweite Argumentationsstrang, die Entstehung Westfalens als politischer Landschaft, die sich im 11. und 12. Jahrhundert in einem Wechselspiel aus Annäherung und Abgrenzung gegenüber Sachsen vollzog, wäre hier zu nennen. Regionale Identität und Grenze bzw. Raum stellen Forschungsthemen dar, die auf den vorliegenden Arbeiten aufbauen können. Ohne dass Leidinger diesen Aspekten einzelne Untersuchungen gewidmet hätte, finden sie sich in fast allen Beiträgen und sind anschlussfähiger als die Versuche, Herkunft und familiäre Zugehörigkeiten westfälischer Adeliger nachzuzeichnen („Die Herkunft Bischof Rothos von Paderborn (1036-1051)“). Letztlich fügt sich jedoch wie im ersten Teil so auch hier aus den kleinen und großen Beiträgen ein schlüssiges Gesamtbild der Geschichte der Region vom 10. bis ins frühe 12. Jahrhundert, welches zudem von einer deutlich breiteren Quellenbasis profitiert. Im abschließenden dritten Teil sind Texte zum Thema „Beiträge zur Geschichte Westfalens in der Stauferzeit (12. und 13. Jahrhundert)“ versammelt. In diesem Teil werden die Grafen zur Lippe (insbesondere Bernhard II.) als Nachfolger der 1124 ausgestorbenen Werl-Arnsberger Grafen als bedeutendstes westfälisches Adelshaus prominent herausgestellt. Den historischen Hintergrund bilden die Sachsenkriege, welche zum einen nach dem Sturz Heinrichs des Löwen zur Schaffung des Herzogtums Westfalens führten und damit den zuvor behandelten Abgrenzungsprozess auch institutionell verfestigten – wenn auch das Herzogtum nur eine westfälische Herrschaft unter vielen blieb und keineswegs eine übergeordnete Position erringen konnte. Zum anderen verficht Leidinger die These, dass Bernhard II. als enger Parteigänger des Löwen diesen ins Exil nach England und von dort aus auf eine Bußpilgerfahrt nach Santiago de Compostella begleitet hat. Auf diesen Reisen kam er in Aquitanien mit dem dortigen Sakralbaustil in Kontakt, den er nach seiner Rückkehr ins Reich in eigene Bauten einfließen ließ, insbesondere im Kloster Marienfeld („Die Gründung der Zisterzienser-Abtei Marienfeld 1185 und ihre Stifter. Zur politischen Situtation des Jahre 1177-1186 in West-

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Buchbesprechungen

falen“), und den er später als Bischof bis nach Livland brachte („Lippe und Livland in der Stauferzeit“). Auch wenn Leidinger hierzu neuere architekturgeschichtliche Arbeiten heranzieht, kann er seine These, dass Bernhard II. den Löwen nach England begleitet habe, letztlich zwar plausibel, aber nicht überzeugend machen. Es liegen keine Quellen vor, weder im Reich noch in England, die einen Aufenthalt in England belegen. Für die Imitation der Bauformen bedarf es nicht zwingend eines weltlichen Adeligen als persönlichem Übermittler. Der Artikel „Soest und das Erzbistum Köln“ stellt in thematischer und methodischer Hinsicht Verbindungen zum zweiten Hauptteil her. Gemeinsam mit der Gründung Lippstadts („Die Stadtgründung Lippstadts 1184 und die Anfänger der Städtepolitik in Westfalen“) werden hier auch stadtgeschichtliche Themen angesprochen. So wird die Frage erörtert und bejaht, ob Lippstadt als frühes Modell planmäßiger Stadtgründungen in Westfalen anzusehen sei. Hier wäre ein Vergleich über die Grenzen der Region hinaus willkommen gewesen, wenn es um Wissens- und Kulturtransfer geht, wie ihn Leidinger im Falle des angevinischen Baustils von Frankreich über Westfalen bis ins Baltikum anreißt. Allgemein bildet die Beziehung zum Kölner Erzbischof, der in der Zeit versuchte, als Herzog seine Einflusssphäre in Westfalen auszudehnen, einen Schwerpunkt der Beiträge. Der Überblicksartikel „Köln und Westfalen 1180-1288“ stellt zweifellos einen der gelungensten Aufsätze dar. Hier wird die umfassende Kenntnis der lokalen und regionalen Verhältnisse deutlich, die der Autor in die überregionalen Zusammenhänge einordnet. Auch ist der sehr gut lesbare Stil erneut hervorzuheben, in welchem die ersten hundert Jahre des Herzogtums Westfalen bis zur Schlacht bei Worringen dargestellt werden, die gleichzeitig den Endpunkt des hier behandelten Zeitabschnitts bildet. Zwar wird in einem abschließenden Artikel die Geschichte der Zisterzienserabtei Marienfeld (1185-1803) bis zu ihrer Auflösung am Ende des Alten Reiches beschrieben, doch ist dies als Exkurs zu werten. Gerahmt von Gründung und Ende dieser Abtei behandelt Leidinger hier die Geschichte Westfalens im 12. und 13. Jahrhundert in größerer Vielfalt als in den vorangehenden Beiträgen. Zwar hat auch dieser Abschnitt mit Bernhard II. zur Lippe seinen ,Helden‘, doch werden neben den politischen Verhältnissen zwischen regionalem Adel und Reich zudem Klöster und Städte in den Blick genommen. Entscheidende Größe ist der Kölner Erzbischof, zunächst als Gegner Heinrichs des Löwen und somit Bernhards II., dann als Herr des neu geschaffenen Herzogtums Westfalen in seinem Verhältnis zur ,politischen Landschaft‘. Als Gesamtdarstellung der Geschichte Westfalens im Früh- und Hochmittelalter mit Schwerpunkten auf der Christianisierung und der politischen Geschichte des 10. bis 13. Jahrhunderts liefert die Aufsatzsammlung einen lesenswerten Überblick, der sich durch gelungene sprachliche Darstellung, schlüssige Zusammenstellung und Anordnung der Beiträge und große Sachkenntnis der Geschichte der Region auszeichnet. Die Anbindung an die größeren, überregionalen, reichsweiten, zuweilen europäischen Zusammenhänge verhindert ein Verlieren im Klein-Klein des Lokalen, die Rolle und Bedeutung Westfalens und seiner Großen wird oftmals betont. Hier wäre „weniger“ mitunter „mehr“ gewesen, die Darstellung der Auswirkungen der Reichspolitik auf West-

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falen wirkt zumeist schlüssiger als das Herausstellen der reichspolitischen Bedeutung der westfälischen Akteure. Das eine Zusammenstellung der wichtigsten Werke zur Geschichte Westfalens aus jahrzehntelanger Forschung nicht immer den neuesten theoretisch-methodischen Ansätzen entspricht, wird sicherlich niemand erwarten. Die Vermeidung der einen oder anderen Redundanz wäre durch eine kritischere Auswahl der Artikel möglich gewesen, was aber dem Lesefluss keinen Abbruch tut. Dies kann leider nicht von den zahlreichen Tipp-, Flüchtigkeits- und Formatierungsfehlern gesagt werden, die sich durch all jene Texte ziehen, die im vorliegenden Buch erstmals veröffentlicht werden. Während „Fischof“ (S. 180) statt Bischof und „Taufkirsche“ (S. 3) statt Taufkirche ebenso noch im Rahmen vertretbarer Unaufmerksamkeiten sind wie „Frekenhorst“ (S. 165) und „Mimigerneford“ (S. 164), kann dies etwa von Schriftartwechseln inmitten des Fließtextes (S. 375) nicht behauptet werden. Es ist vor allem die Dichte der Fehler und ihre Offensichtlichkeit (etwa Punkte inmitten eines Satzes mit anschließender Großschreibung: „Dabei darf man nicht nur enge Kontakte zum Hof Karls des Großen. Sondern auch mit den Ekbertinern voraussetzen“, S. 166), die den Gesamteindruck trüben und durch ein selbst oberflächliches Lektorat leicht hätten verhindert werden können − was angesichts des feierlichen Anlasses der Veröffentlichung besonders bedauernswert ist. Münster

Ole Meiners

Sabine Mecking, Bürgerwille und Gebietsreform, Demokratieentwicklung und Neuordnung von Staat und Gesellschaft in Nordrhein-Westfalen 1965-2000 (Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 85). Oldenbourg Verlag, München 2012. 542 S., geb., E 74,80. Hier ist eine sehr schöne, gut lesbare und recherchierte, aktuelle und auch spannende Habilitationsschrift anzuzeigen, die in die Zeit der Reformeuphorie der 1970er Jahre zurückgeht und anhand der kommunalen NRW-Territorial- und Funktionalreformen der SPD/FDP-Koalition von damals die Vor- und Nachteile von umfassenden, staatlichen Planungen „von oben“ deutlich macht. Wer sich an diese Zeit erinnert, der weiß, wie utopisch seinerzeit die Vorstellungen von einer Steuerbarkeit der Gesellschaft waren und wie die daraus erwachsenen Planungen infolge ihres zu hohen Anspruchs eine Entfremdung der Bürger vom Staat mitbewirkt haben. Ohne oft nur verwirrende, sozialwissenschaftliche Theorien zu referieren, stellt die Verfasserin die durchaus griffige und historisch wirksame Kategorie des „Reformklimas“ an den Anfang ihrer Untersuchung. Dieses Klima hatte zur Folge, dass man in den 1970er Jahren die organischen Kommunalreformen der Zeit zuvor aufgab und stattdessen den „großen Plan“ verwirklichen wollte, dessen Effektivität und Legitimität im Verlauf der Zeit immer fraglicher wurden. (Die Kategorie wird jedoch auch aus der theoretisch begründeten, sozioökonomischen und staatlichen Entwicklung moderner Gesellschaften abgeleitet.) Die zahlreichen Bürgerinitiativen dagegen, die ausführlich dargestellt werden, machen diese Diskrepanz bis heute offensichtlich. Denn die Menschen identifizieren sich mit ihrer Heimat, und die wird nicht durch ein „Oberzentrum“

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repräsentiert, sondern ist die Gemeinde vor Ort. Hier können die Menschen kompetent mitbestimmen. Die Landesbehörden haben das lange Zeit ignoriert und waren der Ansicht, dass für ihre Politik jene Legitimation genüge, die durch repräsentative Organe geschaffen werde. Die Artikulation von Vorbehalten wurde verstärkt durch die allgemeine Mobilisierung der Gesellschaft, die durch Brandts „Mehr Demokratie wagen“ ausgelöst worden war und in deren Verlauf sich vor allem die neuen Mittelschichten stark engagierten. Auch die von der NRW-Landesregierung eingerichteten, neuen administrativen Verfahrensbeteiligungen konnten diesen Protest nicht mehr einfangen. Die Arbeit von Sabine Mecking ist durch eine geschickte Verbindung von geschichtswissenschaftlich-deskriptiver und analytischer Methode gekennzeichnet: Nicht nur die Programme der unterschiedlichen Akteure und die Befindlichkeiten in einzelnen Regionen (Wattenscheid) werden dargestellt, auch die Einwirkungen der Bürger und die diversen Gutachten von „Experten“, die Volksbegehren und endlosen Eingaben, die „Aktion Bürgerwille“ und die administrativen Ergebnisse erfahren eine angemessene Würdigung. Außerdem werden zentrale Problemlagen analysiert: die Methoden der Planung, die Dominanz der Kernstädte, der Gegensatz von Rationalität und Emotionalität, die gerichtlichen Aspekte bis hin zur Einschaltung des Verfassungsgerichts, die ambivalente Rolle der SPD zwischen Planung und „Basis“-Demokratie, die Änderungen im Kommunalrecht und in den Kommunalverfassungen, z. B. die Stärkung der Stadtbezirke. Schließlich bleiben auch die symbolischen Formen und Indikatoren des Reformdiskurses nicht unbeachtet: die Suche nach neuen Stadtnamen, Wappen, Flaggen, die Programme von Festen, Heimat- und Geschichtsvereinen. So hinterließ die „Reform“ in der Rückschau manch zwiespältiges Ergebnis, unter anderem die Gründung einer „Notgemeinschaft“ der betroffenen Bürger oder einige Versuche in den 1990er Jahren, Rückgemeindungen vorzunehmen. Siegen

Jürgen Bellers

Georg Mölich/Veit Veltzke/Bernd Walter (Hg.), Rheinland, Westfalen und Preußen. Eine Beziehungsgeschichte. Aschendorff Verlag, Münster 2011. 432 S., geb. zahlr. Abb., E 24,80. Erschienen ist dieser Band nach dem für die landes- und regionalgeschichtliche Forschung in Nordrhein-Westfalen so ertragreichen 400-jährigen Jubiläum des Aufbruches von Brandenburg-Preußen in den Westen (2009) und noch vor dem publizitätsträchtigen 300. Geburtstag Friedrichs des Großen (2012). Bereits 2007 hatte die vielbeachtete Gesamtdarstellung „Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947“ des australischen Historikers Christopher Clark zu einer Zurückdrängung von in der Bevölkerung verbreiteten Kommemorationsmustern geführt, nach welchen Preußen pauschal als Militärstaat und als das schlechthin Unheilvolle in der deutschen Geschichte erinnert wurde. Deshalb durfte von den beiden Jubiläen 2009 und 2012 nun endlich erwartet werden, dass sich Öffentlichkeit und Wissenschaft im Osten und Westen des wiedervereinten Deutschlands preußischer Geschichte unverkrampft würden nähern können.

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Die Herausgeber dieses reichhaltig bebilderten Bandes waren vermutlich schon bei der Suche nach einem geeigneten Untertitel vom Vorteil dieses nicht mehr übermäßig belasteten Zugangs getragen. Sie verfolgen deshalb, wie Mölich einleitend betont, die zunächst einmal positiv-affirmativ klingende Zielvorstellung, die wechselvolle „Beziehungsgeschichte“ zwischen dem aus vielerlei Gründen stets sehr eigenständigen Rheinland, dem aus heterogenen Landesteilen zusammengefügten Westfalen sowie dem jenseits der Elbe gelegenen preußischen Staatszentrum mit der Metropole Berlin/Potsdam unter veränderter Perspektive verstärkt in das öffentliche Bewusstsein zu rücken. Bei der Darstellung sollte es deshalb dezidiert nicht um die ,Amalgamierung’ des ,Westens’ durch ein wie auch immer falsch verstandenes ,Preußentum’ gehen. Vielmehr strebten die Herausgeber prononciert an, den gegenseitigen kulturellen, politischen bzw. gesellschaftlichen Transfer sowie insbesondere mit Blick auf die Regierungszeit des letzten deutschen Kaisers die politisch-kulturell-konfessionellen Konvergenzen unter dem Dach des geeinten Kaiserreiches in das Zentrum der Betrachtung zu rücken, ohne dabei die starken innenpolitischen Verwerfungslinien innerhalb Preußen-Deutschlands auszublenden. Die Maßgabe, diesen Transfer zu thematisieren, lösen alle Autorinnen und Autoren ungeachtet der sich über mehrere Jahrhunderte erstreckenden historischen Längsachse und der sich daraus ergebenden unterschiedlichen Gewichtung dieses Aspektes ein. Dass die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften zudem unlängst mehrere Veröffentlichungen im Rahmen des Projektes „Preußen als Kulturstaat“ vorlegte und die Forschung derzeit an der Dekonstruktion von Positiv- bzw. Negativ-Mythen im Zusammenhang mit preußischer Geschichte arbeitet, untermauert und bestätigt den modernen Zugriff der Herausgeber und Autoren. Jörg Engelbrecht widmet sich zunächst dem eher zufälligem Erwerb westlicher Territorien durch Brandenburg zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Er charakterisiert die ersten Jahrzehnte der Herrschaftsausübung kriegsbedingt als improvisiert und erst ab 1780 als weitgehend konsolidiert. Zu den prägendsten Elementen dieser Jahrzehnte gehörte der Aufbau der brandenburgischen Armee, als deren Voraussetzung auch diesseits der preußischen Kernlande der Aufbau einer Steuerverwaltung unter Zurückdrängung ständischer Interessen zu gelten hat. Eine Signatur des Jahrhunderts im Westen war aus politisch-militärisch-wirtschaftlichen Gründen die geographisch naheliegende Pflege guter Beziehungen zur niederländischen Republik durch den Kurfürsten. Ob sich die Menschen als „brandenburgische Untertanen zu fühlen“ begannen, muss Engelbrecht ungeachtet einiger von ihm vorgetragener Hypothesen „mangels entsprechender Quellen“ (S. 33) offen lassen. Insbesondere unter König Friedrich Wilhelm I. wurden, wie Horst Carl für das 18. Jahrhundert verdeutlicht, „die Faktoren Militär und Verwaltung in singulärer Weise zu gesamtstaatlichen Integrationselementen“ (S. 57). Die Einrichtung und der Ausbau von Kriegs- und Domänenkammern sowie die Installierung von Kriegs- und Steuerräten in den Städten unter Zurückdrängung des ständischen Einflusses – allenfalls teilkompensiert durch die Schaffung der Landratsposition zwecks Sicherung des adeligen Einflusses – führte zwar zu einer wesentlichen Vereinheitlichung Preußens, die mit staatsintegrierenden Reformmaßnahmen etwa im Bereich Justiz einherging, konnte aber die Fundamentalunterschiede der Agrarverfassungen zwischen Westen und Osten nicht ver-

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wischen. Offenkundig verschoben sich unter Friedrich dem Großen angesichts der drei Kriege, die wegen des Erwerbs von Schlesien geführt wurden, die geopolitischen Interessen des preußischen Staates Richtung Osten bzw. Südosten. Deshalb gerieten die westlichen Territorien erst wieder durch ihre stetig wachsende wirtschaftliche Bedeutung zum Ausgang des 18. Jahrhunderts verstärkt in den Fokus des Staatsinteresses. Die Franzosenzeit, auf die Carl ebenfalls kurz eingeht, scheint mit ihren Modellstaatsreformen den Prozess der Zunahme wirtschaftlicher Bedeutung namentlich des bergischmärkischen Industriegürtels, jedenfalls – wie hinzugefügt werden muss – zunächst, befördert zu haben. Die beiden zentralen Beiträge folgen, nämlich der von Jürgen Herres und Bärbel Holtz über das „Rheinland und Westfalen als preußische Provinzen (1814-1888)“ sowie von Veit Veltzke über „Rheinland und Westfalen: ,Reichslande’ im wilhelminischen Kaiserreich (1888-1918)“. Sie umfassen zusammen knapp die Hälfte des Bandes (S. 113-287). Mit Nachdruck positiv hervorgehoben werden soll, dass die Lektüre der Darstellung des ersten Zeitabschnittes schon allein deshalb gewinnbringend ist, weil Herres/ Holtz ihren Überblick der ,Beziehungsgeschichte’ von der Arrondierung des preußischen Territoriums im Westen bis zum Dreikaiserjahr mit Zitaten aus weit verstreuten Quellen und unter Nutzung sehr unterschiedlicher, großen Kenntnisreichtum verratender Literatur abstützen. Welche Überlegung dazu führte, bei zwei Beiträgen zum ,langen 19. Jahrhundert’ die notwendige Zäsur nicht 1870/71 – dies wäre jahresarithmetisch ausgewogen und quasi obligatorisch gewesen –, sondern 1888 zu setzen, wird nicht erläutert. Doch Veltzkes Zugriff auf seinen Zeitabschnitt ist unmittelbar einleuchtend, da die „ersten Jahre der Regierung“ von Kaiser Wilhelm II., wie er hervorhebt, „für die Zeitgenossen im In- und Ausland den Anbruch einer neuen Zeit“ markierten, der junge Monarch überdies eine „Fülle politischer Zäsuren ... in der Frühphase seiner Regentschaft mit trug oder selbst vornahm“, so dass er als „Hoffnungsträger einer neuen Zeit“ erschien. 1889 verfolgte er unter anderem im Zusammenhang mit einem großen Bergarbeiterstreik entgegen der Linie Bismarcks einen „konsensualen Kurs“, 1890 fiel das Sozialistengesetz. Zur Beendigung des Kulturkampfes läutete Wilhelm II. 1888 den Wandel mit einem Besuch des Papstes in Rom und einem konfessionsübergreifenden ,positiven Christentum’ unmittelbar ein (S. 209-214). Der Kaiser war offenbar bereits seit 1888, vielleicht nolens volens, im Begriff, den Westen insgesamt mit seiner stark wachsenden Arbeiterschaft und -bewegung, dem hohen, durch Zuwanderung in die Industriereviere noch verstärkten Katholikenanteil, insbesondere aber das später so genannte Ruhrgebiet als zweites gleichberechtigtes Zentrum neben Berlin/Potsdam zu stellen. Dort hatte sich bekanntermaßen die Macht der alten Eliten ,seit jeher’ konzentriert. Die Aufwertung des Ruhrgebiets vollzog Wilhelm II. im Jahr 1909 bei der zentralen Veranstaltung aus Anlass des 300-jährigen Jubiläums der Vereinigung der Grafschaft Mark mit Brandenburg-Preußen im Übrigen persönlich – und dies expressis verbis sowie ganz unmissverständlich. Der glänzend formulierende Veltzke widmet sich schließlich in seinem bis an das Ende des Ersten Weltkriegs führenden Beitrag den stark ,vom Westen’ beeinflussten Verbandsbildungen, den Parteientwicklungen, prägenden Entwicklungen im Bereich der Bildung sowie den Veränderungen in der künstlerisch-geistigen Produktion im Rhein-

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land und in Westfalen. Hier wiesen avantgardistische Strömungen in die Moderne. Veltzke geht auch auf das sich ausformende Territorialbewusstsein für das Rheinland und Westfalen, in Ansätzen auch für das Ruhrgebiet ein. Er arbeitet heraus, dass Anleihen in sehr disparaten geschichtlichen Traditionsbeständen genommen wurden. Besonders deutlich wird bei Veltzke, dass der Bezugspunkt bürgerlicher preußisch-protestantischer Bevölkerungskreise durchaus der preußische Thron in Allianz mit dem protestantischen Altar blieben, sich aber ,im Westen’ eine starke, unter Katholiken besonders verbreitete, wenngleich nicht alle Schichten umfassende Loyalität zum deutschen Kaiser und dessen Deutschem Kaiserreich entwickelte – eine Loyalitätsallianz, die freilich unter Kriegsbedingungen wieder brüchig wurde. Herres/Holtz und Veltzke gelingt es in den beiden großen Beiträgen des Bandes gleichermaßen, die Geschichte des gegenseitigen Transfers in der ,Beziehungsgeschichte’ nachvollziehbar zu machen und den Unterschied zwischen preußisch-protestantisch und katholisch geprägten Regionen mit Einzelbelegen deutlichst herauszuarbeiten. In nahezu allen Beiträgen wird dezidiert auf die vielfachen kulturellen Unterschiede zwischen Rheinländern und Westfalen sowie zwischen jeweils diesen und dem ostelbischen Preußen hingewiesen. So eindeutig positiv das Urteil über die sachliche Substanz der bisher vorgestellten Beiträge ausfällt, so muss dennoch auf einen strukturell-konzeptionellen Mangel der Veröffentlichung hingewiesen werden. Es ist hier die eindeutig ins Rheinland neigende Schlagseite des Bandes anzusprechen. Diese wird im umfangreichsten Beitrag über „Rheinland und Westfalen als preußische Provinzen (1814-1888)“ besonders auffällig. Offenkundig ist, dass der gesamte südwestfälische Raum, insbesondere die seit 1609 preußisch geprägte Region der Grafschaft Mark durch die Bebilderung in ihrer Bedeutung gleichsam asymmetrisch zurückgesetzt wird. Nahezu ausschließlich stammen die präsentierten Objekte und Dokumente von den beiden Standorten des Preußen-Museums in Wesel bzw. im nordostwestfälischen Minden. Dass die in ihrer Bedeutung als florierender Wirtschaftsstandort und dynamischer Faktor in der Ruhrgebietsindustrialisierung schon allein visuell zurückgesetzte altpreußische Grafschaft Mark insgesamt in der Veröffentlichung unterbelichtet bleibt, lässt sich leicht erkennen. Am auffälligsten ist, dass das zweibändige, von Aloys Meister 1909 herausgegebene, in vielerlei Hinsicht zentrale und keineswegs überholte Standardwerk zur Geschichte der Grafschaft Mark lediglich einmal in einer Fußnote, nicht aber in der Bibliographie im Anhang Erwähnung findet.5 Allenfalls bei Veltzke wird in seinen historischen Längsschnittanalysen für die Zeit um die alte Jahrhundertwende deutlich, dass er sehr wohl zwischen dem dezidiert preußisch ausgerichteten Regionalbewusstsein in der Grafschaft Mark und dem andernorts viel ausgeprägteren wilhelminischen Reichsbewusstsein zu unterscheiden weiß. Bekanntlich kommt der südwestfälischen Landes- und Regionalgeschichte, teilweise sei das Siegerland hier ausgenommen, in den Fachbereichen Geschichte, Geschichtsdidaktik sowie Landesgeschichte an nordrhein-westfälischen Universitäten generell kaum Beachtung zu. Sie findet auch bei Forschungsvorhaben zumeist nur wenig 5

Aloys Meister (Hg.), Die Grafschaft Mark. Festschrift zum Gedächtnis der 300jährigen Vereinigung mit Brandenburg-Preußen, 2 Bde. und ein Beiheft, Dortmund 1909.

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Berücksichtigung. Es ist ebenfalls keine neue Erkenntnis, dass die westfälische Landesgeschichtsschreibung, wenn sie von in Münster angesiedelten Institutionen gesteuert wird, als sich zwar nicht generell, aber doch bevorzugt auf Münster und das Münsterland konzentrierend beschrieben werden kann. Alles dies wird zu einem Problem der historisch-geopolitischen Symmetrie der Darstellung. Wenn die Herausgeber auch die Beziehungsgeschichte Westfalens mit Preußen würdigen wollen, so erschließt sich überdies nicht, warum etwa das märkisch-westfälische Ruhrgebiet mit seinem angeschlossenen Industriegürtel im märkischen Sauerland als dynamisches wirtschaftliches Kraftzentrum Westfalens gegenüber ,dem Rheinland’ und ,dem Ruhrgebiet’ marginalisiert wird. Wenn nämlich von ,dem Ruhrgebiet’ gesprochen wird, dann ziehen die Autoren als Belegbeispiele zumeist die des zur Rheinprovinz gehörenden Schwergewichts Krupp/Essen heran. Solche Defizite sind Durchführungsmängel der exzellenten Konzeption und der herausragenden Umsetzung. Ein Blick in das Ortsregister (S. 429-432) mag hilfreich sein, das ausgesprochene Urteil zu bestätigen. Empfehlenswert ist hier der Vergleich von Düsseldorf, Köln, Aachen, Münster auf der einen Seite mit der Freien Reichsstadt, dem Ruhrdepartement-Präfektursitz und der häufig auch wegen der bahnbrechenden Industrialisierung als ,heimliche Hauptstadt Westfalens’ bezeichneten Metropole Dortmund auf der anderen. Oder man vergleiche im Register Geldern und Krefeld mit der alten Handelsmetropole Iserlohn. – Diese Hinweise mögen genügen. Martin Schlemmers Beitrag „Rheinland und Westfalen im neuen Preußen der Weimarer Republik (1919-1932)“ bietet auf den ersten Seiten mit der erkennbaren Absicht, einen klar strukturierten Zugriff auf das Gesamtthema nach dem Sturz der Monarchie zu ermöglichen, zielführende Überlegungen zu Begriffen wie Territorium, Raum sowie regionaler Identität und befasst sich gerade deshalb mit dem konfessionellen Faktor (S. 289-294). Schließlich differenziert er für die Zeit nach 1918 klar und deutlich zwischen ,Preußen‘ und ,Preußentum‘. – Schlemmers Darstellung hat etwas Bezwingendes und zugleich Mahnendes. Nach der Lektüre dieses exzellenten Beitrags ist man jedenfalls noch weniger geneigt, Geschichtsklitterungen, Mythen und intentionale Begriffsverwirrungen im Zusammenhang mit dem ,Westfälischen‘, dem ,Rheinländischen‘, dem ,Preußischen‘ oder gar einem vermeintlich frühen ,Nordrhein-Westfälischen‘ zu akzeptieren. Bernd Walters Beitrag „Rheinland, Westfalen, Preußen und der Nationalsozialismus (1933-1945/47)“ weist nochmals auf das ,Neue Preußen‘ hin – ein demokratisches Preußen, das zum Retter der Republik vor der Diktatur hätte werden können. Vor allem zu Beginn ihrer Herrschaft und dann noch einmal zum Kriegsende instrumentalisierten die Nationalsozialisten den Mythos des ,alten‘ Preußens. Unterschiedliche Facetten der ,Militärstaat‘-Traditionen nutzten sie zu propagandistischen Zwecken, letztlich zur Herrschaftssicherung. Das wurde zu einer schweren Belastung für den Umgang mit preußischer Geschichte nach 1945, wovon der nachfolgende und den Band beschließende Beitrag Veit Veltzkes Zeugnis ablegt. Er trägt den bezeichnenden Titel „,Über den Tod hinaus‘: Gedanken über die Beziehung Nordrhein-Westfalens zu einem untergegangenen Staat“. Lüdenscheid

Eckhard Trox

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Werner Paravicini (Hg.), Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Grafen und Herren, 2 Teilbde. (Residenzenforschung, Bd. 15/IV). Jan Thorbecke Verlag, Ostfildern 2012. 1860 S., geb., E 150,-. Die Residenzenkommission der Göttinger Akademie der Wissenschaften hat in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten in vielfältiger Weise die Erforschung spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Höfe und Herrschaftssitze vorangetrieben, wovon zahlreiche Monografien und Tagungsbände in der Reihe „Residenzenforschung“ Zeugnis ablegen. Als Großprojekt des letzten Dezenniums trat das Handbuch der Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich hinzu, dessen erste fünf Bände (in drei Abteilungen) zwischen 2003 und 2007 erschienen sind (vgl. Westfälische Forschungen 2007, S. 651 f. sowie Westfälische Forschungen 2009, S. 537 f.). Kurz nach Beendigung der Tätigkeit der Residenzenkommission (ein neues Langzeitvorhaben beschäftigt sich mittlerweile mit den Residenzstädten im Alten Reich) ist nun auch die vierte und letzte Abteilung des Handbuchs in zwei umfangreichen Teilbänden fertiggestellt worden. Während sich die vorherigen Bände vornehmlich den königlichen bzw. fürstlichen Dynastien und ihren Höfen widmeten, stehen nun die Familien, Territorien und Residenzen der Grafen und Herren im Mittelpunkt. In den Blick gerät damit diejenige Gruppe des reichsunmittelbaren Adels, die sozial und politisch zwischen der Reichsritterschaft und dem Fürstenstand zu verorten ist. Im Fokus der Beobachtung stehen der Zeitraum von 1200 bis 1650 sowie das Reich in seinen spätmittelalterlichen Grenzen. Insgesamt 137 Autoren haben an dem Werk mitgearbeitet, was den enormen Koordinierungsaufwand der Redaktion erahnen lässt. Die notwendige Vorstellung der rechtlichen und politischen Bedeutung der Grafen und Herren erfolgt in vier sogenannten Dachartikeln, die den Auftakt bilden: Steffen Schlinker informiert aus rechtshistorischer Perspektive über den Unterschied zwischen Fürstenrang und hohem Adel und skizziert die wachsende Ausdifferenzierung von Fürsten und Grafen im ausgehenden Mittelalter, unter anderem im Hinblick auf die Gerichtsgewalt. Horst Carl beschreibt die Grafeneinungen als horizontale Vergesellschaftungsformen, die sich von (mitunter ständisch heterogenen) Landfriedensbündnissen und verwandtschaftsbasierten Erbeinungen allmählich zu organisatorisch verdichteten Reichsinstitutionen wandelten. Deren wichtigste reichspolitische Funktion, die Führung der gräflichen Kuriatstimmen auf dem Reichstag durch das Wetterauer, das schwäbische, das fränkische und das westfälisch-niederrheinische Grafenkollegium, behandelt Georg Schmidt. Einige systematisierende Beobachtungen zur Lebenswelt der Grafen und Herren werden von Heinz Krieg mitgeteilt. Den Dachartikeln schließen sich neun sogenannte Überblicksartikel an, welche die Gruppe der Grafen und Herren in einigen Randgebieten des Reiches genauer in den Blick nehmen (Niederlande, Böhmen, Kärnten, Krain, Niederösterreich, Oberösterreich, Steiermark, Tirol, Schweiz). Damit werden nicht nur die Ausführungen zu den im Zentrum des Reichs stärker wirksamen Grafenvereinen ergänzt, sondern auch rechtlich-soziale Sonderbedingungen herausgestellt, wie sie etwa in den habsburgischen Territorien mit der Entwicklung eines „Herrenstandes“ zwischen Ritteradel und Landesherrschaft zu konstatieren sind.

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Den Hauptteil des Werkes bilden 175 Einzelartikel zu den gräflichen Dynastien, die jeweils in drei Teile zerfallen: Teil A bietet Information zum Verwandtschaftsverband, Teil B zu den Herrschaftsgebieten und Höfen, Teil C zu den Residenzorten und der Residenzarchitektur. Allen Artikeln ist ein Quellen- und Literaturverzeichnis beigefügt. Blickt man im Inhaltsverzeichnis auf die Liste der behandelten Grafen- und Herrenfamilien, so fällt sofort eine große Heterogenität ins Auge; keineswegs handelt es sich bei den versammelten Dynastien um eine einheitliche, auf einer Rangstufe stehende Gruppe. Vertreten sind beispielsweise neben mehreren im 17. Jahrhundert in den Fürstenstand aufgestiegenen Grafen (unter anderem Nassau, Salm, Schwarzenberg) auch Familien wie die Schweizer Bonstetten (ein ursprünglich edelfreies Rittergeschlecht, das schließlich im Berner und Züricher Patriziat aufging) oder die bayerischen Preysing (die eher dem Landadel zuzuordnen sind). Da nach dem Vorwort des Herausgebers vor allem die Dynastien und Grafschaften berücksichtigt wurden, die in der Reichsmatrikel von 1521 erscheinen, „angereichert durch einige besonders wichtige Familien niederer Herkunft“ (S. XIII) – etwas genauere Informationen zu den Auswahlkriterien wären schön gewesen! –, sind solche Unterschiede verständlich. Schließlich stellte die Reichsmatrikel nur eine (keineswegs unproblematische) Momentaufnahme dar, während eine gewisse ständische Dynamik auf allen Ebenen des Adels beobachtet werden kann. Wer im Band zu den Grafen und Herren den einen oder anderen Eintrag vermisst, sollte sich im Übrigen nicht scheuen, einmal in den ersten Teil des Residenzenhandbuchs zu den Königen und Fürsten zu schauen. Dort finden sich beispielsweise die Artikel zu den Grafen von Henneberg (weil diese in der Reichsmatrikel unter den Fürsten auftauchen) sowie zur gräflich-schwarzburgischen Residenz Rudolstadt (weil es Bezüge zum deutschen Gegenkönig Günther von Schwarzburg gibt). Der Umfang der einzelnen Artikel ist recht unterschiedlich, was einerseits auf einen sehr disparaten Forschungsstand verweist, andererseits aber auch einem uneinheitlichen ,Mitteilungsbedürfnis‘ der jeweiligen Autoren geschuldet ist. Während etwa der Eintrag zu den schwäbischen Grafen von Waldburg 84 Spalten füllt, muss sich der direkt anschließende Artikel zur Grafschaft Waldeck – immerhin bis ins 20. Jahrhundert ein selbständiger Gliedstaat des Reiches – mit ganzen acht Spalten begnügen. Es sei jedoch positiv hervorgehoben, dass in einigen besonders langen Beiträgen zu weniger bekannten Grafenfamilien historische Grundlagenarbeit geleistet wurde, was die vergleichsweise umfangreiche Behandlung rechtfertigt (vgl. z. B. den 44 Spalten umfassenden Artikel zu den bereits 1496 ausgestorbenen Herren von Querfurt). Blickt man auf die in Westfalen und der unmittelbaren Nachbarschaft ansässigen Grafen- und Herrengeschlechter, so fällt deren meist eher kurze, aber prägnante Behandlung ins Auge. Besonders hingewiesen sei auf die Einträge zu Lippe (mit den Residenzen Blomberg, Brake/Lemgo, Detmold und Falkenburg), Arnsberg, Bentheim, Diepholz, Nassau (allerdings ohne Berücksichtigung der Residenz Siegen), Rietberg, Steinfurt und Tecklenburg (mit der Residenz Rheda). Gute Dienste leistet das Register; dort wird man beispielsweise darüber unterrichtet, dass auf die im Artikel zu den Herren von Bronckhorst mehrfach verwiesene Residenz Anholt unter dem Stichwort Salm zu suchen ist, da die Herrschaft Anholt in den 1640er Jahren in den Besitz der Grafen von Salm (Wild- und Rheingrafen) gelangt war.

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Der Residenzenkommission ist zur Fertigstellung des letzten Teilstücks ihres großen Handbuchprojekts zu gratulieren. Trotz kleinerer Unstimmigkeiten und Fehlstellen, die bei einem Werk dieser Art wohl nicht zu vermeiden sind, werden sich auch die beiden Bände zu den Grafen und Herren als wichtige Hilfsmittel der Forschung erweisen und – so bleibt zu hoffen – der Beschäftigung mit dem nichtfürstlichen Hochadel im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reich zusätzliche Impulse verleihen. Münster

Michael Hecht

Julia Volmer-Naumann, Bürokratische Bewältigung. Entschädigung für nationalsozialistisch Verfolgte im Regierungsbezirk Münster (Geschichtsort Villa ten Hompel. Schriften, Bd. 10). Klartext Verlag, Essen 2012. 508 S., geb., E 42,-. Unweigerlich bleibt die Thematik der im Jahre 2010 von der Philosophischen Fakultät der Universität Münster angenommenen Dissertation, deren Buchfassung nun vorliegt, auch im „Schatten von Auschwitz“. Damit sind neben anderen unaufhebbare sprachliche Herausforderungen verbunden, denn was heißt in diesem Kontext schon ,Wiedergutmachung’, was Entschädigung für Verfolgte des NS-Regimes, für Juden, Widerstandskämpfer und Oppositionelle, politische Emigranten, KZ-,Häftlinge’ und „für Hinterbliebene verstorbener oder ermordeter NS-Opfer“ (S.17, vgl. auch S. 13). Vom Fokus ,Bürokratische Bewältigung’ her konzentriert sich die Untersuchung zwangsläufig auf die praktische Umsetzung entsprechender Entschädigungsmaßnahmen eigens institutionalisierter Behörden im Regierungsbezirk Münster seit dem Kriegsende 1945 bis zum „Zeitpunkt der Schließung des Dezernats für Wiedergutmachung in Münster 1968“ (S.14). Im Blick auf die erforderliche Sensibilität für die politisch, ,rassisch’ oder religiös Verfolgten unter den NS-Opfern ist es um so mehr zu würdigen, dass in dieser Arbeit nicht nur „standardisierte Verwaltungsabläufe“ rekonstruiert werden. Der Leser begegnet ebenso „Erfahrungen individuellen Leids und der Konfrontation mit persönlicher und kollektiver Schuld“ (S.13). Auch deshalb basiert diese Studie nicht nur auf einer umfassenden Erschließung und Sichtung entsprechender Akten von Behörden (zu den eingesehenen Akten vgl. S. 482 ff.), sondern auch auf Begegnungen und Gesprächen der Verfasserin mit Zeitzeugen, ehemaligen Antragstellern auf ,Wiedergutmachung’ und Personen, die „hinter dem Schreibtisch“ (S. 9) als Bearbeiter entsprechender Anträge gearbeitet haben. Im Zentrum des durch zahlreiche dokumentarische Fotos und Abbildungen sowie Diagramme bereicherten Buches steht die „Beschreibung der Entschädigungsverfahren und Entschädigungsverwaltung im Regierungsbezirk Münster“ mit dem Anspruch, „die Verwaltungs- und Verwaltergeschichte der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts exemplarisch (insbesondere für Nordrhein-Westfalen, aber auch für die Bundesrepublik) darzustellen und zu bewerten“ (S. 12). Für historisches Verstehen unabdingbar und für Leserinnen und Leser im 21. Jahrhundert zumal gehört zur Exemplarität die Darstellung der Situation der Verfolgten in der direkten Nachkriegszeit sowie die der ersten deutschen und britischen Hilfsmaßnahmen (das 1946 gegründete Bundesland

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Nordrhein-Westfalen gehörte zur britischen Zone) bis hin zum Aufbau behördlicher Strukturen und erster gesetzlicher Regelungen (vgl. das 2. Kapitel, S. 17-159). Dem folgt die differenzierte Erläuterung der ab 1953 die Landesmaßnahmen ablösenden Bundesgesetzgebung (vgl. das 3. Kapitel, S. 161-204), die Grundlage des umfangreichsten Kapitels („,Hinter dem Schreibtisch’: Entschädigung im Regierungsbezirk Münster 1953-1968 – Behörden, Personal und Verfahren, S. 205-468) ist. Abschließend dann das Fazit „Verwaltete Entschädigung und Wiedergutmachungsbürokratie“ (5. Kapitel, S. 469-477) und der Anhang (S. 479-507). Auf einer eindrucksvoll breiten Quellenbasis wird auf diese Weise die von der britischen Zonenverwaltung initiierte, 1945/46 zunächst durch sich bildende Verfolgtenverbände (vgl. S. 30 ff., 101 ff.) und regionale bzw. kommunale Einrichtungen geleistete „Wohlfahrtsarbeit“ (S. 46) detailliert erschlossen, eine ,Arbeit’, die in NRW ab 1947 durch erste landesrechtliche Gesetze abgelöst wurde, womit aus ,Fürsorge’ eine Anerkennung „eines Rechtsanspruchs auf Wiedergutmachung“ (S. 126) wurde, von dem im Regierungsbezirk Münster bis 1953 über 2.500 Antragsteller in diversen Formen ,profitierten’; die „Hauptlast“ hatten dabei angesichts der höchsten Zahlen angemeldeter Ansprüche die entsprechenden Ämter in Gelsenkirchen, Münster-Stadt, Recklinghausen und Beckum (vgl. S. 237) zu tragen. Hier ist anders als im Buch kein Raum, um im Detail die anspruchsberechtigten Gruppen der „im engeren Sinne politisch, ,rassisch’ und religiös Verfolgten“ (S. 125) zu nennen, unter denen entschädigungsberechtigte Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes privilegiert wurden. Aufschlussreich im Blick auf damalig dominante Sichtweisen bleibt die Tatsache, dass z. B. Sinti und Roma zumeist bis Anfang der sechziger Jahre ebenso von ,Wiedergutmachung’ ausgeschlossen waren wie – noch Jahrzehnte länger – „die als ,Asoziale’ ... Verfolgten, Zwangssterilisierte, Euthanasieopfer oder Wehrmachtsdeserteure“ (ebd.); partiell fand somit noch NS-Sprache Eingang in entsprechende Vorgaben und Vorschriften! Aktive Kommunisten, die nach 1933 Verfolgung und lange Haftzeiten erleiden mussten, konnten für ein Festhalten an ihren Überzeugungen nach 1945 durch Zurückweisung von Entschädigungsansprüchen „,abgestraft’ werden“ (S. 182). Noch mit dem 1956 verabschiedeten BEG (Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung) waren Maßstäbe im Blick auf eine ,ernsthafte und sittlich gefestigte politische Überzeugung’ als Anerkennungsvoraussetzung verbunden, die etwa das folgenreiche Hören von Feindsendern – in NSSprache ,Rundfunkverbrechen’ – als Verfolgungsgrund oftmals ausschlossen. Selbst „Verfolgte aus dem Umfeld des 20. Juli“ konnten so in „Beweisnöte“ kommen, da sich etwa „regimekonforme Schutzbehauptungen in Verhörprotokollen von NS-Verfolgungsbehörden“ „im Entschädigungsverfahren ... als kontraproduktiv“ (ebd.) erwiesen. Es bedarf keines großen Einfühlungsvermögens, um sich Belastungen vorzustellen, die für die Antragsteller mit Entschädigungsanträgen, Aufsuchen der Behörden, Verzögerungen der Hilfeleistungen und anderem verbunden waren, obwohl diese in den Nachkriegsjahren zumeist noch körperlich und nicht zuletzt psychisch mehr als belastet waren; dafür spricht zum einen die in den Jahren 1945 bis 1950 erschreckende ,Todes-Bilanz’ der Verfolgten (vgl. im Detail S. 155), zum anderen der „öffentliche Umgang mit den NSVerbrechen“ (ebd.) in diesen Jahren. Aus der Fülle der im Buch verdeutlichten Beispiele zitiere ich nur zwei Stimmen aus der Perspektive der ,Antragsteller’: Ein verfolgter Arzt

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aus Rheine spricht in einem Schreiben (1953) an das ,Amt für Wiedergutmachung’ beim Landratsamt Burgsteinfurt von der „Langsamkeit“ der Bearbeitung, „die geradezu widerlich“ sei (S. 156). Der evangelische „Pastor Bernhard W., der als Vertriebener nach Tecklenburg gekommen war, schrieb am 6.7.1950 an das Sozialministerium (NRW) nach Ablehnung einer Haftentschädigung für eine gemäß den Landesrichtlinien zu geringe, da ,nur’ viermonatige Haftstrafe“, er habe die Verweigerung einer positiven Entscheidung „als eine schreiende Ungerechtigkeit gegenüber dem heute sonst allgemein üblichen Entgegenkommen gegen ehemalige Nazis empfunden“ (ebd.). Insgesamt zeigt somit auch diese ausgezeichnete Arbeit, dass alle Entschädigungsmaßnahmen in einem gesellschaftlichen Kontext erfolgten, in dem sich nach einem kurzen Nachkriegsschock die Mehrheit der Deutschen als Trauernde, Kriegsversehrte, Ausgebombte in vielfältiger Weise als Opfer des NS-Regimes sahen und eigene Beteiligung sowie Mitläufertum verdrängten. Bezeichnend ist hier die erste Regierungserklärung Bundeskanzler Adenauers vom 20. September 1949, in der er „die Pflicht zur Hilfe für Kriegsopfer, Vertriebene und Ausgebombte deutlich“ herausstellte, „die nationalsozialistisch Verfolgten jedoch unerwähnt gelassen hatte“ (S. 171). Zumal in den frühen fünfziger Jahren konnte so nicht „von einem besonderen Willen zur Aufarbeitung der NSZeit“ (S. 173) gesprochen werden; das spiegelt sich auch darin, dass damals Ansprüche anderer Geschädigtengruppen entgegen öffentlichen Bekundungen oftmals „die faktische Priorität“ (S. 174) vor den NS-Verfolgten genossen. Gegen diese gesellschaftlichen Megatrends traf ein von der Landesregierung NRW anlässlich einer landesweiten Spendenaktion „für die Opfer des Naziregimes“ getragenes Werbeplakat (1947) mit dem Slogan „Alle geben gern“ „nicht unbedingt die Realität“ (S. 123). Als Rezensent erlaube ich mir hier im Blick auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit den biographischen Hinweis, dass selbst Anfang der sechziger Jahre in dem von mir besuchten Gymnasium einer westfälischen Kleinstadt der Geschichtsunterricht mit dem Zeitpunkt 1933 endete und im Blick auf die Folgezeit die von uns Schülern mit Interesse, aber unkritisch aufgenommenen Anekdoten und Erinnerungen unserer Lehrer an Kriegshandlungen und Waffentechnik standen. Bezeichnend für das gesellschaftliche Klima – oder Erfordernis? – war vor und nach 1945 auch die „personelle Kontinuität in der Verwaltung ... die Regel, nicht die Ausnahme“ (S. 29). So wurden entgegen Vorgaben des Landes und der Bezirksregierungen auch in den Ämtern für Wiedergutmachung z. B. „dem Sonderdezernat beim RP Münster ... sogar fast ausschließlich ehemalige NSDAP-Mitglieder“ (S. 159) zugewiesen. Demgegenüber wurde in den Bezirksregierungen bei der Leitung der Dezernate für Wiedergutmachung Wert auf eine sorgfältige Personalauswahl gelegt, was nicht zuletzt an Rolle und Bedeutung des Historikers Dr. Heinrich (Hans) Kluge, Dezernent in Münster, genauestens erläutert wird (vgl. S. 350 ff.). Zudem betont die Autorin, dass „die oft zitierte ,Kälte der Bürokraten’ ... in Münster in Reinform nicht zu finden war“ (S. 475). Bis heute ist ja die Frage forschungsrelevant, wie unter den genannten Bedingungen eine im Ganzen gelungene Transformation der Bundesrepublik in eine demokratisch-liberale Gesellschaft gelingen konnte. Im vorliegenden Kontext konnten bürokratische Standards unabhängig von den Einstellungen der Sachbearbeiter durchaus objektivierbare Ergebnisse zeitigen, die umfassende Ermittlungen der „verfolgungsbedingten Ver-

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luste“ zur Voraussetzung hatten. Diese reichten z. B. bis hin zu „Tabellen“, in denen „die Tarife für Überfahrten zu einzelnen Emigrationszielen zwischen 1934 und 1941, getrennt nach Schiffsreiseklassen“ (S. 297) aufgeführt waren. Bis zur endgültigen Bearbeitung und Entschädigungsleistung konnten so durchaus zwei bis vier Jahre vergehen. Bei allen Grenzen von Wiedergutmachung konnte so oft zumindest ein materiell „abgefederter Neustart“ (S. 475) ermöglicht werden. Problematisch war und bleibt aber die Entkoppelung von einer der Öffentlichkeit bewussten ,Aufarbeitung der Vergangenheit’. „Vollständig bedeutungslos war das Verfahren für den demokratischen Übergangsprozess aber gleichfalls nicht ... . Gleichwohl blieben mit dem gewählten Vorgehen moralische Aspekte weitgehend ebenso auf der Strecke wie die dahingehenden Bedürfnisse oder Ansprüche der Verfolgten“ (S. 474). Julia Volmer-Naumann hat mit diesem Werk eine herausragende regional- und lokalgeschichtliche Studie vorgelegt, der über die wissenschaftliche Rezeption hinaus ein breiter Leserkreis zu wünschen ist. Eine 2. Auflage sollte dann auch ein Sach- Orts- und Personenregister enthalten. Münster

Bernd Weber

Ansgar Weißer, Die „innere“ Landesgründung Nordrhein-Westfalens. Konflikte zwischen Staat und Selbstverwaltung um den Aufbau des Bundeslandes (1945-1953) (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 68). Ferdinand Schöningh, Paderborn u.a. 2012. 819 S., geb., E 76,-. In der Literatur zur Geschichte Nordrhein-Westfalens und insbesondere zur Politik im Landesparlament finden sich immer wieder Hinweise auf die sogenannte „Bürgermeister-Fraktion“. Damit ist gemeint, dass es über die Grenzen der Parteien hinweg, insbesondere zwischen den beiden großen Parteien CDU und SPD, bei allen Belangen der Kommunalpolitik, die in der Landespolitik, sprich im Landtag behandelt wurden, eine fraktionsübergreifende Interessenlage gab, die zu Kompromissen bzw. Gemeinsamkeiten führte, wie sie es in anderen Politikbereichen so nicht gegeben hat. Dahinter verbirgt sich die Frage nach dem kommunalen Einfluss im Landesparlament. Die unterstellte Gemeinsamkeit, die neben fachlichen auch persönliche Facetten haben konnte, ist in der landeshistorischen Forschung oft festgestellt, aber bisher nicht systematisch erforscht worden. Mit der Arbeit von Ansgar Weißer zur „inneren“ Landesgründung NordrheinWestfalens liegt nun eine Untersuchung vor, die diesem Phänomen auf den Grund gehen will. Der Verfasser geht nämlich der Frage nach, welche personellen Hintergründe diese kommunalpolitische Vereinigung, wie man sie auch nennen könnte, im Landtag hatte, und zwar in den Anfangsjahren des Landes, in denen es nach der Gründung im Oktober 1946 durch die britische Besatzungsmacht um die innere Ausgestaltung des Gemeinwesens ging, um die „Konflikte zwischen Staat und Selbstverwaltung beim politischen Aufbau des Landes“, wie es im Titel formuliert wird. Besonders ausführlich werden die entsprechenden Landtagsdebatten zur Entstehung und Verabschiedung der Landesverfassung (Winter 1946 bis Sommer 1950) mit ihren

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unterschiedlichen Entwürfen, den Einflussversuchen der kommunalen Spitzenverbände und den Selbstverwaltungsbestimmungen in allen Verfassungsentwürfen untersucht, ebenso wie die Debatten zu den kommunalen Gesetzen bis hin zur Landschaftsverbandsordnung unter dem Blickwinkel der Frage, welche Rolle hierbei die kommunalpolitischen Akteure als solche im Landtag, in ihren Parteien und deren kommunalpolitischen Organisationen sowie in den kommunalen Spitzenverbänden spielten. Die Arbeit schließt zeitlich mit dem Inkrafttreten der Landschaftsverbandsordnung vom 1. Oktober 1953, mit der laut Weißer „die innere Landesgründung politisch endgültig abgeschlossen wurde“ (S. 18). Sie beginnt mit den Weichenstellungen, welche die britische Besatzungsmacht in und nach 1945 vorgenommen hat. Dabei war vor allem die Entscheidung relevant, in der britischen Besatzungszone die Split Administration einzuführen, die im deutschen Sprachgebrauch − sachlich nicht unbedingt korrekt – „Doppelspitze“ genannt wurde, nämlich die Trennung zwischen ehrenamtlichem Rat mit ehrenamtlichem Bürgermeister als Vorsitzendem einerseits und hauptamtlichem Stadtdirektor als Chef der Verwaltung andererseits. Der ehrenamtliche (Ober-)Bürgermeister − in den Kreisen ebenso der Landrat − konnte auch Mitglied des Landtags sein, der (Ober-)Stadt- bzw. (Ober-)Kreisdirektor aber nicht, weil die Briten das Berufsbeamtentum aus den Parlamenten heraushalten wollten (Wie es die Beamten dennoch später in großer Zahl schafften, Abgeordnete zu werden, ist eine andere Geschichte!). Weißer beschreibt, wie sich die Rekrutierung des politischen Personals durch die Besatzungsmacht nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches von unten nach oben vollzog, also auf der kommunalen Ebene begann. Dort wurden unbelastete Männer (Frauen gab es dabei so gut wie gar nicht!) als Bürgermeister und Landräte eingesetzt, die auf Anweisung der Militärregierung den Wiederaufbau vor Ort bewerkstelligen sollten. Auf der überörtlichen Ebene wurden gleichzeitig in der Nord-Rheinprovinz und in der Provinz Westfalen Oberpräsidenten ernannt, um mit dem Aufbau der Provinzverwaltung zu beginnen. Ihnen beratend zur Seite standen auf kommunaler wie auf der Ebene der Provinzen schon bald von der Militärregierung ernannte Räte, die sich nach dem Willen der Besatzungsmacht aus Vertretern der unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreise rekrutieren sollten, aber sehr schnell von den wieder- und neugegründeten Parteien vereinnahmt wurden. Wer nach den Wurzeln für die Entstehung des alle politischen Sphären durchdringenden Einflusses der politischen Parteien in unserer heutigen Gesellschaft sucht, muss nur die genauen Umstände des gemeinsamen Durchsetzens der Interessen der beteiligten Parteien in dieser frühesten Phase der Landespolitik studieren, um zu erkennen, wann das Kind in den Brunnen gefallen ist! Auf der Ebene der beiden Provinzen fanden sich schon in diesen ernannten, beratenden Provinzialräten auch und besonders ehemalige oder amtierende Bürgermeister der großen Städte – Konrad Adenauer, CDU (Köln), Karl Arnold, CDU (Düsseldorf), Wilhelm Hansmann, SPD (Dortmund), Hermann Pünder, CDU (Köln), Fritz Steinhoff, SPD (Hagen) Heinrich Weitz, CDU (Duisburg) und andere, die ihre kommunalpolitische Herkunft über die ernannten Provinzialräte in den ernannten Landtag und von dort später bis in hohe Ämter auf Landes- und Bundesebene bringen sollte. Der Autor zeichnet diese kommunalpolitischen Elemente in der Vorgeschichte des Landtags ausführlich nach. In einem sehr umfangreichen Tabellenanhang listet er die Akteure mit all ihren

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früheren und späteren politischen Aktivitäten auf, wofür er sich durch biographische Kompendien, Handbücher, Biographien etc. gearbeitet hat. Er will und kann dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, dennoch belegen diese Tabellen seine Aussage, dass die „Bürgermeister-Fraktion“ keine bloße Behauptung war, sondern ein starker Faktor in der Landespolitik, der vieles erklärt und Zusammenhänge verständlich macht. Nicht nur hat Weißer berechnet, dass mehr als 55 bzw. 60 Prozent aller Mitglieder des Landtags in der ersten und zweiten Wahlperiode zeitgleich zu ihrem Abgeordnetenmandat ein kommunales Mandat inne hatten, sondern er kommt auch auf einen Anteil an Abgeordneten, die nach dem Krieg ein kommunalpolitisches Amt als Bürgermeister oder Landrat bzw. deren Stellvertreter bekleideten oder bekleidet hatten, von 47 Prozent (1.WP) bzw. 49 Prozent (2. WP) bei der CDU und von 43 bzw. 47 Prozent bei der SPD (S. 115). Die insgesamt 39 Tabellen zu den parlamentarischen Erfahrungen und dem kommunalpolitischen Engagement der Akteure machen einen wesentlichen Teil des Forschungsaufwandes aus. Ihre Zusammenstellung aus den unterschiedlichsten Quellen, die leider nicht jeweils bei den einzelnen Tabellen angegeben werden, ist verdienstvoll. Allerdings hätte man sich über die Statistik hinaus bei der Auswertung innerhalb der Arbeit noch tiefergehende Analysen gewünscht. Nicht verwunderlich ist bei der Fülle an Personen und Material, dass sich kleinere Fehler eingeschlichen haben und Doppelungen bzw. Redundanzen unvermeidbar sind. Ein inhaltlicher Fehler, der sich im Text (S. 89 und S. 134) und auch in der entsprechenden Tabelle (S. 467) wiederfindet, ist die Übernahme einer früheren Feststellung von Karl Teppe, die Mitglieder der westfälischen Provinzialregierung seien auch Mitglieder des beratenden westfälischen Provinzialrats gewesen. Dies lässt sich aus den Akten nicht belegen. Sie waren in den Sitzungen der Ausschüsse des Provinzialrats anwesend, ja sie leiteten diese, aber sie waren als Generalreferenten Teil der Exekutive und zählten deshalb auch nicht zu den am Schluss 100 Mitgliedern des westfälischen Provinzialrats, die zusammen mit den 100 Mitgliedern des Provinzialrats der Nord-Rheinprovinz den ersten Ernannten Landtag bildeten. Diesem gehörten − zusätzlich − die elf Mitglieder des neuen Landeskabinetts an. Nach der Identifizierung der wichtigsten Akteure der „inneren“ Landesgründung befasst sich das eigentliche Hauptkapitel der Arbeit (auf knapp 220 Seiten!) mit den landespolitischen Auseinandersetzungen um Landesverfassung und Landschaftsverbandsordnung in den Jahren zwischen 1946 und 1953. Bei den Beratungen zur Landesverfassung wird in einem eigenen Unterkapitel detailliert die Idee nachgezeichnet, neben dem Landtag eine Zweite Kammer einzurichten, was sowohl in einem Verfassungsentwurf von Ministerpräsident Arnold als auch in einem Entwurf des CDU-Abgeordneten und ehemaligen (April bis Oktober 1946) Dortmunder Oberbürgermeisters Herbert Scholtissek vorgeschlagen wurde. Diese Idee, die, so Weißer, nach 1945 in fast allen neu entstehenden Ländern der westlichen Besatzungszonen diskutiert wurde (S. 412), hatte, das erwähnt Weißer nicht, der frühere Oberbürgermeister von Düsseldorf und im Oktober als Oberpräsident der Nord-Rheinprovinz eingesetzte Robert Lehr (CDU) bereits im Februar 1946 der britischen Besatzungsmacht für eine zukünftige Verfassung schmackhaft machen wollen. Lehr war zu dieser Idee vom Domkapitular des Erzbistums Köln, Prälat Böhler, angeregt worden, der im Auftrag von Kardinal Frings

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um eine Prüfung der angemessenen Vertretung der Kirchen im Provinzialrat der NordRheinprovinz gebeten hatte. Ein Verfassungsentwurf Lehrs aus dem August 1946 hatte erneut für ein Zweite Kammer als Vertretungsorgan von gesellschaftlichen Gruppen oder Berufsständen plädiert, aber Lehr selbst spielte, wie es Weißer festhält, im Landtag bei den Debatten um die Verfassung keine besondere Rolle mehr (S. 416). Im Vorschlag Scholtisseks wie auch in dem Entwurf von Ministerpräsident Arnold war die Zweite Kammer als Vertretungsorgan der kommunalen Selbstverwaltung auf Landesebene vorgesehen (S. 398). Auch dies blieb aber am Ende unberücksichtigt, weil in der zweiten Lesung der Verfassung am 3. Mai 1950 das Zentrum, das mit der CDU und der SPD die Regierung bildete, unter ihrem Fraktionsvorsitzenden Johannes Brockmann als Zünglein an der Waage an der Seite von SPD und KPD gegen eine Zweite Kammer stimmte (S. 461), die vor allem der Kölner Abgeordnete und spätere Ministerpräsident Heinz Kühn (SPD) in der Debatte vehement abgelehnt hatte. Die Verfassung als Ganzes wurde mit den Stimmen von CDU und Zentrum gegen die Stimmen von SPD, KPD und FDP mit knapper Mehrheit angenommen und durch einen mit der Wahl zum Landtag durchgeführten Volksentscheid im Juni 1950 bestätigt − ohne die von Ministerpräsident Karl Arnold erwünschte „Krönung der kommunalen Selbstverwaltung“, wie er die Einrichtung einer Zweiten Kammer verstand (S. 466). Auf Seiten der kommunalen Spitzenverbände war man mit der Landesverfassung und ihrer Anerkennung der besonderen Stellung der Gemeinden und Gemeindeverbände im Staatsaufbau aber insgesamt zufrieden, der Gesetzgeber habe sich „in der großen Linie als kommunal-freundlich erwiesen und zum Nutzen der Selbstverwaltung zum Teil recht fortschrittliche Gedanken verwirklicht“, so der Erste Beigeordnete des Deutschen Städtetages, Wilhelm Lohschelder (S. 468). Etwas weniger ausführlich, aber nicht weniger gründlich beschreibt Weißer die Debatten um die Landschaftsverbände. Dabei ging es auch und vor allem um die Frage, wie weit es zu einer „Dezentralisierung, Regionalisierung und Kommunalisierung“ von Aufgaben kommen sollte (S. 473) und wie viel Eigenständigkeit die beiden Landesteile haben würden. Die Grenze zwischen Befürwortern und Gegnern der Eigenständigkeit lief quer durch die Parteien, lediglich die KPD war geschlossen gegen überkommunale Verbände (S. 476). Bei der Landtagsabstimmung über die Landschaftsverbandsordnung im Mai 1953, die Regierungskoalition bestand aus CDU und Zentrum, hatten bis auf die CDU alle Fraktionen ihren Abgeordneten das Abstimmungsverhalten freigestellt, was zu einer deutlichen Mehrheit für die Errichtung der beiden Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe führte und wodurch eine Ebene der kommunalen Selbstverwaltung zwischen den Gemeinden und dem Land geschaffen wurde, die es in anderen Bundesländern nicht gab und gibt (S. 551). Insgesamt analysiert Weißer die kommunalen Aspekte der frühen Landesgeschichte sehr kenntnisreich und fundiert, wobei er sich auf eine breite Forschungslage stützen kann. Die interessantesten Erkenntnisse der Arbeit ergeben sich durch die umfassende Beschreibung der Landespolitik der ersten Nachkriegsjahre aus dem Blickwinkel der kommunalen Themen- und Akteurslage. Von Umfang, Breite und Tiefe des Themas her und im Vergleich zu anderen Arbeiten hätte sie gut und gerne für zwei Dissertationen gereicht. In der Form der wissenschaftlichen Arbeit ist sie auf der Höhe der Zeit,

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zugleich ist sie flüssig und verständlich geschrieben. Sie hätte auch gut in die Schriftenreihe des Landtags oder die „Düsseldorfer Schriften zu Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens“ gepasst. Ohnehin hat die Landesgeschichte mit diesen Reihen, aber auch mit der Zeitschrift des Brauweiler Kreises zur „Geschichte im Westen“, wie mit zahlreichen weiteren Monographien und Quelleneditionen mittlerweile ein sehr breites und facettenreiches publizistisches Fundament, auf dem der Verfasser aufbauen konnte. Dass sich im Übrigen heute im nordrhein-westfälischen Landesparlament keine „Bürgermeister-Fraktion“ mehr bilden lässt, hat auch damit zu tun, dass es seit 1999 in Nordrhein-Westfalen die ehrenamtlichen (Ober-)Bürgermeister bzw. Landräte nicht mehr gibt. Durch die 1994 verabschiedete Gemeindeordnung wurde die von der britischen Besatzungsmacht nach englischem Vorbild auf kommunaler Ebene eingeführte Split Administration, also die Trennung von politischer Verantwortung und ausführender Verwaltung, wieder abgeschafft – und mit ihr die „Bürgermeister-Fraktion“ im Landtag. Damit konnten und können Tendenzen zur Stärkung des Staates gegenüber der kommunalen Selbstverwaltung, die Weißer in seinem Fazit und Ausblick erwähnt (S. 560), leichter zum Zuge kommen. Neuss

Jürgen Brautmeier

Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Jens Adamski (Hg.), Gewerkschaftlicher Wiederbeginn im Bergbau. Dokumente zur Gründungsgeschichte der Industriegewerkschaft Bergbau 1945-1951 (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen. Schriftenreihe B: Quellen und Dokumente, Bd. 7). Klartext Verlag, Essen 2012. 436 S., brosch., E 34,95. Die Wiedergründung der deutschen Gewerkschaften nach 1945 in den westlichen Besatzungszonen, die Konflikte um ihren organisatorischen Aufbau, das Verhältnis von Betriebsvertretungen zu den Gewerkschaften, die Auseinandersetzungen zwischen kommunistischen, sozialdemokratischen und christlichen Gewerkschaftern, die Streitigkeiten um Abgrenzungen und Aufgabenbereiche zwischen den einzelnen Gewerkschaften, die Inhalte gewerkschaftlicher Politik und Zielsetzungen und die Konflikte um den Einfluss von Gewerkschaften auf Wirtschaft und Politik nach dem Ende des NS-Regimes bis in die Anfangsjahre der Bundesrepublik, die Rolle der Besatzungsmächte und der deutschen Regierungen, schließlich die Konflikte um die grundlegenden Gesetze zur Mitbestimmung waren vor allem von den 1970er bis in die 1990er Jahre große Themen der historischen Forschung, auch für die Entwicklungen im Ruhrbergbau. Seitdem liegen etliche Überblicksdarstellungen sowie große Quelleneditionen zu zentralen Fragen der Gewerkschaftsgeschichte der Nachkriegszeit – wie auch zu den vorangehenden Entwicklungen seit dem Kaiserreich – vor, ebenso Quelleneditionen zu zentralen Gesetzen der Mitbestimmung. Dagegen fehlen Editionen zu den einzelnen Branchengewerkschaften, die vor allem in den ersten Nachkriegsjahren bedeutende Akteure auf zahlreichen

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Handlungsfeldern waren. Von daher ist es zu begrüßen, dass für die Industriegewerkschaft (IG) Bergbau nun eine umfangreiche Quellensammlung vorliegt, deren Dokumente die wesentlichen Entwicklungen der Bergarbeitergewerkschaft in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft abbilden. Der Bearbeiter Jens Adamski hat hierzu die zentralen Bestände des Archivs der IG Bergbau, das sich heute in Bochum im Archiv für soziale Bewegungen der Stiftung Bibliothek des Ruhrgebietes befindet, ferner Unterlagen aus dem Archiv der FriedrichEbert-Stiftung, dem Bergbau-Museum sowie aus verschiedenen Spezialbeständen wie dem Archiv Ernst Schmidt in Essen und der Sozialforschungsstelle in Dortmund, schließlich zeitgenössische Publikationen vor allem der IG Bergbau ausgewertet. Die insgesamt 184 Dokumente (einschließlich einzelner zusammengehörender Schriftwechsel) decken dabei den Zeitraum von den ersten Zusammenkünften von Bergbaugewerkschaftern auf einzelnen Zechen unmittelbar nach der Befreiung durch die alliierten Militärs 1945 bis zur Verabschiedung des Gesetzes über die Mitbestimmung in Aufsichtsräten und Vorständen des Bergbaus und der Eisen- und Stahlindustrie im Mai 1951 ab. Regional konzentrieren sich die Dokumente auf Nordrhein-Westfalen und den Steinkohlebergbau im Ruhrgebiet. Bei den Dokumenten handelt es sich vor allem um Erstveröffentlichungen. Nur wenige Dokumente wurden zuvor bereits in Spezialstudien oder in den zentralen Quelleneditionen zur deutschen Gewerkschaftsgeschichte von Siegfried Mielke abgedruckt. Der Bearbeiter hat die Dokumente zu annähernd gleichen Anteilen vier Hauptkapiteln zugeordnet. So behandelt das erste Kapitel die Organisationsbildung und -entwicklung sowie die internen Konflikte zwischen den sozialdemokratischen, christlichen und kommunistischen Gewerkschaftsflügeln, das Verhältnis zwischen Betriebsräten und Gewerkschaften und den Umgang zwischen Arbeitern und Angestellten in der Organisation. Im zweiten Kapitel sind Dokumente zum Verhältnis der Bergarbeitergewerkschafter zur britischen Militärregierung versammelt, außerdem zur Stellung der Gewerkschafter in den neu gebildeten Organisationen der Kohlewirtschaft und zum Umgang mit den Themen Eigentumsfrage und Neuregelung der Eigentumsverhältnisse, Sozialisierung, Montanmitbestimmung sowie zum Verhältnis der Gewerkschafter zu den Bergbauunternehmern und zum Unternehmensverband Ruhrbergbau. Wichtige Dokumente beschäftigen sich außerdem mit den interzonalen Kontakten im Kontext der Bergarbeiter-Interzonentagungen 1947/48, die analog zu den Interzonenkonferenzen der westdeutschen Gewerkschaften mit dem FDGB organisiert wurden. Die Bergarbeiterkonferenzen blieben wie die anderen interzonalen Kontakte weitgehend folgenlos, da die KPD-Delegierten in den Beratungen ein Übergewicht besaßen und Beschlüsse auf westdeutscher Seite nicht anerkannt wurden. Zudem standen sich auf westdeutscher Seite mit der eigenständigen IG Bergbau und auf ostdeutscher Seite mit der unselbständigen Bergbau-Gewerkschaft im FDGB zwei ungleiche Partner gegenüber. Die Folgen waren gegenseitige Vorhaltungen und im entstehenden Ost-West-Konflikt ein noch schärferer Umgang der Spitzenvertreter der IG Bergbau mit ihren kommunistischen Mitgliedern und den zumeist lokalen Funktionären, der bis zu Unvereinbarkeitsbeschlüssen führte. Schließlich beinhaltet dieses Kapitel die neu aufgenommenen Kon-

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takte zwischen IG Bergbau und der Bergarbeiter-Internationale, in welche die westdeutsche Gewerkschaft nun wieder eintreten durfte. Das dritte Hauptkapitel versammelt Dokumente zu einzelnen politischen und sozialen Handlungsfeldern der Gewerkschaft und zeigt einmal mehr die nach Kriegsende vordringlichen Versorgungsfragen mit den Gütern des täglichen Bedarfs und die sich an die vergleichsweise besseren Zuteilungen an die Bergarbeiter anknüpfenden Debatten. Weitere Themen behandeln den sozialen und wirtschaftlichen Wiederaufbau, die Forderungen nach Sozialisierung, die Entflechtung, Neuordnung und Mitbestimmung bis hin zur Montanmitbestimmung 1951, die Reparationspolitik der alliierten Siegermächte und den Kampf der Gewerkschaft gegen Demontagen, die Haltung der IG Bergbau zu den Zielen der Bundesregierung für eine Montanunion und zur Schumann-Initiative für eine deutsch-französische Verständigung über eine europäische Kohle- und Stahlgemeinschaft, die Arbeitsmarktpolitik und die Anwerbung von Neubergleuten, schließlich die Betreuung und Schulung des bergmännischen Nachwuchses, der zumeist durch das NSRegime und den Krieg sozialisiert worden war, für die neue Demokratie. Die Dokumente des vierten Kapitels thematisieren unter dem Titel ,Stellenwert und Repräsentation im öffentlichen Raum‘ nochmals die Versorgungs- und Ernährungsfragen der Nachkriegszeit, den letztlich verlorenen Konflikt der IG Bergbau mit der Militärregierung im Kontext des großen Proteststreiks im Frühjahr 1948 für eine bessere Versorgung der Bevölkerung, die große Bedeutung der Arbeiter- und Festkultur für die Erzeugung von Aufmerksamkeit für die Gewerkschaft vor Ort und die Verankerung der Gewerkschaftsfunktionäre im lokalen und betrieblichen Rahmen, ferner die Relevanz der zentralen gewerkschaftlichen Publikationen für den Kontakt zwischen Gewerkschaftsspitze und lokalen Funktionären, schließlich die gewerkschaftliche Erinnerungskultur an die Verfolgungen der NS-Zeit, die symbolhaft an zentralen Gewerkschaftsfunktionären der Weimarer Republik festgemacht wurde. Gerade hier zeigt sich aber, dass z. B. die vergleichsweise breite illegale Tätigkeit von Bergarbeitergewerkschaftern während der NS-Zeit und die Widerstandsaktivitäten in Zusammenarbeit mit der Bergarbeiter-Internationale offenbar keine Beachtung fanden und in der offiziellen Erinnerungskultur der IG Bergbau ausgeblendet wurden. Die Dokumente selbst sind mit den üblichen Regesten und Informationen im Kopfteil ausgestattet und werden mit eher sparsamen Anmerkungen kommentiert. So werden beispielsweise die biographischen Daten der genannten Personen nur für den behandelten Zeitraum aufgeführt. Angaben zur biographischen Vor- und Nachgeschichte fehlen dagegen. Eine sehr kurze Einführung zu einzelnen Aspekten der Forschungsentwicklung und knappe editorische Vorbemerkungen leiten die Dokumentation ein. Den Kapiteln selbst sind jeweils kurze Überblicke über die behandelten Themen vorangestellt. Auf eine fundierte Einleitung mit den zentralen Fragestellungen und der Einordnung in die allgemeine Gewerkschaftsgeschichte hat der Bearbeiter leider verzichtet. Eine Liste mit weiterführender Literatur zur Bergarbeitergeschichte sowie ein Register zu den in den Dokumenten genannten Personen, den Orten, Institutionen, Organisationen und Unternehmen beschließt die Edition. Ein Sachregister fehlt leider. Hier empfiehlt sich die Lektüre der knappen Kapiteleinleitungen, die aber Querverweise zu Dokumenten

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anderer Kapitel nicht ermöglichen. Insgesamt bietet die Edition aber sorgfältig ausgewählte Dokumente, die für Forschung und Lehre wertvolle Dienste leisten können. Münster

Matthias Frese

Kirsten Bernhardt, Armenhäuser. Die Stiftungen des münsterländischen Adels (16.-20. Jahrhundert) (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland, Bd. 119). Waxmann, Münster u.a. 2012. 454 S., brosch., E 34,90. Mit volkskundlichen Fragestellungen und historischen Methoden lässt sich die Geschichte der Armenhäuser intensiv erforschen. Das hat Kirsten Bernhardt in ihrer 2012 publizierten, von Barbara Krug-Richter betreuten Dissertation eindrucksvoll bewiesen. Sie stellt alle zwanzig Armenhäuser vor, die der Adel des Kernmünsterlandes vom 16. bis in das frühe 18. Jahrhundert (1556-1710) stiftete. Nennenswerte Literatur zu diesen Armenhäusern gab es bisher kaum. Wo dies möglich war, hat sie die Häuser im Bildanhang bis in die Gegenwart verfolgt. Diese Versorgungseinrichtungen für einen stets nur kleinen Teil der örtlichen Bevölkerung wurden im 19. und 20. Jahrhundert, nachdem staatliche Hilfen für bedürftige Menschen geschaffen worden waren, wieder aufgelöst. Die Schriftquellen als wichtigste Grundlage der Darstellung befinden sich in zahlreichen Archiven und waren dort nicht immer leicht aufzufinden. Der Bestand an Armenhäusern des Adels und alle relevanten Quellen werden von der Autorin erstmals erhoben. Ihren Stoff gliedert Kirsten Bernhardt nach übergeordneten Themen. So gelingt es ihr, eine ländliche Lebenswelt vor Augen zu führen. Dazu tragen die Quellen jedes der dargestellten Armenhäuser je Spezifisches bei. Die konkreten Verhältnisse werden im Rahmen der Strukturen und Entwicklungen beschrieben. Das Werk ist ein Beitrag zur volkskundlichen Armutsforschung in historischer Perspektive und zugleich ein Beitrag zur westfälischen Landesgeschichte. Die Darstellung ist intensiv aus den Quellen erarbeitet und überzeugt auf der Grundlage der klaren und straffen Gliederung. Zwischen Einleitung (S. 11-25) und Fazit (S. 332-337, anschließend in Englisch), stehen sieben Hauptkapitel (II-VIII). Die Kapitel II, III und VIII handeln mehr vom Wirken der Betreiber, also der Stifter und ihrer Nachfolger (II und VIII: Gründung und Auflösung der Armenhäuser, III: Struktur und Verwaltung der Stiftungen). Die Kapitel IV bis VII handeln vom Leben der Armen (IV: Aufnahmebedingungen und Pflichten, V: Wohnen und Wirtschaften, VI: Lebensunterhalt, VII: Soziales Umfeld). Die von Kirsten Bernhardt untersuchten Armenhäuser des Adels im ländlichen Kernmünsterland stehen einerseits neben den oft besser ausgestatteten städtischen und andererseits neben den auf dem Land kommunal betriebenen Armenhäusern, den Kirchspielsarmenhäusern, die meist nur geringeres Versorgungsniveau boten. Sie variieren erwartungsgemäß nach Zeit und Umständen der Gründung, nach den Aufnahmekapazitäten, den Regeln des Zusammenlebens, den angebotenen Leistungen sowie den zur jeweiligen Auflösung führenden Wandlungsprozessen.

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Vorbilder zur Gründung von Armenhäusern erkannte der Adel im 16. Jahrhundert zum Teil in Münster. Aber die Gründungen des Adels lösten sich bald von den städtischen Verhältnissen. Es entstand ein Typus einer von einer landsässigen Adelsperson gegründeten Armeneinrichtung, deren Bindung an das adelige Haus bestehen blieb. An anfangs fehlenden und ab dem 17. Jahrhundert geforderten Fürbittverpflichtungen lässt sich der Wandel von der protestantischen zur katholischen Gesinnung der Stifterinnen und Stifter ablesen. Insgesamt war es jedoch nur eine Minderheit der zahlreichen adeligen Häuser des Münsterlandes, die schließlich die zwanzig untersuchten Armeneinrichtungen betrieb. In den Armenhäusern lebten ältere Menschen, die sich nicht mehr selbst oder durch ihre Verwandten unterhalten, die jedoch bei der Aufnahme noch selbständig wirtschaften konnten. In der Mehrzahl waren es Frauen. Aus einem größeren Bewerberkreis aufgenommen wurde nur, wen die Betreiber nach sozialen Kriterien für geeignet hielten. Zunächst zwei bis acht, im 18. Jahrhundert bis 15 Personen konnten in den untersuchten Armenhäusern Aufnahme finden. Anfangs waren es durchschnittlich 5,2 Personen. Bei der Hälfte der Armenhäuser wurde die Zahl der Plätze zu einem späteren Zeitpunkt erhöht und in zwei Fällen auch wieder verringert (S. 65). In ihren Wohngemeinschaften lebten die Bewohnerinnen und Bewohner der Armenhäuser weitgehend selbständig und unterstützten sich z. B. im Krankheitsfall gegenseitig. Bürgerliche Tugenden (Reinlichkeit, Ordnung) traten verpflichtend erst im 19. Jahrhundert hinzu. Armenhäuser wurden in bestehenden Gebäuden eingerichtet oder neu gebaut. Typischerweise führten die Pfründnerinnen und Pfründner eigene Haushalte. Sie hatten einzelne Schlafkammern und nutzten die gemeinschaftliche Küche. Das Raumprogramm erfuhr Veränderungen, so dass in einigen Armenhäusern bald auch gemeinschaftliche Stuben zur Verfügung standen. Die Wohnformen waren zunächst fortschrittlich. Ein Wandel zur Einrichtung von separaten Wohnungen hätte den im 19. Jahrhundert entstehenden Bedürfnissen entsprochen, fand aber nicht statt. Hierin liegt einer der Gründe für den Auflösungsprozess im 19. und 20. Jahrhundert. Im Armenhaus wollten schließlich nur noch wenige wohnen. Über die Bereitstellung von Wohnraum hinaus bestanden die jeweiligen Pfründen in Unterhaltsleistungen. Die regelmäßigen Zuwendungen an Brennmaterial, Kleidung, Lebensmitteln und Geld waren in den Armenhäusern im Umfang recht unterschiedlich und zum Teil nicht bedarfsdeckend. Allgemein erhielten die Bewohnerinnen und Bewohner für ihren Lebensunterhalt anfangs eher Naturalien, später eher Geld. In vielen Fällen standen den Armen auch Gartenparzellen zur ergänzenden Versorgung zur Verfügung. Den Beitrag der Armenhäuser zum Unterhalt der Pfründnerinnen und Pfründner wertet Kirsten Bernhardt insgesamt als herausragend: „Eine Versorgung Bedürftiger solchen Umfangs und solcher Konstanz gab es in der frühen Neuzeit auf dem Land ansonsten nicht“ (S. 335). In ihrem Blick auf die Armenhäuser macht Kirsten Bernhardt eine ländliche Lebensform vom 16. bis 20. Jahrhundert anschaulich. Sie nimmt in ihren Darstellungsgang eine Fülle von relevanten Quellenzitaten auf. Dennoch bleiben die Fragen der Autorin an die Geschichte stets leitend. In ihrem Forschen und Folgern ermächtigt sie den Leser, die Quellen zu verstehen und aus vielen Fragmenten ein Bild zu entwickeln. Adel und

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Arme, Wohnen und Wirtschaften, örtliche Topographie, religiöse Pflichten, Krieg und Krankheiten: Kirsten Bernhardt zeigt, dass die Volkskunde zur Landesgeschichte viel beitragen kann. Münster

Ralf Klötzer

Susanne Hilger, Kleine Wirtschaftsgeschichte von Nordrhein-Westfalen. Von Musterknaben und Sorgenkindern. Greven Verlag, Köln 2012. 176 S., geb., E 18,90. Die Autorin Susanne Hilger, ausgewiesene Kennerin der neueren regionalen Wirtschaftsgeschichte, stellt schon in ihrem Vorwort deutlich heraus, dass sie mit dieser kompakten Monographie nicht die vertiefende Gesamtdarstellung anstrebt, sondern eine prägnante Synthese präsentieren will. Zugleich hält sie den Zeitpunkt für gekommen, die Frage nach dem Verlauf und nach Erfolg oder Misserfolg des Strukturwandels in Nordrhein-Westfalen einer historischen Überprüfung zu unterziehen und eine vorsichtige Bewertung dieser die Geschichte des Bundeslandes prägenden sozialen und ökonomischen Zäsur vorzunehmen. Der Band ist nicht nur insgesamt gelungen, die Darstellung befindet sich auch auf der Höhe der Forschung und ist zudem auch für Nicht-Ökonomen stets nachvollziehbar, d. h. anschaulich und in einer verständlichen Sprache geschrieben. Es ist natürlich nahezu unmöglich, eine Geschichte der Deindustrialisierung und Diversifikation in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu schreiben, ohne die Phase der Industrialisierung im 19. Jahrhundert einzubeziehen. Immerhin wiesen das Rheinland und Westfalen – trotz der dort zahlreich vorhandenen Agrarlandschaften − mit die höchste Gewerbedichte im Deutschen Reich auf. Hilger nimmt deshalb zunächst eine historische Einordnung der preußischen Westprovinzen als „Wirtschaftsstandort“ vor, liefert also zugleich auch eine Vorgeschichte der wirtschaftlichen Entwicklung Nordrhein-Westfalens. Der Leser erfährt viel über die wesentlichen Merkmale der regionalen Industrialisierungsgeschichte: Nicht nur die unterschiedliche Entwicklung der einzelnen Sektoren und Regionen, auch die Konjunkturverläufe in ihren regionalen Ausprägungen, die Besonderheiten der Gewerbestruktur und die Rolle der staatlichen Verwaltung, die im 19. Jahrhundert teils als Förderer, teils als Blockierer ökonomischer Trends auftrat, werden herausgearbeitet. Hilger betont zudem, dass das engere Ruhrgebiet bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts ökonomisch von geringer Bedeutung war, dass die Ruhrindustrie nach 1850 aber auch eine wichtige Verflechtungsfunktion für die beiden westlichen Provinzen Preußens übernahm. Insbesondere hebt sie die Initiativen und Entwicklungsleistungen der privaten Unternehmer in der und für die Region hervor (Stichwort: Eisenbahnbau). Ein starker Akzent des Bandes liegt auf den Themen Arbeitsmigration und Zuwanderung. Der „Zug zur Arbeit“ wird als prägendes Moment der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung im Rheinland und in Westfalen bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts herausgestellt – wenngleich die Bevölkerungsrückgänge im Ruhrgebiet seit Ende des Jahrhunderts nicht mehr thematisiert werden. Die Autorin vertritt hier die

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These, die Zuwanderung der Vertriebenen, Flüchtlinge und DDR-Bürger bis 1961 habe den Strukturwandel in den 1960er Jahren erleichtert und − vor allem durch die Ausweitung des Dienstleistungssektors − zur Diversifizierung der Wirtschaftsstruktur in NRW beigetragen (S. 42). Dem wird man sicher zustimmen können; allerdings ist auch in diesem Zusammenhang − Hilger verweist darauf an anderer Stelle − zu betonen, dass die größere Flexibilität und geringere Krisenanfälligkeit des gesamten tertiären Sektors mit einer Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse einherging. Ohnehin steht der Strukturwandel im Mittelpunkt der Darstellung; diese Schwerpunktsetzung ist begründet, führt aber auch zu – unvermeidlichen – inhaltlichen Beschränkungen. Die Krisenjahre der NRW-Wirtschaft setzten spätestens mit der Ölkrise 1973/74 voll ein und waren mit einer hohen Sockelarbeitslosigkeit verbunden, die größtenteils aus der monoindustriellen Prägung mehrerer Teilregionen resultierte. Nordrhein-Westfalen wurde in dieser Zeit innerhalb der Bundesrepublik zu einem Land des allmählichen Niedergangs, galt als „sterbender Industriestandort“ (wobei immer auch die Fokussierung auf die „Altindustrien“ Bergbau, Stahl und Textil und auf die regionalen Boomjahre der späten 1940er und 1950er Jahre für diese Wahrnehmung verantwortlich war). Eine Problematisierung unternehmerischer und wirtschaftspolitischer Entscheidungen findet in diesem Abschnitt nur in Ansätzen statt. Wirtschaftliche Schwierigkeiten werden überwiegend auf exogene Faktoren zurückgeführt. Deutliche Kritik erfährt allerdings die im Ruhrgebiet verbreitete Politik der Brache („Bodensperre“) seitens der flächenbesitzenden Konzerne, d. h. des Fernhaltens ansiedlungswilliger Unternehmen der folgenden Technologiegeneration, die erst in den 1980er Jahren habe durchbrochen werden können. Die Autorin bemüht sich gleichwohl, den Eindruck eines Niedergangs, der gelegentlich anklingt, zu korrigieren oder ihn auf wenige Kernbereiche zu begrenzen; sie verweist auf die nach wie vor vorhandenen Potentiale des Standortes und trägt so zu einer ausgewogeneren Gesamtbetrachtung bei. Denn obwohl dem Land nach 1945 die neuen innovativen Leitindustrien (Automobilbau, Flugzeugindustrie) nicht im selben Umfang zur Verfügung standen wie etwa Bayern oder Baden-Württemberg rangierte NRW im Jahr 2008 – gemessen am Bruttoinlandsprodukt – immer noch deutlich vor allen anderen Bundesländern, einschließlich den süddeutschen. Hilger nimmt damit Abstand von der Vorstellung eines absoluten Bruchs „nach dem Boom“ (S. 15). Als Wirtschaftshistorikerin hat sie die gesamte Unternehmensstruktur des Landes, Marktnischen und Innovationspotentiale einzelner hier angesiedelter Branchen im Blick, von denen sie viele auflistet. Insgesamt geht sie von einer inzwischen hochgradig diversifizierten, robusten Wirtschaftsstruktur aus. Sogar die Textilindustrie habe sich gesundgeschrumpft und zeige sich heute „innovativ und zukunftsfähig“; hier spart die Autorin übrigens nicht mit Kritik an der mangelnden öffentlichen und politischen Aufmerksamkeit für die nordrhein-westfälische Textilindustrie, die einst hohe Beschäftigtenzahlen aufwies, schwere Krisen durchlebt und sich inzwischen – ohne staatliche Hilfen – völlig neu aufgestellt hat. Hilger vermeidet eine weitere perspektivische Fixierung auf die Schwerindustrie, indem sie gerade für die neuere Zeit auf die Bedeutung weiterer Branchen wie etwa des Umweltschutzes und der regenerativen Energien oder sogar anderer Sektoren verweist: Immerhin sei NRW deutschlandweit

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immer noch einer der größten Agrarproduzenten (nach Niedersachsen und Bayern). Insgesamt rechtfertige gerade die historische Rückschau, so Hilger, für die wirtschaftliche Zukunft Nordrhein-Westfalens eine „grundsätzlich optimistische“ Einschätzung (S. 70). Vor allem die optimistische Sicht auf die Trag- und Zukunftsfähigkeit des Dienstleistungssektors − mit dem Ausbau der Informationstechnologie und des Gesundheitssektors − folgt dabei überwiegend und wohl zu Recht einer rheinischen Blickrichtung (die Stärken Westfalens liegen eher in einer Konzentration der mittelständischen Unternehmen). Hilger macht darauf aufmerksam, dass das Land in puncto Dienstleistungen insgesamt Nachzügler ist (S. 109), aber inzwischen, insbesondere auf dem Gebiet der „langlebigeren“ industriellen Dienstleistungen (Entwicklung, Design, Logistik, Messewesen), deutlich aufholen konnte. NRW habe sich mittlerweile zu einem ökologisch nachhaltigen Wirtschaftsstandort entwickelt (S. 157). Deutlich wird aber auch, dass das seit Mitte des 19. Jahrhunderts als Bankenplatz etablierte Düsseldorf spätestens seit der Finanzkrise (IKB, WestLB) zunächst einmal an Bedeutung eingebüßt hat – auch wenn die Stadt vom erwähnten Ausbau unternehmensnaher Dienstleistungen (Medien/Kommunikation, Unternehmensberatung, Wirtschaftsprüfung) überproportional profitiert hat. Die Autorin zeichnet hier das Bild einer weitgehend transformierten Wirtschaftsstruktur und sieht die Zukunftschancen des Standortes in den zunehmenden Verflechtungen zwischen Industrie und Dienstleistungen, während das „industrielle Herz der Bundesrepublik“ (S. 140) inzwischen unter anderem in Baden-Württemberg schlage. Insgesamt also eine gelungene, informative und „deutungsfreudige“ Darstellung. Gelegentlich geht der Text allerdings ein wenig in Richtung Corporate Identity und Landesmarketing. Das mag auch daran liegen, dass sich die Autorin umfassend auf Informationen aus dem Internet (Homepages der Landesministerien und der einzelnen Unternehmen) stützt und kritische Korrekturen dabei mitunter etwas zu kurz kommen. Besonders hervorzuheben sind hingegen die für eine Einordnung der NRW-Befunde unentbehrlichen – und zahlreich gebotenen − Vergleiche mit den Entwicklungen in anderen Bundesländern. Auch dieser Blick über den Tellerrand macht das Buch zu einer lohnenden Lektüre. Münster

Thomas Küster

Atsushi Kataoka/Regine Mathias/Pia-Tomoko Meid/Werner Pascha/Shingo Shimada (Hg.), „Glückauf“ auf Japanisch. Bergleute aus Japan im Ruhrgebiet. Klartext Verlag, Essen 2012. 318 S., brosch., E 22,95. Der Sammelband behandelt ein wenig bekanntes Kapitel deutscher und japanischer Bergbaugeschichte aus den Jahren 1956/57 bis 1965. In diesen Jahren arbeiteten in mehreren Etappen und für unterschiedlich lange Zeit japanische Bergleute auf drei deutschen Zechen in Gelsenkirchen, Castrop-Rauxel und Duisburg-Hamborn. Die DeutschJapanische Gesellschaft am Niederrhein hatte dieses weithin vergessene Themenfeld transnationaler Arbeitskräftepolitik und Migration aus Anlass des 150-jährigen Jubiläums der Gesellschaft zum Gegenstand einer Tagung gemacht, an der japanische und

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deutsche Historiker und Sozialwissenschaftler beteiligt waren. Die Beiträge der Tagung liegen nun in ausgearbeiteter Form vor, ergänzt um 15 Erinnerungsberichte ehemaliger japanischer Bergarbeiter und japanischer und deutscher Verbindungsleute, um Zeitzeugengespräche sowie um einen umfänglichen Materialteil, der unter anderem private Fotos der japanischen Arbeiter in Deutschland sowie das Entsendeabkommen zwischen der japanischen und der deutschen Regierung vom 2. November 1956 und das detaillierte Programm zur Regelung der Arbeitsbedingungen, der Entlohnung, Unterkunft, Verpflegung und Betreuung der japanischen Arbeiter behandelt. Bei den vier wissenschaftlichen Beiträgen thematisiert zunächst der Historiker Hiromasa Mori aus Tokio die Gründe und die Zielsetzungen der beiden Entsendeprogramme von 1956 und 1962/63. Geplant war, dass zunächst bis zu 500, dann bis zu 2.000 japanische Bergleute für jeweils drei Jahre nach Deutschland kommen sollten. Mori stellt heraus, dass vor allem das erste Programm von 1956 von unterschiedlichen Erwartungen gekennzeichnet war. Während die deutschen Steinkohlezechen Arbeitskräfte anwerben wollten, weshalb die japanischen Arbeiter Vorkenntnisse besitzen mussten, zielten die japanischen Bergbauunternehmen darauf, dass die von ihnen freigestellten Arbeiter deutsche Technologie und Arbeitsstrukturen kennenlernen und womöglich eine technische Ausbildung erhalten sollten. In Japan war das Interesse zunächst groß. Für die ersten sechzig Stellen sollen sich bis zu zehn Bewerber je Stelle gemeldet haben. Der japanische Bergbau befand sich zu dieser Zeit im Umbruch und in einer Krise. Die „Missverständnisse“ wegen der unterschiedlichen Erwartungen konnten letztlich beigelegt werden. Die japanischen Arbeiter wurden geschult, etliche legten die Hauerprüfung ab. Gleichwohl wurde von ihnen die Arbeit in Deutschland als „sehr hart“ empfunden. Besonders während der Anfangszeit kam es zu zahlreichen Arbeitsunfällen. Das Programm sollte daher nach einem Beschluss aus dem Jahr 1958 einfach auslaufen. Die angestrebte Zahl von 500 angeworbenen japanischen Bergleuten wurde nicht annähernd erreicht. Anfang der 1960er Jahre äußerte die japanische Regierung jedoch Interesse an einem zweiten Entsendeabkommen, zumal in Japan Zechen geschlossen wurden und Bergleute ihren Arbeitsplatz verloren. Von vorne herein war aber klar, dass die japanischen Arbeitskräfte ebenfalls nach drei Jahren zurückkehren sollten. Ihre deutschen Rentenbeiträge sollten daher auch nicht ausgezahlt, sondern unter anderem mit den vergleichsweise hohen Reisekosten verrechnet werden. Blieb das erste Programm unvollendet, da die japanischen Unternehmen das Interesse an der Schulung ihrer entsandten Bergleute verloren, so stieß das zweite Programm bei den arbeitslos gewordenen japanischen Bergleuten auf wenig Zuspruch, da diese mit der anziehenden Konjunktur in Japan Arbeit in anderen Branchen fanden, so dass dieses Programm im März 1965 ziemlich geräuschlos beendet wurde. Der ganz überwiegende Teil der japanischen Arbeitskräfte kehrte – häufig schon vor dem Ende des eigentlichen Vertragsschlusses – nach Japan zurück. Nur 32 der insgesamt 436 japanischen Bergleute blieben in Deutschland. Die Rückkehrer hatten von ihrer Erfahrung jedoch wenig, sondern mussten häufig angesichts der Krise und des Niedergangs des japanischen Kohlebergbaus umschulen. Seit 2002 wird in Japan keine Kohle mehr abgebaut. Im zweiten Beitrag skizziert die Bochumer Japanhistorikerin Regine Mathias die Entwicklung der Arbeitsbedingungen, der technologischen Verhältnisse am Arbeitsplatz

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und der Arbeitsbeziehungen im japanischen Kohlebergbau. Sie unterstreicht, dass der japanische Bergbau sich Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre an einem Wendepunkt befand und anschließend gegenüber der billigeren Importkohle, dem Öl und der Kernenergie als Energieträger dramatisch an Bedeutung verlor. Zugleich befand sich Japan während der 1960er Jahre in einer Hochkonjunkturphase, weshalb der Umbruch für die betroffenen Bergleute leichter erlebt wurde und das Bedürfnis zur temporären Migration nach Deutschland kaum ausgeprägt war. Auch die sehr kampfbereiten japanischen Bergbaugewerkschaften hatten nach einem langen Arbeitskampf Anfang der 1960er Jahre an Bedeutung verloren. Die Erwartung der japanischen Arbeitgeber, dass die Bergleute in Deutschland das System der kooperierenden Gewerkschaften kennenlernen sollten, war ohnehin aufgrund der unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen ein Missverständnis. Im dritten Beitrag untersucht der Duisburger Ostasienwissenschaftler Werner Pascha die Entsendeprogramme vor dem Hintergrund der beiden sich wandelnden Wirtschaftsstrukturen. Er stellt in seinem Vergleich heraus, dass es aufgrund der geringen Wettbewerbsfähigkeit des japanischen Bergbaus und dessen peripherer Lage im Land leichter gelang, auf den Bergbau zu verzichten als in Deutschland, wo noch lange Zeit Arbeitskräfte angeworben und ein hohes technisches Niveau der Kohleförderung gehalten wurde. Zudem befanden sich die meisten Steinkohlezechen im Ruhrgebiet als dem wirtschaftlichen Kernland der Bundesrepublik. In Japan führte der Niedergang des Kohlebergbaus zu verarmten und nach Abwanderungen verlassenen Regionen. Das Austauschprogramm selbst blieb aus zeitgenössischer japanischer Sicht „belanglos“, aus deutscher Sicht eine Episode, zumal die Anwerbeprogramme unter anderem mit Korea, Spanien, Griechenland, Türkei noch weiter liefen oder geschlossen wurden. Der vierte, vergleichsweise kurze Beitrag von Annika Raue (Universität Düsseldorf) beschreibt schließlich anhand von zeitgenössischen und Erinnerungsberichten, wie japanische Bergleute ihre Arbeitsbedingungen empfanden und wie sie von den deutschen Kollegen und den Gastgebern aufgenommen wurden. Die schwierige Sprache, die harte Arbeit, der Befehlston sowie gemeinsame Arbeits- und Freizeiterfahrungen zeigen teilweise fremde, teilweise liebenswert anmutende Blicke auf das Zusammentreffen zweier unterschiedlicher Kulturen. Insgesamt unterstreichen die sehr interessanten Beiträge und die sorgsam aufbereiteten Erinnerungsberichte die unterschiedlichen Perspektiven von Migranten und Aufnahmegesellschaft. Deutlich werden aber auch die unterschiedlichen Erwartungen, die Missverständnisse und die letztlich nicht umstrittene Beendigung und Abwicklung der Arbeitskräfteentsendung. Spannend sind schließlich ebenfalls die vergleichenden Darlegungen zum Umgang mit Krise und Strukturwandel im Bergbau, der in Japan zumindest bereits Geschichte ist. Münster

Matthias Frese

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Michael Prinz, Der Sozialstaat hinter dem Haus. Wirtschaftliche Zukunftserwartungen, Selbstversorgung und regionale Vorbilder: Westfalen und Südwestdeutschland 1920-1960 (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 69). Ferdinand Schöningh, Paderborn u.a. 2012. 454 S., geb., E 44,90. Erfreulicherweise ist die im Band 61/2011 der „Westfälischen Forschungen“ im Rahmen des darin behandelten Themenschwerpunkts mit dem Titel „Aus der Hand in den Mund. Selbstversorgung als Praxis und Vision in der modernen Gesellschaft“ angekündigte große Darstellung von Michael Prinz nunmehr erschienen. In der Einleitung weist der Verfasser auf seine jahrzehntelange Beschäftigung mit den beiden polaren Visionen für eine gesellschaftliche Gesamtstruktur hin: die Selbstversorger- und die Konsumgesellschaft. Nachdem sich seine bisherigen Veröffentlichungen schwerpunktmäßig mehr mit dem Konsum beschäftigt hatten, trug er nun systematisch die Forschungsergebnisse aus verschiedenen Wissenschaften zur Rolle der Selbstversorgung in gesellschaftspolitischen Visionen im Zeitraum zwischen 1920 und 1960 zusammen. Der Ausgangspunkt ist dabei die These, dass bei der Beurteilung der Wiederaufbauphase in der Bundesrepublik die ersten Nachkriegsjahre nicht richtig gewichtet wurden. Um dies nachzuweisen, kennzeichnet Prinz nicht nur detailliert die Nachkriegsdiskussion, sondern er verfolgt auch die Entstehung dieser Ideen und Konzepte durch das Dritte Reich und die Weimarer Republik bis ans Ende der Kaiserzeit zurück. Der Verfasser gelangt dabei zu dem bemerkenswerten Ergebnis, dass über mehrere Jahrzehnte hinweg die sich rasch ausdehnende Marktversorgung von der parallelen Ausweitung familiärer Subsistenzproduktion begleitet war. Aus dem Titel des Buches lassen sich die Hauptfragen der Untersuchung ableiten: 1. Die sozialstrukturellen Grundzüge der Eigenwirtschaft. 2. Der Zusammenhang zwischen Selbstversorgung und allgemeinen wirtschaftlichen Erwartungshorizonten. 3. Das Verhältnis zwischen exogenen und endogenen Wandlungsimpulsen, also die Bedeutung von Anregungen aus anderen Staaten gegenüber der Vorbildwirkung von Regionen innerhalb des deutschen Staates. 4. Die Aktualität dieser Visionen. Im Titel und in der Gliederung verwendet Prinz hierzu folgende Begriffe: „Sozialstaat hinter dem Haus“, „additive Autarkie“, „Selbstversorgung“, „Stadtland“, „Kleingärten“, „Heimstätte“, „Binnenkolonisation“, „Eigenwirtschaft treibender Arbeiter“, „Eigenheim“, „Kleinsiedlung“, „Arbeiterbauer“, „Ackerbürger“. An regionalen Vorbildern werden genannt: (im Titel) Westfalen und Südwestdeutschland, (in der Gliederung) das Ruhrgebiet, der ostwestfälische Bereich Minden-Ravensberg, die Stadt Bielefeld, Westfalen allgemein, Württemberg, das Saarland. Was die Behandlung von wichtigen Debatten in den einzelnen Zeiträumen betrifft, so legt Prinz besonderen Wert darauf, auch weniger bekannte Strömungen zu kennzeichnen. Als Beispiel wären die Abschnitte über die „Wirtschaftlichen Zukunftsdebatten in der SPD“ während der Weimarer Zeit und über „Die Idee der Selbstversorgung in den gesellschaftspolitischen Vorstellungen der konservativen Opposition gegen Hitler“ zu nennen. Das Buch behandelt das Thema in drei großen Kapiteln, die der Weimarer Zeit, dem Dritten Reich und Westdeutschland 1945-1960 gewidmet sind. Das erste Kapitel weist folgende Untergliederung auf: A. Wirtschaftliche Zukunftserwartungen 1919-1933. B.

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Der Sozialstaat hinter dem Haus und das Recht auf Selbstversorgung. C. Realstrukturen „additiver Autarkie“ in der deutschen Gesellschaft seit 1914. D. Weimar und die Vision des Stadtlandes. Das zweite Kapitel ist folgendermaßen untergliedert: A. Siedlungsgedanke und Arbeiterbauer in der Ideologie der NSDAP und ihren Gliederungen. B. Zuspitzung der Widersprüche. Im dritten Kapitel finden sich sechs Unterabschnitte: A. Auf verschlungenen Wegen: Die Errichtung einer Konsumentenrepublik in Westdeutschland 1945-1960. B. Die westdeutsche Eigenheimoffensive und ihre Besonderheiten. Konsumcontainer oder Stützpunkt der Selbstversorgung. C. Subsistenzwirtschaftliche Strukturen im Wiederaufbau 1945-1960. D. Kleingartenentwicklung und Wirtschaftswunder. E. Von der Acker- zur Gartenwirtschaft. Die Sozialfigur des Arbeiterbauern in der Bundesrepublik. F. Bodenbesitz und -nutzung – die Haupttendenzen 1945-1970. Das vierte Kapitel enthält eine umfangreiche Zusammenfassung unter der Überschrift „Stadtland und Ackerbürger als Modelle der Krisenfestigkeit. Kontinuität und Diskontinuität 1920-1960“. Obwohl das zu rezensierende Buch in der Reihe „Forschungen zur Regionalgeschichte“ des Instituts für westfälische Regionalgeschichte erschienen ist, fällt seine Zuordnung zur allgemeinen Historiographie der Sozial- und Wirtschaftspolitik in Deutschland auf. Dementsprechend wäre es günstiger gewesen, den Bezug zum Deutschen Reich bzw. zur Bundesrepublik Deutschland schon im Titel deutlich herzustellen. Was die dort genannten „regionalen Vorbilder“ betrifft, so finden sich im Text keine umfassenderen abgerundeten Regionalstudien. In diesem Zusammenhang erscheint der Hinweis nötig, dass die Verarbeitung von agrar- und siedlungsgeschichtlicher Literatur nicht in derselben Intensität erfolgt ist wie diejenige aus dem Bereich der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Von den über 800 im Literaturverzeichnis genannten Titeln sind etwa 20 Prozent regional orientiert. Insgesamt hätte das Verzeichnis gewonnen, wenn hier nur die wichtigsten Veröffentlichungen genannt worden wären und die übrigen nur in den sehr umfangreichen Anmerkungen, wie es ja tatsächlich der Fall ist. Die Untersuchung baut hauptsächlich auf der Auswertung von Literatur auf, wobei eine wesentliche Rolle die zeitgenössischen Titel spielen. Die Abgrenzung zu den in einem eigenen Verzeichnis aufgeführten „Gedruckten Quellen“ fällt häufig schwer. So ist nicht recht einzusehen, dass hier die Zeitschrift „Raumforschung und Raumordnung 1936-1944“ auftaucht und z. B. die intensiv herangezogene Untersuchung von Erich Preiser „Die württembergische Wirtschaft als Vorbild“ (1937) der „Literatur“ zugeordnet wird. Ganz allgemein spricht Prinz davon, dass er Lücken in der Spezialliteratur durch die Auswertung einzelner zeitgenössischer Aktenbestände vor allem aus dem westfälischen Raum und dem Ruhrgebiet sowie von überregionalen und regionalen Statistiken zu schließen versuchte. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen Konzepte und Visionen und die Auseinandersetzung verschiedener Gruppierungen damit. Der Verfasser sieht aber auch eine wichtige Aufgabe darin, die „Realstrukturen“ zu erfassen und dadurch einen kritischen Maßstab zu gewinnen, „um den utopischen Überschuss, den diese Pläne enthielten, sichtbar zu machen“. Bei der Erledigung dieser außerordentlich wichtigen Aufgabe hätte man sich nun ein höheres Maß an systematischen regionalgeschichtlichen Grundlagen und Übersichten gewünscht. Prinz weist darauf hin, dass bestimmte Regionen ein-

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schlägige Markenzeichen im Sinne des Buchthemas aufwiesen. Im Mittelpunkt steht dabei Württemberg, wofür in der damaligen Zeit das Schlagwort „Württembergisierung des Deutschen Reiches“ geprägt wurde. Die Aussagen über die in diesem Zusammenhang relevanten Regionen gehen bedauerlicherweise erheblich auseinander. Im Titel heißt es: „Westfalen und Südwestdeutschland“, an anderer Stelle: „Bekannte Beispiele waren das Saarland, Württemberg resp. der ,Südwesten’, Teile Hessens und Ostwestfalens in Gestalt von Minden-Ravensberg und das Ruhrgebiet“. Hierzu wäre aus regionalgeschichtlicher Sicht einiges zu sagen, was hier nicht möglich ist. Die Idee einer „Württembergisierung“ des Deutschen Reiches bedeutete nach Prinz einen Beitrag der Raumordnung zur Lösung wirtschaftlich-gesellschaftlicher Probleme und war nicht als detailgenauer schematisch umzusetzender Merkmalskatalog zu verstehen. Darauf weist der Verfasser mit Nachdruck hin, was das Fehlen umfangreicherer regional orientierter Basisuntersuchungen verständlicher macht. Nicht gänzlich überzeugend ist der im Titel angegebene Endpunkt im Jahre 1960. Der Verfasser weicht selbst mehrfach davon ab, so im Kapitel 3, Abschnitt F, wo er von den Haupttendenzen 1945-1970 spricht. Die Abbildung auf der Titelseite gibt Anlass zu grundsätzlichen Überlegungen zur Begrifflichkeit und zur Aktualität der Thematik. Es wird eine „Kleingartenbewirtschaftung in den 1980er Jahren“ ohne Angabe des Ortes gezeigt. Damit wird suggeriert, dass die regionalen Vorbilder Kleingärten im direkten Anschluss an die Wohnhäuser waren und dass diese Sozial- und Wirtschaftsstrukturen auch in der jüngsten Vergangenheit noch eine wesentliche Rolle spielten. Wenn man die am Beginn der Rezension aufgelisteten Begriffe Revue passieren lässt, ergibt sich ein ziemlich heterogenes Bild. Sicherlich ist dem Verfasser beizustimmen, dass die Definitionen zeitlich und räumlich stark variierten. Gerade dieser richtige Befund hätte es aber nötig gemacht, ausführlichere Informationen über die Begrifflichkeit zu vermitteln und diese nicht in den verschiedensten Anmerkungen ziemlich versteckt unterzubringen, wo sie nur schwer zu verwerten sind. Nachteilig wirkt sich aus, dass nur an wenigen Stellen die zentrale Thematik einmal von der anderen Seite, nämlich von der Seite der Landwirtschaft betrachtet wird. Im Mittelpunkt steht meist der „Industriearbeiter“, wobei sogar hier noch weiter differenziert hätte werden können, z. B. zwischen Arbeitern in der Eisenindustrie und Bergleuten. Das Buch ist mit 27 Tabellen, 2 Grafiken und 25 Abbildungen ausgestattet. Leider fehlt ein Abbildungsverzeichnis, was den Überblick über das Anschauungsmaterial erschwert. Abgesehen von zwei zeitgenössischen Skizzen fehlen kartographische Darstellungen und Pläne. Im Gegensatz dazu informieren Fotos über Haustypen, Gärten und landwirtschaftliche Flächen. Außerdem finden sich noch Karikaturen, Plakate, Titelblätter wichtiger zeitgenössischer Veröffentlichungen und Fotos von führenden Akteuren. Aus dem Personenregister lassen sich die Schwerpunkte des Buches entnehmen: Hier sind vor allem Wilhelm Röpke, Ludwig Erhard, Carl Goerdeler, Erich Preiser und Kurt Brüning zu nennen. Der liberal-konservative Genfer Ökonom Röpke, ein enger Vertrauter von Ludwig Erhard, hatte den Vorschlag der „additiven Autarkie von Lohnarbeitern“ als Entlastung des überforderten Sozialstaats der Nachkriegszeit beim Wiederaufbau eingebracht. Das Ortsregister ist weniger ergiebig, da es hier z. B. etwa ebenso viele Hinweise auf Berlin und Münster wie auf das Ruhrgebiet und Württemberg

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gibt. Auch hierdurch wird nochmals deutlich, dass die Behandlung der „regionalen Vorbilder“ in diesem Buch nur ein Teilaspekt ist. Das hier zu rezensierende sehr anregende Buch bringt erstmals systematisch zwei wichtige Phänomene zusammen, die bis jetzt durchweg nur getrennt voneinander betrachtet wurden: den Massenkonsum und die Selbstversorgung. Prinz überspannt mit seinen Forschungsergebnissen drei sehr unterschiedliche Perioden und einen regional außerordentlich differenzierten Raum. Ausgehend von der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte stellt er instruktive Verbindungen zur Siedlungs- und Kulturgeschichte, vor allem aber zur Ideengeschichte und zur politischen Geschichte her. Gerade deren Vorbildwirkung in der frühen Nachkriegszeit, die Prinz eingehend behandelt, macht deutlich, dass die Vision vom „Sozialstaat hinter dem Haus“ bzw. der „additiven Autarkie“ ein in vieler Hinsicht rückwärtsgewandtes Modell war. Es ist dem Verfasser aber auch zuzustimmen, wenn er konstatiert, dass „das ordoliberale Modell versucht hat, eine zeitgebundene Balance zwischen Produktion und Konsum zu finden“. Bonn

Klaus Fehn

Joachim Scholtyseck, Die Geschichte der National-Bank 1921 bis 2011. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2011. 424 S., geb., E 44,-. Im Gegensatz zur regional geprägten Sparkassengeschichte ist die Geschichte von regionalen Banken immer noch ein Desiderat. Es lassen sich zwar Festschriften und Chroniken finden, kaum jedoch historisch fundierte und kritische Studien, die insbesondere in den gegenwärtigen Zeiten der Finanzmarkt- und Bankenkrise von besonderem Interesse sein könnten. Und dies gilt umso mehr für die westfälische Bankengeschichte, die gerade für das 20. Jahrhundert von der Forschung weitgehend unberücksichtigt geblieben ist. Umso begrüßenswerter erscheint es darum, wenn Forschungsinitiativen wie der vorliegende Band aus den Reihen der Unternehmen selbst an die Wissenschaft herangetragen werden und damit die Öffnung der Archive verbunden ist. Seit den herausragenden Arbeiten der modernen historischen Bankenforschung etwa zur Geschichte der Deutschen Bank von Lothar Gall, zur Commerzbank und zur Dresdner Bank (Ludolf Herbst, Klaus-Dietmar Henke) sollten die von Autor Joachim Scholtyseck in seinem Vorwort angemahnte Forschungsfreiheit und ein uneingeschränkter Zugang zu bisher unveröffentlichten Quellen selbstverständlich sein (S. 13), zumal damit − wie die vorliegende Studie eindrucksvoll unterstreicht −, eine „Win-Win-Situation“ für Auftraggeber und Auftragnehmer gleichermaßen verbunden ist. Die fast hundertjährige Geschichte der Essener National-Bank spiegelt die krisenund konjunkturbewegte Geschichte des 20. Jahrhunderts auf regionaler Ebene wider. Und sie ist die des Wandels von einem gewerkschaftseigenen Bankinstitut hin zu einer bedeutenden regionalen Mittelstandsbank, mit einer wie Joachim Scholtyseck zusammenfassend schreibt, „wohl einmalige[n] Geschichte“ (S. 389). Dies unterstreicht die breite Überlieferung in Form von Geschäftsberichten, Protokollen, Nachlässen und Schriftverkehr, unter anderem im Hausarchiv der Bank, im Archiv für Christlich-Demo-

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kratische Politik in Sankt Augustin, im Bundesarchiv, im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, in den Archiven in Großbritannien und den USA sowie in Form von Interviews mit Zeitzeugen. Der Autor untersucht die Geschichte der National-Bank in klassischer diachroner Manier. Von der Gründung 1921 bis hin zur „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten 1933 diente das zunächst unter dem Namen ,Vereinsbank für die deutsche Arbeit AG‘ und kurz darauf als Deutsche Volksbank firmierende Institut als Bank der Christlichen Gewerkschaften und verfolgte als „Bank für die kleinen Leute“ (S. 17) vor allem zu dieser Zeit diskutierte gemeinwirtschaftliche Ziele (S. 43 f.). Die Deutsche Volksbank eröffnete unter der Initiative des gewerkschaftsnahen Zentrumsabgeordneten Adam Stegerwald und unter Beteiligung des damaligen Gewerkschaftsfunktionärs und späteren Reichskanzlers Heinrich Brüning der christlichen Arbeiterschaft die Möglichkeit, Sparkapital anzulegen und Kredite aufzunehmen, und betrat somit ein Geschäftsfeld, das traditionell von den Sparkassen dominiert wurde. Als industrielle Hochburg war das Ruhrgebiet innerhalb kürzester Zeit zum Geschäftsmittelpunkt der Bank geworden, so dass das Institut bereits ein Jahr nach der Gründung seinen Hauptsitz von Berlin nach Essen, dem „Herz des schwarzen Reviers“, verlegte. Bei der Standortentscheidung spielte die von Joachim Scholtyseck ausführlich dargestellte Essener Stadtentwicklung eine gewichtige Rolle. Das immense Bevölkerungswachstum sowie die sozialen und politischen Veränderungen hatten die Verlagerung begünstigt. Die Geschichte des Instituts wird damit in seinen nationalen wie auch lokalen Bezügen dargestellt. Schwer angeschlagen überstand die Deutsche Volksbank in den Anfangsjahren sowohl die Rheinlandbesetzung, Hyperinflation und Ruhrkampf, den massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit und die Weltwirtschafts- und Bankenkrise Anfang der 1930er Jahre. Erst die Machtergreifung 1933 bedeutete einen Bruch in der Unternehmensgeschichte, stand doch mit der Zerschlagung der Gewerkschaften auch die Existenz der Deutschen Volksbank zur Disposition. Der Essener NS-Gauleiter Josef Terboven verhinderte jedoch die Auflösung der Bank, da er ein starkes Interesse an einer eigenen Hausbank hatte (S. 131 f.). Noch 1933 erhielt das Kreditinstitut nach einer Umstrukturierung den neuen Namen ,National-Bank AG‘, der bis heute beibehalten wurde. Anders indessen als der Name suggeriert, wurde das Institut nun vollends zur Regionalbank des rheinisch-westfälischen Wirtschaftsraums, während die Filialen in Berlin und anderen Städten bis 1935 schließen mussten. Während des „Dritten Reiches“ beteiligte sich die ehemalige Gewerkschaftsbank an den Arisierungsmaßnahmen des Regimes, wie Scholtyseck am Beispiel der Übernahme des jüdischen Bankhauses Hirschland deutlich macht. Nachdem die Bank nachhaltig durch die Bombardierung Essens sowohl in ihrem Gebäudebestand als auch im Geschäftsbetrieb beeinträchtigt worden war, begann seit Kriegsende der Wiederaufbau. Direkt nach dem Krieg profitierte die National-Bank vom Zuschnitt der Besatzungszonen. Unter britischer Kontrolle wurde der Geschäftsbetrieb bald wieder aufgenommen, wenngleich es auch bei der National-Bank Entnazifizierungen gab. Im Kontext der Währungsreform, des „Wirtschaftswunders“, des Zusammenbruchs von Bretton Woods und der Zeit „nach dem Boom“, der Wiedervereinigung und der Banken- und Finanzmarktkrise berührt die Studie die Brennpunkte der Bankengeschichte des 20. Jahrhunderts.

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Wie die langfristig vergebenen Investitionskredite und der Aufbau spezieller Beratungsstrukturen belegen, entwickelte sich die ehemalige Gewerkschaftsbank in der Bundesrepublik zu einer regionalen Mittelstandsbank. Dieser Geschäftsschwerpunkt ließ das traditionsreiche Bankhaus auch die Krisen der 1970er, der 1980er und zuletzt die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise vergleichsweise gut überstehen. Dies war nicht zuletzt auf die Konzentration auf den deutschen Heimatmarkt sowie auf die mittelständisch geprägte Kundenstruktur zurückzuführen, die einen hohen Grad an Krisenresistenz verheißt. Insgesamt gesehen hat Joachim Scholtyseck eine quellenbasierte und gut lesbare Geschichte der National-Bank vorgelegt. Dabei besteht das große Verdienst der Studie nicht nur darin, die harten Fakten, also die betriebswirtschaftliche Entwicklung des Instituts, in ihrem politischen und ökonomischen Kontext darzulegen. Vielmehr gelingt es Scholtyseck einfühlsam, auch „Atmosphärisches[s] über Persönlichkeit, Führungsstil, und Unternehmensphilosophie ... zu rekonstruieren“ und damit in eine dem Historiker in aller Regel verborgene Grauzone psychologischer Deutungshoheit vorzudringen. Dieses Vorhaben wird allerdings nicht durch alle Betrachtungszeiträume hindurch durchgehalten. Als Professor für neuere und neueste Geschichte legt der Autor ganz überwiegend den Fokus auf die Einbindung in den Kontext von gesamtstaatlichen, regionalen und lokalen sowie wirtschaftlichen Ereignissen und Prozessen. Dies ist mit Blick auf die Intention der Publikation, ihre Lesbarkeit und das größere Zielpublikum einer Auftragsarbeit nachvollziehbar. Mit Blick auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema tritt die eigentliche Banken- und Institutionengeschichte dagegen in den Hintergrund (siehe beispielsweise S. 58-64). So verzichtet der Autor auf die Diskussion theoretischer Zugänge, etwa die unterschiedlichen Funktionen, die verschiedenen Banktypen, ihre abweichenden volkswirtschaftlichen Aufgaben und betriebswirtschaftlichen Besonderheiten. Ebenso wäre unter fachlichen Gesichtspunkten eine vertiefte vergleichende Analyse im Hinblick auf Wachstumsziffern und Unternehmenskennzahlen wünschenswert, die „auf einen Blick“ eine Einordnung des Instituts in den Markt ermöglicht hätte. Hier hätte durch die Heranziehung quantitativer Vergleichswerte, etwa im Hinblick auf Liquidität und Kreditumfang, der Fokus stärker auch auf volks- und betriebswirtschaftliche Fragestellungen gerichtet werden können. Einen statistischen Anhang suchen Leser und Leserin in dieser Bankengeschichte jedenfalls vergebens. Als Erklärungsmuster für die neunzigjährige Erfolgsgeschichte verweist Scholtyseck auf die starke regionale Ausrichtung, die langfristige Kreditvergabe an speziell mittelständische Unternehmen und die Konzentration auf das eigentliche Kerngeschäft, die das Bankhaus auch in schwierigen Zeiten vor großen Einbrüchen geschützt haben. „Die Festigung und Konsolidierung“ seit den 1980er Jahren sei „vor allem der Strategie zu verdanken, sich weiterhin auf den Status einer Regionalbank mit einem überschaubaren Radius zu beschränken und nicht der Versuchung zu erliegen, die vergleichsweise gute ökonomische Gesamtsituation zu einer nationalen oder gar internationalen Expansion zu nutzen“ (S. 395). Damit lässt sich die National-Bank in die Gruppe Sparkassen und Genossenschaftsbanken einordnen, die ebenfalls aufgrund ihrer Struktur und Marktaus-

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richtung geringer von der jüngsten Finanzkrise tangiert wurden. Damit zeigt sich, dass gerade die regionale Bankengeschichte der wirtschaftshistorischen Forschung spannende Einblicke eröffnen kann. Scholtysecks Geschichte der Essener National-Bank betritt Neuland für eine Regionalgeschichtsforschung, die regionale Bankhäuser als standortprägende Akteure in den Mittelpunkt rückt. Ihr Beispiel sollte Schule machen. Düsseldorf

Susanne Hilger

Stadt- und Ortsgeschichte Jörn Brinkhus, Luftschutz und Versorgungspolitik. Regionen und Gemeinden im NSStaat, 1942-1944/45. Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2010. 348 S., brosch., E 24,-. Wie der Autor in seiner Einleitung darlegt, wird das Dritte Reich in der Forschung vielfach als Polykratie aufgefasst, ein „konfliktreicher Verbund unterschiedlicher Herrschaftsträger“ (S. 11). Das habe zusammen mit Organisations- und Steuerungsproblemen zum Fehlen einer wirksamen Koordination an und durch die Spitze geführt, vor allem im Wirtschaftsleben. Dennoch war, so Brinkhus, das Dritte Reich in der Lage, sich bis zum Frühjahr 1945 erbittert zu verteidigen, eine „makabre Leistung“, die bislang nicht zufriedenstellend in Einklang gebracht werden könne mit „seiner defizitären Organisation und den Schwierigkeiten bei der Umsetzung seiner Politik“ (S. 12). So sei eben die NS-Diktatur nicht an ihren großen strukturellen Problemen zugrunde gegangen, sondern durch die Kriegsniederlage. Die neuere Forschung habe daher den Blick auf die Mittel- und Unterstufe der Verwaltung gelenkt, die offensichtlich eine besondere Fähigkeit zur Selbstkoordination besessen habe, womit die strukturellen Defizite in erheblichem Maße ausgeglichen worden seien. Brinkhus untersucht in seiner überarbeiteten Dissertation von 2006, wie die Unterund Mittelinstanzen ihren Kompetenzrahmen ausfüllten und wie und warum sie diesen erweitern konnten. Unter dem Blickwinkel des Luftschutzes und der Versorgungspolitik analysiert er im ersten Teil am vergleichenden Beispiel einen rheinischen Gau und einen nordwestdeutschen Gau und auf unterer Verwaltungsebene mehrere Städte − Essen, Düsseldorf, Duisburg, Karlsruhe, Freiburg und Mannheim (für die Versorgungspolitik) sowie Köln, Bonn, Bremen, Osnabrück und begrenzt Aachen und Wilhelmshaven (für den Luftschutz). Wie vielfach im Dritten Reich, so prägten polykratische Strukturen mit einer Vielzahl von Akteuren auch die Bereiche Versorgungspolitik und Luftschutz. Das konnte gerade nach verheerenden Angriffen auf Großstädte wie Köln bei einem Versagen in der Organisation rascher Hilfe zum Chaos und zu massivem Unmut in der Bevölkerung führen. Nach den Erfahrungen des Herbstes 1918 waren dies – wie auch eine mangelnde Lebensmittelversorgung – aus Sicht der NS-Behörden unbedingt zu vermeidende Szenarien. Daher sollte etwa durch eine möglichst gerechte Verteilung des Mangels das Auf-

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kommen einer massiven und breiten Unzufriedenheit mit dem Regime verhindert werden (S. 266 f.). Infolgedessen erwiesen sich die Akteure als durchaus lernfähig, als sich in Köln nach dem ersten Großangriff vom Mai 1942 ein Zuständigkeits- und Verwaltungschaos offenbarte, das vornehmlich durch die zur Hilfe angetretenen Parteigremien verursacht war (S. 206, 209). Brinkhus arbeitet anhand der Fallbeispiele überzeugend heraus, dass bei der Versorgung der Bevölkerung gerade die sehr flexiblen Mittel- und Unterbehörden dafür verantwortlich waren, Lücken in den einheitlichen Vorgaben wie auch unpraktikable Anordnungen so geschickt anzupassen, dass die Bevölkerung nicht unruhig wurde und die reichsweit geltenden Anordnungen den Bedürfnissen vor Ort gerecht werden konnten. Damit war allerdings eine lückenlose zentrale Kontrolle der Versorgung mit Mangelgütern nicht möglich, zumal die Unterinstanzen ihren Handlungsspielraum gegenüber den obersten Instanzen erweiterten und dann auch dazu nutzten, für ihren Bereich Sonderlieferungen durchzusetzen (S. 105). Zugleich wurden lokale Netzwerke eingesetzt, um auf regionaler Ebene Über- und Unterversorgungen auszutarieren (S. 108). Erst in der Endphase des Krieges stand dieses erstaunlich gut funktionierende System infolge der näher rückenden Fronten vor dem Zusammenbruch. Im zweiten Teil seines Werkes, der Untersuchung des Luftschutzes, vergleicht Brinkhus den NS-Gau Weser-Ems, der sich über die beiden preußischen Regierungsbezirke Aurich und Osnabrück sowie die Länder Oldenburg und Bremen erstreckte, mit dem rheinischen Gau Köln-Aachen. Der Gau Weser-Ems scheint auf diesem Gebiet eine bemerkenswerte Entwicklung durchlaufen zu haben. Nach dem Tod seines Amtsvorgängers Carl Röver versuchte der neue Gauleiter Paul Wegener, seinen Gau herauszustellen und eigene Mittelinstanzen zu schaffen, wobei er Bremen gegenüber der Gauhauptstadt Oldenburg aufwerten wollte. Letztlich konnte er sich gegen die überkommenen Verwaltungsstrukturen aber nicht durchsetzen. Beim Luftschutz zeigten sich deutlich Friktionen zwischen verschiedenen Akteuren, etwa den Kommunalverwaltungen, der Polizei, der Wehrmacht oder der NSDAP mit ihren Untergliederungen wie der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, die sich auch um die Bombenopfer kümmerte und von den Zentralinstanzen gegenüber den lokalen Behörden protegiert wurde (S. 205). Den Kommunen gelang es in der Regel bald, sich im Luftschutzbereich große Spielräume zugunsten einer besseren Berücksichtigung der Belange der lokalen Bevölkerung – vom Bunkerbau bis zu Sonderzuteilungen von Mangelgütern nach massiven Bombenangriffen − zu erkämpfen und effektive Hilfssysteme zu installieren. Eine reibungslose Zusammenarbeit aller Akteure war jedoch nicht selbstverständlich, wie Brinkhus’ Vergleich zwischen Bremen, wo das zu konstatieren ist, und dem Rheinland verdeutlicht (S. 204 f.). Letztlich führt dieser Teil seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, dass im Gau Weser-Ems die Akteure effektiver und besser miteinander kooperierten als im Rheinland. Im abschließenden dritten Teil, der „Auswertung“, stellt Brinkhus seine Ergebnisse in den Kontext des aktuellen Forschungsstandes. Bisher wird vielfach angenommen, dass es im Kriegsverlauf kaum noch Klagen über den Luftschutz gegeben habe, weil die Bevölkerung resigniert und nichts mehr erwartet habe. Brinkhus hebt hervor, dass mit weit besseren Argumenten auch die gegenteilige Interpretation vertreten werden könne:

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„Weil der Luftschutz Wirksamkeit entfaltete, nahmen die Klagen ab und fanden keinen Niederschlag mehr in den Dossiers des SD“ (S. 278). Für diesen Bereich kommt der Autor daher zum Resümee: „Der Luftschutz half vielmehr dabei, eine Notgesellschaft bis in die letzten Kriegstage zu stabilisieren, die dem Geschehen an der Regimespitze zunehmend interesselos gegenüberstand“ (ebd.). Zwar betont Brinkhus die hohe Funktionalität der Selbstorganisation der Mittel- und Unterbehörden, die „den polykratischen Grundstrukturen des NS-Staats zum Trotz“ die örtlichen Beteiligten dazu brachte, eng zusammenzuarbeiten und „bei der Beschaffung von Hilfsleistungen alle Register zu ziehen“. Erstaunlicherweise seien die Reichsbehörden auch bereit gewesen, die „nachgeordneten Behörden an die lange Leine zu nehmen“ (S. 289). Bei aller Würdigung der Leistungsfähigkeit der hier beispielhaft untersuchten „Selbstorganisation im Nationalsozialismus“ gerät doch etwas aus dem Blick, dass der Bombenkrieg für Deutschland schon relativ früh verloren war, woran die hier dargelegten gelungenen Beispiele von Selbstorganisation und Kooperation nach großen Angriffen wie zwischen Köln und Bonn oder Bremen und Delmenhorst letztlich nichts zu ändern vermochten. Vermissen werden Leser hier jedoch übersichtliche Schaubilder zur Verdeutlichung von Verwaltungsgliederungen; ebenso bedauerlich ist der Verzicht auf jegliche Illustration. Greven

Helmut Lensing

Mirko Crabus, Kinderhaus im Mittelalter. Das Leprosorium der Stadt Münster (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster, N.F. Bd. 25, Serie B, Nr. 11). Aschendorff Verlag, Münster 2013. 268 S., geb., E 44,-. Mirko Crabus, Fürsorge und Herrschaft. Das spätmittelalterliche Fürsorgesystem der Stadt Münster und die Trägerschaft des Rates (Westfalen in der Vormoderne. Studien zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Landesgeschichte, Bd. 15). Aschendorff Verlag, Münster 2013. 450 S., brosch., E 59,-. Zwei im gleichen Jahr erschienene Bücher desselben Autors zu Themen, von denen das erste einen Ausschnitt aus dem des zweiten beschreibt. Das erstgenannte Werk ist bereits zum Jahre 2007 als Magisterarbeit vorgelegt worden, das zweite 2011 als Dissertation. Beide Arbeiten liegen nun – in verschiedenen Buchreihen – gedruckt vor, obwohl die Stadt Münster mit ihren „Quellen und Forschungen“ für beide Werke hätte Raum bieten können. Jetzt steht die Dissertation als Bd. 15 mit ihrem abstrakten, nicht ortsbezogenen Titel neben dem ähnlich formulierten, gleichfalls hier besprochenen von Bd. 14 „Monastische Reform und spätmittelalterliche Stadt“ des Autors Daniel Stracke aus dem gleichen kirchlich-religiösen Bereich mit soziologischem Schwerpunkt. Die Armen- und Krankenfürsorge findet nach der von der Kirche geprägten Vorstellungswelt der Menschen ihre Begründung in der christlichen Nächstenliebe und gehorchte „in der Vormoderne“ in ihren Formen weitgehend den von der Kirche vorgegebenen Regeln. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nicht nur moralische

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Gründe sind, die Menschen dazu veranlassen, für den Unterhalt Fremder zu sorgen, sondern dass jeder in eine Lage kommen kann, in der der Broterwerb schwer fällt oder unmöglich ist und er auf die Fürsorge anderer angewiesen ist. So ist auch in Münster ein reiches Armenwesen in ganz unterschiedlichen Trägerschaften, wenngleich immer in den genannten Formen oder an sie angeglichen, entstanden. Es sind in Münster 33 Armen-, Leprosenhäuser, Hospitäler gegründet worden, die gerne – und in den vorliegenden Werken ständig – mit dem aus süddeutschem Sprachgebrauch übernommenen, in Münster nicht quellengemäßen Wort „Elenden“ als Sammelbegriff bezeichnet werden. Sie alle sind einzeln durch Stifter mit Einkünften – oft Renten – ausgestattet worden und bildeten selbständige, wirtschaftlich und verwaltungsmäßig voneinander unabhängige Körper mit – und das ist für das Zustandekommen der Untersuchung wichtig – eigenen Archiven mit einer schier unüberschaubaren Fülle an Quellen: Urkunden, Akten, Rechnungen und Register. Allein die Sammlung der Quellen und die Zusammenführung auf dem Papier, dann die Entwicklung einer tragfähigen Gesamtsystematik und sachentsprechender Fragestellungen sind eine Leistung, die weit mehr als nur „aller Ehren wert“ ist. Der Autor hat sich dieser Herausforderung für die Gesamtüberlieferung erfolgreich gestellt, obwohl ihm nach seiner Pilotarbeit über das Leprosorium „Kinderhaus“ klar sein musste, was für die Gesamtstadt noch alles zu tun sein würde. Schon das Inhaltsverzeichnis, bestehend aus einer systematisch aufgebauten Liste von Überschriften oder Kapitelthemen, die möglichst organisch aus einander erwachsen, zeichnet die Strukturen des Armenwesens und damit zugleich des Buches so deutlich nach, dass sich eine Zusammenfassung am Schluss darauf beschränken kann, den Inhalt in eine geschlossene Kurzform zu bringen, die gegebenenfalls für eine erste Orientierung vorab gelesen werden darf. Der Text der Gesamtarbeit ist entsprechend der Materialfülle und der Unmenge von sorgfältig ausgewählten lateinischen und (mittelnieder-)deutschen (meist übersetzten oder hochdeutsch paraphrasierten) Zitaten für den Leser, der sich einen Überblick verschaffen will, trotz gewandter Darstellung und guter Lesbarkeit kaum zu erfassen. Der Begriff „Herrschaft“ im Titel ist nicht ganz frei von einer gewissen Mehrdeutigkeit in Bezug auf die Personen und „Sache[n]“ die er bezeichnet. Er zielt auf die aktiv Beteiligten an der „Fürsorge“ – auf Bischof, Domkapitel, Stadt, Bürgerschaft, Einzelpersonen, also auf die „Herren“, die die Fürsorgeanstalten gestiftet hatten, unterhielten, kontrollierten und sich für die Verwaltung, die Auswahl der Berechtigten und die Einhaltung der Haus- und Lebensordnung für zuständig hielten. Ob diese Art der fürsorglichen Überwachung als „Herrschaft“ bezeichnet werden kann, scheint fraglich. Mit Herrschaft im Sinne der Ausübung von Hoheitsrechten, Gerichtsbarkeit, der Verfügungsgewalt über Menschen, Institutionen und deren Besitz hat die Verantwortung für Armen- und Krankenhäuser, für die Verteilung von Almosen nichts zu tun. Als einziger in der genannten Reihe der „Herren“ übte der Bischof – als Reichsfürst – zwar „Herrschaft“ aus, doch bezog sich diese keineswegs auf Armenhäuser. Zwar treten die Bischöfe schon seit 1137 mit Memorienstiftungen und anderen Fürsorgeverfügungen für bestimmte, an sie gebunden Personenkreise hervor, doch ist das von der Ausübung von „Herrschaft“ und „Macht“ weit entfernt. Die Relationen werden in der Überschrift „Kommunalisierung und die Grenzen der Macht“ des ersten der acht gro-

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ßen, gleichgewichtigen Kapitel des Buches genannt, aber nicht geklärt. Die „Kommunalisierung“ ist Entwicklungsschritt nach und Gegenbewegung zu den ersten aktenkundigen, auf den Bischof zurückgehenden Regelungen. Die Stadt Münster – als „Kommune“ – übernimmt eine führende Rolle bei der Armenfürsorge. Sie behält sie als Kontrollinstanz auch, nachdem immer häufiger Privatpersonen, fast immer aus Kreisen, die am Stadtregiment beteiligt sind, als Stifter von Armenhäusern, zugehöriger Kapellen und Vikarien oder bedeutender Legate an Armenhäuser in Erscheinung treten. Auch nach der so beschaffenen „Kommunalisierung“ wird man von „Herrschaft“ nicht ohne Vorbehalte sprechen können. In den folgenden Kapiteln geht es dann auch viel weniger um Herrschaft als um die Organisation der Fürsorge: Administrative Regelung der weltlichen und geistlichen (S. 73), der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse (S. 147, privilegierte „Oberpfründner“ S. 353) und schließlich um Entwicklungen im Zuge von „Spezialisierung“, „Generalisierung“, „Zentrali- und Dezentralisierung“ (S. 237) und Formen der Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Armeneinrichtungen (S. 315). Dabei spielt der Stadtrat z. B. mit einem Stiftungsverbot (S. 302) oder durch die Einwirkung der für die Stadt sich verantwortlich wissenden Stifterfamilien und Provisoren der Armenhäuser stets eine ausschlaggebende Rolle. Motive der Stifter sind neben der allgemeinen und persönlichen „Verantwortung“ auch „Familienprestige“ und das eigene „Seelenheil“. Was unter diesem Raster angeboten wird, zielt zwar auf den Titel „Fürsorge und Herrschaft“, doch findet der Autor mit seinen Zuordnungen und Deutungen immer nur in weiten Abständen dahin zurück. Der Titel schränkt das Thema ein und entlastet die Arbeit von geographischen, wirtschafts- und kulturgeschichtlichen, theologischen und sprachlichen Problemen (Terminologie, Namen der Einrichtungen). Viel Material wird in den umfangreichen Quellenzitaten auch zu solchen Fragen ausgebreitet, aber nicht bearbeitet. Das kirchliche, nicht an Häuser gebundene Armenwesen kommt nicht in einem eigenen Abschnitt, sondern lediglich in einer nur stellenweise einigermaßen breiten Darstellung (S. 333) zur Sprache. Für die an Kirchen und Klöster gebundene, aus Almosen gespeiste Caritas wird die Bezeichnung „der Korb“ gebraucht, die – wie „die Elende“ – gleichfalls, so weit zu sehen, nicht den Quellen entnommen ist oder dort jedenfalls nicht als Standardbegriff gebraucht wird. Die Stadt Münster besitzt mit diesem Werk und der Spezialuntersuchung zu „Kinderhaus“ zwei in seltener Weise vollständige Darstellungen eines höchst differenzierten, alle Formen der Armut und Krankheit abdeckenden Fürsorgesystems in sehr uneinheitlicher Trägerschaft bei unterschiedlich intensiver, schwankender, nur periodenweise (Schlacht bei Varlar, Täuferzeit) zielstrebiger Verstärkung des Einflusses der Stadtverwaltung. Die Häuser hatten nach Zuschnitt, Zuständigkeit und wirtschaftlicher Ausstattung stets ein eigenes Profil. Überraschenderweise fehlen dem Werk trotz seines Reichtums an zum Teil in Tabellen (der Amtsträger, S. 395-450) angeordneten Namen alle Indices. – Das Ausmaß der geleisteten Arbeit lässt es als bedauerlich erscheinen, dass es für Münster keine Sammlung nach Art der „Regesten der Soester Wohlfahrtsanstalten“ (1953-1964) von Friedrich von Klocke (das 1973 erstellte Register von Wilhelm Kohl) gibt. Sie wäre ein

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wesentlicher, weitere Studien ermöglichender Beitrag zu dem nach dem ersten Band von Josef Prinz (1960) leider nicht weitergeführten „Urkundenbuch der Stadt Münster“. Die Pilotstudie zu „Kinderhaus“ ist mit solchen Regesten und Urkunden-Vollabdrucken unterfüttert. Das Gesamtmaterial dürfte dem hervorragend befähigten Autor und Bearbeiter weitestgehend zur Verfügung stehen. Münster

Leopold Schütte

Harald Dierig, Der leidvolle Weg zu einem neuen Zuhause. Ostdeutsche Heimatvertriebene im Landkreis Münster nach 1945. Aschendorff Verlag, Münster 2013. 383 S., geb., E 29,80. „Neuanfang in Münster. Eingliederung von Flüchtlingen und Vertriebenen in Münster von 1945 bis heute“, lautete der Titel einer 1996 erschienenen „Dokumentation“, an der Verfasser Harald Dierig mit drei Beiträgen, davon zwei in Co-Autorschaft mit seiner Frau Barbara, beteiligt war. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass mit dem vorliegenden Band gewissermaßen die Ergänzungsschrift für den früheren Landkreis Münster zum damaligen Band über die Stadt Münster vorgelegt würde, doch bestätigt sich diese Vermutung nur in einem geringen Umfang. Ging es beim „Neuanfang in Münster“ überwiegend um eine Dokumentation des ostdeutschen Anteils am öffentlichen Leben der Stadt, handelt es sich beim vorliegenden Buch um eine gediegene historische Studie zu Ankunft, Aufnahme und Integration der Heimatvertriebenen bis gegen Ende der 1950er Jahre, die auf der Auswertung umfangreicher Bestände von fast zwanzig staatlichen, kommunalen, Verbands- und Privatarchiven beruht. Die Fallbeispiele stammen überwiegend aus den früheren Gemeinden Nienberge, Roxel und Albachten; ergänzt wird die Untersuchung durch einen umfangreichen Abbildungsteil mit überwiegend seltenen zeitgenössischen Fotos und durch eine Zusammenstellung von Zeitzeugenberichten und amtlichen Dokumenten. Wie bereits der Titel „Der leidvolle Weg ...“ andeutet, hat der Verfasser – selbst gebürtiger Münsteraner – seine Darstellung mit Verständnis und Sympathie für die schwierige Lage der Vertriebenen geschrieben. Nun sind die damals zu bewältigenden katastrophalen Verhältnisse im Landkreis Münster nicht viel anders gewesen als an anderen Orten Deutschlands auch. Und da eine erhebliche Anzahl von Orts- und Regionalstudien älteren und neueren Datums aus ganz Westdeutschland vorliegen, stellt sich doch die Frage, ob die Studie von Harald Dierig über das vom Grundsatz her Bekannte hinaus zusätzliche Erkenntnisse liefert. So fragt der Fachhistoriker, ungeachtet der Tatsache, dass selbstverständlich die jeweilige Darstellung für Orte oder kleinere Regionen einen Wert an sich hat, der zunächst in der Dokumentation der Vorgänge liegt – was nicht aufgeschrieben und gedruckt ist, hat es später einmal nicht gegeben! Historischer Eigenwert liegt jedoch auch in den gerade in Krisensituationen unterschiedlich wirksam werdenden Regionalkulturen und Mentalitäten, sei es, dass aus diesen zusätzliche Probleme erwachsen, sei es, dass die Bewältigung der Situation erleichtert wird. Dafür finden sich in dem Werk eine ganze Reihe bemerkenswerter Beispiele, angefangen von

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den unterschiedlichen Temperamenten von Westfalen und Schlesiern, die das Hauptkontingent der Vertriebenen stellten, über die Konfessionsunterschiede und die daraus folgenden administrativen und menschlichen Problematiken bis hin zur abwertenden Behandlung der Vertriebenen durch die einheimische Bevölkerung, die in den 1980er Jahren von Einheimischen selbst formuliert wurde, wenn sie schrieben: „Im Nachhinein müssen wir zugeben, dass wir im Großen und Ganzen in der Zeit kein Ruhmesblatt geschrieben haben“ (S. 53). Aufmerksam wird man bei der Lektüre auch auf Fakten, die in der wissenschaftlichen Diskussion bislang unbekannt oder wenig beachtet worden sind, wenn z. B. die Schlesier bei ihrer Abschiebung 1946 von polnischen Beamten endgültig ausgeplündert wurden und das Plünderungsgut durch Rot-Kreuz-Autos abtransportiert wurde. Dierig weist außerdem darauf hin, dass es sich bei den ankommenden Vertriebenen zu 80 Prozent um Frauen und Kinder handelte, dass allein in der britischen Besatzungszone über 60.000 Kinder ohne Eltern oder andere Angehörige ankamen, dass noch Anfang der 1960er Jahre Vertriebene in Barackenunterkünften lebten u. a. m. Über diese Bereiche hinaus eignet der Untersuchung jedoch ein spezifischer wissenschaftlicher Wert, denn der Verfasser – selbst langjähriger Verwaltungsbeamter – zeichnet präzise die Verwaltungsvorgänge und die rechtlichen Regelungen nach, denen die Vertriebenen unterlagen. Abgesehen davon, dass man dies auch in anerkannten wissenschaftlichen Darstellungen in dieser Form kaum findet, erfährt man hier, dass die Vertriebenen eben über einen langen Zeitraum keineswegs gleichberechtigte Bürger waren, sondern aufgrund besatzungspolitischer Maßnahmen, aber auch aufgrund deutschen Verwaltungshandelns erheblichen Benachteiligungen ausgesetzt waren. Sie waren eine benachteiligte Minderheit im eigenen Lande und empfanden dies auch so, in den Nachwirkungen bis in unsere Tage. In der Öffentlichkeit gab es kaum Anerkennung für die Bewältigung ihres Schicksals, und sie werden nicht selten auch heute noch als „Störenfriede“ angesehen, wie z. B. die Diskussionen um ein Vertriebenendenkmal in der Stadt Oldenburg vor wenigen Jahren zeigte, das nicht zustande kam. In Münster wurde im Jahre 2003 ein Gedenkstein für die Flüchtlinge und Heimatvertriebenen errichtet, auf dem ausdrücklich ihr „Beitrag zum Wiederaufbau und zur Errichtung eines demokratischen Gemeinwesens“ gewürdigt wird. Diese und andere Gesten sieht der Verfasser als „späte, heilsame Zuwendungen aus der Öffentlichkeit“ (S. 232). Ein wichtiges und lesenswertes Buch. Vechta

Joachim Kuropka

Werner Freitag (Hg.) (unter Mitarbeit von Dörthe Gruttmann und Constanze Sieger), Geschichte der Stadt Billerbeck. Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2012. 672 S., geb., E 29,-. Nach Coesfeld (1999/2004) und Dülmen (2011) liegt nun eine dritte Stadtgeschichte aus dem Kreis Coesfeld vor, die alle innerhalb eines Jahrzehnts entstanden sind, jeweils einem eigenen Konzept folgen und von unterschiedlichen Herausgebern betreut wurden. Was veranlasst ein renommiertes Institut, sich einer münsterländischen Kleinstadt anzu-

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nehmen – zumal kein Jubiläum dies einfordern könnte? Freitag beantwortet die Frage im Vorwort: Sein Institut war für drei Jahre von der in Billerbeck angesiedelten Wolfgang Suwelack-Stiftung mit Konzeption und Herausgeberschaft einer Geschichte der Stadt beauftragt worden. Suwelack, Sproß einer Billerbecker Unternehmerfamilie und derzeit größter privater Arbeitgeber in Billerbeck, will mit seiner vor zehn Jahren gegründeten Stiftung mahnende und erinnernde Impulse setzen und (nicht nur, aber auch historische) Wissenschaft und Forschung befördern. Freitag hingegen interessiert das Spannungsfeld, in dem sich eine westfälische Minderstadt über Jahrhunderte bewegte. Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit liegt nun vor. Wissenschaftlich steht das Projekt der Billerbecker Stadtgeschichte auf mehreren Schultern, nämlich zum einen wie erwähnt auf der des Instituts für vergleichende Städtegeschichte. Die zweite Schulter aber bietet der Historiker, Numismatiker und Co-Autor Peter Ilisch, der in dieser Form wohl aufgrund der ihm eigenen Bescheidenheit nicht explizit im Vorwort genannt wird, aber als gebürtiger Billerbecker mit eigenen langjährigen historischen Forschungen zu Billerbeck, mit eigenem umfänglichen Zeitungs- und Familienarchiv, mit guter Vernetzung in der regionalhistorischen Forscherzunft und einem riesigen wissenschaftlichen Œuvre (allein 31 seiner Publikationen sind im angehängten Literaturverzeichnis genannt) einen kaum zu unterschätzenden Einfluss auf das wissenschaftliche Substrat des Werkes hatte. Die Autorinnen und Autoren entstammen insgesamt zwei unterschiedlichen Forschergenerationen. Die eine zwischen 1947 und 1956 geboren, männlich (ost)westfälisch sozialisiert und auf dem Zenit ihres Schaffens angekommen (Ester, Freitag, Ilisch), die andere zwischen 1976 und 1984 geboren (Bernhard, Gruttmann, Hänisch, Sieger, Spannhoff), mit einer Ausnahme weiblich, gerade promoviert oder kurz davor, und mit zurückliegenden Arbeiten aus Mitteldeutschland, dem Oldenburgischen, dem Münsterland und Preußen geografisch nicht nur für Westfalen ausgewiesen. Zwei von ihnen bauen ihre in dem Billerbecker Werk vorgestellten Themen zu Doktorarbeiten aus. Das Werk ist inhaltlich in zwei Abschnitte unterteilt. Der erste, „Übergreifende Darstellungen“ überschrieben, ist 456 Seiten stark und von drei Autoren verfasst; der zweite Abschnitt, der „Orte und soziale Räume“ benennen will, umfasst 138 Seiten und wird von fünf Autoren verantwortet. Peter llisch nimmt sich im Rahmen der „Übergreifenden Darstellungen“ unter der Überschrift „Bischöfliche Siedlung und Wigbold der Bürger“ der von 809 bis 1803 währenden längsten Phase der Entwicklung der Minderstadt an. Präzise beschreibt und analysiert er die Genese Billerbecks zwischen landesherrlicher Einflusssphäre und den wenigen Freiräumen der Bürgergemeinde. Constanze Sieger zeigt „Die Ludgerusstadt im 19. Jahrhundert“. Sie orientiert sich dabei nicht an epochalen Zäsuren, die ohnehin „ die politischen und auch religiösen Gegebenheiten in Billerbeck entweder kaum oder ganz anders, als sie sich auf der großen Bühne darstellten“ (S. 111) beeinflussten. Am Anfang steht für sie die preußische Rahmengesetzgebung, die zwischen 1831 und 1841 auf die kommunale Selbstverwaltung einwirkte. Der Bogen spannt sich zeitlich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Thematisch gliedert sie die Zeit in die drei Bereiche Verwaltung, Kirche, Wirtschaft. Dörthe Gruttmann blickt auf die „Kleinstadt der Moderne“. Der von ihr behandelte zeitliche Rahmen beginnt mit

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dem Ende des Ersten Weltkriegs und endet „um 1970“. In fünf Kapiteln widmet sie sich der „großen Politik“ vor „lokalen Horizonten“, den wirtschaftlichen Strukturen, den christlichen Pfarrgemeinden, dem Kultur- und Vereinsleben unter Einbeziehung „neuer Formen der Freizeitgestaltung und der Teilhabe an der Medienkultur“ sowie dem Umbruchsjahrzehnt „um 1970“. Der zweite Teil des Buchs, der laut Freitag aufzeigen soll, „wie Orte also zum Faktor lokaler Identität“ (S. 16) wurden, beginnt mit Peter Ilisch, der die „Bauerschaften im Mittelalter und der frühen Neuzeit“ ins Auge fasst und sich dann dem „Adel und Adelshäuser[n] im Kirchspiel Billerbeck“ zuwendet. Christof Spannhoff stellt auf seinen 17 Textseiten die Entwicklung christlicher Begräbnisstätten „vom Mittelpunkt kleinstädtischen Lebens zum Ort der Stille“ vor, wobei die Anlage des Johanniskirchplatzes in den 1980er Jahren eher nicht in einen „Ort der Stille“ mündete, sondern geradezu eine neue „,gute Stube‘ der Stadt“ (S. 548) schuf. Unter dem Titel „Begräbnisstätte – Familienarchiv − Gedenkort“ beschäftigt sich Matthias M. Ester mit dem jüdischen Friedhof (und der jüdischen Gemeinde, ohne es im Titel zu nennen) als zentralem Ort der lokalen Gedenkkultur. Sein Beitrag schließt mit Entwicklungen, die erst im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends initiiert worden sind. Kirsten Bernhardt analysiert das Funktionieren kleinstädtischer sozialer Fürsorge von der frühen Neuzeit bis in die 1980er Jahre beeindruckend am Beispiel einer einzigen Einrichtung, dem Haus Hamerenschen Armenhaus. Der Beitrag „Vereine im Wirtshaus“ von Ria Hänisch beleuchtet abschließend die „Kleinstadtkultur um 1900“, dem aber ein Kapitel zur Sozialtopographie des Gaststättenwesens als besonderem kleinstädtischen Phänomen vorangestellt ist. Eine vierseitige Chronik mit Eckdaten zur Billerbecker Geschichte schließt den Textteil ab. Es folgen Quellen- und Literaturverzeichnis, Orts- und Personenregister sowie Biogramme der Autorinnen und Autoren. Den Band illustrieren insgesamt ca. 350 überwiegend historische Abbildungen, 51 Tabellen und 33 zumeist neu angefertigte Karten. Damit gliedert sich das Werk auch rein optisch sehr opulent. Die abgebildeten Karten, so sie aus anderen Werken übernommen wurden (z. B. aus dem hauseigenen Westfälischen Städteatlas), erfuhren jeweils eine umsichtige Korrektur seitens der Autoren, soweit das notwendig war. So wurde der Forschungsstand neu visualisiert und gewohnt akkurat vom Kartographen des Instituts für vergleichende Städtegeschichte und der Historischen Kommission von Westfalen, Thomas Kaling, umgesetzt. Spricht man den „Luxus“ an, mit dem dieser Band insgesamt produziert wurde, dann schleicht sich ein kleiner Wermutstropfen ein. Dem Abschnitt „Orte und soziale Räume“ ist ein Farbteil mit 31 Bildtafeln ab S. 480 (unpaginiert) vorgespannt. Leider sind alle Karten und Abbildungen an anderer Stelle im Band schon schwarz-weiß abgedruckt, so dass der Erkenntnisgewinn eher gering ist. Aber auch hier gilt: Die durchgängige sehr hohe Reproduktionsqualität der Abbildungen nötigt der Leserin/dem Leser großen Respekt ab. Das Register, das im Inhaltsverzeichnis als „Orts- und Personenregister“ (S. 651-671) bezeichnet wird, bietet viel mehr als der Name sagt. Neben Städten, Regionen und Ländern werden die billerbeckspezifischen Orte, Straßen und Monumente mitgeteilt, aber auch Körperschaften, Vereine, Parteien und Gaststätten. Wenn Namen im Text komplett

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wiedergegeben wurden, dann finden sie sich identisch im Register, wenn die Vornamen abgekürzt genannt wurden, dann kommen sie ebenfalls nur verkürzt ins Register. Hier hätte im gut ausgestatteten Billerbecker Stadtarchiv, das wohl in vielerlei Hinsicht eine enorme Hilfestellung bot, für die Autorinnen und Autoren durchaus die Möglichkeit bestanden, die vollen Namen zu ermitteln. Manchmal werden den Personennamen im Register Funktionsbezeichnungen beigefügt, manchmal nicht, obwohl sie im Text wie z. B. beim „Brennereibesitzer und Krämer F. Ahlers“ (S. 610) mitgeteilt werden. Aber das sind Petitessen, die das ansonsten sehr gut erschließende Register in seinem Wert kaum mindern und die bemerkenswert gute Leistung von Lektorat und Redaktion in den Händen von Ria Hänisch nicht schmälern sollen. Man merkt den kurzen verständlichen Sätzen an, dass sich alle Autorinnen und Autoren bewusst an ein „Hybrid“publikum wenden. Zum einen wird (auch mit dem jeden Beitrag angehängten Anmerkungsapparat) der Wissenschaft gebührend Genüge getan, zum anderen zielt man aber sprachlich auf eine Laienleserschaft, ohne ins Unwissenschaftliche abzugleiten. Die Aufnahme in Billerbeck und in der Region zeigt, dass das Konzept aufgegangen ist. Freitag und sein Team vom Institut für vergleichende Städtegeschichte haben gewissermaßen einen Prototyp neuer Stadtgeschichtsschreibung „kreiert“: auf der Basis von privaten Drittmitteln werden junge Forscherinnen und Forscher mit Bindung an das Institut mit einem klaren zeitlichen und inhaltlichen Konzept auf eine umsichtig begleitete Reise geschickt. Bachelor-, Master- und Doktorarbeiten runden den wissenschaftlichen Forschungsertrag ab. Das Buchprodukt aber wendet sich an einen größeren Kreis – vermittelt im besten Sinne des Wortes historische Forschung. Das Institut für vergleichende Städtegeschichte „strickte“ zudem vor Ort und teilweise auch in Münster einen ganzen Veranstaltungsreigen um das Projekt. Mit diesen workshops und Lesungen hat das Institut wesentlich das Feld für die Publikation bereitet, eine positiv gestimmte und neugierige Öffentlichkeit geschaffen und schlummernde Quellen angezapft. Abschließend gilt es eigentlich nur den Wunsch des Herausgebers zu bestärken, „dass dieser Billerbecker Weg auch anderswo beschritten“ werden möge (S. 16). Haltern am See

Norbert Damberg

Volker Jakob/Stephan Sagurna, Zeitenwende. Aspekte der westfälischen Fotografie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert (Aus westfälischen Bildsammlungen, Bd. 6). Verlag Kettler, Bönen 2012. 212 S., geb., E 19,60. Der Schriftzug „J.H. Jäger“ zierte lange und unübersehbar das Wohn- und Geschäftshaus der Familie, das in prominenter Lage am Kirchplatz in Harsewinkel, Kreis Gütersloh zu finden war und 2012 abgerissen worden ist. Der Geschäftsbetrieb war bereits in den 1980er Jahren eingestellt worden. Mehr als ein Jahrhundert lang waren dort Passfotos gefertigt, Bilder gerahmt, Schreibwaren und Büromaterial verkauft worden. In den 1960er und 1970er Jahren gab es auch Ledertaschen, Musikinstrumente, Spielwaren, Geschenkartikel aller Art zu erwerben. Wer wie der Rezensent in Harsewinkel auf-

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gewachsen ist, der kannte selbstverständlich das Geschäft mit seinem so außergewöhnlichen Sortiment. In Harsewinkel war durchaus auch bekannt, dass die Familie Jäger über eine stattliche Sammlung alter Fotografien verfügte, angefertigt von eben jenem „J.H. Jäger“ und seinen Nachfahren. Eine Reihe dieser historischen Aufnahmen war, teilweise in bedauerlichem Kleinformat, in der 1965 erschienen Ortschronik veröffentlicht worden.6 Das LWL-Medienzentrum für Westfalen in Münster konnte 2012 die umfangreiche Bildsammlung der Familie Hüfken-Jäger als Dauerleihgabe übernehmen. Die Sammlung umfasst schätzungsweise rund 2.000 Fotografien. Die ältesten Aufnahmen, in der Technik der Daguerrotypie gefertigt, entstanden um 1855, die jüngsten Fotografien der Bildsammlung stammen aus den 1950er und 1960er Jahren. Hinzu kommen ein dutzend seltener Farbfotografien, die zu einem erstaunlich frühen Zeitpunkt, zwischen 1907 und 1936 entstanden sind. Aus diesem Bestand präsentiert der vorliegende Bildband „Zeitenwende“ eine Auswahl von rund 150 Schwarz-Weiß- sowie sämtliche der überlieferten zwölf Farbfotografien. Der Bildband stellt damit eine Art Probebohrung in den fotografischen Nachlass der Fotografen-Dynastie dar. Er lässt die hohe Qualität der Aufnahmen, der technischen Brillanz, der Gestaltung und Bildsprache und insbesondere auch ihren dokumentarischer Wert für die historisch-landeskundliche Forschung erkennen. Den Bildtafeln, die rund drei Viertel des Bandes ausmachen, ist ein Textteil mit vier Aufsätzen vorangestellt. Der Historiker Volker Jakob, als Leiter des Bild-, Film- und Tonarchives im LWL-Medienzentrum für die Betreuung des Nachlasses Jäger zuständig, gibt zunächst einen prägnanten Überblick auf das erste Jahrhundert der Fotografie in Westfalen (1850-1950), mit einem Schwerpunkt auf der Technik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Er blickt auf die Kundschaft, vor allem aber auf die Träger dieser medialen Neuerung in Westfalen und auf ihre sozialen wie wirtschaftlichen Lebens- und Produktionsbedingungen. Dazu zählt gerade auch Jakobs mikrohistorisches Porträt des „Ateliers Jäger“ in Harsewinkel, das bei seiner Gründung 1884 eine von insgesamt rund 90 „photographischen Anstalten“ in der preußischen Provinz Westfalen war. Der 39-jährige Buchbinder und Fotograf Johann Hermann Jäger (1845-1920) hatte das Atelier – nach Lehr- und Wanderjahren in der Schweiz – 1884 am Kirchplatz in Harsewinkel eröffnet, als er die 1847 gegründeten Buchbinderwerkstatt des Vaters übernahm. In Lausanne hatte Jäger junior einige Jahre zuvor die Technik der Fotografie kennengelernt. Jakob zeichnet die Familiengeschichte nach, die eng mit dem konjunkturellen Auf und Ab des Ladengeschäftes in der ländlichen, weitgehend von Landwirtschaft und ländlichem Handwerk geprägten Kleinstadt verknüpft war und blieb. Den Bestand der Fotografien aus der Hand Johann Hermann Jägers deutet Jakob als „Bilder des Abschieds“ (S. 14), die überwiegend vor dem – für Harsewinkel verspätet einsetzenden – Einbruch der industriellen Moderne entstanden sind. Das fotografische Lebenswerk der Söhne Heinrich Jäger (1876-1948) und Ernst Jäger (1886-1963) fasst Jakob in dem Urteil zusammen, es sei ihnen gelungen, den von der Moderne ausgelösten Wandel auf

6

Vgl. Walter Werland (Hg.), 1000 Jahre Harsewinkel. Zur Heimatgeschichte der Stadt an der Ems, Münster 1965 (Bildserien dort u.a. auf S. 407-424).

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lokaler bzw. regionaler Ebene „in eindrucksvollen Bilddokumenten und mit großem Einfühlungsvermögen festgehalten zu haben“ (S. 15). In einer volkskundlichen Studie widmet sich Christiane Cantauw, Geschäftsführerin der Volkskundlichen Kommission für Westfalen, dem dokumentarischen Wert der Jäger’schen Fotografien. Sie befragt die Aufnahmen nach ihrer historisch-volkskundlichen Aussagekraft in Bezug auf Fest- und Freizeitgestaltung in Familie und Öffentlichkeit (Erstkommunion, Hochzeit Schützenfest, Kegeln, Freiwillige Feuerwehr). Cantauw warnt vor dem Trugschluss, die Fotografien könnten eine „pittoreske Kleinstadtidylle“ vermitteln, und weist zu Recht auf die Leerstellen der Aufnahmen hin, die eher selten die „unsichtbare sozioökonomische Schranken“ bzw. „Schattenseiten des Alltagslebens“ dokumentierten (S. 26). Stephan Sagurna, Fotograf und im LWL-Medienzentrum für Westfalen zuständig für Fragen der Medienproduktion und Technik, gibt einen prägnanten Überblick zum Erhaltungszustand der Fotografien und zur jeweiligen Produktionstechnik, insbesondere auch zur Technik der frühen Farbexperimente J.H. Jägers, mit denen er gezielt die Bildwirkung zu steigern suchte (S. 29). Eindrucksvoll führt Sagurna vor, wie das handwerkliche Geschick und die Professionalität des Fotografen Jäger mittels moderner Röntgentechnik im Wortsinn sichtbar gemacht werden kann. Eckhard Möller, Historiker und bei den Kommunen Harsewinkel und Herzebrock-Clarholz als Archivar tätig, weitet den von Volker Jakob angedeuteten sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Rahmen der Ortsgeschichte aus und analysiert die Geschichte der Titularstadt Harsewinkel im langen 19. Jahrhundert als „Niedergang und Aufbruch“. Damit liefert er einen weiteren Bezugsrahmen, innerhalb dessen die Bilder zu lesen sind. Im Hauptteil des Bandes sind 139 Schwarz-Weiß- sowie zwölf Farbfotografien aus dem Nachlass Jäger aus dem Zeitraum 1871 bis 1960 abgebildet. Die Aufnahmen sind im Vergleich zu den Originalen geringfügig bis stark vergrößert. Dies und der Abdruck jeweils einer Fotografie auf einer Buchseite, in hoher drucktechnischer Qualität reproduziert, erlauben eine genaue Analyse der Bildelemente und der dargestellten Personen, Häuser und Landschaften. Die Fotografien entfalten eine ästhetische Wirkung, die vor allem durch den gestalteten Bildaufbau, die Lichtführung und die Motivwahl- und gestaltung gesteigert wird. Die zurückhaltende Gestaltung des Bildbandes kommt der Ästhetik der historischen Fotografien entgegen. Die Fotografien sind im Band nicht chronologisch angeordnet, sondern thematisch gruppiert. Den Aufnahmen von Personen der Familiendynastie Jäger folgen „Köpfe und Querköpfe“, also Porträts – meist aus der Nahperspektive – von Personen aus allen sozialen Schichten Harsewinkels und seiner Umgebung. In einem weiteren Kapitel finden sich Sujets und Ereignisse der dörflichen Lebenswelt Harsewinkels, beispielsweise das Richtfest der Kirche 1903 oder die Arbeiten zur Emsregulierung um 1925. Ein weiteres Bildkapitel widmet sich dem Außeralltäglichen in der Kleinstadt: Hochzeit, Kommunion, Fronleichnamsprozession, Jagd, Bauernschützenfest sowie auch dem Klosterbrand in Marienfeld 1915. Die erwähnten frühen Farbaufnahmen schließen den Band ab. Von ihnen sind zehn auf „um 1910“ bzw. „um 1915“ und „1920“ datiert, zwei weitere auf „1936“. Diese Anordnung hat enorme Vorzüge, erlaubt sie doch den thematischen Vergleich der Fotografien. Zu den Nachteilen gehört, dass die zeitliche Abfolge

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ihrer Entstehung verloren geht. Auch ist nicht immer erkennbar, wer der jeweilige Bildautor der Aufnahmen ist. Das lässt sich meist über die Datierung erschließen, aber eben nicht in allen Fällen. Der Bildquellennachweis enthält für jede abgebildete Fotografie Angaben zur Größe der Originalnegative, zum Material (Glasplatte, Trockenplatte mit oder ohne Schutzlack, Albumin- oder Silbergelatinepapier etc.) oder auch zur Beschriftung der Originale. Diese Angaben erlauben Rückschlüsse auf die Technik der Fotografen. Unklar indes bleibt die Grundlage der Datierung der einzelnen Aufnahmen. Beruht sie auf den Angaben der Bildautoren oder auf einer nachträglichen Zuordnung? Das Aufnahmedatum, für eine Auswertung der Fotos als historische Quelle von zentraler Bedeutung, scheint in manchen Fällen nicht eindeutig überliefert zu sein. So finden sich in dem Band zwei Fotografien, die vor dem Gasthof Koch-Wilhalm in Harsewinkel entstanden sind. Das vermeintlich jüngere (Nr. 82, S. 130), im Bildband auf „um 1905“ datiert, muss vor dem zweiten Bild (Nr. 94, S. 142) entstanden sein, das im Bildband indes auf „um 1890“ datiert ist. Habitus und Kleidung der jeweils dargestellten Personen, der Wachstumsstand der Bäume vor dem Haus und die fehlende Straßenbefestigung auf dem vermeintlich jüngeren Bild deuten auf eine umgekehrte Datierung der Aufnahmen hin. Eine persönliche Anmerkung sei an dieser Stelle erlaubt: Das Bild Nr. 94 zeigt die Hochzeitsgesellschaft der Nachbarschaft „Die Sändker“ vom „Witten Sanne“ in der Bauerschaft Beller.7 Unter den abgebildeten Personen befindet sich der Großvater des Rezensenten. Aufgrund der Lebensdaten dieses Vorfahren lässt sich das Bild auf „um 1910“ datieren. Das exakte Datum der Hochzeit dürfte sich über das Kirchenbuch der Pfarrgemeinde St. Lucia eruieren lassen. Anders gesagt: Der Nachlass Jäger hält den Bearbeitern noch einige Aufgaben und Hürden bereit. Wünschenswert für den vorliegenden Band wäre eine Übersicht zur Generationenabfolge der Familiendynastie Jäger mit Namen und Lebensdaten gewesen. Auch ein Glossar zentraler Fachausdrücke hätte an mancher Stelle die Lektüre erleichtert. Denn wer weiß schon aus dem Stand zu sagen, was eine „Kalotypie“ oder eine „Pannotypie“ ist, wozu und wie „Satiniermaschinen“ verwendet werden oder worin genau das „Trockenplattenverfahren“ bestand? Das Buch ist als Band 6 der 1988 begonnenen Reihe „Aus westfälischen Bildsammlungen“ erschienen. Diese Einordnung unterstreicht, dass die Autoren bzw. Herausgeber den Bildband nicht als Orts- oder „Heimatgeschichte“ verstehen, sondern als einen Baustein zur Fotografiegeschichte Westfalens. Das erklärt auch den allgemein formulierten Buchtitel, der ohne den Namen „Jäger“ auskommt. Die Spannbreite und Allgemeingültigkeit des Buchtitels kann der Inhalt freilich nur in Teilen einlösen. Vom einleitenden Überblick abgesehen, präsentiert und analysiert der Bildband nun einmal, wie dargelegt, die Geschichte und das Werk einer Fotografen-Dynastie, nicht mehr und nicht weniger. Fragen wirft auch die Gestaltung des Buchumschlages auf. Die Aufnahme vom Mann auf dem Hochrad ist um 1885 unter offenbar wagemutigen Begleitumständen angefertigt worden, wie die im Buch vollständig dokumentierte Fotografie (S. 95) ahnen 7

Vgl. Walter Werland, 1000 Jahre Harsewinkel, S. 144 (dort ohne Datierung).

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lässt. Dieses Bild mit seiner „kippeligen“ Botschaft scheint mit der Sozialgeschichte der Fotografenfamilie und ihres Unternehmens zu korrespondieren, ist also von den Herausgebern treffend ausgewählt. Diese Botschaft und auch die versiert gestaltete Ästhetik der Originalaufnahme geht durch das inzwischen in die Jahre gekommene Corporate Design des LWL (Rechteck unten links, Quadrat oben links) weitgehend verloren. Und mehr noch: Das – offenbar vorgeschriebene – LWL-Logo auf dem Titel, verbunden mit dem Marketing-Claim „Für die Menschen. Für Westfalen-Lippe“, verleiht der historischen Bildaufnahme eine Wendung, die unfreiwillige Komik entfalten kann. Der historisch-landeskundliche bzw. dokumentarische Anspruch der Buchautoren jedenfalls wird empfindlich gestört, wenn nicht gar konterkariert durch die prominente Selbstpräsentation des LWL, die sich überdies im (vorgeschriebenen?) Impressum fortsetzt. Warum sich dort eine Körperschaft wie der Landschaftsverband Westfalen-Lippe auch noch als Herausgeber des Bildbandes bezeichnet, bleibt unklar und wird, wie eine Abfrage in einschlägigen Bibliothekskatalogen zeigt, von erfahrenen Bibliothekaren ohnehin ignoriert. Für das – aufgrund der Finanzierung und Durchführung des Projektes berechtigte – Marketinginteresse des LWL hätte es andere, bessere Lösungen gegeben. All die genannten Einwände aber heben die enorme Leistung des Autorenteams um Volker Jakob und Stephan Sagurna nicht auf. Sie liefern mit dem Band einen fundierten Querschnitt zum Lebenswerk mehrerer Generationen der Fotografienfamilie Jäger. Am Ende bleibt zu hoffen, dass dieser ersten Probebohrung möglichst bald eine weitere, intensive Bearbeitung des Bestandes Jäger folgen wird. Münster

Gisbert Strotdrees

Manfred Lück/Willy Meise, Walstedde. Entwicklung einer mittelalterlichen Kulturlandschaft (Quellen und Forschungen zu Drensteinfurt, Bd. 1). Aschendorff Verlag, Münster 2011. 224 S. geb., E 29,80. Die Geschichte eines Gebiets zu erzählen, das fernab bedeutender historischer Ereignisse und Orte liegt, mag als wenig reizvolle Aufgabe erscheinen, angesichts einer dünnen Quellenlage und kaum vorhandener archäologischer und historischer Vorarbeiten. Manfred Lück und Willy Meise haben sich ihrer dennoch angenommen und durch die Verbindung unterschiedlicher methodischer Zugänge die Entwicklung des ländlichen Kulturraums ihrer Heimat Walstedde von der Zeit der sächsischen Landnahme in Westfalen bis 1400 nachgezeichnet. Ihr Buch bildet gleichzeitig den ersten Band der Reihe „Quellen und Forschungen zu Drensteinfurt“. Dem Anspruch folgend, die Geschichte Walsteddes im Mittelalter in die großen historischen Prozesse wie Sachsenkriege und fränkische Mission einzuordnen, wählen die Autoren einen entsprechend breiten Rahmen, welchen sie in einem weit ausholenden, fünf Unterkapitel umfassenden Einleitungsteil darlegen. Dieser beinhaltet die geologische Entwicklung und Beschaffenheit des Untersuchungsgebietes, dessen frühe Besiedlung („Die ersten Menschen in diesem Raum“, S. 16 ff.) sowie Grundsätzliches zu Herrschafts- und Besitzstrukturen im Früh- und Hochmittelalter. Auch in die Landwirtschaft

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des Mittelalters (Hudeweide, Plaggenäcker) wird eingeführt. Methodisch setzt die Arbeit auf die Verbindung von vier Vorgehensweisen: Zunächst wird durch die Analyse des Urkatasters von 1828, die Auswertung von Flur- und Ortsnamen sowie die Hinzuziehung von vor Ort gemachten Beobachtungen der Bodenverhältnisse eine Einordnung der historisch greifbaren Hofstellen in ein Zeitraster vorgenommen. Hierbei spielt insbesondere die per Bodenprobe ermittelte Dicke der Ackerkrume eine Rolle. Diese dient als Indikator für das Alter der Bewirtschaftung, ausgehend von der Annahme, dass die frühmittelalterliche Plaggendüngung bis in die heutige Zeit anhand einer besonders dicken Mutterbodenschicht nachweisbar sei. In einem zweiten Schritt werden die durch die Heberegister und Urbare des Klosters Werden und der Stifte St. Mauritz (Münster), Freckenhorst und Vreden sowie Urkunden und Besitzverzeichnisse der in der Gegend ansässigen Adelshäuser der Grafen von Volmestein und von Recke greifbaren Besitzverhältnisse mit den zuvor gewonnenen Erkenntnissen in Beziehung gesetzt. Ziel der Arbeit ist es, die Entwicklung der ländlichen Besiedlung und Bewirtschaftung sowie der Besitzverhältnisse nachzuzeichnen und diese mit den in der Einleitung vorgestellten regionalen und überregionalen Prozessen in Verbindung zu bringen. Der Untersuchungsteil gliedert sich nach den Fluraufteilungen des Urkatasters, der Aufbau der Kapitel geschieht hierbei nach einem gleichbleibenden Muster: Einer kurzen Einleitung, in welcher die Flur im Hinblick auf besondere Charakteristika wie etwa Herkunft und Bedeutung ihres Namens vorgestellt wird, folgt eine Aufzählung der Höfe mit ihren wechselnden Namen sowie der Größe des zugehörigen Landes. Hieran schließt eine Analyse der Höfe und ihrer Grundstücke im Hinblick auf ihre Lage, die Größe der zu den Höfen gehörenden Fluren, deren Form, der Dicke der Ackerkrume sowie anderer auffälliger Merkmale (etwa Flurnamen) an. Auf dieser Grundlage wird eine erste Einschätzung bezüglich der Entstehungszeit der Höfe getroffen. Unterschieden werden Höfe mit blockförmiger Flur, Plaggendüngung und Hudeweide (Phase I, bis 600 n.Chr., „Brukterer-Zeit“), Höfe mit Langstreifenfluren in Gemengelage, ebenfalls mit Plaggendüngung (Phase II, 600 bis 800 n.Chr., Zeit der „sächsischen Landnahme“), „Einödkamphöfe“ mit Weidewirtschaft und größeren blockförmigen Fluren, oftmals von einer Gräfte umgeben (800-1200 n.Chr.) sowie von den Haupthöfen abgeteilten Erbkötter-Höfen (1200-1400 n.Chr.), mit deutlich kleineren Fluren. Die Analysen der Fluren sowie andere zentrale landschaftliche Merkmale werden für jedes Kapitel in einer eigenen Karte farbig markiert. Ebenso findet sich in jedem Kapitel der Abdruck des entsprechenden Ausschnittes aus der Flurbuchübersicht von 1828, was sowohl die ermittelten Ergebnisse als auch die Grundlagen dieser Deutungen sehr gelungen veranschaulicht. Teilweise werden diese durch weitere Detailkarten ergänzt, so dass sich auf den 224 Seiten insgesamt siebzig größtenteils farbige Abbildungen finden. Anschließend an die bodenkundlich, philologisch und kartographisch gewonnenen Erkenntnisse werden diese mit den in den schriftlichen Quellen greifbaren Informationen zu den Höfen verknüpft. Hier werden die oftmals spärlichen Nachrichten zu den Hofstellen in den Hebe- bzw. Einnahmeregistern der Klöster und Adelshäuser zusammengetragen. Greifbar werden so zumeist weniger die tatsächlichen Entstehungszeiten der Höfe, als vielmehr spät-, seltener hoch- und frühmittelalterliche Besitzverhältnisse. Entsprechend versuchen die Autoren zu rekonstruieren, wie die Höfe, welche als

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ursprünglich klösterlicher Besitz angesehen werden, bereits im Hochmittelalter zu großen Teilen in den Besitz der Grafen übergegangen sind. Die Autoren gelangen zu der Erkenntnis, dass sich die Vögte der Klöster – insbesondere die Grafen von Altena – die große Mehrheit der Höfe im Untersuchungsgebiet zunehmend angeeignet haben und diese entsprechend in den Besitz der aus diesen hervorgegangenen Adelsfamilien (von Volmestein und von Recke) übergingen. Am Ende der Kapitel finden sich Exkurse, in denen die zuvor erwähnten Klöster, Stifte oder Gutshöfe vorgestellt werden, welche Besitzrechte im Untersuchungsgebiet hatten. Anschließend an den Untersuchungsteil versuchen die Autoren zudem, Genealogien der am Orte feststellbaren Ministerialenfamilien zu ermitteln. Die großen Lücken, die durch eine besonders dünne Überlieferung bestehen, können nur durch Schätzungen von Lebensdaten und Verbindungen gefüllt werden, was nicht überzeugend gelingt. Die Darstellung der Entwicklung der Marken und der Verkehrswege leitet zu einem zweiteiligen Fazit über. Im Mittelpunkt steht dabei die ausführliche Zusammenfassung der gewonnenen Erkenntnisse zu den einzelnen Fluren. Vor dem Gesamtbild rücken die im Untersuchungsteil immer wieder vorkommenden Unsicherheiten, über welche die Autoren im Laufe der Darstellung zum Teil zu leicht hinweggehen, in den Hintergrund, zumal sich die Besiedlungsgeschichte für den Raum als recht homogen erweist. Bei der abschließenden Einordnung der lokalen Ergebnisse in die in der Einleitung dargestellten Großprozesse auf fränkischer und später deutscher Reichsebene wäre eine Fokussierung auf die Region Westfalen als nächst höherer Territorialeinheit für die Kontextualisierung möglicherweise gewinnbringender gewesen. Eine stärkere Einbeziehung der eingangs (S. 9) erwähnten regionalgeschichtlichen Forschungen zu umliegenden Ortschaften sowie eine spezifischere Fragestellung hätten dem Leser über die sich wiederholende Aneinanderreihung von Informationen zu Hofgrößen, Hoflagen und Hofbesitzern im Untersuchungsteil hinweg geholfen und die Lesbarkeit erhöht. Bedauerlich sind die an einigen Stellen fehlenden Belege, insbesondere für allgemeinere Aussagen, die sich nicht aus der Untersuchung selbst ergeben. Hierzu gehört auch das Aufführen der zahlreichen archivalischen Quellen im Literaturverzeichnis. Die grundlegende Prämisse der Arbeit, die Rückprojektion von Fluraufteilungen, wie sie im Urkataster von 1828 greifbar werden, in die Zeit des Hoch- und Frühmittelalters (S. 32), hätte stärker diskutiert bzw. belegt werden können, erscheint jedoch für einen ländlichen Raum plausibel, zumal die Flurkarten nur die Ausgangsbasis bilden, die durch die anderen methodischen Zugänge überprüft und ergänzt wird. Den Autoren ist trotz der einzelnen Kritikpunkte eine überzeugende Darstellung der mittelalterlichen Entwicklung der Siedlungs- und Besitzverhältnisse der Landschaft Walstedde gelungen. Die Verschmelzung der verschiedenen Methoden kann die begrenzte Evidenz der jeweils einzelnen Vorgehensweisen zu großen Teilen ausgleichen, so dass sich ein schlüssiges Gesamtbild ergibt, welches als Grundlage für weitere Forschungen dienen mag. Als solche kann auch die kommentierte Transkription der Parzellennamen aus den Flurbüchern von Helmut Winterscheid bewertet werden, die der Arbeit als 65 Seiten starker Anhang hinzugefügt ist. Münster

Ole Meiners

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Rico Quaschny (Hg.), Friedrich Wilhelm IV. und Bad Oeynhausen. Eine Spurensuche zum 150. Todestag des preußischen Königs (Geschichte im unteren Werretal, Bd. 6). Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2011. 144 S., geb., E 14,90. Das ehemalige Staatsbad Bad Oeynhausen, heute ein kommunaler Eigenbetrieb, gilt zu Recht als eine der gelungensten Bäderanlagen des 19. Jahrhunderts in Westfalen. Der bei der Saline Neusalzwerk entstandene Komplex verdankte seine Entstehung in erster Linie der Initiative des Oberbergrates Carl von Oeynhausen aus der Linie Grevenburg. Im Mai 1847 entschied eine Kabinettsordre Friedrich Wilhelms IV., die Saline, die bisher durch außergewöhnliche Tiefenbohrungen bekannt geworden war, in ein gemeinnütziges Staatsbad umzuwandeln. In Anerkennung der Verdienste des Oberbergrates erhielt es 1848 die Bezeichnung Bad Oeynhausen. Der vorliegende Band gilt dem zweifellos hohen Interesse, welches der König Friedrich Wilhelm IV. dem entstehenden Staatsbad entgegenbrachte. Namhafte Staatsarchitekten wie Friedrich August Stüler und Carl Ferdinand Busse wurden beteiligt, ebenso der Gartenplaner Peter Joseph Lenné. In einem einleitenden Essay zeichnet Kurt Krutemeier die komplexe Persönlichkeit des Königs nach. Die auf den bisherigen biografischen Forschungen fußende Arbeit wird dem zwiespältigen Charakter des Königs gerecht. Der Aufgeschlossenheit den Künsten gegenüber korrespondierte eine politische Engstirnigkeit. Ihn als den bedeutsamsten Herrscher zwischen Friedrich II. und Wilhelm II. hinzustellen, wie es David Barclay tat, wertet die Persönlichkeit des Königs über Gebühr auf. Seine Regierungszeit war verhängnisvoll. Die unter seinem Vater einsetzende Politik der Zurückdrängung der preußischen Reformbewegung wurde fortgesetzt. Zum gemäßigten monarchischen Liberalismus fand der König keinen Zugang. Schuld daran waren nicht zuletzt sein atavistisches Festhalten am Gottesgnadentum seiner Herrschaft und seine Obstination jeglicher geschriebenen Verfassung gegenüber. Aus religiöser Überzeugung wertete er revolutionäre Regungen als Machinationen des Satans. Auf der Habenseite wird man seine Politik des konfessionellen Ausgleichs zwischen den evangelischen und der katholischen Kirche verbuchen können, ebenso sicher auch seine Kulturpolitik, der das Rheinland und Westfalen außergewöhnliche Bauvorhaben wie den Kölner Dom, das Kloster Altenberg oder die Wiesenkirche in Soest − um nur einige zu nennen − verdankte. Im Kernbeitrag des Bandes widmet sich Rico Quaschny den Zuwendungen des Königs für Oeynhausen. Seine Beziehungen werden anhand der Besuche nachgezeichnet. Der Autor folgt der zeitgenössischen Berichterstattung der Reisen „allerhöchster“ Persönlichkeiten. Dem König war der in Oeynhausen entstehende „Tempel der Genesung“ (S. 89) ein Herzensanliegen. Die Durchsetzung der Pläne verlief allerdings nicht reibungslos und war nicht frei von bürokratischen Eigenmächtigkeiten. Dem Kolon Meyer, dessen Länder für das Bad enteignet werden sollten, drohte man im Falle der Aufrechterhaltung seiner Beschwerden eine Gefängnisstrafe an. Das Interesse des Königs an der Entstehung des Bades war zwar groß, doch ist es schwierig, ihm auch architektonische Initiativen nachzuweisen. Bisher wurde der berühmte Bau des Badehauses I der Inspiration des Königs zugeschrieben. Rico Quaschny macht nun darauf aufmerksam, dass es keine eindeutigen Belege hierzu gibt. Carl Ferdinand Busse der

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leitende Architekt des Bauwerks wies in seiner 1858 erschienenen Baubeschreibung in keiner Anmerkung auf eine Mitwirkung des Königs hin. Auch wenn es üblich gewesen sein sollte, eine Mitwirkung nicht eigens zu vermerken, muss dies im Falle des Badehauses eine offene Hypothese bleiben. Der König besaß, wie sein umfangreicher Nachlass belegt, eine zeichnerische Begabung, die er mit vielen seines Standes teilte, die regelmäßigen Zeichenunterricht erhielten. Ihn aber, wie oft geschehen, als einen Hochbegabten hinzustellen, gleicht eher einem postumen monarchischen Kotau. Den Band beschließt eine Abhandlung von Jutta von Simson über Christian Daniel Rauch und seine Beziehungen zu Friedrich Wilhelm IV., die auf dem 1995 erschienenen Ausstellungskatalog über den künstlerischen König beruht. Das Hauptanliegen des Bandes ist es dann auch, die vor dem Ersten Weltkrieg schon weit fortgeschrittene Initiative, Friedrich Wilhelm IV. in Bad Oeynhausen ein Denkmal zu errichten, wiederzubeleben. Gedacht ist dabei an eine Kopie der Büste Christian Daniel Rauchs aus dem Jahre 1845. Mit dieser Anregung und dem hervorragend und sachgerecht bebilderten Band ist Rico Quaschny, dem scheidenden Stadtarchivar in Bad Oeynhausen, vor seinem Wechsel nach Iserlohn ein schönes Abschiedsgeschenk gelungen. Münster

Horst Conrad

Daniel Stracke, Monastische Reform und spätmittelalterliche Stadt. Die Bewegung der Franziskaner-Observanten in Nordwestdeutschland (Westfalen in der Vormoderne. Studien zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Landesgeschichte, Bd. 14). Aschendorff Verlag, Münster 2013. 312 S., geb., E 44,-. Wenn der angesehenste Bischof des römischen Teils der katholischen Christenheit, Papst Franziskus, den Namen des Gründers eines sich selbst als evangelisch bezeichnenden Ordens wählt, so ist das ein Zeichen und ein Beleg für die – gerade durch die Aufnahme immer neuer „Traditionen“ als Heilsmittel dokumentierte und untermauerte – Reformfähigkeit dieses Teiles der Kirche, die nach der unter traumatischen Bedingungen (um das Jahr 1517 und danach) bewiesenen Reformresistenz heute wieder denkund artikulierbar geworden zu sein scheint: Traditionen, die angenommen werden konnten, können auch jederzeit modifiziert werden. So bleibt auch für die „Römer“ eine vorbehaltlose Rückkehr zu dem auch für sie allezeit neben und vor den „Traditionen“ verbindlichen Evangelium möglich. Bestrebungen dieser Art hat es immer wieder gegeben. Die großen Konzilien der Antike haben versucht, die Bestrebungen zu kanalisieren. Sie haben sowohl zur Einheit der Römischen Kirche als auch zur Akzentuierung bzw. Verschärfung von Unterschieden bis hin zur Abspaltung der (mehreren) Ostkirchen, wohl auch zur Etablierung des nur aus jüdisch-christlichen Wurzeln denkbaren Islam beigetragen. Für das hohe Mittelalter sei an Franciscus von Assisi erinnert, der – anders als viele Katharer- und andere „Bewegungen“ – mit seinem Weg der evangeliumsgemäßen imitatio Christi – mühsam mit der (West-)Kirche im Einvernehmen bleiben konnte und dann bald als vorbildhaft angesehen wurde. Sein Gedankengut verbreitete sich mit dem durchweg in Städten sich

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niederlassenden Franziskanerorden, in dem sich nach der Zunahme von Abweichungen von der auf Franciscus zurückgehenden Ordensregel eine Gruppe von „observanten“ (gehorsamen) Mönchen bildete, die an der Regel festhalten wollte und entsprechende Reformen anstrebte. Zu den Observanz-Bestrebungen bei den Franziskanern und – darüber hinaus – bei vielen anderen Orden, die vielfach in die Nähe der von Martin Luther im Jahre 1517 angestoßenen und – regional – erfolgreich durchgeführten Reformation führten, gibt es eine inzwischen reiche wissenschaftliche Literatur, aus der der von Kaspar Elm 1989 herausgegebene Sammelband „Reformbemühungen und Observanzbestrebungen im spätmittelalterlichen Ordenswesen“ hervorsticht (Rezension in: Westfälische Forschungen 40/1990, S. 856-862) und einen guten Eindruck vermittelt. Für Westfalen sei auf die bei Stracke (S. 279) angezeigten und mehrfach zitierten Arbeiten von Ralf Nickel verwiesen. Elm, geboren 1930, benutzt das Wort „Bestrebungen“. Mancher Leser wird über das von Stracke, gestützt auf die soziologische Bewegungsforschung (Grundmann 1935), verwendete, aber dem nicht vollständig Informierten für die Entwicklung innerhalb eines einzelnen Ordens nicht geeignet erscheinende Wort „Bewegung“ stolpern, das als „Metapher für soziales Verhalten kein Quellenterminus“ ist (S. 20). Der Autor gebraucht es im Dienste der weitgehend seinen Forschungsgegenstand ausmachenden Unterscheidung zwischen der ,Organisation‘ des Gesamtordens und der ,Bewegung‘ der Observanten. Der erwähnten Literatur entsteht durch die Arbeit von Stracke ein zwar auf Nordwestdeutschland fokussierter, aber für das ganze überwiegend deutschsprachige – man sagt inzwischen „diotiske“, um das Niederländische einzuschließen – Gebiet in seinen Erkenntnissen verbindlicher Zuwachs. Die Arbeit lebt von einer großen Fülle von sorgfältig aus den weitgehend fragmentarischen Quellen (S. 28-34) zusammengetragenen, präzis beschriebenen und bewerteten Einzelbeobachtungen und Mikroanalysen. Die – für Westfalen – von Koblenz ausgehenden (S. 45 f.) Observanzbestrebungen innerhalb des Franziskanerordens führten nach einer primären Sezession einzelner Ordensleute zur Abspaltung der sich selbst mit hohem (Ausschließlichkeits-)Anspruch als die „[der Regel] Gehorsamen“, d. h. als „die Observanten“ Bezeichnenden, die nach und nach diese Bezeichnung als Namen annahmen, und zur Gründung des von Rom anerkannten und bis heute fruchtbar arbeitenden Ordens der (Franziskaner-)Observanten, die mit den Konventualen lange Zeit in erheblicher Konkurrenz bis hin zur Feindschaft lebten. Die als Konventualen unter der im Laufe der Zeit gemilderten Regel Verbleibenden wie auch die Reform- und Observanzwilligen in anderen Orden (dazu – noch einmal – der Sammelband von Kaspar Elm!) konnten danach diese Bezeichnung nicht mehr unbesehen gebrauchen. Durch die Okkupation des Begriffes wurden alle anderen Mönche, die – selbstverständlich – den Regeln ihres Ordens ebenso treu gehorchten, in ihrem Sinne also observant waren, quasi verunglimpft. Stracke arbeitet diesen Sachverhalt in dem Abschnitt „Der Observanzbegriff – Deutungsmuster und Deutungsmacht“ (S. 135-148, S. 256) in aller Deutlichkeit heraus. Es ist überhaupt die große eigenständige Leistung des Autors, über die einem Historiker anstehende „handwerkliche“ Arbeit mit den Quellen hinaus das Wesen des Franziskanerordens, der ihm verbundenen Klarissen, Kapuzinern und Tertiariergruppen und ande-

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rer Orden in seiner Begrifflichkeit, in der regelgebundenen Lebensweise, „Vernetzungen“ (S. 257 und häufig) und Wirksamkeit gedanklich zu durchdringen und zu durchleuchten. Die „Geschichte“ und Organisation der franziskanischen Observanzbestrebungen, an mehreren „Fallbeispielen“ (Hamm, Lemgo, Dorsten) illustriert (S. 35-62, S. 156-189 und passim, dazu aufschlussreiche Karten und Diagramme S. 287-304), tritt zwar nicht in den Hintergrund, dient aber auch und (für den handwerkelnden Historiker vor allem) als Folie, vor bzw. auf der „Die franziskanische Observanz als Bewegung“ (S. 20-28), „Formen und Begriffe“ (S. 35-37) dargestellt werden. Die Einbettung in die – wie der Titel der Arbeit verlangt – „spätmittelalterliche Stadt“ thematisiert eine (scheinbare?) Selbstverständlichkeit, die bei dem Namen „Franziskaner“ immer mitgedacht wird, ist hier aber – besonders für kleine Städte – ein besonderer Erkenntnisgegenstand. Diese Verwurzelung wird in der einleitenden Entstehungsgeschichte der Observanz, mit Fallbeispielen und im Kapitel „Observanzbewegung und Urbanität“ (S. 209-250) breit behandelt, aber auch mit der Frage „Eine anti-urbane Bewegung?“ (S. 211-221) auf ihre Gültigkeit geprüft. Eine an viele Stellen durch Querdenken und abschließende vorsichtige Abwägung und Kritik (S. 258 f.) ausgezeichnete, auf Schritt und Tritt anregende Arbeit, die auch dem wenig vorinformierten Leser das – nicht nur franziskanische – observantische Ordensleben und -wirken auf hoher Ebene nahebringt. Münster

Leopold Schütte

Marcus Termeer, Münster als Marke. Die „lebenswerteste Stadt der Welt“, die Ökonomie und ihre Vorgeschichte. Westfälisches Dampfboot, Münster 2010. 394 S., brosch., E 29,90. Die Geschichtswissenschaft hat in den letzten Jahren ihre Aufmerksamkeit Image- und Identitätsstiftungsprozessen („Stadtbilder“) gewidmet, was zu erkenntnisreichen Studien unter anderem zum Stadtmarketing geführt hat. Vielversprechend erscheint demnach der hier zu besprechende Titel „Münster als Marke“. Marcus Termeer, ausgerüstet mit einem Blickwinkel der Fächer Soziologie, Neuere Geschichte und Politologie, wirft einen kritischen Blick auf die Imagebildung der Stadt Münster bzw. – wie sich im Laufe der Lektüre herausstellt – auf die soziale und ökonomische Folie dahinter. Seine Untersuchung geht vom Phänomen des Wettbewerbs der Städtekonkurrenz aus, der insbesondere das 20. Jahrhundert geprägt hat. Seine Interpretationsfolie für die Positionierung als „Marke“ durch städtische Imagebildung ist die „kapitalistische Ökonomie“. Die Stadt Münster wird bei ihm als „postfordistischer Raum“ betrachtet, also als Raum, der insbesondere über Konsum und Freizeitangebote definiert wird (Dienstleistungen treten nicht in den Blick). Er geht dabei vom soziologischen Modell aus, dass Raum einerseits als soziales Produkt entsteht, andererseits aber auch selbst wieder auf soziale Strukturen zurückwirkt. Der Band besteht aus zwei Teilen, die auf den ersten Blick recht unverbunden nebeneinandergestellt werden: dem Blick auf die heutigen Verhältnisse, in dem die Propagie-

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rung der „lebenswertesten Stadt“ auf Widersprüche hinterfragt wird („Die starke Innenstadt und die Inwertsetzung von Lebensqualität“), und die historische „Kontextualisierung“ des wiederaufgebauten Prinzipalmarkts als einem zentralen symbolischen Imageträger der Stadt, der sowohl für die Stadtbewohner einen hohen Identifikationswert hat als auch viele auswärtige Besucher anzieht („Die Identitätsikone Prinzipalmarkt und die Inszenierung einer bruchlos bürgerlichen Dauerhaftigkeit“). Termeer geht im ersten Teil insbesondere auf die sozial-hierarchische, exklusive Raumaneignung der letzten Jahre ein. Der zweite Teil zum Prinzipalmarkt hinterfragt die präsentierten Bilder der Wiederaufbauzeit auf ihre historischen „Auslassungsstellen“. Die dem Band zugrundeliegende These ist, dass – nicht zuletzt durch die Bildproduktionen − Innenstädte zu Orten umgewandelt werden, die vorrangig Konsumenten und Touristen vorbehalten werden. Der hier gebotene Konsum und die Freizeitkomponente werden als charakteristisch für eine wohlsituierte Mittelschicht beschrieben, die im Zentrum des Werbens stehe. Formen einer sozialen Heterogenität im Leben der Innenstadt erscheinen als nicht gewünscht. Bürger würden zu Kunden transformiert, andere Bevölkerungsgruppen aus diesem Raum verdrängt. Der Entwurf einer für diese Zielgruppen attraktiven (Raum)Kulisse aus der Geschichte besteht für Termeer einerseits aus der Auslassung und Verdrängung schwieriger geschichtlicher Phasen (Nationalsozialismus) und andererseits aus neu erfundenen Traditionen (nach Hobsbawm), die eine „bruchlos[e] bürgerliche[n] Dauerhaftigkeit“ signalisieren sollen. Der Verfasser arbeitet sich dabei an verschiedenen Großprojekten der letzten Jahre (Münster Arkaden, Klostergärten, Stubengasse und Hanse Carré, Germania Campus, Hafen/„Kreativkai“) und dem Wiederaufbau des Prinzipalmarkts ab. Termeers Bestreben ist es, eine „am Profit ausgerichtete Stadtentwicklung“ Münsters zu demaskieren, die von einer „Wachstumskoalition“ von Immobilienwirtschaft, Stadtverwaltung, Stadtmarketing und Tourismus betrieben werde (S. 11). Termeer streicht die ökonomisch orientierten Interessen bürgerlicher Interessengruppen heraus, die von der Stadtverwaltung gezielt unterstützt würden. Dabei führe die Konzentration auf Touristen, gutsituierte Kunden und Investoren zu einer Marginalisierung sozialer Schwacher (z. B. Verdrängung der bezahlbaren Wohnlage aus der Innenstadt in Quartiere wie Kinderhaus, Berg Fidel und Gelmer, Ausschluss aus dem öffentlichen Raum über das Mittel der Hausordnung am Beispiel der Münster Arkaden oder durch das Errichten „symbolischer Schwellen“ bei der Inszenierung von Hochkulturevents, S. 112). Parallel dazu beobachtet er eine Aufwertung bzw. Gentrifizierung bestimmter Quartiere (vor allem Stadthafen, Gelände der ehemaligen Germania-Brauerei). Er zeichnet nach, für wen eine solche Stadt „lebenswert“ sein kann und vor allem, für wen nicht. Voraussetzungen für solche Prozesse liegen für Termeer im veränderten Verständnis und Funktionieren der städtischen Verwaltung, von der die Stadt nun als „Unternehmen“ verstanden werde. Mit der Hinwendung zum „Neuen kommunalen Finanzmanagement“ werde ein erhöhter Effizienz- und Spardruck aufgebaut, der auf eine „Ökonomisierung der Beziehungen“ in der Stadt hinaus laufe. Dies stelle insbesondere Sozialleistungen immer mehr in Frage (S. 149) und stärke über Kooperationen den Einfluss privatwirtschaftlicher Akteure. Statt einer längerfristigen und umfassenden Stadtplanung greife

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damit die Tendenz zu einer Konzentration auf spezifische Räume und damit verbunden die Befriedigung der „Bedürfnisse prosperierender Schichten“ (S. 70). Als Verantwortungsverschiebung bzw. -auflösung interpretiert er die Verwaltungsmodernisierung mit der Hinwendung zum „Berater-Kapitalismus“, der die Stadt zu einem Projekt bzw. zu einer Ware mache, das Wissen der Stadtverwaltung abgreife und dieser wieder zurückverkaufe, ohne Verantwortung für Veränderungen und Umsetzungen übernehmen zu müssen. Dabei gebe die Politik letztlich ihre Rolle als demokratisch legitimierte Entscheiderin auf und trete hinter die Vordergrundakteure der Berater zurück. Der durch den „Berater-Kapitalismus“ ausgelöste Vergleich der Städte bzw. die Städtekonkurrenz (z. B. in Wettbewerben und Rankings) führe, so Termeer, zu einem Sparwettbewerb, der nicht mehr die Qualität der von der Allgemeinheit geleisteten Auf- und Ausgaben berücksichtige, sondern auf einen möglichst niedrigen Standard ziele. Stadtmarketing werde in diesem Umfeld ein Akteur für Reputationsmanagement und somit Konstrukteur einer „attraktiven“ Stadt, die zu einer „Marke“ umgeformt werde. Inhaltlich würden dazu vor allem Kultur- und Freizeit-Events sowie das Themenfeld der „Nachhaltigkeit“ dienen. Ein Auseinandertreten zwischen propagierten Images („Marke“) und realer Stadtentwicklung belegt er mit der Gegenüberstellung von Münster als propagierter Fahrrad- und realer Autostadt. Einen besonderen Stellenwert in der Konstruktion einer attraktiven Stadt – unter anderem aus dem Trend der touristischen Vermarktung – sei die Gestaltung von Altstädten als Gegenbild zur modernen Stadt. Damit leitet der Verfasser über auf den zweiten Teil, in dem er den Prinzipalmarkt als „komplette Neuerfindung von Geschichte als Reaktion auf die Geschichte“ (S. 203) nachweist. Häufig werde der Wiederaufbau als gelungenes Beispiel eines „bewahrenden“ und „humanen“ Städtebaus angesehen (S. 208). Termeer stuft den Prinzipalmarkt demgegenüber als Repräsentationsort der Kaufmannschaft und als bürgerliche (Neu-)Konstruktion „urwestfälischer Gemütlichkeit“ (S. 209, 342 ff.) ein. Zur Hinterfragung wendet Termeer den Blick weg von der Gegenwart und hin zu den Zeitabschnitten des Nationalsozialismus und des Wiederaufbaus bis zum Beginn der 1960er Jahre. Mit dem aus „einem Guss“ harmonisierend wiederaufgebauten Ensemble werde eine „heile“ Geschichte suggeriert und in den Dienst der ökonomischen Interessen der bürgerlichkonservativen Elite der Stadt gestellt. Der Teil zum Prinzipalmarkt gerät allerdings häufig zu Exkursen, die wenig mit dem Thema der Imagebildung zu tun haben, sondern bisweilen in Details das Leid von Opfergruppen des Nationalsozialismus nachzeichnen (Arisierung jüdischer Geschäfte, Trümmerräumung durch Zwangsarbeiter und Displaced persons), um in jedem Unterkapitel zusammenfassend gebetsmühlenartig die Feststellung zu treffen, dass mit dem Wiederaufbau des Prinzipalmarkts eine „Deckerinnerung“ realisiert werde und die jüngste Vergangenheit des Nationalsozialismus „derealisiert“ werde. Die Erkenntnisse über die stadtgeschichtlichen Vorgänge in den Jahren des NS-Regimes sind allerdings durchweg anderen historischen Studien entnommen und hier als Kompilation zusammengestellt, so dass aus der erschöpfenden Detailfülle nicht wirklich neue Erkenntnisse hervorgehen. Die Kontextualisierung der „Vorgeschichte“ des Symbolortes Prinzipalmarkt erhält demgegenüber jedoch einen ziemlich großen Anteil an der Studie (S. 204-367) und wirkt letztlich häufig ermüdend und

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wenig erkenntnisbildend für die soziologisch-historisch interessante Fragestellung nach Mechanismen und Strukturen der Imagezuschreibungen. In der Dekonstruktion der These von der katholisch-widerständigen Stadt verweist Termeer auf die Brückenfunktion zum Faschismus, die die Heimatschutzbewegung im katholisch-konservativen Milieu eingenommen hat. Die ideologische Geschlossenheit des katholischen Milieus führte nicht zu einer grundsätzlichen politischen Auseinandersetzung mit dem Faschismus. Das katholische Milieu wird vereinfachend an der Figur Clemens August von Galens abgearbeitet. Daneben zeichnet Termeer an verschiedenen Beispielen die Kontinuität von Personen und Planungen aus der Zeit vor 1945 nach (unter anderem Stadtplanungsentwürfe der entballten und aufgelockerten Stadt, Architekten, Baufachleute, Funktionsträger, Wissenschaftler, Künstler), die trotz ihrer Wirksamkeit während der Zeit des Nationalsozialismus auch in den 1950er Jahren weiterhin über Einfluss verfügten. Der rasche Wiederaufbau (in Deutschland insgesamt und in Münster im Besonderen) und die Reklamation der Deutschen als „Opfer“ des Krieges seien Mechanismen der Verdrängung und des „Ungeschehenmachens“ (S. 251). Beim Wiederaufbau des Prinzipalmarktes sei die „forcierte Einheitlichkeit“ ein Mittel gewesen, eine „Dauerhaftigkeit“ unter Ausschluss der jüngsten Geschichte zu signalisieren. Der häufig als „Geschenk an die Stadt“ bezeichnete Wiederaufbau unter dezidierter Einflussnahme der Kaufmannschaft wird von Termeer als „Geschenk der Kaufmannschaft an sich selbst“ (S. 280 ff.) vorgeführt. Das Gefühl des „Heimisch-Seins“ in einer „romantisierten ,alten Stadt‘ “ (durch den neugeplanten Wiederaufbau und die Neuerfindung von „urwestfälischen“, „urgemütlichen“ Traditionskneipen) zu erzeugen, diene – so Termeer am Münsteraner Beispiel – nur dazu, dass die Kaufmannschaft im „historischen Gewande“ erneut einen „städtischen Führungsanspruch“ anmelde (S. 303). Mit den Abschnitten zum Wiederaufbau als „Verdrängung der Opfer“ soll eine bürgerliche Ehrenwertheit in Frage gestellt werden. Ein kursorischer Blick auf die Promenade und die mit ihr verbundenen Erinnerungsorte (Trümmerlok, Zwinger und Inszenierungen wie die „Entente Florale“) unterstreicht Termeers These von der hierarchisierten Verfügungsgewalt über den städtischen Raum (S. 373). Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Band liefert eine frische, wichtige und kritische Sicht auf Münster sowie seine Imagebildung; dem historischen Teil liegt eine profunde Rezeption verschiedener Studien zur Geschichte der Stadt zugrunde. Der Leseeindruck bleibt aber ambivalent: Einerseits zeichnet die Studie aus soziologischer Perspektive interessante Veränderungen städtischer Selbstdarstellung und städtisch-bürgerlichen Selbstverständnisses sowie des städtischen Agierens in Zeiten der „Städtekonkurrenz“ oder von Prozessen der Raumproduktion nach. Andererseits wirkt die Darstellung bisweilen wie eine Abrechnung mit den bürgerlichen Kräften bzw. konkret der örtlichen Kaufmannschaft und einer sich dieser andienenden Stadtverwaltung, denen es lediglich um eine Profitmaximierung auf Kosten armer und marginalisierter Mitbürger gehe. Die Untersuchung erweist sich weniger als eine (eigentlich erwartete) Analyse des Marketings, der eingesetzten Mittel sowie der hier erzeugten Bilder und Zuschreibungen vor dem Hintergrund soziologisch-historischer Raster, sondern mehr als ein Anprangern von kapitalistischen Polarisierungen. Auch der Ausblick, der die (auch den Leser interessierende) Frage aufwirft, wie diese Entwicklungen, Prozesse und Struktu-

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ren unterlaufen bzw. verändert werden und welche Alternativen dazu gegeben sein könnten, bleibt leider kurz und ohne wirkliche Aussagekraft. Wie symptomatisch oder repräsentativ diese Art von Stadtimageproduktionen und ihren Auswirkungen insgesamt für die Gegenwart sind und welche Strukturen dabei übergreifend wirksam werden, hätte ein Vergleich mit anderen Städten zeigen können – auch wenn der Autor sich gerade dezidiert für eine Einzelfallstudie entschieden hat. So wäre es aussagekräftig gewesen, Bilder und Mechanismen Münsters mit anderen Städten z. B. aus dem Sample des Marketingverbundes „Historic Highlights of Germany“ von 14 Städten (z. B. Freiburg oder Heidelberg) zu vergleichen. Nichtsdestoweniger liegt hier ein Buch mit einer spannenden Fragestellung und dem Ansatz zu einem anderen Blick auf die Stadt Münster vor, das einen dezidierten Kontrapunkt zum unkritischen Heimatstolz setzt. Münster

Katrin Minner

Wissenschaft Gerd Dethlefs/Peter Ilisch/Stefan Wittenbrink (Hg.), Westfalia Numismatica 2013. Festschrift zum 100-jährigen Bestehen des Vereins der Münzfreunde für Westfalen und Nachbargebiete e. V. Numismatischer Verlag der Münzhandlung Fritz Rudolf Künker, Osnabrück 2013. 400 S., geb., E 30,-. Der „Verein der Münzfreunde für Westfalen und Nachbargebiete“ hat sich zu seinem 100. Geburtstag selbst beschenkt. Im Unterschied zu den früheren Festschriften von 1938 bis 1988 sind diesmal nicht nur numismatische Beiträge enthalten, sondern auch die Vereinsgeschichte selbst, die Gerd Dethlefs ausführlich rekonstruiert hat (S. 9-68). Er geht nicht vom Gründungsjahr 1913 aus, sondern bezieht das 18. und 19. Jahrhundert ein. Der in Hamm am 31. März 1913 gegründete Verein wurde von Landesrat Joseph Kayser initiiert. Neben ihm gehörten vor allem Unternehmer, Lehrer und Beamte, aber auch der erste hauptamtliche Museumsdirektor Westfalens, Albert Baum aus Dortmund, zum Kreis der Gründungsmitglieder. Dethlefs’ Darstellung konzentriert sich auf Projekte des Vereins bzw. der Mitglieder und spart dabei Unangenehmes nicht aus. Er erwähnt „die krankhafte Sammelleidenschaft“ eines Mitglieds, der Fälschungen verkauft hatte, und behandelt den Umgang mit jüdischen Vereinsmitgliedern, die 1937 ausgeschlossen wurden. Zu dieser Zeit hatten Museumsvertreter größeren Anteil am Vereinsgeschehen. Die Zeit nach der Neugründung 1947 wurde geprägt vom Vorsitzenden Kennepohl und vom Geschäftsführer Peter Berghaus, die bald Westfalen in der deutschen Numismatik einen führenden Platz verschafften. Berghaus übernahm den Vorsitz 1958 und leitete eine nach ihm benannte Ära ein. Das Auf und Ab der jüngsten Zeit fehlt nicht, ebenso wie eine Antwort auf die Frage, warum der Verein nach hundert Jahren noch

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gebraucht wird. Dethlefs, der ihm als Geschäftsführer dient, betont die kulturschaffende Funktion des Sammelns von Münzen, die einen authentischen Zugang zu Kunst und Geschichte vermitteln. Erinnerungen an Berghaus (Gert Hatz) und andere prominente Mitglieder des Vereins leiten den Aufsatzteil ein, der Spezialarbeiten zur Numismatik quer durch die Jahrhunderte vereinigt. Für Leser, die keine Numismatiker sind, scheinen immer wieder Verbindungen zur Wirtschafts- und zur allgemeinen Geschichte auf. Einige Beispiele müssen genügen: Bernd Kluges Beitrag belegt die frühe Bedeutung von Dortmund und Duisburg als Münz- und Handelsplätzen des 11. Jahrhundert. Die Nachahmungen irischer Sterlingtypen des 13./14. Jahrhunderts (Sebastian Steinbach) belegen den Austausch Westfalens mit den britischen Inseln. Peter Ilisch untersucht westfälische „Teken“ (das sind Marken aus Blei und Kupfer als Geldersatz, vor allem des 16./17. Jahrhunderts). Klaus Giesen berichtet über Münzedikte des Osnabrücker Bischofs und ihre Bedeutung für den Handel in Wiedenbrück. Mehrere Beiträge gelten Kupferprägungen. Jens Heckl wertet einen Fund im ehemaligen Franziskanerkloster Hamm aus, um den Geldumlauf in der Grafschaft Mark im späten 18. Jahrhundert zu untersuchen. Arnold Schwedes Beitrag zu den Sedisvakanzmünzen des Fürstbistums Münster von 1801 verbindet Nusmismatik mit großer Geschichte, nämlich der Säkularisation und dem Ende der geistlichen Staaten. Eindrucksvoll wird somit in der Festschrift die Leistungsfähigkeit der Numismatik für die Landesgeschichte unterstrichen. Dem Verein ist zu dieser gelungenen Festschrift zu gratulieren. Senden

Wilfried Reininghaus

Werner Herold (Hg.), Reinher von Paderborn − Computus Emendatus: Die verbesserte Osterfestberechnung von 1171 (Studien und Quellen zur Westfälischen Geschichte, Bd. 67). Bonifatius, Paderborn 2011. 230 S., geb., E 34,80. Unter ,Computus‘ verstand die mittelalterliche Astronomie und Mathematik die Fähigkeit der exakten Kalenderberechnung. Es galt, die astronomischen Grundlagen der Chronologie, die Tag- und Nachtgleichen, die Mondphasen und Sonnenumläufe so zu berechnen, dass die christlichen hohen Feiertage, insbesondere das Osterfest, sicher vorherbestimmt werden konnten. Die in der frühen Kirche bestehenden Uneinigkeiten, wann das Osterfest zu feiern war, beendete der Päpstliche Archivar Dionysius Exiguus im 5. Jahrhundert. Seit ihm begann die Zeitrechnung mit Christi Geburt. Unter vorgeblicher Berufung auf das Konzil von Nicäa legte er das Osterfest auf den ersten Sonntag nach dem Frühlingsvollmond. Seine Berechnungen wollten den Ostertermin für die nächsten Jahrhunderte festlegen. Sie erwiesen sich jedoch als fehlerhaft, so dass sie von bedeutenden Gelehrten wie Beda Venerabilis, Helperic, Johannes de Sacro Bosco, Roger Bacon und Robert Grosseteste korrigiert wurden. Im 12. Jahrhundert wurde es offensichtlich, dass der Neumond mehrere Tage früher am Himmel erschien als die kirchliche Berechnung auswies. Theologisch war es für den Gang der Heilsgeschichte

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von eminenter Wichtigkeit, die kirchlichen Hochfeste genau festlegen zu können. Wenn die Kirche hier irrte, warum dann nicht auch in anderen Dingen? Die Computistik gehörte daher zur Grundlagenausbildung für die Kleriker. Unter den Computisten des Mittelalters nahm der Paderborner Domscholaster und Magister Reinherus eine überragende Stellung ein. Als Motivation seiner Beschäftigung gab auch er an, zur Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche beitragen zu wollen (Qui fidem catholicam impugnant gaudent, quod errorem inveniunt in compoto quem tenet ecclesia. Putant enim et affirmant etiam in aliis nos errare). Reinhers Werk wurde erst 1951 durch den Direktor des niederländischen Kollegs in Paris Walter Emile van Wijk bekannt. Van Wijk edierte Reinher erstmals und fügte eine französische Übersetzung hinzu. 1962 machte Klemens Honselmann Person und Werk Reinhers in der Landesgeschichte bekannt. Es ist ein großes Verdienst, dass nun Werner Herold, Wirtschaftsinformatiker an der Universität Paderborn, eine abermalige Edition und eine deutsche Übersetzung vorlegt, die dazu dienen wird, den nahezu vergessenen Gelehrten einem größeren Publikum bekannt zu machen. Reinher galt schon den Zeitgenossen als äußerst scharfsinniger Mathematiker (perspicatissimus calculator). Das Außergewöhnliche am Werk Reinhers war, dass es erstmals in Deutschland durchgehend mit arabischen Zahlen operierte. Fast entschuldigend bemerkte Reinher, dass sich damit einfach effektiver rechnen lasse (propter scribendi et computandi compendium). Reinher rechnete ebenfalls bereits mit der Null, die viele seiner Zeitgenossen noch nicht verstanden und als widersinnig abtaten. Er berief sich auch bei seiner verbesserten Ansetzung der Mondphasen erstmals im christlichen Abendland auf den jüdischen Mondkalender, der sich als korrekter erwies. Der ,Computus Emandatus‘ ist in seiner Exaktheit als ein Vorläufer der Gregorianischen Kalenderreform anzusehen. Der Versuch, ihm auf dem Baseler Konzil 1431 eine offizielle Anerkennung zu verschaffen, scheiterte an den politischen Verhältnissen. Arno Borst, dem die Grundlagenforschung über die Computistik viel zu verdanken hat, sah in Reinhers Werk eine Glanzleistung mittelalterlicher Wissenschaft Über die Person Reinhers ist nahezu nichts bekannt. Er erscheint lediglich in den Zeugenreihen von 15 Urkunden zwischen 1154 und 1179. Die Kenntnis der arabischen Zahlen und des jüdischen Mondkalenders legten die Vermutung nahe, dass Reinher sein Wissen Kontakten zum arabischen Spanien verdankte. Die Form der arabischen Zahlenziffern, die er verwandt, war dort verbreitet. Werner Herold orientiert sich an fünf Handschriften des ,Computus‘, an drei bekannten und zwei von ihm wieder entdeckten. Grundlage bildet das in der Universitätsbibliothek Leiden verwahrte Manuskript. Es stammt aus dem Kloster Hardehausen, dem frühesten Zisterzienserkloster in Westfalen, wo es noch im 18. Jahrhundert nachgewiesen war. Die Edition ist somit auch ein Zeugnis für das Hardehauser Scriptorium, von dem bisher wenig bekannt ist. Es kann angenommen werden, dass Reinhers Manuskript an der Paderborner Domschule für die Klerikerausbildung Verwendung fand. Der Umstand, dass er selbst von Hörern spricht, unterstreicht diese Vermutung. Das Manuskript ist somit auch ein Beleg für den hohen Stand der Gelehrsamkeit an der Paderborner Domschule.

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Herolds mustergültige Edition bietet eine ausführliche Einführung in die Problematik der Computistik, ein Glossar und zahlreiche Abbildungen. Die Urkunden, in denen Reinher genannt wird, werden im Volltext wiedergegeben. Das wird man zwar nicht als unbedingt notwendig erkennen, zumal die Hardehauser Urkunden nicht nach den bisher ältesten Texten, denen des um 1200 angefertigten Kopiars des Klosters, berücksichtigt sind; es schmälert aber nicht die Verdienste des Werkes. Für die mittelalterliche Landesgeschichte Westfalens ist die Edition eine große Bereicherung. Münster

Horst Conrad

Hans-Ulrich Thamer/Daniel Droste/Sabine Happ (Hg.), Die Universität Münster im Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Brüche zwischen 1920 und 1960, 2 Bde. (Veröffentlichungen des Universitätsarchivs Münster, Bd. 5). Aschendorff Verlag, Münster 2012. 1186 S., geb., E 79,-. Daniel Droste, Zwischen Fortschritt und Verstrickung. Die biologischen Institute der Universität Münster 1922 bis 1962 (Veröffentlichungen des Universitätsarchivs Münster, Bd. 6). Aschendorff Verlag, Münster 2012. 532 S., geb., E 69,-. Die Affinität der deutschen Universitäten zum Nationalsozialismus wurde nach dem Krieg für Jahrzehnte mit kollektivem Schweigen quittiert. Zu viele der damals verantwortlichen und im Amt verbliebenen Personen hatten sich zuvor mit dem NS-System arrangiert und waren damit selbst belastet. Dem folgte die vehemente moralische Anklage der 68er-Generation, die erstmals eine öffentliche Diskussion um die politische Verstrickung der Hochschulen im Dritten Reich auslöste, aber oftmals noch von pauschalem Denken und wenig Detailkenntnis geprägt war. Ende der 1970er Jahre begann schließlich eine sachlich fundierte Aufarbeitung der Problematik unter Verwendung von erstmals freigegebenen historischen Quellen. Seitdem herrscht kein Mangel mehr an Arbeiten zu dieser Thematik. Zahlreiche Dissertationsprojekte, aber auch Monographien und Sammelbände haben inzwischen das prekäre Verhältnis der Hochschulen und ihrer Disziplinen zur NS-Gewaltherrschaft behandelt, und ein Ende dieser Vergangenheitsbewältigung ist noch nicht in Sicht. In gewisser Hinsicht spiegelt das vorliegende, fast 1.200 Seiten starke Werk über die Universität Münster im Nationalsozialismus, das von dem Historiker Hans-Ulrich Thamer, der Leiterin des Universitätsarchivs Sabine Happ und dem Projektkoordinator Daniel Droste herausgegeben wurde, diese wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung wider. Eine – wenn auch beschönigende – Untersuchung zur NS-Vergangenheit der Westfälischen Wilhelms-Universität hatte es bereits 1980 gegeben, aber eine differenzierte, substantielle und kritische Behandlung der Problematik stand noch aus. Wie überaus stark das Thema Nationalsozialismus in den Medien präsent ist, zeigte eine Enthüllungsgeschichte über den verstorbenen münsterschen Hygieniker Karl Wilhelm Jötten, der bis dahin als renommierter Mediziner und Institutsgründer galt, aber 2007 wegen seiner rassenhygienischen Untersuchungen im Dritten Reich von der Presse an

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den Pranger gestellt wurde. Danach war das Image Münsters als einer beschaulichen, vom westfälischen Regionalismus und katholischen Milieu geprägten Universität mit Distanz und Resistenz gegenüber dem Nationalsozialismus nicht mehr haltbar. Fortan nahm das Rektorat der Westfälischen Wilhelms-Universität die Aufklärung über das sensible Vergangenheitserbe als ureigenste Aufgabe an und setzte eine Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte der Universität Münster in der NS-Zeit ein, deren Ergebnisbericht nach fünf Jahren in zwei Bänden präsentiert werden konnte. Es handelt sich um ein Gemeinschaftswerk von ausgewiesenen Fachwissenschaftlern und Angehörigen des wissenschaftlichen Nachwuchses vorwiegend aus den Geistesund Sozialwissenschaften, aber auch der Naturwissenschaft. Inhaltlich sind die Einzelbeiträge den drei thematischen Abschnitten „Die Universität als Institution“, „Fakultäten und Institute“ und „Personen“ zugeordnet. Im ersten Teil über die Universität als Ganzes wird das Verhältnis der beiden maßgebenden Amtsinhaber Rektor und Kurator einschließlich der sie betreffenden politischen Einflussnahmen und Reformversuche beschrieben. Weiterhin bilden die Kooperation der Hochschule mit dem ortsansässigen Militär, die Aktivitäten und Netzwerkbildungen der „Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Wilhelms-Universität“ und die Selbstdarstellung der Hochschule im Rahmen ihrer Feier- und Erinnerungskultur die Gegenstände von Spezialuntersuchungen. Zwei Beiträge über die Entwicklung und soziale Zusammensetzung der Studierenden sowie eine Strukturanalyse ihrer Repräsentationsorgane gehören wie eine Untersuchung der Aberkennung von Doktorgraden ebenfalls in den Kontext der universitären Institutionsgeschichte. Abgeschlossen wird dieser Abschnitt mit einem kritischen Blick auf die Wiedereröffnung und Entnazifizierung der Universität Münster im Kontext britischer Besatzungspolitik. Der mit fast 700 Seiten bei weitem umfangreichste zweite Teil des Werks behandelt in übergreifenden Beiträgen die Katholische und die Evangelische Theologische Fakultät, die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät und die Medizinische Fakultät. Die Geschichte der Philosophischen und Naturwissenschaftlichen Fakultät wird schließlich durch Einzeluntersuchungen der Fächer Philosophie, Prähistorie, Geschichte, Germanistik, Musikwissenschaft, Zoologie, Botanik, Physik, Geographie sowie Leibesübungen und Sportwissenschaft präsentiert. Der dritte, personenorientierte Teil beginnt mit einer sozialgeschichtlichen Untersuchung der Frage, ob der Nationalsozialismus das Frauenstudium und die Karrieremöglichkeiten von Wissenschaftlerinnen behindert oder befördert hat. Sodann folgen biographische Artikel über den Hygieniker Wilhelm Jötten, den Anthropologen Otmar Freiherr von Verschuer, den Gerichtsmediziner Heinrich Többen, den Rassenhygieniker Bruno K. Schultz, den Staatswissenschaftler Johann Plenge und den Nationalökonomen Hans-Jürgen Seraphim. Die Lebensläufe und Karrieren dieser ausgewählten Wissenschaftler illustrieren nicht nur das symbiotische Verhältnis von Politik und Wissenschaft gerade in den dafür anfälligen medizinischen, biologischen und staatswissenschaftlichen Disziplinen, sondern belegen auch in erschreckender Weise die Kontinuität und Wirksamkeit nationalsozialistischer Netzwerke über das Jahr 1945 hinaus, als es darum ging, belastete Kollegen wieder in den Universitätsbetrieb zu integrieren.

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Wie ist das in mehrfacher Hinsicht gewichtige Werk über die NS-Geschichte der Universität Münster schließlich zu bewerten? Oftmals kranken Sammelbände dieser Art an mangelnder Stringenz und Geschlossenheit. Dies ist hier nicht der Fall. Aufbau, Konzeption und Ausführung der Untersuchungen präsentieren sich überwiegend stimmig und überzeugend. Die Einzelbeiträge bewegen sich durchweg auf hohem wissenschaftshistorischem Niveau und erscheinen trotz thematischer Vielfalt und unterschiedlicher Methodik relativ homogen. Dass nicht alle der damals an der Universität Münster vertretenen Disziplinen berücksichtigt werden konnten, ist bedauerlich, aber bei Projekten dieser Größenordnung nicht zu vermeiden. Der ausgedehnte zeitliche Rahmen der Untersuchungen von 1920 bis 1960, das heißt die Integration der Vor- und Nachgeschichte in die Zeit des Nationalsozialismus, ist in jedem Fall zu begrüßen, denn nur so sind biographische, institutionelle und disziplinäre Kontinuitäten und ihre Abbrüche überhaupt wahrzunehmen und darzustellen. Allerdings verschiebt sich das analytische Gewicht zuweilen deutlich auf diese zeitlichen Randzonen, so dass in manchen Artikeln, insbesondere in dem über die Feier- und Erinnerungskultur (S. 113-133), mehr über die Kaiserzeit, die Weimarer Republik und die frühe Bundesrepublik zu erfahren ist als über den Nationalsozialismus. Gleichwohl entfaltet sich in den auf akribischer Quellenarbeit fußenden Beiträgen ein vielschichtiges und detailliertes Bild der Universität Münster unter der NS-Gewaltherrschaft. Dabei überrascht es nicht, dass die unbestreitbare Durchsetzung nationalsozialistischer Ideologeme, Wissenschaftskonzepte und Herrschaftsansprüche in dieser Hochschule vergleichsweise durchschnittlich und fast moderat ablief. Beispielsweise nehmen sich die Anzahl der Doktorentziehungen während der NS-Herrschaft (vgl. S. 157) wie auch die Zahl der aus politischen und rassenideologischen Gründen entlassenen Hochschullehrer (vgl. S. 16) eher geringfügig aus – etwa im Vergleich zur Universität Göttingen. Als lokales Sonderphänomen und Kuriosum im Dschungel des nationalsozialistischen Kompetenzwirrwarrs erscheint hingegen der bestimmende Einfluss der NSDAP-Gauleitung Westfalen-Nord auf die Wahl des Rektors der Universität und auf dessen Amtstätigkeit: Damit wurde ein hochschulpolitischer Herrschaftsanspruch der regionalen Parteigrößen etabliert, der in weiten Bereichen noch über den des Wissenschaftsministeriums hinausging (vgl. S. 53-55). Gewissermaßen als Ergänzung des zweibändigen Gemeinschaftswerks fungiert eine weitere Publikation aus der Veröffentlichungsreihe des Universitätsarchivs Münster, die sich mit der Geschichte der biologischen Institute im gleichen Zeitraum befasst. Der Autor dieser bearbeiteten Dissertationsschrift ist Daniel Droste, Historiker sowie Koordinator und Mitherausgeber des größeren Projektes. Forschungsansatz, Zielrichtung und Untersuchungszeitraum dieses Bandes entsprechen der Universitätsgeschichte und kehren dort auch in gekürzter Version in Form von zwei Einzelbeiträgen zur Zoologie und Botanik wieder. Droste untersucht die institutionelle Struktur, Personalpolitik und Forschungsinhalte des Zoologischen und des Botanischen Instituts von 1922 bis 1962 und bettet diese auch in die frühere Fachentwicklung ein. Während die beiden einzelnen Institutsgeschichten in chronologisch-narrativer Form jeweils durch die Abfolge der Fachordinariate und ihrer Entscheidungsvorgänge präsentiert werden, zieht Droste in einem abschließenden, vergleichenden Teil die Bilanz der Ereignisse, indem er diese mit dem erkenntnistheoretischen Instrumentarium des „Ressourcenmodells“ von Mit-

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chell G. Ash bewertet. Als Ergebnis seiner Untersuchungen hält Droste fest, dass es ungeachtet des Wechsels bei den politischen Rahmenbedingungen über den ganzen Untersuchungszeitraum hinweg deutliche Kontinuitäten in den Forschungs- und Lehrinhalten gab. Dabei waren Wissenschaft und Politik durch ein Verhältnis wechselseitigen Nutzens miteinander verwoben. Insbesondere die politischen Konstellationen während des Nationalsozialismus eröffneten vielen Universitätsangehörigen neue Möglichkeiten der Einflussnahme auf Personen und Entscheidungsprozesse, was oftmals zu opportunistischem Verhalten, Intrigantentum und Verstrickung in das menschenverachtende NS-System führte. Besonders unerfreulich war schließlich der unkritische Umgang der Universität mit politisch belasteten Wissenschaftlern nach 1945. Drostes Dissertationsschrift bietet insgesamt eine umfassende, detaillierte und zutreffende Geschichte der biologischen „Schwesterinstitute“ der Universität Münster. Die Arbeit überzeugt durch sprachliches Niveau und Analysefähigkeit. Frappierend ist das Ausmaß an Akribie und Sachkenntnis, mit der der Autor die Ereignisse der Institutsgeschichte anhand aller erreichbaren Quellen bis in die kleinsten Verästelungen nachzeichnet. Ob aber die historischen Abläufe durch die klassische Beschreibung von Ordinariaten nach Art der traditionellen, personenbezogenen Wissenschaftsgeschichtsschreibung angemessen zu periodisieren sind, erscheint fraglich. Da auch politische Ereignisse oftmals keine Zäsuren in der Wissenschaftsentwicklung hinterlassen, wäre es sinnvoller, nach Eckpunkten in der Strukturgeschichte zu suchen, die der Eigengesetzlichkeit von Wissenschaft gerecht werden. Weiterhin befremdet zuweilen die starke Anlehnung des Autors an die Erklärungsmodelle von Mitchell Ash. Ungeachtet der in der Sache sicherlich zutreffenden Bewertungen stellt sich die Frage, ob denn elementare und evidente Sachverhalte und Erkenntnisse unbedingt mit dem umständlichen, manchmal auch skurrilen Vokabular eines historischen Theoriekonstrukts belegt werden müssen. Dies alles schmälert aber nicht die unbestreitbaren Verdienste der vorliegenden Dissertationsschrift. Drostes Arbeit hat ebenso wie das zweibändige Gemeinschaftswerk unsere Kenntnis der Geschichte der Universität Münster während der Zeit des Nationalsozialismus und darüber hinaus auf profunde Weise bereichert. Für Wissenschaftshistoriker wie auch an der Thematik interessierte Laien ist daher die Lektüre dieser Bände unverzichtbar. Göttingen

Ulrich Hunger

Biographie Martin Dröge (Hg.), Die biographische Methode in der Regionalgeschichte (Forum Regionalgeschichte, Bd. 17). Ardey-Verlag, Münster 2011. 86 S., brosch., E 12,90. Biographien haben (wieder) Konjunktur. Das Genre boomt nach langen Jahren des Schattendaseins so sehr, dass man hier und dort sogar von einer „Renaissance der Bio-

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graphie“ oder gar einem biographical turn spricht.8 Und auch wenn nicht jede geschichtswissenschaftliche Konjunktur mit einem „turn“ gelabelt werden muss, lässt sich die Diagnose eines gesteigerten Interesses an biographischen Arbeiten durchaus bestätigen. In einem im September 2009 vom LWL-Institut für Regionalgeschichte veranstalteten Workshop wurde der spezifische Fall des Verhältnisses von Regionalgeschichte und biographischer Methode hinsichtlich der Forschungsperspektiven und Probleme, die damit zusammenhängen, diskutiert. Martin Dröge gibt in seiner Einleitung einen Überblick über den Biographie-Boom der letzten Jahre, wobei er einen Großteil der einschlägigen Literatur vorstellt. Diese neueren biographischen Ansätze verbindet er mit den Impulsen des spatial turns, der auf die Bedeutung des Raumes als einer geschichtswissenschaftlichen Kategorie aufmerksam gemacht hat. Sein Beitrag schließt mit einigen Perspektiven auf die Relevanz von Raumwechseln in biografischen Studien sowie einen Überblick über die Beiträge des Bandes. In seinem programmatischen Aufsatz beleuchtet Ewald Frie die wechselseitigen Beeinflussungen zwischen Region und Biographie. Er weist dabei auf einige Parallelen in den wissenschaftlichen Debatten um diese Begriffe hin und beschreibt sie als Rückbesinnung, Konstruktivität, Prozessualität und Performativität. Besonders stark betont er den Aspekt der Konstruktivität, der zu einer radikalen Historisierung der Raumvorstellung „Region“ führen könne. Biographik sei als methodischer Zugriff sehr geeignet, um neue Perspektiven auf die Konstruktionsprozesse regionaler Identitäten und damit auch deren Geschichte zu eröffnen. Thomas Speckmann exemplifiziert in seinem Beitrag die Schwierigkeiten, die bei der Anwendung der biographischen Methode auf vermeintlich weniger bedeutsame Personen entstehen können. Seinen theoretischen Vorbemerkungen über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und seinem Versuch einer Typologisierung von Ego-Dokumenten, denen man insgesamt gewünscht hätte, auf einem etwas aktuelleren Forschungsstand zu sein, folgt ein Einblick in die Lebensgeschichte eines „kleinen Mannes“. Anhand des relativ umfangreichen Bestandes von Tagebüchern Hugo Dornhofers, einer der führenden Persönlichkeiten der thüringischen CDU nach dem Zweiten Weltkrieg, aber eben nur einer Figur von allenfalls regionaler Bedeutung, versucht Speckmann die Probleme, aber auch die Erkenntnispotenziale eines solchen Ansatzes aufzuzeigen. Der Beitrag geht zwar solide vor, es mangelt aber z. B. an der Rezeption des performativen Gehalts (auto-)biographischer Quellen, außerdem hätten die Modi, in denen auch die Biographie Dorndörfers konstruiert wird, deutlicher herausgestellt und vor allem problematisiert werden müssen. Volker Depkat gibt einen luziden Einblick in die Möglichkeiten, die die Quellengattung Autobiographie für die Erforschung von Generationen bietet.9 Er versteht Generationen als ein soziales Phänomen, dass dann entstehe, wenn die Mitglieder einer Alters8

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Vgl. Simone Lässig, Towards a Biographical Turn? Biography in Modern Historiography – Modern Historiography in Biography, in: GHI Bulletin 35/2004, S. 147-155. Vgl. jetzt auch Thomas Etzemüller, Biographien. Lesen – erforschen – erzählen, Frankfurt a. M./New York 2012. Vgl. Volker Depkat, Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, München 2007.

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kohorte sich selbst thematisierten oder aber wenn sie von außen als Generation wahrgenommen würden. Autobiographien sind seiner Ansicht nach Akte sozialer Kommunikation, durch die sich die Identität einer Generation konstituiere. Vornehmlich anhand der Brüning-Memoiren zeigt Depkat, dass Autobiographien kollektive Texte sind, sowohl in ihrem Entstehungsprozess als auch hinsichtlich der intragenerationellen Kommunikation mit anderen Zeitgenossen. Diese Gattung sei „als Medium generationeller Selbst- und Fremdthematisierung“ (S. 53) eine wertvolle Quelle, die man, dies zeigt er z. B. anhand der Autobiographie von Carl Severing, im Sinne eines meso- und mikrohistorischen Zugriffs auch für die Regionalgeschichte nutzbar machen könne. Die Relevanz von „Biographiegeneratoren“ (Alois Hahn) präsentiert Christine Müller-Botsch in ihrem Beitrag, der sich mit dem Verhältnis von Biographie und Institution beschäftigt. Im Rahmen ihrer Dissertation untersuchte Müller-Botsch die Lebensläufe unterer NSDAP-Funktionäre. Ihrer Ansicht nach ließen sich biographische Quellen aus institutionellen Kontexten besonders gut zur Analyse des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft verwenden. Sie macht auf überzeugende Weise deutlich, wie Biographien durch Institutionen überhaupt erst entstehen. Der Aufsatz von Julia Paulus schließlich stellt das am LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte zum Zeitpunkt der Abfassung des Beitrags in Planung befindliche Projekt „Politische Partizipation von Frauen im 20. Jahrhundert. Parlamentarierinnen in Westfalen und im Rheinland“ vor. Münster

Benedikt Brunner

Thomas Flammer/Werner Freitag/Alwin Hanschmidt (Hg.), Franz von Fürstenberg. Aufklärer und Reformer im Fürstbistum Münster. Beiträge der Tagung am 16. und 17. September 2010 in Münster (Westfalen in der Vormoderne. Studien zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Landesgeschichte, Bd. 11), Aschendorff Verlag, Münster 2012. 244 S., brosch., E 35,- E Die „Sattelzeit“ zur Moderne in den Jahrzehnten vor und nach 1800 ist im vorigen Jahrzehnt ein Schwerpunkt der landesgeschichtlichen Forschung gewesen. Der anzuzeigende Band dokumentiert eine von der Historischen Kommission gemeinsam mit dem Altertumsverein, Universität und Bistum Münster veranstaltete Tagung zum 200. Todestag einer Zentralfigur katholischer Modernisierung in Westfalen. Die einleitenden Grußworte der Veranstalter bezeugen das unverändert hohe Ansehen des münsterischen Schulreformers und Universitätsgründers. Acht Aufsätze spüren seinem Denken, Wirken und Persönlichkeiten seines Umfeldes nach, während ein Kapitel „Spuren von Franz von Fürstenberg in Münster“ (S. 191-220) einen Stadtrundgang mit zahlreichen Bildern illustriert – der Dom, das Schloss, das Komödienhaus am Roggenmarkt und der Adelige Club (1787-1809 Prinzipalmarkt 28 und das gegenüberliegende Rathaus, das Fürstenberg als Clubdirektor 1786 zum Vereinslokal umbauen lassen wollte) hätten noch Erwähnung verdient.

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Die seit der 1969 erschienenen Dissertation des Initiators der Tagung, Alwin Hanschmidt, aufgearbeitete Tätigkeit des Ministers ist weitgehend ausgeblendet – sein in der verlorenen Koadjutorwahl 1780 gipfelndes politisches Scheitern wird lediglich in der Studie von Wilfried Reininghaus über die weitgehend fruchtlose Tätigkeit des „Kommerzienkollegiums“ 1764-1767 anschaulich (S. 59-79) – die Mentalität für ein marktorientiertes Wirtschaften fehlte. Fürstenberg als Leser von Adam Smiths Traktaten nach 1791 ist hier noch nicht im Blick (vgl. den Katalogband „Zerbrochen sind die Fesseln des Schlendrians“ 2002, S. 199-200). So liegt der Schwerpunkt deutlich auf Fürstenbergs Wirken als Bildungsreformer, denn seine Tätigkeit als Generalvikar ab 1770 ist hier auf das Bildungswesen reduziert. Hanschmidt, der in der von Thomas Flammer verantworteten Auswahlbibliographie (S. 225-231) von den 51 seit 1970 erfassten Titeln immerhin 16 verfasst hat, untersucht die Begrifflichkeit der „Bildung des Volkes“ bei Fürstenberg (S. 19-41) und würdigt auch die Rolle der Bildungspolitik bei der Legitimation des Fürstbistums. Allerdings sollte man die douceur der Landesverfassung (1801, S. 25) nicht mit „Anmut“ – also einer ästhetischen Kategorie –, sondern besser mit dem politisch passenderen Begriff der „Milde“ übersetzen: „Milde Herrschaft“ sollte ebenso wie „wahre Aufklärung“ – also Bildung – eine Identifizierung der Untertanen mit dem Land und zugleich Tugend und ein moralisch perfektes Leben erzeugen. Diese harmonisch-idealistische Staatsvorstellung zielte auf die „allgemeine Glückseligkeit“ (S. 28-29). Allerdings wird die Genese des Glücksbegriffs Fürstenbergs – ob von den Kameralisten oder philosophischen Ethikern bestimmt – nicht geklärt. Gegenbegriffe zur „wahren Aufklärung“ waren dem alternden Fürstenberg 1791/92 „Regierungsstürmerey“ und „Neuerungssucht“. Wie eine Gegendarstellung dazu wirkt der Beitrag von Werner Freitag, der vor dem Hintergrund tridentinischer Reformbemühungen, -methoden und -erfolgen nach dem „Profil katholischer Aufklärung in den Fürstbistümern Westfalens“ fragt (S. 43-57). Seine These, „katholische Aufklärung“ bleibe vom tridentinischen Reformprogramm bestimmt, übersieht, dass das „Selbstdenken“ der Aufklärer, selbst wenn es zu religiöser Erkenntnis führen soll, doch eine andere Qualität hat als die Autoritätsgläubigkeit tridentinischer und jesuitischer Denkart. Die politische und wirtschaftliche Rückständigkeit um 1800 (S. 44), die übrigens der zeitgenössische, erst neuerdings als antikatholische Parole missverstandene „Schlendrian“-Begriff (S. 44) nicht meint – tatsächlich zielt dieser auf Innovationsfeindlichkeit jeglicher Art –, teilen die Fürstbistümer mit vielen weltlichen Staaten, wofür der vielzitierte Justus Gruner schöne Beispiele bringt. Freitag hat recht, wenn er auf die „Sicherung katholischer Konfessionalität als Weg zum Heil“ als zentrales Staatsziel hinweist – damit hatte man 1648 die Säkularisation abgewendet –, doch er übersieht, dass sich das „Katholische“ veränderte und modernisierte, von reinem Kult zu einem stärker praktisch-moralischen Christentum hin. Freitag vermisst dabei einerseits neue Strukturbildungen, wie sie das Tridentinum mit Synode und Visitation hervorgebracht habe, und dass diese vorhandenen Strukturen nicht zur Propagierung des Neuen eingesetzt worden seien. Das neue Priesterseminar und die neue Universität in Münster, die einer Generation von Priestern wie Darup, Brockmann, Kistemaker und Overberg moderne Inhalte vermittelten, werden trotz des zitierten Buches von Schulte-Umberg (1999) unterschätzt. Der eingeforderte „Masterplan“ zur Umset-

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zung der Reform (S. 49-50) war doch wohl Fürstenbergs Bildungspolitik! Die Behauptung, der Klerus habe unverändert rein tridentinische Ziele verfolgt (S. 55), bedürfte quantifizierender Studien. Dass Freitag die Säkularisation nicht als reine Verlustgeschichte begreift (S. 56-57), folgt der neueren Forschung. Tatsächlich hat der Transformationsprozess von der Stände- zur Seelsorgekirche schon vor 1800 eingesetzt, was der 1795 geweihte adelige Weihbischof, ab 1825 Bischof Caspar Max von Droste zu Vischering exemplarisch verkörpert. Sein Bruder stiftete 1808 die Genossenschaft der Clemensschwestern zur Realisierung eines praktischen Christentums. Die westfälischen Ortskirchen bewahrten ihre tridentinisch geprägte Identität – das ist von Freitag richtig beobachtet; aber sie nahmen überkonfessionelle Elemente auf, etwa aus der pietistisch inspirierten Frömmigkeit eines Johann Michael Sailer, dessen Einfluss auf das münsterische Geistesleben überhaupt nicht vorkommt. Theologische Annäherungen zwischen den Konfessionen ermöglichten Konversionen wie die des Grafen Stolberg 1800 (Beitrag Horst Conrad, S. 165-189). Mentale gesellschaftliche Modernisierungen (S. 53-54) werden von Freitag immerhin zugegeben; theologische Neuerungen lassen sich zudem etwa an Gebetbüchern ablesen. Das Nebeneinander alter und neuer Frömmigkeitsformen – dazu der instruktive Beitrag von Lena Krull über Fürstenbergs Einsatz für das Fortbestehen der Großen Prozession in Münster 1805 (S. 127-145) – ist doch ein Charakteristikum der Moderne! Neue gesellschaftliche Institute wie die Intelligenzblätter (man vermisst den Hinweis auf Britta Kirchhübel, Die Paderborner Intelligenzblätter 1722-1849, 2003), Clubs, Theater, Konzertbetrieb, Buchhandlungen und Lesegesellschaften kommen nur im Beitrag von Bertram Haller „Buchmarkt und Lesekultur“ (S. 81-105) zur Sprache. Der Anteil Fürstenbergs ist dabei kaum thematisiert – etwa dass er 1775 das Theater und den Adligen Club (nicht 1782, S. 160) gründete. Diese Modernisierung der Gesellschaft kritisierte der alternde Fürstenberg übrigens als „Belletristerey“; dass sich nach 1780 konservative Tendenzen fast überall durchsetzten, bedürfte einer Erklärung. Der „religiöse Salon“ der Fürstin Gallitzin (Beitrag Irmgard Niehaus, S. 147-163) spiegelt die Ambivalenz – moderne Empfindsamkeit in religiös-frommem Kleid. Über die verdienstvollen und lesenswerten Einzelstudien bleibt bei dieser personenbezogenen Sicht undeutlich, dass Fürstenberg nur Exponent einer von Ideen der Aufklärung inspirierten, von Klerus und Landständen mit getragenen Erneuerungsbewegung war, nur „Spitze eines Eisbergs“. Das Netzwerk von Mitstreitern Fürstenbergs wird auf die drei großen Namen der Spätzeit nach 1780, Gallitzin, Stolberg und Overberg (Beitrag Sabine Kötting über das Elementarschulwesen, S. 107-126), reduziert. Sprickmann, die Brüder Droste-Vischering und Theologen wie Hermes und Brockmann, auch fortschrittlich gesinnte Konkurrenten wie die drei Domherren Spiegel kommen nur nebenbei vor. Immerhin haben sie insgesamt die münsterische Kirche zukunftsfest gemacht, so dass die erstarkte Seelsorgekirche das 19. Jahrhundert wieder zu einem konfessionellen machen konnte. Es bleibt viel zu tun! Münster

Gerd Dethlefs

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Ulf Morgenstern, Bürgergeist und Familientradition. Die liberale Gelehrtenfamilie Schücking im 19. und 20. Jahrhundert. Ferdinand Schöningh, Paderborn u.a. 2012. 606 S., geb., E 79,-. Durch die bedeutendste deutsche Dichterin des 19. Jahrhunderts, Annette von DrosteHülshoff, ist der Name der Familie Schücking nach wie vor im Bewusstsein nicht nur einer engeren gelehrten Öffentlichkeit − war Annette von Droste-Hülshoff doch mit dem Dichter und Schriftsteller Levin Schücking (1814-1883) freundschaftlich verbunden. Schon von daher wird diese umfassende, in fünfjähriger Arbeit erstellte, von stupendem Fleiß zeugende und 2010 angenommene Dissertation (Universität Leipzig) Interesse finden. Eine breite Rezeption ist dieser bürgertumsgeschichtlichen Arbeit jedoch vor allem auch deshalb zu wünschen, weil die Familie Schücking, die ja programmatisch im Titel der Buchfassung Ausdruck findet, in vielerlei Hinsicht Erinnerung verdient: „Teils in Anlehnung an den jeweiligen Zeitgeist, teils auch in dessen deutlicher Ablehnung gehörten etliche Schückings vom 17. bis zum 20. Jahrhundert zum politischen und kulturellen Establishment zunächst des Münsterlandes, später des Deutschen Reiches insgesamt. In ihrer Summe liefert jede der untersuchten Generationen der Familie Schücking dichte Bündel an Erfahrungen, Wahrnehmungen und Deutungsmustern bürgerlichen Lebens in Deutschland. Trotz der überdurchschnittlichen öffentlichen Bekanntheit und sozialen Exponierung vieler Familienangehöriger erreichten nur zwei, der Münstersche Kanzler Christoph Bernhard von Schüching (1704-1774) und der Politiker und Richter am Internationalen Haager Gerichtshof Walther Schücking (1875-1935), gesellschaftliche Stellungen, die über das für Gelehrte und Künstler üblicherweise Erreichbare hinausgingen. Die Übrigen setzten aber bis auf wenige Ausnahmen einen Großteil ihrer Lebensenergie daran, auf intellektuellem, weniger auf wirtschaftlichem Gebiet an die Erfolge ihrer Vorfahren anzuknüpfen“ (S. 12 f.). Familienstolz und bewusste familiengeschichtliche invented tradition, wie sie schon der oben genannte Dichter und Schriftsteller Levin Schücking pflegte, waren den Schückings somit nicht fremd, wenn etwa der Hochschullehrer und Richter Walther per Brief seinem Bruder Lothar Engelbert Schücking, der 1933 als linksliberaler Anwalt mit Berufsverbot belegt wurde, anrät, er möge sich in dieser Situation doch am Beispiel der Herkunftsfamilie mit historisch orientierter Familienforschung befassen: „Das aber ist gerade die große Möglichkeit, die die Geschichte unserer Familie bietet, in den Lebensbildern der Vorfahren die deutsche Kulturgeschichte schlechthin aufzuzeigen. Mit dem Cölner Johannes kann man eine Skizze der mittelalterlichen Universität ... geben, mit Claus Schücking die Schilderung des bürg[erlichen] Gemeinwesens des 16. Jahrh[underts], ... mit dem Kanzler den Staatsmann des untergehenden H[eili]g[en] Römischen Reiches, mit unserem Grossvater das Zeitalter der literarischen Kultur Deutschlands und des Vordringens des liberalen Gedankens, kurz es kommt nur darauf an, das Besondere überall mit dem Allgemeinen zu verbinden um ein grösseres Publikum zu interes-

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sieren. Das erfordert freilich bei der Vielseitigkeit des Stoffes ein reiches Wissen auf vielen Gebieten.“10 Wie die Sprache des Briefes die bildungsbürgerliche Gelehrtenfamilie spiegelt, so ist hier der Forschungsgegenstand der umfangreichen Untersuchung prägnant umschrieben. „Als vor allem juristisch ausgebildete Vertreter des gelehrten Bürgertums standen die Schückings über drei Jahrhunderte fast ausnahmslos im gehobenen Staatsdienst“ (S. 13). Die damit verbundenen politischen Bindungen verweisen im bürgerlichen Kontext des späten 18. Jahrhunderts und vor allem bis zur Revolution 1848/49 auf liberale, später nationalliberale Ideen und Optionen, wobei Angehörige der Familie Schücking im Deutschen Kaiserreich nicht dem bürgerlichen mainstream gefolgt sind, sondern linksliberale Optionen innerhalb des „linksdemokratischen und pazifistischen Flügel[s] des deutschen Liberalismus“ (ebd.) vertraten. Auch wenn die „Familienlinien der Schückings in Mittelalter und früher Neuzeit“ (S. 34 ff.) in der vorliegenden Untersuchung nicht zu kurz kommen, liegt der Schwerpunkt doch auf den 150 Jahren „Entwicklung deutscher liberaler Bürgerlichkeit“ (S. 11) im 19. und 20. Jahrhundert, wobei eine „Beschränkung“ auf den auf B.M. Schücking (1748-1826) zurückgehenden „Zweig der Familie“ (S. 12) erfolgt (vgl. im Anhang auch die Stammbäume der Familie S. 535 ff., hier S. 538-545).Zu diesem Zweig zählt auch der schon benannte Freund Annette von Droste-Hülshoffs, Levin Schücking, dessen Werdegang, Schul- und Studienjahre, Leben und Arbeiten als Hauslehrer, Kritiker, Journalist, Dichter und Schriftsteller (vgl. dazu wie zu allen Schückings das ausführliche Werkeverzeichnis im Anhang, hier S. 504-511) in Münster, Augsburg, Köln, Rom und Westfalen mitsamt seinen Begegnungen, Beziehungen und nicht zuletzt seiner kinderreichen Ehe mit Louise von Gall eine ausführliche Darstellung finden (S. 107-226). Aus der Fülle der biographischen Detailzeichnung sei hier nur auf Optionen verwiesen, die schon in der Überschrift dieses dritten Hauptkapitels Ausdruck finden: „Geburts- und Geistesadel im Wandel des 19. Jahrhunderts “ (S. 107). Hatte Levin Schücking als Jurist ohne Examina während seiner beruflichen Orientierungssuche selbst Fühler nach „radikaleren Richtungen“ wie den linkshegelianischen „Halleschen Jahrbüchern“ ausgestreckt (S. 119 f.), so waren der von Annette beobachtete „Stolz“, Herkunft und seine Eheschließung mit einer Adeligen sicher leitend für seine letztlich doch „adelige Grundauffassung“ (S. 214, vgl. auch S. 126 f. und 178 f.), der in den Jahren 1846/47 bis 1849/50 „seine im Grunde ängstliche, revolutionsfeindliche Einstellung“ (S. 169) entsprach. Ausführlich kommt auch Levin Schückings ambivalente Haltung gegenüber der Katholischen Kirche zur Sprache, die er in seinen Schriften als getaufter Katholik zumal in historischer Perspektive zu würdigen wusste. Zeitgleich stand er aber allem Klerikalismus und ,Ultramontanismus’ seiner Zeit distanzierend gegenüber, was ihm in Münster und in der katholischen Presse Münsters eine fundamentale Kritik eintrug (vgl. S. 175-194). Gerade weil Ulf Morgenstern bis ins Detail recherchiert und informiert, hätte hier auch gesagt sein können, dass fast der gesamte deutsche und österreichisch-

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Zit. nach dem Preisvortrag Ulf Morgensterns (2011) aus Anlass der Verleihung des Horst-Springer-Preises für die vorliegende Arbeit; vgl. http://library.fes.de/pdf-files/historiker/08673.pdf (im Buch auch S. 409).

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ungarische Episkopat den Beschlüssen des Ersten Vaticanums zunächst ablehnend gegenüberstand. Ausdrücklich betone ich die äußerst lesenswerte Darstellung der Lebenswege der dem wilhelminischen Obrigkeitsstaat distanziert gegenüberstehenden Enkel Levin Schückings, hier exemplarisch die des schon erwähnten Völkerrechtlers, Professors, Parlamentariers und Pazifisten Walther Schücking, der als engagierter, antiborussischer DDP-Politiker, Demokrat und Gelehrter eine Minderheitenposition in der Professorenschaft der Weimarer Republik einnahm (S. 359 ff.). In der Zwischenkriegszeit war er in exponierter Stellung tätig, so etwa als einer „der sechs Hauptbevollmächtigten der Friedensdelegation des Deutschen Reiches bei den (Friedens-)Verhandlungen in Versailles“ (S. 362). Klares politisches Urteilsvermögen bewies Walther Schücking mit seinem Unverständnis, „dass unser Bürgertum auf diesen Hitler-Schwindel hereinfällt“. Im Jahre 1932 prognostizierte er, dass Hitler an der Macht „den Boden der Legalität verlassen und eine faschistische Dictatur errichten“ werde (S. 384). 1933 bedeutete dies für ihn den Verlust der Professur an der Universität Kiel und das Exil in den Niederlanden. Zur Minderheit der die Weimarer Republik bejahenden und die aufziehende NS-Diktatur klar erkennenden Professorenschaft zählte auch der Bruder Walther Schückings, der in Breslau, Leipzig und Erlangen tätige Anglistikprofessor Levin Ludwig Schücking (1878-1964, vgl. S. 385 ff.); eine ähnlich klare politische Situationsbestimmung teilte deren Bruder Lothar Engelbert Schücking (1873-1943), dem als Mitbegründer der Liga gegen Antisemitismus, Anwalt und Notar in Dortmund die Zulassung entzogen wurde, nachdem seine Kanzlei schon im Februar 1933 von SA-Leuten besetzt und „dort lagernde Papiere ausnahmslos vernichtet“ worden waren (S. 406). Bezeichnend für den Familienstolz der Schückings bleibt jedoch, dass die Letztgenannten „trotz ihrer fundamentalen Ablehnung des Nationalsozialismus keine Berührungsängste“ (S. 463) zum rassistischen „Hobby-Genealogen“ Bernhard Schulze-Naumburg hatten, den sie im Rahmen seiner Veröffentlichung „Die Vererbung der dichterischen Begabung“ in der „Zeitschrift für Rassenkunde und die gesamte Forschung am Menschen“ im Blick auf die „Begabungsvererbung bei den Schückings“ (S. 462) unterstützt hatten. Selbst die Lebenswege der Kinder und Enkel der zuletzt genannten Brüder Schücking in der Bundesrepublik kommen unter dem Stichwort ,Pluralität der Lebensentwürfe‘ noch zur Sprache (S. 464 ff.). Das umfangreiche Werk – allein die Darstellung umfasst 499 Seiten – ist, wie der Autor selbst betont, in der vorliegenden Form nicht zuletzt einem Quellenfund zu danken, auf den Morgenstern 2006 in einem Ferienhaus stieß: „private Nachlaßmaterialien des Anglisten Levin Ludwig Schücking“, deren Umfang und Gehalt das Vorhaben bestärkte, nicht von „vorstrukturierenden Leitfragen oder Problemstellungen“ auszugehen, sondern gleichsam aus den Quellen „eine Familienbiographie der Schückings zu schreiben“ (S. 491). Auch wenn der Autor weiß, dass dies angesichts des Zusammenhangs von Erkenntnis und Interesse und des rekonstruktiven Charakters historischer Arbeit so gar nicht möglich ist, bleibt hier ein Problem: Die Fülle der Details der Lebenswege setzen beim Leser schon ein besonderes Interesse an den Schückings voraus und grenzen damit den potentiellen Leserkreis vor allem auf wissenschaftlich Interessierte ein, die hier bis hin zum Personenregister vorbildlich bedient werden. Für eine an der Geschichte liberalen Bürgertums interessierte breitere

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Leserschaft wären bisweilen stärker systematisch angelegte ,Schneisen’ ideen- und sozialgeschichtlicher Art wünschenswert, die sicher individuelle Spezifika zurücktreten ließen, die erklärende Kraft geschichtswissenschaftlicher Arbeit aber bestärken könnten. Der Autor ist mit entsprechenden Arbeiten zweifellos vertraut, was nicht nur in den Fußnoten deutlich wird. Quellenfund und Quellenlage waren hier eine Versuchung. Münster

Bernd Weber

Kultur und Sprache Markus Denkler (Hg.), Münsterländische Nachlassinventare aus der Frühen Neuzeit. Edition mit Einleitung und Registern. Peter Lang, Frankfurt a. M. 2013. 428 S., geb., E 69,95. Nach einer Dissertation von 2006, in der der derzeitige Geschäftsführer der „Kommission für Mundart- und Namenforschung Westfalens“ die im Titel der hier vorzustellenden Arbeit genannten „Nachlassinventare“ unter vorzugsweise linguistischen Fragestellungen auswertend behandelt hatte (Rezension von Claudia Maria Korsmeier, in: Westfälische Forschungen 57/ 2007, S. 748-750), folgt nun die Edition der Quellen selbst in Gestalt einer buchstabengetreuen Wiedergabe von 306 dieser Inventare, die – als Gattung – zwar schon vielfach herangezogen, aber nur in Einzelfällen (S. 9) unverkürzt dem Publikum vorgelegt worden sind. Ihre Aussagekraft zur Lebenswelt und zu den Lebensmitteln (unter Einschluss der Werkzeuge und Geräte) unter den jeweiligen zeitgeschichtlichen Umständen (Dreißigjähriger Krieg, S. 282 u.ö.) ist umfassend und noch keineswegs restlos ausgeschöpft. Die – wenn auch angesichts ihrer „in Mitteleuropa unübersehbaren Zahl“ (S. 9) – immer noch geringe Menge der vorgelegten Inventare erlaubt für das Münsterland bei nur zehn Ortspunkten für zwölf Archivfonds (zwischen Coesfeld und Beckum, S. 384, Karte S. 15) schon Ansätze zu statistischer Auswertung und zu Vergleichen, die ihrerseits mit Vergleichen der Wirtschaftskraft (Steuerkraft) derselben Gegend korrelieren dürften oder an Nachlässen anderer Sozialgruppen gemessen werden können. Auch für die Wirtschaftsweise und ihre Änderung – etwa durch technische, besitzrechtliche und andere Entwicklungen – kann es hie und da Aufschlüsse geben. Sogar Moral, Religion und Mentalität spiegeln sich gelegentlich, wenn z. B. in den „Präambeln“ zu den einzelnen Inventaren Beweggründe für die Aufschreibung oder für henrich uphoff zu uphoffen aus zwei Ehen zehn lebende Kinder zwischen 27 und 21/2 Jahren, das jüngste ist lahm, aufgezählt werden (S. 89). Es ist – zugegeben! – ein Anliegen des Rezensenten, immer wieder darauf hinzuweisen, wie wichtig es ist, dass historische Quellen – gegen die von Archivaren verbindlich vorgeschlagenen und fast immer befolgten Editionsrichtlinien – von Bearbeitern ediert werden, für die nicht nur der Inhalt, sondern – als Vorbedingung für eine sachkundige

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und vertrauenswürdige Edition – die Sprache mit Etymologie und Semantik selbst ein (Forschungs-)Gegenstand ist. Miss-, Nicht- oder Halb-Verstehen führen gelegentlich zu interpretierenden Wiedergaben, die mehr über den „Horizont“ der Vorkenntnisse und vorgefassten Meinungen des Bearbeiters als über die Sache etwas aussagen. Dieser nur scheinbar hypothetische Vorwurf trifft nicht den Bearbeiter der 306 Inventare. Er zeichnet sich eher durch eine fast schon zu penible Gewissenhaftigkeit aus, die er in seiner Einleitung unter dem Punkt „Editionsgrundsätze“ (S. 15-19) ausführlich darlegt. Seine Sorgfalt geht so weit, dass er den Quellen nicht nur bei der ungeregelten Groß-/Kleinschreibung von Wörtern am Anfang der Zeichenkette folgt, sondern auch die aus heutiger Sicht merkwürdig und manieriert wirkenden Majuskeln im Wortinneren beachtet und wiedergibt. Sie scheinen und sind – falls nicht am Silbenanfang – fast immer sinnlos, stören die Lesbar- und Verständlichkeit (HasPel, ZwanZig, sPinne, gemacHt), betreffen auch nur gelegentlich wenige Buchstaben (P, Z, H und L), sind also zu ignorieren. Der einzige Vorteil ist, dass mit ihnen eine bessere Vorstellung vom Aussehen der Vorlagen entsteht, von denen dankenswerterweise zehn als Abbildungen in vertretbarer Verkleinerung beigegeben sind (Verzeichnis S. 385). Erschlossen wird die Sammlung durch 40 Indexseiten mit fast vollständigen Nachweisen für Namen und Sachen (mit Erklärungen), eine Fundgrube für jeden, der in solchen und ähnlichen Quellen auf unbekannte Begriffe stößt. Leider sind mit den Familiennamen die Vornamen nicht aufgenommen worden. Die Hintergründe für die Verbreitung des Vornamens Amelung etwa und anderer eher seltener Namen wären ein Forschungsgegenstand, der leicht hätte bedient werden können. Damit genug des Rühmens dieser verdienstvollen Arbeit. Zu den Fragen und Problemen, die – jenseits der reinen Edition – offen bleiben, die folgenden Hinweise: Es fehlt die Kenntlichmachung von oft wegen Kleinschreibung nicht als solche erkennbaren Namen, die auch Appellativa (Bezeichnungen) sein könnten: schutte, stuwe, griese (S. 54), lynen (S. 274). Im Glossar fehlen: Ein Hinweis darauf, dass Präfixe für das Alphabet nicht beachtet werden. Beispiel: gelappet > lappen (S. 40, 281). – Das Wort springelich als Adjektiv zu einer Kuh (ist eine schwartz springeliche ,gesprenkelte‘?). – Das Wort gesettet ,zu einem bestimmten Zweck vorübergehend treuhänderisch überlassen‘ (S. 269). – Das Wort gekocht in der Fügung 20 stuck gekocht garn und linnen aus dem Jahr 1750 (S. 175) in einem Text mit sehr wenig niederdeutschen Resten (z. B. greipe ,Forke‘), also zum Verbum kopen oder kochen. – Das Wort holtzfoßer (deß Holtzfoßeren Georgen Hoffman) (S. 119, 129); desgleichen holtzforster (S. 127). – Auflösung von bech für ,Becher‘ (oder ,Becken‘?) als holtzene milchbech(en); nicht im Glossar neben anderen dort – leider getrennt – aufgenommenen Zusammensetzungen mit milch und melk (S. 42). – Ohne Erklärung: Das Wort hueffe (S. 72). Zweifelhafte Lesungen sind: Das Wort oberbett im Text mit einem nur als R lesbaren Sonderzeichen mehrfach als Rberbett wiedergegeben (S. 40, 42). – S. 42 Zahlwort „sechs“: mutter schwein mit sochß saugenden fercken. – „Gröblingen“ (zu Sassenberg) im Ortsindex falsch unter „Bropelingen“ (S. 269: Bropelingen; S. 269: den Gropling(er) Bauren). – S. 41 Name „Rölving“: vff Schulten Rölninghsß Ländereyen. Münster

Leopold Schütte

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Anselm Heinrich, Theater in der Region. Westfalen und Yorkshire 1918-1945 (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 70). Ferdinand Schöningh, Paderborn u.a. 2012. 340 S., geb., E 39,90. Für alle diejenigen, die es gewohnt sind, die Theatergeschichte Großbritanniens und Deutschlands in den Jahren 1933 bis 1945 primär unter moralischen Kategorien zu betrachten und großzügig mit den Etiketten „gut“ und „böse“ umzugehen, wird Anselm Heinrichs Studie, die auf seiner in Hull angefertigten und 2007 auf Englisch veröffentlichten Dissertation beruht, schwer verdauliche Kost bilden. Nicht dass der in Glasgow lehrende, aber im Badischen geborene und in Westfalen aufgewachsene Theaterwissenschaftler die traditionellen Urteile auf den Kopf stellen und das nationalsozialistische Theater rehabilitieren, das britische dagegen diskreditieren würde. Seine differenzierte Untersuchung verzichtet nicht nur völlig auf derartige Pauschalbewertungen, sie lässt sie aufgrund ihres mikroskopischen Blick geradezu obsolet erscheinen, weil sich bereits eine Formulierung wie „nationalsozialistisches Theater“ als ungenügend erweist, die damalige Wirklichkeit angemessen auf den Begriff zu bringen. Folgt man seiner differenzierten Argumentation, wird klar, warum er am Ende behaupten kann, während des Zweiten Weltkriegs seien „die untersuchten Theater fast austauschbar“, wären die Spielpläne „zum Verwechseln ähnlich“ geworden (S. 293 bzw. 302). Nach einer mit mehr als 40 Seiten Umfang vielleicht etwas zu umfangreich geratenen Einleitung nähert sich Heinrich seinem Gegenstand in vier exakt gleich strukturierten und ungefähr gleich langen Kapiteln: Zuerst geht es um die Theatergeschichte Yorkshires im Allgemeinen, dann um die in Westfalen, jeweils von den Anfängen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Anschließend stehen die jeweiligen Spielpläne im Vordergrund. Abgerundet wird das Ganze durch eine das Wichtigste zusammenfassende Schlussbemerkung. Heinrichs Blick auf das westfälische Theater gilt primär der NS-Zeit. Die Weimarer Republik und davor liegende Phasen dienen nur zur Grundierung, das zeigen schon die Textproportionen. Der Etablierung von kommunalem Theater in Münster, Dortmund, Bielefeld, Bochum und Hagen von den Anfängen bis 1933 widmet er etwa 25 Seiten, den Spielzeiten unter NS-Herrschaft dagegen das Doppelte. Und bei der Betrachtung der Spielpläne ist das Verhältnis sogar noch eindeutiger: 15 Seiten zur Weimarer Republik folgt das Dreifache zur NS-Zeit. Seine dabei gewonnenen Ergebnisse sind in beiderlei Hinsicht wohl nur für diejenigen überraschend, die noch immer das Bild traditioneller Literatur- und Theatergeschichtsschreibung vor Augen und die einschlägige empirisch-sozialhistorische Forschung der letzten Jahre ignoriert haben. Die Vorstellung, die Machtergreifung der Nationalsozialisten habe eine tief greifende Abkehr von einem der Hochkultur gewidmeten, aufgrund üppiger Subventionen mit allerlei Avantgardistischem und Zeitkritischem experimentierenden Theater der Republik bedeutet, wird mit den Befunden einer ganz anderen Wirklichkeit konfrontiert. Vor wie nach 1933 gab es zwar tatsächlich weitreichende kommunale Förderung, aber sie galt einem Theater, das stets primär am Publikumserfolg orientiert war und damit der Unterhaltung beträchtlichen Raum ließ. Zwei Besonderheiten bestätigen mehr diese Regel als sie zu widerlegen: Zum einen gab es 1933/34 tatsächlich einen tief greifenden Versuch zur

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Nazifizierung der Spielpläne. Schon nach einer Spielzeit brach er jedoch in sich zusammen, weil dafür kein Publikum zu finden war. Und zum anderen war zwar die radikale Entfernung aller Werke jüdischer Autoren und Komponisten von Dauer, ersetzt werden konnten sie aber nur durch ähnlich gearbeitete Lustspiele und Operetten, nun aber ,arischer’ Herkunft. Wie gesagt, die Stärken von Heinrichs Arbeit liegen im Detail. An der ausführlichen Vorschau der Münsteraner Bühne auf die Spielzeit kann er beispielsweise zeigen, dass diese Quelle keinen adäquaten Eindruck vom tatsächlich Realisierten bietet. Statt der angekündigten 57 Schauspiele waren nur 20 gespielt worden, und von diesen waren nur fünf in der Vorschau erschienen (S. 241). Ein ähnlich detaillierter Vergleich fehlt zwar für die NS-Jahre, die Praxis wird jedoch in eine ähnliche Richtung gegangen sein. Zwar mussten alle Spielplanentwürfe dem Propagandaministerium zur Genehmigung vorgelegt werden, „nach der Billigung ihres Spielplans durch den Reichsdramaturgen“ waren die Theater aber „in keiner Weise an dessen exakte Umsetzung gebunden“ (S. 285). Gerade völkisch-nationalistische Werke konnten so problemlos fallen gelassen werden. Nach wie vor wurde in Schauspiel, Oper und Operette auf Bewährtes gesetzt. Wenn es einen eindeutigen Trend gab, dann war es der hin zu immer mehr Unterhaltendem, vor allem während des Krieges. Heinrichs Vergleich der deutschen und britischen Theaterstrukturen liegt im Kern ein ganz einfaches Argumentationsmuster zugrunde: Er konstatiert durchaus im Einklang mit der bisherigen Forschung die grundsätzlichen Unterschiede von Organisation und Finanzierung, um dann herauszuarbeiten, dass die Unterschiede im konkreten Angebot aber weit geringer waren. Und seit Kriegsbeginn schwanden sie immer mehr, weil sich nun auch die Produktionsbedingungen einander annäherten. Während in Deutschland die Vorstellung, mit Theater Geld verdienen zu wollen, völlig unvereinbar mit einem Konzept der „Schaubühne als moralischer Anstalt“ (Schiller) war und willig vor allem städtische Unterstützung in Anspruch genommen wurde, war es in Großbritannien genau umgekehrt. Hier war man der Ansicht, dass sich der Staat – oder auch nur die Stadt – aus derlei Angelegenheiten herauszuhalten habe. Seit 1925 waren Theatersubventionen sogar regelrecht verboten (S. 95). Nach Kriegsbeginn wurde diese Position grundsätzlich aufgeben. Die Kunst und vor allem das Theater wurden geradezu als kriegswichtig eingestuft. Mit der Gründung der CEMA, des Council for the Encouragement of Music and the Arts, im Januar 1940 wurde der erste Schritt hin zu immer höheren Subventionen unternommen. 1944 wurde dem auch die Gesetzeslage angepasst (S. 96). Der politische Preis, der dafür zu zahlen war, wurde wohl gar nicht so recht wahrgenommen. Neben die traditionelle Zensur durch den direkt vom Monarchen ernannten Lord Chamberlain trat eine im März 1942 verabschiedete ganz neue Ermächtigung des Innenministers, alle jene Unterhaltung – einschließlich Theateraufführungen – zu verbieten „on the ground that they are inimical to the war effort“ (S. 223) – eine Ermächtigung, die sich auch Propagandaminister Goebbels hatte ausstellen lassen. Praktisch scheint dieses Recht in Großbritannien nicht genutzt worden zu sein. Aber das lag wohl eher daran, dass sich die Theaterleitungen von sich aus um einen entsprechenden Kriegsbeitrag bemühten und dies umso leichter fiel, je größer die Siegesaus-

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sichten der Alliierten waren. Auch in Deutschland waren Verbote – vom früh durchgesetzten Antisemitismus abgesehen – selten und noch seltener war der Erfolg beim Versuch, die Aufführung irgendwelcher Stücke auf die Spielpläne zu lancieren (als Beispiel S. 276). In Großbritannien wie in Deutschland entschieden sich die Theatermacher im Großen und Ganzen aus freien Stücken während des Zweiten Weltkriegs für Spielpläne, die zwar das eigene kulturelle Erbe würdigten, das Unterhaltende jedoch in den Vordergrund stellten. Wichtiger als die Inhalte war in beiden Fällen eine doppelte Funktion: zum einen den Theaterbesuchern eine gewisse Entspannung zu bieten, um die Belastungen des Kriegsalltags besser zu bewältigen, zum anderen aber auch traditionelle soziale Grenzen zu überwinden und damit ein neues Gemeinschaftsgefühl als zusätzliche Kraftreserve zu mobilisieren. Dass all dies sich in ganz unterschiedlichen Kontexten vollzog, ist eine Selbstverständlichkeit, die nicht ständig neuer Betonung bedarf. Es ist stattdessen ein Thema für sich, darüber nachzudenken, unter welchen Bedingungen die deutsche Gesellschaft die schon 1933 einsetzende Ausschaltung der Juden aus dem öffentlichen Leben mehr oder minder kommentarlos hinnehmen konnte. Forst

Konrad Dussel

Jürgen Kloosterhuis (Hg.), Streifzüge durch Brandenburg-Preußen. Archivische Beiträge zur kulturellen Bildungsarbeit im Wissenschaftsjahr 2010 (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Arbeitsberichte Nr. 14). Selbstverlag des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, Berlin 2011. IX und 495 S., geb., E 30,-. Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer Tagung des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz in Berlin Dahlem. Die Autoren sind Archivare und Mitarbeiter des Dahlemer Instituts. Die Beiträge haben kein übergeordnetes Thema, sondern sind inspiriert von der Absicht, archivalische Quellen in den Vordergrund zu stellen. Mathias Leibetseder beschäftigt sich einleitend mit einem ,Rosenkrieg‘ in der Ehe der Petronella von der Recke, einer Protestantin, mit Ferdinand von Sparr, einem Katholiken. Auf der persönlichen Ebene kam es zu einem Glaubensstreit, der auch von den Konfessionalisierungstendenzen in den Ländern Brandenburg Preußen bzw. dem Fürstbistum Münster beeinflusst wurde. Strittig war vor allem die Erziehung der Kinder. Hierzu gab es noch keine einheitliche Rechtshandhabe. Der Grundsatz pro diversitate sexu, wonach die Söhne der Religion des Vaters und die Töchter der der Mutter zu folgen hatten, hatte sich zwar gewohnheitsrechtlich herausgebildet, war aber nicht kodifiziert. Petronella von der Recke beanspruchte ein naturrechtlich untermauertes Erziehungsrecht der Mütter, während Ferdinand von Sparr auf die hausväterliche Gewalt rekurrierte. Beide suchten mit der Rückendeckung ihrer Landesherren, des Kurfürsten von Brandenburg (von der Recke) bzw. des Fürstbischofs von Münster (von Sparr) ihre Ansprüche durchzusetzen. Erschwerend kam hinzu, dass Petronella von der Recke während des Streites von den Lutheranern zu den Reformierten wechselte. Der vorzügliche Beitrag berührt von allen vorliegenden noch am ehesten die westfälische Landesgeschichte. Kleine Korrek-

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turen seien angemerkt. Der Ausdruck villigst ist nicht mit vielleicht zu deuten, sondern mit Haus Villigst bei Schwerte (S. 35). Der erste Herzog von Kurland war Johann Ketteler (nicht Keller). Die Mark war kein Herzogtum, sondern eine Grafschaft. Dieter Heckmann befasst sich anhand der öffentlichen Notare im deutschen Ordensland des 14./15. Jahrhunderts mit dem Problem der „Verwaltungsvereinfachung“ in diesem Territorium. Die hauptsächlich in den Städten ansässigen Notare werden dabei als entscheidender Faktor der Rationalisierung der öffentlichen Verwaltung herausgestellt. Ingrid Männl beschreibt in ihrem Aufsatz „Grüner Tisch und lange Bank“ das Verhältnis zwischen Reichsinstitutionen und Landeshoheit. In knapper Form werden hierbei handbuchartig die verschiedenen Reichsinstitutionen Reichstag, Reichskreise und Reichshofrat vorgestellt. Jürgen Kloosterhuis’ Essay „Possidierende Probleme“ befasst sich mit dem brandenburgisch-preußischen Staatsgedanken im Rahmen des Jülich-Klevischen Erbfolgestreites 1609-1666. Brandenburg-Preußen erhielt durch den Zuwachs neuer Provinzen eine amöbenhafte Staatsform mit vielen regionalen Sonderrechten. Eine einheitliche Identitätsbildung stieß auf große Schwierigkeiten. Eine Präzisierung erfuhr der preußische Staatsgedanke durch die Vereinheitlichung in der Beamtenschaft und im Militär. Der Gewinn der monarchischen Staatsform 1701 war hierbei von ausschlaggebender Bedeutung. Zu Recht wird darauf verwiesen, dass die Schuldzuweisung, die nach 1945 Preußen als einen Hauptverursacher der deutschen Katastrophe hinstellte, einer nüchternen historischen Betrachtung zu weichen habe. Frank Althoff befasst sich in seinem Beitrag „Geheimhaltung von Staatsaktionen“ mit der fortschreitenden Tendenz des 18. Jahrhunderts, Politik − unter Ausschaltung kollektiver Mitspracheformen − aus dem Kabinett zu betreiben. Sven Kriese beschreibt am Beispiel der Stadtbrände und des Wiederaufbaus die Städtebaupolitik in Brandenburg-Preußen vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Stadtbrände gehörten im Mittelalter und in der frühen Neuzeit zu den Primärkatastrophen bürgerlicher Gemeinschaften. Für den Wiederaufbau mussten außergewöhnliche Finanzmittel bereit gestellt werden. Er bot aber auch eine Chance, moderne und ideologische Konzepte durchzusetzen. Ungewöhnlich war der Wiederaufbau des 1787 abgebrannten Neuruppin. Der kurmärkische Kammerpräsident Carl Friedrich von Voß setzte im Sinne der Spätaufklärung einen Plan durch, der nicht mehr die Kirche in das Zentrum der Stadt rückte, sondern die Schule. Die Kirche selbst wurde als Simultankirche konzipiert. Der Modellversuch blieb allerdings städtebaulich folgenlos. Ingeborg Schnelling-Reinicke beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit dem Königreich Westphalen zwischen 1807 und 1813 als Modellstaat. Sie folgt hierbei dem neuen Forschungsansatz, der bemüht ist, weniger die nationalstaatliche Schmach als vielmehr den Modernisierungscharakter der napoleonischen Staatsschöpfungen herauszustreichen. Die nur wenige Seiten umfassende Verfassung des Staates galt als mustergültig. Doch die Widersprüche waren offensichtlich. Es gab zwar eine Volksvertretung in Form der Reichsstände. Doch diese wurde nicht gewählt, sondern ernannt. Die Finanzverwaltung wurde zwar rationalisiert. Doch zum Problem, die alten Staatsschulden amortisieren zu müssen, trat erschwerend hinzu, dass auch das Königreich Kriegskontributionen an

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Frankreich zu zahlen hatte. Nicht zu übersehen war, dass auch das Militär des Königreichs in erster Linie als Reservoir für die Armeen des Kaisers diente. Susanne Brockfeld befasst sich in ihrem Beitrag mit den Vereinheitlichungstendenzen des preußischen Steuersystems in der Zeit zwischen den Reformen und dem Erlass des Staatsschuldengesetzes 1820. Paul Marcus beschreibt die preußische Kulturarbeit im Ausland anhand der Geschichte des archäologischen Institutes in Rom zwischen 1829 und 1874. Der hauptsächlich budgethistorisch ausgerichtete Beitrag erreicht mit einem Umfang von über 100 Seiten Monographiecharakter. Die Fallstudie ist ein Musterbeispiel einer Bürokratisierungstendenz von einer privaten Initiative bis hin zur Verstaatlichung durch Preußen und schließlich durch das Reich. Christiane Brandt-Salloum beschäftigt sich mit der preußischen Patentüberlieferung. Die Kodifizierung des Patentrechts im 19. Jahrhundert zog die Institutionalisierung durch die Deputation für Gewerbe nach sich. Bei ihr liefen neben sinnvollen aber auch skurrile Anträge ein. Etwa 80 Prozent aller Anträge wurden abgewiesen. Die zahlreichen von der Autorin amüsant beschriebenen Vorschläge zur Reinerhaltung der Luft und Unratbeseitigung müssen sicher auch vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Miasmentheorie gesehen werden. Bis zu den Entdeckungen Louis Pasteurs hielt man die verpestete Luft für die Hauptverursacherin von Krankheiten. Kornelia Lange macht in ihrem Beitrag „Schlange, Bär und Pelikan“ auf die einzigartige Überlieferung der deutschen Logen und Freimaurer in Dahlem aufmerksam. Der zentralisierte Bestand kam durch die Konfiskation des Reichsicherheitshauptamtes zustande. Bedauerlich ist, dass von den zwischenzeitlich nach Moskau gelangten Archivalien immer noch einige Stücke nicht restituiert worden sind. Reinhart Strecke schöpft in seinem Beitrag „Sagazität“ aus seiner reichen Erfahrung archivalischer Recherchen zu Bau- und Kunstobjekten. Er verweist darauf, dass oft eine allzu rasch erfolgende Zuweisung aus kunsthistorischer Perspektive durch eine Quellenüberprüfung sehr viel komplexer wird. Die archivalisch orientierten Abhandlungen werden durchweg durch einen Quellenanhang untermauert. Konsequenterweise stellt Jürgen Kloosterhuis in seinem Schlussbeitrag die Genese und die Tektonik der Bestände des Geheimen Staatsarchivs vor. Münster

Horst Conrad

Gunter Müller, Westfälischer Flurnamenatlas, 5. Lfg., bearb. im Auftrag der Kommission für Mundart- und Namenforschung Westfalens. Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2012. 202 S., 111 Karten, brosch., E 49,-. Mit der 5. Lieferung liegt das Korpus des Westfälischen Flurnamenatlas vollständig vor. Der Atlas ist von Gunter Müller in mehrere Jahrzehnte währender und durchaus entsagungsvoller, von ihm selbst von der Belegsammlung bis zur Drucklegung ohne Hilfskräfte geleisteter Arbeit konzipiert und gestaltet worden. Der neue Band im gewohnten Format DIN A3 umfasst die Artikel 129.-169. und übertrifft damit an Umfang jede der übrigen Lieferungen, ohne dass man den Eindruck haben darf, es würden auf diese

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Weise liegengebliebene oder vergessene Arbeiten nachgeliefert: Die in der ersten Lieferung (2001) vorgestellte Planung wird eingehalten. In einem „Nachwort“ kündigt der Bearbeiter ein Begleithandbuch im Oktavformat an, das ein neues Vorwort, ein vollständiges, bisher in jeder Lieferung durch Zusätze ergänztes Literaturverzeichnis und einen Index zu den zahllosen Flurbezeichnungen enthalten soll, die in den Artikeltexten mit ihren wichtigen Exkursen zu semasiologischen Parallelen (andere Wörter für dieselbe Sache), Wortbildungsweisen, Etymologien usw. genannt werden, durch den das Werk erst endgültig erschlossen und benutzbar gemacht wird. Im Rückblick auf alle fünf Lieferungen soll das, was in früheren Rezensionen (vgl. Westfälische Forschungen 56/2006, S. 694) schon – stets lobend und bewundernd – gesagt worden ist, nicht wiederholt werden.11 Eine umfassende Würdigung sollte einem die Flurnamenwelt der Nachbarschaft Westfalens einbeziehenden Symposion vorbehalten bleiben. Einige Nebenbemerkungen zum Wesen der Flurnamen seien dem Rezensenten aber jetzt schon erlaubt. Nicht alles konnte in ein notwendigerweise pauschalisierendes und (auch) große Simultan-Überblicke ermöglichendes Werk aufgenommen werden. Gerade das, was als Flur-„Name“ gelten kann, tritt gegenüber den Flur-„Bezeichnungen“ in den Hintergrund. Die Bezeichnung des Gesamtwerks als „Flurnamen“-Atlas ist insofern zwar eingeführt und gebräuchlich, aber eigentlich eine Fehlinformation, deren sich die gesamte Flurnamenforschung bewusst ist. Somit ist es keine Kritik, wenn gesagt werden muss, dass wirkliche „Namen“, also unverständliche und bedeutungslose oder bedeutungslos gewordene Laut- oder Zeichenketten, die über ihren Gegenstand nichts aussagen, sehr selten sind und jedenfalls – als Einzelpunkte – auf Atlaskarten keinen Niederschlag finden können. Damit sind nicht Bezeichnungen gemeint, die – onomatologisch dissoziiert – über ihren im Laufe der Zeit veränderten Gegenstand nichts mehr aussagen, für die Geschichte aber höchst aufschlussreich sein können. Um diese Bezeichnungen, aktuell gültig oder in der Vergangenheit gültig, geht es. Es stellt sich, in Nachbarschaft zu den Einwänden von Ramge (Rheinische Vierteljahrsblätter 67/2003) gegen den vom Bearbeiter regelmäßig benutzten Begriff der „Toponymisierung“ die noch allgemeinere Frage nach der „Onymisierung“ von Appellativa. Tritt sie ein, wenn sich der bezeichnete Gegenstand so sehr verändert hat, dass die für ihn gebrauchte Bezeichnung nichts grundlegend Erhellendes mehr oder aber Irreführendes über ihn aussagt? Was für angebliche „Bedeutungsveränderungen“ bei Quellenbegriffen (Stichwort „diachrone Semantik“: Niederdeutsches Wort 47/48, S. 113-134) abgelehnt werden muss, kann für Bezeichnungen akzeptiert werden, die ihre Bedeutungen behalten, aber in lokalem (!) Rahmen bei verändertem Charakter des Flurstücks, des Ackers, der Wiese, der Größe, der Rechts- und Nutzungsverhältnisse dennoch ihre alte, ehemals beschreibende Bezeichnung nun als Namen, als „Mikro-Toponyme“, weiter führen. Ihre Aussagekraft für die Sprach- und Wortgeschichte, Landbau-, Siedlungs- und Sozialgeschichte, (ältere) Flurorganisation, Nutzungsarten, Nutzermentalität(en), Maß- und 11

Weitere Hinweise und Rezensionen: Gisbert Strotdrees, in: Landwirtschaftliches Wochenblatt vom 13.7.2000, vom 29.3.2007 und vom 25.4.2013; LWL-Presseinfo.

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Messungssysteme ist unbegrenzt, nur durch das der Sache entsprechende Fehlen einer nachvollziehbaren Systematik bei dem meist wildwüchsigen Entstehen der Flurbezeichnungen oder -namen manchmal schwierig auszuwerten und für Rückschlüsse auf örtliche Erscheinungen zu benutzen. Flurnamen setzen zwar für das Lokale oft wichtige Glanzlichter, ihre große Bedeutung haben sie aber durch ihre flächenhafte Verteilung. Das macht den Wert der Kartendarstellungen aus. Zum Inhalt der 5. Lieferung gehören 41, zum Teil kombinierte Artikel mit mehreren Etyma, davon (in dieser Reihenfolge) 32 mit Bezeichnungen für stehende Gewässer und Feuchtgebiete (von schloot über fledder bis marsch und kolk), zwei für Durchlässe (gatt, hol, loch), sieben für Gehölze (loh, wald, horst), vier für Pflanzen und deren Wuchsformen (bent, hucht, lode), zwei für Tiere (pogge, kiwitt), drei für Kompositionen mit Präpositionen (vorder, neder usw.), einer mit Orientierungsgliedern (Himmelsrichtungen), einer für ein Fließgewässer (beke). Der Schwerpunkt liegt also auf „stehende Gewässer“. Diese Gruppe setzt die in der 4. Lieferung behandelten Namen für „Tiefenlinien und -zonen im Gelände“ fort. Das isoliert behandelte beke ,Bach‘ hätte hier gut seinen Platz finden können. Von den Verwandten aus den anderen genannten Gruppen sind in Lieferung 2/3 „Vegetation und Nutzpflanzen“ schon zusammenhängend betrachtet worden. Tiere und grammatische Probleme finden (außer „Bienenstand“ in Lieferung 2) in den vorhergehenden Lieferungen keine Berücksichtigung in Gestalt eigener Karten und Kommentare. Voss, wulf, swin, dass ,Dachs‘, lass ,Lachs‘, ge(i)te ,Geiß/Ziege‘, ko und osse usw. spielen selbstverständlich als Bestimmungswörter (Erstglieder der Flurnamen) stets, sonst allenfalls in den Kommentaren zu Karten mit anderen (oft natürlich verwandten) Themen eine Rolle. In den Kommentaren zu den Karten setzen umfassende Kenntnisse in allen Rand- und Nachbarbereichen der Onomastik und in allen einschlägigen Sparten einer weitgefassten Kulturgeschichte dem Bearbeiter nirgendwo erkennbar enge Grenzen. Für den an Zuständen, weniger an Ereignissen interessierten (Landes-)Historiker sind die Flurnamen wegen ihrer Nähe zu Quellenbegriffen und zu Ortsnamen – bis hin zur Identität mit diesen – wichtig. Das liegt für Ortsnamen „auf der Hand“, gilt aber auch für Quellenwörter, denen in Urkundenbüchern und sonstigen Veröffentlichungen – besonders mittellalterlicher Quellen – gerne meist unzureichende, heutzutage meist maschinell sortierte, reine Referenz-„Glossare“ (ohne Erläuterungen) beigegeben werden. Nehmen wir ein Beispiel aus dem Landesarchiv NRW, Abt. Westfalen, Kloster Blumenthal in Beckum, Urk. 26 (1526): Vor Johan Kote, bischöflichem Richter zu Beckum, verkaufen Berent Greue und seine Frau, borgher to Beckem, der moder vnde voert dem [!] gantsen sustere(n) des conue(n)tes vnd susterhuses ton Blome(n)dale by(n)nen Beckem ... de zo off den droppenfal langes eren huse van der zuetstrate [Südstraße] an bes vp des stades zo vorbehaltlich Bernde eynen afdraghe des waters vallende van syne(m) dake ... . Auch erlaubt Bernd den sustere(n) ..., so dat se dat secreet off de hemelike stede [Abort], vallende dor eren geuel in de zo, sollen vn(de) mogen gebruken na eren wyllen to ewyghen tyde(n) sunder Berendes ... besperynghe, hynder eder ouel moet. Würde man in einem Glossar zum Urkundenbuch die Formulierung des stades zo finden, in den oder das oder die der droppenfall eines Hauses eingeleitet wird? Dem Kon-

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text nach ist es ein ,Abwassergraben‘. Der Leser bleibt aber wegen des Wortes zo, seiner Schreibweise, wegen der Anbindung der so bezeichneten Sache und wegen des Bezeichnungsmotivs ratlos. Ein Erklärung findet sich im Artikel 133 sod des Flurnamenatlas, auch wenn dort das gewohnte ,Brunnen‘ als Interpretament angegeben wird. An die Beobachtung zur schwachen Vertretung von Tiernamen schließt sich ein Hinweis an, der dem fachlich vorbereiteten Benutzer des Atlas überflüssig erscheinen wird: Anders als – z. B. die (kreisweise) alphabetisch geordneten Namen im Westfälischen Ortsnamenbuch (bisher sechs Bände, 2009-2013) – werden Flurnamen sinnvollerweise nach Grundwörtern aufgenommen und auf die Karte gebracht. Die Bestimmungswörter sind zwar nicht beliebig mit Grundwörtern zu kombinieren, doch gibt es – je nach Nutzung, Lage oder anderen Kriterien – Affinitäten, die es manchen Bestimmungswörtern erlauben, mit verschiedenen Grundwörtern zusammenzutreten, die dadurch genauer beschrieben oder – eben – „bestimmt“ werden. Das Vorkommen eines Tiernamens als Bestimmungswort ändert nichts an der Bedeutung des Grundwortes der Flurbezeichnung. Deshalb genügt es, Karten für die Verbreitung der Grundwörter anzubieten und die über den Index ermittelbaren Bestimmungswörter in den Kommentaren zu den Karten abzuhandeln, wo sich alle Arten von weiterführenden Erörterungen bis hin zu kurzen Exkursen (z. B. zu pipe in Nr. 147) finden können. Der angekündigte Index ist nur alphabetisch zu realisieren. Die sachliche Grundordnung ist nach der Vorbereitung des Atlasbearbeiters durch Gruppengliederung und stets gleichförmige Gestaltung der Karten und Kommentare vorgegeben. Das Alphabet ist zwar für inhaltliche und sachliche Zusammenhänge kein brauchbares Ordnungssystem und Hilfsmittel, leistet aber, wenn von der Hand eines Sachverständigen, viele unschätzbare Dienste. Dem Bearbeiter gebührt für sein wichtiges Werk jeder nur erdenkliche Dank. Es ist ihm zu wünschen, dass er die noch ausstehenden Arbeiten engagiert und mit Freude tun kann. Man kann erwarten und hoffen, dass ihm selber und dem Publikum schon jetzt und spätestens nach der Indizierung noch zahlreiche Erkenntnisse und vielfältige Folgearbeiten erwachsen. Münster

Leopold Schütte

Claudie Paye, „Der französischen Sprache mächtig“. Kommunikation im Spannungsfeld von Sprachen und Kulturen im Königreich Westphalen 1807-1813 (Pariser Historische Studien, Bd. 100). Oldenbourg, München 2013. 600 S., geb., E 64,80. Vor zweihundert Jahren nahm das napoleonische Modellstaatexperiment „Westphalen“ (1807-1813) ein jähes Ende. Obwohl man das Königreich als ein historisches Kurzzeitphänomen betrachten kann, hinterließ es ein vielschichtiges gesellschaftliches Erbe, das für die gegenwärtige Geschichtswissenschaft ein reichhaltiges und spannendes Forschungsfeld bietet. Auch die nun vorliegende Dissertationsschrift von Claudie Paye wählt den Musterstaat, um der bisher leider viel zu wenig berücksichtigten Frage nach

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der kultur- und sozialhistorischen Dimension von Sprachphänomenen in Verbindung mit Aspekten der Kommunikations- und Mediengeschichte nachzugehen. Dabei untersucht sie nicht nur, wie sich das deutsch-französische Aufeinandertreffen in Westphalen sprachlich niederschlug, sondern auch die damit verbundenen Kommunikationspraktiken jenseits der Sprachen. Zudem unterstreicht Claudie Paye, dass sowohl die Sprachenals auch Kommunikationsfragen politisch kontextualisiert werden müssen, und macht diese Bedeutung bereits in ihrer Ausgangshypothese deutlich. Der Arbeit wird hier die Annahme vorangestellt, dass deutsch-französische Sprachbarrieren und -probleme von den Zeitgenossen bewusst übertrieben dargestellt wurden, obwohl sie im Alltag eigentlich keine große Rolle spielten (S. 22). Daher spiegelt sich gerade in der Sprachenfrage und Thematisierung von Sprachen die Wahrnehmung des Fremden, aber auch das Selbstverständnis und -bewusstsein in der beginnenden Nationalstaatsbildung im 19. Jahrhundert wider. Die breit angelegte Untersuchung ist in drei Hauptteile gegliedert: Teil A „Sprachenpolitik im Königreich Westphalen“, Teil B „Sprach- und Kommunikationspraktiken“ und Teil C „Sprachbewusstsein, Verständigungsschwierigkeiten, Sprachdominanz und -konflikt“. Der zweite Teil bildet mit fast 250 Seiten den quantitativen Schwerpunkt. Die Frage nach der Sprachenpolitik im ersten Teil widmet sich hauptsächlich den staatlichen Überlegungen zum Sprachgebrauch in der Verwaltung und der Regierung sowie den schulpolitischen Vorgaben. Dabei stellt Claudie Paye eine überraschende „Diskrepanz“ (S. 93) zwischen beiden Bereichen heraus. Während man für die Verwaltung von einer „verordneten Zweisprachigkeit“ oder einem „Kolinguismus“ (S. 67) ausgehen müsse, verlief die Einführung des Französischen als Unterrichtssprache weitaus zurückhaltender. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass jenseits des sprachlichen Aspekts einer an Frankreich orientierten Schulreform dennoch größte Bedeutung zugemessen wurde (S. 94). Die in diesem Zusammenhang nur sehr kurz angesprochene Schwierigkeit der Sprachpolitik lag vor allem im verhältnismäßig kurzen Bestand des Königreichs begründet, das auf die sich sehr schnell verändernden politischen Vorzeichen reagieren musste. Die eher mittel- und langfristig angelegten sprachpolitischen Vorgaben waren daher nur schwer mit den tagesaktuellen Notwendigkeiten in Einklang zu bringen. Wie sich demgegenüber die Sprach- und Kommunikationspraktiken im neuen mehrsprachigen Kontext darstellten und entwickelten, untersucht der sich anschließende zweite Teil der Arbeit. Im Fokus stehen dabei Übersetzer und Dolmetscher (S. 99), Sprachlehrbücher (S. 156), Bittschriften (S. 228), Karikaturen (S. 269) und Wappen (S. 335), aber auch „verbotene Handlungen“, die in einem als Exkurs angelegten Zwischenkapitel an einem Fallbeispiel analysiert werden (S. 296). Dabei stellt die Autorin anschaulich heraus, dass die westphälische Alltagskommunikation sowohl durch Multimedialität als auch durch Medienmischformen geprägt war, die zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit wechselten. Der wichtigste Impuls für diese Kommunikationsdynamik ging, nach Claudie Paye, dabei von der Zensur und Überwachung des westphälischen Staates aus, die somit auch zu einer Politisierung der Bevölkerung bzw. zu einem politischen Bewusstsein von Sprach- und Kommunikationshandlungen führte (z. B. S. 220 ff., 294 ff., 351). Gerade diese den Kapiteln oft vorangestellte politische

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Dimension erscheint gegenüber einem alltagspragmatischen Umgang mit Sprache zunächst oft ein wenig überspitzt, wird von der Autorin jedoch fast immer plausibel belegt, indem sie die jeweilige Sprachhandlung unter verschiedenen Perspektiven untersucht und vor allem den staatlichen Reaktionen und Vorgaben gegenüberstellt. Wie auch die gesamte Arbeit zeugt insbesondere dieser Teil von dem hohen und akribischen Rechercheaufwand und der stets strengen Quellenkritik, auf denen die Untersuchung basiert. Wünschenswert wäre allerdings an manchen Stellen eine stärkere Einbettung der analysierten Phänomene in die zeitliche Kontinuität und Entwicklung vor und nach dem Königreich Westphalen. Der dritte Teil widmet sich anschließend der Wahrnehmung des und den Reaktionen auf den Sprachgebrauch (S. 27). Anhand der Untersuchung von Problemen, Schwierigkeiten und Konflikten über Sprachen zieht die Autorin Rückschlüsse auf das Sprachdenken der Zeitgenossen (S. 353) und kommt zu dem Ergebnis, dass Sprachenfragen als soziale, kulturelle und politische Abgrenzung auf vielen Ebenen relevant waren (S. 498). Diese zumeist im Sinne einer Bestimmung des Fremden funktionalisierten Problematisierungen stehen allerdings im Gegensatz zu einem größtenteils scheinbar unproblematischen Umgang mit Sprache in der Alltagswirklichkeit. Somit unterstreicht auch dieses Kapitel die These von einer (sprachlichen) Politisierung der Bevölkerung im Königreich Westphalen und ihrem sprachlichen Bewusstsein – oder vielleicht besser: ihrer Sprachbewusstheit. Nicht zuletzt bemerkt die Autorin, dass sich trotz der wenig stringenten Sprachpolitik eine latente Dominanz des Französischen ausmachen ließ (z. B. S. 390, 498). Dies gründete nicht zuletzt darauf, dass die Frage der Sprache auch eine Frage der Macht war, wie der Titel der Arbeit bereits andeutet. Wie auch im relativ kurzen Schlusswort nochmals prägnant zusammengefasst, liegt der wissenschaftliche Ertrag der vorliegenden Arbeit insbesondere darin, dass Claudie Paye die sozial- und kulturhistorische Bedeutung der medialen Vernetzung von Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Bildlichkeit und Handlungen (S. 503) herausstellt und somit zu interessanten Ergebnissen auch für die Frage nach nationalem und politischem Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten am beginnenden 19. Jahrhundert kommt. Die leider für frühneuzeitliche Gesellschaften oft vernachlässigte Untersuchung mündlicher Kommunikationsformen zeichnet in diesem Zusammenhang das Bild einer mehrsprachigen Gesellschaft nach, für die eher kulturelle und soziale Unterschiede ein Hindernis darstellten, nationale Motive dagegen kaum eine Rolle spielten. Auch wenn sich bei mehr als 500 Seiten nur mit Vorsicht von „zu kurz kommenden“ Aspekten sprechen lässt, wäre eine Auseinandersetzung mit dem Bereich des Analphabetismus und der Bedeutung der regionalen Dialekte doch wünschenswert. Beides wird zwar an mehreren Stellen erwähnt, hier wäre es aber gerade angesichts der großen Bedeutung, die die Autorin vor allem Letzteren selbst zumisst (z. B. S. 432), eine ausführlichere Thematisierung und differenziertere Betrachtung sicher eine Bereicherung gewesen. Das gilt auch für die Untersuchung sprachtheoretischer zeitgenössischer Diskurse. Insgesamt überzeugt die Arbeit durch ihre intensive und kritische Auseinandersetzung mit einem spannenden und umfangreichen Quellenkorpus; sie ist sowohl lesenswert als auch lesbar. Dem an manchen Stellen vielleicht leicht überdimensionierten

Kultur und Sprache

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Umfang kommen die kleineren Zwischenfazits zu Gute. Zudem ist die Entscheidung, zwei Kapitel zu den Themen „Postwesen, Briefkultur und Soldatenbriefe“ sowie zum Medium „Gerüchte“ nur online als Open-Access-Veröffentlichung (einzusehen unter: http://halshs.archives-ouvertes.fr) anzubieten, sehr zu begrüßen. Fès

Anika Bethan

Daniela Twilfer, Dialektgrenzen im Kopf. Der westfälische Sprachraum aus volkslinguistischer Perspektive (Westfälische Beiträge zur niederdeutschen Philologie, Bd. 13). Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2012. 94 S., brosch., E 14,-. Subjektive Sprecherurteile zu Dialekträumen und Dialektgrenzen sind das Thema dieser für den Druck leicht überarbeiteten Magisterarbeit. Die Veröffentlichung wird durch eine sogenannten Pfeilkarte ergänzt, auf der ein Großteil der Arbeit basiert. Sieben logisch angeordnete Kapitel (einschl. Literaturverzeichnis) sowie 12 Abbildungen (reproduzierte Karten und Säulendiagramme) und fünf Tabellen strukturieren und begleiten den Text, der sich mit seinen in regelmäßigen Abständen vorkommenden Zusammenfassungen angenehm liest. Das einleitende Kapitel stellt die Studie vor, die auf zwei Fragen (aus Fragebogen 23 des Westfälischen Wörterbuchs) fokussiert, die in einer Untersuchung von Wortmann in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre gestellt worden sind. Sie betreffen die potenziell gefühlte Dialektverwandtschaft bzw. Dialektunterschiedlichkeit in Nachbarorten der Informanten, deren Antworten nun von der Autorin ausgewertet und kartiert wurden. Der Zweck der Studie ist sowohl die Feststellung von subjektiven Dialektgrenzen als auch die Überprüfung ihrer linguistischen Korrektheit. Außerdem möchte die Autorin herausfinden, welcher Ausdrucksmittel sich die Gewährspersonen bedienen, um die Dialektunterschiede zu beschreiben. Die Erforschung subjektiver Sprecherurteile, heißt es im gut dokumentierten zweiten Kapitel, stellt eine Disziplin der letzten zehn Jahre dar. Die Einbeziehung des sprachlichen Wissens von Laien-Informanten, der Wesenszug der Volks- oder − mit modernerem Namen − Perzeptionslinguistik, ist jedoch nicht neu. Die im Buch besprochene Dissertation zum nördlichen Westfalen von Heinrich Büld (1939) sowie weitere Studien aus den Niederlanden, Deutschland, Japan und den Vereinigten Staaten bezeugen dies. Dem niederländischen Sprachwissenschaftler Weijnen hat man die Pfeilmethode zur Wiedergabe empfundener Dialektverwandtschaften zu verdanken, die auch der Kartenbeilage „Dialektähnlichkeit im Urteil westfälischer Mundartsprecher“ zugrunde liegt. Die Beschreibung der ausländischen Pfeilmethodenstudien bringt ans Licht, dass die Methode nicht einwandfrei ist, wenn man sie zur Unterstützung der Dialektgeografie anwendet. Die von Laien gezogenen subjektiven Dialektgrenzen haben ja die Neigung, nicht immer mit den von Dialektologen gezogenen objektiven Dialektgrenzen zusammenzufallen. Die Autorin stellt sich (mit Goeman 1999) allerdings die Frage, ob dies den Zweck perzeptionsdialektologischer Studien darstellen sollte: „Sie können nicht nur neue Einsichten in die Sprachraumgliederung gewähren, sondern spiegeln vor allem die

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Sprachkonzepte der Sprecher wider“ (S. 18). Die erste Pfeilmethodenstudie, die dieses modernere Forschungsvorhaben vertritt, ist Kremers (1984) niederländisch-deutsche Grenzstudie. Von der modernen Forschungsdisziplin der Perzeptionslinguistik kann erst die Rede sein, nachdem Preston (z. B. 1999) die Fragestellung auf „jegliche Aussagen von Sprechern über Sprache, und vor allem das dahinter verborgene Sprachkonzept“ (S. 24) erweiterte − und zugleich beschränkte, weil perzeptionsdialektologische Daten nicht länger im Dienst traditionell-dialektologischer Befunde standen. Das dritte Kapitel bietet eine klassisch-dialektologische Beschreibung des Westfälischen. Als Erstes wird die äußere Abgrenzung der westfälischen Dialekte thematisiert. Zur Festlegung der westlichen Grenze, die das Westfälische vom benachbarten niederländischen Dialektgebiet trennt, wird leider nur das von Goossens (1973) vorgeschlagene soziolinguistische Prinzip der Überdachung in Anspruch genommen. Inzwischen ist aber bekannt, dass die in Grenzmundarten belegte sprachliche Transferenz und der daraus resultierende Dialektwandel ein linguistisches Kriterium und daher ein noch überzeugenderes Argument für die Grenzziehung bieten.12 Die zwei wahrnehmungsdialektologischen Fragen, die im Vorfeld zum Westfälischen Wörterbuch zwischen 1975 und 1978 gestellt wurden und die die im vierten Kapitel präsentierte Materialbasis ausmachen, haben 1.461 (von insgesamt ca. 2.000) Informanten (schriftlich) beantwortet. Hinsichtlich des soziologischen Profils dieser Personen ist leider nur bekannt, dass sie vermutlich der älteren Generation angehörten. Der kartierte (subjektive) Zustand ist also der des 20. Jahrhunderts. Dem Leser sollten allerdings mehr Einblicke in Methodologie gewährt werden, auch wenn die Datenbasis ein Fait accompli ist. So dürfte etwa anhand der Informantennamen die Geschlechterverteilung genau ermittelbar sein oder könnte ein Adressenbestand über die Zahl der Informanten pro Ort Aufschluss geben. Auch wenn diese Angaben nicht vorhanden sein sollten, hätte das Nachrichtenwert. Und auch zu einem fotografischen Beispiel eines ausgefüllten Fragebogens (oder der Antworten zu den zwei relevanten Fragen) würde man nicht Nein sagen. Das Kapitel erläutert schließlich die Verarbeitung der Daten zur Pfeilkarte des Westfälischen und kritisiert einige (weitere) Schwächen der Datensammlung: die ca. 600 fehlenden Belege, die − wenigen − sprachwissenschaftlich geschulten Informanten und die Betonung des westfälischen Charakters der Befragung. Es ist tatsächlich merkwürdig, dass kein einziger Pfeil auf der Karte die Staatsgrenze überquert. Kapitel 5 untersucht die Natur der Sprecherurteile (Ausführlichkeit, Konzeption) und das sich daraus ergebende Kartenbild für jeden der vier westfälischen Mundarträume (Westmünsterländisch, Münsterländisch, Süd- und Ostwestfälisch). Für das Münsterund Westmünsterländische springen zwei voneinander getrennte, nord-süd-orientierte Mundartencluster ins Auge: im Westmünsterland zwischen Ahaus und Bocholt und im Münsterland das Kreisareal Steinfurt-Coesfeld. Das Lippe-Nordufer verfügt mit den Altkreisen Lüdinghausen und Beckum über ebenfalls zwei relativ geschlossene Dialektlandschaften. Eine Analyse der Antworten, bei denen nicht einfach Orte angegeben wer12

Vgl. Ludger Kremer, Standardsprachliche Transferenz und die Definition niederländischer und/oder deutscher Dialekte, in: Frans Daems/Louis Goossens (Hg.), Een spyeghel voor G. Jo Steenbergen. Huldealbum aangeboden bij zijn emeritaat, Leuven 1983, S. 179-194; Tom F.H. Smits, Strukturwandel in Grenzdialekten. Die Konsolidierung der niederländisch-deutschen Staatsgrenze als Dialektgrenze, Stuttgart 2011.

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den, ergibt, dass viele Informanten aus dem (West-)Münsterland sich bei der Dialektähnlichkeitsfrage auf ein größeres Areal beziehen, was den inneren Zusammenhang illustrieren dürfte. Zur Angabe von Dialektunterschiedlichkeit nennt man im münsterländischen Dialektraum mehrheitlich eine geografische Größe (z. B. die Lippe) mit trennender Wirkung. Diese sämtlichen Erkenntnisse scheinen übrigens mit den objektiven Dialektbeschreibungen übereinzustimmen. Im darunter gelegenen und global dichter besiedelten südwestfälischen Gebiet zeichnen sich entlang der Lippe sowie der Ürdinger Linie einheitliche Areale ab, die den gefühlten Abstand zum Münsterländischen bzw. zum Niederrheinischen illustrieren. Innerhalb des Südwestfälischen verzeichnen mehrere Kreisgebiete eindeutig (subjektive) Dialektkonvergenz: der Altkreis Soest, die Kreise Unna und Iserlohn, der EnnepeRuhr-Kreis und die Kreise Olpe, Meschede und Brilon. Die konkreten Informantenhinweise enthielten auch jetzt vielfach einen Verweis auf ein größeres Areal und ebenfalls auf eine geografische Größe wie ein Tal oder einen Fluss (diesmal für beide Fragen). Auch werden politische oder religiöse Trennungsfaktoren genannt. Anhand des südlichen Südwestfälischen wird die Übereinstimmung mit dem Erkenntnisstand der Sprachgeografie überprüft − und festgestellt. Im Ostfälischen zuletzt lassen sich im Norden (Herford, Halle, Bielefeld, Lemgo-Detmold) vergleichbare Cluster finden wie in den anderen westfälischen Gebieten. Ansonsten treten die Dialektareale fragmentierter in Erscheinung, von einzelisoliert (Mundarten an der Südostgrenze) bis in Kleingruppen isoliert (Mundarten an der Nordostgrenze). Wie schon im Südwestfälischen ist ein größeres Gebiet die Antwort auf die Frage nach Dialektähnlichkeit und dient eine politische oder geografische Größe zur Angabe von Dialektunterschieden. Die exemplarisch näher analysierte Sprachgeografie der Altkreise Bielefeld, Halle und Herford deckt sich mit den subjektiven Angaben. Zum Schluss wird das westfälische Areal übergreifend ins Blickfeld gerückt. Anhand der Benrather Linie, der Isoglossen der westfälischen Brechung, der Reflexe von mnd. e¯2 und o¯2, der Diphthongierung der hohen Langvokale und der Hiattilgung wird wieder die Parallelität mit existierenden dialektologischen Abgrenzungen mehr oder (in einem seltenen Fall) weniger erfolgreich dargestellt. Aber eigentlich fragt man sich auch hier warum, nachdem das zweite Kapitel doch ein Plädoyer gegen diese Vergleiche gehalten hat. Ein Vergleich zur Bestätigung der Sprachgeografie scheint allerdings genau das zu sein, was die Arbeit bieten will. So auch nochmals bei der abschließenden Besprechung der (Natur der) Antworten, die über die bloße Nennung eines Ortes hinausgehen: „Die Informanten nennen zwar nicht ... konkrete westfälische Sprachräume, in denen man genauso spreche, doch die Kommentare zeigen, dass sich durch die Betrachtung der Aussagen sprachwissenschaftlicher Laien nicht nur kleinere Sprachregionen ergeben. Die Dialektsprecher sind also durchaus im Stande, ihre sprachliche Umgebung abstrahiert zu betrachten“ (S. 79). Diese größeren Areale werden dann entweder unter Bezugnahme natürlicher Elemente abgegrenzt − und in deren Ermangelung durch politische Entitäten definiert −, oder die Sprecher berufen sich auf phonologische Argumente − so wie die traditionelle Dialektgeografie. Die Arbeit, vom sechsten Kapitel mit einer Zusammenfassung und mit weiterführenden Forschungsdesideraten abgeschlossen, scheint also auf die Frage nach dem Huhn

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oder dem Ei hinauszulaufen. Entweder ist die Dialektologie das Huhn, das seine Gene, d. h. seine der Öffentlichkeit erschlossenen Befunde, im volkslinguistischen Ei wiedererkennt, oder es betrifft ein „embryonal“, aber in natürlicher Weise allgegenwärtiges Sprachwissen, das die Dialektologie (bloß?) in wissenschaftlicher Weise wiedergibt. Ob über den objektiven oder den subjektiven Weg, beide führen zur gleichen sprachlichen Wirklichkeit. Allerdings beantwortet die Dialektologie, traditioneller wie moderner Prägung, noch tausenderlei andere Fragen. Antwerpen

Tom Smits

Nachbarregionen Gerd Steinwascher/Detlef Schmiechen-Ackermann/Karl-Heinz Schneider (Hg.), Geschichte Niedersachsens, Bd. 5: Von der Weimarer Republik bis zur Wiedervereinigung (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, Bd. 36). Hahnsche Buchhandlung, Hannover 2010. 1390 S., geb., E 59,-. Wenn die Handlichkeit ein wesentliches Kriterium für ein Handbuch wäre, müsste das vorliegende Werk mit seinen knapp 1.400 Seiten als gescheitert betrachtet werden. Es ist jedoch eine kompakte, dennoch umfassende Darstellung seines Themas und zuverlässige Wiedergabe des Forschungsstandes. In diesem Sinne wird es den Ansprüchen an ein Handbuch sehr wohl gerecht. Es handelt sich um ein Sammelwerk, zu dem insgesamt 15 Mitglieder der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen beigetragen haben. Bemerkenswert ist seine Entstehungsgeschichte, denn die für das Gesamtwerk Verantwortlichen der Historischen Kommission sahen sich gezwungen, langjährige Planungen für den zeitgeschichtlichen Band abzuschreiben und erst 2003 eine veränderte Konzeption in die Hände neuer Herausgeber zu legen. Bis zum Erscheinen 2010 vergingen − rekordverdächtig − nur sieben Jahre. Die Politikgeschichte wird in fünf chronologisch abgegrenzten Beiträgen behandelt. Den Auftakt bildet die Darstellung der Weimarer Demokratie aus der Feder des hauptverantwortlichen Herausgebers Gerd Steinwascher. Schwerpunkte setzt er der Forschungslage folgend in der Revolutionszeit und in der Endphase der Republik, mit einer überzeugenden Darstellung der Ursachen für die frühen Erfolge der Nationalsozialisten in der Region. Die Entwicklung in den vier Territorien, die 1946 das Land Niedersachsen bildeten, wird weitgehend additiv dargestellt, ohne den umfassenden Einfluss Preußens aus dem Blick zu verlieren. Im Abschnitt ,Anmerkungen zur Weimarer Gesellschaft’ (S. 158-173) bietet Steinwascher eine gelungene Skizze der kulturellen Modernisierung dieser Jahre und verdeutlicht, dass diese auch die norddeutsche Provinz erreichte. Mit genau 250 Seiten Umfang ist der Beitrag von Detlef Schmiechen-Ackermann über die NS-Zeit nicht nur der längste Einzelbeitrag, er ist die zentrale Darstellung des gesamten Bandes. Zweifelsfrei ist die NS-Zeit die am gründlichsten erforschte Periode

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der deutschen Geschichte. Das „Dritte Reich“ stand im Mittelpunkt des Interesses ganzer Generationen von Zeithistorikern, schon aus diesem Grund ist es angemessen, diesen Zeitabschnitt im Handbuch so zu gewichten. Wer sich aufmerksam durch die detaillierte Abhandlung arbeitet, gewinnt den Eindruck, dass die Darstellung einem besonderen Anspruch begegnet und findet diesen am Schluss bestätigt: Schmiechen-Ackermann versteht seinen Beitrag als Zwischenbilanz der Forschung, da bislang eine monographische Gesamtdarstellung der NS-Zeit im Raum Niedersachsen fehlt (S. 452, Anm. 952). Die Breite und Tiefe der Darstellung ist aber auch aus inhaltlichen Gründen gerechtfertigt: Die NS-Zeit kann als ,Inkubationszeit’ der Landesgründung betrachtet werden. Im Machtgerangel der NS-Funktionäre spielte die ältere, völkisch konnotierte Idee eines „Niedersachsenlandes“ zwar keine Rolle, aber ohne die Erosion der etablierten Verwaltungsstrukturen und der dynastisch geprägten Vorgängerstaaten im polykratischen NS-Staat wäre die Landesgründung 1946 unter der Ägide der britischen Besatzungsmacht wohl kaum so schnell und fast widerstandslos möglich gewesen. Schmiechen-Ackermann gelingt die Zwischenbilanz eindrucksvoll. Souverän beherrscht er den Forschungsstand und bricht die Erkenntnisse der NS-Forschung auf die regionale Ebene herunter. Genauso überzeugend weiß er die Ergebnisse von lokalen Studien zu kontextuieren und dabei Besonderheiten und Exemplarisches herauszuarbeiten. In einem ersten Gliederungsschritt untersucht er die Machteroberungs- und Konsolidierungsphase in den drei „niedersächsischen“ NS-Gauen Osthannover, Südhannover-Braunschweig und Weser-Ems im Zeitraum von 1930 bis 1934. Im zweiten Abschnitt widmet er sich der Entstehung und Entwicklung der drei Gaue unter besonderer Berücksichtigung ihres Führungspersonals. Die Parteiorganisation war vielfach nicht deckungsgleich mit staatlichen bzw. kommunalen Grenzen, das daraus resultierende Kompetenzgerangel wurde mit der Einrichtung der Reichsstatthalter 1933 in wieder anderen Zuständigkeitsgrenzen weiter verschärft. Die niedersächsischen Gaue können geradezu als Musterbeispiel für Kompetenzüberschneidungen und Polykratie gelten (S. 317). Kapitel 3 thematisiert ,Gesellschaft, Kultur und Alltag im NS-Staat 1933-1939’ unter der Leitfrage nach Realisierung der Volksgemeinschaftsideologie. Der vierte Abschnitt beschreibt die Radikalisierung der NS-Herrschaft während des Krieges mit den beispiellosen Verbrechen, die auch im Reichsgebiet begangen wurden, so etwa im niedersächsischen Bergen-Belsen. Schmiechen-Ackermann porträtiert einen Raum, der für die Machteroberung der NSBewegung von großer Bedeutung war. In den protestantischen ländlichen Gebieten Norddeutschlands erzielten die Nationalsozialisten ihre größten Wahlerfolge, in Braunschweig und Oldenburg kamen sie frühzeitig an die Macht. Dementsprechend aufmerksam nahmen die Nationalsozialisten diese Region ideologisch und politisch ins Visier und inszenierten hier aufwendig ihre völkisch-agrarromantische Blut- und Bodenideologie („Reichsbauernstadt“ Goslar, Erntedankfeiern auf dem Bückeberg, Stedingsehre). Allerdings erfuhr diese Ausformung nationalsozialistischer Ideologie – und damit ihre Vorzeigeregion Niedersachsen – durch die Kriegsvorbereitung mit ihrer technokratischen Industrialisierungspolitik einen drastischen Bedeutungsverlust. In Salzgitter,

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Wolfsburg und Wilhelmshaven wurden großindustrielle Experimente gestartet, die wirtschaftlich das spätere Bundesland nachhaltig prägen sollten. Schmiechen-Ackermann interpretiert Niedersachsen als prototypische Region des NS-Staats, die sich bedingt durch ihre Heterogenität, ihr Nebeneinander von geschlossenen Milieus und durch ihre differenzierte topografische, wirtschaftliche und politische Gliederung als Untersuchungsraum für gesamtgesellschaftliche Entwicklungen anbietet. Er selbst hat einen großen Forschungsverbund der niedersächsischen Universitäten initiiert, der gegenwärtig die nationalsozialistische Volksgemeinschaftspolitik in zahlreichen regionalen Fallstudien untersucht (www.foko-ns.de). Darin liegt die größte Einschränkung seines exzellenten Beitrages: Er wird mutmaßlich der erste des Bandes sein, der aufgrund der zu erwartenden Forschungsergebnisse wesentlich aktualisiert werden muss. Den Abschnitt über die Nachkriegszeit, die Landesgründung und die Politik im ersten Jahrzehnt der Landesgeschichte steuerte Dietmar von Reeken bei. Er dokumentiert den Einfluss der Niedersachsen-Lobby, des Niedersächsischen Heimatbundes und der hannoverschen Provinzialverwaltung, die bereits in der Weimarer Zeit aktiv war, macht zugleich aber deutlich, dass die Landesgründung in erster Linie vollzogen wurde, weil Größe und Zuschnitt der neuen Einheit den Briten gut ins Konzept der Verwaltung ihrer Besatzungszone passten. Die Lage in der Nachkriegszeit war mehr als prekär: Der Nordwesten des Reiches hatte unter dem Bombenkrieg stark gelitten, Flüchtlingsströme drängten ins Land bzw. wurden in die dünn besiedelten Regionen im nördlichen und westlichen Niedersachsen gelenkt. Eine konsistente Landesverwaltung musste erst aufgebaut werden. Unter diesen Bedingungen ist es schon erstaunlich, dass eine sukzessive Etablierung überhaupt gelang. Dieser Prozess war zählebig und dauerte mindestens bis zum Ende der 1950er Jahre, die mit Recht als Jahrzehnt der „verzögerten Normalisierung“ (Günter Trittel, S. 681) gelten. Die Landesregierungen wurden fast durchgängig von der SPD geführt, was hauptsächlich in der Zerstrittenheit des bürgerlichen Lagers begründet war, das durch konfessionellen Dissens und regionale Sonderentwicklungen (Welfenpartei DP) geschwächt wurde. Vor diesem Hintergrund spielten rechtsradikale Gruppierungen in der Landespolitik eine größere Rolle, die von den bürgerlichen Parteien umworben, aber nicht dauerhaft eingebunden werden konnten. Im Extremfall SRP musste sogar das Bundesverfassungsgericht mit einem Parteienverbot einschreiten. An dieser Stelle kann die Gliederung des Handbuches nicht voll überzeugen. Die beschriebenen Sonderentwicklungen greifen weit in den Folgebeitrag von Daniela Münkel aus, der die politische Geschichte von 1955 bis 1976 präsentiert. Der positive Gesamteindruck wird jedoch nicht entscheidend geschmälert, da beide Autoren ihre Aufgabe sehr gut lösen. Münkels Beitrag stellt überzeugend den Wandel der 1960er Jahre dar, der sich in Niedersachsen in den prägenden Ministerpräsidenten personifizierte, besonders deutlich im Übergang von der autokratischen Führungsfigur Hinrich Wilhelm Kopf zum diplomatischen, kommunikativen Führungsstil Georg Diederichs (vgl. Porträts S. 705f. und 711f.). Politisch schlug sich der Wandel in der Etablierung des Drei-Parteiensystems aus SPD, CDU und FDP im niedersächsischen Landtag nieder und in einer ambitionierten Reformpolitik der Regierungen, deren Durchschlagskraft jedoch durch permanente

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Finanzprobleme beeinträchtigt wurde. Ministerpräsident Alfred Kubel, der Diederichs nach der Landtagswahl 1970 ablöste, setzte die Reformanstrengungen fort und konnte 1974 in einer Koalition mit der FDP eine knappe Mehrheit verteidigen, die jedoch ins Wanken geriet, als die Strukturkrise der niedersächsischen Wirtschaft durch den Ölpreisschock 1973 noch verschärft wurde. Kubel trat 1976 aus persönlichen Gründen zurück; zu seinem Nachfolger wurde unter nebulösen Umständen Ernst Albrecht als erster Ministerpräsident der CDU gewählt, obgleich er zunächst keine parlamentarische Mehrheit für die Regierungsbildung hatte. Mit der „Ära Albrecht“ (1976-1990) befasst sich Manfred von Boetticher in seinem bemerkenswerten Beitrag, denn hier schreibt ein leitender Archivdirektor Zeitgeschichte, der wegen der Sperrfristen nur wenige Quellen aus dem eigenen Haus verwenden durfte. Ein solcher Beitrag wird wohl zwangsläufig besonders kritisch gelesen, und ob von Boettichers Analysen langfristig Bestand haben, muss abgewartet werden. Obwohl seine Darstellung der neuen sozialen Bewegungen streckenweise holprig wirkt (S. 739-742), löst er die schwierige Aufgabe insgesamt achtbar. Seine Nähe zur früheren Landesregierung bleibt nicht verborgen, etwa in den Passagen, in denen er die Deutschlandpolitik der CDU sehr positiv darstellt (S. 795-800). Gleichzeitig macht er aber aus seinem professionellen Unbehagen keinen Hehl, wenn es um die übereifrige, manches Mal die Grenzen des Seriösen überschreitende Geschichtspolitik Albrechts und seines Stellvertreters Hasselmann geht (S. 800-806). Die Darstellung der Wirtschaftsgeschichte Niedersachsens wurde unter zwei Autoren und einer Autorin aufgeteilt: Hans-Werner Niemann übernahm den Zeitraum von 1918 bis 1945, Karl-Heinz Schneider die Nachkriegszeit bis zur Krise der frühen siebziger Jahre, Gudrun Fiedler die neueste Zeit. Niemann und Schneider präsentieren systematische und empirisch breit abgestützte Analysen. Sie stellen überzeugend die dynamische Entwicklung vom rückständigen Agrarland zur modernen Dienstleistungsgesellschaft vor, die Niedersachsen im 20. Jahrhundert trotz bleibender Entwicklungsrückstände insgesamt in beeindruckender Manier durchlaufen hat. Der Beitrag von Fiedler schließt sich positiv an, unterliegt aber zunehmend dem Dilemma der Zeitgeschichtsschreibung, die sich der Gegenwart annähert; es fehlt an manchen Stellen kritische Distanz. Ob die positive Tendenz in der niedersächsischen Wirtschaft der Gegenwart ursächlich auf die Wirtschaftspolitik des Landes zurückzuführen ist, wird sicher mit größerem Abstand genauer zu untersuchen sein. Die einschlägige Darstellung bei Fiedler (S. 957-962) ist sehr hochgestimmt. Wie man beispielsweise über die disparate Entwicklung der Agrarwirtschaft schreiben kann, ohne die Schattenseiten der industriellen Produktion auch nur zu erwähnen, bleibt dem Rezensenten unverständlich. Auf die chronologisch gegliederten Beiträge zur Politik-, Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte folgen ergänzende sozial- und kulturgeschichtliche Längsschnittabhandlungen: zunächst eine Darstellung der Migrationsgeschichte von Jochen Oltmer, die ungeachtet mancher Redundanzen eindrucksvoll die Vielschichtigkeit von Ursachen und Folgen der Bevölkerungsbewegungen konturiert und damit den profilierten Forschungsschwerpunkt der Universität Osnabrück (IMIS) für das Handbuch fruchtbar macht. Die Entwicklung der Kirchen in Niedersachsen wird konfessionell säuberlich getrennt von zwei profilierten Experten auf diesem Gebiet dargestellt, nämlich die pro-

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testantische Seite von Hans Otte (Landeskirchenarchiv Hannover/Universität Göttingen) und die katholische von Joachim Kuropka (Emeritus der Universität Vechta). Beide zeichnen mit hohem Aufwand die vielfach verwickelte institutionelle Kirchengeschichte nach, die Einordnung in die gesellschaftliche Entwicklung fällt hingegen knapp aus. Rechnet man noch den Beitrag über die ,Juden in Niedersachsen’ von Marlis Buchholz und Hans-Dieter Schmid hinzu, widmet das Handbuch den religiösen Gemeinschaften genau 200 Seiten, womit dieser gesellschaftliche Bereich sehr ausführlich vertreten ist. Überschneidungen mit den politikgeschichtlichen Beiträgen konnten nicht vermieden werden. Insbesondere der in Niedersachsen relativ marginale Katholizismus wirkt überrepräsentiert. Kuropkas Darstellung der Katholiken im Nationalsozialismus ist vom Gestus der Verfolgten geprägt (S. 1123-1145) und fällt gegenüber den sachlichen Analysen von Schmiechen-Ackermann (S. 379-386) ab. Abgerundet wird der Band durch zwei im engeren Sinne kulturgeschichtliche Beiträge. Thomas Bardelle stellt sich der schwierigen Aufgabe, ,Kunst und Kultur in Niedersachsen von der Weimarer Republik bis zur Wiedervereinigung’ auf vierzig Seiten darzustellen. Er grenzt den Inhalt seines Beitrages ein, indem er sich explizit auf die Hochkultur beschränkt und sowohl Alltags- und Massenkultur wie auch die Bereiche Bildung und Wissenschaft ausklammert (S. 1223). Es werden bildende und darstellende Kunst, Literatur, klassische Musik, Museen und kulturpolitische Tendenzen thematisiert, die Beispiele häufig aus Hannover gewählt, die anderen Zentren des Landes jedoch nicht übergangen. Die Darstellung ist weitgehend personen- und institutionenbezogen. Diesen Rahmen füllt der Beitrag gut aus und wird dem Überblicksanspruch eines Handbuchs gerecht. Birte Rogacki-Thiemann widmet sich dem Bereich Städtebau und Architektur. Spektakuläre Aufgaben für Planer und Architekten waren die während der NS-Zeit gegründeten Industriestädte Salzgitter, Wolfsburg und das stark erweitert geplante Wilhelmshaven. Nicht weniger herausfordernd waren die Probleme des Wiederaufbaus nach 1945. Die stark zerstörten Zentren Hannover und Braunschweig entwickelten hierfür Konzepte mit massiven Eingriffen in die bereits schwer geschädigte Substanz der alten Stadtkerne. Insbesondere in Hannover verfolgte man die Linie, die Stadt autogerecht zu gestalten und plante dafür große Areale der Innenstadt am Reißbrett neu. Leider erfährt man über einzelne personelle Kontinuitäten hinaus wenig darüber, welche Rolle die bereits im NS-Staat wirksamen und einflussreichen Raumplaner und Architekten in diesem Zusammenhang spielten, obgleich mit der Akademie für Raumforschung und Landesplanung eine der wichtigsten Institutionen in Hannover angesiedelt war. Ungeachtet der genannten Einschränkungen gewähren die beiden kulturgeschichtlichen Beiträge interessante Einblicke, gleichwohl wirken sie isoliert, wie angeflickt. Dieser Eindruck berührt das Grundproblem einer aus Einzelbeiträgen zusammengefügten Gesamtdarstellung. Auch die Abgrenzung der wirtschaftsgeschichtlichen Teile von den politik- und gesellschaftsgeschichtlichen Abschnitten ist problematisch. Letztlich müssen dafür pragmatisch Kompromisse gesucht werden, die im vorliegenden Band in insgesamt vertretbarer Weise gefunden worden sind. Abgeschlossen wird das Handbuch durch einen Anhang, der Wahlergebnisse und die Landesregierungen auflistet, sowie ein

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ausführliches Register, das über manche Probleme der Stoffgliederung und der Abgrenzung der Beiträge hinweghilft. Für ein neugebildetes Land, das so schwerwiegende Strukturprobleme zu bewältigen hatte, wie sie Niedersachsen in der Nachkriegszeit plagten, dürfte die Identitätsfrage von großer Bedeutung gewesen sein. Von Reeken hat dieses Problem thematisiert. Er arbeitet heraus, dass die Integration des Landes letztlich wirtschaftlich gelang und weniger durch die angestrengte Identitätsstiftungspolitik der Regierungen. Leider haben die folgenden Beiträge diese Frage nicht weitergeführt. So bleibt etwa der erstaunliche Umstand unberücksichtigt, dass sich noch 1975 Mehrheiten in Volksabstimmungen dafür aussprachen, die alten Länder Oldenburg und Schaumburg-Lippe wieder selbstständig werden zu lassen. In diesem Punkt bleibt das Handbuch merkwürdig blass. Ein weiteres Defizit ist die − gemessen an seiner Bedeutung in Niedersachsen − dürftige Berücksichtigung des ländlichen Raumes. Zwar widmen sich Niemann und Schneider ausführlich der Landwirtschaft, aber sozialgeschichtliche Analysen der Entwicklung von Klassen und Schichten auf dem Land fehlen, sind allerdings auch für den urbanen Raum nur sporadisch zu finden. Diese wenigen gravierenden Mängel, die auch Forschungslücken widerspiegeln, schmälern den insgesamt gelungenen Versuch, die Zeitgeschichte Niedersachsens im Überblick zu präsentieren, nicht nachhaltig. Dem Band wäre es zu wünschen, dass er sich in naher Zukunft in ein einigermaßen kohärentes Gesamtwerk einfügen kann. Der ,Geschichte Niedersachsens’, die von Hans Patze bereits in den 1970er Jahren begründet wurde, fehlen noch der Band über die Kulturgeschichte des Mittelalters sowie die Darstellung des 19. Jahrhunderts. Spätestens wenn diese vorliegen, sollte dem Leser angesichts der Textmassen auch eine elektronische Version angeboten werden. Im digitalen Zeitalter und in Anbetracht der sich weiter differenzierenden Geschichtswissenschaft ist das vorliegende Werk vermutlich der letzte Versuch einer gedruckten Gesamtdarstellung. Niedersachsen steht mit dem fünfbändigen Handbuch im Ländervergleich an der Spitze. Ein ähnlich breit angelegtes und noch halbwegs aktuelles Werk ist allein das ,Handbuch der baden-württembergischen Geschichte’. Für Westfalen etwa oder gar für Nordrhein-Westfalen ist eine vergleichbare Darstellung nicht in Sicht. Münster

Klaus Schultze

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Autorinnen und Autoren

AUTORINNEN UND AUTOREN

Bellers, Jürgen, Prof. Dr., Auf der Hohenfuhr 37, 57074 Siegen Bernard, Birgit, Dr., Viktoriastraße 41, 69126 Heidelberg Bethan, Anika, Dr., Université Sidi Mohammed Ben Abdallah Fès, Faculté des Lettres Dhar, El Mehraz, Département d’Allemand, B.P. 50, 30050 Fès (Maroc) Beyer, Burkhard, Dr., Historische Kommission für Westfalen, Salzstraße 38, 48143 Münster Blank, Ralf, Dr., Historisches Centrum Hagen, Eilper Straße 71-75, 58091 Hagen Brautmeier, Jürgen, Dr., Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM), Zollhof 2, 40221 Düsseldorf Brieske, Vera, Dr., Altertumskommission für Westfalen, An den Speichern 7, 48157 Münster Brunner, Benedikt, M.A., Exzellenzcluster für „Religion und Politik“, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20-22, 48143 Münster Cantauw, Christiane, M.A., Volkskundliche Kommission für Westfalen, Scharnhorststraße 100, 48151 Münster Conrad, Horst Dr., Staufenstraße 44, 48145 Münster Damberg, Norbert, M.A., Zum Nesberg 22, 45721 Haltern am See Denkler, Markus, Dr., Kommission für Mundart- und Namenforschung Westfalens, Schlossplatz 34, 48143 Münster Dethlefs, Gerd, Dr., LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Domplatz 10, 48143 Münster Ditt, Karl, Dr., LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Karlstraße 33, 48147 Münster Dussel, Konrad, Prof. Dr., St. Georg-Straße 5, 76694 Forst Esch, Jörn, Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg, Fakultät IV, DFG-Graduiertenkolleg „Selbst-Bildungen“, 26111 Oldenburg Fehn, Klaus, Prof. Dr. (em.), Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Geographisches Institut, Bereich Historische Geographie, Meckenheimer Allee 166, 53115 Bonn Frese, Matthias, Dr., LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Karlstraße 33, 48147 Münster Frie, Ewald, Prof. Dr., Fachbereich Geschichtswissenschaft der Universität Tübingen, Seminar für Neuere Geschichte, Wilhelmstraße 36, 72074 Tübingen Gewitzsch, Dieter, Südkirchener Straße 106, 59379 Selm Goch, Stefan, Prof. Dr., Birkenkamp 1, 45891 Gelsenkirchen Gödden, Walter, Prof. Dr., LWL-Literaturkommission für Westfalen, Salzstraße 38, 48143 Münster Grothues, Rudolf, Dr., Geographische Kommission für Westfalen, Heisenbergstraße 2, 48149 Münster Hecht, Michael, Dr., Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Historisches Seminar, Abteilung für Westfälische Landesgeschichte, Domplatz 20-22, 48143 Münster Hilger, Susanne, Prof. Dr., Universität Düsseldorf, Abteilung für Wirtschaftsgeschichte, Universitätsstraße 1, 40225 Düsseldorf

543 Hunger, Ulrich, Dr., Am Rischen 5 c, 37083 Göttingen Kersting, Franz-Werner, Prof. Dr., LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Karlstraße 33, 48147 Münster Kirsch, Wolfgang, Dr., Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Freiherr-vom-Stein-Platz 1, 48147 Münster Klötzer, Ralf, Dr., Langeworth 71, 48159 Münster Köster, Markus, Prof. Dr., LWL-Medienzentrum für Westfalen, Fürstenbergstraße 14, 48147 Münster Krüger, Michael, Prof. Dr., Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Institut für Sportwissenschaft, Sportpädagogik und Sportgeschichte, Horstmarer Landweg 62b, 48149 Münster Kuropka, Joachim, Prof. Dr., Institut für Geistes- und Kulturwissenschaften, Universität Vechta, Driverstraße 22, 49377 Vechta Küster, Thomas, Dr., LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Karlstraße 33, 48147 Münster Lensing, Helmut, Dr., Ricarda-Huch-Straße 13, 48268 Greven Lönnecker, Harald, Dr. Dr., Im Winkel 7, 26629 Großefehn-Spetzerfehn Meiners, Ole, Schlossplatz 38, 48143 Münster Minner, Katrin, Dr., Gerhart-Hauptmann-Straße 6, 48155 Münster Mühlenberg, Jutta, Dr., Rostocker Straße 72, 20099 Hamburg Peiffer, Lorenz, Prof. Dr., Leibniz-Universität Hannover, Institut für Sportwissenschaft, Am Moritzwinkel 6, 30167 Hannover Reininghaus, Wilfried, Prof. Dr., Schmiedekamp 51, 48308 Senden Schultze, Klaus, M.A., LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Karlstraße 33, 48147 Münster Schütte, Leopold, Dr., Piusallee 58, 48147 Münster Smits, Tom, Dr., Universiteit Antwerpen, Prinsstraat 13, 2000 Antwerpen (Belgien) Spicker, Verena Christina, Agnes-Bernauer-Straße 30, 80687 München Stieglitz, Olaf, PD Dr., Universität zu Köln, Historisches Institut/Anglo-Amerikanische Abteilung, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln Strotdrees, Gisbert, Töpferstraße 59, 41865 Münster Strüver, Anke, Prof. Dr., Universität Hamburg, Institut für Geographie, Bundesstraße 55, 20146 Hamburg Stütz, Katharina, Historische Kommission für Westfalen, Salzstraße 38, 48143 Münster Trox, Eckhard, Dr., Museen der Stadt Lüdenscheid, Sauerfelder Straße 14-20, 58511 Lüdenscheid Wahlig, Henry, M.A., Eichstraße 33, 30161 Hannover Walter, Bernd, Prof. Dr., LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Karlstraße 33, 48147 Münster Watermeier, Sebastian, Historische Kommission für Westfalen, Salzstraße 38, 48143 Münster Weber, Bernd, Dr., Franz-Marc-Weg 20, 48165 Münster Weidner, Marcus, Dr., LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Karlstraße 33, 48147 Münster Wick, Uwe, Zum Oberhof 8, 45307 Essen

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.. WESTFA LISCHE FORSCHUNGEN Band 61 Themenschwerpunkt (hg. von Michael Prinz): Aus der Hand in den Mund – Selbstversorgung als Praxis und Vision in der modernen Gesellschaft Die Erwerbsverhältnisse und Lebensgrundlagen der modernen Industriegesellschaft im 20. Jahrhundert veränderten sich bei weitem nicht so eindimensional, wie es sich Geschichtstheoretiker und Sozialwissenschaftler um 1900 vorstellten. Zwar ging die Zahl selbständiger Bauern langfristig zurück, doch parallel zur Verstädterung und zur Ausbreitung der Konsumgesellschaft bebauten immer mehr Arbeitnehmer ein Stück Land, um sich selbst mit Lebensmitteln zu versorgen. Diese Form der Subsistenzwirtschaft entwickelte sich im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts zu einem Massenphänomen. In vielen Regionen – dem Saarland, Südwestdeutschland, dem Ruhrgebiet, Ostwestfalen − verdichtete sich die Verbindung von Lohnarbeit und Selbstversorgung zu markanten, langfristig stabilen Konstellationen. Dabei blieb die Selbstversorgung keine Privatsache. Vertretern der Kirchen, konservativen Sozialreformern, selbst Vertretern der Arbeiterbewegung galt sie als Voraussetzung erstrebenswerter wirtschaftlicher und sozialer Krisenfestigkeit. Die Beiträge des Themenschwerpunktes beschreiben den Umfang des beschriebenen Phänomens, seine Wurzeln und langfristige Entwicklung. Sie gehen diesem Prozess in verschiedenen Regionen nach, vor allem dort, wo diese Kombination zu einem „Markenzeichen“ regionaler Wirtschafts- und Sozialstruktur wurde. Der Band beschäftigt sich darüber hinaus mit der Politisierung des Phänomens, mit dem Versuch, eine Alternative zum Aufstieg der modernen Massenkonsumgesellschaft zu entwickeln, den Widersprüchen, aber auch den eigentümlichen Verbindungen, die sich zwischen den Visionen der Knappheit und des Überflusses ergaben. 2011, X und 694 Seiten, Efalin-Einband, 69,60 E Ermäßigter Abonnementpreis 52,20 E ISBN 978-3-402-15394-9

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Band 62

.. WESTFA LISCHE FORSCHUNGEN Band 62 Themenschwerpunkt (hg. von Rainer Pöppinghege): Mensch und Tier in der Region Das Nachdenken über Tiere und über sein Verhältnis zu ihnen bietet dem Menschen Anlass zur Selbstreflexion, sei es durch die strikte Abgrenzung, sei es durch die Betonung von Gemeinsamkeiten. Nicht zuletzt zeigen dabei die Untersuchungen von Primatologen und die Genforschung, dass die Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier weiter reichen als bislang vermutet. Obwohl Tiere vom Menschen seit Jahrtausenden genutzt werden, hat sich die Geschichtswissenschaft − anders als andere Disziplinen − wenig um das Mensch-Tier-Verhältnis gekümmert. Doch inzwischen gibt es vielversprechende Bemühungen, den Einfluss der Tiernutzung und -haltung auf die menschliche Kultur genauer zu untersuchen und so etwas wie eine historische Tierforschung im deutschsprachigen Raum zu konstituieren. Hierbei bieten sich sowohl kultur- als auch sozialgeschichtliche Ansätze an. Aus regionalgeschichtlicher Perspektive gilt es zudem den Besonderheiten der Tiernutzung in der Region nachzuspüren. Der Jahresband 2012 befasst sich deshalb schwerpunktmäßig mit dem Einsatz von Pferden als Last- und Zugtieren in der Landwirtschaft Westfalens, aber auch mit Grubenpferden im Bergbau. Außerdem werden u.a. Tierschutzinitiativen und die dahinter stehenden Motive genauer in den Blick genommen. Weitere Beiträge behandeln das 18. Jahrhundert als Thema der westfälischen Landesgeschichtsschreibung, den Status der (katholischen) Akademie Münster im (protestantischen) preußischen Staat während des 19. Jahrhunderts, die Ruhrkrise von 1923 als Nachwirkung des Ersten Weltkriegs sowie die Produktion von Unterhaltungssendungen für den NS-Rundfunk in westfälischen Textilbetrieben. Nachrufe, Jahresberichte, Rezensionen und die Zeitschriftenschau für das Jahr 2011 beschließen den Band. 2012, VIII und 582 Seiten, Efalin-Einband, 69,60 E Ermäßigter Abonnementpreis 52,20 E ISBN 978-3-402-15395-6

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.. WESTFA LISCHE FORSCHUNGEN Vorschau auf Band 64 Themenschwerpunkt (hg. von Thomas Küster): Medizin und Gesundheit in Westfalen. Neue Forschungen zum 19. und 20. Jahrhundert Mehr noch als für Fragen der Politik, des Sozialen oder des lokalen Umfeldes interessieren sich die meisten Menschen für alles, was mit ihrer Gesundheit zusammenhängt. Nicht zuletzt deshalb ist die Sicherung der körperlichen und geistigen Gesundheit ein zentrales Thema der Gesetzgebung, der Werbung, der individuellen Lebensplanung und sogar der Freizeitgestaltung geworden. Gesundheitslehren und medizinische Wissenschaften haben die gesamte Menschheitsgeschichte begleitet und erfreuten sich stets größter Wertschätzung. Angesichts der individuellen therapeutischen Orientierung medizinischer Aufgabenstellungen gerät der Gesamtprozess der gesundheitlichen Entwicklung jedoch leicht aus dem Blickfeld. Insbesondere die Teildisziplin der Medizingeschichte versucht, dem entgegenzuwirken – wenn auch oftmals ohne regionalgeschichtliche Perspektive. Dabei weisen viele „Gesundheitsthemen“ eine deutlich räumliche Anbindung auf: etwa die Frage nach den regionalen Besonderheiten einzelner Krankheitsmuster oder medizinischer Infrastruktur, nach dem Einfluss regionaler Kräfte auf das nationale Gesundheitswesen oder nach dem Selbstverständnis, das sich dahinter verbirgt, wenn eine Region wie Ostwestfalen-Lippe als „Heilgarten Deutschlands“ charakterisiert wird. Der Themenschwerpunkt 2014 stellt sich die Aufgabe, die historischen Konjunkturen von Gesundheitsmotivation, Krankheitsprävention und medizinischer Versorgung zwischen Früher Neuzeit und Gegenwart am Beispiel Westfalens zu durchleuchten und dabei nicht nur die – gut dokumentierten − Träger des Gesundheitssystems (vom Landarzt über die Kassen bis zur Uniklinik), sondern auch die Rolle der gefährdeten Menschen und Patienten in ihrem vielfältigen Bemühen um den Erhalt ihrer „primären Lebensqualität“ in den Blick zu nehmen. Kontakt: [email protected]

Vorschau auf Band 65

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.. WESTFA LISCHE FORSCHUNGEN Vorschau auf Band 65 Themenschwerpunkt (hg. von Elsbeth Bösl): Inklusion/Exklusion in regionalgeschichtlicher Perspektive Das aus der Gegenwartssprache stammende Begriffspaar „Inklusion/Exklusion“ dient seit den 1990er Jahren zur kritischen Selbstbeschreibung westlicher Gesellschaften. Inklusion ist gegenwärtig Teil zahlreicher sozial-, bildungs- und kulturpolitischer Programme und Projekte in der Bundesrepublik. Sie scheint dann verwirklicht, wenn alle Menschen unabhängig von allen sie unterscheidenden Kriterien und Kategorien am Leben in der Gesellschaft in seiner Fülle teilhaben und teilnehmen können. Der Begriff Exklusion hingegen wird häufig eher vage verwendet, um zu kennzeichnen, welche sozialen Phänomene und Konstellationen vermieden oder aufgehoben werden sollen. Der Themenschwerpunkt des Bandes 65 behandelt Politiken und Praktiken von Inklusion und Exklusion in historischer und regionaler Perspektive: Gefragt wird, wie gesellschaftliche Differenzierungskategorien Inklusionsund Exklusionsphänomene bestimmen. Im Mittelpunkt stehen dabei Kategorien wie Geschlecht, Ethnizität/Rasse, Nationalität, Klasse/Schicht, (Nicht-)Behinderung/chronische Krankheit, Alter, sexuelle Orientierung bzw. die jeweilige soziokulturelle Konzeption dessen, was in den genannten Bereichen „normal“ ist und was nicht. Indikatoren für In- oder Exklusion in diesem Sinne können sein: die Teilhabe an Bildung, staatlichen Versorgungsleistungen, öffentlicher Kultur, an Erwerbsarbeit, Konsumgütern und Freizeitangeboten, publizistische Tätigkeiten, die öffentliche und politische Präsenz von Individuen und Gruppen, die Selbstorganisation etwa in Selbsthilfe- und Interessenvertretungen, die Teilhabe am politischen Prozess. Mithilfe der in Fallstudien (u.a. zum Umgang mit Armut auf dem Lande, zur Heimerziehung und zu den Auswirkungen der Psychiatriereform in Westfalen) untersuchten Inklusions- und Exklusionsphänomene sollen neue Einsichten zum gesellschaftlichen Umgang mit menschlicher Differenz gewonnen werden. Kontakt: [email protected]

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.. WESTFA LISCHE FORSCHUNGEN Die Westfälischen Forschungen in der Digitalen Bibliothek des Aschendorff Verlages Das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte und der Aschendorff Verlag bieten Ihnen die älteren und die aktuellen Ausgaben der Westfälischen Forschungen in einer „Digitalen Bibliothek“ an. Sie können einzelne Jahrgänge über das Bezahlsystem „PayPal“ erwerben. Die Bände sind nur für die persönliche Nutzung bestimmt. Eine Weiterverbreitung (insbesondere in elektronischen Medien) ist nicht erlaubt. Sie erwerben keine Verwertungsrechte an dem Artikel. Um den Zugang zu den einzelnen Ausgaben in elektronischer Form zu erhalten, klicken Sie bitte auf die gewünschte Bandnummer. Wenn Sie registrierter Abonnent sind, können Sie sofort auf die entsprechende Ausgabe zugreifen, wenn nicht, wird Ihnen dort die Möglichkeit geboten, ein Abonnement zu bestellen. Mit einem Abonnement der elektronischen Version erwerben Sie das Zugriffsrecht auf die Inhalte aller vorliegenden Bände dieser Reihe. Jährlich erscheint ein kostenpflichtiges Update (Privatpersonen: E 69,- / Institutionen: E 138,-). Kündigungen sind bis zu vier Wochen vor Ende des Bezugszeitraums möglich; danach verlängert sich das Abonnement automatisch um ein weiteres Jahr. Einmalige Grundgebühr für Privatpersonen: E 149,-. Einmalige Grundgebühr für Institutionen: E 498,-. Für Abonnenten, die bereits eine Printausgabe beziehen und zusätzlich eine Online-Fortsetzung wünschen, beträgt die Gebühr für das jährliche Update E 26,- (Privatpersonen) bzw. E 52,- (Institutionen). Bitte tragen Sie in diesem Fall im Feld ,Bemerkung‘ ein, über welche Buchhandlung Sie die gedruckte Ausgabe erhalten. Selbstverständlich können Sie die Printausgabe der Westfälischen Forschungen auch weiterhin ohne Onlinenutzung als Jahresabonnement zum ermäßigten Preis von E 52,20 beziehen. Aschendorff Verlag Soester Str. 13 48155 Münster www.aschendorff-buchverlag.de

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