Weimar und die Neuordnung der Welt: Politik, Wirtschaft, Völkerrecht nach 1918 3515126767, 9783515126762

Mit dem Ersten Weltkrieg endete die internationale Ordnung des 19. Jahrhunderts. Für Optimisten war nach den Erfahrungen

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German Pages 339 [342] Year 2020

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INHALT
ZUM GELEIT. Auf der Suche nach einer neuen Weltordnung
ANSÄTZE UND AKTEURE REPUBLIKANISCHER AUSSENPOLITIK
Hermann Müller und die Außenpolitik der Weimarer Republik
Liquidierung des Krieges und Konsolidierung des Friedens.
Eine Diplomatie des Mitleids?
Gustav Stresemann und die deutsche Außenpolitik.
EUROPÄISCHE UND VÖLKERRECHTLICHE NEUORDNUNG
Europäische Erfahrungen.
Der Briand-Kellogg-Pakt und die internationale Kriegsächtung
Die Krise der Weimarer Republik im europäischen Kontext
Spurensuche: Die Weimarer Reichsverfassung in der chilenischen Verfassungsgeschichte
ANTI-LIBERALE ORDNUNGSENTWÜRFE
Die Komintern und die Weimarer Republik (1919–1933)
Vom „Imperium Germanicum“ zum „Nordischen Rassenstaat“
KRISE UND NEUORDNUNG DES LIBERALISMUS UND DER WELTWIRTSCHAFT
Wachstum, Gerechtigkeit, Frieden?
Die Krise des Liberalismus als Thema ordnungsökonomischen Denkens in der Zwischenkriegszeit
Krise als Erfahrungsraum
Früher Neoliberalismus oder der letzte Grund
AUTORINNEN UND AUTOREN
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Weimar und die Neuordnung der Welt: Politik, Wirtschaft, Völkerrecht nach 1918
 3515126767, 9783515126762

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Weimar und die Neuordnung der Welt Politik, Wirtschaft, Völkerrecht nach 1918 Herausgegeben von Andreas Braune und Michael Dreyer

Weimarer Schriften zur Republik

Franz Steiner Verlag

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weimarer schriften zur republik Herausgegeben von Michael Dreyer und Andreas Braune Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Ursula Büttner Prof. Dr. Alexander Gallus Prof. Dr. Kathrin Groh Prof. Dr. Christoph Gusy Prof. Dr. Marcus Llanque Prof. Dr. Walter Mühlhausen Band 11

Weimar und die Neuordnung der Welt Politik, Wirtschaft, Völkerrecht nach 1918 Herausgegeben von Andreas Braune und Michael Dreyer

Franz Steiner Verlag

Gedruckt aus Mitteln des Struktur- und Innovationsbudgets des Thüringer Ministeriums für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft.

Umschlagabbildung: © Bundesarchiv, Bild Nr. 102-03167 Fotograf: Georg Pahl, September 1926 „Zum Nachklang des Eintritts Deutschlands in den Völkerbund! Blick auf die mit Blumen von unbekannter Seite geschmückten Plätze der deutschen Delegation.“ Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12676-2 (Print) ISBN 978-3-515-12684-7 (E-Book)

INHALT Andreas Braune / Michael Dreyer Zum Geleit. Auf der Suche nach einer neuen Weltordnung ................................ VII ANSÄTZE UND AKTEURE REPUBLIKANISCHER AUSSENPOLITIK Rainer Behring Hermann Müller und die Außenpolitik der Weimarer Republik. Zur sozialdemokratischen Qualität republikanischer Außenpolitik ........................ 3 Wolfgang Michalka Liquidierung des Krieges und Konsolidierung des Friedens. Walther Rathenaus Konzeption einer liberalen Wirtschaftsaußenpolitik .............. 27 Elisabeth Piller Eine Diplomatie des Mitleids? Die Not der deutschen Kinder, amerikanisches humanitäres Engagement und die Möglichkeiten und Grenzen revisionistischer Außenpolitik, 1918–1924............................................. 47 Karl Heinrich Pohl Gustav Stresemann und die deutsche Außenpolitik. Ein Beispiel für europäische Verständigungspolitik? ............................................ 79 EUROPÄISCHE UND VÖLKERRECHTLICHE NEUORDNUNG Florian Greiner Europäische Erfahrungen. Europa als Raumvorstellung in der Weimarer Zeit ............................................. 101 Bernhard Roscher Der Briand-Kellogg-Pakt und die internationale Kriegsächtung ......................... 121 Boris Barth Die Krise der Weimarer Republik im europäischen Kontext .............................. 133 Markus Lang Spurensuche: Die Weimarer Reichsverfassung in der chilenischen Verfassungsgeschichte.......................................................... 149

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Inhalt

ANTI-LIBERALE ORDNUNGSENTWÜRFE Bernhard H. Bayerlein Die Komintern und die Weimarer Republik (1919–1933). Neue Weltordnungskonzepte und ihre Transformation ....................................... 165 Stefan Breuer Vom „Imperium Germanicum“ zum „Nordischen Rassenstaat“. Neuordnungsentwürfe der radikalen Rechten...................................................... 193 KRISE UND NEUORDNUNG DES LIBERALISMUS UND DER WELTWIRTSCHAFT Jakob Zollmann Wachstum, Gerechtigkeit, Frieden? Deutschland, die Internationale Handelskammer (Paris) und die Handelsschiedsgerichtsbarkeit, 1920–1935 ................................................... 213 Gerhard Wegner Die Krise des Liberalismus als Thema ordnungsökonomischen Denkens in der Zwischenkriegszeit .................................................................................... 241 Roman Köster Krise als Erfahrungsraum. Die Weimarer Republik und die europäische Wirtschaftsordnung während der Großen Depression ..................... 267 Hagen Schulz-Forberg Früher Neoliberalismus oder der letzte Grund: Krise und Neuerfindung des Liberalismus vor und nach dem Zweiten Weltkrieg ..................................... 291 Autorinnen und Autoren ...................................................................................... 325

ZUM GELEIT Auf der Suche nach einer neuen Weltordnung Andreas Braune / Michael Dreyer Mit diesem Band legen die Herausgeber den elften Band der „Weimarer Schriften zur Republik“ vor. Tatsächlich hatten wir ihm eine etwas niedrigere Bandnummer gewünscht: dokumentiert er doch die Beiträge der zweiten internationalen Fachtagung der Forschungsstelle Weimarer Republik und des Weimarer Republik e.V., die schon Ende 2016 in Weimar stattgefunden hatte. Seitdem ist viel geschehen: Die Forschungsstelle hat in Zusammenarbeit mit dem Weimarer Republik e.V. Konferenzen, Tagungen und Workshops organisiert, sie hat Examenspreise (Bachelor, Master/Staatsexamen, Dissertation/Habilitation) ausschreiben und hervorragenden Arbeiten zuteilen können – und vor allem wurde 2019, am 100. Jahrestag der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung, das „Haus der Weimarer Republik. Forum für Demokratie“ eröffnet. Alles dies wäre ohne die Zusammenarbeit mit den politischen Entscheidungsträgern in Stadt, Freistaat und Bund nicht möglich gewesen, die neben ihrem Interesse an der Sache auch das finanzielle Fundament gelegt und bewahrt haben. All das hat aber auch viel Zeit gekostet, die an anderen Stellen fehlte. Doch das Jubiläumsjahr neigt sich dem Ende zu und wir sind froh, nun endlich auch diesen Band in Druck geben zu können. Ein ganz besonderer Dank gilt daher den Kolleg/inn/en, die sich mitunter in großer Geduld geübt haben. Am Ende dieses Prozesses steht ein Band, der neue Akzente setzt. Ein besonderer Dank gilt Rainer Behring und Elisabeth Piller, die im Nachgang zur Tagung noch zum Kreis der Beitragenden hinzugestoßen sind. --„Weimar und die Welt“ – so lautet auch der Titel einer der Themenwelten der Dauerausstellung im Haus der Weimarer Republik. Er verdeutlicht, dass das republikanische Deutschland nicht losgelöst vom internationalen Kontext betrachtet werden kann, in dem es sich bei seiner Gründung und in den Folgejahren befand. Nicht ohne Grund ist der Versailler Vertrag als das zweite Verfassungsdokument der Weimarer Republik bezeichnet worden: definierte er doch den Status, die Rolle und die zunächst sehr engen und sich erst peu à peu – und mit vielen Rückschläge – erweiternden Handlungsmöglichkeiten des Kriegsverlierers Deutschland auf der internationalen Bühne. Und er gab auch in innenpolitischer Hinsicht das Koordinatensystem vor, in dem sich Politiker der jungen Demokratie bewegen mussten. Seit Peter

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Krügers richtungsweisender Studie zur Außenpolitik der Weimarer Republik steht daher die Frage im Raum, ob sich in diesem Koordinatensystem und vor dem Hintergrund einer machtstaatlichen Tradition der Außenpolitik so etwas wie eine genuin ‚republikanische Außenpolitik‘ entwickeln konnte. Gemeint ist damit eine außenpolitischer Paradigmenwechsel hin zu einer am Multilateralismus und der ‚Verständigung‘ orientierten, an rechtlichen Einbindungen und wechselseitigen Verpflichtungen interessierten Außenpolitik. Die Beiträge des ersten Abschnitts dieses Bandes fragen hier noch einmal nach Akteuren und Ansätzen einer solchen Außenpolitik. Wolfgang Michalka und Karl Heinrich Pohl wenden sich dabei den beiden ‚großen‘ deutschen Außenpolitikern der Zeit zu. Wolfgang Michalka macht deutlich, wie klar Walther Rathenau erkannte, dass nach den Zerrüttungen des Krieges alle Außenpolitik zugleich Wirtschaftspolitik sein musste und dass sich die politischen Probleme der Nachkriegszeit nur durch die Beseitigung der wirtschaftlichen Verwerfungen beheben lassen würden. Karl Heinrich Pohl wiederum fragt nach dem Anteil europäischer Verständigungspolitik in der Außenpolitik Gustav Stresemanns und kommt anhand des Beispiels der deutschen Frankreichpolitik zu dem Schluss, dass sich Stresemann bei allen Fortschritten in diesem Bereich nicht gegen die traditionellen Ansichten der deutschen Schwerindustrie (eines wichtigen Teils des Klientels der DVP) durchsetzen konnte. In diese Riege der zentralen Außenpolitiker der Weimarer Zeit reiht Rainer Behring Hermann Müller ein, ja stellt ihn ganz an den Anfang. Denn Hermann Müller, anders als Rathenau oder gar Stresemann lange einer der großen Vergessenen der ersten deutschen Demokratie, war nicht nur zweimal Reichskanzler, sondern auch der erste Außenminister unter der neuen Verfassung und blieb im gesamten weiteren Verlauf seiner politischen Laufbahn ein engagierter Außenpolitiker. Rainer Behring zeigt, wie Müller schon sehr früh jene Pflöcke in die außenpolitischen Konzeptionen des Reichs einschlug, auf denen später die Verständigungspolitik Stresemanns ruhte. Behring wirbt damit auch dafür, den Anteil der Sozialdemokratie an der Außenpolitik der Republik als höher einzuschätzen, als es die an den Liberalen Rathenau und Stresemann orientierte Forschung lange getan hat. Elisabeth Piller widmet sich schließlich der transnationalen humanitären Hilfe, die sich ausgehend von den USA im Nachkrieg über Europa und auch Deutschland erstreckte. Sie zeigt hier detailliert, wie diese zivilgesellschaftlich initiierten und teils staatlich koordinierten amerikanischen ‚Hilfsangebote‘ von der Reichsleitung und den deutschen Außenpolitikern für eine gezielte und frühe revisionistische Außenpolitik genutzt wurde – oder dies zumindest versucht wurde. Die Schwierigkeit der Weimarer Außenpolitik lag nicht nur darin, dass sie sich selbst im Umbruch befand, sondern dass das Gleiche für das gesamte politische und ökonomische internationale System galt. Denn der Erste Weltkrieg war ein fundamentaler constitutional moment für die ‚Weltordnung‘, um einen Begriff des amerikanischen Verfassungstheoretikers Bruce Ackerman aufzugreifen. Vor allem war er aber zunächst de-konstituierend, indem er die alte Ordnung des 19. Jahrhunderts beseitigte. Das große ‚Konzert der Mächte‘ hatte die blutigen Dissonanzen des Krieges hervorgebracht. Diese Art der machtstaatlichen Kabinettspolitik, welche offene und geheime Diplomatie, das Abstecken von Interessensphären und Ein-

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flussgebieten, das Schmieden und Austarieren von Bündnissen und Allianzen miteinander verband, war mit dem Ausbruch des Krieges diskreditiert und mit seinem Ausgang normativ scheinbar unmöglich gemacht worden. Wichtige Akteure wie das Zarenreich, Österreich-Ungarn oder das Osmanische Reich existierten nicht mehr; andere – allen voran das Deutsche Reich – hatten zwar ihre Existenz gerettet, waren aber als Kriegsverlierer von einer möglichen Teilhabe an einer solchen Ordnung zunächst ausgeschlossen. Die USA waren gegen ihr eigenes Widerstreben wenigstens vorübergehend als neue Ordnungsmacht auf die Weltbühne gezogen worden, womit das Ende der Vorherrschaft des alten Europa eingeläutet wurde. Mitgebracht hatten die USA, namentlich ihr Präsident, ein neues Leitbild internationaler Ordnung. Doch weder waren die parteipolitisch gespaltenen USA selbst von der Durchsetzungsfähigkeit der Idee eines ‚demokratischen Friedens‘ in einem ‚Völkerbund‘ überzeugt, noch waren die übrigen Siegermächte ernsthaft daran interessiert. Nach über vier Jahren Krieg waren sie zu sehr mit der Verfolgung ihrer eigenen nationalen Interessen und der Bewältigung der ökonomischen, sozialen und innenpolitischen Kriegsfolgen beschäftigt, als dass der Wille und die Kraft für die Etablierung einer tragfähigen Nachkriegsordnung gereicht hätten. Unmittelbar nach dem Ende des Krieges wurde der internationale constitutional moment nach der Zerrüttung der alten Ordnung daher nur sehr eingeschränkt für die Etablierung einer neuen friedenssichernden Weltordnung genutzt – anders als das in Europa mit der Ordnung des Wiener Kongresses für die nachnapoleonische Ära gelungen war. Zwar etablierte das System der Pariser Vorortverträge den von Wilson geforderten Völkerbund, blieb aber besonders im Umgang mit den Kriegsverlierern und umgekehrt mit der Sicherung der aus dem Kriegsausgang resultierenden Machtpositionen der Gewinner zu sehr dem Paradigma des Machtstaatsdenkens verbunden. Nach einer dauerhaften europäischen oder globalen Friedenslösung sah dies unmittelbar nach dem Krieg nicht aus. Weitsichtigen Beobachtern aus dem Lager der Alliierten, wie etwa John Maynard Keynes, war auch 1919 schon klar, dass mit dem Pariser Vorortsystem noch nicht das letzte Wort hinsichtlich der Friedensordnung gesprochen war, sondern dass es einer Weiterentwicklung bedürfe. Der Geist der Revision der Nachkriegsordnung erfüllte daher nicht nur die unterlegenen Mächte, sondern auch Teile der Siegernationen. Mit der Locarno-Politik und einer intensivierten Völkerbundpolitik nach der Aufnahme Deutschlands wurde dies in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre unter dem Stichwort der ‚Verständigung‘ auch in einer Weise praktiziert, die den ursprünglichen Vorstellungen Wilsons recht nahe kam – doch war die Dauer und damit die Nachhaltigkeit dieses Ansatzes bekanntlich zu kurz. Mit der Weltwirtschaftskrise und einem neuerlichen Aufschwung nationalistischer Politik war die kurze Phase der Verständigung schon Anfang der 1930er Jahre, spätestens aber mit der Außenpolitik der NSDAP wieder beendet. Einen Höhepunkt jener kurzen Phase bildete der Briand-Kellogg-Pakt zur Ächtung von Angriffskriegen, mit dessen Entstehung und Charakteristika sich der Beitrag von Bernhard Roscher beschäftigt. Mit diesem Abkommen schien – bei allen Unvollkommenheiten – das Ziel einer völkerrechtlichen Neuordnung der Welt im Sinne einer dauerhaften Friedenssicherung zum Greifen nahe. Sein Schicksal ab

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Ende der 1930er Jahre illustriert jedoch, wie stark eine solche Völkerrechtsordnung von dem Willen zur Vertragstreue der beteiligten Staaten und dem gegenseitigen Vertrauen in diese Vertragstreue abhängt. Auch in Hinblick auf die europäische Verständigung gab es in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre große Fortschritte – begleitet von diversen europapolitischen Initiativen und vor dem Hintergrund sehr unterschiedlicher Europavorstellungen. Den unterschiedlichen Vorstellungen dessen, was ‚Europa‘ ist, wofür es steht und wie weit es reicht, geht der Beitrag von Florian Greiner nach. In seine Ideen-, Diskurs- und Erfahrungsgeschichte diagnostiziert er zwar eine Diskrepanz zwischen den regen intellektuellen Debatten und einer Europäisierung der Alltagskultur und Erfahrungsräume einerseits und den politischen Gestaltungsmöglichkeiten europäischer Integration andererseits. Dennoch bildete sich in der Zwischenkriegszeit trotz aller Nationalismen ein europäischer Grundkonsens heraus, an den nach 1945 angeknüpft werden konnte. Den verbreiteten Rückfall in Nationalismus und Autoritarismus thematisiert Boris Barth, indem er die politische Krise der Weimarer Republik in den breiteren Kontext der europäischen Entwicklungen einordnet. Dabei wird deutlich, dass der Staatsstreich gegen Demokratie und Republik kein deutscher Sonderfall, sondern eher die europäische Regel war. Fast alle neu gegründeten Nationalstaaten und Staaten der Kriegsverlierer erlebten in der Zwischenkriegszeit eine Erosion und Zerstörung des Liberalismus und der Demokratie, und auch in den westlichen Staaten waren entsprechende Bewegungen stark. Fast überall sorgten Nachkriegsgewalt, Ethnisierungen und eine nationalistische Abschottungspolitik der Volkswirtschaften für ein ausgesprochen ungünstiges Umfeld für den Multilateralismus und Liberalismus und umgekehrt für sehr gute Bedingungen für den Autoritarismus. Ursprünglich waren fast alle Nachfolgestaaten der alten Imperien als konstitutionelle Demokratien (teils nach einem Zwischenspiel mit rätedemokratischen Experimenten nach sowjetischem Vorbild) gegründet worden. Das Ende des Ersten Weltkrieges hatte daher ein europäisches, ja ein globales Konstitutionalisierungslaboratorium zur Folge, als in kürzester Zeit eine große Anzahl an Verfassungen neu geschaffen oder überarbeitet wurde. In diesem Bereich globaler Neuordnung spielte die Weimarer Reichsverfassung eine zentrale Rolle. Markus Lang illustriert dies anhand eines Fallbeispiels, nämlich mit Blick auf die chilenische Verfassungsgeschichte. Als dort 1925 eine neue Verfassung erarbeitet wurde, orientierte man sich erkennbar auch an der deutschen Verfassung. Der Befund für die politische und völkerrechtliche Neuordnung Europas und der Welt ist vor dem Hintergrund dieser Beiträge ambivalent. Erkennbar ist in jedem Fall, dass eine Ordnung, in der konstitutionelle Garantien liberaler und demokratischer Ordnungsprinzipien im Inneren der Staaten mit einem regelbasierten und verständigungsorientierten Auftreten nach außen einhergehen, alles andere als selbstverständlich oder gar festgefügt war. Von vielen Akteuren wurde der Weg dahin beschritten, von vielen anderen aber auch bekämpft – in der Innenpolitik wie in der Außenpolitik, in Deutschland wie in anderen Teilen Europas und der Welt. Dazu gehört auch, dass Ordnungsvorstellungen Konjunktur hatten, die sich dezidiert gegen eine solche liberale, multilaterale Ordnung richteten und einen europäischen, wenn nicht gar globalen Gestaltungsanspruch geltend machten. Im an-

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brechenden Zeitalter des Totalitarismus war dies gerade im Vergleich zum 19. Jahrhundert neu. Zwar lagen auch hier die Pole des Machtstaatsdenkens und des Internationalismus weit auseinander, doch bewegte man sich damit im Großen und Ganzen im gleichen Paradigma des durch Diplomatie und Völkerrecht geregelten Verhältnisses souveräner Staaten zueinander. Links und rechts des Liberalismus entstanden nun aber Ordnungsmodelle, für die dies nicht nur nicht ohne Weiteres galt, sondern die diese liberale Ordnung explizit und selbstbewusst grundsätzlich in Frage stellten. Bernhard H. Bayerlein untersucht in seinem Beitrag die Komintern, ihre Ordnungsvorstellungen und ihre Beziehungen zur KPD und Deutschland. Er identifiziert dabei fünf Phasen der Entwicklung in der Zwischenkriegszeit, angefangen mit jener Phase, in der die Weltrevolution und damit eine radikale Neuordnung der Welt das erklärte Ziel der Komintern waren. Von diesem Ziel rückte man Stück für Stück ab, bis unter Stalin eine Mischung aus der Sozialfaschismusthese und einer weitgehenden Konzilianz gegenüber nationalistischen Kreisen und gegenüber der NSDAP die Oberhand gewann. Während auf der linken Seite die Klasse an die Stelle der Staaten als zentraler Akteur globaler Ordnungsgestaltung treten sollte (zumindest in der Anfangsphase der Komintern), sollte in der Vorstellungswelt der Rechten die ‚Rasse‘ diese Rolle übernehmen. Dem vielstimmigen Chor völkischer und rassistischer Neuordnungsvorstellungen widmet sich der Beitrag von Stefan Breuer, wobei deutlich wird, dass die später im verhängnisvollen Sinne handlungsleitend gewordenen Konzeptionen der Nationalsozialisten alles andere als einen Anspruch auf Originalität erheben können. Walther Rathenau hatte – wie eingangs festgestellt wurde – erkannt, dass eine Neuordnung der ökonomischen Verhältnisse in Europa und der Welt genauso wichtig wie die politische Neuordnung war, ja dieser vielleicht sogar als Voraussetzung voranging. Der Krieg hatte die alten Wirtschaftsbeziehungen zwischen Ländern und Unternehmen zerschnitten, die Staatsfinanzen der beteiligten Nationen an den Rand des Ruins gebracht und neue Abhängigkeiten geschaffen. Ein einfaches Zurück zur alten Freihandelsordnung des 19. Jahrhunderts – die schon im Zeitalter des Imperialismus unter Druck geraten war – war daher nicht möglich. Zu stark strahlten dafür die Nationalismen in den einzelnen Ländern auf ihr volkswirtschaftliches Gebaren aus, was Protektionismus und Abschottung begünstigte. Die wechselseitigen Verflechtungen durch die Reparationsfrage, interalliierte und andere zwischenstaatliche Verschuldung und internationale Direktinvestitionen wirkten dieser Abschottung entgegen und erforderten internationale Abstimmung, Verständigung und vertrauensbildende Maßnahmen. Zu letzteren gehört auch der Auf- und Ausbau der Internationalen Handelskammer in Paris und der von ihr betriebenen Schiedsgerichtsbarkeit in internationalen Handelsstreitigkeiten zwischen Unternehmen, die Jakob Zollmann in seinem Beitrag beschreibt. Darin wird deutlich, wie Deutschland durch beharrliche Bestrebungen auch in diesen zivilrechtlichen Angelegenheiten seinen Weg zurück auf das internationale Parkett fand, so dass ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre die Konturen einer multilateralen Weltwirtschaftsverfassung sichtbar wurden. Mit der neuerlichen Konjunktur von Protektionismus und national orientierter Wirtschaftspolitik im Zuge der Weltwirtschaftskrise sank die Bereitschaft zu einer solchen Welt-

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wirtschaftsordnung merklich. Die Reaktionsmuster, in die die einzelnen Volkswirtschaften ab 1930 verfielen, analysiert Roman Köster in seinem Beitrag über die europäische Wirtschaftsordnung während der großen Depression. Konsequent schaut Köster dabei auf den Erfahrungsraum der Nachkriegsinflationen, die die Reaktionen Deutschlands und der übrigen Länder entscheidend prägten. Die im Nachgang als fatal beurteilte Deflationspolitik erscheint vor diesem Hintergrund an Erfahrungen und Erwartungen jedoch als vergleichsweise rational – und als relativ verbreitet im europäischen Vergleich. Die Krise des politischen Liberalismus, die Boris Barth in seinem Beitrag für die europäische Zwischenkriegszeit diagnostiziert, trifft auch auf den Liberalismus als ökonomische Ordnungsvorstellung zu. Dies arbeitet Gerhard Wegner in seinem Beitrag zunächst für Deutschland heraus, indem er die Gründung der Republik als weitreichenden Bruch mit einer liberalen Wirtschaftsordnung interpretiert. Durch zunehmende staatliche Interventionen in die Wirtschaftstätigkeit, Sozialisierungsdiskussionen, eine stark erhöhte Staatsquote, Einmischungen in die Tarifgestaltung und andere staatliche Interventionen im Zuge des Aufbaus einer ‚Wirtschaftsdemokratie‘ wurden die Spielregeln wirtschaftlicher Tätigkeit im Vergleich zum Unternehmer-Liberalismus des Kaiserreichs massiv verändert. Das galt nicht nur für Deutschland, sondern auch für andere Volkswirtschaften und die Verbindung der einzelnen Volkswirtschaften untereinander. Von Liberalen – vor allem natürlich von liberalen Ökonomen – wurde dies als Krise des Liberalismus und seiner nationalen wie europäischen Gestaltungsfähigkeit wahrgenommen, worauf sie mit Versuchen einer Neuorientierung reagierten. Diesen Suchbewegungen widmet sich schließlich Hagen Schulz-Forberg, dessen Beitrag der Ausformulierung eines neuen – mit anderen Worten: eines Neoliberalismus nachgeht. Nicht zuletzt unter dem Druck, den sich der Liberalismus in politischer wie in ökonomischer Hinsicht ab den 1930er Jahren durch den Aufstieg von Faschismus und Nationalsozialismus einerseits und Stalinismus andererseits ausgesetzt sah, intensivierten sich diese Bemühungen um eine Neubegründung des Liberalismus. Liberale aus ganz Europa und den USA wirkten in verschiedenen Netzwerken, Institutionen und Konferenzen an diesem Prozess mit und legten damit schon in der Zwischenkriegszeit wichtige Grundsteine für die Neuordnung des Westens nach 1945, als sie vielerorts die Gelegenheit für die Umsetzung ihrer Konzepte erhielten. Was Hagen Schulz-Forberg hier für den Liberalismus und seine ökonomischen und politischen Ordnungsvorstellungen beschreibt, kann auf viele Bereiche der internationalen Politik, des Völkerrechts und der internationalen Wirtschaftsordnung ausgedehnt werden: Die Zwischenkriegszeit stellt sich hier als Phase des Umbruchs und von Suchbewegungen dar, die in krisenhaften Zeiten in verschiedene Richtungen ausschlagen. Aus dem 19. Jahrhundert sollten Ideen wie Internationalismus, Verrechtlichung und gütliche Streitschlichtung, Abrüstung und Verflechtung zum wechselseitigen Vorteil ins 20. Jahrhundert gerettet werden, um zu helfen, eine politische und ökonomische Ordnung des Multilateralismus und der Friedenssicherung zu errichten. Nachdem das machtstaatliche Denken und Handeln des 19. Jahrhunderts durch den Krieg diskreditiert war oder zumindest zu sein schien, sahen viele Intellektuelle, Wissenschaftler und Politiker gute Voraussetzungen dafür.

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Allerdings hatte der Krieg die Nationen und Völker in einem Maße gegeneinander aufgewiegelt und ihre Volkswirtschaften so sehr in Mitleidenschaft gezogen, dass die Vertrauensbasis für eine solche Neuordnung erst mühsam erarbeitet werden musste. In Zeiten ökonomischer Krisen und des politischen Extremismus war dies denkbar schwierig. Die Bezeichnung „Zwischenkriegszeit“ für die 1920er und 1930er Jahre kann nur eine begriffliche Zuschreibung sein, die sich in der Nachschau ergibt. Die Akteure der damaligen Zeit mussten einen neuen Krieg fürchten (manche sehnten ihn auch herbei), aber ihr Zukunftshorizont war offen. Eine andere Vergangenheit als die uns bekannte war immer möglich, und gerade das macht die Suche nach einer neuen internationalen Ordnung und das Ringen um sie aus. Dabei dürfen diese Bemühungen von 1939 aus gesehen nicht einfach als großes Scheitern abgetan werden. Ebenso wenig wie die Weimarer Republik nur ein vermeintliches Vorspiel zu Hitler gewesen ist, darf die Zeit zwischen den großen Kriegen nur als Vorspiel zu einem angeblich unvermeidlichen neuen, eben Zweiten Weltkrieg interpretiert werden. Erstens ignoriert das die Leistungen der Akteure, in schwierigen Zeiten nach neuen Ordnungsprinzipien zu suchen und sie umzusetzen. Und zweitens ignoriert es die Nachwirkungen jener Neuordnungsversuche für die Nachkriegszeit nach 1945. Die europäische Integration, die Vereinten Nationen und viele andere Errungenschaften, von denen unsere Gegenwart heute geprägt ist, entstehen eben nicht ex nihilo, sondern aus dem Erfahrungsschatz und auf verschiedenen Grundlagen, die wesentlich in der Zwischenkriegszeit gesammelt bzw. gelegt wurden.

ANSÄTZE UND AKTEURE REPUBLIKANISCHER AUSSENPOLITIK

HERMANN MÜLLER UND DIE AUSSENPOLITIK DER WEIMARER REPUBLIK Zur sozialdemokratischen Qualität republikanischer Außenpolitik Rainer Behring 1. WEIMARER AUSSENPOLITIK ALS SOZIALDEMOKRATISCHE AUSSENPOLITIK Der Befund erscheint eindeutig: Gustav Stresemann war der „Hauptarchitekt einer ‚republikanischen Außenpolitik‘ in der Mittelperiode der Weimarer Republik“.1 Stresemann habe gemeinsam mit seinem kongenialen Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Carl von Schubert die deutsche Außenpolitik, so die Quintessenz zahlreicher einschlägiger Arbeiten von Peter Krüger, „auf eine neue Grundlage“ stellen wollen: Mit dem Verzicht auf Krieg sei die Entscheidung verbunden gewesen, „das eigene Land in ein Verbundsystem wechselseitiger Interessen und friedlichen Interessenausgleichs einzufügen“. Das Bemühen um einvernehmliche Lösungen auf dem Verhandlungswege und um Kompromisse im Rahmen eines zu erneuernden internationalen Systems, die Anerkennung von „bestimmten Regeln und Beschränkungen der Handlungsfreiheit“, mithin ein fundamentaler Wandel in den außenpolitischen Methoden gegenüber der Propagierung einer Politik der „freien Hand“ zu Zeiten des Kaiserreichs standen im Zentrum von Krügers Überlegungen zur Charakterisierung der Weimarer Verständigungspolitik in der Ära Stresemann. Unabdingbar gewesen seien ferner das Eingehen auf die Interessen anderer Staaten und in der Konsequenz die Bereitschaft, „notfalls auf Ziele, die sich als damit unvereinbar erweisen, zu verzichten oder sie zurückzustellen, bis größere Geneigtheit der anderen Mächte besteht, sich damit zu befassen“. „Am wichtigsten war die Begrenzung der nationalen Handlungsfreiheit, vor allem der Verzicht auf Gewalt und auf einseitige, überraschende Aktionen und die Schaffung vollendeter Tatsachen ohne vorangegangene Konsultation und Absprache.“ Die veränderten Methoden rangierten damit in Krügers Interpretation vor der Frage der (Revisions-)Ziele deutscher Außenpolitik in der Zwischenkriegszeit.2 Eine diesen Kriterien folgende spezifische Weimarer Außenpolitik, die bis in das Jahr 1930 hinein erhebliche Erfolge aufzuweisen hatte, gab es tatsächlich: Dies ist entgegen manchen Deutungen festzuhalten, die der ersten deutschen Demokratie von vornherein jede Chance auf eine gedeihliche Entwicklung absprechen und die   1 2

Kolb (2003): Gustav Stresemann, S. 94. Krüger (2001): Gratwanderung mit Wegscheiden, S. 678f. und S. 683f.

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Rainer Behring

speziell deren außenpolitische Bestrebungen mit dem Verdikt abtun, „die allgemeine Fixierung“ auf „den als Schanddiktat empfundenen Friedensschluß“ von Versailles „ließ Alternativen zum politischen Denken und Handeln in den gewohnten Bahnen des preußisch-deutschen Machtstaates gar nicht erst zu“.3 Gerade die innenpolitisch zwischen einem reaktionär-nationalistischen und einem republikanisch-linksliberalen Lager äußerst umstrittene Alternative einer Machtpolitik alten Stils, die primär auf die Wiedererlangung militärischer Stärke und die damit vermeintlich verbundene Handlungsfreiheit zur einseitigen Korrektur der Ergebnisse des Ersten Weltkriegs abzielte, oder einer ganz andere Konsequenzen aus der deutschen Niederlage ziehenden Verständigungspolitik kennzeichnete die Offenheit von Deutschlands Weg in den internationalen Beziehungen der 1920er Jahre. Welcher Stellenwert kommt der Person Gustav Stresemanns im Hinblick auf diese Alternative und auf die Qualität und die Erfolge der Weimarer Außenpolitik zu? Zum einen gilt es, sich in Erinnerung zu rufen, dass Stresemanns Haltung während des Ersten Weltkriegs von einem extremen Nationalismus und Annexionismus geprägt war, er mitsamt seiner Deutschen Volkspartei 1919 den Friedensvertrag von Versailles ebenso wie die Weimarer Reichsverfassung abgelehnt hatte und im Frühjahr 1920 während des Kapp-Lüttwitz-Putsches im Zwielicht stand. Stresemann rang sich erst während des Jahres 1923 zu einem Bekenntnis zur einstweiligen Anerkennung der Republik durch; seine Beziehungen zu einstigen preußischen Majestäten und seine Unterstützung Paul von Hindenburgs bei der Wahl zum Reichspräsidenten 1925 blieben so fragwürdig wie seine mitunter durchbrechenden irritierenden Äußerungen über den Wert militärischer Gewaltmittel oder über die Relativität der Absage an den Krieg als Mittel deutscher Außenpolitik. Stresemanns zweifellos an den Tag gelegte Fähigkeit und Bereitschaft zum Lernen stieß dort auf Grenzen, wo es um den Wert von Machtpolitik und um die Beschaffenheit des Deutschen Reiches als Großmacht ging, die zu hinterfragen er nicht bereit war.4 Zum anderen herrscht in der Forschung mittlerweile ein recht breiter Konsens, demzufolge die republikanische Außenpolitik – von den sich seit 1923/24 begünstigend auswirkenden Veränderungen der internationalen Rahmenbedingungen als letztlich entscheidender Voraussetzung einmal ganz abgesehen5 – auf einer relativ breiten gesellschaftlichen und politischen Basis aufruhte, die sich seit der Spätphase des Ersten Weltkriegs 1917/18, nicht zuletzt unter dem Einfluss der Verlautbarungen des US-Präsidenten Woodrow Wilson, zu formieren begann.6 Ihr gehörten auf die Wiederherstellung und den Ausbau einer liberalen Weltwirtschaftsordnung be  3 4 5 6

So dezidiert Martin (1992): Reich als Republik, S. 189. Ähnlich einseitig und völlig undifferenziert Salewski (1980): Weimarer Revisionssyndrom, und die Arbeiten von Grupp (1988a): Deutsche Außenpolitik, und ders. (1988b): Waffenstillstand. Zu all dem zuletzt erfrischend die Darstellung von Pohl (2015): Gustav Stresemann. Dazu zuletzt einschlägig Cohrs (2003): Peace Settlements, und ders. (2006): Unfinished Peace; in größerem Zusammenhang Steiner (2005): Lights that Failed. Vgl. dazu zusammenfassend Krüger (1985): Außenpolitik der Republik, S.17–20 und S. 29f.; ferner Haupts (1976): Deutsche Friedenspolitik, Ribhegge (1988): Frieden für Europa, und Oppelland (1995): Reichstag und Außenpolitik.

Hermann Müller und die Außenpolitik der Weimarer Republik

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dachte Unternehmer und Finanzfachleute sowie gemäßigte Gewerkschaftsführer ebenso an wie linke und liberale Publizisten, einige weitsichtige Vertreter der traditionellen Führungsschichten und speziell eine Gruppe jüngerer Beamter des Auswärtigen Amtes wie der bereits genannte Carl von Schubert. In einer parlamentarischen Demokratie mussten aber letztlich die in der Nationalversammlung und ab 1920 wieder im Reichstag vertretenen Parteien von ausschlaggebender Bedeutung für eine dauerhafte und nachhaltige Modernisierung der deutschen Außenpolitik sein. Wo also lagen die Wurzeln, die Fundamente und der Rückhalt einer spezifisch republikanischen Außenpolitik? Und: War die Weimarer Außenpolitik überhaupt primär Stresemanns Außenpolitik? Die zeitgenössische sozialdemokratische Publizistik jedenfalls sah es anders. Den ausschlaggebenden Anteil der SPD an den durch die Verständigungspolitik erzielten Erfolgen hatte schon ein Artikel im „Vorwärts“, dem Zentralorgan der Partei, aus Anlass von Stresemanns dreijährigem Dienstjubiläum als Reichsminister des Auswärtigen im August 1926 ins rechte Licht gerückt. Niemand könne bestreiten, dass sich in diesen drei Jahren die außenpolitische Lage Deutschlands ganz erheblich gebessert habe: „Wenn die Ruhr und die erste Zone des altbesetzten Gebiets geräumt sind, wenn durch den Dawes-Plan in das Chaos der Reparationen ein erster Schein von Vernunft gedrungen ist, wenn es einen Locarnovertrag gibt und Deutschland wieder zum Rang einer gleichberechtigten Macht aufsteigt, so erklärt sich das zu allernächst aus dem Abebben der Kriegsleidenschaften in allen Ententeländern, vor allem in Frankreich, dann aber ist es auch das Ergebnis der unermüdlichen Vorarbeit, die von der deutschen Sozialdemokratie und vom internationalen Sozialismus geleistet worden ist.“ Stresemanns Verdienst sei es, „die Entwicklung richtig erkannt und sich im richtigen Augenblick in sie eingeschaltet zu haben“. Doch „er war – und ist – kein Vorkämpfer, kein Pionier, der sich allein mit seiner Überzeugung in gefährliches Dickicht begibt“. Vielmehr habe er eine Straße vor sich gesehen, „die andere gebahnt hatten, und er zögerte nicht, sie zu beschreiten“. Indem Stresemann „den Übergang von einer Politik der nationalen Phrase zu einer Politik der nationalen Tat“ gefunden habe, sei er dahin gekommen, „wo sich die ‚vaterlandslosen Gesellen‘ von der Sozialdemokratie schon längst“ befunden hätten: „Die von ihm betriebene Außenpolitik der Verständigung ist ein Symbol dafür, daß das Bürgertum mehr und mehr genötigt ist, Ideenrichtungen zu folgen, zu denen die Arbeiterbewegung den Weg gewiesen hat.“7 Ebenso argumentierte 1929 der sozialdemokratische Reichsminister des Innern Carl Severing, indem er betonte, es sei „keine Übertreibung, wenn man sagt, daß es der ursprüngliche Kurs der deutschen Sozialdemokratie ist, der heute in der deutschen Außenpolitik gesteuert wird, daß es der deutschen Sozialdemokratie zu verdanken ist, daß die zwingendste Gewalt in der deutschen Außenpolitik die Gewalt der Vernunft geworden ist.“8   7 8

Drei Jahre Stresemann. Ein Jubiläum des Reichsaußenministers. In: Vorwärts vom 13. August 1926. Hervorhebungen im Original. Severing (1929): Randbemerkungen, hier S. 201.

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Konsequent reklamierten Publizisten aus den Reihen der SPD die Erfolge der Weimarer Außenpolitik für ihre Partei. So veröffentlichte der langjährige außenpolitische Redakteur des „Vorwärts“, Victor Schiff, 1930 eigens eine Broschüre mit dem Titel „Wer hat den Rhein befreit?“, in der er hervorhob, die deutsche Sozialdemokratie könne die vorfristige „Befreiung des Rheinlandes in erster Linie als ihr Werk bezeichnen“.9 Und noch aus dem Exil heraus wussten aus dem Reich vertriebene deutsche Sozialdemokraten 1933 ihren maßgeblichen Anteil an den außenpolitischen Erfolgen der Weimarer Republik selbstbewusst in Erinnerung zu rufen: „Wir Sozialdemokraten hatten die Gleichberechtigung Deutschlands in der ganzen Welt durchgesetzt. Wir hatten die Ehre Deutschlands und die Ehre des deutschen Volkes wieder hergestellt.“ Man sprach damals von einer „Außenpolitik der Ebert, Rathenau, Stresemann und Hermann Müller“.10 Nun muss die Selbstdarstellung sozialdemokratischer Parteipolitiker und -journalisten nicht notwendig den Schlüssel zum Verständnis von Genese und Ausgestaltung der Weimarer Außenpolitik liefern; die „Parteilichkeit“ derartiger Überlieferungen liegt auf der Hand. Doch selbst ein Nachruf auf den im März 1931 verstorbenen ehemaligen Reichskanzler Hermann Müller in der linksliberalen Berliner Presse verwies deutlich in dieselbe Richtung: Wenn jetzt das deutsche Volk aus der Enge des Nachkriegs wieder hinaustritt ins Freie, so ist das nicht zuletzt ein Verdienst Hermann Müllers. Mit Zähigkeit hat er bei seiner gesamten öffentlichen Tätigkeit einen auf Bewahrung des Lebensrechts des deutschen Volkes und auf Ausgleich mit den ehemaligen Gegnern bedachten außenpolitischen Kurs gesteuert, und die von ihm geführte Sozialdemokratie ist in all den Jahren die stärkste Stütze dieser allein möglichen und aussichtsvollen Politik gewesen.11

Ganz im Sinne der von Peter Krüger erhobenen Forderung, bei künftigen Forschungen den innenpolitischen Voraussetzungen der Außenpolitik in der Weimarer Republik, den Partnern Stresemanns „zu Hause unter den Politikern, Parteien, wichtigen gesellschaftlichen Gruppen und Interessenvertretern“ verstärkte Aufmerksamkeit zuzuwenden, mögen solche zeitgenössischen Einschätzungen als Anregung dienen, die Frage nach dem Anteil der Sozialdemokratie an der Weimarer Außenpolitik erneut aufzuwerfen. Krüger selbst verwies in diesem Zusammenhang auf die Rolle der – ungeachtet der wesentliche Rahmenbedingungen setzenden strukturellen Merkmale des internationalen Systems der Zwischenkriegszeit – „maßgebenden, die Politik beeinflussenden und gestaltenden Persönlichkeiten“: Bei dem Versuch, eine über die Ergebnisse bisheriger Darstellungen hinausreichende „genauere, zeit- und kontextbezogene Bestimmung von republikanischer Außenpolitik“ zu erarbeiten, hätten „biographische Untersuchungen über führende Außenpolitiker der Weimarer Republik eine wichtige methodische Funktion geschichtswissenschaftlicher Klärung“. Als besonders aufschlussreich könne sich dabei die Frage erweisen,   9 Schiff (1930): Wer hat den Rhein?, Zitat S. 32. 10 Zitiert nach Behring (1999): Demokratische Außenpolitik, S. 80. 11 Hermann Müller †. Der Führer der deutschen Sozialdemokratie. In: Berliner Morgenpost vom 21. März 1931. Ebenfalls abgedruckt in: Berliner Allgemeine Zeitung vom 21. März 1931.

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„ob und bei wem es zu einer Innen- und Außenpolitik verbindenden, an liberalen und parlamentarischen Normen des Westens orientierten Gesamtkonzeption gekommen ist und ob eine Politik der Entspannung, Verständigung und systemischen Einbindung von Parlamentarismus und Demokratie abhängt.“12 Im Sinne dieser Anregungen sollen im Folgenden die Rolle und die Bedeutung Hermann Müllers im Hinblick auf die Ursprünge, die Formulierung und die Durchsetzung sowie auf die Zukunftsaussichten einer spezifisch republikanischen Außenpolitik in der Weimarer Republik skizziert werden. Obwohl in Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit seit je weithin in Vergessenheit geraten und vielfach ausdrücklich oder implizit für persönlich unbeachtlich und historisch irrelevant erklärt, war Müller nicht bloß der weitaus bedeutendste sozialdemokratische Außenpolitiker der Republik und verkörperte damit wie kein anderer die Außenpolitik der SPD, er war vielmehr neben und zeitlich vor Gustav Stresemann derjenige parlamentarische und demokratische Politiker, der in der Weimarer Republik, und zwar nahezu während der gesamten Dauer ihrer Existenz, weitaus am intensivsten mit Angelegenheiten der auswärtigen Politik befasst war. Tatsächlich muss Müller seit Mitte 1919, also lange vor Stresemanns allmählicher Hinwendung zu einer Politik der friedlichen Verständigung, als Repräsentant der Weimarer Außenpolitik par excellence betrachtet werden, der übrigens, anders als Stresemann, den beiden Grunddokumenten der Weimarer Demokratie, dem Friedensvertrag von Versailles und der Weimarer Reichsverfassung, nicht bloß zugestimmt, sondern sie beide auch unterzeichnet hatte. Hermann Müller übernahm am 21. Juni 1919 das Amt des Reichsministers des Auswärtigen und war damit im eigentlichen Sinne der erste Außenminister der Weimarer Republik, zugleich der erste aus dem Parlament hervorgehende Inhaber dieses Amtes im Deutschen Reich, und er signalisierte damit einen Paradigmenwechsel in der deutschen Außenpolitik. Als zweimaliger Reichskanzler zentral mit außenpolitischen Angelegenheiten befasst, war Müller auch 1920 bis 1928, während er nicht in Regierungsämtern agierte, als Parteivorsitzender der SPD und als ihr Fraktionsvorsitzender im Reichstag, als stellvertretender Vorsitzender des Reichstagsausschusses für auswärtige Angelegenheiten und kurzzeitig als dessen Vorsitzender, in der Exekutive der Sozialistischen Arbeiter-Internationale und als Publizist fortwährend als Außenpolitiker tätig. Mit anderen Worten: Hermann Müller ist die ideale Persönlichkeit, an deren Wirken nicht nur der sozialdemokratische Anteil an der republikanischen Außenpolitik der Weimarer Jahre zu untersuchen ist, sondern auch, um die von Peter Krüger postulierten Zusammenhänge von Innen- und Außenpolitik und den Stellenwert von Parlamentarismus und Demokratie für eine Gesamtkonzeption von republikanischer Außenpolitik im Zeichen von Entspannung, Verständigung und systemischer Einbindung unter dem Zeichen der liberalen Normen des Westens herauszuarbeiten. Wenn es dabei vorerst nur um einen ersten und ganz unvollkommenen Versuch zur Rekonstruktion von Müllers konzeptuellem Ansatz gehen kann, dann ist das schlicht einer Forschungs  12 Krüger (2001): Gratwanderung mit Wegscheiden, S. 676–681.

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lage geschuldet, deren einschlägige Resultate Hermann Müller ebenso wie die Sozialdemokratie zu ignorieren gewohnt sind.13 2. HERMANN MÜLLER UND DIE GRUNDLEGUNG DER WEIMARER AUSSENPOLITIK 1919 Die Grundzüge einer spezifisch sozialdemokratischen Außenpolitik wurden in konzentrierter Form in dem sogenannten „Stockholmer Memorandum“ der Führung der Mehrheits-SPD vom 12. Juni 1917 formuliert, das als Stellungnahme für eine geplante, aber schließlich nicht zustande gekommene Internationale Sozialistische Konferenz in Stockholm entstanden war.14 Es zielte zur raschen Beendigung des Ersten Weltkriegs auf einen Frieden der Verständigung ohne gewaltsame Gebietsaneignungen und erzwungene Kriegsentschädigungen ab, setzte sich für ein Selbstbestimmungsrecht der Nationen – ausdrücklich etwa für die Wiederherstellung Belgiens und Serbiens – und eine sprachliche und kulturelle Autonomie für innerstaatliche Minderheits-Nationalitäten ein. Der von dem Mitglied des SPD-Parteivorstands und des Reichstags Hermann Müller erarbeitete Abschnitt über die „Hauptgrundzüge internationaler Vereinbarungen“ erinnerte an die von der Sozialdemokratie bereits erhobene Forderung „eines durch internationale Rechtseinrichtung dauernd gesicherten Weltfriedens als höchstes sittliches Pflichtgebot“ und postulierte „das Recht eines jeden Volkes auf politische Unabhängigkeit und wirtschaftliche Entwicklungsfreiheit [...] unter Beachtung der berechtigten Lebensinteressen aller Völker“: exakt jenes Eingehen auf die Interessen anderer Staaten, das Peter Krüger zu einer Hauptmaxime republikanischer Außenpolitik erhob. Im einzelnen nannte Müller als Bedingungen einer dauerhaften Befriedung durch eine künftige friedensvertragliche Regelung die Fixierung des Völkerrechts „mit dem Ziele, eine immer engere Rechts-, Wirtschafts- und Kulturgemeinschaft der Völker zu schaffen“, ein internationales Schiedsgericht, „dem alle Streitigkeiten zwischen den einzelnen Staaten vorzulegen sind“, und „eine überstaatliche Rechtsorganisation [...] zur Verhinderung der Verletzung völkerrechtlicher Verträge“. Abrüstung und Rüstungsbegrenzung sowie eine durch fortwährende Verfeinerung kriegsrechtlicher Bestimmungen zu erreichende Einhegung kriegerischer Gewalt zählten ebenso zu Müllers Kernforderungen wie die Erleichterung des internationalen Handels durch den Abbau von Schutzzöllen und die Durchsetzung der Meistbegünstigung mit dem handelspolitischen Ziel der „Beseitigung aller Zoll- und Verkehrsschranken“ und schließlich die „Unterwerfung aller Staatsverträge und zwischen  13 Vgl. zum folgenden insgesamt mit Hinweisen zur Forschungslage die Arbeiten von Behring (1999): Demokratische Außenpolitik, S. 31–63; ders. (2006): Wegbereiter; ders. (2015): Müller und Polen; ders. (2016a): Weltfriedensordnung durch Parlamentarisierung; ders. (2016b): Polemische Überlegungen; ders. (2017): Hermann Müller. 14 Michaelis / Schraepler (o. J.): Ursachen und Folgen, Bd. 2, Dok. Nr. 255, S. 64–70. Daraus die folgenden Zitate.

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staatlichen Vereinbarungen unter die demokratische Kontrolle der Volksvertretungen“. Bereits im Frühsommer 1917 zeichneten sich hier Grundstrukturen einer demokratischen Außenpolitik ab, die von der Zuversicht geprägt war, „die Herbeiführung wahrer demokratischer Zustände in allen Ländern“ werde die Erreichung solcher teils weitgesteckten Ziele ermöglichen, und in der man wegweisende Elemente der künftigen Weimarer republikanischen Außenpolitik erkennen wird. Das bedeutet nicht, dass die SPD-Führung, die ja 1917 weiterhin faktisch die Kriegspolitik des kaiserlichen Deutschland mittrug, nicht auch im vermeintlichen nationalen deutschen Interesse handelte: Tatsächlich argumentierte man nicht zuletzt im Sinne der territorialen Integrität des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1914 und einer präventiven Abwehr der nach Kriegsende zu erwartenden Forderungen umfangreicher Kriegsentschädigungen durch die gegnerischen Mächte. Darüber hinaus finden sich in der sozialdemokratischen Publizistik der späten Weltkriegsjahre Äußerungen derber Polemik gegen die politischen Systeme und Führungen der westlichen Demokratien: So sprach gerade Hermann Müller 1917 von den „angeblich für Freiheit und Recht kämpfenden Ententeregierungen“, „den Gewalthabern in Frankreich, England und Amerika“, dem „imperialistische[n] Kriegsziel der Entente“ und pauschal von „den Ländern der sogenannten westlichen Demokratie“.15 Und noch im Sommer 1918, offenkundig fehlgeleitet durch einen oberflächlichen Blick auf die militärische Landkarte und mutmaßlich durch Desinformation seitens der deutschen militärischen Führung, bezeichnete es Müller als unwahrscheinlich, dass Deutschland militärisch besiegt werden könne und deshalb „über das deutsche Elsaß-Lothringen“ werde verhandeln müssen. Gleichzeitig prangerte er erneut „die reaktionären Gewalthaber in den angeblich demokratischen Ländern Frankreich und England“ an, nannte den französischen Ministerpräsidenten Clemenceau einen „zynischen Gewaltmenschen“ und mutmaßte, „die künftige Gesellschaft der Nationen“ werde „der Aufrichtung einer englischen Welthegemonie“ dienen.16 In solchen wenig konstruktiv erscheinenden Auslassungen spiegeln sich spezifisch sozialistische Ressentiments gegen die kapitalistischen Westmächte ebenso wie ein Maß an Nationalismus, von dem auch deutsche Sozialdemokraten vielfach geprägt waren: Nicht bloß Gustav Stresemann, Matthias Erzberger oder Walther Rathenau, auch Hermann Müller musste auf seinem Weg vom Kaiserreich zur Republik, vom Krieg zur Kooperation eine Wegstrecke zurücklegen, auch er musste dazulernen. Im Kern aber waren die Vorstellungen der Sozialdemokratie zur Zukunft der deutschen Außenpolitik und zur Neuordnung der internationalen Beziehungen, in denen sozialistische Überlegungen zum Zusammenhang von inner- und intergesellschaftlicher Ordnung, geistige Anleihen bei idealistischen Philosophen, liberalen Pazifisten und russischen Revolutionären und schließlich eine gedankliche Nähe zu den Kundgebungen des US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson zusammenfanden, durchaus zukunftweisend: friedliche Streitschlichtung,   15 Müller (1917): Stockholm, S. 8f. und S. 12f. 16 Müller (1918), Kriegszieldenkschrift und Völkerbund, S. 313f., S. 317 und S. 319.

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Ausbau des Völkerrechts, nationale Selbstbestimmung und Völkerbund, Rüstungsbegrenzung und Freihandel, und das alles unter der bestimmenden Prämisse einer überwölbenden dauerhaften Friedensordnung. Von hier ließ sich ein direkter Weg zur Grundlegung der Weimarer Außenpolitik bahnen: Hermann Müller, der mit dem Amt als Reichsminister des Auswärtigen ganz bewusst die Pflicht zur Unterzeichnung des Friedensvertrages von Versailles übernommen hatte, weil er, anders als die Katastrophenpolitiker vom Schlage eines Philipp Scheidemann, Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau oder Gustav Stresemann nicht leichtfertig die militärische Besetzung und mögliche Auflösung des Deutschen Reiches oder gar die Wiederaufnahme eines sinnlosen Krieges in Kauf zu nehmen geneigt war, scheute nicht nur nicht die Verantwortung, er erkannte vielmehr frühzeitig die Chancen, die der Vertrag dem Deutschen Reich beließ, und er erarbeitete im Frühsommer 1919 ein Konzept, wie man konstruktiv mit diesem Vertrag werde umgehen können. Im größeren Zusammenhang und für ein breitestmögliches Publikum im Inund Ausland legte Müller seine Überlegungen zur künftigen deutschen Außenpolitik in seiner „Programmrede“ – heute würde es Regierungserklärung heißen – vor der Nationalversammlung am 23. Juli 1919 dar17, die ungeachtet erneuter scharfer Polemik gegen die vermeintlichen Absichten der Vertragspartner von Versailles auf eine fundamentale Neuausrichtung der deutschen Außenpolitik in Reaktion auf die bitteren Erfahrungen von Weltkrieg und Niederlage und in klarer Abgrenzung zur Politik des Kaiserreiches zielte. Als Grundlage seiner Vorstellungen und Basis eines außenpolitischen Neuanfangs formulierte Müller einen Dreiklang von freiheitlicher Demokratie, Frieden und Recht, den er sowohl für die innere Gestaltung der jungen Republik als auch für ihre Beziehungen zu den auswärtigen Mächten postulierte, „denn unsere äußere und unsere innere Politik müssen einheitlich sein“. Als das Staatswesen, „welches das freieste Wahlrecht der Welt eingeführt hat“, trete man „in die neue Zeit“ ein, und „je mehr sich die Welt davon überzeugen wird, daß wir keine Demokratie ohne Demokraten und keine Republik ohne Republikaner haben, desto mehr wird sich draußen in der Welt unsere moralische Valuta heben“. Man müsse versuchen, „auf den freiheitlichen Bahnen vorwärts zu schreiten“, denn „nur so können wir moralische Eroberungen in der Welt machen“. Deutschland werde, so bekräftigte Müller zum Schluss seiner Rede, „die Wiederherstellung seines Ranges unter den großen Völkern nur vom Fortschritte der demokratischen Idee bei uns und den anderen Völkern zu erwarten haben“. Die Abhängigkeit einer Außenpolitik der Entspannung, Verständigung und systemischen Einbindung von parlamentarischen und demokratischen Institutionen und Verfahrensweisen stand, so viel wird hier bereits deutlich, für Hermann Müller grundsätzlich außer Frage.   17 Verhandlungen der Nationalversammlung (1919): Bd. 328, S. 1852–1859. Daraus die folgenden Zitate. – Vgl. dazu in der jüngeren Literatur immerhin den Reflex bei Krüger (1986), Versailles, S. 83f. und S. 173.

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Die Voraussetzung für jeglichen Fortschritt auf dem Weg zu einer Neuorientierung deutscher Außenpolitik und zur Neuordnung der internationalen Beziehungen bildete ein dauerhafter Frieden. Müller begriff die Abrüstung, die gemäß den Bestimmungen des Versailler Vertrages zunächst das Deutsche Reich betraf, in erster Linie als Chance. Sie könne „zu einem Segen für die ganze Welt“ werden, sobald sie „allen Völkern gemeinsam auferlegt sein wird“, ein Ziel, dessen Erreichung zu fördern Aufgabe der deutschen Politik sein werde. Müller hielt es zwar für zweifelhaft, ob das Ausmaß der dem Reich diktierten Abrüstung überhaupt im Interesse der Siegermächte liege, stellte jedoch ohne Bedauern fest, dass als Ergebnis des Krieges „das deutsche Schwert in Zukunft als Hilfsmittel diplomatischer Kunst nicht mehr zählt“. Mehr noch, der Verlust von zwei Millionen Kriegstoten habe „in dem deutschen Volke die Überzeugung gefestigt [...], daß Streitigkeiten unter den Völkern nicht mehr mit Pulver und Blei ausgefochten werden dürfen“. Man müsse „allen militaristischen Gedankengängen endgültig entsagen“, „die Welt von unserem unerschütterlichen Friedenswillen“ überzeugen und sei bereit, „mit allen Völkern in Frieden zu leben“. Diese Appelle entsprangen nicht bloß traditionellem sozialdemokratischem Pazifismus – Müller griff übrigens auch auf Kants „Gedanken des ewigen Friedens“ zurück –, sie markierten eine klare Absage an das außenpolitische Gebaren des alten Systems, die noch deutlicher wurde in seiner conclusio: „Begraben wir alle Methoden einer Machtpolitik, die ein für allemal der Vergangenheit angehört.“ Tatsächlich finden sich in Müllers Rede weder Begriff noch Gedanke einer deutschen Großmacht, eine Kategorie, die seinen Vorstellungen von deutscher Außenpolitik als Leitmotiv wie als Ziel fremd war. An die Stelle der Traditionen preußisch-deutscher (Groß)Machtpolitik gedachte Müller die Orientierung an Maßstäben eines internationalen Rechts zu setzen. Man werde fortan „schon unsere Jugend dazu erziehen, daß in Zukunft nicht das Schwert, sondern nur das Recht über die Beziehungen der Völker untereinander zu entscheiden hat“. Insbesondere das notwendige Wiederaufleben des internationalen Handels erfordere dessen rechtliche Regelung. Als die Instanz, die den Aufbau und die Einhaltung einer zwischenstaatlichen Rechtsordnung zu gewährleisten habe, betrachtete Müller einen Völkerbund, allerdings nicht „den vorliegenden Bund der Kabinette, und zwar der Kriegskabinette der einen Seite“, der „unsere völkerrechtlichen Ideen in keiner Weise erfüllt“. Der Völkerbund in der Form, wie er mit dem Vertrag von Versailles ins Leben gerufen wurde, stellte für den Reichsaußenminister eher eine Fortsetzung der Politik der Koalitionen dar, der er eine wesentliche Verantwortung für die Entstehung des Weltkrieges zuschrieb. Müller wollte „den Boden für einen wirklichen Bund der Völker vorbereiten“, in dem „die Völker selbst, und zwar alle Völker, auf die Verfassung des Völkerbundes entscheidenden Einfluß erhalten“, und der in jedem Fall das deutsche und das russische Volk einbeziehen müsse. Vorsorglich erklärte er ausdrücklich „unsere tatsächliche Bereitschaft zum Eintritt in einen Völkerbund“. Damit kam Müller unverblümt zum revisionspolitischen Kern seines Anliegens: „Gerade wir Deutschen haben ein Interesse daran, daß ein Völkerbund entsteht, der zu einem wahrhaften Instrument des Fortschritts wird und der uns deswegen einen Ausweg zeigt aus den ungeheuren Schwierigkeiten, in die uns der Vertrag

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von Versailles versetzt.“ Ein Völkerbund gemäß Müllers Vorstellungen, für den freiheitliche Demokratie, Frieden und Recht im internationalen Bereich die verbindlichen Maßstäbe wären, würde es dem Deutschen Reich ermöglichen, ihn als Instrument zu nutzen, um auf dem Verhandlungswege Revisionspolitik zu betreiben, weil in seinem Rahmen Widerstände und Bedenken einzelner Staaten – zunächst vor allem Frankreichs – überwunden werden könnten. So war es kein Zufall, wenn Müller in direktem Anschluss an seine Ausführungen zum Völkerbund präzise den Zusammenhang von Vertragserfüllung und Revision darlegte: Wir haben in den Vorverhandlungen nachdrücklich auf das Unerträgliche und Unerfüllbare hingewiesen, das nach unserer Auffassung so viele Bestimmungen des Vertrages enthalten. Wir haben uns unter dem Zwange der Verhältnisse verpflichten müssen, den Vertrag loyal zu erfüllen. Wir lassen keinen Zweifel darüber, daß es uns mit dem Willen zu dieser Erfüllung bis zur Grenze unserer Fähigkeiten ernst ist, wir wollen aber auch keinen Zweifel darüber lassen, daß wir mit allen loyalen Mitteln die Revision dieses Vertrages erstreben werden, daß wir für eine gemeinsame Arbeit zur Wiederaufrichtung der darniederliegenden europäischen Kultur eine solche Revision für unerläßlich halten, und zwar nicht nur im Interesse des deutschen Volkes, sondern auch aller seiner Nachbarn.

Dort, wo es sich um Bedingungen handele, „deren Erfüllbarkeit an der harten Macht der Tatsachen scheitert, hoffen wir, unsere Gegner davon zu überzeugen und im Wege der Vereinbarung Lösungen zu finden, die beide Teile befriedigen“. Damit hatte Reichsaußenminister Müller in gültiger Weise die Ratio der Erfüllungspolitik formuliert, die in den folgenden drei Jahren die deutsche Außenpolitik gegenüber den Westmächten zumindest in ihrem Phänotyp prägen sollte – Vertragserfüllung bis zum Äußersten, um die Grenzen der Erfüllbarkeit zu erweisen und daraufhin durch die Vernunft gebotene Revisionen einzelner Vertragsbedingungen zu erreichen. Müllers Überzeugung, dass entsprechende Lösungen ausschließlich „im Wege der Vereinbarung“ zu finden seien, verweist über die 1922/23 zunächst einmal gescheiterte Phase der Erfüllungspolitik hinaus auf die zentrale methodische Grundlage der Weimarer Außenpolitik in ihrer Hochphase von 1924 bis 1930. Doch der von Müller anvisierte fundamentale Wandel der deutschen Außenpolitik reichte hinsichtlich ihrer Ziele und ihrer Methodik über das bloße Revisionsstreben weit hinaus. Müller betonte nicht allein die mit dem Vertrag von Versailles verbundenen Mängel und Probleme, er verwies vielmehr nachdrücklich auf die Chancen, die das Vertragswerk und die aus ihm resultierende Nachkriegsordnung dem Deutschen Reich eröffneten. Denn „in diesen Bestimmungen“ liege „eine große Möglichkeit“: „Trotz der schweren Niederlage, die Deutschland erlitten hat, und trotz der schweren Erschütterungen, unter denen es in den letzten Monaten gelitten hat und noch leidet, bleibt das Deutsche Reich auf die Dauer ein politischer und wirtschaftlicher Faktor, mit dem auch die Gegner rechnen müssen.“ Es sei unmöglich für die Vertragspartner und liege auch nicht in deren Interesse, dauernd den Standpunkt der Gewalt uns gegenüber zu vertreten. Wenn Handel und Verkehr wieder aufleben sollen – und das ist ja die erste Voraussetzung dafür, daß Deutschland überhaupt irgendwelche ihm auferlegte wirtschaftliche und finanzielle Verpflichtungen erfüllen kann –, dann müssen die Beziehungen der Völker nicht auf der Gewalt, sondern auf der Billigkeit und dem Rechte beruhen.

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Insbesondere würden die Siegermächte mutmaßlich nicht dauerhaft alle ihnen einseitig eingeräumten wirtschaftlichen Rechte gegenüber dem Reich geltend machen und so „den Kampf auf wirtschaftlichem Gebiete gegen Deutschland“ fortsetzen. Man müsse herausfinden „auch aus dem geistigen Drahtverhau“, „Handel und Wirtschaft müssen wieder in Fühlung kommen“, es müsse vor allem „versucht werden, die Fäden anzuknüpfen, die uns mit den Völkern der amerikanischen Republiken, mit Italien und andern Ländern verbanden“. Kurz: „Die auswärtige Politik wird in den nächsten Jahrzehnten in allererster Linie Wirtschaftspolitik sein müssen. [...] Auf kulturellem und wirtschaftlichem Gebiet werden wir zu zeigen haben, daß die Wurzeln unserer Kraft nicht verschüttet sind.“ Es werde gewiss „ernster Anstrengung bedürfen, wenn wir allmählich wieder unseren alten Platz in der Weltwirtschaft erringen wollen“. Müller zweifelte jedoch nicht daran, dass dieses Ziel auch unter den Bedingungen der Versailler Friedensordnung zu erreichen sein würde. Er warb für handelspolitische Spezialabmachungen mit anderen Staaten, um ein vorläufiges System von Meistbegünstigungsverträgen zu errichten, bis Deutschland wieder dauerhafte Handelsverträge eingehen könne, ebenso wie für die zügige Fortsetzung der bereits im Gang befindlichen amtsinternen Reformen mit dem expliziten Ziel, den Auswärtigen Dienst stärker auf die außenwirtschafts- und kulturpolitischen Interessen des Deutschen Reiches auszurichten. Die Neuorientierung der deutschen Außenpolitik weg von einer militärisch akzentuierten, einseitig agierenden Machtpolitik hin zu einer auf wirtschaftliche Stärke und kulturellen Austausch setzenden, multilateral abgestimmten und auf Gegenseitigkeit beruhenden Verständigungspolitik, die Hermann Müller am 23. Juli 1919 als Politik der Regierung ins Auge fasste, erhebt seine Programmrede vor der Nationalversammlung zu einem bedeutenden Dokument deutschen außenpolitischen Denkens im 20. Jahrhundert. Es ist offensichtlich, dass es nicht eines Gustav Stresemann im Amt des Außenministers bedurfte, um die zentrale Bedeutung außenwirtschaftlicher Faktoren und weltwirtschaftlicher Integration für die Rolle des Deutschen Reiches im internationalen System zu erfassen und zu propagieren, und zwar nicht zuletzt aufgrund des Eigeninteresses der Vertragspartner Deutschlands angesichts der überhaupt erst zu schaffenden Voraussetzungen für eine Zahlungsfähigkeit des Reiches im Hinblick auf die Reparationsforderungen.18 Das alles gilt insbesondere im Hinblick auf den Stellenwert der Vereinigten Staaten von Amerika für jede zukünftige deutsche Außenpolitik.19 Bereits 1919 waren entsprechende Gedanken im Auswärtigen Amt verbreitet. Exemplarisch sei hier der einschlägige Runderlass des Reichsministers des Auswärtigen Hermann Müller vom Oktober dieses Jahres zitiert:

  18 Für die Berücksichtigung außenwirtschaftlicher Belange in der Außenpolitik Rathenaus vgl. auch den Beitrag von Wolfgang Michalka in diesem Band. 19 Eine in diesem Zusammenhang völlig verfehlte einseitige Konzentration auf Stresemann ohne jeden Hinweis auf Hermann Müller etwa bei Berg (1990): Stresemann und Amerika, und zusammenfassend ders. (1992): Gustav Stresemann, S. 62–66.

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Rainer Behring Eine der wichtigsten Aufgaben für die deutsche Politik in der nächsten Zeit wird die Vorbereitung der wirtschaftlichen Gesundung Deutschlands durch Wiedereröffnung des Weltmarktes für die deutschen Waren sein. Vorbedingung dafür ist, abgesehen von einer zielbewußten inneren Politik in Deutschland, die bei uns die Produktion und Arbeitswilligkeit wieder hebt, die Herbeiführung der Geneigtheit der großen Kapital- und Rohstoffländer der Welt, zu einer wirtschaftlichen Gesundung Deutschlands ihrerseits mitzuwirken. In erster Linie wird hierbei Amerika in Frage kommen. 20

Die nötigen „Finanzgeschäfte großen Stils“ könnten „nicht von einzelnen auch noch so großen Firmen oder überhaupt auf privatem Wege durchgeführt werden“. Vielmehr könne „eine Finanzierung des deutschen Rohstoff- und Nahrungsmittelbezuges“ nur erreicht werden, „wenn die Regierungen der uns bisher feindlichen Staaten“ dazu gebracht würden, „an dem Projekte selber mitzuarbeiten und eine internationale, sich auf ganz Europa erstreckende Sanierung ins Auge zu fassen, die letzten Endes von der Gesamtheit der Weltstaaten auszugehen hätte“. Folglich wurden die Mitarbeiter der Auslandsvertretungen dazu angehalten, in ihren Amtsbezirken „für eine Förderung der Stimmung zugunsten einer internationalen Regelung der Wirtschafts- und Finanzverhältnisse der Welt tätig zu sein“; es komme „vor allem darauf an, den Gedanken der internationalen Finanzsanierung der Welt nicht schlafen zu lassen, sondern weiter zu propagieren, auch alle Anzeichen zu beobachten und für uns nutzbar zu machen, die diesen Gedanken fördern könnten“. Allerdings gab sich Müller angesichts dieses weitgespannten – zeitlich im Übrigen nicht begrenzten – Programms keinen Illusionen hin: Angesichts der innenpolitischen Auseinandersetzungen in den USA über die Frage der Ratifizierung des Vertrages von Versailles, in denen auch deutschfeindliche Register gezogen würden, sei „eine gute Stimmung in Amerika für unsere Pläne [...] zur Zeit völlig ausgeschlossen“. „Ein aktives Hervortreten unserer Politik in dieser Frage wird erst möglich sein, wenn der Friede von Amerika ratifiziert ist.“ Dazu sollte es nicht kommen. Gleichwohl finden sich hier die Grundzüge einer Politik der weltwirtschaftlichen und finanziellen Verflechtungen, des – von den Sozialdemokraten ohnehin schon lange vertretenen – Freihandels als Grundprinzip der Weltwirtschaft und einer Förderung des deutschen Exports, die im Interesse Deutschlands und seiner potentiellen Verhandlungspartner liegen würde und über deren Realisierung die aus der Kriegszeit nachwirkenden Konfliktpotentiale und Ressentiments mittelfristig gleichsam sachlogisch überwunden werden sollten. Sie wurden vom Reichsminister des Auswärtigen Hermann Müller als gültige Regierungspolitik formuliert und initiiert; Gustav Stresemann konnte von ihnen lernen und ab 1923/24 als Akteur an sie anknüpfen, so wie auch Hermann Müller als Reichskanzler von 1928 bis 1930 seine Politik wieder bruchlos an ihnen orientierte.

  20 ADAP A II (1984): Dok. Nr. 204, S. 369f.: Runderlaß des Reichsministers des Auswärtigen Müller vom 21. Oktober 1919. Daraus auch die folgenden Zitate. – Auch hierauf verwies bereits Krüger (1986): Versailles, S. 86 und S. 175f.

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3. IM ZEICHEN DER BEFRIEDUNG EUROPAS: REVISIONSPOLITIK ALS VERSTÄNDIGUNGSPOLITIK In seiner Regierungserklärung als Reichskanzler resümierte Hermann Müller am 29. März 1920 vor der Nationalversammlung den Kurs seiner Außenpolitik: Außenpolitisch bleibt das Programm der Reichsregierung das gleiche: loyale Erfüllung des Friedensvertrages, Schaffung einer Atmosphäre des Vertrauens und der Gemeinsamkeit zwischen den Völkern, Heranholung aller Hilfsquellen für den Aufbau Deutschlands und endgültiger Bruch mit allen Kriegsmitteln und mit allen Kriegsanschauungen in der Politik. Ich sage: außenpolitisch bleibt unser Kurs derselbe, und ich darf hinzufügen: weil er sich bewährt hat.

Als der Schwächere im Kräftespiel der Mächte bediene man sich dabei gegenüber den Vertragspartnern „der Vernunftgründe, der Überredung, der Gegenvorschläge“. Mit diesen Mitteln habe man bereits „einige der schlimmsten Forderungen auf ein mögliches Maß zurückgeführt“ und, „was mehr und für die Zukunft wertvoller ist: wir haben allen Widerständen zum Trotz etwas Vertrauen gewonnen“, ein Vertrauen, das sich „durch die schleunige Abdrosselung des Kapp-Putsches“ noch gesteigert habe. Insbesondere sei die deutsche Regierung „seit Unterzeichnung des Vertrages von Versailles ehrlich bemüht gewesen, alles zu erfüllen, was zu erfüllen überhaupt in ihrer Macht stand“.21 Wenige Wochen zuvor hatte Müller in diesem Sinne in der regierungsnahen „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ die Zusammenfassung eines Interviews mit dem Berliner Vertreter der „Chicago Tribune“ – das gewiss nicht zufällig an die US-amerikanische Öffentlichkeit gerichtet war – unter dem bezeichnenden Titel „Was Deutschland schon bezahlte“ lanciert: Danach schätzten die zuständigen deutschen Zentralstellen „mit großer Vorsicht“ die bereits geleisteten Wertübertragungen und Zahlungen an die Siegermächte auf knapp 37 Milliarden Goldmark, unter Einbeziehung etwa der Saarkohlengruben, der Liquidationen deutscher Unternehmen im Ausland oder des in den abgetretenen Gebieten verlorenen Reichs- und Staatseigentums. Es sei unmöglich zu leugnen, „daß Deutschland schon jetzt bis an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit bestrebt gewesen ist, den durch den Krieg entstandenen Schaden wieder gutzumachen.“22 Allerdings war es Müller durchaus bewusst, dass ungeachtet solcher auch von entsprechender Propaganda begleiteter Beteuerungen und Postulate mit den angestrebten Revisionserfolgen im Gefolge einer multilateralen Regelung weltweiter finanzieller und wirtschaftlicher Fragen kurzfristig kaum zu rechnen war, zumal ja selbst die Höhe der dem Deutschen Reich aufzuerlegenden Reparationszahlungen und ihr Zahlungsmodus vorläufig ganz unbestimmt blieben. Das belegt schon Müllers einstweilige Skepsis im Hinblick auf die essentielle Rolle der Vereinigten Staaten von Amerika, die er 1919 geäußert hatte, mehr noch seine illusionsfreie Einschätzung der von der Regierung der Französischen Republik betriebenen Machtund Sicherheitspolitik gegenüber dem Deutschen Reich. Reichskanzler Müller hielt   21 Verhandlungen der Nationalversammlung (1920): Bd. 332, S. 4932–4937, Zitate S. 4933f. 22 Was Deutschland schon bezahlte. In: Deutsche Allgemeine Zeitung vom 10. Februar 1920.

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1920 „eine Zusammenarbeit Frankreichs und Deutschlands auf wirtschaftlichem Gebiete“ für „unbedingt geboten, wenn sich Deutschland nicht wirtschaftlich und finanziell verbluten soll, was den wirtschaftlichen Ruin der übrigen europäischen Länder“ nach sich ziehen werde: „Ohne ein lebensfähiges Deutschland kann ja Europa nicht leben.“23 Doch statt der grundsätzlich auch von dem französischen Ministerpräsidenten Alexandre Millerand befürworteten deutsch-französischen Wirtschaftskooperation erfolgte am 6. April 1920 die Besetzung des Maingaus durch französisches Militär als Reaktion auf eine Verletzung der entmilitarisierten Zone rechts des Rheins durch Reichswehrverbände, die gegen eine linksradikale Aufstandsbewegung im Ruhrgebiet vorgingen. Müller hatte sich intensiv, aber vergeblich darum bemüht, diese Sanktionsmaßnahme der französischen Regierung abzuwenden, und reagierte entsprechend verbittert: Deutschland leide „mitten im Frieden unter den Gewaltsamkeiten eines im Kriege erstarkten übermächtigen Militarismus, dem wir nichts entgegensetzen können als unser gutes Recht. Am Main ist der französische Militarismus eingerückt wie in Feindesland.“ Müller bezeichnete „die militärische Vergewaltigung Deutschlands“ als „eine Sünde an Europa“, als „Frevel gegen das französische und gegen das deutsche Volk“, und sah sich in seiner Haltung durch die Abwendung der britischen und italienischen Regierungen von dem französischen Vorgehen bestätigt. Müller argumentierte in seiner Stellungnahme vor der Nationalversammlung vom 12. April 1920 unbeirrt mit der Forderung einer Befriedung Europas im eigentlichen Sinne: Wir wollen eine deutsche Demokratie inmitten der übrigen europäischen Demokratien. Aber damit sich in ganz Europa die Demokratie auswirken kann, müssen die Voraussetzungen für einen dauernden Weltfrieden geschaffen werden, und dazu ist nötig, daß [...] endlich das Duell Deutschland-Frankreich aufhöre, daß die neue Aera wirtschaftlicher Zusammenarbeit nicht angekündigt, sondern in Angriff genommen werde. [...] Für uns aber bleibt es in der inneren und in der äußeren Politik für unsere Beziehungen zu allen Ländern bei dem Bekenntnis: Abkehr von allen Kriegsanschauungen und allen Kriegsmitteln!

Die französische Regierung hingegen gefährde durch die Okkupation des Maingaus nicht nur den europäischen Wiederaufbau, sie habe darüber hinaus „in Deutschland wieder eine ungeheure Aufputschung aller nationalistischen Instinkte ausgelöst.“24 Tatsächlich ging Müller in seiner ersten Rede als Oppositionsführer im neuen Reichstag am 1. Juli 1920 dann so weit, zu behaupten, dass an dem für die republikanischen Parteien negativen Ausgang der jüngsten Wahlen in Deutschland „niemand mehr Schuld hat als die Foch und Clemenceau, die nicht nur nichts getan haben, um der jungen deutschen Republik zu helfen, sondern die am liebsten keinen Tag vorübergehen ließen, um [sic, gemeint vermutlich: ohne] diese Republik und ihre Regierung vor der ganzen Welt zu demütigen. [...] Das mußte eine nationa  23 Verhandlungen der Nationalversammlung (1920): Bd. 332, S. 4934. 24 Verhandlungen der Nationalversammlung (1920): Bd. 333, S. 5048–5053, Zitate S. 5048 und S. 5051–5053.

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listische Strömung in weiten Kreisen des deutschen Volkes auslösen, wenn man uns bei jeder Gelegenheit chikaniert.“ Dennoch zeigte sich Müller „fest überzeugt, daß früher oder später im Interesse der gesamten europäischen Wirtschaft doch der Tag kommt, wo man nicht nur in England und Italien, sondern auch in Frankreich“ einsehen werde, „daß die Politik, die nach Versailles geführt hat, unmöglich ist, wenn man nicht den Zusammenbruch von ganz Europa auf sein Gewissen laden will.“25 Dieser Tag ließ auf sich warten, und das Duell Deutschland-Frankreich dauerte noch gute drei Jahre an. Die langfristig vorbereitete militärische Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen im Januar 1923 aus geringfügigem Anlass stellte gleichsam die in ungeheure Dimensionen gesteigerte Variante einer spezifischen Form militärisch akzentuierter französischer Machtpolitik dar, die bereits 1920/21 verschiedentlich erprobt worden war. Sie erforderte vom sozialdemokratischen Oppositionsführer im Reichstag Hermann Müller eine politische Reaktion, die über die bloße Wiederholung von Invektiven gegen den französischen Militarismus und die Verteidigung des passiven Widerstands hinausreichte und in der Debatte vom 16. April 1923 konstruktive Formen annahm.26 Solange der „Einbruch in das Ruhrgebiet“ nicht liquidiert werde, „wird es eine Befriedung Europas nicht geben. Die ganze Welt, insbesondere das Wirtschaftsleben auch der neutralen Völker, wird auf das stärkste von den Folgewirkungen dieses Einbruchs beeinflußt.“ Weder die anderen Mächte noch der Völkerbund zeigten sich allerdings bereit, „Europa aus dieser furchtbaren Situation herauszuhelfen“. Das Ausbleiben einer Vermittlung von dritter Seite verpflichte folglich „uns in erster Linie zu prüfen, ob nicht von deutscher Seite selbst eine Politik gesteigerter Aktivität zu entfalten wäre. Wir dürfen hier nicht auf das Wunder warten, das uns aus den Schwierigkeiten heraushilft, in die wir geraten sind. Das wäre keine Politik.“ Wie sollte gemäß Müllers Einschätzung eine solche Aktivierung der deutschen Politik aussehen? Unter Verweis auf die eigenen Interessen der Reparationsgläubiger, die in Müllers Argumentation fortwährend eine wesentliche Rolle spielten, forderte der SPD-Vorsitzende die Rückkehr zu Verhandlungen: „Und zu Verhandlungen müssen wir einmal kommen.“ Schon aufgrund der offenkundigen und unmittelbaren Beeinträchtigung der deutschen wie der internationalen ökonomischen Entwicklung, die mit dem „Wirtschaftskampf an der Ruhr“ verbunden sei, „müssen wir wünschen, daß der Tag der Verhandlungen bald herankommt, in denen über alle diese Fragen, die für den Dauerfrieden Europas entscheidend sind, endlich Klarheit geschaffen wird.“ In diesem Sinne müsse man von der Regierung verlangen, „daß eine Politik geführt wird, die den Weg zu Verhandlungen erleichtert“. Jede Verhandlung müsse als nächstes Ziel die Räumung des Ruhrgebiets auf kürzeste Frist haben. Doch im Kern ging es Müller um die Neuverhandlung der Reparationsproblematik.   25 Verhandlungen des Reichstags (1921): Bd. 344, S. 78–88, Zitate S. 88. 26 Verhandlungen des Reichstags (1923): Bd. 359, S. 10546–10551. Daraus die folgenden Zitate.

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„Wie aber kommen wir zu solchen Verhandlungen?“ Wer sich in der Welt umhöre, der stoße immer wieder „auf das Verlangen, daß Deutschland ein präzises Angebot machen soll“. Unter Rückgriff auf einen Angebotsvorschlag, der seit Januar 1923 bereits in verschiedenen Varianten von der Reichsregierung lanciert worden war, und auf die grundlegende und richtungweisende Rede des US-Außenministers Charles E. Hughes vom Dezember des Vorjahres, in der die Prüfung der deutschen Leistungsfähigkeit durch ein unparteiisches internationales Finanzkonsortium als unentbehrliche Voraussetzung einer ernsthaften Neuordnung der Reparationsfragen hervorgehoben worden war – Müllers Rede muss im Rahmen einer breiten nationalen und internationalen einschlägigen Diskussion kontextualisiert werden – plädierte Müller im Namen seiner Fraktion für „ein direktes Angebot an die Gesamtheit der Alliierten“, bei dem nicht bloß eine Globalsumme in Betracht komme, sondern „es sehr wesentlich auf die Modalitäten der Zahlung ankommt“. Ein solches Angebot sollte Müller zufolge drei Voraussetzungen erfüllen, „wenn es auf der anderen Seite ernst genommen werden soll“: Es müsse „den Wiederaufbau der verwüsteten Gebiete Nordfrankreichs und Belgiens ermöglichen“, den Gläubigern „gewisse Garantien geben, die die Verzinsung und Tilgung der aufzunehmenden Anleihen sichern würden“, denn ohne reale Garantien seien in den in Frage kommenden Staaten keine Anleihen zur Ankurbelung der deutschen Wirtschaft flüssig zu machen, und das Angebot müsse drittens auf die deutsche Leistungsfähigkeit Rücksicht nehmen. Müller verband mit diesen Voraussetzungen gleich noch zwei Konsequenzen, die er als im deutschen Interesse liegend von erfolgreichen Verhandlungen auf dieser Linie erwartete: Es sei „ganz selbstverständlich, daß in dem Augenblick, wo fremde Gläubiger ihr Geld für Deutschland engagieren sollen, auch Schluß mit der Politik der Sanktionen gemacht werden muß“, und dass diese Gläubiger auch kein Verständnis für die weitere Verschwendung von Besatzungskosten aufbringen würden, mithin auf eine rasche Räumung des Rheinlandes oder zumindest eine Lockerung des Besatzungsregimes drängen würden. Damit hatte Müller gleich noch zwei seiner revisionspolitischen Ziele auf die Agenda der angestrebten Verhandlungen gesetzt, mehr noch: Seine Argumentation machte deutlich, wie in seinen außenpolitischen Vorstellungen Revisionspolitik und Verständigungspolitik miteinander verquickt, ja weitgehend identisch waren insofern, als sie sich gleichermaßen durch die alleinige Methode friedlicher Verhandlungen auszeichneten. Tatsächlich wiesen die Vorschläge, die Müller dem Reichstag unterbreitete, auf wesentliche Inhalte der 1924 im Dawes-Plan verwirklichten Reparationsregelung voraus, die von einem internationalen Sachverständigengremium erarbeitet wurde, die Zahlungsmodalitäten und die Frage der deutschen Leistungsfähigkeit über die Festlegung einer Gesamtsumme stellte, eine Anschubfinanzierung zugunsten der deutschen Wirtschaft auf Anleihebasis mit entsprechenden realen Garantien von deutscher Seite verband und die schließlich eine Politik der territorialen Sanktionen als Reaktion auf deutsche Zahlungsversäumnisse sachlogisch ausschloss. Im übrigen ging Hermann Müllers Rede derjenigen von Gustav Stresemann, der am Folgetag im Reichstag zum selben Thema sprach, nicht nur wiederum zeitlich voraus, sie war vielmehr argumentativ erheblich präziser, umspannte einen weiteren Hori-

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zont und reichte gedanklich immer noch deutlich über Stresemanns zu diesem Zeitpunkt erreichte vorsichtige Annäherung an außenpolitische Realitäten und Erfordernisse hinaus.27 Denn anders als Stresemann ging es Hermann Müller nicht bloß um eine auf dem Verhandlungswege herbeizuführende Revision der alliierten Reparationspolitik. Der SPD-Vorsitzende war vielmehr – und auch hier schaltete er sich in einen längst sich entfaltenden Diskurs in der internationalen Öffentlichkeit ein – darauf bedacht, zugleich „auch über die Frage der Sicherheit Frankreichs“ zu verhandeln. „Denn, täuschen wir uns nicht: die Beunruhigung in Frankreich ist da! – man mag darüber denken wie man will. Weil sie aber da ist und in den maßgebenden französischen Kreisen geteilt wird, deshalb ist sie ein Faktor der europäischen Politik.“ Müller erkannte das Problem des französischen Bedürfnisses nach Sicherheit vor einer erneuten deutschen Aggression grundsätzlich an und gab sich nicht mit der Losung der internationalen Sozialisten zu diesem Problem zufrieden, die lautete, „wir wollen das Äußerste tun, um für alle Zeiten nach jeder Richtung hin Kriege zu verhindern“. Müller griff stattdessen einen rudimentären und leicht skurril anmutenden Vorschlag der Reichsregierung auf, demzufolge die am Rhein interessierten Staaten sich zu treuen Händen Amerikas gegenseitig verpflichten sollten, für einen längeren Zeitraum ohne Plebiszit keinen Krieg gegeneinander zu führen, und skizzierte unter impliziter Kritik daran im sozialdemokratischen Sinne ein umfassendes Projekt zur Sicherung des europäischen Friedens: Wenn beispielsweise alle in der Rheinschiffahrtskommission vertretenen Staaten sich gegenseitig verpflichten würden, mit allen Mitteln die Grenzen der jetzigen Rheinuferstaaten aufrechtzuerhalten, so wäre das eine Erklärung, die jede deutsche Regierung abgeben könnte, und meine Freunde hätten nichts dagegen einzuwenden, wenn zur Verstärkung auch die Vereinigten Staaten von Amerika aufgefordert würden, einer solchen Vereinbarung als Garanten beizutreten. Wir sind auch bereit, über [ein] Menschenalter hinaus [...] in feierlichster Form die Erklärung abzugeben, daß Deutschland keinerlei Krieg gegen irgendeine Macht führen will, daß also die Abmachung, die [im Vorschlag der Reichsregierung] nur nach Westen gedacht war, sich auch auf den Osten erstreckt, also ganz allgemein gelten soll.

Die „Einleitung einer solchen Sicherungspolitik“ werde gleichzeitig „die Vorbereitung für den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund sein können“, der trotz seiner gegenwärtigen Unvollkommenheit eine Einrichtung mit Zukunft sei. Die SPDFraktion im Reichstag könne jedenfalls erklären, „daß wir zu jeder Zeit bereit sind, mit all unserem politischen und parlamentarischen Einfluß eine Politik der Sicherung zu garantieren, wie ich sie [...] gezeichnet habe.“ Das Ziel solcher Be  27 Dessen ungeachtet wird dieser Reichstagsrede Stresemanns vom 17. April 1923 in der einschlägigen Forschung eine eminente Rolle zugeschrieben; tatsächlich wird sie zumindest inhaltlich weit überschätzt: Vgl. zuletzt ausführlich Pohl (2015): Gustav Stresemann, S. 219–227 mit Anm. 11, der eine angemessene Kontextualisierung vermissen lässt und es gar nicht in Betracht zieht, Stresemanns Rede mit derjenigen Müllers abzugleichen, obwohl Stresemann immerhin an einer Stelle selbst auf Müllers Rede vom Vortag verweist.

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mühungen müsse es sein, dass nach der „Liquidation dieses Ruhrabenteuers [...] Frankreich, Deutschland und damit das gesamte Europa endlich die Befriedung finden“. Hermann Müller plädierte in seiner Reichstagsrede vom 16. April 1923 für eine aktive deutsche Außenpolitik, die nicht nur auf die Londoner Konferenz von 1924 und den Dawes-Plan vorauswies, sondern ebenso auf entscheidende Regelungen der Locarno-Konferenz von 1925, den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund 1926 und letztlich sogar auf den Kellogg-Pakt zur Ächtung des Angriffskrieges von 1928, wobei Müller von vornherein über die in Locarno erreichten Abmachungen hinaus auch ein kriegerisches Vorgehen gegen die Nachbarn des Deutschen Reiches im Osten ausschloss. Diese Rede stellte mithin einen weiteren Meilenstein sozialdemokratischer Außenpolitik als Präfiguration einer spezifischen Weimarer Außenpolitik der friedlichen Verständigung dar. Es sollte auch an dieser Stelle deutlich werden, dass eine intensive Einbeziehung von Müllers außenpolitischem Wirken in einschlägige Forschungen hilfreich und unbedingt erforderlich ist, wenn es um die Genese und die gedankliche wie parlamentarische Grundlegung der republikanischen Außenpolitik und ihrer Erfolge geht: Die einseitige Konzentration auf Stresemann und das Auswärtige Amt ab 1923/24 hilft hier nur bedingt weiter und führt tendenziell in die Irre, sofern der sozialdemokratische Anteil an den Entwicklungen, die die deutsche Außenpolitik nach London, Locarno, Genf und Paris führen sollten, unbeachtet bleibt. Gustav Stresemann ging im Bereich der auswärtigen Politik noch 1923 bei Hermann Müller in die Lehre und konnte in den Folgejahren in seiner operativen Außenpolitik auf dessen gedanklichen Vorgaben und politischen Vorarbeiten aufbauen. Die weitere Entwicklung der außenpolitischen Positionen und Bemühungen Müllers als Oppositionsführer, Reichskanzler und elder statesman kann hier nicht mehr im einzelnen verfolgt werden. Vielmehr sollen abschließend vier für den Weg der spezifischen Weimarer Verständigungspolitik entscheidende Gesichtspunkte zusammenfassend hervorgehoben werden. Erstens war es den sozialdemokratischen Spitzenpolitikern klar, dass es über vernünftige Ansätze einer deutschen Außenpolitik und ihrer Repräsentanten hinaus für jeglichen Erfolg einer Revisionspolitik als Verständigungspolitik zur Befriedung Europas unabdingbar war, dass sich die Vertrags- und Verhandlungspartner des Deutschen Reiches, insbesondere die Regierungen Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten, für eine kooperative Gestaltung der internationalen Beziehungen und für die Einbeziehung Deutschlands als gleichberechtigten Partner in eine Neuordnung Europas aufgeschlossen und bereit zeigten. Solange das nicht der Fall war, konnte ein außenpolitischer Neuansatz im Sinne Müllers sich nicht wirksam entfalten: Daher Müllers ständige Ermahnungen, die Kriegsatmosphäre müsse überwunden, eine Atmosphäre des Vertrauens zwischen den Völkern geschaffen werden. Erst mit der Überwindung der internationalen Ruhrkrise entstand ab 1924 in Europa eine Situation, in der mit der verstärkten finanz- und wirtschaftspolitischen Intervention von Seiten der USA sowie mit den Linksregierungen in Großbritannien und Frankreich eine erfolgversprechende deutsche Revisions- und Verständigungspolitik überhaupt möglich wurde. Der Finanzexperte und

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führende Theoretiker der Weimarer SPD, Rudolf Hilferding, analysierte diese Voraussetzungen 1924 als eine von den angelsächsischen Weltmächten ausgehende Entwicklung hin zur Möglichkeit eines „realistischen Pazifismus“.28 Hermann Müller setzte seine Hoffnungen gleichzeitig insbesondere auf die Regierung der britischen Labour Party unter James Ramsay MacDonald: „Die Zukunft der europäischen Demokratie hängt in erster Linie davon ab, daß es der Staatskunst englischer Arbeiterführer gelingt, die Basis einer Verständigung für das französische, deutsche und englische Volk zugleich zu finden. Gelingt dieses Werk [...], dann wird von der Bildung der englischen Arbeiterregierung eine neue Epoche der Weltgeschichte datieren.“29 Das mag in der Rückschau exaltiert klingen, zumal die Linksregierungen in Großbritannien und Frankreich sich als kurzlebig erwiesen und Müller auf Faktoren wie den internationalen demokratischen Sozialismus, den wachsenden Einfluss von per definitionem friedliebenden Volksmassen auf die internationale Politik oder auf eine demokratische Öffentlichkeit setzte statt ausschließlich auf die nüchterne Interessenpolitik nationaler Regierungen. Doch erschien aus der Sicht sozialdemokratischer Spitzenpolitiker Mitte der 1920er Jahre eine friedliche Zukunft der europäischen Politik grundsätzlich möglich und Schritte zu ihrer Verwirklichung schienen aussichtsreich: Auch das stellt im Zusammenhang der Beurteilung der Weimarer Außenpolitik und ihrer Chancen eine Realität dar. Zweitens ging es Hermann Müller in seiner Außenpolitik bis zu seinem frühen Tod im März 1931 inhaltlich immer um die Revision der Pariser Friedensordnung. Das ist nicht zu bestreiten: Müller forderte fortwährend eine Reduzierung der von den Siegermächten verlangten Reparationszahlungen; an der erfolgreichen Revision des Dawes-Plans 1929 wirkte er selbst als Reichskanzler entscheidend mit, nur um bald darauf auch die Revision des Young-Plans im Sinne der wirtschaftlichen Vernunft einzufordern.30 Im Hinblick auf die territorialen Regelungen von Versailles sprach Müller sich über die Rückgewinnung der Souveränität über das Reichsgebiet hinaus seit 1919 unentwegt für die Vereinigung der Republik Österreich mit dem Deutschen Reich aus; mit den Grenzen zur Republik Polen war Müller nicht einverstanden und ging in diesem Kontext Ende September 1930 zu einer offenen Revisionsrhetorik über. Inhaltlich berief er sich auf nationales Denken und das Recht auf Selbstbestimmung. Schließlich forderte Müller nicht zuletzt als Sozialist unentwegt die Abrüstung der anderen Mächte gemäß den Vorgaben der Friedensverträge.31 Entscheidend in diesem Zusammenhang aber ist Drittens: Hermann Müller schloß als Reichsminister des Auswärtigen, als Reichskanzler, als Vorsitzender der SPD und ihrer Reichstagsfraktion und als Vertreter der Sozialistischen Arbeiter-Internationale Krieg und Aggression als Mittel einer deutschen Revisionspolitik grundsätzlich und kategorisch aus. Die Revision   28 29 30 31

Hilferding (1924a): Probleme der Zeit; ders. (1924b): Realistischer Pazifismus. Müller (1924): Demokratische Außenpolitik, S. 45f. Müller (1931): Kommen die Vereinigten Staaten von Europa?, S. 5. Vgl. zu Müllers revisionspolitischen Anliegen insgesamt Müller (1921): Völkerbeziehungen und Internationale, ders. (1924): Demokratische Außenpolitik, ders. (1925): Internationale Politik, ders. (1930): Deutsch-französische Verständigung.

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der Pariser Friedensordnung sollte ausschließlich auf dem Wege der friedlichen Verständigung durch internationale Verhandlungen durchgesetzt werden. Müller forderte nie etwas anderes, als dass über umstrittene Fragen verhandelt werde, und nichts anderes bedeutet Revision im eigentlichen Sinne. Als Institution zur rechtlichen Regelung zwischenstaatlicher Probleme sah Müller den Völkerbund, der etwa die Bedingungen einer allseits zu akzeptierenden Volksabstimmung im deutschpolnischen Grenzraum ausarbeiten oder der eines Tages den Weg zur Schaffung der großdeutschen Republik bahnen würde. Diese Ziele verfolgte Müller konsequent und methodisch konsistent, er setzte sie jedoch nie absolut. Denn die Befriedung Europas als höchstes Ziel einer sozialdemokratisch grundierten deutschen Außenpolitik, das sich wörtlich oder sinngemäß in buchstäblich jeder einschlägigen Rede oder Schrift Müllers findet, implizierte eine unbedingte Selbstbeschränkung in den Mitteln: Die „Ausschaltung kriegerischer Verwicklungen für alle Zukunft“32, das Ziel, „für alle Zukunft der [...] Menschheit den Dauerfrieden zu sichern“33, die Überzeugung, dass „selbstverständlich [...] um die Weichsellande kein Krieg geführt werden“ dürfe, denn „der Einsatz eines neuen Krieges ist so groß, daß kein Stück Land ihn rechtfertigen könnte“34, der vernunftgeleitete Verzicht auf Gewalt verweisen sachlogisch auf Müllers Bereitschaft – um noch einmal Peter Krüger zu zitieren –, „notfalls auf Ziele [...] zu verzichten oder sie zurückzustellen, bis größere Geneigtheit der anderen Mächte besteht, sich damit zu befassen“.35 Müllers Revisionspolitik war der Befriedung Europas untergeordnet und sollte ihr den Weg bahnen. Auch auf globaler Ebene suchte Müller „durch offene und aufrichtige Zusammenarbeit mit den anderen Nationen auf die Erhaltung des Weltfriedens hinzuwirken und kein anderes Gesetz für die Gestaltung der internationalen Beziehungen anzuerkennen, als das Gesetz der friedlichen Verständigung und des friedlichen Ausgleiches“.36 Viertens schließlich postulierten Müllers Überlegungen fortwährend einen engen und unlöslichen Zusammenhang von demokratischer Ordnung und friedlicher Außenpolitik. Müllers bereits 1919 geäußerte Auffassung, innere und äußere Politik Deutschlands müssten einheitlich sein, sein 1925 formulierter Appell, „die ständige Bereitschaft, für die Erhaltung der deutschen Republik zu kämpfen“, sei „nicht nur ein Gebot der inneren Politik, sondern zugleich die beste Garantie für die Erhaltung eines dauernden Friedens der Welt“37, seine Überzeugung, „der Aufstieg eines neuen Deutschland wird nur auf dem Boden der Demokratie in einem wirklichen Völkerbund möglich sein“, entwickelte Müller zu dem Konzept einer „demokratischen Außenpolitik“ weiter, mittels derer „die Methoden einer friedlichen Demokratie endlich und dauernd in der äußeren Politik Europas triumphieren“   32 33 34 35 36 37

Müller (1921): Völkerbeziehungen und Internationale, S. 77. Müller (1924): Demokratische Außenpolitik, S. 43. Müller (1930): Deutsch-französische Verständigung, S. 426. Vgl. oben S. 3. Müller (1928): Rede vor der Völkerbundversammlung, S. 1. Müller (1925): Internationale Politik, S. 67.

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sollten38. „Das Ideal der Vereinigten Staaten von Europa“ etwa werde „erst verwirklicht werden, wenn alle europäischen Staaten demokratisch regiert werden“ – Diktaturregime wie die in Italien, Serbien, Spanien oder Russland, so Müller 1931, würden die politische und wirtschaftliche Einigung Europas nur stören.39 Darüber hinaus könne nur die Stabilisierung der europäischen Demokratien die Entstehung künftiger Kriege verhindern: Ihnen vorzubeugen, sei „die Aufgabe der deutschen Demokratie. Das ist die Aufgabe der französischen Demokratie, das ist die Aufgabe der Demokratie in allen europäischen Staaten.“ Die Rettung Europas vor künftigen Kriegsgefahren werde „um so sicherer gelingen, je eher und je besser sich die friedliebenden Demokratien Deutschlands und Frankreichs verständigen“.40 Die Stabilisierung der deutschen Demokratie aber und die dauerhafte Pazifizierung der deutschen Außenpolitik konnte in Hermann Müllers Sicht letztlich nur die Regierungsbeteiligung der SPD garantieren. Denn, so ermahnte der Reichskanzler auf dem Magdeburger Parteitag Ende Mai 1929 seine Parteigenossen, „wenn Sie in Zukunft Kriege verhindern wollen, werden Sie die Kriege nicht dadurch verhindern, daß Sie dauernd die bürgerlichen Parteien allein regieren lassen, sondern indem Sie den Einfluß der Sozialdemokratie auf die Politik, insbesondere auf die Friedenspolitik, soviel als möglich sichern“.41 Aus der Perspektive des Jahres 1929/30 war die Fortsetzung der spezifisch republikanischen Weimarer Außenpolitik der friedlichen Verständigung mehr denn je von ihrer sozialdemokratischen Qualität abhängig. LITERATUR Akten zur deutschen Auswärtigen Politik 1918–1945. Serie A: 1918–1925. Band II: 7. Mai bis 31. Dezember 1919. Göttingen 1984. Behring, Rainer: Demokratische Außenpolitik für Deutschland. Die außenpolitischen Vorstellungen deutscher Sozialdemokraten im Exil 1933–1945. (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 117.), Düsseldorf 1999. Ders.: Wegbereiter sozialdemokratischer Außenpolitik. Hermann Müller. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. April 2006, 8. Ders.: Hermann Müller und Polen. Zum Problem des außenpolitischen Revisionismus der deutschen Sozialdemokratie in der Weimarer Republik. In: Archiv für Sozialgeschichte 55 (2015), 299– 320. Ders.: Weltfriedensordnung durch Parlamentarisierung. SPD und Parlamentarismus in den internationalen Beziehungen 1923–1932. In: Lehnert, Detlef (Hrsg.): SPD und Parlamentarismus. Entwicklungslinien und Problemfelder 1871–1990. (Historische Demokratieforschung, Bd. 9.), Köln u. a. 2016, 163–184. Ders.: Polemische Überlegungen zu einem geschichtswissenschaftlichen und publizistischen Neuansatz. In: Faulenbach, Bernd / Rother, Bernd (Hrsg.): Außenpolitik zur Eindämmung entgrenzter Gewalt. Historische Erfahrungen der Sozialdemokratie und gegenwärtige Herausforderungen. Essen 2016, 55–68.

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Müller (1924): Demokratische Außenpolitik, S. 44f. Müller (1931): Kommen die Vereinigten Staaten von Europa?, S. 1f. Müller (1930): Deutsch-französische Verständigung, S. 429. Sozialdemokratischer Parteitag (1929): S. 85.

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LIQUIDIERUNG DES KRIEGES UND KONSOLIDIERUNG DES FRIEDENS Walther Rathenaus Konzeption einer liberalen Wirtschaftsaußenpolitik1 Wolfgang Michalka Schon vor 1914 forderte Walther Rathenau eine zielorientierte und kreative deutsche Politik: „Was wir brauchen, ist: Ziele in der auswärtigen, Ideen in der inneren Politik.“2 In mehreren Schriften warf er der preußischen Politik vor, einseitige und damit falsche Eliterekrutierung zu betreiben. Besonders in Preußen, so sein Vorwurf, würden Offizierskorps und Diplomatie nahezu ausschließlich aus Aristokraten und Großagrariern rekrutiert werden. Die Zeit dieser traditionellen Eliten sei allerdings vorbei, weil neue Anforderungen andere Qualifikationen verlangten. Den eigentlichen Grund für die antiquierte, ja falsche Führungsauslese sah Rathenau jedoch in der Judenpolitik Preußens.3 Sein Credo lautete daher: Ein Industriestaat von der Bedeutung unsres Reiches bedarf aller seiner Kräfte, der geistigen und materiellen; er kann auf einen Faktor wie den des deutschen Judentums nicht verzichten. Noch ehe ein Jahrzehnt vergeht, wird der letzte Schritt zur Emanzipation der Juden geschehen sein.4

Angesichts der immer enger werdenden wirtschaftlichen Verflechtung erschien Rathenau Krieg als der Wirtschaft schadend und daher als anachronistisch: „Der   1 2 3

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Dieser Beitrag stützt sich auf frühere Untersuchungen, besonders auf Michalka (1993): Mitteleuropa; ders. (2003): Rathenaus politische Karriere; ders. (2010): Begründer und ders. (2014): Blockierter Weg sowie jetzt: ders. (2019): Frieden. An Ernst Friedegg, 27.1.1912. Rathenau, WRG, V,1, S. 1053. Dies hätte zur Folge, dass wichtige bürgerliche Potentiale aus Wirtschaft und Bildung kaum genutzt und nicht in die Verwaltungs- und Regierungsverantwortung eingebunden würden. Dem Bürgertum kreidete er an, sich zu wenig politischen Aufgaben zu stellen und sich der politischen Verantwortung zugunsten wirtschaftlicher Vorteile zu entziehen: „Kein Mensch will beim Geldverdienen gestört sein. [...] Politik? Mögen Fachleute und Arbeitslose sich drum kümmern, wenn nur die Konjunktur bestehen bleibt.“ Siehe: Politische Auslese. In: Gesammelte Schriften (1918). Bd. 1, S. 231; jetzt auch WRG, I, S. 944ff. Rathenau vermisste in der deutschen Politik eine – was er besonders an England bewunderte – kreative Führungsauslese. In der für sein politisches Denken zentralen Schrift „Staat und Judentum“ aus dem Jahre 1911 setzte er sich damit rigoros auseinander. Ganz im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten, wo Juden eine den christlichen Mitbürgern gleichberechtigte Stellung einnehmen, würden in Preußen die Bürger jüdischen Glaubens nach wie vor nicht für verantwortungsvolle, „hoheitliche“ Funktionen zugelassen. In: Ebd. S. 183–207 auch in WRG, I, S. 798ff. Rathenau, Staat und Judentum (1911), in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 191 auch in WRG I, S. 810.

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Kriegsgott unserer Tage heißt wirtschaftliche Macht.“5 An die Stelle kriegerischer Konfliktlösungen sollte der wirtschaftliche Wettbewerb treten. Nicht mehr durch kriegerische Auseinandersetzung würden machtpolitische Konflikte zwischen den Staaten ausgetragen, sondern „Finanz und Technik entscheiden die Geschicke der Welt“. Für Rathenau war die Wirtschaft das zeitgemäße politische Schwungrad. Nicht Politik, sondern „die Wirtschaft ist das Schicksal!“, sollte er 1921 dieses Selbstverständnis auf den Punkt bringen.6 Um dem britischen, aber auf Dauer vor allem dem amerikanischen Konkurrenzdruck wirtschaftlich widerstehen zu können, empfahl Rathenau schon vor dem Krieg eine europäische Wirtschaftsvereinigung unter deutscher Suprematie: Das Ziel würde eine wirtschaftliche Einheit schaffen, die der amerikanischen ebenbürtig, vielleicht überlegen wäre, und innerhalb des Bundes würde es zurückgebliebene, stockende und unproduktive Landesteile nicht mehr geben. Gleichzeitig aber wäre dem nationalistischen Haß der Nationen der schärfste Stachel genommen. Verschmilzt die Wirtschaft Europas zur Gemeinschaft, und das wird früher geschehen als wir denken, so verschmilzt auch die Politik. Das ist nicht der Weltfriede, nicht die Abrüstung und nicht die Erschlaffung, aber es ist Milderung der Konflikte, Kräfteersparnis und solidarische Zivilisation.7

Kein Wunder auch, dass Rathenau den Kriegsausbruch 1914 im Gegensatz zu den meisten seiner bürgerlich-intellektuellen Zeitgenossen nicht als euphorisch begrüßte Erlösung, sondern vielmehr als Verhängnis verstand. „Dieser Krieg ist nicht ein Anfang, sondern ein Ende; was er hinterlässt sind Trümmer“, schrieb er in seinem 1917 erscheinenden Buch Von kommenden Dingen. Und gegen die Kriegszieldiskussion gerichtet: „Ich glaube nicht an unser Recht zur endgültigen Weltbestimmung.“ Sein Fazit lautete schließlich: „wir sterben als ein Geschlecht des Übergangs.“8 Unmittelbar nach Kriegsbeginn unternahm Rathenau zwei bemerkenswerte Vorstöße. In seinem Tagebuch lesen wir: Bald nach Kriegsbeginn tat ich zwei Schritte:1. Ich bot dem Kanzler meine Dienste an und arbeitetet ihm ein Projekt einer Zollunion für Deutschland, Österreich-Ungarn, Belgien, Frankreich aus; 2. ich ging zu Oberst Scheüch ins Kriegsministerium und entwickelte ihm den Gedanken der Rohstofforganisation.9

Am 13. August 1914 wurde das neue Amt, die von Rathenau angeregte Kriegsrohstoff-Abteilung, geschaffen, die er acht Monate leitete und zu einer höchst effizienten Institution ausbaute. Dadurch konnte eine drohende Munitionskrise abgewendet und angesichts der unzureichenden wirtschaftlichen Rüstung des Deutschen Reichs der Krieg erst dauerhaft geführt werden. Es war „unbestreitbar die erfolgreichste   5 6 7 8 9

Die Neue Ära (1907), in: Nachgelassene Schriften, Bd. 1, S. 16.; jetzt auch: WRG, I, S. 482ff. Rede auf der Tagung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie. Gehalten in München am 28. September 1921. In::Gesammelte Reden (1924), S. 264. Deutsche Gefahren und neue Ziele (1913), in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 278; WRG I, S. 1079. WRG, II, S. 423f. Rathenau (1967): Tagebuch, S. 185f.; WRG III, S. 978.

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Wirtschaftsorganisation, die während des Krieges in Deutschland geschaffen wurde.“10 Parallel zu seiner Aufbautätigkeit in der Kriegsrohstoff-Abteilung (KRA) formulierte Rathenau im August/September 1914 in drei dem Reichskanzler vorgelegten Kriegsziel-Denkschriften seine Vorstellungen von einer deutsch-österreichischen Zollunion und einem sich daraus entwickelnden mitteleuropäischen Wirtschaftsverband unter deutscher Führung. Er griff dabei auf seine wirtschaftspolitischen Mitteleuropa-Pläne aus der Vorkriegspolitik zurück11 und glaubte nun, dass der Krieg und vor allem die Umstellung auf Kriegswirtschaft eine Situation geschaffen hätten, die ein deutsches Mitteleuropa notwendig und auch realisierbar gemacht haben würden. Schon in den ersten Kriegstagen, Anfang August 1914, schickte Rathenau Reichskanzler von Bethmann Hollweg seine erste, bislang als verloren geglaubte Denkschrift über eine deutsch-österreichische Zollunion. Indem er sich auf die wirtschaftliche Vereinigung der beiden Mittelmächte beschränkte, wollte er die infolge der britischen Seeblockade verlorene Position Deutschlands auf dem Weltmarkt kompensieren und den europäischen Binnenmarkt festigen. Darüber hinaus versprach er sich von einem deutsch-österreichischen Zollbündnis eine angemessene Verteilung der Kriegskosten. Die Einbeziehung Frankreichs in diese Wirtschaftszone, das wurde nur angedeutet, würde darüber hinaus erhebliche finanzielle Entlastungen versprechen. Rathenau ging von der Erkenntnis aus, dass die deutsche Wirtschaft auf einen längeren Krieg in keiner Weise vorbereitet gewesen war. Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich Rathenau am 28. August 1914 mit einer zweiten Denkschrift an den Reichskanzler. Jetzt erstaunt sein feierlich-pathetischer Ton, aber auch seine Forderung, „schon jetzt den künftigen Friedensschluß mit Frankreich vorzudenken“, wenn dieser auch erst „nach schwerer Arbeit mit England“ möglich sein würde. Offensichtlich hatten seine neue Tätigkeit als Leiter der KRA im preußischen Kriegsministerium, aber wahrscheinlich auch die anfänglichen militärischen Erfolge gegen Frankreich seine ursprünglich skeptisch-pessimistische Haltung positiv umstimmen können. Der in seiner ersten Denkschrift angeregte deutsch-österreichische Zollverein wird zwar erwähnt und als die „größte zivilisatorische Errungenschaft, die der Krieg unserer Geschichte bescheren kann“, gepriesen, im Mittelpunkt seiner Ausführungen steht jetzt jedoch die Notwendigkeit, die Weltwirtschaft neu zu ordnen. Frankreich und Belgien sollten ihre Märkte öffnen und sich dem deutsch-österreichischen Wirtschaftsbündnis anschließen. Da England seine dominierende Position auf dem Weltmarkt an die Vereinigten Staaten verloren habe, sollte das Deutsche Reich, unterstützt von den kontinentaleuropäischen Staaten, ein finanzpolitisches Gegengewicht bilden.12   10 Feldman (1985): Armee, S. 57. 11 Seit 1912 vertrat Rathenau die Konzeption einer Zollunion mit Österreich, der Schweiz, Italien, Belgien und den Niederlanden. Vgl. dazu im größeren Zusammenhang und im folgenden Michalka: Mitteleuropa, in: Wilderotter (1993): Extreme, S. 179–188. 12 Politische Briefe (1929), S. 18f.; WRG III, S. 898–900.

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Rathenau zählte nicht zu denen, die von einem kurzen Krieg ausgingen. Diese Annahme verwarf er als illusionär, als falsch. Selbst beim möglichen Ausscheiden Frankreichs und später auch Russlands vertrat er die Überzeugung, dass es mit England zu einem langjährigen Wirtschaftskrieg kommen werde, der letztlich von Deutschland nicht zu gewinnen sein würde. In seiner Schrift „Friedenswege“ aus dem Jahre 1916 argumentierte er, dass wohl keine der gegnerischen Mächte „aus Mangel an Mannschaft, noch an Geld, noch an mechanischen und materiellen Hilfsmitteln“ aus dem Krieg ausscheiden und vor der Zeit zusammenbrechen werde, „wenn sie nicht unvorhergesehene und unverantwortliche Fehler“13 mache. Und sollte es zu einem Frieden kommen, dann werde dieser nach Rathenaus Einschätzung ein „kurzer Waffenstillstand sein, und die Zahl der kommenden Kriege unabsehbar, die besten Nationen werden hinsinken, und die Welt wird verelenden.“ Um dies zu verhindern, müsse der kommende Frieden wirtschaftlich begründet werden. In diesem Sinne hatte er sich Alfred Kerr gegenüber geäußert: Ich bin gewiß: die letzte Entscheidung in dieser ganzen Sinnlosigkeit wird nicht durch einen ‚Sieg’ herbeigeführt, sondern durch einen ökonomischen Vergleich zwischen den Partnern; darauf kommt es hinaus.14

Daraus folgerte er, wohl etwas zu optimistisch, dass „Privatleute von internationaler Erfahrung und internationalem Ansehen ohne Auftrag aus eignem Antrieb sich begegnen“ sollten, um festzustellen, ob die Ansprüche ihrer Nationen wirklich so unüberbrückbare Gegensätze darstellen, um die Vernichtung und Schädigung von jährlich fünf Millionen Menschenleben und die Ausgabe von jährlich mehr als hundert Milliarden europäischen Vermögens auf unbestimmte Zeit zu rechtfertigen.15

Als der Krieg „stationär“ geworden war, sich in einem kräfteverzehrenden Stellungskrieg festgefressen hatte und das machtpolitische Patt seine Beendigung in weite Ferne rücken ließ, empfahl Rathenau deshalb eine gütlich-einvernehmliche und vor allem dauerhafte Lösung des militärischen Konflikts. Internationale Wirtschaftsprüfer sollten gegenseitig das jeweilige Wirtschaftspotential begutachten und auf dieser Grundlage den Krieg „liquidieren“. Weiterhin regte er neben der Gründung eines Völkerbunds auch Schiedsgerichte an sowie generelle Abrüstung. Diese Empfehlung kam erst 1924 ansatzweise zum Tragen, als Finanzsachverständige unter dem Vorsitz des amerikanischen Bankiers Charles Gates Dawes und 1929 Owen D. Young die Zahlungsmodalitäten des Deutschen Reiches im Kontext der Reparationen in Abkommen neu regelten, um einen wirtschaftlichen Crash in Europa zu verhindern.   13 Friedenswege, in: Rathenau (1928): Nachgelassene Schriften, Bd. 1, S. 57.; WRG III, S. 140– 146. 14 Kerr (1935): Rathenau., S. 163ff. 15 Friedenswege, in: Rathenau (1928): Nachgelassene Schriften, Bd. 1, S. 59; WRG III, S. 143f.

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Angesichts der Entwicklung der Kriegslage sah sich Rathenau gezwungen, sein ursprünglich mittel- und westeuropäisch ausgerichtetes Programm zu modifizieren. Von wegweisender Bedeutung wurde für ihn die Frage, ob Deutschland eine Einigung entweder mit England oder mit Russland anstreben sollte. Diese beantwortete er klar: Großbritannien werde stets Gegner eines starken Deutschlands sein, weil die britischen Interessen unvereinbar mit denen des Deutschen Reiches seien. Er wollte nun – wie er sich in einem Schreiben vom 30. August 1915 an Bethmann Hollweg äußerte – die militärische Entscheidung an der Westfront erzwingen, einen Waffenstillstand mit Frankreich herbeiführen, gegenüber England einen Seekrieg einkalkulieren und ein „gutes Verhältnis zu Amerika“ herstellen.16 Er glaubte, eine Spaltung der Entente lasse sich dadurch erreichen, dass sich Russland – nach einem erfolgreichen deutschen Durchbruch an der Westfront – zu einem Separatfrieden bereit finden würde. Unter diesem Aspekt deklarierte Rathenau Russland zum „künftigen Absatzgebiet“ des Deutschen Reiches und gab zu erwägen, größere russische Gebiete für längere Zeit zu besetzen und diese wirtschaftlich zu erschließen.17 „Rußland braucht eine Finanzmacht, die Frankreich nicht mehr ist, England nicht werden darf; es braucht einen Schutz gegen England. Wir können Rußland finanzieren. [...] Rußland ist unser künftiges Absatzgebiet.“18 Rathenau spielte mit dieser Argumentation auf die Erfahrungen mit der britischen Seeblockade an. Deutschland benötige einen großen autarken Binnenmarkt, der in erster Linie im Osten Europas zu errichten sei. Rathenau war offensichtlich der Meinung, dass nur ein unter deutscher Herrschaft geeintes Europa, welches durch ein mächtiges Ostimperium zu ergänzen wäre, den Seemächten Großbritannien und Amerika Paroli bieten könnte. Anstelle des ursprünglich angestrebten, unter deutscher Führung organisierten kontinentalen Binnenmarktes könnte Russland nun zu einem deutschen „Ostimperium“ werden, wirtschaftliche Autarkie und geostrategische Vorteile garantieren. Die bolschewistische Revolution und der erzwungene Friede von Brest-Litowsk, die mit einem Schlag den von Deutschland nicht zu gewinnenden Zweifrontenkrieg beendeten, ließen dann auch machtpolitische Perspektiven anklingen und utopische Visionen ins Kraut schießen, die später in den Jahren 1941 bis 1943 ihre verbrecherische Realisierung zu finden schienen. Rathenaus Machtverständnis hingegen gründete sich eben nicht auf militärisch-machtstaatliche, geographische oder demographische Faktoren, sondern beruhte in erster Linie auf der Kraft des Ökonomischen und damit eng verbunden auf der Fähigkeit zu organisieren, zu produzieren, zu erfinden, also auf dem intellektuellen und unternehmerischen Potential des Bildungs- und Wirtschaftsbürgertums und vor allem auf dem ökonomischen Wettbewerb.

  16 Rathenau (1929): Politische Briefe, S. 45–49; hier: S. 48; WRG III, S. 1394–1397, hier: 1397. 17 Vgl. ebd., S. 47; WRG III, S. 1396. 18 Ebd., S. 46f.; WRG III, S. 1396.

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Für Rathenau wurde in der zweiten Kriegshälfte der Gedanke bestimmend, „daß der Vierverband gesprengt werden muß, und daß, wie es auch gelingen mag, wir uns mit Rußland verbünden.“19. Schon am 8. Mai 1917 schrieb Rathenau erneut an Bethmann Hollweg und erklärte, dass in Russland die Friedensneigung deutlich gewachsen wäre, allerdings würden die Hemmungen, durch einen Separatfrieden mit Deutschland die eigenen Kampfgenossen zu verraten, nicht ohne Weiteres zu überwinden sein. Deswegen entwickelte er den „paradox erscheinenden Gedanken“, sozusagen auf einer „Nebenbühne“ Österreich-Ungarn und die Türkei zu bestärken, mit dem sich revolutionär auflösenden Rußland Friedensgespräche aufzunehmen. Somit würde das umworbene Rußland zumindest nach außen hin seine Bündnispflicht England und Frankreich gegenüber nicht verletzten, da ja das Deutsche Reich an diesen Sondierungen für einen Separatfrieden nicht direkt beteiligt sein würde. Die erhoffte Folge würde sein, daß ein nunmehr neutrales Österreich nicht mehr von Deutschland militärisch gestützt und gehalten werden müsse und dass damit auch die Ostfront wesentlich entlastet werden könnte. Darüber hinaus würden russische Materialien und Lebensmittel über Österreich auch nach Deutschland gelangen können. Insgesamt würde diese neu zu schaffende Situation auf einen Separatfrieden auch mit Deutschland hinauslaufen, was wiederum auch im Westen erhebliche Auswirkungen haben könnte. Vor allem Frankreich käme zum erstenmal in diesem Kriege in die Lage zu erklären, man habe zwar gesiegt, aber durch Rußlands Schuld lassen sich die Früchte des Sieges nicht gewinnen, und infolgedessen könne man sich mit Ehren zurückziehen.20

Wenig später unterbreitete Rathenau auch General von Seeckt diese Vision eines Separatfriedens zwischen Österreich und Russland.21 Es ist bekannt, dass die Entwicklung im Osten anders verlief, als sich das Rathenau vorgestellt hatte. Den schließlich im Frühjahr 1918 geschlossenen Friedensvertrag von Brest-Litowsk konnte er nicht gutheißen. Trotz seiner moderat anmutenden Vorstellungen sollte nicht verschwiegen werden, dass es auch durchaus andere Töne von Rathenau zu hören gab. So wollte er ein Bündnis mit Russland regelrecht erzwingen, indem „deutsche Soldaten“ neben Petersburg und Moskau „einen größeren Teil des wirklichen Rußland längere Zeit besetzt halten“22 sollen. Und bezeichnender Weise wandte sich Rathenau mit diesem radikalen Russlandkonzept nicht nur an den Reichskanzler, sondern auch an General Ludendorff, der sich diesen Vorstellungen gegenüber aufgeschlossen zeigte und mit dem Rathenau in einen intensiven Meinungsaustausch trat. Bei mehreren Treffen in den Jahren 1916/17 versuchte der jüdische Industrielle, den erfolgreichen Feldherrn, den er als die kommende Führerpersönlichkeit zu erkennen glaubte, von sich selbst einzunehmen und diesen von seinen politischen Vorstellungen zu überzeugen.   19 An Conrad Haussmann, 15.09.1915, WRG, V, 2, S. 1462. 20 Rathenau (1929): Politische Briefe, S. 128–134; hier: S. 133; WRG III, S. 1647–1650, hier: S. 1648f. 21 Vgl. an von Seeckt, 26.6.1917, ebd., S. 148–153; WRG III, S. 1662–1664. 22 An Bethmann Hollweg, 30.8.1915, ebd., S. 47; WRG III, S. 1394–1397.

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Es war Rathenau, der im Rahmen des Hindenburg-Programms von 1916, das die letzten kriegsentscheidenden Kräfte mobilisieren sollte, General Ludendorff zusicherte, aus dem besetzten Belgien 700 000 Arbeiter deportieren und der deutschen Kriegswirtschaft zuführen zu können. Gerade dieses Ansinnen wurde ihm nach dem Krieg vorgeworfen, so dass er Anklage und sogar Auslieferung befürchten musste. Und überhaupt zählte Rathenau zu den Bewunderern Ludendorffs, den er als den „kommenden Mann" pries und sogar eine Militärdiktatur als „letztes Mittel“ sah, um den Krieg zugunsten Deutschlands doch noch entscheiden zu können. Unterschiedliche Auffassungen über operative Erfolge und politische Folgen des uneingeschränkten U-Boot-Krieges besonders hinsichtlich des drohenden Kriegseintritts der USA an der Seite der Kriegsgegner Deutschlands führten im Sommer 1917 zum Bruch. Als nämlich Anfang Oktober 1918 das Waffenstillstandsgesuch der 3. Obersten Heeresleitung bekannt wurde, konnte Rathenau diesen Schritt nicht gut heißen. Mit seinem Aufruf vom 7. Oktober 1918 prangerte er das deutsche Waffenstillstandsgesuch als übereilt und gar als falsch an, schlug sein bis dahin gutes Verhältnis zu Ludendorff in Feindschaft um: „Wer die Nerven verloren hat, muß ersetzt werden.“ Er forderte hingegen eine Art „Levée en masse“, um eine bessere, stärkerer Position bei den anstehenden Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen zu erreichen: „Nicht im Weichen mußte man Verhandlungen beginnen, sondern zuerst die Front befestigen [...] Wir wollen nicht Krieg, sondern Frieden. Doch nicht den Frieden der Unterwerfung.“23 Dieser Aufruf in einer Zeit, in der sich Kriegsmüdigkeit und Niedergeschlagenheit breit gemacht hatten, stieß auf völliges Unverständnis und hatte eine polarisierende, nervenzerreißende Wirkung. Rathenau galt nun als unverantwortlicher Kriegsverlängerer, ja als Kriegshetzer. Der sich missverstanden Fühlende verteidigte und rechtfertigte sich, aber er war jetzt ein „Gezeichneter“ (Harry Graf Kessler). Hinzu kamen seine sehr kontrovers aufgenommenen Publikationen, wie „Die neue Wirtschaft“ (Januar 1918) und vor allem auch sein Portrait „Der Kaiser“ (März 1919), in dem er erklärte, dass die Weltgeschichte ihren Sinn verloren hätte, wenn „der Kaiser, als Sieger der Welt, mit seinen Paladinen auf weißen Rossen durchs Brandenburger Tor gezogen“ wäre, ließen Rathenau zum Defaitisten und zur Unperson werden. Kein Wunder auch, dass er sich ins gesellschaftliche Abseits gedrängt fühlte und ihm die erhoffte politische Aufgabe verwehrt blieb. Sein Appell „An Deutschlands Jugend“ (1918) blieb ungehört, seine Abrechnung mit den bestehenden Parteien zeigte wenig Wirkung und sein mit Ernst Troeltsch und anderen Persönlichkeiten gemeinsam verfolgtes Bemühen, eine „Partei der deutschen Freiheit“ zu gründen, scheiterte. Er musste konstatieren, dass von ihm weder Rat noch Tat gefragt waren. Verständnislos wandte er sich am 16. Dezember 1918 an den Volksbeauftragten Friedrich Ebert, in dem er sich darüber   23

Ein dunkler Tag, in: Vossische Zeitung, 7.10.1918, in: Rathenau (1929): Schriften aus Kriegsund Nachkriegszeit, S. 258–261; WRG III, S. 494–500.

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beschwerte, dass er aus der Sozialisierungskommission ausgeschlossen wurde. Und überhaupt habe die Volksregierung „von meinen Diensten keinen Gebrauch gemacht.“24 Rathenau schloss sich der Deutschen Demokratischen Partei an, blieb aber auch dort stets ein Außenseiter. Erst nach dem Scheitern des Kapp-Putsches wurde Rathenau im April 1920 in die zweite Sozialisierungskommission und dann auch zu den Sachverständigen für die Konferenz von Spa berufen. Da ging es um die Reparationsfrage, die zum Bewegungsgesetz der Weimarer Außenpolitik wurde. Reichskanzler Joseph Wirth schließlich holte ihn als Wiederaufbauminister und Anfang 1922 als Außenminister in sein Kabinett. Dieses stand unter dem politischen Leitstern der „Erfüllungspolitik.“25 In seiner Antrittsrede vor dem Reichstag am 2. Juni 1921 betonte Rathenau, dass er nicht als Mitglied einer Partei, sondern als unabhängiger Fachminister berufen wurde. Er nehme sich daher das Recht heraus, seinen neuen „Aufgabenkreis so unpolitisch zu behandeln wie möglich“ und ihn „privatwirtschaftlich und industriell“ zu verstehen. Er wolle sein Amt „nach rein sachlichen Grundsätzen führen.“26 Damit hatte Rathenau mit wenigen Worten sein Verständnis von Politik und vor allem von seiner künftigen Aufgabe unmissverständlich umrissen. Nicht von Wählern und vom Parteimandat abhängige Politiker, die den politischen Stimmungslagen ausgeliefert seien, sondern neutrale Sachverständige, das heißt kompetente und erfahrene Fachleute, seien „jenseits von Partei und Parlament“27 primär in der Lage, das komplexe Gefüge der Politik unabhängig und berechenbar zu kontrollieren, diese effektiv zu lenken. Konsequent legte er auch alle wirtschaftlichen Verpflichtungen und Ämter nieder. Ihm war auch bewusst, dass seine wirtschaftspolitische Reformvorschläge, die er in Vorträgen, Broschüren und Büchern proklamiert hatte, derzeit nicht zu realisieren waren: „Das erste, was geschehen muß, ist nicht die grundsätzliche Umgestaltung unserer Wirtschaft – das ist ein Prozeß, der mehr als ein Menschenleben braucht und nicht von einzelnen durchgeführt werden kann und darf – sondern die Aufgabe, die übernommenen Lasten überhaupt tragbar zu machen. Diese Rechnung aber kann nicht ohne die Gegenseite gemacht werden, der wir verschuldet sind.“28 In seiner Reichstagsrede legte er auch die von ihm einzuschlagen beabsichtigte Politik dar: „Ich bin eingetreten in ein Kabinett der Erfüllung. Wir müssen Wege finden, uns mit der Welt wieder zusammenzubringen.“ Hier klingt bereits das an, was später Gustav Stresemann als die Suche nach den „gleichlaufenden Interessen“ formulieren wird.   24 Rathenau (1926): Briefe, Bd. 2, S. 88: WRG III, S. 1839f. 25 Vgl. dazu im größeren Zusammenhang Michalka (2003): Rathenaus politische Kariere, S. 67– 84. Vgl. auch Hentzschel-Fröhlings (2007): Walther Rathenau als Politiker. 26 Rathenau (1924): Gesammelte Reden, S. 200. 27 So der Titel von Sösemann, in: Wilderotter (1993): Extreme, S. 169–178. 28 An Ernst Lehmann, 21.6.1921, WRG. V, 2, S. 2584.

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In situationsgerechter Analyse der durch Kriegsniederlage, Machtverschiebungen und der von den Pariser Vorortsverträgen neugefügten Nachkriegsordnung Europas erkannte Rathenau trotz des Versailler Vertrages Handlungsmöglichkeiten für eine neue liberale Politik, die sich der Kraft einer intakten und gesunden Wirtschaft als Schwungrad bedienen sollte mit dem Ziel, die vormals innegehabte Großmachtstellung des Deutschen Reiches wieder zu erringen. Dabei erkannte er in der gemeinsamen europäischen Aufbauarbeit das entscheidende Mittel, „einen Kontinent wiederherzustellen.“29 Er unterstrich, dass sein Hauptaugenmerk auf Frankreich gerichtet sei; denn dieses Land habe „überaus schwer vom Kriege gelitten“ und benötige dringend und wolle den Aufbau. Schon im Juli 1919 hatte Rathenau dem Zentrumspolitiker und damaligen Finanzminister Matthias Erzberger sein außenpolitisches Programm dargelegt: Das besiegte und durch einen auch seiner Meinung harten Friedensvertrag geknebelte Deutsche Reich müsse in seiner „verzweifelten Lage [...] den beweglichen Punkt [...] finden, von dem aus die ganze Situation aufgerollt werden kann.“30 Dieser Punkt – so fuhr er fort – liege in Belgien und Nordfrankreich, und zwar beim Problem des Wiederaufbaus. Nicht allein materielle und – wie es die Reparationsforderungen vorsahen – finanzielle Leistungen sollten von dem besiegten Deutschen Reich einseitig erbracht werden, sondern – und darin knüpfte Rathenau an seine bereits vor 1914 entwickelten Europapläne an – die betroffenen Nationen sollten gemeinsam mittels wirtschaftlicher Verflechtung die Kriegsschäden beheben. Rathenau empfahl einerseits der deutschen Regierung, mit Hilfe der sogenannten „Erfüllungspolitik“ die deutsche Bereitschaft zur Wiedergutmachung verursachter Schäden zu demonstrieren. Gleichzeitig aber sollten damit die Grenzen, ja letztlich die Unmöglichkeit der geforderten Reparationsleistungen von Deutschland offenbar gemacht werden. Zwar gebe es derzeit keine Alternative, jedoch sei die Erfüllungspolitik niemals als „Selbstzweck“ misszuverstehen. Mit diesem Verständnis von „Erfüllungspolitik" knüpfte Rathenau an Hermann Müllers Erklärung vor der Nationalversammlung am 23. Juli 1919 an, in der dieser als Außenminister ausführte: Wir lassen keinen Zweifel darüber, dass es uns mit dem Willen zu dieser Erfüllung bis zur Grenze unserer Fähigkeiten ernst ist, wir wollen aber auch keinen Zweifel darüber lassen, dass wir mit allen loyalen Mitteln die Revision dieses Vertrages erstreben werden.31

  29 So der Titel von Krüger: Rathenau als Außenpolitiker, in: Wilderotter(1993): Extreme, S. 189– 202. 30 Willy Brandt argumentierte am 6. Oktober 1967 als Außenminister in einer Gedenkfeier zum 100. Geburtstag Walther Rathenaus ähnlich: "Man kann den Interessen des eigenen Landes um so besser gerecht werden, je genauer man die Interessen anderer versteht, um dann die Punkte gemeinsamer Interessen zu finden." Brandt (1967): Außenpolitik, S. 8. 31 Verhandlungen der Nationalversammlung, Bd. 328 (1919), S. 1853; zitiert nach Klümpen (1992): Außenpolitik, S. 69; vgl. Krüger (1986): Versailles, S. 173. Siehe hierzu auch den Beitrag Rainer Behrings in diesem Band über Hermann Müller und dessen Bedeutung für die Etablierung einer republikanischen Außenpolitik.

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Auch Matthias Erzberger vertrat die Position, „von den entsetzlichen Friedensbedingungen all das durchzuführen, was wir tatsächlich durchführen können, damit diejenigen Forderungen, die wir nicht durchführen können, auch von der ganzen Welt als undurchführbar angesehen werden.“32 Reichskanzler Fehrenbach hingegen verfolgte die Strategie „Ohne Revision keine Reparationen.“ Sein Nachfolger Joseph Wirth wandelte als Kanzler diese unter dem Druck der Alliierten in „erst Erfüllung soweit wie möglich, dann Revision“. Die erste Reparationsrate wurde fristgemäß erbracht, so dass der britische Botschafter in Berlin D'Abernon feststellen konnte: „In vierzehn Tagen ist unter Wirth ein größerer Fortschritt erzielt worden als in einem Jahr unter Fehrenbach und Simons.“33 Ihr Prestige konnte die Reichsregierung weiter verbessern, als sie pünktlich und vollständig die Entwaffnungsbestimmungen des Londoner Ultimatums ausführte. Mit der Wirthschen Erfüllungspolitik entspannte sich allmählich das internationale Klima. Rathenau entwickelte ein europäisches Wiederaufbauprogramm, aufgrund dessen in den verwüsteten Gebieten Frankreichs und Belgiens deutsche Arbeiter konkrete Aufbauleistungen verrichten würden. Die Reduzierung der hohen Arbeitslosigkeit, die Behebung des Kapitalmangels und der Aufschwung der durch absurde Reparationszahlungen paralysierten deutschen Wirtschaft würden dadurch erreicht werden können, was wiederum der gesamten europäischen Wirtschaft zugute kommen würde. Eine Wirtschaftsverflechtung gleichberechtigter Partner könnte – so argumentierte Rathenau – die vom Krieg emotionalisierte Politik schließlich versachlichen und damit auch berechenbar machen. Nicht Widerstand gegen unsinnige Maßnahmen und Forderungen der Alliierten wäre jetzt der richtige Weg, sondern vielmehr die gemeinsame Sanierung der europäischen Wirtschaft und dies mit amerikanischer Hilfe. Mit Nachdruck forderte er die USA auf, endlich ihre wirtschaftliche und politische Führungsrolle in Europa wahrzunehmen. Nur wenige Wochen nach seiner Ernennung zum Wideraufbauminister traf er sich mit dem französischen Minister für die befreiten Gebiete, Louis Loucheur, der wie er aus der Elektroindustrie kam, zu Gesprächen in Wiesbaden. Bei dieser „fast sensationell anmutenden Begegnung“34 entwickelten die beiden Wirtschaftspolitiker Pläne zur Lösung der Reparationsfrage. Angestrebt war ein umfangreiches Programm an Sachlieferungen, Arbeitsleistungen sowie ein System der Finanzierung und Abrechnung der erbrachten Kriegsentschädigungen. Bereits im Herbst 1919 war es zu Verhandlungen um deutsche Kohlelieferungen nach Frankreich gekommen, obwohl diese erst nach Inkrafttreten des Versailler Vertrages am 10. Januar 1920 notwendig gewesen wären. Die gegenseitige Abhängigkeit macht den Grad der wirtschaftlichen Verflechtung deutlich. Die nach dem   32 Zitiert nach Epstein (1976): Erzberger, S. 424. 33 D‘Abernon (o.J. [1929]): Botschafter, Bd. 1, S. 198. 34 Krüger (1993): Außenpolitiker, S. 190

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Krieg veränderte Außenpolitik wurde nun nicht mehr ausschließlich auf der Ebene der Politik, sondern – wegen der ökonomischen Implikationen der Reparationen – auch auf der wirtschaftlichen Ebene betrieben. Rathenau griff den gescheiterten Seydoux-Plan35 auf, modifizierte diesen und schlug vor, von 1921 bis 1924 Waren im Wert von 9 Milliarden Goldmark an Frankreich zu liefern. Das Geld hierfür sollte durch Anleihen der Reichsregierung aufgebracht und von der Reparationskommission verrechnet werden. Am 6. Oktober 1921 wurde das Wiesbadener Abkommen unterzeichnet. Die erzielte Verbesserung der deutsch-französischen Beziehungen hatte darüber hinaus zur Folge, dass die Zollgrenze zwischen dem besetzten und unbesetzten Deutschland aufgehoben wurde. Das Wiesbadener Abkommen scheiterte unmittelbar an den Auswirkungen der umstrittenen Oberschlesien-Aufteilung, aber auch wie schon der Seydoux-Plan am Widerstand Londons, das ein deutsch-französisches Arrangement befürchtete. Dadurch wurde auch der grundsätzliche Gegensatz in den politischen Konzeptionen Englands und Frankreichs in der Reparationsfrage deutlich: Nicht der deutsche Widerwille, die Reparationen zu zahlen, war das Kernproblem, sondern das fehlende Einvernehmen zwischen Paris und London über Ziele und Modalitäten. [...] Da fast alle Probleme, die sich aus dem Versailler Vertrag ergaben [...], multilateral waren, mussten bilaterale Ansätze [...] scheitern. [...] Die vergleichsweise moderne Politik von Wiesbaden scheiterte aber nicht nur an der mangelnden Einbeziehung Dritter, sondern auch an der Komplexität der Reparationsfrage.36

Auch wenn es keineswegs das erfüllte, was man sich versprach, verstand Rathenau das mit Loucheur ausgehandelte deutsch-französische Abkommen als ersten Schritt hin zu einer kooperativ-kollektiven Wirtschaftsaußenpolitik. Für ihn bedeuteten die Wiesbadener Verhandlungen einen ersten Versuch, auf dem Wege der Verständigung „zur Erträglichkeit der Lasten“ zu kommen.37 Keine spätere außenpolitische Aktion habe so deutlich Rathenaus persönlichen Intentionen entsprochen wie diese, weil sie alle Komponenten seiner politischen Zielvorstellung beinhaltete und Wirtschaft mit Politik kongenial zu verknüpfen vermochte.38 Nicht mehr die aus dem Krieg tradierte militärische Gewalt als Mittel der Konfliktlösung sollte für Rathenau bestimmend sein, sondern der alternative Ansatz, der zu einer Zivilisierung der Nachkriegskonflikte durch Gewaltverzicht, Konferenzdiplomatie und wirtschaftliche Kooperation führen würde. Indem er die Reparationsproblematik aus dem Bereich der Politik in den der Wirtschaft verlegen wollte und vor allem unabhängige Sachverständige forderte, nimmt er die spezifische Form der „Bankers“ und „Business Diplomacy“ vorweg, die sich in der Mitte der zwanziger Jahre sukzessive und auch nur für kurze Zeit gegen die nationa  35 36 37 38

Vgl. Krüger (1985): Außenpolitik, S. 117f. Blessing (2008): Frieden, S. 84. Vgl. an Ernst Lehmann, 21.6.1921, WRG, V, 2, S. 2584. So Schulin (1992): Rathenau. S. 114.

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listische Machtpolitik durchsetzen konnte. Neben den traditionellen Diplomaten prägten immer mehr wirtschaftliche Experten die internationalen Beziehungen.39 Dementsprechend war Rathenau auch bestrebt, das an die Peripherie der Staatenwelt gedrängte bolschewistische Russland möglichst bald in die europäische Wirtschafts- und Staatengemeinschaft zurückzuholen. Denn eine stabile Nachkriegsordnung und Rekonstruktion der Weltwirtschaft wäre ohne Deutschland und Sowjetrussland nicht möglich. Internationale Wirtschaftsbeziehungen waren seiner Meinung nach die beste Voraussetzung einer friedlichen Staatensolidarität. In diesem Politikverständnis erhielt Rathenau vom britischen Premier Lloyd George Unterstützung. Dessen Ziel war der wirtschaftliche Wiederaufbau und die politische Befriedung „Europas vom Atlantik bis zum Ural“40, so dass nun auch das bolschewistische Russland auf die politische Agenda kam. Gedacht war dabei an ein aus den Staaten West- und Mitteleuropas mit Russland gebildetes Konsortium, das mit Geld aus dem Westen, Know-how aus Deutschland und dem Markt im Osten möglichst alle europäischen Wirtschaftsprobleme auf einmal lösen sollte. Eine internationale Konferenz unter Einbeziehung Deutschlands und der Sowjetunion sollte zur Lösung der Reparationsfrage und zur wirtschaftlichen und politischen Befriedung Europas beitragen. Die Konferenz von Cannes (6.–13. Januar 1922) diente zur Vorbereitung dieses ambitionierten Vorhabens. Walther Rathenau unterstützte das von Lloyd George angeregte internationale Syndikat zwischen dem Deutschen Reich, Großbritannien, Belgien und möglicherweise auch Frankreich, um die sowjetische Wirtschaft wiederaufbauen und für die westlichen Staaten als Handelspartner zurückgewinnen zu können. Als Sicherheit bot Deutschland den umworbenen Syndikatspartnern die Kontrolle über spezielle deutsche Wirtschaftszweige an. Dieser zum Teil kontrovers aufgenommene Plan fand sowohl in London als auch in Paris insgesamt Befürwortung. Die Franzosen zum Beispiel sahen darin eine Möglichkeit, Deutschlands Zahlungsfähigkeit von Reparationen zu gewährleisten und zusätzlich zu steigern. Für London konnte dieses Projekt eine Erweiterung der britischen Handelsbeziehungen bedeuten, um damit politischen Einfluss auf das bolschewistische Russland nehmen zu können. Und es ist offensichtlich, dass die deutschen Entscheidungsträger aus Wirtschaft und Politik mit diesem Projekt revisionistische und darüber hinaus gehende Zielvorstellungen verfolgten. Indem man gemeinsam mit den Westmächten die sowjetische Wirtschaft „erschloss“, sollte die eigene Wirtschaft stabilisiert und ausgebaut werden mit dem Ziel, die vormals besessene und potentiell noch vorhandene wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands in Europa zu erreichen. Liberal-imperialistische Kriegsziele von einem wirtschaftlichen Mitteleuropa unter deutscher Hegemonie   39 Vgl. Niedhart (1994): Geschichte, S. 237. 40 Vgl. Fink/Frohn/Heideking (1991): Genoa.

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und ergänzt bzw. erweitert durch ein wirtschaftliches Ostreich wären somit auf friedlichem Weg und damit dauerhafter doch noch erreicht worden – trotz der Niederlage im Krieg. Neu – aber nur im Hinblick auf die Taktik und keinesfalls auf die Zielsetzung – waren Methode und Funktion dieses Unternehmens. Indem nämlich Berlin die Westmächte zur „friedlichen“ Mitarbeit aufforderte, sicherte man sich einmal deren Unterstützung dieser von ihnen bislang bekämpften Politik. Zum anderen aber – und das ist das Besondere und vielleicht auch Wichtigste an diesem Konzept – wollte man innerhalb dieses Syndikats die Gleichberechtigung und auf Dauer – wie das schon vor 1914 der Fall war – die wirtschaftliche Führungsposition Deutschlands erreichen, um auf diesem Wege quasi über Moskau den Vertrag von Versailles revidieren zu können. Noch während des polnisch-russischen Krieges, in dem Deutschland strikte Neutralität bewahrte, bekannte man sich zu der Notwendigkeit, die bis dahin inoffiziellen Wirtschaftsbeziehungen auf eine vertragliche Grundlage zu stellen und diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Die anfängliche Furcht in Deutschland vor dem Bolschewismus wich allmählich. Besonders Vertreter der Exportindustrie drängten auf vertragliche Grundlagen der Handelsbeziehungen; sie fürchteten, dass ausländische Konkurrenten ihnen zuvorkommen könnten. Allerdings erst nachdem die Briten eine Handelsübereinkunft mit Moskau getroffen hatten, wurde im Mai 1921 eine Handelsabkommen geschlossen. Die deutsche Wirtschaft erhielt Aufträge in Milliardenhöhe.41 Noch vor Rathenaus Ernennung zum Außenminister am 31. Januar 1922 wurden deutsch-russische Sonderverhandlungen aufgenommen mit dem gemeinsamen Ziel, sich gegenseitig Vorkriegsschulden zu erlassen. Besonders bestrebt war die deutsche Seite, Russland zu bewegen, auf Ansprüche nach Artikel 116 des Versailler Vertrages, der das Recht auf Reparationen begründete, zu verzichten. Die Sowjets signalisierten Interesse an einer Klärung der deutsch-sowjetischen Beziehungen und regten darüber hinaus ein Handelsabkommen an. Der Weg nach Rapallo zeichnete sich ab. Die Sowjets lehnten jedoch die von Deutschland angebotene „internationale Hilfsmaßnahme“ in richtiger Einschätzung der wahren Absichten ab. Sie baten vielmehr die Alliierten, eine Lösung der ehemaligen Schulden bzw. Auslandsguthaben herbeizuführen. Der britische Premierminister Lloyd George und sein französischer Kollege Aristide Briand beantworteten diese Bitte mit dem Vorschlag, eine internationale Wirtschaftskonferenz in Genua einzuberufen, auf der alle diese Probleme hätten gelöst werden können. Auch die beiden „Paria-Mächte“ Deutschland und Sowjetrussland wurden eingeladen mit dem Ziel, für die europäische Wirtschaft eine Gesamtlösung zu finden.

  41 Vgl. Linke (1972): Deutschland, S. 32.

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Obwohl damit das internationale Russlandgeschäft gescheitert war, bemühten sich sowohl Moskau als auch Berlin, ein einseitiges Zusammengehen des anderen mit den Westmächten zu verhindern. Kreise der Schwerindustrie, die Ostabteilung im Auswärtige Amt und vor allem die Reichswehrführung waren bestrebt, die Kontinuität deutscher Machtpolitik hinsichtlich ihrer Ziele wie ihrer Methoden vom Kaiserreich zur Republik aufrecht zu erhalten. In enger wirtschaftlicher, aber auch militärischer Kooperation mit Moskau wollten sie ein Gegengewicht zum neu entstandenen und als „Saisonstaat" abqualifizierten Polen und letztlich auch zu den Siegermächten im Westen bilden, außenpolitische Handlungsfreiheit gewinnen und Voraussetzungen für eine baldige machtpolitische Revision des Versailler Vertrages schaffen. Für sie bedeute diese Politik der erste Schritt einer auf Bündnisfähigkeit beruhenden, aktiven Außenpolitik. Es war Joseph Wirth, der für diese Politik eintrat.42 Besonders durch zwei Ereignisse sei er von seiner ursprünglich auf Verständigung und Zusammenarbeit beruhenden „Erfüllungspolitik“ abgebracht worden. Diese waren die zuungunsten Deutschlands durchgeführte Abstimmung in Oberschlesien und das ebenfalls im Jahre 1921 verhängte Londoner Ultimatum, das dem Deutschen Reich eine über Jahrzehnte währende Reparationszahlung von insgesamt 132 Milliarden Goldmark abforderte. Wirth setzte nun zunehmend auf eine Alternativpolitik, die auf eine enge wirtschaftliche und auch militärische Zusammenarbeit mit Sowjetrussland zielte. Dabei verfolgte er eine Art Doppelstrategie. Indem er Rathenau als Wiederaufbauminister, dann ab 1922 als Außenminister seinen Ansatz kollektiver Verständigungs- und Sicherheitspolitik mit den Westmächten weiter betreiben ließ, forcierte er gleichzeitig die Verhandlungen mit Moskau. Generell war Wirth maßgeblich an der „deutschen Ostpolitik im Umfeld des Rapallo-Vertrages“43 beteiligt. Er habe vor allem die geheimen Verhandlungen der Reichswehr mit der Roten Armee44 gutgeheißen. Wirth sei der „eigentlich treibende Motor für die Rapallo-Politik“ gewesen, die er „im Gegensatz zu seinen Partnern Maltzan und Rathenau mit dem klaren Ziel eines revanchistischen Bündnisses betrieben habe.“45 Rathenau hingegen war bemüht, im Vorfeld der Konferenz von Genua die Westmächte nicht zu brüskieren, so dass er die Anfang April in Berlin unterschriftsreifen Verhandlungen, die mit dem späteren Rapallo-Vertrag übereinstimmten, verschob. Seine politische Taktik ging dahin, Ostpolitik nur mit Rückenwind nach Westen und möglichst im Zusammenwirken mit dem Westen zu treiben, die deutsche Mitwirkung an dem Konsortium Lloyd George gewissermaßen als Eintrittspreis für eine mit den Westmächten auszuhandelnde Regelung der Reparationsfrage

  42 Dies haben Hörster-Philipps (1998): Wirth und Küppers (1997): Wirth; herausgearbeitet. Vgl. auch Joerres (2007): Rapallo, S. 103–126. 43 Küppers (2000): Londoner, S. 150; sowie ders. (1997): Wirth. 44 Vgl. dazu Zeidler (1994): Reichswehr; vgl. auch Groehler (1992): Allianz. 45 So kritisch Elz (1999): Weimarer Republik, S. 363.

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zu bezahlen. [...] Nur mit dem Blick auf das Reparationsproblem verhandelte Rathenau also mit den Russen.46

Da er wie auch die Sozialdemokratie mit Reichspräsident Ebert an der Spitze im Grunde westlich orientiert war, „wollte er nicht schon vorab eine sich womöglich bietende, große Gelegenheit verspielen, die Erfolg, aber auch Scheitern mit sich bringen konnte.[...] Wachsende Furcht vor außenpolitischer Isolierung verlieh dem sich lange anbahnenden Entschluss akute Schubkraft.“47 Hinzu kam der wachsende innenpolitische Erfolgsdruck, der die Erfüllungspolitik längst in Frage gestellt hatte. Die nach Westen ausgerichtete, aber auch eine auf Ausgleich mit der Sowjetunion bedachte kollektive Entspannungs- und Sicherheitspolitik, wie sie später Stresemann vertrat, wurde von Rathenau als Außenminister vorweggenommen und trug letztlich zur Umorientierung der deutschen und insgesamt europäischen Außenpolitik bei. Sich ganz nach Russland bilateral zu orientieren, lehnte Rathenau allerdings ab, weil er dem bolschewistischen Regime skeptisch gegenüber stand und auch den Konflikt mit den Westmächten vermeiden wollte. Deutschland sollte daher eher die Rolle eines Vermittlers zwischen dem Westen und Sowjetrussland übernehmen und auf diesem Wege als gleichberechtigter Partner anerkannt werden. Dass diese Schlüsselfunktion dem Deutschen Reich nicht zugestanden wurde, zeigt, dass in Genua Lloyd George mit den russischen Delegierten verhandelte ohne die deutschen Vertreter hinzuzuziehen. Rathenaus Bemühungen um kollektive Außen- und Sicherheitspolitik wurden von den Westmächten nicht mit Entgegenkommen in der Reparationsfrage belohnt. So ließ Frankreich dieses Thema von der Agenda der Weltwirtschaftskonferenz nehmen, und die USA waren gar nicht erst in Genua vertreten. Außerdem befürchtete Rathenau eine außenpolitische Isolierung. In diesem Dilemma gab er schließlich einer seiner Überzeugung entgegengesetzten Position nach, die von der Reichswehr, der Ostabteilung im Auswärtigen Amt48 unter Ago von Maltzan49 und natürlich auch von Reichskanzler Wirth vertreten wurde, die ein bilaterales Abkommen mit Moskau befürworteten. Am Rande der Weltwirtschaftskonferenz von Genua wurde dann am Ostersonntag 1922 in Rapallo zwischen den beiden Außenseiter der internationalen Staatenwelt ein Vertrag geschlossen, der den gegenseitigen Verzicht auf Ersatz von Kriegskosten und Kriegsschäden, auf deutscher Seite den Verzicht auf die durch Sozialisierungen entstandenen Verluste sowie darüber hinaus die Aufnahme diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung zwischen beiden Staaten vorsah.   46 47 48 49

Schieder (1968): Rathenau, S. 262f. Hildebrand (1995): Reich, 425ff. Dazu jetzt Sütterlin (1994): Russische Abteilung. Vgl. Joerres (2005): Architekt.

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Die dramatischen Tage und Stunden vor Unterzeichnung des Rapallo-Vertrages sind detailliert nachgezeichnet und untersucht worden.50 Der Vertragsabschluss von Rapallo, der wie eine Bombe einschlug und die Konferenz von Genua zu sprengen drohte, wurde in Deutschland von den Befürwortern einer „aktiven“ und damit besonders antipolnischen Ostpolitik bejubelt, glaubten sie doch durch diesen Schritt eigene Handlungsfähigkeit zurückgewonnen zu haben, die dazu beitragen könnte, eine erfolgreiche Revision des Versailler Vertrages zu betreiben und darüber hinaus langfristig die ehemals innegehabte deutsche Großmachtposition wiederherzustellen. Innenpolitisch führte der Ausgleich mit Sowjetrussland, der den Gegnern von Reichskanzler Wirth und Außenminister Rathenau im Außenpolitischen mehrheitlich willkommen war, nicht zu einer Versöhnung zwischen den tief zerstrittenen Lagern.51 Die eigentlichen Gewinner waren die Russen; sie hatten die Isolierung durchbrochen, gemeinsame Lösungen verhindert und, indem sie Deutschland auf ihre Seite zogen, die beste Sicherheitsgarantie an ihrer europäischen Flanke gewonnen.52 Rathenau vermochte in den entscheidenden Fragen der Reparationen, der europäischen Wirtschaft, der Auslandskredite, des Verhältnisses zu den Alliierten keinerlei Erfolge vorweisen. Im Gegenteil: Das Kernstück seiner Außenpolitik, die wirtschaftliche Vernunft, Geschäftsmäßigkeit und Sachlichkeit, die er zu Recht als unbedingte Voraussetzung der erstrebten Verständigung betrachtete, wurden in Frage gestellt. Der große Aufbruch der deutschen Außenpolitik, den er einzuleiten suchte, sollte in der Reparationspolitik erfolgen und nicht durch eine spektakuläre Russlandpolitik. Die negativen Auswirkungen ließen nicht lange auf sich warten. Rathenaus außenpolitisches Scheitern, der misslungene Versuch, über eine erträglichere Reparationslösung eine Verständigung mit Frankreich und Großbritannien anzubahnen, war mit Rapallo besiegelt.53 Sein Konzept einer langfristig angelegten Transformationsstrategie unter liberalen Vorzeichen, mit deren Hilfe das wirtschaftlich und politisch isolierte revolutionäre Russland dem europäischen Markt geöffnet und als unverzichtbaren Partner für eine stabile Friedensordnung gewonnen werden sollte – diese Ostpolitik des „Wandels durch Annäherung“ avant la lettre – misslang. Rapallo stand in keiner durchdachten Beziehung zur übrigen Außenpolitik und war ein Notbehelf. Es entsprach zudem keineswegs Rathenaus eigentlichen Vorstellungen. Rathenau vertrat eine „republikanische“, liberale Außenpolitik, die keineswegs auf Machtbildung verzichtete, aber deren ökonomische Variante bevorzugte. Der Macht- bzw. Militärstaat sollte in einen Handelsstaat übergeführt, die zerrüttete anarchische Struktur der Staatengemeinschaft in vernünftige Bahnen gelenkt und in ein internationales System kollektiver Sicherheit übergeführt werden. Da   50 51 52 53

Jetzt detailliert Fleischhauer (2006): Rapallo. Vgl. Hildebrand (1995): Reich, S. 430. So Krüger (1986): Versailles, S. 112f. Krüger: Rathenau als Außenpolitiker, in: Wilderotter (1993): Extreme, S. 201.

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moderne Ökonomie arbeitsteilig angelegt und global ausgerichtet ist, erhielt sie für Rathenau auch eine friedensstiftende, konfliktabbauende Funktion zugewiesen. Frieden durch parlamentarische Demokratie im Innern und Freihandel gepaart mit der Einbindung in das internationale Staatensystem nach außen lautete demnach seine Botschaft des liberal-republikanischen Modells. Daran anknüpfend trat Rathenau für liberale Wirtschaftsaußenpolitik und für eine auf internationaler Rechtsordnung beruhende Neuorientierung der deutschen Außenpolitik ein. Nicht mehr die tradierte militärische Machtpolitik als Mittel der Konfliktlösung sollte für ihn bestimmend sein, sondern der alternative Ansatz, der zu einer Zivilisierung und Schlichtung der Nachkriegskonflikte durch Gewaltverzicht, Konferenzdiplomatie und wirtschaftliche Kooperation führen sollte. Die nach Westen ausgerichtete, aber auch auf einen Ausgleich mit Sowjetrussland bedachte Entspannungspolitik, wie sie dann Stresemann vertrat, wurde auch von Rathenau als Außenminister entwickelt und trug letztlich zur Umorientierung der deutschen und gesamten europäischen Außenpolitik bei.54 Dieses Ziel ließ sich jedoch in der unmittelbaren Nachkriegszeit kaum realisieren. Zu sehr dominierten nationale Interessen, die eine stabile und ausbalancierte internationale Friedensordnung in Europa verhinderten. Wenn Kristina Spohr in ihrer kürzlich erschienenen und weit beachteten Analyse der Außen- und Sicherheistpolitik Helmut Schmidts ihn – so der Titel55 – als „Weltkanzler“ bewertet, der als Bundeskanzler in einem Jahrzehnt internationaler Krisen die Weltwirtschaft, aber auch Sicherheitspolitik mit gesteuert und somit Deutschland wieder zurück auf die „Weltbühne“ geführt habe, so lassen sich Rathenau und Schmidt besonders angesichts der je unterschiedlichen internationalen Rahmenbedingungen wohl kaum vergleichen. Dennoch war es Rathenau, der durchaus ähnlich wie später Schmidt einen nicht unerheblichen Beitrag geleistet hatte, um sowohl die unmittelbare Nachkriegswirtschaft ansatzweise zu konsolidieren, zu normaliseren, ja sogar ein wenig zu stabilisieren. Diese Rathenaus eigene Politik in Frage stellenden konzeptionellen Ansätze konfrontierten und blockierten eine republikanische Außenpolitik56 und damit einen außenpolitischen Neubeginn und Paradigmenwechsel, wie er ihn gefordert hatte. Das letzte Wort sollte in diesem Zusammenhang allerdings Harry Graf Kessler erhalten. Er war es, der Rathenau von 1897 an distanziert und kritisch begleitet, der die Tage während der Genueser Konferenz im April/Mai 1922, die zu Rapallo führten, intensiv dokumentiert und kommentiert und Rathenau schließlich im Jahre 1927 eine beeindruckende, ja bis heute gültige Biographie gewidmet hat57. Graf Kessler vermerkt nur wenige Tage nach Rathenaus tragischem Tod in seinem Tagebuch am 25. Juni 1922: „Rathenau hatte wie die meisten großen Juden etwas Messianisches; aber er war kein Messias, eher ein Johannes der Täufer, der auf   54 55 56 57

Niedhart (1994): Geschichte, S. 91ff.

Spohr (2016): Schmidt. So im Kontext die These von Krüger (1993): Außenpolitik. Kessler (1928): Rathenau.

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einen Messias wartet, ein Moses, der das gelobte Land sah, aber nicht betreten durfte. Und auch sein Tod entspricht diesem Schicksalszug: er hinterlässt als Staatsmann kein Werk, aber ein Vermächtnis, das in die Zukunft weist, eine Hoffnung, deren Verwirklichung von Andren abhängt.“58 LITERATUR Blessing, Ralph: Der mögliche Frieden. Die Modernisierung der Außenpolitik und die deutsch-französischen Beziehungen 1923–1929, München 2008. Brandt, Willy: Deutsche Außenpolitik nach zwei Weltkriegen, Berlin 1967. D‘Abernon, Edgar Viscount: Ein Botschafter der Zeitenwende. Memoiren, Bd. 1, Leipzig o. J. (1929). Deutsch-sowjetische Beziehungen von den Verhandlungen in Brest-Litowsk bis zum Abschluss des Rapallovertrages. Dokumentensammlung, 2. Bde., Berlin 1967/71. Elz, Wolfgang: Die Weimarer Republik und ihre Außenpolitik. Ein Forschungs- und Literaturbericht, in: Historisches Jahrbuch 119 (1999), S. 307–375. Epstein, Klaus: Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, München 1976. Feldman, Gerald D.: Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914 bis 1918, Berlin / Bonn 1985. Fink, Carole / Frohn, Axel / Heideking, Jürgen (Hrsg.): Genoa, Rapallo, and European Reconstruction in 1922, New York 1991. Fleischhauer, Eva Ingeborg: Rathenau in Rapallo. Eine notwendige Korrektur des Forschungsstandes, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 54 (2006), S. 365–415. Groehler, Olaf : Selbstmörderische Allianz. Deutsch-russische Militärbeziehungen 1920–1941, Berlin 1992. Grupp, Peter: Deutsche Außenpolitik im Schatten von Versailles 1918–1920. Zur Politik des Auswärtigen Amts vom Ende des Ersten Weltkrieges und der Novemberrevolution bis zum Inkrafttreten des Versailler Vertrages, Paderborn 1988. Hense, Karl-Heinz / Sabrow, Martin (Hrsg.): Leitbild oder Erinnerungsort? Neue Beiträge zu Walther Rathenau, Berlin 2003. Hentzschel-Fröhlings, Jörg: Walther Rathenau als Politiker der Weimarer Republik, Husum 2007. Hildebrand, Klaus: Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871– 1945, Stuttgart 1995. Hörster-Philipps, Ulrike: Joseph Wirth 1879–1956, Paderborn 1998. Joerres, Niels: Der Architekt von Rapallo: Der deutsche Diplomat Ago von Maltzan in der Kaiserzeit und in der frühen Weimarer Republik, (Diss.) Heidelberg 2005. Ders.: Forschungsbericht Rapallo. Zeitgeschichte einer Kontroverse, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte, Bd. 34/3 (2007), S. 103–126. Kessler, Harry Graf: Das Tagebuch 1880–1937. Hrsg. von Roland S. Kamzelak und Ulrich Ott unter Beratung von Hans-Ulrich Simon, Werner Volke u. Bernhard Zeller, Bde. 2–9. (Veröffentlichungen der Deutschen Schillergesellschaft, Bd. 50, 2–9) Stuttgart 2004–2010. Ders.: Walther Rathenau. Sein Leben und sein Werk. Berlin 1928; Frankfurt a.M. 1988. Kerr, Alfred: Walther Rathenau. Erinnerungen eines Freundes, Amsterdam 1935. Klümpen, Heinrich: Deutsche Außenpolitik zwischen Versailles und Rapallo, Münster / Hamburg 1992. Krüger, Peter: Die Außenpolitik der Republik von Weimar, 2. Aufl., Darmstadt 1993.

  58 Kessler, Tagebuch, Bd. 7, S. 527.

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EINE DIPLOMATIE DES MITLEIDS? Die Not der deutschen Kinder, amerikanisches humanitäres Engagement und die Möglichkeiten und Grenzen revisionistischer Außenpolitik, 1918–19241 Elisabeth Piller Am 15. November 1918, nur vier Tage nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandes, wandten sich die bekannten Frauenrechtlerinnen Gertrud Bäumer und Alice Salomon im Namen des Bundes Deutscher Frauenvereine an die amerikanische First Lady Edith Wilson mit der Bitte, sich für eine Aufhebung der alliierten Seeblockade einzusetzen: The German women and children have been starving for years. They will die from hunger by the millions if the terms of the armistice are not changed […] The women and children all the world over have been the innocent sufferers of this terrible war, but nowhere more than in Germany. Let it be through you, Madame, to implore our sisters in the United States of America, who are mothers like ourselves, to ask their Government and the Allied Governments to change the terms of the armistice so that the long suffering of the women and children of Germany may not end in unspeakable disaster.2

Abgedruckt auf der Titelseite der New York Times, war dieser Appell nur der erste von vielen Versuchen, die amerikanische Öffentlichkeit für die Leiden der deutschen Bevölkerung zu sensibilisieren und eine mildere Behandlung des besiegten Deutschen Reiches seitens der Siegermächte zu erwirken. In den Anfangsjahren der Weimarer Republik bemühten sich zivilgesellschaftliche und staatliche Akteure immer wieder, dem Ausland das Ausmaß der deutschen Not vor Augen zu führen – nicht nur um die internationale Wohltätigkeit anzukurbeln, sondern auch um die deutsche Zahlungsunfähigkeit, den deutschen Opferstatus und letztlich die Unhaltbarkeit des Versailler Friedensvertrages zu unterstreichen. Nach 1920 gewannen solche Darstellungen der deutschen Not besonders im Rahmen des erbittert geführten deutsch-französischen Reparationsstreits an Bedeutung. Amerikas weitgehendes humanitäres Engagement – das seinen Ausdruck in Deutschland in der sogenannten Quäkerspeisung von Millionen von Kindern fand – schien hierbei ein vielversprechender Ansatzpunkt, um bei einer ansonsten von tiefem Misstrauen und Desinteresse gegenüber Deutschland geprägten amerikanischen Öffentlichkeit Mitleid und Aufmerksamkeit hervorzurufen. Allerdings wurde die aus dieser Erkennt  1 2

Dieser Aufsatz ist eine überarbeitete und übersetzte Fassung von Elisabeth Piller, German Child Distress, US Humanitarian Aid and Revisionist Politics, 1918–24. Journal of Contemporary History 51 (2016) H. 3, S. 453–486. „German Women Ask Food Help“, New York Times (15. Nov. 1918), 1.

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nis geborene deutsche ‚Diplomatie des Mitleids‘ stets von Sorge um die nationale Würde getrübt und ihre Wirkung immer wieder durch Zurschaustellen individuellen deutschen Wohlstands untergraben. Während also der stark eingeschränkte außenpolitische Handlungsspielraum der frühen Weimarer Republik humanitäre Appelle an die USA angezeigt erscheinen ließ, wurden diese sofort eingestellt, als sich ab 1924 im Zeichen des wirtschaftlichen Aufschwungs amerikapolitische Alternativen ergaben. Die Entstehung, Umsetzung und das Ende dieser deutschen ‚Diplomatie des Mitleids‘ zeigt, wie die Weimarer Republik eines ihrer primären außenpolitischen Ziele verfolgte: Die USA als Partner bei der Revision des Versailler Friedensvertrages zu gewinnen. Als führende Finanz- und Wirtschaftsmacht und alliierter Hauptgläubiger war eine (finanzielle) Beteiligung Amerikas unabdingbar für eine tragfähige Lösung der Reparationsfrage und den Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft.3 Dabei überschätzten die Weimarer Regierungen jedoch die Möglichkeit, Amerikas primär wirtschaftliches Interesse an einem stabilen Nachkriegseuropa für ein politisches Eingreifen im Reparationsstreit zu nutzen.4 Erst im Spätherbst 1923 machte sich die republikanische Coolidge-Regierung für eine Lösung der Reparationsfrage unter Beteiligung eines amerikanischen Expertenkomitees stark. Dieses bahnte dann auch tatsächlich den Weg für den Dawes-Zahlungsplan und amerikanische Investitionen. Zeitgenossen sprachen Mitte 1924 treffend vom Aufgang der „Dollar-Sonne“ über Deutschland. Bis zu diesem Zeitpunkt aber, also von 1918/19 bis 1924, beschäftigten sich Weimarer Diplomaten, Politiker und Publizisten mit der Frage, wie die Vereinigten Staaten bzw. wie eine zögerliche amerikanische Öffentlichkeit für die deutsche Sache gewonnen werden könne.5 Trotz der zeitgenössischen Bedeutung dieser Frage, wissen wir erstaunlich wenig darüber, wie sich die Weimarer Republik um die Sympathien des ehemaligen Kriegsgegners jenseits des Atlantiks bemühte. Die offizielle deutsche Reparationspolitik ist bereits umfassend untersucht worden. So wissen wir, dass im Rahmen der Reparationsverhandlungen die Vertreter des Reichs versuchten, die deutsche Zahlungsfähigkeit kleinzurechnen und durch Verweise auf die desaströse Finanzlage sowie Appelle an das amerikanische Eigeninteresse an einem florierenden europäischen Markt eine amerikanische Vermittlung zu erwirken.6 Hingegen ist das deutsche Werben um eine breitere, zumeist ablehnend eingestellte amerikanische Öffentlichkeit, also die ‚informelle‘ Reparationspolitik, noch kaum erforscht.7 Die   3 4 5 6 7

See Link (1970): Die amerikanische Stabilisierungspolitik; Schwabe (1971): Deutsche Revolution und Wilson-Frieden; Berg (1990): Gustav Stresemann und die Vereinigten Staaten von Amerika. Link (1970): Amerikanische Stabilisierungspolitik, S. 53. Müller (1997): Weimar im Blick der USA, S. 99; Krüger (1993): Die Außenpolitik der Republik von Weimar, S. 31–44. z. B. Marks (2013): Mistakes and Myths. Zu deutschen Schwierigkeiten, mit amerikanischen Auslandskorrespondenten in Fühlung zu kommen, siehe Müller (1997): Weimar im Blick, S. 73–94; auch die Kriegs(un)schuldsagitation stieß in den USA erst ab Mitte der 20er Jahre auf Resonanz, Wittgens (1970): The German Foreign Office Campaign, S. 211.

Eine Diplomatie des Mitleids?

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Literatur hat sich fast ausschließlich mit der deutschen Propaganda gegen die „schwarze Schmach”, also der Stationierung französischer Kolonialtruppen und ihrer angeblichen Untaten im besetzen Rheinland, beschäftigt, welche Deutschland gezielt nutzte, um die ehemaligen Alliierten zu spalten und sich die amerikanische Unterstützung gegen französische Reparationsforderung zu sichern.8 Jedoch hat die Beschäftigung mit dieser außergewöhnlich aggressiven und rassistischen Kampagne den Blick auf subtilere Methoden und Motive verstellt, mit denen die deutsche Regierung jenseits des Atlantik ein politisch erwünschtes Deutschlandbild zu etablieren suchte. Der Einsatz eines dieser subtileren Motive, nämlich die Not der deutschen Kinder, soll nachfolgend untersucht werden. Gleichzeitig wirkt die Beschäftigung mit deutschen Absichten einer historiographischen Tendenz entgegen, die amerikanisches humanitäres Engagement lediglich im Lichte amerikanischer Ambitionen und Außenpolitik begreift.9 Gerade in den letzten Jahren hat die amerikanischen Hilfstätigkeit in der Weltkriegsära viel Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden und wird mittlerweile als ein zentrales Feld amerikanischen Auslandsengagements verstanden. Die (europäische) Not der Kriegs- und Nachkriegsjahre begründete die schnelle Entwicklung zusehends transnationaler, säkularer, professionalisierter und in vielerlei Hinsicht wegweisender humanitärer Einrichtungen.10 Amerikanische Nicht-Regierungsorganisationen verteilten nicht nur Hilfsgüter in beispielloser Höhe, sondern setzten sich auch für eine Anerkennung der Rechte bestimmter Opfergruppen, etwa der von Kindern, ein.11 Hierbei spielte eine zunehmend hochentwickelte Öffentlichkeitsarbeit eine wichtige Rolle. Fotografien, Film und Plakate entfalteten eine wirkmächtige Bildsprache, die Empathie auch für das Leiden von Kriegsopfern in fernen Ländern hervorrufen konnte.12 Die großen Spendenkampagnen, sogenannte drives, der Weltkriegsära brachten weite amerikanische Kreise mit Europa in Berührung – und zwar Jahre bevor und nachdem sich die Vereinigten Staaten dort militärisch oder politisch engagierten. Und doch hält auch die neueste Forschung in mancher Hinsicht an überkommenen Perspektiven fest und betrachtet diese Hilfstätigkeit immer noch fast ausschließlich im Lichte strategischer amerikanischer Interessen. In den Nachkriegsjahren nutzten nicht- und halb-staatliche Akteure ihr humanitäres Engagement, um Reformen nach amerikanischem Vorbild anzustoßen und das Bild eines wirtschaftlich potenten und effizienten Amerikas im Ausland zu verankern. Dies diente nicht   8

Nelson (1970): The Black Horror on the Rhine; eine Übersicht neuerer Literatur bei Roos (2012): Nationalism, Racism and Propaganda in Early Weimar Germany, S. 45. 9 z. B. Little (2014): An explosion of new endeavors; Maul (2015): Humanitärer Aufbruch; Cabanes (2014): The Great War and the Origins of Humanitarianism. 10 z. B. Maul (2018): The Rise of a Humanitarian Superpower. 11 Für Bruno Cabanes stellen die Jahre 1918 bis 1924 einem Wendepunkt (transformative moment) in der Geschichte des Humanitarismus dar und einen wichtigen Schritt hin zu einem universelleren Verständnis von humanitären Rechten, Cabanes (2014): The Great War. 12 Laqueur (1989): Bodies, Details, and the Humanitarian Narrative; besonders hilfreich auch Wilkinson (2005): Suffering. A Sociological Introduction.

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nur der wirtschaftlichen Expansion der USA, sondern durch Verbesserung der Ernährungslage in Ost- und Mitteleuropa auch der Eindämmung des Kommunismus.13 Hingegen sind Haltung und Ambitionen von Empfängern und Empfängerländern noch kaum erforscht.14 In der Tat neigen die wenigen Studien, die sich überhaupt eingehender mit Empfängern beschäftigen, dazu, die negativen Seiten internationaler Hilfstätigkeit hervorzukehren: wie ausländische Fundraiser die Not anderer verzerrt darstellen, wie ausländische Mildtätigkeit finanzielle und moralische Abhängigkeiten schafft oder wie Empfänger letztlich ihrer selbstbestimmten Handlungsmacht (‚agency‘) beraubt werden.15 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass gerade die Beschäftigung mit diesen paternalistischen Schattenseiten internationaler Hilfstätigkeit noch den Eindruck verstärkt, Empfänger seien weitestgehend passive Akteure. Dahingegen soll dieser Aufsatz zeigen, wie ein Empfängerland im Rahmen amerikanischer Hilfstätigkeit zielstrebig seine eigenen Interessen verfolgte.16 Nicht-staatliche und staatliche deutsche Akteure sahen das amerikanische Hilfswerk fast ausschließlich im Lichte ihrer eigenen Ziele und versuchten Deutschlands relative wirtschaftliche Schwäche in einen außenpolitischen Aktivposten zu verkehren. Freilich entspricht das Deutsche Reich als große Industrienation nicht unseren heutigen Vorstellungen eines Empfängers internationaler Hilfe. Im Kontext der frühen 1920er Jahre war der deutsche Fall jedoch keineswegs ungewöhnlich. Nach dem Krieg wurden die Kinder vieler europäischer (Groß)mächte Empfänger amerikanischer Mildtätigkeit. Was Deutschland unterschied, war sein Status als ehemaliger Hauptgegner der Vereinigten Staaten, sein dramatischer Verlust an Prestige und Einfluss nach 1918 und die zentrale Rolle, welche die Vereinigten Staaten in der für Deutschland so wichtigen Reparationsfrage spielen sollten. Während aber Deutschlands plötzlicher Einflussverlust und Fokus auf die Vereinigten Staaten die amerikanische Hilfstätigkeit besonders wichtig erscheinen ließ, verkomplizierte die vormalige Gegnerschaft das humanitäre Eingreifen der Vereinigten Staaten. Daher ist der deutsche Fall sowohl für die Geschichtsschreibung zum Humanitarismus als auch für die internationalen Beziehungen besonders aufschlussreich. Beginnend mit dem Waffenstillstand beleuchtet dieser Aufsatz die treibenden Kräfte hinter den deutschen humanitären Aufrufen und zeichnet die amerikanischen Reaktionen nach. Zugleich soll die Bedeutung der sogenannten deutschen Kindernot für die Weimarer Revisionsversuche untersucht und sollen die   13 Costigliola (1984): Awkward Dominion; neuere Forschung zur amerikanischen Nachkriegshilfe und ihrer außenpolitischen Zielsetzung, Irwin (2012): Sauvons les Bebes. 14 Das mangelnde Interesse an Empfängern wird angesprochen bei Little (2014): An explosion, S. 12; Gemie / Humbert (2009): Writing History in the Aftermath of Relief, S. 317. 15 Beispiele „imperialer Hilfstätigkeit“ bei Barnett (2011): Empire of Humanity, S. 34. 16 Allerdings hat die Empfängerperspektive gerade in letzter Zeit größere Aufmerksamkeit gefunden, z. B. Fraser (2008): Aid-Recipient Sovereignty in Historical Perspective; Grossmann (2011): Grams, Calories, and Food; Zur (deutsch-)amerikanischen Hilfstätigkeit für Deutschland, Strickland (1962): American Aid to Germany, 1919–1921.

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Möglichkeiten und Grenzen dieser außenpolitischen Strategie vor dem Hintergrund des deutsch-französischen Reparationsstreit aufgezeigt werden. 1. DIE ANFÄNGE DEUTSCHER MITLEIDSDIPLOMATIE Bemühungen, der amerikanischen Öffentlichkeit die Not der deutschen Zivilbevölkerung vor Augen zu führen, setzten bereits unmittelbar nach dem Waffenstillstand ein. Die Aufrechterhaltung der Seeblockade veranlasste den Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten, Wilhelm Solf, sich noch am Abend des 11. November öffentlich an Präsident Wilson zu wenden und um Aufhebung der Blockade zu bitten, um das „Verhungern von Millionen von Männern, Frauen und Kinder(n)” zu verhindern.17 Im Laufe der kommenden Wochen und Monate wurde diese Art Aufruf von vielen Seiten und mit noch weit weniger nüchternen Worten wiederholt. Deutsche Frauenverbände, Geistliche, Sozialreformer und Ärzte baten Vertreter der amerikanischen Zivilgesellschaft öffentlich um Erleichterung der Blockadesituation. Durch offene Briefe, wissenschaftliche Abhandlungen und Zeitungsartikel versuchten sie die Weltöffentlichkeit auf die schweren Entbehrungen aufmerksam zu machen, die die alliierte „Hungerblockade” der deutschen Bevölkerung seit Jahren – und selbst nach dem Waffenstillstand noch – abverlangte. 760.000 Deutsche, darunter vor allem Kinder, Frauen und Alte, waren angeblich bereits den Folgen der Unterernährung erlegen. Kein Land, so argumentierten sie, hatte im Krieg mehr gelitten als Deutschland.18 Diese humanitären Aufrufe hatten von Anfang an eine politische Dimension. Obwohl sie als spontaner Aufschrei der deutschen Zivilgesellschaft erscheinen sollten, wurden sie doch systematisch von deutschen Ministerien gefördert. Die Propagandaabteilung des Auswärtigen Amts sammelte, übersetzte und verbreitete diese privaten Aufrufe, gab dazu passende Filme und Zeichnungen in Auftrag und veranlasste medizinische Fachtagungen (und die Veröffentlichung ihrer Befunde), um die Zahl der Blockadeopfer zu schätzen.19 Diese offiziellen Unternehmungen zielten natürlich darauf ab, die schlechte Versorgungslage in Deutschland zu verbessern und zwar sowohl aus sozialen wie, so kurz nach der Revolution, auch aus innenpolitischen Gründen. Aber sie verfolgten eben auch außenpolitische Ziele. Nicht zuletzt hoffte die deutsche Regierung, durch das Beschwören der deutschen Not   17 „Dr. Solf Sends Appeal. Asks Wilson’s Help in Preventing German Starvation“, New York Times (12. Nov. 1918); Solf an Lansing, 11. Nov 1918, ADAP A, I, Nr. 5 18 z. B. Reichsgesundheitsamt (1918): Schädigung der deutschen Volkskraft; Rubmann (Hrsg.) (1919): Hunger!; Siegmund-Schultze (1919): The effect of the hunger blockade; Rubner (1919): The Starving of Germany; Diese Veröffentlichungen waren von der deutschen Delegation in Versailles „authenticated”, siehe Hoover War Library (1926): A Catalogue. 19 Im Dezember 1918 wurde eine außerordentliche Tagung deutscher Mediziner in Berlin abgehalten, deren Ziel es war, die deutsche Argumentation durch Berechnung der Blockadetoten (760 000) wissenschaftlich zu untermauern. Das Tagungsprotokoll wurde vom Auswärtigen Amt als Rubner (1919): The Starving of Germany veröffentlicht und verbreitet.

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(und damit der kommunistischen Gefahr) die Alliierten zu spalten und mit der Seeblockade auch ein Druckmittel zur Unterzeichnung des Friedensvertrages loszuwerden.20 Darüber hinaus müssen diese humanitären Appelle als Teil des Propagandafeldzuges begriffen werden, den Deutschland bereits seit dem August 1914 gegen die alliierte Gräuelpropaganda gekämpft – und deutlich verloren – hatte. Während deutsche Propagandisten bisher vergebens versucht hatten, die negative Öffentlichkeitswirkung des deutschen Einfalls in Belgien im August 1914 auszugleichen, gab ironischerweise gerade die deutsche Niederlage Anlass zum Optimismus. Der alliierte Sieg, stellte die Nachrichtenabteilung des Auswärtigen Amts am 2. Dezember 1918 fest, hatte dafür gesorgt, dass die Hassgefühle des Weltkrieges „einer Art von Mitgefühl und Sympathie zu weichen [beginnen]. Zum ersten Mal ist damit günstiger Boden für eine Propaganda gegeben. Die großen Leiden des Volkes und sein tragisches Schicksal sind Themen, die bei richtiger Darstellung einen Umschwung der Weltmeinung herbeizuführen geeignet sind.‘21 Indem deutsche Propagandisten nun begannen, das deutsche Leid und die alliierte Grausamkeit zu betonen – eine genaue Umkehrung der alliierten Kriegspropaganda – hofften sie noch vor Beginn der Friedensverhandlungen die Auslandsmeinung für Deutschland einzunehmen. Auch wenn diese Art der Agitation eigentlich gut in die Muster der Kriegspropaganda passte, bedeutete sie für Deutschland doch eine radikale Neuorientierung. Obwohl Mangel schon lang zum beherrschenden Thema der deutschen Heimatfront geworden war, hatten die Zensoren während des Krieges jede Erwähnung zivilen Leidens unterbunden, weil sie fürchteten, es könne die öffentliche Moral untergraben und die britischen Blockadeanstrengungen noch bestärken. Stattdessen wurden die Zahlen zur zivilen Sterblichkeit geheim gehalten und selbst im Hungerwinter 1916/17 noch die tadellose Ernährungslage der deutschen Bevölkerung beschworen.22 Erst mit Ende der Militärzensur machte sich zunehmend Kritik an dieser „Propaganda der Stärke” breit. Prominente Politiker und Diplomaten, etwa der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, bezeichneten jetzt den Mangel an Appellen an das Mitleid als das zentrale Defizit der deutschen Kriegspropaganda. Die Zensur, meinte Erzberger in seinen 1919 erschienen Kriegserinnerungen, hatte die deutschen Propagandisten gezwungen, auf „einen der mächtigsten [Propaganda-] Faktoren vollkommen [zu verzichten]: das erwärmende Mitleid mit einem hungernden, schwer leidenden Volke“, während die Propagandisten der Entente just mit dieser   20 Zur Blockade als Druckmittel, Vincent (1985): The Politics of Hunger, S. 101; zur deutschen Instrumentalisierung amerikanischer Kommunismusängste, Schwabe (1985): Woodrow Wilson, Revolutionary Germany and Peacemaking, S. 138–155. 21 Denkschrift, 2. Dez. 1918, BArch R901/71002, 42; Die Hungerblockade galt als Propagandathema, das besonders bei der amerikanischen Öffentlichkeit verfing, siehe Deutsche Gesandtschaft Den Haag an AA, 18. Jan. 1919, BArch R901/71760. 22 Erzberger (1920): Erlebnisse im Weltkrieg, S. 8; ein Beispiel deutscher Kriegsrhetorik mitten im Hungerwinter 1916/1917, „Batocki Denies Germans Starving. ‘We Have Enough Food, Only Luxuries are Lacking’, Declares the Government Controller … Children in Good Health, Batocki Says No Signs of Poverty or Starvation Are to be Found Anywhere.” New York Times (28. Jan. 1917), S. 1.

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Methode erfolgreich den deutschen Feind verteufelt hatten.23 In ihrer Auseinandersetzung mit den Fehlern der Kriegszeit, entdeckten deutsche Propagandisten die Macht des Mitleids. Die Grundannahme dieser beginnenden „Mitleidsdiplomatie”, dass nämlich das Leid der deutschen Zivilbevölkerung ein besonders geeignetes Thema sei, um Auslandssympathien zu gewinnen, blieb auch, und besonders, nach Versailles bestehen. Die harten Friedensbedingungen und deren moralische Rechtfertigung empörten viele Deutsche und machten die Vertragsrevision zu einem beherrschenden Thema. In diesem Zusammenhang drangen Politiker und Publizisten auf eine wirksamere Öffentlichkeitsarbeit im Ausland, um den Verlust traditioneller Macht- und Einflussmittel zumindest teilweise auszugleichen.24 Während andere Länder ihre Propagandaaktivitäten nach dem Krieg weitgehend einstellten, wurden sie in Deutschland noch beträchtlich ausgebaut. Nach Versailles versuchten hunderte von privaten und halbstaatlichen Gruppen (oft mit offizieller Unterstützung), die Welt von der Ungerechtigkeit und Unhaltbarkeit des Friedensvertrages zu überzeugen.25 Hierbei spielten Darstellungen der deutschen Not, insbesondere die Not der deutschen Kinder, auch weiterhin eine tragende Rolle. Tatsächlich vollzog die deutsche Propaganda schon bald einen inhaltlichen Schwenk weg von den Verheerungen der Seeblockade hin zu den Verheerungen des Friedensvertrages. Zwar galt die Seeblockade immer noch als Wurzel der deutschen Kindernot, aber das Fortdauern der Not nach dem Krieg wurde zunehmend den Gebietsverlusten, den Besatzungskosten und den drückenden Reparationszahlungen angelastet. Wenige Broschüren waren so unverblümt wie Erich Lilienthals „Wie wir verhungern. Deutsches Familienelend unter dem Versailler Vertrag” (ca. 1921), aber sie alle sahen eine Revision des Friedensvertrages als Voraussetzung für die Besserung des Gesundheitszustands deutscher Kinder.26 In medizinischen Abhandlungen, Statistiken und Bildern wurden Deutschlands ausgezehrte Kinderkörper so zum unumstößlichen Beweis für die Unhaltbarkeit des Versailler Vertrages und dessen Inhumanität erklärt. Teils um ihre revisionistischen Befunde zu untermauern, übertrieben sie nicht nur das Ausmaß und die Einzigartigkeit der deutschen Kindernot, sondern externalisierten auch ihre Ursachen fast vollständig.27 Innerhalb nur weniger Monate nach dem Friedensschluss, entwickelte sich Deutschlands ‚humanitäres Narrativ‘ von einer   23 Erzberger (1920): Erlebnisse im Weltkrieg, S. 8; sehr ähnliche Kritik äußerte auch der ehemalige deutsche Botschafter in Washington, Johann Heinrich von Bernstorff (1908–1917), Bernstorff (1920): My Three Years in America, S. 45–46. 24 Zum Propagandaenthusiasmus der Nachkriegszeit, Verhey (1997): Some Lessons of the War. 25 Zum 1921 vom AA gegründeten und diese Arbeit koordinierenden Arbeitsausschuss deutscher Verbände, z. B. Heinemann (1983): Die verdrängte Niederlage, S. 120–154. 26 siehe Lilienthal (1922): Wie wir verhungern, PA R 65241; Stegerwald (1920): Kinder in Not, S. 25–26. 27 Die deutsche Berechnung von 763.000 Blockadetoten gilt als zu hoch; die Übersterblichkeit lag wohl eher bei 424.000, Winter (1999): Surviving the War, S. 518. Auch ignorierten diese Darstellungen bekannte deutsche Faktoren, etwa die Fehler der Verteilungs- und Rationierungspolitik im Weltkrieg.

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Verurteilung der „Hungerblockade” zu einer Verurteilung des „Hungerfriedens” fort.28 Allerdings waren es nicht nur die Lehren aus dem verlorenen Propagandakrieg, die deutsche Ministerien und zivilgesellschaftliche Gruppen veranlassten, in ihrer revisionistischen Agitation gerade das Motiv der deutschen Kindernot aufzugreifen. Tatsächlich rief keines der Themen, die in Deutschland selbst die Ungerechtigkeit des Friedens repräsentierten – etwa die Rheinlandbesetzung, die Gebietsverluste im Osten oder die Kriegsschuldfrage – im Ausland eine emotionale Wirkung hervor. Hingegen deckte sich die Not der Kinder – als ‚unschuldige Opfer par excellence‘ (Cabanes) – nicht nur mit deutschen Selbsterzählungen, sondern stieß auch auf verhältnismäßig breite internationale Resonanz.29 Schon im Verlauf des Frühjahrs 1919 hatten Sozialreformer im neutralen, aber auch im feindlichen Ausland begonnen, sich für deutsche Kinder einzusetzen.30 Zu einer Zeit, da die These von der deutschen Kriegsschuld noch fast universelle Gültigkeit genoss, vermochte nur das unverschuldete Leiden deutscher Kinder im Ausland, Aufmerksamkeit und Sympathie für die prekären deutschen Verhältnisse hervorzurufen.31 Angesichts des Mangels an anderen emotiven Sinnbildern der deutscher Viktimisierung, schien die sichtbare Unterernährung deutscher Kinder somit ein äußerst probates Mittel, die deutschen Revisionsforderungen zu vermitteln.32 Es war daher keinesfalls überraschend, dass das Auswärtige Amt auch nach dem Friedensvertrag ein großes Interesse an diesem Thema zeigte. So bezuschusste, übersetzte und verbreitete es auch weiterhin einschlägige Broschüren, finanzierte internationale Vortragsreisen deutscher Sozialreformer und Ärzte und erließ sogar Anweisungen, welche Eindrücke Ausländern beim Besuch deutscher Kinderheime   28 Die Bezeichnung „Hungerfriede“ bei Hilfsbund der Münchner Einwohner (1921): Das Münchner Kind nach dem Kriege, S. 60. 29 Gerade während des Weltkriegs entwickelte sich das Kind als unschuldiges und hilfloses Kriegsopfer zum prominenten Motiv humanitärer Kampagnen, siehe z. B., Kind-Kovacs (2016): The Great War, the Child’s Body and the American Red Cross. 30 Die Sorge um deutsche Kinder war zuerst in ehemals neutralen Ländern besonders ausgeprägt, aber auch in Großbritannien gründeten links-liberale Reformer schon im Frühjahr 1919 das Fight the Famine Council (später: Save the Children), um die Aufhebung der Blockade zu erwirken. Das Auswärtige Amt verfolgte diese Entwicklungen aufmerksam und schickte Aufklärungsmaterial gezielt an ausländische Hilfsorganisationen. 31 Die deutsche Gesandtschaft in Stockholm berichtete, dass eine von ihr verteilte Broschüre mit Bildern unterernährter deutscher Kinder „unter dem hiesigen Publikum einen wahren Sturm der Entrüstung hervorge[rufen hatte]“, Deutsche Gesandtschaft Stockholm an Auswärtiges Amt (AA), 18. Juli. 1919, BArch, R 901/71620. 32 Eine in den Akten das Auswärtigen Amts überlieferte Aufzeichnung vom Juli 1919 verdeutlicht diesen eingeschränkten Handlungsspielraum. „Das Verbrechen der Hungerblockade und ihre Folgen“, heißt es dort mit Bezug auf einen vom Auswärtigen Amt geförderten Hungerblockadefilm, „gehören zu den wenigen uns verbliebenen wirksamen Propagandamitteln, mit denen wir in der nächsten Zeit die öffentliche Meinung bei Freund und Feind und namentlich den Neutralen zu beeinflussen hoffen können.” [Aufzeichnung] Blatt 137–138 „Das Verbrechen der Hungerblockade…”, 3. Juli 1919, BArch R901/72199.

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oder Tuberkulosestationen vermittelt werden sollten.33 Trotzdem war die Kindernotkampagne nicht primär eine staatliche Propagandaaktion. Vielmehr beschränkten sich Regierungsstellen in den frühen 1920er Jahren auf die Unterstützung von Aufklärungsversuchen karitativer, medizinischer und sozialreformerischer Kreise. Diese wiederum verfolgten vornehmlich sozial- und nicht außenpolitische Ziele.34 In der Tat handelte es sich bei der deutschen Kindernot ja ungeachtet ihres revisionspolitischen Potenzials nicht um eine Propagandaerfindung, wie etwa einige ausländische Kommentatoren vermuteten.35 Neuere anthropometrische Studien bezeugen den verheerenden Einfluss von Blockade und Kriegswirtschaft auf die Gesundheit der deutschen Bevölkerung und besonders auf die unterprivilegierter Kinder. Für gesellschaftliche Schichten, die ausschließlich auf die staatlichen Lebensmittelzuteilungen angewiesen waren, bedeutete der Krieg oft ein langsames Verhungern.36 Deutsche Nachkriegskinder waren im Schnitt drei bis fünf Zentimeter kleiner als altersgleiche Vorkriegskohorten und die wirtschaftlichen Probleme der frühen 1920er Jahre erlaubten keine schnelle Erholung.37 Daher zielten die internationalen Aufrufe deutscher Sozialarbeiter, Kleriker und Ärzte vornehmlich darauf ab, die tatsächliche Kindernot zu lindern, die gerade auch angesichts sozial- und gesundheitspolitischer Erfolge der Vorkriegsjahrzehnte besonders dramatisch erscheinen musste. Gleichzeitig aber teilten diese bürgerlichen Frauen und Männer den Revisionskonsens ihrer Zeit durchaus. Überzeugt davon, dass die internationale Ablehnung einer Revision der Friedenbedingungen oder der Unterstützung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus Deutschlands zumindest teilweise auf einer Fehlwahrnehmung der deutschen Lage beruhte, versuchten diese zivilgesellschaftlichen Akteure alles in ihrer Macht stehende, um die deutschen Verhältnisse schwarz, und oftmals allzu schwarz, zu malen.38 Selbst wenn ihre Prioritäten sich also deutlich von denen deutscher Außenpolitiker unterschieden, teilten sie doch die Hoffnung, dass eine bessere Kenntnis der deutschen Zustände im Ausland, wie Außenminister Walter Simons 1920 an Harry Graf Kessler schrieb, „die Alliierten zu Sinnen” bringen

  33 Stegerwalds Broschüre beispielsweise wurde vom Auswärtigen Amt überall auf der Welt verteilt, siehe AA an Auslandsvertretungen, 8. Dez. 1920, PA, R65269; Anweisungen, was amerikanische Besucher zu sehen hätten, z. B. Entwurf, ca. Feb. 1921, PA, R122282. 34 Für die ehrliche Sorge um das Wohlergehen deutscher Kinder, z. B. Bohnke-Kollwitz (2012): Die Tagebücher, S. 435, 453, 462, 545, 563. 35 „Germany´s Food Conditions“, Literary Digest (21. Juni 1919), S. 19–20. 36 z. B. Cox (2015): Hunger games. 37 Cox argumentiert, dass die Erholung deutscher Kinder um 1921 vor allem auf die Auslandshilfe zurückzuführen war, Cox (2015): Hunger games, S. 628. 38 Das war zum Beispiel die Absicht der Sozialreformerin Adele Schreiber, die als Leiterin der vom Deutschen Roten Kreuz neu eingerichteten Abteilung Mutter und Kind eine Schlüsselstellung in der Schilderung der deutschen Kindernot im Ausland einnahm, hierzu A. Schreiber, „Abteilung Mutter und Kind’’ (1. Jan. 1920) Archiv des Generalsekretariats des Deutschen Roten Kreuzes, Berlin, RK 210.

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könne.39 Die humanitären Aufrufe der frühen 1920er Jahre verfolgten sowohl sozial- wie auch revisionspolitische Ziele. Diese ‚Diplomatie des Mitleids‘ schien nirgends angezeigter als in den einflussreichen und wohlhabenden Vereinigten Staaten. Als alliierter Hauptgläubiger war Amerika unabdingbar für eine Revision des Friedensvertrages, besonders im Hinblick auf die noch ungeklärte Reparationsfrage. Dabei gaben sich deutsche Außenpolitiker der Hoffnung hin, dass ihr Interesse an einem stabilen und wirtschaftlich florierenden Europa die amerikanische Regierung veranlassen würde, nicht nur den hohen Reparationsforderungen der deutschen Gläubiger (vor allem Frankreichs) Einhalt zu gebieten, sondern auch die für den deutschen Wiederaufbau nötigen Kredite bereitzustellen. In diesem Zusammenhang wurde die amerikanische Öffentlichkeit schon bald als größter Hemmschuh amerikanischen Engagements wahrgenommen. Schon während des Waffenstillstandes waren Darstellungen der deutschen Not oft als reine Propagandaerfindungen abgetan worden (Abbildung 1) und auch nach Versailles standen weite Teile der amerikanischen Öffentlichkeit Deutschland ablehnend und misstrauisch gegenüber.40 Nachdem Deutschland als Auslöser – nicht als Opfer – der europäischen Notlage galt, hielt sich das Mitleid der meisten Amerikaner in sehr engen Grenzen. Viele von ihnen hielten es auch weiterhin eher mit den ehemaligen Verbündeten oder wandten sich politisch ganz von Europa ab.41 Somit hing die deutschen Zukunft auch davon ab, ob es gelänge, eine apathische und tendenziell feindselige amerikanische Öffentlichkeit von der Ungerechtigkeit und Unhaltbarkeit des Friedensvertrags – und der Notwendigkeit eines amerikanischen Eingreifens – zu überzeugen. Wenn humanitäre Appelle zu diesem Zweck besonders aussichtsreich schienen, so lag das vor allem auch am Mangel an Alternativen. Noch Jahre nach dem Krieg wurden deutsche Aussagen gerne als „German propaganda” abgetan und selbst harmlose Versuche wieder mit Deutsch-Amerikanern in Kontakt zu kommen, zogen anti-deutsche, nativistische Angriffe nach sich. Darüber hinaus verzögerte die amerikanische Nichtratifizierung des Versailler Vertrages auch die Normalisierung diplomatischer, kommerzieller und sogar kultureller Beziehungen, welche sich erst Ende 1921 mit Abschluss eines deutsch-amerikanischen Separatfriedens langsam einstellte.

  39 Außenminister Simons an Harry Graf Kessler, 13. Nov. 1920, PA, R28574, 20; das Schreiben bezog sich auf eine von Kessler verfasste Sozialreportage mit dem Titel „Die Kinderhölle von Berlin“, die in der Zeitschrift Deutsche Nation erschienen war. 40 Für ein Überblick ablehnender Berichterstattung, siehe „Shall we go without to feed Germany?“ Literary Digest (30. Nov. 1918). 41 Zur amerikanischen Haltung gegenüber Deutschland, Schoenthal (1959): American Attitudes Toward Germany, S. 23–65.

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Abbildung 1: „Quick, send Hoover! Germany is starving!“42

Vor diesem Hintergrund erschien das beispielslose humanitäre Engagement Amerikas als einmalige Gelegenheit. Schon kurz nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages begannen deutsch-amerikanische, pazifistische und Progressive Organisationen ihr Augenmerk auf die prekäre Ernährungslage des ehemaligen Kriegsgegners zu richten. Angetrieben von der Sorge um Freunde und Verwandte in Deutschland, waren es zuerst die Deutsch-Amerikaner, die ‚Liebesgaben‘ in die alte Heimat schickten.43 Aber die Sorge um deutsche Kinder im Besonderen erfasste bald auch weitere Kreise der amerikanischen Zivilgesellschaft. Bereits im   42 Literary Digest, 7. Dez. 1918, 18 – Die Karikatur versinnbildlicht die weitverbreitete Auffassung der deutschen Not als eine Art Schmierenstück, mit der die amerikanische Öffentlichkeit irregeführt werden sollte. Gleichzeitig verdeutlicht die Karikatur, dass man Deutschland für die prekäre Versorgungslage Europas verantwortlich machte. 43 Zur deutsch-amerikanischen Hilfstätigkeit, Strickland (1962): American Aid to Germany, 1919–1921, Rippley (1973): Gift Cows for Germany.

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August 1919 hatte das American Friends Service Committee (AFSC), die 1917 gegründete Hilfsorganisation der amerikanischen Quäker, eine kleines Kinderspeisungswerk eingerichtet, das bald – mit finanzieller und logistischer Unterstützung Herbert Hoovers – eines der größten Hilfswerke Nachkriegseuropas wurde.44 Im Gegensatz zu den persönlichen Beweggründen der Deutsch-Amerikaner verstand das AFSC seine Arbeit vornehmlich als humanitäre und völkerversöhnende Aufgabe. Ähnlich wie schwedische oder britische Gruppierungen, verfochten auch die Quäker das „Bild des universellen Kindes“ (Cabanes), das unabhängig von Rasse, Herkunft, Glauben, Nationalität und auch zeitgenössischen politischen Konstellationen ein Anrecht auf amerikanische Sympathie und Hilfe hatte.45 Das deutsche Hilfswerk verstanden sie als friedensfördernde Maßnahme und hervorragende Gelegenheit zur deutsch-amerikanischen Aussöhnung. Indem sie sich den Kindern des ehemaligen Feindes annahmen und die deutsche Lage einer breiteren amerikanischen Öffentlichkeit nahebrachten, hofften sie einer internationaler Verständigung den Weg zu bahnen.46 Der amerikanische ‚relief czar‘ und spätere Präsident Herbert Hoover (selbst ein Quäker) verknüpfte solche Erwägungen noch mit einer klar konterrevolutionären Zielsetzung. Der Prämisse „hunger breeds Bolshevism“ folgend, war er schon während des Waffenstillstandes für den Verkauf von Lebensmitteln an Deutschland eingetreten und nutzte jetzt amerikanische Hilfslieferungen, um Mittel- und Osteuropa politisch zu stabilisieren.47 Auf seinem Höhepunkt im Sommer 1921 versorgte das von den Quäkern geleitete und von Hoover unterstützte amerikanische Hilfswerk – welches als Quäkerspeisung berühmt wurde – mehr als eine Million deutscher Kinder am Tag. Lange vor Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen waren die USA so durch ihre humanitäre Arbeit in ganz Deutschland präsenter als je zuvor. Staatliche und private Kreise in Deutschland begrüßten die amerikanische Hilfstätigkeit. Neben der Entschärfung sozialer Probleme erhofften sie sich auch ein Wiederaufleben ethnischer und sozialreformerischer Verbindungen der Vorkriegszeit und eine angemessen dramatische, aber nicht dem Vorwurf der ‚deutschen Propaganda‘ ausgesetzte Schilderung der deutschen Not. Gerade aus revisionspolitischer Sicht lag dabei der Vorteil des amerikanischen Hilfswerks in seiner, oberflächlich betrachtet, unpolitischen Natur. Das galt besonders im Hinblick auf die circa 10 Millionen Deutsch-Amerikaner, an deren emotionaler Bindung zum alten Vaterland den deutschen Diplomaten und halb-amtlichen Gruppen sehr   44 Zeitgenössische Darstellungen der amerikanischen Hilfe bei Henriques (1923): Das amerikanisch-deutsche Kinderhilfswerk und Stöhr (1936): So half Amerika; neuerdings auch Aiken (2019): American Quakers in the Weimar Republic. 45 „Germany’s Need, An Appeal“ American Friends Service Committee Bulletin, 22 (1919); Cabanes (2014): The Great War, S. 273. 46 „There is a wonderful opening for us here“ schrieb eine Quäkerin 1919, „the philosophy of force has crumbled in our hands.“ Carolena Wood zit. nach Jones (1920): A Service of Love, S. 260. 47 Eine öffentliche Aufzählung von Gründen für die Deutschlandhilfe bei ‚Hoover Tells Why We Feed German People’ Chicago Daily Tribune (23. März 1919); zu Hoovers konterrevolutionären Absichten, Costigliola (1984): Awkward Dominion, S. 39.

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gelegen war. Während aber jede Art von politischer und sogar kultureller Fühlungnahme Deutschlands mit deutsch-amerikanischen Kreisen in Amerika äußerst misstrauisch beäugt wurde, hatten selbst so-genannte „100 %-Americans“ meist kein Problem mit einer rein humanitären Betätigung.48 Sogar die deutschen Auslandsvertretungen in den Vereinigten Staaten, die ansonsten strengste Zurückhaltung gegenüber Deutsch-Amerikanern anmahnten, empfanden Darstellungen der deutschen Kindernot als äußerst probates Mittel, die deutsch-amerikanische Empörung über Versailles zu schüren, ohne sich dabei der Einmischung in amerikanische Verhältnisse verdächtig zu machen.49 Den außerordentlichen Erfolg dieser Strategie belegt die Tatsache, dass das Deutsche Rote Kreuz bereits 1921 mit über 300 deutsch-amerikanischen Hilfskomitees in Kontakt stand. Gleichzeitig aber boten Amerikas humanitäre Interessen Gelegenheit, die Sympathien politisch einflussreicher „Anglo-Amerikaner” zu gewinnen, galten diese doch als besonders empfänglich für sentimentale Verbrämungen, besonders wenn es sich um Kinder handelte.50 Gerade das humanitäre Engagement nicht-ethnischer Organisationen, allen voran der Quäker, machte das amerikanische Hilfswerk für deutsche Regierungskreise so vielversprechend. Ihre hohe Glaubwürdigkeit, Deutschlanderfahrung, Verständnis amerikanischer Denkweisen und relativ professionelle Öffentlichkeitsarbeit versetzten sie in die Lage, auch jene amerikanischen Kreise zu erreichen, die ansonsten geneigt waren, die Realität der deutschen Not anzuzweifeln. Außenpolitisch betrachtet, schrieb ein deutscher Diplomat im März 1920, konnten Hilfsaktionen von hohem propagandistischen Nutzen sein, insofern als dadurch Aufklärung über die wahre Notlage in Deutschland vom neutralen Auslande selbst übernommen und in weite Kreise getragen wird. [...] Wie ich auch in letzter Zeit durch direkte Berichte aus England höre, beruht die Abneigung, uns finanziell zu helfen oder einer Revision des Friedensvertrags ernstlich näher zu treten, hauptsächlich immer noch auf einer falschen Vorstellung von den Zuständen in Deutschland.51

Außenpolitisch isoliert und von der politischen Notwendigkeit eines amerikanischen Stimmungsumschwungs überzeugt, sahen deutsche Diplomaten, Publizisten und Sozialreformer das amerikanische Hilfswerk als hervorragende Gelegenheit, das politisch erwünschte Bild eines mittellosen, am Boden liegenden Deutschlands   48 „Präsident Harding an die naturalisierten Bürger“ Volk und Heimat 2, (Nov. 1921), H. 21, S. 204; einige Ausnahmen bei Rippley (1973): Gift Cows, S. 12. 49 Generalkonsulat Chicago an AA, 21. März 1922, PA, R121325. 50 Die besondere Sentimentalität der amerikanischen Bevölkerung wurde oft hervorgehoben, etwa Bernstorff (1920): My Three Years in America, S. 45–46. 51 Deutsche Gesandtschaft, den Haag, an AA, 6. März 1920, BArch, R901/80966. Diese Aussage bezog sich auf eine holländische Hilfsaktion, ähnliche Aussagen finden sich aber auch im Bezug auf die amerikanische Situation, z. B. Niederschrift der Interministeriellen Besprechung, 6. Mai 1920, BArch R43-I/1268, S. 4–9. Ein weiterer Vorteil war, dass die Quäker auch über die Notlage hinaus ein Interesse an der Hilfsaktion hatten. Alonzo Taylor, Ernährungsexperte der American Relief Administration, warf den Quäkern 1921 vor, ein Hilfs- zu einem Versöhnungsprojekt zu machen, Alonzo E. Taylor an Alfred Scattergood, 9. März 1921, HIA, American Relief Administration. European Operations Records, (ARA/EOR) Box 636/2.

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zu verbreiten. Somit stellte die amerikanische Hilfstätigkeit einen Aktivposten nicht nur für die amerikanische, sondern auch für die deutsche Außenpolitik dar. 2. DIE DEUTSCHE KINDERNOT UND DER REPARATIONSSTREIT In den Vereinigten Staaten konkurrierte die deutsche Revisionspolitik in erster Linie mit französischen Interessen. Während Berlin versuchte, die amerikanische Öffentlichkeit von der Unhaltbarkeit des Friedensvertrages zu überzeugen und die moralischen Kriegsbündnisse aufzulösen, versuchte Paris das emotionale Band zu den USA – und damit auch die finanziellen und sicherheitspolitischen Abmachungen der unmittelbaren Nachkriegszeit – zu bewahren und zugleich die Eintreibung seiner exorbitanten Kriegsschulden zu verhindern.52 Ab 1920 kulminierte der deutschfranzösische Gegensatz im Reparationsstreit, der seiner weitreichenden sozialen und politischen Wirkung wegen besonders erbittert geführt wurde. Für Frankreich, das die Hauptlast der Kriegszerstörungen zu tragen hatte, hatten deutsche Reparationszahlungen zuerst einmal die Funktion, Haushaltlöcher zu stopfen, Kriegsschulden und Pensionen zu bezahlen sowie den Wiederaufbau der zerstörten Provinzen zu finanzieren. Aber es ging auch um Macht und Einfluss in Europa. Nur wenn Deutschlands wirtschaftlicher Wiederaufstieg durch hohe Reparationszahlungen verlangsamt werden konnte, würde Frankreich seine hart erkämpfte europäische Vormachtstellung halten und sich vor einem revanchistischen und demographisch überlegenen Deutschland schützen können.53 Aus diesen zentralen macht- und sicherheitspolitischen Fragen entsprang Anfang der 1920er Jahre das harte deutschfranzösisches Ringen um amerikanische Sympathie und Unterstützung. Im eskalierenden Reparationsstreit führten sowohl Frankreich wie auch Deutschland (ebenso wie pro-französische und pro-deutsche Kreise in den USA) das Argument ihrer jeweiligen wirtschaftlicher Not an, um ihre Ansprüche auf Amerikas moralische und finanzielle Hilfe zu untermauern. Dem von deutscher Seite hervorgehobenen Leid der Bevölkerung kam deshalb eine so große und politische Bedeutung zu, weil sie eine der Hauptfragen der Nachkriegszeit berührte: ob nämlich Deutschland, wie Paris behauptete, einfach nicht willens war, seinen Pflichten gegenüber Frankreich nachzukommen, oder ob es, wie Berlin behauptete, angesichts seiner eigenen wirtschaftlichen Probleme dazu einfach nicht in der Lage war. Frankreich und frankophile Amerikaner führten dabei die Zerstörungen in den nördlichen Provinzen und die Unversehrtheit Deutschlands an, um eine nachsichtigere Behandlung der französischen Schuldenlast und ein härteres Vorgehen gegen Deutschland in der Reparationsfrage zu erwirken. Hingegen konzentrierten sich die Unterstützer Deutschlands zunehmend auf die Kindernot. War das Reichsgebiet auch vom Krieg weitgehend unberührt geblieben, argumentierten sie, so hatte er doch einen wichtigen Teil Deutschlands verwüstet: die Gesundheit deutscher   52 Keylor (1993): How they advertised France; Young (2004): Marketing Marianne. 53 Steiner (2007): The Lights that failed, S. 183.

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Kinder. Während amerikanischen Touristen in Frankreich systematisch die zerstörten Dörfer als Beweis für die deutsche Barbarei gezeigt wurde, führte man sie in deutschen Städten ebenso systematisch zu „Stätten der Not” wie etwa Armutsviertel, Kinderheime oder Tuberkulosestationen, wo sie sich anhand ausgemergelter Kinderkörper selbst von der Armut Deutschlands und der Brutalität des französisch forcierten Friedens überzeugen sollten.54 Eine Broschüre des Deutschen Roten Kreuzes fasste diese deutsch-französische Opferkonkurrenz in dem Satz zusammen: „Unsere zerstörten Provinzen [sind die] Körper und Seele unserer Jugend.“55 Gerade in deutsch-amerikanischen Händen dienten Darstellungen der deutschen Not nicht nur der Sympathiewerbung für Deutschland, sondern auch der moralischen Verurteilung Frankreichs. Deutsch-amerikanische Journalisten stellten die französische Reparationspolitik gern als Hungerkrieg gegen Frauen und Kinder dar, der gezielt die deutsche demographische Überlegenheit abbauen sollte.56 Angesichts dieser zunehmend uferlosen Unterstellungen verwundert es nicht, dass das Motiv der deutschen Kindernot ab etwa Sommer 1920 auch mit der Kampagne gegen die „Schwarze Schmach“ überlappte. Ray Beveridge etwa, eine amerikanische Schauspielerin, die sich als ‚Schwarze Schmach‘-Aktivistin einen Namen machte, begann ihre Propagandakarriere mit der deutschen Kindernot. Eine ihrer eindrücklichsten Propagandamaterialien war das Bild einer mütterlichen Beveridge mit zwei Kindern: einem properen, „gemischt-rassigen“ Kleinkind, angebliches Produkt der „Schwarzen Schmach“, und einem deutlich unterernährten weißen Kind, angebliches Produkt der englischen und französischen Hungerstrategie (Abbildung 2). Als Postkarte und mit einem Appell an die ‚zivilisierte Welt‘ in die USA versandt, verband diese Gegenüberstellung die emotionale Wirkung beider Kampagnen und präsentierte eine Art Meistererzählung deutscher Viktimisierung und französischer Aggression.57 Der propagandistische Motivwechsel von der Hungerblockade zum Hungerfrieden ab etwa Ende 1919 war somit auch mit einem Übergang von antibritischer hin zu anti-französischer Agitation verbunden.

  54 DZA (1924), Auslandshilfe in den Notjahren 1922 und 1923, S. 6. 55 Adele Schreiber, „Wiederaufbauarbeit an Kindern“ Blätter des Deutschen Roten Kreuzes (Jan. 1922), Exemplar in der HML, Ms Coll. 38 Hilfsfond Records, Box 9, Folder 80. 56 G.S. Viereck, „America’s Moral Duty“ The American Monthly (Mai 1920); „Die Herzen Auf!“ Das Hilfswerk 1, (März 1921), H. 2. 57 Zu Beveridges Aufrufen für deutsche Kinder, besonders an Deutsch-Amerikaner, R. Beveridge, „I beg for my dear Germans“ Chicago Abendpost (20. Nov. 1919); dass dieses Bild auch als Postkarte Verbreitung fand, siehe Marks (1983): The Black Watch on the Rhine, S. 312.

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Abbildung 2: Ray Beveridge mit zwei Kleinkindern58

Die Antwort französischer und frankophiler Kreise in den USA ließ nicht lange auf sich warten. So bezeichnete etwa eine im Literary Digest im April 1921 nachgedruckte französische Karikatur die deutschen ‚whines and wails‘ als nichts mehr als eine Propagandalüge. Der dazugehörige Artikel behauptete, dass jede ausländische Hilfstätigkeit unnötig wäre, wenn reiche Deutsche nur ihren Beitrag leisteten und dass ‚German children, […] have not suffered nearly so much as have the French children in the devastated regions.‘59 So wie deutsche und deutsch-amerikanische Hilfskomitees versuchten, die Kindernot außenpolitisch zu instrumentalisieren, so nutzte auch das American Committee for Devastated France unter der Leitung der Millionenerbin Anne Morgan seine Benefizaktivitäten, um an die Opfer zu erinnern, die Frankreich für den gemeinsamen Sieg erbracht hatte und die amerikanische Empörung gegen ein unverbesserliches Deutschland zu schüren, welches Frankreich nun um die bitter erkämpften Früchte seines Sieges zu bringen suchte.60 Somit bedienten sich beide Seiten zwei sehr unterschiedlicher ‚humanitärer Narrative‘, um die sozialen und demographischen Kosten des Krieges im amerikanischen Bewusstsein zu halten und die hochkomplexen und für den Laien unverständlichen   58 Diese Darstellung mit einem „gemischt-rassigen“ Kleinkind und einem angeblich 6-jährigen unterernährten Kind etwa gleicher Größe, sollte die angeblichen Folgen von Hungerblockade und „Schwarzer Schmach“ verdeutlichen. Beveridge (1937): Mein Leben für Euch, S. 257. 59 „French View of German Poverty“ Literary Digest (30. Apr. 1921), S. 16. 60 z. B. Annual Report of the American Committee for Devastated France, Inc. Year ending, March 31, 1921, S. 37; Annual Report for the year ending March 31, 1922, S. 31.

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Reparationsverhandlungen auf grundlegende, emotionale Argumente herunterzubrechen: dass nämlich das lange Leiden Frankreichs seinen Anspruch auf Reparationen begründete, die ein ungleich reicheres Deutschland ihm nun willentlich vorenthielt, bzw. dass Deutschlands eigene wirtschaftliche Misere ihm nicht erlaubte, Reparationszahlungen zu tätigen, auf denen Frankreich nur deshalb bestand, um es endgültig zugrunde zu richten. So wurde in den frühen 1920er Jahren die deutsche wie auch die französische Kindernot zum Schauplatz des deutsch-französischen Ringens um die amerikanische Öffentlichkeit.61 Die deutsche Seite schien zunächst schnell an Boden zu gewinnen. Gegen Ende des Jahres 1920 liefen überall in den USA deutsch-amerikanische Spendenaktionen und die Quäker schilderten der amerikanischen Öffentlichkeit die deutsche Not auf glaubwürdige und mitfühlende Weise. Im Spätherbst 1920 überzeugten sie Herbert Hoover, auch die deutschen Kinder in die größte Spendenaktion der Nachkriegszeit, den sogenannten Hoover-drive des European Relief Council, aufzunehmen, und ihrer Not so – gleichrangig mit der anderer europäischer Kinder – Legitimität und Publizität zukommen zu lassen.62 Allerdings war diese Spendenaktion wohl weniger Ausdruck einer besonderen Sympathie für Deutschland – noch während der Kampagne zeigte sich vielerorts starke Ablehnung und Misstrauen – sondern des Verlustes der kriegsbedingten Sonderstellung Frankreichs.63 Die Entfremdung zwischen den USA und Frankreich hatte dabei weniger mit deutschen Schuldzuweisungen zu tun als mit tiefergehenden Interessensunterschieden, die sich etwa in der Kriegsschuldendebatte oder der Abrüstungsfrage offenbarten. Je mehr Paris auf eine strenge Umsetzung der Versailler Friedensbedingungen pochte, desto mehr wurde es in der amerikanischen Öffentlichkeit als europäischer Störenfried wahrgenommen.64 Es war die Lösung des emotionalen, im Krieg geknüpften Bands mit Frankreich, nicht aber Sympathien für Deutschland, die der Idee universeller huma-

  61 Young (2004), Marketing Marianne, S. xviii. 62 Sowohl den Quäkern als auch ihren deutsch-amerikanischen Unterstützern ging es nicht so sehr darum, Spenden einzutreiben (Hoover hatte bereits versprochen, einen Teil der Spenden für deutsche Kinder zu verwenden), sondern die amerikanische Öffentlichkeit auf das Leid deutscher Kinder aufmerksam zu machen, siehe James Speyers Schreiben, Reichsministerium der Finanzen an AA, Jan. 1921, PA R 121325, zum „Hoover-drive“, Strickland (1959): American Aid, S. 61–106. Beispiele für die Öffentlichkeitsarbeit des AFSC: „Inside Germany“ NYT (12. Dez. 1920), XX8; „Millions fed by Quakers“ Los Angeles Times (27. Mai 1922), „Advertisement: Quaker Appeal for German Children.“ Los Angeles Times (26. März 1920) II 5; „Facing Impossible Future.” Boston Daily Globe (18. Apr. 1920), E 16; „Americanized Germany Through Quaker Eyes.“ NYT (17. Okt. 1920), BRM22; „Germany Starving, Observers Assert.“ NYT (7. Dez. 1920), 15. 63 Hoover selbst behauptete, dass die Einbindung deutscher Kinder die amerikanische Gebefreudigkeit getrübt hätte, Hoover an Unbekannt, 6. Jan. 1921, HIA, ARA/EOR Box 739/9; teils bittere Briefe, die sich gegen die Speisung von „Feindeskindern“ wandten oder die deutsche Not anzweifelten: HIA, ARA/EOR, Box 739/9 und 13. 64 Keylor (1993): How they advertised France, S. 371.

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nitärer Kinderrechte, einschließlich der Kinder der ehemaligen Kriegsgegner, Auftrieb verlieh.65 Demnach hatte die deutsche „Mitleidsdiplomatie“ Mitte 1921 trotz ihrer unbestreitbaren sozialpolitischen Erfolge ihre revisionspolitischen Ziele verfehlt. Auch nach Jahren der gezielten deutschen und amerikanischen Öffentlichkeitsarbeit waren die meisten Amerikaner nicht gewillt, die deutsche Opferrolle, die Notwendigkeit der Vertragsrevision oder auch die französische Verantwortung für die deutsche Not anzuerkennen.66 Und selbst in den Kreisen, die der deutschen Argumentation Glauben schenkten, hatte die Hilfstätigkeit keine politischen Erfolge gezeitigt. Gerade die Deutsch-Amerikaner blieben zu marginalisiert, zu vorsichtig und in sich zu gespalten, um das Argument der deutschen Kindernot zur gemeinsamen politischen Agitation nutzen zu können.67 Im Gegenteil stießen ihre stark revisionistischen und oft überzogenen Behauptungen anglo-amerikanische Unterstützer eher ab. Auch standen die Vereinigten Staaten einem Eingreifen in Europa immer noch ablehnend gegenüber. Kurz nach der großen Spendenaktion des European Relief Council im Frühjahr 1921 lehnte der neu gewählte Präsident Harding die deutsche Bitte um Vermittlung in der Reparationsfrage ab. 68 Folgerichtig enttäuschte die amerikanische Regierung dann Ende des Jahres durch den mit Deutschland geschlossenen Separatfrieden sowohl die deutschen als auch die französischen Hoffnungen: sie behielt sich zwar alle Rechte aus dem Versailler Vertrag vor, entzog sich aber den daraus erwachsenden internationale Verpflichtungen. Ungeachtet ihres bedeutenden humanitären Engagements zogen sich die Vereinigten Staaten politisch zunehmend aus Europa zurück. Auch deswegen offenbarten sich spätestens Mitte 1921 die klaren Grenzen der deutschen Mitleidsdiplomatie. Trotzdem war es nicht nur der begrenzte Erfolg dieser Strategie oder die deutliche Verbesserung der sozialen Lage in Deutschland, die gerade das Auswärtige Amt überzeugten, sich nach 1921 nicht weiter auf die Kindernot zu konzentrieren. Spätestens seit Jahresende 1920 waren sich deutsche Diplomaten auch der unangenehmen Nebeneffekte internationaler Mildtätigkeit bewusst geworden. So gab es einen alarmierenden Anstieg der Sammeltätigkeit deutscher sozialer und wissenschaftlicher Einrichtungen wie etwa Kinderheime oder Forschungsinstitute im Ausland, die nicht nur die spontane Hilfstätigkeit des Auslands untergrub, sondern aus der Sicht deutscher Diplomaten auch den elementarsten Ansprüchen deutscher Würde widersprach. Als besiegtes und gedemütigtes Land musste Deutschland zwar an Auslandssympathien gelegen sein, aber es sollte doch nicht der Eindruck   65 Die Bemühungen von Organisationen wie Save the Children führten zur Formulierung universeller Kinderrechte, die dann 1924 offiziell vom Völkerbund übernommen wurden, hierzu z. B. Cabanes (2014): The Great War, S. 289–295. 66 Deutsche Botschaft Washington an AA, 31. März 1922, NARA, T-120, Reel 1489, K618577 67 Bericht Hanns Gramm, BArch, R32/158, S. 159–168; zu den Problemen der Deutsch-Amerikaniker, Luebke (1990): German-American Leadership Strategies Between the World Wars. 68 Siehe den deutschen Aufruf vom 20. April 1921 an den amerikanischen Präsidenten, The Commissioner at Berlin to the Secretary of State, FRUS 1921 (2), S. 41.

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erweckt werden als bettele es die ehemaligen Kriegsgegner um Almosen an.69 Als sich das „Bettelunwesen” zu einem immer ernsthafteren Problem auswuchs, wurde der Propagandawert der deutschen Not zunehmend von der Fragen des deutschen Prestiges und der deutschen Würde überschattet. Das Auswärtige Amt wandte sich daher vermehrt anderen Propagandaunternehmungen – etwa der Agitation gegen die „Schwarze Schmach“ oder der sogenannten Kriegsschuldlüge – zu, die eine noch publikumswirksamere Verurteilung französischer Nachkriegspolitik und eine noch grundsätzlichere Kritik des Friedensvertrags versprachen. Darüber hinaus ermöglichte die Wiederaufnahme offizieller Beziehungen Ende 1921 wieder einen regulären diplomatischen und gesellschaftlichen Zugang zu amerikanischen Eliten. Gleichzeitig verschob sich der deutsche Fokus mit der Ernennung des Krupp-Managers Otto Wiedfeldt als erstem Nachkriegsbotschafter in Washington von der amerikanischen Öffentlichkeit hin zu amerikanischen Geschäftsleuten und Kapitalgebern. Die Appelle an das Mitleid traten nun zugunsten von Appellen an das wirtschaftliche Eigeninteresse Amerikas in den Hintergrund.70 3. MITLEIDSDIPLOMATIE IM KRISENJAHR 1923 Erst das deutsche Krisenjahr 1923 – von der Ruhrbesetzung und dem Zusammenbruch der deutschen Währung bestimmt – erweckte die ‚Diplomatie des Mitleids‘ noch einmal zu neuem Leben. Bereits wenige Tage nach der mit deutschen Reparationsrückständen begründeten französischen Besatzung des Ruhrgebiets am 11. Januar begann die deutsche Botschaft in Washington die Deutsch-Amerikaner zu speziellen Ruhrsammlungen zu animieren.71 Im Spätsommer 1923 organisierte dann die deutsche Regierung die wohl umfänglichste Aufklärungskampagne zur deutschen Lage der Nachkriegszeit: eine amerikaweite Spendenkampagne für deutsche Kinder unter Leitung eines American Committee for the Relief of German Children.   69 Protokoll der Jahresversammlung des DZA, 15. Apr. 1921, BArch, R3901/9107; eine gute Einführung in offizielle Reaktionen auf das ‘Bettelunwesen’, Rundbrief, AA an Reichsarbeitsministerium 9. Dez. 1920, BArch, R3901/9059. 70 So etwa Außenminister Walther Rathenau in seiner Reichstagsrede vom März 1922: „Der Niederbruch Deutschlands aber ist der Niederbruch Europas. Deutschland verlangt von niemand in der Welt Mitleid, aber Deutschland verlangt die Einsicht der Nationen in die Einheit und in die Verflochtenheit der Weltinteressen“ Protokolle des Reichstags, 29. März 1922, Bd. 354, 6656 D; zu Wiedfeldt, Schröder (1971): Otto Wiedfeldt. 71 Zur Aktivierung der Deutsch-Amerikaner, Botschaft Washington an Generalkonsulat New York, 25. Jan. 1923, PA, Botschaft Washington, 1407; Beispiele dieser neuen Aufklärungskampagne: „Ein krankes Volk“ Süddeutsche Monatshefte (Sonderheft, Mai 1923); Gustav Böß, Die Not in Berlin. Tatsachen und Zahlen (Berlin 1923), Interview des Preußischen Ministeriums für Volkswohlfahrt an die Auslandspresse, Obermedizinalrat Dr. Krohne ‚Die gesundheitliche Not des deutschen Volkes’ 4. Jan 1923, HIA, ARA/EOR Box 595/9.

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Dieser erneute Fokus auf die deutsche Kindernot war Teil des intensiven Propagandakrieges, der den deutschen passiven Widerstand an der Ruhr begleitete. Gerade wegen der schlechten wirtschaftlichen Ausgangslage war der deutschen Regierung sehr daran gelegen, wenigstens einen moralischen Sieg für Deutschland davonzutragen. Vor allem hoffte man, durch die Betonung französischer Brutalität und der negativen Besatzungsfolgen einen amerikanischen Meinungsumschwung herbeizuführen, der es der amerikanischen Regierung erlauben würde, endlich in der Reparationsfrage aktiv zu werden.72 In diesem Zusammenhang nahm auch die Bedeutung emotionaler Appelle wieder stark zu. Angesichts wachsender Spannungen im Reparationsstreit hatte die deutsche Botschaft in Washington Berlin bereits im Oktober 1922 darauf verwiesen, das deutsche Leid hervorzuheben und Aufrufe emotionaler Art an die amerikanische Öffentlichkeit zu richten. Wie die Botschaft betonte: das amerikanische Volk ist von Grund aus sentimental [...] Jetzt hat Deutschland den Krieg verloren und ist machtlos, und die traurigen Zustände in Deutschland, die fast täglich in der Presse erwähnt werden, haben das ihrige getan, um hier in weiten Kreisen tiefes Mitgefühl hervorzurufen. [...] Immer wieder muss das hiesige Volk auf die Zustände, wie sie tatsächlich in Deutschland bestehen, hingewiesen werden [...]. – Nur dadurch wird die öffentliche Meinung in einer Stimmung erhalten werden können, die für die Leiden Deutschlands Mitgefühl empfindet und sich nicht gegen eine Teilnahme Amerikas an dem Wiederaufbau Europas sträubt. Und auf die Stimmung der öffentlichen Meinung kommt hier alles an.73

Trotzdem hielten sich gerade deutsche Diplomaten (außerhalb deutsch-amerikanischer Kreise) mit Darstellungen der deutschen Not zurück, solange es noch andere Möglichkeiten zu geben schien, die amerikanische Öffentlichkeit zu erreichen. Erst im Juli 1923 verlor die Sorge um das deutsche Prestige angesichts der zunehmend aussichtlosen deutschen Lage rasch an Bedeutung. Vor dem Hintergrund einer galoppierenden Inflation, dem zusammenbrechenden passiven Widerstand und der anhaltenden Apathie Amerikas schien allein eine großangelegte Hilfsaktion in der Lage, zumindest zeitweise Sympathie und Unterstützung für Deutschland hervorzurufen.74 Nach der Kabinettssitzung am 15. August, deren Gegenstand der unmittelbar bevorstehende Zusammenbruch des passiven Widerstands war, wies Berlin den deutschen Botschafter in Washington an, alle Möglichkeiten auszutarieren, eine amerikanische Hilfsaktion zugunsten Deutschlands ins Leben zu rufen.75 Erst zu diesem Zeitpunkt dramatisch beschnittener außenpolitischer Handlungsspielräume   72 Deutsche Botschaft Washington an AA, 7. Jan. 1923 in ADAP, Serie A, Bd. 7, Nr. 14, S. 29– 42; Rk 2642, Cuno an Leiter der Presseabteilung der Reichsregierung, 23. Feb. 1923 „Aufklärung“ PA, R75333; ausführlich zur deutschen Propagandastrategie, Deutsche Botschaft Washington an AA, 7. Jan 1923 in ADAP, Serie A, Bd. 7, Nr. 14, S. 29–42, 41. 73 Deutsche Botschaft Washington an AA, 18. Okt 1922, PA, R80134. 74 Ende Juli machte sich gerade bei den Auslandsvertretungen in den USA eine defätistische Stimmung breit. In einem pessimistischen Bericht zur Haltung der amerikanischen Öffentlichkeit räumte Botschafter Wiedfeldt das völlige Versagen der deutschen Propaganda ein, Deutsche Botschaft an AA, 20. Jul. 1923, ADAP, Serie A, Bd. 7, Nr. 76, S. 183–196. 75 Kabinettssitzung vom 15. Aug. 1923, Erdmann und Vogt, Akten der Reichskanzlei.

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wurde die zuvor allenfalls inoffizielle „Mitleidsdiplomatie“ zur eigentlichen Regierungsstrategie erhoben. Allerdings konnten deutsche Diplomaten zu diesem Zweck auf informelle Strukturen zurückgreifen, die durch die jahrelange amerikanische Hilfstätigkeit entstanden waren. Das galt vor allem für die amerikanischen Quäker, deren Beteiligung für eine Breitenwirkung der Hilfsaktion unabdingbar schien. Der deutsche Botschafter selbst suchte deshalb Anfang August die Führer des American Friends Service Committee [AFSC] in Philadelphia auf und bat sie, eine Spenden- und Hilfsaktion für deutsche Kinder zu unterstützen. Wenngleich sich die Führung des AFSC der politischen Absichten Deutschlands durchaus bewusst war, konnte sie doch angesichts ihres jahrerlangen Engagements für deutsche Kinder die Bitte des Botschafters nicht abschlagen.76 Ihre Zusage, die sich sehr von der ablehnenden Haltung des Amerikanischen Roten Kreuzes unterschied, zeigt, wie sehr humanitäres Engagement auch von Sympathien geleitet wird.77 Mithilfe der Quäker gelang es dann auch Ende August General Henry T. Allen, den ehemaligen Kommandeur der amerikanischen Besatzungstruppen im Rheinland, als Leiter der Spendenkampagne für deutsche Kinder zu gewinnen. Als ein Anglo-Amerikaner, dessen patriotische Gesinnung vollkommen außer Frage stand, schützte die Beteiligung Allens die Hilfsaktion vor Vorwürfen pro-deutscher Agitation und war, wie deutsche Diplomaten klar erkannten, deren größte Stärke. Obwohl deutsche Interessen, deutsches Geld und auch deutsches Aufklärungsmaterial eine große Rolle im Zustandekommen und Verlauf der Spendenkampagne spielten, wurde der deutsche Einfluss doch systematisch verborgen und die Hilfsaktion als ganz amerikanisches Unterfangen dargestellt.78 Ihre Unterstützer erklärten, nicht „one drop of German blood in [their] veins” zu haben und das national committee enthielt absichtlich nur wenige deutschklingende Namen. Insgesamt bemühte man sich um ein möglichst unparteiisch wirkendes Erscheinungsbild, welches für den Erfolg sowohl einer humanitären als auch propagandistischen Kam  76 Das Protokoll dieses Treffens bezeugt, dass die Quäker den deutschen Absichten misstrauisch gegenüberstanden, ihre Unterstützung aber nach Jahren der Hilfstätigkeit nicht versagen konnten und wollten. Die Nachlässe einzelner Quäker zeigen auch, wie sehr sie sich mit der deutschen Situation und nicht zuletzt auch mit dem passiven Widerstand identifizierten. J. Henry Scattergood, der ehemalige Leiter der Quäkerspeisung in Deutschland, bezeichnete den passiven Widerstand als „wonderful“, „marvelous“, „fantastic“ und „a great experiment in the world’s history … that all anti-militarists everywhere should pray may succeed.“ J. Henry Scattergood an American Friends Service Committee, 30. März 1923, Archiv des American Friends Service Committee, Philadelphia, Box: General files 1923 Foreign Service (Country: Germany to Country: Russia); folder: AFSC Foreign Service Germany (General). 77 Die Haltung weniger emotional befangener Hilfsorganisationen wie des Amerikanischen Roten Kreuzes fielen deutlich negativer aus, Amerian Red Cross „The German Situation“ (ca. Dez. 1923), NARA, RG 200, Box 875, Folder 951. 78 Allen Tagebuch, 14. Nov. 1923, LoC, NL Allen, Box 4, das meiste Aufklärungsmaterial kam aus Deutschland und wurde dann von einer PR-Firma für den amerikanischen Markt aufbereitet. Um den Austausch reibungslos zu gestalten, verbrachte der Leiter des Deutschen Zentralausschuss für die Auslandshilfe ein halbes Jahr in den USA. Zur Rolle Berlins siehe das Protokoll der interministeriellen Besprechung vom 29. Okt. 1923, BArch, R3901/9110.

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pagne Ausschlag gebend war. Dass diese Vorsichtsmaßnahmen wohlbegründet waren, zeigten die Schwierigkeiten, die General Allen noch Ende 1923 hatte, ein angesehenes national board zusammenzubringen. Viele Amerikaner zweifelten immer noch an Deutschlands Not oder zumindest an seinem moralischen Anspruch auf amerikanische Unterstützung. Vor dem Hintergrund der Ruhrbesatzung sahen viele eine Spendensammlung zugunsten deutscher Kinder „just at this moment“ (wie es in Allens Briefwechsel hieß) eben nicht als unparteiische humanitäre Aktion, sondern als öffentliche Sympathiebekundung für die deutsche Seite.79 Auch amerikanische Regierungsvertreter lehnten es ab, die Hilfsaktion öffentlich zu unterstützen. Während der Ruhrkrise bezog Washington eine dezidiert neutrale Position und verfolgte eine Politik „kalkulierter Zurückhaltung”.80 Solange noch kein konkreter und erfolgversprechender Plan zur europäischen Stabilisierung vorlag, verhielten sich die Regierungen der Präsidenten Harding und (ab August 1923) Coolidge abwartend und kultivierten ihre Überparteilichkeit. Erst Anfang Oktober 1923, zu einem Zeitpunkt also, als Deutschland den passiven Widerstand bereits aufgegeben hatte und sich sein politischer und wirtschaftlicher Zusammenbruch deutlich abzeichnete, begann die U.S.-Regierung eine Lösung der Reparationsfrage durch eine amerikanisch-geführte Expertenkommission voranzutreiben. Just als die Hilfsaktion für deutsche Kinder im Oktober und November in Schwung kam, versuchte die amerikanische Regierung (letztlich erfolgreich) die Franzosen durch Anreize und finanziellen Druck zum Einlenken zu bringen.81 Während dieser kritischen Phase musste jede offizielle Unterstützung einer pro-deutsch wirkenden Unternehmung, insbesondere wenn sie als Kritik an der französischen Ruhrpolitik verstanden werden konnte, äußerst unklug erscheinen. Der neue amerikanische Präsident Coolidge und Mitglieder seiner Regierung drückten zwar privat ihre Sympathien für die Hilfsaktion aus, stellten sich aber auf den Standpunkt, dass jede offizielle Unterstützung als Einmischung in den deutsch-französischen Konflikt missverstanden werden könnte.82 Und doch markierte das Zustandekommen des American Committee for the Relief of German Children am Ende einen klaren amerikanischen Sinneswandel hinsichtlich der europäischen Krise. Im November 1923 vereinte das Committee mehr als 100 prominente Männer (und einige Frauen wie Jane Addams) aus der Welt der Wirtschaft, Hochfinanz, Wissenschaft und Politik, unter anderem auch die späteren Architekten des Dawes-Plans: Owen D. Young und Charles G. Dawes. Wenngleich seine politische Bedeutung nicht überbewertet werden darf – viele dieser Männer engagierten sich häufig für allerlei wohltätige Zwecke – machte General Allens Schriftverkehr doch klar, dass die Unterstützung der deutschen Spendenkampagne   79 J.M. Forbes & Co an Henry T. Allen, 17. Okt. 1923; (unbekannt) an Allen, 21. Nov. 1923; (unbekannt) an Allen, 24. Okt. 1923; William Butler an Allen, 22. Nov. 1923; Henry J. Allen an Allen, 3. Jan. 1924, alle LoC, NL Allen, Box 29. 80 Berg (1990): Gustav Stresemann, S. 134, Link (1970): Amerikanische Stabilisierungspolitik, S. 183. 81 Link (1970): Amerikanische Stabilisierungspolitik, S. 203–210. 82 Allen Tagebuch, 11. Okt. 1923, LoC, NLAllen, Box 4.

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einem politischen Statement gleichkam. Dabei handelten viele Amerikaner nicht aus Sympathie für Deutschland, sondern aus wachsender Sorge um die weltwirtschaftlichen Auswirkungen der deutschen Situation und der Anerkennung einer amerikanischen Verpflichtung für den Wiederaufbau Europas.83 Ähnlich wie deutsche Diplomaten verstanden auch amerikanische Geschäftsleute eine großangelegte Spendenkampagne als besonders geeigneten Weg, öffentliches Interesse für die deutsche Lage hervorzurufen und moralisches Momentum für eine finanzielle Intervention Amerikas zugunsten Deutschlands aufzubauen. So zumindest sah General Allen seine Rolle. Wie er dem amerikanischen Secretary of State schon im August 1923 erklärt hatte, beabsichtigte er die Regierung dabei zu unterstützen „[to end] the present great European struggle. First, by giving publicity [. . .] to the present menace to Western civilization and then to insist that American prestige and ingenuity backed up by world obligation and world welfare should and could successfully act.“84 Eine Hilfsaktion für deutsche Kinder bot einen Anlass, genau dieses amerikanische Können und diese moralische Verpflichtung zur Lösung der europäischen Krise unter Beweis zu stellen. Im Laufe der landesweiten Spendenkampagne – die bis Mai 1924 mehr als drei Millionen Dollar erbrachte – präsentierten amerikanische Kirchen, Vereine und Geschäftsleute Deutschland immer wieder als Handlungsfeld für amerikanische Findigkeit, Effizienz und Common Sense.85 (Abbildung 3) In der prekären Lage des Spätherbstes 1923 kam die amerikanische Hilfe, die im November einsetzte, tatsächlich nicht einen Tag zu früh. Verantwortlich für die Misere waren zwar nicht, wie von deutschen Propagandisten gerne behauptet, die Ruhrbesatzung oder die Reparationslast als solche, aber die Kosten des passiven Widerstands hatten doch die Inflation ins Unermessliche steigen lassen und zum Zusammenbruch der deutschen Nahrungsversorgung geführt.86 Zum ersten Mal seit dem Waffenstillstand kam der internationalen Hilfstätigkeit wirklich unmittelbar ausschlaggebende Bedeutung zu. Ende Oktober gab das Reichsministerium des Innern intern zu, dass die internationale Wohltätigkeit von entscheidender Bedeutung für die Abwendung einer „Hungerkatastrophe“ war.87 Kurz darauf richtete die deutsche Regierung einen Aufruf an Wohltätigkeitsverbände und Regierungen weltweit. Ungeachtet ihres außenpolitischen Potentials blieb die deutsche Not doch immer ein Grund – und nicht nur Vorwand – für deutsche Appelle.   83 Charles G. Dawes z. B. der den Vorsitz des Chicagoer Komitees übernahm, war als frankophil bekannt. Auch Owen D. Youngs Biographen legen solche größeren Zusammenhänge der Hilfsaktion nahe. Case und Case, Owen D. Young and American Enterprise, S. 273; Die amerikanische Haltung zur Ruhrkrise änderte sich nach Aufgabe des passiven Widerstands im September 1923. Immer größer wurde nun die Sorge um die deutsche und europäische Stabilität, siehe Lang, Die Meinung in den USA über Deutschland im Jahr des Ruhrkampfes. 84 Allen an Charles E. Hughes, 18. Aug. 1923, LoC, NL Allen, Box 23. 85 Z. B. die Stellungnahme des Federal Council of Churches, Rev. Samuel McCrea Cavert, General Secretary, Congressional Hearings H.J.Res 180, 129. 86 Preußischer Minister für Volkswohlfahrt an verschiedene Ministerien 20. Okt. 1923, PA, R118050; Niederschrift der Interministeriellen Sitzung, 3. Nov. 1923, BArch, R43-I/1263, 272. 87 Reichsministerium des Inneren, Rundschreiben, 22. Okt. 1923, BArch, R3901/9110.

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Abbildung 3: Werbung des American Committee for the Relief of German Children, 192388

Dennoch blieben auch in diesen Monaten der finanziellen und politischen Desintegration außenpolitische Überlegungen relevant. Ein Schreiben Außenminister Stresemanns an alle deutschen Ministerien Ende November 1923 zeigt, welche außenpolitische Funktion der internationalen Hilfstätigkeit immer noch zugeschrieben wurde. Er erinnerte seine Kollegen daran, dass internationale Hilfe nur dann sinnvoll sei, wenn auch in Deutschland selbst alles zur Linderung der Not geschähe und erklärte, daß diese Hilfsaktion – wenn ihr Ziel natürlich auch in erster Linie die materielle Hilfe ist und jeder absichtliche politische Einschlag vermieden wird – doch unvermeidlich auch eine starke politische Nebenwirkung haben wird, insofern als durch diese Aktion erneut die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf die unhaltbare Lage gelenkt wird, in die Deutschland durch die

  88 Die Karikatur spiegelt die Rhetorik des Allen-Drives wider. Die Ursachen der deutschen Not werden nicht benannt, die Hilfsaktion wird als Versöhnungsakt dargestellt, und Deutschland als perfekte Bühne amerikanischer Findigkeit, Effizienz und Common Sense präsentiert.

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Reparationslast und das Vorgehen Frankreichs gebracht worden ist. Ein Fehlschlag der Hilfsaktion würde daher zugleich einen außenpolitischen Fehlschlag bedeuten.89

4. GRENZEN DER MITLEIDSDIPLOMATIE Eine derartige, durch außenpolitische Überlegungen begründete Unterstützung der Hilfsaktion war allerdings nur von kurzer Dauer. Bereits Anfang 1924 begannen deutsche Diplomaten, sich von der vormals so vielversprechenden Mitleidsdiplomatie zu distanzieren. Zweifelsohne hatte gerade Botschafter Wiedfeldt ein großes Interesse an der Kinderhilfe gezeigt. Obwohl er Berlin immer wieder vor überzogenen Erwartungen gewarnt hatte, betrachtete er die Spendenkampagne doch als einzigen Weg, Sympathien für Deutschland hervorzurufen. Er selbst hatte sich mehrmals mit wichtigen Vertretern der Spendenkampagne wie den Quäkern und General Allen getroffen und berichtete regelmäßig darüber nach Berlin.90 Als es kurzfristig an finanziellen Mitteln mangelte, um die Spendenaktion zum Laufen zu bringen, hatte die deutsche Botschaft im Oktober 1923 sofort 8.000 US-Dollar für diesen Zweck zur Verfügung gestellt.91 Aber bereits wenige Monate später hatte sich Ernüchterung breit gemacht. Dieser Umschwung ist deshalb interessant, weil er paradigmatisch die Grenzen von Mitleid als außenpolitischem Mittel aufzeigt. Botschafter Wiedfeldts Ernüchterung entstammte sicher der Erkenntnis, dass die Spendenkampagne nicht die erhoffte Wirkung auf die amerikanische Öffentlichkeit gehabt hatte. Zwar war die Kampagne erstaunlich erfolgreich darin, Aufmerksamkeit auf die deutsche Lage zu lenken und auch die Unterstützung respektabler amerikanischer Kreise zu gewinnen, aber eine deutschlandfreundlichere Position hatte sich deshalb in der amerikanischen Öffentlichkeit nicht breitgemacht.92 Trotz des Aufgebots an glaubwürdigen Experten und Statistiken durch die AllenKampagne, verlor sich das amerikanische Misstrauen, dass es sich bei der deutschen Not um eine „feigned tragedy“ handelte, nie ganz.93 Darüber hinaus war es   89 Außenminister Stresemann an alle Ministerien, 4. Dez. 1923, BArch R3901/9110; eine längere, aufschlussreiche Fassung, AA an Auslandsvertretungen, 30. Nov. 1923, PA, R118058. 90 Allen Tagebuch, 23. Nov. 1923, LoC, NL Allen, Box 4. 91 Allen Tagebuch, 8. Okt. 1923, LoC, NL Allen, Box 4. 92 Vom Dezember 1923 bis zum Mai 1924 erbrachte der Allen-Drive nicht nur bemerkenswerte 3,66 Millionen Dollar für deutsche Kinder, sondern war wohl auch die größte deutsche Aufklärungskampagne der 1920er Jahre. Mit Hilfe einer New Yorker PR-Firma nutzte sie das beträchtliche Repertoire amerikanischen ‚fundraisings’, u.a. Billboards, Zeitungsartikel, Bazare, Schönheitswettbewerbe, Boxkämpfe, Abendessen und eine Plakatserie in der New Yorker UBahn. 93 „Germany’s Feigned Tragedy“ (Leserbrief), New York Times (22. Juli 1923), xx8; C. Hart, „Mendicant Germany. A Subtle Propaganda“ London Daily Mail (Anfang 1924) Zeitungsausschnitt, LoC, NL Allen, Box 29; Sogar der publicity-Beauftragte des Allen-Drive, Cyrus P. Keen, begann die Konturen der deutschen Mitleidsdiplomatie immer deutlicher zu erkennen. Auch er glaubte, dass das deutsche Leid stark übertrieben war und als ‚capital in Germany’s political cause’ diente. Keen, ‘Report of trip to Berlin; Report of Visit to Germany in the  

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gerade im Licht der deutschen Spendenaufrufe, dass Themen wie das verschwenderische Auftreten reicher Deutscher im In- und Ausland, aber auch die deutsche Kapitalflucht oder der deutsche Antisemitismus besonders kritische Aufmerksamkeit in der amerikanischen Presse erfuhren.94 Obwohl die deutsche Regierung starke Maßnahmen ergriff, um ihr sorgsam gepflegtes Bild deutscher Not aufrechtzuerhalten, befeuerte die Zurschaustellung verschwenderischen deutschen Wohlstands etwa zum Jahreswechsel 1924 das Misstrauen und die Ablehnung der amerikanischen Öffentlichkeit. Immer mehr wurde deutschen Diplomaten bewusst, dass von der deutschen Regierung und der deutschen Bevölkerung als Objekte ausländischer Mildtätigkeit eine demütige Dankbarkeit und bescheidenes Auftreten erwartet wurde, die man bei einem Almosenempfänger voraussetzte. Und tatsächlich ergab sich Wiedfeldts Ernüchterung gerade aus einem grundsätzlichen Dilemma humanitärer Hilfe: der Ungleichheit der Beziehung zwischen Geber und Empfänger. Ungeachtet aller Versöhnungs- und Wohltätigkeitsfloskeln wohnt dieser Beziehung einer starke Machtasymmetrie inne, die durch dauernde Hilfsappelle nur erhärtet und vertieft wird. In der Forschung gilt Auslandshilfe gar als Art „symbolischer Herrschaft“, durch welche ungleiche Machtstrukturen bestärkt werden können.95 Das hatten auch deutsche Diplomaten erkannt. Daher ihre große Sorge um das ‚Bettelunwesen‘, und ihre wachsende Skepsis gegenüber aller Auslandshilfe.96 Spätestens Ende 1923/24 kollidierte der deutsche Wunsch nach kurzfristiger Mildtätigkeit und Sympathie mit dem langfristigen Ziel, den Friedensvertrag zu revidieren und international wieder auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten. Nicht zuletzt unterminierten Darstellungen der deutschen Not auch die noch verbleibende deutsche Kreditwürdigkeit. Ein vom American Committee im Dezember nach Berlin entsandter Experte war bereits auf die gegenläufigen Absichten seiner Gesprächspartner in Bezug auf Spenden und Kredite aufmerksam geworden. Während der Vertreter des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft die Lage als ganz hoffnungslos bezeichnete, hielt der deutsche Währungskommissar Hjalmar Schacht – mehr an Krediten als an Spenden interessiert – die deutschen Probleme für vorrübergehend und die Zukunftsaussichten der deutschen Wirtschaft

  Interest of Publicity and Investigation’ Archiv des American Friends Service Committee, General Files 1924 Foreign Service – American Com For the Relief of German Children. 94 Deutsche Botschaft Washington an AA, 18. Mai 1924, BArch, R3901/9111; am schlimmsten war das verschwenderische Auftreten reicher Deutscher in Berlin und europäischen Luxushotels. Artikel, die sich mit den Millionen von Dollar beschäftigten, die in Berlin zu Neujahr für Champagner ausgegeben worden waren, während die amerikanische Öffentlichkeit für notleidende deutsche Kinder sammelte, lösten in den USA Entrüstungsstürme aus, z. B. „Orgies in Berlin Check U.S. Charity. New Year Display of Money Produces Painful Impression in America“ The Evening Star, (2. Jan. 1924). 95 Hattori (2001): Reconceptualizing Foreign Aid, Barnett (2011), Empire of Humanity, S. 34– 35. 96 Deutsche Botschaft Washington an AA, 26. Feb. 1924, PA, R 80297.

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für hervorragend.97 Als ehemaliger Geschäftsmann stand gerade Botschafter Wiedfeldt einer Überbetonung der deutschen Not skeptisch gegenüber, weil sie die in seinen Augen noch existierenden deutschen Aktiva herunterspielte und die Möglichkeit internationaler Kredite untergrub.98 Die politischen und wirtschaftlichen Probleme internationaler Hilfe fasste er in einem Bericht Anfang 1924 wie folgt zusammen: „Ein Amerikaner, der jetzt einem bettelnden Deutschen 20 $ gibt oder herauswirft, setzt sich nicht eine Stunde später mit einem anderen Deutschen an den Verhandlungstisch, um mit ihm als Gleichberechtigten Geschäfte abzuschließen.“99 Die offizielle Einsetzung des Dawes-Sachverständigenausschusses im Dezember 1923 beschleunigte noch die Abkehr von der deutschen „Mitleidsdiplomatie“. Nachdem ein amerikanisches Eingreifen endlich erwirkt worden war, schien die amerikanische Hilfsaktion auf einmal außenpolitisch entbehrlich, sogar nachteilig. Mit dem Fortschreiten der Arbeit der Sachverständigen versuchten sich deutsche Regierungskreise immer deutlicher von der amerikanischen Spendenkampagne zu distanzieren. Als der U.S.-Außenminister Charles E. Hughes Deutschland im Zuge der Londoner Reparationskonferenz im August 1924 besuchte, empfahl Botschafter Wiedfeldt lediglich einige Worte der Anerkennung für General Allen. Ansonsten sollte die deutsche Regierung betonen, wie peinlich ihr die amerikanische Hilfstätigkeit war und ihrer Hoffnung Ausdruck verleihen, dass Deutschlands wirtschaftliche Gesundung jede weitere Auslandshilfe überflüssig machen werde.100 Sangund klanglos endete so Mitte 1924 die deutsche „Mitleidsdiplomatie“. In Berlin erwartete man jetzt gebannt den „Aufgang der Dollarsonne“. Nach dem Krieg machten deutsche Außenpolitiker und zivilgesellschaftliche Gruppierungen gezielt, wenn auch manchmal zögerlich, auf die Not der deutschen Bevölkerung aufmerksam, um amerikanische Sympathien zu gewinnen, ihre revisionistischen Argumente emotional zu unterfüttern, und letztlich ein amerikanisches Eingreifen in der Reparationsfrage zu erwirken. Diese Strategie, die zwischen 1918 und 1921 und nochmals 1923 relativ systematisch verfolgt wurde, war weder so langfristig wie die Agitation gegen die deutsche Kriegsschuld noch so aggressiv wie die gegen die „schwarze Schmach“. Dennoch stellte sie einen ersten Versuch dar, die Lehren aus der Propagandaniederlage im Weltkrieg zu ziehen und die Sprache und Bilder zivilen Leidens zu übernehmen, die zuvor so erfolgreich gegen Deutschland verwendet worden waren. In den frühen 1920er Jahren schienen amerikanische humanitäre Interessen einer der wenigen gangbaren Wege, um die amerikanische Stimmung gegenüber Deutschland zu bessern. Trotzdem blieb diese Strategie immer mit einem gewissen Unbehagen behaftet, weil sie Gefahr lief, Deutschlands bereit heftig angeschlagenes internationales Prestige und beschnittenen Handlungsspielraum noch weiter zu schmälern.   97 Zusammenfassung eines Telefongesprächs zwischen Richter und Berger, 5. Jan. 1924, BArch, R3901/9110. 98 Deutsche Botschaft Washington an AA, 23. Aug. 1922, bei Schröder (1971), Otto Wiedfeldt, S. 127. 99 Deutsche Botschaft Washington an AA, 26. Feb. 1924, PA, R64708. 100 Deutsche Botschaft Washington an AA, 8. Jul. 1924, Schröder (1971): Otto Wiedfeldt, S. 176.

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Als Produkt der außenpolitischen und wirtschaftlichen Extremsituation der Nachkriegszeit, wurde die „Mitleidsdiplomatie“ folgerichtig sofort aufgegeben, als sich ab 1924 Handlungsalternativen boten. Obwohl sie dafür sorgte, dass deutsche Probleme in den USA wieder öffentlich diskutiert wurden, erkannten doch die meisten Amerikaner die Kindernot nie als Sinnbild der deutschen Nachkriegslage an. Sie sahen Deutschland schlicht nicht als unschuldiges Opfer, sondern als potentiell stärkste Macht Europas, die einen furchtbaren Krieg nicht nur begonnen, sondern ihn auch mit ausgesprochener Härte geführt hatte. Auch gibt es keine Hinweise darauf, dass die deutsche Strategie je die amerikanische Reparationspolitik beeinflusste. So war beispielsweise die Entscheidung für ein amerikanisches Eingreifen im Reparationsstreit bereits vor Beginn der Hilfsaktion von 1923 gefallen und ging auf wirtschaftliche und politische, nicht humanitäre Beweggründe zurück.101 Aber selbst wenn Deutschlands Mitleidspropaganda nur marginalen Einfluss auf die amerikanische Politik hatte, legt diese außenpolitische Strategie doch generell eine kritischere Aufarbeitung der Geschichte der Auslandshilfe nahe. Insbesondere sollten die Absichten derer in den Blickpunkt genommen werden, die allzu oft als nur passive Empfänger amerikanischer (oder westlicher) Großzügigkeit dargestellt werden, und sollte untersucht werden, wie Empfänger und Empfängerstaaten ihre ‚humanitären Narrative‘ konstruieren, kultivieren und instrumentalisieren. Gerade die Krieg- und Nachkriegszeit – die oft als Wendepunkt sowohl der internationalen Hilfstätigkeit als auch der transatlantischen Beziehungen gesehen werden – erscheinen besonders geeignet für eine systematische Untersuchung der Aktivitäten und Ambitionen verschiedener Empfängerländer. Der politische Rückzug der USA aus Europa musste die humanitäre Betätigung Amerikas fast zwangsläufig zu einem primären Feld transatlantischer Beziehungen machen. Unter diesen Voraussetzungen wäre es in der Tat erstaunlich, wäre die amerikanische Hilfstätigkeit nicht zum Objekt europäischer außenpolitischer Zielsetzungen geworden. Obwohl der deutsche Fall in mancherlei Hinsicht außergewöhnlich war – so etwa im Hinblick auf die deutsche Nachkriegsisolation, die deutsch-amerikanische Weltkriegsgegnerschaft oder Amerikas zentraler Rolle in der Reparationsfrage – unterschied er sich doch in anderen Aspekten kaum vom Rest Europas. Nach dem Krieg waren die meisten europäischen Länder bemüht, sich die Sympathien der führenden Finanz- und Wirtschaftsmacht zu sichern oder zu bewahren. Das galt sowohl für die vielen europäischen Kreditnehmer der Vereinigten Staaten wie auch für die, die es noch (oder wieder) werden wollten. Eine genauere Beschäftigung mit den Archiven europäischer Außenministerien wie auch amerikanischer Hilfsorganisationen würde sicherlich eine große Bandbreite europäischer Haltungen und Emotionen gegenüber amerikanischer Hilfstätigkeit aufzeigen: strategische Überlegungen, Enttäuschung, Dankbarkeit, Vorsicht, Scham oder Ablehnung. Zweifellos aber würde sie viel darüber aussagen, wie Europa dem anbrechenden amerikanischen Jahrhundert gegenübertrat.   101 Berg (1990): Gustav Stresemann und die Vereinigten Staaten, S. 142–158.

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GUSTAV STRESEMANN UND DIE DEUTSCHE AUSSENPOLITIK Ein Beispiel für europäische Verständigungspolitik? Karl Heinrich Pohl Mit Gustav Stresemann, der deutschen Locarno- und Völkerbundpolitik sowie den deutsch-französischen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit hat sich die deutsche und internationale Forschung in den letzten Jahrzehnten intensiv beschäftigt. Zu dieser Thematik ist eine kaum zu überblickende Fülle von Publikationen erschienen.1 Die folgende Darstellung kann daher nur einen sehr summarischen Überblick bieten, wichtige Ergebnisse zusammenfassen, auf mögliche Desiderate hinweisen – und einige Anregungen für eine ergänzende Sichtweise geben. Die Beschäftigung mit der Außenpolitik in der Weimarer Republik hat in der frühen Geschichtsschreibung der Bundesrepublik anfangs eher ein Schattendasein geführt.2 Ventiliert wurde vor allem die damals brennende Frage, warum die Republik „gescheitert“ war. In systematischer Perspektive standen vorrangig Probleme des politischen Systems, der Wirtschaft, der Parteien, der Verfassung und der Ideologien auf der Agenda. Diachron spielten die Anfangs- und vor allem aber die Endphase der Republik eine wichtige Rolle. Hier schienen die Ursachen für den „Untergang“ der Republik wie in einem Brennglas sichtbar zu werden. Außenpolitik, vor allem in der relativ ruhigen Phase zwischen 1924 und 1929, spielte dabei zwar auch eine Rolle, wurde aber häufig unter die Negativfaktoren für das Scheitern der Republik eingeordnet: Versailler Vertrag und seine Belastungen (Reparationen, Gebietsabtretungen usw.). Einen eigenen Stellenwert besaß sie eher selten. Ungeachtet dessen haben jedoch die Person Stresemanns und seine (außen)politischen Aktivitäten immer ein großes Interesse in der Historiografie gefunden. Dabei kam es (zeitweise) zu sehr uneinheitlichen Ergebnissen und Bewertungen. Die Urteile oszillierten zwischen bewundertem Staatsmann mit frühen europäischen Ambitionen, bis zum verachteten Vorläufer des „Dritten Reiches“. Sie schwankten zwischen unbelehrbarem Annexionisten und bewunderungswürdigem Friedens-

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Am besten zum Stand der Forschung um die Jahrtausendwende Niedhart (1999): Außenpolitik. Zuletzt vgl. dazu Pohl (2015), Stresemann. Dieser Aufsatz verdankt der Studie eine Fülle von Anregungen. Niedhart (1999): Außenpolitik, S. 41–45.

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politiker,3 zwischen Stabilisator und Zerstörer der Weimarer Republik.4 Stresemann wurde als gemütvoller und empfindlicher, aber geradliniger Gefühlsmensch bezeichnet und zugleich als verschlagener, rückratsloser Taktiker, Verstandes- und Machtmensch, als geradezu charakterloser Typus entlarvt. Fazit: „Selten hat ein Politiker eine derart kontroverse Beurteilung wie Gustav Stresemann“ erfahren.5 Diese unterschiedlichen Urteile hingen nicht nur mit wissenschaftsinternen Faktoren (etwa der Quellenlage), sondern (wie immer) auch mit den Erkenntnisinteressen der Forscher zusammen.6 Viele Autoren etwa in der jungen Bundesrepublik suchten, in pädagogischer Absicht, in Stresemann eine historische Persönlichkeit, auf die sie sich in Gegenwart und Zukunft berufen konnten. Einige seiner ersten Biografen waren zudem alte Bekannte und Freunde, sowie zeitgenössische Begleiter oder aber frühere Mitarbeiter.7 Das blieb nicht ohne Einfluss auf ihre Werke. Geradezu entschuldigend sprach man aus dieser Perspektive von einer grundsätzlichen Wandlung Stresemanns nach dem Ersten Weltkrieg, sah in dieser Zeit eine Entwicklungsphase hin zu Stresemanns „eigentlicher Geschichte“, zu seinen Leistungen in der Weimarer Republik. Lange Zeit wurde von einer geradezu biblischen Wendung Stresemanns vom Saulus (nationalistischer Kriegstreiber in Kaiserreich und Weltkrieg) hin zum Paulus (europäischer Friedenspolitiker in der Weimarer Republik) gesprochen.8 Schon früh setzte auf diese Weise eine Legendenbildung ein, die nicht nur Öffentlichkeit und Politik, sondern auch die wissenschaftliche Publizistik beherrschte. Es entstand das Bild vom guten Demokraten und frühen Europäer, einem Vorläufer eines geeinten Europa, ein Bild, das vor allem in der Öffentlichkeit lange Zeit dominierte. Andere Autoren interpretierten Stresemann in anderer politischer Absicht, in einem Rahmen, in dem „kriegerische Gewalt als Wesenszug deutscher Großmachtpolitik erschien“.9 Dies gilt insbesondere, aber nicht nur, für die Darstellungen aus der DDR. Hierbei konstruierten Politiker und Historiker Stresemann lange Zeit als Agenten des Industriekapitalismus und als Vertreter eines in Deutschland auch noch in der Bundesrepublik herrschenden Expansionismus.10   3

In diesem Sinne vor allem die frühen Biografien, z. B. Olden (1929): Stresemann; Rheinbaben (1928): Stresemann; Stern-Rubarth (1930): Stresemann und Vallentin (1930): Stresemann. 4 So der Tenor der Biografie von Wolfgang Ruge: Ruge (1965): Stresemann. Ruges höchst negative Beurteilung ist allerdings auch im Kontext der kontroversen deutsch – deutschen Geschichtsschreibung zu sehen. 5 Michalka / Lee (1982): Stresemann, S.VII. Der Sammelband spiegelt sehr gut den damaligen Stand der Forschung wider. 6 Dazu ausführlich und kenntnisreich Körber (1999): Stresemann als Europäer. 7 Hier sei nur Theodor Eschenburg erwähnt, der als Student Stresemann verehrte, einige Dienste für ihn versah, eine Dissertation über die Nationalliberalen verfertigte (Eschenburg (1929): Das Kaiserreich am Scheidewege) und in der Bundesrepublik Stresemanns Andenken auch als Universitätslehrer maßgeblich förderte. 8 Vgl. dazu Pohl (2012): Gustav Stresemann (1878–1929); dort auch weitere Literaturhinweise. 9 Niedhart (1999): Außenpolitik, S. 50. 10 Ruge (1956): Legende und Wirklichkeit.

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Diese Interpretationslinie erhielt Mitte der 1950er Jahre eine Zeit lang einen gewissen Stellenwert. Stresemanns außenpolitische Ziele wurden nach der Erweiterung der Quellenbasis vor allem von in Amerika arbeitenden Historikern, die als erste Wissenschaftler Zugriff auf den Nachlass besaßen, nun kritisch und kontrovers zur bislang dominierenden Literatur diskutiert.11 Die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität in Politik und Leben wurde neu verhandelt und Stresemanns lautere europäische Absichten infrage gestellt. Die Analyse seines gesamten Nachlasses, nicht nur des noch Ende der Weimarer Republik veröffentlichten „Vermächtnisses“, ließ Zweifel aufkommen, ob Stresemann wirklich ein so friedliebender Außenpolitiker gewesen war, wie es seine bisherigen Biografen dargestellt hatten. Es wurde nun diskutiert, ob Stresemann nur deswegen keine kriegerischen Mittel zur Revision des Versailler Vertrags und des (Wieder-)Aufstiegs Deutschlands zur europäischen Großmacht anwenden wollte, weil Deutschland militärisch machtlos, ein solcher Weg also zu der Zeit nicht gangbar war. Das aber musste nicht zwingend etwas über seine späteren Pläne aussagen. Es wurde ihm ferner unterstellt, dass er nach wie vor, wenn nun auch raffiniert versteckt und friedlich übertüncht, das Gesicht eines außenpolitischen Chauvinisten, wie im Ersten Weltkrieg, zeigte. Es wurde sogar überlegt, inwieweit man ihn, trotz aller dem entgegenstehenden Beteuerungen und nach außen gezeigter Mäßigung, als einen Vorläufer Hitlers ansehen konnte. Über all diese Themen wurde heftig und sehr kontrovers gestritten. In diesem Kontext spielte fast immer Stresemanns berühmter, immer wieder unterschiedlich interpretierter Brief an den Kronprinzen vom September 1925 eine wichtige Rolle, ein Dokument, das im Kontext der deutschen Locarno-Politik zu verorten ist.12 In dem Brief hatte Stresemann die Ziele seiner Außenpolitik skizziert und dem Kronprinzen in einer zum Teil drastischen Diktion auseinander gesetzt. Er bezeichnete z. B. die Franzosen, mit denen er einen Monat später den Vertrag von Locarno aushandeln sollte, als „Würger“, die man erst einmal vom „Halse“ haben müsse, und machte klar, dass er eine Politik des „Finassierens“ betreiben wolle. Intensiv diskutiert wurde in diesem Kontext, ob Stresemann sich in diesem Brief, entgegen seinen Beteuerungen in Locarno, nicht doch als ein kaum verkappter Machtmensch entlarvte, als ein äußerst raffinierter Politiker, der vor allem Zeit gewinnen wollte und nicht davor zurückschreckte, seine Verhandlungspartner gegebenenfalls gewissenlos zu täuschen. Quellenkritisch war allerdings zu würdigen, dass das Schreiben nicht nur Stresemanns außenpolitische Ziele wiedergab, sondern auch dazu bestimmt war, den Kronprinzen zu bewegen, auf politisch rechts stehende Kreise Einfluss zu nehmen. Stresemann hoffte, auf diese Weise innenpolitische Unterstützung für seine Locarno-Politik zu finden. Gerade die sehr skeptische Regierungspartei DNVP galt es   11 Vgl. dazu nur Thimme (1957): Gustav Stresemann. Stresemanns Nachlass war nach Kriegsende in die USA verbracht worden und konnte daher von den dort arbeitenden Historikern zuerst eingesehen werden. 12 PA AA, NL Stresemann 29. Vgl. dazu auch Pohl (1983): Kronprinzenbrief.

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außenpolitisch bei der Stange zu halten; ihr wollte Stresemann mit seiner drastischen Diktion offenbar entgegenkommen. Im Wesentlichen scheint diese Kontroverse seit etwa 15 Jahren überwunden zu sein.13 Die letzten drei, nahezu zeitgleich erschienenen, wichtigen Biografien aus Deutschland, Großbritannien und den USA, die Werke von Eberhard Kolb, Jonathan Wright und John P. Birkelund, die gewissermaßen das Kapitel Stresemann abschließen, haben die Diskussionen offenbar endgültig beendet.14 Alle drei Autoren sind sich im Grundsatz in ihren Urteilen einig. Damit steht die gegenwärtig gültige Stresemanndeutung. Sie räumt (fast) alle Zweifel an dem „guten Stresemann“ aus und bescheinigt ihm ein weitgehend ehrliches Engagement für die parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik und den Wunsch, eine friedliche Außenpolitik betreiben und dabei Deutschland in das europäische System integrieren zu wollen. Damit steht die Forschung gewissermaßen wieder am Anfang, bei den Ergebnissen der ersten Nachkriegsphase.15 Worauf gründen sich diese positiven Urteile? Stresemann habe, so die übereinstimmenden Aussagen der drei Forscher, die nationalen Interessen, die ihn im Kaiserreich und Ersten Weltkrieg zum nationalistischen Einpeitscher hätten werden lassen, zwar auch in den 1920er Jahren niemals völlig vergessen, er habe sie aber überwunden. Die Zeit des Weltkrieges, und sein Wirken im Kaiserreich, seien gewissermaßen nur die „Vorgeschichte“ des großen Weimarer Stresemann gewesen. Er erkannte dann, nach einer Phase des Lernens, dass das Durchsetzen nationaler (nicht nationalistischer) Ziele nur noch auf dem Wege der friedlichen internationalen Übereinkunft möglich gewesen sei. Deswegen betrieb er, nach einem Prozess innerer Wandlung und Anpassung an die Realitäten der Nachkriegszeit, fortab aus innerer Überzeugung (und das sei die entscheidende Wandlung bei ihm) und nicht nur aus purer Notwendigkeit eine Politik der friedlichen Kooperation. Diese Politik unterschied sich prinzipiell, nicht nur graduell und zeitweilig, von der machtorientierten und expansiven Außenpolitik des deutschen Kaiserreichs und allemal der Zeit des Nationalsozialismus. Stresemann leistete insofern einen entscheidenden Beitrag zu einer neuen deutschen Außenpolitik und zugleich zu der Etablierung einer europäischen Friedensordnung, in der, zumindest ansatzweise, kein Land ausgegrenzt, sondern alle europäischen Länder in ein auf friedliche Konfliktregelung abzielendes System der Übereinkunft integriert werden sollten. Insofern wurde ihm der Friedensnobelpreis im Jahre 1926 zu Recht verliehen. Als Beleg für diese Friedenspolitik werden vor allem die zentralen außenpolitischen Aktivitäten Deutschlands in den Jahren 1925 und 1926 genannt, der Abschluss des Vertrages von Locarno im Oktober 1925 und der Eintritt Deutschlands in den Völkerbund im Herbst 1926, beides spektakuläre Vereinbarungen, die von   13 Den Stand der Forschung um die Jahrtausendwende spiegelt etwa der Sammelband, Pohl (2002), Politiker und Bürger, wieder. 14 Kolb (2003): Stresemann; Wright (2006): Stresemann; Birkelund (2003): Stresemann. 15 Vgl. dazu Büttner (2008): Weimar, S. 363.

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Stresemann persönlich (mit)initiiert worden waren. Der Berliner Vertrag mit Russland aus dem Jahr 1926 wird in diesem Kontext eher weniger problematisiert.16 Seit ihrer Locarnopolitik wirkte die deutsche Außenpolitik, so der Trend der Forschung, als geachteter Partner im Konzert der internationalen Kooperation gleichberechtigt mit. Ein nochmaliger (nun aber freiwilliger) Verzicht auf ElsassLothringen (und Eupen-Malmedy) auf der einen Seite, aber auch die Option auf einen deutschen Eintritt in den Völkerbund (der dann im Herbst 1926 stattfand) und nicht zuletzt die begründete Hoffnung auf zukünftige rasche Regelungen der Entwaffnungs- und Räumungsfrage auf der anderen Seite, sind dabei häufig diskutierte und besonders positiv bewertete Aspekte Stresemannscher Außenpolitik. In Locarno wurden, so die (nahezu) übereinstimmende Meinung, über die konkreten Ergebnisse hinaus zugleich erste Schritte unternommen, durch eine positive Atmosphäre gegenseitiges Vertrauen herzustellen. Es wurden dort die Umrisse eines neuen politischen Systems in Europa installiert und das alte System des Misstrauens, das den Versailler Vertrag zumindest aus deutscher Sicht belastet hatte, überwunden. Wichtig war, dass alle Partner wieder auf gleicher Augenhöhe miteinander verhandelten. Deutschland gehörte jetzt wieder „dazu“.17 Dieses insgesamt positive Urteil wird im Einzelnen auch mit einigen kritischen Elementen durchsetzt. Dazu gehört etwa die Rolle der östlichen Staaten im Vertragswerk von Locarno, deren Grenzen nicht in dem Maße garantiert wurden wie die deutsch-französische und die deutsch-belgische. Diese Tatsache wird z.T. kritisch kommentiert. Es überwiegt jedoch in den meisten Darstellungen der positiv gewertete Aspekt, dass in Locarno mit den östlichen Staaten überhaupt Schiedsverträge abgeschlossen worden seien. Insofern hätte auch hier eine Option auf eine weitere Integration der östlichen Nachbarn Deutschlands in das „Locarnosystem“ bestanden. Bei einer solchen Sichtweise werden die Ziele Stresemanns gegenüber Polen allerdings erheblich marginalisiert. Denn direkt nach der Ratifizierung der Verträge von Locarno informierte das Auswärtige Amt alle deutschen Gesandt- und Botschaften über die aus seiner Sicht besonders wichtigen Ergebnisse dieser Konferenz. Und diese sahen, was Polen betraf, keineswegs (nur) friedlich aus:18   16 Hierzu Wright (2006): Stresemann, S. 356. Der Vertrag regelte Fragen der Wirtschafts- und Militärbeziehungen und schrieb die Neutralität eines der beiden Partner fest, wenn dieser von einer dritten Macht (hier zielte das Abkommen aus deutscher Sicht vor allem auf Polen) angegriffen werden sollte. 17 Krüger (2002): Zur europäischen Dimension, S. 215–218. Vgl. auch Krüger (1993): Außenpolitik, eine Studie, die insgesamt diese These vertritt. Krüger steht repräsentativ für den Stand der gegenwärtigen Forschung in Bezug auf die Bewertung von Stresemanns Außenpolitik. Es dürfte kaum einen besseren Kenner der Akten des Auswärtigen Amtes gegeben haben. 18 Ziel dieses Erlasses (PA AA, Gesandtschaft Bern, Rep. Sicherheitsfrage, Bd. 472/3) war es nicht, einer bewegten Öffentlichkeit nach dem Munde zu reden, sie zu beruhigen und politisch „gut Wetter“ zu machen, sondern es ging allein darum, das wichtigste Personal des Auswärtigen Amtes sehr präzise und wirklichkeitsnah (ohne die bei öffentlichen Äußerungen immer notwendigen Beschönigungen) über die genauen Zielsetzungen der Spitze des Hauses korrekt  

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In nicht zu überbietender Klarheit hieß es dort: Neben diesen konkreten Vorteilen [betreffend den Garantiepakt im Westen] stehen aber Vorteile von viel weitergehender allgemein-politischer Bedeutung. Die grundsätzlich verschiedene Behandlung der deutschen West- und Ostgrenzen in dem Vertragswerk führt notwendig dazu, daß es künftig deutsche Grenzen erster und zweiter Klasse gibt. Die Revisibilität der Ostgrenzen ist dadurch sozusagen Gegenstand der internationalen Rechtsordnung geworden.

Das drückt ziemlich klar aus, was man auf deutscher Seite von der Grenzziehung zwischen Deutschland und Polen hielt. Wie sah nun das von der Forschung so hoch gelobte „Stresemannsche System“ aus? Zentral ist, wie bereits erwähnt, dass seine Außenpolitik als in erster Linie europäisch motiviert gedeutet wird. Ferner werden neue Methoden in seiner Außenpolitik hervorgehoben und ihr auf diese Weise eine „Modernisierung“ zugeschrieben. Schließlich, damit zusammenhängend, wird auch die Ganzheitlichkeit und Breite der neuen Politik betont, also etwa die Integration ökonomischer und (fast noch gar nicht erforscht) kultureller Faktoren als Mittel der Außenpolitik. In diesem Sinne wird die deutsche Locarno- und Völkerbundpolitik einerseits als eine nationale, zugleich andererseits auch als eine europäische Politik aufgefasst.19 Das lässt sich besonders gut am Beispiel des Eintritts des Deutschen Reiches in den Völkerbund im Herbst 1926 zeigen. Hier gelang es Deutschland, trotz aller europäischen Tendenzen, seine besonderen nationalen Bedürfnisse als entwaffneter Staat erfolgreich in die Verträge einzubringen, durch eine besondere Interpretation des § 16 der Völkerbundsatzung. Dadurch wurde der Republik faktisch ein Neutralitätsstatus in einem Kriegsfall in Mitteleuropa zugestanden. Mit diesem Erfolg, der zugleich den Inhalt des Berliner Vertrages absicherte, bewies die Republik, wenn auch erst nach Überwindung erheblicher Schwierigkeiten, ihre Gleichberechtigung im internationalen Konzert. Das internationale System insgesamt aber wurde durch die deutschen Forderungen nicht infrage gestellt, im Gegenteil, es zeigte seine große Tragfähigkeit und seine hohe Elastizität. „Es begann [fortab] eine neue Methode und ein neuer Stil internationaler Politik im europäischen Verbund – wenn auch bloß für wenige Jahre“ – solange Stresemann lebte.20 Wichtig war, dass das neue europäische Regelwerk nicht starr oder Deutschland (oder einem anderen Land) aufgezwungen worden war, sondern dass es, im Konsens beschlossen, zugleich verhandelbar und damit flexibel blieb. Ausgeschlossen wurde bei diesen Verhandlungen von allen teilnehmenden Mächten, so die Argumentation, nur die kriegerische Problemlösung. Das war nicht nur ein Fortschritt im pazifistischen Sinne, sondern zugleich wichtig für Deutschland, das keine militärische Macht darstellte und daher durch einen faktischen Gewaltverzicht am   zu informieren. Es handelt sich hier also um eine Quelle von höchster Authentizität und Aussagekraft. 19 Krüger (2002): Zur europäischen Dimension, S. 217–220. 20 Ebd., S. 217.

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wenigsten zu verlieren hatte. Das Jahr 1923, mit dem ungeahndeten Einmarsch französischer und belgischer Truppen in das Ruhrgebiet, konnte sich, das war die deutsche Überzeugung, nun nicht mehr wiederholen. Durch Locarno und Deutschlands Eintritt in den Völkerbund entstand mithin ein europäisches System, das außer der Sowjetunion nahezu alle europäischen (Groß-)Mächte in ein Regelwerk einband, in dem die Handlungsfreiheit aller Beteiligten, nicht nur Deutschlands, eingeschränkt und rechtliche Bindungen für alle beschlossen worden waren und in dem eine gemeinsame Verantwortung für den Frieden galt, so die gegenwärtig vorherrschende Interpretation. Die geopolitisch nicht einfache Mittellage Deutschlands in Europa wurde durch solche Reglungen ausreichend berücksichtigt. Durch diese neuen vertraglichen Bindungen schien Deutschland nicht mehr in der Lage zu sein, seinen Machtbereich in Mitteleuropa auszubauen. Es konnte dementsprechend seine Interessen nicht mit (zukünftigem) militärischem Machtpotential gewaltsam durchsetzen. Vor allem, so die überwiegende Meinung der Forschung, wollte Stresemann keine Gewaltanwendung mehr, anders als noch im Ersten Weltkrieg, selbst wenn die Republik dazu in der Lage gewesen wäre. Das sei seine große Leistung gewesen und diese Linie habe Stresemann innenpolitisch immer wieder verteidigen und neu durchsetzen müssen, was seine Fähigkeiten als Politiker noch erhöht habe. In diesem Kontext ist der Begriff der „modernen Außenpolitik“ gefallen, die Stresemann initiiert habe.21 Darunter ist eine Politik zu verstehen, die durch die Umsetzung von „Innovationen“ gekennzeichnet ist und ein Modell der Friedenssicherung beschreibt, das auf Demokratie, kollektiver Sicherheit und freiem Welthandel beruhte, also eine dezidiert liberale Farbe besaß. Die Mittel dieser neuen Außenpolitik beschränkten sich dabei, dies eine weitere Novität, nicht mehr nur auf die Diplomatie, auf Geheim- und Konferenzpolitik, sondern sollten öffentlich diskutiert werden und vor allem Außenwirtschafts- und Kulturpolitik mit einbeziehen.22 Die Bedeutung Deutschlands als Wirtschaftsmacht, als Export- und als Importnation sei für eine solche Politik von entscheidender Bedeutung gewesen: „Die Beendigung der Diskriminierung Deutschlands als Großmacht wollte er [Stresemann] dadurch erreichen, dass Deutschland sich als Handelsstaat verstand.“23 Speziell das deutsch-französische Verhältnis hatte in diesem Kontext eine besondere Bedeutung, waren beide Mächte doch nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich eng miteinander verflochten. Es gab insofern eine Vielzahl von gemeinsamen   21 Blessing (2008): Der mögliche Frieden, S. 9–11. 22 Vgl. in diesem Sinne Wurm (1994): Deutsche Frankreichpolitik, S. 138–139. „Arbeiten, die sich auf die Untersuchung von Diplomatie und hoher Politik beschränken, die inneren Grundlagen der Außenpolitik aber ausklammern, werden auf diese zentrale Frage [wie ist der spätere Absturz der deutschen Außenpolitik in der großen Krise zu verstehen?] schwerlich zufriedenstellende Antworten geben können“. 23 Niedhart (2002): Außenminister Stresemann, S. 234.

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Interessen, die politisch genutzt werden, die aber zugleich zu erheblichen Problemen führen konnten.24 Zu diesen Problemkomplexen gehörten die Lösung der Reparationsfrage und der Militärkontrolle sowie die Handelsvertragsverhandlungen zwischen Deutschland und Frankreich seit Beginn des Jahres 1925. Sie werden als ein wichtiger Teil der „modernen Außenpolitik“ Stresemanns gedeutet: „Mit der Rückkehr in die Weltpolitik‚ über die Weltwirtschaft verzichtete er [Stresemann] auf die militärische Komponente der Machtpolitik, nicht aber auf das ungeduldig vorgetragene Verlangen nach zügiger Revision des Versailler Vertrages.“25 Fazit: „Im Rückblick waren die deutschen Liberalisierungsbestrebungen der Ära Stresemann nicht Teil einer neowilhelminischen Imperialismuskonzeption, sondern eine konstruktive Antwort auf die deutsche politische und wirtschaftliche Isolation in Europa.“26 Im Gegensatz zu der Erforschung der diplomatischen Aktivitäten Stresemanns ist der die Ökonomie betreffende Bereich der Stresemannschen Außenpolitik allerdings noch relativ unerforscht geblieben, obwohl gerade sie eine der wichtigsten außenpolitischen Ressourcen der Republik darstellte. Außer der Aufforderung nach Einzelstudien und einer tragfähigen Analyse ist hier in den letzten Jahren wenig geschehen.27 Der Beweis für die Tragfähigkeit der Theorie von der „modernen“ Außenpolitik Stresemann ist jedenfalls auf dieser Ebene bislang allenfalls teilweise erbracht worden. Als Erfolg im Sinne dieser Überlegungen wird vor allem der Abschluss des deutsch-französischen Handelsvertrages gedeutet, der parallel zu den politischen Gesprächen und Vereinbarungen (Locarno, Völkerbund, Thoiry) erfolgte. Der Wert dieses Abschlusses aber wurde partiell bereits dadurch konterkariert, dass er keineswegs von allgemeinen Zollsenkungen begleitet war.28 Ein Beispiel für liberalen Welthandel stellt er also kaum dar. Auf wirtschaftlichem Gebiet schlug die Modernität der Stresemannschen Außenpolitik, so die Konsequenz, offenbar nur sehr partiell durch. Dass diese Komponente dennoch von großer Bedeutung war, bestätigte auch der deutsche Botschafter Leopold von Hoesch aus Paris: Es kann natürlich nicht behauptet werden, daß Abschluss eines deutsch-französischen HandelsVertrags sichere Gewähr für Möglichkeit billiger Regelung der Entwaffnungsräumung und Sicherheitsfrage bieten würde. Andererseits ist unzweifelhaft, dass Tatsache Abschlusses hier als

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Vgl. hierzu Schwabe / Schinzinger (1994): Deutschland und der Westen. Niedhart (2002): Außenminister Stresemann, S. 242. M. Schulz (1997): Deutschland, S. 335. Insofern bleibt es verwunderlich, dass der kulturelle Faktor in der neuen Außenpolitik Stresemanns bislang so deutlich vernachlässigt wurde. Neue Forschungen auf diesem Gebiet würden sich geradezu anbieten. Einige Hinweise darauf bei Wurm (1994): Deutsche Frankreichpolitik, S. 145–150. 28 Blessing (2008): Der mögliche Frieden, S. 435.

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ein gewichtiger Schritt in Richtung deutsch-französischer Entspannung gewertet wird und mithin uns Fortschreiten auf diesem Wege ganz allgemein wesentlich erleichtern würde.29

In diesem Statement sind die Koinzidenz von Diplomatie und Wirtschaft und die gemeinsame Zielsetzung auf beiden Ebenen – Verbesserung der Beziehungen in allen Bereichen (Politik, Wirtschaft und, hier nicht genannt, Kultur), Überwindung des nationalen Gedankens und womöglich europäisches Denken – gut zu erkennen. Sie waren ganz offensichtlich die entscheidenden Faktoren einer „modernen“ deutschen Außenpolitik. Erst unter Berücksichtigung auch dieser Felder kann daher die Außenpolitik von Gustav Stresemann in ihrer Gesamtheit beurteilt und gewürdigt werden. Eine Bewertung, die alle diese Aspekte einbezieht, steht allerdings, trotz jahrelanger Forschung, noch weitgehend aus. Eine Analyse allein schon der Wirtschaftsaußenpolitik könnte aber möglicherweise das bisherige Bild dieser Außenpolitik verändern und eine neue Diskussion über Stresemann und seine Politik auslösen. Ob und inwieweit gab es also, so wäre etwa zu fragen, in der Stresemann zugeschriebenen „modernen“ Außenpolitik tatsächlich koordinierte Anstrengungen im Bereich Politik und Wirtschaft und wieweit gingen diese Zielsetzungen von Diplomatie und Wirtschaftsaußenpolitik tatsächlich Hand in Hand? Vor allem aber: Gab es gravierende Unterschiede zwischen beiden Politikebenen?30 Testen wir diesen Ansatz „moderner“ deutscher Außenpolitik an einer Fallstudie. Das Beispiel der deutschen Frankreichpolitik (und die Rolle, die die rheinischwestfälische Schwerindustrie dabei gespielt hat), bietet sich für eine solche Studie geradezu an.31 Die Frankreichpolitik steht nämlich zentral für die deutsche Außenpolitik der Weimarer Republik und jede Revisionspolitik konnte nur kontrovers zu oder im Konsens mit diesem Land erfolgen. Das galt für die Politik genauso wie für die Wirtschaft.32 Die Möglichkeiten einer deutschen politischen und damit koordinierten ökonomischen Offensive hingen vor allem mit dem Versailler Vertrag und seinen zeitlichen Vorgaben zusammen. Der Januar 1925 markierte dabei aus zweierlei Gründen ein besonders wichtiges Datum. Er war zum einen der Zeitpunkt, an dem Stresemann, auf politischer Ebene, das deutsche Memorandum für einen Sicherheitspakt am Rhein entwarf, an die Alliierten verschickte und damit die Locarnopolitik ins Rollen brachte. Zum anderen liefen am 10. Januar die Deutschland betreffenden handelspolitischen Restriktionen des Versailler Vertrages aus, wie z. B. die   29 Telegramm von Botschafter von Hoesch (Paris) an StS. von Schubert, 16.6.25, PA AA, R 28237 k. Da es sich hier um ein Telegramm handelt, liegt eine gekürzte Sprachform vor. 30 Vgl. dazu Pohl (1979): Weimars Wirtschaft; Derselbe (1982): Deutsche Wirtschaftsaußenpolitik; Derselbe (1983): Internationale Rohstahlgemeinschaft und Derselbe (1978): ‚Stresemannsche Außenpolitik‘. 31 Vgl. hierzu Bariéty (1994): Frankreich und das deutsche Problem. 32 Dieser Aspekt war für den ehemaligen Lobbyisten der verarbeitenden Industrie und erbitterten Feind der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie sicherlich nicht erfreulich. Diese persönliche Animosität hat aber, soweit man das aus den Akten entnehmen kann, keine größere Rolle gespielt.

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einseitige französische Meistbegünstigung oder das Zugeständnis erheblicher zollfreier französischer Kontingente nach Deutschland. Damit ging es um die ökonomische Ebene. Eine Außenpolitik, die das wirtschaftspolitische Instrumentarium Deutschlands nutzen wollte, konnte jetzt, nachdem der Abschluss des Dawes-Planes eine erste Stabilisierung eingeleitet hatte, daran gehen, die bisherige defensive Haltung aufzugeben.33 Es galt also, Wirtschaftskraft und Diplomatie gemeinsam, mit gemeinsamer Zielsetzung und zum gleichen Zeitpunkt zu Gunsten Deutschlands einzusetzen. Die deutsche Schwerindustrie wiederum stellte für die Offensive in der deutschen Wirtschaftsaußenpolitik den wichtigsten Hebel dar. Diese Feststellung hat nichts mit ihrer damaligen ökonomischen Bedeutung (sie war im Schwinden) zu tun, sondern mit ihrer besonderen Rolle im Verhältnis zu Frankreich.34 Die französische Eisenerzförderung hing nämlich weitgehend vom Export nach Deutschland ab. Das wurde bis zum Jahr 1925 allerdings durch den Versailler Vertrag verdeckt, blieb nach Ablauf des Vertrages jedoch weiter bestehen, nun aber unter veränderten Umständen. Die Franzosen waren nach Auslaufen der Fünfjahresfrist des Versailler Vertrages fortab auf den guten Willen der deutschen eisenschaffenden Industrie angewiesen, um weiterhin Kohle aus Deutschland unter besonders günstigen Bedingungen beziehen und vor allem ihr Eisenerz dort absetzen zu können. Das aber waren für die französische Wirtschaft lebenswichtige Aspekte, deren Bedeutung nicht unterschätzt werden darf. Sie gingen, um es noch einmal zu betonen, weit über den rein ökonomischen Bereich hinaus. Die deutsche Seite hingegen konnte im Schutze ihrer gewonnenen handelspolitischen Souveränität durchaus auf die französische (minderwertige) Minette (das Eisenerz aus Lothringen) verzichten und anderswo, beispielsweise in Schweden und Südamerika, oder aber auf dem internationalen Schrottmarkt, Rohstoffe ankaufen, und zwar preisgünstiger und in besserer Qualität. „Mit dem Hebel der französischen Abhängigkeit von der deutschen Kohle und der Abhängigkeit der französischen Stahlindustrie vom deutschen Markt sollten auf längere Sicht politische Zugeständnisse erwirtschaftet werden.“35 Eine diplomatische Großoffensive auf der einen Seite, die schließlich im Vertrag von Locarno münden sollte, und zugleich, auf der anderen Seite, erfolgreiche   33 Der Dawes-Plan von 1924 sollte der deutschen Wirtschaft eine Erholung verschaffen, damit sie u.a. wieder in die Lage versetzt wurde, Reparationen zu zahlen. Neben einer neu vereinbarten Ratenzahlung war von großer Bedeutung, dass Deutschland auch hohe Kredite erhielt (800 Millionen Reichsmark als Starthilfe). Die Politik der produktiven Pfänder (Besetzung) wurde zugleich beendet. 34 Das ist insofern nicht ohne Brisanz, als sich viele führende Schwerindustrielle (etwa Stinnes oder Thyssen) im Ersten Weltkrieg durch besonderen Chauvinismus, Nationalismus und Expansionismus (wie Stresemann) hervorgetan hatten, industriepolitisch aber zu den ausgesprochenen Gegnern Stresemanns gehörten. Vgl. zum Komplex Weisbrod (1978): Schwerindustrie. So auch Bariéty (1974): Zustandekommen, S. 553. 35 Stegmann (1978): ‚Mitteleuropa‘, 208–209.

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Handelsvertragsverhandlungen, internationale Übereinkommen und privatwirtschaftliche Kooperationen, bei einer möglichen Zubilligung ökonomischer Vorteile an Frankreich: das war also die Strategie der „modernen“ Außenpolitik Stresemanns. Erreicht werden sollten dadurch u.a. baldige Erleichterungen in der Besatzungspolitik, eine diplomatische und politische Aufwertung Deutschlands, eine internationale Besserbehandlung, sowie vor allem eine partielle Durchlöcherung des Versailler Systems. Der Erfolg einer solchen (Wirtschafts-)Außenpolitik hing allerdings von der Mitarbeit der deutschen Schwerindustrie ab.36 Nur in Zusammenarbeit mit ihr konnte den Wünschen der französischen eisenschaffenden Industrie (und damit indirekt denen der deutschen Außenpolitik) entsprochen werden. Hier türmten sich jedoch, wie zu erwarten, erhebliche Hindernisse auf, denn die deutsche Schwerindustrie war keineswegs altruistisch gesinnt. Sie wollte die Franzosen zwar liebend gern vom deutschen Markt fernhalten, um darauf aufbauend ihre Exportfähigkeit zu stärken und zuvor verlorenes Terrain auf dem Weltmarkt wieder zurückzugewinnen. Mehr aber auch nicht. Eine Interessenkollision nicht nur mit den Franzosen, sondern auch mit dem Auswärtigen Amt war damit geradezu vorprogrammiert. Es musste Stresemann also gelingen, die Interessen der Schwerindustrie zu befriedigen, um sie dann in den Dienst der deutschen Außenpolitik zu stellen. Das Auswärtige Amt bemühte sich daher, die rheinisch-westfälische Industrie durch massive finanzielle, sozial- und zollpolitische Zugeständnisse zu gewinnen. Der Erfolg dieser Bemühungen wurde dadurch begünstigt, dass der Zollschutz der BülowSätze, der ab dem 10. Januar 1925 automatisch in Kraft getreten war, nicht, wie von der Schwerindustrie erhofft, ausreichte, um ihr die lästige französische Konkurrenz vom Halse zu halten.37 Die beginnende Inflation des Franc in Belgien und Frankreich machte ihr einen gewaltigen Strich durch die Rechnung. Die Schwerindustrie stand also ebenfalls unter einem gewissen Kooperationsdruck. Aus diesem Grunde waren ihre führenden Vertreter im Laufe des Frühjahrs 1925 bereit, sich einer wirtschaftlichen Verständigung mit Frankreich zu öffnen, die sowohl die Probleme des deutschen als auch des internationalen Eisenmarktes regeln würde. Sie machten allerdings zur Bedingung, dass die Reichsregierung den größten Teil etwa entstehender finanzieller Lasten übernehmen und sozialpolitisch einen „vernünftigen“ Kurs steuern müsse. Auf dieser Basis kam es bereits im März 1925 zu einer Einigung zwischen Reichsregierung und Schwerindustrie – mit gravierenden außen- und innenpolitischen Folgen.38 Es kam alsbald zu einer Reihe von Übereinkommen, von denen beide Seiten profitierten. Ein politisches Ziel bei diesen Einigungen bestand z. B. in dem   36 Wurm (1994): Deutsche Frankreichpolitik. Dort eine detaillierte und kritische Analyse der folgenden Ereignisse. 37 Hier ist die Zollgesetzgebung aus dem Jahre 1902 angesprochen, bei der Deutschland seine Zölle – nicht nur auf landwirtschaftliche Produkte – kräftig erhöht hatte. Diese Zollsätze traten 1925 automatisch wieder in Kraft. 38 Protokoll der Sitzung durch den RDI, 11.3.1925, HA GHH, 400101222/7, von Regierungsseite, BA Koblenz, R 13 I, 363.

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Wunsch der Regierung, die deutsche Schwerindustrie möge bei den internationalen Gesprächen möglichst geschlossen auftreten, um so bei den Verhandlungen ein Optimum zu erreichen. Das bedeutete aber wiederum, dass die Konzentration der deutschen Schwerindustrie, die sich in der verstärkten Organisation in Verbänden (Ende 1924 Entstehung der deutschen Rohstahlgemeinschaft) bereits angedeutet hatte, sowie ein günstiges Arrangement der eisenschaffenden mit der eisenverarbeitenden Industrie im Dezember 1924, durchaus in ihrem Sinne waren und unmittelbar mit der neuen Wirtschaftsaußenpolitik zusammen hingen.39 Eine weitere Rückwirkung bestand in der Unterstützung der Bildung der Vereinigten Stahlwerke im Jahre 1926 durch das Auswärtige Amt.40 Um deren Entstehung zu erleichtern, subventionierte nämlich das Reichsfinanzministerium, dessen Chef der alte sächsische Bekannte Stresemanns, Peter Reinhold (DDP), war, diesen Vorgang, und zwar auf deutlichen Druck des Auswärtigen Amtes. Dieses argumentierte: Der geplante Zusammenschluß würde einen so erheblichen Teil der westfälischen Eisenindustrie in einer Hand zusammenfassen, daß die Verhandlungsfähigkeit Deutschlands an den gegenwärtigen Verhandlungen [IRG] erheblich gestärkt würde. Ich möchte bitten, daß das Reichsfinanzministerium diesen Gesichtspunkt bei der Prüfung der Besteuerungsfrage in seiner vollen Bedeutung würdigt […] und baldigst eine Sonderregelung getroffen wird, die den beteiligten deutschen Unternehmungen die schnelle Verwirklichung des Zusammenschlusses ermöglicht.41

Diese innen- und wirtschaftspolitische Bedingtheit und den begrenzten Freiraum zwischen ökonomischen Interessen der Schwerindustrie und den innen- und vor allem außenpolitischen Möglichkeiten muss man sich bewusst machen, wenn man die „europäischen Zielsetzungen“ der Stresemannschen (Wirtschafts-)Außenpolitik im Herbst 1926 untersucht und bewertet.42 Worum ging es bei den „europäischen“ Verhandlungen der westeuropäischen Schwerindustrien? Die Verhandlungen, die schließlich im Herbst 1926 mit der Gründung der Internationalen Rohstahlgemeinschaft (IRG) beendet wurden, bedeuteten einen erfolgreichen Abschluss der gemeinsamen staatlichen und privatwirtschaftlichen Bemühungen, in Westeuropa eine Kooperation auf dem Eisen- und Stahlmarkt   39 Bariéty (1974): Zustandekommen, S. 562: „Die Gründung der Deutschen Rohstahlgemeinschaft durch Fritz Thyssen bedeutete die zielbewußte Schaffung eines ‚ad hoc‘-Instruments für die anstehenden wirtschaftlichen Verhandlungen mit Frankreich“. 40 Vgl. dazu Reckendrees (2000): Das ‚Stahltrust-Projekt‘. 41 Entwurf eines Schreibens für RM Stresemann (MD Ritter), 4.3.1926. PA AA, Sonderref. W/Industrie 20 (1). 42 Dazu Wurm (1994): Deutsche Frankreichpolitik, S. 153: „Der Abschluss [der IRG] war kein isoliertes Ereignis. Er ist im Zusammenhang mit anderen Kartellvereinbarungen, dem bereits erwähnten deutsch-französischen Handelsvertrag und der Verdichtung der beiderseitigen Handelsbeziehungen zu sehen“.

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zustande zu bringen.43 Man hat das Abkommen sogar als ein „wirtschaftliches Locarno“ bezeichnet, in dem sich Franzosen und Deutsche (mit Belgien und Luxemburg) auf eine zukünftige Kooperation verständigten und beschlossen, ihre wirtschaftlichen Konflikte nicht mehr im Kampf gegeneinander, sondern im gemeinsamen Kompromiss miteinander zu suchen. Das konnte den europäischen Ideen Stresemanns tatsächlich einen zusätzlichen Schub verleihen.44 Konkret einigten sich die beteiligten Länder u.a. über die Einfuhr von Rohstahl nach Deutschland. Frankreich und Luxemburg erhielten eine festgeschriebene Exportquote. Ferner sah das Abkommen eine prozentuale Verteilung der Produktion von Rohstahl auf die in dem Abkommen beteiligten Länder vor. Deutschland erhielt dabei eine Quote von gut 43 Prozent. Es war also bei weitem der stärkste Partner. Der Pakt, dem später noch die Tschechoslowakei, Österreich, Ungarn und Jugoslawien – nicht aber Polen – beitraten, mauserte sich sehr bald zu einem europäischen Eisenkartell, obwohl Großbritannien außen vor blieb. Insofern entsprach diese Einigung der politischen Linie, wie sie ein Jahr zuvor im Locarnopakt vereinbart worden war: Das deutsch-französische Verhältnis war jetzt auch in diesem Wirtschaftsbereich vertraglich fixiert. Durch die IRG wurden die gegenseitige Konkurrenz ausgeschaltet und einer allgemeinen Preiserhöhung der Weg geebnet. Fortab konnten sich die deutsche und die französische Schwerindustrie in ihren Interessen zu beiderseitigem Nutzen verbinden. Der französische Markt wurde weitgehend gegen (deutsche) Importe abgesichert und Frankreich konnte ein erhebliches Eisenkontingent nach Deutschland exportierten. Als stärkster Partner innerhalb des Kartells, das 1926 bereits etwa 65 Prozent und 1927 bis 1930 etwa 70 Prozent Anteil am Weltstahlexport besaß, konnte die deutsche Schwerindustrie nun von einem nahezu monopolisierten Inlandsmarkt aus ihre internationale Position sukzessive verbessern. Nach außen hin schien diese Politik im Herbst 1926 also von europäischem Geist geprägt zu sein. Es schien sogar so, als würde das Bekenntnis zum Europagedanken bei Stresemann,45 ,,wie es etwa nahezu zeitgleich in seiner berühmten Völkerbundrede zum Ausdruck zu kommen schien“46, unterstützt und gefördert werden durch die Einigung der westeuropäischen Eisenindustrien in der IRG vom Oktober 192647. Diese Einigung schien eine zukünftige europäische Montanunion zu ermöglichen, wie später euphorisch unterstellt wurde48: „Würden die Eisenindustrien Deutschlands, Frankreichs, Belgiens und Luxemburgs sich gemeinschaftlich   43 Zum Gesamtkomplex vgl. Wurm (1989): Internationale Kartelle, darin u.a.: Nocken, International Cartels. 44 In diesem Sinne Gillingham (1989): Coal and steel diplomacy. 45 Göhring (1956): Stresemann, S. 49. 46 Die Rede wurde am 10.9.26 anlässlich der Aufnahmen Deutschlands in den Völkerbund gehalten. Kritisch dazu Maxelon (1972): Stresemann, S. 219–220. 47 Vgl. dazu Pohl (1979): Weimars Wirtschaft, S. 221–223 und Kiersch (1954): Internationale Eisen- und Stahlkartelle. 48 Vgl. etwa Lochner (1955): Die Mächtigen, S. 76.

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organisieren, dann wäre das der Anfang einer die Landesgrenzen überschreitenden wirtschaftlichen Verständigung.“49 Ausdrücklich wurde bei dem Abschluss dieses Vertrages von allen Seiten auch auf die eminent (außen)politischen Implikationen hingewiesen: Das Zollabkommen des Eisenpaktes und die damit eintretende Verkoppelung der Interessen der deutschen, französischen, belgischen und luxemburgischen Schwerindustrie wird zweifellos auch auf die politischen Beziehungen zwischen den beteiligten Ländern eine günstige Entwicklung haben und manche Reibungsflächen vermindern,

so das Auswärtige Amt. Gleiches galt für den Abschluss des deutsch-französischen Handelsvertrages aus dem Jahre 1927. Insofern kann man durchaus von einer Kongruenz der Strategien auf diplomatischer und handelspolitischer Ebene sprechen. Das war gewissermaßen die offizielle Interpretation der IRG und ihr „europäisches Gesicht“, das voll im Einklang mit der Außenpolitik Stresemanns zu stehen schien.50 Auf den ersten Blick müsste man also von einem Erfolg dieser Politik sprechen und von einer gemeinsamen europäischen Zielsetzung. Anders, und keineswegs „europäisch“, sieht die Gründung der IRG jedoch aus der Perspektive der deutschen wirtschaftlichen Vertragspartner aus.51 Die Ziele der rheinisch-westfälischen Industrie waren nämlich keineswegs mit den hier skizzierten und Stresemann zugeschriebenen politischen Vorstellungen kompatibel. Im Gegenteil, sie lassen an ihrer nationalen, ja man möchte fast sagen nationalistischen Tendenz keinen Zweifel. Die Bemühungen der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie zielten nämlich vor allem auf ihren eigenen Vorteil ab – und auf sonst nichts. Die Internationale Rohstahlgemeinschaft bezweckt, die Hebung des Preisniveaus im Auslande […]. Sie will gleichzeitig die Rivalität der westeuropäischen eisenerzeugenden Länder und das Wettrüsten derselben dadurch ausschalten, dass sie auf eine Reihe von Jahren prozentual den heutigen Besitzstand festhält,

so mehr als eindeutig der Vertreter der Vereinigten Stahlwerke.52 Fritz Thyssen machte zugleich klar: „Wenn der Internationale Eisenpakt zustande käme, so würde man den Markt […] vollkommen in der Hand haben.“53   49 Vgl. den Entwurf eines Artikels für das „Berliner Tageblatt“, von Eisenlohr (AA) für Stresemann, 30.9.1926, PA AA, Handakten Ritter, HaPol MD Ritter, 1.; danach auch das folgende Zitat. 50 Kritisch zur Bedeutung der IRG vor allem Wurm (1994): Deutsche Frankreichpolitik, S. 154– 157. 51 Vgl. dazu Schulz (1997): Deutschland, S. 103: „Auch die teilweise als Vorläufer der europäischen Integration angesehene Internationale Rohstahlgemeinschaft entwickelte sich in die Richtung eines durch Zollschutz gesicherten Gebietskartells mit Aufteilung der Märkte entlang nationaler Linien und gemeinsamer Verkaufsstellen an Drittländer“. 52 Ernst Poensgen (Vereinigte Stahlwerke) als Vertreter der Schwerindustrie in einer Besprechung zwischen RWiM (Curtius), eisenverarbeitender und eisenschaffender Industrie, 30.6.26, HA GHH Oberhausen, 40000090/14. 53 Fritz Thyssen bei der Besprechung in Düsseldorf über die Preisgestaltung im Internationalen Eisenkartell, 2.9.26, HA GHH Oberhausen, 400000/1.

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Die Industriellen betonten also ganz offen, worum es ihnen in der Hauptsache ging: [Der Eisenpakt] ist nicht Selbstzweck, sondern lediglich Mittel zum Zweck, und zwar ausschließlich dafür […], eine unabhängige nationale Eisenwirtschaft wieder aufzurichten […]. Nach dem völligen Versagen unserer Außenpolitik [sic!, K.H. Pohl] […] blieb der Wirtschaft keine andere Möglichkeit, als auf dem Weg über internationale Verständigung sich die Voraussetzungen für ihre Betätigung zu schaffen, die vor dem Kriege in einer jahrzehntelangen organisatorischen Arbeit aufgebaut worden war. Es bilden […] derartige Vereinbarungen angesichts unserer politischen Schwäche für uns nur eine Phase auf dem Wege zur Wiedergewinnung unserer wirtschaftlichen und in Auswirkung dessen auch unserer politischen Freiheit.54

Diese Zielsetzung wurde ganz im Einklang mit dem Auswärtigen Amt verfolgt, wie Vögler von den Vereinigten Stahlwerken betonte55: Der Eisenpakt kann nur bestehen bleiben, wenn Stresemann seinen politischen Pakt zustande bringt. Wir haben in dem Optimismus, daß wir einer gesunden Zeit entgegengehen, diesen Pakt geschlossen. Mit diesem Wirtschaftspakt wird auch der Stabilisierungsgang im Westen gefördert.

Um ihre ökonomischen Ziele zu erreichen, war die Schwerindustrie also bereit, vorübergehend alle Aktivitäten zu unterstützen, die im Sinne der Politik Stresemanns waren. Insofern ordnete sie sich in die Konzeption des Auswärtigen Amtes ein. Aus diesen Ausführungen wird aber zugleich auch deutlich, dass die kurzfristigen Ziele einer mitteleuropäischen Kooperation langfristig von nationalen Gesichtspunkten überlagert wurden. Dies geschah offensichtlich in Einklang mit der Politik des Auswärtigen Amtes. Zu fragen wäre daher, ob diese nationale Zielsetzung ebenfalls für die Außenpolitik Stresemanns und seine diplomatischen Bemühungen galt. Dienten auch sie nur dazu, Deutschland eine Atempause zu verschaffen, um dann das Nationale mir großer Stärke in den Vordergrund stellen zu können? Die nationale Zielsetzung der IRG, und das erhärtet diese Vermutung, war nämlich kein Einzelfall. Im selben Licht muss das Projekt der Bildung der europäischen Zollunion beurteilt werden, einer auf den ersten Blick ebenfalls wahrhaft europäischen Angelegenheit.56 Auch diese Pläne wurden von Reichsregierung, Auswärtigem Amt und Industrie gemeinsam betrieben. Und das wiederum primär mit dem Ziel der machtpolitischen Stärkung des Deutschen Reiches im europäischen Kräftefeld – zumindest was die deutsche Schwerindustrie betraf.   54 Entwurf Blanks (GHH – Berlin) vom 22.11.1926 für Generaldirektor Reusch für dessen Rede vor Vertretern der Industrie und Landwirtschaft am 9.12.26, HA GHH Oberhausen, NL Reusch 4001012024/3A. Die Ausführungen können insofern als repräsentativ für die gesamte Schwerindustrie gelten, als sie mit anderen Industriellen abgesprochen wurden und bestimmte grundsätzliche Positionen der gesamten Schwerindustrie gegenüber der Landwirtshaft betonten. 55 Vögler vor dem Industrieausschuss der DVP, 4.10.26, zit. nach Hannoverscher Anzeiger, 6.10.26. 56 Vgl. dazu auch die Gutachten von Reichert (VDEStI), 31.3.26; Klemme (GHH), 23.4.26 und Schlenker/Hahn (Langnamverein), 30.4.26, alle in GHH Oberhausen, 4000020/9.

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Grundsätzlich lag in einer mitteleuropäischen Zollunion ein gewisser Automatismus, der zweifellos einer politischen Einigung Europas dienlich sein konnte, wie eine Analyse des Direktors Heinrich Klemme für die Gutehoffnungshütte in Oberhausen (GHH) zeigte: Eine Zollunion ist meines Erachtens in Europa nur denkbar, wenn sie als Vorläufer auch des reinen politischen Zusammenwirkens der Unionsländer aufgefasst wird. Die Zollunion muß das die Politik umschlingende Einigungsband sein. Wer das nicht will oder kann oder darf, muß den Gedanken aufgeben.57

Insofern förderte, so der Industrielle, eine Zollunion die Tendenzen einer möglichen politischen europäischen Einigung. Gerade dieses Einigungsband aber war es, das die deutschen Schwerindustriellen störte, was sie eben nicht anstrebten. Dieses Band war für sie untragbar und viel zu weitgehend, kurzum: nicht gewollt. Unter Berücksichtigung der von Klemme angedeuteten unmittelbaren politischen Folgen einer europäischen Zollunion und zugleich einer realistischen wirtschaftlichen Analyse – „eine Zollunion würde dem deutschen Eisenabsatz unmittelbar keine Besserung gegenüber dem jetzigen Zustand geben, sondern nur schwere Nachteile bringen“58 – kamen die wichtigen schwerindustriellen Verbände VDEStI59 und Langnamverein60 sowie führende Schwerindustrielle61 daher gemeinsam zu dem entscheidenden Ergebnis: Vom Standpunkt der deutschen Eisenindustrie aus ist festzustellen, daß eine europäische Zollunion […] der deutschen Eisenindustrie ungeheuren Schaden bringen würde. Eine irgendwie geartete europäische Zollunion ist deshalb vom Standpunkt der deutschen eisenschaffenden Industrie abzulehnen.62

Den allgemeinen Lobeshymnen des Auswärtigen Amtes über die erfolgreiche Außenwirtschafts- und Handelspolitik und ihre „friedensstiftende“ Entwicklung ist also beim Abschluss der IRG (und der Zollunionspolitik), wie auch bei der Locarnopolitik, mit einer gewissen Skepsis zu begegnen. Man kann dies nur auf kurze Sicht und nur höchst vorschnell als einen wirklichen Paradigmenwechsel hin zu einer liberalen, durch wirtschaftliche Vernunft geprägten Außenpolitik der Kooperation statt der bisherigen Konfrontation interpretieren. Von europäischen Dimensionen ganz zu schweigen. Von Frieden und einem gemeinsamen Europa jenseits der nationalen Interessen war in der IRG jedenfalls keine Spur zu finden. Von einer europäischen Einigung, wie sie dann nach dem Zweiten Weltkrieg in Form der Montan-Union schließlich Realität wurde, konnte in der IRG jedenfalls keine Rede sein. Das wusste Stresemann. Ob er diese antieuropäische Spitze der Schwerindustrie bewusst förderte, weil sie seinen Intentionen entsprach, oder aber   57 58 59 60

Klemme, GHH, 23.4.26, HA GHH Oberhausen, 4000020/9. Gutachten Reichert (VDEStI), HA GHH Oberhausen, 4000020/9. Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller. Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen. Gutachten Hahn/Schlenker und Reichert, HA GHH Oberhausen, 4000020/9. 61 Klemme, HA GHH Oberhausen, 4000020/9. 62 Reichert, HA GHH Oberhausen, 4000020/9.

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ob er sie nicht verhindern konnte, weil sie seinen Zielen widersprach, muss offen bleiben. In jedem Fall aber lässt sich diese Politik nicht unter der Rubrik „europäisch“ und „Verzicht auf Machtpolitik“ führen und als Beleg für die friedlichen europäischen Intentionen der deutschen Wirtschaftsaußenpolitik insgesamt nutzen. Diesen Aspekt sollte man bei einer Interpretation der „modernen“ Außenpolitik Stresemanns in der Locarno-Ära nicht unterschätzen. Das Thema kann insofern noch lange nicht als abgeschlossen betrachtet werden. QUELLEN Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin: - R 28237 k - Sonderref. W/Industrie 20 (1) - Handakten Ritter, HaPol MD Ritter, 1 - Gesandtschaft Bern, Rep. Sicherheitsfrage, Bd. 472/3 - NL Stresemann 29 Bundesarchiv Koblenz: - R 13 I, 363. HA GHH Oberhausen: - 400101222/7 - 40000090/14 - 400000/1 - 4000020/9 - NL Reusch 4001012024/3A.

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EUROPÄISCHE UND VÖLKERRECHTLICHE NEUORDNUNG

EUROPÄISCHE ERFAHRUNGEN Europa als Raumvorstellung in der Weimarer Zeit Florian Greiner Im Oktober 1929 veröffentlichte die Berliner Vossische Zeitung einen Artikel ihres langjährigen Istanbul-Korrespondenten Wilhelm Feldmann, der sich entschieden gegen die in jenen Jahren verbreitete Ansicht wandte, die Türkei werde immer europäischer – und der, von der Wortwahl abgesehen, auch heute erscheinen könnte. Den Türken, so Feldmann, falle ungeachtet aller Reformbemühungen die „Annahme europäischer Denkart“ sehr schwer. Selbst wenn auf den ersten Blick mittlerweile vieles wie in Europa wirke, so seien die Unterschiede zwischen „westlicheuropäischer und orientalischer Geisteshaltung“ unverkennbar, was Feldmann im Bereich der Politik, aber auch in einer nicht-europäischen Lebensweise im Alltag festmachte. So besäßen Einbahnstraßen in Istanbul etwa für Beamte keine Geltung und trotz nummerierter Karten könnten sich im Kino alle dort hinsetzen, wo sie wollten: „Das ist nicht Europa.“1 Was aber war für Deutsche in der Weimarer Zeit jenes „Europa“, von dem Feldmann so selbstverständlich sprach? Worin lagen die Charakteristika „europäischen Denkens“ und welche politische und kulturelle Relevanz besaß dieses? Wo verliefen die geographischen Grenzen des Kontinents und in welchen Zusammenhängen waren europäische Perspektiven überhaupt sagbar? Diesen Fragen wird in diesem Beitrag, aufbauend auf ideengeschichtlichen und printmedialen Quellen, nachgespürt. In der bisherigen Forschung ist die Zwischenkriegszeit eher stiefmütterlich behandelt worden.2 In zahlreichen klassischen Darstellungen zur Geschichte europäischen Denkens werden die 1920er und 1930er Jahre fast vollständig ausgeblendet.3 Der nach 1945 sukzessive einsetzende europäische Einigungsprozess erscheint gemäß dem klassischen Narrativ der Europahistoriographie als ein Ergebnis der gewaltsamen Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs, das wahlweise „aus dem Geist des Widerstands“4 gegen den Nationalsozialismus oder aus den realpoliti  1 2 3 4

„Schweres Europa.“ Vossische Zeitung, Nr. 474, 8. Oktober 1929, S. 3. Für einen ausführlichen Forschungsüberblick vgl. Greiner (2014): Wege nach Europa, S. 15– 19 und S. 47–49 sowie speziell für die ältere Historiographie Steber (2010): Die erste Blütezeit, S. 199–204. Vgl. exemplarisch die marginale Berücksichtigung der Zwischenkriegszeit in Geoffrey Barracloughs Standardwerk zur Geschichte europäischen Denkens: Barraclough (1963): European Unity. Niess (2001): Die europäische Idee.

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schen und vor allem wirtschaftlichen Sachzwängen der unmittelbaren Nachkriegsjahre erwachsen sei.5 Die jüngere Forschung bemüht sich dagegen stärker, die traditionellen Zäsuren aufzubrechen und die unmittelbare Vorgeschichte der europäischen Integration auszuleuchten. Der Zweite Weltkrieg wird demnach nicht mehr als abruptes Ende eines dunklen Zeitalters des Nationalismus interpretiert, an das sich mehr oder weniger nahtlos die Schaffung eines unter freiheitlich-demokratischen Vorzeichen vereinten Europas anschloss. So sehen viele der immer zahlreicher werdenden ideen- und politikgeschichtlich ansetzenden Studien in der Zwischenkriegszeit, speziell auch in der Weimarer Zeit, ein Experimentierfeld für europäische Ordnungsentwürfe.6 Zwar handelt es sich bei vielen der diskutierten Europakonzepte, wie Christian Bailey argumentiert, um „lost Europes“, die nach 1945 nicht mehr direkt anschlussfähig waren und letztlich keine direkten strukturellen Auswirkungen hatten.7 Jedoch sind diese aus mindestens drei Gründen nicht nur wichtige Zeugnisse für zeitgenössische Aushandlungsprozesse, sondern auch von hoher Relevanz für die europäische Integrationsgeschichte. Erstens unterstreichen sie die historische Diversität von Europavorstellungen, die in den letzten Jahren verstärkt erkannt und untersucht wird. Zweitens führen sie den Blick weg von der reinen Ereignisgeschichte mit den bekannten politischen und wirtschaftlichen Momenten der Einigung Europas. Diese ersten beiden Aspekte tragen dazu bei, die teleologische Fixierung auf den einen Gründungsmythos der europäischen Integration sukzessive zu überwinden. Schließlich gibt drittens eine Analyse der Ursachen für ihre kurzzeitigen Erfolge und ihr langfristiges Scheitern Aufschluss über Triebkräfte und Rahmenbedingungen europäischen Denkens und trägt insofern entscheidend zum Verständnis der Genese „Europas“ im 20. Jahrhundert bei. Darüber hinaus zeigen sozial- und kulturhistorische Studien zunehmend faktische Konvergenzerscheinungen zwischen den europäischen Gesellschaften in der Moderne auf.8 Demnach lassen sich jenseits der intellektuellen und politischen Debatten über die vermeintliche Zäsur des Jahres 1945 zahlreiche fortschreitende Integrationsprozesse im Europa des 20. Jahrhunderts feststellen, etwa mit Blick auf die Sozialstrukturen oder eine steigende Zahl an Begegnungen zwischen Europäern. Darauf aufbauend untersucht dieser Aufsatz neben dem intellektuellen Diskurs (Teil 1) und den realpolitischen Entwicklungen (Teil 2) auch den Bereich der Alltagskultur (Teil 3). In den Blick kommt so ein breites Panorama der gegenwärtigen Europaforschung. Im Zentrum steht dabei die These, dass ungeachtet der oft gegenläufigen politischen Entwicklung „Europa“ als Raumvorstellung in der Weimarer   5 6

7 8

Vgl. etwa Milward (1984): The Reconstruction. Vgl. in Auswahl: Bailey (2013): Between Yesterday; Frommelt (1977): Paneuropa oder Mitteleuropa; Grunewald/ Bock (Hrsg.) (1997): Der Europadiskurs; Hewitson/ D’Auria (Hrsg.) (2012): Europe in Crisis; Krüger (1995): Europabewußtsein in Deutschland; Pegg (1983): Evolution. Zum Konzept der „lost Europes“ vgl. Bailey (2013): Between Yesterday, S. 2. Vgl. hierzu exemplarisch die Grundlagenwerke für die sozialhistorische Europaforschung: Kaelble (2000): Auf dem Weg.

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Zeit einem starken Wandel unterworfen war und zugleich eine neue Bedeutung bekam. Europa entwickelte sich für Zeitgenossen mithin zunehmend zu einem alltäglichen Erfahrungsraum. 1. EUROPAIDEEN: ABENDLAND, PANEUROPA, MITTELEUROPA UND VEREINIGTE STAATEN VON EUROPA Dass sich die Europahistoriographie mit Blick auf die Weimarer Republik bislang, wie oben angedeutet, vor allem auf den Bereich der Ideengeschichte konzentriert hat, dürfte nicht zuletzt auf einen Überfluss an Quellenmaterial zurückzuführen sein. Tatsächlich findet sich in den 1920er und frühen 1930er Jahren eine ebenso bunte wie große Vielfalt an Europaideen. Diese erwiesen sich als anschlussfähig für ganz unterschiedliche politisch-weltanschauliche Richtungen und waren für viele Intellektuelle im Angesicht des Nationalismus und der Folgen des Ersten Weltkriegs durchaus attraktiv. Es lassen sich vier Hauptstränge ausfindig machen, entlang derer sich eine Vielzahl kleinerer Europaorganisationen formierte. Ein erster Ideenkomplex wird gemeinhin unter dem Schlagwort „Abendland“ subsumiert. Hierbei handelte es sich um eine Art räumlich-kulturelle Ordnungsvorstellung katholisch-konservativer Intellektueller, die inhaltlich im Detail durchaus ambivalente Deutungsangebote bereitstellen konnte. Leitgedanke war aber eine rechristianisierte Gesellschaft, die sich am Bild der vermeintlich gemeinsamen christlich-katholischen Wurzeln der west- und mitteleuropäischen Völker und dem Erbe des Heiligen Römischen Reiches orientierte.9 Zwar hatte der Abendland-Diskurs unzweifelhaft ältere Wurzeln, die mindestens bis in die Romantik zurückreichten, aber im Anschluss an den Ersten Weltkrieg beschleunigte und verdichtete er sich merklich. Im Angesicht einer zunehmend als chaotisch empfundenen politischen und kulturellen Entwicklung erlebte das „Abendland“ in den 1920er Jahren eine Blütezeit. Zwar handelte es sich beim „Abendland“ um keine einheitliche Bewegung, es lässt sich aber als ein intellektueller Elitendiskurs fassen, der hauptsächlich in katholischen Kulturzeitschriften und Magazinen wie dem im Oktober 1925 durch den Romanisten Hermann Platz gegründeten „Abendland. Deutsche Monatshefte für europäische Kultur, Politik und Wirtschaft“ geführt wurde.10 Während die öffentliche Popularisierung des Begriffes „Abendland“ in der Weimarer Republik wesentlich mit den Krisendeutungen der aktuellen Situation in Europa im Sinne des viel zitierten, aber oft missverstandenen Spenglerschen Diktums vom „Untergang

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Vgl. Conze (2005): Das Europa der Deutschen; Hürten (1985): Der Topos und Pöpping (2000): Abendland. 10 Vgl. zur Zeitschrift „Abendland“ Conze (2002): Abendland und Großmann (2014): Die Internationale der Konservativen, S. 61f.

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des Abendlandes“ zusammenhing,11 mühten sich diese dezidiert um die Konstruktion eines „positiven Abendlandes“ als Ordnungsmodell für kulturelle Verständigung und Orientierung.12 Der ebenso diffuse wie wirkmächtige „Mythos vom Reich“ stellte auch eine Verbindung zu einer zweiten zentralen deutschen Europaidee jener Jahre dar, dem Mitteleuropa-Konzept.13 Die Vorstellung einer mehr oder weniger stark formalisierten deutschen Vorherrschaft in einem lose integrierten, wenn auch nur ungenau demarkierten Raum „Mitteleuropa“ war seit Anfang des 19. Jahrhunderts immer wieder von unterschiedlicher Seite intoniert worden.14 Im Kontext der Kriegszieldebatte im Ersten Weltkrieg hatte sie bekanntermaßen mit Friedrich Naumanns Mitteleuropa-Streitschrift eine Blüte erfahren.15 Auch nach 1918 blieb mitteleuropäisches Denken in Deutschland präsent, nun stärker auf wirtschaftliche Fragen gemünzt und weitgehend gelöst von deutschen Hegemonialansprüchen, wie sie zuletzt bei Naumann in einer gemäßigt-imperialistischen Variante aufgeschienen waren.16 So engagierten sich zahlreiche deutsche Ökonomen in der 1925 in Wien gegründeten Mitteleuropäischen Wirtschaftstagung, in der vor allem die Folgen der harsch kritisierten Zersplitterung der nationalen Volkswirtschaften in Ostmitteleuropa diskutiert wurden. Immer wieder gerieten die deutschen Vertreter in der später in Mitteleuropäischer Wirtschaftstag umbenannten Organisation freilich in Konflikt mit ihren osteuropäischen Kollegen um den ungarischen Wirtschaftspolitiker Elemér Hantos, die für eine regionale Integration der Donaustaaten unter Ausschluss von Deutschland plädierten.17 Ein dritter ideengeschichtlicher Strang kristallisierte sich entlang der 1923 von dem österreichischen Kosmopoliten Richard Coudenhove-Kalergi gegründeten Paneuropa-Union. Diese verfolgte das Ziel einer politischen Integration Europas unter Ausschluss Großbritanniens und seines Empires, aber inklusive der übrigen europäischen Kolonien.18 Politisch entzieht sich die Paneuropa-Idee einer klaren Einordnung. Sie war zwar dezidiert überparteilich angelegt, aber letztlich geprägt von   11 Vgl. Spengler (1918/ 1922): Der Untergang des Abendlandes. Kritisch zum zeitgenössischen Gebrauch der Formel vom „Untergang des Abendlands“: Lützeler (1998): Die Schriftsteller und Europa, S. 268f. Zu Spengler siehe auch den Beitrag von Stefan Breuer in diesem Band. 12 Conze (2005): Das Europa der Deutschen, S. 28. 13 Vgl. zum Zusammenspiel von Reichsmythos, katholisch-abendländischem Europadenken und Mitteleuropa-Idee Vermeiren (2013): Nation-State, S. 135–160, hier v.a. S. 137–147. 14 Vgl. zur Geschichte des Mitteleuropa-Diskurses die klassische Abhandlung von Meyer (1955): Mitteleuropa sowie speziell für die Zwischenkriegszeit Elvert (1999): Mitteleuropa! Zum Problem der Terminologie vgl. Malecki (1996): Semantic Confusion, S. 195–204. 15 Naumann (1915): Mitteleuropa. Vgl. zu den Hintergründen und zur Rezeption des Mitteleuropa-Planes von Naumann im In- und Ausland Meyer (1955): Mitteleuropa, S. 194–217 und Greiner (2015): Articulating Europe. 16 Vgl. Sachse (Hrsg.) (2010): „Mitteleuropa“ und „Südosteuropa“ und allgemein zum deutschen Mitteleuropa-Diskurs in der Zwischenkriegszeit Elvert (1999): Mitteleuropa, v.a. S. 35–73. 17 Vgl. Németh (2005): Die mitteleuropäische Alternative. Zum Mitteleuropa-Konzept von Hantos vgl. Hantos (1933): Der Weg. 18 Vgl. Coudenhove-Kalergi (1924): Pan-Europa. Zur Biografie Coudenhove-Kalergis vgl. Conze (2004): Richard Coudenhove-Kalergi.

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der Vorstellung, dass ein vereintes Europa nur von einer Art Geistesaristokratie der intellektuellen Elite geschaffen werden könne.19 Von den diversen zivilgesellschaftlichen Europaorganisationen der Zwischenkriegszeit gelang es der Paneuropa-Bewegung dennoch zumindest kurzzeitig am ehesten, die Idee öffentlichkeitswirksam in Szene zu setzen, insbesondere im Zusammenhang mit den 1926 (in Wien), 1930 (in Berlin) und 1932 (in Basel) organisierten und prominent besetzten Paneuropa-Kongressen.20 So gehörten der deutschen Paneuropa-Sektion zahlreiche prominente Politiker, Ökonomen, Wissenschaftler und Schriftsteller der Weimarer Zeit an, darunter Reichstagspräsident Paul Löbe von der SPD, der langjährige linksliberale Innen- und Justizminister Erich Koch-Weser, der frühere bayerische Ministerpräsident Hugo von Lerchenfeld oder Thomas und Heinrich Mann.21 Schließlich wurde die Idee „Europa“ viertens auch von Seiten der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie aufgegriffen. Als erste (und einzige) Weimarer Partei formulierte die SPD in ihrem Heidelberger Programm von 1925 eine europapolitische Zielvorgabe. Vor dem Hintergrund einer anzustrebenden „europäischen Wirtschaftseinheit“ nannte dieses die Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“ als Grundziel sozialdemokratischer Außenpolitik.22 Willy Buschak hat jüngst die 1920er Jahre als eine Hochphase der Auseinandersetzung mit dem Thema „europäische Einigung“ in Gewerkschaften und sozialistischen Parteien in ganz Europa beschrieben. Aufbauend auf einen ihnen inhärenten Internationalismus hätten diese im Anschluss an den Ersten Weltkrieg rasch erkannt, dass Europa „ein großer zusammenhängender Organismus“ sei und Frieden sowie wirtschaftlicher Wohlstand nur auf europäischer Ebene gesichert werden könne.23 Insgesamt lässt sich somit eine intensive ideengeschichtliche Europadebatte festhalten. Die konkreten Ideen waren freilich höchst unterschiedlich, sowohl was die räumlichen Konturen eines vereinten Europa als auch was dessen politische, soziale und kulturelle Beschaffenheit anging. Strittig war auch, ob eine europäische Einheit primär auf politischem Weg, wie die Paneuropa-Union postulierte, oder auf wirtschaftlichem erreicht werden könne, wie die Verfechter der Mitteleuropa-Idee, aber auch viele andere zivilgesellschaftliche Verbände argumentierten.24 Die ein  19 Vgl. Burgard (2002): Das gemeinsame, S. 22. 20 Vgl. jedoch kritisch zur öffentlichen Präsenz der Paneuropa-Idee Greiner (2014): Wege nach Europa, S. 130–134. 21 Zur Organisationsgeschichte und Rezeption der Paneuropa-Bewegung vgl. Schöberl (2008): „Es gibt…“ und Ziegerhofer-Prettenthaler (2004): Botschafter Europas 22 Vgl. Neumann (1999): Die europäischen Integrationsbestrebungen, S. 59f. Das Heidelberger Programm findet sich unter: http://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0004_spd&object=abstract&st=&l=de [16.11.2016]. 23 Buschak (2014): Die Vereinigten Staaten, Zitat S. 10. 24 So etwa das von dem luxemburgischen Industriellen Émile Mayrisch ins Leben gerufene Deutsch-Französische Studienkomitee, das im Wesentlichen für eine deutsch-französische Aussöhnung mittels wirtschaftlicher Integration plädierte und wesentlich an der Gründung der Internationalen Rohstahlgemeinschaft von 1926 beteiligt war. Vgl. hierzu Stirk (1996): A History, S. 31–33.

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zige Gemeinsamkeit all jener Europabewegungen lag somit in ihrer Erfolglosigkeit, das Thema „Europa“ dauerhaft in der breiten Öffentlichkeit und der staatlichen Politik zu verankern. 2. „EUROPA“ ALS REFERENZGRÖSSE IN DER POLITIK Dies bringt uns zum zweiten Punkt, der Frage, inwiefern Europa in der Weimarer Zeit nicht nur als Idee fungierte, sondern auch ganz konkrete Aus- oder zumindest Rückwirkungen auf die politische Praxis hatte. Zunächst muss konstatiert werden, dass Europapolitik im Sinne einer stärkeren Kooperation der europäischen Nationen zweifelsfrei kein primärer Gegenstand der deutschen Außenpolitik in der Zwischenkriegszeit war. Lediglich einmal sah diese sich ernsthaft mit dem Thema einer europäischen Einigung im politischen Bereich konfrontiert, namentlich als der prominente französische Politiker und langjährige Außenminister Aristide Briand 1929/30 seine Idee einer politischen Integration des europäischen Kontinents vorstellte. Der Briand-Plan stellte die erste auf hoher Regierungsebene diskutierte Idee einer politischen Union der europäischen Staaten dar. Briand verkündete seinen Europaplan am 5. September 1929 im Rahmen einer Rede vor der Generalversammlung des Völkerbundes zunächst in eher vagen Zügen, woraufhin die Genfer Repräsentanten der europäischen Staaten das französische Außenministerium mit der Ausarbeitung eines schriftlichen Entwurfs beauftragten.25 Dieser wurde unter dem Titel „Memorandum über die Organisation eines europäischen Zusammenschlusses“ am 1. Mai 1930 an die Regierungen zur Konsultation übergeben.26 Auf die in der Forschung bis heute kontrovers diskutierte Frage nach den Hintergründen der Europa-Initiative muss an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.27 Unzweifelhaft ist, dass gerade die deutsche Antwortnote auf das Memorandum sehr kritisch ausfiel und zahlreiche Vorbehalte geltend machte. So müsse die wirtschaftliche Verständigung einer politischen Integration des Kontinents vorangehen. Weiterhin gab die Brüning-Regierung eine mögliche Belastung der Beziehungen zu den USA zu bedenken. Hauptursache der Ablehnung war eindeutig die deutsche Überzeugung, dass hinter dem Einigungsplan französische Sicherheitsinteressen und der Wunsch einer Zementierung der 1919 in den Pariser Friedensverträgen gezogenen europäischen Grenzen standen, so dass eine Europäische Union vermeintlich keinen Raum für die angestrebte deutsche Revisionspolitik ließ. Da auch die anderen 25 Antwortnoten mehr oder weniger kritisch ausfielen, erhielt der Briand-Plan – in den Worten des deutschen Außenministers Julius Curtius, der   25 Vgl. zum Briand-Plan Fleury/ Jílek (Hrsg.) (1998): Le Plan; Neumann (1999), Die europäischen Integrationsbestrebungen, S. 67–258; du Réau (1997): L’idée d’Europe, S. 97–123; Schulz (2010): Der Briand-Plan. 26 Der vollständige Text des Memorandums und die Antwortschriften der europäischen Regierungen finden sich in: Das Briand-Memorandum und die Antwort der europäischen Mächte. In deutscher Sprache herausgegeben auf Grund der amtlichen Unterlagen. Berlin 1930. 27 Vgl. hierzu Kießling (2008): Der Briand-Plan und Navari (1991): The Origins, S. 211–236.

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Briands einige Wochen nach dessen ursprünglicher Europa-Rede verstorbenem Freund Gustav Stresemann an die Spitze des Auswärtigen Amtes nachgefolgt war – ein „Begräbnis erster Klasse“.28 Betrachtet man die öffentliche Rezeption des Briand-Planes in der Weimarer Republik, so unterschied sich diese signifikant von der Reaktion der Regierung. Gerade unter Liberalen waren die Reaktionen zeitweise euphorisch. So artikulierte die Vossische Zeitung bereits beim Aufkommen der ersten Gerüchte einer französischen Europa-Initiative die Hoffnung, dass „ein neues Blatt Weltgeschichte“ beginne.29 Einige Monate später druckte das Blatt das Memorandum komplett ab und nannte es ein „historisches Dokument“.30 Ein kurz darauf veröffentlichter Leserbrief konstatierte, niemand könne mehr ernsthaft bestreiten, dass „prinzipiell die Einigung eine Notwendigkeit für unseren Kontinent bedeutet. [...] [D]ie Revisionsgelüste der einen, und die Revisionsfurcht der anderen“ fielen in dem Moment weg, in dem die europäische Föderation geschaffen sei.31 Aber auch politisch weiter rechts stehende Beobachter, die die grundsätzliche Ablehnung des Briand-Memorandums durch die Regierung teilten, argumentierten deutlich differenzierter. Ein Kommentar in der Kölnischen Zeitung betonte etwa, dass die politischen Voraussetzungen, von denen Briand ausgehe, für Deutschland nicht tragbar seien, die Grundidee einer Integration Europas jedoch keinesfalls abzulehnen sei und lediglich in die richtigen, nämlich revisionistischen Bahnen gelenkt werden müsse: „Deutschlands Bestreben muß es sein, den französischen Paneuropaplan, den Paneuropaplan der Siegermächte, mit wirklichem paneuropäischen Geist zu erfüllen und diesem französischen Zerrbild eine echte paneuropäische Civitas Dei […] entgegenzustellen.“32 Bei allem politischen Kalkül hinter derartigen Aussagen darf nicht übersehen werden, dass sich die deutsche Presse in den 1920er und frühen 1930er Jahren generell erstaunlich offen gegenüber Ideen einer grenzüberschreitenden, europäischen Kooperation zeigte und zwar keinesfalls ausschließlich in der kurzen Phase der außenpolitischen Entspannung in Europa nach Abschluss der Verträge von Locarno. Dies hing vor allem mit einer im Anschluss an den Ersten Weltkrieg verschärften Internationalisierung außenpolitischer Problemlagen zusammen, die zumeist eine Europäisierung war.   28 Ausführlich zur Rezeptionsgeschichte des Briand-Planes und den Antwortschriften: Crozier (1991): Britain, Germany, S. 213–229. Vgl. speziell zur Haltung des deutschen Auswärtigen Amtes zum Briand-Memorandum Lipgens (1966): Europäische Einigungsidee. S. 327–362. 29 „Briands europäische Initiative.“ Vossische Zeitung, Nr. 330, 16. Juli 1929, S. 1–2. 30 „Briands Europa-Memorandum. Der Wortlaut des historischen Dokuments.“ Vossische Zeitung, Nr. 232, 18. Mai 1930, S. 2–4. Vgl. auch zur Berichterstattung der Vossischen Zeitung Lipgens (1996): Europäische Einigungsidee, S. 327 sowie der deutschen Presse allgemein Pegg (1983): Evolution, S. 124–126. 31 „Europa in zwei Lagern?“ Vossische Zeitung, Nr. 302, 29. Juni 1930, Literarische Umschau, S. 3. 32 „Umschau und Ausschau.“ Kölnische Zeitung, Nr. 475, 31. August 1930, S. 1. Zur politischen Linie der Kölnischen Zeitung in der Zwischenkriegszeit vgl. Potschka (1972): Kölnische Zeitung, v.a. S. 156f.

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Ein gutes Beispiel hierfür ist die Reparationsfrage, die eben keinesfalls nur zu nationalen Abgrenzungen führte, sondern auch ein internationales Problembewusstsein schärfte sowie die Suche nach grenzüberschreitenden Lösungsansätzen forcierte. Der Verhandlungsmarathon der Reparationskommission bis zur Festlegung der deutschen Reparationshöhe im Londoner Zahlungsplan 1921, die französisch-belgische Besetzung des Ruhrgebiets 1923 infolge deutscher Zahlungsrückstände und die unter amerikanischer Vermittlung in den Jahren 1924 und 1929 zustande gekommenen Kompromisse in Form des Dawes- und Young-Planes machten die Reparationsfrage bis zu ihrer Lösung auf der Konferenz von Lausanne 1932 zu einem der Grundprobleme der internationalen Politik der Zwischenkriegszeit. Die Hauptursachen für die oft anzutreffenden europäischen Deutungen der Reparationsfrage lagen zum einen in einer als exponiert wahrgenommenen Stellung der deutschen Wirtschaft im ökonomischen Komplex Gesamteuropas. Die europäische Dimension der „Deutschen Frage“ offenbarte sich nicht zuletzt im Zusammenhang mit den diskutierten Rückwirkungen der ökonomischen Schwierigkeiten der Weimarer Republik auf die europäische Wirtschaft.33 Zum anderen verband sich die Reparationsfrage mit dem Problem der interalliierten Kriegsschulden, da die europäischen Kriegssieger die deutschen Reparationszahlungen quasi direkt an ihren amerikanischen Gläubiger weiter transferierten, was letztlich einen Transfer europäischen Kapitals in die USA zur Folge hatte.34 Immer wieder forderten deutsche Politiker und Journalisten folglich ein kooperatives Herangehen an das Reparationsproblem und „eine Lösung im europäischen Geiste“.35 Nicht zufällig erschien 1922 ein Buch des italienischen Politikers Francesco Nitti mit dem Titel „La decadenza dell’Europa“ rasch auch auf Deutsch und wurde intensiv besprochen. Nitti bezeichnete darin in scharfen Worten die Reparationen als „tödliche[s] Mißverständnis […], das […] das gesamte Leben Europas vergiftet, all seine Kräfte erstickt und den ganzen Kontinent in einen einzigen Zusammensturz hineinzureißen droht.“36 Auf diese Weise entwickelte sich Europa nach 1918 zunehmend zu einer Art politischem Problemzusammenhang und damit zu einer festen Referenzgröße im politischen Diskurs. Waren die Probleme europäischer Natur, so musste mithin auch die Lösung in einem europäischen Rahmen erfolgen. Ähnliche Zusammenhänge ließen sich auch für den Bereich der Wirtschaft aufzeigen. Entgegen der protektionistischen Strömungen erfolgte hier, wie die neuere Forschung zeigt, auf

  33 Vgl. Mai (2001): Europa 1918–1939, S. 210–212. 34 Vgl. zu diesen Zusammenhängen etwa „Deutschlands Bankrott – Europas Bankrott.“ Vossische Zeitung, Nr. 169, 9. April 1922, S. 4. 35 „Eine Lösung im europäischen Geiste?“ Vossische Zeitung, Nr. 96, 25. Februar 1922, S. 1. Vgl. auch „Deutschland und Europa.“ Vossische Zeitung, Nr. 110, 29. Februar 1920, Finanz- und Handelsblatt, S. 1; „Europäische Lösung.“ Vossische Zeitung, Nr. 283, 14. Juni 1932, S. 1–2. 36 Nitti (1922): Der Niedergang Europas, S. 63.

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unterschiedlichem Wege die Konstitution eines europäischen Wirtschaftsraumes, etwa über die Kartellierung von Konzernen und Industrieverbänden.37 3. EUROPÄISCHE BEGEGNUNGEN Bei aller nationaler Aufladung markierte die Zwischenkriegszeit zugleich eine Phase gestiegener europäischer Kontakte, die gerade im Bereich der Alltagskultur festzustellen sind, aber häufig auch politische Implikationen hatten. Dieser Zusammenhang wird von der neuen Europaforschung unter dem Stichwort der „hidden integration“ Europas diskutiert.38 Deren Hintergrund liegt in der technischen Modernisierung der europäischen Gesellschaften einerseits und der wachsenden infrastrukturellen Verdichtung andererseits. Diese Entwicklung war für Deutschland aufgrund seiner geographischen Lage bereits früh von besonderer Relevanz. So kommentierte die Vossische Zeitung 1925, dass die Position Deutschlands in Europa sich zwar militärisch als ein außerordentlicher Nachteil erwiesen habe, jedoch verkehrstechnisch von großem Vorteil sei.39 Im internationalen Zugverkehr stelle Deutschland etwa die europäische „Herzweiche“ dar.40 Berlin sei der Verkehrsmittelpunkt Europas, wie auch eine in der Auslandsausgabe des Berliner Blattes abgedruckte Grafik illustrierte (siehe Abb. 1), welche die schnellsten Zugverbindungen von der deutschen Hauptstadt aus in wichtige europäische Städte wie London, Rom, Belgrad, Bukarest, Oslo oder Riga aufzeigte und damit eine Art „Mental Map“ des Kontinents entlang von Eisenbahnstrecken zeichnete. Zugleich resultierte aus diesen Modernisierungsprozessen oftmals ein Zwang zur Standardisierung und damit zu Dialog und Austausch. Ab 1920 fanden beispielsweise jährlich an wechselnden Orten Europäische Fahrplankonferenzen statt, auf denen die grenzüberschreitenden Zugverbindungen zeitlich abgestimmt und optimiert wurden. Dies mündete 1922 in die Gründung des Internationalen Eisenbahnverbandes, der Union Internationale des Chemins de Fer (UIC), in Paris.41 Ganz ähnliche Probleme und Lösungen ergaben sich auch im rasch expandierenden und per se grenzüberschreitenden Rundfunk. Die Vielzahl von Radiosendern auf engem Raum führte hier in Europa zu einer Überlagerung der Wellenlängen und damit zu hohen Interferenzen. Im April 1925 gründeten daher Vertreter von acht europäischen Staaten, darunter

  37 Vgl. Berger/ Bussière (2010): La France, S. 221–242 und Wessel (2015): Europäische Kooperationen. 38 Vgl. zu Begriff und Forschungsperspektive Misa/ Schot (2005): Inventing Europe und Kleinschmidt (2010): Infrastructure.. 39 „Wirkliche Schnellzüge.“ Vossische Zeitung, Nr. 15, 9. Januar 1925, S. 3. 40 „Deutschland, die Herzweiche Europas.“ Vossische Zeitung, Nr. 559, 27. November 1929, Reise und Wanderung, S. 1–2. 41 Zur UIC vgl. Gottwaldt (1999): Historie der Eisenbahn.

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Deutschland, in London die später sukzessive erweiterte International Broadcasting Union (UIR), deren Hauptaufgabe in der Verteilung der Sendefrequenzen in Europa lag.42

Abb 1.: Grafische Darstellung Berlins als Zentrum des Eisenbahnverkehrs in Europa.43

Fortschritte in der Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur – man denke beispielsweise auch an die einsetzende zivile Luftfahrt – ermöglichten neue Kontakt  42 Der offizielle französische Name der Organisation lautete zunächst Union Internationale de Radiophonie. Sie stellt zugleich die Vorläuferorganisation der nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten European Broadcasting Union (EBU) dar. Zur Geschichte der UIR vor 1945 vgl. Gressmann (2000): Some Historical, S. 1f. sowie Eugster (1983): Television Programming, S. 29–39. Für eine zeitgenössische Einschätzung der Bedeutung der UIR als einer „europäischen Radiozentrale“ vgl. „Europäische Radiozentrale.“ Vossische Zeitung, Nr. 167, 8. April 1925, S. 2. 43 „Berlin der Verkehrsmittelpunkt Europas.“ Die Post aus Deutschland, Nr. 25–26, 26. Juni 1926, S. 3.

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formen und zunehmend europäische Begegnungen und Erfahrungen. Dies lässt sich etwa im Sport oder im Tourismus beobachten. Die Internationalisierung des Sports begann Ende des 19. Jahrhunderts und betraf zunächst vor allem Europa.44 Zentrales Merkmal dieser Entwicklung war die Standardisierung der einzelnen Sportarten in Bezug auf die jeweiligen Regelwerke.45 Diese wurde begünstigt durch die rasche Europäisierung der nationalen Sportverbände, die wiederum eine Folge der durch die Transportrevolution erlaubten neuen transnationalen Kontakte im Bereich des Sports war.46 Bereits 1891 wurden denn auch die ersten Europameisterschaften in der Geschichte, im Eiskunst- und Eisschnelllauf, veranstaltet. Ihre erste Blütezeit erlebten internationale Sportkonkurrenzen aber erst in der Zwischenkriegszeit. Ihr Boom stand in einem engen Zusammenhang mit der fortschreitenden Medialisierung. So florierte die Sportberichterstattung in jenen Jahren und in den Redaktionen der meisten Tageszeitungen etablierten sich entsprechende Ressorts.47 Der internationale Sport ermöglichte europäische Begegnungen, war aber natürlich auch, vielleicht sogar in erster Linie, Projektionsfläche für nationales Konkurrenzdenken. Die Qualität der eigenen Sportler wurde – dies durchaus eine neue Entwicklung in der Weimarer Zeit – an internationalen, speziell an europäischen Erfolgen gemessen. Der Raum „Europa“ war dabei eher inhaltlich als geographisch definiert. So wurde in der Teilnahme außereuropäischer Sportler an Europameisterschaften in jenen Jahren in der Regel nichts Problematisches gesehen. Wiederholt berichtete die Presse etwa vollkommen neutral über ägyptische Europameister oder beklagte, dass es nicht gelungen sei, die starke Eishockey-Nation Kanada zur Entsendung einer Nationalmannschaft zu den Europameisterschaften zu bewegen.48 Semantisch war Europa somit durchaus positiv aufgeladen und galt als Gütesiegel für sportliche Exzellenz. Europäische Sportwettbewerbe schufen insofern einen Konkurrenzraum, dienten aber zugleich als Kontaktplattform. Ein zweites Beispiel für wachsende europäische Erfahrungen in der Weimarer Zeit ist der aufkommende Massentourismus. Bereits am Vorabend des Ersten Weltkriegs verzeichneten alleine deutsche Seebäder einen Andrang von jährlich knapp   44 Vgl. van Bottenburg (2001): Global Games. 45 Zur Bedeutung der Standardisierung für den modernen Sport vgl. auch Darbon (2010): An Anthropological Approach, S. 16–18. 46 Zu den Ursprüngen der internationalen Sportorganisationen vor 1914 vgl. Krüger (1999): Geschichte des modernen Massensports, S. 1222–1224 sowie mit einem Fokus auf deren zunehmende Bedeutung ab den 1920er Jahren Keys (2006): Globalizing Sport., S. 40–63. Nach Christiane Eisenberg wurden viele Sportarten sogar zunächst auf internationaler Ebene organisiert, ehe sich in Reaktion darauf nationale Sportverbände gründeten, vgl. Eisenberg (2001): The Rise, S. 376. 47 Vgl. zum Siegeszug des Massensports in der Weimarer Republik Eisenberg (1993): Massensport. 48 Vgl. „Eishockey-Europameisterschaft.“ Vossische Zeitung, Nr. 491, 16. Oktober 1926, Sport/Spiel und Turnen, S. 1; „Europameisterschaften im Fechten.“ Vossische Zeitung, Nr. 393, 20. August 1927, Sport/Spiel und Turnen, S. 1; „Europameister Nosseir.“ Vossische Zeitung, Nr. 600, 21. Dezember 1931, Erste Beilage, S. 2.

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einer Million Touristen.49 Diese Zahl explodierte in der Zwischenkriegszeit ungeachtet der Zunahme der innereuropäischen Grenzen und Zollschranken nach 1918 sowie neuer politischer Autarkiebestrebungen, die transnationales Reisen in Europa prinzipiell erschwerten. Der moderne Tourismus verfügte über eine Art Eigendynamik und ließ sich kaum nationalstaatlich einhegen, zumal ihn die Modernisierung der Transportsysteme in Europa, insbesondere die Motorisierung und die zivile Luftfahrt, begünstigte.50 Wesentlich infolge der Verkehrsrevolution partizipierten nach 1918 denn auch zunehmend die (oberen) Mittelschichten verstärkt am Tourismus. Zugleich lassen sich in jenen Jahren gezielte Versuche ausmachen, organisierte Reiseangebote in Form eines Sozialtourismus speziell für die Arbeiterklasse zu schaffen, etwa mittels der von Ramona Lenz untersuchten, pazifistisch motivierten Reiseorganisationen der 1920er Jahre, die in vielen europäischen Großstädten versuchten, über die Forcierung touristischer Begegnungen eine zivilgesellschaftliche Basis für Völkerverständigung und Friedenssicherung zu schaffen.51 Hatte bereits der vormoderne Elitentourismus für eine kleine Gruppe Europaerfahrungen ermöglicht, so potenzierte sich dies in der Zeit des Massentourismus.52 Hartmut Kaelble und andere sehen den Tourismus folgerichtig als einen zentralen Indikator und zugleich Katalysator der wachsenden Verflechtung der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert.53 Die immer weiter steigende touristische Mobilität besaß das Potential, die Europäer einander näherzubringen und dabei Erfahrungen zu produzieren, die wenigstens mittelbar zu einem steigenden Wissen über den Kontinent führen konnten, schuf mithin „Europaerlebnisse“.54 Der moderne Tourismus kann in diesem Sinne als konstitutiver Bestandteil eines „Europas von unten“ interpretiert werden.55 In der Weimarer Zeit, als Auslandstourismus noch im Wesentlichen ein Phänomen der oberen Schichten blieb, übersetzten die Printmedien diese europäischen Erfahrungen für die breite Masse der Bevölkerung. Entsprechend lässt sich eine neue Blüte an Reiseliteratur feststellen, die nun auch alltagspraktischer ausgerichtet war – so gab der Dietz-Verlag etwa Anfang der 1930er Jahre einen „Arbeiter-Reiseund Wanderführer“ mit Tipps für gewerkschaftliche Ferienhäuser in ganz Europa heraus.56 Zeitgleich machten die nun immer zahlreicheren Reisebeilagen in Tageszeitungen – als erste deutsche Zeitung hatte die Vossische Zeitung bereits Anfang des 20. Jahrhunderts eine selbstständige Reisebeilage unter dem Namen „Reise und   49 Vgl. Spode (2009): Von der Luftpolitik, S. 491f. 50 Vgl. Hachtmann (2007): Tourismus-Geschichte, S. 17 und Spode (2009): Von der Luftpolitik, S. 492. 51 Lenz (2010): Mobilitäten in Europa, S. 141. Zum Begriff des „Sozialtourismus“ vgl. Hachtmann (2010): Tourismus und Tourismusgeschichte. 52 Vgl. Spode (2005): Die paneuropäische Touristenklasse, S. 80. 53 Vgl. Kaelble (2007): Sozialgeschichte Europas, S. 12f.; Münch (1993): Das Projekt Europa, S. 277; Münkler (1996): Reich, Nation, Europa, S. 101. 54 Frevert (2003): Eurovisionen, S. 153. 55 Vgl. Schlögel (2009): Europa, S. 38–41. 56 Vgl. Buschak (2014): Die Vereinigten Staaten, S. 275.

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Wanderung“ eingeführt57 – touristische Begegnungen auch für nicht-reisende Europäerinnen und Europäer erfahrbar. Werbeanzeigen und Rezensionen informierten die Leser regelmäßig über neue Atlanten, Straßenkarten, Durchfahrtspläne der wichtigsten europäischen Städte und andere einschlägige Neuerscheinungen, welche den Raum Europa für Motorreisende erschlossen und zugänglich machten.58 Sprach aus der Berichterstattung mitunter eine regelrechte Begeisterung für dieses moderne Reisemittel und seine mutmaßlich neu gewonnene Bedeutung für den Fremdenverkehr, wenn etwa die Vossische Zeitung bereits 1923 dem Luftverkehr attestierte, im touristischen Bereich mehr als nur eine unbedeutende „Spielerei“ zu sein, überrascht dies angesichts der geringen Zahl an Touristen, die in der Zwischenkriegszeit per Flugzeug zu ihren Urlaubszielen gelangten.59 Die politischen Implikationen dieser alltagskulturellen Entwicklung sind dabei nicht zu verkennen. Bemühungen um eine Verbesserung der Bedingungen im binneneuropäischen Reiseverkehr blieben zwar oft erfolglos, führten aber zu zahlreichen bilateralen Verhandlungen, etwa im Rahmen der Verkehrskonferenz des Völkerbundes oder im Rahmen von Fremdenverkehrstagungen.60 Die Vossische Zeitung lobte 1930 eine Entscheidung des ungarischen Ministerrats, den Visumzwang im Reiseverkehr mit Deutschland und Österreich aufzuheben. Im selben Atemzug bedauerte das Berliner Blatt, dass einige andere Länder aus unverständlichen Gründen nach wie vor am Visumsystem festhielten, obschon durch dessen Beseitigung automatisch der Tourismus belebt werde, was nicht nur im transatlantischen Vergleich wünschenswert erscheine: „Ganz Europa ohne Visummauern, ein Ziel, das Amerika für sich seit mehr als 150 Jahren erreichte und genießt.“61 Europa erwies sich insofern bereits in der Weimarer Zeit als ein „Produkt des Tourismus.“62 4. FAZIT: EUROPA ALS ERFAHRUNGSBEGRIFF IN DER WEIMARER ZEIT Was also, so muss abschließend gefragt werden, bedeutete Europa in der Weimarer Zeit? Zunächst lässt sich ein ebenso lebhafter wie kontroverser intellektueller Diskurs konstatieren, der allerdings praktisch vollständig ohne Rückwirkungen auf die   57 Vgl. N.N. (1929): Zeitungen, S. 131. 58 Vgl. etwa „Europa Touring.“ Vossische Zeitung, Nr. 503, 24. Oktober 1928, Reise und Wanderung, S. 3. 59 Vgl. „Europäische Fluglinien heute und morgen. Verkehrswesen der Zukunft.“ Vossische Zeitung, Nr. 551, 21. November 1923, Reise und Wanderung, S. 1. Zur marginalen Relevanz von Flugreisen im europäischen Tourismus vor dem Zweiten Weltkrieg vgl. Spode, Luftpolitik, S. 501. 60 Vgl. „Europa ordnet sein Passwesen.“ Vossische Zeitung, Nr. 216, 8. Mai 1926, Erste Beilage, S. 1; „Noch kein europäisches Visum.“ Vossische Zeitung, Nr. 229, 16. Mai 1926, Erste Beilage, S. 1; „Europäischer Paß?“ Vossische Zeitung, Nr. 277, 14. Juni 1927, S. 3. 61 „Jenseits der Grenzen. Es fehlen immer noch einige Länder in Europa.“ Vossische Zeitung, Nr. 168, 9. April 1930, Reise und Wanderung, S. 2. 62 Vgl. Hachtmann (2010): Tourismus und Tourismusgeschichte.

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deutsche Außenpolitik blieb. Für diese war Europa letztlich kein Faktor: Europäische Kooperation war im politischen Bereich stets problematisch, wenn auch nie ganz unmöglich, wie die Verträge von Locarno zeigten; eine grundsätzliche europäische Verständigung oder gar Einigung war angesichts der nationalen Spannungen nicht durchführbar, wie spätestens das Scheitern des Briand-Planes bewies. Jedoch prägte eine wahrgenommene Internationalität politischer Zusammenhänge und Problemlagen durchaus das politische Denken in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg.63 Zugleich lernten Deutsche Europa in den 1920er und frühen 1930er Jahren auf vielerlei Weise kennen. Dies war Folge einer Europäisierung alltagskultureller Erfahrungen, die fraglos nicht nur Deutschland betraf, aber nicht zuletzt infolge der rasanten technischen Modernisierung und der geographischen Lage des Landes eben besonders hier wirksam wurde. Darauf aufbauend lässt sich insgesamt eine enorme Bandbreite an Europaperspektiven in der Weimarer Zeit in ganz unterschiedlichen Bereichen feststellen. In diesem Zusammenhang ist Vanessa Conze zu widersprechen: Das „Europa der Deutschen“ war in jenen Jahren ungleich breiter, als sie in ihrer ideengeschichtlichen Studie argumentiert.64 Der Grund für diese Vielfalt liegt zum einen darin, dass die Internationalisierungstendenzen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts auch im Zeitalter der Weltkriege fortliefen und besonders den europäischen Raum betrafen. Diesbezüglich ist Kiran Klaus Patel zuzustimmen: „Not only trade and peaceful exchange bring people together, but also conflict and confrontation.“65 Dort, wo nationale Grenzen im Sinne eines mental mapping oder in Form tatsächlicher Kooperationen überwunden wurden, diente wiederum Europa zumeist als zentrale Raumvorstellung. Mit anderen Worten: Internationalität bedeutete vor allem Europäizität. Tatsächlich war Eurozentrismus ein Grundmerkmal internationalen Denkens der damaligen Zeit. Dies gilt gerade auch mit Blick auf das europäische Außenverhältnis. Deutsche Kolonialbefürworter beschrieben in der Weimarer Zeit den Imperialismus bewusst als ein gesamteuropäisches Projekt, um so die nationalen Ansprüche auf eine Rückgewinnung der ehemaligen Überseebesitzungen und eine erneute Beteiligung am kolonialen Projekt zu rechtfertigen.66 Zum anderen war die Kategorie „Europa“ semantisch deutungsoffen, was sie attraktiv machte. Die Spannweite an politischen, sozialen und kulturellen Aufladungen des Europabegriffes zeigte sich wiederum nicht nur im Bereich der Ideengeschichte. Für Zeitgenossen war damit eben keinesfalls ein unter liberal-demokratischen Vorzeichen vereinter Kontinent gemeint. Vielmehr konnte es antidemokratische, autoritäre und nationalistische Zielsetzungen beinhalten. Dabei waren selbst die geographisch-territorialen Grenzen jenes Europas keinesfalls in Stein gemeißelt. Sie blieben stets fluide und konnten in unterschiedlichen Zusammenhängen und Zeiten ganz verschieden sein.   63 64 65 66

Vgl. zu dieser Einschätzung Krüger (1995): Wege und Widersprüche, S. 11. Conze (2005): Das Europa der Deutschen. Patel (2007): In Search, S. 112. Vgl. Greiner (2014): Wege nach Europa, S. 303–310.

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Infolge all dieser Ambivalenzen könnte man dem Europadenken in der Weimarer Zeit leicht jegliche Relevanz absprechen. Dies gilt umso mehr, als bei allen Momenten internationaler Transfers und Verflechtungen, die sich auch und gerade für die Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs finden, nationale Perspektiven und Deutungsmuster stets dominant blieben. Europäische Erfahrungen erzeugten insofern eben keinesfalls ein direktes „Mehr“ an Europa. Doch mit Blick auf die diesem Sammelband zugrunde liegende Frage nach dem „globalen politischen Wandel“ nach 1918 darf nicht übersehen werden, dass Diskurs und struktureller Wandel immer Hand in Hand gehen.67 Semantische Verschiebungen sind daher als ein Indikator für sich wandelnde Vorstellungen von der Notwendigkeit und der Gestalt internationaler, europäischer Politik zu werten. Hierin liegt auch die Bedeutung der Ideen-, Diskurs-, aber eben auch Erfahrungsgeschichte „Europas“ in der Weimarer Zeit. Sie zeigt ein sich ausprägendes Verständnis für die Chancen und Grenzen, vor allem aber die grundsätzliche Notwendigkeit einer europäischen Perspektive in Politik, Wirtschaft und Alltagsleben. Wenn der einleitend zitierte Journalist Wilhelm Feldmann so selbstverständlich von „Europa“ sprechen konnte, so ist dies letztlich als Ausdruck eines öffentlichen Konsenses zu verstehen, dass es trotz aller teils gegenläufiger Begriffskonnotationen auch im Zeitalter des entfesselten Nationalismus etwas spezifisch Europäisches gibt, das den Kontinent politisch wie ideell zusammenhält. LITERATUR Bailey, Christian: Between Yesterday and Tomorrow. German Visions of Europe, 1926–1950. New York/ Oxford 2013. Barraclough, Geoffrey: European Unity in Thought and Action. London 1963. Berger, Françoise/ Bussière, Éric: La France, la Belgique, l’Allemagne et les cartels de l’Entre-deuxguerres. Une méthode pour l’organisation économique de l’Europe, in: Dumoulin, Michel/ Elvert, Jürgen/ Schirmann, Sylvain (Hrsg.): Ces chers voisins. L’Allemagne, la Belgique et la France en Europe du XIXe au XXIe siècles. Stuttgart 2010, S. 221–242. Bottenburg, Maarten van: Global Games. Urbana 2001. Burgard, Oliver: Das gemeinsame Europa – von der politischen Utopie zum außenpolitischen Programm: Meinungsaustausch und Zusammenarbeit pro-europäischer Verbände in Deutschland und Frankreich; 1924–1933. Frankfurt a.M. 2000. Buschak, Willy: Die Vereinigten Staaten von Europa sind unser Ziel. Arbeiterbewegung und Europa im frühen 20. Jahrhundert. Essen 2014. Conze, Vanessa: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung. München 2005. Dies.: Abendland, in: Europäische Geschichte Online (2012), URL: http://www.ieg-ego.eu/conzev2012-de [20.11.2016]. Dies.: Richard Coudenhove-Kalergi. Umstrittener Visionär Europas. Göttingen 2004. Crozier, Andrew: Britain, Germany and the Dishing of the Briand Plan, in: King, Preston/ Bosco, Andrea (Hrsg.): A Constitution for Europe. A Comparative Study of Federal Constitutions and Plans for the United States of Europe. London 1991, S. 213–229.

  67 Vgl. Mergel (2012): Kulturgeschichte der Politik.

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DER BRIAND-KELLOGG-PAKT UND DIE INTERNATIONALE KRIEGSÄCHTUNG Bernhard Roscher 1. DIE FREIHEIT DES KRIEGES IM VÖLKERRECHT VOR 1928 Am Vorabend des Ersten Weltkriegs waren sich die Regierungen und die Völkerrechtswissenschaft weltweit einig, dass jeder souveräne Staat zum Krieg schreiten durfte, wann immer er es politisch für angebracht hielt. Nach herrschender, positivistischer Ansicht stand das Völkerrecht der staatlichen Entscheidung, einen Krieg zu beginnen, indifferent gegenüber, weil sie eine außerrechtliche Frage betreffe. Naturrechtliche Theorien, dass Krieg nur unter bestimmten Voraussetzungen gerecht und damit rechtmäßig sei (bellum iustum) vertrat so gut wie niemand mehr. Zwar erklärten einige Völkerrechtler, das Recht zum Krieg (ius ad bellum) bestehe nur als äußerste Antwort auf eine Völkerrechtsverletzung der anderen Seite, so dass sie die Entscheidung über den Krieg als Rechtsfrage bezeichneten. Dennoch hielten auch sie an der juristischen Unüberprüfbarkeit der staatlichen Entscheidung fest, so dass sich im praktischen Ergebnis kein Unterschied zur Indifferenztheorie ergab. Nur selten war das Recht zum Krieg vertraglich eingeschränkt, etwa durch den von Deutschland 1914 gebrochenen Vertrag von 1839 über die dauerhafte Neutralität Belgiens. Unter dem Eindruck des Weltkriegs wurde im Rahmen der Pariser Friedensverträge 1919 der Völkerbund und mit ihm eine Trias des Kriegsverhütungsrechts1 geschaffen. Sie lautete Arbitrage, Sécurité, Désarmement, also 1. Ausbau der Möglichkeiten zur friedlichen Streitregelung, z. B. durch die Errichtung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs in Den Haag, 2. mehrere verfahrensbezogene Kriegsverbote, z. B. während laufender Schiedsgerichts- oder Vermittlungsverfahren, verbunden mit Sanktionsmöglichkeiten gegen Friedensbrecher, und 3. Beschränkung der Rüstungen, auch wenn die vielen Abrüstungsverhandlungen immer wieder stecken blieben. Die Völkerbundsatzung verbot somit in bestimmten – praktisch gesehen den allermeisten – Fällen den Krieg zwischen den Mitgliedern, aber auch nur zwischen   1

S. statt vieler nur Barandon (1933): Kriegsverhütungsrecht des Völkerbundes, S. 3 und 239. Barandon selbst trennt vom ersten Punkt noch die von ihm so genannte Präventiv-Intervention nach Art. 11 Völkerbundsatzung ab und behandelt sie als systematisch eigenständigen vierten Teil.

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diesen. Doch ein grundlegender Neuansatz gegenüber dem klassischen Völkerrecht war der Anspruch der Völkerbundsatzung, Krieg nicht länger als eine Art Privatangelegenheit der Konfliktparteien zu betrachten und alle anderen zur Neutralität zu verpflichten. Denn Art. 11 Abs. 1 Satz 1 der Satzung machte die Friedenssicherung zum kollektiven Anliegen und gab dem Völkerbund die umfassende Zuständigkeit zur Kriegsverhütung: [A]usdrücklich wird hiermit festgestellt, daß jeder Krieg und jede Bedrohung mit Krieg, mag davon unmittelbar ein Bundesmitglied betroffen werden oder nicht, eine Angelegenheit des ganzen Bundes ist, und daß dieser zum wirksamen Schutz des Völkerfriedens geeignete Maßnahmen zu treffen hat.

Weil die USA und einige weitere Staaten dem Völkerbund nicht beitraten, verfehlte er sein Ziel der Universalität und das uneingeschränkte Recht zum Krieg galt gemäß allgemeinem Völkerrecht für und gegen diese ungebundenen Teile der Welt zunächst fort. 2. ENTSTEHUNG UND WELTWEITE GELTUNG DES BRIAND-KELLOGG-PAKTES Anfang der 1920er Jahre wuchs in den USA die Idee der outlawry of war zu einer parteiübergreifenden Massenbewegung heran. Outlawry umfasst dabei ein ganzes Bedeutungs- und Zielspektrum: es ging sowohl um ein rechtliches Verbot des Krieges als auch um eine religiöse, ethische und politische Ächtung des Krieges. Innerhalb der Bewegung gab es sowohl eine isolationistische Richtung, die jede Verunreinigung ihrer hehren Idee durch die von ihr strikt abgelehnte europäische Völkerbundpolitik ausschließen wollte, als auch eine eher internationalistische, die die Annäherung der USA an den Völkerbund anstrebte. 2 In den diplomatischen Verhandlungen ab dem Jahreswechsel 1927/28 traten die Gegensätze zwischen Internationalismus und Isolationismus, zwischen Vertrauen in die Urteilskraft der öffentliche Meinung als letztem Richter und Streben nach juristisch abgesicherter Machtpolitik, zwischen Gewinnern und Verlierern des Weltkrieges offen zu Tage. Im europäischen Mächtepoker versuchte Frankreichs Außenminister Aristide Briand, die USA politisch enger an sein Land zu binden. Daher schlug er im April 1927 zum zehnten Jahrestag des Weltkriegseintritts der USA über die Presse vor, im Rahmen eines ewigen Freundschaftsvertrages sollten beide Nationen im gegenseitigen Verhältnis auf den Krieg als Mittel ihrer nationalen Politik verzichten. Die US-Regierung schwieg dazu lange, doch unterdessen übten die amerikanischen Kriegsächtungsbewegungen großen Druck auf die im Vorfeld eines Wahlkampfs steckende Politik aus.3 Ende Dezember 1927 griff US-Außenminister Frank   2 3

Zu diesen Bewegungen Roscher (2004): Briand-Kellogg-Pakt, S. 55–62. Das erkannte Kellogg in einer Rede vom 11. Juni 1928 (auszugsweise abgedruckt bei Miller (1928): The Peace Pact of Paris, S. 280ff., 281–282) an: „The force of public opinion in this country and abroad has already made itself felt.“

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Kellogg, der eine französisch-amerikanische Sonderbindung ablehnte, den Vorschlag öffentlich auf, drehte ihn jedoch zugleich gegen Briands Willen in Richtung Universalität. Nicht eindeutig ist, ob Kellogg im Dezember 1927 allein den einseitig französischen Umarmungsversuch abwehren wollte oder bereits aus Überzeugung den weltweiten Verzicht auf den Krieg als Mittel nationaler Politik vorantrieb.4 Aber spätestens im Laufe der folgenden Monate wurde er zum glühenden Anhänger dieser Idee. Beide Seiten versuchten nun, die internationale öffentliche Meinung für sich einzusetzen, weswegen – ein Novum in der Geschichte der Diplomatie – die Verhandlungen durch stets sofort veröffentlichte Noten geführt wurden.5 Kellogg manövrierte Briand in die Lage, dass Frankreich dem Ziel eines mehrseitigen Kriegsverzichtsvertrages mit den anderen Großmächten Deutschland, Großbritannien, Italien und Japan zustimmen musste, obwohl Briand darin Gefahren für Frankreichs Bündnis- und Sicherheitssystem und ohne Verzahnung mit dem Völkerbund auch für diesen sah. Später wurden die Verhandlungen als Zugeständnis an die beiden führenden Völkerbundmächte Frankreich und Großbritannien um die drei übrigen Locarno-Parteien Belgien, Polen und Tschechoslowakei sowie um fünf britische Dominions und Indien erweitert. Der Vertragstext ist trotz eines gewissen Pathos kurz und knapp. Die entscheidenden Artikel 1, dessen letzter Halbsatz das berühmte Clausewitz’sche Leitmotiv zitiert und umkehrt, und 2 lauten: Article 1. The High Contracting Parties solemnly declare in the name of their respective peoples that they condemn recourse to war for the solution of international controversies and renounce it as an instrument of national policy in their relations with one another. Article 2. The High Contracting Parties agree that the settlement or the solution of all disputes or conflicts of whatever nature or of whatever origin they may be, which may arise among them, shall never be sought except by pacific means.

Feierlich unterzeichneten die fünfzehn Parteien am 27. August 1928 den Vertrag in Paris, weswegen er in den ersten Jahren häufig Pacte de Paris genannt wurde. Nahezu alle Staaten traten sofort oder binnen weniger Jahre bei. Einzig der Vertrag über den Weltpostverein galt damals für noch mehr Staaten. Nachdem Japan als letzter der 15 Staaten ratifiziert hatte, trat der Briand-Kellogg-Pakt am 24. Juli 1929 in Kraft. Vier lateinamerikanische Staaten blieben fern, aber über den 1935 in Kraft getretenen Saavedra Lamas-Pakt, dessen Artikel 1 den Inhalt des Briand-KelloggPaktes aufnimmt, galt auch für sie das Verbot des Angriffskrieges. Ab 1935 waren nur noch angriffsunfähige Zwergstaaten wie etwa Lichtenstein und wenige asiatische Gebiete, deren Staatsqualität als höchst zweifelhaft galt und die am   4 5

Für die zweite Variante argumentiert Buchhheit (1998): Briand-Kellogg-Pakt, S. 56–58. Sie sind an vielen Stellen abgedruckt, u.a. im jeweiligen Original und deutscher Übersetzung in der offenbar vom Auswärtigen Amt edierten Sammlung „Materialien zum Kriegsächtungspakt“ (1929).

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völkerrechtlichen Verkehr nicht oder nahezu nicht teilnahmen, vertraglich ungebunden. Deshalb lässt sich das Kriegsverbot als universelles Völkerrecht bezeichnen. Der Briand-Kellogg-Pakt gilt zwar noch heute, hat aber durch das weiter reichende Gewaltverbot in der Satzung der Vereinten Nationen keine praktische Bedeutung mehr, so dass nur sehr wenige der nach 1945 entstandenen Staaten dem Vertrag noch beitraten. Welche Haltung nahm die deutsche Außenpolitik in den Verhandlungen ein? Zumindest auf der machtpolitischen Ebene war die Sache klar: Deutschland, das Frankreich militärisch und bündnispolitisch weit unterlegen war, begriff die amerikanische Öffnung der Verhandlungen als Steilvorlage, weswegen es stets umgehend und uneingeschränkt positiv antwortete. Jede Annäherung der USA an Europa lag im deutschen Interesse und erhöhte die Chancen auf die im Fokus der deutschen Außenpolitik stehende schrittweise Revision des Versailler Vertrages. Peter Krüger geht in seinem grundlegenden Aufsatz von 1974 erheblich weiter. Er sieht in dieser Spätphase der Ära Stresemann einen echten Paradigmenwechsel (der allerdings von den Nachfolgeregierungen gleich wieder aufgegeben wurde) und eine aufrichtige Unterstützung des Vertrags durch die Leitung des Auswärtigen Amtes, gerade auch durch Staatssekretär Carl von Schubert, der wegen Außenminister Stresemanns schwer angeschlagener Gesundheit die deutschen Verhandlungen leitete: Das Problem – dies muß ganz klar unterschieden werden – lautete hier nicht mehr: wie konnte das Auswärtige Amt bestimmte, für die Revisionspolitik gefährliche Vorschläge unterlaufen, ohne als friedensfeindlich oder reaktionär zu gelten, sondern es lautete: wie konnte es wirkungsvolle Maßnahmen zur Friedenssicherung und friedlichen Streitschlichtung vorschlagen und akzeptieren, ohne auf friedliche Revision des Versailler Vertrags zu verzichten. Und das ist schon ein großer Unterschied. Hier beginnt sich die deutsche Außenpolitik von der ausschließlichen Fixierung auf die Revision des Versailler Vertrags zu lösen.6

Hingegen bezweifelt Eva Buchheit, die die Akten des Auswärtige Amtes einer erneuten eingehenden Untersuchung unterzog, Krügers These. Es gebe keinen ausreichenden Beleg, dass Schubert die Politik der Kooperation und internationalen Verflechtung in erster Linie aus idealistischen Gründen und nicht allein aus realpolitischer Taktik betrieb.7 Allerdings wurde der Pakt unbefristet geschlossen und Deutschland verzichtete mit ihm über die in der Völkerbundsatzung genannten Konstellationen hinaus erstmals umfassend auf das Recht, seine umfangreichen Revisionsforderungen gegen Polen irgendwann auch kriegerisch durchsetzen zu können. Dass Deutschland aktuell ohnehin nicht die militärischen Mittel dazu hatte, war das eine, aber die Dauerhaftigkeit des Verzichts auf das politische Instrument Krieg das andere.

  6 7

Krüger (1974): Friedenssicherung und Revisionspolitik, S. 249. Buchheit (1998): Briand-Kellogg-Pakt, S. 385. Für Krügers These hingegen Elz (1999) in seiner Rezension zu Buchheits Buch.

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3. UNVOLLKOMMENHEIT ALS GRUNDBEDINGUNG Der Briand-Kellogg-Pakt konnte deshalb so schnell ausgehandelt werden und universelle Verbreitung finden, weil er drei grundlegende Schwierigkeiten offen lässt: Erstens stellt er vom Wortlaut her nur auf den Krieg als solchen ab, ohne zu definieren, wann ein rechtswidriger Angriff oder umgekehrt eine rechtmäßige Verteidigung vorliegt. Laut Präambel sind die Parteien gegenüber derjenigen Partei, die entgegen dem Verbot zum Krieg schreitet, nicht mehr an den Vertrag gebunden. Weitere Folgen für Vertragsverstöße nennt der Vertrag nicht. In den vorbereitenden Noten werden von mehreren Verhandlungsparteien mehrere Ausnahmen vom Kriegsverbot teils ausdrücklich und teils verklausuliert genannt. Die Auslegung dieser Äußerungen, die in der damaligen politischen und rechtlichen Diskussion zumeist pauschal als Vorbehalte bezeichnet wurden, wird dadurch erheblich erschwert, dass keine einzige bei der Ratifikation als ausdrücklicher Vorbehalt erklärt wurde, also Vorbehalt im Rechtssinne wäre. Auch waren es bloß Äußerungen einzelner Staaten, nicht aller Parteien. Dennoch wurden sie von der großen Mehrheit der Völkerrechtler – regelmäßig ohne genauere Überlegungen zur Rechtsnatur und Geltung – pauschal als Vorbehalte behandelt, z. B. bei Miller: „Whether it be called explanation or interpretation or qualification or reservation, everything that the Parties themselves agreed that the Treaty means, it does mean.“8 Der mit Abstand wichtigste so genannte Vorbehalt ist die Selbstverteidigung, die Kellogg in der entscheidenden Note der USA vom 23. Juni 1928 so beschreibt: „Every nation is free at all times and regardless of treaty provisions to defend its territory from attack or invasion and it alone is competent to decide whether circumstances require recourse to war in self-defense.“9 Daneben ergeben sich trotz aller Unklarheiten im Detail, insbesondere wie sie voneinander abzugrenzen seien und ob nicht letztlich alle unter die Selbstverteidigung fallen, „Vorbehalte“ für folgende Bereiche: – Bezogen auf den ganzen amerikanischen Kontinent die Monroe-Doktrin der USA, die Kellogg allerdings in keiner Note nannte, da sie schon von der Selbstverteidigung erfasst sei; – Mit unklarer territorialer Reichweite die so genannte britische Monroe-Doktrin, die im Gegensatz zur inhaltlich noch unbestimmteren Monroe-Doktrin der USA hier zum ersten und, soweit ersichtlich, zugleich zum letzten Mal erklärt wurde: „[...] there are certain regions in the world the welfare and integrity of which constitute a special and vital interest of our peace and safety. [...] interference with these regions cannot be suffered. Their protection against attack is to the British Empire a measure of self-defence. [...]“10; – Sanktionen des Völkerbundes nach Art. 16 Völkerbundsatzung;   8 Miller (1928): The Peace Pact of Paris, S. 96. 9 Note vom 23. Juli 1928, Ziffer 1, in: Materialien zum Kriegsächtungspakt (1929) S. 70ff., 70. 10 Britische Note vom 19. Mai 1928, Ziffer 10, ebd., S. 46ff., 48.

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Sanktionen nach dem Westpakt von Locarno, dessen Art. 2 die vom Kriegsverbot erfassten und nötigenfalls mit Krieg zu sanktionierenden Tatbestände weit fasst; – „Traités de neutralité“11, womit Frankreich seine Bündnisverträge umschrieb; wobei umstritten war, ob sie überhaupt ein über die kollektive Selbstverteidigung hinausgehender „Vorbehalt“ sein konnten. Zweitens enthält der Vertrag weder ein eigenes Verfahren zur Feststellung, ob eine Partei ihn gebrochen hat oder sich rechtmäßig verteidigt, noch bedient er sich eines anderen Verfahrens, etwa indem er alle Streitfälle an den Ständigen Internationalen Gerichtshof überweisen würde. Soweit nicht beide Streitparteien unabhängig vom Pakt ohnehin an Verfahrensregeln gebunden sind (insbesondere des Völkerbunds oder internationaler Gerichte), besteht die einzige Kontrollmöglichkeit also in der öffentlichen Meinung und den Reaktionen der anderen Vertragsparteien. Kellogg erklärte zur Freiheit des Staates, alleine über einen Verteidigungskrieg zu entscheiden: „If it has a good case the world will applaud and not condemn its action.“12 Drittens dürfen nach Artikel 2 Streitigkeiten nicht anders als mit friedlichen Mitteln beigelegt werden. Doch welche Verfahren zur Streitbeilegung anzuwenden seien, bleibt offen. Der Wortlaut lässt auch zu, die Streitigkeiten ungelöst zu lassen. Ebenso wichen die Verhandlungsführer der Frage aus, was friedliche Mittel seien, nämlich entweder alle nicht formell kriegerischen Mittel oder nur die gewaltfreien Mittel. Die letztgenannte Auslegung verschiebt die Unklarheit, was Krieg im Sinne des Artikels 1 sei, auf die nächste Ebene, nämlich zu der Frage, was (verbotene) Gewalt sei. Bekanntlich geht die Satzung der Vereinten Nationen von 1945 hier einen Schritt weiter, indem einerseits in Artikel 2 Absatz 3 alle Mitglieder zur friedlichen Streitbeilegung verpflichtet werden und andererseits in Absatz 4 nicht bloß Krieg, sondern bereits die Drohung mit Gewalt verboten wird. 4. ZWISCHEN WISSENSCHAFT UND POLITIK Uneingeschränkt wollte der Briand-Kellogg-Pakt kaum einem Völkerrechtler gefallen: Den meisten ging er nicht weit genug, während er nicht wenigen bereits zu weit ging. Fast alle, die den Völkerbund grundsätzlich befürworteten – über alle Länder hinweg betrachtet die weitaus meisten Völkerrechtler – begrüßten auch den BriandKellogg-Pakt als einen wichtigen Schritt. Darunter waren nahezu alle britischen, französischen und anderen französischsprachigen Autoren. Die US-amerikanische Völkerrechtswissenschaft, die sich so intensiv mit dem Pakt befasste, dass er neben und eng verwoben mit dem Thema Neutralität das wohl erste große Thema des Völkerrechts war, bei dem Englisch Französisch als führende Wissenschaftssprache abzulösen begann, war tief gespalten in Befürworter und Kritiker. Disparat war   11 Französische Note vom 14. Juli 1928, ebd., S. 84. 12 US-Note vom 23. Juli 1928, Ziffer 1, ebd., S. 70ff., 70.

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auch die deutsche Szene: Publizistisch überwog in den ersten Jahren nach 1928 zwar eine auf internationale Verständigung ausgerichtete und den Pakt grundsätzlich befürwortende Behandlung u.a. durch Karl Strupp (Frankfurt), Josef Kunz (Wien), Albrecht Mendelssohn Bartholdy (Hamburg), Walther Schücking (Kiel) und Hans Wehberg (Genf, denn er erhielt nie eine deutsche Professur), doch waren sie nicht repräsentativ für den konservativen Mainstream an den deutschen Fakultäten. Enthusiasmus kam vor, etwa wenn Edouard Descamps, ein belgisches Urgestein des internationalen Rechts in Wissenschaft und praktischer Politik, seiner 1898 entwickelten Lehre von pacigérat positif zu neuen Schwung verhelfen wollte. Im Umfeld der ersten Haager Friedenskonferenz, auf der er sein Land vertrat, und nun erneut 1929/30 erzielte er deutliche Achtungserfolge, aber keine nachhaltige Resonanz mit dem Ansatz, Frieden solle nicht bloß negativ als Abwesenheit von Krieg definiert werden, sondern stattdessen das Völkerrecht auf einem Begriff der „positiven Friedensführung“ aufbauen. Der durch den Briand-Kellogg-Pakt vereinbarte Verzicht auf den Krieg bilde die Grundlage eines neuen Völkerrechts.13 Doch die Unklarheiten der vielen „Vorbehalte“ sowie die fehlende Festlegung bestimmter Verfahren zur friedlichen Streitbeilegung und Sicherungen für den Fall des Rechtsbruchs führten dazu, dass der Pakt von der Mehrheit der internationalen Völkerrechtswissenschaft zwar zustimmend, aber weniger begeistert aufgenommen wurde. Insbesondere die meisten völkerbundfreundlichen Autoren sahen den Pakt als defizitär im Vergleich zum rechtstechnisch in weit höherem Maße ausgereiften, aber nie in Kraft getretenen Genfer Protokoll von 1924 oder den Locarno-Verträgen.14 Daher begannen neben der Auslegung des Briand-Kellogg-Paktes als solchem sogleich viele Überlegungen, wie sein Inhalt in die Völkerbundsatzung übernommen werden könne. Entsprechende Beratungen in den Gremien des Völkerbundes, die von der Völkerrechtswissenschaft stets intensiv erörtert wurden, wurden mehrfach angestoßen, führten aber nie zu einer Satzungsänderung. Hier trat besonders deutlich der nie ganz überbrückte Gegensatz zwischen den Gewinner- und den Verliererstaaten des Ersten Weltkriegs und ihren Völkerrechtlern zutage, ganz gleich als wie rein wissenschaftlich sie ihre Aussagen bezeichneten. Die einen setzten positivistisch den Erhalt des Status quo mit dem Erhalt von Recht und Frieden gleich, so dass der Wandel der geltenden Ordnung nur durch einvernehmliche Vertragsänderung stattfinden dürfe: „C’est ne pas à dire que le statu quo soit à jamais sacré et intangible. [...] Mais tout de même, le statu quo présent de l’Europe et du monde, c’est la paix.“15 Hingegen griffen die anderen regelmäßig zu naturrechtlichen Argumenten, um die Revision des Status quo notfalls gegen den Willen der Besitzenden zu fordern. So hofften zumindest die Friedfertigen unter ihnen, unter   13 U.a. Descamps (1929): Le droit international nouveau, S. 211. 14 Vgl. statt vieler Wehberg (1930): Ächtung des Krieges, S. 105–108. Das Buch ging aus einer entsprechenden Vorlesungsreihe an der renommierten Haager Völkerrechtsakademie im Sommer 1928 hervor. 15 Bastid (1930): Problèmes de la sécurité, S. 384–385.

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Ausschluss kriegerischer Selbsthilfe eine Gerechtigkeit, wie sie sie verstanden, und damit Frieden herzustellen: „Der Kelloggpakt tut [...] den zweiten Schritt vor dem ersten. Er verbietet den Krieg, ohne einen Apparat für die friedliche Lösung von Staatskonflikten bereitzustellen. [Aber das ist nötig, weil] immer wieder das Recht unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit korrigiert werden muss.“16 Die starke isolationistische Fraktion der amerikanischen Kriegsächter, von der der Anstoß zu juristisch-moralischer Kriegsächtung unter Vermeidung jeglicher Verbindung mit dem als Überstaat gefürchteten Völkerbund ausgegangen war, sah den Briand-Kellogg-Pakt als richtigen ersten Schritt an. Doch als zweiter Schritt seien neben der aufgeklärten und wachsamen öffentlichen Meinung insbesondere ein Weltgerichtshof ohne überstaatliche Gewaltmittel (also nicht der bereits bestehende Ständige Internationale Gerichtshof, hinter dem diese Fraktion die Sanktionsgewalt des Völkerbunds fürchtete) und die Kodifikation des Völkerrechts nötig, also „a real court equipped with a code of real law, universally recognized as law, and clothed with affirmative jurisdiction. This is the other half of the outlawry of war.“17 Wichtige Facetten der sehr kritischen bis rundheraus ablehnenden Meinungen zum Briand-Kellogg-Pakt finden sich gleich im ersten Band der 1929 gegründeten Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) des gleichnamigen Kaiser-Wilhelm-Instituts. Im Institut, das in erster Linie zur Beratung des Auswärtigen Amtes in Schiedsgerichtsverfahren und anderen Auseinandersetzungen infolge der bzw. gegen die Versailler Ordnung gegründet worden war, versammelte der Direktor Viktor Bruns unter anderem mehrere bekannte, konservative Professoren der einflussreichen Berliner Fakultät wie Heinrich Triepel, Erich Kaufmann und Rudolf Smend.18 Während das bisherige Flaggschiff der deutschen Völkerrechtsjournale, die u.a. von Strupp herausgegebene Zeitschrift für Völkerrecht, mit einem den Briand-Kellogg-Pakt befürwortenden Aufsatz des dänischen Völkerbunddiplomaten (und nebenbei Strupp-Doktoranden) Georg Cohn an den Start ging,19 überließ auch Bruns in der ZaöRV den ersten Aufsatz zu diesem hochpolitischem Thema einem ausländischem Gewährsmann. Er druckte eine in den USA bereits sehr erfolgreich publizierte Rede des stramm isolationistischen US-Völkerrechtlers (und nebenbei Berliner Ehrendoktors) Edwin Borchard erneut ab. Borchard stellte rhetorisch glänzend eine äußerst provokante These auf: „The Kellogg treaties sanction war.“ Denn entgegen Kelloggs ursprünglichem Plan ächte der Briand-Kellogg-Pakt den Krieg nicht, sondern die französischen und britischen Vorbehalte sowie der Völkerbund seien in der Lage, jeglichen Krieg zu rechtfertigen, sogar gegen die USA. Politisch   16 Schücking (1930): Einarbeitung des Kelloggpaktes, S. 194–195. 17 Morrison (1928): The Other Half of Outlawry, S. 26. 18 Stolleis (1999): Geschichte des öff. Rechts III, S. 395–396 (zum Institut) und S. 393–394 (zur Zeitschrift). 19 Cohn (1930): Kellogg-Vertrag und Völkerrecht, S. 169–182. Es ist ein Zweijahresband, so dass dieser Aufsatz wohl gleich 1929 erschien.

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schwingt die – selbstverständlich nicht auf US-Völkerrechtler beschränkte – Überheblichkeit mit, dass das eigene Land natürlich niemals ungerechte Kriege führen würde, man den anderen aber alles zutraut. Rechtsdogmatisch steht hinter seiner Kritik die Vorstellung, dass das Völkerrecht ausschließlich auf der souveränen Gleichheit der Staaten aufbaut und deshalb jede Rechtsdurchsetzung durch übergeordnete Instanzen, womöglich gar den Völkerbund, unbedingt ausschließt. Bruns geht im Eröffnungsaufsatz der ZaöRV, in dem er sein völkerrechtliches Programm darlegt, am Rande auf den Briand-Kellogg-Pakt ein: Dieser bestätige das für jede Rechtsordnung und auch für die Völkerrechtsordnung unter allen Umständen geltende Friedensgebot. Doch die notwendige Kehrseite, und dies ist Bruns‘ zentrales Anliegen, sei die Pflicht des Richters – gleichermaßen des Richters in innerstaatlichen und in zwischenstaatlichen Streitigkeiten – nicht beim Status quo des positiven Rechts stehen zu bleiben, sondern Verteilungsgerechtigkeit zu schaffen.20 Bruns’ Worte, die zumal im Vergleich zu Borchards scharfer Rhetorik zunächst friedlich klingen, sind also nichts weniger als die entschiedenste Gegenposition zum französischen Dogma, Status quo und Frieden gleichzusetzen. In einem ebenfalls programmatischen Aufsatz im ersten ZaöRV-Heft, nämlich seinen Betrachtungen über politisches Recht, spitzt Carl Bilfinger die Unvollkommenheiten des Briand-Kellogg-Paktes so zu, dass er, zum Teil ähnlich mit Borchard, letztlich die „Vorbehalte“ zum Pakt als die Regel und den Vertragstext selbst als unerheblich ansieht: Hiernach wird man dem Kelloggpakt normativen Charakter absprechen müssen. [...] Das ganze ist eine programmatische Deklaration, welche das für politische Rechtsnormen erforderliche Mindestmaß rechtlicher Bindung nicht enthält. [...] Der Gegenstand der Normierung betrifft das Politische, die Existenz des – politischen – Staats, welche normativen Fesseln widerstrebt.21

Vollends übersteigert wurde solches Souveränitätsdenken u.a. bereits 1928 vom faschistischen Außenpolitiker und römischen Völkerrechtsprofessor Francesco Coppola sowie ab 1932 vom schillernden Carl Schmitt in seinem Begriff des Politischen und mehreren Aufsätzen.22 Mit ihren Weltbildern war es nicht vereinbar, dass Staaten Rechtspflichten eingehen könnten, die ihre absolute Freiheit, über Freund und Feind, über Krieg und Frieden zu entscheiden, begrenzen könnten. Also negierten sie kurzerhand anerkannte Grundlagen des Völkerrechts und mit ihnen die Möglichkeit, dass der Briand-Kellogg-Pakt rechtliche Bindungen erzeugen könne, gerierten sich dabei aber, als würden sie völkerrechtlich argumentieren.23 Von der internationalen Völkerrechtswissenschaft wurden diese Ideen kaum wahrgenommen. Ob man die Zuspitzung für juristisch tragfähig hält oder nicht, hängt davon ab, ob man den Vertragsparteien den Willen unterstellt, sich rechtlich zu binden. Wenn man positivistisch von der Form und dem Text des Vertrages ausgeht, muss man   20 Bruns (1929): Völkerrecht als Rechtsordnung, S. 26–27. 21 Bilfinger (1929): Betrachtungen über politisches Recht, S. 72. 22 Insbesondere Schmitt (1932/1963): Begriff des Politischen, S. 51–54 und Coppola (1928): La guerra fuori legge, S. 220–245. 23 Eingehend zu beiden Roscher (2004): Briand-Kellogg-Pakt, S. 155–157 und S. 168–179.

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den 63 Vertragsstaaten unterstellen, dass sie sich rechtlich binden wollten – egal ob aus tiefster ethischer Überzeugung oder nur wegen des internationalen Schwungs und Gruppendrucks der Jahre 1928/29, der es schwierig machte, diesen Vertrag abzulehnen. Dann aber muss man den Verzicht auf den Krieg als Mittel nationaler Politik durch Artikel 1 des Briand-Kellogg-Pakts völkerrechtlich und politisch als revolutionäre Neuerung, als Umkehr von Regel und Ausnahme begreifen: Aber das Umwälzende des Kellogg-Paktes liegt unseres Erachtens darin, dass bis dahin Kriege toleriert waren, soweit sie nicht ausdrücklich verboten waren, von da ab hingegen Kriege prinzipiell verboten wurden, soweit sie nicht in einzelnen (Ausnahms-)Fällen ausdrücklich erlaubt sind.24

Damit verschwand die willkürliche Freiheit der Staaten, andere Staaten, also gleichrangige Rechtsgenossen, ohne Rechtsbruch mit Krieg zu überziehen, sie schlimmstenfalls sogar zu vernichten. Eine logische Konsequenz war kurz darauf die Stimson-Doktrin: Als Japan ab 1931 in einem unerklärten Krieg die chinesische Mandschurei eroberte, erklärten sowohl der US-Außenminister Stimson als auch die im Völkerbund zusammengeschlossenen Staaten, dass sie diese durch Bruch des Briand-Kellogg-Pakts geschaffene Lage nicht anerkennen könnten – genauso wie heute die Weltgemeinschaft die 2015 erfolgte russische Annexion der Krim nicht anerkennt. Im Vergleich zum Kriegsverzicht des Artikels 1 stand Artikel 2 meistens eher im Schatten der Diskussion. Aber auch er wurde höchst unterschiedlich ausgelegt: „Ou bien ce texte ne veut rien dire, ou bien il pose le principe de l’arbitrage obligatoire sans réserve.“25 Dass viele bei diesem Entweder-Oder zu wenig im Zusammenhang dachten, kritisierte der englische Völkerrechtler James Brierly bereits 1929: The first is that whilst almost all discussion has centred around Article 1, [...], Article 2, properly understood, contains a solution of most of the doubts of the difficulties raised by Article 1. The second is that the Pact is not an isolated event. The criticism which regards it as no more than a pious aspiration would be justified if in 1919 we had been given this Pact instead of the Covenant of the League. But the date of the Pact is 1928, and it has been born not into a wholly unorganized world society, but into one in which the foundations of peace [...] are already well and truly laid.26

Auf der anderen Seite kommt man bei aller Sympathie für eine weite Auslegung des Artikels 2 nicht um die Feststellung umhin, dass gerade wegen seiner geringen Bestimmtheit so viele Staaten bereit waren, die Verpflichtung zu übernehmen.27 Nur wenige Staaten unterwarfen sich für alle völkerrechtlichen Streitigkeiten der obligatorischen Gerichtsbarkeit des Ständigen Internationalen Gerichtshofs in Den Haag. Zu ihnen zählte Großbritannien, dessen neue Regierung schon wenige   24 Stellvertretend für viele Kuei (1945): Der Krieg S. 42. 25 Pierre Cot in einem Bericht an die französische Abgeordnetenkammer, als sie über die Ratifikation des Vertrages beriet, zitiert von Rutgers (1931): La mise en harmonie du Pacte, S. 63. 26 Brierly (1929): Some Implications of the Pact of Paris, S. 208, Unterstreichung im Original. 27 Hudson (1935): By Pacific Means, S. 93.

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Wochen nach Inkrafttreten des Briand-Kellogg-Paktes die Fakultativklausel des StIGH-Statuts ratifizierte, implizit also die britische Monroe-Doktrin ad acta legte. In den frühen 1930er Jahren, also schon bald nach dem Mandschureikrieg als erstem großen Fall eines unerklärten Krieges, wurde verstärkt über das Gewaltverbot nachgedacht. Zuvor hatten nur wenige Völkerrechtler und Außenpolitiker Artikel 2 des Briand-Kellogg-Pakts in diese Richtung ausgelegt. In einigen Erklärungen und Vertragsentwürfen wurde es nunmehr auf der Weltabrüstungskonferenz gefordert, etwa als die politische Kommission der Konferenz am 2. März 1933 einstimmig den Kriegsverzicht bezogen auf Europa zum Gewaltverzicht steigerte: In dem Wunsche, die Sache der Abrüstung zu fördern, indem sie den Geist des gegenseitigen Vertrauens unter den Völkern Europas durch diese Erklärung stärken, die ausdrücklich den Gebrauch der Gewalt unter den Umständen verbietet, unter denen der Pakt von Paris den Krieg untersagt, bestätigen die Regierungen von neuem ausdrücklich, daß sie unter keinen Umständen unter einander zur Gewalt als Werkzeug nationaler Politik schreiten werden.28

Zwar wurde das Gewaltverbot vor 1945 weder Bestandteil eines wichtigen multilateralen Vertrages noch Mehrheitsmeinung in Wissenschaft und Praxis. Doch Auftrieb erhielten die Lehre vom Gewaltverbot auch durch die Auslegung, die die älteste und wichtigste internationale Juristenvereinigung, die International Law Association, dem Briand-Kellogg-Pakt 1934 in den Budapest Articles of Interpretation gab. Es war der Versuch einer gemeinsamen, nur der Wissenschaft verpflichteten Auslegung. Dennoch waren hier wie immer, wenn eine wertende Wissenschaft über politisch brisante Fragen entscheiden muss, wissenschaftliche Methode und politische Bewertung nicht vollständig trennbar. Diese Schwierigkeiten brachte der ehemalige Außenminister und ehemalige Reichsgerichtspräsident Walter Simons auf den Punkt, als er auf der Budapester Tagung an seine Erfahrungen als Richter und als Politiker anknüpfte und den Pakt mit einem Gummiband verglich: I venture to warn you by virtue of my double experience against extending the juridical interpretation of the Briand-Kellogg Pact over and above the strictly necessary limits. The elasticity of the words of the Pact is its weakness and its virtue; its weakness, because it leaves doubts to the interpretation, and that is the real sorrow of us lawyers; its virtue, because it is apt to the new and changing cases of reality, and that is the good luck of the politicians. You know history is past politics; politics is future history. The Briand-Kellogg Pact is drafted by a politician, a lawyer and an historian. Do not destroy their work in trying to better it. The Briand-Kellogg Pact is like a caoutchouc string; you cannot measure by it in a just way things of different size, but you can bind them by it. If you, as lawyers, overstrain the string, the politicians will break it.29

LITERATUR Barandon, Paul: Das Kriegsverhütungsrecht des Völkerbundes, Berlin 1933 (= Le système juridique de la Société des Nations pour la prévention de la guerre, Genf und Paris 1933).

  28 Zitiert nach Wehberg (1933): Verzicht auf die Anwendung von Gewalt, S. 158. 29 Simons (1934): Diskussionsbeitrag, S. 46–47.

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  Bastid, Paul: Problèmes de la sécurité: portée et conséquences du Pacte de Paris du 27 août 1928. In: Union Interparlementaire: Compte rendu de la XXVIe conférence tenue à Londres du 16 au 22 juillet 1930, hrsg. v. Bureau interparlementaire, Lausanne u.a. 1930, 377–385. Bilfinger, Carl: Betrachtungen über politisches Recht: ein Beitrag zum Völkerrecht, Staatsrecht und Verwaltungsrecht, ZaöRV 1,1 (1929), 57–76. Brierly, James Lesley: Some Implications of the Pact of Paris, The British year book of international law 10 (1929), 208–210. Bruns, Viktor: Völkerrecht als Rechtsordnung, ZaöRV 1, 1 (1929) 1–56. Buchheit, Eva: Der Briand-Kellogg-Pakt von 1928 – Machtpolitik oder Friedensstreben?, Münster 1998. Cohn, Georg: Kellogg-Vertrag und Völkerrecht, Zeitschrift für Völkerrecht 15 (1930), 169–182. Coppola, Francesco: La guerra fuori legge, Politica 29 (1928), 220–245. Descamps, Edouard Eugène François: Le droit international nouveau: l’ère juridique sans violence et l’avènement du Pacigérat positif, Revue de droit international et de législation comparée 56 (1929), 159–216. Elz, Wolfgang: Rechnung mit dem Frieden [Besprechung von Buchheit, Der Briand-Kellogg-Pakt, 1998], F.A.Z. vom 10. Februar 1999. Hudson, Manley Ottmer: By Pacific Means: The Implementation of Article Two of the Pact of Paris, New Haven 1935. Krüger, Peter: Friedenssicherung und deutsche Revisionspolitik: die deutsche Außenpolitik und die Verhandlungen über den Briand-Kellogg-Pakt, VfZ 22 (1974), 227–257. Kuei, Tsung-Yao: Der Krieg als völkerrechtliches Institut, insbesondere der Kriegsbegriff, Rom 1945. Materialien zum Kriegsächtungspakt, 3., erg. Ausg., Berlin 1929. Miller, David Hunter: The Peace Pact of Paris: a Study on the Briand-Kellogg Treaty, New York / London 1928. Morrison, Charles Clayton: The Other Half of Outlawry, Foreign Affairs (London) 10 (1928), 25– 26. Roscher, Bernhard: Der Briand-Kellogg-Pakt von 1928. Der „Verzicht auf den Krieg als Mittel nationaler Politik“ im völkerrechtlichen Denken der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2004. Rutgers, Victor Henri: La mise en harmonie du Pacte de la Société des Nations avec le Pacte de Paris, Recueil des Cours de l’Académie de Droit international de la Haye 38 (1931-IV), 5–123. Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen: Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1963, unveränd. Nachdruck, Berlin 1979. Schücking, Walther: Die Einarbeitung des Kelloggpaktes in den Völkerbundspakt und die Genfer Generalakte, Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 10 (1930), 178–195 (= Die Harmonisierung des Kelloggpaktes mit dem Pakt des Völkerbundes, Acta Scandinavica juris gentium 1 (1930) 49–65). Simons, Walter: Diskussionsbeitrag. In: International Law Association: Briand-Kellogg Pact of Paris (August 27, 1928): Articles of Interpretation as Adopted by the Budapest Conference 1934, together with the report of the Relevant Proceedings, London 1934, 45–47. Stolleis, Michael: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 3. Bd.: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914–1945, München 1999. Wehberg, Hans Die Ächtung des Krieges, Berlin 1930 (erweiterte Übersetzung von: Le problème de la mise de la guerre hors la loi, Recueil des Cours de l’Académie de Droit international de la Haye 24 (1928-IV), 151–305; = The Outlawry of War, Washington 1931). Ders.: Der Verzicht auf die Anwendung von Gewalt als Grundsatz des Völkerrechts, Friedens-Warte 33 (1933), 158–159.

DIE KRISE DER WEIMARER REPUBLIK IM EUROPÄISCHEN KONTEXT Boris Barth 1. EINFÜHRUNG Die historische Forschung hat sich intensiv mit der Frage beschäftigt, warum die Weimarer Republik gescheitert ist. Die Frage, wie es möglich war, dass in Deutschland eine der genozidalsten Diktaturen an die Macht gekommen ist, die es jemals weltweit gegeben hat, stand hierbei eindeutig im Mittelpunkt.1 Die Republik stand – hier ist sich die Forschung vollständig einig – von Anfang an vor extremen Problemen im politischen, im sozialen und im ökonomischen Bereich. Die Gründung der ersten deutschen Demokratie nach einem verlorenen Weltkrieg fand unter denkbar schlechten Voraussetzungen und unter sehr schwierigen Rahmenbedingungen statt. Allerdings brachen in den 1920er und 1930er Jahren in Europa zahlreiche weitere Demokratien zusammen. Deshalb muss diskutiert werden, warum andere parlamentarische Regierungen, die vor ähnlichen Herausforderungen standen, ebenfalls scheiterten. In diesem Aufsatz soll vor diesem Hintergrund deshalb die These diskutiert werden, dass das Scheitern der Weimarer Republik keineswegs so einzigartig war, wie oft konstatiert worden ist. Diese Annahme geht von der Beobachtung aus, dass es der Weimarer Republik gelungen ist, trotz der immensen Probleme lange zu überleben, während andere Demokratien bereits kollabiert waren oder im Begriff standen, von ihren Feinden zerstört zu werden. Deshalb werden einige Problemkreise angesprochen, die – in unterschiedlichem Maße – alle europäischen Staaten betrafen, und die damit keineswegs nur die Weimarer Republik destabilisierten.2 Die Zerstörung der Weimarer Demokratie war deshalb nicht singulär, sondern Teil eines europäischen Trends. Im Folgenden können alle Fragen, die sich aus dieser Problemstellung ergeben, allerdings nicht umfassend gelöst werden, weil dies im Rahmen eines Aufsatzes nicht möglich ist. Es werden aber Probleme diskutiert, die in ganz Europa auftraten und die nicht nur die Weimarer Demokratie betrafen. Im Mittelpunkt dieses Beitrages steht deshalb der europäische Vergleich.   1 2

Vgl. Mommsen (1990): Die verspielte Freiheit; Winkler (1994): Weimar 1918–1933; Kolb (1988): Die Weimarer Republik; Peukert (1987): Die Weimarer Republik. Dieser Aufsatz basiert im Wesentlichen auf: Barth (2016): Europa nach dem Großen Krieg, und entwickelt einige der dort vertretenen Thesen weiter.

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Fast alle europäischen Staaten standen nach 1918 vor enormen Problemen, die sie aus eigener Kraft nur mit Mühe oder gar nicht lösen konnten. Der Zusammenbruch mehrerer Imperien und die Schaffung neuer Nationalstaaten, deren Grenzen anfangs nicht festgelegt waren, trug zur Entstehung ganz neuer Konfliktlinien bei, die die demokratischen Staatsformen belasteten. Die fünf Friedenskonferenzen in Paris waren nur sehr bedingt in der Lage, eine stabile europäische, bzw. weltweite Nachkriegsordnung zu schaffen. Diese Konferenzen hinterließen überall in Europa ein Klima des Revisionismus. Vor allem im Deutschen Reich und in Ungarn bestand ein breiter gesellschaftlicher Konsens, sich auf keinen Fall mit Versailles und mit Trianon abzufinden. Beide Verträge hinterließen eine fast traumatische Wirkung, die quer durch alle politischen Lager verlief. Dieser Revisionismus fand sich aber auch in vielen derjenigen Staaten, die eigentlich auf der Seite der Sieger standen. Dies betraf etwa Italien, wo der „verstümmelte“ Sieg beklagt wurde: 1915 hatte die Entente der italienischen Regierung weitgehende territoriale Versprechungen gemacht, diese aber in Paris nicht eingehalten. In Griechenland träumten Eliten von der „Megali idea“, einer Rückkehr zu byzantinischer Größe mit einer neuen Hauptstadt Konstantinopel. In Polen vertrat Roman Dmowski, der Führer der Nationaldemokraten die Meinung, sein Land sei zu kurz gekommen, weil die Westgrenze an der Oder nicht erreicht worden war. Auch in Frankreich forderten einflussreiche Eliten in einem übersteigerten Sicherheitsdenken die Rheingrenze. Als weitere Hypothek erwies sich, dass die Pariser Verträge nur teilweise durchgesetzt wurden: Viele Grenzziehungen auf dem Balkan, im Mittelmeerraum oder in Osteuropa waren nicht das Resultat der Pariser Beratungen, sondern wurden von den jeweiligen neuen Staaten als fait accompli mit militärischer Gewalt geschaffen. Noch während die Konferenzen tagten, zettelten mehrere Staaten Kriege gegeneinander an, um Fakten zu schaffen. Auch fehlte, nachdem mit dem Versailler Vertrag das deutsche Problem gelöst schien, bei den Alliierten der Wille, die weiteren Beschlüsse notfalls auch mit Gewalt durchzusetzen. Der Friedensvertrag von Sèvres mit dem Osmanischen Reich bzw. der Türkei wurde niemals realisiert. Da die Alliierten nicht bereit waren, die von ihnen beschlossenen Verträge auch konsequent umzusetzen, begünstigte dies in den neuen Staaten nationalistische Politiker und ehrgeizige Truppenführer, die die Freiräume, die ihnen zugestanden wurden, konsequent nutzten. Die Frage, ob die Schaffung eines demokratischen Europas sinnvoll oder überhaupt möglich sei, ist trotz der Rhetorik des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilsons in Paris fast überhaupt nicht diskutiert worden. Stattdessen ging es um Territorien, Einflusssphären, Meereszugänge, Reparationen, Sicherheitsgarantien oder um Machtstrategien. Die viel zitierte Kritik von John M. Keynes, der im Vorwort seiner berühmten Schrift über die ökonomischen Konsequenzen des Friedens angab, er sei als Engländer nach Paris gekommen und als Europäer zurückgekehrt, stellte eine ganz seltene Ausnahme dar.3 Die Demokratisierung Europas stand in   3

Vgl. Keynes (1920): The Economic Consequences of the Peace, S. 5.

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Paris nicht auf der Tagesordnung!4 Dies stellte von Anfang an für die Nachkriegsordnung eine schwere Belastung dar, weil eine parlamentarische Solidarität zwischen kriselnden Demokratien fast überhaupt nicht entstehen konnte. Stattdessen wurde die internationale Politik eindeutig von nationalistischen Vorstellungen dominiert, die unabhängig von der Staatsform waren. Extremer Nationalismus fand sich sowohl im demokratischen Frankreich und im Deutschen Reich, als auch im faschistischen Italien. Statt demokratischer Solidarität prägten mehrere unterschiedliche Nachkriegskonflikte den europäischen Alltag. Hier sind vor allem zu nennen die vielen kleinen Kriege, Grenzkonflikte und Bürgerkriege nach dem Großen Krieg, die Wellen von Ethnisierungen, durch die ganz neue Konflikte geschaffen wurden, und die enormen ökonomischen Probleme der Nachkriegszeit. Hiermit im Zusammenhang stand – wenn auch teilweise aus anderen Gründen – der kontinuierliche Niedergang des Liberalismus in zahlreichen europäischen Gesellschaften, durch den erst die Voraussetzungen für die Entstehung von Diktaturen geschaffen wurden. 2. NACHKRIEGSGEWALT Die enorme Welle von Nachkriegsgewalt ist in der älteren Forschung fast immer im nationalen Rahmen, nur selten im europäischen Vergleich behandelt worden.5 Freiwilligenverbände, Heimwehren, paramilitärische Milizen oder Freikorps waren die zentralen Akteure dieser Konflikte. Verglichen mit den Materialschlachten des Weltkrieges waren die Verluste in diesen Kriegen gering, diese Gefechte zeichneten sich aber häufig durch eine extreme, kontinuierlich eskalierende Brutalität, durch den massiven Einsatz von Gewalt auch gegen Zivilisten und durch einen Hang zur Disziplinlosigkeit aus. Oft waren die militärischen Hierarchien in den Truppen nur schwach ausgeprägt oder fehlten ganz. Die enorme Gewalttätigkeit ist auch dadurch zu erklären, dass diese paramilitärische Gewalt oft durch hypernationalistische Vorstellungen oder durch einen rabiaten Antikommunismus, teilweise auch durch Antisemitismus zusätzlich aufgeladen wurde. Die Zahl dieser kleinen Kriege nach dem Großen Krieg ist kaum zu schätzen, weil sich häufig – besonders deutlich erkennbar im russischen Bürgerkrieg – ganz unterschiedliche Konflikte überlagerten, bzw. vermischten. Einige ausgewählte Fallbeispiele illustrieren die Probleme. Die deutschen Freikorps wurden seit Ende 1918 von der Regierung als Verbände von Freiwilligen aufgestellt, weil die reguläre Armee zerfallen war und – aus heutiger Sicht – die revolutionäre Bedrohung von Links deutlich überschätzt wurde. Die deutsche Rätebewegung stellte – von wenigen Ausnahmen abgesehen – keine bolschewistische Bedrohung dar, sondern verfügte über ein erhebliches demokratisches Potential. Das Sozialprofil der Freikorps ist äußerst heterogen. In diesen   4 5

Deshalb liefen entsprechende außenpolitische Strategien ins Leere, wie sie Rainer Behring in seinem Beitrag in diesem Band zur Außenpolitik Hermann Müllers beschreibt. Siehe neuerdings aber: Gerwarth (2012) Paramilitary Violence.

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Einheiten fanden sich enttäuschte Monarchisten, radikalisierte Studenten, gescheiterte Existenzen, die sich ein Leben außerhalb der Armee nicht mehr vorstellen konnten und auch einfache Söldner. Freikorps zerschlugen wirkliche oder vermeintliche innenpolitische Unruheherde und lösten die Rätebewegung mit Gewalt auf, wodurch auch demokratische Initiativen auf regionalen Ebenen zerschlagen wurden. Bereits die ältere Literatur hat dieses Vorgehen ausführlich thematisiert. Das Problem bestand nicht darin, dass die Regierung in Berlin Gewalt anwendete – im Falle etwa der Münchener Räterepublik war dies kaum zu vermeiden. Das Problem bestand aber darin, welche Truppen hier eingesetzt wurden und dass diese Einheiten sich schon seit dem Frühjahr 1919 jeder parlamentarischen Kontrolle fast vollständig entzogen.6 Damit stand ein Fußvolk für konterrevolutionäre, monarchistische oder antidemokratische Unternehmungen bereit, das von entschlossenen rechten oder rechtsradikalen Politikern und Militärs genutzt werden konnte und auch genutzt wurde. Im Zusammenhang mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages meuterten einige im Baltikum stationierte Freikorps und versuchten in den folgenden Monaten auf eigene Faust einen Militär-Siedler Staat zu errichten. Auch der Kapp-Lüttwitz Putsch Anfang 1920, der für die parlamentarische Demokratie eine schwere Existenzkrise darstellte, wurde von Freikorps organisiert, die sich trotz der unmissverständlichen Forderungen der Entente nicht auflösen lassen wollten. Im hier verfolgten Kontext ist aber hervorzuheben, dass diese Form der Nachkriegsgewalt ein gesamteuropäisches Phänomen darstellte. Ähnlich wie zwischen Deutschland und Polen fanden zahlreiche Grenzgefechte zwischen österreichischen Heimwehren und den z.T. ebenfalls paramilitärischen Truppen des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen (der sogenannte SHS Staat, das spätere Jugoslawien) statt, das sich in der Bildung befand. Zu einem Held der italienischen Rechten avancierte der Dichter und Schriftsteller Gabriele D’Annunzio, als er mit einer Truppe von Freiwilligen Fiume besetzte, das eigentlich dem SHS Staat zugesprochen werden sollte. Da ihm zahlreiche weitere Freiwillige zuliefen und er zudem auf die indirekte Unterstützung der regulären italienischen Armee zählen konnte, gelang es seinen Einheiten, Fiume etwa ein Jahr zu halten. Dies wuchs sich zu einer schweren Belastungsprobe für die italienische Außenpolitik aus, weil hier ein Konflikt zwischen zwei Siegermächten des Weltkrieges mehrfach zu eskalieren drohte. Ungarische Einheiten der Räterepublik lieferten sich Gefechte mit slowakischen Einheiten, und die Besetzung von Budapest durch rumänische Truppen schuf lediglich einen labilen Frieden, der dann schnell in die Diktatur Horthys und in den weißen Terror seiner Armee überging. Selbst das demokratische Großbritannien setzte im irischen Unabhängigkeitskrieg mit den Black and Tans und anderen Paramilitärs wie den Auxiliaries irreguläre Einheiten ein, die für ihre Gewalttätigkeit und Gesetzlosigkeit berüchtigt waren.   6

Vgl. Hierzu die ältere Literatur: Kluge (1975): Soldatenräte und Revolution; Schulze (1969): Freikorps und Republik; Barth (2003): Dolchstoßlegenden, bes. S. 229–254.

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Daneben fanden auch große Kriege statt, die die Pariser Friedenskonferenzen nicht beenden konnten, weil entweder der politische Wille oder die Machtmittel fehlten. Hier ist in erster Linie der russische Bürgerkrieg zu nennen, in den die Westmächte nur halbherzig intervenierten. Die Chancen für eine demokratische Entwicklung in Russland waren ohnehin gering, weil weder die Bolschewiki, noch die untereinander zerstrittenen „weißen“ russischen Generäle irgendein Interesse an der Bildung parlamentarischer Strukturen in den von ihnen beherrschten Territorien zeigten. Im Gegenteil: Das gewählte russische Parlament in St. Petersburg wurde von den Bolschewiki in einem Putsch beseitigt. Fast alle neuen Grenzen Polens im Osten waren das Resultat von erfolgreichen Grenzkriegen gegen die Westukrainische Republik (Lemberg), gegen Litauen oder gegen die rote Armee. Ebenso folgenreich war der griechisch-türkische Krieg: In völliger Überschätzung ihrer militärischen und ökonomischen Möglichkeiten begnügte sich die griechische Regierung nicht mit der Besatzungszone, die ihr von den Westmächten an der Ägäis zugesprochen worden war. Stattdessen zettelte sie einen Eroberungs- und Angriffskrieg an. Die griechische Armee stieß etwa 500 Kilometer in die türkischen Kernlande vor, und zahlreiche Kriegsverbrechen gegen die muslimische Zivilbevölkerung sind gut belegt. Doch brach die Offensive kurz vor Ankara zusammen, weil unter der Führung von Mustafa Kemal (Atatürk) inzwischen der nationale türkische Widerstand organisiert worden war. Hinzu kamen in der Nachkriegszeit schwere koloniale Konflikte, die im Deutschen Reich kaum wahrgenommen wurden, weil die eigenen Probleme zu groß waren. Nationalistische Unruhen in Indien und in Ägypten stellten die britische Kolonialpolitik vor schwierige Herausforderungen. Vor allem der Rif-Krieg, in dem die spanische Armee im Juli 1921 bei Annual (Nordostmarokko) eine vernichtende Niederlage hinnehmen musste, hatte weitreichende Folgen für Südeuropa. Der unabhängige Rif-Staat in Marokko konnte erst im Mai 1926 durch eine massive gemeinsame spanisch-französische militärische Anstrengung zerschlagen werden, bei der die französische Armee ungefähr so viele Soldaten einsetzte wie 1923 bei der Ruhrbesetzung in Deutschland.7 Diese kriegerische Nachkriegsphase endete – mit der Ausnahme dieses Konfliktes in Nordafrika – erst 1922/23, bis dahin waren aber wichtige Weichenstellungen vorgenommen worden, die mittel- und langfristig die antidemokratischen Kräfte in Spanien begünstigten. Zwar gibt es keine direkte Kontinuität zwischen den deutschen Freikorps und dem Aufstieg des Nationalsozialismus, aber es bestehen mehrere indirekte Zusammenhänge. Terroristische Nachfolgeorganisationen wie die berüchtigte „Organisation Consul“ (OC), die aus der 2. Marinebrigade hervorgegangen war, ermordeten demokratische Politiker wie Matthias Erzberger und Walther Rathenau und trugen dazu bei, die Republik zu destabilisieren.8 Zahlreiche ehemalige Freikorpsmitglieder wie Rudolf Höss, der ersten Kommandant von Auschwitz, finden sich später   7 8

Zum Rif-Staat vgl. immer noch Penell (1986): A Country. Vgl. hierzu z. B. Sabrow (1999): Die verdrängte Verschwörung, Barth (2003): Dolchstoßlegenden, S. 379–405.

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bei den Vollstreckern der Shoah wieder. Zwar zerstritten sich die meisten der ehemaligen Freikorpsführer in den 1920er Jahren mit Hitler, aber die Nachfolgeorganisationen der Freikorps bildeten ein stabiles antidemokratisches Milieu, das sich vollständig von der Republik losgesagt hatte und diese offen bekämpfte. Eine ähnliche Bewertung gilt auch für die österreichischen Heimwehren, die sich seit dem Ende der 1920er Jahre zunehmend radikalisierten. Sichtbar ist dies im Korneuburger Eid vom Mai 1930, in dem sich die Heimwehren offen gegen den parlamentarischen Staat stellten und sich programmatisch dem italienischen Faschismus annäherten. Allerdings brachten die Heimwehren niemals einen charismatischen Führer hervor, der die untereinander zerstrittenen rechtsradikalen Gruppen hätte einigen können. Viele weitere große und kleine Diktatoren der Zwischenkriegszeit stützten sich auf ehemalige Paramilitärs oder auf Einheiten der Armee. Jósef Piłsudski führte seinen Staatsstreich 1926 weitgehend mit der Armee durch, die seine wichtigste Machtbasis darstellte. Auch bei den Putschen im Baltikum stützten sich 1926 Antanas Smetona (Litauen), 1934 Karlis Ulmanis (Lettland) und ebenfalls 1934 Konstantin Päts (Estland) in unterschiedlichem Maße auf die Veteranen der Unabhängigkeitskriege. Nach dem Ende des Rif-Krieges ging ein tiefer Riss durch die spanische Armee. Diejenigen Soldaten und Offiziere, die in den kolonialen Kriegen gekämpft hatten, verkündeten eine Art von Dolchstoßlegende, nach der sie von der Politik im Stich gelassen worden seien. Sie bildeten innerhalb des Heeres eine besonders radikale Gruppe, die sich gegen die republikanische Staatsform positionierte, und es dürfte kein Zufall sein, dass Francisco Franco unter ihnen eine zentrale Rolle einnahm. 3. ETHNISIERUNGEN Bereits während der beiden Balkankriege von 1912/13 begann eine Welle der Ethnisierungen und Vertreibungen, die sich bruchlos im Ersten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit fortsetzte bzw. massiv steigerte. „Ethnie“ ist keine wissenschaftlich objektivierbare Kategorie, deshalb wird dieser Begriff hier nur sehr vorsichtig verwendet. Er spielte aber eine immense Rolle bei den zeitgenössischen Selbst- bzw. Fremdzuschreibungen, weil viele Zeitgenossen von der Existenz dieser Kategorie überzeugt waren. Aus heutiger Sicht ist es allerdings sinnvoll, statt „Ethnie“ die historische Kategorie der „Ethnisierung“ zu verwenden, weil in den jeweiligen Nationalstaaten – anders als zuvor im imperialen Kontext – die jeweiligen Regierungen und zahlreiche nationalistische Interessengruppen erheblichen Druck auf ihre Untertanen ausübten, sich eindeutig zu einem bestimmten Volk zu bekennen. Alle neu gegründeten Länder – mit der Ausnahme der Sowjetunion – definierten sich als Nationalstaaten, in denen anderssprachige nationale Minderheiten bestenfalls geduldet wurden. Nur im Baltikum und in der Tschechoslowakei gab es insgesamt unzureichende Versuche, Minderheiten zu integrieren. Selbst im SHS Staat existierten die Rechte vieler Minderheiten nur auf dem Papier. In vielen Fällen fanden gewaltsame Vertreibungen statt, und es wird geschätzt, dass nicht so sehr im Krieg, sondern in der Nachkriegszeit Millionen von Menschen in Europa zu

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Flüchtlingen wurden. Bis 1926 waren fast zehn Millionen Europäer zu Flüchtlingen geworden, darunter etwa 1,1 Millionen aus dem griechisch-türkischen Austausch, 280.000 aus dem griechisch-bulgarischen Austausch und mehr als zwei Millionen Russen und Ukrainer.9 In der Literatur ist davon gesprochen worden, dass in der Umstellung von imperialen zu nationalstaatlichen Ordnungsmodellen nach 1918 die Stunde des „totalen“ Nationalstaates geschlagen habe.10 Nicht nur im Ersten Weltkrieg, sondern vor allem in der Nachkriegszeit wurden Millionen von Menschen entwurzelt. Während des griechisch-türkischen Krieges war massive Gewalt gegen Zivilisten an der Tagesordnung. So wurden beispielsweise türkische Zivilisten in den Territorien, die von griechischen Truppen besetzt waren, brutal unterdrückt. Auch beging die griechische Armee auf ihrem Rückzug aus Kleinasien zahlreiche Kriegsverbrechen, die ähnliche türkische Reaktionen provozierten. Höhepunkt der sinnlosen Zerstörungen war das große Feuer von Smyrna, das die zuvor multilinguale und multireligiöse Metropole in Schutt und Asche legte.11 Der griechisch-türkische Krieg wurde durch den Vertrag von Lausanne beendet. In diesem Vertrag wurde festgelegt, dass Griechen die Türkei und Türken Griechenland verlassen mussten. Dieses Vorgehen wurde von den Westmächten und vom Völkerbund gefördert, weil geglaubt wurde, auf diese Weise eine stabile Nachkriegsordnung zu schaffen. Modern gesprochen: ethnische Säuberungen, allerdings möglichst ohne Gewalt, sollten zu einem neuen und stabilen Europa beitragen. Als abschreckendes Beispiel stand auch der Völkermord an den Armeniern und Aramäern im Osmanischen Reich im Raum. Der homogene Nationalstaat wurde zum Ideal erhoben, in dem „ethnische“ Konflikte nicht mehr stattfinden konnten. Auch wurde geglaubt, dass durch dieses Vorgehen internationales Konfliktpotential entschärft werden würde.12 Allerdings spielte bei diesen Überlegungen wiederum – wie in Paris 1919 – die Frage der Staatsform nur eine sehr untergeordnete Rolle – Demokratisierungen standen nicht auf dem Programm. Bei den Friedensverhandlungen in Lausanne zeigte sich aber, dass eine ethnische Klassifizierung der jeweiligen Bevölkerungen unmöglich war. Deshalb wurde auf die Kategorie der Religion zurückgegriffen. Die meisten Muslime mussten Griechenland verlassen, während Christen aus der Türkei vertrieben wurden, wobei die Kategorie der Muttersprache fast überhaupt nicht berücksichtigt wurde. Deshalb wurden auch Menschen aus den jeweiligen Staaten vertrieben, die die Sprache in ihrer neuen Heimat überhaupt nicht beherrschten, denn selbstverständlich gab es christliche Türken und muslimische Griechen, sowie zahlreiche Sekten und religiöse Gruppen, die sich nur mit großer Mühe einer der beiden Religionen zuordnen ließen. Die neuere Forschung hat eindeutig gezeigt, dass die Umsetzung des Ideals des ethnisch „reinen“ Nationalstaates auf dem Balkan und in Osteuropa   9

Diese Angaben basieren auf den Zahlen in den entsprechenden Lexikonbeiträgen bei Brandes u.a. (Hrsg.), Lexikon der Vertreibungen. 10 Vgl. Raphael (2011): Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation, S. 17 und 49. 11 Vgl. hierzu Naimark (2004): Flammender Haß, S. 64–70. 12 Vgl. hierzu im Einzelnen: Barth (2016): Europa nach dem Großen Krieg, S. 83–97.

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katastrophale Folgen haben musste. Mit der Ausnahme von Ungarn und – mit Abstrichen – Bulgariens waren alle neuen Staaten multilinguale und multireligiöse Gebilde, in denen sich viele Menschen auch keiner einzigen Nationalität zuordnen lassen wollten.13 Der SHS Staat und Polen waren beispielsweise in religiöser und sprachlicher Hinsicht ähnlich heterogen wie die untergegangene k.u.k. Monarchie. Die Versuche einer nationalen Homogenisierung mussten hier zwangsläufig dazu führen, dass bestimmte – häufig sehr große – Gruppen von Menschen unterdrückt wurden. Auf diese Weise war es aber kaum möglich, diese Minoritäten an den Staat bzw. an eine Demokratie heranzuführen. Beispielsweise wurden muslimische Albaner im SHS Staat offen diskriminiert bzw. unterdrückt, so dass diese sich zwangsläufig in ihrem eigenen Milieu abkapselten. Anfang der 1930er Jahre führte die polnische Armee einen regelrechten Krieg gegen die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung. Sie brannte Hunderte von Dörfern nieder, und Tausende Bauern wurden verhaftet und gefoltert.14 Auch sehr viele Deutsche wurden direkt nach dem Krieg oder in den folgenden Jahren aus ihrer Heimat vertrieben bzw. wanderten freiwillig ab. Direkt nach dem Ende des Krieges mussten zwischen 112.000 und 150.000 Deutsche, die häufig Teil der Funktionseliten waren, vor allem das Elsass und Lothringen verlassen. Allerdings verliefen diese Umsiedlungen und Deportationen nach einer chaotischen Anfangsphase auf bürokratischem Wege und fast ohne Ausschreitungen.15 Offene und gewaltsame Vertreibungen von Deutschen aus Polen blieben auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Ausnahme. Da die polnische Delegation in Versailles den Minderheitenschutz des Völkerbundes gezwungenermaßen akzeptieren musste, blieben auch hier Ausschreitungen selten. Allerdings setzten sich während der gesamten 1920er Jahre „stille“ Vertreibungen fort, bei denen auf bürokratische Methoden oder auf institutionelle Verdrängung gesetzt wurde. Die Zahl derjenigen Deutschen, die Polen während der Weimarer Zeit verließen, ist nicht ganz klar, sie schwankt zwischen 700.000 und 850.000. Insgesamt wanderten bis 1925 1,38 Millionen Deutsche oder Deutschstämmige aus unterschiedlichen Staaten in das Deutsche Reich ein.16 Die Folgen dieser Migrationsbewegungen für die Stabilität der Weimarer Republik sind bisher nur unzureichend erforscht worden. Einige Indizien deuten darauf hin, dass die Flüchtlinge und Vertriebenen ein stabiles revisionistisches Milieu formierten, das gegen die Republik mobilisierbar war. Viele der späteren NSKriegsverbrecher, die sich beim Vernichtungskrieg im Osten und auf dem Balkan besonders exponierten, stammten offenbar aus den Randgebieten des Deutschen   13 Vgl. hierzu etwa die zahlreichen Beispiele bei Ther (2011): Die dunkle Seite des Nationalstaates; Bjork (2008): Neither German nor Pole, von Puttkamer (2010): Ostmitteleuropa, S. 186. 14 Vgl. Korzec (1991): Ukrainian Problem S. 203f., Kotowski (1998): Polens Politik, S. 127f. 15 Vgl. Kohser-Spohn (2006): Vertreibung der Deutschen, S. 90ff; Fisch (2002): Übergang des Elsaß, S. 147f. 16 Auch diese Angaben basieren auf den Zahlen in den entsprechenden Lexikonbeiträgen bei Brandes et al.. (Hrsg.) (2010): Lexikon der Vertreibungen.

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Reiches und waren an ethnische bzw. ethnisierte Gewalt gewöhnt.17 Der jeweilige Nationalstaat versuchte den Schutzpatron über die jeweilige nationale Minderheit zu spielen, und auch das „Auslandsdeutschtum“ wurde gezielt als außenpolitische Waffe genutzt. Auch der starke Anstieg des Antisemitismus während der Weimarer Republik kann als – allerdings extremer – Bestandteil dieser Welle von Ethnisierungen interpretiert werden. Solidarität zwischen den verschiedenen Gruppen von Vertriebenen hat es fast überhaupt nicht gegeben. Stattdessen herrschte die Meinung vor, das eigene Leid sei viel schlimmer als das der anderen gewesen. Auch wurden Vertriebene häufig politisch instrumentalisiert, um nationale Streitigkeiten wach zu halten und expansionistische außenpolitische Ziele zu rechtfertigen. Nicht nur im Deutschen Reich, sondern auch in anderen Staaten haben Vertriebene die demokratische Staatsform unterminiert, auch wenn hierzu bisher präzise Studien fehlen. Die Vertriebenen in Griechenland unterstützten ursprünglich Eleftherios Venizelos, der sicherlich kein lupenreiner Demokrat war, der aber dennoch die parlamentarische Staatsform respektierte. Als sich Venizelos aber von einem strikt revisionistischen Kurs abwandte und eine vorsichtige Entspannungspolitik mit der Türkei anstrebte, wandten sich sehr viele der Vertriebenen nicht nur von ihm, sondern auch von der Demokratie ab und befürworteten autoritäre Lösungen.18 4. NACHKRIEGSÖKONOMIEN Fast alle Demokratien in Zentral- und Osteuropa standen vor enormen ökonomischen Problemen, die sie aus eigener Kraft nicht lösen konnten. Auch hier stellt die Weimarer Republik keinen Sonderfall dar, sondern sie ist ein Teil komplexer europäischer, wenn nicht globaler wirtschaftlicher Entwicklungen. Viele Aspekte könnten an dieser Stelle diskutiert werden. Demobilisierung und Rüstungskonversion betrafen alle ehemaligen Kriegsteilnehmer, Arbeitslosigkeit und Lohnstreitigkeiten erschütterten auch Großbritannien, der Wiederaufbau der zerstörten oder maroden Infrastruktur verschlang erhebliche Summen an Steuergeldern, und seit der Mitte der 1920er Jahre stellten die wachsenden Kartellierungen und Preisabsprachen viele Verbraucher und Produzenten vor immense Probleme. Debattiert worden ist auch die Frage, ob der Ausbau des Sozialstaates nach 1918 einen Luxus darstellte, den sich die Nachkriegsgesellschaften eigentlich nicht leisten konnten. Konsens ist inzwischen, dass die zu hohen Löhne wirklich die Exportfähigkeit und die Innovationskraft der Weimarer Wirtschaft beeinträchtigt haben.19 Weitere Problemfelder sind leicht zu definieren, aber im Folgenden sollen lediglich drei Aspekte herausgegriffen werden, weil sie inzwischen gut erforscht sind, zur Krise der Demokratien   17 Vgl. Mann (2010): dunkle Seite der Demokratie, S. 329–336 und 351. 18 Vgl Schwartz (2013): Ethnische Säuberungen S. 407; Yildirim (2006): Repräsentation und Realität, S. 65. 19 Vgl. Borchardt (1980): Zwangslagen und Handlungsspielräume.

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beitrugen und multinational relevant waren: Die Krise der Landwirtschaft, die Hyperinflationen und die Frage des Goldstandards. Die globale Krise der Landwirtschaft ist in der Vergangenheit in der Forschung häufig unterschätzt worden. Der Verfall der Agrarpreise setzte bereits zu Beginn der 1920er Jahre ein, konnte niemals gestoppt werden und ging fast bruchlos in die Große Depression nach 1929 über. Diese Krise hätte nur in internationaler Kooperation bekämpft werden können, aber hierzu waren die europäischen Regierungen und auch die Fachleute in den USA weder bereit noch in der Lage, weil sie fast ausschließlich in ihren jeweiligen nationalen Kategorien dachten und vorrangig versuchten, ihre eigenen Bauern oder Farmer zu schützen. Der Preisverfall ging primär von den USA aus, wo während des Ersten Weltkrieges die agrarischen Produktionsflächen erheblich ausgeweitet worden waren. Direkt nach dem Ende des Krieges strebten auch die Europäer eine deutliche Erhöhung der nationalen agrarischen Produktion an, um die Hungerjahre zu überwinden und national unabhängiger als zuvor zu werden. Die stark subventionierte Ausweitung der Produktion ging einher mit einem dramatischen globalen Preisverfall. Die einzelnen Landwirte handelten scheinbar rational, indem sie weiterhin ihre Produktion wo immer möglich erhöhten und Maßnahmen zur Rationalisierung anstrebten, um die ökonomischen Verluste durch eine Ausweitung und Verbilligung der Produktion aufzufangen. Damit beschleunigten sie aber zugleich den weiteren Niedergang der Preise, und sie mussten sich häufig hoch verschulden, um die entsprechenden Maßnahmen der Modernisierung zu finanzieren. Protektionistische Maßnahmen der Regierungen und erhebliche Subventionen im nationalen Rahmen verschärften das Problem statt es zu lösen.20 Beispielsweise liefen 1926 die entsprechenden Bestimmungen des Versailler Vertrages aus, und die deutsche Regierung führte sofort wieder die protektionistischen Zolltarife der Bülow-Zeit ein. Dies traf die polnischen Agrarexporte nach Deutschland hart, die Entlastungen für die deutschen Agrarier waren aber nur von kurzer Dauer. Ohnehin war eine direkte europäische Konkurrenz mit der US-amerikanischen Agrarindustrie, die schon in den 1920er Jahren hochgradig mechanisiert war, aussichtslos. Die Gründe, warum die deutschen Großagrarier vor allem seit den späten 1920er Jahren eine stabile antidemokratische Bastion formierten, sind vielfältig und reichen z.T. in das Kaiserreich zurück, wo diese Gruppe zu den vehementesten Befürwortern des monarchischen Staates gehört hatte. Die Agrarier formierten effektive und schlagkräftige Lobbygruppen.21 Aber auch ökonomische Gründe spielten für ihre politische Ausrichtung eine Rolle, weil der Weimarer Staat – obwohl zeitweise sehr hohe Subventionen und Schutzzölle gewährt wurden – ihnen nicht den Lebensstil ermöglichte, den sie von ihrem Selbstverständnis her erwarteten. Es dürfte auch kein Zufall sein, dass rechtsradikale und faschistische Bewegungen ihre ersten Erfolge – wiederum im europäischen Vergleich – vor allem auf dem Lande sowohl bei Kleinbauern, als auch bei Großagrariern erzielten. Mussolini   20 Siehe hierzu auch den Beitrag von Gerhard Wegner in diesem Band. 21 Vgl. Merkenich (1998): Grüne Front gegen Weimar.

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positionierte seine anfangs disparate faschistische Bewegung in direkter Konfrontation nicht nur zu den Sozialisten, sondern auch zu rebellierenden Landarbeitern erfolgreich als „Ordnungsfaktor“. Auf dem Balkan hatten Bauernparteien seit dem späten 19. Jahrhundert häufig eine wichtige Rolle im regionalen Demokratisierungsprozess gespielt. Sie hatten auf der lokalen und auf der regionalen Ebene Formen von Kompromissen eingeübt, hatten gelernt, Konkurrenz zu ertragen und hatten integrativ gewirkt. Allerdings war dieses Potential bei den Gründungen der neuen Staaten kaum genutzt worden, weil die Großmächte Monarchen eingesetzt hatten. Seit den 1920er Jahren rückten diese Bauernparteien aber zunehmend in eine rechtsradikale und antiparlamentarische Ecke, weil sie – genau wie die jeweiligen Regierungen – keine systemkonformen Antworten auf die sich verschärfende ökonomische Situation fanden. Zwar stellten sie sich damit offensiv gegen die parlamentarischen Staatsformen, anders als im Deutschen Reich konnten faschistische Bewegungen in den Gesellschaften auf dem Balkan – mit der Ausnahme Rumäniens – kaum Fuß fassen. Die meisten Bauern waren zu konservativ und landverbunden, um sich radikalen Massenparteien anzuschließen, sie bevorzugten aber autoritäre Lösungen. Auch in Deutschland lieferten seit 1928 die verarmten und rebellierenden Bauern in Schleswig-Holstein in der Landvolkbewegung, die sogar Sprengstoffanschläge auf Finanzämter verübte, einen Vorgeschmack auf die kommende Gewaltwelle des Nationalsozialismus. Diese ersten Rebellionen waren wenig koordiniert und gingen meistens von kleinen aktivistischen Gruppen aus, stießen in den Dörfern bei den überschuldeten Bauern, die vergeblich um das ökonomische Überleben kämpften, aber durchweg auf Sympathie. Der Nationalsozialismus feierte konsequenterweise seine ersten großen Wahlerfolge vor allem auf dem Lande und in Kleinstädten. Ein weiteres ökonomisches Problem, das in unterschiedlicher Intensität in mehreren europäischen Staaten der Nachkriegszeit auftrat, stellten Inflationen und Hyperinflationen dar. Drei Typen sind in der Literatur unterschieden worden. Erstens gab es Hyperinflationen, bei denen die Währung nach einigen Jahren völlig kollabierte. Dies betraf das Deutsche Reich, das insgesamt am besten untersuchte Beispiel, aber auch Polen, Ungarn, Österreich, und in gewisser Weise die Sowjetunion, auch wenn hier nur unzuverlässige Daten vorliegen. In der Weimarer Republik gab es in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu dieser Inflation keine sinnvolle Alternative, weil der Verfall der Währung Vollbeschäftigung sicherte und sozialen Sprengstoff entschärfte.22 Wahrscheinlich hätte die Weimarer Republik die sehr schwierigen Anfangsjahre ohne diese Inflation nicht überstanden. Sie stellte eine Art von Zwangsbesteuerung dar, die von der Bevölkerung aber nicht als solche wahrgenommen wurde, und die relativ leicht zu verwalten war. Spätestens ab dem Mai 1921, als die Alliierten in London ihr Ultimatum bezüglich der Reparationsfrage stellten, kehrte sich die Wirkung der Inflation aber um. Bereits ab dem Herbst 1922 geriet   22 Vgl. zur deutschen Inflation: Holtfrerich (1980): Die deutsche Inflation; Feldman (1993): The Great Disorder.

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sie völlig außer Kontrolle, und die französische Besetzung des Ruhrgebietes stellte den endgültigen Todesstoß für die Währung dar. Ähnliche Probleme bestanden in Österreich. Viele Beamte aus der ehemaligen Habsburger-Monarchie zogen nach Wien, und die Arbeitslosigkeit war ohnehin hoch. Die Regierung überbrückte die Probleme durch großzügige Hilfen und hielt Steuern und Preise künstlich niedrig. Auf diese Weise wurde zwar sozialer Sprengstoff entschärft, aber der Staat lebte aus der ökonomischen Substanz. 1922 endete diese Politik in einer Hyperinflation und letztlich im Staatsbankrott.23 Diese Inflationen hatten in mehreren europäischen Gesellschaften fatale mittelund langfristige Wirkungen: Genau diejenigen sozialen Schichten, auf die eine Demokratie existentiell angewiesen ist, wurden ökonomisch extrem hart getroffen bzw. ruiniert. Es handelte sich besonders um die Festbesoldeten im Staatsdienst wie Beamte, Lehrer, Professoren, Offiziere und um diejenigen Bürokraten, die in den Verwaltungen für den Staat arbeiteten. Dieser Aspekt lässt sich nicht präzise bestimmen, weil eine direkte Korrelation zwischen Berufsgruppe und Wahlverhalten nicht mit letzter Sicherheit feststellbar ist, aber es kann sicher davon ausgegangen werden, dass gerade die Staatsbediensteten zu den großen Verlierern der Hyperinflation gehört haben. Zweitens gab es Staaten, in denen die Währung erheblich unter Druck geriet, in denen aber die Inflation letztlich und mit großer Mühe und ökonomischen Opfern kontrolliert werden konnte. Hierzu gehörten Belgien, Finnland, Italien, Frankreich, Rumänien und der SHS Staat. Drittens gelang es in Norwegen, Schweden, der Schweiz, Großbritannien, Dänemark, den Niederlanden und in der Tschechoslowakei die Inflation nach 1920 zu kontrollieren, aber auch hier waren die ökonomischen Opfer, die für die Stabilisierung der Währung erbracht werden mussten, oft hoch. Die Tschechoslowakei musste beispielsweise eine Deflationskrise überstehen. Durch eine konsequente Steuer- und Geldpolitik, die in der Bevölkerung sehr unbeliebt war, wurde die Währung stabil gehalten. Die Wiedereinführung des Goldstandards stellte ein weiteres internationales Problem dar. Als sich die britische Regierung im Mai 1925 zu diesem weitreichenden währungspolitischen Schritt entschloss, schienen die unmittelbaren ökonomischen Probleme der Nachkriegszeit gelöst zu sein. Die deutsche Währung war durch den Dawes-Plan stabilisiert und das Reparationsproblem schien – wenn auch auf eine komplizierte Art – geregelt zu sein. Die Funktionsweise des Standards wurde gründlich studiert, nicht aber das Umfeld, das seinen Erfolg vor 1914 erst ermöglicht hatte. Eben dieses Umfeld existierte aber in den 1920er Jahren nicht mehr. Auch handelte es sich nicht um einen „harten“ Goldstandard wie vor 1914, sondern um einen etwas aufgeweichten Gold-Devisen-Standard. Die deflationäre Wirkung des Goldstandards hatte vor 1914 für die europäischen Industriestaaten kein Problem dargestellt, weil sie sich – mit ganz wenigen Ausnahmen – in einem robusten Aufschwung befanden, der erst kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges abbrach. Außerdem hatten die europäischen Industriestaaten zu den eindeutigen   23 Vgl. zu Österreich: Faltus/ Teichova (1996): Nachkriegsinflation, S. 151 und 163.

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Gewinnern der Globalisierung gehört. Dies sah in der Mitte der 1920er Jahre völlig anders aus. Die grundlegenden Arbeiten von Berry Eichengreen haben gezeigt, dass der Standard wesentlich zur Verschärfung der Krise von 1929 beigetragen hat.24 Diejenigen Staaten, die direkt nach der Bankenkrise von 1931 den Standard aufgaben, konnten im Vergleich zu denjenigen, die diese Maßnahme nicht durchführten, mittel- und langfristige Vorteile verbuchen. Der Weimarer Republik war es aber vor 1931 nicht möglich vom Goldstandard abzuweichen, weil langfristige Verträge im Zusammenhang mit den Reparationen und vor allem der Young-Plan auf Goldzahlungen basierten. Zudem verstärkte die französische Regierung den ökonomischen Druck auf Berlin, weil sie eine Zollunion zwischen dem Deutschen Reich und Österreich verhindern wollte. Als die britische Regierung den Goldstandard aufgab, hatte dies schwere Folgen für die deutsche Exportindustrie, weil Waren, die vorher noch weltmarktfähig gewesen waren, plötzlich viel zu teuer wurden. 5. WEIMAR IM EUROPÄISCHEN VERGLEICH In der Literatur ist neuerdings die These vertreten worden, dass das internationale System nach 1926 sehr erfolgreich gewesen war. Gerade wegen dieser Erfolge sei es aber versäumt worden, Vorsichtsmaßnahmen für Krisen zu etablieren.25 Zu diesen Erfolgen gehörte etwa das Washingtoner Flottenabkommen, das das erste funktionierende Abrüstungs- bzw. Rüstungsbegrenzungsabkommen der Neuzeit darstellte. Trotz kontinuierlicher Meinungsverschiedenheiten um Kriegsschulden und Reparationen gelang es seit der Mitte der 1920er Jahre, das Deutsche Reich wieder in das internationale System zu integrieren. Marksteine dieses Prozesses war der Beitritt Deutschlands zum Völkerbund und Stresemanns erfolgreiche Entspannungspolitik im Westen, die sich im Vertrag von Locarno niederschlug. Diese positiven Entwicklungen wurden durch die britische Kompromissbereitschaft und durch die amerikanischen Versuche ermöglicht, eine ökonomische Transformation Europas anzustreben und eine transatlantische Friedensordnung zu schaffen. Der Briand-Kellogg-Pakt, der auf eine internationale Schiedsgerichtsbarkeit zur Vermeidung von Kriegen abzielte, war ein Resultat dieser Bemühungen. Auch in anderer Hinsicht wirkte die multinationale Integration nach erheblichen Anfangsschwierigkeiten: Der Völkerbund entwickelte zahlreiche Initiativen und verwaltete auch die ILO, die sich für die Verbesserung von Arbeitsbedingungen einsetzte. 1927 fand die erste Weltwirtschaftskonferenz statt, die zwar bei weitem nicht alle Erwartungen erfüllte, aber dennoch eine große Zahl von internationalen ökonomischen Problemen zumindest thematisierte bzw. anging. Negativ wirkte sich aber aus, dass im Gegensatz zu der Zeit vor 1914 eine internationale Ordnungsmacht fehlte, die bereit gewesen wäre, Standards und Normen auch international durchzusetzen. Das britische Empire, das im 19. Jahrhundert   24 Vgl. Eichengreen (2008): Golden Fetters. 25 Vgl. Cohrs (2006): Unfinished Peace, S. 2–7 und 10.

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zeitweise eine sehr aggressive Freihandelspolitik betrieben und notfalls auch militärisch durchgesetzt hatte, war nach 1918/19 dazu nicht mehr in der Lage. Zwar haben sich die USA niemals vollständig in den Isolationismus zurückgezogen, weil sie nach wie vor an internationalen Konferenzen teilnahmen und sowohl politische, als auch ökonomische Entwicklungen in Europa und in Asien zu beeinflussen versuchten. Keine US-amerikanische Regierung strebte aber die Rolle einer globalen Führungsmacht an, die nach 1919 notwendig gewesen wäre, um das internationale System zu stabilisieren. 1929 rächte sich, dass keine Sicherheitsstandards im internationalen System etabliert worden waren, die im Falle von ökonomischen oder politischen Krisen hätten greifen können. Allerdings war die Große Depression nicht die alleinige Ursache für die Krise der Demokratien in Europa. Sie diente aber als Katalysator von Entwicklungen, die schon vorher eingeleitet worden waren. Der Großangriff auf die Weimarer Republik und auf den Sozialstaat hatte bereits 1928, also vor der Weltwirtschaftskrise, angefangen. Im so genannten Ruhreisenstreit hatte die Großindustrie endgültig den Weimarer Konsens aufgekündigt. Dieser Angriff auf den Sozialstaat leitete Entwicklungen ein, die die gesellschaftlichen Spaltungen vertieften und letztlich der deutschen Rechten zu Gute kamen. Wie mehrfach betont worden ist, spielten die Fragen der demokratischen Staatsform und die der Demokratisierung bei allen diesen Nachkriegskonflikten und -debatten nur eine sehr untergeordnete Rolle. Die demokratischen Westmächte waren an der Förderung des Parlamentarismus in Mittel- und in Osteuropa einfach nicht interessiert. Besonders deutlich zeigte sich dies im spanischen Bürgerkrieg, als die schwer bedrängte Republik sogar offen boykottiert wurde. Im europäischen Vergleich stellt sich ferner heraus, dass die Krise der Weimarer Demokratie keineswegs so einzigartig war, wie gelegentlich noch in der älteren Forschung angenommen worden ist. Es ist auch nicht korrekt, von einem deutschen Sonderweg zu sprechen. Gemessen an den immensen Schwierigkeiten und im europäischen Vergleich kann man die Weimarer Republik als weit stabiler einschätzen, als dies häufig geschehen ist. Die Weltwirtschaftskrise hätte sie aber als parlamentarische Staatsform wohl kaum überlebt, selbst wenn weitsichtigere Maßnahmen getroffen worden wären, als sie die Regierung Brüning durchgeführt hat. Wahrscheinlich wäre auch bei anderen Entscheidungen auf jeden Fall Anfang der 1930er Jahre ein autoritärer Staat etabliert worden. Hitler hingegen hätte noch am 29. Januar 1933 verhindert werden können. LITERATUR Barth, Boris: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 2003. Ders.: Europa nach dem Großen Krieg. Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit, Frankfurt/M. 2016. Bjork, James E.: Neither German nor Pole. Catholizism and National Indifference in a Central European Borderland, Ann Arbor 2008.

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Winkler, Heinrich August: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1994. Yildirim, Onur: Repräsentation und Realität. Historiografie, nationale Meistererzählungen und persönliche Erfahrungen des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausches von 1923, in; Brunnbauer, Ulf et al. (Hrsg.): Definitionsmacht, Utopie, Vergeltung. „Ethnische Säuberungen“ im östlichen Europa des 20. Jahrhunderts, Berlin 2006, S. 49–76.

SPURENSUCHE: DIE WEIMARER REICHSVERFASSUNG IN DER CHILENISCHEN VERFASSUNGSGESCHICHTE Markus Lang 1. DIE WEIMARER REPUBLIK IN DER GLOBALEN ERINNERUNG Das Jubiläum der Gründung der Weimarer Republik bietet eine große Chance für die Erinnerung an die Weimarer Republik, im Inland wie im Ausland. Was Alexander Gallus über die Revolution schreibt, gilt gleichermaßen auch für die ihr folgende Verfassung und Staatsordnung: [D]er Systemwechsel von 1918/19 [fristet] ein Mauerblümchendasein im wild wuchernden Garten der deutschen Erinnerungskultur. Auch wenn die Umbrüche von 1918/19 gewiss keine wirklich geglückte Revolution markieren, darf sie doch wenigstens insofern als erfolgreich gelten, als sie in Deutschland erstmals eine demokratische Verfassung und Staatsordnung durchsetzen konnte. Allein angesichts dieser schlichten, aber an sich ganz bemerkenswerten Tatsache und der nicht allzu vielen Bezugspunkte freiheitlich-demokratischer Tradition im Verlauf der deutschen Geschichte ist diese Ignoranz gegenüber der deutschen Revolution von 1918/19 kaum nachvollziehbar, vielmehr überaus kritikwürdig. Diese inzwischen vergessene Revolution hat ein größeres Maß an öffentlicher Erinnerung und fachwissenschaftlicher Beschäftigung verdient, als es ihr in den letzten Jahrzehnten zuteil wurde.1

In der Weimarer Republik hat Deutschland sich zum ersten Mal eine Verfassung gegeben, die insbesondere im Bereich der sozialen Grundrechte als Antwort auf Herausforderungen moderner Industriegesellschaften bahnbrechend war. Internationale und transnationale Einflüsse haben eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Weimarer Verfassung gespielt; bereits lange Zeit vor der ersten Sitzung der Nationalversammlung fand das Ringen um die künftige Richtung in einem internationalen Rahmen statt.2 Im Ersten Weltkrieg etwa kämpften nicht nur Soldaten unterschiedlicher Nationen, sondern auch Symbole und Ideen miteinander. Werner Sombart sah einen existenziellen Kampf zwischen deutschen „Helden“ und britischen „Händlern“.3 Deutsche Intellektuelle beschworen gleich in den ersten Kriegstagen die „Ideen von 1914“. Damit bezogen sie sich auf das nationalistisch-romantische Selbstverständnis einer deutschen Sonderkultur und auf die vermeintlichen Eigenheiten des „deutschen Wesens“. Mit Gegensatzpaaren wie Gemeinschaft und

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Gallus (2010): Revolution, S. 37–38. Vgl. Lang (2011): Frankreich. Sombart (1915): Helden.

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Gesellschaft4 oder Kultur und Zivilisation5 bezweckten die Intellektuellen vor allem einen frontalen Angriff gegen englischen Liberalismus und französische Demokratie, die mit dem Schlagwort der „Ideen von 1789“ belegt wurden.6 Mit der Oktoberrevolution 1917 in Russland erschien plötzlich ein neuer Akteur auf dem internationalen Parkett der Ideen und Staatsmodelle. Preußischer Obrigkeitsstaat, westliche Demokratie oder sozialistische Räterepublik – die Revolution von 1918/19 war auch ein Ringen darum, an welche politischen Ordnungsmodelle auf dem globalen Markt der Ideen man anknüpfen solle. Die Entscheidung fiel zunächst klar zugunsten eines liberalen und demokratischen Verfassungsstaats westlicher Prägung aus,7 womit aber der inländische wie der globale Kampf um die Ordnungsmodelle noch lange nicht beendet war. Die Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern der Republik in den folgenden Jahren war ebenfalls geprägt von internationalen Bezügen.8 In der deutschen Forschung zur Weimarer Verfassung und Weimarer Republik fristet die transnationale Perspektive nach wie vor ein Schattendasein. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Geschichtsschreibung und mehr noch die öffentliche Wahrnehmung bislang zu sehr geprägt waren vom Blick zurück, vom Scheitern der Republik, der Katastrophe des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs. Martínez etwa beklagt die „Vernachlässigung des Einflusses, den die Weimarer Verfassung auf ausländische Rechtsordnungen gehabt hat“ und führt dies darauf zurück, „dass in der aktuellen Debatte in Deutschland die Strukturschwächen der Weimarer Verfassung als Ursache für das Scheitern der Weimarer Republik derart betont werden, dass ihre positiven Leistung völlig verblassen.“9 Gerade in der öffentlichen Diskussion wird dieser Eindruck mit den zahllosen Verweisen auf Weimar als Vorbote des Untergangs verstärkt.10 Weimar als Bild, als Chiffre, als Menetekel stehe für eine unmittelbar bevorstehende ökonomische und politische Katastrophe, die nur durch Anwendung drastischer Maßnahmen noch abgewendet werden könne, wodurch diese Maßnahmen als alternativlos erscheinen. In jüngster Zeit haben jedoch einige Historiker damit begonnen, das Potenzial der ersten deutschen Republik aus einer vorwärtsschauenden Perspektive zu würdigen, eine Perspektive, die sich mehr und mehr durchsetzt. Dadurch ist der Blick frei geworden auf die progressiven Elemente der Weimarer Republik, auf die mutigen Experimente und welche Spuren sich davon in anderen Verfassungen finden lassen. Leider gibt es zu diesem Thema noch keine Überblicksdarstellungen. Ver  4 5 6 7

Tönnies (2005): Gemeinschaft. Mann (1918): Betrachtungen. Vgl. Bruendel (2003): Ideen; Flasch (2000): Mobilmachung. Zur „normativen Verwestlichung“ als Strukturmerkmal der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert vgl. Doering–Manteuffel (1999): Westernisierung; Söllner (1999): Verwestlichung. 8 Die Westorientierung der Weimarer Verfassung kommt nicht zuletzt auch in deren Ablehnung durch die radikale Rechte als „undeutsches“ „System Weimar“ zum Ausdruck; vgl. Sontheimer (1962): Antidemokratisches Denken; Breuer (1993): Anatomie. 9 Martínez (2009): Rezeption, S. 266. 10 Vgl. etwa Palladini (2015): Return, S. 17: „A spectre is haunting the post-2008 economic crisis – the spectre of the Weimar Republic.“

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dienstvoll war in diesem Zusammenhang ein im Februar 2007 von Christoph Gusy am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld organisierter Workshop zum Thema „Demokratie in der Krise“.11 Auf dem Weg zu einer vergleichenden Verfassungsgeschichte betrachten die Beiträge, wie unterschiedliche Länder in Europa auf die ideellen und materiellen Herausforderungen des 20. Jahrhunderts reagierten. Wenige Jahre später fand in Weimar eine Konferenz statt, die einen weitergehenden Überblick der internationalen Bezüge unter dem Titel „Vorbild Weimar“ zum Ziel hatte.12 Betrachtet wurden sowohl zeitgenössische Rezeption und Wirkung in etablierten Demokratien und neuen Staaten als auch die geographischen und zeitlichen Fernwirkungen. Exemplarisch sei darauf verwiesen, dass z. B. in Belgien praktisch keine zeitgenössische Rezeption der Weimarer Verfassung zu finden war, obwohl dort 1920/21 gleich vier große Verfassungsrevisionen unternommen wurden. Das Fehlen einer Diskussion über mögliche Anregungen aus der Weimarer Verfassung erklärte Marnix Beyen damit, dass die belgischen Eliten nicht in der Lage waren, in der Staatspraxis der zentraleuropäischen Staaten generell und des Kriegsgegners im speziellen wertvolle Anregungen für die eigenen Herausforderungen zu suchen. Andererseits konnte Yu-chung Shen darüber berichten, wie die Verfassung Taiwans von 1945 und deren Reform 1997 praktisch ausschließlich auf das Vorbild Weimar zurückgehen. Die Rezeptionsgeschichte der Weimarer Verfassung stellte sich auf dieser Tagung als eine Mischung aus verpassten Chancen und erstaunlichen Verbindungen dar. Weitere erstaunliche Verbindungen existieren zwischen Weimar und Südamerika. Martínez zeigt, dass die Weimarer Reichsverfassung ein wesentliches Vorbild war für die Verfassungen in Chile (1925), Brasilien (1934),13 Kuba (1940), Venezuela (1947),14 Argentinien (1949) und El Salvador (1950).15 Die Staaten Lateinamerikas hätten insbesondere Anregungen bei den sozialen Grundrechten, bei der Gleichberechtigung der Geschlechter und bei der Religionsfreiheit genommen. Martínez betont dabei, wie das liberal-sozialstaatliche Grundrechtsverständnis der Weimarer Verfassung das bis dahin vorherrschende nordamerikanische Verständnis der liberalen Abwehrrechte ersetzt habe. Eine erhebliche Zuwanderung aus Deutschland und anderen mitteleuropäischen Staaten habe nicht nur diesen Wandel im Grundrechtsverständnis weg von der strikten Abwehr staatlicher Eingriffe und hin zu einer aktiven Ausgestaltung der rechtlichen und sozialen Gleichheit befördert, sondern auch die sprachlichen und kulturellen Grundlagen für eine positive Rezeption kontinentaleuropäischer Verfassungsstrukturen geschaffen. Da Martínez einen Überblick des Einflusses der Weimarer Reichsverfassung in Lateinamerika geben möchte, ist es für ihn nicht möglich, einzelne Einflusspfade eng am Text der Verfassungen zu belegen. Die folgenden Abschnitte wollen   11 Vgl. Gusy (2008): Tagungsbericht. 12 Vgl. Schönfelder (2010): Vorbild. Der Verfasser war als Organisator an der Ausrichtung der Tagung beteiligt. Die Tagungsbeiträge sollen durchaus noch veröffentlicht werden. 13 Vgl. Bonavides (1990): Brasilianischer Sozialstaat. 14 Vgl. Kornblith (1991): Venezuela. 15 Vgl. Martínez (2009): Rezeption.

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Martínez‘ These mittels eines Vergleichs der Verfassungstexte von Weimar und Chile überprüfen und unterstützen.16 Davor sind allerdings noch ein paar knappe Überlegungen zum Verfassungsvergleich und zum Erwartungshorizont internationaler Einflüsse auf Verfassungsentwicklungen nötig. 2. WEIMARER SPUREN IN DER CHILENISCHEN VERFASSUNG 2.1 Verfassungsentwicklung und internationale Einflüsse Welche Rolle können überhaupt internationale Einflüsse bei der Verfassungsentwicklung eines Landes spielen? Ein Erwartungshorizont, der nach einer umfassenden Übernahme ausländischer Rechtstexte in eine neue Verfassung ausgeht, ist sicherlich nicht realistisch und muss enttäuscht werden. Wenn Volkssouveränität und volonté general die wesentliche Legitimationsgrundlage einer staatlichen Verfassung sind, dann kann eine Verfassungsgebung als der Ausdruck schlechthin der nationalen Selbstbestimmung gelten. Insofern dürften bei weitem die wichtigsten Einflussquellen in der Verfassungsgebung die eigenen nationalen Traditionen, geschichtlichen Erfahrungen und früheren Verfassungen sein. Für Chile steht also zu erwarten, dass zunächst die Verfassung von 1833 als Vorlage und Maßstab für die neue Verfassung von 1925 gedient habe, die ihrerseits auf die Erfahrung des Unabhängigkeitskampfs gegen die spanische Kolonialherrschaft Bezug nimmt. An nächster Stelle sind Verfassungen aber auch immer Antworten auf gegenwärtige Problemlagen. Der Beginn des 20. Jahrhunderts war auch in Chile von einer rapiden Industrialisierung (vorangetrieben vor allem durch den Abbau von Salpeter und Infrastrukturprojekte) und Urbanisierung geprägt. 1912 gründete sich der Partido Obrero Socialista. Vor dem Hintergrund einer seit den 1890er Jahren andauernden Phase politischer Instabilität suchte die Verfassung von 1925 Antworten auf ganz ähnliche Strukturprobleme wie die Weimarer Reichsverfassung sechs Jahre früher.17 Diese Suche nach Antworten auf konkrete aktuelle Probleme bildet letztlich auch den Anker für eine mögliche internationale Rezeption. Zu Beginn der chilenischen Republik bestand das größte Problem darin, staatliche Legitimität nach der Loslösung von einer europäischen Kolonialmacht zu begründen. Dementsprechend bedienten sich alle frühen südamerikanischen Verfassungen in großem Umfang bei der Verfassung der USA von 1787. Die Rezeption der US-Verfassung wurde auch durch die Unterstützung der USA für die Unabhängigkeitsbestrebungen bei den südlichen Nachbarn verstärkt. Insbesondere in der Staatsorganisation als Präsidialrepublik ist diese Orientierung offensichtlich. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts führten jedoch anders gelagerte Herausforderungen zu einer Suche nach neuen Quellen   16 Alle Zitate aus chilenischen Verfassungen und Verfassungsänderungsgesetzen folgen der von der chilenischen Regierung im Hausverlag publizierten Sammlung sämtlicher Verfassungstexte: Diario Oficial (2015): Constituciones. 17 Vgl. Vial Correa (1996): Historia.

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und besser passenden Rezepten. Und hier konnte, wie zu zeigen sein wird, die Weimarer Reichsverfassung wichtige Anregungen liefern. Freilich ergeben sich hier auch Probleme in der Argumentation, nämlich die Frage, inwiefern ähnliche Antworten auf ähnliche Probleme tatsächlich auf einer Rezeption basieren, oder gleichzeitig, aber unabhängig voneinander entstanden sind. Dieses Problem soll hier dahingehend bearbeitet werden, dass Verfassungsartikel einer gründlichen textlichen Analyse unterzogen werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Ähnlichkeiten, die bis in die Formulierungen hinein zu sehen sind, rein zufällig entstanden sind, ist deutlich geringer als wenn lediglich inhaltliche Parallelen festgestellt werden können. Bleibt schließlich noch die Frage zu klären, inwiefern die Verfassung der Weimarer Republik in Chile bekannt war. Ohne hier genaue Daten zu liefern,18 sei darauf verwiesen, dass sich seit 1848 eine Vielzahl deutscher Einwanderer in Chile niedergelassen und bis heute einen nachhaltigen Einfluss auf Gesellschaft und Kultur in Chile ausgeübt haben. Gegenwärtig geht die Deutsch-Chilenische Industrieund Handelskammer von ca. 500.000 deutschstämmigen Chilenen aus, womit diese Gruppe ca. 3% der Gesamtbevölkerung stellt und besonders in den oberen Gesellschaftsschichten stark vertreten ist.19 Man kann daher davon ausgehen, dass auch die kulturellen und persönlichen Bindungen der Deutsch-Chilenen zu ihrem Heimatland zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Rezeption der Weimarer Verfassung positiv beeinflusst haben. 2.2 Frauenwahlrecht Wie zeigt sich dieser bislang nur postulierte Einfluss? Am Beispiel des Frauenwahlrechts zeigen sich zunächst einmal die Grenzen einer internationalen Verfassungsrezeption. Gegenüber der Verfassung von 1833 wurde das Wahlrecht 1925 zwar ausgeweitet, ohne aber explizit Frauen mit einzubeziehen. Die Verfassung von 1833 behandelt das Wahlrecht in klassisch-liberaler Weise in ihren ersten Abschnitten. Dort finden sich gleich eine ganze Reihe von Voraussetzungen, die für die Ausübung des Wahlrechts notwendig erfüllt sein müssen:20   18 Im Rahmen dieser Untersuchung war es leider nicht möglich zu untersuchen, auf welchen Wegen exakt die Rezeption der Weimarer Reichsverfassung bei den chilenischen Verfassungsvätern stattgefunden hat. 19 Vgl. Dannemann (2011): Alemanes. 20 Verfassung der Republik Chile vom 25. Mai 1833: „Artículo 8°. Son ciudadanos activos con derecho a sufrajio: Los chilenos que habiendo cumplido veinticinco años, si son solteros, i veintiuno, si son casados, i sabiendo leer i escribir tengan alguno de los siguientes requisitos: 1° Una propiedad inmoble, o un capital invertido en alguna especie de jiro o industria. El valor de la propiedad inmoble, o del capital, se fijará para cada provincia de diez en diez años por una lei especial;  

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eine Altersbeschränkung von 25 für unverheiratete und 21 für verheiratete Männer; die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben; Immobilienbesitz, Kapitalinvestitionen oder ein vergleichbares regelmäßiges Einkommen aus anderen Quellen.

Die Erfüllung der Kriterien wird bei der Registrierung als Wähler überprüft, welche in Art. 9 geregelt wird. Weiter beschreibt Art. 10, in welchen Fällen man das Wahlrecht auch wieder verliert: physische oder moralische Untauglichkeit, Beschäftigung als Hausbediensteter, überfällige Steuerschuld, Verurteilung wegen einer schweren Straftat.21 Die Besitz- und Einkommensbedingungen für das Wahlrecht sowie die Unterscheidung zwischen verheirateten und unverheirateten Bürgern wurden per Reformgesetz vom 9. Aug. 1888 abgeschafft.22 Dieser Artikel wurde dann wiederum mit nur wenigen Änderung in die Verfassung von 1925 übernommen: Es wurde festgelegt, dass die Wahlen immer geheim sein müssen; einzig verbliebene Bedingungen für die Suspendierung oder den Verlust des Wahlrechts sind nun physische oder mentale (statt moralischer) Untauglichkeit, definiert als Behinderung der freien und reflektierten Arbeit sowie die Verurteilung wegen einer schweren Straftat.23 Per Reformgesetz 17.284 vom 23. Januar 1970 wurde schließlich das Wahlalter generell auf 18 Jahre gesenkt.   2° El ejercicio de una industria o arte, el goce de algún empleo, renta o usufructo, cuios emolumentos o productos guarden proporción con la propiedad inmoble, o capital de que se habla en el número anterior. 21 Verfassung der Republik Chile vom 25. Mai 1833: „Artículo 10. Se suspende la calidad de ciudadano activo con derecho de sufrajio: 1º Por ineptitud física o moral que impida obrar libre i reflexivamente; 2° Por la condición de sirviente doméstico. 3° Por la calidad de deudor al Fisco constituido en mora. 4° Por hallarse procesado como reo de delito que merezca pena aflictiva o infamante.“ 22 Neuer Art. 8 per Reformgesetz vom 9. Aug. 1888, veröffentlicht im Diario Oficial núm 3.370 „Artículo 8°. Son ciudadanos activos con derecho de sufragio los chilenos que hubieren cumplido veintiún años de edad, que sepan leer y escribir y estén inscritos en los registros electorales del departamento. Estos registros serán públicos y durarán por el tiempo que determine la ley. Las inscripciones serán continuas y no se suspenderán sino en el plazo que fije la ley de elecciones.“ 23 Verfassung der Republik Chile vom 18. Sept. 1925: „Artículo 7.- Son ciudadanos con derecho a sufrajio los chilenos que hayan cumplido veintiun años de edad, que sepan leer y escribir, y estén inscritos en los registros electorales. Estos rejistros serán públicos y valdrán por el tiempo que determine la lei. Las inscripciones serán continuas y solo se suspenderán en los plazos que la lei señale. En las elecciones populares el sufrajio será siempre secreto. Artículo 8.– Se suspende el ejercicio del derecho a sufrajio:  

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Das Wahlrecht kann folglich als Beleg dienen, wie eigene nationale Traditionen bis in die Formulierungen hinein die weiteren Entwicklungen bestimmen. Die Weimarer Reichsverfassung bestimmt in Art. 17 Satz 2 mutig und eindeutig: „Die Volksvertretung muß in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl von allen reichsdeutschen Männern und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden.“ Von diesem Mut ist in der chilenischen Verfassungsgeschichte nicht viel zu spüren. Sicher, das Wahlrecht wird kontinuierlich auf breitere Schichten ausgeweitet, die Beschränkungen werden nach und nach zurückgenommen. Aber die weitestreichende Beschränkung fällt schließlich ohne Änderung des Verfassungstextes. Ähnlich wie die deutsche Sprache (zumindest in der traditionellen Variante) verwendet die spanische den männlichen Plural, wenn eine Vielzahl von Objekten ohne Unterscheidung des Geschlechts zusammengefasst werden sollen. So wie das Wort Bürger sowohl männliche als auch weibliche Bürgerinnen und Bürger umfassen kann, gilt dies gleichermaßen für die spanischen ciudadanos. Und während es im 19. Jahrhundert noch völlig ‚selbstverständlich’ war, dass die ciudadanos nur gebildete Männer umfassen, welche die geforderten Einkommensoder Besitzqualifikationen erfüllen, konnte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts nach und nach eine Interpretation durchsetzen, welche auch Frauen umfasst. Zu keinem Zeitpunkt erschien es notwendig, Frauen in der Verfassung ausdrücklich vom Wahlrecht auszuschließen; daher war die Einführung des Frauenwahlrechts auf kommunaler Ebene 1934 und für sämtliche Wahlen 1949 auch ohne formale Verfassungsänderung per einfachem Gesetz24 möglich. 2.3 Religionsfreiheit Während also im Fall des Frauenwahlrechts in Chile ein gradueller Verfassungswandel ohne formale Verfassungsänderung zu verzeichnen ist, für die es schwierig ist, eine Beziehung zur Geschichte der Weimarer Republik herzustellen, gibt es im Bereich der Religionsfreiheit eine radikale Kehrtwende mit sehr deutlichen Referenzen zum Weimarer Verfassungsrecht. Das Besondere an der Religionsfreiheit in der Weimarer Republik ist nicht nur, dass die Bürger in der Ausübung ihrer Religion nicht beschränkt werden dürfen; der Schutz der Religionsausübung wird vielmehr ausdrücklich als Staatsaufgabe definiert. So heißt es in Art. 135: „Alle Bewohner des Reichs genießen volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die ungestörte Religionsausübung wird durch die Verfassung gewährleistet und steht unter staatlichem Schutz.“ Die chilenische Verfassung von 1833 legt unmissverständlich fest: „Die Religion der Republik Chile ist die katholische, apostolische, römische“ und verbietet   1.° Por ineptitud física o mental que impida obrar libre y reflexiblemente, y 2.° Por hallarse procesado el ciudadano como reo de delito que merezca pena aflictiva. 24 Ley 5.357 (1934) und Ley 9.292 (1949).

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die öffentliche Ausübung jeglicher anderer Konfession.25 In den nächsten 92 Jahren sollte keine der vielfältigen Reformprojekte diesen Artikel thematisieren, bis 1925 auf einmal in Artikel 10, in dem verfassungsrechtliche Garantien für die Bewohner der Republik aufgelistet werden, eine weitreichende Religionsfreiheit festgeschrieben wird: „Die Verfassung garantiert allen Bewohnern der Republik: ... Die Bekundung aller Glaubensbekenntnisse, die Freiheit des Gewissens und die freie Ausübung aller religiöser Handlungen“.26 Bemerkenswert ist hier einerseits der radikale Wandel im Verhältnis zwischen Staat und Kirche, auf dessen Ursache in diesem Rahmen nicht weiter eingegangen werden kann.27 Andererseits wird hier auch erkennbar, wie sich das chilenische Verfassungsrecht vom anglo-amerikanischen Grundrechtsverständnis abwendet und dem Weimarer Vorbild zuwendet. Die Religionsfreiheit in den USA wird im Ersten Zusatzartikel zur Verfassung, also gleich zu Beginn der Bill of Rights festgelegt mit den Worten: „Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof“. Deutlicher kann man ein Verbot staatlichen Handelns kaum formulieren. Staatliches Handeln darf weder Religion fördern (establishment) noch deren Ausübung behindern (free exercise). Dagegen spricht die Weimarer Verfassung vom staatlichen Schutz, der ein Tätigwerden staatlicher Organe verlangt, und die Chilenische Verfassung übernimmt diesen Gedanken in der Formulierung „La Constitucion asegura...“, die Verfassung schützt, stellt sicher und garantiert. 2.4 Soziale und wirtschaftliche Rechte Noch deutlicher zeigt sich Weimar als Vorbild im Bereich der sozialen und wirtschaftlichen Rechte. Wie kaum anders zu erwarten, kannte die Verfassung von 1833 keine derartigen Rechte. Vielmehr listet sie in Kapitel V (Art. 12) und Kapitel X (Art. 132ff.) die klassischen liberalen Abwehrrechte nach Vorbild der Bill of Rights der US amerikanischen Verfassung. Ganz anders dagegen die Verfassung von 1925, die sich stark bei den Themen und Formulierungen der Weimarer Reichsverfassung bedient. Die folgende Tabelle zeigt zunächst einmal eine Gegenüberstellung der relevanten Artikel der beiden Verfassungen:

  25 Verfassung der Republik Chile vom 25. Mai 1833: „Artículo 5°. La relijión de la República de Chile es la Católica, Apostólica, Romana; con exclusión del ejercicio público de cualquiera otra.“ 26 Artículo 10. La Constitucion asegura a todos los habitantes de la República: 2.° La manifestacion de todas las creencias, la libertad de conciencia y el ejercicio libre de todos los cultos que no se opongan a la moral, a las buenas costumbres o al órden público, pudiendo, por tanto, las respectivas confesiones relijiosas erijir y conservar templos y sus dependencias con las condiciones de seguridad e hijiene jadas por las leyes y ordenanzas.“ 27 Dazu ausführlich Smith (1982): Church.

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Weimarer Reichsverfassung Art 151: Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen. Art 155: [...] jedem Deutschen eine gesunde Wohnung und allen deutschen Familien ... eine ihren Bedürfnissen entsprechende Wohn- und Wirtschaftsheimstätte zu sichern. Art 161: Zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, zum Schutz der Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfällen des Lebens schafft das Reich ein umfassendes Versicherungswesen.

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Constitución de 1925 Art 10 (14): La Constitucion asegura a todos los habitantes de la República: La proteccion al trabajo, a la industria, y a las obras de prevision social, especialmente en cuanto se refieren a la habitacion sana y a las condiciones económicas de la vida, en forma de proporcionar a cada habitante un mínimo de bienestar, adecuado a la satisfaccion de sus necesidades personales y a las de su familia.

Die sozialen und wirtschaftlichen Rechte werden im selben Artikel definiert, in dem auch schon die Religionsfreiheit zu finden war. Insofern gelten hier die gleichen Beobachtungen zum zugrundeliegenden Verständnis, nämlich dass es sich um eine staatliche Aufgabe handelt und eben gerade nicht um ein Verbot bestimmter staatlichen Tätigkeiten. Die Parallelen sind jedoch noch deutlicher als bei der Ausgestaltung der Religionsfreiheit. Beide Verfassungen nennen etwa ausdrücklich „eine gesunde Wohnung“ („habitacion sana“) als ein Grundrecht. Beide beziehen sich darauf, dass sich soziale Standards an den Bedürfnissen der Bürger und deren Familien orientieren müssen („adecuado a la satisfaccion de sus necesidades personales y a las de su familia“). Beide Verfassungen führen „ein umfassendes Versicherungswesen“ („prevision social“) ein, wobei die chilenische Verfassung freilich nicht so spezifisch einzelne Ziele auflistet, dafür aber umfassend von den „condiciones económicas de la vida“, also den wirtschaftlichen Lebensumständen spricht. In späteren Revisionen der Verfassung von 1925 zeigt sich, dass der chilenische Verfassungsgeber konsequent weiter an der Normierung sozialer und wirtschaftlicher Grundrechte arbeitete. Am 9. Januar 1971 wurde unter dem kurz davor gewählten Präsidenten Salvador Allende Art. 10 (14) wie folgt neu gefasst: La Constitucion asegura a todos los habitantes de la República: [...] La libertad de trabajo y su protección. Toda persona tiene derecho al trabajo, a la libre elección de éste, a una remuneración suficiente que asegure a ella y su familia un bienestar acorde con la dignidad humana y a una justa participación en los beneficios que de su actividad provengan.

Mit dem Recht auf Arbeit („derecho al trabajo“), dem Recht auf eine Bezahlung, die ein menschenwürdiges Dasein ermöglicht („una remuneración suficiente que

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asegure ... un bienestar acorde con la dignidad humana“) und dem Recht auf eine gerechte Teilhabe an dem Ertrag der eigenen Arbeit („una justa participación en los beneficios que de su actividad provengan“) schritt die Volksfront in Chile mutig voran in der Normierung sozialer und wirtschaftlicher Rechte – selbst wenn deren Verwirklichung in der Realität oft den Normen hinterherhinkte. Sicherlich war die Reform von 1971 nicht mehr direkt von der Weimarer Reichsverfassung inspiriert. Dazu war der zeitliche Abstand zu groß. Sie blieb aber der grundlegenden Richtungsentscheidung der Verfassungsväter von 1925 treu. Es steht zu vermuten, dass neuere Rechtsquellen für die Weiterentwicklung Pate standen, insbesondere der Internationale Pakt über Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte von 1966. Aber auch hier sollte nicht übersehen werden, dass eine klare Wirkungslinie identifiziert werden kann von der Weimarer Verfassung über die sozialen Rechte in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum Sozialpakt.28 3. CHILE IN DER GEGENWART Mit dem Militärputsch von 1973 erlag die Verfassung von 1925 in Chile letztlich einem ähnlichen Schicksal wie die Weimarer Reichsverfassung. Aber auch damit sind die deutsch-chilenischen Parallelen noch nicht an ihrem Ende angelangt. Während die Militärjunta zunächst die Verfassung außer Kraft setzte – die chilenische Verfassungsgeschichte bezeichnet diese Periode mit dem Begriff „quiebre constitucional“,29 was in etwa mit Verfassungsbruch übersetzt werden kann –, zeigte sich gegen Ende der 1970er Jahre die Notwendigkeit, die Konsolidierung der Militärdiktatur mittels einer neuen Verfassung zu untermauern. Der hauptsächliche intellektuelle Urheber der autoritären Verfassung, die 1980 in einem stark gelenkten Plebiszit ratifiziert wurde und 1981 in Kraft trat, war Jaime Guzmán Errázuriz, enger juristischer und politischer Berater von General Augusto Pinochet. In der Ausarbeitung der Verfassung ließ Guzmán sich von den Ideen Carl Schmitts zur pouvoir constituant und zum Ausnahmezustand inspirieren. Mit Schmitt rechtfertigte Guzmán nicht nur die Gewalt und die Menschenrechtsverbrechen der Diktatur, sondern begründete auch den autoritären Staat.30 Guzmán könnte man mit Fug und Recht als Kronjuristen der Militärjunta bezeichnen, weil er unter Pinochet den Einfluss erlangen konnte, den Carl Schmitt unter den Nationalsozialisten ohne anhaltenden Erfolg angestrebt hat. Die Guzmán-Verfassung blieb nach dem Ende der Militärdiktatur in Kraft, wenn auch mittels Reformgesetzen mehrfach verändert und demokratisiert. Da dies zumindest in Teilen der politischen Klasse als ein Geburtsfehler der Demokratie angesehen wurde, hatte sich die Regierung des linken Sammelbündnisses Nueva Mayoría in der zweiten Amtszeit von Präsidentin Michele Bachelet (2014–2018)   28 Eichenhofer (2018): Sozialrecht. 29 Diario Oficial (2015): Constituciones, S. 325. 30 Vgl. Cristi (2011): Guzmán.

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das Projekt einer neuen Verfassung zur Aufgabe gemacht. Dazu heißt es zum Beispiel in der unabhängigen linken Web-Zeitschrift Red Seca: Niemals zuvor in unserer Geschichte hat Chile eine Verfassung gehabt, die in demokratischen Zeiten entstand. Die Verfassungen, die am längsten unsere politischen Institutionen geprägt und unsere Republik geordnet haben (1833, 1925 und 1980) erwuchsen aus autoritären Kontexten und erfüllen keinesfalls die Anforderungen einer demokratischen Partizipation, die für die Legitimität einer Grundordnung wünschenswert sind. Nie hat das chilenische Volk entschieden. Oder theoretisch formuliert, keine Verfassung war Ausdruck der verfassungsgebenden Gewalt des chilenischen Volkes.31

Konsequent weitergedacht, baute der Verfassungsgebungsprozess dann auch in bemerkenswerter Weise auf Bürgerbeteiligung. Gleich zwei Internetportale luden die Bürger dazu ein, Grundprinzipien der neuen Verfassung online zu erkunden und zu diskutieren.32 Dort wurden sie auch angeregt, in der realen Welt Diskussionsrunden zu organisieren und die Ergebnisse in den Entscheidungsprozess einfließen zu lassen. Die Webseiten sind nach wie vor online. Die im März 2018 auf Bachelet folgende konservative Regierung unter Sebastián Piñera hatte zwar von Beginn ihrer Amtszeit an deutlich gemacht, dass sie dieses Projekt nicht weiterverfolgen wolle, wurde aber im Zuge der Massenproteste und sozialen Unruhen vom Oktober 2019 zu einer Kehrtwende gezwungen.33 Der basisdemokratische Ansatz, der unter Bachelet begann, wird konsequent weitergeführt. Seit November 2019 bilden sich lokale Räte, in denen Verfassungsprinzipien diskutiert werden. Für April 2020 ist ein Referendum vorgesehen, in dem über den formalen Rahmen der verfassungsgebenden Versammlung abgestimmt wird. Im Oktober 2020 sollen dann deren Mitglieder gewählt werden. Es bleibt abzuwarten, wie sich dieses Projekt weiterentwickelt. Was in der Debatte aber wenig zu finden ist, sind Verweise auf die Verfassungsgeschichte vor der Militärdiktatur. Einen der wenigen Denkanstöße in dieser Richtung lieferte eine Gruppe chilenischer Historiker und Philosophen.34 In einem Interview machten die Autoren allerdings auch deutlich, dass es ihnen nicht um einen Rückgriff auf konkrete Normen der vorherigen Verfassung ging, sondern dass sie vielmehr durch die symbolische Berufung auf die republikanische Tradition, verkörpert in der Verfassung von 1925, eine Legitimität konstruieren möchten, die

  31 Chia (2015): Nueva Constitución: „Si revisamos nuestra historia, Chile nunca ha tenido una Constitución nacida en tiempos de democracia. Las Constituciones que por más tiempo han estatuido nuestra institucionalidad política y ordenado nuestra república (Constituciones de 1833, 1925 y 1980), han emergido en contextos autoritarios e incumpliendo las exigencias de participación democrática que son deseables para la legitimidad de la creación de una Carta Fundamental. En ninguna de ellas el pueblo chileno ha decidido. Siendo más estrictos en términos teóricos, ninguna de ellas ha sido obra del ejercicio del poder constituyente del pueblo chileno.“ 32 https://www.unaconstitucionparachile.cl, http://www.tuconstitucion.cl/. (20.11.2019) 33 Vgl. exemplarisch Millaleo / Galdames (2019), Constitución democratica. 34 Fontaine et al (2018), Continuidad republicana.

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in der aktuellen politischen Lage sonst nur schwer zu erreichen sei.35 Ähnlich wie in der (alten) Bundesrepublik scheint man auch in Chile der Meinung zu sein, man könne nicht viel lernen von einer Verfassung, die in der Diktatur endete – selbst wenn diese Verfassung davor nicht nur 14 Jahre wie in Weimar, sondern ganze 48 Jahre in Kraft war. Man mag diese ahistorische Herangehensweise bedauern; sie könnte aber auch eine Chance bieten, im Nachgang des Jubiläums der Weimarer Verfassung und in Vorbereitung auf das bald anstehende Jubiläum der chilenischen Verfassung eine gemeinsame Erinnerung an zwei zu Unrecht vergessene oder schlecht beurteilte Verfassungen und deren Beziehungen miteinander neu zu beleben. Auf alle Fälle zeigt die Spurensuche in der chilenischen Verfassungsgeschichte, dass der internationale Kontext der Weimarer Republik auch im Hinblick auf die Ausstrahlungskraft dieses Experiments untersucht werden muss. Wenn darüber erkannt wird, wie attraktiv die Weimarer Reichsverfassung in ihrer Zeit in ganz unterschiedlichen Kontexten gewesen ist, kann das auch zu einer neuen Wertschätzung dieser Phase der deutschen Geschichte in Deutschland beitragen. LITERATUR Bonavides, Paulo: Der brasilianische Sozialstaat und die Verfassungen von Weimar und Bonn. In: Stern, Klaus (Hrsg.): 40 Jahre Grundgesetz. Entstehung, Bewährung und internationale Ausstrahlung. München 1990. Breuer, Stefan: Anatomie der Konservativen Revolution. Darmstadt 1993. Bruendel, Steffen: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die ‚Ideen von 1914’ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin 2003. Chia, Eduardo: ¿Por qué una nueva Constitución? (I) Antecedentes. In: Red Seca – Revista de Actualidad Política, Social y Cultural, 10. Aug. 2015, http://www.redseca.cl/por-que-unanueva-constitucion-i-antecedentes/ (20.11.2019) Diario Oficial (Hrsg.): Constituciones políticas de la República de Chile 1810–2015. 2. Aufl., Santiago de Chile 2015. Cristi, Renato: El pensamiento político de Jaime Guzmán. Una biografía intelectual, 2. Aufl., Santiago de Chile 2011. Dannemann, Victoria: Alemanes en Chile. Entre el pasado colono y el presente empresarial. In: Deutsche Welle, 31.03.2011, http://www.dw.com/es/alemanes-en-chile-entre-el-pasado-colono-y-el-presente-empresarial/a-14958983-1. Doering-Manteuffel, Anselm: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert. Göttingen 1999. Eichenhofer, Eberhard: 100 Jahre Weimarer Republik und das Arbeits- und Sozialrecht. In: Die Sozialgerichtsbarkeit 65 (2018) 11, 664–674. Flasch, Kurt: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Berlin 2000.

  35 Nueva Constitución, pero a partir de la de 1925, Interview von Juan Pablo Cárdenas mit Arturo Fontaine und Hugo Herrera, diarioUChile, https://radio.uchile.cl/2018/05/18/nuevaconstitucion-pero-a-partir-de-la-de-1925/ (20.11.2019)

Die Weimarer Reichsverfassung in der chilenischen Verfassungsgeschichte

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ANTI-LIBERALE ORDNUNGSENTWÜRFE

DIE KOMINTERN UND DIE WEIMARER REPUBLIK (1919–1933) Neue Weltordnungskonzepte und ihre Transformation1 Bernhard H. Bayerlein In der Weltneuordnungsphase nach dem Ersten Weltkrieg stellte die Dritte, Kommunistische Internationale („Komintern”) zunächst als zeitgenössische Institutionalisierung des revolutionären Internationalismus der Arbeiterbewegung eine konkrete und zeitgemäße Option für die maßgeblich von Russland und Deutschland beförderte Globalisierung der Oktoberrevolution dar, die die europäische und Weltrevolution voranbringen sollte.2 Nach den Konferenzen von Zimmerwald und Kiental (1915) setzte sie so die Tradition der Antikriegsopposition im Völkergemetzel des Krieges fort. Unter dem Impetus der Oktoberrevolution seit 1917 verkörperte sie die zeitgemäße radikale Form des sozialistischen Internationalismus in der Nachfolge der Ersten und Zweiten Internationale. Als institutionelle Vorreiter und einziges globales Gegenmodell zu den auf der Persistenz des kapitalistischen Wirtschaftssystems beruhenden liberalen Ordnungsentwürfen verkörperten die Arbeiterinternationalen den Übergang des revolutionären Machtanspruchs auf die Arbeiterbewegung, den sie nach der französischen und atlantischen Revolution von der Bourgeoisie übernommen zu haben glaubte, die die Menschheit in den Krieg geführt hatte.3 Das Verhältnis der Komintern zur Weimarer Republik kann nur als Ausdruck ihrer intermediären Position in einem transnationalen Wirkungsdreieck mit der Sowjetunion und den kommunistischen Parteien entschlüsselt werden. Dieses Kräfte- und Wirkungsverhältnis bestimmte in unterschiedlichen Ausformungen auch inhaltlich und thematisch die Weltneuordnungsvorstellungen und -modelle der Komintern, die trotz der relativen kurzen Periode von 1919–1943 einem fundamentalen Transformationsprozess unterworfen waren, von internationalistischen, kosmopolitisch-universalhistorischen Weltordnungsmodellen zu größtenteils „visionären“ nationalen, neoimperialen, hegemonialen (und schließlich terroristischen)   1 2 3

Gängige russische Eigennamen wie Trotzki, Sinowjew und Tschitscherin werden in der „deutschen“ Schreibweise ausgeführt, alle übrigen russischen Namen und Literaturhinweise in der wissenschaftlichen Transkription. Die material- und kenntnisreichste Geschichte der Kommunistischen Internationale liegt bisher nur auf französisch und portugiesisch vor. Siehe: Broué (1997): Histoire de l'Internationale Communiste. Nation (1989): War on War, XVIII; S. 313

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Orientierungsmodellen kommunistischer Politik.4 Die sich aus dem Kräftedreieck ergebende Wirkungsweise liefert insofern die Basis für eine neue, transnationale Phase der Kommunismusforschung, die empirisch die konkreten Interventionen der sowjetischen Politik gegenüber und in der Komintern wie auch die ständig aufflammenden Konflikte zwischen den Ebenen berücksichtigt und dabei die Phasen und Momente des Zusammengehens oder der Brüche und des gegenseitigen Unverständnisses, insbesondere zwischen deutschen und sowjetischen Kommunisten beleuchtet. Für die Neukonzeptualisierung der transnationalen Kommunismusgeschichte ist das Verhältnis von deutschem und russischem bzw. sowjetischem Kommunismus bzw. Stalinismus maßgeblich. 1. KOMINTERN UND WEIMARER REPUBLIK Die Artikulationsweisen im Verhältnis dieses dreifachen Netzwerks zur Weimarer Republik weisen von Beginn an einige Merkwürdigkeiten und Ambivalenzen auf. Was die Dynamik des Prozesses anging, wird anhand neuer, seit der Archivöffnung publizierter oder bekanntgewordener Dokumente deutlich, dass das Netzwerk maßgeblich und jeweils in unterschiedlicher Weise zur Zerstörung der Republik beitrug. Das hier beschriebene Modell konkretisiert und ergänzt bisherige Forschungsansätze. Es modifiziert die stärker nationalkommunistisch unterlegte Stalinisierungsthese bei Hermann Weber und bringt stärker den transnationalen und internationalen, systemischen Charakter des Stalinismus ein. Die hier gelieferten Analyseergebnisse stützen sich empirisch auf eine dreibändige Edition, die das Verhältnis von KPD, Komintern und KP der Sowjetunion vor dem Hintergrund der deutschen und internationalen Geschichte für den Zeitraum 1918–1943 empirisch und systematisch auf der Grundlage neuer Archivdokumente beleuchtet.5 Sie unterstreicht die nationale Wendung der kommunistischen Parteien und der strategisch auf ein enges, nationalpopulistisch untermauertes, letztlich neoimperiales Bündnis mit dem NS-Regime ausgerichteten Vision Stalins, der insofern das Schicksal der deutschen Kommunisten der Realisierung dieser Strategie opferte.6 Vor dem Hintergrund der deutsch-russischen Beziehungen und des globalen politischen Wandels der 1920er und 1930er Jahre lassen sich in der Chronologie grosso modo vier Transformationsphasen erkennen, die im Ergebnis zu einer grundsätzlichen Umkehrung des internationalistischen Weltordnungsmodells führten. – Phase 1: Die aus kommunistischer Perspektive steckengebliebene Novemberrevolution und die gescheiterten Aufstandsversuche der Jahre 1920 und 1921   4 5 6

Hierzu methodisch: Osterhammel (2012): Weltordnungskonzepte, S. 421. Weber et al. (Hrsg.) (2014): Deutschland, Russland, Komintern. I.; Weber et al. (Hrsg.) (2014): Deutschland, Russland, Komintern. II. Siehe meinen Aufsatz: Bayerlein (2017): The Entangled Catastrophe, S. 260–280. Während der gemeinsamen editorischen Arbeit gab mir Hermann Weber häufiger zu verstehen, dass er mit dieser These nicht einverstanden sei. Vgl. auch Webers letzten zusammenfassenden Beitrag zur KPD-Geschichte: Weber (2014): Zum Verhältnis von Komintern, S. 9–139.

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und der Kampf für eine deutsche Räterepublik als Grundpfeiler einer europäischen und Welträterepublik. Phase 2: Die Entwicklung privilegierter diplomatischer Beziehungen der Sowjetunion zum Deutschen Reich („Rapallo-Politik“) und zugleich die Forcierung des Aufstands der deutschen Arbeiter im „Deutschen Oktober“ in den Jahren 1921–1923. Phase 3: Die relative Stabilisierung der Republik in den Jahren 1924–1928, die Stalinisierung der KPD und die Übernahme der neuen sowjetischen, StalinBucharinschen Ordnungsvorstellungen des „Sozialismus in einem Lande“ seitens der Komintern und der kommunistischen Parteien. Phase 4: Die Entwicklung divergierender Ordnungsvorstellungen in der Phase von Weltwirtschaftskrise, die Offensive und Radikalisierung seitens der KPD einerseits und die guten Beziehungen der Sowjetunion zum Deutschen Reich und den nationalen Kreisen sowie die konziliante Position der Sowjetunion gegenüber dem Wachstum von Nationalismus und Nationalsozialismus in Deutschland andererseits. Der Kampf gegen die Sozialdemokratie und die Parteien der Weimarer Koalition unter dem Signum des „Sozialfaschismus“, der Abschluss der Stalinisierung der kommunistischen Parteien und die Institutionalisierung des Stalinismus in der Sowjetunion. Phase 5: Die (weitgehend) kampflose Niederlage der KPD gegenüber dem Machtantritt der Regierung Hitler, die repressive Zerstörung der KPD, ihr fortgesetzter Kampf gegen Sozialdemokratie, Trotzkismus und die nichtkommunistische Linke, und die neutrale bis verständnisvolle Haltung der Sowjetunion gegenüber dem NS-Regime sowie die Passivität gegenüber der Unterdrückung der deutschen Kommunisten. 2. WELTREVOLUTION, WELTORDNUNGSVORSTELLUNGEN UND TRANSITORISCHE KONZEPTE

Im Rahmen der Etablierung einer neuen Völkerrechts- und Weltwirtschaftsordnung nach 1918 war die Kommunistische Internationale der „most ambitious attempt to create a world organization since the expansion of the Roman Catholic Church“.7 Sie verstand sich als Antipode der neuen Weltordnung des Völkerbunds und des unter seiner Ägide errichteten Versailler Systems. Ihre globalen und strategischen, antiliberal auf den Sturz der kapitalistischen Ordnung orientierten Weltordnungsentwürfe sind nur im Rahmen ihres Selbstverständnisses als Träger und bewusster Ausdruck eines permanenten universellen Revolutionsprozesses zu verstehen. Reinhart Koselleck erkannte in den Revolutionsvorstellungen eine „historisch-philosophische Kategorie“, die seit Proudhon und Marx das Bewusstsein der Arbeiterbewegung und ihrer Zukunftserwartungen sensibilisiert habe. Die moderne Ge  7

Hyslop (2018): German Seafarers.

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schichte in ihrer Gesamtheit verortet er als eine Ära der „permanenten universellen Revolution“, als „eine Ära der Revolution“, „die noch nicht zu Ende ist“.8 Bereits die atlantischen Revolutionen beinhalteten zwar das Konzept einer universellen und permanenten Revolution, „seit der Schaffung der verschiedenen Internationalen“ jedoch sei, wie es bei Koselleck weiter heißt, „der Begriff der universellen Revolution Teil der Programme der unmittelbaren politischen Aktion“ geworden. 9 Im Zuge der neuen Versailler „Friedensordnung“ grundsätzlich gegen die Gründung neuer Nationalstaaten im Rahmen der “Balkanisierung” Europas gerichtet, zielte man auf eine Weltneuordnung der revolutionären ”Weltföderation der Sozialistischen Räterepubliken“. Dazu wurden unterschiedliche räumliche föderative Übergangskonzepte entwickelt, neben der Errichtung der Diktatur des Proletariats in den Kernländern zuvörderst das Konzept der “Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas”. Die Systemfrage zum globalen politischen Wandel war nicht Demokratie oder Diktatur, sondern Kapitalismus oder Sozialismus, mithin die Überwindung der Barbarei, in die das bürgerliche System, der Nationalismus und der Imperialismus im Ersten Weltkrieg in die Weltkatastrophe geführt hatten. In der globalen revolutionären Nachkriegskrise 1918–1921 ging man von der imminenten Revolution zumindest in Zentraleuropa aus, als nach Russland auch in Ungarn und Deutschland (Bayern) Sowjetrepubliken proklamiert wurden, während man in der großen Peripherie aus der Tradition des Oktober die antikoloniale und antiimperialistische Befreiung ableitete. Tatsächlich stiegen trotz des „Wilsonschen Moments“ und dem Völkerbund als neuem liberalem Ordnungsentwurf Lenin, die Bolschewiki und die Komintern zu Vorreitern und Meinungsführern des „antikolonialen Nationalismus“ und der nationalen Befreiung der Völker auf.10 Die seit dem „Kongress der Völker des Ostens“ in Baku (1920) proklamierte Perspektive der antikolonialen nationalen Befreiung beruhte im Verbund mit der „Affirmative Action Empire“-Strategie der Bolschewiki in Sowjetrussland anfänglich durchaus auf kosmopolitischer und universalhistorischer Grundlage auf der Annahme einer weitgehenden Interessensidentität der nationalen Minderheiten mit den Völkern der neuen nationalen Sowjetrepubliken und der östlichen und südlichen Peripherie der Sowjetunion und schließlich den unterdrückten Völkern auf dem Planeten ausgingen.11 Insofern waren „Wahrnehmung und Repräsentation“ der Normen und Weltordnungskonzepte der kommunistischen Bewegung nicht eurozentrisch fundiert, in den ersten vier bis fünf Jahren der Komintern nicht wegen ihrer revolutionären universalhistorischen Mission, in den Jahrzehnten des Stalinismus nicht wegen des europafeindlichen Ordnungsmodells.12 Genauso wenig kann das in den Versailler Verträgen und den Pariser Vorortverträgen und der weiteren „europäischen, orientalischen und kolonialen Vereinbarungen 1922 durch eine ‚Washingtoner Ordnung‘   8 9 10 11 12

Koselleck (2006): Futuro passado, S. 62f. Ebd. Manela (2007): The Wilsonian Moment, S. 7f. Martin (2001): The Affirmative Action Empire. Achcar (2013): Marxism, Orientalism, Cosmopolitanism.

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für Ostasien und den Pazifik ergänzte“ Weltordnungskonzept allein eurozentrisch genannt werden.13 In der revolutionären Anfangszeit ergänzten die folgenden, stärker vermittelnden und auf staatliche und räumliche Bedingungen abgestellten Übergangsformen als Zwischenstufen zur „Internationalen Sowjetrepublik“ (Lenin) die übergreifenden Weltordnungsvorstellungen:14 – Das Konzept eines vereinten (sozialistischen) Europas, bzw. der vereinten (sozialistischen) Staaten Europas. – Die Vision eines weltweiten antiimperialistischen und antikolonialistischen Befreiungskampfes der unterdrückten Völker. – Regionale, ansatzweise organisatorisch in den eigenen Strukturen umgesetzte föderative Ansätze, wie die Kommunistische Balkanföderation und die Skandinavischen Kommunistische Föderation. Allein, der Komintern gelang es trotz mehrerer Versuche fast zehn Jahre lang nicht, die Zielvorstellungen in ein Programm zu gießen. Gerade auf die kommunistischen Parteien wirkte sich dies negativ aus und verhinderte „einen einheitlichen Kurs und eine einheitliche Sprache in der Partei durchzusetzen“. Das Scheitern der ersten Jahre in der Programmfrage war ein Warnzeichen für die Zukunft und erleichterte später den Einbruch einer rückwärtigen Entwicklung im Sinne der „Verabsolutierung des russischen Weges“.15 Denn in der Folge führten die Niederlagen in den Zentren nicht nur zur Beendigung der revolutionären Nachkriegskrise 1918/1923 in Europa mit dem Höhepunkt der Absage des „Deutschen Oktober” im November 1923. Nachdem der Zyklus der Niederlagen auch Asien und die große Peripherie insgesamt erfasst hatte, setzte sich ein Prozess der De-Internationalisierung und Sowjetisierung des internationalen Kommunismus durch, der parallel zur anfänglich erfolgreichen faschistischen Expansion als rückschrittlicher Bewegung und dem Einbruch der Sozialbarbarei auch von einer De-Internationalisierung des Kapitals begleitet wurde und im Herrschaftssystem des Stalinismus der dreißiger Jahre seine institutionelle Form fand.16 So gehört es zu den zentralen Erkenntnissen der „Archivrevolution“, dass zunächst, während der ersten beiden Phasen die revolutionären Konzepte, Strategien und Taktiken und die Performanz des Gesamtnetzwerks offensiver, internationaler, radikaler waren, als dies bisher vermutet und beschrieben wurde. Im Umkehrschluss kann für die beiden letzten Phasen eine viel stärkere bürokratische, russozentrische, nationale und gegen revolutionäre Veränderungen ausgerichtete Entwicklung angenommen werden, als dies ebenfalls bisher vermutet wurde.   13 Hierzu: Osterhammel (2012): Weltordnungskonzepte, S. 427. 14 Lenin: Werke, Bd. 29, S. 228f., 72, 484, zit. in: Weber/Drabkin/Bayerlein: Deutschland, Russland, Komintern, Bd. 1, S. 28. In der Leninausgabe „Über die Kommunistische Internationale“ (Lenin 1969) fehlen zahlreiche Texte zu den Weltordnungsvorstellungen. 15 Mallmann (1996): Kommunisten. S. 80f. 16 Zur rückwärtigen Bewegung siehe: Weber (1995): „Dinge der Zeit“.; Zur De-Internationalisierung des Kapitalismus siehe: Panitch/ Gindin (2003): Global Capitalism, S. 1–42.

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Phase 1: Die steckengebliebene Novemberrevolution und die gescheiterten Aufstandsversuche der Jahre 1920 und 1921 und der Kampf für eine deutsche Räterepublik als Grundpfeiler einer europäischen und Welträterepublik. Für die Anfänge der Weimarer Republik ist die bedingungslose Verknüpfung der Zukunft Sowjetrusslands mit der Revolutionierung Deutschlands festzuhalten. In der Selbstperzeption verknüpften Lenin und die internationalistischen Bolschewiki ihr persönliches Schicksal mit der deutschen Revolution.17 In dieser Phase sticht vor allem die Schwäche der deutschen Kommunisten hervor, die seit der steckengebliebenen Novemberrevolution für eklatante Niederlagen mitverantwortlich war. Die reichlich undifferenzierten, geheimen Moskauer Versuche zur Gewinnung der deutschen Linken, die sie mit finanziellen Zuwendungen geradezu zu überschwemmen suchte, lassen sich hieraus erklären. Der finanzielle Einsatz Moskaus brachte jedoch nichts ein, die frühe Gewöhnung an die Geldmittel aus Moskau zersetzte die KPD (und andere Kominternsektionen).18 Im Rahmen der aus Sicht der KPD zuvörderst der SPD geschuldeten Blockierung der Novemberrevolution und der nachfolgenden radikalen sozialen Bewegungen bedeutete die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts im Januar 1919 eine schwere Hypothek, nicht nur für die organisatorisch und ideologisch ungefestigte KPD und die deutsche, sondern auch für die internationale Arbeiterbewegung. Selbst der 1920 durch den größten Generalstreik in der Geschichte Weimars niedergeschlagene Kapp-Putsch als Höhepunkt der politischen und sozialen Bewegungen der Republik war für die zögerliche KPD, die seine Bedeutung zu spät erkannte, eine verpasste Gelegenheit.19 So kam es, dass Kominternpräsident Sinowjew die „russische Komintern“ nicht mehr als Provisorium ansah und der Beschluss, Berlin zum Hauptsitz der Komintern zu machen, ad acta gelegt wurde.20 Desaströs war im Jahr darauf (1921) das Scheitern des maßgeblich von Béla Kun und der nach Deutschland entsandten Komintern-Delegation eigenmächtig durchgedrückten Aufstands der „Märzaktion“ in Mitteldeutschland im Namen der „Offensivtheorie“. Clara Zetkin und Paul Levi   17 In der offiziösen, eher diplomatischen DDR-Übersetzung der Lenin-Briefe kommt dies kaum zum Ausdruck. In der DDR wurde auch der revolutionäre Ansatz des „Deutschen Oktober“ zum Opfer der Parteigeschichtsschreibung. Auch allgemein wurde in der Historiographie der Akzent bisher stärker in umgekehrter Richtung, auf die Fixierung (und Abhängigkeit) des jungen deutschen Kommunismus auf die Sowjetunion gesetzt. 18 Siehe bspw. Notiz von Jan Berzin an Grigori Sinowjew. In: Weber et al. (2014): Deutschland, Russland, Komintern, Bd. 2, S. 91–97. Im August 1921 schrieben Sinowjew und Karl Radek an das russische Politbüro: „Wir haben die Anweisung gegeben, von den Fonds, die uns noch nach dem II. Kongress [der Komintern] vom ZK assigniert wurden (und von uns entgegen aller Märchen nach wie vor zusammengehalten werden), 75 Millionen Mark auszuzahlen. Das Geld wird dringend gebraucht, sonst wird die Parteiarbeit stagnieren. Litvinov jedoch, ohne jegliches Recht dazu zu haben, schreibt an seinen Agenten in Reval:140 Ich (Litvinov) denke, dass man soviel nicht geben sollte (Ibid., S. 191). 19 Koch-Baumgarten (1986): Aufstand der Avantgarde, S. 379. 20 Allerdings blieb – bis heute vielfach unbeachtet – Deutsch erste Kominternsprache, die linguistische Russifizierung erfolgte erst später.

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sprachen von einem „Verbrechen der Zentrale“, das als imaginierter und isolierter Putsch zur Besetzung wichtiger Industriebetriebe durch die Polizei führte. Den „Moskovitern“ in der Komintern schwebte (allerdings gegen Lenins ausdrückliche Instruktionen) vor, durch die Beschleunigung revolutionärer Aktionen im Namen der Rettung der Sowjetunion das Trauma vom Januar 1919 überwinden und nach dem Kronstädter Aufstand, dem Zusammenbruch des Kriegskommunismus und dem Übergang zur NEP in Sowjetrussland, in Deutschland eine Art revolutionäre Prophylaxe für die Rettung des Sozialismus schaffen zu können.21 Die folgende krachende Niederlage führte u.a. zum Parteiausschluss Paul Levis, des qualifiziertesten und anerkanntesten Parteiführers in der Tradition Rosa Luxemburgs. Phase 2: Die Entwicklung privilegierter diplomatischer Beziehungen der Sowjetunion zum Deutschen Reich (Rapallo-Politik) und zugleich die Forcierung des Aufstands der deutschen Arbeiter im „Deutschen Oktober“ in den Jahren 1921– 1923. In den Beziehungen zum Deutschen Reich setzten die Bolschewiki auf eine Doppelstrategie. Die zweite Phase im Beziehungsdreieck Komintern-KPD-Sowjetunion in den Jahren 1922/1923 stand unter dem Zeichen der Doppeldeutigkeit einer diplomatischen Annäherung zwischen Sowjetrussland und dem Deutschen Reich im Rahmen der „Rapallo“-Politik und der Forcierung einer revolutionären Entwicklung, die in den „Deutschen Oktober“ im Herbst 1923 mündete. Auf dem Höhepunkt von Hyperinflation und der politisch-institutionellen Krise der Weimarer Republik wurde die deutsche Revolution als vermeintlich entscheidender Schub vorbereitet, um die nachholende Entwicklung der Sowjetunion zu unterstützen. Es ging nicht mehr um ein abstraktes Modell globaler Räteherrschaft, sondern um die operative Realisierung einer doppelten nationalen Befreiung, der Deutschlands vom Versailler System und der kapitalistischen Krise sowie der der jungen Sowjetunion aus der feindseligen Isolation und der Existenzkrise des Arbeiterstaates. In beiden Fällen drohten zusätzlich nationalistische Putschgefahren, rechte Gefahren in Deutschland (ein vor allem in Bayern vorbereiteter „Marsch auf Berlin“, von dem allerdings nur der Münchner Hitler-Ludendorff-Putsch übrigblieb), in der Sowjetunion durch die Isolierung des todkranken Lenin forcierte schleichende Machtübernahme der von Stalin repräsentierten Nationalkommunisten und „sozialistischen Kolonisatoren“.22 Schließlich markierte das sang- und klanglose Scheitern des „Deutschen Oktober“ im November 1923 jedoch den Abschluss der revolutionären Nachkriegskrise. Parallel zur Revolutionierung der Verhältnisse gehörte der Aufbau guter zwischenstaatlicher Beziehungen zu den wichtigsten Zielen im gemeinsamen Kampf gegen das Versailler System. Das Scheitern der kommunistischen Revolutionspläne   21 Weber (2014), Zum Verhältnis von Komintern, S. 55. 22 Der Begriff stammt von Georgij Safarov und wurde von Lenin übernommen.

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markierte schließlich den Abschluss der revolutionären Nachkriegskrise in ganz Europa. Durch den Vertrag von Rapallo kam 1922 eine deutsch-russische Magistrale zustande, die sich bis auf geheime Ebenen der Zusammenarbeit erstreckte, wie bspw. die geheime militärische Kooperation zur Umgehung der Versailler Bestimmungen. Auch die Wiederaufnahme der nach dem Mord an Mirbach (Juli 1918) unterbrochenen diplomatischen Beziehungen erfolgte im Rahmen des Vertrags während der Konferenz von Genua im April 1922. Als internationale Neupositionierung der beiden Staaten entstand so unter widersprüchlichen Vorzeichen eine deutsch-russische Achse. So sicherte Außenminister Rathenau dem Revolutionär Karl Radek 1922 zu, dass er – „keine antirussische Politik führe“, sondern im Gegenteil, „dass er, wie jeder, der etwas von den Perspektiven deutscher Politik verstehe, in Verbindung mit Rußland die Rettung Deutschlands sehe.“23 Angesichts der Dialektik der besonderen Beziehungen, die von Seiten Russlands allerdings unter dem Primat der deutschen Revolution stand, müsse man nun, wie der zeitweise genesende Lenin Ende August 1922 instruierte, „klüger wie eine Schlange“ sein. „Kein unnötiges Wort“ dürfe ausgesprochen werden und „zunächst [sei] zehn- und hundertmal über jedes Wort nach[zu]denken.“24 Während der Kampf um seine Nachfolge bereits im Gange war, warnte er die späteren Triumvirn Stalin, Kamenew und Sinowjew und bestimmte schriftlich, dass allein Radek und Trotzki mit der Verantwortung für die Außenpolitik zu betrauen seien. Parallel dazu forderte er (gemeinsam mit Trotzki) von der KPD eine konsequente „Einheitsfrontpolitik“, einschließlich des Herantretens an die SPD im Sinne von Übergangsforderungen zur gemeinsamen Verteidigung der elementaren Interessen der Arbeiterbewegung. Da dies die Verteidigung bestimmter republikanischer Rechte und Freiheiten inkludierte, wurde die Einheitsfrontpolitik angesichts der Widerspenstigkeit des Komintern-Vorsitzenden Sinowjew nicht konsequent umgesetzt.25 Was das mythenumrankte Thema der deutsch-russischen Verflechtungen angeht, spielte der sogenannte „Deutsche Oktober“ im Herbst 1923 in der Literatur lange Zeit so gut wie keine Rolle.26 Zu Unrecht, denn vor nunmehr fast 100 Jahren wurde letztmals überhaupt ein bewaffneter revolutionärer Aufstand der deutschen Arbeiter geplant und vorbereitet. Die aus dem militärischen und strategischen Werkzeugkasten Moskaus vorbereitete Erhebung auf dem Höhepunkt der Nachkriegskrise in Deutschland – und insofern einzige Nachfolgerevolution des   23 Weber et al. (2014): Deutschland, Russland, Komintern, Bd. 2, S. 225. Die Verbindung mit Russland als Rettung Deutschlands, so in einem Brief Karl Radeks an die sowjetischen Instanzen über seine Gespräche mit Außenminister Walter Rathenau. Rathenaus grundsätzlich positive Haltung gegenüber der Sowjetunion wird in der Literatur auch in Zweifel gezogen. Siehe hierzu den Beitrag von Wolfgang Michalka in diesem Band. 24 Ebd., S. 257. 25 Trotz aller Schwächen blieb so der von der Komintern aktiv unterstützte Widerstand gegen die Ruhrbesetzung 1923 historisch betrachtet die letzte erfolgreichere Artikulation des Internationalismus seitens der KPD, im Verbund mit der KP Frankreichs. Siehe: Schröder (2007): Internationalismus. 26 Koenen (2002): „Rom oder Moskau“, S. 5.

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russischen Oktober – sollte den revolutionären Umbruch auch in Mittel- und Westeuropa einleiten und die Isolierung der Sowjetunion durchbrechen. Ein Ereignis, wie es – so seinerzeit der Oberbefehlshaber der Roten Armee – nur einmal alle Tausend Jahre stattfindet, sollte den vermuteten Marsch auf Berlin und den Pfad Weimars zum Tausendjährigen Reich stoppen.27 Doch die für den 9. November (!) geplante Erhebung – auch Hitler hatte sich für seinen Putsch dieses Datum ausgedacht – endete in einer „Beerdigung 3. Klasse“ in den Worten des KPD-Theoretikers August Thalheimer. Angesichts des Desasters lässt sich allerdings der gescheiterten KPD zu Gute halten, dass sie – im Unterschied zur „Märzaktion“ des Jahres 1921, vor einem Putsch zurückschreckte, als sie in letzter Minute das Signal zum Aufstand auf Rot stellte. Globalgeschichtlich ist die Verschränkung von Komintern und Weimarer Geschichte im Herbst 1923 deshalb relevant,28 weil es sich um den letzten Versuch einer revolutionär-sozialistischen Erhebung in einem hochindustrialisierten Staat im 20. und 21. Jahrhundert handelte. Aufgrund des in der Weimarer Verfassung vorgesehenen Instituts der Reichsexekution, das sie als semipräsidentiell ausweist, konkret der Entsendung der Reichswehr nach Sachsen und Thüringen und der Absetzung manu militari der demokratisch-parlamentarischen Koalitionsregierungen von SPD und KPD in Dresden und Weimar (der sog. „Arbeiterregierungen“) wurden die Revolutionsvorbereitungen im Keime erstickt.29 Allerdings erweist sich angesichts der vielfach fälschlicherweise als revolutionär eingeordneten KPD-Politik in der letzten Phasen Weimars eine Entmystifizierung als erforderlich. Denn der „Deutsche Oktober“ reihte sich in eine Abfolge blutiger Niederlagen ein, die von Bulgarien (1923) und China (1926), wo mindestens eine halbe Million Arbeiter massakriert wurden, bis nach Lateinamerika reichten. Trotz der schmetternden Niederlagen bleibt der „Deutsche Oktober“ allerdings ein Beleg dafür, dass sich in der KP Russlands trotz Rapallo bis dato die revolutionäre Zielsetzung durchgesetzt hatte, eine Vereinigung der beiden „Paria-Mächte“ des Weltsystems zu erreichen.30 „Wir werden in Deutschland die Kombination eines   27 Die Dokumente der von vielen Zeitgenossen als Endkrise betrachteten Zuspitzung der sozialen, politischen und institutionellen Lage des Jahres 1923 wurden erst infolge der Archivrevolution seit den 1990er Jahren zum Thema der Globalgeschichte. Siehe: Bayerlein et al. (Hrsg.) (2003): Deutscher Oktober 1923. 28 Rosenberg (1961): Entstehung und Geschichte. Gordon (1980): Deutsche Geschichte. 29 Die Debatte über eine Definition des auf Maurice Duverger zurückgehenden Begriffs des Semipräsidentialismus und seine Zulässigkeit als besonderen Systemtypus in der Politikwissenschaft schwelt weiter. Während das Konzept in Deutschland weitgehend abgelehnt wird (siehe: Steffani (1979): Parlamentarische und Präsidentielle Demokratie), wird es in der internationalen Literatur in größerem Umfang akzeptiert (siehe: Bahro et al. (1998): „Duverger’s Concept“). 30 Solange sich Lenin (und auch Trotzki) überhaupt in zentralen Fragen auch der Komintern noch durchsetzen konnten (was zunehmend schwieriger wurde), versuchten sie, den Einfluss Stalins und der „Grossrussen“, wie auch den Sinowjews in der Komintern zurückzudrängen, bspw. in der nationalen Frage der Anerkennung des Privateigentums in der russischen Außenpolitik oder der Einheitsfrontpolitik.

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Bürgerkrieges mit einem nationalen Krieg haben – wahrscheinlich in einem viel größeren Maßstab, als wir das bei uns hatten“ – Trotzki in Erwartung der Revolution.31 Noch sorgte das Politbüro dafür, dass das Verhältnis zur Weimarer Regierung nicht zu freundschaftlich ausfallen sollte. Sinnbildlich dafür war der Verweis – fast eine Ohrfeige, die dem russische Außenkommissar Tschitscherin ausgesprochen wurde, der den Rapallo-Vertrag unterschrieben hatte, für sein Telegramm aus Anlass der Ermordung von Rathenau im russischen Politbüro erhielt. Trotzki hielt die sehr persönlichen Worte Tschitscherins für „völlig unzulässig“, mit denen im Telegrammtext Rathenau als „persönlicher Freund“ und „bedeutender Staatsmann“ tituliert wurde. Der Text schloss mit den Worten: „unseren deutschen Freunden fühlen wir uns in diesen Stunden noch näher“.32 So blieb der „Deutsche Oktober“ der historisch letzte Versuch in der Geschichte der Komintern, auf breiter Front eine neue Weltordnungspolitik umzusetzen. Die Parteien hatten es bis dahin nicht geschafft, die allgemeinen Ordnungsentwürfe mit konkreten Forderungen und transitorischen, postkapitalistischen Inhalten zu unterfüttern. Einheitsfrontkampagnen und institutionelle Übergangskonzepte, wie die „Arbeiterregierung“ konnten sich nicht auf breiterer Front durchsetzen. Breits im Jahre 1922 warnte Karl Radek: „Aber ungeachtet dessen sehen wir, dass in allen Ländern die Kommunistischen Parteien nicht imstande sind, ihre politische Arbeit zu leisten nur mit den Losungen des Endkampfes: Sowjetregierung, Diktatur des Proletariats usw. Sie sind genötigt, an die Bourgeoisie nicht allein Agitationsforderungen zu stellen, sondern, als Aktionsforderungen für die Masse, die in Bewegung tritt, eine ganze Anzahl von Losungen aufzustellen, die nicht einmal zu konkretisierende Losungen der Rätediktatur, sondern die Hebel zum Kampf um die Rätediktatur in der Zukunft sind, Mittel der Zusammenschweissung der Massen.“ 33 Wie Radek fortfuhr, erfüllten die kommunistischen Parteien diese Aufgabe nicht und erschwerten damit die Ausarbeitung eines Programms der Komintern: Die einzelnen Parteien gehen in der Aufstellung dieser Forderungen sehr spontan vor. Sie haben hier, würde ich sagen, keine Methode des Vorgehens. [Es] herrscht ein grosses Chaos. [...] Aus diesem Grunde sage ich: Die erste Aufgabe der Programmkommission wäre nicht, ein Programm für die Kommunistische Internationale zu schaffen, sondern Thesen auszuarbeiten über die Methode des Aufbaues unserer Uebergangsforderungen in jedem Lande, konkret, gemäss der Auffassung der internationalen Situation […]. Dann muss ganz konkret an die Lage in jedem Lande besonders herangetreten werden. Dabei wird sich herausstellen, dass für eine Gruppe der Länder die gleichen Fragen, in erster Linie die Frage der Arbeiterregierung, schon

  31 Bayerlein et al. (Hrsg.) (2003): Deutscher Oktober 1923, S. 139. 32 Der Beschluss ist abgedruckt in: Weber et al. (Hrsg.) (2014): Deutschland, Russland, Komintern, Bd. 2, S. 256. Das Telegramm Tschitscherins siehe: http://dfg-viewer.de/show/?set[image]=1&set[zoom]=min&set[debug]=0&set[double]= 0&set[mets]=http%3A%2F%2Fzbw.eu%2Fbeta%2Fp20%2Fperson%2F14154% 2F0111%2Fabout.de.xml&L=0 33 Sitzung der Programmkommission am 28. Juni 1922. In: Weber et al. (Hrsg.) (2014): Deutschland, Russland, Komintern, Bd. 2, S. 250–255. In russischer Sprache in: Drabkin et al. (Hrsg.) (1998); Leonid G. Babičenko, Kirill K. Širinja (eds.): Komintern, S. 539–549.

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politisch reif und von uns in den Rahmen dieser taktischen allgemeinen Resolution gefasst werden können.“34

Phase 3: Die relative Stabilisierung der Republik in den Jahren 1924–1928, die Stalinisierung der KPD und die Übernahme der neuen sowjetischen, Stalin-Bucharinschen Ordnungsvorstellungen des „Sozialismus in einem Lande“ seitens der Komintern und der kommunistischen Parteien. Aufgrund ihres schwankenden Charakters ist die Stalinsche Politik ordnungspolitisch nur schwer auf einen klaren Nenner zu bringen. „Das Zurechtstutzen der Politik der KI zu einer Funktion sowjetischer Außenpolitik aber wirkte sich deshalb besonders schädlich aus, weil diese Außenpolitik“ – Werner Röhr bilanziert – „nicht einmal in Bezug auf die eigenen nationalen Interessen der UdSSR rational und konsequent, sondern schwankend opportunistisch war.“ 35 So konnte auch in der nächstfolgenden Phase der relativen Stabilisierung der Republik die RapalloPolitik fortgesetzt oder sogar im Rahmen der neuen Stalin-Bucharinschen strategischen Formel des „Sozialismus in einem Lande“ zur Zufriedenheit des Außenkommissars mit einem neuen Fundament versehen werden, das die revolutionäre Stoßrichtung definitiv ersetzte. Weltweit ging dies mit der definitiven Unterordnung der kommunistischen Parteien unter die sowjetische Politik einher, selbst wenn dies – wie in China 1926/1927 – grausame Massaker an der eigenen Gefolgschaft mit sich brachte. Nimmt man den Programmentwurf der KPD aus dem Jahre 1922 als Ausgangspunkt, wurde die Zielsetzung der KPD glattweg umgedreht. Ursprünglich gebührte der Kommunistischen Internationale, und nicht Sowjetrussland die Rolle als „Vaterland aller ausgebeuteten und unterdrückten Klassen und Nationen“: Die Interessen der internationalen Revolution sind allen nationalen Interessen übergeordnet. Die Kommunistische Internationale ist das Vaterland aller ausgebeuteten und unterdrückten Klassen und Nationen. Die Kommunistische Partei Deutschlands ist als eine Sektion in der revolutionären Weltmacht der Kommunistischen Internationale eingereiht.36

Im Gegensatz dazu hieß es im von Stalin und Molotov maßgeblich redigierten Kominternprogramm von 1928 unmissverständlich: „Die Sowjetunion ist das wahre Vaterland des Proletariats“ – es müsse „mit allen Mitteln“ verteidigt werden.37 Mit Hilfe welcher Werkzeuge die schrittweise Abkehr vom revolutionären Internationalismus operativ umgesetzt wurde, enthüllte ein Beschluss des russischen Politbüros vom 25. Februar 1925 (der erst 2015 veröffentlicht wurde). Darin hieß   34 Ebd. 35 Hierzu: Röhr (2018): Der gelbe Nebel, S. 195. 36 Auszüge des Programmentwurfs in: 100(0) Schlüsseldokumente: http://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0006_kpd&object=translation&st=&l=de. 37 Hoym (1928): Programm der Kommunistischen Internationale.

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es, dass die Allrussische Kommunistische Partei (Bolschewiki)/ VKP(B) und die Komintern „mit der Herstellung mehr oder weniger normaler diplomatischer Beziehungen“ zu Deutschland und anderen Staaten, fortan keine besonderen Organisationsformen mehr für Zwecke der „aktiven Aufklärung“ – der geheimen revolutionären Vorbereitungen – unterhalten sollten. Dafür sollte es in Zukunft nur noch ein „Organ zur Erkundung der Kampfkräfte in den betreffenden Ländern“ geben, allerdings ohne operative Funktionen. Die „aktive Aufklärung“ in ihrer bisherigen Form, worunter „die Organisation der Verbindung, die Versorgung und Leitung der Diversionsgruppen auf dem Territorium der Polnischen Republik“ fiel, sowie „die Verbindungen mit Kampf- und operativen Aktionen in anderen Ländern“ durfte es nach diesem Beschluss fortan nicht mehr geben. Die lapidare Begründung lautete, dass dies für die KP Russlands „nicht mehr notwendig“ sei.38 Dafür fiel in diese Periode die Ratifizierung der Ausführungsverträge zum Rapallo-Abkommen, die eine Verstärkung der Handelsbeziehungen nach sich zogen. Im April 1926 folgte der Abschluss des Berliner Vertrags mit weitreichenden gegenseitigen Konzessionen. Außenminister Stresemann zufolge sollte der deutschsowjetische Freundschaftsvertrag die Befürchtungen Moskaus über die von ihm angestrebte Westorientierung zerstreuen. Die Sowjetunion sah in der verstärkten Westorientierung der Weimarer Republik infolge der 1925 zwischen den wichtigsten europäischen Staaten unter Ausschluss von Russland geschlossenen Locarno-Verträge für ein neues Sicherheitssystem und eine Streitschlichtung im Sinne des Völkerbunds eine für sie bedrohliche Entwicklung. Hieraus speiste sich ebenfalls seit 1926/1927 das von der Komintern tatkräftig übernommene Konstrukt eines Bedrohungsszenariums, das später zum Kennzeichen einer neuen, stalinistischen Wagenburgmentalität wurde. „Stalinisierung“ bedeutete nicht nur die organisatorische Gleichschaltung der kommunistischen Parteien, sondern auch ihre Funktionalisierung im Rahmen des seit 1927 verstärkt proklamierten Kriegsgefahrsyndroms, mit vielfältigen ideologischen und praktischen Konsequenzen. Die nun gegen die Öffnung Weimars nach Westen gewendete KPD war gezwungen, die Verteidigung der Sowjetunion gegen die (zu diesem Zeitpunkt nur imaginierte) imperialistische Kriegsgefahr als operative und strategische Hauptaktivität zu übernehmen. Die Beschwörung einer äußeren Bedrohung galt zuvörderst der politischen und ideologischen Homogenisierung und Angleichung der kommunistischen Parteien an die Linie Stalins in der VKP(b). In der deutschen Politik spielte die KPD als neue „absolutistische“, nicht demokratische „Integrationspartei“ (Sigmund Neumann) bis 1929 nur eine geringere Rolle. Nach 1924 erfolgten rasante Mitgliederverluste nicht zuletzt infolge der mit Tausenden Ausschlüssen verbundenen Stalinisierung. Allerdings gab es vor allem ab 1926 Versuche einer effektiveren Massenpolitik, verbunden mit einer gewissen Parlamentarisierung und Initiativen wie dem (gescheiterten) KPD-Volksbegehren   38 Am 18.2.1925 wurde dem Politbüro des ZK der KP Russlands ein von Feliks Dzeržinskij unterzeichneter Beschlussentwurf zur Auflösung der aktiven Kampfgruppierungen der Sowjetunion für bewaffnete Aktionen im Ausland vorgelegt (Weber et al. (Hrsg.) (2014): Deutschland, Russland, Komintern, Bd. 2, S. 433–437).

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zur Enteignung der ehemaligen Fürstenhäuser (dem sich auch die SPD anschloss) und zur Regierungskrise der Weimarer Republik. Anders als die SPD erleichterte 1925 die KPD mit der Aufstellung ihres Vorsitzenden Ernst Thälmann zur Reichspräsidentenwahl gegen Hindenburg als Nachfolger Eberts die Wahl eines Totengräbers der Republik in das höchste, mit weitgehenden exekutiven Vollmachten ausgestattete Staatsamt. Als Konsequenz der Ereignisse von 1923 arbeitete die Weimarer Justiz derweil auf Hochtouren, zahlreiche Urteile wegen Hochverrats wurden gefällt, man scheiterte jedoch mit dem Ziel eines großen „Zentral-Prozesses“, um damit ein KPD-Verbot durchzusetzen. Erfolgreich im Sinne der Massenpropaganda erlangte in dieser Phase die von Willi Münzenberg und seinen Helfern betriebene Sammlung von Weimarer Literaten und Intellektuellen um die KPD bzw. die Internationale Arbeiter-Hilfe und das sogenannte „Kulturkartell“ der KPD bemerkenswerte Erfolge. Das im Vorfeld der Partei geflochtene kulturelle und mediale Netz umfasste auch die bedeutendsten linken Literaturverlage der Weimarer Republik, Tagesszeitungen wie die ArbeiterIllustrierte-Zeitung (AIZ), Massen- und Spartenzeitschriften wie Der Weg der Frau, der Eulenspiegel, und avantgardistisch gestaltete Propagandamedien für den Aufbau der Sowjetunion wie Das neue Russland. So gelang es kurioserweise der sich stalinisierenden Anti-Weimar-Partei KPD, renommierte republikanische Kulturschaffende wie Heinrich Mann um sich zu scharen. Transformation und Funktionswandel bedeuteten gleichwohl nicht die Herstellung einer hundertprozentigen Deckungsgleichheit im Wirkungsdreieck KPDKomintern-VKP(b). Ordnungspolitisch ging es vielmehr um neue und jeweils im regionalen Kontext differenzierte Rollenzuweisungen an die Parteien und deren Möglichkeiten zur Einflussnahme auf die nationalen Regierungsapparate in den Zentren bzw. auf die nationalen Befreiungsbewegungen in der großen Peripherie. Das hierbei vorrangige Interesse der UdSSR untermauern Spionagetätigkeiten, die im Rahmen der sogenannten „Betriebsberichterstattung“, der Arbeiterkorrespondenten- und der Arbeiterfotografen-Bewegung zu einem legitimen Bestandteil der Parteiarbeit wurden. Intendiert war, die weitenteils global und internationalistisch orientierten sozialen und sozialistischen, antifaschistischen oder antikolonialen Parteien und Bewegungen ideologisch entlang der (allerdings nie geradlinigen, sondern im Zick-Zack verlaufenden) Generallinie kompatibel zu machen. Dabei erfolgte der schrittweise Rückzug vom originären bolschewistischen Projekt zugleich für die kapitalistischen Zentren und die „Baku-Perspektive“ in der großen Peripherie.39 Die neue sowjetische Politik präferierte nun diplomatische Initiativen wie Nichtangriffspakte, Freundschaftsverträge, die Beteiligung am Briand-Kellogg  39 Vom 1.–8.9.1920 fand in Baku der „Erste Kongress der Kommunistischen und revolutionären Organisationen des Fernen Ostens“ statt, siehe Riddell (Hrsg.) (1993): To See the Dawn.; Wallerstein sieht Baku als zweiten Wendepunkt der Einordnung des internationalen Kommunismus in das Weltsystem. Nach dem Wiederzusammenbau („reassembling”) des russischen Reiches sei diese die Verlagerung der revolutionären Schwerpunkte von den Zentren in die Peripherien und Semiperipherien gewesen, siehe: Wallerstein (1996): Social Science. http://fbc.binghamton.edu/iwpoland.htm

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Pakt oder internationale Abrüstungsinitiativen als ‚Mittel zur Verhinderung von Kriegen’ – was Maksim Litvinov vor dem Völkerbund in Genf demonstrierte. Vorschläge wie die einer Charta der Völkerrechte überlagerten zusehends revolutionäre Strategieziele. So wurde seit Mitte der zwanziger Jahre die Komintern, die sich zwischenzeitlich in ein bürokratisches Babylon transformiert hatte, durch den transnational ausstrahlenden sowjetischen Stalinismus und die nationale Rückentwicklung zersetzt und weltweit auf den Status eines der (multiplen) sowjetischen Kanäle zur Beeinflussung von Staats- und Regierungsstrukturen reduziert. Phase 4: Die Entwicklung divergierender Ordnungsvorstellungen in der Phase von Weltwirtschaftskrise, die Offensive und Radikalisierung seitens der KPD einerseits und die guten Beziehungen der Sowjetunion zum Deutschen Reich und den nationalen Kreisen sowie die konziliante Position der Sowjetunion gegenüber dem Wachstum von Nationalismus und Nationalsozialismus in Deutschland andererseits. Der Kampf gegen die Sozialdemokratie, die übrigen Strömungen der Arbeiterbewegung und die demokratischen Parteien Weimars unter dem Signum des „Sozialfaschismus“, der Abschluss der Stalinisierung der kommunistischen Parteien und die Institutionalisierung des Stalinismus in der Sowjetunion. Es ist nicht ganz einfach, die Transformation des Parteikommunismus im Wirkungsdreieck Komintern, KPD und VKP(b) seit der Oktoberniederlage in Kürze darzustellen, die, betrachtet man die sowjetische Entwicklung, in Zickzacklinien verlief. Während die KPD überall Faschismus witterte, wurde er von Kremlseite verharmlost. Dem militanten Antifaschismus der Mitgliedschaft wurde in diesem Prozess die politische Spitze abgebrochen. Allen Gliedern des Netzwerks Komintern-KPD-Sowjetunion gemeinsam war jedoch der Kampf gegen die Sozialdemokratie und eine SPD-Regierung unter dem Signum des „Sozialfaschismus“, der mit der Institutionalisierung des Stalinismus in der Sowjetunion einherging. Auf ihrem Sechsten Weltkongress 1928 holte man im ersten überhaupt verabschiedeten Programm der Komintern die absurde Vorstellung einer „Diktatur des Weltproletariats“ als Ordnungskonzept hervor. Als Netz „proletarischer Republiken“ sollte sich daraus schließlich die „Union der sozialistischen Räterepubliken der Welt“ entwickeln. Tatsächlich relativierte man damit traditionelle Internationalismusvorstellungen, „die Erfahrungen der Diktatur des Proletariats und des Aufbaus des Sozialismus in der Sowjetunion“ wurden zur normativen, von allen kommunistischen Parteien nachzuvollziehende Grunderfahrung der Komintern hochstilisiert: „Die Diktatur des Weltproletariats ist daher die notwendige und entscheidende Vorbedingung des Übergangs von der kapitalistischen Weltwirtschaft zur sozialistischen. Diese Diktatur kann jedoch nur durch den Sieg des Sozialismus in einzelnen Ländern oder Ländergruppen verwirklicht werden. Sie erfordert, dass die neu entstehenden proletarischen Republiken sich mit den bereits bestehenden verbünden, dass das Netz dieser Föderationen – das auch die das imperialistische Joch abwerfenden Kolonien mit einbezieht, ständig wächst und dass diese Föderation

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schließlich zur Union der Sozialistischen Räterepubliken der Welt werden, die den Zusammenschluss der Menschen unter der Hegemonie des staatlich organisierten Weltproletariats verwirklicht.“40 Der Aufbau einer bisher von der Komintern zumindest ansatzweise verwirklichten, jedenfalls symbolisch verkörperten revolutionären antikolonialistischen, transkulturellen, antirassistischen, feministischen und revolutionär-pazifistischen Internationale stand nicht mehr auf der Tagesordnung. Der Wandel erfolgte zunächst in Form von Einhegung im Sinne der „formalen Organisierung“. Die aus der Sowjetunion entlehnten Ordnungsprinzipien der „Bolschewisierung“ etc. bedeuteten nicht nur die Angleichung an die sowjetischen Parteistrukturen, sondern auch den Ausschluss der zahlreichen kritischen oppositionellen Strömungen innerhalb des deutschen Kommunismus. Ein Ergebnis dieser später auch mit terroristischen Mitteln durchgesetzten Ausschaltung der Kritik war die Auflösung der in Deutschland (vor allem unter der Ägide Willi Münzenbergs) aufblühenden, stärker horizontal ausgerichteten internationalen Massen- oder sympathisierenden Vorfeldorganisationen als „Sonnensystem“ der Komintern (so der finnische Kominternsekretär Otto Kuusinen). Später folgte im Rahmen dieser rückwärtigen Entwicklung auch die Liquidierung der internationalen Kommunikationskanäle der Komintern und den Verbindungsstrukturen als dem eigentlichen Nervensystem der Internationale. Unzweideutig ist der rapide Verlust der Eigenständigkeit und Bewegungsfreiheit zugunsten der bedingungslosen Anlehnung an die Sowjetunion und ihre politische Führung, was mit dem sogenannten Thälmannschen Zentralkomitee 1926 und definitiv zwei Jahre später erreicht war.41 Andererseits verschwanden die revolutionäre Diskurse nicht plötzlich, sondern eher schleichend während der gesamten zweiten und dritten Periode, teilweise auch verbunden mit linguistischen und stilistischen Anleihen bei den Nationalsozialisten. So wurde auf dem XII. Parteitag im Berliner Wedding 1929 der Vorsitzende Ernst Thälmann („Unser Führer“) mit einem „dreifachen ‚Heil Moskau’“ begrüßt und Fritz Heckert beschwor in seinem Beitrag: „In der Sowjetunion sehen wir unser Vaterland, dem wir uns widmen in der Verteidigung bis zum letzten Atemzug, bis zum letzten Blutstropfen.“42 Die Folgen der Wirtschaftskrise ließ die KPD zur Partei der verelendeten Arbeitslosen werden, die mit Verbalradikalismus versuchte, gegen den Staat der Bourgeoisie vorzugehen, doch als Hauptfeind nicht den Faschismus, sondern die Sozialdemokratie bekämpfte. Die kommunistischen Parteimitglieder versuchten noch, die beiden Komponenten „Vorbild Sowjetunion“ und „Antifaschistische Aktion“   40 Ebd. 41 Der von Mallmann festgehaltene Gegensatz von „Milieuverwurzelung und Avantgardeanspruch“ des deutschen Kommunismus ist zwar ein relevanter Bestandteil der Kommunismusgeschichte. Als ein sekundäres, nachgeordnetes Phänomen existierte es jedoch in dieser oder anderer Form in den meisten kommunistischen Parteien. Bolschewisierung und Stalinisierung des internationalen Kommunismus stellen als zentrale Vektoren dagegen keineswegs ein „monokausales“ Erklärungsmuster dar, wie Mallmann suggeriert. Siehe: Mallmann (1996): Kommunisten, S. 79f., S. 82. 42 Weber et al. (Hrsg.) (2014): Deutschland, Russland, Komintern, Bd. 1, S. 63.

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zusammenzubringen. Sie ahnten zu diesem Zeitpunkt nicht, dass im Sinne der sowjetischen Politik unter Stalin beides nicht unbedingt zusammengehören musste. Im Laufe der Jahre 1928/1929 entstand daraus eine bedeutungsschwere Entsolidarisierung unter den sozialen Bewegungen, die alle Kritiker der Sowjetunion betraf: Die Stalinsche Führung bekämpfte die Sozialdemokraten pauschal als Hauptfeind und vermeintlichen „Hauptorganisator einer kapitalistischen antisowjetischen Einheitsfront“. Das Einschießen auf die SPD wurde mit der bewusst falsch definierten „Klasse gegen Klasse“-Politik der Komintern begründet und offenbarte bereits ab 1927 ein falsches Verständnis des Nationalsozialismus, dessen Machtübernahme seitens der sowjetischen Führung bis 1932/1933 für unmöglich gehalten wurde.43 Vom originären Bolschewismus der ersten Jahre unterschied sich die derart gekaperte Komintern nun besonders darin, dass sie Zerschlagungsstrategien gegen Teile und Organisationen der Arbeiterbewegung selbst propagierte. Als Zeichen ihrer Radikalisierung führte die KPD, die die Weimarer „Koalitionspolitik“ als „Weg zum Faschismus“ und das Kabinett Franz von Papen als faschistische Herrschaft darstellte und überhaupt überall Faschismus witterte, im März 1929 den Kampf für die Rechte der Arbeiter nicht im Zeichen der Verteidigung der Demokratie und der Weimarer Verfassung, „sondern im Zeichen des revolutionären Klassenkampfes für die Diktatur des Proletariats“.44 Betrachtet man die sowjetische und zwischenstaatliche Ebene, signalisierte andererseits das am 24.6.1929 unterzeichnete Protokoll über die Fortführung und Verbesserung der ökonomischen, militärischen und politischen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich45 einen deutlichen Wandel in der „Gesamteinstellung“ Moskaus. Fast parallel zum Rücktritt der sozialdemokratischen Koalitionsregierung unter Hermann Müller und dem Ausscheiden der SPD aus der Regierungsverantwortung und der Bildung des ersten Präsidialkabinetts unter Heinrich Brüning 1930 vollzog sich eine spektakuläre Wiederannäherung46 (obwohl die Reichsregierung bestrebt war, „dem Geschäfte“ den „sensationellen Charakter“ zu nehmen).47 Die Institutionalisierung des Stalinismus in der Sowjetunion war demnach mit der (transnationalen, und nicht auf Deutschland beschränkten) gezielten   43 Hierzu: Weingartner (1970): Stalin und der Aufstieg Hitlers.; Hierzu die Rezension von Heinrich-August Winkler http://www.zeit.de/1970/49/diktator-mit-scheuklappen/ 44 Siehe die Anweisungen des Sekretariats der KPD an die Bezirksleitungen zur Demonstration am 1. Mai und zum Kampf gegen das Parteiverbot vom 28.3.1929. In: Weber et al. (Hrsg.) (2014): Deutschland, Russland, Komintern, Bd. 2, S. 674–676. 45 Auch zum Folgenden siehe: Slutsch (1995): Deutschland und die UdSSR, S. 82. 46 Proteste der SPD, die auf die zunehmend totalitäreren Wendung der Stalinschen Innenpolitik hinwiesen, prallten an der Regierung ab. Brüning war nicht bereit, „den [...] Kurs einer verstärkten Zusammenarbeit mit Sowjetrußland den innerdeutschen Protesten zu opfern.“ Siehe: Koops et al. (Hrsg.) (1982/1990): Akten der Reichskanzlei. S. 974–977. 47 Slutsch (1995): Deutschland und die UdSSR, S. 57ff.; Erdmann/ Grieser (1975): Die deutschsowjetischen, S. 422f.; Im gemeinsamen Protokoll vom 24.6.31 wurde schließlich der Berliner Vertrag vom 24.4.26 um mindestens drei Jahre verlängert. Der Vertrag konnte mit einjähriger Frist gekündigt werden, jedoch frühestens zum 30.6.33 (Telegramm Von Dirksens, Nr. 207 vom 23.6.31, Bundesarchiv R 43 I/140, 56–58).

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Ausschaltung der Sozialdemokratie und aller linken Kritiker auf der Linie des „Sozialfaschismus“ verbunden, in Deutschland unter Forcierung der Zusammenarbeit mit der Reichsregierung und der Anlehnung an konservative Kreise. Die Indizien und Belege für den national-populistischen Richtungswechsel im Kreml beleuchten, wie die Komintern als Transferinstitution vor eine Zerreißprobe gestellt wurde. In der KPD betraf dies sichtbar die „Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung“ von 1930 und dem „Roten Volksentscheid“ von 1931. In beiden Fällen verschob sich die Hauptachse innerhalb des Kräftedreiecks weiter zugunsten der Verständigungspolitik der Sowjetunion mit deutsch-nationalen und nationalistischen Kreisen. Seit 1929 drängte Stalin auf einen nationaleren Kurs der KPD und setzte zum Tag der Reichstagsauflösung in der russischen Delegation des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationalen (EKKI) die Abfassung eines Grundsatzdokuments der Komintern zum Kampf gegen den sogenannten „Nationalfaschismus“ durch. Die „Sozialfaschisten“ blieben die Hauptfeinde, gegen die als „Nationalfaschisten“ verharmlosten Nationalsozialisten „die dazu in der Lage“ seien, „sich den Schöpfern von Versailles zu verkaufen, obwohl sie in Worten gegen diese aufträten, müsse dagegen bekräftigt werden, „dass die Befreiung Deutschlands vom Versailler Vertrag, [und] vom Youngplan nur mit dem Sturz der Bourgeoisie möglich ist.“48 Ein Problem Stalins ergab sich jedoch daraus, dass die KPD nicht hundertprozentig und im Hauruckverfahren auf eine nationalpopulistische Linie zu bringen war. Ihre internationalistischen Traditionen standen dem genauso entgegen wie die Opposition Thälmanns in dieser Frage, trotz seiner Ergebenheit gegenüber seinem vermeintlichen Freund Stalin. Dies war der Grund dafür, dass der Parteiführer später – und sogar, als er im Zuchthaus saß – von Stalin zornig abqualifiziert wurde, da er angeblich die Bedeutung der ‚nationalen Frage’ für die Kommunisten nicht verstanden habe.49 Jedenfalls waren verschärfte Spannungen innerhalb des Kräftedreiecks KPDKomintern-VKP(b) damit vorprogrammiert. Übertönt vom ultralinke Getöse der KPD formulierte Sowjetbotschafter Nikolai Krestinskij bereits Anfang 1930 die Anerkennung des nationalen Prinzips in den Beziehungen zu Deutschland, als er gegenüber dem deutschen Außenminister Curtius äußerte, dass die Repressionsmaßnahmen gegen die deutschen Kommunisten seitens der Sowjetunion als innere Angelegenheit Deutschlands betrachtet würden. Entwaffnete Positionsbestimmungen dieser Art dürften auch ein Grund dafür gewesen sein, dass seit Juni 1930 das sowjetische Politbüro alle deutschlandbezogenen, ohnehin als geheim klassifizierten Angelegenheiten unter eine noch höhere Geheimhaltung stellte und ein Verbot der Schriftform verfügte.50   48 RGASPI, Moskau, 508/1/98, 1f. Publ. in: Dam’e et al.: Komintern protiv fašizma, S. 234f. Siehe ausführlich zur nationalpopulistischen Wende der KPD, die von der Linken Opposition der KPD und Trotzki besonders scharf kritisiert wurde: Hoppe (2007): In Stalins Gefolgschaft. S. 187–195 u.a. Vgl. Trotzki (1971): Gegen den Nationalkommunismus, S. 113–137. 49 Hoppe (2007): In Stalins Gefolgschaft.; vgl. Dimitroff (2000): Tagebücher 1933–1943, S. 107. 50 Weber et al (Hrsg.) (2014): Deutschland, Russland, Komintern, Bd. 2, S. 737.

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Stellungnahmen von Stalin und seinem Vertrauten Lazar Kaganovič vom Sommer 1932 zu einem Artikel der Prawda über Deutschland illustrieren die nationalpopulistische Wendung der Sowjetunion und die Ausrichtung auf das konservative und deutschnationale Lager.51 Im Artikel wurde Papen im Sinne der KPD als jemand kritisiert, der die Aufgabe habe, eine Diktatur zu errichten, die Weimarer Verfassung abzuschaffen und den Reichstag aufzulösen. Stalin wies diesen Inhalt zurück und reagierte in einer abwimmelnden und gegen eine „Revolutionierung“ gerichteten Weise:52 „Unsere Zeitungen haben in Bezug auf die neue deutsche Regierung einen unrichtigen Ton angeschlagen. Sie beschimpfen und schmähen letztere. Dies ist eine falsche Position, die auf „Revolutionierung“ ausgerichtet ist, in Wirklichkeit jedoch denjenigen nützt, die einen Bruch zwischen der UdSSR und Deutschland bezwecken. Dieser Fehler muss korrigiert werden.“53 Drei Tage später bekräftigte Kaganovič Stalins Einlassung, dass es überhaupt sehr schwer sei, Deutschland gegen die Sowjetunion aufzubringen.54 Die Gespräche mit dem völkischen Schriftsteller und späteren Nationalsozialisten Ernst Graf zu Reventlow, der wie anfänglich auch Goebbels öffentlich ein antiwestliches Bündnis Deutschlands und der Sowjetunion forderte, zeigten – so Kaganovič, dass „selbst solche faschistischen Elemente uns gegenüber zu versichern gezwungen sind, die Beziehungen zu uns nicht zu zerstören.“ (was eine Überschätzung der prosowjetischen Kreise in der NSDAP war).55 Der nationalpopulistische Schwenk Stalins erklärt möglicherweise auch die Radikalisierung der KPD gegen den Young-Plan im zweiten Halbjahr 1930. Im Vorjahr fiel ihre Opposition noch moderater aus und war der Notwendigkeit der Verteidigung der Sowjetunion untergeordnet wurde. Der Diskurs wandelte sich von der Versklavung Deutschlands durch das Finanzkapital zur Unterstützung Deutschlands als geknechteter Nation.56 Während die „Programm  51 Siehe die Politbüro-Diskussion und und Stalins Replik an Lazarʼ Kaganovič vom 5.6.1932 in: Ebd., S. 877f.; In russischer Sprache publ. in: Chlevnjuk et al.: Stalin i Kaganovič , S.153–156. 52 Die KPD ordnete die Schleicher-Regierung als „eine neue verschärfte Stufe des faschistischen Regimes“ ein, als das kleinere Übel habe die Sozialdemokratie ihr den Weg bereitet. Siehe hierzu auch: Winkler (1993): Weimar 1918–1933, S. 558. 53 Weber et al. (2014): Russland, Deutschland, Komintern, Bd. 2, S. 877f. 54 Publ. in: Chlevnjuk et al.: Stalin i Kaganovič, S.153–156. 55 Stalin untertstrich dabei, dass „selbst ein Nat[ional]-Sozialist wie [von] Reventlow“ dies erklärt habe (Weber et al. (Hrsg.) (2014): Deutschland, Russland, Komintern, Bd. 2, S. 878). 56 Zum Niederschlag dieser Transformation in der Komintern-Politik als intermediärer Ebene siehe: Weber et al. (Hrsg.) (2014): Deutschland, Russland, Komintern, Bd. 2, S. 716–722, S. 738–742.; Zum Gesamtkomplex Hoppe (2007): In Stalins Gefolgschaft, S. 184f.; Eine Episode aus der Stadtgeschichte Weimars mag ebenfalls die innerhalb des Kräftedreiecks herrschenden Ambivalenzen beleuchten. Während für die KPD die Weimarer Republik bereits vom Faschismus besiegt war und die Komintern weiter dringend einforderte, diesen Diskurs abzumildern, beriet am 8.2.1932 das russische Politbüro über die sowjetische Beteiligung an der betont nationalistisch ausgerichteten „Reichs-Goethe-Gedächtnis-Feier“ zum 100. Todestag des Dichters am 22.3.1932 in Weimar. Der Beschluss lautete, Kulturkommissar Anatolij Lunačarskij zu der mit nationalem Pomp organisierten Feier nach Deutschland zu delegieren. Augenscheinlich fuhr er nicht nach Weimar, einer Zeitungsmeldung zufolge wurde im Namen der „Sowjet 

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erklärung zur sozialen und nationalen Befreiung Deutschlands“ für die nationalpopulistische Linie stand, galt in der Literatur der „Rote Volksentscheid“ vornehmlich als Beleg für die Kollusion von „Rot und Braun“. Für die auf Anordnung der Komintern in letzter Minute erfolgte Beteiligung am Volksentscheid von Stahlhelm, Deutschnationalen und NSDAP gegen die SPD-geführte Regierung der Weimarer Koalition in Preußen vom 9. August 1931 war symptomatisch, dass die KPD-Führung – trotz der früheren kategorischen Ablehnung auf persönlichen Druck Stalins (so nach der Instruktion Wilhelm Piecks aus Moskau) – im Juli 1931 „einstimmig“ für die Teilnahme am „demagogischen“ Nazi-Volksbegehren „der Reaktion“ votierte. Wie bekannt, scheiterte allerdings der Volksentscheid – im Unterschied zum „Preußenschlag“ bzw. „Papen-Streich“ am 20.7.1932 und der widerrechtlichen Absetzung der SPD-geführten preußischen Regierung. Gleichwohl greift die in der Historiographie vorherrschende These von der „rot-braunen Einheitsfront“ zu kurz. Neue Dokumente zeigen, dass entgegen der offiziellen Thälmannschen Version der Ereignisse die Initiative für eine Teilnahme zunächst nicht von der Komintern und/oder Stalin, sondern von Politbüro-Mitglied Hermann Remmele und seinem Vertrauten Heinz Neumann ausgegangen war. Zwar wurde auch von den beiden die antisozialdemokratische Stoßrichtung nicht in Frage gestellt, doch den Ausschlag dürfte hier das antifaschistische Motiv gegeben haben. Insofern lässt sich von einer „Offensive der Verzweiflung“ sprechen (Weingartner), die – allerdings auf abenteuerliche Weise – bezweckte, den Nationalsozialisten das Heft des Handelns aus der Hand zu reißen.57 Insgesamt brachte die nationalkommunistische Annäherung, die sich darüber hinaus an der sprachlichen Annäherung an die Nationalsozialisten festmachen lässt, die Partei weiter in Frontstellung gegen die SPD. Da dies ein gemeinsames Zusammengehen der Arbeiterschaft gegen die NSDAP weiter unmöglich machte, erleichterten KPD, Komintern und VKP(b) damit maßgeblich den Aufstieg Hitlers.58 Phase 5: Die (weitgehend) kampflose Niederlage der KPD gegenüber dem Machtantritt der Regierung Hitler, die repressive Zerstörung der KPD, ihr fortgesetzter Kampf gegen Sozialdemokratie, Trotzkismus und die nichtkommunistische Linke, und die neutrale bis verständnisvolle Haltung der Sowjetunion gegenüber dem NS-Regime und die Passivität gegenüber der Unterdrückung der deutschen Kommunisten. Der Machtantritt der Regierung Hitler am 30. Januar 1933, der durch die kampflose Niederlage der Arbeiter- und sozialen Bewegungen in Deutschland maßgeblich   Republiken Rußlands“ ein „Kranz aus dunkelroten Rosen mit roter Atlasschleife, darauf in goldenen Lettern ‚U. D. S. S. R. Goethe‘“ niedergelegt. Zur Feier hieß es in der Zeitschrift „Tagebuch“, dort sollte Goethe mit Unterstützung Thomas Manns zu einem „Blücher des Geistes“ gemacht werden. Siehe: Wahl (2001): Vor der Fürstengruft, S. 65. 57 Hierzu: Weingartner (1970): Stalin und der Aufstieg Hitlers. 58 Hierzu nach dem letzten Stand: Weber (2014): Zum Verhältnis von Komintern, S. 74ff.

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befördert wurde, besiegelte das Ende Weimars. Als welthistorische Katastrophe (Heinrich August Winkler) ging sie weit darüber hinaus. Die Unfähigkeit, das Blatt noch zu wenden, und zumindest die Institutionalisierung oder Stabilisierung des NS-Regimes zu erschweren, markierte die Tragödie des deutschen Kommunismus und die bis dato schwerste Krise des Marxismus der Arbeiterbewegung seit seiner Entstehung in der Mitte des XIX. Jahrhunderts.59 Zwar war der Weg in die Katastrophe von 1933 immer auch ambivalent und doppeldeutig, denn ein ernsthafter radikaler Wille, um gegen Hitler zu kämpfen, ließ sich den KPD-Mitgliedern nicht absprechen. Doch der historische Befund ist eindeutig: „Mit ihren Fehlern und Unterlassungen und zugleich den Methoden zur Rechtfertigung hatten sich die beiden großen deutschen Arbeiterparteien, SPD und KPD [...] ihre Henker selbst groß (gezogen)“. Dies schrieb ohne jeden Anflug von Schadenfreude der Katholik, Zentrumsmitglied und spätere Chefredakteur der von Willi Münzenberg in Paris herausgegebenen Wochenzeitung „Zukunft“, Werner Thormann in einer geheimen Denkschrift an die französische Regierung. Die kampflose Niederlage der größten und bestorganisierten – teilweise sogar bewaffneten – Arbeiterbewegung der Welt sei entstanden aus „dem Bürokratismus der antifaschistischen Parteien und Organisationen“, aus der „in ihnen ausgeübte(n) Apparatdiktatur [...], die entgegen der Sehnsucht der Massen die Einheit der Aktion verhinderten und damit die letzte und entscheidende Ursache der Niederlage wurden“.60 Dass SPD und KPD gemeinsam mit der Führung des Arbeiterstaates Sowjetunion, die allesamt eine Aktionseinheit der deutschen Arbeiter- und demokratischen Bewegung gegen Hitler nicht nur ablehnten, sondern sogar scharf bekämpften, zu den Hauptverantwortlichen gehörten, meinten neben oppositionellen Kommunisten auch Katholiken wie Thormann oder liberale Journalisten und Schriftsteller wie Rudolf Olden. Die konsequenteste Kritik an der kampflosen Niederlage der bestorganisierten Arbeiterbewegung auf dem Globus wurde seitens des von Stalin verteufelten „verstoßenen Propheten“ Trotzki artikuliert. In Analogie zur Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD und dem „Burgfrieden“ der sozialistischen Parteien der Zweiten Internationale vom 4. August 1914 erklärte er den 30. Januar 1933 zum historischen Wendedebakel des offiziellen Parteikommunismus bzw. des Stalinismus. Zumal Komintern, KPD und Sowjetunion auch weiterhin auf ihrem Standpunkt beharrten und der Situation sogar positive Aspekte abgewannen („Nach Hitler kommen wir!“), erklärte er nach einigen Monaten, in denen trotz der Niederlage am alten Kurs festgehalten wurde, die internationalistische Tradition von KPD und Dritter Internationale als definitiv beendet und der Aufbau einer neuen kommunistischen Partei und einer neuen revolutionären Internationale als erforderlich. Gar nicht so weit entfernt von dieser Einschätzung war der KPD-Führer Hermann Remmele – selbst glühender Stalin-Anhänger, der die Mitglieder des Politbüros   59 Ausführlicher zur katastrophalen Niederlage von 1933 und der Verantwortung der Kominternund KPD-Politik siehe: Bayerlein (2017): The Entangled Catastrophe, S. 260–280. 60 Nachlass Werner Thormann, Deutsche Nationalbibliothek Frankfurt am Main, Deutsches Exilarchiv, NL 114, EB 97/145, 101.0029.

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(dem er selbst angehörte) kollektiv beschuldigte, für die „größte[n] Niederlage des deutschen Proletariats seit 1914“ verantwortlich zu sein. Die transnationale Betrachtung der neuen Dokumente legt die Schlussfolgerung nahe, dass die Sowjetunion augenscheinlich bereits sehr früh dabei war, sich mit dem Hitlerregime nicht nur abzufinden, sondern – wie es bereits das gute Verhältnis zum Faschismus Mussolinis zeigte – auch bereit war, sich längerfristig zu arrangieren. Sechs Jahre nach dem Machtantritt Hitlers wurde dies in der Periode der offen bekundeten „Freundschaft“ zur Zeit des Stalin-Hitler-Paktes auch verwirklicht.61 So verweisen Stalins Ordnungsvorstellungen auf die Perspektive eines neoimperialen Rearrangements mit dem nationalsozialistischen Deutschland. Als die Komintern nach der eklatanten Niederlage, während Abertausende KPD-Mitglieder verfolgt wurden, von einem kurzzeitigen Rückzug sprach, der den Sturz des Hitlerregimes nur beschleunigen könne, verlangte die Sowjetunion auf außenpolitischem Gebiet von Hitler ein Zeichen des guten Willens. So folgte zeitgleich mit den Massenverhaftungen von KPD-Mitgliedern im Mai 1933 die Ratifizierung des Verlängerungsprotokolls des Berliner Vertrages mit der Sowjetunion von 1926 durch den Reichstag, der auf den Vertrag von Rapallo gefolgt war.62

Aus den bereits erwähnten Veröffentlichungen im Rahmen der Deutsch-Russischen Historikerkommission geht nun hervor, dass die Sowjetunion in der entscheidenden Phase der Errichtung der Hitler-Diktatur die blutige Verfolgung der deutschen Kommunisten und der Linken insgesamt passiv geschehen ließ. Von ihr waren nicht nur keine hitlerfeindlichen Äußerungen zu erwarten, sondern, wie es interne diplomatische Dokumente zeigen, sogar ein gewisses Verständnis für die Unterdrückungspolitik der NS-Diktatur.63 Vor den deutschen Kommunisten hatte sich damit ein traumatischer Abgrund geöffnet. So zynisch wie durch Boris Winogradow, den Sekretär der sowjetischen Botschaft wenige Tage vor dem Reichstagsbrand wurde das Zusammenspiel der Sowjetunion mit NS-Deutschland noch nicht formuliert und damit die Hoffnungen auf ein Signal der Sowjetunion an die KPD zum gemeinsamen antifaschistischen Kampf frustriert – auf Kosten der blutigen Unterdrückung zehntausender deutscher Kommunisten und der Linken und der Demokraten insgesamt.64 Sogar die von den beiden Sozialdemokraten Friedrich Stampfer und Victor Schiff vorgetragene eindringliche Bitte, die Sowjetunion möge doch zumindest den verfolgten deutschen Kommunisten, also den eigenen Genossen, helfen, lehnte Vinogradov, der zugleich als Agent Mitarbeiter der Residentur der Internationalen Abteilung der OGPU bzw. später des NKWD war, mit dem Hinweis auf die strikte Nichteinmischungspolitik der Sowjetunion in die inneren Verhältnisse NSDeutschlands kategorisch ab. Die NS-Repression werde von sowjetischer Seite als   61 Die Beziehungen Stalins zu faschistischen und autoritären Regimen in Europa und darüber hinaus sollten grundsätzlich neu und vergleichend untersucht werden. 62 Hierzu ausführlicher: Bayerlein (2009): Abschied von einem Mythos, S. 134 u.a. 63 Siehe die bereits erwähnte Quelleneditionen Weber et al. (Hrsg.) (2014): Deutschland, Russland, Komintern. Dazu: Slutsch/ Tischler (Hrsg.) (2014): Deutschland und die Sowjetunion 1933–1941, S. 345–347. 64 Hierzu: Bayerlein (2017): Das geheime Winogradow-Treffen, S. 172–182.

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innere Angelegenheit Deutschlands betrachtet, und überhaupt verspreche sich die UdSSR von Hitlers Machtantritt den schnellen Untergang des deutschen Kapitalismus.65 Bereits für die letzte Phase der Weimarer Republik lässt sich aufzeigen, dass die Sowjetunion bereits Anfang der 1930er Jahre in erster Linie auf die Wiederherstellung eines starken, russisch dominierten Nationalstaates und in diesem Rahmen der Ausnutzung und Verbesserung der Beziehungen zu Deutschland abzielte – mit der Stoßrichtung auf konservative und deutschnationale Kreise, gegen Sozialdemokratie und unabhängige Linke. Die „antifaschistische“ Abwehr der nationalsozialistischen Bedrohung spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle. Im Januar/Februar 1933 fand sich Stalin mit der für KPD, Komintern und KPdSU unerwarteten „Machtergreifung“ Hitlers nicht nur ab, sondern versuchte über geheime Kanäle – auch der Deutschlandkenner Karl Radek war darin involviert – seinen guten Willen zur Zusammenarbeit zu zeigen. Der Aufbau des „Sozialismus in einem Lande“ erwies sich nicht nur als semantischer Transfer, sondern auch als Bruch mit den eigenen Traditionen, ohne dass dies jedoch zunächst deutlicher in das Bewusstsein drang. Auch in der Europafrage rächte sich die Programmlosigkeit der Komintern. Das Abrücken von Europa trug als Kennzeichen der Stalinisierung zur Zersetzung des Parteikommunismus entscheidend bei. In der Vorstellung des nationalen Sozialismus im Narrativ des Stalinismus war das Konzept eines vereinten Europas als politische Zukunft ausgeschlossen. Für die revolutionäre Generation der Bolschewiki eine Selbstverständlichkeit, spielte die europäische Frage im Diskurs der Komintern explizit erst in der Auseinandersetzung mit Trotzki und der linken kommunistischen Opposition in den Jahren 1923–1926 eine Rolle, als das in den ersten Manifesten der Komintern noch enthaltene Zukunftskonzept der Vereinigten (sozialistischen) Staaten von Europa seitens des Mainstreams um Stalin und Bucharin bereits auf den Index gesetzt war. Weitere zukunftsfeindliche Verdrängungen folgten. Seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre wurden nicht nur gesamteuropäische Perspektiven, sondern auch föderative Konzepte deutscher, französischer und europäischer kommunistischer Parteien definitiv verdrängt.66 Und fast schon folgerichtig verweigerte man sich auch in den folgenden zwei bis drei Jahren der Hauptaufgabe, die sich fortan Demokraten und der revolutionären Avantgarde gemeinsam stellte, „in allen Bevölkerungsschichten den Widerstand gegen die Hitlerdiktatur zu erwecken und zu unterstützen“ (Joseph Weber), wie es die Handvoll deutscher Trotzkisten forderte.67

  65 Ebd. 66 Hierzu: Wirsching (2000): KPD und P.C.F., S. 277–292. 67 Internationale Kommunisten Deutschlands (1938): Thesen.

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1933 UND DIE FOLGEN: PERSPEKTIVEN. Stalin dürfte 1933 daran geglaubt haben, Hitler übertrumpfen oder zumindest überlisten zu können. Auf die nationalpopulistische Karte zu setzen, deutete auf die Stoßrichtung eines neo-imperialen Rearrangements der Sowjetunion mit Deutschland hin, keinesfalls jedoch auf eine revolutionäre Orientierung auf den Sturz Hitlers. Gegen Ende des Jahres 1933 verhinderte Stalin, dass sich KPD und Komintern mit ihrer Taktik des Boykotts der von Hitler für den 12. November 1933 einberufenen Wahlen und des Plebiszits über den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund durchsetzen. Molotov als engster Stalin-Vertrauter wandte sich scharf gegen jede „oppositionelle Richtung gegenüber den Deutschen“.68 Persönlich stauchte Stalin regelmäßig die Politbüro-Mitglieder zusammen, auch diejenigen, die angesichts des Austritts des Deutschen Reiches aus dem Völkerbund eine kritischere Haltung gegenüber NS-Deutschland einforderten. Dem Bestreben nach einem modus vivendi mit Hitler entsprach die Tolerierung des NS-Terrors gegen die deutschen Kommunisten durch Moskau, die für das Scheitern des KPD-Widerstands zumindest mitverantwortlich war. Der Antifaschismus als Aufgabe wurde der Komintern aufgetragen, ein Orientierungsprinzip der sowjetischen Staatspolitik war er nicht, zumindest nicht bis 1941. Auch nach der zeitweisen Verschlechterung der gegenseitigen Beziehungen seit den Jahren 1934/1935 bleibt es zweifelhaft, ob die Sowjetunion tatsächlich, wie es bis heute in der Literatur Mehrheitsmeinung ist, auf eine antifaschistische, konkret eine gegen die neoimperialen Expansionsabsichten des faschistischen Italiens und NS-Deutschlands gerichtete Politik der kollektiven Sicherheit umgeschwenkt war. Litvinov propagierte dies zwar öffentlich – er gehörte allerdings dem Politbüro nicht an und wurde regelmäßig vom Politbüro zurückgepfiffen. Die Beschlüsse des obersten sowjetischen Machtzentrums zu diesem Zeitpunkt weisen jedenfalls nicht auf eine eindeutige Orientierung auf die westlichen Demokratien und ein neues System kollektiver Sicherheit hin.69 Jedenfalls wurde die traditionelle revolutionäre Ausrichtung der deutsch-russischen Magistrale auf den Kopf gestellt und von der kosmopolitischen, weltrevolutionären und europäischen Grundlage und unter Anerkennung des nationalen Prinzips in den internationalen Beziehungen auf eine staatliche Achse gehoben. Wie bekannt, endete die Weltrevolution in der systemischen Paranoia des stalinschen Terrors und die Emanzipation der unterdrückten Nationen nebst des bedingungslosen Eintretens für die nationale Selbstbestimmung in der Vertreibung und Bestrafung ganzer Völker, das doch zum originären Handlungsprinzip der frühen Bolschewiki um Plechanov, Lenin und der Komintern gehörte,.70 Der definitive, explizite Verzicht auf die weltrevolutionären Ziele erfolgte drei Jahre nach der   68 Bayerlein: Deutscher Kommunismus und transnationaler Stalinismus, S. 273ff. 69 Ebd., S. 320f. Auch die spätere sowjetische Vorstellung von einer Einbindung Hitlers im Rahmen eines Ost-West-Paktes spricht nicht gegen die hier dargelegte Deutung. Frühe Analysen wie bspw. von Lev Besymenskij wurden nicht ernstgenommen. Siehe: Besymenski (2002): Stalin und Hitler. 70 Nekrich (1978): The Punished Peoples.

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Niederlage in Deutschland mit der “Vierten Periode” in den Jahren 1935/1936. Auf dem 7. Weltkongress der Komintern im Sommer 1935 wurde zunächst der „endgültige und unwiederbringliche Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion“ proklamiert. Ein halbes Jahr später bezeichnete Stalin in seinem Interview mit dem britischen Journalisten Howard den Begriff der Weltrevolution als „tragikomischen Irrtum“.71 Der Begriff wurde fast gänzlich aus der Geschichte entsorgt und/oder – durchaus in der Logik des Stalinismus – nicht mehr ernst genommen. Die Weltordnungs- und Zukunftsentwürfe der Sozialistischen Weltföderation, der Vereinten Räterepubliken der Welt oder der Vereinigten Staaten Europas aus den ersten vier Weltkongressen der Kommunistischen Internationale erlitten das gleiche Schicksal. Eine historisch einzigartige, monströse Geschichtstransformation machte die Sowjetunion zur Antithese der traditionellen Zukunftsvisionen und Ordnungsvorstellungen des Sozialismus/Kommunismus. Mit Hilfe der ihr zur Verfügung stehenden „Kanäle“ und Instrumente wie der Außenpolitik, der Komintern und der von ihr kontrollierten sozialen und politischen Bewegungen, Massenorganisationen und multifunktionalen transnationalen Netzwerke integrierte sie sich damit auf ihre Weise in das kapitalistische Weltsystem, während die Oktoberrevolution als Ausgangspunkt noch das genaue Gegenteil markiert hatte. Die kommunistischen Parteien besaßen nicht (bzw. nicht mehr) die Mittel, um sich gegen diese neue Weltarbeitsteilung zu stellen. Der Arbeiterbewegungs-Marxismus als Substrat des sozialistischen Internationalismus und in seiner höchsten institutionellen Form der Arbeiterinternationalen war an einem Endpunkt angekommen. Nach der Zweiten scheiterte auch die Dritte Internationale aufgrund ihrer inneren Zersetzung, im Kräftedreieck und -Verhältnis mit der Sowjetunion wurden Komintern und kommunistische Parteien im Laufe der 1930er Jahre zu Helfershelfern des Terrors umfunktioniert und ergänzten so die rückwärtige Bewegung zu Faschismus und Barbarei unter Zerstörung der kulturellen Grundlagen von Kosmopolitismus und Internationalismus. So verwirklichte sich das globalgeschichtlich bis heute wirkmächtige Paradox, dass die Gesamtheit der Weltordnungsmodelle grundsätzlich nationalen Handlungsmustern folgten, nicht nur der Nationalismus, Imperialismus und Faschismus selbst, sondern auch Republikanismus und Demokratie, Liberalismus und Sozialismus sowie der transnationale Parteikommunismus sowjetischer Prägung. Um zum Abschluss auf Weimar zurückzukommen, lässt sich eine Wechselwirkung festhalten: Nicht nur die Republik wurde zerstört, sondern ihre Zerstörung leitete die der Komintern ein, die nach 1933 zunächst durch Geheimbeschlüsse und offenen Terror demontiert wurde. Wie Friedrich Stampfer im Februar 1933 kommentierte, rechnete Moskau mit dem Faschismus in Deutschland als einem unvermeidlichen Entwicklungs- und Übergangsstadium: „Das Ziel der Zerstörung des Staates von Weimar haben sie [die Kommunisten] wohl hundertprozentig erreicht,   71 The Stalin-Howard Interview, New York, International Publishers, 1936 (Interview Stalins mit dem britischen Journalisten Roy Howard, https://www.marxists.org/reference/archive/stalin/works/1936/03/01.htm).

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freilich mit einem ganz anderen Ergebnis, als sie es sich gedacht hatten. Es ist aber eine Groteske in der Tragödie, wenn der schwerverletzte Kommunist den Kopf aus dem jämmerlichen Trümmerhaufen der deutschen Arbeiterbewegung emporhebt, um dem nicht minder blutenden Sozialdemokraten schadenfroh zuzurufen: „Aetsch – wir hattenʼs Euch ja immer gesagt!“72 Trotz der großen Verantwortung des „Linienkommunismus“ sowjetischer Prägung sollte allerdings ein weiterer Grund für den Untergang der Weimarer Republik nicht aus dem Blickfeld geraten. Josef Weber, der theoretische Kopf der linken Opposition der KPD bis Anfang der vierziger Jahre, zog insofern die folgende Bilanz: „Der selbstmörderische Fehler der Weimarer Republik war nicht, dass sie ihren Gegnern zu viel, sondern dass sie ihren Anhängern zu wenig demokratische Rechte gewährte – von Ebert mit seiner direkten Telefonleitung zu Gröner über Noskes Freikorps und Gesslers Schwarze Reichswehr marschierte sie auf einer mit Sondergerichten und Ausnahmegesetzen gepflasterten Straße in Hitlers Konzentrationslager.“73 LITERATUR 100(0) Schlüsseldokumente zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. http://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0006_kpd&object=translation&st=&l=de. Achcar, Gilbert: Marxism, Orientalism, Cosmopolitanism, London 2013. Bahro, Horst; Bayerlein, Bernhard H.; Veser, Ernst (October 1998). “Duverger's concept: Semipresidential government revisited”. In: European Journal of Political Research (quarterly). 34 (1998), 2, S. 201–224. doi:10.1111/1475-6765.00405. Bayerlein, Bernhard H.: Deutscher Kommunismus und transnationaler Stalinismus. Komintern, KPD und Sowjetunion 1929–1943. In: Weber et al. (2013), S. 225–400. Bayerlein, Bernhard H.: The Entangled Catastrophe: Hitler’s 1933 ‘Seizure of Power’ and the Power Triangle. New Evidence on the Historic Failure of the KPD, the Comintern, and the Soviet Union. In: Hofrogge, Ralf/ Laporte, Norman (Hrsg.): Weimar Communism as Mass Movement, London 2017, S. 260–280. Bayerlein, Bernhard H/ Babitschenko, Leonid G./ Fridrich I. Firsow, Fridrich I./ Vatlin, Aleksandr Ju. (Hrsg.): Deutscher Oktober 1923 (Ein Revolutionsplan und sein Scheitern Archive des Kommunismus – Pfade des XX. Jahrhunderts. 3), Berlin 2003. Bayerlein, Bernhard H.: Abschied von einem Mythos. Die UdSSR, die Komintern und der Antifaschismus. In: Osteuropa LIX (2009), Heft 7–8, S. 125–148. Bayerlein, Bernhard H.: Das geheime Winogradow-Treffen im Februar 1933. Wie Moskau die Gegner Hitlers im Stich ließ. In: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, 1 (2017) S. 172– 182. http://indes-online.de/1-2017-das-geheime-winogradow-treffen-im-februar-1933 Besymenski, Lew: Stalin und Hitler. Das Pokerspiel der Diktatoren (Archive des Kommunismus – Pfade des XX. Jahrhunderts. Band 1), Berlin 2002. Broué, Pierre: Histoire de l’Internationale Communiste 1919–1943, Paris/ Fayard1997. Chlevnjuk, O.V/ Devis, R.U./ Košeleva, LP. (Hrsg.): Stalin i Kaganovič,: Stalin i Kaganovič. Perepiska. 1931–1936 gg., Moskva 2001.

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VOM „IMPERIUM GERMANICUM“ ZUM „NORDISCHEN RASSENSTAAT“ Neuordnungsentwürfe der radikalen Rechten Stefan Breuer Die radikale Rechte der Weimarer Republik wird in der Wissenschaft wie in der Politik gern auf „Faschismus“ reduziert. Für Autoren der politischen Linken versteht sich das nahezu von selbst, aber auch auf der Rechten begegnet man dieser Einstellung, etwa bei Ernst Nolte, für den sich der „europäische Bürgerkrieg“ der Jahre 1917–1945 im Wesentlichen zwischen zwei Lagern abspielte: dem (radikal-) faschistischen und dem bolschewistischen.1 Damit werden die Dinge zu sehr vereinfacht. Die radikale Rechte ist nicht erst als Reaktion auf die Oktoberrevolution entstanden, sondern lange davor; und sie erschöpft sich auch nicht in bloßen Antihaltungen, sondern folgt eigenständigen Ideologien und Zielen wie dem Nationalismus, dem Rassismus und dem Imperialismus, aus denen sich erst Art und Maß der Antihaltungen ergeben. Angesichts der Vielzahl von Positionen, die hier anzutreffen sind, schließt sich das Streben nach einem auch nur halbwegs vollständigen Überblick in dem hier vorgegebenen Rahmen aus.2 Ich beschränke mich deshalb auf zwei Autoren, die in der Weimarer Republik den öffentlichen Diskurs nicht nur, aber vor allem innerhalb der radikalen Rechten geprägt haben und die zugleich so unterschiedlich sind, dass man eine Ahnung von den Schwierigkeiten gewinnt, sie unter einen Hut zu bekommen: Oswald Spengler und Hans F. K. Günther. 1. OSWALD SPENGLERS PLANETARISCHER IMPERIALISMUS Von den 56 Jahren seines Lebens hat Oswald Spengler zwei Drittel im Zweiten Deutschen Kaiserreich verbracht.3 Wäre es nach ihm gegangen, hätte er dies gern auch für das restliche Drittel fortgesetzt. Er blieb Monarchist, hasste aus vollem Herzen alles, was mit dem parlamentarischen und parteimäßigen Betrieb der Politik zusammenhing und schrieb 1919 eine Apologie des Preußentums. Den Ersten Weltkrieg verfolgte er mit Enthusiasmus und Siegeszuversicht bis ins letzte Kriegsjahr hinein. Vom deutschen Sieg erwartete er, ähnlich wie die Vaterlandspartei, eine   1 2 3

Vgl. Nolte (1987): Der europäische Bürgerkrieg. Einen Versuch dazu habe ich an anderer Stelle unternommen: vgl. Breuer (2010): Die radikale Rechte. Aus der Fülle der Literatur vgl. Koktanek (1968): Spengler; Felken (1988): Spengler; Boterman (2000): Spengler.

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erhebliche Vergrößerung des Kolonialreichs, namentlich in Mittelafrika, sowie die Bildung einer mitteleuropäischen Mächtegruppierung unter deutscher Führung, deren Sphäre von Brüssel bis Konstantinopel reichen und ihre Spitze „gegen LondonWashington“ richten sollte4 – also exakt jene „Art Napoleonische Suprematie“ über Europa, von der Wilhelm II. seit 1892 träumte.5 Es wäre gleichwohl falsch, ihn umstandslos jener Generation zuzurechnen, die man die wilhelminische genannt hat.6 Das stimmt schon vom Datum her nicht, denn Spengler wurde 1880 geboren, fünfzehn Jahre später als die „Wilhelminer“, die sich aus den Jahrgängen 1853–1865 rekrutierten. Es stimmt aber auch von den politischen Erwartungen und Zielsetzungen her nicht. Seine Stellungnahmen in Briefen wie in den beiden frühen Hauptwerken geben keinen Anlass zu der Vermutung, dass ihm der im Lager der Alldeutschen verbreitete Migrationskolonialismus viel bedeutet hätte, zumal dieser häufig mit dem Anspruch verbunden war, die Gewichte wieder stärker vom Industriestaat zum Agrarstaat zu verlagern.7 Aber auch die andere, unter dem Etikett „Weltpolitik“ firmierende Variante des deutschen Expansionsstrebens teilte er nicht8, oder besser gesagt: sie war ihm nicht genug. Weltpolitik, wie sie seit 1897 vom Kaiser und seiner Regierung forciert, von den regierungsfreundlichen Parteien und der ihr nahestehenden Publizistik unterstützt wurde, zielte auf eine Erweiterung der politischen und wirtschaftlichen Einflusssphäre des Deutschen Reiches, die sein Entréebillet zum ‚Klub der Weltreiche‘ neben Großbritannien, Russland und den Vereinigten Staaten bilden sollte.9 Wenn Otto Hintze 1907 meinte, nicht ein Weltreich sei das Ziel des modernen Imperialismus, „sondern eine Anzahl von Weltreichen nebeneinander, in gleicher Unabhängigkeit und in einem ähnlichen Gleichgewicht der Macht wie die Großmächte im alten europäischen Staatensystem“10, dann kam er damit dem Selbstverständnis seines Souveräns recht nahe, der unter dem Einfluss Houston Stewart Chamberlains im Streben nach einer Universalmonarchie und einer Universalkirche etwas zutiefst Römisches, dem germanischen Geist Widersprechendes sah, dem gefolgt zu sein den Niedergang des alten Reiches verursacht habe.11 Für Spengler dagegen hatte Deutschland „eine Mission, die der Roms ähnlich ist.“12 Das Land befinde sich seit den Kriegen der brandenburgisch-preußischen Kurfürsten und Könige in einem   4 5 6 7 8 9 10

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Oswald Spengler an Hans Klöres, Brief vom 17.5.1916, in: Spengler (1963): Briefe, S. 51f. Vgl. Röhl: Wilhelm II. (1993): S. 616; (2001): S. 417. Vgl. Doerry (1986): Übergangsmenschen. Spenglers Distanz zum Wilhelminismus wie auch zu den „Ideen von 1914“ ist gut herausgearbeitet bei Kittsteiner (2005): Spengler, S. 329. Vgl. Smith (1986): Nazi Imperialism, S. 19, 101. Anders: Henkel (2012): Nationalkonservative Politik, S. 204. Vgl. Neitzel (2000): Weltmacht oder Untergang, S. 181. Hintze (1970): Imperialismus und Weltpolitik, S. 469. Hintze plädierte denn auch dafür, lieber von Weltpolitik zu sprechen als von Imperialismus, da mit diesem Begriff die differentia specifica der modernen Expansionsbestrebungen gegenüber den antiken nicht angemessen artikuliert werden könne. Vgl. Reden 1901–Ende 1905 (Reden vom 24.4.1901 und 19.6.1902): S. 21, 98; Chamberlain (1941): Grundlagen, Bd. 2, S. 792. Oswald Spengler an Hans Klöres, Brief vom 18.12.1914, in: Spengler (1963): Briefe, S. 33.

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„riesenhafte[n] Fortschreiten auf dem Wege zur Weltmacht […], wie es nur noch die Römer 300–50 v. Chr. erlebt haben“; und Weltmacht, das hieß für Spengler gerade nicht: Macht unter Mächten, sondern eine Neuauflage des Imperium Romanum, „das ‚Imperium Germanicum‘ der Zukunft“. 13 Anstelle des Pluriversums der abendländischen Staaten werde eine Ordnung „planetarischen Charakter[s]“ treten14, ein von Deutschland beherrschter Weltstaat, der die ganze Erde einem einzigen gestaltenden Prinzip unterwerfen werde: nicht durch Ausgleich und Zugeständnis an andere Mächte, „sondern durch Sieg und Vernichtung.“15 Gewiss waren auch viele Äußerungen, mit denen sich Wilhelm II. vernehmen ließ, nicht frei von solcher Hybris. Aber wenn der Kaiser gern das Wort Emanuel Geibels aufgriff, wonach am deutschen Wesen die Welt genesen solle16, dann war damit vor allem ein kultureller Hegemonialanspruch gemeint, wie er in den Kreisen der sogenannten Kulturimperialisten verbreitet war.17 Auf ein „äusserlich Unbegrenztes“ zu zielen, war Sache des römischen Imperialismus, wie Wilhelm es seinem Souffleur Chamberlain nachsprach. Germanisch-deutsch hingegen sollte es sein, sich im Äußerlichen zu begrenzen, um innerlich grenzenlos zu sein – in der sicheren Erwartung, die Welt durch die Überlegenheit der deutschen Kultur zu gewinnen.18 Ganz anders Spengler. Schon während des Krieges belehrte er seinen Briefpartner darüber, „daß dies Deutschland, das heute gegen die Welt kämpft, nicht Goethes Deutschland ist, sondern ein zweites Amerika.“19 Das entsprach seiner bald darauf im Untergang und in Preußentum und Sozialismus elaborierten Überzeugung, die abendländische Kultur sei wie andere Kulturen vor ihr in ein Stadium eingetreten, in dem ihre ursprünglichen seelischen Antriebskräfte infolge von Ausdehnung und Objektivierung fortschreitend schwächer würden – das Stadium der „Zivilisation“, dessen Gesetzmäßigkeiten für jeden Träger der Kultur verbindlich seien. Wer sich in diesem Stadium behaupten wolle, könne nicht anders, als sich dem „Gesamtbewußtsein“ der Epoche zu unterwerfen, das durch zwei Imperative bestimmt werde, die in Spenglers Darstellung allerdings ineinander verschwimmen: die Nötigung zum „Imperialismus“ und zum „Sozialismus“. 20 Handelte es sich beim ersteren um die im Wesen jeder Zivilisation angelegte Tendenz zur Expansion, der sich kein Akteur, ob Individuum oder Kollektiv, entziehen könne, so beim letzteren um ihren „vornehmsten Träger“, der sich heute noch gegen die Expansion auflehnen mochte, jedoch schon morgen der „dynamische[n] Leidenschaft der Ausdehnung, de[m] Willen zum Unendlichen“, die erforderlichen Substruktionen liefern werde, indem   13 14 15 16 17 18 19 20

Oswald Spengler an Hans Klöres, Brief vom 14.7.1915, ebd., S. 42, 44. Spengler (1973): Der Untergang des Abendlandes, S. 430. Spengler (1932): Politische Schriften (Preußentum und Sozialismus), S. 1–105, 89f. So z. B. in der Rede beim Festmahl für die Provinz Westfalen in Münster vom 31.8.1907, in: Reden 1906–Ende 1912, S. 88. Vgl. Wernecke (1970): Weltstellung Deutschlands, S. 304ff. Vgl. Chamberlain (1941): Grundlagen, Bd. 2, S. 792, 795. Oswald Spengler an Hans Klöres, Brief vom 14.7.1915, in: Spengler (1963): Briefe, S. 44. Spengler (1973): Der Untergang des Abendlandes, S. 51.

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er „über alle Klassen hinaus eine mächtige politisch-wirtschaftliche Ordnung ins Leben [rufe], ein System der vornehmen Sorge und Pflicht, die das Ganze für den Entscheidungskampf der Geschichte in fester Form hält“.21 Spengler sah darin ein Schicksal, eine Entwicklung so irreversibel wie in der Antike der Übergang von der griechischen Kultur zur römischen Zivilisation. Ein modernes Römertum, gestützt auf die faustischen Innovationen von Wissenschaft und Technik, sei deshalb auch die Zukunft der abendländischen, der faustischen Welt.22 Die meisten seiner Leser, selbst kluge wie Thomas Mann, überlasen es, aber dies war Spenglers unzweideutige Forderung an seine Zeit: Wenn unter dem Eindruck dieses Buches sich Menschen der neuen Generation der Technik statt der Lyrik, der Marine statt der Malerei, der Politik statt der Erkenntniskritik zuwenden, so tun sie, was ich wünsche, und man kann ihnen nichts Besseres wünschen.23

Sehr deutlich unterschied sich Spengler von seinem kaiserlichen Souverän auch in der Frage der Feindbestimmung. Während Wilhelm fortwährend schwankte, ob er in England ein neues Karthago sehen sollte, dem in der Einstellung Catos zu begegnen sei („ceterum censeo Britanniam esse delendam“), oder den Partner in einem zukünftigen Kondominium, das die „teutonische Rasse“ über die Weltkultur ausüben werde24, während er abwechselnd auch mal die „Gelben“ oder die Slawen zum Hauptfeind erklärte, gegen die ein „Rassenkrieg“ zu führen sei25, war sich Spengler seiner Sache sicher. England war das neue Karthago, das die einzige alternative Organisationsform präsentierte, die der abendländischen Kultur in der Phase der Zivilisation zur Wahl stand. Da dieses Stadium generell durch „Sozialismus“ charakterisiert war, hatte man es auch in diesem Fall mit „Sozialismus“ zu tun, allerdings, wie Spengler sich beeilte hinzuzufügen, mit einem „Privatsozialismus“, der ein Sozialismus ‚durch das Geld‘ und damit letztlich ein „Pseudosozialismus“ sei, den man auch „Kapitalismus“ nennen könne.26 In England habe der alte Wikingergeist Gestalt angenommen, der die Welt als Beute betrachte und sie der Versklavung durch das Händlertum unterwerfen wolle, individualistisch, egoistisch, staatsfremd bis zur Staatsfeindlichkeit, aber immerhin: „eine großartige Einheit der Haltung von Körper und Geist, eine Rasse […] von Erfolgreichen“.27 Ihm stehe der aus dem Geist der Ritterorden hervorgegangene preußische Sozialismus gegenüber, der einzig echte Sozialismus, der ein Sozialismus „durch den Staat“ sei.28 In ihm, der „mit der vollen germanischen Achtung vor dem Eigentum doch die in ihm ruhende Macht nicht dem einzelnen, sondern der Gesamtheit, dem Staate“ zuweise, liege die einzige Macht, die imstande sei, der angelsächsischen Idee der Welttruste und   21 22 23 24 25 26 27 28

Ebd., S. 51, 463, 1193. Vgl. ebd., S. 36, 56. Ebd., S. 57. Zu Thomas Manns Spengler-Rezeption, die sich nach anfänglicher Begeisterung ins Gegenteil verkehrte, vgl. Beßlich (2002): Faszination des Verfalls. Vgl. Röhl (1993): Wilhelm II., S. 451; (2008), S. 1196f., 229. Vgl. Röhl (2008): Wilhelm II., S. 311, 669; 927, 960, 963. Spengler (1932): Preußentum und Sozialismus, S. 94, 90, 88. Ebd., S. 89, 94, 38 Ebd., S. 88.

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Weltausbeutung etwas entgegenzusetzen: „die Idee der Weltorganisation, des Weltstaates“.29 Für Spengler stand fest, dass der Gegensatz zwischen diesen beiden Versionen des „Sozialismus“ nicht, wie in der Hegelschen Dialektik, durch Vermittlung auf eine höhere Ebene zu bringen und damit zu versöhnen sei. Es handelte sich vielmehr um ein Entweder-Oder à la Kierkegaard, das nur durch eine „blutige Entscheidungsschlacht“ zu lösen war, wie in der zur gleichen Zeit von Carl Schmitt beschworenen Staatsphilosophie der Gegenrevolution.30 „So stehen sich heute zwei große Wirtschaftsprinzipien gegenüber. […] Eine Versöhnung zwischen beiden gibt es nicht, und da sie beide, als Germanen und faustische Menschen höchsten Ranges, für ihr Wollen keine Grenze anerkennen und sich erst dann am Ziele glauben werden, wenn die ganze Welt ihrer Idee unterworfen ist, so wird es Krieg geben, bis eine von ihnen endgültig gesiegt hat.“31 Mochte gegenwärtig noch der britische Löwe triumphieren, wie der Ausgang des Ersten Weltkriegs gezeigt hatte, so war Spengler sich doch sicher, dass der Geist der Ritterorden über kurz oder lang das beutelustige Wikingertum überwinden werde.32 Der „gewaltige Endkampf der beiden germanischen Ideen“33 war freilich nicht nur als Völkerschlacht vorzustellen. Er sollte zugleich ein „Bürgerkrieg“ sein, habe man doch heute „in jedem Land eine englische und eine preußische Wirtschaftspartei“.34 „Es ist längst nicht jeder Engländer von Geburt ein ‚Engländer‘ im Sinne einer Rasse, nicht jeder Preuße ein ‚Preuße‘“, und erst recht nicht jeder Deutsche.35 Zwar gebe es „echt preußische Naturen überall in Deutschland“, doch leider auch „das geistige Engländertum“, das „innere England“ in Gestalt des „kapitalistischparlamentarischen Liberalismus“, zu dem Spengler neben den liberalen auch die sozialistischen Parteien in dem Maße zählte, in dem sie vom Marxismus beeinflusst waren, einer Lehre, die aufgrund ihrer Fokussierung auf Wirtschaft und ihrer „Umdeutung des Gegensatzes von Rassen in den von Klassen“ „rein englisch“ sei.36 Spenglers Botschaft ist nach alledem klar: Wenn Preußen-Deutschland seine historische Mission erfüllen wollte, war zuerst das Schussfeld frei zu räumen, war die unsichtbare Armee, die England auf deutschem Boden hinterlassen hatte, sichtbar zu machen und auszuschalten, was in konkrete Schritte übersetzt zunächst hieß: „Befreiung von den Formen der englisch-französischen Demokratie“, die auch in die Weimarer Verfassung Eingang gefunden hatten.37 Von hier aus erklärt sich Spenglers Annäherung an jenen Flügel der Gegenrevolution, der mindestens eine   29 30 31 32 33 34 35 36 37

Ebd., S. 95f., 89. Schmitt (1979): Politische Theologie, S. 75. Zu den Beziehungen zwischen Schmitt und Spengler vgl. meine Studie (2012): Carl Schmitt im Kontext, S. 257ff. Spengler (1932): Preußentum und Sozialismus, S. 53. Vgl. Spengler (1973): Der Untergang des Abendlandes, S. 1144. Spengler (1932): Preußentum und Sozialismus, S. 71. Ebd., S. 54. Ebd., S. 30. Ebd., S. 69, 74f. Ebd., S. 104.

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autoritäre Transformation dieser Verfassung anstrebte, erklärt sich aber auch seine Distanzierung von allen Versuchen, dieses Ziel mittels eines Putsches von unten, durch eine Aktivierung des Demos zu erreichen.38 Die Weltbühne hatte nicht ganz unrecht, als sie ihn 1931 zum „Philosophen der Schwerindustrie“ kürte.39 Nachzutragen bleibt mit Blick auf die weltpolitische Lage noch ein Punkt, der in einem gewissen Widerspruch zu Spenglers Aussage steht, wonach „der moderne Imperialismus auf den ganzen Planeten gerichtet“ sei.40 Erwartete Spengler noch im Ersten Weltkrieg in voller Übereinstimmung mit der Kriegszielpolitik Ludendorffs für sein Land ein faktisches Protektorat über Europa „bis zum Ural“, also eine Neuordnung, die namentlich Osteuropa unter deutsche Herrschaft bringen werde41, so hieß es 1922 in kategorischem Ton: „das wirkliche Europa hört an der Weichsel auf.“42 Dahinter stehen weniger militärstrategische Erwägungen als solche kulturmorphologischer und geschichtsphilosophischer Art, schrieb Spengler doch Russland eine eigene „Urseele“ und damit das „Versprechen einer kommenden Kultur“ „zwischen ‚Europa‘ und Ostasien“ zu.43 Der Bolschewismus, unter dessen Herrschaft das Land gegenwärtig noch stehen mochte, war dazu bestimmt, eine Episode zu sein, ein weiterer vergeblicher Versuch, das Land zu verwestlichen.44 Seit Lenins Tod beginne sich mehr und mehr das „Russentum der Tiefe“ zu melden, das den Westen bereits vergessen habe und „nach Vorder- und Ostasien“

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Vgl. Felken (1988): Spengler, S. 134ff.; Boterman (2000): Spengler, S. 294ff., 343ff. Brentano (1931): Der Philosoph der Schwerindustrie. Spengler (1932): Preußentum und Sozialismus, S. 24. Oswald Spengler an Hans Klöres, Brief vom 11.5.1918, in: Spengler (1963): Briefe, S. 97. Wie Spengler vertrat auch Ludendorff die Ansicht, dass Deutschland seine Weltmachtansprüche vor allem gegen England durchzusetzen hatte, sah dafür allerdings das geeignete Mittel in der Zerstörung Russlands als Großmacht und seiner Herabstufung zu einem wirtschaftlich fest an das Reich angegliederten Vasallenstaat: vgl. Nebelin (2010): Ludendorff, S. 290, 348f., 373, 387. In diesem Punkt unterschied sich das von ihm angestrebte „Imperium Germaniae“ (ebd., S. 356) deutlich von der Version, die Spengler nach Kriegsende favorisierte und nahm vielmehr wesentliche Züge des „Großgermanischen Reiches“ vorweg (ebd., S. 399; vgl. weiter unten). Spengler (1932): Politische Schriften (Das Doppelantlitz Russlands und die deutschen Ostprobleme), S. 107–126, 110. Spengler (1932): Preußentum und Sozialismus, S. 98; Das Doppelantlitz Russlands, S. 121. Vgl. Kraus (1998): „Untergang des Abendlandes“. Vgl. Spengler (1973): Der Untergang des Abendlandes, S. 788ff. Das gilt zumindest für die ursprüngliche Form des Bolschewismus, die in diesem Buch noch als eine „ganz abendländische und unrussische Erscheinung“ gesehen wird (ebd., S. 1182). In Russland eine bloße „Kruste“, die rasch dahinschwinde (ebd.), sei sie auch für die übrige Welt „bedeutungslos“, da sie zur Entscheidung zwischen preußischer und englischer Idee nichts beizutragen habe. Später fasst Spengler allerdings die Möglichkeit einer Mutation ins Auge, aus der sowohl ein „asiatische[r] Bolschewismus“ hervorgehe als auch ein abendländischer oder „weißer“ Bolschewismus in der Gestalt eines „katholischen Bolschewismus“ sowie eines „Steuer“- und des „Lohnbolschewismus“, womit der Begriff vollends konturlos wird: vgl. Spengler (1932): Preußentum und Sozialismus, S. 103; Spengler (1933): Jahre der Entscheidung, S. 152, 92, 119, 112.

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hinblicke.45 Was immer sich hier langfristig entwickle46, kurz und mittelfristig kollidierten Russlands Interessen nicht mit denjenigen Deutschlands, und so habe dieses sich darauf einzustellen, lediglich „Grenzstaat gegen ‚Asien‘“ zu sein. Ein Kreuzzug gegen den Bolschewismus, wie er von den Ententemächten propagiert werde, sei ein verhängnisvoller Fehler, der Vertrag von Rapallo deshalb „die erste selbständige Tat deutscher Außenpolitik“.47 2. HANS F. K. GÜNTHER UND DER „NORDISCHE GEDANKE“ Kulturen im weiteren Sinne waren nach Spengler „Organismen“, die immer dann entstanden, wenn „eine große Seele aus dem urseelenhaften Zustande ewig-kindlichen Menschentums erwacht“ und zur „Gestalt“ wird.48 Im Fall der abendländischen Kultur war dies die „nordische Seele“, die „mit der Geburt des romanischen Stils im 10. Jahrhundert in den nordischen Ebenen zwischen Elbe und Tajo aufblühte“.49 Damit schrieb sich Spengler in jene bis in die Frühe Neuzeit zurückreichende „Idolatrie des Nordens“ ein, der auch sein Kaiser mit seinen jährlichen Nordlandfahrten Tribut gezollt hatte.50 Allerdings hatte sich diese Idolatrie im späten 19. Jahrhundert mit den damals aufkommenden Rassenideologien verbunden, denen Spengler ablehnend gegenüberstand. Obgleich er selbst oft und gern von Rasse sprach, wandte er sich doch deutlich gegen die – wie er vereinfachend meinte – ‚darwinistischen‘ Versuche, die Rassen aus unveränderlichen Merkmalen wie Körperbau oder Schädelform abzuleiten. Rassebildend waren für ihn die Sprechweise, das Gefühl für Schönheit, Kameradschaft, Bildung – alles rein subjektive und ipso facto kontingente Merkmale, die eine feste Einteilung der Rassen unmöglich machten. Rasse, hieß es denn auch, sei durch und durch unsystematisch, ein Produkt von Leistung, Züchtung und Auslese, mithin nichts anderes als das, was

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Spengler (1932): Das Doppelantlitz Russlands, S. 123. Immerhin erschien es Spengler nicht ausgeschlossen, „daß eine Explosion metaphysischer Inbrunst durch einen Führer, der irgendwie und irgendwo auftaucht, ganz plötzlich zu einer politischen Welle werden kann, die in wenigen Jahren das Antlitz Asiens unwiderstehlich und für immer verändert“: Spengler (1932): Politische Schriften (Neue Formen der Weltpolitik), S. 157–183, 178. Erst mit dem Konzept der „farbigen Weltrevolution“, das Spengler in Jahre der Entscheidung entwickelte, wurde das zur rein asiatischen Macht gewordene Russland zu einer akuten Bedrohung auch für das Abendland, doch schwankt auch in dieser Schrift die Einschätzung des Gefährdungspotentials noch beträchtlich: vgl. Spengler (1933): Jahre der Entscheidung, S. 152ff. mit S. 45ff. Spengler (1932): Politische Schriften (Vorwort), S. VIII; vgl. Das Doppelantlitz Russlands, S. 123. Spengler (1973): Der Untergang des Abendlandes, S. 140, 143. Ebd., S. 466, 234; vgl. S. 120. Vgl. Zernack (1996): Anschauungen vom Norden.

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üblicherweise als Elite bezeichnet wird.51 „Zuletzt hat jeder einzelne Mensch und jeder Augenblick seines Daseins seine eigene Rasse.“52 Solche Sätze wurden mit besonderer Aufmerksamkeit in einer Strömung registriert, die sich ab 1920 in ersten Publikationen artikulierte, um sich wenige Jahre später der Öffentlichkeit als „Nordische Bewegung“ zu präsentieren.53 Ihr Wortführer, Hans F. K. Günther, besprach 1921, also noch vor Erscheinen seiner Rassenkunde des deutschen Volkes (1922), den ersten Band des Untergangs in den von Artur Hoffmann herausgegebenen Beiträgen zur Philosophie des Deutschen Idealismus, dem Organ der alldeutsch-völkisch ausgerichteten Deutschen Philosophischen Gesellschaft.54 Der Hauptmangel von Spenglers schlecht geschriebenem, in der Sache aber immerhin bedeutungsvollen Werk liege darin, dass in ihm „die sogenannte anthropologische Geschichtsbetrachtung noch nicht fruchtbar geworden“ sei, deren wichtigster Beitrag in der Aufdeckung der „rassischen Bedingungen des Geschichtsbildes“ bestehe. Namentlich die von Spengler beschriebenen Alterungsvorgänge, die letztlich auch für die Untergangsvisionen verantwortlich seien, würden falsch gedeutet, weil auf ein und dieselbe Seele bezogen. In Wirklichkeit sei, was als Altern erscheine, nur die Folge eines Rassenwandels, der durchaus nicht unabwendbar sei. „Sp[engler] ist ein Ende, ein Untergang. Der Aufgang ist an uns, und die Wende wird sein: die Einsicht in das ewige Wesen reiner, nordischer Rasse.“55 Was hier nur erst angedeutet wurde, fand seine ausführlichere Begründung in Günthers 1925 erschienener Schrift Der Nordische Gedanke unter den Deutschen. Spengler wird dort als eine Grenzerscheinung des 19. Jahrhunderts präsentiert, die sich zu Unrecht als dessen Überwinder empfinde, bleibe sie doch dem für diese Epoche charakteristischen mechanistischen Denken verhaftet. Schlimmer noch: sein „morphologisches Denken“ sei genau genommen der von ihm beschriebenen „magischen Kultur“ zuzurechnen – einer Kultur, die sich vorzugsweise in Zahlenmystik und Sterndeuterei ergehe und vor allem in der vorderasiatisch-orientalischen   51

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Vgl. Spengler (1973): Der Untergang des Abendlandes, S. 712, 755, 775. 1924 spitzte Spengler diese Gedanken zu einer scharfen Kritik der völkischen Bewegung zu: vgl. Spengler (1932): Politische Schriften (Neubau des deutschen Reiches), S. 185–296, 202ff. Spengler (1973): Der Untergang des Abendlandes, S. 712. Angesichts solcher Aussagen sollte man davon absehen, Spengler einen spirituellen oder psychischen Rassismus vorzuwerfen (so aber: Merlio [1982], Spengler, S. 112). Wenn Rasse, wie in diesem Fall, eine Kategorie ist, die Volk, Nation, ja Individuum nachgeordnet und von ihnen her zu verändern ist, ist eine Begriffswahl unzulänglich, die den Unterschied zu gegenteiligen Behauptungen verschleift. Aber das ist angesichts der aktuellen Inflationierung des Rassismusbegriffs wohl in den Wind gesprochen. Vgl. Günther (1920): Ritter, Tod und Teufel; (1923): Rassenkunde des deutschen Volkes, München; (1924): Die nordische Bewegung unter den Deutschen; Breuer (2009): ‚Nordische Bewegung‘. Zu Person und Werk Hans F. K. Günthers vgl. Lutzhöft (1971): Der Nordische Gedanke; Weisenburger (1997): Der „Rassepapst“. Vgl. Günther (1921): Spengler.

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Welt beheimatet sei.56 Auch wenn einzuräumen sei, dass Spengler mit gewissen Seiten seines Wesens zur faustischen (nordischen) Welt gehöre, weise ihn der Schwerpunkt seiner Lehre doch unzweideutig dem Gegenlager zu. Beweise: seine Ignoranz gegenüber der Vererbungs- und Erbgesundheitslehre, seine Vernachlässigung der Rassenforschung, seine abwegige Geschichtskonstruktion, die eine kulturelle Erneuerung allenfalls noch von Osteuropa her erwarte (in Günthers Terminologie: von der „ostbaltische[n] Seele mit ihrem Unvermögen zu Entschluss und Gestaltung“); endlich die Verdüsterung des Horizonts, die zu einer Lähmung des Handlungswillens führe. Angesichts des negativen Einflusses, den diese Lehre zumal auf die Jugend ausübe, gehöre ihre Überwindung „durch die rassenkundliche Geschichtsbetrachtung in Gobineaus Geiste zu den Gegenwartsaufgaben der Nordischen Bewegung“.57 Wenn hier der Geist Gobineaus gegen Spengler aufgeboten wird, so bedarf dies freilich einiger Erläuterungen. Günther war wohl insofern Gobinist, als er die Menschheit in Rassen mit bestimmten festgelegten geistigen, seelischen und körperlichen Eigenschaften einteilte und diese in einer klar wertenden Stufenfolge anordnete: an der Spitze eine „heldische“ und als solche prinzipiell ‚adelsfähige‘ Rasse, die in Günthers Nomenklatur nicht mehr als arisch, sondern als nordisch firmiert58; am untersten Ende eine vermutlich aus Asien stammende Knechtsrasse, die ostische59; dazwischen eine Reihe von Mittelgliedern, die hier nicht ausbuchstabiert werden können. Während Gobineau jedoch die Geschichte als entropischen Prozess konstruierte, bei dem die ursprünglich den reinen Rassen eigenen Potentiale verdünnt und verwässert würden60, teilte Günther diese Annahme nicht. Rassenmischung war für ihn solange kein kardinales Problem, wie davon die Reproduktion der Herrenrasse nicht tangiert wurde. Mochten sich in den mittleren und unteren Etagen des Sozialgefüges die Rassen auch noch so stark mischen, mochten auch einzelne Begabte der Rassen zweiten und dritten Ranges in die Führungsschicht kooptiert werden: solange durch ein Ensemble von rechtlichen, politischen und ökonomischen Privilegien sowie durch Endogamie und soziale Abschottung ein hinreichendes Quantum an nordischem Blut gesichert war, schadete Mischung nicht, ja wirkte sogar förderlich, indem sie für die Oberschicht eine ständige Herausforderung zur Behauptung ihres Status darstellte.61 Diese Konstellation wurde jedoch seit dem 19. Jahrhundert durch mehrere miteinander zusammenhängende Prozesse untergraben. Durch die Urbanisierung verlagerte sich der Schwerpunkt des gesellschaftlichen Lebens vom Land in die Stadt, wo die Familien kleiner wurden und die Kinderzahlen sanken, insbesondere in den oberen Schichten. Die Industrialisierung brachte neue Formen der Massenproduk  56 57 58 59 60 61

Günther (1927): Der Nordische Gedanke, S. 24. Ebd., S. 26, 25. Vgl. Günther (1923): Rassenkunde des deutschen Volkes, S. 289; (1927): Der Nordische Gedanke, S. 19. Vgl. ebd., S. 265. Vgl. Sieferle (1989): Die Krise der menschlichen Natur, S. 139ff. Vgl. Günther (1927): Der Nordische Gedanke, S. 84f., 97f.

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tion mit sich, die eher den Fähigkeiten der ‚ostischen Rasse‘ entsprachen und deren Vermehrung begünstigten. Der Abbau ständischer Schranken in Verbindung mit der politischen Demokratisierung trug ein Übriges zur Nivellierung bei und bedrohte die Herrschaft der ‚nordischen Rasse‘.62 Dies alles klingt nach einer weiteren Variante jener kulturpessimistischen Doktrinen, wie sie im Gefolge von Fritz Stern oft als typisches Merkmal der radikalen Rechten zugeschrieben werden. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Denn die wissenschaftlichen und technischen Innovationen, auf denen die Industrialisierung beruhte, gehörten nach Günther zu den Großtaten des nordischen Geistes und standen deshalb nicht zur Disposition; wie auch die Erweiterung des Horizonts, die wirtschaftliche und politisch-kriegerische Eroberung des Globus von Günther in einer Weise heroisiert wurde, die sich von Spengler nicht unterschied. Sogar die anerkennende Bezeichnung des nordischen Geistes als „faustisch“ wurde von Günther, aller Spenglerkritik zum Trotz, übernommen.63 Seine Kritik war deshalb nicht schlechterdings antimodern, sondern richtete sich allein gegen die negativen Rückwirkungen, die die Modernisierung auf ihre eigentliche Triebkraft, die nordische Rasse, hatte. Diese erwies sich nämlich als recht wenig resistent und geriet deshalb in Gefahr, ihre Führungsposition an andere Rassen bzw. Rassengemische zu verlieren, die sich in bestimmten Nischen der Moderne einnisteten und diese zu ihrem Vorteil zu nutzen verstanden. Es wird nicht überraschen, dass Günthers Blick hier vor allem auf das Judentum fiel – das Judentum freilich nicht im Sinne jener „Gegenrasse“, zu der es im völkischen Flügel der NSDAP stilisiert wurde64, sondern als „Volk“, das sich seit dem babylonischen Exil aus ‚orientalisch-vorderasiatisch-hamitisch-negerisch-westischen‘ Elementen zusammensetzte, im Mittelalter einen stärkeren Einschlag ‚mongolischen (innerasiatischen)‘ sowie ‚ostischen‘ Bluts erhielt und dafür die orientalischen, westischen und hamitisch-negerischen Komponenten einbüßte, so dass man es grosso modo mit einer überwiegend asiatischen Mischung zu tun hatte.65 Günther zitierte denn auch gern das Wort Martin Bubers, das Judentum sei „ein Keil, den Asien in Europas Gefüge trieb“.66 Zu diesem Keil gehörte der von Juden geleitete Bolschewismus innerhalb wie außerhalb Russlands, der „europafremdes Blut“ nach Europa hineinführte67; gehörten aber auch die Juden West- und Mitteleuropas, die dort Einfluss auf das Kredit- und Finanzwesen, auf die Presse und die Führung der liberalen, demokratischen und sozialistischen Parteien gewonnen hatten und diesen in doppelter Weise nutzten: zur Förderung von Umweltbedingungen,   62 63 64

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Vgl. Günther (1923): Rassenkunde des deutschen Volkes, S. 335, 360ff., 386ff. Vgl. ebd., S. 130ff., 163, 430; (1926): Rasse und Stil, S. 45f.; (1927): Der Nordische Gedanke, S. 124, 130; 24, 63, 131. Beispielsweise von Alfred Rosenberg (1933): Wesen, S. 18. Die Bezeichnung geht zurück auf Arno Schickedanz, von 1923 bis 1933 Leiter des Berliner Büros des Völkischen Beobachters und Verfasser der Schrift Das Judentum, eine Gegenrasse (1927). Vgl. Günther (1923): Rassenkunde des deutschen Volkes, S. 464f., 468, 474f. Günther (1930): Rassenkunde des jüdischen Volkes, S. 341. Vgl. Günther (1923): Rassenkunde des deutschen Volkes, S. 175.

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die geeignet waren, die Hegemonie der nordischen Rasse zu untergraben; und zum Abbau aller politischen und rechtlichen Schranken, die die Massen des Ostens von Europa fernhielten. Werde dem nicht energisch entgegengesteuert, werde die nordische Rasse über kurz oder lang in der Flut des asiatischen Massenmenschentums versinken.68 Die Rolle, die damit dem Judentum zugemessen wurde, war nicht, wie bei Hitler, die eines Weltfeindes. Sie war aber erheblich größer als bei Spengler, für den das Judentum fast schon ein „Fellachenvolk“ war, immer noch gefährlich, weil es im Rahmen der Zivilisation die dem Preußentum entgegengesetzten Mechanismen verstärkte, aber doch nur als ein Faktor neben anderen und überdies seiner Auflösung entgegengehend.69 Für Günther dagegen trug es maßgeblich zur Zuspitzung des weltgeschichtlichen Gegensatzes zwischen Europa und Asien bei, der im Wesentlichen ein Gegensatz zwischen der nordischen Rasse und den nichtnordischen Rassen und Völkern Asiens war, die sich in Europa ausbreiteten. Da die skandinavischen Länder zwar noch zu gut drei Vierteln nordisch waren, jedoch nur über eine geringe Bevölkerungszahl verfügten, kam als einziger Bündnispartner für PreußenDeutschland allein jenes Land in Frage, in dem Spengler den eigentlichen Widersacher des Ordensgeistes sah: England. Nach Günthers Ansicht verfügte es nicht nur über einen ähnlich hohen Anteil an nordischem Blut (60%), sondern hatte sich gerade in seiner Führungsschicht noch reiner nordisch erhalten als die Eliten Deutschlands.70 Überdies hätten die „Angelsachsen der schöpferischen Zeiten“ schon einmal gezeigt, wie sich eine vorbildliche Gesittung schaffen und ein Volk   68 69

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Günther (1923): Rassenkunde des deutschen Volkes, S. 390ff. Bei Lutzhöft (1971): Der Nordische Gedanke, wird Günthers Antisemitismus deutlich unterbelichtet (vgl. S. 23). Vgl. Spengler (1973): Der Untergang des Abendlandes, S. 772, 948, 950, 959f. Für Spengler waren die Juden vor dem Exil ein „Urvolk“, was vor allem hieß: kein ‚weltgeschichtliches‘, von einer Idee geleitetes Volk (ebd., S. 759ff.). Nach dem Exil bildeten sie eine „Nation magischen Stils“, die sich nicht auf Abstammung, sondern auf ‚consensus‘ gründete (ebd., S. 766, 769, 804). In der Endphase seien sie Träger einer „Fellachenreligion“, die auf fatale Weise die Wurzellosigkeit der „neuzivilisierten abendländischen ‚Gesellschaft‘“ potenziere (ebd., S. 958), jedoch weder deren Ursache noch in dieser Wirkung einzigartig sei, eigneten die destruktiven Tendenzen doch „alle[n] magischen Nationen […] seit den Kreuzzügen“ (ebd., S. 951). Obwohl die Juden aus dieser Perspektive lediglich ein Superadditum zu allgemein-zivilisatorischen Tendenzen sind, kann ich mich der Einschätzung nicht anschließen, „daß bei Spengler keine antisemitische Einstellung anzutreffen ist“: Ferrari Zumbini (1999): Untergänge und Morgenröten, S. 22. Dem steht nicht nur entgegen, dass Spengler in den Juden eine „Sprechrasse“ gesehen und damit Topoi aufgegriffen hat, die sich in Richard Wagners Das Judentum in der Musik finden; auch die Entschiedenheit, mit der er dem gesamten Kollektiv – wie allerdings auch seinen „Wirtsvölkern“ – einen nachgerade metaphysischen Hass zuschreibt, passt in den antisemitischen Code der Zeit: vgl. Spengler (1973): Der Untergang des Abendlandes, S. 704, 953. Immerhin handelt es sich um einen Antisemitismus, der im Judentum nur eine begrenzte Gefahr sah, der mit einer Rücknahme der Emanzipation leicht zu begegnen sei. Vgl. dazu auch Thöndl (1993): Politikbild, S. 436. Günther dagegen wollte die Juden nicht mehr im Land haben und setzte sich deshalb für eine Unterstützung des Zionismus ein: vgl. ders. (1930): Rassenkunde des jüdischen Volkes, S. 338ff., 343. Vgl. Günther (1923): Rassenkunde des deutschen Volkes, S. 220f., 329f.; (1926): Rassenkunde Europas, S. 79; (1926): Adel und Rasse, S. 94ff.

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für die Aufgabe erziehen ließ, zum „Gebieter der Erde“ aufzusteigen.71 Völlig verfehlt sei es deswegen gewesen, dass sich die politische Führung beider Länder 1914 von Demagogen in einen Krieg habe treiben lassen, einen Krieg, in dem „gerade die an nordischem Blut reichsten Großmächte ihre tüchtigste Rassenkraft aneinander verbluten“ ließen, um am Ende die Früchte des Sieges bzw. des Friedens der „dünnen Schicht des ‚Internationalen Leihkapitals‘“ zufallen zu lassen, „welches hauptsächlich der vorderasiatischen Rasse zugehört oder gehorcht.“72 Zu eben der Zeit, als Spengler nichts unversucht ließ, seine Landsleute auf die Unvermeidlichkeit eines neuen Krieges einzustimmen, erinnerte Günther daran, dass „in jedem bisherigen europäischen Krieg und so auch im Weltkrieg […] die nordische Rasse auf seiten beider jeweiliger Gegner am meisten gelitten [habe]“, ja das Schwinden der nordischen Rasse etwa seit dem frühen Mittelalter […] geradezu eine Folge ihrer Kriegstüchtigkeit“ sei.73 Unbedingt zu vermeiden sei deshalb sowohl das Mittel des Krieges als solches als auch jene zum Krieg treibende Politik des „Imperialismus“, die die Völker gegeneinander gehetzt habe – eine Kritik, die Günther auch an jene rassenideologischen Kreise adressierte, die dem „Pangermanismus“ huldigten.74 Den „nordisch-gerichteten Menschen“ innerhalb der Völker germanischer Sprache empfahl Günther deshalb, „nach solch einem Einfluß auf die Staatsleitungen und die öffentlichen Meinungen [zu] streben, daß ein Krieg, der den Bestand an nordischem Blut so verwüstet wie der Weltkrieg […] künftighin nicht mehr möglich ist“.75 Dies alles schloss nicht aus, dass auch die nordische Rasse durch den „Drang zu leiblich-seelischer Eroberung der Welt“ gekennzeichnet war, nach Beherrschung „des sich unaufhaltsam bildenden Weltbetriebes“ strebte.76 Kurz- und mittelfristig war dies indes keine realistische Perspektive, reichte doch der durch die Verstädterung und die Kriegsfolgen stark geschwächte ‚Grundstock‘ an Menschen nordischer Rasse in Deutschland für eine derart ausgreifende Politik vorerst nicht aus, so dass eine Stärkung dieses Grundstockes absolute Priorität genoss. Als geeignetes Mittel hierfür erschien Günther die Erweiterung des nordischen Gedankens zum „Allnordischen Gedanken“, der seinem Wesen nach „notwendig zugleich der Gedanke der Unverletzbarkeit des Friedens der Völker germanischer Sprache unter sich“ sei.77 Ein nordisches Gegenstück zur Internationale der Sozialisten bzw. Kommunisten war damit nicht gemeint, sei doch das nordische Wesen „immer zum Sondertum des Stammes geneigt“ und daher jeder zentralistischen Zusammen-

  Günther (1920): Ritter, Tod und Teufel, S. 90, 145. Günther (1927): Der Nordische Gedanke, S. 37. Günther (1923): Rassenkunde des deutschen Volkes, S. 407. Vgl. Günther (1927): Der Nordische Gedanke, S. 34f. Namentlich genannt wird insbesondere Josef Ludwig Reimer mit seinem Buch Ein pangermanisches Deutschland (1905). 75 Günther (1924): Der nordische Gedanke, S. 825. 76 Günther (1927): Der nordische Gedanke, S. 131. 77 Günther (1926): Rassenkunde Europas, S. 219. 71 72 73 74

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fassung abhold.78 Gleichwohl sei dieser Gedanke geeignet, in den abendländischen Völkern mit stärkerem nordischen Einschlag „das Rassengewissen in Einzelnen da und dort zu erwecken“.79 Auf diese Weise werde nicht nur der für die „Wiedervernordung“ unerlässliche „Geburtenwettkampf“ stimuliert80, sondern auch ein Bewusstsein für die weltgeschichtliche Entscheidung geschaffen, vor der die Gegenwart stehe: „die Entscheidung, ob die Völker von einer Oberschicht vorwiegend vorderasiatischer Rasse (weil jüdischen Volkstums) kapitalistisch beherrscht oder (wie im heutigen Russland) kommunistisch und kapitalistisch beherrscht, oder ob sie von einer Oberschicht vorwiegend nordischer Rasse geführt werden sollen.“81 Die Idee einer „Allnordischen Völkerverständigung“ erschien Günther freilich in der aktuellen Lage noch zu utopisch, um handlungsanleitend zu sein.82 Noch auf längere Sicht böten sich den „Nordgesinnten“ Handlungsmöglichkeiten allein auf nationalstaatlicher Ebene, im entschiedenen Eintreten für eine Implementierung pro- und antinatalistischer Maßnahmen, die „eine Mehrung höherwertiger Erbanlagen, d.h. [eine] höhere Kinderzahl der Erblich-Tüchtigsten und eine Hemmung der Fortpflanzung der Erblich-Minderwertigen“ ermöglichen sollten“.83 Durchgeführt werden sollten diese Maßnahmen zunächst nur im Wege der Selbsthilfe, im Rahmen von Bünden, die „bei der Auswahl ihrer Mitglieder möglichst streng sind und nur stark vorwiegend nordische oder rein nordische Menschen aufnehmen“, sich auf eine Lebensführung im Geiste der Lebensreformbewegung verpflichten, eine möglichst hohe Zahl von Kindern in die Welt setzen und diese im „heldischen Geist“ erziehen.84 Da Günther allerdings zugleich darauf beharrte, dass ein wirklicher Erfolg dieser Bemühungen nur in dem Maße zu erzielen sei, in dem man die durch das 19. Jahrhundert geschaffene „nordfeindliche Umwelt“ von Grund auf änderte85, war klar, dass auf die Dauer Selbsthilfe und Werbung für den nordischen Gedanken nicht genügen würden. „Wiedervernordung“ verlangte nicht weniger als eine „Gesundung der Besiedlungsverhältnisse“, Bodenreform, Eindämmung des „fast schrankenlosen Kapitalismus des beweglichen Kapitals“, Abbau der Massendemokratie und des Sozialstaates sowie Steuerung der Einwanderung – Ziele, die letztlich nur mithilfe einer autoritären Staatsführung, im Rahmen eines neu zu schaffenden „deutschen Staat[es] nordischer Rasse“, zu erreichen waren.86 Es überrascht deshalb nicht, dass Günther, wie der Großteil der Nordischen Bewegung, im Aufstieg der NSDAP ab 1929 die einmalige Chance sah, die erforderliche politische   78

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Günther (1927): Der Nordische Gedanke, S. 61. Die Etablierung einer „übervölkischen Allnordischen Bewegung“, heißt es dort weiter, finde „im Wesen der Nordrasse selbst schon Grenzen: zum Wesen der Nordrasse scheint die Führung nordisch-bedingter Völker zu gehören und ebenso ein ausgeprägtes vaterländisches Empfinden.“ Ebd., S. 37. Ebd., S. 45. Ebd., S. 129. Ebd., S. 41. Ebd., S. 13. Ebd., S. 115, 117. Ebd., S.126. Ebd., S. 409, 418; (1920): Ritter, Tod und Teufel, S. 137.

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Macht für die Durchsetzung seines Programms zu gewinnen, auch wenn er einen gewissen Degout gegenüber einer Bewegung, die sich so sehr an die Massen wendete, nicht verhehlen konnte. 1930 nahm er deshalb gern den Lehrstuhl für Sozialanthropologie an der Universität Jena an, den ihm der nationalsozialistische Innenminister von Thüringen antrug, wie er auch drei Jahre später der Berufung in den Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik folgte, dem unter anderem die Vorbereitung eines Sterilisationsgesetzes und die Schaffung eines Familienlastenausgleichs oblag.87 *** Mit Günther und Spengler hat man es mit zwei Autoren zu tun, die gewiss nicht nur in der radikalen Rechten Resonanz fanden. Allerdings dort besonders und ganz besonders in der NSDAP. Zur Fangemeinde Spenglers gehörten Joseph Goebbels und Gregor Straßer, zu derjenigen Günthers R. Walther Darré und Heinrich Himmler. Von den zweifellos vorhandenen Gemeinsamkeiten – allen voran: der Gegnerschaft gegen Versailles – darf man sich jedoch über die tiefgreifenden Unterschiede nicht hinwegtäuschen lassen. Steht Spengler für ein entschieden welt- und außenpolitisches, „imperialistisches“ Denken, das in England den Hauptfeind sieht und ihm die Weltherrschaft in offensiver Form streitig machen will, so steht umgekehrt Günther für eine Einstellung, die bekümmert die Bestände an wertvollem Blut mustert und ein weltpolitisches Moratorium verlangt, um diese zunächst wieder aufzufrischen. Dominiert hier der entschlossene Blick auf die politische, und das heißt vor allem: staatliche Macht, die allein imstande erscheint, die Weltwirtschaft in eine Weltorganisation umzuwandeln, so dort eine Neigung zum Rückzug, zur Defensive, ja zur Antipolitik, um zunächst dem nordischen Gedanken eine hinreichend große Anhängerschaft zu verschaffen. Zeigt sich Spengler gewiss, dass der Entscheidungskampf im Westen, zwischen den „beiden germanischen Rassen“ ausgetragen wird88, während Russland auf längere Sicht von den Geburtswehen einer neuen Kultur gelähmt sei, so beschwört Günther die Vorstellung, dass aus dem Osten immer weitere Wellen minderwertiger Rassen nach Mittel- und Westeuropa drängten, gegen die es sich zu wappnen gelte, nach Möglichkeit mittels einer nordischen Allianz unter Einschluss Englands. Hält man sich diese (noch leicht zu vermehrenden) Unterschiede vor Augen, so wird klar, dass es eine rein spenglerianische Politik ebenso wenig gegeben hat wie eine rein güntherianische. Ebenso klar ist, dass beide durchaus auch zum Zuge gekommen sind, wenngleich in modifizierter und selektiver Weise. Am deutlichsten greifbar scheint mir dies bei der SS zu sein: einer Organisation, die ihren Auslesepraktiken nach ganz auf der Rassenlehre Günthers fußte89, die auch die   87 88 89

Vgl. Weingart et al. (1992): Rasse, Blut und Gene, S. 461ff. Spengler (1932): Preußentum und Sozialismus, S. 73. Vgl. Heinemann (2003); Hein (2011).

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rassenpolitischen Ziele Günthers teilte und gleichwohl deutlich über dessen kurzund mittelfristig defensive Haltung hinausging, in die Richtung eines „Großgermanischen Reiches“, das Europa zu einer Festung gegen Asien ausbauen und zu diesem Zweck seine Außengrenzen bis zum Ural vorschieben sollte. 90 Das lag in seiner Orientierung auf „Reich“ oder sogar „Weltreich“ auf der Linie Spenglers, wich von dieser allerdings insofern ab, als sich die „abendländische Mission“ dieses Reiches vor allem im Osten erfüllen sollte und überdies namentlich bei Himmler mit Vorstellungen von Seelenwanderung und Wiedergeburt aufgeladen war91, die Spengler Anathema waren: galten ihm doch Theosophie und Okkultismus als eine „Mode müßiger und zerrütteter Gehirne“, als eine „Waffe verrottender Weltstadtseelen“, vom gleichen Schlag wie der „Salonspartakismus“.92 Zwar kennt auch Spengler einen Sendungsgedanken, doch bezieht dieser sich nicht auf das Abendland, sondern nur auf einen Teil desselben, das „Preußentum“, dem die Mission zugedacht ist, innerhalb der Zivilisation noch einen Rest „Form“ bzw. Kultur zu konservieren.93 Außerdem handelt es sich in diesem Fall um ein Residuum, nicht um Reinkarnation, und noch dazu um eines, dessen Zeit bald abgelaufen sein wird: ab 2200 droht auch im Abendland, Preußentum hin oder her, ein „langsames Heraufdringen urmenschlicher Zustände in eine hochzivilisierte Lebenshaltung“.94 Und wie in dem längst eingetretenen „Zeitalter der unbedingten geschichtlichen Formlosigkeit“, der „ganz persönliche[n] Gewalt“ großer Einzelner, noch „Traditionen einer alten Monarchie, eines alten Adels, einer alten vornehmen Gesellschaft […] zu einem Mittelpunkt werden [sollen], der den Daseinsstrom eines ganzen Volkes zusammenhält, es diese Zeit überdauern und die Küste der Zukunft erreichen läßt“95, ist vollends Spenglers Geheimnis geblieben. In Analogien zu denken, wie Spengler es tat, mag zu illustrativen Zwecken hier und da hilfreich sein. Wie jedoch

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Vgl. Kroll (1998): Utopie als Ideologie, S. 215ff. Vgl. ebd., S. 218, 249; Harten (2014), S. 471ff.; Zander (1999): Seelenwanderung, S. 564ff. Spengler (1932): Preußentum und Sozialismus, S. 101. Ausführlicher dazu Thöndl (2009): Wie oft stirbt das Abendland? S. 261, 265f., 270. Auf diese Argumentationsfigur pflegen sich Deutungen zu stützen, die Spengler für eine zeitgenössische Gestalt des „Konservatismus“ reklamieren: vgl. etwa Bussche (1998): Konservatismus, S. 119ff., 259ff. Ausgeblendet wird dabei, dass es Spengler keineswegs um die Bewahrung des „Urgrund[es] der Kultur“ geht (ebd., S. 257), sondern um die Mobilmachung einer Ressource für den Kampf um die Weltherrschaft, die in eben diesem Kampf verschlissen zu werden pflegt. Im Übrigen schließen Cäsarismus und Konservatismus einander aus, wie Spengler sehr wohl gewusst, aber selten so deutlich ausgesprochen hat wie sein Zeitgenosse Max Weber, für den die Bedeutung der „cäsaristische[n]Wendung der Führerauslese“ darin lag, „daß der politische Führer nicht mehr auf Grund der Anerkennung seiner Bewährung im Kreise einer Honoratiorenschicht zum Kandidaten proklamiert, dann kraft seines Hervortretens im Parlament zum Führer wird, sondern daß er das Vertrauen und den Glauben der Massen an sich und also seine Macht mit massendemagogischen Mitteln gewinnt“: Weber (1984): Zur Politik im Weltkrieg, S. 538f. Spengler (1973): Untergang des Abendlandes, S. 69. Ebd., S. 1083, 1101.

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schon Hegel bemerkt, widerlegt die Analogie „um ihrer Natur willen, sich so oft“ selbst,96 dass mit ihren Mitteln keine sicheren Schlüsse möglich sind. LITERATUR Beßlich, Barbara: Faszination des Verfalls. Thomas Mann und Oswald Spengler, Berlin 2002. Boterman, Frits: Oswald Spengler und sein „Untergang des Abendlandes“, Köln 2000. Brentano, Bernhard von: Der Philosoph der Schwerindustrie. In: Die Weltbühne 27 (1931), 369– 372. Breuer, Stefan: Die ‚Nordische Bewegung‘ in der Weimarer Republik. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 57 (2009), 485–509. Ders.: Die radikale Rechte in Deutschland 1871–1945, Stuttgart 2010. Ders.: Carl Schmitt im Kontext, Berlin 2012. Bussche, Raimund von dem: Konservatismus in der Weimarer Republik. Die Politisierung des Unpolitischen, Heidelberg 1998. Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, 2 Bde., 27. Aufl., München 1941, zuerst 1899. Doerry, Martin: Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs, Weinheim / München 1986. Felken, Detlef: Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur, München 1988. Ferrari Zumbini, Massimo: Untergänge und Morgenröten. Nietzsche – Spengler – Antisemitismus, Würzburg 1999. Günther, Hans F. K.: Ritter, Tod und Teufel. Der heldische Gedanke, München 1920. Ders.: Rez. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. In: Beiträge zur Philosophie des Deutschen Idealismus, Bd. 2, 1921, 45–48. Ders.: Rassenkunde des deutschen Volkes, 3. Aufl., München 1923, zuerst 1922. Ders.: Der Nordische Gedanke. In: Die Sonne 1 (1924), H. 33, 783–787; H. 34, 823–826. Ders.: Die nordische Bewegung unter den Deutschen. In: Deutschlands Erneuerung 8 (1924), H. 12, 743–748. Ders.: Rasse und Stil, München 1926. Ders.: Rassenkunde Europas, München 1926, zuerst 1925. Ders.: Adel und Rasse, München 1926. Ders.: Der Nordische Gedanke unter den Deutschen, 2. Aufl., München und Berlin 1927, zuerst 1925. Ders.: Rassenkunde des jüdischen Volkes, 2. Aufl., München 1930, zuerst 1929. Harten, Hans-Christian: Himmlers Lehrer. Die Weltanschauliche Schulung in der SS 1933–1945, Paderborn 2014. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. Werke in zwanzig Bänden. Theorie Werkausgabe, hrsg. von Karl Markus Michel und Eva Moldenhauer, Bd. 3, Frankfurt am Main 1970. Hein, Bastian: Himmlers Orden. Das Auslese- und Beitrittsverfahren der Allgemeinen SS. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59, 2011, 263–280. Heinemann, Isabel: Rasse, Siedlung, deutsches Blut. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung, Göttingen 2003.

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Stefan Breuer

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KRISE UND NEUORDNUNG DES LIBERALISMUS UND DER WELTWIRTSCHAFT

WACHSTUM, GERECHTIGKEIT, FRIEDEN? Deutschland, die Internationale Handelskammer (Paris) und die Handelsschiedsgerichtsbarkeit, 1920–19351 Jakob Zollmann 1. IDEEN UND VORLÄUFER, 1875–1919 Den „Wirthschaftswissenschaften“ wohnt, ebenso wie ihrem Untersuchungsgegenstand, ein „kosmopolitischer Charakter“ inne. Diese Einsicht des Ökonomen Arthur von Studnitz von 1875 begründete sich auch in der Vielzahl von internationalen Zusammenkünften, die im späten 19. Jahrhundert „wirthschaftliche Gesetze“ zu ergründen suchten und zur Verbesserung des Wirtschaftsverkehrs über alle staatlichen Grenzen hinweg beitragen wollten. Es gab Kongresse der „Volkswirthe“, „Meterconferenzen“, „Postconferenzen“ – und eine Zusammenkunft zur Gründung einer „Internationalen Handelskammer“. 1875 hatten sich in Paris zu diesem Zweck freihändlerisch gesonnene Privatpersonen zusammengefunden, die sich das Ziel setzten, jährlich Kongresse von Vertretern nationaler Handelskammern zu organisieren, um „internationale Handelsfragen zu discutieren“ und Informationen etwa zu Zöllen und zur Handelsgesetzgebung auszutauschen. Endlich beabsichtigt die internationale Handelskammer, die Bildung von Handelsgerichten an allen Zentralstellen [eines] Landes anzuregen, auf die Unification und Codification der auf den Handel bezüglichen Gesetze und Gebräuche hinzuwirken und als Schiedsgericht in allen internationalen Handelsstreitigkeiten einzutreten, welche der internationalen Handelskammer unterbreitet werden sollten.2

Indes sollten noch Jahrzehnte vergehen, bis eine solch nichtstaatlich-übernational organisierte Institution den internationalen Handel zu befördern versuchen konnte. Erstmals trat 1904 in Lüttich der „Internationale Kongress der Handelskammern und Industrievereinigungen“ zusammen. Es folgten im zweijährigen Rhythmus Treffen in Mailand, Prag, London, Boston und schließlich 1914 in Paris. Zwischen den Kongressen versuchte ein „Ständiger Ausschuss“ kontinuierliche Arbeit zu

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Der Beitrag basiert auf Forschungen im Rahmen des DFG-Projekts „Völkerrechtliche Schiedsgerichtsbarkeit. Formen zwischenstaatlicher Konfliktlösung (1860 bis 1930)“. Studnitz (1875): Umschau, S. 461; 473. Angeregt worden sei diese IHK unter anderem durch „K.B. Murray [British Chamber of Commerce in Paris, gegr. 1873], Michel Chevalier [Ökonom und ‚Vater‘ des frz.-brit. Freihandelsabkommens 1860], Dollfus, Wolowski u.A.“; vgl. Petersson (2015): Promise, S. 92–110.

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leisten und bei den Regierungen die Umsetzung der gefassten Resolutionen zu veranlassen. Doch gelang dies nach Ansicht der Zeitgenossen nur unzureichend.3 Handelskammern auf nationaler Ebene als kaufmännische Interessenvertretungen gegenüber städtischen und staatlichen Obrigkeiten hatte es in Europa bereits im 17. Jahrhundert, in Nordamerika seit dem 18. Jahrhundert gegeben.4 Darüber hinaus gab es spezielle Auslandshandelskammern, die deutsche und britische Kaufleute in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als „Selbsthilfeorganisationen“ in ausländischen Staaten gründeten.5 Die politische und ökonomische Zweckmäßigkeit all dieser Handelskammern als moderierende, selbstverwaltete und -gewählte Fachgremien in allen Handelsfragen erwies sich auch angesichts des zunehmend grenzüberschreitenden Handelsverkehrs seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Bei der Idee einer internationalen Handelskammer handelte es sich daher – um einen juristischen Begriff zu benutzen – um eine „domestic analogy“. Was auf lokaler und nationaler Ebene seit dem 17. Jahrhundert gut war (die Handelskammern), konnte übernational auf keinen Fall schlecht sein. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden mit Unterstützung politischer Funktionsträger neben städtischen und regionalen auch nationale Handelskammern gegründet, da es bei der Erschließung und Vereinheitlichung nationaler Märkte Abstimmungsbedarf bei gesetzlichen Regelungen oder finanz- und verkehrstechnischen Einzelheiten gab. Beim grenzüberschreitenden Handel lagen die Probleme anders, aber auch hier herrschte großer Abstimmungsbedarf.6 Investitionsschutz musste vereinbart, Doppelbesteuerung vermieden, verschiedene Vertragstypen auf ihre Praktikabilität im Geschäftsverkehr hin geprüft und Regelungen für den Streit zwischen zwei oder mehr international agierenden Firmen getroffen werden. Die internationalen Wirtschaftsbeziehungen wurden mehr und mehr verrechtlicht. Das heißt, es entstand ein „wachsende[s] Normengeflecht des internationalen Wirtschaftsrechts“.7 Im deutschen Sprachgebrauch bürgerte sich der Begriff „Weltwirtschaft“ ein.8 Hinzu kam, dass seit der Gründung des Ständigen Schiedsgerichtshof in Den Haag (1899) auch auf dem Gebiet des Völkerrechts eine Institution bereitstand, Streitigkeiten zwischen Regierungen schiedsgerichtlich beizulegen – warum aber sollte nicht auch der internationale Handel über eine solche Institution verfügen?9 Die Gründung einer internationalen

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Fahey (1921): ICC, S. 126–130. Mead (2014): Magicians, S. 15–41. Will (2010): Selbstverwaltung, S. 387. “Realizing the value to the trading interests of the world of a similar international organization, some of the projectors of the American [Chamber of Commerce] a few years ago set about creating an International Chamber of Commerce.” The International Chamber of Commerce. In: Advocate of Peace 82/7 (1920), S. 223; vgl. Nehring (1929): IHK, S. 6; Klüssmann (1932): IHK, S. 117–119. Schmoeckel/Maetschke (2016): Rechtsgeschichte, Rn 684; vgl. Petersson (2004): Welt, S. 93– 112. Slobodian (2015): World Economy, S. 308. Wehberg, (1911): Gerichtshof, S. 117–138; vgl. Sgard (2016): Tale, S. 162f.

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Handelskammer – von Praktikern des internationalen Handels für Praktiker des internationalen Handels10 – erschien aus diesen Erfahrungen heraus geradezu zwingend. Damit reiht sich die Idee zu einer solchen Institution ein in die lange Geschichte der Verdichtung und Integration der Staatengemeinschaft und ihrer Volkswirtschaften. Die internationale Integration blieb nicht beschränkt auf „die Ausbreitung zwischenstaatlicher Verkehrsformen europäischen Typs und der ihnen korrespondierenden Völkerrechtsnormen. Auch private oder nicht-gouvernementale Verflechtungen transnationalen Charakters nahmen in der zweiten [Hälfte des 19.] Jahrhunderts sprunghaft zu.“11 Für Bernhard Harms, Leiter des 1914 gegründeten Kieler Instituts für Weltwirtschaft, war es rückblickend die „Macht der wirtschaftlichen Tatsachen [, die] unablässig vorwärts“ drängte und „Stück um Stück für die ‚Weltverkehrsgesellschaft‘ das ‚Weltwirtschaftsrecht‘“ verwirklichte.12 Die Friedensbewegung gehörte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zu den lautstärksten Befürwortern einer internationalen Vereinigung von Wirtschaftsvertretern. Denn aus liberal-pazifistischer Sicht war ‚mehr Handel‘ zwischen Nationen gleichbedeutend mit ‚mehr Frieden‘. Bekanntlich hatte schon Immanuel Kant der „Geldmacht“ einen dem „edlen Frieden“ förderlichen Effekt zuerkannt: „Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, und der früher oder später sich jedes Volkes bemächtigt.“13 In Boston, wo ein Jahr zuvor die World Peace Foundation gegründet worden war, fand 1912 der bisher größte internationale Kongress der Handelskammern statt (300 Amerikaner und 500 Delegierte „representing together the most important commercial organizations of practically every civilized nation in the world“). U.S. Präsident William Howard Taft persönlich verabschiedete die Delegierten mit der Vergewisserung: „You come here for trade – to promote trade – and trade is peace.”14 Nach dem Weltkrieg war die Ausgangslage für die Fortführung dieser Pläne hin zu einer Verstetigung der internationalen Handelskongresse eine vollkommen andere. Die Siegesgewissheit pazifistischer Stimmen, die sich und ihr politisches Ziel eines „ewigen Friedens“ durch „das Recht“ im Einklang mit Fortschritt und wissenschaftlicher Erkenntnis wussten, war einer nüchterneren Betrachtung gewichen. Kurz nach der Unterzeichnung des Waffenstillstands 1918 trafen sich in Paris erstmals wieder Vertreter des Ständigen Ausschusses des Internationalen Kongresses der Handelskammern. Die dortigen Debatten der Wirtschaftsvertreter blieben   10 Das war ein großer Unterschied zu den wissenschaftlichen Verlautbarungen etwa des Institut de droit international, „das ab 1895 regelmäßig das Problem der internationalen Doppelbesteuerung auf seine Tagesordnung setzte.“ Vgl. Bräunig (2016): Dorn, S. 153. 11 Osterhammel (2011): Verwandlung, S. 723f.; 731; vgl. Vec (2006): Recht; Collin (2015): Selbstregulierung, S. 10–31. 12 Harms zit. in. Schmoeckel/Maetschke (2016): Rechtsgeschichte, Rn 704. 13 Kant (1964 [1795]): Frieden, S. 226. 14 International Congress of Chambers of Commerce, in: Advocate of Peace 74 No. 10 (1912), S. 245f.; vgl. Boston Chamber of Commerce (ed.): Fifth International Congress of Chambers of Commerce and Commercial and Industrial Associations, September and October 1912, Boston 1912.

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nicht unbeeinflusst von den monatelangen Verhandlungen zwischen den alliierten Regierungen in Vorbereitung eines Friedensschlusses mit dem Deutschen Reich. Frankreich bestand auf hohen deutschen Reparationsleistungen, Großbritannien und vor allem die USA legten den Schwerpunkt auf die Wiederherstellung einer funktionierenden Weltwirtschaft. Hinzu trat das amerikanische Interesse an einer Rückzahlung der interalliierten Kriegsschulden, die gleichfalls gesunde Volkswirtschaften in Frankreich und Großbritannien voraussetzten.15 Die Notwendigkeit amerikanischer Unterstützung beim Wiederaufbau der vom Krieg zerstörten Industrien und Landstriche und die sich daraus ergebenden Chancen für die amerikanische Wirtschaft waren offensichtlich. Daher lud die amerikanische Handelskammer Vertreter alliierter Handelskammern in die USA ein, um konkrete Kooperationen zu vereinbaren. Daraufhin trafen im Oktober 1919 in Atlantic City, New Jersey, Vertreter der amerikanischen Handelskammer mit Bankern und Industriellen aus Großbritannien, Frankreich, Belgien und Italien zusammen. Es ging bei dieser International Trade Conference zum einen darum zu klären, wie die während des Krieges gewachsenen wirtschaftlichen Verbindungen verstetigt bzw. unterbrochene wieder aufgenommen werden könnten, um den Wiederaufbau zu beschleunigen. Zum anderen wurde abermals die Frage nach der Gründung einer Art world business organization behandelt und – auch angesichts der personellen Kontinuität zur Vorkriegszeit – emphatisch bejaht.16 Einige Monate später, am 24. Juni 1920, gründeten in Paris 450 Delegierte aus den USA (allein 140 Personen), Belgien, Frankreich, Großbritannien und Italien die Chambre de Commerce International/International Chamber of Commerce (ICC). 2. DIE INTERNATIONALE HANDELSKAMMER IN PARIS. AUFBAU UND ZIELE Die Delegierten der Pariser Konferenz verabschiedeten eine Satzung, die unter der Leitung des Bostoners John F. Fahey, eines ehemaligen Präsidenten der US Handelskammer, vorbereitet worden war. Darin waren insbesondere der Aufbau und die Ziele der zukünftigen Organisation ausbuchstabiert, die eine privatrechtlich organisierte Vereinigung nationaler Vertreter privater Handelsinteressen sein sollte. Als Organe der Internationalen Handelskammer wurden eingesetzt: Präsidium/Vorstand (board of directors/council); Hauptversammlung/Kongresse (alle zwei Jahre); „Landesgruppen“ als nationale Unterorganisationen der ICC (national committees); und die „Zentrale“ (headquarters) in Paris mit eigenem Fachpersonal.17 In der Zentrale der ICC residierte das Präsidium (Präsident und Vizepräsidenten), der Verwaltungsrat als ausführendes Organ, in das jede Landesgruppe maximal drei Delegierte hineinwählen konnte, und als Geschäftsstelle das General  15 Büttner (2008): Weimar, S. 121f. 16 ICC, Brochure No. 20: The Organization of the International Chamber of Commerce, Paris, February 1922, S. 5; vgl. Schneider (1920): Le Voyage. 17 Fahey (1921): ICC, S. 127.

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sekretariat (der vom Verwaltungsrat bestellte Generalsekretär und die Direktoren für die Abteilungen Finanzkontrolle und Absatzorganisation, Transport und Verkehr, Industrie und Handel, Presse und Information, Kongresse und Umsetzung der Beschlüsse). Die Mitgliedschaft in der ICC war in zwei Kategorien unterteilt: 1. Körperschaften/Organisationen (organization members) und 2. Einzelfirmen oder Individuen (associate members). Nationale Wirtschaftsverbände, die Handels-, Industrieoder Bankinteressen vertraten und selbst keine individuellen Profitinteressen hatten, etwa nationale oder lokale Industrie- und Handelskammern, konnten die Mitgliedschaft in der ersten Kategorie beantragen und Delegierte zu den Kongressen der ICC entsenden (ordentliche Mitgliedschaft). Einzelpersonen und Unternehmen, die von einer der Landesgruppen der ICC als Mitglied vorgeschlagen wurden, konnten die Mitgliedschaft in der zweiten Kategorie beantragen und vom Vorstand zugelassen werden (außerordentliche Mitglieder). Ein Mitgliedsbeitrag in Höhe von (1922) 300 bis 500 Francs p.a. war pro Delegiertem bzw. assoziiertem Mitglied zu zahlen.18 „Länder“ als solche konnten nicht Mitglieder der ICC werden. Vielmehr war die „Internationale Handelskammer … eine Vereinigung der hauptsächlichen Wirtschaftskreise der beteiligten Länder, die in jedem Lande in einer Landesgruppe zusammengefasst werden.“ (ICC Satzung Art. I § 3) Es verstand sich vorerst von selbst, dass laut Satzung der Vorstand nur Mitgliedschaften aus alliierten und einst neutralen Staaten zulassen würde, die Mitglieder des Völkerbunds waren oder die Mitgliedschaft beantragt hatten. Auch wenn die USA nie Mitglied des Völkerbunds wurden, blieben amerikanische Körperschaften und Einzelfirmen stets Mitglieder der Internationalen Handelskammer. Auf den ICC-Konferenzen, einer Art globales „Wirtschaftsparlament“, hatten – über die Delegierten (maximal 10 pro ordentlichem Mitglied) – nur die Körperschaften Stimmrecht. Über die von den Initiatoren angedachten Ziele der Gründung einer Internationalen Handelskammer hieß es in der 1920 verabschiedeten Constitution der ICC: The International Chamber of Commerce’s purpose is: To represent all the economic factors of international business, including commerce, industry, transportation, and finance; […] To secure effective and consistent action for the improvement of business conditions between nations and for the solution of international economic problems; To encourage intercourse and better understanding between business men […] of the various countries; And thereby to promote peace and cordial relations between nations.

Auch hier findet sich eine klassische Ausformulierung der alten Idee, dass Handel des Friedens nicht nur bedarf, sondern ihn auch ermöglicht. Daher war Merchants of Peace eine gern genutzte Selbstbezeichnung der ICC-Oberen, um die eigenen   18 ICC, Brochure No. 20: The Organization of the International Chamber of Commerce, Paris, February 1922, S. 9.

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Ziele zu veranschaulichen. „World peace through world trade“ wurde gar zum über Jahrzehnte hinweg genutzten Slogan der ICC.19 Konkret aber ging es vorerst um das Ziel, angesichts der schlechten Wirtschaftslage 1920 die nationalen Märkte für Handel und Investitionen anderer Staaten zu öffnen, um Wettbewerb und Handel überhaupt erst möglich zu machen. Das hieß aber in logischer Konsequenz, dass die Organisation über ihre Gründungsmitglieder aus Belgien, Großbritannien, Frankreich, Italien und den Vereinigten Staaten notwendig hinauswachsen und tendenziell Mitglieder aus der ganzen Welt umfassen musste. Denn die Unternehmer der im Krieg siegreichen Nationen sollten nicht länger „capitalize the valor of dead soldiers“.20 Tatsächlich gelang es der ICC recht erfolgreich, international Werbung in eigener Sache zu machen und so wuchs die Zahl der Mitgliedschaften in den kommenden Jahren beträchtlich. 1922 waren es bereits 385 ordentliche und 528 außerordentliche Mitglieder, die sich aus 14 Ländergruppen (national committees) rekrutierten.21 Die wirtschaftlichen und politischen Ziele der ICC sollten durch Austausch im weitesten Sinne des Worts erreicht werden. Dafür galt es Fachkongresse, Abstimmungen unter den Mitgliedern, oder auch Einzeluntersuchungen zu bestimmten wirtschaftsrelevanten Fragen zu organisieren. Darüber hinaus trat die ICC mit Veröffentlichungen an die politische und breitere Öffentlichkeit, damit die Ergebnisse der eigenen Untersuchungen von den Verantwortlichen in den nationalen Regierungen oder dem Völkerbund in konkrete politische Maßnahmen übersetzt werden konnten. Diese volkswirtschaftlich-wissenschaftliche Expertise galt als notwendig für das Wachstum der Weltwirtschaft. Denn, wie es der „commissioner for the United States to the International Chamber of Commerce”, Frederick P. Keppel, wenig diplomatisch formulierte: „Too many diplomats and legislators are amateur economists, and the world sorely needs a check on their well-meaning but often illadvised efforts.”22 Die dafür erforderliche Vorarbeit wurde in Studienausschüssen der ICC geleistet. Diese berührten, so die selbstbewusste Darstellung eines Mitglieds der amerikanischen Landesgruppe, „any important phase of international trade relationship whose betterment may contribute to greater and more profitable world business“.23 Der Historiker Quinn Slobodian hat dieses Selbstverständnis der Ökonomen folgendermaßen zusammengefasst: „The task of economists was to identify and demystify the world economy, and to recast interdependence as a manageable challenge for informed policy makers.“24 Konkret erarbeitete die ICC Vorschläge zur Erstellung besserer Handelsstatistiken; leistete argumentative LobbyArbeit gegen Zollschranken oder arbeitete Musterverträgen für den internationalen Handel aus. Seit 1920 veröffentlichte die Internationale Handelskammer daher eine Vielzahl von Broschüren, Übersichten und sonstige Verlautbarungen, die sich   19 20 21 22 23 24

Blackburn (1979): World peace; Bhandari (2016): Constitutionalism, S. 56. The International Chamber of Commerce. In: Advocate of Peace 82/8 (1920), S. 261. Keppel (1922), ICC, S. 199. Keppel (1922): ICC, S. 189. Bacher / Snow (1937): Organization, S. 363. Slobodian (2015): World Economy, S. 313.

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durch ein hohes Expertenniveau auszeichneten und immer konkrete Handlungsempfehlungen für Regierungen und Unternehmen sein wollten.25 Die Kompetenz der ICC in allen (welt)wirtschaftlichen Fragen wurde insbesondere von den Fachausschüssen des Völkerbunds anerkannt, die wiederholt auf den Rat und die Informationen der ICC-Experten zurückgriffen. Zwischen beiden Institutionen kam es zu einer engen, manche meinten: zu engen Verflechtung. Mitunter hatte ICC-Personal auf Konferenzen des Völkerbunds regulären Delegiertenstatus.26 An dem Stockholmer ICC-Kongress (1927) nahmen nicht nur 787 ICCDelegierte teil, sondern auch Delegationen des Völkerbunds und der Reparationskommissionen.27 Es ist daher nicht überraschend, dass sich die weltanschaulichen Annahmen zentraler Akteure der ICC mit jenen im Völkerbund deckten. Auch dort war, so die historische Forschung, die Ausrichtung führender Köpfe an einem internationalen Wirtschaftsliberalismus unverkennbar, der sich von den Vorzügen eines freien, globalen Marktes überzeugt zeigte.28 Ungeachtet des dominierenden amerikanischen Einflusses bei der Gründung und juristischen Ausgestaltung der ICC („the scheme [of the ICC] is that of the American National Chamber“29) war nicht nur mit dem Pariser Sitz der Zentrale Frankreich ein großer Einfluss zugestanden. Auch der Gründungspräsident (1920– 23) war ein Franzose: Der Senator und ehemalige Wirtschaftsminister Etienne Clémentel war ein Schwergewicht der französischen Politik (und Wirtschaft). Er hatte während des Krieges persönlich erlebt, wie eng verwoben die alliierten Volkswirtschaften waren. Auf der Gründungskonferenz in Paris wurde auch Edouard Dolléans, ein Ökonomieprofessor aus Dijon, zum ersten ICC-Generalsekretär gewählt. Die Gründung der Internationalen Handelskammer im Gefolge des Ersten Weltkriegs verweist auf den großen weltwirtschaftlichen Kontext dieser Jahre, der auch in der Person des ICC-Präsidenten zum Ausdruck kommt: Clémentel galt als Vater der legendär komplexen „Wirtschaftlichen Bestimmungen“ des Versailler Vertrags. Die Probleme um die deutschen Reparationszahlungen und der interalliierten Schulden überlagerten fast alle wirtschaftspolitischen Debatten der Zeit. Die kriegsbedingten „Forderungen [aus den Friedensverträgen], die Regierungen gegenüber anderen Staaten erhoben, [führten] zu erheblichen grenzüberschreitenden Übertragungen von Eigentumsrechten“.30 Dies harrte einer gesetzlichen und vertraglichen Regelung, und so wurden mit der Umsetzung des Versailler Vertrags die   25 Vgl. Rosengarten (2001), IHK, S. 120. 26 Vgl. Wilk (1940): Organization, S. 233 unter Bezug auf die Weltwirtschaftskonferenz in Genf, 1927. 27 Klüssmann (1932): IHK, S. 14; 121; vgl. Bräunig (2016): Dorn, S. 205: „Wie sehr dem Völkerbund [1927] an der Erarbeitung einer für die Praxis tauglichen Lösung des Doppelbesteuerungsproblems gelegen war, lässt sich auch daran ablesen, dass zusätzlich zu der Erweiterung des Expertenkomitees auch eine Delegation der Internationalen Handelskammer unter der Leitung von Robert Julliard eingeladen wurde, an den Beratungen teilzunehmen.” 28 Vgl. Clavin (2013): Securing. 29 Keppel (1922): ICC, S. 191; vgl. Sgard (2016): Tale, S. 170. 30 James (2016): Reichswirtschaftsministerium, S. 518.

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definitorischen Grenzen zwischen Völkerrecht und Internationalem Privatrecht immer unklarer.31 In den kommenden Jahren war die ICC auch für diese Debatten ein Forum, um über die Fragen der Reparationsabwicklung nicht allein zwischen Politikern, sondern auch zwischen Geschäftsleuten (alliierter) Staaten zu verhandeln; hinzu kamen Wirtschaftsfunktionäre.32 In vielen Staaten wurden nach dem Krieg private Wirtschaftsverbände gegründet; außerdem wirkten internationale Einrichtungen wie die ICC, die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), oder Unterorganisationen des Völkerbunds an wichtigen Verhandlungen mit. Die Stellenbesetzung dieser Institutionen verweist auf eine größere personelle „Durchlässigkeit“ zwischen Staatsverwaltungen und Privatwirtschaft und Verbänden. Deren Vertreter – oft zuvor im Staatsdienst tätig gewesen –, übertrugen, so der Historiker Philipp Müller „zuvor auf den Staat bezogene Ideen des Allgemeinwohls auf die Wirtschaft.“ Diese neue Betonung einer politischen Rolle der Wirtschaft, die Nationen koordinieren, Abhängigkeitsverhältnisse relativieren und Frieden sichern sollte, ließ „Wirtschaftsfragen […] gleichermaßen kollektiv, volkswirtschaftlich und international werden und erforderte aus Sicht der Wirtschaftsvertreter die Integration privatwirtschaftlicher Verbände in die Administration der öffentlichen Belange.“33 3. DEUTSCHE MITGLIEDSCHAFTEN IN DER INTERNATIONALEN HANDELSKAMMER AB 1925 In einem der Gründung der ICC überaus positiv gesonnenen Beitrag hieß es: „Even German ‘captains of industry’ and bankers must understand now [1920] that nationalistic commercialism, employing force and relying on an army to win for it new markets […] is a reed shaken in the wind.“34 An neue Kriege war tatsächlich nicht zu denken. Vertreter der deutschen Wirtschaft blieben nach dem Krieg freilich vorrangig daran interessiert, verlorene Märkte zurückzugewinnen und wieder stärker in den globalen Handel eingebunden zu werden. Dazu gehörte als Voraussetzung auch die Möglichkeit, eigene Interessen international vertreten zu können. Mit der Schülerschen Reform des Auswärtigen Amts war nach der Revolution eine neue Außenhandelsabteilung (Abt. X) gegründet worden, die dies politisch unterstützen sollte. Auch das seit 1918/19 eigenständige Reichswirtschaftsministerium versuchte eine systematische Außenwirtschaftspolitik zu betreiben, die nach 1924 „die Erholung der deutschen Volkswirtschaft mit der wiederbelebten Weltwirtschaft […] verzahnen“ sollte.35 Aus Sicht der deutschen Wirtschaft und der Politik war die Ausgangslage nach 1919 von erheblichen Ungerechtigkeiten gegenüber Deutschland geprägt. Die Rede   31 Vgl. Kuhn (1926): Les effets. 32 PAAA R 117837, Dt. Botschaft London an AA, 12.4.1923, Resolution of ICC Conference Rome, March 1923. 33 Müller (2015): Kapitalismus, S. 159f.; 167. 34 The International Chamber of Commerce. In: Advocate of Peace 82/8 (1920), S. 260. 35 James (2016): Reichswirtschaftsministerium, S. 578.

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war von Deutschlands „unabwendbarem Ruin“36 und von der Begründung eines „Verhältniss[es] des Herrn zum Sklaven“ durch den Versailler Vertrag. Dieser hatte die deutsche Wirtschaft einer (unfreiwilligen) Öffnung gegenüber den Alliierten unterworfen. Denn der „Teil X.“ des Vertrages (Artikel 264ff. „Wirtschaftliche Bestimmungen. Abschnitt I. Handelsbeziehungen. Kapitel 1. Zoll-Bestimmungen, Zoll-Tarif, Zoll-Beschränkungen“) statuierte die Pflicht des Deutschen Reiches, den 27 Alliierten einseitig Meistbegünstigung einzuräumen.37 Gemäß Artikel 280 VV waren diese Bestimmungen auf fünf Jahre begrenzt, so dass Deutschland erst im Januar 1925 „seine volle handelspolitische Aktionsfähigkeit wiedergewann.“38 ICC-Präsident Etienne Clémentel bezeichnete zwar als eines der wesentlichen Ziele seiner Organisation „the creation among leaders of finance, industry and commerce in the affiliated countries of a vast net-work of friendship founded on a mutual desire for understanding and co-operation.”39 Doch die Tatsache allein, dass deutsche Unternehmen und Wirtschaftskörperschaften aus der ICC ausgeschlossen blieben, war ihnen wie auch der Regierung in Berlin Beweis genug, dass diesen hehren Zielen nicht zu trauen war. Aus deutscher Sicht galt die Internationale Handelskammer eher als ein weiteres alliiertes Instrument aus dem Umfeld des „Versailler Diktats“, das „im Bereich des internationalen Wirtschaftslebens eine ähnliche Aufgabe zu bewältigen hatte, wie sie ursprünglich dem Völkerbund auf politischem Gebiet zugedacht war: Vertretung und Förderung der Siegerstaaten.“ Es hieß, bei der Gründung 1920 habe ein „unversöhnliche[r] Kriegsgeist“ die ICC, gerade auch durch ihren ersten Präsidenten Clémentel, geprägt. Die ICC schien daher anfangs als eine bloße „Stütze der Reparationskommission“,40 die Deutschland wirtschaftlich ausgebeutet und dies mittels der „Kriegsschuldlüge“ gerechtfertigt habe. Der Zusammenhang zwischen der „Einseitigkeit“ der Reparationsbegründungen und der Nichtzulassung „deutsche[r] Handelskammern“ zur ICC war aus Sicht etwa des Deutschen Industrie- und Handelstags eindeutig.41 Gleichwohl verfolgten deutsche Stellen, so das Auswärtige Amt wie auch die deutschen Wirtschaftsverbände, die Entstehung und das Agieren der ICC aufmerksam. Und die Deutsche Botschaft Paris hatte „jederzeit die Möglichkeit [...], mit dem Generalsekretär der [Internationalen Handels]Kammer, Dolléans […] in   36 Lichtenberger (1922): Impressions, S. 326. 37 Artikel 264. „[1] Deutschland verpflichtet sich, Waren, Rohstoffe oder Fabrikate irgendeines der alliierten oder assoziierten Staaten, die in deutsches Gebiet eingeführt werden, ohne Rücksicht auf ihren Herkunftsort, keinen anderen oder höheren Zollsätzen oder Gebühren (einschließlich innerer Abgaben) zu unterwerfen als solchen, denen dieselben Waren, Rohstoffe oder Fabrikate irgendeines anderen der erwähnten Staaten oder eines anderen fremden Landes unterworfen sind. …“ 38 Holtfrerich (1986), Außenhandel, S. 474, dort auch das Zitat; vgl. Pohl (2015): Stresemann, S. 252. 39 ICC, Brochure No. 20: The Organization of the International Chamber of Commerce, Paris, February 1922, S. 3. 40 Nehring (1929): IHK, S. 21; 24. 41 PAAA R 117837, „Der Deutsche Industrie- und Handelstag zur Reparationsdenkschrift der Internationalen Handelskammer“, Wolffs Telegraphisches Büro, 74. Jg., Nr. 865, 18.4.1923.

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Verbindung zu treten“.42 Doch bei den deutschen Wirtschaftsverbänden war die Verärgerung über den fortdauernden Ausschluss deutscher Interessen aus der ICC unverkennbar. Hin und wieder fragten ICC-Unterorganisationen bei deutschen Stellen um Informationen zur deutschen Wirtschaft nach. Aber die „Vertretungen der deutschen [Wirtschafts]Interessenten haben indes eine Zusammenarbeit mit [der ICC] abgelehnt, solange Deutschland nicht gleichberechtigtes Mitglied der Kammer ist.“43 Mit Genugtuung nahmen daher die Spitzenvertreter der deutschen Wirtschaft zur Kenntnis, dass sich die ICC bei der Zusammenstellung von Broschüren wie dem Digest: Trade Term Definitions (1923) trotz des Ausschlusses deutscher Kammern an diese wandte und um Mitarbeit warb. Ähnliche Anfragen aus Paris erhielten auch der Centralverband des deutschen Bankgewerbes und deutsche Handelskammern im Ausland. Der Deutsche Industrie- und Handelstag als Spitzenorganisation der deutschen Handelskammern beharrte jedoch auf der Ansicht, dass auf Grund des Ausschlusses deutscher Vertreter von der ICC an diese kein Material und keine Auskünfte gesandt werden sollen und fügte hinzu: Aus den Versuchen der ICC, mit deutschen Stellen in Kontakt zu treten „ergibt sich, dass sich der Ausschluss der deutschen Wirtschaftskreise von dieser Organisation für sie selbst bereits empfindlich bemerkbar macht.“ Ganz ähnlich äußerte sich der Reichsverband der Deutschen Industrie.44 Gleichwohl, ganz geschlossen blieb die deutsche Abwehrfront gegen die inoffizielle ICC-Politik einer vorsichtigen Öffnung gegenüber Deutschland nicht. Eine ICC-Messeübersicht für das Jahr 1923 führte 38 Messen in Deutschland auf.45 Immerhin räumte das Auswärtige Amt Mitte 1923 ein: „Die Internationale Handelskammer in Paris hat ihre während der ersten Nachkriegszeit ausgesprochen deutschfeindlichen Tendenzen neuerdings etwas gemäßigt. Die wirtschaftspolitische Abteilung der Deutschen Botschaft unterhält mit Duldung des Auswärtigen Amts offiziöse Beziehungen zur Kammer.“46 Innerhalb des republikanisch gesonnenen Teils der deutschen Ministerialbürokratie war angesichts der kritischen Wirtschaftslage und auf Grund der „Reparationsfrage“ die Einsicht in die Bedeutung und Notwendigkeit internationaler Kooperation gewachsen. So heißt es über den Steuerrechts- und Reparationsexperten im Reichsfinanzministerium, Ministerialdirektor Herbert Dorn: „[Die Reparationsfrage] prägte seine feste Überzeugung von dem Wohl eines freien Wettbewerbs und Handels, einer internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit und der uneingeschränkten Gleichberechtigung der Völker.“47   42 PAAA R 117837, Dt. Botschaft Paris an AA, 24.4.1923; vgl. Wilk (1940): Organization. 43 PAAA R 117837, AA an Raimund Westphal, 8.6.1923; vgl. Reichskohlenrat (zur Nedden) an A.D. Little, Cambridge, Mass., 13.4.1923; Reichskohlenrat an AA, 13.4.1923. 44 PAAA R 117837, DIHT an AA, 13.7.1923; RDI an AA, 6.8.1923. 45 PAAA R 117837, ICC Digest No. 46, Fairs and Exhibitions, Paris 1923, S. 28; Messamt Leipzig an AA, 16.5.1923. 46 PAAA R 117837, AA an Raimund Westphal, 8.6.1923. 47 Bräunig (2016): Dorn, S. 31.

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Umgekehrt setzte sich auch innerhalb der ICC-Gremien die Einsicht durch, dass es zur Erreichung der eigenen Ziele vorteilhafter wäre, die bereits angebahnten Beziehungen zu deutschen Stellen zu normalisieren. Ohne deutsche Beteiligung und Einbindung in die wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen der Zeit war ernsthaft kaum eine Gesundung der ökonomischen Lage in Europa und darüber hinaus zu erwarten. Diese Einsicht mag auch ursächlich dafür sein, dass innerhalb der ICC intensiv zu Fragen der deutschen Reparationen und insbesondere zu den jährlichen deutschen Tilgungsraten gearbeitet wurde – Überlegungen, die schließlich in den Dawes-Plan Eingang fanden. Mit der Annahme des Dawes-Plans auf der Konferenz von London (August 1924) durch die Alliierten und die deutsche Regierung war eine merkliche deutsch-amerikanische Annäherung einhergegangen. Denn beide Seiten hofften, von diesem „Versuch einer wirtschaftlichen Neuordnung Europas“ zu profitieren. Insbesondere deutsche Politiker strebten eine Unterstützung der Amerikaner an, um „gegen die französischen Absichten einer [wie es der deutsche Botschafter in Washington D.C., Wiedfeldt, sah] ‚handelspolitischen Einklammerung und Erstickung‘ des deutschen Staates“48 vorgehen zu können. Im Juni 1924 beschloss der ICC-Verwaltungsrat auf Drängen auch seiner britischen Mitglieder, die Statuten (eine Mitgliedschaft des Herkunftslandes im Völkerbund als Voraussetzung der Mitgliedschaft einer Landesgruppe in der ICC) soweit abzuändern, dass deutsche Mitglieder aufgenommen werden konnten. Die deutschen Spitzenverbände blieben gleichwohl skeptisch gegen die ICC angesichts früherer Verlautbarungen, die die Legitimität der deutschen Reparationsverpflichtungen (und also die Anerkennung der deutschen „Kriegsschuld“) zu einer Grundannahmen dieser Organisation zu machen schien. Ein weiteres Jahr verging über den innerdeutschen Klärungsprozess hinsichtlich der Vorteile einer Mitgliedschaft in der Internationalen Handelskammer. Im Oktober 1925 wurde dann die Deutsche Landesgruppe der ICC gegründet und der Deutsche Industrie und Handelstag stellte bei der ICC einen Mitgliedschaftsantrag, dem der Verwaltungsrat im November 1925 mit der Zulassung der Deutschen Landesgruppe entsprach.49 Die Zulassung der Deutschen Gruppe im Herbst 1925 reiht sich ein in die Politik der deutschen wie auch der alliierten Regierungen, die außenpolitische Isolation Deutschlands zu überwinden. Mit der Unterzeichnung der Verträge von Locarno (16.10.1925) war die Aufnahme in den Völkerbund in Aussicht gestellt, und von diesem Zeitpunkt ab gab es wenig Veranlassung, weiterhin auf deutsche Mitarbeit in internationalen Gremien zu verzichten. So wurde etwa im Herbst 1925 der oben erwähnte Herbert Dorn als „Technischer Experte“ in das Völkerbundkomitee zur Ausarbeitung von Musterabkommen zur Vermeidung von Doppelbesteuerung berufen, so dass ein deutscher Regierungsvertreter in diesem Gremium mitwirkte, obwohl Deutschland noch gar nicht Mitglied des Völkerbundes war (erst ab September 1926).50   48 Botschafter an Reichspräsident Ebert, 20.4.1924, zit.in Taschka (2006): Diplomat, S. 81f. 49 Rosengarten (2001): IHK, S. 18f.; Klüssmann (1932): IHK, S. 14; vgl. Teschemacher (1937): Handbuch, S. 436–439. 50 Bräunig (2016): Dorn, S. 202.

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Die sich in der Deutschen Landesgruppe sammelnden Firmen und Einzelpersonen wurden dank ihrer Einbindung in internationale Gremien wie der Internationalen Handelskammer Teil der konkreten Ausgestaltung einer republikanischen Außenpolitik des Außenministers Gustav Stresemann, die auf Verständigung setzte. Damit sollten Konzepte zur Kooperation auf europäischer Ebene, vor allem zwischen Frankreich und Deutschland, handhabbar gemacht werden. Es sollte gezeigt werden, dass nationale Interessen integriert werden konnten in die bestehende internationale Ordnung und also die Interessen der ehemaligen Kriegsgegner miteinander verflochten werden konnten. „Eine diplomatische Großoffensive auf der einen Seite, die schließlich im Vertrag von Locarno münden sollte, und zugleich, auf der anderen Seite, erfolgreiche Handelsvertragsverhandlungen [so mit Frankreich 1925], internationale Übereinkommen und privatwirtschaftliche Kooperationen, […] das war die Strategie der modernen Außenpolitik Stresemanns.“51 Diese Politik der Verständigung war auch republikanische Personalpolitik. Erinnert sei hier auf diplomatischer Ebene an den Staatssekretär von Schubert und den deutschen Botschafter in Paris von Hoesch.52 Dies fand auf der Ebene der Wirtschaft eine Entsprechung, etwa mit der Wahl des überzeugten Republikaners Franz von Mendelssohn, Inhaber des Bankhauses Mendelsohn & Co., zum Gründungsvorsitzenden der soeben zugelassenen Deutschen Landesgruppe der Internationalen Handelskammer. Der studierte Jurist war eine Größe des deutschen Wirtschaftslebens und nach 1918 Deutschlands einflussreichster Wirtschaftsverbandsfunktionär: seit 1914 Präsident der Berliner Handelskammer, seit 1921 auch Vorsitzender des Deutschen Industrie- und Handelstags und Mitglied im Generalrat der Reichsbank. Er hatte sich spätestens seit 1924 für deutsche Mitgliedschaften in der ICC eingesetzt, erhoffte er sich doch dadurch die mehrheitlich monarchisch eingestellten Repräsentanten der Wirtschaft für die Republik einzunehmen. Die ab 1925 zu verzeichnende „fortgeschrittene wirtschaftliche Erholung der Weimarer Volkswirtschaft“ und insbesondere die Verbesserung der deutschen Handelsbilanz dank stetig steigender Exporte, schien Stresemanns Politik zu bestätigen und schien geeignet, die alten Wirtschaftseliten mit der neuen Politik zumindest etwas auszusöhnen.53 Die Deutsche Landesgruppe gewann nach 1925 maßgeblichen Einfluss auf die ICC und die breite Akzeptanz der ICC als relevante internationale Interessenvertretung durch deutsche Unternehmen schlug sich in der hohen Zahl der deutschen ordentlichen und außerordentlichen Mitglieder nieder. Nach der amerikanischen (85   51 Pohl (2015): Stresemann, S. 253, der S. 250 anmerkt: „Im Gegensatz zu der Erforschung der diplomatischen Aktivitäten Stresemanns ist dieser die Ökonomie betreffende Bereich seiner Außenpolitik allerdings noch relativ unerforscht.“ Siehe hierzu aber auch den Beitrag von Karl Heinrich Pohl in diesem Band, in dem er auch genauer auf die wirtschaftliche Dimension der Verständigungspolitik bzw. Frankreichpolitik Stresemanns eingeht. 52 Vgl. Köppen (2013): Komponente. 53 Ritschl (2016): Schuldenkrise, S. 586f. „1928 lagen [die Exporte] bereits um mehr als ein Drittel höher als 1925 und stiegen 1929 gegenüber dem Vorjahr noch einmal um gut 10 Prozent. … Kein Zweifel, die Politik der Hereinnahme von Auslandskredit brachte Resultate.“

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ordentliche, 781 außerordentliche Mitglieder) war die deutsche Landesgruppe 1929 bereits die zweitgrößte der ICC (143 ordentliche und 254 außerordentliche Mitglieder). Sie zählte auch in ihrer inhaltlichen Arbeit für die ICC zu den „most important and active [National Committees]“.54 Das deutsche Mitgliederverzeichnis las sich wie ein Who’s Who der deutschen Wirtschaft. Ordentliche Gründungsmitglieder waren der Zentralverband des Deutschen Bank- und Bankiersgewerbe, der Deutsche Industrie- und Handelstag, der Reichsverband der Deutschen Industrie und andere. Einzelfirmen und Personen hatten sich gleichfalls als außerordentliche Mitglieder der ICC registrieren lassen: etwa die AEG, die IG Farben, Lufthansa, Krupp, Hoesch, Wertheim oder auch der ehemalige Reichskanzler und Aufsichtsratsvorsitzende der HAPAG, Wilhelm Cuno, die Bankiers Hermann J. Abs und Franz von Mendelssohn.55 Die Deutsche Landesgruppe der ICC eröffnete in Berlin ein Büro und stand fortan, ebenso wie etwa der Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) mit der Handelspolitischen Abteilung des Auswärtigen Amts und der Deutschen Botschaft in Paris in direktem Kontakt.56 Mendelssohns Stellvertreter wurde der Elberfelder Textilfabrikant und stellvertretende Vorsitzende des RDI Abraham Frowein. 1931, nur sechs Jahre nach der Öffnung für deutsche Vertreter, wurde Mendelssohn – inzwischen eine graue Eminenz des internationalen Handels – in Washington, D.C. als Nachfolger von Georges Theunis zum Präsidenten der Internationalen Handelskammer gewählt. Auch wenn er im gleichen Jahr von den meisten seiner deutschen Ämter aus gesundheitlichen Gründen zurücktrat, blieb er doch bei der ICC für ein Jahr im Amt, bevor ihn Abraham Frowein ablöste.57 Frowein selbst konnte das Amt jedoch aus politischen Gründen nur bis 1933 ausüben. Er blieb aber von 1932 bis 1938 Leiter der Deutschen Gruppe der ICC.58 4. DIE SCHIEDSGERICHTSBARKEIT DER INTERNATIONALEN HANDELSKAMMER AB 1923 Den oben zitierten Statuten der Internationalen Handelskammer ist zu entnehmen, dass diese sich zum Ziel gesetzt hatte „to encourage intercourse and better understanding between business men“. Wie aber „ermutigt“ man zum Geschäftsverkehr, wie erreicht man ein „besseres Verständnis“ zwischen Gechäftsleuten? Geschäftsbeziehungen sind fast immer auch Vertrauensbeweise. Wem man nicht traut, wem man Betrug zutraut oder gar unterstellt, mit dem macht man unter gewöhnlichen Umständen keine Geschäfte. Innerhalb des eigenen Landes, innerhalb der gleichen Jurisdiktion, kann das Vertrauen in das Recht, konkreter: das Vertrauen in die das   54 55 56 57 58

So die Einschätzung von Eiseman (1984): Court of Arbitration, S. 394. Alle Angaben nach Rosengarten (2001): IHK, S. 42f. Vgl. PAAA, Paris 743a, Internationale Wirtschaftskonferenz, Bd. 1 (1925–1929). Hertz (2008): IHK, S. 24–40. Vgl. Vogel (1968): Frowein, S. 17; 25; Teschemacher (1937): Handbuch, S. 436.

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geltende Recht durchsetzenden staatlichen Institutionen einen Mangel an Vertrauen in den Geschäftspartner ersetzen – oder zumindest ausgleichen. Im internationalen Handel aber sprechen viele Geschäftsleute (international agierende Geschäftsfrauen gab es in den 1920er Jahren nur wenige) oft nicht einmal die Sprache ihrer Geschäftspartner; noch weniger kennen sie das geltende Recht des Landes, mit deren Bürgern sie ein Geschäft abschließen. Statt Vertrauen kann sich, für den Fall des Streits, die Angst vor einem ‚ungerechten‘ Urteil des ausländischen Gerichts einschleichen (zumal in Zeiten nationaler Abgrenzungsversuche und nationaler Interessenpolitik). Dieser antizipierte Mangel an Rechtssicherheit, an Gerechtigkeit ist für den Einzelnen eine entmutigende Aussicht auf die Zukunft, denn es gibt keine „Erwartungssicherheit“. Dies aber ist keine gute Grundlage für ein Geschäft.59 Entscheidend ist hier die Bedeutung der Ressource „Vertrauen“ in einem konkreten historischen Kontext; ein Kontext – nach dem Weltkrieg –, in dem diese Ressource im internationalen Verhältnis zu Deutschland ohnehin eine Mangelware war (Abraham Frohwein sprach von einer „vergifteten Atmosphäre“ in den ordentlichen Gerichten60). Und dieser Mangel an Vertrauen im internationalen Handel war ein schwerwiegendes Hindernis für „intercourse“ und „understanding between businessmen“ – zwei wesentliche Ziele der ICC auf dem Weg zu mehr wirtschaftlichem Wachstum und Integration des Wirtschaftsraums Europa und darüber hinaus. Die Geschichte der Streitschlichtungsmechanismen der ICC kann daher auch als Teilaspekt des in den letzten Jahren vermehrt analysierten Zusammenhangs von „Recht und Emotion“ gelesen werden.61 Zum wirtschaftspolitischen Streben der Internationalen Handelskammer ab 1920 kann neben der Arbeit für eine verstärkte globale Integration der Wirtschaft und für höheres Wachstum, auch das Streben nach Interessenausgleich zwischen Streitenden, d.h. nach mehr Gerechtigkeit im internationalen Handel gezählt werden. Dies galt als eine ihrer „main priorities“.62 Schon die frühen Überlegungen zu einer internationalen Handelskammer hatten diese, wie oben erwähnt, auch „als Schiedsgericht in allen internationalen Handelsstreitigkeiten“ konzipiert.63 Es war eine lang geübte Praxis, dass Handelskammern kaufmännische Schiedsgerichte einrichteten64 und auch Auslandshandelskammern eines Landes auf Grund ihrer langjährigen Erfahrung im Gastland bei der gütlichen Beilegung von Handelsstreitigkeiten zwischen den eigenen Staatsangehörigen und denen des Gastlandes behilflich waren.65 In dieser Tradition des Interessenausgleichs durch selbstge  59 Vgl. Arnauld (2006): Rechtssicherheit, S. 651 unter Bezug auf G. Radbruch: Zweck des Rechts, 1937. 60 Zit. nach Nehring (1929): IHK, S. 123. 61 Schützeichel (2016): Soziologie, S. 65–99 (80); vgl. Frevert (2014): Vertrauen, S. 31–47; Frevert (2013): Vertrauensfragen. 62 Eiseman (1984): Court of Arbitration, S. 391. 63 Studnitz (1875): Umschau, S. 473. 64 Vgl. Collin (2015): Selbstregulierung, S. 20. 65 Vgl. Fitzgerald (1921): American Chambers, S. 122–126 (125).

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wählte, fachkundige Schiedsrichter stand auch die Schiedsgerichtsbarkeit der Internationalen Handelskammer. Die nicht ausbleibenden Streitigkeiten zwischen international agierenden Handelsfirmen und das Fehlen eines effektiven Rechtsschutzes, d.h. einer internationalen Institution, die das Vertrauen beider Parteien besaß und hätte Recht sprechen können, war Anlass für die ICC ab dem Londoner Kongress 1921, sich selbst als Streitschlichtungsinstitution anzubieten.66 Selbstgestecktes Ziel war die „Erledigung von zwischenstaatlichen Handelsstreitigkeiten durch ein unparteiisches, einfaches, schnelles und billiges Verfahren“.67 Es war aber offen, ob international agierende Firmen Vertrauen zur ICC fassen würden. War (und ist) doch die Internationale Handelskammer eine privatrechtliche Einrichtung. Hinter ihren Schiedsentscheidungen steht keine staatliche Exekutivgewalt. Die ersten Regeln für ein internationales Schiedsverfahren zwischen Handelsfirmen wurden noch 1922 aufgestellt. Und es gab ein praktisches Interesse daran. Die ersten Anträge auf Streitschlichtung gingen von Mitgliedern ein, noch bevor überhaupt die ersten Schiedsrichter der ICC berufen waren. Diese Streitigkeiten wurden dann über Mediationsverfahren beigelegt, d.h. die Parteien einigten sich, ohne dass ein Schiedsurteil Dritter ergehen musste. Der dann ab Januar 1923 eingerichtete „Schiedsgerichtshof“ als eine Art eigener Abteilung der Internationalen Handelskammer bestand aus etwa 10 Mitgliedern jeder Landesgruppe, die als besonders kompetent in Fragen der Verhandlungsführung und Streitschlichtung ausgewählt worden waren. Ein juristischer Studienabschluss war keine Voraussetzung für ein Mitwirken am Schiedsgerichtshof. Dessen Ausführungsorgan war der „Vollzugsausschuss“ (geleitet von einem Präsidenten und vier Vize-Präsidenten), in dem je ein Mitglied der jeweiligen Landesgruppe saß. Einmal im Monat versammelte sich der Vollzugsausschuss (daher mussten dessen Mitglieder in Paris ansässig sein), um über die dem Schiedsgerichtshof zur Entscheidung vorgelegten Streitigkeiten zu beraten. Präsident des Vollzugsausschusses war seit 1927 der griechische Gesandte in Paris und Völkerrechtler Nicolas Politis, der sich 1915 als Außenpolitiker für Griechenlands Beteiligung am Krieg auf Seiten der Alliierten stark gemacht hatte. Nach dem Krieg aber war er einer der führenden Intellektuellen Europas, die sich für ein System kollektiver Sicherheit, intergouvernementaler Zusammenarbeit und die Kriegsächtung einsetzten.68 Auch angesichts der kaum zu leugnenden ‚alliierten‘ Dominanz im Vollzugsausschuss betonte eine deutsche Broschüre, die offensichtlich den deutschen Unternehmern die Sorge vor voreingenommenen (alliierten) Schiedsrichtern nehmen wollte, „daß der Ausschuß völlig

  66 Young (1921): Arbitration, S. 1–4; Keppel (1922): ICC, S. 197 verweist auf zwei Resolutionen in London, die „commercial arbitration“ zum Thema hatten; vgl. Proposed Plan for Conciliation and Arbitration Between Traders of Different Countries, Brochure No. 13 of the International Chamber of Commerce. 67 Marx (1929): Schiedsgerichtsbarkeit, S. 241. 68 Papadaki (2012): Gouvernment, S. 227f.

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international ist. Jede Partei hat die Sicherheit, daß einer ihrer Landsleute dort anwesend ist und nötigenfalls seinen Standpunkt vertritt.“69 Tatsächlich war seit 1927 auch ein deutscher Vertreter, der Oberlandesgerichtsrat Dr. Bolte, in den Vollzugsausschuss gewählt worden. Maßgeblichen Einfluss auf den ICC-Schiedsgerichtshof sollte aber erst der ehemalige Berliner Landrichter Dr. Robert Marx entfalten. Er hatte seit 1921 eine Stelle als deutscher Staatsvertreter bei den deutsch-französischen Gemischten Schiedsgerichten in Paris inne, die laut Versailler Vertrag über die Höhe von Entschädigungsforderungen französischer Staatsangehöriger gegen das Deutsche Reich zu entscheiden hatten. Marx machte seine Sache gut und sein Name wurde in Paris bekannt. 1928 wurde Marx, nach Boltes Tod und mit Billigung des preußischen Justizministers, zum Mitglied des Vollzugsausschusses des ICC Schiedsgerichtshofs ernannt – diese Tätigkeit war ehrenamtlich.70 In seiner Funktion als deutsches Mitglied des ICC-Schiedsgerichtshofs fungierte Marx auch als Bindeglied zwischen ICC, Deutscher Landesgruppe, der deutschen Botschaft Paris und den deutschen Handels- und Industrievertretungen in seiner Heimatstadt Berlin, die er regelmäßig aufsuchte.71 Im Dezember 1929 wurde der preußische Geheimrat dann zum Vizepräsidenten des Vollzugsausschusses gewählt.72 Er reiste 1931 in die USA um dort auf dem ICC-Kongress in Washington D.C., auf dem Mendelssohn zum Präsidenten gewählt wurde, die von ihm mitinitiierten Reformen der Schiedsordnung zu verhandeln. Die 1923 in Kraft getretene „Vergleichs- und Schiedsordnung“ der ICC wurde vor dem Zweiten Weltkrieg zweimal reformiert (1928 und 193273), um die Erfahrungen vergangener Schiedsverfahren zur Verbesserung und Beschleunigung zu nutzen. Experimentierfreude, Flexibilität und die Bereitschaft, den Schiedsrichtern möglichst weitgehende Freiheit in der Erzielung der Streitbeilegung zu belassen, zeichneten den transnationalen Expertenzirkel im ICC-Schiedsgerichtshof aus.74 In   69 PAAA, Paris 743a, Deutsche Gruppe der Internationalen Handelskammer, Berlin: Schiedsgerichtsbarkeit der Internationalen Handelskammer, Berlin o.J. [1928] , S. 5; 10. Präsident des Vollzugsausschusses war (1927–1934?) Nicolas Politis, seine Vize-Präsidenten waren 1928 Thor Carlander (Schweden), René P. Duchemin (Frankreich), Charles Neef (Belgien), und Giuseppe Zuccoli (Italien); später kamen Robert Marx (Deutschland) und Henri Sambuc (Indochina) hinzu. Im Vollzugsausschuss waren 1928 Rumänien, Großbritannien, USA, Schweiz, Dänemark, Luxemburg, Tschechoslowakei, Österreich, Spanien, Jugoslawien, Norwegen, Ungarn, Deutschland (Robert Marx), Japan, Finnland, Polen, Niederlande, Indochina vertreten. 70 LANRW Gerichte Rep. 244 Nr. 848: 239 Personalakte Marx, AA an Preuß. Justizministerium, 28.7.1928. 71 PAAA, Paris 743a, Deutsche Botschaft Paris (Wirtschaftsabtlg.) an Verein Deutscher Maschienenbau-Anstalten, Berlin, 14.12.1928. 72 LANRW Gerichte Rep. 244 Nr. 848: 240 Personalakte Marx, AA an Preuß. Justizministerium, 7.12.1929. 73 ICC: Rules of conciliation (good offices) and arbitration, Paris 1923; ICC: Rules of conciliation and arbitration. January 1st, 1928, Paris 1928; ICC: Rules of conciliation and arbitration in force on January 1st, 1932, Paris 1932; Arnaud (1928): Règlement, S. 340–346 ; Marx (1931): Revision, S. 301–308; Grisel (2014): Droit, S. 15. 74 Vgl. Verbist/ Schäfer / Imhoos (2016): ICC Arbitration, S. 14, bis 2012 gab es insgesamt 10 Revisionen der Schiedsordnung; vgl. Sgard (2016): Tale, S. 172–74.

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groben Zügen gezeichnet, stellte sich der Ablauf gemäß der 28 Artikel der Vergleichs- und Schiedsordnung wie folgt dar: Das Einleiten eines Schiedsverfahrens vor der ICC begann mit der Einwilligung der beteiligten Streitparteien zu dieser Form der Streitschlichtung. Die von der ICC bevorzugte Variante war eine auf die ICC verweisende bindende Schiedsgerichtsklausel in dem der Auseinandersetzung zugrundeliegenden Vertrag. In einer Informationsbroschüre der „Deutschen Gruppe der Internationalen Handelskammer“ über die Schiedsgerichtsbarkeit der ICC wurde mit dem Argument für die Einführung einer auf die ICC verweisenden Schiedsklausel in internationale Handelsverträge geworben, dass in allen großen Ländern der Welt mit Ausnahme von Brasilien […] die Schiedsklausel vor dem Gesetz gültig [ist]. Die Staaten ratifizieren einer nach dem anderen ein Protokoll des Völkerbundes (vom 24.9.1923), das deren internationale Gültigkeit bekräftigt. Der Kaufmann, der sie unterzeichnet hat, ist zu ihrer Einhaltung verpflichtet. Wenn er unter Nichtachtung der Klausel die [ordentlichen] Gerichte anrufen würde, würden diese auf Ersuchen des Gegners die Angelegenheit dem Schiedsgericht überweisen,

selbst wenn die Gegenseite die Mitwirkung am Schiedsverfahren verweigern würde.75 Lag aber eine solche vertragliche Verpflichtung durch eine Schiedsklausel nicht vor, so hatten sich beide Parteien vor Beginn des Schiedserfahrens vor dem ICC-Schiedsgerichtshof schriftlich zu verpflichten, die Entscheidung dieses Schiedsgerichtshofs als bindend und endgültig anzuerkennen. Weder der Schiedsgerichtshofs als solcher noch sein Vollzugsausschuss waren die die Schiedsentscheidung fällenden Organe der ICC.76 Auch gab es keine für die Streitparteien einsehbare Liste mit potenziellen Schiedsrichtern. Vielmehr wählte und ernannte der Vollzugsausschuss für jeden einzelnen Streitfall einen neuen Schiedsrichter, wenn der Versuch einer gütlichen Einigung vor der ICC gescheitert war (Vergleichsverfahren gem. Art. 1 bis 4 der Vergleichs- und Schiedsordnung. In vielen Fällen führte bereits das Vergleichsverfahren zu einer gütlichen Einigung). Schiedsrichter konnte werden, wem die erforderliche technische oder juristische Sach- und Streitlösungskompetenz zugetraut wurde. Landesgruppen, in denen Verbände vertreten waren, die den Metiers der Streitparteien entsprachen, wurden daher bevorzugt um die Nennung von Vorschlägen für Schiedsrichter gebeten. Formale Voraussetzung war, dass die zu ernennende Person einem anderen Staat als die Streitparteien angehören musste. Eine vorhergehende formale Verbindung des ernannten Schiedsrichters zur ICC musste nicht bestehen. In diesem Sinne ist der Kommentar von Robert Marx, zu verstehen, wenn er meinte: Der Schiedsgerichtshof tritt aktiv überhaupt nicht in Erscheinung. Er wirkt lediglich durch seine Existenz und verleiht durch die Vereinigung der erlauchtesten Namen aus Industrie, Handel und Bankwelt aller Länder ein gewaltiges Ansehen [Präsident des Schiedsgerichtshofs war der Ehrenpräsident der ICC, Etienne Clémentel, einer seiner Stellvertreter Abraham Frohwein], das sich auch praktisch auswirkt. Der moralischen Aktion, die dieses Gremium auszuüben in

  75 PAAA, Paris 743a, Deutsche Gruppe der Internationalen Handelskammer, Berlin: Schiedsgerichtsbarkeit der Internationalen Handelskammer, Berlin o.J. [1928] , S. 3; vgl. Picard (1923): La clause. 76 Dies ist bis heute so, vgl. Verbist/ Schäfer / Imhoos (2016): ICC Arbitration, S. 15.

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Jakob Zollmann der Lage ist, ist es sicherlich in erster Linie zu verdanken, daß alle bisher ergangenen Schiedssprüche mit einer Ausnahme freiwillig erfüllt worden sind.77

Das erste formale Streitverfahren am Schiedsgerichtshof der ICC fand 1923 zwischen einem französischen und einem britischen Gummihändler statt. Es ging um die unterschiedliche Qualität zweier Gummilieferungen. Der Streit wurde nach vier Wochen durch den niederländischen Schiedsrichter A.T. Bunge entschieden, selbst ein Gummihändler. Er sprach dem Käufer eine Ausgleichszahlung zu. Dieser Schiedsspruch wurde vom Beklagten umgehend erfüllt. Meist ernannte der Vollzugsausschuss nur einen Schiedsrichter, aber in besonders komplexen Fällen oder wenn es die Parteien wünschten, konnte jede Seite einen Schiedsrichter ihrer Wahl bestellen und der Vollzugsausschuss ernannte einen neutralen Obmann. Sofern die Parteien sich nicht selbst einigten (etwa mit Blick auf die Vollstreckbarkeit der Entscheidung und die Umstände des Verfahrens) bestimmte der Vollzugsausschuss auch den Ort des Verfahrens und gab dem Schiedsrichter eine Frist zur Erledigung des Streits vor (meist zwei Monate nach Unterzeichnung des Schiedsvertrags durch die Parteien, doch dauerten die Verfahren oft länger). Der Schiedsrichter konnte die Parteien in einer nichtöffentlichen Sitzung anhören, oder aber die Parteien konnten übereinkommen, dass beide Seiten dem Schiedsrichter jeweils zwei Schriftsätze vorlegen mussten, auf deren Grundlage eine Schiedsentscheidung fiel. Die prozessualen Befugnisse des ICC-Schiedsrichters waren richterlichen Kompetenzen durchaus ähnlich. So konnte er Zeugen vernehmen und Sachverständige befragen.78 Wie ein Damoklesschwert hing allerdings über dieser nicht-staatlichen Schiedsstelle die Frage, ob nationale Gerichte deren Schiedsentscheidungen als gültig anerkennen würden, ob also der Schiedsspruch vollstreckt werden konnte, oder ob die unterlegene Partei sich anschließend vor einem staatlichen Gericht ein für sie günstigeres Urteil erstreiten könnte. Für deutsche Unternehmen, die etwa Verträge mit französischen Geschäftspartnern abschließen wollten, war diese Frage von elementarer Bedeutung, da sie französischen Gerichten wenig Vertrauen entgegenbrachten. Daher wandten sie sich ratsuchend an die Berliner Ministerien oder direkt an die Deutsche Botschaft Paris.79 Deutschland hatte das oben erwähnte Genfer Protokoll vom 24.9.1923 bereits 1924 ratifiziert (obwohl es nicht Mitglied des Völkerbunds war), nach dem „jedes nationale Gericht, das mit einem durch die Schiedsklausel dem Schiedsverfahren vorbehaltenen Streit befaßt wird, … seine Unzuständigkeit zu erklären und den Streit vor den Schiedsrichter zu verweisen hat.“ Außerdem erklärte § 1025 Zivilprozessordnung die Vereinbarung für zulässig, dass gegenwärtige oder zukünftige Streitigkeiten durch Schiedsrichter zu entscheiden seien.80 In Frankreich wurde eigens ein Gesetz erlassen (31.12.1925), das die   77 Marx (1929): Schiedsgerichtsbarkeit, S. 244. 78 PAAA, Paris 743a, Deutsche Gruppe der Internationalen Handelskammer, Berlin: Schiedsgerichtsbarkeit der Internationalen Handelskammer, Berlin o.J. [1928] , S. 6. 79 PAAA, Paris 743a, Chemische Fabrik Eisendrath, Mettmann (Rhld) an Justizministerium, Berlin, 9.8.1924. 80 Marx (1929): Schiedsgerichtsbarkeit, S. 242; vgl. Volkmar (1931): Änderungen, S. 3–17.

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Gültigkeit von Handelsschiedsentscheidungen anerkannte, wenn sich die Parteien bereits bei Vertragsschluss auf ein solches außergerichtliches Verfahren geeinigt hatten. Eine höchstgerichtliche Entscheidung von 1933 bestätigte die Nutzung von vertraglichen Schiedsklauseln auch in der Praxis.81 Doch auch für andere Jurisdiktionen versuchte der Vollzugsausschuss des Schiedsgerichtshofs der ICC nach Möglichkeit, alle Vorkehrungen zu treffen, damit nationale Gerichte die Vollstreckbarkeit der ICC-Schiedsentscheidung nicht anzweifeln und den verschiedenen Rechtsauffassungen Rechnung getragen würde. So wurde jeweils geprüft, ob die Entscheidung für ihre Gültigkeit in dem Land ihrer vermuteten Vollstreckung mit Gründen zu versehen sei. Zu klären war auch, ob der Schiedsrichter nach „billigem Ermessen“ und „Handelsbräuchen“ entscheiden konnte, was in den 1920er Jahren als das maßgebliche Charakteristikum der ICC-Schiedsgerichtsbarkeit galt;82 oder ob rein nach Rechtsnormen – und gegebenenfalls nach welchen – zu urteilen war. Schon der früheste Report der ICC zum Thema „Schiedsgerichtsbarkeit“ hatte empfohlen, eine Schiedsinstitution zu schaffen, die in der Lage sei, effektiv „both inside and outside the barriers of internatinal law“ zu arbeiten.83 Die Vereinbarung über die maßgebende Jurisdiktion war tatsächlich oftmals die Schlüsselfrage vor Beginn eines Schiedsverfahrens. Zur Beantwortung all dieser Fragen erstellte die ICC eigens Broschüren, die die gesetzlichen Bestimmungen zur Handelsschiedsgerichtsbarkeit in jeweils einem Land zusammenfassten. Mit der Zeit sollte so ein „Handbuch der Handelsschiedsgerichtsbarkeit“ entstehen, das den Schiedsrichtern wie den streitenden Parteien eine Orientierung über Fragen wie die gesetzlichen Bestimmungen zu Schiedsklauseln, Schiedsverträgen, schiedsrichterliche Maßnahmen, den Schiedsspruch und seine Vollstreckung und nicht zu Letzt die Berufungsmöglichkeiten bieten sollte.84 Zur weiteren Unterstützung der Handelsschiedsgerichtsbarkeit verabschiedete der Völkerbund nach langer Diskussion abermals ein Abkommen (26.9.1927), das darauf abzielte, die gerichtliche Vollstreckbarkeit eines Schiedsspruchs über staatliche Grenzen hinweg zu sichern. So die Regierungen der Streitparteien dieses Abkommen ratifiziert hatten, verpflichteten sie sich, auf ihrem Staatsgebiet die in einem anderen dem Abkommen beigetretenen Staat gefällten Schiedssprüche – unter der Bedingung, dass diese dem eigenen Recht entsprächen – auch gerichtlich anzuerkennen. Internationales Handelsrecht und staatliches Recht wurden hier über das

  81 PAAA, Paris 743a, Ausschnitt Les Echos 19.9.1933 „La clause d’arbitrage insérée dans les contrats commerciaux. La Cour de cassation en a reconnu la validité“. 82 Vgl. Grisel (2014): Droit, S. 14. 83 Zit. nach: Eisemann (1984): Court, S. 391. 84 PAAA, Paris 743a, Deutsche Gruppe der Internationalen Handelskammer, Berlin: Schiedsgerichtsbarkeit der Internationalen Handelskammer, Berlin o.J. [1928], S. 7, 1928 waren erschienen: Schweiz, Italien, Niederlande; in Vorbereitung: Deutschland, USA, Australien, Österreich, Belgien, Dänemark, Japan...

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Völkerrecht miteinander verflochten.85 Die Handelsschiedsgerichtsbarkeit kam so teilweise unter „öffentliche Aufsicht“.86 Von diesem regierungsseitigen Wohlwollen, das mehr und mehr zu einer staatlichen Anerkennung der privatrechtlichen Handelsschiedsgerichtsbarkeit als Alternative zu den ordentlichen Gerichten aufgewertet wurde, profitierte auch die Schiedspraxis der ICC. Das Vertrauen in die Schiedsgerichte der ICC wuchs, wie die „moderat“ steigende Zahl der Streitschlichtungen zeigte.87 Seit 1923 und bis Juni 1924 waren 68 Streitigkeiten anhängig, die Beteiligten kamen aus 24 Ländern. Im März 1925 waren es schon 92 Streitigkeiten, davon waren 36 erledigt, 4 durch Schiedsverfahren, 7 durch Mediation und 23 allein auf Grund der Tatsache, dass die ICC sich der Sache angenommen hatte. Im November 1929 hatte sich die Zahl der Fälle auf 363 erhöht; im März 1931 waren es 471.88 (Bis in unsere Gegenwart waren über 21.000 Fälle bei der nach wie vor bestehenden ICC anhängig.) „Die Durchschnittskosten [für die Schiedsverfahren der ICC] in den verschiedenen Streitsachen betrugen 3,6 Proz[ent].“89 Andere Quellen kamen gar auf nur 1,2 Prozent der Streitsumme.90 Sprachen also Gerechtigkeit und Schnelligkeit der ICCSchiedsentscheidungen für sie, so sprachen die Kosten der Schiedsrichter jedenfalls nicht dagegen. Auch die Deutsche Landesgruppe betonte 1928: Bis jetzt sind die im Namen des Schiedsgerichtshofs der Internationalen Handelskammer gefällten Schiedssprüche mit einer Ausnahme gutwillig […] durchgeführt worden […] [Di]es hat seinen Grund darin, daß außer den gesetzlichen Sanktionen schwerwiegende moralische existieren, die dazu beitragen, die Vollstreckung von Schiedssprüchen der Internationalen Handelskammer zu sichern. […] Die Kammer kann die Körperschaften, die ihre Mitglieder sind [Landesgruppen], auffordern, gegen die widerspenstige Partei vorzugehen, einen Druck auf sie ausüben.

Eine sich dem Schiedsurteil widersetzende Partei würde bald „ihren kaufmännischen Ruf und ihren Kredit verlieren“.91 Gleichwohl vermerkte Robert Marx, dass – wohl hauptsächlich auf Grund von „Mißverständnissen“ hinsichtlich der Wahl des/r Schiedsrichter/s durch den Vollzugsausschuss – „in Deutschland das Schiedsverfahren der I.H.K. nicht die Entwicklung genommen hat, die es verdient.“ Marx „warb“ daher ausdrücklich bei deutschen Unternehmen für die Arbeit des ICC  85 86 87 88

Vgl. Tercier (2008): Convention, S. 19–26; Sgard (2016): Tale, S. 156. Petersson (2013): Institutions, S. 36; Nehring (1929): IHK, S. 125. Jarvin (2011): La cour, S. 331. Arnaud (1929): Report, S. 492–498. Von 337 Fällen, die der ICC im Frühjahr 1929 vorgelegen hatten (seit 1923) waren 122 beigelegt worden: 19 davon durch Schiedsverfahren; 21 durch Vergleich (conciliation); 80 durch sonstige Übereinkunft; 2 durch ein Schiedsverfahren außerhalb der ICC; ICC: Services rendered by the Arbitration system of the ICC, Washington 1931, No. 18. 89 PAAA, Paris 743a, Deutsche Gruppe der Internationalen Handelskammer, Berlin: Schiedsgerichtsbarkeit der Internationalen Handelskammer, Berlin o.J. [1928] , S. 9. 90 Marx: Schiedsgerichtsbarkeit, S. 241. 91 Nehring (1929): IHK, S. 123.

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Schiedsgerichtshofs und stellte ihre Vorzüge wie „Schmiegsamkeit“ und Schnelligkeit des Verfahrens heraus.92 Auch lokale deutsche Handelskammern, denen die Schwierigkeit von deutschen Unternehmen, vor ausländischen Gerichten ihr Recht einzuklagen, wohl bekannt waren, rieten zur Aufnahme der oben zitierten ICC-Schiedsklausel als dem „nach wie vor beste[n] Weg, alle Schwierigkeiten zu vermeiden und gleichzeitig verhältnismäßig rasch und billig zu seinem Recht zu kommen“. Fachzeitschriften wie der Deutsche Aussenhandel sprachen sehr deutlich vom „Vorzug der Schiedsgerichtsbarkeit gegenüber der ordentlichen Gerichtsbarkeit.“93 Ähnlich positiv schätzte auch die Deutsche Botschaft Paris den Schiedsgerichtshof der ICC als effektives Streitschlichtungsinstrument ein. 1932 ließ sie einen deutschen Unternehmer, der im Streit mit einem französischen Handelspartner lag, wissen: „Soweit es sich um […] Fälle handelt, die bei dem [Schiedsgericht der ICC] […] anhängig gemacht worden sind, haben die Erfahrungen gezeigt, daß mit Erfolg Schiedsgerichte anstelle von ordentlichen Gerichten in Frankreich vereinbart werden können.“94 Allerdings stößt die historische Forschung bei der Analyse dieses zeitgenössisch behaupteten „Erfolgs“ auf ein erhebliches Manko. Denn über die meisten Schiedsverfahren, ihre Entstehung, den Verlauf und den Ausgang der Streitigkeiten ist nichts oder wenig bekannt, da sich alle Beteiligten zu absoluter Vertraulichkeit verpflichtet hatten. Diese Verpflichtung, so die ICC, gilt fort. Dies geht soweit, dass die ICC Forscherinnen und Forschern bis heute keinen Zutritt zu ihrem Archiv der Schiedsfälle außerhalb der Pariser Zentrale gewährt mit der Begründung, die Verfahren vor dem Zweiten Weltkrieg unterlägen noch immer der confidentialité.95 In ihren Broschüren veröffentlichte die ICC lediglich kurze anonymisierte Berichte über die jüngsten Schiedsentscheidungen. Darin waren eventuell der Streitwert und die Verfahrenskosten erwähnt; hin und wieder, wenn dies keine Rückschlüsse auf einzelne Firmen zuließ, auch der Streitgegenstand sowie das Gewerbe und die Nationalität der Streitparteien und der Schiedsrichter. Letztere wurden durchaus auch mit Namen und Beruf erwähnt.96 Mit Bezug auf den hier interessierenden Kontext der Weimarer Republik bleibt daher noch herauszufinden, was es mit der von Robert Marx konstatierten deutschen Zurückhaltung auf sich hatte. Immerhin zeigt eine Statistik, dass deutsche Unternehmen bis 1929 zu den häufigsten Streitparteien in einem ICC-Schiedsver  92 Marx (1929): Schiedsgerichtsbarkeit, S. 243. 93 PAAA, Paris 743a, „Gerichtsstand bei Auslandsgeschäften“, In: Mitteilungen der Handelskammer Reutlingen, November 1928; „Schiedsklausel im Handelsverkehr Deutschlands mit Frankreich“. In: Deutscher Aussenhandel o.J. [1928]. 94 PAAA, Paris 743a, Deutsche Botschaft Paris an Fa. Sartorius-Werke A.G. Göttingen, 26.10.1932. 95 So hieß es gegenüber dem Verfasser bei seinem Besuch in der ICC, Paris am 14.1.2016. 96 Vgl. PAAA, Paris 743a, Deutsche Gruppe der Internationalen Handelskammer, Berlin: Schiedsgerichtsbarkeit der Internationalen Handelskammer, Berlin o.J. [1928] , S. 5. Die dort erwähnten elf Beispiele führen keine deutschen Beteiligten auf.

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fahren gehörten: 29 deutsche Kläger und 24 deutsche Beklagte. Doch bleibt offen, was die Streitgegenstände waren und ob und vor allem wie die deutschen Unternehmen ihre erhobenen Forderungen vor den ICC-Schiedsrichtern durchsetzen konnten.97 Nach der Übersicht wurde zumindest ein deutscher Schiedsrichter bestellt: der Württemberger Textilfabrikant Hans Otto, der auf Grund seiner Sachkenntnis einen französisch-schweizerischen Streit über die Qualität von Stoffen zu entscheiden hatte.98 Genereller aber ist auch, im Einklang mit der neueren Forschung, zu fragen, inwieweit diese nichtstaatlichen ‚Gerichte‘ Normativität erzeugten, inwieweit hier von „judicial law making“ die Rede sein kann? Waren die vom Vollzugsausschuss berufenen Schiedsrichter überhaupt „als Schöpfer über den Einzelfall hinausgehender Normativität konzipiert?“99 Derartige Fragen sind, abgesehen von dem fortdauernden Unwillen der ICC, ihre Akten zu historischen Schiedsfällen der Forschung zugänglich zu machen, besonders schwer zu beantworten, da, wie erwähnt, erhebliche Unterschiede in der Konzeption einzelner ICC-Schiedsverfahren existierten. So gab es nach 1930 eine wachsende Zahl von Fällen, in denen sich die Schiedsrichter in ihrer Entscheidung an das materielle Recht eines bestimmten Landes banden (z. B. weil die Parteien dies zuvor vereinbart hatten und die Entscheidung vor nationalen Gerichten vollstreckbar sein sollte). Gleichwohl aber blieben Schiedsentscheidungen auch nach „billigem Ermessen“ (das von gesetztem Recht abweichen konnte) weiter gängige Praxis der ICC-Schiedsrichter; eine schriftliche Begründung war nicht zwingend erforderlich.100 Auch die deutschen Gerichte stellten sich zunehmend auf diesen global ausstrahlenden Wandel in der grenzüberschreitenden Streitbeilegung ein.101 Die „Erwartungssicherheit“ der streitenden Parteien basierte also zumindest nicht allein auf den anzuwendenden Normen und auch nicht auf etwaigen Präzedenzfällen.102 Diese sollten explizit vermieden werden, um die Schiedsrichter nicht unnötig einzuschränken.103 Denn außer   97 “One of these awards [of 1933] presents special interest. The arbitrator, a Swiss, was requested to interpret an agreement by which certain French and Belgian firms reserved certain markets for their respective products. The question arose: did the term ‘French market’ include the Saar Territory? The arbitrator took the view that the term must be understood in its economic meaning and decided in the affirmative, basing his decision on the intention of the parties and on the fact that no customs frontier at present separates France from Saar Territory.” Meetings held at the ICC, 1933, in: World Trade. Journal of the International Chamber of Commerce 5 (1933/9): 11. 98 Arnaud (1929): Report, S. 493 (177 franz., 26 belg. Kläger und 67 franz., 51 engl., 25 amerik. Beklagte); 496. 99 Grisel (2014): Droit, S. 14. 100 Vgl. Grisel (2014): Droit, S. 17. 101 Vgl. dazu das von A. Nussbaum herausgegebene Internationale Jahrbuch für Schiedsgerichtswesen, Bd. 1–4 (1926–34). 102 Vgl. Collin (2015): Selbstregulierung, S. 21f. 103 Arnaud (1929): Report, S. 493: “International Headquarters [of the ICC], in order to ensure that absolute discretion to which the parties are entitled, and to preserve the confidential character of arbitration, is naturally unable to publish either the names of the parties or exact details as to the matters of in dispute. On the other hand, in order to prevent the creation of arbitral  

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den oben erwähnten Zahlen und nackten Fakten zu ausgewählten Streitfällen und ihrer Beilegung drangen so gut wie keine, vor allem keine juristischen Details einer ICC-Entscheidung nach außen. Die Öffentlichkeit der Rechtsfindung oder besser die Auffassung von dem, was von Schiedsrichtern als „recht und billig“ angesehen wurde, spielte daher keine Rolle. Unabhängig aber von diesen Einzelfragen gilt es zu konstatieren, dass das Schiedswesen der Internationalen Handelskammer in der Zwischenkriegszeit einer der konkreten Erfolge – so sahen es die involvierten Zeitgenossen – einer Verständigungspolitik war, die Deutschland und deutsche Beteiligte zum Vorteil aller in internationale Strukturen einband. Juristen wie Franz von Mendelssohn und Robert Marx glaubten daran, dass konkrete Schritte internationaler Verständigung wie sie die Internationale Handelskammer und ihre Schiedsgerichtsbarkeit ermöglichten, in Wachstum, Gerechtigkeit und also Frieden resultieren würden. In ihrer Wahrnehmung und ihrer Darstellung der Arbeit der ICC war diese Institution weit entfernt von den einst gegen sie gerichteten Vorwürfen aus Deutschland, ein „Werkzeug [zu sein], den Krieg trotz Versailler Vertrags fortzusetzen“.104 Die deutschen Beteiligten wurden so Teil eines internationalen Netzwerkes von Geschäftsleuten, Juristen und (ehemaligen) Politikern, die in ihren Zielsetzungen deutlich über den Staat, die eigene Staatsangehörigkeit hinaus dachten – und danach handelten. Diese Netzwerke hatten nicht nur wirtschaftliche Relevanz für den Einzelfall, sondern sie hatten auch eine (zugegeben: begrenzte) politische Ausstrahlung auf nationale Wirtschaftsverbände, wie auch auf wirtschaftspolitische Entscheidungsträger in den Hauptstädten. Die Internationale Handelskammer und die von ihr angebotene Möglichkeit der Streitschlichtung war eine ‚Größe‘ in der wirtschaftspolitischen Debatte in Europa und darüber hinaus, mit der gerechnet wurde. Hatten doch hunderte von streitenden Parteien europa- und (in Einzelfällen) weltweit Vertrauen gefasst zur Streitschlichtungskompetenz der ICC. Und dies schloss das Vertrauen der Parteien in die Vollstreckbarkeit der Schiedsentscheidung ein auf Grund des angekündigten „moralischen Drucks“ der Landesgruppen im Verweigerungsfall. Auch dank einer geballten transnationalen Kompetenz im internationalen Privatrecht wurde das ICC-Schiedsgericht zu einem weltweit anerkannten Produzenten von Vertrauen. Die Sorge vor dem ausländischen Recht sollte bei der Anbahnung von Geschäftsbeziehungen ebenso wenig entmutigen, wie die Sorge vor einer ungerechten Behandlung als Ausländer vor einem nationalen Gericht des Geschäftspartners. Denn oftmals galten diese Befürchtungen als der Grund dafür, so   precedents which might hamper the work of arbitrations in the future, it has been decided never to publish the text of awards rendered in the name of the Court of Arbitration of the [ICC].” Siehe aber den Fall “No. 534” “Foreign Exchange Risk in Dispute” (1933) der teilabgedruckt wurde mit dem Vermerk: “The awards selected for publication by the Executive Committee of the Court of Arbitration cannot be considered as expressing the opinion of the ICC on the questions of principles involved, nor as constituting precedents binding the arbitrators of the ICC in the future.” In: World Trade. Journal of the International Chamber of Commerce 5 (1933/2), S. 10–11. 104 Klüssmann (1932): IHK, S. 6.

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Abraham Frowein, jedes Geschäft mit dem Ausland abzulehnen. Auch sollte die zuvörderst angestrebte gütliche Einigung unter Vermittlung der ICC den „geschäftlichen Bruch, den ein Gerichtsurteil fast regelmäßig nach sich zieht“, vermeiden. Stattdessen sollten die einstmals streitenden Geschäftspartner wieder miteinander, über alle Grenzen hinweg, Geschäftsbeziehungen anknüpfen können.105 Gleichwohl, schon Zeitgenossen fällten über die Gesamtarbeit der ICC das wenig enthusiastische Urteil, es sei ihr nicht gelungen „das Wirtschaftsgeschehen der Weltwirtschaft bisher [1932] wesentlich [zu] beeinflussen“.106 Dies bezog sich zuvörderst auf die Diskrepanz zwischen den wirtschaftspolitischen Empfehlungen der ICC (Beseitigung der Handelshemmnisse) und den nationalen Politiken (immer höhere Handelsbarrieren). Doch allzu offensichtlich blieb auch die Zahl der ICCSchiedsfälle (mit noch dazu eher geringen Streitwerten) in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg hinter den Erwartungen zurück. Angesichts von einigen Hundert Schiedsfällen war es erkennbar, dass der allergrößte Teil der in Frage kommenden Streitigkeiten entweder vor anderen Schiedsgerichten oder eben weiterhin vor nationalen ordentlichen Gerichten ausgefochten wurde. Arthur Nussbaum, Völkerrechtler an der Universität Berlin und ein großer Kenner des Rechts der Schiedsgerichte, schrieb 1931 in dem von ihm herausgegebenen Internationalen Jahrbuch für Schiedsgerichtswesen: „Die Ära des stürmischen Aufstiegs der Schiedsgerichtsbarkeit scheint vorüber zu sein.“107 Es gab Applaus für die Idee der internationalen Handelsschiedsgerichtsbarkeit, aber die Praxis im „Geist des Internationalismus“108 gestaltete sich komplexer. Das übergeordnete Ziel der ICC, einer den Wirtschaftsfrieden unter den Völkern wahrenden Weltwirtschaftsverfassung jenseits des Staates zur Entstehung zu verhelfen (wozu unzweifelhaft auch Streitschlichtungsmechanismen zählten), geriet in den (wirtschafts-)politischen Tagesdebatten der führenden Wirtschaftsnationen angesichts der Weltwirtschaftskrise aus dem Blick. In den 1930er Jahren fehlte die regierungsamtliche Unterstützung, die in den 1920er Jahren den relativen Aufstieg der ICC-Schiedsgerichtsbarkeit ermöglicht hatte: Wo immer höheren nationalen Handelsbarrieren das Wort geredet wurde, dort wurde einem transnationalen Handelsgericht die Relevanz abgesprochen. ARCHIVE Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin PAAA Paris 743a – Schiedsklauseln im Handelsverkehr, 1924–1934 PAAA Paris 743a – Internationale Wirtschaftskonferenz, Bd. 1, 1925–1929 PAAA R 117837 – betr. Internationale Handelskammer, 1923

  105 Nehring (1929): IHK, S. 126; ähnlich Marx (1931): Revision, S. 325; vgl. vgl. Sgard (2016): Tale, S. 175. 106 Klüssmann (1932): IHK, S. 123; vgl. Rosengarten (2001): IHK, S. 311. 107 Nußbaum (1931): Vorwort, S. V; vgl. Sgard (2016): Tale, S. 171; Petersson (2013): Institutions, S. 36. 108 So Eisemann (1984): Court, S. 394 über N. Politis’ Führung als Präsident des ICC-Schiedsgerichts.

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DIE KRISE DES LIBERALISMUS ALS THEMA ORDNUNGSÖKONOMISCHEN DENKENS IN DER ZWISCHENKRIEGSZEIT Gerhard Wegner 1. EINLEITUNG Der Ordoliberalismus und die damit verwandte Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft gelten allgemein als Leitlinie für die Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik nach dem 2. Weltkrieg. Wichtige wirtschaftspolitische Akteure in der Politik der Nachkriegszeit waren mit den Ideen des Ordoliberalismus wohlvertraut und prägten die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik. Euckens Hauptwerk, die „Grundsätze der Wirtschaftspolitik“, erschien posthum 1952.1 Das ordnungsökonomische Denken nahm jedoch bereits in der Weimarer Republik seinen Anfang und reflektierte die Ursachen der damaligen Wirtschaftskrise. Ein Kreis von liberalen Ökonomen, zu dem außer Eucken unter anderem Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow und Franz Böhm zählten, untersuchte nicht nur wirtschaftspolitische Einzelmaßnahmen, sondern auch die Wirtschaftsordnung der Weimarer Republik in ihrem Gesamtbild. Im Ergebnis attestierten die Ordoliberalen der neuen Wirtschaftsordnung eine systembedingte Krisenanfälligkeit, weil sie nicht verbindlich an Grundsätzen für eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik ausgerichtet sei. Obwohl die Wirtschaftspolitik in anderen Ländern Europas während der Zwischenkriegszeit der deutschen in mancherlei Hinsicht ähnelte, handelte es sich um eine Diskussion ausschließlich unter deutschen Ökonomen. Dazu dürfte neben der besonders ausgeprägten Krise in Deutschland auch die nach dem Ersten Weltkrieg unterbrochene internationale Kooperation unter Wissenschaftlern zwischen den Feindstaaten beigetragen haben. Dies ist insofern bemerkenswert und auch bedauerlich, als die grundlegende Kritik der liberalen deutschen Ökonomen nicht nur auf die nationale, sondern auch auf die krisenhafte internationale Wirtschaftsordnung der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zielte. Insofern hätte eine internationale Kooperation zwischen Ökonomen ihrer Kritik ein größeres Gewicht verleihen und im günstigen Fall auch zu einer gemeinsamen Umorientierung beitragen können. Das neue ordnungsökonomische Denken kennzeichnete vor allem die Methodik, die Kritik an einzelnen wirtschaftspolitischen Maßnahmen wie Preisinterventionen, staatlichen Lohnfestsetzungen, Devisenbewirtschaftung oder Zollpolitik in einen Gesamtzusammenhang zu stellen und als typische Erscheinungsformen einer neuen demokratischen Wirtschaftspolitik nach dem Ersten Weltkrieg zu sehen.   1

Vgl. Eucken (2004/1952): Grundsätze.

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„Interventionismus“, „Wirtschaftsstaat“ oder „Wirtschaftsnationalismus“ wurden zur Chiffre für eine fehlgeleitete Wirtschaftspolitik, die anstelle von partiellen Korrekturen einer grundsätzlichen Neuausrichtung bedürfe. Zugleich finden wir vor allem bei Wilhelm Röpke Überlegungen zu einer internationalen Wirtschaftsordnung, welche über die klassischen Freihandelspostulate der liberalen Ökonomen des 19. Jahrhunderts deutlich hinausweisen. In diesem Zusammenhang ist die kritische Reflexion der internationalen Handelspolitik in der Zwischenkriegszeit besonders aufschlussreich, da in ihr sowohl Chancen als auch Gefahren für die liberale Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung gesehen wurden, wie sich anhand der umfangreichen Erörterungen von Röpke nachweisen lässt (s.u.). Unverkennbar bildet die Epoche vor dem Ersten Weltkrieg aufgrund ihrer hohen wirtschaftlichen Dynamik nach wie vor das Vorbild für liberale Ökonomen. Insbesondere Röpke erkennt jedoch deutlich, dass vor allem das Schwinden der Pax Britannica internationale anstatt bilaterale Übereinkünfte als Grundlage einer internationalen Ordnung unentbehrlich macht, auch wenn er die bisherigen Bemühungen der Zwischenkriegszeit überaus kritisch beurteilt. Den Forderungsgehalt für die Wirtschaftspolitik gewinnen die liberalen deutschen Ökonomen aus den Implikationen für die klassischliberale Trias „Freiheit – Wohlstand – Frieden“. Die Lösung finden sie in einer freiwilligen, doppelten Souveränitätsbeschränkung für die Wirtschaftspolitik: Zum einen nach innen durch eine Orientierung an wirtschaftspolitischen Grundsätzen, zum anderen im Außenverhältnis zu anderen Staaten, die als wohlstandsförderliche Kooperationspartner und nicht als wirtschaftliche Widersacher der eigenen Nation betrachtet werden. Dieser Beitrag verfolgt einen doppelten Zweck. Zum einen soll die kritische Bestandsaufnahme der damaligen Wirtschaftspolitik, wie sie Eucken noch vor der nationalsozialistischen Machtergreifung bündig vorgelegt hat, in Grundzügen dargestellt werden. Um seine Kritik nachvollziehbar zu machen, muss zum anderen die Strukturveränderung der Wirtschaftsordnung in Deutschland, wie sie sich aus dem Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik vollzogen hat, analysiert werden. Dies soll mit Hilfe ausgewählter, besonders geeigneter Theorieelemente der modernen Institutionenökonomik geschehen. Es lässt sich zeigen, dass der Demokratisierungsschub nach dem Ersten Weltkrieg mit einer Ordnungsdestabilisierung einherging und die frühen demokratiekritischen Äußerungen etwa Euckens vor einer falschen Lesart, etwa als Plädoyer für einen autoritären Liberalismus, zu schützen sind.2 Tatsächlich konnte nämlich auch die Demokratie ihre gesellschaftliche Integrationsleistung, wenn überhaupt, nur sehr ungenügend entfalten. Im anschließenden Teil behandele ich die Analyse Röpkes zur wirtschaftlichen Desintegration nach dem Ersten Weltkrieg und seine kritischen Diagnosen über die internationalen Wirtschaftskonferenzen und zeige auf, aus welchen Gründen er die Überwindungsversuche der internationalen Desintegration zum damaligen Zeitpunkt skeptisch sieht.   2

Vgl. Haselbach (1991): Autoritärer Liberalismus. Kritisch hierzu Nientiedt/Köhler (2015): Liberalism and democracy, S. 1743–1760.

Krise des Liberalismus als Thema ordnungsökonomischen Denkens

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2. WIRTSCHAFTLICHE ORDNUNGSDESTABILISIERUNG ALS HAUPTKRITIKPUNKT DES FRÜHEN ORDNUNGSÖKONOMISCHEN DENKENS Im Jahre 1932 veröffentlicht Walter Eucken seinen Aufsatz „Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus“, der die wesentlichen Kritikpunkte an der Wirtschaftsordnung der Weimarer Republik zusammenfasst.3 Eucken diagnostiziert einen Rückzug des Typus des wagemutigen Unternehmers, der das 19. Jahrhundert in Deutschland beherrscht habe und mit technologischen Neuerungen die Industrialisierung beherzt vorangetrieben habe. Nach dem Kriege sei dieser Pionierunternehmer verschwunden; stattdessen dominiere eine „Verbürokratisierung und Verrentung des Unternehmertums“.4 Der Unternehmertyp nach dem großen Kriege scheue das Risiko und suche nach Sicherheit, die er in politisch geduldeten oder gar geförderten „Wirtschaftsfürstentümern“ fände. „Vertrustung“, die „Bildung festgefügter Kartelle“, „Patente und Geheimverfahren“ würden die Kraft der Konkurrenz stark schwächen.5 Auch in anderen kapitalistischen Ländern wie Großbritannien, den Niederlanden oder Frankreich habe sich bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert eine solche Tendenz zum stagnativen Kapitalismus abgezeichnet, die nunmehr auch auf Deutschland übergegriffen habe. Damit gingen Eucken zufolge erhebliche Wachstums- und Wohlfahrtsverluste einher, die somit nur zum Teil exogene Gründe hätten, wie etwa ein nachlassendes Bevölkerungswachstum oder den kriegsbedingten Kapitalmangel. Vor allem erweise sich die neue Wirtschaftsordnung als Hemmnis für einen dynamischen Kapitalismus. Nach der Diagnose Euckens, die von anderen Vertretern des Ordoliberalismus wie etwa Röpke und Böhm geteilt wurde, habe sich der liberale Staat des Kaiserreiches vor allem in der nach-bismarckschen Ära schleichend, vor allem aber im Gefolge der Weimarer Demokratie beschleunigt zu einem „Wirtschaftsstaat“ gewandelt. Die Trennung von Staat und Wirtschaft sei mehr und mehr aufgehoben worden: „Das Verhältnis von Staat und Wirtschaft kehrte sich allmählich um, und die Wirtschaft begann die Führung in dem Verflechtungsprozess von beiden zu übernehmen.“6 Nach dieser Beschreibung, welche an die vieldiskutierte, fünfzig Jahre spätere erstellte Diagnose Mancur Olsons zur Stagnationsanfälligkeit westlicher Volkswirtschaften erinnert, instrumentalisierten Interessengruppen den Staat für ihre ökonomischen Interessen, wobei der politische Erfolg asymmetrisch verteilt ist.7 Großunternehmen und Großlandwirtschaftsbetriebe verschaffen sich einen besseren Schutz vor Wettbewerb als die mittlere und kleinere Industrie sowie kleinere Landwirtschaftsbetriebe. Auch die Gewerkschaften instrumentalisierten den Staat für ihre Zwecke und verschaffen sich Sondervorteile, die zu einer   3 4 5 6 7

Eucken (1932/1997): Staatliche Strukturwandlungen. Ebd., S. 8. Ebd., S. 6. Ebd., S. 10. Vgl. Olson (1982): Rise and Decline.

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marktwidrigen Lohnfestsetzung oder zu kriterienlosen Regulierungen und Preisfestsetzungen (etwa auf dem Wohnungsmarkt) führen würden. Dieser Wirtschaftsstaat hemmt nicht nur – ganz besonders durch die ungemein hohen Steuerlasten jeder Art – die Initiative der Unternehmer, er bindet also nicht nur die Entwicklungskräfte, sondern er macht vor allem den bisherigen Regulator der Volkswirtschaft, das Preissystem, funktionsunfähig. Schon durch das Aufkommen einzelner Monopole und monopolartiger Gebilde war die Wirksamkeit des Preismechanismus behindert, und waren gefährliche Kapitalfehlleitungen veranlaßt worden. Indem der Staat – besonders durch seine Zoll- und Kartellpolitik – das Aufkommen und die Festigung der Monopole wesentlich erleichterte, die nur durch seine Hilfe ihre Machtstellung erringen konnten, hat er die regulierende Kraft des Preissystems mittelbar stark geschwächt. Er hat darüber hinaus durch unmittelbare Preisbestimmung auf Arbeits-, Kapital-, Wohnungs- Lebensmittel- und vielen anderen Märkten Preisverschiebungen verhindert und damit bewirkt, daß angebotene und nachgefragte Quantitäten sich nicht ausglichen.8

Eucken erkennt hier eine Politisierung der Wirtschaft, die zwar auch bereits vor dem Ersten Weltkrieg einsetzte, jedoch in der Weimarer Republik systembestimmend wurde. Eucken übergeht hier allerdings die Wirtschaftslenkung während des Krieges, welche die (im Wesentlichen) liberale Vorkriegswirtschaft bereits entscheidend geändert hatte. So wuchs sich die von Walther Rathenau konzipierte und geleitete Kriegsrohstoffabteilung zu einer umfänglichen Bürokratie aus, welche die Wirtschaftsordnung entscheidend änderte, wie Rathenau ausführt: Auf der einen Seite war ein entscheidender Schritt zum Staatssozialismus geschehen. Der Güterverkehr gehorchte nicht mehr dem freien Spiel der Kräfte, sondern war zwangsläufig geworden. Auf der anderen Seite wurde eine Selbstverwaltung der Industrie, und zwar in größtem Umfang, durch die neuen Organisationen angestrebt.9

Die Kriegswirtschaft schuf also bereits die Grundlagen für den von Eucken so bezeichneten Interventionsstaat, den die Weimarer Republik gleichsam „erbte“. Darin bildete sie keineswegs eine europäische Ausnahme (s.u.). Nirgendwo gelang eine Wiederherstellung der liberalen Vorkriegsordnung, noch wurde eine solche für erstrebenswert angesehen. Außen- und binnenwirtschaftlicher Interventionismus korrespondierten dabei miteinander. Protektionismus in Form von prohibitiven Zolltarifen, Importbeschränkungen oder in Form einer politisch betriebenen Abwertungspolitik durch Aufgabe des Goldstandards stellte den außenwirtschaftlichen Flankenschutz für innenpolitisch motivierte Wettbewerbsbeschränkungen und Preiseingriffe dar (s.u.). Erst durch den außenwirtschaftlichen Protektionismus gewannen binnenwirtschaftliche Wettbewerbsbeschränkungen an Gewicht. Im „Wirtschaftsstaat“ greife, wie Eucken feststellt, die Befriedigung von Gruppeninteressen auch unmittelbar auf die internationale Wirtschaftsordnung über. In der Demokratie ist der Interventionismus zudem mit dem Ausgang von Wahlen verknüpft und entsprechend unberechenbar und unbeständig. Damit erfährt die Wirtschaftsordnung ein zusätzliches Moment der Instabilität und Unvorhersehbarkeit, das langfristige   8 9

Ebd., S. 14. Rathenau (1915/1925): Deutschlands Rohstoffversorgung, zit. nach Gall (2009): Walther Rathenau, S. 183.

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wirtschaftliche Planungen erschwerte. Die Eigenlogik des politischen Systems wird damit zu einer wesentlichen Ursache für die dauerhafte Krisenanfälligkeit der deutschen Wirtschaft. Auch die Auflösung der internationalen Wirtschaftsordnung unter den entwickelten kapitalistischen Ländern nach dem Ersten Weltkrieg führt Eucken auf die allgemeine Demokratisierung zurück, welche vernünftige Erwägungen an den Rand gedrängt habe. Anders als in monarchischer Zeit sei das „Prinzip der Trennung von Krieg und Frieden“ aufgelöst worden. Besonders moniert Eucken, dass nach Abschluss der Kriegshandlungen kein neues, stabiles Staatensystem mit schnell erledigten Reparationszahlungen errichtet worden sei – Eucken benennt als Vorbild den Wiener Kongress, der auf eine echte Friedensordnung zielte und den Kriegsverlierer darin integrierte –, sondern der Frieden als verlängerter Krieg angesehen wurde. Allerdings verfügten die Vertreter gewählter Regierungen auch nicht mehr über die Handlungsspielräume der Diplomaten liberaler Monarchien; denn mit der Demokratisierung der Welt [gewannen] die Völker und ihre Leidenschaften, die Interessentengruppen und chaotischen Kräfte der Masse auf die Außenpolitik maßgebenden Einfluß [..]; die Leitung der auswärtigen Politik geriet in die Hand von Persönlichkeiten, die, mehr Demagogen als Diplomaten, die Gefühle der Massen aufpeitschten und zugleich von ihnen abhängig wurden, so daß schließlich jede ordnende Kraft aus dem Völkerleben verschwand.10

Es zeigt sich hier ein Grundmotiv des Liberalismus der Zwischenkriegszeit, welches auch bei Röpke, auf den noch einzugehen sein wird, wiederkehrt und den europäischen Liberalismus generell charakterisiert: Die Vorkriegszeit bildet nach wie vor das Vorbild für eine wohlstandsstiftende internationale Wirtschaftsordnung, als die Gemeinschaft liberaler Staaten (der liberalen Monarchien sowie der Republiken in Frankreich und Nordamerika) einen stabilen Rahmen für die Vertiefung und Ausweitung der internationalen Arbeitsteilung bieten konnte: Es war kein Zufall, daß das Jahrhundert des ununterbrochenen Bestehens dieser internationalen Staatenordnung zugleich das Jahrhundert stärkster Expansion des Kapitalismus bildete. Denn die Stabilität und Sicherheit der außenpolitischen Beziehungen schuf die Vertrauensgrundlage für den internationalen Kapitalverkehr und ermöglichte, ein Netz von langfristigen Handelsverträgen zu spannen …, wodurch das Wachstum des Kapitalismus gerade in Ländern wie England und Deutschland erheblich gefördert wurde.11

Eucken pointiert seine Demokratieskepsis mit dem Burckhardt-Zitat: „Seitdem die Politik auf innere Gärungen der Völker gegründet ist, hat alle Sicherheit ein Ende.“12 Die Schaffung einer stabilen internationalen Wirtschaftsordnung mit langfristigen Handelsverträgen zur Schaffung des internationalen Waren- und Kapitalverkehrs – Röpke rechnet auch die zu garantierende Mobilität von Arbeitskräften hinzu – würde eine Einhegung von Gruppeninteressen im demokratischen Entscheidungsprozess implizieren. Die Bedienung von Gruppeninteressen wäre an Regeln zu binden, damit die Schäden für den Wettbewerb begrenzt blieben. Andernfalls   10 Ebd., S. 17. 11 Ebd., S. 17. 12 Ebd., S. 17.

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würde die Wirtschaftsordnung gerade als Folge ihrer zunehmenden Politisierung unberechenbar werden und „von den Zufälligkeiten politischer Machtgruppierungen abhängig“13. Es ist dabei zunächst offen, welche Schlussfolgerungen sich mit einer solchen Diagnose verbinden. Kein Vertreter des Ordoliberalismus hat – trotz ihrer demokratieskeptischen Einlassungen – einer autoritären politischen Ordnung das Wort geredet, wie auch die persönlichen Lebensgeschichten von Röpke, Eucken, Rüstow oder Böhm zur Zeit des Nationalsozialismus hinreichend belegen. Die Erfahrung mit Militär und Krieg während des Weltkriegs hat sie vielmehr auf Distanz zu autoritären Ordnungsmodellen gebracht. Wenn Eucken oder Rüstow planwirtschaftliche Wirtschaftsmodelle schon begrifflich in die Nähe des Militärischen („Kommandowirtschaft“, „Befehlswirtschaft“) rückten, untermauerten sie damit ihre Zurückweisung. Die Kritik an der demokratischen Wirtschaftspolitik speist sich vielmehr aus einer Sorge um die Passfähigkeit von ökonomischer und politischer Ordnung, die bis heute die Forschung in der modernen Konstitutionenökonomik motiviert14: Die Eigenlogik des demokratischen Wettbewerbs konfligiert in vielfältiger Weise mit den Systemerfordernissen einer Wettbewerbsordnung und kann zu dysfunktionalen Ergebnissen führen. Die Spannung lässt sich aber weder in die eine, noch in die andere Richtung auflösen, also weder durch antidemokratische Politik noch durch Überwindung des Kapitalismus. Eine dezidiert antikapitalistische Politik, welche während der Weimarer Republik als Reaktion auf die Krise durchaus eine gewisse Massenbasis fand, beurteilten die Ordoliberalen als ökonomisch aberwitzig. Sie strebten nach einem neuen Ordnungsmodell, das die Unternehmer wieder dem freien Wettbewerb aussetzt und den legitimen sozialpolitischen Anliegen der Arbeiter Rechnung trägt. 3. DIE WANDLUNG DER WIRTSCHAFTSORDNUNG NACH DEM ERSTEN WELTKRIEG Es soll zunächst geklärt werden, ob der Euckenschen Befund zum Systemwechsel („Strukturwandlung“) von einer damals verbreiteten antidemokratischen Skepsis oder gar Modernisierungsverweigerung angeleitet ist oder aber wirtschaftshistorisch gestützt ist. Dazu erweist es sich als notwendig, den Wandel der Wirtschaftsordnung in den Blick zu nehmen, wie er sich von der Zeit vor dem Krieg bis zum Ende der Weimarer Republik vollzogen hatte. Pauschalbegriffe wie „liberaler Staat“ oder „reine Marktwirtschaft“ helfen hier allerdings kaum weiter. Vielmehr ist im Sinne der modernen Institutionenökonomie die Korrespondenz von politischer und ökonomischer Ordnung genauer zu betrachten;15 denn genau hierin sieht Eucken ja die Ursache für den Interventionismus der Nachkriegszeit. Zum anderen ist die   13 Ebd., S. 15. 14 Vgl. etwa Brennan / Buchanan (1985): Reason of Rules. 15 Vgl. North, D./Wallis, J./Weingast, B. (2009): Violence and Social Orders sowie Acemoglu, D./Robinson, J. (2012): Why Nations Fail.

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Einbettung des Wirtschaftssystems in die internationale Wirtschaftsordnung vor dem Krieg zu thematisieren, an deren Reparatur sich die Regierungen nach dem Krieg zumeist vergeblich versucht hatten. Die Ausbildung der marktkonstituierenden Institutionen fand in Deutschland in der kurzen, aber überaus reformfreudigen Periode des Norddeutschen Bundes ihren vorläufigen Abschluss, nachdem in den Jahrzehnten zuvor, vor allem aufgrund der überwiegend liberalen Wirtschaftspolitik Preußens, wichtige Weichenstellungen in Richtung einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung gestellt worden waren.16 Mit der Aufgabe des Direktionsprinzips im Bergbau, der Schaffung einer Zivilgerichtsbarkeit und der allgemeinen Konzession für Aktiengesellschaften nunmehr auch im Finanzsektor zog sich der Staat endgültig aus der Kontrolle über die Wirtschaft zurück und beschränkte sich auf Gestaltungsaufgaben. Eine Reform im Armenrecht (Wohnsitzprinzip anstelle des Heimatprinzips) räumte Hindernisse für die Freizügigkeit der Arbeitskräfte aus dem Weg, so dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine starke Binnenmigration den Arbeitsmarkt im Deutschen Reich prägte.17 Zur Zeit des Kaiserreiches war der Kapitalismus voll funktionsfähig und bildete die Voraussetzung für eine wirtschaftshistorisch beispiellose Periode der Hochindustrialisierung. In der Sonderwegsdebatte wies Eley darauf hin, dass die Reformen des Norddeutschen Bundes, welche vom kurz danach gegründeten Kaiserreich übernommen wurden, die oft übersehene „bürgerliche Revolution“ in Deutschland ausgemacht hatten; hier hatte sich das Bürgertum alle notwendigen Institutionen zur Absicherung bürgerlicher Freiheit geschaffen.18 Zudem schuf das allgemeine Männerwahlrecht auf Reichsebene erstmalig ein Parlament und (beschränkte) politische Mitwirkungsrechte. Der weitere Ausbau dieser neuen politischen Ordnung blieb offen, ermöglichte aber schon frühzeitig ein modernes Parteiensystem. Gerade hierdurch allerdings spaltete sich, anders als in England, früh die parlamentarische Vertretung der Arbeiter von den Liberalen. Weil die Parteien nicht den Kanzler und die Regierung wählten und sich nicht zu Regierungskoalitionen zusammenschließen mussten, pflegten sie Identitäten als Weltanschauungsparteien, häufig gestützt von einem Unterbau aus parteinahen „Vorfeldorganisationen“. Diese „Versäulung“ der Gesellschaft wirkte auch in die Weimarer Zeit hinein, kennzeichnete jedoch auch andere westeuropäische Länder.19 Die föderale Staatsorganisation des Kaiserreichs schuf die Voraussetzungen dessen, was Weingast (mit Blick auf die USA) einen „Market Preserving Federalism“ genannt hatte.20 Damit bezeichnet er eine politische Ordnung, welche den Gliedstaaten bedeutende wirtschaftspolitische Kompetenzen zuweist anstatt die gesamte Wirtschaftspolitik zu zentralisieren. Gleichzeitig bilden die Staaten einen   16 Vgl. Boch, R. (2004): Staat und Wirtschaft, 35–37); Wegner, G. (2016), Wischermann, G. /Nieberding, A. (2004): Institutionelle Revolution. 17 Boch (2004): Staat und Wirtschaft, S. 33–37; Grant (2005): Migration and Inequality. 18 Blackbourn / Eley (1980): Mythen deutscher Geschichtsschreibung, S. 7–70. 19 Raphael (2011): Imperiale Gewalt. 20 Weingast (1995): Role of Political Institutions.

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gemeinsamen Markt von Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Arbeit, so dass sie einen Wettbewerb der Wirtschaftspolitiken konstituieren. Der Währungsraum ist geschlossen, so dass die Gliedstaaten ihre Schulden nicht durch Notenbankkredite finanzieren können und auch keine Politik der gezielten Abwertung betreiben können. In einem „Market Preserving Federalism“ konkurrieren die Gliedstaaten um Investoren, zum Beispiel durch attraktive Steuersätze, durch das Angebot von nachgefragten öffentlichen Gütern wie Infrastrukturleistungen und Bildungsangeboten oder durch eine leistungsfähige staatliche Verwaltung. Ein ruinöser Steuer- oder Regulierungswettbewerb nach unten folgt daraus keineswegs, vielmehr können gemeinwohlfördernde Regulierungen oder Angebote öffentlicher Leistungen auch die Wirtschaft fördern. Wohl aber existiert ein institutionelles Arrangement, das größere Abweichungen von einer liberalen, private Investitionstätigkeit begünstigenden Wirtschaftspolitik immanent korrigiert. Die marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung stabilisiert sich durch diese föderale Ordnung selbst und bleibt von politischen Machtwechseln im Zentralstaat geschützt. Der „Market Preserving Federalism“ des Kaiserreiches funktionierte vor allem deswegen, weil die wirtschaftspolitischen Kompetenzen zwischen Bundesebene und Länderebene dauerhaft getrennt blieben. Den Gliedstaaten des Kaiserreiches verblieben wesentliche wirtschaftspolitische Rechte, insbesondere das Recht der direkten Besteuerung und die Gewerberegulierung. Das Reich finanzierte sich aus Matrikularbeiträgen sowie aus Zolleinnahmen und Verbrauchssteuern, erhob jedoch keine Einkommenssteuern. Die Gliedstaaten und selbst die Kommunen verfügten über eine (im Vergleich zu Frankreich und Großbritannien, aber gerade auch zur Weimarer Zeit) hohe fiskalische Autonomie, welche Anreize setzte, die Entwicklung der regionalen Wirtschaft zu fördern und zahlungskräftige Zensiten anzulocken.21 Im Sinne der Theorie des „Market Preserving Federalism“ fielen die Gewerbesteuern niedrig aus, wohingegen sich die staatlichen Ausgaben auf investive anstatt konsumtive Bereiche konzentrierten (Verkehrswege, öffentliche Bildung). Diese fiskalische Autonomie der Gliedstaaten und Kommunen wurde erst durch die Erzbergersche Finanzreform im Jahre 1919 weitgehend beseitigt. Auch wenn das (fast) vollständige Fehlen einer progressiven Einkommenssteuer und das Übergewicht von Verbrauchssteuern insbesondere in Preußen die Steuerlast für Unternehmen und wohlhabende Zensiten begrenzte, was unter dem Gesichtspunkt der Steuergerechtigkeit schon damals kritisiert wurde, so förderte der institutionelle Rahmen langfristige Investitionen und trug zur Bildung von stabilen Erwartungen bei. Politische Wechsellagen blieben ohne Einfluss auf das Wirtschaftsgeschehen. Hierdurch bildete sich eine stabile, liberale Wirtschaftsordnung heraus, was die „systemfremde“, bedeutsame wirtschaftliche Tätigkeit von Staatsbetrieben mit erheblichen Einnahmemöglichkeiten nicht ausschloss.22 Die Staatsquote im gesamten Reich belief sich auf 15 Prozent im Jahre 1913.23   21 Spoerer (2004): Steuerlast, Steuerinzidenz und Steuerwettbewerb, S. 176–195. 22 Das Eisenbahnwesen bescherte dem Reich erhebliche Einnahmen, während Preußen aus Domänen einen bedeutenden Teil seiner Einnahmen selber bestreiten konnte. 23 Borchardt (1982): Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume.

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Vergleicht man dies mit der Staatsquote von 26 Prozent zu Mitte der zwanziger Jahre, die während der Weltwirtschaftskrise noch weiter bis 35 Prozent anstieg, so unterstreicht dies den Wandel der Wirtschaftsordnung nach Ende des Kaiserreiches. Die fiskalische Autonomie der Gliedstaaten und die Abwesenheit eines föderalen Finanzausgleichs oder gar „Bail-outs“ stützte die liberale Wirtschaftsordnung des Kaiserreiches. Die Staatsfinanzen entwickelten sich in allen Gliedstaaten günstig, trotz vermehrter Staatsaufgaben, die zumeist investiver anstatt umverteilender Art blieben, aber auch schon die Anfänge eines Wohlfahrtsstaates enthielten. Die institutionell stabilisierte liberale Wirtschaftsordnung stützt ein zentrales Argument, das Eley in der Debatte um einen deutschen Sonderweg vorgebracht hatte (Eley, 1980). Anders als die meisten deutschen Historiker interpretiert Eley die fehlende volle Parlamentarisierung – d.h. die Ernennung des Reichskanzlers durch den Kaiser anstatt durch eine Wahl des Reichstags – nicht als „steckengebliebene Demokratisierung“, „Blockierung“ oder „Missverhältnis von ökonomischer und politischer Entwicklung“, ebenso wenig als Nachwirken altständischer, vorkapitalistischer Machtverhältnisse. Vielmehr zog das politisch sehr wohl einflussreiche Wirtschaftsbürgertum eine stabile kapitalistische Ordnung einer umfassenden Demokratisierung vor und handelte rational, als es die verfassungsrechtlich durchaus vorhandenen Möglichkeiten einer vollen Parlamentarisierung ausschlug.24 Die hohe wirtschaftliche Dynamik schuf eine Arbeiterklasse, die aufgrund des allgemeinen Männerwahlrechts bereits über einen bedeutenden politischen Einfluss im Reichstag verfügte. Eine umfassende Demokratisierung im Verein mit einer Übertragung von wirtschaftspolitischen Kompetenzen auf die Reichsebene hätte die liberale Wirtschaftsordnung politisch gefährden können. Die SPD trug die liberale Ordnung noch nicht mit, sondern zielte programmatisch mit dem Erfurter Programm nach wie vor auf ihre Überwindung; auch das Zentrum verfolgte eher berufsständisch orientierte, antiwettbewerbliche Zielvorstellungen, trotz erstarkter reformistischer Strömungen. Bei den Reichstagswahlen von 1903 gewannen beide Parteien, die den Kern der späteren Weimarer Koalition bildeten, die Mehrheit der Stimmen, 1912 auch die Mehrheit der Sitze. In anderen kapitalistischen Ländern wie den Niederlanden, Schweden oder im Vereinigten Königreich sicherte das Bürgertum die liberale Wirtschaftsordnung in Verbindung mit einer vollen Parlamentarisierung vor allem durch ein restriktives Zensuswahlrecht, weshalb die Klassengegensätze im Parlament nur schwach zum Ausdruck kamen. In Frankreich hatte die verzögerte Industrialisierung die Klassengegensätze in Schach gehalten. Hingegen stellte das allgemeine Männerwahlrecht in Deutschland eine besondere Herausforderung für die Stabilität der Wirtschaftsordnung dar, wie sich in der Weimarer Republik später zeigen sollte. Da die sozialen (Klassen-)Gegensätze im Reichstag ihren Ausdruck fanden und die fortschreitende Industrialisierung, aber auch die rechtsstaatliche Kultur in Verbindung mit einer wachsamen, kritischen Öffentlichkeit die kapitalismuskritischen Kräfte stärkte, hätte die Wahl des Reichskanzlers durch das Parlament ein Risiko für die   24 Blackbourn / Eley (1980): Mythen deutscher Geschichtsschreibung, S. 50–53.

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kapitalistische Wirtschaftsordnung insgesamt bedeuten können.25 Daher stellte die politische Ordnung im Sinne Eleys eine funktionsadäquate Zwischenlösung dar: Sie ermöglichte zum einen das Einüben demokratischer Praxis, stellte aber gleichzeitig die Interessen insbesondere des Wirtschaftsbürgertums nach einer stabilen Wirtschaftsordnung zufrieden.26 Die politische Macht war institutionell zwischen Kaiser, Reichsleitung, Reichstag und Bundesrat sowie territorial zwischen den Gliedstaaten derart aufgeteilt, dass politische Partizipation im Rahmen einer stabilen liberalen Wirtschaftsordnung ausgeübt wurde, welcher ein Wechsel politischer Mehrheiten im Reichstag wenig anhaben konnte. Im Außenverhältnis zu den anderen kapitalistischen Wirtschaftsnationen sicherte ein gemäßigter Freihandel die liberale Ordnung und sorgte dafür, dass monopolistische Tendenzen sowie die bereits einsetzende Kartellbewegung sich nur begrenzt entfalten konnten. Mit Gründung des Zollvereins setzte Preußen seine bereits nach dem Wiener Kongress eingeführte freihändlerische Politik fort und hielt an dieser fest, sieht man von der Zollvereinskrise in den 1850er Jahren einmal ab.27 Der Cobden-Chevalier-Vertrag zwischen England und Frankreich bildete für Preußen das Signal, zu einer freihändlerischen Politik zurückzukehren und seinerseits einen bilateralen Handelsvertrag mit Frankreich abzuschließen. Einwände der süddeutschen Staaten wegen der zu erwartenden Weinimporte aus Frankreich blieben nunmehr ungehört, da die Wirtschaftsinteressen Preußens stärker wogen. Da auch Baden die freihändlerische Politik Preußens unterstützte, wurde Preußen Teil eines Netzes von Handelsverträgen, das die Vorkriegszeit prägte und die internationalen Wirtschaftsbeziehungen der später so genannten ersten Globalisierungsphase ordnete. Charakteristikum waren die Meistbegünstigung und damit der Ausschluss von Präferenzzöllen. Bemerkenswerterweise spiegelte sich die politische Rivalität der Großmächte nicht in den Handelsbeziehungen wider, sieht man einmal von Rechtsverstößen Großbritanniens, d.h. rechtswidrigen Beschlagnahmungen ausländischer Handelsschiffe auf internationalen Gewässern während des zweiten Burenkriegs ab. Durch den vorherrschenden Goldstandard wurde der Zahlungsverkehr zwischen den Wirtschaftsteilnehmern der wirtschaftlichen Großmächte gesichert und blieb von politischen Einflussnahmen geschützt. Ein freier Kapitalverkehr unter Einschluss ausländischer Direktinvestitionen bildete sich heraus und blieb vor Enteignung geschützt. Auch mit der Zollpolitik Bismarcks änderte sich, entgegen einer immer noch verbreiteten Auffassung, nichts Grundsätzliches an der deutschen Außenwirtschaftspolitik, welche keineswegs die Hebel in Richtung Protektionismus umlegte. Vielmehr bildete der gemäßigte Freihandel nach wie vor die Leitlinie der Handelspolitik. Zwar schützten Zölle die deutsche Agrarwirtschaft, die sich einer Zunahme von Weizenimporten Russlands ausgesetzt sah und damit den relativen (keineswegs   25 Ich benutze die Begriffe „liberale Wirtschaftsordnung“, „Kapitalismus“ und „Marktwirtschaft“ synonym. 26 Vgl. Anderson (2009): Lehrjahre der Demokratie, die aufzeigt, wie im Kaiserreich demokratische Praktiken und Spielregeln eingeübt wurden. 27 Für eine Gesamtdarstellung s. Hahn (1984): Geschichte des Deutschen Zollvereins.

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absoluten) Schrumpfungsprozess des Agrarsektors beschleunigte. Jedoch milderte Bismarcks Nachfolger Caprivi die Agrarzölle gegen den Widerstand der Konservativen ab – es war das erste Mal, dass die SPD für eine Gesetzesvorlage der Reichsleitung stimmte.28 Eine detaillierte Analyse der Zollsätze für einzelne Warengruppen zeigt ohnehin, dass die höchsten Zollsätze für Kolonialwaren erhoben wurden, also einem fiskalischen Einnahmeziel dienten und nicht dem Schutz heimischer Produzenten (Dedinger, 2006). Für hochentwickelte Industrieprodukte wie etwa der neu entstandenen Elektroindustrie wurden überhaupt keine Zolltarife erhoben. Nach einer vorübergehenden leichten Absenkung der außenwirtschaftlichen Verflechtung infolge der Bismarckschen Zollpolitik stieg die außenwirtschaftliche Integration der Wirtschaft des Reiches wieder an und erreichte 1913 einen Höchstwert. Allerdings bildete die Agrarwirtschaft bereits eine wichtige Lobby, welche dem Freihandel entgegen arbeitete; diese beschränkte sich jedoch keineswegs auf die ostelbischen Junker, sondern umfasste auch existenzgefährdete Vollbauern, welche die Konservativen im Reichstag unterstützten. Bereits in der Schutzzollpolitik gegenüber der Agrarwirtschaft sollte sich zeigen, dass der Protektionismus auch einem sozialpolitischen Ziel diente. Dies kennzeichnet die Agrarpolitik bis in die Gegenwart. Zum Desideratum der Wirtschaftsordnung des Kaiserreiches zählte sicherlich die Tarifautonomie der Gewerkschaften. Auch friedlich vorgetragene Wünsche nach Lohnerhöhungen wurden als unbotmäßiges Verhalten gewertet und Kollektivvereinbarungen zumindest formal abgelehnt (auch wenn sie bereits während des Kaiserreiches in zahlreichen Fällen getroffen worden waren).29 Die Unternehmer waren nicht bereit, Gewerkschaften als gleichberechtigte Verhandlungspartner anzuerkennen, sondern verstanden sich als „Herr im Hause“, was paternalistisch gewährte großzügige soziale Leistungen (etwa im Wohnsiedlungsbau) nicht ausschloss. Der Staat, welcher längere Zeit Partei für die Unternehmer ergriffen hatte, wechselte allerdings in eine neutrale „Schiedsrichterrolle“, nachdem der Reichstag Gesetzesvorlagen verweigerte, welche gewerkschaftliche Kampfmaßnahmen kriminalisiert hätten.30 Besonders der große Ruhrstreik von 1905 unterstrich diesen Rollenwechsel des Staates, als der Unmut der Reichsleitung über das unnachgiebige Verhalten der Arbeitgeber wuchs und das Innenministerium den Bergbaubehörden die Anweisung gab, Beschwerden der Arbeiter über Unternehmerwillkür genauestens nachzugehen.31 Diese Art der staatlichen Konfliktregelung setzte voraus, dass der Staat tatsächlich unabhängig von den Tarifparteien war oder zumindest die Interessen von Unternehmern und Arbeitern grundsätzlich respektierte. Obwohl die liberale Wirtschaftsordnung in Teilen immer noch unabgeschlossen war oder auch neue Defizite aufwies, wie sich etwa an der noch nicht   28 Vgl. Hentschel (1978): Wirtschaft und Wirtschaftspolitik, S. 178–183. 29 Vgl. Borchardt (1977): Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume, S. 197. 30 Dazu zählte die vom Reichstag abgelehnte „Umsturzvorlage“ sowie die „Zuchthausvorlage“, welche einen Politikwechsel der Reichsleitung gegenüber der organisierten Arbeiterschaft zugunsten einer neutralen Haltung eingeleitet hatte. 31 Kroll (2013): Geburt der Moderne, S. 27.

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zugestandenen Tarifautonomie der Gewerkschaften und auch der einsetzenden Kartellbewegung zeigte, existierte in der Vorkriegszeit ein langfristig stabiler Rahmen für risikofreudige Unternehmer, die im In- und Ausland Investitionsgelegenheiten aufspüren und wahrnehmen konnten. Das trotz Konjunkturzyklen anhaltend hohe Wirtschaftswachstum ließ die Einkommen auch der unteren Schichten kontinuierlich ansteigen, was sich nicht zuletzt in einem allmählichen Versiegen der Armutsemigration nach Nordamerika zeigte, welche die vorherigen Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts kennzeichnete. 4. POLITISIERUNG UND ZENTRALISIERUNG ALS KENNZEICHEN DES NEUEN INTERVENTIONSSTAATES Das Ende des Kaiserreiches und der Demokratisierungsschub zu Beginn der Weimarer Republik erschütterten die hier knapp skizzierte liberale Ordnung grundlegend. Das Verhältnis von demokratischer Souveränität und liberaler ökonomischer Ordnung stand in vielerlei Hinsicht zur Disposition, auch wenn die Rechtsstaatlichkeit garantiert blieb. Bereits das Eigentum an Produktionsmitteln galt nicht mehr bedingungslos und wurde durch ein unscharf gefasstes Gemeinwohlprinzip relativiert.32 Bereits während der Novemberrevolution machte das Legien-Stinnes-Abkommen den Unternehmern die Umkehrung der Machtverhältnisse deutlich, als die Drohung mit Verstaatlichung zur Durchsetzung gewerkschaftlicher Ziele (unter anderem des Achtstundentages) eingesetzt wurde. Die Gewerkschaftsforderung nach einer „Wirtschaftsdemokratie“, wie sie Naphtali formuliert hat, ähnelte zwar der heutigen Mitbestimmung, wurde aber als Zwischenstufe zu einer in Aussicht genommenen Vergesellschaftung der Produktionsmittel verstanden. Auch wenn radikale Forderungen später einem Grundkonsens zu einer sozialpolitisch ausgerichteten Marktwirtschaft wichen, veränderte sich die neue Wirtschaftsordnung in einer entscheidenden Hinsicht: Die Wirtschaftsordnung verlor ihre politische Verankerung und wurde nunmehr vom Wahlausgang und der wechselnden Verteilung politischer Macht abhängig. Die Trennung von Staat und Markt, welche eine liberale Wirtschaftsordnung konstituiert, wurde zugunsten eines staatlichen Interventionismus aufgehoben, dessen Ausmaß unbestimmt blieb und sich darum langfristiger Erwartungsbildung entzog. Die neue Form des Weimarer Sozial- und Interventionsstaates relativierte privatwirtschaftliche Autonomie und die Rolle des Wettbewerbs als Motor wirtschaftlicher Dynamik. Damit verband sich ein staatlicher Gestaltungsanspruch, der für sich genommen durchaus legitimationsfördernd hätte wirken können. Die neue Wirtschaftsordnung setzte aber starke Anreize für eine gruppenbezogene Interessenpolitik. Es sollte sich zeigen, dass durch ein besonderes Zusammenwirken weiterer dysfunktionaler Ordnungselemente die Wirtschaftsdynamik insgesamt so gebremst wurde, dass keine relevante Interessen- und Ein  32 Vgl. hier insbesondere Art. 153 (Sozialbindung des Eigentums), Art. 155 (Bodenreform) und Art. 156 (Sozialisierung) der Weimarer Reichsverfassung.

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kommensgruppe – Arbeiter, Unternehmer, Landwirte, Handwerker und Kleingewerbetreibende – einen dauerhaften ökonomischen Vorteil erzielen konnte. Die von Eucken beanstandete Politisierung der Wirtschaft zeigte sich besonders deutlich bei der Lohngestaltung und in dem neuen Verfahren der staatlichen Zwangsschlichtung, durch welches Löhne verbindlich festgesetzt werden konnten. Damit entschied eine staatliche Instanz unmittelbar über die Verteilung von Einkommen. Dieses Verfahren ersparte den Tarifparteien den Zwang zum Kompromiss und adressierte die allfällige Unzufriedenheit der Tarifparteien mit einem Lohnabschluss an den Staat selbst anstatt an die eigene Interessenvertretung. Dies wiederum setzte Anreize, durch Wahlen Einfluss auf die Besetzung des Arbeitsministeriums zu nehmen, um die Lohnpolitik zugunsten der eigenen Tarifpartei zu beeinflussen. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Reichstag verschob sich die Machtbalance zunächst zugunsten der Arbeitnehmer. Insbesondere die Arbeitgeber beklagten nachteilige Schlichtungsergebnisse, auch wenn die Höhe der Differenz zu marktgerechten Löhnen strittig ist.33 Der auch im internationalen Vergleich hohe Anstieg der Lohnstückkosten und nicht zuletzt die Beurteilung zeitgenössischer Ökonomen wie J.M. Keynes sprechen aber dafür, dass die hohen Lohnsetzungen die Wettbewerbsfähigkeit und demzufolge die Exportfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft erheblich beeinträchtigt hatten. Gesunkene Gewinne und Gewinnerwartungen der Unternehmer wiederum ließen die private Investitionsquote absinken, während die konsumtive Staatstätigkeit, vor allem aufgrund sozialer Leistungen für Kriegsopfer, zunahm.34 Aber auch Unternehmer und Landwirte verstanden es, den Weimarer Interventionsstaat für ihre Zwecke zu nutzen und die Wettbewerbsordnung zeitweilig außer Kraft zu setzen. Eucken nennt als gravierende Funktionsverluste der Wirtschaftsordnung die voranschreitende Kartellierung und Monopolisierung („Vermachtung“) der Wirtschaft sowie Preisinterventionen und Schutzzölle. Die Wirtschaftsordnung schuf auch für Unternehmer Anreize, durch politische Einflussnahme Renten zu generieren, worunter die Innovationsdynamik empfindlich litt und Eucken zufolge eine Bürokratenmentalität den Unternehmergeist des 19. Jahrhunderts verdrängt hatte; diese Auffassung hat von wirtschaftshistorischer Seite vielfältige Unterstützung erfahren.35 Übersehen werden darf freilich nicht, dass der kosmopolitische Unternehmergeist auch durch den Zusammenbruch der liberalen Weltwirtschaftsordnung in gewisser Weise seine Grundlage verloren hatte. Dabei ist nicht nur die Welthandelsordnung in den Blick zu nehmen, der wir uns unten zuwenden und deren Reparatur sich als letztlich unmöglich erwiesen hatte. Auch der internationale Schutz der Eigentumsrechte bestand nicht mehr und engte die wirtschaftlichen Handlungsmöglichkeiten der Unternehmer ein. Deutsche Privatvermögen einschließlich   33 Ritschl (2002): Krise und Konjunktur. 34 James (1986): Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, S. 35–36; Borchardt (1982): Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume, S. 196. 35 James (1986): Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, S. 166–190; Peukert (2014): Weimarer Republik, S. 119.

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Produktionsanlagen wurden von den Siegermächten, zu denen auch unbeteiligte Drittstaaten zählten, entschädigungslos enteignet. Damit entfiel die Handlungsalternative ausländischer Direktinvestitionen, falls sich die Investitionsbedingungen im Inland verschlechterten. Anders als in der heutigen globalisierten Wirtschaftsordnung ermangelte es den Unternehmern an einer Exit-Option, mit der sie auf eine für sie ungünstige Wirtschaftspolitik reagieren konnten. Sie besaßen darum ein existenzielles Interesse an Investitionsgelegenheiten im Inland. Allein dieser Umstand verschärfte die wirtschaftspolitischen Konflikte entscheidend und trug letztlich dazu bei, dass auch Teile der Wirtschaftselite auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise deren Lösung nicht mehr innerhalb der Republik suchten. Das Ende des Kabinetts Müller im März 1930 („Müller II“) zeigte, dass die Gegensätze zwischen Wirtschafts- und Arbeitnehmerinteressen als unüberbrückbar wahrgenommen wurden und der Reichstag als politische Instanz nunmehr zunehmend umgangen wurde. Die Wirtschaftsordnung der Weimarer Republik entfernte sich noch in einer weiteren Dimension von der liberalen Vorkriegsordnung. Die Dezentralität wirtschafts- und fiskalpolitischen Handelns war nunmehr zu einem großen Teil aufgehoben. Die Erzbergersche Finanzreform beseitigte die wirtschaftspolitische Autonomie der Länder und setzte den „Market Preserving Federalism“ der Vorkriegszeit außer Kraft. Da die Wirtschafts- und Steuerpolitik nunmehr im Wesentlichen auf Bundesebene betrieben wurde, fiel der fiskalische Wettbewerb als Kontrollinstanz für die Steuer- und Abgabenpolitik aus. Dies verschaffte zwar dem Reich einen monopolartigen Zugriff auf Steuerressourcen und beseitigte die notorische Abhängigkeit von Matrikularbeiträgen der Gliedstaaten zur Zeit des Kaiserreiches. Aber die Finanzknappheit des Reiches vor dem Krieg in Verbindung mit der wirtschaftspolitischen Regierungsvielfalt auf der Länderebene hatte eben auch eine investitionsfreundliche Wirtschaftspolitik begünstigt. Die Länder befanden sich in einem Wettbewerb um gute Investitionsbedingungen und zahlungskräftige Zensiten;36 direkte Steuern einschließlich Gewinnsteuern wurden ausschließlich von den Gliedstaaten und nicht auf Reichsebene erhoben. Dieser systemimmanente Korrekturmechanismus entfiel mit der Zentralisierung der Wirtschaftspolitik nach dem Krieg. Jetzt musste jede Kurskorrektur der Wirtschaftspolitik im Berliner Entscheidungszentrum selbst erfolgen. Solche „Strukturwandlungen des Staates“ (Eucken) veränderten die liberale Wirtschaftsordnung der Vorkriegszeit grundlegend. Die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik auf sozialpolitische Ziele, wie sie die Weimarer Verfassung in verschiedenen Bereichen festlegte, musste für sich genommen noch keine wachstumshemmende Dysfunktionalität bedeuten. Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg sollte wenige Jahrzehnte später zeigen, dass sich eine liberale Wirtschaftsordnung und sozialpolitisches Handeln keineswegs ausschlossen, sondern mit hoher Wachstumsdynamik kompatibel sein konnten und gleichermaßen politische und ökonomische Stabilität sicherten. Dies setzt freilich voraus, dass sozialpolitische   36 Spoerer (2004): Steuerlast, Steuerinzidenz und Steuerwettbewerb, S. 176–195.

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Ziele nicht mittels wettbewerbswidriger Wirtschaftspolitik verfolgt werden, also durch Preissetzungen, hohe Zölle oder anderweitige Ausschaltung des Wettbewerbs zugunsten von Gruppen. Vielmehr hat eine wettbewerbliche Wirtschaft erst wirtschaftliches Wachstum zu generieren, damit Ressourcen für eine umverteilende Sozialpolitik zur Verfügung stehen. Diese funktionsfähige Kombination aus Sozialpolitik und Wettbewerbsordnung war weder theoretisch hinreichend konzipiert noch praktisch erprobt. Die Wirtschaftspolitik der Weimarer Republik bot deshalb gerade solchen liberalen Ökonomen, welche sozialpolitisches Handeln grundsätzlich als notwendig erachteten, einen Gegenstand umfassender kritischer Analyse, um eine konsistente Wirtschaftspolitik zu entwerfen. Erst in der Bundesrepublik wurde ein ökonomisch durchdachteres Konzept der Sozialen Marktwirtschaft zum Erfolg. Die Wirtschaftspolitik der Weimarer Zeit mobilisierte demgegenüber sämtliche verfügbaren wirtschaftspolitischen Zugriffsmöglichkeiten in einer konzeptionslosen Weise. Dieser Interventionismus war seinem Charakter nach strukturkonservierend und konnte zwar Gruppen vor Wettbewerb schützen, jedoch kein wirtschaftliches Wachstum erzeugen. Eine stagnierende Wirtschaft lieferte wiederum nicht die Ressourcen, welche der Sozialstaat benötigt hätte. Tatsächlich erreichte das Pro-Kopf-Einkommen zur Zeit der Weimarer Republik nur einmal (1927) das Niveau von 1913, um danach wieder drastisch abzusinken. Für den Interventionsstaat gilt das bereits oben in Bezug auf die staatliche Zwangsschlichtung bei Lohnkonflikten Gesagte. Wenn die Verteilung der Einkommen nicht aus anonymen, systemischen Markt- und Preisbewegungen resultiert, sondern unmittelbar aus staatlichem Handeln hervorgeht, steht der Staat selbst in der Verantwortung; Gruppen adressieren ihre Unzufriedenheit mit den Verhandlungsergebnissen an den Staat, falls ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Gerade aufgrund der Rechtsstaatlichkeit und der formalen Gleichrangigkeit von Einkommensinteressen wandelt sich der demokratische Interventionsstaat zu einer Arena von Umverteilungskämpfen. Vor allem in einer stagnierenden Wirtschaft mit konjunkturellen Schwankungen ergibt sich daraus eine Problemverschärfung. Abgesehen davon, dass dem Staat die benötigten Einnahmen zur Befriedigung von Forderungen fehlen, kommt der Strukturwandel in einer stagnierenden Wirtschaft keineswegs zum Stillstand. Er vollzieht sich gebremst weiter und bildet sogar eine notwendige Voraussetzung zur Krisenüberwindung. In Deutschland blieb vor allem die Landwirtschaft einem anhaltenden Strukturwandel unterworfen. Sie litt unter einem drastischen Fall der Getreidepreise, weshalb ihr relativer Anteil an der Gesamtbeschäftigung entsprechend der verminderten Wertschöpfung sinken musste, um die Wirtschaft an die veränderten Preisrelationen anzupassen. In einer stark wachsenden Wirtschaft, wie sie in den letzten beiden Jahrzehnten des Kaiserreiches zu verzeichnen war, ist dies vergleichsweise leicht zu bewältigen und konnte sogar mit einer absoluten Zunahme der Beschäftigung im Agrarsektor einhergehen. In einer stagnierenden Wirtschaft bedeutet Strukturwandel jedoch immer auch die absolute Schrumpfung der unrentablen Sektoren und damit die Freisetzung von Beschäftigten. Damit erhöht sich der Bedarf für eine Sozialpolitik, welche die sozialen Härten sektoraler Arbeitslosigkeit ausgleicht. Während der soziale Problemdruck in einer stagnierenden Wirtschaft

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also steigt, verknappen sich die Mittel zu seiner Bewältigung. Der politische Kampf um sozialpolitische Mittel gerät zu einem Nullsummenspiel und bringt die Gruppeninteressen in einen objektiven Antagonismus. In Deutschland setzte sich die Landwirtschaft im Kampf um knappe staatliche Mittel sowie durch die Einführung von Getreidezöllen gegen andere gesellschaftliche Gruppen durch, deren Realeinkommen notwendigerweise vermindert wurden.37 Anders als im Fall einer wachsenden Wirtschaft ist es während einer anhaltenden Rezession für die Regierung unmöglich, Gruppen vor den sozialen Härten des Strukturwandels zu schützen, ohne gleichzeitig anderen Gruppen Härten aufzuerlegen. Eine interventionistische Wirtschaftspolitik, die die Lenkungsfunktion der Preise und des Wettbewerbs beeinträchtigt, lässt sich auch für die demokratische Wirtschaftspolitik vieler westlicher Länder in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg registrieren. Jedoch bestanden zwei bedeutende Unterschiede. Zum einen ermangelten dem Interventionismus in der Weimarer Republik (und auch in anderen kapitalistischen Ländern der damaligen Zeit) institutionelle Schranken, die das Ausmaß des Interventionismus begrenzt hätten, vor allem ein wirksames Kartellrecht, für das die Ordoliberalen stritten, und eine Beihilfenkontrolle. Zum anderen verschärfte der Zusammenbruch der internationalen Wirtschaftsordnung die wachstumsschädlichen Folgen des binnenwirtschaftlichen Interventionismus und bot ihm Flankenschutz. Die internationale Ordnung, der wir uns im verbleibenden Teil zuwenden wollen, bildete deswegen gleichsam das Spiegelbild des nationalen Interventionsstaats. Das ordnungspolitische Denken der Zwischenkriegszeit befasste sich mit beiden Problemkreisen und suchte nach einer Lösung. Es ging darum, den wirtschaftspolitischen Dezisionismus zu reduzieren und mit Hilfe eines verfassungsähnlichen Ordnungsrahmens die liberale Ordnung trotz neuer Staatsaufgaben hinreichend zu stabilisieren. 5. DIE SUCHE NACH ANTWORTEN AUF DIE WELTWIRTSCHAFTLICHE DESINTEGRATION UND WILHELM RÖPKES ANALYSE Der Erste Weltkrieg beendete auch in den internationalen Beziehungen die liberale Handelsordnung. Er zerriss das jahrzehntelang zuvor geknüpfte Netz von bilateralen Verträgen zwischen den großen Handelsnationen. Da diese Verträge zumeist das Prinzip der Meistbegünstigung vorsahen, bildete sich in den Jahrzehnten vor dem Krieg allmählich eine internationale Wirtschaftsordnung heraus, die als gemäßigter Freihandel bezeichnet werden kann. Eine Gruppe von europäischen Ländern, zu der neben Großbritannien auch Deutschland und eine Reihe anderer westeuropäischer Staaten unter Einschluss der Schweiz und der skandinavischen Länder zählten, gehörten zu diesem Kern einer Zone gemäßigten oder, wie im Falle   37 Die Staatshilfe für die Landwirtschaft steigerte sich von 500 Mio Reichsmark (RM) 1927 auf 2 Mrd RM im Krisenjahr 1932; die Getreidezölle belasteten nach Schätzungen die Konsumenten in Höhe von 3,7 Prozent des Nettosozialprodukts im Jahre 1932 (Knortz (2010): Weimarer Republik, S. 195).

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Großbritanniens, weitgehenden Freihandels. Dieser hielt auch die Bildung von Monopolen und Kartellen in den jeweiligen Ländern in Schach, da solche wirtschaftlichen Machtstellungen durch ausländische Konkurrenz bedroht werden konnten. Die wirtschaftshistorische Forschung hat das lange Zeit vorherrschende Bild korrigiert, wonach die Bismarcksche Zollpolitik zu Ende der 1870er Jahre die liberale Außenwirtschaftspolitik beendet hätte oder gar die Abschottungspolitik der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik vorweggenommen hätte.38 Tatsächlich profitierte nur ein kleiner Teil der heimischen Wirtschaft – etwa 4 bis 7 Prozent – von der Bismarckschen Zollpolitik, wohingegen die neuen Leitsektoren der Industrialisierung (chemische Industrie, Elektroindustrie) nur wenig oder gar nicht geschützt wurden. Die außenwirtschaftliche Integration schritt vielmehr weiter voran. Europäische Ausnahmen bildeten lediglich das Habsburgerreich und hier vor allem die ungarischen Kronländer sowie Italien; selbst die Wirtschaft Russlands, hier vor allem die Agrarwirtschaft, begann sich in die europäische Wirtschaft zu integrieren. Dies hielt den Wettbewerbsdruck und die Innovationsdynamik aufrecht, was auch für die Landwirtschaft galt, die deutliche Produktivitätssteigerungen aufwies.39 Auch wenn die Vorkriegsordnung aus der Perspektive einer liberalen Handelsdoktrin keineswegs perfekt war, beurteilte sie der liberale Ökonom Wilhelm Röpke vor dem Hintergrund des Protektionismus der Zwischenkriegszeit generell als positiv. Zwei Entwicklungen prägten die neue internationale Wirtschaftsordnung. Zum einen zerschnitt die Entstehung neuer Staaten infolge der Pariser Vorortverträge gewachsene Handelbeziehungen. Allein dadurch stieg der Verhandlungs- und Koordinationsaufwand internationaler Handelsabkommen. Zum anderen aber prägte ein „Wirtschaftsnationalismus“ (Röpke) die internationale Handelspolitik. Internationaler Handel wurde nicht als grenzüberschreitender Handel zwischen privaten Wirtschaftssubjekten wahrgenommen, sondern als Handel zwischen Nationen, was der liberalen Sichtweise im Grunde fremd ist. Es ist derselbe Denkfehler, der vor dem ersten Weltkriege zu der verhängnisvollen und sicherlich vergiftend wirkenden Vorstellung geführt hat, als ob ‚Deutschland‘ mit ‚England‘ im Konkurrenzkampf läge, obwohl es doch nicht ‚Deutschland‘ und ‚England‘ waren, die miteinander konkurrierten, sondern einzelne Deutsche und Engländer, während es gleichzeitig weit mehr Deutsche und Engländer gab, die ebenso erbittert mit ihren Landsleuten konkurrierten und mit Angehörigen der anderen Nation gerade durch freundschaftliche Kunden- und Lieferantenbeziehungen verbunden waren.40

Die Außenwirtschaftspolitik wurde zu einem Politikfeld, auf dem sich nationale Interessenpolitik und die Bedienung von Gruppeninteressen verbanden, wobei häufig Gruppeninteressen die Oberhand behielten. So errichtete die Tschechoslowakei ein Hochzollregime gegenüber Deutschland, um die eigene, durchaus wettbewerbsfähige Industrie Böhmens zu schützen und verteuerte die Preise für Industrieprodukte (Autos, elektrische Geräte) im eigenen Land um bis zu 100 Prozent.41 Eine   38 39 40 41

Dedinger (2006): Virtual Protectionsim, S. 297–321. Grimmer-Solem (2015): Geopolitik und Staatswissenschaft. Röpke (1945): Internationale Ordnung, S. 83. Krpec (2015): Nationalism and Capitalism.

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Koalition aus Unternehmern und nationalistischen Politikern setzte hier eine Zollpolitik durch, welche die Realeinkommen im Land drückte und durch die in Kauf genommene wirtschaftliche Desintegration, trotz geographischer Nähe zum erheblich größeren Markt in Deutschland, auf erhebliche Spezialisierungsvorteile verzichtete. Röpke verweist darauf, dass die weltwirtschaftliche Desintegration nach dem Krieg in einem größeren historischen Betrachtungszeitraum eher den Normalfall darstelle und die Integration in den Jahren vor dem Krieg als außergewöhnlich anzusehen sei. Ein gravierendes Problem bereitete die Desintegration nach dem Krieg vor allem deshalb, weil die Produktionsmethoden zunehmend auf Skaleneffekten beruhten und darum zusammenhängende Märkte benötigten, was unter anderem für die neu erprobte Fließfertigung galt. Darum bedeutete die weltwirtschaftliche Desintegration einen empfindlichen Rückschritt und setzte der Produktivitätssteigerung und dem wirtschaftlichen Wachstum Grenzen.42 Die Schließung der Märkte begünstigte in der Binnenwirtschaft Monopole und Kartelle, die ohne außenwirtschaftlichen Flankenschutz stets angreifbar blieben. In politischer Hinsicht erzeugte die Wettbewerbsschließung einen „Sperrklinkeneffekt“. Nach ihrer Einführung hätte der spätere Abbau von Zöllen durch Freihandelsabkommen sektorspezifische Gruppeninteressen berührt, die deswegen den Status quo verteidigten. Ein Zollabbau hätte der Wirtschaft zwar langfristige Expansionsmöglichkeiten in neue Märkte verschafft; die ökonomischen Vorteile sind jedoch zum Zeitpunkt der Zollsenkung wenig greifbar und finden deswegen in den innenpolitischen Debatten nur wenig Unterstützung. Der Protektionismus verstärkt somit eine anti-innovative Politik der Besitzstandswahrung, welche Eucken beanstandet hatte. Die weltwirtschaftliche Desintegration begrenzte aber nicht nur das Wachstumspotential der großen Handelsnationen. Zugleich verschärfte sie in entscheidender Weise das internationale Schuldenproblem als Folge des Ersten Weltkriegs, da – anders als nach dem Zweiten Weltkrieg – die kriegführenden Länder nicht aus ihren Kriegsschulden „herauswachsen“ konnten. Den Weimarer Staat belastete von Anfang an der Umstand, neben den eigenen Kriegskosten auch noch die auferlegten Reparationen abtragen zu müssen. Grob vereinfachend wurden die eigenen Kriegskosten durch die Aufgabe des Goldstandards zu Kriegsbeginn und eine akzelerierende Inflation beglichen, welche schließlich in der Hyperinflation von 1923 und damit dem vorübergehenden vollständigen Zusammenbruch der Währung ihren dramatischen Höhepunkt erreichte. Der Versuch der Siegerstaaten, dem unterlegenen Deutschland zusätzlich die fremden Kriegskosten aufzubürden und daran trotz offensichtlicher Zahlungsunfähigkeit selbst während einer massiven Depression noch bis zuletzt festzuhalten, erwies sich als pures Wunschdenken. Die Reparationslasten aus dem Dawes-Plan und später dem Young-Plan machten zwischen 2,5 Prozent und 3 Prozent des damaligen Bruttoinlandsprodukts jährlich aus. Bereits diese Gesamtforderung erwies sich als ökonomisch absurd, obwohl gegenüber ursprünglich erhobenen Reparationsforderungen bereits eine deutliche Reduzierung   42 Röpke (1942): International Economic Disintegration, S. 63.

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vorlag. Die Forderungen mussten durch Devisenüberschüsse bezahlt werden und setzten darum eine aktive Leistungsbilanz voraus. Der Protektionismus der Zwischenkriegszeit im Verein mit einer in Relation zum Produktivitätsfortschritt überzogenen Lohnpolitik verhinderte dies allerdings.43 Die Reparationsforderungen konnten deshalb nur durch Kapitalimporte und eine stark wachsende Auslandsverschuldung beglichen werden, welche bei einem Abzug ausländischer Kapitalanlagen schnell gefährlich werden konnte. Dies sollte sich ab 1929 zeigen, als sich alle wirtschaftlichen Krisenfaktoren bündelten. Insbesondere der Wegfall des Transferschutzes ausländischer Gläubiger infolge des Young-Planes machte die deutsche Wirtschaft extrem verwundbar gegenüber Vertrauensverlusten in die Rückzahlungsfähigkeit der vom Ausland gewährten Kredite. Nur mit Hilfe einer weltwirtschaftlichen Integration wie zur Zeit vor dem Krieg hätte die deutsche Wirtschaft eine aktive Handelsbilanz und Devisenüberschüsse generieren können und wäre von Auslandskrediten unabhängig gewesen. Es war diese Kombination der ökonomischen Krisenfaktoren, welche der Weimarer Republik die wirtschaftliche Basis entzog. Bei Wilhelm Röpke finden wir eine umfassende Deutung des Zusammenbruchs der liberalen Ordnung, den er als Schlüssel für die spätere europäische Katastrophe ansieht. Die weltwirtschaftliche Desintegration spielt hierin eine erhebliche Rolle und Röpke hat ihr zwei Monographien gewidmet, welche die Desintegration in der Zwischenkriegszeit ebenso bilanzieren wie die Versuche, durch internationale Abkommen den Welthandel wieder herzustellen. Gleichzeitig entwickelt Röpke aber auch eine eigene Interpretation, aus welchen Gründen die liberale Ordnung verfallen ist und sieht hier nicht zuletzt die Symbiose aus Industrialismus – „Großer Industrie“ im Sinne von Marx – und Kapitalismus als Ursache, welche eine „Gesellschaftskrisis der Gegenwart“ ausgelöst habe und durch eine „Civitas Humana“ abgelöst werden müsse, um es mit seinen eigenen Buchtiteln auszudrücken.44 Typisch für seine Zeit holt Röpke zu einer allumfassenden Zeitdiagnostik aus und sieht den Verfall der internationalen Wirtschaftsbeziehungen nur als Symptom eines tiefer liegenden Verfalls der gesellschaftlichen Ordnung: Weil die internationalen Beziehungen immer der empfindlichste Teil einer Gesamtgesellschaft sind, wird sich hier jede Zersetzung nicht nur am frühesten, sondern auch in ihrer gröbsten Form zeigen. Die internationalen Beziehungen sind ein Wandschirm, auf den die inneren Auflösungserscheinungen der Gesellschaft vergrößert projiziert und auf diese Weise sichtbar werden, lange bevor sie innerhalb der Nationen zutage treten. Rücksichtslosigkeit, Unritterlichkeit,

  43 Diese These einer überhöhten Lohnpolitik wird von Borchardt vertreten, der die Lohnentwicklung in Deutschland mit dem Produktivitätsfortschritt vergleicht und die Lohnentwicklung in anderen Ländern als Vergleichsmaßstab nimmt. Dabei gelangt Borchardt zu einer Ansicht, die damals auch von Keynes vertreten wurde; vgl. Borchardt (1982): Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume sowie Ritschl (2002): Krise und Konjunktur, der die Kontroverse, an der sich unter anderem Holtfrerich mit einer Gegenthese beteiligt hat, ausführlich darstellt und mit einer eigenen Untersuchung die Borchardt-These (sogenannte erste Borchardt-These) untermauert. 44 Petersen/Wohlgemuth (2009): Europäische Integration, S. 169.

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Den Zerfall der weltwirtschaftlichen Integration macht Röpke nicht nur an den errichteten Zollschranken und der Abwertungspolitik der Notenbanken fest. Das gravierendere Problem sieht er in dem erratischen Charakter der Außenwirtschaftspolitik, welche langfristiges Planen unmöglich gemacht habe und die Unternehmen zu einer kurzfristigen Vorteilswahrnehmung in außenwirtschaftlichen Beziehungen zurückgedrängt habe. Stabilität, Verlässlichkeit und Kontinuität seien verloren gegangen, stattdessen gäbe es „the hasty advantage taken of temporary outlets for profitable exports; the sudden change brought about in market conditions by exchange depreciation, export subsidies or purely political measures.“46 Die Politisierung habe auch die Außenwirtschaft erfasst. Handelsströme und Kapitalexporte (Direktinvestitionen und Portfolioinvestitionen) folgen politischen Entscheidungen anstatt ökonomischer Rationalität. Röpke entwickelt auch das analytisch schwieriger zu fassende Konzept einer unternehmerischen Aufmerksamkeit für außenwirtschaftliche Handelsvorteile als Kennzeichen weltwirtschaftlicher Integration, die unabhängig von tatsächlichen Handelsströmen sei. Die erratische Außenwirtschaftspolitik habe dazu beigetragen, dass sich unternehmerische Aufmerksamkeit von der Weltwirtschaft abgewandt habe und sich nur noch auf die begrenzteren Möglichkeiten der Binnenwirtschaft konzentriert habe. Die Bestandsaufnahme Röpkes zeichnet ein zutreffendes Bild der weltwirtschaftlichen Desintegration. Bemerkenswerterweise erfasste diese die Volkswirtschaften unabhängig von ihren Allianzen im Krieg. So konnten sich etwa Norwegen, Schweden, die Niederlande und Belgien, die (mit Ausnahme des besetzten Belgiens) während des Kriegs neutral geblieben waren und noch eine vergleichsweise offene Volkswirtschaft aufgewiesen hatten, in einem gemeinsamen Abkommen weder auf Zollsenkungen noch auf den Verzicht auf Zollerhöhungen einigen; als Minimalkonsens einigte man sich auf die gegenseitige Konsultation bei einseitigen Zollerhöhungen.47 Das Vereinigte Königreich wandte sich im Ottawa-Abkommen von 1932 von einer traditionellen Freihandelsorientierung zugunsten eines Bilateralismus ab und schuf einen Handelsblock mit seinen Dominions, der Drittländer – vor allem die USA – diskriminierte, jedoch auch kein reines Freihandelsabkommen war. Erst 1938 wurde in einem neuen Handelsabkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und den USA die Privilegierung der Dominions wieder zurückgeführt und den USA Importmöglichkeiten vor allem für Agrarprodukte in Großbritannien eröffnet (Weizen, Schmalz, Schinken, Obst, Baumwolle), während die USA ihren Markt für industrielle Fertigprodukte und Textilien aus Großbritannien öffneten. Zwischenzeitlich aber erreichte der weltweite Protektionismus mit dem Smoot-Hawley-Act von 1930 auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise seine dramatische Zuspitzung, als sich die USA mit Prohibitivzöllen vom   45 Röpke (1945): Internationale Ordnung, S. 20. 46 Röpke (1942): International Economic Disintegration, S. 45. 47 Kindleberger (1989): Commercial policy, S. 169.

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Welthandel nahezu vollkommen abkoppelten. Ab 1931 beschränkte Deutschland den internationalen Zahlungsverkehr durch die Einführung einer Devisenbewirtschaftung, womit der private Devisenhandel verboten wurde. Die Reichsbank kontingentierte Devisen nach politisch bestimmter Dringlichkeit, um die Devisenknappheit und den Kapitalabfluss aus Deutschland zu bewältigen. Ab 1930 verringerten sich daraufhin die deutschen Importe um mehr als fünfzig Prozent. Die Devisenbewirtschaftung wurde von der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik übernommen und selbst mit der Gründung der Bundesrepublik beibehalten, bis sie schließlich im Jahre 1958 durch die volle Konvertierbarkeit der DM abgelöst wurde.48 Vor diesem protektionistischen Hintergrund lotet Röpke die Chancen internationaler Kooperation aus, mit der eine weltwirtschaftliche Ordnung wiederherstellbar sein. Insgesamt fällt sein Urteil ernüchtert aus: Man suchte die Ursachen der politischen und wirtschaftlichen Desintegration der Völker lediglich im engeren Bereich der internationalen Beziehungen selbst, im Versagen der internationalen Organisationen, in ungelösten diplomatischen Problemen, in mangelhafter gegenseitiger Verständigung[…] Dem entsprach es, dass man das Heilmittel in der Bekämpfung dieser vermeintlichen Ursachen sah: in Verbesserungen des Völkerbundstatuts, in Abrüstungs- und Weltwirtschaftskonferenzen, in Schuldenrevisionen, … in Projekten von Wirtschaftsunionen und Föderationen aller Art.49 …Es ist keine Übertreibung, zu sagen, daß die Zeit des Verfalls der Weltwirtschaft zugleich diejenige der internationalen Wirtschaftskonferenzen gewesen ist. Ihre Protokolle und Dokumente füllen die Archive, während ihr praktisches Ergebnis gleich Null gewesen ist.50

Das große Misstrauen Röpkes gegen internationale Wirtschaftskonferenzen begründet sich aus zweierlei: Zum einen bergen sie die große Gefahr von Handelsabkommen zulasten von Drittstaaten in sich, die nicht an den Verhandlungen teilnehmen und deren Handelsinteressen in regionalen oder gar bilateralen Abkommen unberücksichtigt bleiben. Zum anderen schaffen diese Abkommen keine sektorübergreifende Handelsfreiheit, sondern privilegieren politisch gut organisierte Interessengruppen. Im Extremfall führen Handelsabkommen zu einer Planung von Handelsströmen und damit zu einer internationalen Form von Wirtschaftslenkung, was geradezu das Gegenteil einer liberalen Weltwirtschaft darstellt. Was ihm stattdessen vorschwebt, ist ein interdependentes, interkommunizierendes und multilaterales Wirtschaftssystem mit einem internationalen Währungssystem, mit einem Minimum an Einfuhr- und Ausfuhrbeschränkungen und mit grundsätzlich freiem internationalen Verkehr der beweglichen Produktionsfaktoren (Arbeit und Kapital).51

In der „Internationalen Ordnung“ hat Röpke allerdings sein kritisches Urteil über die internationalen Konferenzen zurückgenommen und eingeräumt, dass ohne internationale Verhandlungen eine zumindest ansatzweise liberale Weltwirtschafts  48 49 50 51

Knortz (2010): Weimarer Republik, S. 226f. Röpke (1945): Internationale Ordnung, S. 21. Ebd. S. 26. Ebd., S. 171.

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ordnung Utopie bleiben muss. Er bleibt lediglich bei der Sorge, dass internationale Handelsverträge als Instrument quantitativer Wirtschaftslenkung umfunktioniert werden könnten oder aber gar eine internationale Wirtschaftsagentur eingerichtet werden könnte, die den nationalstaatlichen Interventionismus gleichsam internationalisiert. Der Schock über den Zusammenbruch der liberalen Wirtschaftsordnung im nationalen wie im internationalen Rahmen während der Zwischenkriegszeit saß so tief, dass Röpke auch die Montanunion und die Anfänge einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft äußerst misstrauisch kommentierte.52 Sein liberales Denken blieb konsequent kosmopolitisch und anti-regionalistisch. 6. FAZIT: DEFENSIVE UND NEUAUSRICHTUNG LIBERALEN DENKENS IN DER ZWISCHENKRIEGSZEIT Das aus der Zwischenkriegszeit hervorgehende ordnungsökonomische Denken weist mehrere typische Muster auf, die hier skizziert wurden: (1) Nationale und Internationale Ordnung werden in einem wechselseitigen Zusammenhang gesehen. Hatte die im Wesentlichen liberale Weltwirtschaft der Vorkriegsordnung die liberale Wirtschaftsordnung in der Binnenwirtschaft gestützt, so galt das Umgekehrte für den Interventionismus der Zwischenkriegszeit. (2) Die Vorkriegsordnung erfährt im Rückblick eine positive Beurteilung und bleibt auch für die Zeit nach dem Krieg Referenzmodell für eine funktionsfähige Wirtschaftsordnung. (3) Der umfassende Ansatz eines „Denkens in Ordnungen“ distanziert sich erkennbar von nationalen Voreingenommenheiten und Befindlichkeiten und emanzipiert sich von nationalkonservativen Grundstimmungen. Auch der Protektionismus wird als ein internationales Gesamtphänomen betrachtet, anstatt einzelnen Mächten vorrangige Verantwortung zuzuweisen („nostra maxima culpa“ in einer Formulierung Röpkes). (4) Neben wettbewerbsverzerrenden Interventionen werden Instabilität und Unberechenbarkeit zu wesentlichen Ursachen der nationalen und internationalen Wirtschaftskrise erklärt und diese wiederum auf den demokratischen Entscheidungsprozess ursächlich zurückgeführt. (5) Im Unterschied zum Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts fehlt jeglicher optimistische Fortschrittsglaube; im Grunde wird die Krise als der neue Dauerzustand betrachtet und eine Rückkehr zur Wirtschaftsdynamik zur Zeit der Hochindustrialisierung, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg Realität werden sollte, zwar abstrakt als möglich, jedoch für wenig wahrscheinlich gehalten. (6) Dem ökonomischen und technischen Fortschritt wird die soziale Integrationsfähigkeit von Gesellschaft entweder tendenziell (Eucken) oder generell (Röpke) abgesprochen, anstatt ihn in seiner Widersprüchlichkeit und Ambivalenz zu erfassen. Stattdessen werden gesellschaftliche Integrationskräfte in einem Traditionsbestand konservativer und christlicher Werte gesucht. (7) Die wirtschaftspolitische Position des Liberalismus wird als eine Expertenmeinung ohne echte Ver  52 Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung in Warneke (2013): Europäische Wirtschaftsintegration.

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mittlungsfähigkeit im politischen Wettbewerb gesehen. Entsprechend wird auch der politische Liberalismus als eine nicht durchsetzungsfähige Minderheitenmeinung angesehen. Letzteres entsprach den Erfahrungen. Die liberalen Parteien verloren nicht nur in jenen Ländern, die sich zum Autoritarismus entwickelten, politischen Einfluss. Selbst in den USA gewannen anti-liberalen Positionen in der Wirtschaftspolitik die Oberhand, wie sich in der ökonomisch geradezu absurden Hinwendung zum Hochprotektionismus durch den Smoot-Hawley-Act zeigte, gegen den 1000 amerikanische Ökonomen vergeblich mit einem offenen Brief protestierten. Ideengeschichtlich erweist sich die Zwischenkriegszeit als außerordentlich bedeutsam für die Weiterentwicklung des Liberalismus. Zum ersten Mal rückte die internationale Dimension einer liberalen Wirtschaftsordnung großflächig in den Fokus der Betrachtung und ließ die generelle liberale Empfehlung des Freihandels als im Grundsatz zwar nach wie vor richtig, in der Umsetzung jedoch als unzulänglich erscheinen. Dazu waren erstens die Probleme der Weltfinanzordnung zu vielschichtig und zweitens der wirtschaftspolitische Interventionismus zu weit fortgeschritten, um die Anpassungsprobleme einer abrupten Liberalisierung übersehen zu können. Diese Fragen lösten unter liberalen Ökonomen eine Debatte aus, welcher internationale Ordnungsrahmen für marktwirtschaftliche Handelsnationen funktionstüchtig sei; insbesondere wurde die Frage aufgeworfen, ob eine Suprastaatlichkeit das zu Tage getretene Ordnungsproblem lösen könne.53 Damit hat sich der Denkrahmen des Liberalismus wesentlich erweitert und neue Kontroversen ausgelöst, die bis in die Gründungsphase der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hineinreichen sollten. LITERATUR Acemoglu, Daron. / Robinson, James. A.: Why Nations Fail. The Origins Of Power, Prosperity, And Poverty. New York 2012. Anderson, Margaret L.: Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im Kaiserreich. Berlin 2009. Blackbourn, David / Eley, Geoff: Mythen deutscher Geschichtsschreibung. Die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848. Frankfurt am Main u. a. 1980. Brennan, Geoffrey und Buchanan, James: The Reason of Rules. Constitutional Political Economy. Indianapolis 1985. Boch, Rudolf: Staat und Wirtschaft im 19. Jahrhundert, München 2004. Borchardt, Knut: Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik. Studien zur Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 1982. Ders.: Die industrielle Revolution in Deutschland 1750–1914. In: Cipolla, Carlo/ Ders. (Hrsg.): Europäische Wirtschaftsgeschichte. (Die Entwicklung der industriellen Gesellschaften, Bd. 4), New York 1977, S. 135–202. Dedinger, Beatrice: From virtual free-trade to virtual protectionism: Or, did protectionism have any part in Germany’s rise to commercial power 1850–1913? In: Dormois, Jean-Pierre-P und Lains, Pedro (Hrsg.): Classical Trade Protectionism 1815–1914. London 2006, S. 219–241.

  53 An dieser Debatte hat sich u. a. auch Hayek beteiligt; vgl. insbesondere Hayek (2007): Weg zur Knechtschaft, S. 271–293). Der Band erschien erstmals 1944 als „The Road to Serfdom“.

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KRISE ALS ERFAHRUNGSRAUM Die Weimarer Republik und die europäische Wirtschaftsordnung während der Großen Depression Roman Köster 1. PROBLEMSTELLUNG Der Schweizer Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann veröffentlichte 2009 einen Aufsatz mit dem Titel „Rule rather than Exception“, in dem er einen neuen Blick auf die Deflationspolitik Heinrich Brünings während der Großen Depression warf. Statt, wie zumeist üblich, die Untersuchung wesentlich auf Deutschland zu beschränken, betrachtete er die Wirtschaftspolitik Heinrich Brünings in international vergleichender Perspektive und stellte fest, dass eigentlich alle europäischen Länder in der Krise eine ähnliche Wirtschaftspolitik verfolgten. So wies er darauf hin, dass Deutschland mit seiner Weigerung, die Reichsmark abzuwerten (was als Maßnahme zur Bekämpfung der Krise verschiedentlich von der historischen Forschung als Alternative zur tatsächlich durchgeführten Austeritätspolitik), keineswegs allein stand: Bis 1935 wertete kein europäisches Land die eigene Währung freiwillig ab.1 Darum erscheint Straumann die Borchardt-Debatte um die Handlungsspielräume der deutschen Wirtschaftspolitik während der Großen Depression auch als „conspiciously German“: Sie sei allein auf die nationalen Rahmenbedingungen fokussiert geblieben, ohne den europäischen Kontext miteinzubeziehen.2 Diese Überlegungen stellen eine notwendige Perspektiverweiterung dar, die eine bessere Einschätzung der deutschen Wirtschaftspolitik während der Weltwirtschaftskrise ermöglicht. Insbesondere im Rahmen der in den letzten Jahren erneut aufgenommenen Borchardt-Debatte3 um die Handlungsspielräume der Reichsregierung während der großen Krise kann so vermieden werden, die gleichen Argumente lediglich erneut zu diskutieren. Zudem ist es Straumanns zentraler Verdienst, insbesondere die Wirtschafts- und Finanzpolitik der kleineren europäischen Länder während der 1920er und 1930er Jahre genauer in den Blick genommen zu haben,   1

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Mit Währungsabwertung werden im Kontext der 1920er und 1930er Jahre unterschiedliche Dinge bezeichnet. Ich verstehe hier darunter sowohl die Abwertung durch Lösung der Währung vom Goldstandard als auch die „Devalvation“, also die Veränderung des Goldwerts einer Währung. Grundsätzlich dazu: Borchardt (1982): Frage, 206f. Straumann (2009): Rule, S. 604. Vgl. Köppen (2014): Heinrich Brünings Spardiktat; Müller (2014): Demokratie und Wirtschaftspolitik; Borchardt (2015): Alternative.

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die in der Forschung gegenüber den drei großen Industrieländern – Großbritannien, Frankreich und Deutschland – bislang nur eine geringe Rolle gespielt hat.4 So konnte er beispielsweise zeigen, dass die „kontrazyklische“ Wirtschaftspolitik Schwedens, das von der Forschung häufig als Musterbeispiel einer aktiven Krisenbekämpfung präsentiert wurde,5 in erster Linie die unbeabsichtigte Nebenfolge einer orthodoxen Finanzpolitik darstellte. Pointiert stellte er heraus, dass die breite Absetzbewegung vom Goldstandard seit dem September 1931 keineswegs freiwillig erfolgte, sondern durch Großbritannien erzwungen wurde (das selbst wiederum den Goldstandard unfreiwillig verließ). Aufbauend auf diesen empirischen Befunden diagnostiziert Straumann einen europäischen deflationären Konsens, der bis Mitte der 1930er Jahre weitgehend intakt geblieben sei. Wie lässt sich das Zustandekommen dieses deflationären Konsenses erklären? Straumann argumentiert vor allem mit einer europaweit vorhandenen Inflationsfurcht, die zum einen durch das abschreckende Beispiel der deutschen Hyperinflation entstanden sei, zum anderen, insbesondere für den englischen Fall, durch die Erfahrung der Kriegsinflationen. Bezüglich dieser Erklärungen kann man jedoch mit guten Gründen skeptisch sein: Die deutsche Hyperinflation stellte zwar sicherlich ein besonders abschreckendes Beispiel monetärer Zerrüttung dar. Sie war aber zugleich erkennbar durch Probleme bedingt, mit der andere Länder nicht in diesem Maße konfrontiert waren: Etwa die extrem instabile politische Lage, das Problem der Reparationen sowie die Besetzung des Ruhrgebiets durch die Franzosen seit dem Januar 1923. Die Kriegsinflation in England wiederum war vergleichsweise „mild“, und sie erwies sich als beherrschbar. Durch die restriktive Geldpolitik der Bank of England konnte sie, wenn auch auf Kosten eines ökonomischen Einbruchs in den Jahren 1920/21, gebändigt werden.6 Der folgende Aufsatz hat zum Ziel, eine etwas weitergehende Erklärung dafür zu entwickeln, warum eine Währungsabwertung so lange keine Option für die Wirtschaftspolitik der europäischen Länder war. Das wiederum soll eine differenziertere Einschätzung der deutschen Wirtschaftspolitik im Hinblick auf ihren „normalen“ oder „exzeptionellen“ Charakter ermöglichen. Das erste hier vorgetragene Argument lautet, dass es in erster Linie die Erfahrung der europäischen Nachkriegsinflationen insgesamt war, die eine vorsichtige, die Währungsstabilität priorisierende Wirtschafts- und Finanzpolitik nahelegte. Zweitens wurden in Reaktion auf diese Nachkriegsinflationen institutionelle Arrangements geschaffen, die eine kontrazyklische Wirtschaftspolitik während der Großen Depression erschwerten. Schließlich soll gezeigt werden, dass aus zeitgenössischer Sicht eine Währungsabwertung keineswegs Spielräume für kontrazyklische wirtschaftspolitische Maßnahmen geschaffen hätte, sondern erst recht eine strikte Budgetdisziplin notwendig machte.

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Vgl. Straumann (2010): Fixed Ideas. Ausnahmen stellen insbesondere Arbeiten Derek Aldcrofts dar. Etwa: Aldcroft (2006): Europe's third world; Aldcroft (1995): Economic change. Vgl. Kindleberger (1986): World in Depression. Vgl. Parrish (1992): Anxious Decades.

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2. EUROPÄISCHE NACHKRIEGSINFLATIONEN Um eine differenziertere Erklärung für den deflationären Konsens zu geben, erscheint zunächst der Hinweis wichtig, dass nicht nur Deutschland nach dem Krieg mit einer gravierenden Inflation zu kämpfen hatte, sondern tatsächlich ein Großteil der europäischen Länder. Während fünf Staaten mit einer Hyperinflation konfrontiert waren (Deutschland, Österreich, Polen, Ungarn und Russland) traten gravierende Inflationen etwa auch in der Tschechoslowakei, in Belgien, Jugoslawien, Bulgarien, Griechenland, der Türkei, Finnland oder Frankreich auf.7 Tatsächlich stabile Währungsverhältnisse konnten eigentlich nur Großbritannien, das seine Kriegsinflation seit Ende 1920 mit einer restriktiven Diskontpolitik in den Griff bekam, die Schweiz und einige skandinavische Länder gewährleisten.8 Zugegebenermaßen erreichten wenige dieser Inflationen auch nur annähernd das Ausmaß der Hyperinflation in Deutschland bis 1923. Das erscheint aber auch als der falsche Maßstab. In Frankreich sank der Wert des Franc bis 1926 „lediglich“ auf etwa ein Siebtel seines Wertes bei Kriegsende. Doch auch hier entwertete die Inflation Kapitalvermögen und schwächte die Position von Paris als Finanzplatz. Sie war einschneidend genug, um dafür zu sorgen, dass eine Währungsabwertung bis Mitte der 1930er Jahre in Frankreich nur von einer Minderheit gefordert wurde und politisch nicht durchsetzbar war.9 Auch wenn die Ursachen der Nachkriegsinflationen länderspezifische Ausprägungen hatten, lassen sich trotzdem gewisse Gemeinsamkeiten identifizieren. Eine erste wichtige Ursache – die allein keineswegs zureichte – waren die Ausgabensteigerungen während des Weltkriegs. Alle kriegführenden Staaten, mit Ausnahme der USA, suspendierten auf kurz oder lang den Goldstandard. Gegen Ende des Krieges spielte, besonders in Deutschland und Österreich-Ungarn, in geringerem Maß aber auch in Großbritannien und Frankreich, die Finanzierung über Steuern, externe Kredite oder Kriegsanleihen eine zunehmend geringere Rolle gegenüber der Verschuldung bei der eigenen Zentralbank.10 Das war letztlich gleichbedeutend mit einer autonomen Ausweitung der Geldmenge. Hinzu kam, dass die Geldmengenerhöhung sich während des Krieges nur begrenzt in einer Steigerung der Preise niederschlagen konnte, denn letztere wurden in starkem Maße administrativ reguliert. Die Preiskontrollen verschwanden mit dem Kriegsende zudem nicht auf einen Schlag, sondern wurden gerade in Deutschland erst nach und nach abgebaut. Das konnte sich teilweise über Jahre hinziehen.11 Die Ansprüche an den Staat waren durch den Weltkrieg enorm gestiegen: Zunächst galt es, eine große Anzahl an Kriegsversehrten und Hinterbliebenen zu versorgen, eine Verantwortung, der man sich nach dem Krieg nicht entziehen konnte. Aber auch mit der Schaffung von demokratischen Regierungen verband sich die   7 8 9 10 11

Vgl. Aldcroft / Oliver (1998): Exchange Rate, S. 2. Vgl. Straumann (2010): Fixed Ideas, S. 24f. Vgl. Jackson (1985): Politics of depression, S. 80f. Vgl. Hardach (1973): Der Erste Weltkrieg, S. 167f. Vgl. Feldman (1993): The Great Disorder, S. 188f.

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Forderung an den Staat, für einen verstärkten sozialen Ausgleich in der Gesellschaft zu sorgen.12 Hier spielten sozialstaatliche Leistungen eine wichtige Rolle, aber auch die Schaffung von öffentlichen Unternehmen, die als Versorgungseinrichtungen, aber auch als Nukleus einer starken nationalen Volkswirtschaft dienen sollten. Zugleich legitimierten sich solche Ansprüche erst dadurch, dass der Krieg es vielen Staaten ermöglicht hatte, Steuern in einer Höhe zu erheben, die unter Friedensbedingungen niemals durchsetzbar gewesen wäre. Der pauschale Rückzug auf die begrenzten finanziellen Kapazitäten erschien aus diesem Grund nicht mehr opportun,13 obwohl die Versorgung mit ausländischen Krediten für die meisten Länder nach dem Weltkrieg schwierig war.14 Ein dritter Faktor bestand darin, dass in Folge der Pariser Verträge zahlreiche neue Staaten (insbesondere die Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie) geschaffen wurden, für die Wirtschaftspolitik eine Form von „nation building“ darstellte. Das schlug sich zunächst in der Errichtung hoher Zollschranken nieder. Die osteuropäischen Länder hatten die nicht unberechtigte Furcht, ihre jungen Industrien könnten von den ökonomisch weiter entwickelten Ländern „niederkonkurriert“ werden. Damit war insbesondere Deutschland gemeint, dessen Export durch die Inflation zusätzlich gefördert wurde.15 Das hohe Gewicht der Zollpolitik resultierte aber auch daraus, dass bei der durchaus vorhandenen relativen Autonomie der Länder innerhalb der Habsburgermonarchie die Zollpolitik stets Aufgabe des Gesamtstaats gewesen war. Sie stand in den Nachfolgestaaten der Doppelmonarchie darum geradezu sinnbildlich für eigenstaatliche Autonomie. Dieses „nation building“ manifestierte sich weiter in sogenannten „Nostrifizierungen“, also der Übernahme von Betrieben durch Angehörige der Mehrheitsnationalität, sowie der Gründung von zahlreichen Staatsbetrieben, mit denen sich der Staat als ökonomischer Akteur etablierte.16 Gerade darin lag aber auch eine wesentliche Kostenbelastung. Für den Fall der Tschechoslowakei hat Antonie Doležalová beispielsweise gezeigt, dass die nach dem Krieg geschaffenen oder fortgeführten Staatsunternehmen in ihrer großen Mehrheit ineffizient wirtschafteten und mit Ausnahme des Tabakmonopols allesamt Verluste machten.17 Insgesamt spielten die erhöhten Anforderungen an den Staat zusätzlich zu der Belastung der Währungen durch die Kriegswirtschaften eine wesentliche Rolle für die Entfaltung der Nachkriegsinflationen. Viele Staaten konnten es sich schlicht nicht leisten, ihre Ausgaben und ökonomischen Aktivitäten zu beschränken, ohne den instabilen politischen Frieden und das erwähnte „nation building“ zu gefährden. Diese strukturellen Ursachen bildeten wesentliche Voraussetzungen dafür, dass es zu inflationären Entwicklungen kam.18   12 13 14 15 16 17 18

Vgl. Boris Barth (2016): Europa, S. 114–120. Vgl. Münkler (2014): Der Große Krieg, S. 794f. Vgl. Pogany (1997): Geldinstitute, S. 90. Vgl. Holtfrerich (1980): Die deutsche Inflation, S. 202–217. Kofman (1997): Economic nationalism, S. 78f. Vgl. Doležalová (2016): Mixed Economy. Vgl. Barth (2016): Europa, S. 114–120.

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Inflationen sind allerdings komplizierte Phänomene, die sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben können. Die negativen Folgen sind dabei zunächst auf einer ganz praktischen Ebene zu verorten: Preissteigerungen, mit denen nicht immer entsprechende Lohnerhöhungen korrespondierten, die Entwertung von Sparguthaben und „Enteignung“ der Pensionäre, schließlich ein Zwang zur „Flucht in die Sachwerte“. Inflationen konnten aber auch jenseits der rein ökonomischen Effekte tiefgreifende Auswirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben haben. In Deutschland ging mit der Hyperinflation seit dem Sommer 1922 ein Verlust von Erwartungssicherheit einher, die durch wenigstens halbwegs stabile Geldwerte und Preise geschaffen wird. Das monetäre Chaos seit dem Sommer 1922 führte hier gerade deswegen zu einer tiefen Traumatisierung und einem nachhaltigen Legitimationsverlust währungspolitischer Experimente.19 Auf der „Habenseite“ stand besonders der „Demand-pull“-Faktor, der als eine wesentliche Ursache von Inflationen gilt: Gemeint ist, dass die sich im Umlauf befindliche Geldmenge die Preissumme (die Summe der Preise aller Waren und Dienstleistungen) übersteigt. Das führt zu einem Nachfrageüberhang, der auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung stimulierend wirkt – ein Effekt allerdings, der sich aufgrund rascher Preisanpassungen auch nur durch fortgesetzte Erhöhungen der Geldmenge aufrechterhalten lässt. Zudem wirken Inflationen als eine Exportprämie, weil sich die Produktionskosten relativ zum Ausland verbilligen.20 Der daraus resultierende expansive Effekt war für viele europäische Volkswirtschaften nach dem Krieg wichtig – und es wird in der Forschung durchaus mit Recht spekuliert, dass ohne die Inflation die deutsche Demokratie bereits die ersten Nachkriegsjahre nicht überlebt hätte.21 Jedenfalls überstand die deutsche Wirtschaft die globale Wirtschaftskrise 1920/21 glimpflich, im Gegensatz zu vielen anderen Staaten mit einer stabileren Währung.22 Der stimulierende Effekt von Inflationen blieb den Zeitgenossen nicht verborgen. In Deutschland hatte L. Albert Hahn 1920 sogar die Möglichkeit einer dauerhaften Hochkonjunktur durch kontrollierte Kreditschöpfung behauptet.23 Umgekehrt wurde die fortschreitende Inflation immer wieder darauf zurückgeführt, dass die Verantwortlichen einer falschen Geldtheorie angehangen hätten, etwa dass Reichsbankpräsident (seit 1908 und bis zu seinem Tode 1923) Rudolf Havenstein Anhänger von Knapps „Staatlicher Theorie des Geldes“ war, die postulierte, Geld sei wesentlich eine Produkt der staatlichen Rechtsordnung.24 Zeitgenossen wiesen allerdings darauf hin, dass der Zusammenhang von Inflation und Ausweitung der Geldmenge Anfang der 1920er Jahre so offensichtlich gewesen sei, dass es kaum überzeugen könne, das Handeln der Reichsbank mit bestimmten theoretischen Ansichten ihres Führungspersonals zu erklären. Wenn letzteres trotzdem nur   19 20 21 22 23 24

Vgl. Feldman (1993): The Great Disorder, S. 555–575. Vgl. Holtfrerich (1980): Die deutsche Inflation, S. 202–213.. Vgl. Holtfrerich (2016): Alltag des Reichswirtschaftsministeriums, S. 225. Vgl. Romer (1988): World War I, S. 91–115. Vgl. Hahn (1920): Volkswirtschaftliche Theorie. Knapp (1921): Staatliche Theorie.

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unzureichende Maßnahmen zur Inflationsbekämpfung unternahm, hatte das folglich andere Gründe.25 Tatsächlich sind es diese anderen Gründe, welche die Ursachen der europäischen Nachkriegsinflationen besser erklären können. Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, dass es sich entgegen zeitgenössischer Erwartungen als äußerst kompliziert erwies, inflationäre Entwicklungen in den Griff zu bekommen. Viele Länder, im Übrigen auch Deutschland, hatten die Erfahrung gemacht, dass Inflationen einen unerwarteten Verlauf nahmen: Sie erschienen zunächst kontrollierbar, weshalb ihre positiven Effekte überwogen. Auch in Deutschland gab es während der Inflation Phasen der Stabilisierung und sogar einer Steigerung des Geldwerts.26 In Frankreich schien der Franc durch die Aufnahme amerikanischer Kredite 1924 sogar erst einmal stabilisiert (was in Österreich eine Börsenkrise auslöste, weil dort – nicht zuletzt aufgrund der eigenen Inflationserfahrung – auf einen fallenden Franc spekuliert worden war).27 Trotzdem gerieten diese Währungen ab einem gewissen Zeitpunkt außer Kontrolle. Wie es Eleanor Dulles, die Schwester von John Foster und Allen Dulles, 1929 in ihrer in Harvard entstandenen Dissertation über den „French Franc“ beobachtete: The transition from mild to severe depreciation is usually sudden. It is possible for the money of a nation to be relatively stable through months of slight depreciation and then suddenly break away from its former limits and decline with lightning rapidity.28

Zudem zeigte sich, dass die fiskalischen Mittel, um Inflationen zu kontrollieren, schwere realwirtschaftliche Nebenwirkungen hatten. Großbritannien und die USA hatten es im Herbst 1920 vorgemacht, als sie die Kriegsinflation durch eine restriktive Diskontpolitik eindämmten. Die Leitzinserhöhungen beendeten den kurzlebigen Nachkriegsboom in diesen Ländern sofort. Sie sandten weltwirtschaftliche Schockwellen aus, die zu der ersten Weltwirtschaftskrise 1920/21 beitrugen. Für die osteuropäischen Länder direkt vor Augen lag insbesondere der Fall der Tschechoslowakei, die ab dem Herbst 1921 unter Finanzminister Alois Rašín durch eine Deflationspolitik und drastische Diskontsatzerhöhung den Kontrollverlust über die Währung zunächst verhinderte, sich damit aber auch eine Wirtschaftskrise und schwere soziale Konflikte einhandelte.29 Die gravierenden sozialen Folgekosten, die mit der Kontrolle der Inflation verbunden waren, schufen ein Dilemma: Es bestand ein starker Anreiz, zum Zweck der Stabilisierung der politischen und ökonomischen Lage Inflationen weiter laufen zu lassen. Zugleich wurde es aber umso schwieriger, eine Inflation zu beenden, je weiter die Geldentwertung fortgeschritten war. In Deutschland reichte ab dem Herbst 1922 ein Diskontsatz von bis zu 90% nicht mehr aus, um den Wert der Mark   25 26 27 28 29

Vgl. Singer (1958): Vorrede des Herausgebers, S. 7. Vgl. Holtfrerich (1980): Die deutsche Inflation, S. 186. Vgl. Teichova (1997): Wiens wechselhafte Rolle, S. 33. Dulles (1929): The French Franc 1914–1928, S. 113. Vgl. Faltus (1997): Währungsentwicklung, S. 127–132. Zur Wirkung auf andere osteuropäische Länder vgl. Boross (1994): Inflation and Industry, S. 33f.

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auch nur halbwegs zu stabilisieren.30 Es hätten also drastische Maßnahmen ergriffen werden müssen, um Inflationen in den Griff zu bekommen, welche die negativen ökonomischen Effekte der Währungsstabilisierung aber ebenfalls verstärkt hätten. Währungskrisen mussten darum in vielen Fällen erst eskalieren, bevor es zu einer Stabilisierung kommen konnte. Bezeichnenderweise gingen letztere oftmals mit autoritären Wendungen der Politik einher: In Polen 1927 mit der Machtübernahme durch Pilsudski, in Frankreich ging die Währungsstabilisierung mit dem erneuten Auftritt Raymond Poincarés als Premierminister und „starker Mann“ einher. In Italien fiel die Durchsetzung der Aufwertung der Lira („Quota Novanta“) 1926 in die Phase einer Verstärkung des diktatorischen Charakters des Regimes.31 Die Wiedereinführung des Goldstandards in Griechenland wiederum beruhte wesentlich auf der Autorität von Eleftherios Venizelos.32 Die Krise der Demokratie in den 1920er Jahren hing mit den Inflationen durchaus ursächlich zusammen. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen werden die Bemühungen, stabile Währungsverhältnisse zu garantieren, verständlich. Hier war es ein wesentlicher Aspekt, und insbesondere dafür stand die im April 1922 auf der Konferenz von Genua beschlossene perspektivische Wiedereinführung des Goldstandards, die Währungen dem Zugriff durch die jeweiligen Regierungen zu entziehen. Robert Boyce hat betont, die Rückkehr Großbritanniens zum Goldstandard zum Vorkriegskurs habe wesentlich dazu gedient, zu verhindern, dass sich eine Partei mit sozialen Versprechungen Wahlerfolge erkaufte.33 Der Konnex zwischen Inflationen auf der einen, staatlicher Ausgabenpolitik bzw. den Ansprüchen an den Staat auf der anderen Seite, war den britischen Finanzpolitikern also sehr genau bewusst. Insgesamt führten die Nachkriegsinflationen dazu, dass Währungsstabilität als ein zentrales politisches Ziel galt. Die Erfahrungen der frühen 1920er Jahre gemahnten zu äußerster Vorsicht, das Mittel der Währungsabwertung als ökonomische Stimulanz einzusetzen. Das war nicht nur in den Ländern der Fall, die eine totale Zerrüttung ihrer Währung erlebt hatten, sondern auch dort, wo die Inflationen milder ausgefallen waren. Für letztere lassen sich die hyperinflationären Entwicklungen auch nicht als Maßstab nehmen: Die Franzosen entwickelten ihr eigenes „Inflationstrauma“, obwohl die Geldentwertung hier im Vergleich zu Deutschland vergleichsweise gering ausfiel.

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Vgl. Holtfrerich (1980): Die deutsche Inflation, S. 171–178. Vgl. Woller (2010): Geschichte Italiens, S. 106f. Vgl. Mazower (1991): Greece, S. 100f. Vgl. Boyce (1987): British Capitalism.

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3. PREKÄRE STABILISIERUNGEN: STAATSFINANZEN UND WÄHRUNGSSYSTEM IN DER ZWEITEN HÄLFTE DER 1920ER JAHRE Die Rückkehr zum Gold(devisen)standard erfolgte nicht auf einen Schlag, sondern nach und nach im Verlauf der 1920er Jahre. Deutschland kehrte im Zuge der Währungsstabilisierung und der Schaffung der Reichsmark bereits früh, nämlich im August 1924, zur Golddeckung der Währung zurück. Zwar lag der Kurs nominal unterhalb des Kurses vor dem Ersten Weltkrieg, gleichwohl dürfte die Reichsmark damit immer noch überbewertet gewesen sein. Großbritannien folgte ein Jahr später zu einem kontrovers hohen Kurs, als das Land zur Vorkriegsparität mit dem Dollar (1 £ = 4,86 $) zurückkehrte.34 Frankreich stabilisierte seine Währung 1926 de facto und trat 1928 offiziell zu einem niedrigen Kurs dem Goldstandard wieder bei.35 Selbst ein finanziell traditionell „unsolides“ Land wie Griechenland kehrte 1928 zur Golddeckung der Drachme zurück.36 Die Nachkriegsinflationen wurden in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre also mit einer rigiden Politik der Währungsstabilisierung beantwortet. Barry Eichengreen hat darauf hingewiesen, dass das wiedererrichtete System des Goldstandards nach dem Ersten Weltkrieg mit gravierenden Strukturdefekten zu kämpfen hatte. Er hob dabei insbesondere die Ungleichverteilung der Goldvorräte sowie die wachsenden Schwierigkeiten, Löhne und Preise flexibel an Veränderungen der Geldmenge anzupassen, hervor.37 Dabei reagierte der restaurierte Goldstandard allerdings bereits darauf, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse durch den Krieg verändert hatten: Es handelte sich um einen sogenannten GoldDevisenstandard, d.h. die Sicherung der Währung konnte außer durch Gold auch durch in Gold konvertierbare Devisen geleistet werden. Das war in erster Linie eine Reaktion darauf, dass im Vergleich zu der Vorkriegszeit die globalen Goldbestände in den 1920er Jahren sehr viel ungleichmäßiger verteilt waren. Der „klassische“ Goldstandard war allein deshalb nicht wiederherzustellen, weil insbesondere die USA mittlerweile sehr viel mehr Gold horteten, als das vor dem Krieg der Fall gewesen war.38 Es war indes eine traurige Ironie, dass diese Konstruktion, die gerade auf die Ungleichverteilung der Goldbestände reagierte, zu einer weiteren Verstärkung dieser Ungleichverteilung beitrug. Das hatte wiederum mit der Erfahrung der Nachkriegsinflationen zu tun. Eine wichtige Rolle spielten dabei die Franzosen, die dem in Genua beschlossenen Konstrukt skeptisch gegenüberstanden: Nach Meinung der Banque de France war dieses System durch die Ausweitung der Deckungsmöglichkeiten nämlich wiederum inflationsgefährdet.39   34 35 36 37 38 39

Vgl. Moggridge (1969): The Return, S. 69–76. Vgl. Mouré (1991): Managing, S. 46f. Vgl. Mazower (1991): Greece, S. 105f. Vgl. Eichengreen (1992) Golden Fetters. Vgl. Irwin (2012): French Gold Sink, S. 12. Vgl. Kooker (1976): French Financial Diplomacy, S. 109f.

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Als Reaktion darauf verfolgten die Franzosen seit Ende der 1920er Jahre die Politik, ihre Devisen- und Währungsbestände in Gold zu konvertieren, also im Prinzip Gold zu horten.40 Vor allem trug die Inflationsfurcht dazu bei, dass sie sich, wie schon die USA vor ihnen, zunehmend nicht mehr an die Regeln des Goldstandards hielten, denen zufolge ein Goldzufluss mit einer Ausweitung der Geldmenge einhergehen musste, damit jeweils die 40% Währungsdeckung aufrechterhalten wurde. Wie in den USA wurde hier ein Großteil der Gold- und Devisenzuflüsse „sterilisiert“, sie führten also nicht zu einer entsprechenden Ausweitung der Geldmenge. Diese Politik trug insgesamt zu einer weiteren Ungleichverteilung der Goldreserven bei, so dass Anfang der 1930er Jahre davon ungefähr zwei Drittel auf die USA und Frankreich entfielen.41 Das schuf große, keineswegs abstrakte Probleme. Auf diese Weise wurden nämlich andere Länder, insbesondere Großbritannien und Deutschland, dazu gezwungen, den Diskontsatz hochzuhalten, um weitere Kapitalabflüsse zu verhindern. In der Weltwirtschaftskrise resultierte daraus ein Zielkonflikt: Auf der einen Seite war ein niedriger Leitzins zur Belebung der Konjunktur wünschenswert, auf der anderen Seite resultierten daraus aber Goldabzüge und damit schwindende Währungsreserven, was wiederum die Deckung der Währung in Frage stellte. Das war der wichtigste Grund, warum der Goldstandard einer offensiven Krisenpolitik im Wege stand. Unter der Bedingung einer (erfolgreichen) Währungsstabilisierung stabilisierte sich auch die ökonomische Lage, es traten aber zugleich neue Probleme auf. Vor allem unterlag die staatliche Ausgabenpolitik nun deutlich schärferen monetären Restriktionen. Soziale Konflikte ließen sich nicht mehr ohne weiteres durch Mehrausgaben „moderieren“. In Deutschland führte das seit der sogenannten „Zwischenkrise“ 1925/26 zu erheblichen Konflikten zwischen dem Finanzministerium und dem Reparationsagenten Parker Gilbert, der den Deutschen eine unsolide Finanzpolitik vorwarf und insgeheim den Verdacht hegte, sie strebten danach, auf diese Weise den Dawes-Plan zu unterminieren.42 Mit seinen Problemen, den Haushalt auszugleichen, stand Deutschland allerdings keineswegs allein da. Zahlreiche europäische Länder konnten ein ausgeglichenes Budget in der Regel lediglich direkt nach der Stabilisierung durchsetzen, während anschließend die Defizite wieder stiegen.43 Das besaß durchaus seine innere Logik: Währungsstabilisierung war eine wichtige Voraussetzung dafür, dass man Kredite zu akzeptablen Konditionen aufnehmen konnte. Insofern waren die strukturellen Problemlagen, welche die europäischen Inflationen in der ersten Hälfte der 1920er Jahre befördert hatten, auch in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts präsent. Sie konnten jetzt aber nicht mehr auf dieselbe Art und Weise bearbeitet und mussten durch Kredite ausgeglichen werden. Wegen des allgemeinen   40 Vgl. Ebd. 41 Vgl. Irwin (2012): French Gold Sink, S. 12. 42 Vgl. McNeil (1986): American Money. Zur Ausgabenpolitik in den 1920er Jahren: Hertz-Eichenrode (1982): Wirtschaftskrise und Arbeitsbeschaffung. 43 Vgl. Stiefel (1988): Die große Krise, S. 121–142.

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öffentlichen Drucks, die Staatsausgaben hochzuhalten, konnte Deutschland mit seinen finanziellen Problemen auch auf Verständnis hoffen. Frederick Leith-Ross, hoher Beamter des britischen Treasury-Departments, schrieb 1927, Deutschlands Finanzen seien aufgrund von Problemen in der Schieflage, „with which every European Government has been faced since the war.“44 Zahlreiche europäische Staaten gingen bereits mit erheblichen finanziellen Problemen in die Weltwirtschaftskrise hinein. Es ist darum auch im Wesentlichen eine US-amerikanische Sichtweise, dass die Weltwirtschaftskrise die Goldenen Zwanziger Jahre beendet hätte, denn für kaum ein europäisches Land lässt sich diese Zeitperiode ernsthaft als „Golden“ bezeichnen. Großbritannien hatte mit einer hohen Arbeitslosigkeit und Exportschwäche zu kämpfen. In Deutschland trübte sich die Lage nach dem Boomjahr 1927 bereits wieder ein. In Frankreich litt die Exportwirtschaft unter der Stabilisierung des Franc, in Italien bedeutete die „Quota Novanta“ eine nachhaltige Belastung für die Wirtschaft.45 Die osteuropäischen Länder hatten große Probleme, ihre jungen Industrien zu entwickeln. In den skandinavischen Ländern oder in der Schweiz sah die Situation zwar besser aus, aber ihr Gewicht für den europäischen Wirtschaftsraum war zu gering, um das vergleichsweise düstere Gesamtbild entscheidend korrigieren zu können. 4. BÖRSENCRASH UND BANKENKRISE Der „Crash“ der New Yorker Börse an mehreren aufeinanderfolgenden Handelstagen ab dem 24. Oktober 1929 gilt allgemein als Auftakt der Weltwirtschaftskrise. Diese machte allerdings in erster Linie bereits vorher deutliche Krisenanzeichen manifest: Bereits im Sommer 1927 hatte es an der Berliner Börse einen massiven Kurssturz gegeben, dem ein dauerhafte Baisse folgte. Die Agrarpreise waren bereits seit dem Sommer 1929 global zunehmend unter Druck geraten, was besonders für die großen Agrarproduzenten wie die Staaten Lateinamerikas oder Australien große Probleme mit sich brachte. Es lag also bereits vor dem New Yorker Börsencrash weltwirtschaftlich vieles im Argen. Genauso wenig, wie der Börsencrash den verursachenden Auftakt der Krise darstellte, führte er zwangsläufig zu dem Krisenzustand, den wir heute als Große Depression bezeichnen, also massenhaft scheiternde Unternehmen, Bankenzusammenbrüche und Massenarbeitslosigkeit. Die Krise in den Jahren 1929 und 1930 erreichte hingegen noch längst nicht die Schwere der beiden nachfolgenden Jahre, auch wenn ihre Auswirkungen in den USA und Deutschland bereits schmerzhaft spürbar waren. In anderen Ländern wirkte sich die Krise hingegen eher schleichend aus und in Großbritannien wurde der New Yorker Börsencrash sogar mit Erleichterung zur Kenntnis genommen, weil er den fortgesetzten Kapitalabflüssen aus dem   44 McNeil (1986): American Money, S. 172, 190. 45 Vgl. Woller (2010): Geschichte Italiens, S. 106f. Die Quota Novanta bezeichnete eine zwangsweise Senkung des Lirakurses auf 92.46 Lira = 1 Pfund Sterling bzw 19 Lira = 1 US Dollar).

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eigenen Land in die USA vorerst ein Ende bereitete.46 Erst im Frühsommer 1931, in Folge der europäischen Bankenkrise, bekam die Krise ihre erschreckenden globalen Dimensionen. Auf diese Krise reagierten die europäischen Länder zunächst auf konventionelle Weise, indem sie die ökonomische Staatsaktivität einschränkten und ihre Ausgaben senkten. Nichts anderes hatten sie in vorherigen Krisen getan und die zaghaften Ansätze zu einer kontrazyklischen Krisenpolitik, die etwa in den USA während der 1920er Jahre entwickelt worden waren (oder wie sie 1930/31 in Frankreich ausprobiert wurden), erwiesen sich rasch als unzureichend.47 Ein dauerhaftes „deficit spending“ des Staates war nicht vorgesehen und schien auch nicht finanzierbar zu sein. Kredite waren für die meisten europäischen Länder schwer zu bekommen, nachdem der Kreditstrom aus den USA nach Europa bereits im Herbst 1928 weitgehend versiegt war.48 Sich das Geld auf dem inländischen Kreditmarkt zu besorgen, weckte wiederum Befürchtungen vor einem „crowding out“-Effekt, dass nämlich die staatliche Kreditnachfrage die privatwirtschaftliche verdrängte, was schließlich zu höheren Zinsen für alle führen würde.49 Dieses naheliegende Verhalten trug zur Verschärfung der Krise auch deshalb bei, weil die Staatsquote der europäischen Volkswirtschaften während des Ersten Weltkrieges stark angestiegen und nach Ende der Kampfhandlung auf einem Niveau verblieben war, das vielerorts deutlich über dem der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg lag. Damit reagierte die konjunkturelle Entwicklung aber auch sensibler auf staatliche Ausgabensenkungen, worüber zeitgenössisch kontrovers debattiert wurde. Das Problem bestand darin, dass Alternativen lediglich in der autonomen Kreditschöpfung bzw. der temporären Erweiterung der Geldmenge durch sogenannte Offenmarkt-Geschäfte bestanden. Letzteres Mittel wurde in den ersten Krisenjahren in Großbritannien teilweise auch angewendet, um temporäre Liquiditätsengpässe der Banken zu überbrücken. Auf diese Weise sollte aber nicht das Kreditangebot der britischen Wirtschaft dauerhaft ausgeweitet werden.50 Ansonsten wäre noch das Mittel einer Verschuldung des Staates bei der jeweiligen Zentralbank als Mittel der autonomen Kreditschöpfung in Frage gekommen. Die damit verbundenen Probleme hatte man in den Inflationen der Nachkriegszeit jedoch bereits erlebt und diese Erfahrung wollte man – wenn überhaupt die rechtliche Möglichkeit zu einer solchen Politik bestand – auf keinen Fall wiederholen. Neben der Inflationserfahrung der 1920er Jahre gab es aber (zunächst) noch andere Gründe für eine deflationäre Politik. Dazu gehörte, dass sie sich in der Krise 1920/21 durchaus bewährt hatte. Der Verlauf dieser Krise schien die Ansicht zu bestätigen, dass durch eine konsequente Sparpolitik die Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Erholung geschaffen wurden. Zudem war im deutschen Fall die Deflationspolitik, rein ökonomisch betrachtet, bis zum Abgang Großbritanniens vom   46 47 48 49 50

Vgl. Kunz (1987): Britain´s Gold Standard, S. 23f. Dazu Alcher (1975): The Invisible Hand; Shamir (1989): Economic Crisis, S. 24f. Vgl. Kindleberger (1986): World in Depression, S. 56. Zur Debatte um die sog. „Treasury-View“ s. Clarke (1988): The Keynesian Revolution. Vgl. Boyce (2009): Great Interwar Crisis, S. 272–281.

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Goldstandard im September 1931 kein völliger Fehlschlag. Immerhin gelang es dem Deutschen Reich in den Jahren 1930 und 1931 Handelsüberschüsse zu erzielen. Der Export sank hier prozentual deutlich weniger stark als die Importe und beispielsweise der französische Export in den ersten beiden Jahren der großen Krise.51 Angesichts dessen, dass Deutschland unter dem Abzug amerikanischer Kredite am stärksten von allen europäischen Ländern zu leiden hatte, zeigten sich auf dem Gebiet der außenwirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit positive Resultate.52 Die allgemein verfolgte Deflationspolitik verlor allerdings seit dem Frühjahr 1931 stark an Akzeptanz. Jetzt wurde zunehmend klar, dass es sich hier um keine „normale“ Depression mehr handelte, sondern tatsächlich um eine Wirtschaftskrise von vormals nicht gekannten Dimensionen.53 Es setzte sich nach und nach die Einsicht durch, dass eine außergewöhnliche Krise auch außergewöhnliche Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung notwendig machte. Aber wie sollten diese Maßnahmen aussehen? Es fällt jedenfalls auf, dass sich trotz dieser Wahrnehmungsverschiebung an den wirtschaftspolitischen Maßnahmen der europäischen Regierungen kaum etwas änderte. Vielmehr blieb die Währungsabwertung auch weiterhin keine ernsthafte wirtschaftspolitische Option, die von einem europäischen Land freiwillig ergriffen wurde. Die Länder, die tatsächlich eine Wahl hatten, wie insbesondere die Länder des sogenannten Goldblocks (Frankreich, die Beneluxstaaten, Polen und die Tschechoslowakei) hielten sogar bis zu einem Zeitpunkt am Goldstandard fest, an dem ihre außenwirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit so stark gelitten hatte, dass ihnen kaum eine andere Wahl mehr blieb.54 Straumann verdeutlicht die Ablehnung einer Währungsabwertung anhand verschiedener Aussagen von Zentralbankiers, insbesondere aus Holland, der Schweiz und Schweden.55 Bei den von ihm angeführten Quellenbelegen fallen allerdings zwei Probleme ins Auge: Solche Meinungen wurden erstens zumeist von Vertretern aus Ländern geäußert, die wenig Erfahrungen mit Inflationen gemacht hatten. Zweitens handelte es sich ausschließlich um die Ansicht von Bankiers, die kaum als Vertreter einer unorthodoxen Wirtschaftspolitik erwartet werden können und für die Währungsstabilität schon aus wohlbegründetem Eigeninteresse wichtig war. Handelt es sich hier also nur um einen Ausschnitt, der keine generellen Rückschlüsse auf die politische Willensbildung oder die Rolle der öffentlichen Meinung zulässt? Dazu ist zunächst zu bemerken, dass die von Straumann angeführten Positionen deswegen ein besonderes Gewicht hatten, weil die politische Unabhängigkeit der   51 Vgl. Shamir (1989): Economic Crisis, S. 80f. 52 Die gegenteilige Meinung, dass die positive Handelsbilanz vor allem dem Einbruch der Produktion und dem damit zusammenhängenden Importrückgang geschuldet gewesen sei, bei Tooze (2014): The Deluge, S. 494f. 53 Peter Temin verortet diesen Wahrnehmungsumschwung für die USA bereits im Herbst 1930. Temin (1976): Monetary Forces, S. 73; vgl. auch Kim (1997): Industrie. 54 Vgl. Hesse et al. (2014): Die Große Depression, S. 144–149. 55 Vgl. Straumann (2009): Rule, S. 613f.

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Zentralbanken als Reaktion auf die Nachkriegsinflationen fast überall gestärkt wurde. Das manifestierte sich im Übrigen auch in der oftmals starken politischen Stellung der Zentralbankpräsidenten. Das war einerseits wichtig für die Kreditwürdigkeit eines Landes, ein Gesichtspunkt, dem sich auch autoritäre Regime nicht entziehen konnten. Es besaß aber auch große Bedeutung für das Vertrauen der Bevölkerung in die Stabilität der Währung. Es existierte offensichtlich tatsächlich – nicht nur in Deutschland – eine weit verbreitete Furcht vor der Inflation, mit der die Politik rechnen musste.56 Gerade die politischen Vertreter der Arbeiterschaft traten in den meisten Fällen als vehemente Vertreter einer stabilitätsorientierten Währungspolitik auf. Inflationen wurden folglich nicht nur als ein monetäres, sondern auch als psychologisches und soziales Phänomen wahrgenommen. Auch deswegen ließ sich – zumindest nicht ohne große Risiken einzugehen – in die Autonomie der Zentralbanken nicht ohne weiteres eingreifen. Die „Abwertungswelle“, welche die europäische Wirtschaft ab dem Sommer 1931 erfasste, geschah dann tatsächlich gezwungenermaßen. Deutschland und Österreich gingen Ende Juli zu einer Devisenbewirtschaftung über, die zwar formal einen Bruch des Young-Plans darstellte, aufgrund nicht mehr tolerierbarer Kapitalabzüge aber unausweichlich erschien und von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges im sogenannten „Stillhalteabkommen“ toleriert wurde.57 Der eigentliche Bruch im Kontinuum war jedoch Großbritanniens Abgang vom Goldstandard am 20./21. September 1931, worauf zahlreiche andere Länder ihre Währungen an das Pfund ankoppelten, also den Goldstandard ebenfalls verließen.58 Auch in diesem Fall kann von Freiwilligkeit keine Rede sein. Vielmehr hatte sich die Bank of England seit Mai 1931 mit fortgesetzten Kapitalabflüssen konfrontiert gesehen, welche die Golddeckung der Währung gefährdeten. Diese verstärkten sich im Zuge der Bankenkrise, was im August dann ein wesentlicher Grund für die Bildung einer National Government war: Die amerikanischen Banken, auf deren Kredite die Briten zur Stützung ihrer Währung angewiesen waren, verlangten im Gegenzug den Abbau der Staatsausgaben.59 Dabei war insbesondere die Kürzung der Arbeitslosenhilfe mit der Labour-Party, die zwei unruhige Regierungsjahre hinter sich hatte und sich zerstritten präsentierte, nicht zu machen.60 Auch die Bildung der breiten Koalitionsregierung des National Government konnte die Kapitalabzüge jedoch nicht stoppen, so dass schließlich kein anderer Ausweg gesehen wurde, als die Goldbindung des Pfundes aufzugeben. Dieser Entscheidung war ein wochenlanger Nervenkrieg vorausgegangen. Die emotionale Zuspitzung war nicht zuletzt in der Sorge begründet, den erwarteten Wertverlust des Pfundes nach einem solchen Schritt nicht in den Griff zu bekommen. Im Nachhinein stellte sich zwar heraus, dass diese Bedenken übertrieben   56 Für Frankreich Mouré (1991): Managing, S. 191f. Für den ungarischen Fall z. B. Hidvegi (2016): S. 165f. 57 Vgl. Heyde (1998): Ende der Reparationen, S. 257. 58 Vgl. Kunz (1987): Britain´s Gold Standard, S. 113–121. 59 Vgl. Ebd. 60 Vgl. Williamson (1992): National crisis.

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waren, aber das konnte man vorher nicht unbedingt wissen. Zudem hatten Großbritanniens Sorgen den zusätzlichen Hintergrund, dass durch eine Abwertung der Wert der eigenen Schulden erhöht und der der Summen, die andere Länder den Briten schuldeten, verringert wurde. Anders ausgedrückt: Die Stellung Großbritanniens als Weltfinanzmacht stand auf dem Spiel. Es erscheint darum wenig verwunderlich, dass kaum jemand in Großbritannien bereit war, ein solches Risiko freiwillig einzugehen. Dementsprechend war die Politik der Regierung und der Bank of England, nachdem der Goldstandard aufgegeben worden war, in erster Linie dadurch motiviert, den Wertverlust des Pfundes zu begrenzen und zu kontrollieren. Neben einer restriktiven Fiskalpolitik und protektionistischen Maßnahmen äußerte sich das darin, dass, wie Straumann überzeugend gezeigt hat, Großbritannien wirtschaftlich mit ihm eng verflochtene Staaten dazu nötigte, ebenfalls vom Goldstandard abzugehen und ihre Währung an das Pfund zu koppeln.61 Auf diese Weise blieben sowohl die bisherigen terms-of-trade relativ beständig, als auch die Schulden einigermaßen wertstabil. Das dürfte auch der Hintergrund dafür gewesen sein, dass einige britische Vertreter im Herbst 1931 die Bereitschaft andeuteten, eine Abwertung der Reichsmark zu tolerieren, denn Großbritannien hatte dem Deutschen Reich in den 1920er Jahren viel Geld geliehen.62 Das erscheint deswegen wichtig, weil im Rahmen der Borchardt-Kontroverse verschiedentlich gefordert worden ist, Deutschland hätte der Pfundabwertung folgen sollen.63 Auf diese Weise hätten die dramatische Verschlechterung der deutschen terms-of-trade und der Zusammenbruch des Exports, der die Weltwirtschaftskrise im Deutschen Reich endgültig zu einer Katastrophe machte, möglicherweise vermieden werden können. Die Debatte darüber hat im Wesentlichen zwei Aspekte: Erstens, ob durch eine solche Abwertung die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Deutschlands tatsächlich gemildert worden wären. Zweitens, ob sie durchsetzbar war. Bezüglich des ersten Gesichtspunktes scheint der Sachverhalt – aus heutiger Sicht – vergleichsweise eindeutig: Durch eine Währungsabwertung hätte prinzipiell der Zusammenbruch des deutschen Exportes vermieden und die deflationäre Dynamik durchbrochen werden können. Eine solche Abwertung hätte allerdings substantiell sein müssen, um mindestens den Wertverlust des Pfundes von etwa einem Drittel auszugleichen.64 Das wiederum wäre nur unter Inkaufnahme eines erheblichen Anstiegs der deutschen Auslandsverschuldung möglich gewesen. Ob eine solche Währungsabwertung durchsetzbar gewesen wäre, ist allerdings eine ganz andere Frage: Sie hätte aufgrund der Bestimmungen von Dawes- und Young-Plan sowie des völkerrechtlich verankerten Reichsbankgesetzes, das die   61 Vgl. Straumann (2010): Fixed Ideas, S. 95–104. 62 Ob es ein solches Angebot tatsächlich gegeben hat, ist allerdings nicht geklärt, zumal damit der Vorteil Großbritanniens im Export nach dem Abgang vom Goldstandard gleich wieder verloren gegangen wäre. Vgl. Borchardt (1982): Frage, S. 216f. 63 Vgl. Holtfrerich (1992): Vernachlässigte Perspektiven, S. 143–148. 64 Vgl. Ebd.

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Goldbindung der Reichsmark und die Unabhängigkeit der Reichsbank als Institution festschrieb, einen klaren Rechtsbruch bedeutet. Argumentiert wird in diesem Zusammenhang allerdings, dass deutsche Politiker mit einem solchen Rechtsbruch kein prinzipielles Problem gehabt hätten, darin also zumindest nicht das Motiv gesehen werden sollte, warum eine Währungsabwertung nicht erfolgt sei.65 Tatsächlich weisen die internen Debatten in der Reichsregierung darauf hin, dass von einer Abwertung im Wesentlichen aus zwei Gründen Abstand genommen wurde. Die allgemeine Inflationsfurcht der Bevölkerung spielte dabei eine Rolle, zumal man meinte, dass bereits die öffentliche Wahrnehmung einer Inflation zu inflationären Tendenzen führen könne, wie der Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium Hans Schäffer im Herbst 1931 festhielt.66 Zum anderen hätten sich dadurch die Auslandsschulden des Reiches noch einmal drastisch erhöht, was nicht tolerierbar erschien. Das war im Übrigen auch der Grund, warum sich die USA ebenfalls gegen eine Abwertung aussprachen: Aus ihrer Sicht hätte die dadurch verursachte Erhöhung der Schulden die deutsche Zahlungsfähigkeit zu einer Illusion gemacht.67 Angesichts dessen, dass die Vereinigten Staaten dem Reich bereits im Rahmen des Hoover-Moratoriums entgegengekommen waren, erwiesen sich die Handlungsspielräume der Reichsregierung hier als gering. Darüber hinaus war aber vor allem Frankreich mit einer solchen Abwertung nicht einverstanden. Diese hätte, und das war ein äußerst sensibler Punkt in der französischen Öffentlichkeit, das Reparationsregime in Frage gestellt und die Arrangements, die nach den chaotischen Umständen des Jahres 1923 geschaffen worden waren, aufgekündigt. Insofern hätte es sich keineswegs, wie Hans-Ulrich Wehler gemeint hat, um eine tolerierbare, „wohlkalkulierte Regelverletzung“68 gehandelt, sondern um eine Maßnahme mit sehr viel weiterreichenden Konsequenzen. Mit scharfen Sanktionen war zu rechnen, denn ansonsten hätte Frankreich seine Unfähigkeit zur Schau gestellt, seinen Forderungen gegenüber Deutschland machtpolitisch Nachdruck zu verleihen. 5. DER ÜBERGANG ZUM BILATERALISMUS Nachdem Großbritannien den Goldstandard verlassen hatte, verlor das Pfund Sterling in den folgenden drei Monaten ungefähr ein Drittel seines Wertes, wonach es sich stabilisierte. Es war offensichtlich gelungen, den Wertverlust des Pfundes in den Griff zu bekommen. War damit der deflationäre Konsens durchbrochen und bewiesen, dass eine Währungsabwertung ohne größere Probleme möglich war? Und falls das der Fall gewesen sein sollte, warum wurde dem britischen Beispiel nicht gefolgt?   65 Vgl. Plumpe (1985): Wirtschaftspolitik, S. 343f. Zum prinzipiellen Verhältnis der Deutschen zum Völkerrecht vgl. die kontroverse Arbeit von Hull (2014): Scrap of Paper. 66 Vgl. Heyde (1998): Ende der Reparationen, S. 292. 67 Vgl. Tooze (2006): Wages of Destruction, S. 29–37. 68 Wehler (2003): Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 4, S. 526.

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Diesbezüglich ist zunächst darauf zu verweisen, dass die britische Politik und die Bank of England nach dem Verlassen des Goldstandards verschiedene Maßnahmen ergriffen, um einen unkontrollierten Wertverlust zu verhindern. Dazu gehörte vor allem, dass der Diskontsatz auf einem hohen Niveau gehalten und erst, nachdem sich die Lage beruhigt hatte, seit Anfang Februar 1932 sukzessive von sechs auf zwei Prozent gesenkt wurde. Im November 1931 ging das Land zu einer protektionistischen Handelspolitik über und beendete damit eine sieben Jahrzehnte andauernde Epoche des Freihandels.69 Zudem wurde, wie bereits beschrieben, Druck auf wirtschaftlich eng mit Großbritannien verflochtene Länder wie Schweden oder Finnland ausgeübt, ihre Währungen an das Pfund anzukoppeln und den Goldstandard ebenfalls zu verlassen. Durch das Verlassen des Goldstandards eventuell geschaffene monetäre Spielräume wurden aber nicht dazu genutzt, die Konjunktur durch kontrazyklische Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen anzukurbeln. Wie Roger Middleton nüchtern feststellt: The contemporaneous tightening of monetary and fiscal policy ensured that this recovery was not supported by a domestic stimulus and thus proved unsustainable, depression forces being temporarily re-established from early 1932.70

Es mochte in der Rückschau so scheinen, als habe die britische Regierung einen positiven konjunkturellen Impuls durch die Pfundabwertung aufgrund einer restriktiven Fiskalpolitik verschenkt. Das Jahr 1932 erwies sich deshalb in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht noch einmal als besonders schwierig. Eine solch restriktive Fiskalpolitik wurde aber als notwendig erachtet, um einen unkontrollierten Absturz des Pfundes zu verhindern oder sogar die Voraussetzungen dafür zu schaffen, später zu einem niedrigeren Kurs in den Goldstandard zurückkehren zu können. Insofern war der „Pfundblock“, der in den Jahren 1932 und 1933 deutlichere Konturen gewann, durchaus kein Freihandelsclub „Empire & Friends“, sondern ein restriktives System währungspolitischer Koordination und bilateraler Handelsverträge, in dem Großbritannien seine wirtschaftliche und finanzielle Machtposition in die Waagschale warf, um für das Land vorteilhafte Bedingungen zu erreichen.71 Dass eine stabile Währung nach Verlassen des Goldstandards aus zeitgenössischer Sicht nur unter den Bedingungen einer restriktiven Fiskalpolitik möglich war, verdeutlicht eine Pressenotiz der britischen Regierung vom 20. September 1931: His Majesty´s Government are securing a balanced budget and the internal position of the country is sound […] it is one thing to go off the gold standard with an unbalanced Budget and uncontrolled inflation; it is quite another thing to take this measure, not because of internal financial difficulties, but because of excessive withdrawals of borrowed capital.72

Hier ging es zunächst offensichtlich um den Versuch, angesichts der bevorstehenden Entscheidung die Öffentlichkeit zu beruhigen. Gleichwohl ist interessant, dass hier explizit darauf hingewiesen wurde, angesichts eines ausgeglichenen Budgets   69 70 71 72

Zur britischen Freihandelstradition s. Nye (2007): War; Trentmann (2008): Free Trade Nation. Middleton (1985): Managed Economy, S. 24. Vgl. Richardson (1936): Economic foreign Policy. Zit. bei Borchardt (1982): Frage, S. 206f.

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(welches zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs gesichert war73) würde eine solche Maßnahme keine schwerwiegenden Auswirkungen haben. Dass die staatliche Ausgabenpolitik als der wesentliche Faktor einer erhöhten Inflationsgefahr betrachtet wurde, wird hier deutlich. Das Festhalten am Goldstandard war folglich auch darin begründet, dass unter den Bedingungen einer schweren Krise andernfalls die Inflationsgefahr als besonders hoch angesehen wurde. Grund dafür war, dass die Depression einen starken Anreiz für die europäischen Regierungen schuf, auf dieselben Finanzierungsmittel wie in der Zeit während und nach dem Ersten Weltkrieg zurückzugreifen. Hier zeigt sich, dass vor dem Hintergrund der Erfahrungen der 1920er Jahre ein Zielkonflikt zwischen Währungsabwertung und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bestand: Die Lehre aus dem britischen Beispiel bestand darin, dass eine Abwertung mit strikter Budgetdisziplin und restriktiven Zinspolitik abgefedert werden musste. Die finanziellen Belastungen durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen hätte die Inflationsgefahr aus Sicht der Zeitgenossen jedoch stark erhöht. Die in der Forschung oftmals vertretene Meinung, eine Währungsabwertung sei die Voraussetzung für kontrazyklische Konjunkturmaßnahmen gewesen, geht an der zeitgenössischen Problemwahrnehmung folglich vorbei, für die eigentlich eher das Gegenteil der Fall war. Die britische Währungspolitik wurde zeitgenössisch intensiv diskutiert, wobei sie von der Mehrzahl der Beobachter keineswegs positiv bewertet wurde. Zwar wurde punktuell durchaus die Einsicht geäußert, dass der Goldstandard als internationales Währungssystem in den 1920er Jahren dysfunktional geworden war. Insbesondere der schwedische Ökonom Gustav Cassel, stellte fest, dass der Goldstandard gerade in den Ländern, die nicht über ausreichend Metall- oder Devisenreserven verfügten, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten verstärkt habe.74 Eine Neuerrichtung des Goldstandards würde viel schwerer fallen als die Erhaltung des alten Systems und machte ein hohes Maß an Kooperation zwischen den führenden Wirtschaftsmächten erforderlich. Allein, die Erfahrungen der letzten Jahre hatten gezeigt, dass eine solche Kooperation kaum zu erreichen war.75 Die meisten anderen Beobachter sahen allerdings keine Vorteile in der britischen Politik. Allerorten wurde beklagt, die britische Abwertung habe Vertrauen zerstört und zusätzliche Unordnung in die internationalen Handelsbeziehungen gebracht.76 Wie es der „Economist“ im Mai 1933 zusammenfasste: The abandonment of Britain of the post-war gold standard, despite all the manifest shortcomings in both that standard and its working, has set in motion forces which have had lethal effects on the world´s monetary and commercial activities.77

  73 74 75 76 77

Vgl. Winch (1983): Britain, S. 53f. Vgl. Cassel (1932): The Crisis, S. 85. Vgl. Schirmann (2000): Crise. Vgl. Straumann (2009): Rule, S. 613f.; Müller (2010): La Suisse, S. 113, 124f. Zit. nach: Barbieri (2015): Hitler's shadow empire, S. 109.

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Diese Aussage hätten die meisten europäischen Finanzfachleute zu diesem Zeitpunkt wohl unterschrieben.78 Das zeigte sich besonders manifest bei jenen Ländern, die bis 1935/36 an der Golddeckung der Währung festhielten. Für den sogenannten Goldblock (Frankreich, die Beneluxstaaten, Polen, Tschechoslowakei und die Schweiz) standen vor allem zwei Motive (in jeweils unterschiedlicher Gewichtung) im Vordergrund, um für eine Währungspolitik zu optieren, die für sie im Laufe der 1930er Jahre wachsende soziale Härten bedeutete. Das waren zum einen die finanziellen Vorteile eines „Hartwährungslandes“. Frankreich, aber auch Holland und die Schweiz, waren während der 1920er Jahre zunehmend zu einem Ankerpunkt globaler Kapitalströme geworden. Das versetzte insbesondere Frankreich in die Lage, seit dem Ende der 1920er Jahre wieder verstärkt als internationaler Kreditgeber aufzutreten. In Frankreich wurde eine Währungsabwertung zwar diskutiert, fand die längste Zeit kaum ernstzunehmende Fürsprecher. Gerade auf Seiten der Arbeiterschaft blieb die Inflationsfurcht groß.79 Zum anderen hatten viele Länder des Goldblocks während der 1920er Jahre schwerwiegende Inflationen erlebt, weswegen für sie die Abwertung und ein Abgehen vom Goldstandard lange Zeit nicht in Frage kam. Das war insbesondere in Polen und der Tschechoslowakei der Fall, während Ungarn und andere osteuropäische Länder im Laufe des Jahres 1931 zur Devisenbewirtschaftung übergingen. Die polnische Regierung sah die Bankenkrise 1931 aber auch als Chance, den als prekär wahrgenommenen Einfluss des deutschen Kapitals in Polen zurückzudrängen und stattdessen die finanziellen Beziehungen zu Frankreich zu stärken. Der Zugang zu französischem (und belgischem) Kapital war aber nur bei Beibehaltung des Goldstandards und staatlicher Ausgabendisziplin möglich. Hier besaß, trotz der Schwere der Krise, der Wille zur militärischen Aufrüstung Vorrang.80 Ein Wendepunkt war sicherlich die Londoner World Economic Conference im Juni/Juli 1933 – gerade weil sie sich als Fehlschlag erwies. Den Ton setzte dabei insbesondere der neue amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt, der in seiner berühmt-berüchtigten „bombshell message“ einer internationalen Kooperation in Währungsfragen eine Absage erteilte: Old fetishes of so-called international bankers are being replaced by efforts to plan national currencies with the objective to give to those currencies a continuing purchasing power which does not greatly vary in terms of the commodities and need of modern civilization.81

Hier wurde einer aktiven Währungspolitik das Wort geredet und Währungsstabilität zugleich als „old fetish“ internationaler Bankiers bezeichnet. Neben der Spitze gegen die „Gentlemanly Capitalists“ wurde hier die Meinung kommuniziert, dass internationale Kooperation letztlich nur der verdeckten Durchsetzung nationalstaatlicher Interessen diente, wogegen Roosevelt eine aktive, an der binnenwirtschaft  78 79 80 81

Vgl. Straumann (2009) Rule, S. 613f.; Straumann (2010): Fixed Ideas, S. 129–142. Vgl. Dard (1999): Les années trente, S. 24f. Vgl. Wolf (2010): 1918 als Zäsur, S. 49f. Zit. nach Dallek (1979): Franklin D. Roosevelt, S. 54.

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lichen Situation ausgerichtete Geldpolitik für sich reklamierte. Roosevelt formulierte hier sehr konsequent den Tatbestand, dass die Weltwirtschaftskrise zu einer Delegitimierung traditioneller Strategien geführt hatte, mit ökonomischen Krisen umzugehen.82 Das wurde allerdings gerade von vielen europäischen Regierungen und Bankiers nicht akzeptiert. Als besonders schockierend empfanden sie, dass die USA, anders als Großbritannien, ihre Währung freiwillig vom Goldstandard gelöst hatten (wobei das Land allerdings bereits im Sommer 1933 zu einer veränderten Form der Metalldeckung des Dollars zurückkehrte).83 Der zweite entscheidende Bruch mit der währungspolitischen Orthodoxie fand in Deutschland statt und fiel deutlich subtiler aus. Hier fand ein (modern gesprochen) „Quantitative Easening“ statt, indem die Nationalsozialisten über das Instrument der sogenannten Mefo-Wechsel die Geldmenge ausweiteten. Dabei handelte es sich gewissermaßen um die Schaffung einer Parallelwährung, wobei die Wechsel im Wesentlichen aufgrund ihrer attraktiven Verzinsung innerhalb der Wirtschaft als Zahlungsmittel akzeptiert wurden. Das war eine durchaus geschickte Vorgehensweise, denn mittels dieser Maßnahme gelang es, die Ausweitung der Geldmenge nicht nur vor den Alliierten, sondern auch vor der eigenen Bevölkerung geheim zu halten. Das änderte allerdings nichts daran, dass eine der größten Sorgen der Nationalsozialisten hinsichtlich der von ihnen ergriffenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen darin bestand, die Inflationsgefahr in den Griff zu bekommen.84 Abgesehen von den USA, die mit ihrer chaotischen Währungspolitik einen Sonderfall darstellten, setzte sich global ein System durch, das ein aktives Währungsmanagement mit dem Übergang zum Bilateralismus verband. Das bedeutete, dass (wenn auch durch einen allgegenwärtigen Protektionismus gedämpfte) System eines relativ offenen Welthandels wurde durch zwischen den Ländern abgeschlossene Handelsverträge ersetzt. Dieser Bilateralismus war besonders im Fall von Großbritannien und Deutschland stark ausgeprägt, wobei vor allem bei letzterem Fall eine besonders drastische Verschiebung der Handelsbeziehungen stattfand.85 Es zeigt aber, dass auch weiterhin nicht darauf vertraut wurde, dass sich Währungsstabilität im freien Spiel der ökonomischen Kräfte einstellen würde, sondern durch rigide institutionelle Arrangements abgesichert werden musste. Auch das lässt sich mit einigem Recht als Resultat der Erfahrungen der frühen 1920er Jahre interpretieren. 6. FAZIT Der Aufsatz schließt an die von Straumann begonnene Debatte über die europäische Wirtschaftspolitik während der Großen Depression an. Dabei ging es insbesondere darum, die von ihm angebotene Erklärung für den europäischen „Deflationären   82 83 84 85

Vgl. Schivelbusch (2005): Entfernte Verwandtschaft. Vgl. Müller (2010): La Suisse, S. 152. Vgl. Overy (1994): War and economy, S. 215. Vgl. Kaiser (1980): Economic diplomacy.

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Konsens“ weiterzuführen und zu verfeinern. Insbesondere wurde argumentiert, dass es die Inflationserfahrung der frühen 1920er Jahre insgesamt war, welche eine Abwertung der Währungen in der Krise als valide Gegenmaßnahme weitgehend ausschaltete. Zunächst ging es dabei um die konkreten Schlussfolgerungen, die aus den Nachkriegsinflationen gezogen wurden. Die deutsche Hyperinflation hatte sicherlich eine abschreckende Wirkung, wurde aber zugleich offensichtlich durch Umstände hervorgerufen, die exzeptionell und längst nicht in allen Ländern zu beobachten waren. Vielmehr wurden Inflationen generell als Resultat erhöhter Staatsausgaben bei einem freien Wechselkurs und der schweren Zugänglichkeit auswärtiger Kredite interpretiert. Zugleich wurde deutlich, dass sich inflationäre Tendenzen nur unter Inkaufnahme schwerere realwirtschaftlicher Nebenwirkungen – wenn überhaupt – beherrschen ließen. Mit den Währungsstabilisierungen Mitte der 1920er Jahre war ein wesentlicher Grund für die Inflationen allerdings nicht aus der Welt, nämlich die gewachsenen Ansprüche an die Staatsaktivität, sowohl in ökonomischer wie auch in sozialpolitischer Hinsicht. Das führte in vielen Ländern in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zu einer wachsenden auswärtigen Kreditaufnahme, für die jedoch bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden mussten. Zu diesem Zweck und in Reaktion auf die Nachkriegsinflationen wurden institutionelle Arrangements geschaffen, die eine Abwertung der Währung erschwerten. Die nationalen Zentralbanken wurden mit einem hohen Grad an Autonomie ausgestattet, was einen „Zugriff“ der Wirtschaftspolitik auf das Mittel der autonomen Kreditschöpfung kompliziert machte. Zugleich wurde die politische Stellung der Zentralbankiers auf diese Weise gestärkt. In der Literatur wird oftmals unhinterfragt davon ausgegangen, eine Währungsabwertung hätte Handlungsspielräume für eine kontrazyklische Wirtschaftspolitik (in erster Linie Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen) geschaffen. Aus zeitgenössischer Perspektive war jedoch eher das Gegenteil der Fall: Im Falle einer Währungsabwertung war vielmehr strikte staatliche Ausgabendisziplin das Gebot der Stunde. Erstens, weil sich die Schulden eines Landes durch eine solche Maßnahme erhöhten, zweitens, weil die Krise aus Sicht der Zeitgenossen eine hochgradig inflationsgefährdende Situation schuf, die durch erhöhte Staatsausgaben weiter verschärft wurde. Es existierte insofern – an der britischen Währungspolitik nach Abgang vom Goldstandard im September 1931 lässt sich das deutlich zeigen – ein Zielkonflikt zwischen Währungsabwertung und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Schließlich war aber auch die neue Weltwirtschaftsordnung, die sich zu Beginn der 1930er Jahre herauskristallisierte, wesentlich durch eine restriktive Währungspolitik geprägt. Das äußerte sich in Kapitalkontrollen, Devisenbewirtschaftung oder auch den koordinierten Bemühungen, innerhalb der Währungsblöcke stabile Austauschrelationen zu gewährleisten. Die 1930er Jahren waren also alles andere als eine Zeit währungspolitischer Entspannung – und hier war das nationalsozialistische Deutschland seinen europäischen Nachbarn immer noch ähnlicher, als es auf den ersten Blick erscheinen mochte: Denn weder Devisenbewirtschaftung noch Bilateralismus erscheinen als Elemente einer Wirtschaftspolitik, welche die Deutschen exklusiv betrieben.

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Das macht noch einmal deutlich, warum eine europäisch-vergleichende Perspektive ein spannendes Forschungsfeld darstellt, auf dem – nicht nur im Rahmen der Borchardt-Debatte – neue Erkenntnisse über die Wirtschaftspolitik während der Großen Depression zu erwarten sind. Dabei erscheint es insbesondere lohnenswert, sich vertieft mit der Frage zu beschäftigen, inwiefern bestimmte wirtschaftspolitische Entscheidungen im Laufe der Krise nicht nur auf vergleichbaren Beobachtungen und Erfahrungen beruhten, sondern sich gegenseitig bedingten: Das wäre etwa im Hinblick auf dem Bilateralismus zu fragen, der sich seit 1931 zunehmend durchsetzte. Hier erscheinen die britische und die deutsche Wirtschaftspolitik als erstaunlich ähnlich. LITERATUR Alcher, Guy: The Invisible Hand of Planning. Capitalism, Social Science, and State in the 1920s, Princeton 1975. Aldcroft, Derek: Economic change in Eastern Europe since 1918, Aldershot 1995. Ders.: Europe's third world. The European Periphery in the Interwar Years, Aldershot 2006. Ders. / Oliver, Michael J.: Exchange Rate Regimes in the Twentieth Century, Cheltenham 1998. Barbieri, Pierpaolo: Hitler's shadow empire. Nazi economics and the Spanish Civil War, Cambridge/Mass. 2015. Barth, Boris: Europa nach dem Großen Krieg. Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit 1918–1938, Frankfurt / New York 2016. Borchardt, Knut: Zur Frage der währungspolitischen Optionen Deutschlands in der Weltwirtschaftskrise. In: Ders.: Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik, Göttingen 1982, 206–224. Ders.: Eine Alternative zu Brünings Sparkurs. Zu Paul Köppens Erfindung französischer Kreditangebote. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 63/2 (2015), 229–239. Boross, Elizabeth A.: Inflation and Industry in Hungary, 1918–1929, Berlin 1994. Boyce, Robert W.: British Capitalism at the Crossroads, 1919–1932. A Study in Politics, Economics, and International Relations, Cambridge 1987. Ders.: The Great Interwar Crisis and the Collapse of Globalization, London 2009. Cassel, Gustav: The Crisis in the World´s Monetary System, Oxford 1932. Clarke, Peter: The Keynesian Revolution in the Making, 1924–1936, Oxford 1988. Dallek, Robert: Franklin D. Roosevelt and American Foreign Policy, 1932–1945, New York 1979. Dard, Olivier: Les années trente. Le choix impossible, Paris 1999. Doležalová, Antonie: Mixed Economy and State Enterprise. Theory and Practice in the Interwar Czechoslovakia (Vortrag EBHA Bergen 2016). Dulles, Eleanor: The French Franc 1914–1928, New York 1929. Eichengreen, Barry: Golden Fetters. The Gold Standard and the Great Depression, 1919–1939, New York 1992. Faltus, Jozef: Die Währungsentwicklung in der Tschechoslowakei in den Jahren 1919 bis 1924. In: Teichova, Alice (Hrsg.): Banken, Währung und Politik in Mitteleuropa zwischen den Weltkriegen, Wien 1997, 113–138. Feldman, Gerald D.: The Great Disorder. Politics, Economics and Society in the German inflation 1914–1924, Oxford 1993. Hahn, L. Albert: Volkswirtschaftliche Theorie des Bankkredits, Tübingen 1920. Hardach, Gerd: Der Erste Weltkrieg 1914–1918, München 1973. Hertz-Eichenrode, Dieter: Wirtschaftskrise und Arbeitsbeschaffung. Konjunkturpolitik 1925/26 und die Grundlagen der Krisenpolitik Brünings, Frankfurt/M. 1982.

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FRÜHER NEOLIBERALISMUS ODER DER LETZTE GRUND Krise und Neuerfindung des Liberalismus vor und nach dem Zweiten Weltkrieg Hagen Schulz-Forberg

Fragt man sich, was denn der Neoliberalismus eigentlich sei, dann fallen recht schnell gewisse Stichwörter: Austerität (damit der Staat nicht über seine Verhältnisse lebt, Stichwort ‚schwäbische Hausfrau’); freier Markt (so frei wie nur irgendwie möglich und vor allem frei von staatlicher Einmischung, denn die ist ineffizient); Wettbewerbsfähigkeit, Effizienz, Flexibilität und ein als homo oeconomicus konzipiertes, selbstverantwortliches Individuum drängen sich – mittlerweile wohlbekannt – auf. In seinem Sprachgebrauch ist ‚Neoliberalismus’ heutzutage vor allem ein (durchaus griffiger) kritischer Begriff, der eine den Markt fetischisierende Ideologie bezeichnet. Dieser Markt sollte bestenfalls nur von privaten Vertragspartnern bevölkert werden. Neoliberalismus wird als bedingungsloser Utilitarismus konzipiert, der sich innerhalb eines freien Marktes voll entfalten soll und der, quasi als Kollateralschaden, praktischerweise auch noch das bestmögliche Ergebnis für das Gemeinwohl erzielt. Ganz so einfach ist es leider nicht. Besonders auffallend an der Diskussion um den Neoliberalismus ist, dass in den letzten Jahren, ja Jahrzehnten, kaum jemand sich selbst als neoliberal bezeichnete. Ganz im Gegenteil. Neoliberal sind meistens andere. Es ist zum allergrößten Teil ein bezeichnender, kein selbstbezeichnender Begriff. Zumindest nicht mehr. Von den 1930er bis in die 1960er Jahre war Neoliberalismus durchaus selbstbezeichnend – und dies in mehreren Sprachen. Öffnet man den Blick vom Englischen als Zugangssprache zum Begriff, findet man „Neoliberalismus“, „néo-libéralisme“ und „neo-liberalismo“ auf Deutsch, Französisch und Italienisch. Fragt man dann Googles Ngram Viewer nach der Verwendung des Begriffes, bestätigt sich ein Eindruck, der sich durch eine erste Lektüre von Texten aus den 30er und 40er Jahren ergibt. Im Englischen ist der Begriff ein Neologismus, der nur in den letzten beiden Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts ansteigende Verwendung findet.

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Abbildung 1: Ngram Viewer Suche nach dem Begriff „neoliberalism“ auf Englisch zwischen 1900 und 2008, durchgeführt am 1. September 2019.

Sucht man nach „neo-liberalismo“ allerdings auf Italienisch, so ergibt sich ein anderes Bild.

Abbildung 2: Ngram Viewer Suche nach dem Begriff „neo-liberalismo“ auf Italienisch zwischen 1900 und 2008, durchgeführt am 1. September 2019.

Bei dieser Kurve verwundert nicht nur die starke Verwendung des Begriffs ab den 1940er Jahren, auch fragt man sich, warum denn die Verwendung in den 1980er Jahren so rapide abnimmt. Die Antwort liegt in der Schreibweise. Der „neolibera-

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lismo“ – ohne Bindestrich – nimmt einen Verlauf ähnlich der Englischen Kurve ab 1990, steil nach oben. Im Französischen wiederum erlebt der „néo-libéralisme“ eine steigende Verwendung seit den 1930er Jahren, die sich in den 50er und 60er Jahren stabilisiert und dann leicht absinkt, bevor sie in den 80ern wieder ansteigt.

Abbildung 3: Ngram Viewer Suche nach dem Begriff „néo-libéralisme“ auf Französisch zwischen 1900 und 2008, durchgeführt am 1. September 2019.

Im Deutschen schließlich beginnt eine signifikante Verwendung des Begriffes in den 1940er Jahren und steigt stetig bis 1963 an. Dann sinkt die Verwendung bis zum Jahr 1988, um dann ein Parallelleben mit der Italienischen und Englischen Kurve ab den späten 1980er Jahren zu führen. Sie steigt steil nach oben. Der Teil der Kurve, die seit den 1980ern stark ansteigt, stellt inhaltlich die Entwicklung eingangs geschilderter Assoziationen dar. Zieht man jedoch die kontinentaleuropäischen Sprachen der großen Länder Westeuropas über einen längeren Zeitraum in Betracht, ergibt sich ein anderes, komplexeres Bild. Es ist eine mehrsprachige Begriffsgeschichte, die schon rund neunzig Jahre umfasst. Der Begriff entwickelte sich in der Zwischenkriegszeit, vor allem in den 30er Jahren, auch wenn er schon früher geringfügige Erwähnung fand. In den 30er Jahren jedoch wurde er komplexer, detaillierter und gleichzeitig auch konkreter – eine ausgearbeitete Agenda des Liberalismus (auf die ich weiter unten genauer eingehe) entstand gegen Ende der Dekade. Nach 1945 etablierte sich der Begriff und seine Verwendung: sowohl auf Deutsch, als auch auf Französisch und Italienisch.

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Abbildung 4: Ngram Viewer Suche nach dem Begriff „Neoliberalismus“ auf Deutsch zwischen 1900 und 2008, durchgeführt am 1. September 2019.

Bedeutete der Begriff in den 30er Jahren das gleiche wie heute? Selbstverständlich nicht. Aber er umriss von den 1930er bis in die 1960er Jahre hinein durchaus das gleiche semantische Feld. Die Bedeutung des Begriffs war für zwei bis drei Dekaden relativ konstant. Durch die Eigenbeschreibung als Neoliberale kann man historische Akteure besser identifizieren. Diese Akteure stimmten zwar alle überein wenn es um die allgemeinen Punkte der Agenda des Liberalismus ging, doch waren sie durchaus verschiedener Meinung darüber, wie denn diese Agenda umgesetzt werden sollte. Es entstand ein dynamischer diskursiver Raum, in dem sich der Neoliberalismus entwickelte und im Dialog sowie in Abgrenzung zu anderen Denkmodellen seinen Platz fand und auch beständig weiterentwickelte. Warum entstand er zu dieser Zeit, in den 30er Jahren? Wofür stand ein Neoliberalismus nach 1945, als seine Verwendung auf Deutsch, Italienisch und Französisch ansteigt? Und mit welchen Positionen stritt sich der Neoliberalismus in seiner Entstehungsphase nach dem Ersten Weltkrieg? Gegen welche Argumente und Ideen schärfte er sein Profil? Im Folgenden gehe ich der Entstehung des Neoliberalismus nach, den ich als „frühen Neoliberalismus“ bezeichne und der sich komplexer darstellt als es in der bisherigen Forschung herausgearbeitet wurde, die vor allem die Geschichte einer relativ kleinen Gruppe von Denkern erzählt, die sich nach langen Dekaden endlich an das Ohr der Mächtigen durcharbeiteten. Das Lippmann Colloquium von 1938, wo die Agenda des Liberalismus entstand, dient dabei als Vorkriegsauftakt einer Nachkriegsgeschichte, vor allem, weil nach Akteuren gesucht wird, die in den 1970ern relevant wurden (insbesondere Hayek) und vergessen wird, jene Akteure genauer in Betracht zu ziehen, die schon in den 30ern und direkt nach dem Krieg

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relevante Persönlichkeiten mit einflussreichen Positionen waren.1 Der frühe Neoliberalismus entstand aber nicht als ein von kapitalistischen Interessen geleitetes Think Tank-Projekt (jedenfalls nicht nur), sondern bereits in der Zwischenkriegszeit als eine Art Nebenprodukt von intensiven Auseinandersetzungen um eine Überarbeitung des Liberalismus innerhalb komplexer, wohl finanzierter Expertennetzwerke, die um den Völkerbund herum aufgebaut wurden. Und das Lippmann Colloquium war nur eine Diskussion von sehr vielen, in denen es um etwas Grundlegendes für den Liberalismus ging und um die Art von Staatlichkeit und Wirtschaft, die für eine friedliche, liberale und soziale Gesellschaft notwendig wäre.2 Wie muss Staatlichkeit gebaut sein, die im Inneren Sicherheit und Prosperität garantiert und im Äußeren mit den anderen Staaten friedliche internationale Beziehungen eingehen kann? Diese Leitfrage versuchte auch der frühe Neoliberalismus zu beantworten. Früher Neoliberalismus reflektiert dabei die ideologischen Wurzeln des Liberalismus sehr intensiv und durchaus selbstkritisch. Grundlegende Werte werden immer wieder betont und benannt – die menschliche Person, deren Würde und ihre Unantastbarkeit – und ein alternatives, neues liberales Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell wird stets mit Bezug auf diese letzten Dinge, die „letzten Grundlagen einer freien Gesellschaft“3 hergeleitet. Diesen Fluchtpunkt neoliberaler Wirtschaftstheorie in den mittleren Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts bezeichnet die Formulierung „der letzte Grund“ im Titel dieses Beitrags, den ich in zwei längere Abschnitte unterteile. Im ersten arbeite ich den frühen Neoliberalismus heraus, seine Entstehung und Eigenart als Produkt eines Zusammenspiels nationaler und transnationaler Akteure und Organisationen sowie die Rolle von Werten und Ordnung in seinem Denken. Dabei liegt ein Hauptaugenmerk auf den deutschen frühen neoliberalen Autoren. Allerdings helfen mir französische und italienische Neoliberale bei der Einordnung des deutschen Falls. Nach dieser Einführung folgt im zweiten Teil eine tiefere Auseinandersetzung mit der Diskussion zwischen neoliberalen und faschistischen sowie anti-liberalen Positionen der Zeit, besonders dem italienischen Faschismus, der in den 1930er Jahren, nach einer Dekade an der Macht, seine Wirtschafstheorie ausformuliert hatte, dem Nationalsozialismus und dem Denken Carl Schmitts, der als einflussreicher Intellektueller ein Bezugs- sowie Reibungspunkt für frühe Neoliberale war. Mein Beitrag argumentiert, dass der frühe Neoliberalismus in Deutschland sein Entstehen sowohl den vielen nationalen Diskussionen und Erfahrungen zu verdanken hat, vor allem aber auch der transnationalen institutionellen und intellektuellen Landschaft der Zwischenkriegszeit, in welcher sich alle führenden Ökonomen und   1

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Cockett (1994): Thinking the Unthinkable; Mirowski / Plehwe (2009): Road from Mont Pelerin; Peck (2010) Constructions of Neoliberal Reason; Djelic und Quack (2010): Transnational Communities; Burgin (2012): The Great Persuasion; Jackson und Saunders (2012): Making Thatcher’s Britain. Eine erste detailliertere Einbettung der Akteure des Lippmann Colloquiums in die Netzwerke des Völkerbundes findet sich bei Schulz-Forberg (2020), Embedded Early Neoliberalism. Röpke (1945): Einführung, S. 28.

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Denker des Liberalismus (ebenso wie manche seiner Kritiker) bewegten. Auf dieser transnationalen Ebene, die hauptsächlich vom Völkerbund aufgespannt wurde, wurde auch der Neoliberalismus entwickelt. Die schließlich ausgearbeitete Formel des frühen Neoliberalismus, die national wie transnational entsteht und Anklang findet, kann als ein Dreiklang beschrieben werden, bestehend aus dem Grundton der Unantastbarkeit der menschlichen Person, die durch die Terz des Preismechanismus und die Quinte der Herrschaft des Rechts garantiert wird.4 Es gab unter den Neoliberalen durchaus heftige Diskussionen um die Rolle von Werten und welche Werte denn nun grundlegend seien. Eine Mehrzahl sprach sich für humanistische Grundwerte aus, typisch für die Diskussionen der 1930er im Allgemeinen: die menschliche Person und ihre Würde können nur durch Freiheit erreicht und gesichert werden. Der Preismechanismus garantiert eine Messbarkeit von Freiheit und die Herrschaft des Rechts stellt sicher, dass Freiheit nicht von politisch arbiträren Entscheidungen bedroht wird. Friedrich von Hayek akzeptiert in vielen Beiträgen die Bedeutung des Humanitären für den Liberalismus, er bekennt sich jedoch nie zu einem Grundwert – wie der Menschenwürde – sondern betont stets seinen Glauben an die „drei großen Negativen“ als letzten Grund einer Gesellschaftsordnung: Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit.5 Im Gegensatz zu vielen Neoliberalen, die eine rechtspositivistische Perspektive einnahmen,6 steht Hayek einer solch positiv formulierten Grundnorm ablehnend gegenüber. Nicht umsonst stritt er sich ums Grundsätzliche mit dem Erfinder der Grundnorm, dem Rechtsphilosophen Hans Kelsen.7 Die unter den Neoliberalen weit verbreitete Haltung zum Setzen der menschlichen Person als Grundnorm wird vielleicht am anschaulichsten durch Röpkes Konzeption eines Wirtschaftshumanismus dargestellt.8 1. DER FRÜHE NEOLIBERALISMUS Einer der Wenigen, der in den letzten Jahren positiv-verwundert über den Neoliberalismus sprach, war Bundespräsident Joachim Gauck. Anlässlich des 60.   4 5 6

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Schulz-Forberg (2019a): Modern Economic Thought and the ‚Good Society’. Hayek (1966): Principles of a liberal social order, S. 617. Rougier (1938): Les mystiques économiques, S. 34: “Ce que j’appelle libéralisme constructif n’est pas identifiable à la théorie manchestérienne du laisser faire, laisser passer, car un tel libéralisme se détruit lui-même en aboutissant, par le seul jeu de la concurrence et de la selection naturelle, à une économie de monopole correspondant à un régime ploutocratique. Le libéralisme constructif implique un ordre juridique positif tel que la possibilité de la libre concurrence soit toujours sauvegardée, c’est-à-dire un ordre juridique tel que la formation des trusts, des holdings, etc. devienne impossible, aussi bien du reste que serait impossible la tyrannie syndicale (…).” (Meine Hervorhebung) Der trotz seines Streits mit Hayek dennoch ein Empfehlungsschreiben für Karl Popper schrieb, mit welchem letzterer bei Hayek in London bei der LSE vorstellig wurde. Siehe Ebenstein (2003): Hayek’s Journey, S. 177. Röpke (1944): Civitas Humana, S. 80 und folgende.

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Jubiläums des Walter Eucken Instituts am 16. Januar 2014 stellte er fest, dass Eucken eine Ordnung entwarf, in der der Staat so viel wie irgend möglich dem freien Spiel des Wettbewerbs überlässt – aber keinesfalls das Setzen der Regeln selbst. [...] Eine Ordnung, die auf ‚das Anliegen der sozialen Gerechtigkeit’ zielte und – zur Erfüllung des Anliegens – auf den höchstmöglichen wirtschaftspolitischen Wirkungsgrad.9

Gauck fragte daraufhin nach und verstand nicht ganz, warum denn der Begriff ‚neoliberal’ heute so negative Bedeutungen hätte. „Schließlich wandten sich Eucken und seine Mitstreiter selbst als sogenannte ‚Neoliberale’ genau gegen dieses reine ‚Laissez-faire’, das dem Neoliberalismus heute so häufig unterstellt wird.“10 Nun gibt es natürlich jede Menge gute Gründe, den entfesselten Markt und seine sozialen wie auch politischen Konsequenzen zu kritisieren. In der Tat ist die Suche nach einer neuen Formel, die eine Balance zwischen Marktdynamik und sozialer Gerechtigkeit, Sicherheit und Chancengleichheit in der multipolaren und globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts ermöglicht, die Herkulesaufgabe unserer Gegenwart. Was den frühen Neoliberalismus betrifft, so ist Gaucks Darstellung jedoch vollkommen korrekt. Nur ist es gleichzeitig auch nicht sinnvoll, einer angeblich festgeschriebenen Bedeutung eines alten Begriffes hinterher zu trauern. Die Semantik von Begriffen verändert sich im Laufe der Zeit und die historische Rückschau ermöglicht das Verfolgen dieser Veränderung und des damit einhergehenden politischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Wandels. Der Neoliberalismus der 1930er bis 1960er Jahre war ein Kind seiner Zeit und er wird sich nicht wiederholen (lassen). Die Fragen und Antworten allerdings, die zu seiner Zeit gestellt und gegeben wurden, bleiben grundlegend, auch wenn sie heute in einer vollkommen anderen Weltsituation verhandelt werden müssen. 1.1 Der Sinn der Ordnung Es gab in der deutschsprachigen Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie einen sich selbst bezeichnenden Neoliberalismus, der Fragen der sozialen Gerechtigkeit mit einer grundlegenden Rekonstruktion der liberalen Ordnung verknüpfte. Das Fehlen des Sozialen im Liberalen hatten die Neoliberalen als Fehler des alten Liberalismus analysiert. Der Neoliberalismus entstand in einer transnationalen Institutionenlandschaft, innerhalb derer sich gemeinsam die gleichen Fragen nach einer friedlichen Weltordnung im Großen wie im Kleinen gestellt wurden. Wie muss eine Gesellschaft beschaffen sein, um friedlich zu wirken? Es ging also über eine nationalstaatlich gebundene Idee einer Wirtschafts- und Gesellschaftsform hinaus. Nicht nur um die Errichtung des freien Marktes, sondern um den „Marktrand“11, wie es Alexander Rüstow bezeichnete, ging es den frühen Neoliberalen. Dazu brauchte es einen   9 Gauck (2014): Festvortrag. 10 Ebd. 11 Rüstow (1961): Paläoliberalismus, Kommunismus und Neoliberalismus, S. 68.

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Staat „oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessenten, da, wo er hingehört.“12 Der Marktrand oder -rahmen war das Entscheidende, nicht der Markt selbst. Rolle, Funktion und Aufbau des Staates waren grundlegende Themen des frühen Neoliberalismus. Dieser Staat musste nicht nur „stark“ im Sinne von unabhängig und über den Interessen stehend sein, er musste auch auf einer Norm basieren, diese verkörpern und als Grundlage seiner Legitimation stets von neuem bestätigen. Zugleich konnte dieser Staat zwar national sein, musste aber auch komplementär mit anderen Staaten innerhalb einer internationalen Ordnung funktionieren. Um die Dauerhaftigkeit einer so gearteten Staatlichkeit zu gewährleisten, war es notwendig, dass ein Wirtschaftsverständnis an grundlegender Quelle, also an der Recht setzenden, Legitimation generierenden konstitutionellen Stelle verankert ist. Der Begriff der Wirtschaftsordnung (manchmal wurde auch der Begriff der Wirtschaftsverfassung gewählt), gleichbedeutend mit competitive order im Englischen, wurde zum Kennzeichen des Neoliberalismus.13 Er verdeutlicht dieses Verschmelzen von Recht und Wirtschaft im letzten Grund, auf dem Staat, Gesellschaft und Wirtschaftsleben aufbauen und auf den sie sich diskursiv stets beziehen und auch beziehen müssen, wenn im politischen Streit argumentativ die Oberhand gewonnen werden will.14 Oftmals bezeichneten sich die Wirtschaftstheoretiker sogar selbst als Neoliberale, ganz im Gegensatz zu heute. Die deutschen Ordoliberalen wurden in den 1940er und 50er Jahren in den meisten Fällen auch als eben solche Neoliberale wahrgenommen.15 Eucken wurde beispielsweise in Il Politico (der italienischen Variante der ORDO Jahrbücher) von dessen Herausgeber, dem international geschätzten und stark vernetzten Freund Friedrich von Hayeks, Bruno Leoni, als Gründer der Freiburger Schule bezeichnet und diese wiederum „occupa un posto particolare e indubbiamente importante fra le correnti del neo-liberalismo attuale.“16 Die Identifikation der Ordoliberalen als (junge) Neoliberale hat schon Michel Foucault in seinen mittlerweile klassischen Vorlesungen der späten 1970er Jahre vorgenommen. Er zeigt eindringlich wie sehr das Denken der Neoliberalen eben jene Rahmung der Marktwirtschaft in den Vordergrund rückt und auf die Definition des Rahmens drängt. Somit wird der Ordoliberalismus zu einem, für Foucault, klaren   12 Rüstow (1932): Die staatspolitischen Voraussetzungen, S. 69. 13 So Hayek (1947): Free Enterprise or Competitive Order, und Director (1947): Free Enterprise or Competitive Order. In aller Deutlichkeit noch einmal Friedman (1951): Neo-Liberalism and its Prospects, S. 92: “Neo-liberalism would accept the nineteenth century liberal emphasis on the fundamental importance of the individual, but it would substitute for the nineteenth century goal of laissez-faire as a means to this end, the goal of the competitive order.” 14 Diese Gedanken sind eine Zusammenfassung einer Reihe neoliberaler Schriften. Siehe beispielsweise Eucken (1940): Grundlagen der Nationalökonomie; Dürr (1954): Wesen und Ziele; Böhm (1937): Ordnung der Wirtschaft; Röpke (1950): Maß und Mitte; Rueff (1946): L’Ordre Social, und grundlegend für die transnationale Verortung dieser grundlegenden Gedanken des Neoliberalismus Lippmann (1937): Good Society. 15 Siehe beispielsweise Seraphim (1957): Begriffs- und Wesensbestimmung; Nawroth (1961): Sozial- und Wirtschaftsphilosohpie des Neoliberalimus. 16 Leoni (1954): Ordoliberalismus, S. 338, meine Hervorhebung.

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Fall von gouvernmentalité, eine das Regieren beherrschende Denkweise, die schlicht nicht hinterfragt wird. Allerdings hat auch schon Foucault vollkommen die größeren institutionellen und transnationalen Zusammenhänge übersehen und auch er macht das Lippmann Colloquium zu einem Ereignis, das scheinbar im luftleeren Raum stattfand – obwohl doch das zum Völkerbund gehörende International Institute for Intellectual Cooperation (IIIC) in seine Räume geladen hatte.17 Bruno Leoni weist auf eine weitere, ebenfalls grundlegende und oft übergangene etymologische Komponente des Ordoliberalismus hin. Ordo bezeichnet nicht einfach nur Ordnung an sich, sondern bezieht sich bewusst auf den scholastischen Begriff einer dualistischen Weltsicht, die von Menschen gemachte Normen im Unterschied zu einer göttlichen Ordnung sieht. Der Mensch muss versuchen, sich diesem grundlegenden Leitbild anzunähern. Wie stehen nun aber der Mensch und seine Wirtschaft in Bezug zu grundlegenden Werten und Normen? Jegliche menschliche Konstruktion einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung muss, so das Argument der frühen Neoliberalen in ganz Europa, im Einklang mit einer höheren Ordnung stehen, mit einer „vorgegebenen Ordnung“, wie Edith Eucken-Erdsieck in der ersten Ausgabe der ORDO Jahrbücher präzisiert.18 Die Tatsache, dass der Mensch seine eigene Ordnung errichtet, darf, so die Ordoliberalen, nicht dazu führen, einfach irgendeine Ordnung zu errichten. Es muss eine Ordnung sein, die sich an „echten Werten“ und nicht an „Pseudowerten“ orientiert.19 Nur eine Ordnung, die auf echten Werten aufbaut, sei von Dauer, so das Argument. Die Hybris der Ratio, so Eucken-Erdsieck weiter, verleitet den Menschen dazu, an die Möglichkeit totalen Wissens, totaler Datenherrschaft und rationaler Entscheidung auf der Grundlage totaler Datenmengen zu glauben. Auf der politischen Ebene wiederum führt eine Planung von oben zu Machtkonzentrationen und zum Streben nach „Macht, Macht und wieder Macht. [...] Fortgerissen von dem Wahn, dass sich in dieser Welt letzten Endes alles ‚machen’ lassen müsse, verlieren [‚Gestalten’] nach und nach jedes Augenmaß für die Größe der Probleme und die Begrenzung ihrer eigenen Kräfte und Möglichkeiten, ja der menschlichen Möglichkeiten überhaupt.“20 Menschliche Ordnungen neigen also dazu, sich selbst zu überschätzen. Sie müssen sich auf sogenannte wahre Werte beziehen. „Unsere Hoffnung“, so EuckenErdsieck weiter, „kann nur darin liegen [...] dass es uns vergönnt sein möchte, unser Leben wieder von neuem suchend und tastend in die Einheit eines Kosmos einzuordnen.“21 Diese Konstruktion einer Werteordnung wurde durch den Zweiten Weltkrieg und die Erfahrung des Nationalsozialismus noch einmal verstärkt. Sie wurde jedoch bereits in der späten Zwischenkriegszeit, also in der 30er Jahren,   17 Foucault (2006): Die Geburt der Biopolitik; und eine neue, durch Foucault inspirierte Lesart des Neoliberalismus findet sich bei Sawyer und Steinmetz-Jenkins (2019): Foucault, Neoliberalism, and Beyond. 18 Eucken-Erdsieck (1948): Chaos und Stagnation, S. 8. 19 Ebd., S. 11. 20 Ebd., S. 9. 21 Ebd., S. 14.

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ausgearbeitet. Lippmanns Good Society spricht es sehr deutlich aus, wenn er die Metapher des Felsens wählt, auf dem der neue Liberalismus aufgebaut werden muss. Dieser Felsen ist laut Lippmann die Unantastbarkeit der menschlichen Person. Denn, so argumentiert er, die zivilisatorische Leistung der letzten Jahrhunderte war, dass „[t]he inviolability of the human person was declared. Toward this conviction men have fought their way in the long ascent out of the morass of barbarism. Upon this rock, they have built the rude foundations of the Good Society.”22 Röpke, Rüstow, Rueff und andere Neoliberale folgen diesem Aufbau der Argumentation für einen neuen liberalen Staat ebenso. Die Einteilung in „wahre“ und „falsche“ Werte dient dabei zur Profilschärfung und Abgrenzung und wird ebenfalls bereits vor dem Zweiten Weltkrieg vorgenommen. Diese Einteilung dient als moralischer Kompass, als Orientierungshilfe für die Konstruktion von Wirtschaftsordnungen und Gesellschaften. Die Erkenntnis, dass alle Ordnung von Menschen konstruiert wird mündet bei den Neoliberalen in eine notwendige Positionierung gegenüber Werten. Und zwar den in ihren Augen „richtigen“. Wenn alles menschliche Konstruktion ist, was ist dann falsch am Kommunismus? Er orientiert sich an den „falschen“ Werten, würden die Neoliberalen antworten. 1.2 Von „wahren“ und „falschen“ Werten In Variationen des Themas finden sich bei fast allen deutschsprachigen und internationalen Neoliberalen Unterteilungen in wahre und falsche Werte. Direkt im Anschluss an Edith Eucken-Erdsiecks einführende Gedanken folgt Friedrich von Hayeks Aufsatz „Wahrer und falscher Individualismus“23. Jacques Rueff, einer der führenden französischen Neoliberalen nach dem Krieg, unterteilt politische Systeme in „Zivilisationen wahrer Rechte und sozialer Ordnung“ und in „Zivilisationen falscher Rechte und sozialer Ordnung“.24 Wilhelm Röpke, ein weiterer Gründungsvater der sozialen Marktwirtschaft und Neoliberaler von nationaler und internationaler Ausstrahlung,25 wendet die Dichotomie von richtig und falsch auf den Liberalismus selbst an, will einen wahren, „unvergänglichen“ Liberalismus von einem irregeleiteten, „vergänglichen“ wieder trennen26 und – gemeinsam mit den international vernetzten anderen Neoliberalen – „an die Stelle des Falschen das Richtige setzen.“27 Und Lippmann hatte das alles wie oben erwähnt schon Mitte der 1930er Jahre ausformuliert. Verstärkt durch die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und der Schrecken und Grausamkeiten des Nationalsozialismus, grenzt sich der frühe Neoliberalismus in einer bewussten Betonung von Werten – und deren angeblich adäquater   22 23 24 25 26 27

Lippmann (1937): Good Society, S. 378. Hayek (1948): Wahrer und falscher Individualismus. Rueff (1946): L’Ordre social. Siehe zu Röpkes Leben, Wirken und Denken: Solchany (2015): L’autre Hayek. Röpke (1947): Kulturideal des Liberalismus und (1950): Maß und Mitte. Röpke (1945): Einführung, S. 28.

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Verwirklichung – von anderen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwürfen ab. Neoliberalismus hält sich laut Wilhelm Röpke, wie oben bereits erwähnt, „an den letzten Grundlagen einer Gesellschaft freier Menschen“28 fest und kämpft für die Errichtung einer Gesellschaft, die sich strikt an diesen letzten Grundlagen orientiert und durch sie ihre Legitimation erhält. Es ist ein von Röpke so genannter Rahmen (ähnlich wie Rüstows „Marktrand“)29, der auf dem Prinzip der Unantastbarkeit der menschlichen Würde basiert, auf einem humanistischen Grundgedanken also. Dieser Rahmen beschreibt eine bewusst konstruierte, wertbasierte soziale Ordnung. Der Markt entfaltet sich innerhalb dieses Werterahmens, ist lediglich Mittel zum Zweck des Erhalts der Werteordnung.30 Der Markt wird also gemacht und durch die Rahmung erst konstruiert. Im Französischen erscheinen als synonyme Begriffe zum Neoliberalismus sehr illustrierende Ausdrücke dieser Tatsache, wie beispielsweise der marché institutionnel (Jacques Rueff) oder der libéralisme constructif und der libéralisme constructeur (Louis Rougier).31 Definitionen dieser neuen Markt- und Werteordnung fielen den frühen Neoliberalen in der Nachkriegszeit scheinbar leichter als zuvor. Dies lag nicht nur an der Erfahrung des Krieges und dem endgültigen Wegfallen des Faschismus als mögliche Alternative zum Laissez-faire Kapitalismus. Es lag auch an einer gemeinsamen transnationalen Arbeit an eben jenen letzten Dingen, die eine (neo)liberale Gesellschaft ausmachen. Röpke verweist 1945 im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Lippmanns Good Society auf eine Gruppe von Suchenden, die sich seit den 1930er Jahren international gebildet hatte32 und auch „Die Schriftleiter“ (Fritz W. Meyer und Hans Otto Lenel) der ersten ORDO-Jahrbuch-Ausgabe von 1948 erklärten, dass „die leitenden Grundsätze einer derartigen Ordnung nicht erst gefunden werden müssen. Sie sind in den letzten Jahrzehnten in einer Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten in Deutschland und im Ausland entwickelt worden.“33 Zusammengefasst, kommen diese „Vorarbeiten“ der Zwischenkriegszeit, so Meyer und Lenel weiter, zu „der zentralen Erkenntnis, dass nur die Veranstaltung von Wettbewerb in einem möglichst umfassenden Bereich der Wirtschaft eine volle Lösung des Problems der Wirtschafts- und Sozialordnung zu erbringen vermag. Und zwar – das sei ausdrücklich hervorgehoben – auch eine volle Lösung der wichtigsten sozialen Fragen.“34 Gleichzeitig war das Errichten einer inneren, staatlichen Lösung auf der Ebene der Nationalstaaten nur ein Teil der Aufgabe, erklären Meyer und Lenel, denn „[o]hne zureichende Lösung der Probleme der internationalen Ordnung sind keine   28 Ebd., S. 28. 29 Rüstow (1932): Die staatspolitischen Voraussetzungen, und (1961): Paläoliberalismus, Kommunismus und Neoliberalismus, S. 68. 30 Röpke (1948): Colloque d’Avignon. 31 Rueff (1958): Le marché commun et ses problèmes; Rougier (1938): Les mystiques économiques. 32 Röpke (1945): Einführung, S. 28. 33 Meyer und Lenel (1948): Vorwort, S. VIII–IX. 34 Ebd., S. IX.

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nationalen Ordnungen der geforderten Qualität möglich.“ Eine nationale wie eine internationale Ordnung müssten demnach „gleichsam in einem Guss bewältigt werden.“35 Wirtschaft ist immer Weltwirtschaft. Staatlichkeit ist immer (mögliche) Weltgemeinschaft. 1.3 Grenzen und Bedingungen des frühen Neoliberalismus Der frühe Neoliberalismus grenzte sich sehr bewusst gegen zwei Wirtschaftsordnungen ab: gegen alle „Spielarten der sogenannten Planwirtschaft, genauer der Zentralverwaltungswirtschaft“ (ein Begriff Euckens), sowie „gegenüber der sogenannten freien Wirtschaft, in welcher der Grundsatz des ‚Laissez-faire’ verwirklicht ist.“36 Der Unterschied zum Laissez-faire, so stellte schon Walter Lippmann 1937 fest, muss darin liegen, dass die Trennung von Recht und Wirtschaft aufgehoben wird und in einer Wirtschaftsordnung verschmilzt. Diese Trennung, so Lippmann, war der Konstruktionsfehler des Liberalismus im 19. Jahrhundert. Der Fortschritt des Liberalismus wurde aufgehalten, so erklärt Lippmann, „by the wholly false assumption that there was a realm of freedom in which the exchange economy operated and, apart from it, a realm of law where the state had jurisdiction.” Diese Unterteilung in Wirtschaft auf der einen und Recht auf der anderen Seite war grundlegend falsch, denn in setting up this hypothetical and non-existent realm of freedom where men worked, bought and sold goods, made contracts and owned property, the liberals became the uncritical defenders of the law which happened actually to prevail in that realm, and so the helpless apologists for all the abuses and miseries which accompanied it. Having assumed that there was no law there, but that it was a natural God-given order, they could only teach joyous acceptance or stoic resignation.37

Anstelle einer göttlichen oder einer reinen naturrechtlichen Ordnung, die man zu akzeptieren und zu entschlüsseln hat, setzen frühe Neoliberale eine menschliche Ordnung, die sich an den von ihnen oft so genannten „wahren“ Werten orientiert. Viele Neoliberale sehen in diesen Grundwerten wenn auch nicht unbedingt eine Übereinstimmung so doch zumindest ein problemloses Miteinander mit der christlichen Religion. Diese friedliche Koexistenz von Neoliberalismus und Christentum ist grundlegend und sehr ernst gemeint von allen Beteiligten wie die hochinteressante Debatte zum Thema „Liberalism and Christianity“ auf der ersten Tagung der Mont Pèlerin Society im April 1947 zeigt. Gleichzeitig stellen die Ökonomen auch strategische Überlegungen an, welchen Vorteil eine Akzeptanz des Neoliberalismus durch den christlichen Glauben mit sich bringen würde. Karl Popper betont während der Diskussion die Eigenschaft des Liberalismus als „strong faith“ und Friedrich von Hayek fragt: „Does liberalism presuppose some set of values which are   35 Ebd., S. VIII. 36 Meyer und Lenel (1948): Vorwort, S. IX. 37 Lippmann (1937): Good Society, S. 191.

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commonly accepted as faith?“ Er argumentiert, dass der Antagonismus zwischen Liberalismus und der christlichen Kirche keine innere Notwendigkeit ist, die aus der Essenz des Liberalismus notgedrungen hervorgeht. Vielmehr sei der historische Antagonismus eine „accidental accretion of liberalism, rather than one of the essentials to liberalism.“ Nach dieser Ausführung zur Möglichkeit einer Annäherung an den christlichen Glauben durch gemeinsame Werte folgt die strategische Überlegung: „There is no chance of any extensive support for a liberal programme unless the opposition between liberals and Christians can somehow be bridged.“38 Die Wertedebatte wurde gleichzeitig eine Debatte der Positionierung und strategischen Kommunikation. Der Mensch als moralisches, zur Ratio befähigtes Wesen bleibt, trotz aller Erkenntnis, dass Ordnung und Wissen letztendlich menschliche Konstruktionen sind, auch für die Neoliberalen das Ziel, dem sich jedwede Wirtschaftsordnung verschreiben muss. Wenn nicht bestimmte Werte einer Ordnung ihren Sinn geben, dann kann theoretisch jede Art von Ordnung auf der Basis menschlichen Willens entstehen. Diese Grundannahme des „realism“, der als politische Theorie in den 30er und 40er Jahren entsteht, wird durch Henry Morgenthau wohl am besten auf den Punkt gebracht wenn er schreibt: „nations meet under an empty sky from which the Gods have departed“.39 Die frühen Neoliberalen akzeptieren sicherlich das „gemachte“ einer jeden Ordnung, dennoch geben sie sich nicht mit einer Wertebeliebigkeit zufrieden, sondern definieren einen Kanon, in dessen Sinne Wirtschaften und Gesellschaften „gemacht“ werden müssen. Der Marktrahmen muss in seiner Herleitung also einer Leitidee folgen, die Röpke als Wirtschaftshumanismus bezeichnete. Und die Politik innerhalb des Rahmens kann durchaus verschiedene Reformen und Gesetze umsetzen, die dennoch im Einklang mit der wertebasierten Grunddenkform des frühen Neoliberalismus steht. Laut Röpke sehen wir „wie der Neoliberale der Freiheit eine doppelte Schranke setzt: er betont die Notwendigkeit, mit sicherer und starker Hand einen Rahmen des freien Marktverkehrs zu schaffen und zu erhalten, andererseits aber ist er auch bereit, die Zweckmäßigkeit von bestimmten Eingriffen auf dem Markte selbst je nach der Eigenart des einzelnen Marktes […] zu prüfen.“ Geht es um die tatsächliche, praktische politische Umsetzung, kann ganz flexibel gehandelt und natürlich auch ganz trefflich gestritten werden. Denn jede politische Situation muss stets mit den Grundwerten abgeglichen werden. Ob, wie und in welchem Umfang dies am besten getan werden kann, ist Grundlage politischer Auseinandersetzung. So fährt auch Röpke fort: „Eine feste äußerste Grenze darf unter keinen Umständen überschritten werden: die durch den Preismechanismus geordnete und den Wünschen des Konsumenten gehorchende Wirtschaftsordnung darf nicht zu einer kollektivistischen werden.”40   38 Hayek (1947): Liberalism and Christianity. 39 Morgenthau (1948): Politics among Nations, S. 249. 40 Röpke (1950): Maß und Mitte, S. 144.

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Dieser Preismechanismus ist die conditio sine qua non der frühen Neoliberalen und die sogenannte Unvereinbarkeitslehre von Sozialismus und Freiheit, bei aller Anerkennung der sozialen Frage, ihre Energiequelle. Reformen können vom Staat vorgenommen, selbst Zölle erhoben werden.41 Formen der staatlichen Intervention können ebenso problemlos durchgeführt werden, wenn sie einem liberalen Grundskript folgen und nicht arbiträre Klientelförderung sind, vor allem aber muss Intervention die freie Bildung der Preise nicht behindern. Preise dürfen nicht vorgegeben werden, Stückzahlen der Produktion nicht bestimmt werden – und vor allem auch nicht vorgeschrieben werden, was produziert wird. Durch Steuern und finanzielle Anreize kann der Staat steuern, ohne direkt in den Preis einzugreifen, so das Argument, auch über Währungspolitik und Zölle kann der Markt beeinflusst werden. Lohnpolitik und Grundsatzentscheidungen zum Arbeitsrecht (Arbeitszeit, Arbeitssicherheit, etc.) sind ebenfalls Formen von Intervention, die einen klaren Einfluss auf den Markt haben, aber die Preisbildung dennoch nur indirekt beeinflussen. Innerhalb des Rahmens soll der Preismechanismus walten können. Nachfrage und Angebot dürfen bei diesem liberalen Interventionismus42 also in keiner Weise vorgegeben, lediglich stimuliert werden. So kann ein Arbeitsmarkt in bestimmten Bereichen geschützt werden, innerhalb des jeweiligen Marktes muss sich der Preis allerdings basierend auf den gesetzten Regeln frei bilden können.43 Welche Teile des Marktes vollkommen frei walten sollten, ist wiederum im politischen Dialog um das Gemeinwohl zu klären. Sollte beispielsweise eine Preisbindung bei Büchern bestehen, weil Zugang zu Bildung elementar für das Gemeinwohl ist? In welchen Bereichen der Gesellschaft kann der Markt wirken (und dies besser als der Staat) und in welchen nicht? . Was für das Gemeinwohl zuträglich ist, wird vom frühen Neoliberalismus cum grano salis mit dem Gegenteil von Vermachtung beantwortet. Wo immer sich die Möglichkeit ergibt, Macht in privater Hand zu monopolisieren, beginnt ein Abschied von den Grundlagen der guten Gesellschaft liberaler Eigenart. Jedwedes private Monopol ist somit zu vermeiden, da der Preismechanismus dadurch außer Kraft gesetzt wird. Das Monopolargument wird von den frühen Neoliberalen auch auf die Gewerkschaften angewandt. Grundsätzlich akzeptieren die frühen Neoliberalen die Gewerkschaften als soziale Kraft und als Interessenvertretung, aber, wie bei Unternehmen auch, es darf nicht zu einer zu starken Konzentration kommen, kein Monopolstatus einzelner Gewerkschaften erreicht werden. Mit diesem Argument der zu starken Vermachtung ziehen sie ab den 1970er Jahren gegen die Gewerkschaften ins Feld. Die soziale Frage beantwortet der frühe Neoliberalismus im Allgemeinen nicht mit reiner und vor allem nicht besonders aktiver Sozialpolitik, sondern mit einer Wirtschaftsordnung, innerhalb derer Sozialpolitik und sozial wirksame Wirtschaftspolitik bis zu einem gewissen Grad umgesetzt werden kann, die kein   41 Rueff (1939) : CIRL; Rueff (1946) : L’Ordre Social; Rueff (1948) : Colloque d’Avignon. 42 Rüstow (1932): Die staatspolitischen Voraussetzungen. 43 Rueff (1946): L’Ordre Social, S. 95–115.

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Mitglied der Gesellschaft im Stich lässt und in der jeder Bürger eine Chance zur individuellen Entfaltung hat und gleichzeitig eine Grundsicherung und -förderung erfährt. Sozialpolitik muss aber immer vom Grundsatz des gleichen Rechtes für alle hergeleitet werden, darf nicht in Klientelismus abrutschen. „Wahre“ Sozialpolitik ist nur durch allgemeingültige Regeln möglich und nachhaltig, so die Neoliberalen. Ein funktionierender Preismechanismus sei beispielsweise wahre Sozialpolitik, da eine nachhaltig prosperierende Gesellschaft entstünde, die dem Individuum alle Möglichkeiten eigener Entscheidungen und Wünsche lässt, wie es auch Jacques Rueff in seiner Epistel an die Dirigisten erklärte.44 Alexander Rüstow formulierte es folgendermaßen: „Und fast zur gleichen Zeit, ohne darüber gesprochen zu haben, kamen mein verstorbener Freund Eucken und ich darauf, dass es einen solchen dritten Weg geben müsse, und dass war eben der Weg des Neoliberalismus“, der sich durch „das Zusammenfallen von Einzelinteresse und Gesamtinteresse“ auszeichnet. Gleichzeitig muss, so Rüstow, eine strenge „Marktpolizei“ darauf achten, dass alle an Marktaktivitäten Beteiligten auch regelkonform handeln. „Aber damit ist es noch nicht getan. Denn es gibt eine große Reihe von Dingen, die dem Marktmechanismus unzulänglich, die aber von größter Wichtigkeit für die menschlichen Belange sind. Dazu gehört zum Beispiel der weite Bereich der Sozialpolitik.“ Wer sich, warum auch immer, nicht marktgemäß selber versorgen könne, erklärt Rüstow, dürfe auf keinen Fall links liegen gelassen und vergessen werden. „Diesen Menschen kann man nicht einfach mit Achselzucken begegnen, sondern man muß selbstverständlich, wenn man verantwortungsbewußt und human ist, etwas für sie tun. Und was da getan werden muß, das ist eben das, was wir heute Sozialpolitik nennen.“45 Bis zu einem gewissen Grad ging in diesem Bereich ja auch Friedrich Hayek mit, der soziale Maßnahmen für alle, die sich nicht adäquat am Markt beteiligen können, ebenfalls befürwortete.46 Während eine zu starke Politisierung des Marktes durch das Abgleichen mit dem Preismechanismus kontrolliert werden kann, baut der frühe Neoliberalismus einen zweiten Hauptpfeiler der liberalen Ordnung auf, den Rechtsstaat. Durch die Verschmelzung von Wirtschaft und Recht auf der Verfassungsebene ist nicht nur der Markt vor zu viel Politik sicher, sondern auch der Staat selbst. Der letzte Grund der frühen Neoliberalen ist außerpolitisch. Diese Grundkonstruktion enthält die kritische Selbstreflektion des Liberalismus, eine Absicherung gegen zu viel politische Einflussnahme auf die Wirtschaft sowie eine schützende Isolierschicht des Rechtsstaats vor der Politik. Die Grundnorm wird bewusst gesetzt und ist nur sehr schwer, wenn überhaupt, politisch zu verändern. Mit dem Setzen der Grundnorm sind die Neoliberalen natürlich nicht allein. Die Unverletzlichkeit des Menschen als ultimativer Bezugspunkt jeder Legitimation verbindet den frühen Neoliberalismus mit anderen humanistischen Weltanschauungen, vor allem mit dem sehr stark sozial denkenden New Liberalism – jenem englischen sozialen Liberalismus aus der Zeit vor   44 Rueff (1949): Êpitre aux Dirigistes, S. 49–61. 45 Alle vorhergehenden direkten Zitate aus Rüstow (1961): Paläoliberalismus, Kommunismus und Neoliberalismus, S. 67. 46 Hayek (1966): Principles of a liberal social order.

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dem Ersten Weltkrieg, der großen Einfluss auf die nachfolgende Entwicklung von Wohlfahrtsstaatlichkeit in liberalen Gesellschaften hatte und vor allem von Lloyd George politisch vorangetrieben wurde, aber auch vom jungen Winston Churchill, und vom jungen John Maynard Keynes, von William Beveridge sowie den politischen Ökonomen Leonard Trelawny Hobhouse und John Atkinson Hobson akademisch vorangetrieben wurde47 – sowie der Sozialdemokratie und dem demokratischen Sozialismus wie auch der katholischen Soziallehre, vor allem der Enzyklika Quadragesimo anno aus dem Jahr 1931 (zur vierzigjährigen Feier der ersten Enzyklika zur sozialen Frage von 1891), mit der die Kirche auf ihre Art auf die Weltwirtschaftskrise reagierte und lange in den katholischen politischen Milieus wirkte. Die Grundlagen einer neuen liberalen Ordnung, die auch das Soziale im Blick hat, wurden auf dem inzwischen bereits besser bekannten Walter Lippmann Colloquium48 vom August 1938 als Agenda des Liberalismus ausformuliert und von den Teilnehmern selbst, per Abstimmung,49 als Neoliberalismus bezeichnet, auch wenn viele diesen Begriff (aus ganz unterschiedlichen Gründen) ablehnten. 1.4 Der transnationale Dreiklang des Neoliberalismus Auch wenn es sicherlich nicht von der Hand zu weisen ist, dass der Ordoliberalismus eine spezielle deutsche Note hatte, so war seine Entwicklung in der Zwischenkriegszeit, wie auch Meyer und Lenel betonten, keineswegs nur eine nationale. Mit der Verankerung im Wertekanon, der von der menschlichen Unverletzlichkeit der Person, der menschlichen Würde, abgeleitet wurde, war der frühe Neoliberalismus dem Ordoliberalismus gleich, letzterer eine nationale Spielart eines transnationalen Themas. Und als solch deutscher Neoliberalismus wurde er auch wahrgenommen. Die Beziehung zwischen Preismechanismus, dem Rechtsstaat und der Grundnorm war ein transnationaler Grundakkord. Deren spezifische Umsetzung und auch die jeweilige nationalsprachliche Semantik indes blieb in den nationalen Debatten und Politikkulturen verhaftet. Dieser Grundakkord, auf dem Harmonien aufgebaut und improvisiert werden konnten, wird am deutlichsten durch die Agenda des Liberalismus des Lippmann Colloquiums von 1938, also noch vor dem Zweiten Weltkrieg, repräsentiert. Kurz zusammengefasst besteht diese Agenda aus fünf einander bedingenden Punkten: 1) eine liberale Gesellschaft kennzeichnet sich durch den Preismechanismus, dessen Funktionieren für den französischen Ökonom und späteren Berater de Gaulles, Jacques Rueff, synonym mit dem Erhalt von Zivilisation an sich war;50 2) der Staat muss eine rechtliche Ordnung garantieren, die unabhängig von Politik eine Herrschaft des Rechts gewährleistet, welche Märkte schützt   47 Freeden (1986): The New Liberalism: An Ideology of Social Reform. 48 Foucault (2006): Die Geburt der Biopolitik; Denord (2001): Aux origines du néo-libéralisme; Audier (2012): Néo-libéralisme(s); Reinhoudt und Audier (2017): The Walter Lippmann Colloquium. 49 Marlio (1939): CIRL. 50 Rueff (1948): Colloque d’Avignon.

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und Interventionen in den Markt rechtfertigt; 3) politischer Liberalismus muss das Recht als Grundstein jeder politischer Legitimation in Kraft setzen, seine Gesetze sind durch transparente Rechtsverfahren und Publizität zu legitimieren; 4) eine so gestaltete Ordnung ist die liberale Art und Weise, „das Soziale zu kontrollieren“, durch das Recht, nicht durch politische Willkür; 5) ein so gestalteter Staat ist schließlich im Recht, Steuern für bestimmte Zwecke zu erheben: für die nationale Verteidigung, für Sozialversicherung, für soziale Dienste, für Bildung und für wissenschaftliche Forschung.51 Der oben erwähnte neue liberale Akkord, der Dreiklang aus Grundnorm und ihren liberalen Hütern, dem Preismechanismus und der Herrschaft des Rechts, sowie diese Liste der Agenda des Liberalismus finden sich in vielen Sprachen und Diskursen wieder. Schon 1948 erklärte der französische Ökonom Louis Baudin auf einem Colloquium in Avignon, der schon 1938 beim Lippmann Colloquium dabei war, dass der Begriff des Neoliberalismus nicht mehr aus der Welt genommen werden könne, da er bereits weltweit bekannt sei – ebenso wie seine Bedeutung.52 Und nicht nur in wirtschaftstheoretischen Abhandlungen. Dies bedeutet wiederum keinesfalls, dass in allen Schattierungen der Argumente Konsens zwischen den Teilnehmern des Pariser Kolloquiums von 1938 erreicht wurde. Ganz im Gegenteil. Vor allem Ludwig von Mises bewegte sich nicht von einer klassischen, stark im Laissez-faire verhafteten Position fort, die sogar im Bereich der oben erwähnten Monopole als Vermachtungsproblem stets die Aufregung nicht verstand, sondern schlicht argumentierte, dass Macht letztendlich vom unabhängigen (als souverän konzipierten) Konsumenten ausginge, Monopole hin oder her. Ein Monopol „does not give the monopolist any advantage in selling his products,“53 meint von Mises. Letztendlich seien auch Monopole immer transitorischer Natur und der Konsument hätte immer das letzte Wort, nicht der Monopolist. Diese Meinung hatte von Mises ziemlich exklusiv. Die Ideen des Lippmann Colloquiums waren keineswegs nur dem inneren Kreis der Teilnehmer bekannt, vielmehr war es von einem transnational bestens vernetzten, ja tonangebenden Institut durchgeführt worden, dem oben erwähnten IIIC. Es wurde 1926 in Paris gegründet und hauptsächlich von der französischen Regierung und dem Völkerbund finanziert. In den frühen 1930er Jahren erweiterte die Rockefeller Foundation als Geldgeber und Organisator ihr Engagement und stieg in größerem Stil ein. Die Foundation finanzierte viele Forschungsinstitute und Projekte, die mit dem IIIC und vor allem der dem IIIC organisatorisch verbundenen International Studies Conference (ISC) zusammenhingen sowie den ebenso stark unterstützten makroönomischen Wirtschaftsforschungsinsituten. Das Genfer Graduate Institute for International Studies wurde zu einem wichtigen Knotenpunkt aufgebaut und war eine Art Hausinstitut des Völkerbundes.54   51 Lippmann in Rougier (1938): Le Colloque Lippmann. Siehe auch Schulz-Forberg (2014): Die Welt und wie sie sein sollte. 52 Baudin (1948): Colloque d’Avignon. 53 Von Mises (1949): Human Action, S. 177–178. 54 Rietzler (2011): Experts for peace; Riemens (2011): International academic cooperation.

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Das IIIC war das ausführende Organ des International Committee for Intellectual Cooperation (ICIC), welches wiederum 1922 gegründet wurde. Es hatte eine beratende Funktion für den Völkerbund und neben anderen berühmten Wissenschaftlern waren Albert Einstein und Marie Curie seine Mitglieder.55 Die meisten Teilnehmer 1938 in Paris waren in irgendeiner Form bereits vorher mit dem IIIC in Kontakt, sei es auf einer der jährlichen Konferenzen der International Studies Conference (ISC),56 sei es durch Expertisen oder wissenschaftliche Beratung. Diejenigen, die nicht vorher schon im Auftrag des IIIC und seiner institutionellen Partner geforscht oder agiert hatten, waren aus persönlichen Netzwerken rekrutiert, vor allem die französischen Teilnehmer wie beispielsweise Auguste Detœuf. Der war Industrieller aus der Energiewirtschaft und dem kreativ-kritischen Sammelbecken der Groupe x-crise verbunden.57 Für dieses schrieb er einen Abgesang des Kapitalismus und Liberalismus, der viel beachtet wurde.58 Louis Rougier, der vom IIIC beauftragte Organisator des Lippmann Colloquiums, brachte Detœuf zur Teilnahme, indem er ihm eine Kopie von Lippmanns Buch, frisch ins Französische übersetzt, überreichte. Er war von einer Wiederbelebung des Liberalismus nun wieder überzeugt und kam ins IIIC, das im Palais Royal, direkt gegenüber dem Louvre residierte.59 Detœuf war einer von Vielen, die nach einer Abkehr vom Liberalismus und einem Hinwenden zum Kommunismus oder Sozialismus, in den 30er Jahren wieder zum Liberalismus zurückkehrten. So wurden die ehemaligen Wiener Sozialisten Karl Popper und Friedrich Hayek führende liberale Denker. Auch Wilhelm Röpke, Raymond Aron, Robert Marjolin gehören in diese Aufzählung. Die Entwicklung der Sowjetunion unter Stalin schreckte ab. Andere Alternativen wie der Neosozialismus (vor allem in Frankreich), und der Faschismus, kamen für die meisten auch nicht in Frage. Und so sind die frühen Neoliberalen neben allem Bekenntnis zu einem neuen Liberalismus auch sehr selbstkritisch und zerpflücken den Liberalismus des 19. Jahrhunderts, der unter der Formel ‚laissez-faire‘-Liberalismus oder Manchester-Liberalismus zusammengefasst wurde. Sie taten dies nicht isoliert in einem Konferenzraum oder als kleine Gruppe von Ausgeschlossenen. Die Neoliberalen, welche die neue Doktrin in den 1930er Jahren entwickelten, waren Teil eines transnationalen Expertennetzwerks, das um den Völkerbund herum gebaut wurde und die besten Experten und Makroökonomen (eine neue Disziplin damals) miteinander verband. Eigentlich alle Neoliberalen der ersten Stunde waren anerkannte Experten der Konjunkturforschung, der business cycle analysis, und Spezialisten in Fragen nach weltwirtschaftlichen Zusammenhängen.60 Ihre Ergebnisse fanden eine transnationale Leserschaft, wurden meist mit Unterstützung   55 Laqua (2011): Transnational intellectual cooperation; Schulz-Forberg (2014b): 14–16. 56 Schulz-Forberg (2014a): Die Welt und wie sie sein sollte, S. 175–186; Schulz-Forberg (2020): Embedded Early Neoliberalism. 57 Siehe dazu den Überblick von Denord (2007): Néo-libéralisme version française, S. 78–87, und Dard (1995): Voyage à l’intérieur d’X-Crise. 58 Detœuf (1936): La fin du libéralisme. 59 Nachlass Louis Rougier. 60 Schulz-Forberg (2019a): Modern Economic Thought and the ‚Good Society‘.

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des Völkerbundes und der Rockefeller Foundation durchgeführt und verbreiteten sich in Form von Berichten, Analysen, Expertisen und Empfehlungen durch die Kommunikationskanäle des Völkerbundes. Viele waren auch bei den entscheidenden Ereignissen der Wirtschaftsgeschichte der Zwischenkriegszeit zumindest am Rande mit dabei, wie auf den großen Wirtschaftskonferenzen des Völkerbundes 1927 in Genf und 1933 in London. Der Young Plan von 1929/30 wurde von Experten des Völkerbundes ausgearbeitet. Unter anderem entstand durch den Plan, der – der erst 1930 endgültig ratifiziert und schon 1932 hinfällig wurde – die Bank für Internationale Zusammenarbeit (BIZ), die 1930 in Basel ihre Arbeit aufnahm. An dem großen wissenschaftlichen Bericht zur Weltwirtschaftskrise, The Course and Phases of the World Economic Depression (1931), der von Bertil Ohlin für den Völkerbund koordiniert wurde, arbeitete unter anderem Hayek als Direktor des Wiener Konjunkturforschungsinstituts mit.61 Während die Institutionenlandschaft einer globalen governance wuchs und sich besser abstimmte, kämpften die Experten schon bald gegen die große Wirtschaftskrise der frühen 30er Jahre. Der Liberalismus war in einer schweren Krise, sowohl der ökonomische als auch der politische. Aus diesem Bewusstsein der Krise heraus entsteht der Neoliberalismus. Während im Nationalen der Liberalismus auf dem Rückzug war, wurde in den transnationalen Organisationen und Expertennetzwerken seine Neuausrichtung diskutiert. Gegen Ende der 30er Jahre, während des Lippmann Colloquiums, ist für viele Teilnehmer auch ein möglicher kommender Krieg bereits stark im Bewusstsein. Die Agenda des Liberalismus, soweit denken einige sicherlich schon, ist auch eine mögliche Nachkriegsordnung. Die Protokolle und Ergebnisse des Colloquiums fristeten während des Krieges allerdings keineswegs ein Dasein in den Archiven, nur um dann nach dem Krieg mit der Gründung der Mont Pèlerin Society in einer Art Pfadabhängigkeit wiederbelebt zu werden.62 Es war letztendlich nur ein Ereignis innerhalb des Netzwerks, das sich seit den späten 1920er Jahren dezidiert mit Fragen nach wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ordnung und deren internationaler Wirkung und Nachhaltigkeit befasste. Im Kolloquium kamen diese Gedanken auf den Punkt und wurden sichtbar. Auch wenn einige Teilnehmer nicht zufrieden waren und die recht vage Natur der Agenda bemängelten, wie beispielsweise Alexander Rüstow bemerkte, dem vor allem in Bezug auf die politische Form der neuen Agenda Klarheit fehlte, da sich kein Bekenntnis zur Demokratie in ihr findet. Sie bahnten sich sehr schnell ihren Weg durch die institutionelle Landschaft, die mit dem IIIC und dem Völkerbund verbunden war. Waren die Teilnehmer des Lippmann Colloquiums internationaler Herkunft, so waren die meisten vor allem auch sehr gut vernetzt, sehr nah an politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern oder selber welche. So wie Roger Auboin, der 1938 leitender Manager der Bank für Internationale Zusammen  61 League of Nations (1931): The Course and Phases of World Economic Depression, S. 9. 62 Diese Rolle des Lippmann Colloquiums als Vorgeschichte zur Mont Pèlerin Gesellschaft (und nichts weiter) ist bisher dominant in der Literatur, angefangen bei Walpen (2004), über Mirowski und Plehwe (2009) und Burgin (2012), der allerdings schon ein wenig mehr kontextualisiert, dessen Fragestellung jedoch nicht bei den 30er Jahren verhaftet ist.

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arbeit (BIZ) war, oder Robert Marjolin, der eine brillante Karriere innerhalb dieses transnationalen Netzwerks hinlegte und nach dem Krieg der erste Direktor der 1948 gegründeten Organisation for European Economic Cooperation (OEEC, ab 1961 OECD) wurde. Beide zusammen waren federführend an Konstruktion und Durchführung der European Payments Union von 1950 bis 1958 beteiligt, welche die Konvertibilität der einzelnen europäischen Währungen herstellte.63 In gewisser Weise sind die Titel der beiden oben erwähnten Zeitschriften gemeinsam eine treffende Zusammenfassung der Denkrichtung des frühen Neoliberalismus. Die Tatsache, dass alles Politische menschlich ist und alles Menschliche letztendlich auch politisch, spiegelt sich in Il Politico wider und ORDO beschreibt die suchende Annäherung dieser von Menschen gemachten Ordnung an eine höhere Werteordnung. Mit der noch größeren Katastrophe des Zweiten Weltkriegs verschwand die Alternative einer faschistischen Ordnung als Grundlage für westliche Staaten. Auch wenn demokratische politische Systeme nun eindeutig bevorzugt wurden, fanden sich auch autoritäre Länder wie Spanien, Portugal und später auch Chile im westlichen Wirtschaftskomplex der Nachkriegsordnung. Portugals Estado Novo unter Salazar sogar übergangslos, beginnend mit dem Marshall Plan, der NATO und der Europäischen Zahlungsunion – Portugal war stets von Anfang an Mitglied (im Gegensatz zu Spanien). Schon Jacques Rueff hat in seinem Ordre Social von 1946 argumentiert, dass „Zivilisationen wahrer Rechte“ und solche „falscher Rechte“ existierten. Sie unterscheiden sich durch ihr Moralverständnis, ihre Rechtsordnung und ihre Haltung zum Preismechanismus. Autoritäre politische Regime können durchaus „Zivilisationen wahrer Rechte“ darstellen, so Rueff.64 Und Louis Baudin zählt 1953 sowohl Chile als auch Venezuela, die private Initiative innerhalb ihrer Entwicklungspolitik erlaubten, zu Ländern, mit neoliberaler Eigenart. Salazars Portugal, so Baudin, war sowieso innerhalb des neoliberalen Rahmens: „le néo-libéralisme règne au Portugal sous la forme d’un individualisme moralisé qui assure la primauté du spirituel, respect l’autonomie de la personne et maintient la famille.“ Zusätzlich sei der Estado Novo noch durch die Moral und das Recht begrenzt.65 Wenn also eine wertebasierte Rechtsordnung herrscht und der Preismechanismus sich umtreiben kann, dann muss die politische Form in den Augen einiger Neoliberaler nicht zwingend eine Demokratie sein. Hayek brachte es 1966 noch einmal sehr deutlich auf den Punkt: Liberalism and democracy, although compatible, are not the same. The first is concerned with the extent of governmental power, the second with who holds this power. The difference is best seen if we consider their opposites: the opposite of liberalism is totalitarianism, while the opposite of democracy is authoritarianism. In consequence, it is at least possible in principle that

  63 Schulz-Forberg (2019b): Crisis and Continuity. 64 Rueff (1946): L’Ordre Social, S. 568–582. 65 Baudin (1953): Nouveau Libéralisme, S. 169.

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a democratic government may be totalitarian and that an authoritarian government may act on liberal principles.66

2. DIE BESCHAFFENHEIT DES LETZTEN GRUNDES Die Wirtschaftstheorie des frühen Neoliberalismus ist also im Kern eine Werteordnung, die sich verschiedenen politischen Systemen anpassen kann. Und die neoliberalen Wirtschaftstheoretiker zeichnen sich ebenfalls durch ein Bekenntnis zum Werturteil aus, mal mehr, mal weniger ausdrücklich.67 In seiner kritischen Besprechung der sozialen Marktwirtschaft kam Hans-Jürgen Seraphim 1957 zu der Schlussfolgerung, dass die betonte Wertbezogenheit [...] für die Leitidee Soziale Marktwirtschaft in besonderem Maße kennzeichnend [ist]. [...] Die in der Gegenwart eindeutig feststellbare Hinneigung zur Werturteilsbejahung in der Nationalökonomie hat nicht zuletzt durch die Haltung der Neoliberalen entscheidende Auftriebe erhalten.68

Vieles erinnert beim frühen Neoliberalismus und seinen Äußerungen zum Rechtsstaat an Hans Kelsen. Interessanterweise war es auch Kelsen, der als einer der ersten überhaupt den Begriff des Neoliberalismus als Form der Selbstbezeichnung verwendete. In der Vorrede zu seiner Habilitation von 1911 bezeichnet Kelsen seine Theorie selbst als eine neoliberale. Er schreibt: „Da sich dabei meine Resultate mit manchen der älteren liberalen Staatstheorie berühren, so möchte ich mich auch keineswegs dagegen verwahren, wenn man etwa in meiner Arbeit ein Symptom jenes Neoliberalismus erblicken sollte, der sich in jüngster Zeit allenthalben vorzubereiten scheint.“69 Die Verschmelzung von Wirtschaft und Recht in der Grundnorm eines neoliberalen Staatsverständnisses scheint hier im Einklang zu sein mit Kelsens später ausformulierter Theorie der reinen Rechtslehre.70 Die Werteordnung des frühen Neoliberalismus hat durch sein klares Bekenntnis zum Rechtsstaat noch den Vorteil, dass mit dem Rechtsstaat nicht nur im Sinne Kelsens die Werte garantiert werden, sondern gleichzeitig die Marktwirtschaft durch den Rechtsstaat vor der Politik geschützt wird. Doch, wie gesagt, war diese Position der frühen Neoliberalen keineswegs von Anfang an so klar ausformuliert. In Auseinandersetzung mit faschistischer Wirtschaftstheorie sowie mit der rhetorisch prägnanten Kritik des Liberalismus als apolitische Ideologie durch Carl Schmitt bilden sich diese Positionen jedoch schon gegen Ende der Zwischenkriegszeit klarer heraus. Dabei waren einige Wirtschaftswissenschaftler der korporativen Wirtschaftsorganisation des Faschismus durchaus zugeneigt. Schon 1927 schreibt Ludwig von Mises, dass der Faschismus eine Art Brücke, eine Übergangslösung sei, und somit durchaus als Geschenk an die Zivilisation angesehen werden kann. „Es kann nicht geleugnet   66 67 68 69 70

Hayek (1966): Principles of a liberal social order, S. 601. Röpke (1944): Civitas Humana, S. 151–161. Seraphim (1957): Begriffs- und Wesensbestimmung der Sozialen Marktwirtschaft, S. 187. Kelsen (1911): Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Vorrede, S. XI. Kelsen (1934): Reine Rechtslehre.

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werden, dass der Faszismus und alle ähnlichen Diktaturbestrebungen voll von den besten Absichten sind und dass ihr Eingreifen für den Augenblick die europäische Gesittung gerettet hat.“71 Selbstverständlich konnte 1927 niemand ahnen, was gegen Ende der 1930er Jahre sich schon andeutete, nämlich dass ein weiterer großer Krieg kurz vor dem Ausbruch stand und zu welchen unsagbaren Verbrechen der Nationalsozialismus in der Lage ist. Doch die Ansicht, dass der Faschismus fast schon wie in antiken Modellen des Staatsformenwandels eine Art Diktatur auf Zeit war, die ihre Macht wieder an eine liberale Gesellschaft übertragen würde, war wohl schon in den späten 20er Jahren mindestens naiv. Eine gewisse grundsätzliche Distanz zur Demokratie, von Neoliberalen oftmals als reine Herrschaft der Masse konzipiert, ist durchaus zu verzeichnen, beispielsweise bei Röpke, der den Markt vor zu viel Demokratie schützen will, womit er eine zu starke, von Interessengruppen und dem Wunsch nach Gefälligkeiten für die Masse geleitete, heute wohl eher als populistisch bezeichnete Politik meinte. Überhaupt war ‚die Masse‘ etwas, was Neoliberalen anscheinend die Schauer über den Rücken laufen ließ. Leicht verführbar, Demagogen anheimfallend, psychologisch instabil – ein demokratischer ‚Massenstaat‘ hatte viele Gefahren in den Augen der frühen Neoliberalen. Kernpunkte der Diskussion um eine neue staatliche Ordnung in den 1930er Jahren waren der starke Staat, die Souveränität, mit dieser die letztendlichen Legitimationsquellen des Staates, dessen soziale Verantwortung für das Leben seiner Bürger sowie die Rolle der Wirtschaft im Verhältnis zum Staat, der als Regeln-setzender und intervenierender Akteur nicht mehr zu ignorieren ist, sondern neu zu definieren. Vor allem aber ging es um die Verortung des Politischen im Verhältnis zum Staat. Die anti-liberale Staatstheorie war zu Beginn der 1930er schon ein wenig weiterentwickelt als der frühe Neoliberalismus. Italienische Theoretiker hatten sie seit der Errichtung des faschistischen Regimes vorangetrieben und gegen Anfang und Mitte der 1930er Jahre in ein klar entwickeltes Konzept gegossen. Die faschistisch-korporative Staatsform sei in der Lage, die Ziele des Liberalismus auch tatsächlich politisch umzusetzen, so das Argument, denn der Liberalismus hätte zwar durchaus lobenswerte Ziele, aber durch sein Ablehnen des Politischen keinerlei Aussicht auf wirklichen Erfolg. Vor dem Abessinienkrieg von 1935, vor dem Zweiten Weltkrieg, vor dem Holocaust und nach dem Börsencrash von 1929 und dem Scheitern des Young Plans72 hatte der italienische Faschismus in den frühen 30er Jahren kurzzeitig seine international am ernsthaftesten rezipierte Phase als zumindest diskutierte Alternative zum alten Laissez-faire-Liberalismus – nicht nur in Europa.73 Italienische Diplomaten und Experten waren sehr aktiv innerhalb des Völkerbundes und propagierten ihre Staatsform als robuste Alternative,74 die letztend  71 Von Mises (1927): Liberalismus, S. 45. 72 Für eine neuere Darstellung der Zwischenkriegszeit in einem globalen Zusammenhang, der wirtschaftliche und politische Entwicklungen berücksichtigt, siehe Tooze (2014) The Deluge. 73 Framke (2013): Fascist Italy. 74 Tollardo (2016): Fascist Italy and the League of Nations, 1922–1935.

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lich das gleiche Ziel hätte, die gleiche Zivilisation bewahren wolle, individuelle Initiative und Verantwortung nicht überwinden wolle und auch Eigentum nicht kommunalisiere. Der Diplomat Giuseppe de Michelis entwickelte 1934 sogar eine faschistische internationale Theorie, die sich durch die Netzwerke des Völkerbundes verbreitete und wahrgenommen wurde.75 Kurz zuvor, 1932, war Italien das Gastgeberland für eine internationale Konferenz des IIIC zu dem Thema State and Economic Life. Die Konferenz fand in Mailand vom 23. bis zum 27. Mai statt und sie gab den italienischen Gastgebern die Gelegenheit, ihre Theorie selbstbewusst und im Dialog mit den liberalen Denkern Célestin Bouglé und Arnold Toynbee vorzutragen. Das korporative System des italienischen Faschismus wurde von Alberto de Stefani und Luigi Amoroso als eine neue Ordnung bezeichnet, die wirtschaftliche Kräfte führen kann, ohne die geistigen Kräfte zu schwächen, „upon which the progress of our civilization depends.“76 Ein Jahr später fand das Folgetreffen zu dem gleichen Thema vom 29. Mai bis zum 2. Juni in London statt. Mittlerweile war in Deutschland das Hitlerregime an der Macht und die Krise des Liberalismus noch weiter verschärft. Noch (genauer gesagt bis zum 14. Oktober 1933) war Nazi-Deutschland im Völkerbund und deutsche Delegierte in London dabei.77 Wieder war Luigi Amoroso unter den italienischen Vertretern. Und er war nun noch besser in der Lage, die faschistische Antwort auf die Krise auszudrücken. Drei Gründe gab Amoroso an, der im Übrigen zwar ein überzeugter Faschist war, aber gleichzeitig auch ein international anerkannter Wirtschaftswissenschaftler und von Ragnar Frisch und Joseph Schumpeter als Gründungsfellow für die Econometric Society schon 1931 auserkoren wurde.78 Die faschistische Überzeugung war kein Hinderungsgrund (anscheinend) innerhalb der Wirtschaftswissenschaften, so scheint es zumindest. Insgesamt waren fünf Italiener unter den ersten Fellows der Econometric Society – und Corrado Gini, glühender Faschist, hat noch heute großen Einfluss auf die Berechnung von Ungleichverteilung von Einkommen. Sein Gini-Koeffizient beeinflusst seit Jahrzehnten Berechnungen zur Einkommens- und Vermögensverteilung. 1931 half Gini, wie Hayek, Bertil Ohlin beim Verfassen des Berichts zur Weltwirtschaftskrise. Amoroso behauptete also 1933 voller Selbstbewusstsein, der Liberalismus sei darin fehlgeleitet zu glauben, dass ein freier Markt automatisch die beste Gesellschaft hervorbringe. „We see everyday that that is not true.“ Zweitens behaupte der Liberalismus, ein rationales System zu sein, das losgelöst aus seiner Vergangenheit zu verstehen sei, was für die geschichtsbesessenen Faschisten, die Faszination für das Machen der Geschichte durch die Tat entwickelten, von schier kindlicher Naivität zu sein schien. Drittens sei Liberalismus materialistisch und deterministisch.   75 Steffek (2015): Fascist Internationalism; Schulz-Forberg (2014): Die Welt und wie sie sein sollte. 76 De Stefani (1932): State and Economic Life, S. 35. 77 Später war auch weiterhin ein deutscher Teilnehmer als eingeladener Beobachter auf den IIICKonferenzen. Meist war dies der Jurist Friedrich Berber. Auch der Nationalökonom Carl Brinkmann war noch 1938 als Beobachter auf der IIIC-Konferenz in Prag. 78 Schumpeter und Frisch (September 1931): Memorandum, S. 3.

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„According to determinism, man is powerless in the presence of social difficulties, and Liberal agnosticism is based on the fundamental conception of that philosophic system, according to which man is the plaything of forces immeasurably greater than himself.“ Der materialistische Empirismus des Liberalismus wurde, so Amoroso weiter, im 20. Jahrhundert diskreditiert. Alle diese drei Grundannahmen des Liberalismus seien falsch. Heute lebe man in a century of will: the century in which, in the realm of history, dictators take charge; the cenury of authority. Our history is not the history of amorphous masses; it is the history of men of genius, of men who lead the masses. We are living in a political era. That is why Liberalism has been left behind.79

Das IIIC hatte nach London geladen und alles was Rang und Namen hatte im Bereich der Wirtschaftswissenschaft sowie der internationalen Theorie und Außenpolitik war bei dieser Konferenz anwesend, zumal sie nur kurz vor der offiziellen Londoner Weltwirtschaftskonferenz des Völkerbundes stattfand. Voller Selbstbewusstsein doziert Amoroso weiter, dass der Faschismus in keiner Weise die Klassiker Englands, Adam Smith und Ricardo, ignoriere oder gar ablehne, „but that, on the contrary, we take them as our point of departure, trying at the same time to fill in the gaps which they present.“ Man darf die Ziele des Liberalismus demselben nicht überlassen, so ließe es sich vielleicht am treffendsten auf den Punkt bringen.80 Das ließen die alten liberalen Großdenker Toynbee und Bouglé nicht unkommentiert und sie kritisierten Amorosos Vortrag und Ideen stark, vor allem Bouglé mit sehr viel Verve. Nach den beiden erhielt der promovierte Historiker und Heidelberger Professor für Nationalökonomie, Carl Brinkmann das Wort für die nationalsozialistische Delegation. Er reihte sich in die italienische Argumentation ein und wirft Toynbee und Bouglé vor, keinen eigenen Standpunkt zu haben, der in irgendeiner Weise neu ist, geschweige denn hilfreich. Er sagt vielmehr, dass es nun einmal unbestreitbar sei, dass there can be no economic laws which hold individual economic forces together, unless there is present a definite cultural, social and political background, a definitely social and political morality. These morals and this background are, for us, embodied in the State and the Nation, and nothing but the State and the Nation.81

Das Anerkennen des notwendigen Setzens eines letzten Grundes, einer Grundnorm, endet für das faschistische System wie es Brinkmann formuliert in der Anerkennung des Politischen als letztem Grund, des Politischen wie es durch Staat und Nation dargestellt und gewollt wird. Und nichts, was darüber hinaus geht und gleichzeitig auch anderen Nationen als eben dieser letzte Grund dienen könnte. Die Konsequenz, für Brinkmann, ist eine Trennung von Liberalismus und Demokratie. Of Democracy, I think it suffices to say in this connection that we are all Democrats, and that even in the old form of Liberalism there was a dictatorial phase. Every other form of political

  79 Amoroso (1933): State and economic life. 80 Amoroso (1933): State and Economic Life, S. 183–84. 81 Brinkmann (1933): State and Economic Life, S. 194.

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organisation too, like the Corporative State which Italy has already built up, and that which we are now trying to build up in Germany, is a Democracy. It has nothing to do with Liberalism; but we can claim the name Democracy for it.82

Diese nationalsozialistische Demokratie sei eine plebiszitäre und keine, die auf der von Brinkmann als Fiktion beschriebene, allgemeinen Wahl basierte.83 Brinkmanns Karriere nahm auch nach dem Zweiten Weltkrieg ungebrochen ihren Lauf. Er war nie Parteimitglied und von 1933 bis 1945 angeblich nur mit Sachthemen beschäftigt. Nach dem Krieg kamen Professuren und Mitgliedschaften in wissenschaftlichen Akadamien. In den 1930er Jahren sind seine Ausführungen jedoch schlicht und einfach klare Bekenntnisse zum Nationalsozialismus. Seine umfangreiche Korrespondenz mit Carl Schmitt weist ihn ebenfalls nicht unbedingt als glühenden Verfechter des Liberalismus aus – ganz im Gegenteil. Auf der Tagung in London 1933 ist seine Argumentation prägnant, das neue Regime wird von ihm als Fackelträger der Zivilisation im Angesicht eines schwächelnden, schwindenden Liberalismus verteidigt. Heidelberg war in der Weimarer Zeit ein wichtiges intellektuelles Zentrum, vor allem für liberale politische Theorie.84 Es war auch einer von wenigen Orten in Deutschland, von denen der Völkerbund und dessen IIIC ihre Expertise für deren Konferenzen und Projekte bezogen. Das System des IIIC funktionierte durch das Errichten von nationalen Komitees für internationale Zusammenarbeit, denen ausgewählte Forschungsinstitute und Universitäten angehörten. In Deutschland wurde diese Expertise neben Heidelberg auch von der privaten, 1920 gegründeten Deutschen Hochschule für Politik in Berlin angefragt. Neben der Freiburger Schule (die als solche ja erst während des Krieges bezeichnet wird) der Nationalökonomie tritt vor allem Heidelberg als wichtiges akademisches Zentrum für politische Theorie und Philosophie in der gesamten Zwischenkriegszeit in den Vordergrund. Hier kamen viele Fäden zusammen, viele Persönlichkeiten lernten sich kennen und blieben in Kontakt, auch über den Nationalsozialismus und den Krieg hinaus. Einer von Carl Brinkmanns Korrespondenzpartnern war wie gesagt Carl Schmitt, dessen Denken und Argumentation ihn stark beeinflusste, so beispielsweise in der Trennung von Liberalismus und Demokratie.85 Zum Korrespondentenkreis Schmitts gehörten auch der politische Theoretiker Carl Joachim Friedrich und Ökonomen wie Erwin von Beckerath und Alexander Rüstow. Friedrich und Rüstow distanzierten sich von Schmitt im Laufe der 30er Jahre, von Beckerath, dessen Bruder Herbert auch Mitglied der deutschen Delegation in Mailand 1932 war, blieb hingegen in engem Kontakt und informierte Schmitt recht detailliert, beispielsweise von seinem Besuch beim Wiener Zirkel von Ludwig von Mises („Von den Kollegen sah ich nur den Kreis der national-ökonomischen Gesellschaft. Es sind alte Liberale unter der Führung des Herrn von Mises, persönlich liebenswürdige und achtbare   82 83 84 85

Ebd., S. 195. Ebd., S. 200. Harrington (2016): German Cosmopolitan Social Thought. Vgl. Schmitt (1923): Die geistesgeschichtliche Lage.

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Gesellen.“86) oder von der Berufung Hans Kelsens, Schmitts intellektueller Erzfeind, an die Universität Köln („Kurz darauf kam die Berufung Kelsens nach Köln. Mag die Vorliebe des Ministeriums für diesen Mann auch noch so groß sein, der Ruf ist heute zu mindesten ein Anachronismus.“87). Von Beckerath, selber Professor für Nationalökonomie in Köln seit 1924, warb um Schmitt und setzte sich für seine Berufung nach Köln ein. Dieser kam auch, blieb allerdings nur ein Jahr, 1933, und kehrte wieder nach Berlin zurück, allerdings mit großen Karrieresprung, nämlich als Professor an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin und mit viel Lorbeer des Nazi-Regimes. Kelsen musste ins Exil nach Genf, wo er bis 1940 blieb. Schmitts Positionen zu den grundlegenden Fragen nach der Rolle des Staates im Verhältnis zur Politik waren allerdings nicht nur in den Heidelberger Kreisen bekannt. Sein Begriff des Politischen wurde beispielsweise zunächst als Vortrag an der Deutschen Hochschule für Politik im Mai 1927 gehalten. Erstmalig wurde der Aufsatz dann im von Emil Lederer herausgegebenen Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik im August 1927 veröffentlicht und war damit weithin sichbar.88 Schmitts besonderer intellektueller Gegner war eben Kelsen, dessen Rechtspositivismus, die vom Menschen gesetzte Grundnorm als außer-politische Werteposition im Verfassungsprozess, er nicht teilte. Im Begriff des Politischen verdeutlicht er diesen Unterschied, der sich auf die Position des letzten Grundes bezieht. Über das Verhältnis von Staat und Politik reflektierend schreibt Schmitt: „Im Allgemeinen wird ‚Politisch’ in irgendeiner Weise mit ‚Staatlich’ gleichgesetzt oder wenigstens auf den Staat bezogen.“ In einer typischen Gelehrtenfußnote führt er weiter aus, was er von Kelsens Position einer unpolitischen Grundnorm hält. Er unterstützt die Kritik Heinrich Triepels an einer „vorgeblich unpolitische(n), ‚rein’ rechtswissenschaftliche(n) Betrachtungsweise der Gerber-Labandschen Schule und den Versuch ihrer Weiterführung in der Nachkriegszeit (Kelsen).“ Daraufhin geht er in seiner Kritik noch weiter und meint: Doch hat Triepel den rein politischen Sinn dieser Prätention einer ‚unpolitischen Reinheit’ noch nicht erkannt, weil er an der Gleichung: politisch = staatlich festhält. In Wahrheit ist es [...] eine typische und besonders intensive Art und Weise, Politik zu treiben, daß man den Gegner als politisch, sich selbst als unpolitisch (d.h. hier: wissenschaftlich, gerecht, objektiv, unparteiisch usw.) hinstellt.89

Die menschliche Konstruktion eines letzten Grundes ist also immer eben eine Konstruktion und somit auch immer, in den Augen Schmitts, politisch. Im Anerkennen des Politischen als Grundlage einer positiven Theorie von Staat und Politik liegt ein Hauptargument gegen den Liberalismus, der, so Schmitt, das Politische stets negiert und apolitische Prozesse sowie Misstrauen und Vermachtung durch das Politische

  86 87 88 89

Beckerath an Schmitt (29. Juni 1932): Brief, Nachlass Carl Schmitt. Beckerath an Schmitt (29. August 1930): Brief, Nachlass Carl Schmitt. Schmitt (1932): Begriff des Politischen, Nachwort. Ebd., S. 20.

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kritisch sieht.90 Die innere Logik des Liberalismus treibe ihn dazu, stets nach Automatismen oder universellen und somit apolitischen Regeln zu suchen. Als weitaus wichtigster Fall eines autonomen Sachgebiets setzte sich aber die Selbständigkeit der Normen und Gesetze des Ökonomischen in unbeirrter Sicherheit durch. Daß Produktion und Konsum, Preisbildung und Markt ihre eigene Sphäre haben und weder von der Ethik noch von der Ästhetik, noch von der Religion und am allerwenigsten von der Politik dirigiert werden können, galt als eines der wenigen wirklich undiskutierbaren, unbezweifelbaren Dogmen dieses liberalen Zeitalters.91

Neben einer Kritik am pluralistischen Staat, der sich den Interessen einzelner Gruppen der Gesellschaft hingibt, kommt hier eine Kritik am naiven Glauben an den Laissez-faire Liberalismus zum Ausdruck. Beide Kritikpunkte werden von den frühen Neoliberalen durchaus geteilt. Rüstow bezieht sich positiv auf Carl Schmitt in seinem bekannten Vortrag auf der Dresdner Tagung des Vereins für Socialpolitik von 1932, wenn er den „Pluralismus“ diskreditiert und den Staat als Opfer von Interessen sieht und einen „starken Staat“ oberhalb der Wirtschaft fordert.92 Ebenso beinhaltet die Selbstkritik der frühen Neoliberalen die Erkenntnis, dass Wirtschaft und Recht eben nicht getrennt zu betrachten sind, dass eine Wirtschaftsordnung oder -verfassung notwendig ist. Es ist ihnen auch bewusst, dass dieses Verschmelzen ein zutiefst politischer Akt ist – an dessen Ende, oder eher Anfang, allerdings die Selbstbegrenzung des Politischen durch die Hinwendung zum Rechtsstaat steht und nicht das Verschmelzen von Staat und Politik. Sie wissen auch, dass diese Aufhebung der Trennung von Recht und Wirtschaft, dieses umfassende Staatsverständnis, ein bewusstes Schaffen von Identität ist, wie es in der italienischen faschistischen Theorie dialektisch als Schaffung einer neuen historischen Synthese dargelegt wird.93 Doch wo der Faschismus den politischen Willen als letzten Grund und den faschistischen Staat als mit den Einzelnen verschmolzen ansieht, sieht der frühe Neoliberalismus eine andere, liberale Form der Identität und einen weiterhin erhaltenen spannungsreichen Gegensatz zwischen Staat und Individuum. Sie gehen den Weg vom alten Liberalismus hin zum Faschismus nicht mit. Zumindest die meisten nicht. Ein durchaus prominenter Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft, ja der Erfinder des Begriffes selbst, Alfred Müller-Armack, der nach 1945 auch ein glühender Europäer wurde, fand 1933 in der faschistischen Carta del Lavoro von 1926 das ideale Vorbild einer „Wirtschaftsverfassung“94 und im faschistischen Staat ein Amalgam mit den ihn bevölkernden Individuen. „Die Freiheitsforderung, die im Liberalismus gegen den Staat geltend gemacht wurde, wird zu einer Forderung des Staates selbst.“95 Dieser neue Staat würde nun endlich dem „unausweichlichen   90 91 92 93 94 95

Ebd., S. 64. Ebd., S. 66–67. Rüstow (1932): Die staatspolitischen Voraussetzungen. Amoroso (1933): State and Economic Life. Müller-Armack (1933), Staatsidee und Wirtschaftsordnung, S. 46. Ebd., S. 10.

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Zwange zur Politik“ nachgeben und die liberale „Utopie einer unpolitischen Welt“ überwinden. Der Liberalismus: glaubte im 18. Jahrhundert die Wissenschaft als Mittel zur Lenkung der Welt erdacht zu haben. Dann kam die staatsfreie Tauschgesellschaft des englischen Liberalismus, und zuletzt knüpfte man seine Hoffnungen an das Heraufkommen eines technischen Zeitalters, welches mit seiner Herrschaft über die Materie die Politik als Mittel der Beherrschung von Menschen ablösen sollte.96

Gegen die unpolitischen Grundannahmen des Liberalismus erkennt der Faschismus das Abhandensein einer universellen Grundordnung. Müller-Armack setzt der „staatsfreien Entwicklungsutopie“ 97 des Liberalismus die Staatlichkeit alles Politischen entgegen. Im Definieren einer eigenen Position und Richtung, im Anerkennen der eigenen Geschichtlichkeit, dem eigenen Machen von Geschichte, liegt der Kern staatlicher Rechtfertigung, nicht in universellen Normen. „Die neue Herrschaft nimmt ihre Rechtfertigung aus ihrer geschichtlichen Aufgabe selbst,“98 behauptet Müller-Armack. Für ihn ist die Geschichte an sich zukunftsoffen und somit besteht die Notwendigkeit, die Zukunft, also seine eigene Geschichte, aus der Gegenwart heraus selbst zu bestimmen. „Geschichtlichkeit bedeutet das Fehlen einer objektiven Form, bedeutet den Zwang zur machtmäßigen Entscheidung gegen sich und andere, bedeutet Politik.“99 Während der frühe Neoliberalismus, wie schon geschrieben, einige Grundannahmen der anti-liberalen Kritik teilt, geht er nicht den Weg in das Allumfassende des Politischen mit, sondern erkennt sowohl das Politische an als auch die Rahmensetzung der Wirtschaftsform durch den Staat an, besteht aber vor allem darauf, das Politische gleichzeitig einzuhegen, zu zähmen, indem es ihm dauerhafte Werte, die in der Verfassung verankert sind, entgegenstellt und das Politische in einem bestimmten normativen Rahmen einhegt, dessen rote Linien nicht überschritten werden dürfen. Die Notwendigkeit eines wirtschaftlich agierenden und das Wirtschaftliche durch Regeln bestimmenden Staates wurde durch den frühen Neoliberalismus anerkannt. Politik sollte sich aber innerhalb eines stabilen Rahmens abspielen, ebenso wie die Wirtschaft. Der äußere Rahmen der wertebasierten Rechtsstaatlichkeit sollte unbedingt dauerhaft der letzte Grund für Legimitation staatlichen Handelns sein. Hier liegt die Wurzel der Differenz zu faschistischen und nationalsozialistischen Wirtschaftssystemen. Die grundsätzliche Kritik am Liberalismus führt nicht zu einer Abkehr, sondern zu einer Neubesinnung, einer Erneuerung des Liberalismus als Neoliberalismus, der durch den Dreiklang von humanistischen Grundwerten, Preismechanismus und Rechtsstaatlichkeit eine Isolierschicht gegenüber altem Liberalismus, Sozialismus und Nationalismus erhalten sollte. Alexander Rüstow deutet in Briefen an Carl Schmitt bereits 1930 an, dass es die Rolle des Rechts ist, Dauerhaftes darzustellen, während das Politische fluktuiert:   96 97 98 99

Ebd., S. 24. Ebd., S. 39. Ebd., S. 34. Ebd., S. 27.

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Freilich kann man einwenden, dass die Grenzen des juristisch Möglichen sich absolut bestimmen lassen und solange unverändert bleiben, als die betreffenden Verträge in Kraft sind, dass dagegen die Grenzen des politisch Möglichen in dauernder Veränderung begriffen sind und nur mit graduell abgestufter Wahrscheinlichkeit bestimmt werden können. Das ist richtig, ohne dass daraus folgen würde, dass politisch alles möglich wäre oder dass nicht trotz aller Veränderungen der Grenzen des politisch Möglichen bestimmte Bereiche dennoch dauernd außerhalb blieben.100

Rüstow bevorzugt also das rechtspositivistische, bewusste Setzen einer Grundnorm, die als zeitlos anerkannter Wert die Wurzel des competitive order sein soll und gleichzeitig die Annahme, dass ein Staat nicht ohne Partnerschaft mit anderen Staaten konzipiert werden könne. „Mir scheint nun“, schreibt er an Schmitt, dass auch der Gedanke eines demokratischen Menschheitsstaates eine nicht nur mögliche, sondern in gewisser Weise unvermeidliche Utopie darstellt. Jede Utopie hat ihre Gefahren, je größer sie ist, desto größere. Aber ich bin aufs innigste davon überzeugt, dass auf der Ebene des Politischen die Nation und der nationale Staat dem Wesen nach nichts Letztes darstellen, sondern dass, je mehr man Nation und nationalen Staat bejaht, desto mehr sich dem Bejahenden das Wesen ihrer Gliedhaftigkeit enthüllen muss. Der Satz des alten Wolff, dass, wer sein eigenes Volk wahrhaft liebt, in gleicher Weise auch die anderen Völker lieben müsse, scheint mir eine der tiefsten politischen Wahrheiten zu sein.101

Der frühe Neoliberalismus in Deutschland speist sich aus transnationalen Netzwerken und der spezifisch deutschen Erfahrung der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus sowie dem italienischen Faschismus – und natürlich aus der Erfahrung der Weltwirtschaftskrise. Die Auseinandersetzung mit der faschistischen Beanspruchung der Ziele bei radikal anderer staatlicher und gesellschaftlicher Umsetzung half den Neoliberalen beim Schärfen ihrer Argumente – sowohl national als auch auf transnationaler Ebene in den internationalen Organisationen. Sie gewannen die Einsicht, dass alles vom Menschen gemachte dennoch zu einer höheren, internationale Zusammenarbeit fördernden Ordnung hinstreben sollte und nicht im reinen Politischen als letztem Grund verhaftet bleiben darf. Nach dem Krieg findet sich nun auch Müller-Armack unter den Stimmen, die einen „demokratischen Menschheitsstaat“ (Rüstow) fordern. Ohne eine Spur von Selbstkritik in seinen Schriften schreibt er: Da auf Macht, wie wir sahen, im Politischen grundsätzlich nicht verzichtet werden kann, aber jede Macht die Gefahr ihres Missbrauchs in sich birgt, kann eine der Humanitas entsprechende Gestaltung des Staates nur in einer Ordnung geschaffen werden, die diese Gefahr minimalisiert durch ein bewusstes System der Gewaltenteilung und des Machtgleichgewichts.102

Die Positionen des frühen Neoliberalismus entstanden bereits in der Zwischenkriegszeit. Sie entwickelten sich in einem transnationalen institutionellen wie intellektuellen Zusammenhang und waren Teil eines den gesamten Völkerbund und seine Mitgliedsstaaten umfassenden Netzwerks, innerhalb dessen die Neugeburt der Außenpolitik im 20. Jahrhundert und die neue Disziplin der International   100 Rüstow an Schmitt (4. Juli 1930): Brief, Nachlass Alexander Rüstow. 101 Rüstow an Schmitt (5. Juli 1930): Brief, Nachlass Carl Schmitt. 102 Müller-Armack (1949): Diagnose unserer Gegenwart, S. 317.

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Studies ihren Platz fand.103 Der frühe Neoliberalismus entsteht entscheidend durch die Anregungen aus diesem Netzwerk, aus dem Dialog der Akteure, den Fragestellungen, die vom IIIC in das Netzwerk eingegeben werden sowie den jeweiligen nationalen Verhaftungen, Traditionen und Semantiken. Er war gleichzeitig national und transnational, keineswegs hegemonisch innerhalb der Netzwerke, doch hielt er eine starke Position inne, die politischen und intellektuellen Einfluss ausübte – und einen großen Beitrag sowohl zur Staatsbildung der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg als auch zum Aufbau internationaler Organisationen leistete. Entstanden war er in der Auseinandersetzung mit der eigenen Krise des Liberalismus, dem Widerstand gegen mögliche kollektivistisch-basierte Alternativen – und in Abgrenzung zu den Schlussfolgerungen und Lösungen, die der Faschismus und der Nationalsozialismus aus der dem frühen Neoliberalismus gleichen Kritik am Laissez-faire zogen. Entscheidend für die Entwicklung des Neoliberalismus war aber vor allem auch das Vorhandensein des vom Völkerbund etablierten Netzwerkes aus Institutionen, Akteuren und Ideen, die sich mit Fragen nach der besten globalen Ordnung beschäftigten. LITERATUR Audier, Serge: Le Colloque Lippmann. Aux origines de néo-libéralisme, Lormont 2008. Ders.: Néo-libéralisme(s). Une archéologie intellectuelle, Paris 2012. Baudin, Louis: L’Aube d’un nouveau libéralisme, Paris 1953. Beckerath, Erwin von: Brief an Carl Schmitt (29. August 1930), Nachlass Carl Schmitt, NordrheinWestfälisches Hauptstaatsarchiv Duisburg. Ders.: Brief an Carl Schmitt (29. Juni 1932), Nachlass Carl Schmitt, Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Duisburg. Böhm, Franz: Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung, Stuttgart und Berlin 1937. Burgin, Angus: The Great Persuasion. Reinventing Free Markets since the Depression, Cambridge, MA 2012. CIRL. Centre International d’études pour la rénovation du libéralisme, Le néo-libéralisme, Diskussion zur Inauguration des CIRL am 8. März 1939, abgedruckt in Les Essais. Cahiers bimestriels, Nancy 1961. Cockett (1994): Thinking the Unthinkable. Think tanks and the economic counter-revolution, 1931– 1983. London, 1994. Colloque d’Avignon. Konferenz zum Neoliberalismus, 1.–3. April 1948, Akten im Nachlass Louis Rougier, Dossier Colloque d’Avignon. Dard, Olivier: Voyage à l’intérieur d’X-crise. In: Vingtième Siècle 47/1 (1995), S. 132–146. Denord, François: Aux origines du néo-libéralisme en France: Louis Rougier et le Colloque Walter Lippmann de 1938. In: Le Mouvement Social 195 (2001), S. 9–34. Ders.: Néo-libéralisme version française. Histoire d’une idéologie politique, Paris 2007. Detœuf, Auguste: La fin du libéralisme, Paris 1936. Djelic, Marie-Laure / Quack, Sigrid (Hrsg.): Transnational Communities. Shaping Global Economic Governance, Cambridge 2010.

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Hagen Schulz-Forberg

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Früher Neoliberalismus oder der letzte Grund

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AUTORINNEN UND AUTOREN Boris Barth ist Historiker und Professor am Institut für Internationale Studien (IMS) der Karlsuniversität Prag. Bernhard H. Bayerlein ist Historiker und Professor am Institut für soziale Bewegungen an der Ruhr-Universität Bochum. Rainer Behring ist Historiker und Lehrbeauftragter am Institut für Geschichtswissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Andreas Braune ist Politikwissenschaftler und stellvertretender Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Stefan Breuer ist Soziologe und Professor i. R. an der Universität Hamburg. Michael Dreyer ist Politikwissenschaftler und Professor für politische Theorie und Ideengeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er ist Vorsitzender des Weimarer Republik e.V. und Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik an der Friederich-Schiller-Universität Jena. Florian Greiner ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Augsburg. Roman Köster ist Historiker und vertritt zur Zeit die Professur am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München. Markus Lang ist Politikwissenschaftler und freier Autor, Übersetzer und Wissenschaftler mit Wohnsitz in Chile. Wolfgang Michalka ist Historiker und war bis zu seinem Ruhestand Leiter der Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte im Schloss Rastatt, einer Außenstelle des Bundesarchivs, und Honorarprofessor am Institut für Geschichte der Universität Karlsruhe. Elisabeth Piller ist Historikerin und arbeitet in einem vom Norwegian Research Council geförderten Forschungsprojekt an der Universität Oslo. Karl-Heinrich Pohl ist Historiker und emeritierter Professor des Historischen Seminars der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

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Autorinnen und Autoren

Bernhard Roscher ist Rechtswissenschaftler und stellvertretender Geschäftsführer der Max Weber Stiftung. Hagen Schulz-Forberg ist Historiker und Associate Professor an der School of Culture and Society der Universität Aarhus. Gerhard Wegner ist Wirtschaftswissenschaftler und Professor für Institutionenökonomie und Wirtschaftspolitik an der Universität Erfurt. Jakob Zollmann ist Historiker und Rechtswissenschaftler und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am „Center for Global Constitutionalism“ des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.

Mit dem Ersten Weltkrieg endete die internationale Ordnung des 19. Jahrhunderts. Für Optimisten war nach den Erfahrungen des Weltkrieges die Zeit gekommen, Waffengewalt als Mittel der Politik auszuschließen. Die Realität aber sah ernüchternd aus: ökonomische Verwerfungen, fortgesetzte Kriege an den Rändern Europas und ein Friedensschluss, der für viele Beteiligte den Keim neuer Konflikte in sich trug. Doch auf dem Wege der Verständigung fand man Stück für Stück zueinander und die Konturen einer neuen, multilateralen Weltordnung wurden sichtbar. Trotzdem blieben Nationalismus und Autoritarismus, ökonomische Krisen und Misstrauen große Hindernisse. Der Liberalismus und seine Vorstellungen einer Völkerrechts- und Weltwirtschaftsordnung gerieten in eine existentielle Krise, die durch alternative Ordnungsentwürfe von links und rechts verschärft wurde. Die Autorinnen und Autoren zeichnen sowohl dieses Ringen um eine politische, völkerrechtliche und ökonomische Neuordnung der internationalen Beziehungen nach, als auch den Versuch der deutschen Außenpolitik, ihren neuen Platz in der Welt zu finden.

ISBN 978-3-515-12676-2

9 783515 126762

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag