Große Erwartungen - 1919 und die Neuordnung der Welt 9783110653359, 9783110624298

A Publication of the Historisches Kolleg The Paris Peace Conference was a unique moment of global consolidation. Poli

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German Pages 361 [372] Year 2023

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Verzeichnis der Abkürzungen
Einleitung
Die Konkurrenz der Versprechen. Globale Krisenwahrnehmungen und Ordnungsvisionen im langen Nachkrieg seit 1918
Utopien und Übergänge seit 1917
Lenin und Wilson. Ein welthistorischer Vergleich
„We are not internationalists. We are American nationalists“. Woodrow Wilson und das Scheitern des Wilsonianism in den USA
Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg. Die Kontinuität der Gewalt in Ostmittel- und Südosteuropa über das Jahr 1918 hinaus
Die Weltanschauung der nationalen Widerstandsbewegung im Osmanischen Reich der Nachkriegszeit
Varianten globaler Erwartungen und Ermächtigungen
Große Skepsis. Lateinamerikanische Zukunftserwartungen bei Kriegsende 1918/19
„Den anglo-amerikanisch zentrierten Pazifismus beseitigen!“. Erwartungen an die Nachkriegszeit in Japan und das Scheitern des Wilsonian Moment in Ostasien, 1918–1920
Ermächtigungsfrieden oder Ernüchterungserlebnis? 1919 aus afrikanischer und panafrikanistischer Sicht
Völkerrecht, Sicherheit und Zugehörigkeit als neue Herausforderungen
Vertrag und Diktat. Der Pariser Friedensschluss von 1919/20 und das Völkerrecht
Keine Pax Atlantica. Das Ringen um eine atlantische Friedens- und Sicherheitsordnung – ein Schlüsselproblem der Neuordnungsprozesse von 1919
Erwartungen und Enttäuschungen. Staatenlosigkeit als Ausdruck einer transnationalen Semantik von Zugehörigkeit nach 1918
Demokratie als Versprechen und Krisenerfahrung
Ethnisierungen und die Krise der europäischen Demokratien nach 1918/19
„Siegeszug“ der „Weltdemokratie“. James Bryce, Ernst Troeltsch und die transatlantische Diskussion um die globale und soziale Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg
Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren
Personenregister
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Große Erwartungen - 1919 und die Neuordnung der Welt
 9783110653359, 9783110624298

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Große Erwartungen – 1919 und die Neuordnung der Welt

Schriften des Historischen Kollegs Herausgegeben von Hartmut Leppin Kolloquien 100

Große Erwartungen – 1919 und die Neuordnung der Welt

Herausgegeben von Jörn Leonhard Redaktion: Jörn Retterath

Schriften des Historischen Kollegs herausgegeben von Hartmut Leppin in Verbindung mit Florian Albert, Birgit Emich, Ute Frevert, Joël Glasman, Julika Griem, Anke Hilbrenner, Bernhard Löffler, Frank Rexroth, Markus Schwaiger, Reinhard A. Stauber und Willibald Steinmetz Das Historische Kolleg fördert im Bereich der historisch orientierten Wissenschaften Gelehrte, die sich durch herausragende Leistungen in Forschung und Lehre ausgewiesen haben. Es vergibt zu diesem Zweck jährlich bis zu drei Senior Fellowships und bis zu drei Junior Fellowships sowie alle drei Jahre den „Preis des Historischen Kollegs“. Die Senior Fellowships, deren Verleihung zugleich eine Auszeichnung für die bisherigen Leistungen darstellt, sollen den berufenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern während eines Kollegjahres die Möglichkeit bieten, frei von anderen Verpflichtungen eine größere Arbeit abzuschließen. Professor Dr. Jörn Leonhard (Freiburg i. Br.) war – zusammen mit Professor Dr. Hubertus Jahn (Cambridge/ UK), Dr. David Kuchenbuch (Gießen), Dr. Stefanie Middendorf (Halle-Wittenberg), Professor Dr. Benjamin Scheller (Duisburg-Essen) und Dr. Korinna Schönhärl (Duisburg-Essen) – Fellow des ­Historischen Kollegs im Kollegjahr 2016/2017. Den Obliegenheiten der Fellows gemäß hat Jörn ­Leonhard aus seinem Arbeitsbereich ein Kolloquium zum Thema „Große Erwartungen – 1919 und die Neuordnung der Welt“ vom 25.–27. Januar 2017 im Historischen Kolleg gehalten. Die internationale Tagung wurde mit Mitteln der Fritz Thyssen Stiftung gefördert. Die Ergebnisse des Kolloquiums werden in diesem Band veröffentlicht. Das Historische Kolleg wird seit dem Kollegjahr 2000/2001 – im Sinne einer Public-private-Partnership – in seiner Grundausstattung vom Freistaat Bayern finanziert, die Mittel für die Stipendien kamen bislang unter anderem von der Fritz Thyssen Stiftung, dem Stiftungsfonds Deutsche Bank, der Gerda Henkel Stiftung, der C.H.Beck Stiftung und dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft. Träger des Historischen Kollegs, das vom Stiftungsfonds Deutsche Bank und vom Stifterverband errichtet und zunächst allein finanziert wurde, ist die „Stiftung zur Förderung der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und des Historischen Kollegs“. Jörn Leonhard ­hatte im Kollegjahr 2016/2017 das Stipendium des Instituts für Zeit­geschichte München–Berlin beim ­Historischen Kolleg inne. Historisches Kolleg Kaulbachstraße 15, D-80539 München Fax: +49 (0) 89 2866 3863 Tel.: +49 (0) 89 2866 380 E-Mail: [email protected] www.historischeskolleg.de ISBN 978-3-11-062429-8 ISBN (PDF) 978-3-11-065335-9 ISBN (EPUB) 978-3-11-064931-4 Library of Congress Control Number: 2023932800 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Coverfoto: Frauen bei der Reinigung und Ausbesserung von Teppichen im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles, in Vorbereitung auf die Unterzeichnung des Vertrags von Versailles im Juni 1919 © Private Collection Roger-Viollet, Paris/Bridgeman Images Satz: Typodata GmbH, Pfaffenhofen/Ilm Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Verzeichnis der Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Einleitung Jörn Leonhard Die Konkurrenz der Versprechen. Globale Krisenwahrnehmungen und Ordnungsvisionen im langen Nachkrieg seit 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Utopien und Übergänge seit 1917 Gerd Koenen Lenin und Wilson. Ein welthistorischer Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Manfred Berg „We are not internationalists. We are American nationalists“. Woodrow Wilson und das Scheitern des Wilsonianism in den USA . . . . . . . . . . 51 Jochen Böhler Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg. Die Kontinuität der Gewalt in Ostmittel- und Südosteuropa über das Jahr 1918 hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Erik-Jan Zürcher Die Weltanschauung der nationalen Widerstandsbewegung im Osmanischen Reich der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Varianten globaler Erwartungen und Ermächtigungen Stefan Rinke Große Skepsis. Lateinamerikanische Zukunftserwartungen bei Kriegsende 1918/19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

VI

Inhalt

Jan Schmidt „Den anglo-amerikanisch zentrierten Pazifismus beseitigen!“. Erwartungen an die Nachkriegszeit in Japan und das Scheitern des Wilsonian Moment in Ostasien, 1918–1920 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Florian Wagner Ermächtigungsfrieden oder Ernüchterungserlebnis? 1919 aus afrikanischer und panafrikanistischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Völkerrecht, Sicherheit und Zugehörigkeit als neue Herausforderungen Marcus M. Payk Vertrag und Diktat. Der Pariser Friedensschluss von 1919/20 und das Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Patrick O. Cohrs Keine Pax Atlantica. Das Ringen um eine atlantische Friedens- und Sicherheitsordnung – ein Schlüsselproblem der Neuordnungsprozesse von 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Kathrin Kollmeier Erwartungen und Enttäuschungen. Staatenlosigkeit als Ausdruck einer transnationalen Semantik von Zugehörigkeit nach 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Demokratie als Versprechen und Krisenerfahrung Boris Barth Ethnisierungen und die Krise der europäischen Demokratien nach 1918/19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Tim B. Müller „Siegeszug“ der „Weltdemokratie“. James Bryce, Ernst Troeltsch und die transatlantische Diskussion um die globale und soziale Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

Vorwort Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis eines Kolloquiums, das im Januar 2017 am Historischen Kolleg in München stattfand. Unter dem Titel „Große Erwartungen – 1919 und die Neuordnung der Welt“ versammelte es hochkarätige Expertinnen und Experten, um aus einer international vergleichenden Perspektive auf die Ansätze zu einer neuen internationalen Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg zu blicken. Dazu diente das Jahr 1919 als Chiffre – im Bewusstsein von ­Vorläufen und Eigenzeiten und verschieden langen Wirkungsgeschichten. Die unter­schiedlichen Themen, welche die Tagung prägten und nun den Band kennzeichnen, reichen von den spannungsreichen Übergängen zwischen Krieg und Nachkrieg seit 1917 über globale Varianten von Erwartungen und Ermächtigungen sowie Völkerrecht, Sicherheit und Zugehörigkeit als neue Herausforderungen bis hin zu den Chancen und Krisenerfahrungen der Demokratie seit 1918. Die Tagung ermöglichte das Historische Kolleg, wo ich im akademischen Jahr 2016/2017 als Senior Fellow und Stipendiat des Instituts für Zeitgeschichte München–Berlin forschen durfte. Aus diesem Fellowship ging meine Publikation „Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923“ hervor, die im ­September 2018 im C.H.Beck Verlag München erschien. Ich danke dem Historischen Kolleg, dem Institut für Zeitgeschichte sowie der Fritz Thyssen Stiftung Köln, die zusätzliche Mittel für die Tagung bereitgestellt hat. Zum Erfolg des Kolloquiums haben alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer beigetragen: als Referierende, Kommentierende und schließlich als Autorinnen und Autoren der Beiträge dieses Bandes. Ihnen gilt mein besonderer Dank ebenso wie Christina Ehemann und Monika Klinger für Korrekturlesungen sowie vor allem Jörn Retterath für die Organisation der Tagung, das sorgfältige Lektorat und die geduldige Begleitung des Bandes bis zum Erscheinen. München, im Januar 2023 

https://doi.org/10.1515/9783110653359-201

Jörn Leonhard

Verzeichnis der Abkürzungen AA AAGHG ADAP AFL

African Affairs Anales de la Academia de Geografía e Historia de Guatemala Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945 American Federation of Labor („Amerikanische Arbeiterföderation“) AfS Archiv für Sozialgeschichte AHR The American Historical Review AH Acta Histriae AHS African Historical Studies AHUK Acta Historica Universitatis Klaipedensis Annuaire de l’Institut de Droit International AIDI AJIL American Journal of International Law AJS American Journal of Sociology AN Archives Nationales, Paris APSR American Political Science Review AQ American Quarterly Art. Artikel BArch Bundesarchiv bes. besonders BDIC Bibliotheque de Documentation Internationale, Paris-Nanterre Boletin del lnstituto de Historia Argentina y Americana BIHAAER „Dr. Emilio Ravignani“ BJOAF Bochumer Jahrbuch zur Ostasienforschung Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte BJOG Bl. Blatt British Library, London BL CAB Cabinet Office Files Centre d’Archives d’Outremer CAOM Cahiers d’Etudes Africaines CEA CEH Contemporary European History CH Current History CROM Confederación Regional Obrera Mexicana („Regionale Arbeiterkonföderation Mexikos“) ČSR Československá republika (Tschechoslowakische Republik) Diplomatic History DH DJZ Deutsche Juristen-Zeitung https://doi.org/10.1515/9783110653359-202

X

Verzeichnis der Abkürzungen

DNS Desoxyribonukleinsäure Dok. Dokument Displaced Person DP DS Diplomacy & Statecraft EA Erstauflage EAS Europe-Asia Studies EEPS East European Politics and Societies and Cultures East European Quarterly EEQ EHQ European History Quarterly EJIL European Journal of International Law ERS Ethnic and Racial Studies FAO Food and Agriculture Organization of the United Nations (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen) FOCh Federación Obrera de Chile („Arbeiterföderation von Chile“) FOIS Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte FRUS PPC Papers Relating to the Foreign Relations of the United States. The Paris Peace Conference, 1919 Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische So­ GG zialwissenschaft GUSC Georgetown University Special Collections H & M Hommes & Migrations H & T History and Theory HJ The Historical Journal IJPL Italian Journal of Public Law ILO International Labour Organization (Internationale Arbeits­ organisation) IMRO Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation Indes Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft International Organization IO International Review of Social History IRSH ISQ International Studies Quarterly JAfH The Journal of African History JAmH The Journal of American History JbzLF Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung Journal of Contemporary History JCH JEAS Journal of Eastern African Studies JGAPE Journal of the Gilded Age and the Progressive Era JGH Journal of Global History JILP New York University Journal of International Law and Politics JHIL Journal of the History of International Law JJS Journal of Japanese Studies JMEH Journal of Modern European History

Verzeichnis der Abkürzungen

XI

JNH Journal of Negro History JS Japanese Studies Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts JSDI JSH Journal of Social History KEF Komitee für Einheit und Fortschritt Komintern Kommunistische Internationale Kritika Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History Library of Congress, Washington, D.C. LC LNTS League of Nations Treaty Series LNU League of Nations Union LSE London School of Economics MAH Modern American History MD Manuscript Division MEA Archiv des französischen Außenministeriums, Paris MG Maschinengewehr MN Monumenta Nipponica NA National Archives, USA NCBWA National Congress of British West Africa NL Nachlass NOAG Nachrichten der Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens NYT The New York Times o. O. ohne Ort P & P Past and Present PA-AA Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes PAFL Pan-American Federation of Labor („Panamerikanischen Arbeiterföderation“) PHR Pacific Historical Review p. m. post meridiem Political Science Quarterly PSQ The Papers of Woodrow Wilson PWW RdC Recueil des Cours REMMM Revue des Mondes Musulmans et de la Méditerranée REMS Revista de Estudios Marítimos y Sociales RG Record Group RGBl. Reichsgesetzblatt RHMC Revue d’histoire moderne et contemporaine RI Relations internationales ROMM Revue de l’Occident Musulman et de la Méditerranée SHS Država Slovenaca, Hrvata i Srba („Staat der Slowenen, Kroaten und Serben“) TCSPS Transactions of the Charles S. Peirce Society TNA The National Archives, Kew

XII UAA

Verzeichnis der Abkürzungen

University of Massachusetts Amherst Libraries, University Archives undat. Undatiert U. N. I. A. Universal Negro Improvement Association UNO United Nations Organization UNOG United Nations Office at Geneva/League of Nations Archive USA United States of America (Vereinigte Staaten von Amerika) Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte VfZ VLR Villanova Law Review VV Versailler Vertrag WIH War in History WP World Politics YLJ The Yale Law Journal YUL Yale University Library Z’Flucht Z’Flucht. Zeitschrift für Flucht- und Flüchtlingsforschung ZF Zeithistorische Forschungen ZfG Zeitschrift für Geschichtswissenschaft ZgS Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte ZNR ZÖR Zeitschrift für öffentliches Recht

Einleitung

Jörn Leonhard Die Konkurrenz der Versprechen Globale Krisenwahrnehmungen und Ordnungsvisionen im langen Nachkrieg seit 1918 Einleitung: Ein Denkmalsturz in Peking Der Zhongshan-Park liegt im südwestlichen Teil des alten Kaiserpalasts in Peking und erinnert an den wichtigsten Führer der antimonarchischen Revolution von 1911, Sun Zhongshan (Sun Yat-sen). Betritt man den Park von Süden her durch die alten Torgebäude, so fällt ein großer Marmorbogen auf, der heute den Namen „Friedensbogen“ trägt. Die Geschichte dieses Bogens spiegelt exemplarisch Versprechen, Hoffnungen, Enttäuschungen und die Suche nach Alternativen wider, die den Beginn des 20. Jahrhunderts kennzeichneten und die sich am Ende des Ersten Weltkriegs auf dramatische Weise beschleunigten. Nach der Ermordung des deutschen Gesandten Clemens von Ketteler während des Boxeraufstands am 20. Juni 1900 war die Errichtung eines Sühnedenkmals von deutscher Seite als Vorbedingung für die Friedensverhandlungen mit China gefordert und im Januar  1903 mit der Fertigstellung eines Marmorbogens, samt Inschriften Wilhelms II. und des chinesischen Kaisers, erfüllt worden.1 1911 wurde China Republik und hielt nach Ausbruch des Weltkriegs zunächst an seiner Neutralität fest. Im Januar  1917 schlug die republikanische Regierung Chinas dem Deutschen Reich vor, die bisherige durch eine neue Inschrift zu ersetzen, die auf die Freundschaft zwischen Deutschland und China Bezug nehmen sollte. Während man auf deutscher Seite den Vorschlag billigte, um den Neutralitätskurs ­Chinas zu unterstützen, zwang das 1914 auf der Seite der Alliierten in den Krieg eingetretene Japan die Regierung in Peking im März  1917, die diplomatischen 1 Vgl.

im Folgenden Jörn Leonhard: Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918– 1923. München 22019, S. 355–359; Herbert Butz: Kniefall und Geschenke. Die Sühnemission des Prinzen Chun in Deutschland. In: Hans-Martin Hinz/Christoph Lind (Hg.): Tsingtau. Ein Kapitel deutscher Kolonialgeschichte in China 1897–1914. Berlin 1998, S. 173–189; Rainer Schwarz: Sai Jinhua und das Ketteler-Denkmal. Widerlegung einer absurden Legende. In: NOAG 183–184 (2008), S. 149–166, hier: S. 161 f.; Klaus Mühlhahn: Zwischen Sühne und nationaler Schande. Die Sühnebestimmungen des Boxerprotokolls 1901 und der Aufstieg des chinesischen Nationalismus. In: Susanne Kuss/Bernd Martin (Hg.): Das Deutsche Reich und der Boxeraufstand. München 2002, S. 245–270; Dirk van Laak: Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert. München 2005, S. 78 f. https://doi.org/10.1515/9783110653359-001

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Jörn Leonhard

Beziehun­gen zum Deutschen Reich abzubrechen und Mitte August in den Krieg ­gegen Deutschland einzutreten.2 Der Sieg der Alliierten im November 1918 löste auch in Peking eine Welle emotionaler Demonstrationen aus. Über 30 000  Menschen versammelten sich am 17. November  1918 vor dem Kaiserpalast der Hauptstadt. Die Botschaft der Sprechchöre war eindeutig: Man feierte „Gerechtigkeit“ und „nationale Unabhängigkeit“ und berief sich ausdrücklich auf den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson und auf dessen programmatische Ankündigungen einer neuen Nachkriegsordnung im Zeichen der Selbstbestimmung, die nun auch viele Chinesen für ihr Land beanspruchten. Kriegsheimkehrer und chinesische Demonstranten trugen das Sühnedenkmal von 1903 nun ab. Mit einer revidierten Inschrift sollte das Denkmal im neu geschaffenen Zentralpark wieder errichtet werden – nicht mehr als Symbol der kolonialen Herrschaft der europäischen Mächte über China, sondern als Monument des Sieges und eines neuen souveränen Status Chinas in der internationalen Politik. Die feierliche Grundsteinlegung am ­ 15. März 1919 fiel noch in die Phase der großen Hoffnungen auf die Pariser Friedenskonferenz, an der China mit einer eigenen Delegation und dem Status einer Siegermacht teilnahm.3 Doch als die offizielle Neueinweihung des Bogens am 4. Juli  1920 schließlich erfolgte, war die im Frühjahr 1919 noch angedachte Inschrift „Das Recht hat im Kampf gesiegt“ bereits überholt. Denn dieser Text bezog sich auf das Versprechen des amerikanischen Präsidenten, der den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten im Frühjahr  1917 dezidiert mit der Idee eines Kampfs für das Recht und gegen die Fortsetzung von Annexionen und Kontributionen verbunden hatte. Was bedeutete dies für China? Im Zentrum der chinesischen Forderungen auf der Pariser Friedenskonferenz stand der Wiedererwerb der Region von Schantung. Von 1898 bis 1914 war mit Kiautschou ein Teil dieser Provinz Schutzgebiet des Deutschen Reichs gewesen, das japanische Streitkräfte schon zu Beginn des Kriegs erobert hatten, um es zu einem Brückenkopf für den japanischen Einfluss in China aus­ zubauen. Und genau die Frage nach der Zugehörigkeit von Schantung markierte 1919 eine entscheidende Zäsur. Denn die westlichen Siegermächte zeigten sich in Paris nach schwierigen Verhandlungen nicht bereit, auf die chinesischen Forderungen einzugehen und erkannten am 30. April 1919 die Ansprüche Japans auf die ehemaligen deutschen Besitzungen in China offiziell an. Die Regierung in Tokio hatte das Gebiet bereits Anfang 1917 in einer Geheimabsprache mit den Alliierten im Gegenzug für die japanischen Kriegsleistungen zugesichert bekommen.4 2  Schwarz: Sai Jinhua (wie Anm. 1), S. 149–166; Guoqi Xu: China and Empire. In: Robert Gerwarth/Erez Manela (Hg.): Empires at War 1911–1923. Oxford 2014, S. 214–234, hier: S. 229–234. 3 Schwarz: Sai Jinhua (wie Anm. 1), S. 153; Klaus Mühlhahn: China. In: Gerhard Hirschfeld/ Gerd Krumeich/Irina Renz (Hg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Paderborn 22014, S. 412–416, hier: S. 415; Xu: China (wie Anm. 2), S. 232 f.; Alain Roux/Xiaohong Xiao-Planes: 1917–1919. La difficile entrée de la Chine dans la cour des grands. In: Historiens et Géographes 89 (1998), S. 215–228; Sabine Dabringhaus: Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert. München 2009, S. 48–50. 4  Mühlhahn: China (wie Anm. 3), S. 415.

Die Konkurrenz der Versprechen

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Infolge der Entscheidung bei der Friedenskonferenz kam es zu empörten Reaktionen in vielen chinesischen Städten, von wo zahllose Petitionen an die Delegation in Paris telegrafiert wurden. Ein Leitmotiv der sich von hier aus entwickelnden „Bewegung des 4. Mai 1919“ war die Enttäuschung über die in den Augen der Chinesen gebrochenen Versprechen des amerikanischen Präsidenten. Studenten reagierten mit blankem Zynismus, indem sie zu den „Vierzehn Punkten“ Wilsons die Gleichung „14  =  0“ aufstellten. Unübersehbar setzte hier eine Entfremdung von der Politik des Westens ein. Zu den Teilnehmern an den Demonstrationen gehörte auch der junge Mao Zedong, der sich nun an den russischen Bolschewiki mit ihrem Revolutionsmodell zu orientieren begann. Und doch war der Moment im Frühjahr und Sommer 1919 für China offener und widersprüchlicher als es die Geschichte dieser politischen Desillusionierung und der Weg in Maos Variante des Kommunismus nahelegt: Denn trotz aller Enttäuschung über den mit Woodrow Wilson identifizierten liberalen Internationalismus blieben westliche Modelle in China sehr einflussreich. Als beispielhaft dafür kann die die ungeheure Resonanz gelten, die der amerikanische Philosoph John Dewey erreichte, als er am 30. April 1919, nur wenige Tage vor den Mai-Demonstrationen gegen die Ergebnisse der Pariser Friedenskonferenz, in Schanghai eintraf. Auf seiner anschließenden Vortragsreise durch China, die zwei Jahre lang dauern sollte, feierte man ihn abwechselnd als „Mr. Democracy“ und „Mr. Science“.5 Dieser exemplarische Blick auf einen von Paris geografisch weit entfernten Ort unterstreicht die neuartige und über moderne Medien vermittelte globale Wirksamkeit konkurrierender Ordnungskonzepte. Was ab Januar 1919 in Paris und jenseits davon geschah, wurde also in Gesellschaften weltweit aufmerksam beobachtet und kommentiert – und die Reaktionen in den europäischen Gesellschaften, in Nord- und Südamerika, in Asien, Afrika oder im Nahen Osten wirkten auf Paris zurück, auf die offiziellen Teilnehmer der Friedenskonferenz ebenso wie auf diejenigen, die nicht zu den Delegationen gehörten, aber den Moment nutzen wollten, um politische Interessen zu verfolgen, ihre Agenden zu vermitteln oder persönliche Netzwerke zu entwickeln.6 5  Jonathan Clements: Wellington Koo. China. London 2008, S. 84–94; Xu: China (wie Anm. 2), S. 233 f.; ders.: China’s Great War. In: Helmut Bley/Anorthe Kremers (Hg.): The World during the First World War. Essen 2014, S. 59–78, hier: S. 76–78; Stuart Schramm: Mao Tse-Tung’s Thought to 1949. In: John King Fairbank/Albert Feuerwerker (Hg.): The Cambridge History of China. Bd. 13: Republican China 1912–1949. Teil 2. Cambridge 1986, S. 789–870, hier: S. 802; Guoqi Xu: John Dewey. A Yankee Confucius and Cultural Ambassador. In: ders.: Chinese and Americans. A Shared History. Cambridge, MA 2015, S. 204–233; Jessica Ching-Sze Wang: John Dewey in China. To Teach and to Learn. Albany 2007, S. 1–5, S. 70–86; Silke Martini: Postimpe­ riales Asien. Die Zukunft Indiens und Chinas in der anglophonen Weltöffentlichkeit 1919–1939. Berlin 2016, S. 226–228. 6  Manfred Boemeke/Gerald D. Feldman/Elizabeth Glaser (Hg.): The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years. Cambridge 1998; Alan Sharp: The Versailles Settlement. Peacemaking after the First World War, 1919–1923. New York 22008; Conan Fischer/Alan Sharpe (Hg.): After the Versailles Treaty. Enforcement, Compliance, Contested Identities. London 2008; Marcus M. Payk/Roberta Pergher (Hg.): Beyond Versailles. Sovereignty, Legitimacy, and the Formation of New Polities after the Great War. Bloomington 2019.

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Jörn Leonhard

Das Ende des Kriegs und die Konkurrenz globaler Ordnungsentwürfe: Kontexte und Merkmale Das lange Kriegsende und die ersten Monate der Nachkriegszeit standen im Zeichen krisenhafter und gewaltsamer Übergänge: vom Krieg zum Waffenstillstand, von Monarchien zu Republiken, von begrenzter politischer Teilhabe zur Praxis der Massendemokratie in freien Wahlen, von Friedenskonferenzen zu Friedensverträgen, von multiethnischen Empires zu einer neuen Staatenordnung, von überkommenen Ismen zu neuen radikalen Ordnungsversprechen nach außen und innen, von europäischen Perspektiven auf eine Friedensordnung als Gleichgewichtssystem zu einem globalen Umbruch, in dessen Konsequenz sich Gewichte, Erwartungen und Positionen von Regionen und Gesellschaften weltweit veränderten.7 All das ließ aus dem Zusammenhang von Kriegsende, Revolutionen und der Pariser Friedenskonferenz einen besonderen historischen Moment der Verdichtung und Beschleunigung, aber auch der Offenheit für neue Ordnungskonzepte werden. Was Ernst Troeltsch mit Blick auf Deutschland im Juli  1919 in ­seinen „Spectator-Briefen“ das „Traumland der Waffenstillstandsperiode“ nannte, „wo jeder sich ohne die Bedingungen und realen Schlussfolgerungen des bevorstehenden Friedens die Zukunft phantastisch, pessimistisch oder heroisch ausmalen konnte“, ließe sich auch in anderen Kontexten als eine Chiffre für die relative Offenheit, das Fluide, das Nicht-Determinierte der historischen Situation, lesen.8 Welche Merkmale und Leitmotive kennzeichneten diese besondere Erfahrungsschwelle des 20. Jahrhunderts? „Self-determination“ zwischen Weltrevolution und Weltdemokratie Innerhalb von 72  Stunden, zwischen dem 6. und 9. April  1917, hatte sich die ­Dimension des Weltkriegs verändert. Aus weltweit verflochtenen Ressourcen und Gewalträumen wurde eine neue Qualität konkurrierender Ideo­logien und entstand eine Globalität neuer Ordnungsversprechen. Am Ostersonntag, dem 9. April 1917, drei Tage nachdem der amerikanische Präsident Wilson in einer Rede vor dem Kongress den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten gegen das Deutsche Reich angekündigt hatte, verließ Wladimir Iljitsch Lenin sein Züricher Exil in ­einem von der deutschen Regierung gestellten Kurswagen in Richtung Russland. 7  Jörn

Leonhard: The End of Empires and the Triumph of the Nation State? 1918 and the New International Order. In: Ute Planert/James Retallack (Hg.): Decades of Reconstruction. Postwar Societies, State-Building, and International Relations from the Seven Years’ War to the Cold War. Cambridge 2017, S. 330–345; Stéphane Audoin-Rouzeau/Christophe Prochasson: Sortir de la grande guerre. Le monde et l’après–1918. Paris 2008. 8  Ernst Troeltsch: Nach der Entscheidung (Juli 1919). In: ders.: Kritische Gesamtausgabe. Bd. 14: Spectator-Briefe und Berliner Briefe (1919–1922). Hg. von Gangolf Hübinger. Berlin 2015, S. 125– 132, hier: S. 131; Jörn Leonhard: Das „Traumland der Waffenstillstandsperiode“: Verfassunggebung und Friedenssuche in der belagerten deutschen Republik 1918/19. In: Horst Dreier/Christian Waldhoff (Hg.): Weimars Verfassung. Eine Bilanz nach 100 Jahren. Göttingen 2020, S. 57–74.

Die Konkurrenz der Versprechen

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Lenin profitierte dabei von einem Umbruch, der längst stattgefunden hatte. Denn die Übergangsordnung nach dem Zusammenbruch des Zarenreichs war längst erodiert, nicht zuletzt nach dem Scheitern der Kerenski-Offensive im Sommer 1917. Die ersten Frontoffiziere waren von russischen Soldaten bereits ermordet worden, bevor im Oktober die Machtübernahme der Bolschewiki über die Bühne ging. Verglichen mit der Zahl getöteter russischer Soldaten im Krieg und mit den Gewaltexzessen des folgenden Bürgerkriegs handelte es sich zunächst um eine relativ unblutige Revolution, die an Alexis de Tocquevilles Interpretation der Französischen Revolution erinnerte: Die erfolgreiche Revolution ließ ein ­Gebäude einstürzen, das schon längst nicht mehr bewohnt war, so wie bei der ­Abschaffung der Feudalprivilegien im August 1789. Die monarchische Legitimität war in diesem Krieg längst erodiert, bevor die Revolution im Oktober  1917 in Russland und ein Jahr später in Mitteleuropa zum historischen Ereignis wurde. Es bedurfte deshalb im Augenblick der politischen Machtübernahme, des formalen Systemwechsels, keiner besonderen Gewalt – erst danach, in der Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Revolution, sollte sie explodieren.9 Der zweite welthistorische Umbruch vollzog sich jenseits des Atlantiks, und an seinem Ende stand eine Richtungsentscheidung der Vereinigten Staaten von Amerika für das 20. Jahrhundert. Zum ersten Mal seit der Unabhängigkeitsperiode am Ende des 18. Jahrhunderts waren die USA wieder direkt in einen europäischen Krieg verwickelt. Aber die Distanz zu den Staaten- und Kabinettskriegen Europas, die man im 19. Jahrhundert immer wieder programmatisch betont hatte, setzte sich ab 1917 in einer universalistischen Ordnungsvision fort. Als der amerika­ nische Präsident im Januar 1917 die Vision einer neuen Weltordnung entwickelte, sollte diese vor allem auf dem Recht der nationalen Selbstbestimmung gründen. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen seit 1914 sollten die kleinen Völker gleichrangig auf eine Stufe mit den etablierten Mächten gestellt werden: „Keine Nation sollte danach streben, ihr politisches System auf eine andere Nation oder ein anderes Volk auszudehnen, sondern […] jedes Volk sollte frei über sein politisches System, seine eigene Entwicklung bestimmen können, ungehindert, frei von Bedrohungen, unerschrocken, die kleinen Nationen an der Seite der großen und mächtigen.“10 Diese Forderung verband sich mit Wilsons Sicht auf die Ursachen des Weltkriegs, die er in der Unterdrückung zahlreicher Nationalitäten in Kontinentaleuropa erkannte.  9  Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. München 62015, S. 651–661. 10 Woodrow Wilson: A Peace Worth Preserving. Address to Congress on Essential Terms of Peace, 22. 1. 1917. In: Americanism: Woodrow Wilson’s Speeches on the War; Why He Made Them and What They Have Done; The President’s Principal Utterances in the First Year of War; With Notes, Comments and War Dates, Giving Them Their Historical Setting, Significance and Consequences, And with Brief Quotations from Earlier Speeches and Papers. Hg. von Oliver Marble Gale. Chicago 1918, S. 22–28, hier: S. 27 (Übersetzung durch den Verfasser); vgl. auch Woodrow Wilson: Only One Peace Possible. Address to Congress Answering a Peace Offensive, 11. 2. 1918. In: ebd., S. 103–109, hier: S. 106.

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In seinem Konzept der New Diplomacy rechnete er mit den Traditionen europäischer Geheimdiplomatie ab, in denen er eine weitere Hauptursache des Weltkriegs sah. Den Weg in einen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen, in einen Rechtsfrieden, verband er mit der Vorstellung einer neuen internationalen Staatenordnung auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts der Völker, der Freiheit der Meere, der Öffentlichkeit internationaler Verträge und eines Völkerbundes als institutionalisierte Basis kollektiver Sicherheit. Wilson dachte an die Liberalisierung und Demokratisierung der Welt – aber auch daran, die Interessen der Vereinigten Staaten als ökonomisch stärkster Macht durchzusetzen.11 Im Fokus auf die internationale Dimension von „self-determination“ lag, bei allen ideologischen Gegensätzen und Unterschieden, ein gemeinsamer Grundzug von Lenin und Wilson. Betonte Lenin die Vision eines internationalen Bürgerkriegs zur Revolutionierung aller Klassengesellschaften, so setzte Wilson auf das Ideal eines demokratischen Volkskriegs im Namen demokratischer Prinzipien der Selbstbestimmung. Im Sinne einer entfernten Verwandtschaft zwischen Lenin und Wilson formulierten beide universelle ideologische Ansprüche, und beide beanspruchten für ihre Konzepte auch von Anfang an eine weltweite Geltung. Der ideologische Kontrast, den Tomáš Garrigue Masaryk suggestiv im Dualismus „Welt­demokratie versus Weltrevolution“ fasste, verdeckte also eine eigenartige Nähe.12 Diese Beziehungsgeschichte entfaltete sich als eine Konkurrenz der Versprechen seit dem November 1917. Denn die „Vierzehn Punkte“ Wilsons waren nicht zuletzt eine Antwort auf die Friedensgrundsätze der russischen Räteregierung vom November und Dezember  1917, einen Frieden ohne Kontributionen und Annexionen und auf der Basis des „Rechts der Selbstbestimmung der Völker“ durchzusetzen. Wer die intensiven und weltweiten Aktivitäten der amerikanischen Kriegspropaganda, vor allem des Committee of Public Information verfolgte, konnte ­erkennen, dass der amerikanische Präsident die globale Deutungshoheit über den Weg vom Krieg in den Frieden erlangen wollte.13 In einer Rede vor dem Kongress im Februar 1918 verwendete Woodrow Wilson den Schlüsselbegriff „self-determination“ erstmals an prominenter Stelle. Doch verdeckte die suggestive Qualität des Wortes, welche unterschiedlichen Bedeutungen diesem Konzept von Akteuren vieler Gesellschaften weltweit zugeschrieben wurden.14 Der unterstellte Universalismus des Begriffs lenkte von der erheblichen Eigendynamik partikularer Kontexte ab, aber eben auch von einem neuen Stellenwert des Rechts und der Selbstbindung durch das Recht in der internationalen Politik.15 Das Ergebnis waren jedoch vielfältige Spannungen und Widersprüche, die sich kontextabhängig von west- zu osteuropäischen Gesellschaf-

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Leonhard: Büchse (wie Anm. 9), S. 659 f. Tomaš Garrigue Masaryk: Die Weltrevolution. Erinnerungen und Betrachtungen. Berlin 1925. 13  Leonhard: Frieden (wie Anm. 1), S. 92–132. 14  Ebd., S. 113  f. 15  Marcus Payk: Frieden durch Recht? Der Aufstieg des modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg. Berlin 2018. 12 

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ten, aber auch im Blick auf Kolonialgesellschaften in Afrika oder Asien zeigten. Markierte „self-determination“ in westeuropäischen Gesellschaften die Selbstregierung in parlamentarischen Regimes mit demokratisch-partizipativen Institutionen und schloss auch Konzepte der sozialen Demokratie mit ein, so verwies der Begriff in der Zone erodierender multiethnischer Empires in Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa auf Erwartungen nationaler Selbstbestimmung und eigener Staatsbildungen auf der Grundlage nationalstaatlicher Souveränität, ethnischer Zuge­ hörigkeit und der Eingliederung von Bevölkerungen, die zuvor außerhalb des ­eigenen Staates gelebt hatten.16 Die vermeintliche Eindeutigkeit dieser Ordnungsvision, die in den entstehenden Nationalhistoriografien vieler neuer Staaten in Ost- und Ostmitteleuropa mit dem Bild der Empires als Völkergefängnisse korrelierte, führte in der Praxis zu widersprüchlichen Kompromissen zwischen beiden Bedeutungsaspekten von „Selbstbestimmung“, der demokratischen Partizipation auf der einen und der ­nationalen Definition von Staatlichkeit auf der anderen Seite. So brach sich das universalistische Versprechen an den Aporien, Zugehörigkeit in den multiethnischen Gemengelagen Ost- und Ostmitteleuropas zu definieren. Denn die Forderung, die Pariser Friedensverträge durch verlässliche Regelungen zum Minder­ heitenschutz in den neuen Nationalstaaten zu ergänzen, wurde häufig als Beschränkung der erst mühsam erkämpften nationalen Selbstbestimmung und als Widerspruch zur gerade neu gewonnenen staatlichen Souveränität empfunden, so etwa in Polen.17 Und wo man die Verlierer von 1918, das Deutsche Reich, Österreich, Ungarn und das Osmanische Reich, von der Praxis der Selbstbestimmung ausschloss, weil man nur so glaubte, die Sicherheit des Kontinents in einer neuen Nachkriegsordnung garantieren zu können, da befeuerte das Versprechen der neuen Ordnung häufig neue aggressive Revisionismen.18 Internationalismus und Dekolonisierung, Krise der Empires und imperiale Expansion Wenn der Krieg 1914 als Konflikt zwischen europäischen Großmächten begonnen hatte, die seit dem Wiener Kongress 1814/15 ein Mächtesystem im Zeichen des Gleichgewichtsideals gebildet hatten, dann stand das Ende des Kriegs im ­Zeichen eines weltweiten Konflikts in Europa, Asien und Afrika. Die USA und Japan, um die Jahrhundertwende militärisch, politisch und wirtschaftlich längst aufstrebende Akteure, waren 1919 unumstrittene Siegermächte. Und in vielen 16 

Leonard V. Smith: Sovereignty at the Paris Peace Conference of 1919. Oxford 2018. Fink: Defending the Rights of Others. The Great Powers, the Jews, and International Minority Protection, 1878–1938. Cambridge 2004. 18 Jörn Leonhard: Der überforderte Frieden: Selbstbestimmung zwischen Erwartung und Er­ fahrung seit 1917/18. In: Oliver Jens Schmitt/Reinhard Stauber (Hg.): Frieden durch Volksabstimmungen? Wien 2022, S. 37–78; Volker Prott: The Politics of Self-Determination. Remaking Territories and National Identities in Europe, 1917–1923. Oxford 2016; Jörg Fisch: Das Selbst­ bestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion. München 2010. 17  Carole

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Ländern wie China und Indien sowie in Lateinamerika bot der Rückzug euro­ päischer Akteure während des Kriegs entscheidende Impulse für die eigene Wirtschaftsentwicklung. Auf diese Konstellation trafen ab 1917 die globalen ­ ­Ordnungsvisionen Lenins sowie Wilsons und entwickelten innerhalb kurzer Zeit enorme Anziehungskraft. Aber während sich die Bolschewiki im Bürgerkrieg erst behaupten mussten und Lenin Anfang 1918 einen demütigenden Friedensschluss mit den Mittelmächten in Brest-Litowsk akzeptierte, um die Macht im eigenen Land zu sichern, wurde Wilson zur globalen Projektionsfläche von Hoffnungen auf einen neuartigen Frieden und eine neue internationale Ordnung.19 Die Welle von Kriegserklärungen 1917, unter anderem durch Kuba, Guatemala, Siam, Liberia, China, Brasilien und Panama, war mit neuartigen Erwartungen verbunden, die sich immer weiter von den europäischen Kontexten entfernten und doch langfristig auf sie zurückwirken sollten. Demokratische Teilhabe und nationale Selbstbestimmung waren nicht nur ein Versprechen an die nationalen Minderheiten innerhalb der multiethnischen Habsburgermonarchie und des Osmanischen Reichs, an Tschechen, Polen, Südslawen oder Araber, sondern stimulierten auch antikoloniale Bewegungen in Indien, Asien und Afrika. Hier avancierte Wilson innerhalb kurzer Zeit zu einem Symbol politischer Veränderungsmöglichkeiten. Darin lag die globale Dimension der kolonialkritischen Positionen, die sich seit 1917 entfalteten. Lenin und Wilson katalysierten damit Entwicklungen in den Kolonialgesellschaften, deren Ursprünge deutlich vor 1914 lagen, die aber jetzt eine ganz neue Dynamik entfalteten. Der „Wilsonian Moment“ war also weniger Ursprung von etwas völlig Neuem, als vielmehr Beschleunigung früher begon­ nener Prozesse und Konkretisierung bereits existierender Positionen.20 Ab jetzt standen universelle Referenzmodelle wie der Begriff der Selbstbestimmung für ­einen Ausgang aus dem Krieg zur Verfügung, nicht nur in Europa, sondern auch in den Kolonialgesellschaften weltweit. Spannungen zwischen den neuen Partnern in Washington, London und Paris waren damit programmiert, weil die amerikanische Regierung sich gegen eine Fortsetzung europäischer Kolonialregimes nach dem Krieg wandte. Das Grundproblem der durch Allianzbildung und weitgehende Versprechen provozierten Erwartungen offenbarte sich nicht nur in Asien, wie die Entwicklungen in China und Japan bewiesen, und in den afrikanischen Kolonialgesellschaften, sondern vor allem im Mittleren und Nahen Osten, im Kriegsraum des zerfallenden Osmanischen Reichs.21 So suggestiv der von den Briten unterstützte Aufstand der Araber gegen die osmanische Herrschaft und die Einnahme Jerusalems im Dezember  1917 durch General Allenby anmuteten, so verdeckten diese 19 

Leonhard: Frieden (wie Anm. 1), S. 664 f. Manela: The Wilsonian Moment. Self Determination and the International Origins of Anti-Colonial Nationalism. Oxford 2007. 21  Ders.: Dawn of a New Era. The „Wilsonian Moment“ in Colonial Contexts and the Transformation of World Order, 1917–1920. In: Sebastian Conrad/Dominic Sachsenmaier (Hg.): Competing Visions of World Order. Global Moments and Movements, 1880s–1930s. Basingstoke 2007, S. 121–150. 20 Erez

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Erfolge doch ein Grundproblem, das sich aus der Konkurrenz widersprüchlicher Versprechen speiste: Mit der faktischen Kolonialpolitik Großbritanniens und Frankreichs im Sykes-Picot-Abkommen von 1916 und der Abgrenzung von Interessenzonen unter dem Deckmantel von Mandaten und Protektoraten nach 1918, den britischen Versprechen eines eigenen Staates der Araber im Gegenzug für den Kampf gegen die osmanische Herrschaft und der gleichzeitigen Unterstützung der zionistischen Bewegung zugunsten eines eigenen Staates der Juden in der ­Balfour-Deklaration vom November 1917 existierten drei Ordnungsmodelle, die sich nicht miteinander kombinieren ließen, aber die Glaubwürdigkeit der Akteure belasteten.22 Die Pariser Friedenskonferenz und die Verträge von Versailles, Saint-Germain, Neuilly, Trianon und Sèvres stellten einen globalen Zusammenhang her und spiegelten exemplarisch wider, wie sehr der Krieg ganz unterschiedliche Räume miteinander verbunden und viele Probleme offenbart hatte, die sich nicht mehr einzelstaatlich lösen ließen: Das galt für die Frage nach dem Umgang mit Kriegsgefangenen und Flüchtlingen aus imperialen Herrschaftsverbänden, die am Ende des Kriegs nicht mehr existierten. Es galt für die Schulden der verschwundenen Staaten und Reiche, es galt aber auch für den Status von Veteranen oder Arbeitern, und es galt für das Konzept internationaler Sicherheit. Die Krisensymptome des Kriegs brachten 1918 eine eigene Dialektik hervor – und das Ergebnis waren progressive Konzepte im Rahmen des Völkerbundes und der International Labour Organi­ sation, neue Ideen transnationaler Zusammenarbeit, Kritik an überkommenen Kolonial­regimes sowie Konzepte der sozialen Demokratie und des modernen Versorgungsstaates.23 Aber zu diesem neuen Internationalismus gehörte zugleich die Erfahrung einer neuen Hierarchie von Akteuren an den Pariser Verhandlungstischen. In dem Maße, in dem sich die Kluft zwischen Gleichheitserwartungen und Ungleichheitserfahrungen vertiefte und dies 1919 konkret wahrgenommen wurde, geriet die Glaubwürdigkeit der Friedensmacher ins Wanken.24 Schon während des Kriegs hatte sich Nguyễn Tất Thành, der spätere Hồ Chí Minh, der Sozialistischen Partei Frankreichs angeschlossen und die Association des Patriotes Annamites als Vertretung der für den europäischen Krieg in Indochina rekrutierten und in Frankreich lebenden Vietnamesen gegründet. Das Programm des amerikanischen Präsidenten begriff er als Chance, den Status der eigenen Kolonialgesellschaft zu verbessern und politische Mitsprache einzufordern. Obwohl 22 

Rodney Gouttman: The Balfour Declaration. Philosemitism? In: Journal of Judaism and Civilization 3 (2001), S. 12–27; Erik-Jan Zürcher: Sykes-Picot-Abkommen. In: Hirschfeld/Krumeich/ Renz (Hg.): Enzyklopädie (wie Anm. 3), S. 916; Leonhard: Büchse (wie Anm. 9), S. 487–490; ders.: Frieden (wie Anm. 1), S. 38. 23 Susan Pedersen: The Guardians. The League of Nations and the Crisis of Empire. Oxford 2015; Patricia Clavin: Securing the World Economy. The Reinvention of the League of Nations, 1920–1946. Oxford 2015; Daniel Gorman: The Emergence of International Society in the 1920s. Cambridge 2014; Glenda Sluga/Patricia Clavin (Hg.): Internationalism. A Twentieth-Century History. Cambridge 2016. 24  Leonhard: Frieden (wie Anm. 1), S. 853.

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seine Eingaben während der Verhandlungen von Versailles folgenlos blieben und er sich seinen Lebensunterhalt als Hotelangestellter im Pariser „Ritz“ verdienen musste, wurde hier ein Erwartungshorizont erkennbar, der weit in das 20. Jahrhundert ausstrahlte und auf die Dynamik antikolonialer Befreiungsbewegungen verwies. Die Enttäuschung über den Verlauf der Konferenzen verstärkte die Kritik an den europäischen Kolonialherren und katalysierte Thànhs Sympathie für das Konzept einer marxistischen Revolution leninscher Prägung. Nach der Erfahrung von 1919 sollte Lenins Argument auf dem Zweiten Kongress der Komintern 1920 auf breite Resonanz stoßen, wonach sich im Kampf gegen die Kapitalisten kommunistische Parteien und demokratisch-antikoloniale Bewegungen in den Kolonialgesellschaften zusammenschließen sollten.25 Die Wirkung globaler Ordnungsvisionen lässt sich auch an vielen anderen Beispielen nachvollziehen: in den arabischen Delegationen genauso wie an den Reaktionen des Pan-African Congress und der Universal Negro Improvement Association. Der spätere politische Führer Koreas, Syngman Rhee, studierte noch in Princeton, als er im Dezember 1918 als einer der koreanischen Delegierten für die Pariser Friedenskonferenz ausgewählt wurde. Nachdem ihm die Reisegenehmigung verweigert worden war, organsierte er den First Korean Congress in Philadelphia, der die politische Unabhängigkeit des Landes vorbereiten sollte. Selbst dort, wo Paris nicht direkt zum Forum einer antikolonialen Politik werden konnte, wirkte die Konferenz als Bezugspunkt für die Artikulation von Erwartungen an eine zukünftige Ordnung der Welt.26 Am Verhältnis zwischen Europa und anderen Weltregionen zeigte sich zwischen 1918 und 1923 die ganze Komplexität der Friedensordnung. Die europäische Pentarchie, die mit Großbritannien, Frankreich, Russland, der Habsburgermonarchie sowie Preußen/Deutschland seit dem 18. Jahrhundert – und 1815 auf dem Wiener Kongress im Zeichen eines Gleichgewichts der Mächte erneuert – die internationalen Beziehungen bestimmt hatte, existierte nicht mehr. Das Ende der deutschen Kolonien nach 1918, ihre Um- und Neuverteilung sowie die Auflösung der multiethnischen Empires schufen neue Handlungs- und Einflussmöglich­ keiten, zumal im Nahen und Mittleren Osten. Doch zugleich hatte der Weltkrieg erwiesen, wie stark die europäischen Mächte, zumal Großbritannien und Frankreich, von den Kriegsleistungen ihrer Kolonialreiche abhängig geworden waren. Kolonialkritische Visionen und Ideen eines antikolonialen Befreiungskampfs ­bildeten ein Leitmotiv des Moments von 1919. Aber das Ende des Russischen Reichs, der Habsburgermonarchie und des Osmanischen Reichs sowie die Auf­ teilung der deutschen Kolonien erlaubten zugleich die maximale Expansion der europäischen Kolonialherrschaft: Das britische Empire und das französische 25 

Thu Trang Gaspard: Ho Chi Minh à Paris. Paris 1992; Leonhard: Frieden (wie Anm. 1), S. 839– 841. 26  Chong-Sik Lee: The Politics of Korean Nationalism. Berkeley 1963, S. 104–106; Robert Oliver: Syngman Rhee. The Man behind the Myth. New York 1954, S. 110–113, S. 132; Leonhard: Frieden (wie Anm. 1), S. 844–849.

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Kolonial­reich erreichten nach 1918 ihre maximale Fläche – und damit den Übergang in die imperiale Überdehnung, die im Mittleren und Nahen Osten schon bald die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Ressourcen dieser Staaten überfordern sollte.27 Ebenso wichtig wurde seit 1918 die Erfahrung der durch den Krieg ausgelösten globalen Mobilisierung von Menschen und Rohstoffen, wurden Migrationsströme und die ganz anderen Kriegserfahrungen von Menschen aus den Kolonialgesellschaften außerhalb Europas. Wie das Beispiel der Dominions Kanada, Australien und Neuseeland, aber auch Indiens und vieler afrikanischer Gesellschaften erwies, gingen die Kriegserfahrungen der dort lebenden Menschen nicht darin auf, nur als Ressourcen in einem europäischen Krieg eingesetzt zu werden. Der Krieg hatte ihr Gewicht als Akteure in ihren Heimatgesellschaften verändert und die Frage nach Teilhabe, Autonomie oder Unabhängigkeit zugespitzt – und er sollte die ­innere Nationsbildung dieser Kriegsgesellschaften weit über 1918 hinaus prägen. Die zahllosen in ihre weltweiten Heimatgesellschaften zurückkehrenden Veteranen maßen die europäischen Staaten und deren Glaubwürdigkeit nach 1918 an ­deren Versprechen von 1914. Auch dieser andere Blick der Zeitgenossen auf Kriterien und Maßstäbe trug zur Entstehung neuer Ordnungsvorstellungen bei.28 Revolution und Gegenrevolution 1815 und 1919 lassen sich als entgegengesetzte Schwellenmomente der neueren Geschichte interpretieren. 1815 auf dem Wiener Kongress hatten die Staatsmänner und Diplomaten gehofft, eine durch die Verbindung von Revolution und Krieg gekennzeichnete Epoche abzuschließen und durch die Wiederherstellung des ­monarchischen Prinzips eine neue Revolution zu verhindern. Außen- wie innenpolitisch war es nach 1815 aber nicht zu einer Restauration des Ancien Régime gekommen, sondern zu einer „monarchischen Revolution“ im Zeichen eines Mächtegleichgewichts mit neuen Kunststaaten und territorialen Verschiebungen, die auf das Kriterium der Zugehörigkeit keine Rücksicht nahmen. Auch die Phase zwischen 1917 und 1920 trug Kennzeichen einer antirevolutionären Nachkriegsarchitektur. Die Akteure in Paris, London und Washington wollten eine Ausbreitung der Revolution nach dem Modell der Bolschewiki mit aller Macht verhindern – was die zunächst große Bereitschaft zur militärischen Intervention in den russischen Bürgerkrieg beweist.29 Aber anders als 1815 markierte 1918/19 nicht 27  Omer Bartov/Eric D.Weitz (Hg.): Shatterzone of Empires. Coexistence and Violence in the German, Habsburg, Russian, and Ottoman Borderlands. Bloomington 2013; Robert Gerwarth/Erez Manela (Hg.): Empires at War 1911–1923. Oxford 2014; Leonhard: Frieden (wie Anm. 1), S. 943. 28  Leonhard: Frieden (wie Anm. 1), S. 528  f. 29 Robert Gerwarth: Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs. München 2017; ders./John Horne (Hg.): War in Peace. Paramilitary Violence after the Great War. Oxford 2012; Robert Gerwarth: The Role of Violence in the European Counter-Revolution, 1917–1939. In: Stefan Rinke/Michael Wildt (Hg.): Revolutions and Counter-Revolutions. 1917 and Its Aftermath from a Global Perspective. Frankfurt a. M. 2017, S. 141–159.

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das Ende, sondern an vielen Orten eher den Beginn, die Fortsetzung oder die ­Zuspitzung revolutionärer Spannungsmomente. Nicht nur in Russland, in den Gesellschaften der Verliererstaaten, in Deutschland, Österreich, Ungarn und im Osmanischen Reich, sondern auch in Italien kam es in der Überlagerung von Kriegsende, Erschöpfung und enttäuschten Erwartungen sowie angesichts der ­bevorstehenden Friedenskonferenzen zu revolutionären Krisen und Kämpfen um die politische und soziale Ordnung der Zukunft.30 Dabei verknüpften sich sozialrevolutionäre und nationale Implikationen je unter­schiedlich miteinander, und in jeder Gesellschaft ergab sich eine spezifische Überlagerung aus universalistischer Vision und partikularem Kontext. Beriefen sich die antimonarchischen Bewegungen in Deutschland und Österreich auf einen milden „Wilson-Frieden“, für den es galt, mit der Konstitutionalisierung und dem Regimewechsel Vorbedingungen für einen Friedensschluss auf der Basis des ­Status quo zu erfüllen, so orientierten sich die radikalen Sozialrevolutionäre ab Herbst 1918 an der Klassensprache und dem weltrevolutionären Modell der Bolschewiki. Was in Ungarn wie die Umsetzung einer Räterepublik nach bolschewikischem Vorbild aussah, war bei genauerem Hinsehen eng verwoben mit Motiven der nationalen Verteidigung angesichts der sich abzeichnenden enormen Gebietsund Bevölkerungsverluste und der Übergriffe der Nachbarn im Norden, Süden und Osten auf bisheriges ungarisches Territorium. Umgekehrt bot der Verweis auf die Gefahr der Weltrevolution neue Chancen. Gegenüber der wahrgenommenen Expansion der bolschewikischen Revolution erschienen nun Polen und Rumänien als „Thermopylen“ der westlichen Zivilisation und sicherten sich im Rekurs auf diese Funktion größere Handlungsspielräume auf der Pariser Friedenskonferenz.31 In Italien verdichteten sich die enttäuschten Expansionserwartungen, die weit über tradierte Gebietsvisionen des Risorgimento hinauswiesen, im Bild einer ­vittoria mutilata, eines „verstümmelten Sieges“, der sich gegen die bestehende politische Ordnung wenden ließ. Die Wahrnehmung bürgerkriegsähnlicher Konflikte im italienischen Nachkrieg verband sich wahlweise mit sozialrevolutionärer oder konterrevolutionärer Gewalt und stellte eine entscheidende Voraussetzung für die Übertragung der Macht an Benito Mussolini 1922 dar.32 Im Osmanischen Reich schließlich verband Mustafa Kemal, der spätere Atatürk, nationalrevolutionär-modernisierende und antiimperialistische Begründungen für den propagierten „Befreiungskrieg“ der türkischen Nation gegen den Waffenstillstand von Moudros und den Friedensvertrag von Sèvres. Die Übergangssituation ab 1918 ließ hier ganz neue Mischformen zwischen nationalistischem „Befreiungskrieg“, Islam und Kommunismus entstehen. In diesen Kontext gehörten die Aktivitäten von 30  Jörn

Leonhard: Frieden (wie Anm. 1), S. 611 f.; ders.: Krieg und Revolution. Über eine Beziehung der neuzeitlichen Geschichte. In: Wolfram Pyta (Hg.): Krieg und Revolution. Historische Konstellationen seit der Französischen Revolution. Stuttgart 2022, S. 45–70. 31  Arno Joseph Mayer: Politics and Diplomacy of Peacemaking. Containment and Counterrevolution at Versailles, 1918–1919. New York 1967, S. 58; Dan Diner: Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung. München 1999, S. 89. 32  Leonhard: Frieden (wie Anm. 1), S. 404  f., S. 1167–1173.

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Enver Pascha, des ehemaligen Generals und führenden Politikers der ultranationalistischen Unionisten, der eine „grüne bolschewistische Armee“ aufstellen wollte, um die Türkei endgültig von der alliierten Fremdherrschaft zu befreien. Dabei schwebte ihm die Bildung eines großtürkischen Staates vor, der vom Balkan bis nach Ostasien reichen und „grüne“ islamische sowie „rote“ sozialistische Elemente zusammenführen sollte.33 Im Konfliktraum von Nord-, Mittel- und Osteuropa bis nach Norditalien, der vom Zusammenbruch vormals monarchisch verfasster multiethnischer Empires charakterisiert war, verschob sich also von Westen nach Osten das Merkmal der Konflikte. Im Westen dominierte trotz aller national bestimmter Konflikte wie in Irland der durch die Kriegserfahrungen zugespitzte Auseinandersetzungen zwischen Klassen und Rassen – man denke nur an die Behandlung der afrikanischen und asiatischen Soldaten aus den britischen und französischen Kolonien nach 1918. Dagegen wurden in Mittel-, Ost- und Südosteuropa soziale Konflikte viel stärker ethnisiert als im Westen, war die Sprache des Konflikts stärker von Grenzen und Territorien bestimmt und es kam zu charakteristischen Überlappungen, die tendenziell konfliktverschärfend wirkten.34 Massendemokratie: Politische und soziale Teilhabeversprechen, Hoffnungen und Desillusionierungen Schon im Krisenjahr 1917 erwies sich, wie stark Friedensbemühungen und innere Reformen zugunsten von mehr politischer und sozialer Teilhabe aufeinander bezogen waren. Dieser Zusammenhang trat in der Endphase des Kriegs immer deutlicher hervor, zumal angesichts des amerikanischen Kriegseintritts und der Re­ volutionen in Russland. Skeptisch reagierte Thomas Mann Ende  1917 auf die Friedens­ sondierung im Namen demokratischer und moralischer Prinzipien: „Weltfriede […] Wir Menschen sollten uns nicht allzu viel Moral einbilden. Wenn wir zum Weltfrieden, zu einem Weltfrieden gelangen – auf dem Wege der Moral werden wir nicht zu ihm gelangt sein. Scheidemann sagte neulich, die Demokratie werde auf Grund der allgemeinen Erschöpfung reißende Fortschritte machen. Das ist nicht sehr ehrenvoll für die Demokratie – und für die Menschheit auch nicht. Denn die Moral aus Erschöpfung ist keine so recht erbauliche Moral.“35 33  Reinhard

Schulze: Geschichte der islamischen Welt. Von 1900 bis zur Gegenwart. München 2016, S. 88. 34  Jörn Leonhard: Erfahrungsumbruch und Formwandel der Gewalt: 1918–1921 als Globalzäsur. Kommentar und Ausblick. In: Jochen Böhler/Włodzimierz Borodziej/Joachim von Puttkamer (Hg.): Dimensionen der Gewalt. Ostmitteleuropa zwischen Weltkrieg und Bürgerkrieg 1918– 1921. Berlin 2020, S. 142–151; Aviel Roshwald: Ethnic Nationalism and the Fall of Empires. Central Europe, Russia, and the Middle East, 1914–1923. London 2001; Norman M. Naimark: Fires of Hatred. Ethnic Cleansing in Twentieth-Century Europe. Cambridge, MA 2002. 35  Thomas Mann: Weltfrieden? (27. Dezember 1917). In: ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 15/1: Essays II 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt a. M. 2002, S. 212– 215, hier: S. 212; Leonhard: Frieden (wie Anm. 1), S. 60.

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Das Ende des Weltkriegs und der Übergang in den Nachkrieg spitzte diese ­ euen politischen und sozialen Teilhabeversprechen zu. Sie waren zunächst das n Ergebnis von Kriegserfahrungen und politischen Versprechen während des Kriegs, deren Erfüllung nach 1918 zum Maßstab für die Glaubwürdigkeit der Politik wurde. Insofern vollzog sich der Übergang zur Massendemokratie angesichts der Gleichheit der Kriegsopfer. Dazu kamen neue Erfahrungen im Verhältnis zwischen Staat, Gesellschaft und Wirtschaft, ob im „organisierten Kapitalismus“ oder in anderen Kooperationsformen zwischen Staat, Bürokratie und Wirtschaft, zwischen Kapital und Arbeit. Die Anerkennung der Gewerkschaften und die temporäre politische Dominanz der gemäßigten Arbeiterparteien in den Übergangsprozessen vom Krieg in den Nachkrieg wiesen in die gleiche Richtung.36 Zu den neuen Herausforderungen der Politik nach 1918 gehörten nicht nur Prozesse der Nations- und Staatsbildung nach dem Ende der kontinentaleuropäischen Imperien, Wahlrechtserweiterungen und die Suche nach einer stabilen Balance zwischen Demokratie und Minderheitenschutz, sondern auch die innere Stabilisierung der Gesellschaften vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrisen nach 1918. Noch aus dem Weltkrieg stammten charismatische Kriegspremiers, die mit ihrem Politikstil und ihren Versprechen allerdings bald nach 1918 an ihre Grenzen gerieten. Das galt in unterschiedlichen Konstellationen für Georges Clemenceau in Frankreich, David Lloyd George in Großbritannien und Woodrow Wilson in den Vereinigten Staaten. Charakteristisch für viele Nachkriegsgesellschaften wurden dann aber Figuren, die den Weltkrieg als militärische Kommandeure geprägt hatten und denen es nach 1918 gelang, militärisches in politisches Kapital zu verwandeln. Als heroische Verkörperungen der Nation und Übergangsfiguren zwischen Krieg und Nachkrieg waren Mustafa Kemal in der Türkei, Carl Gustav Emil Mannerheim in Finnland, Józef Piłsudski in Polen, Paul von Hindenburg in Deutschland und Philippe Pétain in Frankreich ohne die vielfältigen Kriegserfahrungen nicht zu verstehen.37 Aber der Übergang vom Krieg in den Nachkrieg erwies auch bald, wie hochfliegende politische und soziale Hoffnungen von der Realität überholt wurden. Exemplarisch dafür waren die Beobachtungen von Ernst Troeltsch. Schon im April  1919 kritisierte dieser die Schwunglosigkeit der neuen Republik in Deutschland: „Die Behandlung der außen- und innenpolitischen Fragen durch Regierung und Parlament, vor allem das Auftreten des Parlaments selbst, hat viele enttäuscht. Ein sehr großer geistiger Zug ist beiden sicherlich nicht nachzurühmen. Aber wo soll der in der Kümmerlichkeit der ganzen Lage, wo jeder Fuß breit Ordnung erst in unendlicher Kleinarbeit erstritten werden muss und wo die Männer der Interessen der kleinen Leute mit den in der Gewerkschaftsarbeit erprobten Mitteln an die großen Weltfragen und allgemeinsten Lebensfragen herangehen müssen, herkommen?“ Die führende Intelligenz sei durch Obstruktion gekennzeichnet, Beamte stellten sich allein auf den „Boden der Tatsachen“, zum Teil auch in Wider36  37 

Leonhard: Büchse (wie Anm. 9), S. 347–386. Ders.: Frieden (wie Anm. 1), S. 25.

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standshaltung. Die Massen seien enttäuscht, und für alle Probleme werde die ­ emokratie als neue Staatsform verantwortlich gemacht: „Es ist ein allgemeiner D Ansturm der Enttäuschten, der Ideologen und der Restaurationsmänner gegen die Demokratie, die man anfangs so hoch zu preisen wusste.“ So komme es zur „Verwerfung der öden und geistlosen ‚Formaldemokratie‘“, bei der man den „großen Schwung“ und die „großen Ideen, die grundsätzliche Neuheit, die Kraft und Größe der Herrschgesinnung“ vermisse.38 Doch bei aller Glanzlosigkeit der Demokratie konnte Troeltsch keine andere Antwort finden als einen demokratischen Inkrementalismus, eine Politik der kleinen Schritte des Möglichen: „Überall Träumer, wohin man blickt, sofern nicht die Träumer blutige Realisten sind. Dass die Demokratie uns im Grunde nicht liegt und dass sie (übrigens vor allem in Deutschland) die Mängel der Mittelmäßigkeit und Spießerhaftigkeit trägt, dass das heutige deutsche parlamentarische Regime die Züge der bloßen Nachahmung und der kleinlichsten Selbstversorgung reichlich trägt, das ist leider nicht zu leugnen. Ebenso wenig aber, dass wir nichts Besseres haben und an dieser kümmerlichen Stange in die Höhe klettern müssen, soweit von Höhe überhaupt die Rede sein kann.“39 Öffentlichkeit: Medialisierung und Moralisierung von Politik Mit den Hunderten von Journalisten, die für die Friedenskonferenz in Paris akkreditiert waren, markierte 1919 schließlich auch einen entscheidenden Medienmoment in globalem Ausmaß. Schon Ende 1918 hatte sich etwa in Großbritannien gezeigt, dass sich mit dem Versprechen von politischen und sozialen Friedensdividenden in den Heimatgesellschaften demokratische Wahlen gewinnen ließen. Im Zeichen des allgemeinen Wahlrechts und der Logik demokratischer Massenmärkte entfalteten steigende Erwartungen der Wähler eine ganz eigene Dynamik und markierten rote Linien der innenpolitischen Glaubwürdigkeit. Viele Politiker in Paris agierten unter dem Druck ihrer eigenen Versprechen an die Kriegsgesellschaften ihrer Heimatländer, sodass außenpolitische Entscheidungen immer stärker auch im Horizont innenpolitischer Prozesse standen.40 Einerseits feierte man die neue Transparenz als Ende der Arkan-Diplomatie. Die Dopplung von Massendemokratie und internationaler Öffentlichkeit schien ein neues Zeitalter von öffentlicher Politik zu verheißen. Doch andererseits zeigte sich 1919 eine andere Dimension dieser Öffentlichkeit, denn etwas Grundlegendes unterschied die Verhandlungen in Paris ab Januar 1919 von früheren Friedenskonferenzen der neueren Geschichte wie denen in Münster und Osnabrück 1645– 1648 oder in Wien 1814/15. Am 28. Juni 1919 kam es im Spiegelsaal des Schlosses 38  Ernst Troeltsch: Der Ansturm gegen die Demokratie (Mai 1919). In: ders.: Kritische Gesamtausgabe. Bd. 14 (wie Anm. 8), S. 93–98, hier: S. 94 f. 39  Ebd., S. 98; Leonhard: Frieden (wie Anm. 1), S. 1245  f. 40  Ders.: Frieden (wie Anm. 1), S. 681–683; ders.: „Operation mitten im Ballsaal“ – Die Pariser Friedenskonferenz 1919 als Krise der politischen Kommunikation. In: Indes 2 (2019), S. 63–71.

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von Versailles zu einer Szene, die exemplarisch für die emotionale Aufladung der künftigen Friedensordnung durch moralische Implikationen von Schuld und ­Verantwortung stand. Bevor man die deutsche Delegation in den Saal führte, wurden fünf in ihren Gesichtern schwer verletzte französische Soldaten in der Nähe des Tischs platziert, an dem die deutschen Politiker ohne jede Aussprache die Dokumente zu unterzeichnen hatten. Der französische Ministerpräsident Clemenceau unterstrich diese Geste noch, indem er den „cinq gueules cassés“ vor dem Eintritt der deutschen Delegation stumm die Hände schüttelte. Auf Hunderttausenden von Bildpostkarten sollten die fünf Soldaten nach dem Friedensschluss zum Symbol der französischen Kriegsopfer werden. Durch ihre entstellten Physiognomien gaben sie dem Krieg ein eigenes Gesicht und erhöhten dadurch stellvertretend das Gewicht der Schuldfrage sowie die Erwartungen an den Frieden.41 Aus der so bildgewaltig inszenierten Moralisierung und Emotionalisierung der Politik und ihrer Rückkopplung im Zeichen demokratischer Massenmärkte resultierten neuartige Bedingungen politischen Handelns.

1919 als Epochenschwelle? Konstellationen, Räume und Themen Vor dem Hintergrund dieser skizzierten Merkmale der Epochenschwelle nach dem Weltkrieg sind die Beiträge des vorliegenden Bandes einzuordnen. Sie widmen sich in vier Sektionen unterschiedlichen Konstellationen, Räumen und Themen. Sie erschließen die Vielfalt des Moments von 1919: in den Ambivalenzen, Vorläufen und langen Fortwirkungen. So entsteht ein – bei aller notwendigen Auswahl – symptomatischer Überblick, der wichtige Schwerpunkte der interna­ tionalen Forschung abbildet. Die erste Sektion des Bandes „Utopien und Übergänge seit 1917“ behandelt unterschiedliche Aspekte des langen Kriegsendes sowie des Nachkriegs und rekon­ struiert die Vielfalt der sortie de guerre, die sich nicht auf den 11. November 1918 reduzieren lassen. Gerd Koenen zeigt in seinem Vergleich zwischen Lenin und Wilson, wie stark bei beiden Protagonisten moralisch-ideologische Selbstbilder wirkten und zu jeweils übersteigerten Weltvisionen führten, sei es im Anspruch einer sozialistisch-revolutionären Weltmission bei Lenin oder im Zeichen des ­manifest destiny und des darauf bezogenen amerikanischen Exzeptionalismus bei Wilson. Die Phase seit 1917 ging dabei nicht in einer Vorgeschichte des Kalten Kriegs auf, und die Sowjetunion avancierte nicht ohne Weiteres zum ideellen 41  Jules Laroche: Au Quai d’Orsay avec Briand et Poincaré. Paris 1957, S. 92  f.; Verena Steller: Diplomatie von Angesicht zu Angesicht. Diplomatische Handlungsformen in den deutsch-französischen Beziehungen. Paderborn 2011, S. 461–465; Stéphane Audoin-Rouzeau: Die Delegation der „Gueules cassées“ in Versailles am 28. Juni 1919. In: Gerd Krumeich (Hg.): Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung. Essen 2001, S. 280–287; Nicolas Beaupré: Das Trauma des ­großen Krieges 1918–1932/33. Darmstadt 2009, S. 53; Sophie Delaporte: Les Gueules Cassées. Les blessés de la face de la Grande Guerre. Paris 1996, S. 161; Leonhard: Frieden (wie Anm. 1), S. 1032–1034.

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„Gegen-Amerika“ mit kollektivistischen Sozialpraktiken, wirtschaftlicher Planungseuphorie und gelenkter Massenkultur. Angesichts der von Staat und Partei definierten Sicherheitsprämissen nach innen und außen, und vor allem auf der Grundlage des politisch-militärischen und sozialen Terrors im Bürgerkrieg und erneut ab 1929/30, wurde die Sowjetunion zu einem international ausstrahlenden Inkubator für ein ganz neues Gesellschaftsmodell. Manfred Berg widmet sich Woodrow Wilson und dem Scheitern des Wilsonianism in den Vereinigten Staaten. Obwohl in der Frage der Ratifizierung des Versailler Vertrags und der Völkerbund-Akte ein Kompromiss im amerikanischen Senat möglich gewesen wäre, folgte Wilson allein seiner eigenen Richtschnur und begriff die Politik in dogmatischer Zuspitzung als persönlichen Kreuzzug. Seine eigene Interpretation der Politik in den USA reduzierte die Möglichkeiten für ­einen Kompromiss. Dennoch standen hinter dem Scheitern von Wilsons Konzept internationaler Politik nicht allein persönliche Gründe. Vielmehr trafen unterschied­ liche Einschätzungen von kollektiver Sicherheit aufeinander – der mögliche Einsatz militärischer Mittel, wie von Wilson vertreten, auf der einen und die Idee des Völkerbundes als bloße Vermittlungsinstanz ohne militärische Verpflichtungen, wie sie von Wilsons republikanischem Gegenspieler Henry Cabot Lodge repräsentiert wurde, auf der anderen Seite. Dabei agierten Wilsons Gegner als ameri­ kanische Nationalisten und Realisten, welche die internationale Politik aus der Konkurrenz widerstreitender Interessen heraus interpretierten. Wilsons eigener missionarischer Nationalismus lief darauf hinaus, Weltpolitik als eine von den USA angeführte liberale Weltordnung zu verstehen. Das aber war angesichts des weitverbreiteten Wunschs vieler Amerikaner, nach den Kriegsjahren so schnell wie möglich zurück zur Normalität zu gelangen, eine Minderheitenposition, wie die Wahlniederlage der Demokraten 1920 vor Augen führte. Jochen Böhler verweist in seinem Beitrag auf die weit über den November 1918 hinausreichende Kontinuität der Gewalt in Ostmittel- und Südosteuropa. Sie war mit einem entscheidenden Formwandel der Gewalt verknüpft, in dem sich der weltweite Staatenkrieg in zahllose Bürgerkriege transformierte. Paramilitärische Gewalt und Gewaltasymmetrien erhielten in diesem Kontext einen immer höheren Stellenwert. Politische, soziale und nationale Konfliktlinien, Klassenkämpfe, Revolution und Gegenrevolution, Staatsbildung und ethnische Konflikte über­ lagerten sich in diesen Räumen, in denen der Zerfall imperialer Herrschaft und konkurrierende Staatsbildungen das staatliche Gewaltmonopol untergruben. Eine solche Perspektive auf das lange und ungleichzeitige Kriegsende ist umso wichtiger, weil sie tradierte Vorstellungen von der umfassenden Handlungsmacht der in Paris versammelten Politiker und Diplomaten als „Friedensmacher“ relativiert. So wird hier besonders deutlich, was der lange Weg aus dem Krieg im Osten und Südosten Europas konkret bedeutete, nämlich eine eskalierende Konkurrenz zwischen Anhängern der untergegangenen Imperien auf der einen und Vertretern der neuen Nationalstaaten auf der anderen Seite im Zeichen einer radikal zugespitzten Ethnisierung der Politik. Die lange sortie de guerre erwies sich auch deshalb als besonders anfällig für entgrenzte Gewalt, weil es hier vielerorts zu keiner voll-

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ständigen Demobilisierung kam, sondern zu einer Umwidmung von Menschen, Waffen und Ressourcen in neuen Konflikten. Als im Laufe der 1920er-Jahre dann eine äußere Befriedung der Regionen einsetzte, verlagerte sich die Gewalt nach innen – und bis zum Ende der 1920er-Jahre verwandelten sich fast alle Staaten Ost- und Südosteuropas, die als formale Demokratien in den Nachkrieg gestartet waren, in autoritäre Regime. In vielen Fällen war es der Verweis auf die prekäre innere und äußere Sicherheit, mit dem man das Ende der parlamentarischen Demokratien begründete. Einen besonders spannenden Fall des Übergangs stellte das Osmanische Reich dar, dem sich Erik-Jan Zürcher widmet. Die nationale Widerstandsbewegung zwischen 1918 und 1922 rekrutierte sich aus früheren Mitgliedern des „Komitees für Einheit und Fortschritt“, das von 1913 bis 1918 die Schaltstellen der Macht besetzt hatte und auch für den Genozid an den Armeniern verantwortlich war. Gegenüber der Regierung des Sultans, die sich gegenüber den Alliierten als machtlos erwies, hielten die jungtürkischen Mitglieder der Bewegung am Rahmen des Osmanischen Reichs fest. Entsprach diese Strategie dem Versuch, die Unabhängigkeit und territoriale Integrität des Osmanischen Reichs zu erhalten, beriefen sie sich zugleich auf die neuen Kriterien von Nation und Nationalstaat, wobei sie sich bei der Definition der Nation auf die Gemeinschaft der osmanischen Muslime bezogen. Das erlaubte es ihnen – wie vielen anderen Bewegungen weltweit –, ihre Forderungen mit dem Programm des amerikanischen Präsidenten Wilson und dem Prinzip der nationalen Selbstbestimmung zu verknüpfen, zumal Wilson in den „Vierzehn Punkten“ ausdrücklich die Rechte der Türken erwähnt hatte. Nur auf dem linken Flügel der Bewegung fand auch das Modell der Bolschewiki Resonanz, wobei es hier weniger um das sozialistische Gesellschaftsmodell ging als um die Idee des antiimperialen Kampfs. Die nationale Widerstandsbewegung im Übergang vom Osmanischen Reich zur Türkischen Republik unterstrich nach 1918 den Versuch, eigene politische Agenden durch die Berufung auf universelle Prinzipien aufzuwerten und ihnen zusätzliche Legitimation zu verschaffen. In der zweiten Sektion „Varianten globaler Erwartungen und Ermächtigungen“ stehen die Erfahrungen und Hoffnungen in unterschiedlichen Weltregionen seit 1918 im Mittelpunkt, um den Fokus über Europa und die Vereinigten Staaten von Amerika hinaus zu erweitern und damit die Globalität des Moments von 1919 zu akzentuieren. Stefan Rinke konzentriert sich auf Zukunftserwartungen bei Kriegsende in den lateinamerikanischen Gesellschaften. In ihnen standen euphorische Projektionen neben großer Skepsis. Durch den Weltkrieg hatten sich hier wirtschaftliche und soziale Hoffnungen entwickelt, die sich wie in Argentinien nicht selten entluden, wo im Januar  1919 in der Semana Trágica Hunderte von Menschen bei der Niederschlagung eines Aufstands ums Leben kamen. Neu war vor allem die Entstehung sozialer Bewegungen, die ohne die transnationalen Beziehungen und Verflechtungen nicht zu verstehen waren. Europäische Erfahrungen von Revolution und Gegenrevolution wurden auf Lateinamerika übertragen und lösten dort ganz eigene Entwicklungsdynamiken aus. Deutlich wird am Beispiel Lateinamerikas vor allem das Zusammenspiel längerfristiger Entwicklungen,

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die durch den Verlauf des Kriegs, die Revolution der Bolschewiki und die mit Wilson verbundenen Hoffnungen katalysiert wurden. Wie in vielen Gesellschaften weltweit schlugen die euphorischen, mit dem Programm des amerikanischen Präsidenten verbundenen Hoffnungen sehr bald in Desillusionierungen und ein verbreitetes Gefühl der Unsicherheit um – mit enormen Konsequenzen für die politischen und sozialen Entwicklungen in den 1920er- und 1930er-Jahren. Auch in Japan prägten zunächst hohe Erwartungen das Kriegsende, die mit dem Programm des amerikanischen Präsidenten assoziiert wurden. Zugleich zeigt Jan Schmidt in seinem Beitrag, wie in Asien seit 1918 konkurrierende Ordnungsvisionen aufeinandertrafen. Setzte sich in den politischen und wirtschaftlichen Eliten Japans eine paternalistische Haltung gegenüber China fort, kristallisierte sich in der Enttäuschung über den Versailler Vertrag und über die Zugeständnisse der westlichen Sieger gegenüber Japan auf Kosten Chinas ein japanisch-chinesischer Gegensatz heraus. In der „Bewegung des 4. Mai“ kulminierten diese Entwick­ lungen und schlugen sich in der Forderung chinesischer Nationalisten nach Souveränität und Integrität ihres Landes nieder. Während die militärische Führung Japans schon an die Mobilisierung der Nation in einem künftigen Krieg dachte und eine japanische Festlandsherrschaft zur Sicherung von Rohstoffen ins Auge fasste, argumentierten Ministerialbeamte für eine erweiterte Partizipation von Arbei­tern und Frauen, um diese künftige Mobilisierung zu ermöglichen. Obwohl die schwere Wirtschaftskrise von 1920 die Ausgangsposition für weitergehende Reformen schwächte, bedeutete der Übergang vom Weltkrieg in die Nachkriegsphase für Japan eine Distanzierung von europäisch und westlich dominierten Ordnungsvorstellungen. In diesem Zusammenhang standen auch Ideen einer eigenen Zeitlichkeit Asiens, eines asiatischen 20. Jahrhunderts. In Bezug auf Afrika und die Vertreter des Panafrikanismus konstatiert Florian Wagner am Ende des Weltkriegs ein breites Panorama von Reaktionen, das sich nicht auf ein kohärentes Zusammenwirken von Panafrikanismus und Antikolonialismus reduzieren lässt. Die Vorstellung, das Jahr  1919 sei der Geburtsmoment nationaler Bewegungen in Afrika gewesen, überträgt eher europäische Erfahrungsgehalte auf Afrika als der Situation vieler afrikanischer Gesellschaften wirklich gerecht zu werden. Viele Vertreter afrikanischer Eliten hielten durchaus an der europäischen Kolonialherrschaft, auch an Assimilationsmodellen, fest, wenn sie damit situativ eigene Interessen durchsetzen konnten. Sie changierten in ihren Positionen zwischen Herrschaftsbestätigung, Kolonialreform sowie Kolonialkritik und suchten gleichzeitig ihre konkrete Handlungsmacht vor Ort zu erweitern. Erst die Desillusionierung über die weitere Entwicklung, die ungebrochene Kontinuität rassistischer Hierarchien im Rahmen der nach 1918 noch einmal ausgeweiteten europäischen Kolonialherrschaft, führte seit dem Ende der 1920er-Jahre zur Radikalisierung, als sich erstmals Allianzen zwischen afrikanischen Eliten und Arbeitern abzeichneten. Gegenüber der Akzentuierung des Moments von 1919 durch spezifische Er­ fahrungen und Erwartungen in bestimmten Weltregionen thematisiert die vierte Sektion des Bandes „Völkerrecht, Sicherheit und Zugehörigkeit als neue Heraus-

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forderungen“ drei wichtige Leitmotive, die mit den Friedensschlüssen und der Nachkriegsphase verbunden waren. Sie strahlten weit ins 20. Jahrhundert aus und prägen unsere Gegenwart bis heute. Marcus M. Payk konstatiert für die Geschichte des Völkerrechts zunächst eine Zäsurwirkung der Pariser Friedenskonferenz und ihrer Verträge. Er interpretiert den Weltkrieg als entscheidende Etappe in der Auseinandersetzung mit dem Völkerrecht, das in der Juridifizierung der internationalen Beziehungen eine neue Relevanz erhielt, wie der Umgang mit dem Deutschen Reich exemplarisch bewies. Der Fokus auf einen Vertragsfrieden mochte weitreichende Interessenkonflikte und Machtrivalitäten zwischen den Sieger­mächten verdecken, aber er unterstrich doch die gewachsene Bedeutung der Sprache des Rechts als Basis für die Neuordnung nach dem Weltkrieg. Das bedeutete jenseits der Instrumentalisierbarkeit des Rechts eine Selbstbindung der Sieger, die ihre Handlungsfreiheit beschränkte. Allerdings zeigt Payk auch die Ambivalenz der neuen Bindung an das Recht: Es konnte im Zeichen legalistischer Verengung die Freiräume der Diplomatie reduzieren wie im Falle der deutschen Delegation auf der Friedenskonferenz. Und gegenüber den zunehmend aggressiven Revisionismen erwies sich die Sprache des Rechts und die normative Prägung der Friedensschlüsse als ein eher schwaches Instrument der Friedenswahrung. Das von den Verlierern seit 1919/20 immer wieder angeführte „Recht des Schwächeren“ bildete vielfach nur den Anlass dafür, auf die Glaubwürdigkeitsdefizite und die fehlende Legitimation des Friedens hinzuweisen und das eigene Handeln als Notwehr zu begründen. Die rechtliche Rahmung und Überprägung von Frieden und Sicherheit stellten jedenfalls keine Garantie für ein größeres Vertrauen in den internationalen Beziehungen dar. Patrick Cohrs ordnet den historischen Moment von 1919 in größere Zusammenhänge ein. Dem Ringen um eine belastbare atlantische Sicherheitsordnung, in der Cohrs den Angelpunkt der Neuordnung von 1919 erkennt, wird man jedenfalls nur mit einem solchen geweiteten Blick gerecht. Entscheidende Wegmarken waren nach dem Höhepunkt der französisch-deutschen Konfliktgeschichte in der Ruhrkrise von 1923 das Londoner Reparationsabkommen von 1924 und vor allem der im Herbst 1925 abgeschlossene Sicherheitspakt von Locarno. In ihm kam die globale finanz- und wirtschaftspolitische Dominanz der Vereinigten Staaten zum Tragen und ließ eine neue Qualität transatlantischer Sicherheit entstehen. Zum ersten Mal wurden die französischen Sicherheitsinteressen und die Integra­ tion Deutschlands, auch durch die auf der Basis von Locarno erreichte Mitgliedschaft des Deutschen Reichs im Völkerbund, wirklich zusammengedacht. Durch ein System wechselseitiger, international abgesicherter Sicherheitsgarantien und weitere Mechanismen politischer Streitschlichtung sollten auch künftige Grenzund Minderheitenkonflikte in Ost- und Ostmitteleuropa entschärft werden. Die deutsche Prämisse einer friedlichen Revision fand hier einen wichtigen Ansatzpunkt, während gleichzeitig französische und osteuropäische Sicherheitsinteressen aufeinander bezogen wurden. Über die Regierungspolitiken hinaus entwickelten sich in vielen Bewegungen, Institutionen und Netzwerken Ansätze einer neuen transatlantischen international society, die bis in die Kriegsächtungsbewegung und

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den Kellogg-Briand-Pakt von 1928 reichten. Obwohl diese Ansätze seit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise und dem Aufstieg aggressiver Revisionismen unter immer größeren Druck gerieten, setzten sich nach 1945 langfristige Lernprozesse fort. Das Ergebnis war eine insgesamt belastbare Pax Atlantica während des Kalten Kriegs, die 1989 auch auf Osteuropa ausgeweitet werden konnte. In ihrem Beitrag über Staatenlosigkeit beleuchtet Kathrin Kollmeier ein in qualitativer und quantitativer Hinsicht nach dem Ersten Weltkrieg neuartiges Pro­ blem. Imperiale Zerfallsprozesse, die Neugründung souveräner Nationalstaaten, Bürgerkriege, der Umgang mit ethnischen Minderheiten, erzwungene Flucht und Massenvertreibungen ließen mehr Menschen als je zuvor ohne eine staatsrechtliche Zuordnung zurück. Seit 1918 wurde Staatsbürgerschaft im Modell des souveränen Nationalstaats immer stärker zum Kriterium politischer Zugehörigkeit und konnte entsprechend instrumentalisiert werden. In der Praxis bedeutete dies einerseits die Entrechtung ganzer Bevölkerungsgruppen und andererseits inten­ sivierte internationale Anläufe zur Lösung des Problems. Das Beispiel des vom Völkerbund organisierten Nansen-Passes verweist darauf, dass ein neues Bewusst­ sein für Staatenlose und Flüchtlinge als besonders vulnerable Personengruppen entstand und sich in der Formulierung neuer Rechtskategorien niederschlug. Doch in der Praxis setzte sich die Entrechtung vielfach weiter fort, ja sie spitzte sich während des Zweiten Weltkriegs und nach 1945 gar noch einmal zu. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich dann ein regelbasiertes Asylrecht. Dazu kam eine stärkere Reflexion über den Status von Flüchtlingen, Staatenlosen und Displaced Persons, die niemals allein Objekte staatlichen Handelns, sondern immer auch aktive historische Akteure waren. In einem Ausblick widmet sich die fünfte Sektion „Demokratie als Versprechen und Krisenerfahrung“ einem breiten Thema, das hier exemplarisch mit zwei in ihren Interpretationen durchaus divergenten Beiträgen behandelt wird und in den unterschiedlichen Akzentsetzungen symptomatisch den Stand der aktuellen Forschungsdiskussion wiedergibt. Beide Beiträge zusammen dokumentieren das Spannungsfeld der Demokratie nach dem Weltkrieg zwischen erheblichen strukturellen Belastungen einerseits sowie Chancen und Resilienz andererseits. Boris Barth verweist in seiner Antwort auf die Frage nach dem Scheitern so vieler Demokratieanläufe in Europa, zumal in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa, auf ein Grundproblem der neuen Staatenwelt nach 1918. Als wichtige Belastungsfaktoren identifiziert er die Praxis der Ethnisierung und Massenvertreibungen. Die nach dem Ende der kontinentaleuropäischen Imperien gebildeten Nachfolgestaaten in den Gebieten des Russischen Reichs, der Habsburgermonarchie und des Osmanischen Reichs verstanden sich zwar als Nationalstaaten, waren aber mit multieth­ nischen Gesellschaften konfrontiert. Die mehrfache Herausforderung – die Staatsund Nationsbildung, der Aufbau demokratischer Strukturen, der Umgang mit Minderheiten sowie die Garantie äußerer und innerer Sicherheit – überforderte die meisten neuen Staaten. Als Konsequenz ebnete die gezielte Ethnisierung der Politik in vielen Fällen antidemokratischen Bewegungen und autoritären Regimes den Weg. Zudem wurden viele Vertriebene und Flüchtlinge in ihren revisionisti-

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schen und revanchistischen Forderungen instrumentalisiert und damit außenpo­ litische und gesellschaftliche Krisenpotenziale miteinander verknüpft. Die Frage ihrer erfolgreichen Integration in die neuen Staaten erwies sich häufig als Testfall für die Resilienz der Demokratie. Gegenüber dieser skeptischen Interpretation betont Tim B. Müller in seinem abschließenden Beitrag am Beispiel der transatlantischen Diskussion die prinzipielle Offenheit des mit der Demokratie in den 1920er- und 1930er-Jahren assoziierten Krisenbegriffs. „Krise“ meinte nicht den determinierten Weg in das Scheitern der Demokratie – eine Interpretation, die häufig allzu sehr aus der Logik des Rückblicks resultiert. „Krise“ konnte bei allem Bewusstsein der Zeitgenossen für die Belastungen auch Chance und mögliche Erfüllung der mit Demokratie verbundenen Erwartungen bedeuten. Zur Demokratie gehörte seit dem Ende der 1920erJahre eine ausgeprägte Krisenreflexion, die immer auch das Vertrauen auf das zukunftsweisende Potenzial der Demokratie enthielt. Dieses Bewusstsein war eng damit verbunden, dass Demokratie seit den 1920er-Jahren stärker als je zuvor in globalen Wirkungszusammenhängen, Verflechtungen und Transferprozessen interpretiert wurde. Vor diesem Hintergrund setzten viele Zeitgenossen darauf, von Krisenerfahrungen und Lösungsansätzen in anderen Gesellschaften profitieren zu können. Dabei verschlossen die optimistischen Interpretationen nicht den Blick auf eine spezifische Ungleichzeitigkeit zwischen den Fortschritten in der Verwirklichung der politischen Demokratie und den bedrohten Ansätzen sozialer Demokratie. Dennoch vertrauten mit Blick auf die Entwicklungsdynamik moderner Gesellschaften und Wirtschaftsstrukturen viele Publizisten und Wirtschaftsexperten auf die Demokratie als unausweichliche Organisationsform des modernen Kapitalismus.

Ausblick: Die Konkurrenz der Versprechen zwischen vergangener Zukunft und retrospektiver Teleologie Die großen Erwartungen an eine Neuordnung der Welt ließen sich nicht auf das Jahr 1919 reduzieren: Sie besaßen ihre eigenen Vorläufe, ihre eigene longue durée, und sie waren so polyzentrisch wie der Weltkrieg sich seit dem Sommer 1914, und insbesondere ab 1917, entwickelt hatte. Die vielen globalen Ordnungsvisionen, die ab 1917 an vielen Orten entstanden waren, nicht nur in Petrograd, Washington oder Paris, stellten vor diesem Hintergrund den Versuch dar, eine durch den Krieg entstandene Unübersichtlichkeit sowie die Vielfalt von Kontexten und Eigendynamiken im Namen universeller Prinzipien zu resychronisieren. Die Phase nach 1918 dokumentierte aber eine zunehmend unkontrollierbare Dynamik gegenläufiger Entwicklungen. Denn die Verknüpfung aus kriegerischer Gewalt im Namen demokratischer Partizipation und einem Ideal nationaler Homogenität, oder aus Weltrevolution und Befreiungsversprechen, bedeutete nicht das Ende aller zukünftigen Kriege, wie dies in der Hoffnung ausgedrückt worden war, der ungeheure Blutzoll der Opfer des Weltkriegs diene einem „war to end all wars“.

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Vielmehr entstanden aus der Umsetzung der neuen Vorstellungen zahlreiche neue Gewaltkulturen in Europa und weit darüber hinaus.42 Der Beginn des Kriegs im August  1914 hatte bei Menschen in ganz unter­ schiedlichen Weltregionen noch einen gemeinsamen Zusammenhang gebildet. Der 11. November  1918 dagegen beendete lediglich den Krieg zwischen Staaten im Westen Europas. Der Waffenstillstand unterbrach aber nicht das Kontinuum der Gewalt in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa, in der Zerfallszone der multieth­ nischen Großreiche Russlands, Habsburgs und des Osmanischen Reichs, wo der Staatenkrieg zum Staatszerfall führte, wo der Weltkrieg in Bürgerkriege und ethnische Konflikte überging, die Front in einen Gewaltraum, in dem jeder zum Feind werden konnte.43 Der bis in die Gegenwart reichende eurozentrische Fokus auf den Waffenstillstand im November  1918 und auf 1919 als das Jahr der Friedenskonferenzen verdeckt die Entstehung ganz neuer Gewaltzentren. Das zeigte sich bereits innerhalb Europas, etwa in Irland, wo mit dem Kriegsende ein blutiger Bürgerkrieg einsetzte, im Baltikum, und zumal in Polen, wo der Weltkrieg nur als Vorspiel zum eigentlichen Kampf gegen die Rote Armee um die Behauptung und Arrondierung des neu gewonnenen Nationalstaates erschien.44 Hier wie in anderen Kontexten handelte es sich immer wieder um die Praxis vollendeter Tatsachen, die bereits lange vor völkerrechtlich verbindlichen Abkommen durch militärische Inter­ventionen und Besetzungen geschaffen worden waren. Viele Staatsbildungen, die der Polen, der Tschechen und Slowaken, der Serben, Kroaten und Slowenen, waren bereits vor Beginn der Friedenskonferenzen weitgehend abgeschlossen. Damit fielen die Handlungsspielräume der Diplomaten und Experten in Paris viel geringer aus als es die symbolische Inszenierung der großen Politik auf der Friedenskonferenz glauben machte. Neue Gewalträume entstanden aber auch in anderen Weltregionen, in Ägypten etwa, überhaupt im Nahen und Mittleren Osten und in Indien, wo es 1919 zum Massaker von Amritsar kam.45 Diese besondere Ungleichzeitigkeit von Erfahrungen stieß zugleich auf die hohen Erwartungen, welche die Zeitgenossen am Ende des Kriegs mit einer neuen Friedensordnung verbanden: territorial und nationalpolitisch, antikolonial in der Berufung auf das Prinzip der Selbstbestimmung, internationalistisch im Hinblick auf den Völkerbund, innenpolitisch in der Hoffnung auf den Durchbruch der

42 Herbert

George Wells: The War that Will End War. London 1914; Leonhard: Frieden (wie Anm. 1), S. 28. 43  Karl Bosl/Winfried Baumgart (Hg.): Versailles – St. Germain – Trianon. Umbruch in Europa vor fünfzig Jahren. München 1971; Ivan T. Berend: The Crisis Zone of Europe. An Interpretation of East Central European History on the First Half of the Twentieth Century. Cambridge 1986; Karen Barkey/Mark von Hagen (Hg.): After Empire. Multiethnic Societies and Nation-Building. The Soviet Union and the Russian, Ottoman, and Habsburg Empires. Boulder 1997; Magda Ádám: The Versailles System and Central Europe. Aldershot 2004. 44  Jochen Böhler: Enduring Violence. The Postwar Struggles in East-Central Europe, 1917–1921. In: JCH 50 (2014) 1, S. 58–77; Julia Eichenberg/John Paul Newman: Introduction. Aftershocks. Violence in Dissolving Empires after the First World War. In: CEH 19 (2010), S. 183–194. 45  Leonhard: Frieden (wie Anm. 1), S. 21, S. 144  f., S. 280 f., S. 925 f.

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Massendemokratie, sozial mit Blick auf Wohlfahrts- und Versorgungsstaatlichkeit. Die hohen Opfer des Kriegs und die Versprechen aller Kriegsstaaten hatten im Laufe des Kriegs immer größere Ansprüche an eine künftige Friedensordnung akkumuliert. Diese Ansprüche wurden universalistisch begründet, aber sie entsprangen je partikularen Kontexten, wiesen je spezifische Vorläufe, Akteurskonstellationen, Interessenkonflikte und Eigendynamiken auf. Dass aus der Konkurrenz der vielen Versprechen eine überforderte Friedensordnung entsprang, hatte seine Ursachen in einer „Revolution steigender Erwartungen“ in praktisch allen Gesellschaften, die direkt oder indirekt in den globalen Krieg involviert worden waren. Alle europäischen Kriegsakteure hatten nach Ausbruch des Kriegs auf das Prinzip von Nation und Nationalstaat gesetzt, um Verbündete zu gewinnen. Und in all diesen Fällen bedingte die Kriegsbeteiligung widersprüchliche Erwartungen, hinter die man nach dem Ende des Kriegs nicht mehr zurückweichen konnte.46 Noch darüber hinaus ging schließlich die utopische Dimension des Internationalismus, verstanden als endgültige Überwindung des Kriegs. Henri Barbusse, der Autor des schonungslosen Kriegsbuches „Le feu“ von 1916, betonte am Ende des Kriegs: „Menschheit statt Nation. 1789 riefen die Revolutionäre: ‚Alle Franzosen sind gleich.‘ Wir sagen: ‚Alle Menschen!‘ Die Gleichheit erfordert gemeinsame Regeln für alle Menschen der Erde.“47 Diese Hoffnung, der Weltkrieg sei mit seinen entsetzlichen Opfern nicht umsonst gewesen, weil er eine neue Weltinnenordnung geschaffen habe, sollte ihren normativen Anspruch danach nicht mehr verlieren. 1919 markierte insofern einen Moment, ab dem in den politischen und diplomatischen Reaktionen auf den Großen Krieg bereits die Desillusionierung der globalen Hoffnungen sichtbar wurde, die zu einer Grunderfahrung des 20. Jahrhunderts werden sollte. In dieser zuletzt angedeuteten Perspektive steckt allerdings auch eine hermeneutische Falle. Denn dieser Krieg, der Kampf um den Frieden und die mit ihm identifizierten Ordnungsvisionen entziehen sich dem Diktum der Vorvergangenheit von 1914 und 1918 im Verhältnis zur Vergangenheit von 1933, 1939 oder 1941. Sie wird gerade aus deutscher Perspektive immer wieder bemüht, um das Zeitalter der Extreme bis 1945 zu kategorisieren: so als seien 1914 und 1918/19 lediglich Etappen auf dem Weg in die noch größere Katastrophe nach 1933, als könne man die Phase zwischen dem August 1914 und dem Mai 1945 als „zweiten Dreißigjährigen Krieg“ epochal bündeln, als enthielte das Ende des Ersten Weltkriegs bereits den Keim zum Zweiten Weltkrieg, und als sei es ab 1939 nur so gekommen, wie es nach 1918 habe kommen müssen. Gegen die Suggestionskraft der rückblickenden Logik, welche die Geschichte nur auf die eine am Ende eingetretene Wirklichkeit reduziert, steht die offene Zukunft des historischen Moments, 46  Alexis

de Tocqueville: The Old Regime and the French Revolution. New York 1955, Teil III, Kap. 4 (S. 176–181), Kap. 5 (S. 186 f.); Jörn Leonhard: 1917–1920 and the Global Revolution of Rising Expectations. In: Rinke/Wildt (Hg.): Revolutions (wie Anm. 29), S. 31–51. 47  Henri Barbusse: Der Schimmer im Abgrund. Ein Manifest an alle Denkenden. Basel [undat.], S. 60.

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auch die der Umbrüche, die wir mit 1919 verbinden.48 Worin besteht dann die Herausforderung für Historiker und Historikerinnen? Sie müssen die Spannung zwischen Universalismus und Partikularismus fruchtbar machen, globale Gleichzeitigkeit nicht per se mit kausaler Erklärung gleichsetzen und Belastungen aus den Kontexten herausarbeiten, ohne die Gegenwart gegen die Geschichte auszuspielen und den Zeitgenossen von einst ihre vergangene Zukunft zu verengen.

48 

Leonhard: Frieden (wie Anm. 1), S. 27 f., S. 1277.

Utopien und Übergänge seit 1917

Gerd Koenen Lenin und Wilson Ein welthistorischer Vergleich Über die Bedeutung und Aktualität des Themas des vorliegenden Bandes (und der ihm vorausgegangenen Tagung) – die Neuordnung der Welt am Ausgang des Ersten Weltkriegs – kann es heute, da diese Ordnung in Teilen der Welt zu kollabieren scheint, keinen Zweifel geben. Eine gewisse Skepsis könnte man allerdings gegenüber den im Ausschreibungstext der Konferenz genannten Begriffspaaren hegen: „Ordnungsmodelle und Friedensordnungen“ hier – „Gewalt, Gewalterfahrungen, Gewalträume“ dort. Vor allem die Figur, mit der sich der folgende Beitrag in erster Linie beschäftigen wird, Lenin, sprengt diese dichotomischen Kategorien. Aber auch bei Wilson sind Zweifel angebracht, inwieweit man ihn vor allem als einen Friedens- und Ordnungspolitiker, als Idealisten und Utopisten beschreiben kann – auch wenn er diesen Zuschreibungen mit Sicherheit näher kommt als Lenin. Dass der Erste Weltkrieg eine Gewaltdynamik entfaltet hat, die alle herge­ brachten Maßstäbe gesprengt hat, ist eine unstrittige, aber deshalb nicht banale Feststellung. Der Begriff des „Totalen“ kam nicht zufällig inmitten dieser Kriegs­ anstrengun­gen auf: die totale Mobilmachung aller Kräfte, Ressourcen, Vernichtungstechniken et cetera; und er ging von dort über ins Politische, Propagandis­ tische, Ideologische. Der Krieg „totalisierte“ alle möglichen Ansprüche auf soziale Bedeutung und politische Teilhabe, auf nationale Integrität und innere Sicherheit und – bei den großen Krieg führenden Mächten – auf globale Geltung.1

1 Vgl.

Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. München 2014, bes. die Eingangs- und Schlussbetrachtungen. Ob die „Totalisierung“ der Gewaltmittel sich wesentlich aus der „Ideologisierung“ der durch den Krieg vollends entfesselten widersprüchlichen Erwartungen der Akteure erklärt (vgl. ebd., S. 998–1000), ob man geradezu von einer „Utopienkonkurrenz im Zeichen von Wilson und Lenin“ sprechen kann (ebd., S. 1008) oder ob nicht die Ideologien und Utopien denselben Prozessen der „Totalisierung“ unterliegen – also statt Erklärungen zu liefern selbst etwas zu Erklärendes bleiben und auf eine jeweilige Mixtur materieller, mentaler, sozialpsychologischer Interessen und Dispositionen der Akteure zurückverweisen –, bleibt die große Frage. Mein hier vorgelegter Aufsatz ist ein (notgedrungen grober) Versuch, das scheinbar so manifeste ideologische oder utopische Element in den Proklamationen Lenins und Wilsons zurück auf den profaneren Boden einer russischen beziehungsweise amerikanischen Weltpolitik zu stellen. https://doi.org/10.1515/9783110653359-002

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Der Begriff des „Totalitären“, der seit den 1930er-Jahren in Umlauf kam, um das Neuartige, Präzedenzlose, Inkommensurable der faschistischen wie der kommunistischen Bewegungen und Diktaturen des Zeitalters kategorial zu erfassen, knüpfte daran an, aber ging in diesen, aus dem Krieg geborenen Steigerungen nicht auf. Noch weniger lässt sich die Politik und Praxis eines sogar juristisch auf „Terror“ gegründeten Gemeinwesens wie Sowjetrussland unter dem Diktat Lenins – später dann Stalins – aus der extremen Kriegs- und Gewalterfahrung nach 1914 herleiten. Die Verheerungen, Verluste und Exzesse des militärisch ausgefochtenen, von Massenterror begleiteten Bürgerkriegs auf dem Territorium des zerfallenen, gewaltsam wieder neu zusammengefügten russländischen Vielvölkerreichs übertreffen die der Weltkriegsjahre deutlich. Wahr ist allerdings, dass es ohne den Weltkrieg keine bolschewistische Machteroberung und vermutlich auch keinen Weltkommunismus – so wie er das weitere 20. Jahrhundert wesentlich geprägt hat – gegeben hätte, und dass die Kampfbewegungen leninistischen Typs auf andere Weise als die faschistischen Bewegungen als eine Fortsetzung des Weltkriegs mit politischen Mitteln angesehen werden können. Lenin und seine Partei der Bolschewiki kamen im Oktober/November 1917 in einer Situation zum Zuge, die als Umschlag einer großen, vielleicht der größten volkstümlichen Revolution der Geschichte in einen Prozess der rasenden „Involu­ tion“ beschrieben werden kann. Dieser aus der Medizin stammende Begriff meint einen Kollaps der „inneren Organe“, hier also des Russländischen Reichs, so wie es über Jahrhunderte verfasst gewesen war: als eine mental tief verwurzelte autokratische Ordnung und als ein hochgradig staatswirtschaftlich organisierter Komplex mit schwachen zivilgesellschaftlichen Institutionen. Diesem weit überdehnten, politisch, administrativ und kommunikativ nie voll erschlossenen und erfassten, durch den Krieg einer extremen Belastungsprobe unterzogenen Vielvölkerimpe­ rium brach im Februar/März 1917 buchstäblich über Nacht das politische und administrative Zentrum weg. Dabei war der Sturz der 300 Jahre alten Zaren­ dynastie nicht die Folge einer Niederlage – die Armeen waren äußerlich intakt, so wie die Wirtschaft grosso modo auch –, sondern eines nach innen gewendeten ­sozialen Revanchismus, mit dem große Massen (Soldaten, Arbeiter, Bauern oder Angehörige unterdrückter Nationalitäten) für die Leiden und Anstrengungen des Kriegs Kompensation forderten. Der psychopolitisch wirksamste Ausdruck dessen war es, die Dynastie der Romanows nach einem in vielen historischen Revolutionen geläufigen Muster als eine landfremde, feindliche, korrumpierte Macht des Verrats am eigenen Volk und Staat zu bezichtigen und aus der sich neu konstituierenden Nation auszuschließen. Bekanntlich wandte Lenin sich sofort nach seiner Rückkehr aus dem Exil im April 1917 diametral gegen die von einer breiten Koalition aus Liberalen und ­Sozialisten getragenen, keineswegs aussichtslosen, mit der Doppelstruktur von Regierung und Sowjet sogar recht glücklich begonnenen Bemühungen, dieses multinationale Staats- und Gemeinwesen als eine soziale und demokratische Föderativ­republik zu reorganisieren und auf provisorische institutionelle Füße zu stellen. Lenins strategischer Leitgedanke, den er erstmals in seinen „Aprilthesen“

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gleich nach seiner Ankunft entwickelte und in einem Wirbel von Reden und Artikeln weiter ausführte, war es dagegen (auch wenn er in seiner Wortwahl zunächst vorsichtiger war), die gegenüber dem zaristischen Regime verfochtene Politik eines „revolutionären Defätismus“, sprich: einer „Umkehrung der Bajonette“, unmittelbar auch gegen die provisorische Regierung der neuen, demokratischen Republik zu wenden.2 Mit den Kategorien „Friedenspolitik“ oder „Ordnungskonzept“ war diese Revolutionsstrategie Lenins von vornherein nicht zu fassen; auch nicht dort, wo sie als militanter „Kampf für den Frieden“ auftrat. Vielmehr war sie eine eigene, ex­ treme Form eines revolutionären Bellizismus, einer Weltkriegspolitik sui generis, wie der Führer und Gründer der Bolschewiki sie ab dem Kriegsbeginn 1914 in der vermessensten und erstaunlichsten Weise von der Schweiz aus betrieben hatte. Sie beruhte auf der spekulativen Erwartung eines finalen Zusammenbruchs des Weltimperialismus als dem „höchsten Stadium des Kapitalismus“ – eines Zusammenbruchs, der eine Kette revolutionärer Erhebungen und letztlich eine sozialistische „Weltrevolution“ in seinem Schoße bergen werde. Als „ein großer, mäch­ tiger und allgewaltiger ‚Regisseur‘, der […] imstande war, einerseits den Gang der Weltgeschichte ungeheuer zu beschleunigen und andererseits weltumfassende Krisen […] von ungeahnter Intensität hervorzurufen“, habe der Weltkrieg – so schrieb Lenin vor seiner Rückkehr in seinen „Briefen aus der Ferne“ – „die kriegführenden Mächte […] mit eisernen Ketten aneinandergefesselt“, sodass sie jetzt „ein einziger blutiger Knäuel“ seien.3 Das war ein Denken in Kategorien eines globalen Armageddon, eines bereits angebrochenen Endkampfs, den es entschlossen zu begrüßen, nicht zu bejammern galt. Den „Sozialpazifismus“ der linken Sozialdemokraten, die in Deutschland wie in Russland sowie in den westlichen Ländern seit 1915 auf einen sofortigen Verständigungsfrieden „ohne Annexionen und Kontributionen“ drängten, brandmarkte Lenin durchgehend als noch verabscheuenswürdiger, weil noch betrügerischer, als den offenen „Sozialchauvinismus“ derer, die die jeweiligen Kriegsanstrengungen ihres Landes unterstützten. Damit veränderte sich die Perspektive, wenn nicht sogar der Begriff einer „sozialistischen“ Umwälzung: Wer „eine ‚reine‘ soziale Revolution erwartet“, schrieb Lenin 1916, „der wird sie niemals erleben“. Neben oder statt den Kämpfen von Fabrikarbeitern und städtischen Proletariern seien vielmehr Aufstände unterdrückter Nationen und Nationalitäten, Angriffe halbproletarischer bäuerlicher Massen gegen Grundeigentümer, Kirchen und Klöster, Meutereien der Soldaten an den Fronten und im Hinterland gegen sämtliche angestammten Gewalten sowie Rebellionen kleinbürgerlicher Schichten mit all ihren „reaktionären Phantastereien“ zu 2  Zu

diesem ganzen Komplex der Weltkriegspolitik Lenins vgl. Gerd Koenen: Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus. München 2017, S. 596–743; zu meiner Deutung der Interventionen vor und nach seiner Ankunft in Russland vgl. bes. ebd., S. 721–725, S. 735–742. 3  Lenin: Briefe aus der Ferne. Brief 1: Die erste Etappe der ersten Revolution [= Veröffentlicht in der „Prawda“, Nr. 14 und 15, 21./22. 3. 1917]. In: ders.: Werke. Bd. 23. Berlin 1957, S. 311–322 (Hervorhebungen im Original).

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erwarten.4 Mit Letzteren waren, ohne dass Lenin es ausbuchstabierte, in Russland die antisemitischen Pogromisten der „Schwarzhunderter“ gemeint sowie im Westen die entstehenden, vorerst noch namenlosen faschistischen Be­wegungen. So wie es galt, die Differenzen und Konflikte zwischen den imperialistischen Mächten auszunutzen oder möglichst zu schüren, kam den Revolutionären im ­Innern die Aufgabe zu, alle diese blinden, sogar reaktionären Bewegungen in ihre Kalküle einzusetzen und sie wie einen Tiger zu reiten. So abenteuerlich diese Politik war, enthielt sie Elemente eines furchterregenden Realismus. Da eine Niederlage des Zarismus, wie Lenin 1916 schrieb, für die revolutio­nären Sozialisten Russlands „‚in jedem Fall‘ das kleinere Übel“ sein würde5 (die bedeutungsvollen Anführungsstriche um „in jedem Fall“ hießen in der gegebenen Situation: wie weit die feindlichen Armeen auch vordringen würden), ergaben sich zwangsläufig taktisch, mitunter auch strategisch gleichlaufende Interessen mit dem Kriegsgegner, vor allem mit Deutschland. Dazu kam, dass das „junge“ Deutsche Reich von 1871 Lenins Imperialismustheorien zufolge trotz (oder sogar wegen) seiner autoritären Verfassung einen höheren, weiter entwickelten, weil staatlich ­organisierten Typus eines Kapitalismus verkörperte. Das gelte gerade auch im Vergleich zu den „alten“ Kolonialmächten des Westens, allen voran zu Großbritan­ nien, das dem moderneren Deutschen Reich seinen Aufstieg verbauen und seine eigene, längst reaktionär gewordene „Weltherrschaft“ (!) verteidigen wolle.6 Diese Sicht auf den Krieg, auf seine Ursachen und seine Grundanlage, kam nicht nur den deutschen Selbstentwürfen und Rechtfertigungen weit entgegen. Auch Lenins Unterscheidung der verschiedenen Typen einer Kriegswirtschaft entsprach theoretisch und empirisch in vielem den propagandistischen Selbstbildern einer planmäßigen, hoch organisierten und syndizierten deutschen Kriegswirtschaft, die Züge eines nationalen „Kriegssozialismus“ trage. Für das letztendlich überlegene Modell der demokratisch-privatwirtschaftlich verfassten, nur sehr lose syndizierten Rüstungswirtschaft Großbritanniens und für dessen zähe, anfangs ganz auf Freiwilligkeit beruhende Kriegsanstrengungen hatte Lenin keinen Sinn. Denn seine aus dem Weltkrieg geborene idée fixe eines mehr oder minder direkten Übergangs vom organisierten „Kriegskapitalismus“ zu einem noch rigoroseren „Kriegskommunismus“ eröffnete erst die doktrinäre Möglichkeit einer „proletarischen Diktatur“ im agrarisch-rückständigen Russland, also des Überspringens der nach allen Kriterien eines (wie auch immer interpretierten) Marxismus für notwendig gehaltenen Entwicklungsstufen.7 Erst damit löste der „Leni4  Lenin:

Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung [= „Sbornik Social-Demokrata“, Nr. 1, Oktober 1916]. In: ders.: Werke. Bd. 22. Berlin 1960, S. 326–368, hier: S. 363 f. 5 Lenin: Über den Separatfrieden [= „Social-Demokrat“, Nr. 56, 6. 11. 1916]. In: ders.: Werke. Bd. 23. Berlin 1957, S. 123–131, hier: S. 131. 6  Ebd., S. 124  f. 7  Das Konzept der Entwicklung eines „Kriegskommunismus“ mit den vorhandenen Elementen der Kriegswirtschaft hat Lenin in einer Vielzahl von Schriften vor und nach der Machteroberung entwickelt, am ausführlichsten in Lenin: Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten? [= „Prosweschtschenie“, Nr. 1/2, Oktober 1916]. In: ders.: Werke. Bd. 26. Berlin 1961, S. 71–121.

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nismus“ – wie man ihn ab jetzt mit Recht nennen konnte – sich von allen theoretischen Vorgaben und historischen Horizonten des europäischen Sozialismus. In diesen Zusammenhang gehört auch das diskrete Zusammenspiel Lenins mit der deutschen Reichsleitung bei deren konspirativ verfolgten, aber auch öffentlich erklärten Plänen einer „Dekomposition“ beziehungsweise „Revolutionierung“ des Russländischen (Vielvölker-)Reichs im Weltkrieg. Bei diesen Kollusionen vor und nach April 1917, die keineswegs exklusiv, aber zunehmend auf Lenin und ­seine Fraktion ausgerichtet waren, ist man keineswegs auf bloße Vermutungen ­angewiesen. Wundern kann man sich nur, in welch aufgebauschter Weise in einer populär-publizistischen Literatur noch immer über das „deutsche Gold“ geraunt und orakelt wird, das den eigentlichen Kitt für jenen „Teufelspakt“ (so einst ­Sebastian Haffner) geliefert haben soll, der mit der Durchschleusung Lenins und seiner Gruppe im „plombierten Zug“ im April 1917 den Bolschewiki erst den Weg zu Macht geebnet habe.8 Ebenso verwunderlich ist umgekehrt, mit welch frommer Scheu das Gros der seriösen, disziplinären Geschichtsschreibung dieses realpolitisch bedeutsame, in seinen Grundzügen leicht rekonstruierbare und politisch höchst plausible Zusammenspiel zwischen der deutschen Reichsleitung und Lenins Exilorganisation ins rein Episodische und Nebensächliche abdrängt und verbannt.9 Dabei liegen die Motive und Interessen der beiden Seiten klar zutage. Die zen­ tralen Akteure, etwa die Figur des deutsch-russisch-jüdischen Revolutionärs und Millionärs Alexander Parvus-Helphand und des von Lenin nach einem Treffen mit ihm im September 1915 in dessen Kopenhagener Import-Export-Kontor entsandten Jakub Fürstenberg-Hanecki, sind gut erforscht, aber wurden selten in ihrer ganzen Bedeutung gewürdigt. Schon im Oktober nahm Hanecki unter seinem Familiennamen Fürstenberg als Kompagnon und Geschäftsführer an der Gründung einer ins Kopenhagener Handelsregister eingetragenen Import-Export-Firma teil, die Helphand mit dem professionellen Handelsagenten des Berliner Generalstabs Georg Sklarz als Drittem im Bunde initiiert und mit einem Kapital von 40 000 Kronen ausgestattet hatte.10 Alles war offenkundig vorbereitet und direkt oder über Mittelsmänner besprochen. Hanecki war keine periphere Person. Der Sohn aus einer Warschauer Industriellen- und Bankiersfamilie war seit 1905 Mit 8 Sebastian

Haffner: Der Teufelspakt. Fünfzig Jahre deutsch-russische Beziehungen. Reinbek 1967. Exemplarisch für eine spekulativ und anekdotisch angelegte Darstellung vgl. Elisabeth ­Heresch: Geheimakte Parvus. Die gekaufte Revolution. München 2000. Weiter angelegt: Gerhard Schiesser/Jochen Trauptmann: Russisch Roulette. Das deutsche Geld und die Oktoberrevolution. Berlin 1998. Eine Durchsicht der Archivalien in freigewordenen sowjetischen Archiven in Ana­ tolij G. Latyšev: Rassekrečenny Lenin. Moskau 1996, bes. S. 90–114.  9  Als jüngstes Exempel einer weitgehenden Verkennung der Tragweite dieser deutsch-bolschewistischen Kollusionen vgl. Catherine Merridale: Lenins Zug. Eine Reise in die Revolution. Frankfurt a. M. 2017. 10 Vollständiger Text des übersetzten Dokuments in Schiesser/Trauptmann: Roulette (wie Anm. 8), S. 75–77 leider ohne genaue Quellenangabe. Dem Archivalienverzeichnis ist allerdings zu entnehmen, dass die Autoren im Firmenregister des Kopenhagener Ratsarchivs recherchiert haben.

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glied des radikalen Flügels der polnisch-litauischen Sozialdemokratie und fungierte schon ab 1912 als eine Art Majordomus, das heißt: als Hüter der Finanzen und Kommunikationen Lenins in seinen polnischen und Schweizer Exiljahren. Nach der Oktoberrevolution wurde er Chef der Zentralbank und Organisator des Außen­ handelsmonopols der Sowjetrepublik sowie Hüter der für interne und weltrevolutionäre Zwecke als Reptilienfonds im Untergeschoss des Moskauer Kremls gehorteten Schätze aus Kirchen- oder Privatbesitz.11 Die deutsch-bolschewistischen Kontakte und Verabredungen waren von vornherein auf einer sehr hohen Ebene angesiedelt: sowohl beim Berliner Außenministerium und seinen Gesandten in der Schweiz und in Skandinavien als auch beim Reichskriegsamt, der Obersten Heeresleitung und den ihnen zugeordneten Nachrichtendiensten. Dazu kamen die ähnlich hoch angesiedelten Kontakte einiger Akteure, etwa des adeligen Schweizer Sozialisten Carl Moor, mit den öster­ reichischen Behörden. Als Zwischenträger fungierten unter anderem eine Reihe deutscher Zeitungskorrespondenten wie Alfons Paquet von der „Frankfurter Zeitung“ und einige führende deutsche Sozialdemokraten wie Philipp Scheidemann oder Gustav Meyer.12 Bei diesen vielseitig geknüpften Verbindungen ging es um ungleich mehr als um einige Millionen Goldmark an direkten beziehungsweise (vermutlich noch bedeutender) an indirekten Subventionen oder andere praktische Hilfestellungen – so wichtig diese für die russischen Revolutionäre aller Richtungen auch waren und so sehr der Kampf um finanzielle Mittel gerade für Lenin von jeher ein nervus ­rerum aller seiner revolutionären Aktivitäten darstellte. Von der Sicherung ihres ausgedünnten, aber nie abgerissenen internationalen Verbindungsnetzes und der Schlagkraft ihres Druck- und Presseapparats hing für den kleinen Kernkader der Bolschewiki vieles, fast alles ab.13 Dafür hatte Lenin seit 1907 das Halbdunkel der kriminellen „Expropriationen“ (sprich: Raubüberfälle) und fragwürdiger juristischer Intrigen und Transaktionen nicht gescheut. Dasselbe galt auch für andere Gruppen russischer Revolutionäre, so vor allem für die Partei der Sozialrevolutionäre und ihren bewaffneten (terroristischen) Arm, die ebenfalls keine moralischen 11 

Für Helphand noch immer maßgeblich die Biografie von Winfried Scharlau/Zbynek B. Zeman: Freibeuter der Revolution. Parvus-Helphand. Eine politische Biographie. Köln 1964. Vgl. auch Boris Chavkin: Alexander Helphand: Finanzier der Weltrevolution. In: FOIS 11 (2007) 2, online zugänglich unter https://www1.ku.de/ZIMOS/forum/docs/Parvus.html (letzter Zugriff am 9. 1.  2023). 12  Zu diesem ganzen Komplex, namentlich auch zur Rolle von Alfons Paquet vgl. Gerd Koenen: Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900–1945. München 2005, bes. Kap. I. 4–6, Kap. II. 3, 4, 6. Eine detaillierte Zusammenstellung aller bis dahin bekannten Daten zu den deutsch-bolschewistischen Verbindungen findet sich in ders.: Rom oder Moskau? Deutschland, der Westen und die Revolutionierung Russlands 1917–1924. [Diss.] Tübingen 2002, S. 221–240, online zugänglich unter http://hdl.handle.net/10900/46192 (letzter Zugriff am 27. 6.  2021). 13  Dafür noch immer maßgeblich Michael Futrell: Northern Underground. Episodes of Russian Revolutionary Transport and Communication through Scandinavia and Finland 1863–1917. London 1963.

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oder politischen Bedenken hatten, vom Kriegsgegner Japan 1904/05 Subventionen anzunehmen.14 Dass diese russischen Sozialpatrioten im Weltkrieg aus diversen westlichen Quellen alimentiert wurden, war kein Geheimnis. Was hätte Lenin also abhalten sollen, ein – natürlich abgeschirmtes, unverbindliches und jederzeit dementierbares – Arrangement mit den deutschen Kriegsgegnern einzugehen? Aber weit über alle unmittelbaren, situativen Interessen hinaus ging es um die informelle Eröffnung einer strategischen Handlungslinie und Kräftekonstellation, die für beide Seiten potenziell entscheidend war: für das Deutsche Reich, um sich eine letzte Chance auf einen Sieg im Weltkrieg zu eröffnen, und für die Bolschewiki, um sich im Oktober/November 1917 mit schwachen, aber konzentrierten Mitteln fast kampflos an die Macht tragen zu lassen und sich mit Zähnen und Klauen an ihr festzuklammern. Diese im Herbst 1915 eröffnete Konstellation reichte im Übrigen weit über den Weltkrieg, die bolschewistische Machteroberung 1917 und die deutsche Niederlage 1918 hinaus. Das zeigen die diskreten Neuanknüpfungen 1919/20, die geheime militärische Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee seit dem Polenfeldzug 1920, die Sprengung der Weltwirtschaftskonferenz von Genua durch den Vertrag von Rapallo 1922, die Relativierung von Locarno 1925 durch den Berliner Vertrag von 1926, bis hin zum Hitler-Stalin-Pakt von 1939 und zur lose koordinier­ ten beiderseitigen Weltkriegspolitik bis 1941. Mit der Gründung des „Nationalkomitees Freies Deutschland“ 1943 in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern und der einer „Deutschen Demokratischen Republik“ auf einem gesamtdeutschen Volkskongress in Berlin im Oktober 1949 schrieb sich diese Linie einer hypothetischen deutsch-russischen Weltpolitik auf der Achse Moskau–Berlin weiter fort. Nur hatte sie den Schönheitsfehler, dass diese, von beiden Seiten virtuell bevorzugte Kräftekombination sich nur ausnahmsweise in eine erfolgreiche, überzeugende und tragfähige Innen- und Außenpolitik umsetzen ließ. Die praktischen Frustrationen waren regelmäßig umso tiefer, je höher die spekulativen Erwartungen reichten, die sich bei einigen Politikern und Diplomaten wie vor allem auch bei Wirtschaftsführern und hohen Militärs von 1919 bis 1933 zuweilen in fantastische Dimensionen steigerten, während sie allerhand Nebenaußenpolitiken mit Moskau betrieben.15 Das entscheidende historische Zwischenglied dieser 1915 hypothetisch eröffneten und nach der Oktoberrevolution praktisch gewendeten deutsch-bolschewistischen Weltpolitik war der Friedensvertrag von Brest-Litowsk. Dass er zu dem exemplarischen Diktatfrieden wurde, der er vordergründig war, hing vor allem damit zusammen, dass Lenin sich in den eigenen Reihen nicht hatte durchsetzen können, sofort nach dem Waffenstillstand im Dezember 1917 auch einen Friedensschluss mit den Mittelmächten gemäß deren anfangs noch weit maßvolleren Bedingungen zu schließen. Dies hinderte ihn nicht daran, das ganze Jahr 1917 hindurch vehement den Verdacht zu bestreiten, einen „Separatfrieden“ schließen 14  15 

Zu den Sozialrevolutionären im Jahr 1905 vgl. ebd., S. 69 f. Vgl. Koenen: Russland-Komplex (wie Anm. 12), bes. Kap. III, Kap. IV.

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zu wollen, schon wegen der ihn seit seiner Rückkehr begleitenden Gerüchte, als bezahlter „Agent“ der deutschen Kriegspolitik zu operieren. Der im Februar 1918 unterzeichnete Friedensvertrag sollte – so Lenins offizielle Begründung und die spätere Version der sowjetischen Geschichtsschreibung, die sich auch in der westlichen Historiografie weitgehend durchgesetzt hat – das feierliche Versprechen nach „Frieden“ einlösen, unter dem die Räteregierung angetreten war, und dem umkämpften Regime der Bolschewiki im entbrennenden Bürgerkrieg eine „Atempause“ verschaffen. Von diesem Prestige einer gegen alle inneren Widerstände durchgesetzten Friedensbereitschaft, die von der deutschen Seite mit brutalem Diktat und monströsem Landraub beantwortet worden sei, konnte Lenin moralisch lange Zeit zehren, und davon lebt das Bild dieses Vertrags bis heute. Fast müsste man sagen: Das Gegenteil war der Fall. Viele Dimensionen und Implikationen des Vertrags, und namentlich auch der von Mai bis August 1918 verhandelten Berliner Zusatzverträge, sind noch keineswegs ausgeleuchtet. Jedenfalls brachte dieser Vertrag weder Frieden noch eine Atempause. Vielmehr hatte er folgende Wirkungen: – Brest-Litowsk antagonisierte endgültig die inneren Kräfte Russlands und des zerfallenen Imperiums, auch die, mit denen ein innerer Ausgleich – sogar nach dem erzwungenen Ende der Verfassungsgebenden Versammlung im Januar 1918 – noch immer möglich gewesen wäre: mit den linken und einigen „rechten“ Sozialrevolutionären, den Menschewiki und anderen, in den „Sowjets“ noch immer, oft sogar majoritär vertretenen Kräften und Parteien. – Der Friedensvertrag führte zum vollständigen Zerfall des Russländischen Reichs durch Sezessionen, die unter dem Schutz der deutschen und österreichischen Garantien auf Selbstbestimmung stattfanden. Deren Unabhängigkeitserklärungen trafen entgegen allen feierlichen Deklarationen der Selbstbestimmungsrechte „der Völker Russlands“ durch die Regierung Lenins sofort auf den bewaffneten Widerstand externer und interner „roter“ Truppen, in der ­Ukraine, im Kaukasus, im Baltikum sowie in Finnland. – Brest-Litowsk radikalisierte noch einmal die deutschen Weltmachtambitionen, sei es durch illusionäre Vorstellungen über die Möglichkeiten, in der Ukraine und Südrussland den Rückraum und die Ressourcen für einen Sieg im Westen gegen das angeschlagene Frankreich zu finden, oder durch bizarre Planspiele über einen womöglich bis 1919/20 weiter zu führenden interkontinentalen Krieg gegen die angelsächsischen Mächte, in dem es dann um Baku und Persien, um Indien und China gehen würde. – Ähnliches galt für die mit den deutsch-bolschewistischen Zusatzverträgen im August 1918 scheinbar eröffnete (virtuelle) Möglichkeit einer wirtschaftlichen „Durchdringung“ Russlands durch die deutsche Industrie.16 Flankiert waren 16  Von

der Notwendigkeit und Möglichkeit einer „wirtschaftlichen Durchdringung“ Russlands, sowohl der Rohstoffquellen wie auch des Verkehrswesens und der Banken, war etwa in einem Strategiepapier des „Reichswirtschaftsrats“ vom 4. Juni 1918 die Rede, in dem die Bildung eines „Russland-Syndikats“ der deutschen Industrie vorgeschlagen wurde. Hier zitiert nach Günter Rosenfeld: Sowjetrussland und Deutschland 1917–1922. Köln 21983, S. 90–92.

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diese betont großzügig geführten Wirtschaftsgespräche von einer begrenzten militärischen Kooperation mit den deutschen Armeestäben im Osten, wie die bolschewistischen Unterhändler in Berlin sie auf persönliche Weisung Lenins anboten. Diese Offerten erfolgten, obwohl oder gerade weil Moskau zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs davon ausging, dass das Deutsche Reich den Krieg binnen Kurzem verlieren werde. Im Verhältnis zu den regional begrenzten Exploita­tions- und Germanisierungspolitiken in Ober Ost waren diese von Stresemann und anderen ventilierten Projekte einer „Durchdringung“ und „Reorganisation“ Russlands unter deutscher Regie und in welcher politischen Form und Konstellation auch immer eine vollkommen neue, entgrenzte Dimension deutscher Weltmacht- und Weltvolk-Fantasien.17 – Gerade wegen Brest-Litowsk und dem damit heraufbeschworenen Gespenst einer deutsch-bolschewistischen Weltkriegskoalition intervenierten die west­ ­ lichen Mächte an den Rändern des Russländischen Reichs, um die von ihnen gelieferten, gewaltigen Waffen- und Maschinenlager zu sichern, und gaben ihre anfänglichen Bemühungen auf, sich selbst mit den Bolschewiki zu arrangieren – ohne sich allerdings zu einem antibolschewistischen Kreuzzug entschließen zu können, dessen sie seitens der Führer der Räteregierung gleichwohl beschuldigt wurden. – Mehr noch: Ab April/Mai 1918 erklärte Sowjetrussland sich seinerseits als im Krieg mit den Westmächten stehend und deklarierte den an zahllosen inneren und äußeren Fronten sich entzündenden Bürgerkrieg mit den Bauern und den abtrünnigen Nationalitäten, mit den Sozialrevolutionären und Anarchisten ebenso wie mit den „weißen“ Generälen und ihren Freiwilligenarmeen als einen „vaterländischen“ Verteidigungskrieg gegen eine konzertierte Intervention des „Weltimperialismus“. Jede Form des aktiven oder passiven Widerstands gegen den absoluten Machtanspruch der Bolschewiki wurde damit zu einem Akt des Landesverrats erklärt, der Bürgerkrieg gegen die inneren Gegner zu einem national-revolutionären Verteidigungskrieg Sowjetrusslands gegen die Intervention von „13 Mächten“. In Wirklichkeit gab es zwischen den im Norden, Osten und Süden gelandeten alliierten Kontingenten und den „roten“ Truppen kaum direkte Zusammenstöße, geschweige irgendwelche bedeutenden Schlachten. – Brest-Litowsk alarmierte und hysterisierte die Alliierten gleichwohl und radikalisierte deren jeweiligen Weltkriegs- und Nachkriegsszenarien, wie es überhaupt das Tor zu einem letzten, noch wahnwitzigeren „Spiel um den Erdball“ aufstieß, mit neu abgeschlossenen Geheimverträgen und gegeneinander gerichteten Manövern auf allen Kontinenten. Der „Friedensvertrag“ trug entscheidend zur finalen Totalisierung aller Kriegspolitiken und eingesetzten Kriegsmittel im Sommer 1918 bei, insbesondere auch angesichts des beschleunigten, mit gewaltigen technischen und logistischen Mittel ins Werk gesetzten Auftritts der amerikanischen Truppen auf dem europäischen Kriegsschauplatz.

17 

Vgl. ebd., bes. S. 170–174.

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– Ob ein Widerstand der neuen Räteregierung gegen das Diktat von Brest-­ Litowsk und gegen die einseitigen und weiträumigen Vormärsche der relativ schwachen deutschen, österreichischen und ungarischen Truppen nicht doch möglich ge­wesen wäre, muss offenbleiben. Fast alle politischen Kräfte, die sich noch artikulieren konnten, auch führende Mitglieder der Bolschewiki, forderten ein s­ olches Vorgehen, mindestens in Form einer hinhaltenden Obstruktions­ politik. Ende 1917 hatten noch immer fünf Millionen Mann der alten Armee unter Waffen gestanden. Dass sie im Eiltempo und oft unter Einsatz von Gewalt entwaffnet und demobilisiert wurden, hatte mehr mit ihrer mangelnden Zuverlässigkeit für das neue Regime zu tun als mit ihrer Kampfunfähigkeit. Und immerhin waren im Frühsommer 1918 die zahllosen, teils partisanenmäßig auf eigene Faust operierenden, teils unter Beteiligung eines erheblichen Teils des alten Offiziers- und Unteroffizierskorps neu aufgestellten Einheiten einer „Roten Arbeiter- und Bauernarmee“ sehr wohl und ziemlich rasch zu beacht­ lichen militärischen Kraftentfaltungen an den Fronten des fanatisch und mörderisch geführten Bürgerkriegs fähig. Warum dann nicht in einem wahrhaft „vater­ländischen Krieg“ gegen eine massive äußere Invasion? Auch Koalitionen mit den nationalen Parteien in der Ukraine und in den anderen, sich für autonom erklärenden Reichsteilen wären möglich gewesen – freilich nur im Zeichen des prinzipiell anerkannten, de facto verweigerten Rechts auf Selbstbestimmung. – Das wäre allerdings eine Politik gewesen, bei der die Bolschewiki die Macht hätten teilen müssen, statt sie immer einseitiger, immer exklusiver, immer totaler und immer terroristischer für sich zu reklamieren, wie Lenin es kategorisch verlangte und schließlich durchsetzte. Diese Politik einer Alleindiktatur verfolgte er um den Preis eines Bürgerkriegs, der immer weitere Kreise zog und einen Zusammenbruch aller inneren Austauschprozesse und Kommunikationen, schließlich aller konsolidierten Lebens- und Produktionsweisen mit sich brachte. Russland ebenso wie die sezessionierten nichtrussischen Republiken stürzten in einem einzigen, unaufhaltsamen Katarakt über mehrere Zivilisationsstufen zurück in einen Zustand des reinen Naturaltauschs und des Gewaltrechts. Aber gerade inmitten dieses selbst erzeugten Chaos und offensiv geführten Bürgerkriegs formierte und härtete sich – wie in einer nährenden Lösung – der neue bolschewistische Machtkörper. Bevor noch einmal auf die Motive dieser Politik zurückzukommen ist, die sich jeder Pragmatik einer bloßen Machtbehauptung wie zugleich allen hergebrachten Vorstellungen eines Klassenkampfs und der Errichtung einer sozialistischen Ordnung weitgehend entzog, wäre der Blick auf die amerikanische und die alliierte Kriegs- und Nachkriegspolitik zu richten, zu der dieser bolschewistische Machtaufbau eine globale Antithese bildete. Die Weltpolitik der USA hatte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Plänen der Errichtung einer eigenständigen Kolonialsphäre weitgehend verabschiedet und zielte mit ihrer open door policy stattdessen darauf, sich über die „egoisti-

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sche“, auf Exklusivität bedachte Politik der „alten“ imperialistischen Mächte ­ uropas mit ihren jeweiligen überseeischen Reichen zu erheben. Anders betrachE tet, zielte diese keineswegs defensive oder gar pazifistische US-Weltpolitik darauf ab, die Widersprüche der übrigen Großmächte gegeneinander zu balancieren, sich selbst vor allem mit den Mitteln einer zunehmend überlegenen Ökonomie und Finanzwirtschaft, die auch ein forciertes maritimes Rüstungsprogramm tragen konnten, zu einem internationalen Schiedsrichter zu machen und sich so in die Position eines globalen „Überstaates“ aufzuschwingen.18 Woodrow Wilsons Versprechen, die USA aus dem Krieg in Europa herauszuhalten, das ihm 1916 seine Wiederwahl gesichert hatte, sowie seine Forderungen nach einem „Frieden ohne Sieger und Besiegte“, schließlich die Anfang 1917 formulierten Postulate einer neuen internationalen Ordnung, in der Gleichberechtigung herrsche, strittige Fragen international geschlichtet und „die Welt reif für die Demokratie“ gemacht werden sollten, brachten zweifellos neue Vorstellungen in die Sphäre der internationalen Politik. Sie entsprangen einem hochherzigen ­demokratischen Internationalismus, der angesichts der Position amerikanischer Stärke keineswegs blauäugig wirkte, und sie schlugen, so schien es, vor dem Hintergrund des immer wahnwitziger tobenden Weltkriegs und der erschütterten Weltordnung einen neuen, zukunftsträchtigen Grundakkord an. Dass Wilson angesichts des deutschen U-Boot-Kriegs im Frühjahr 1917 sowie der Umtriebe von Berliner Agenten in Mexiko und unter verschiedenen Nationalitätengruppen (Deutschen, Iren oder auch jüdischen Immigranten) in den USA selbst diese Position nicht durchhalten konnte und sich genötigt sah, sein Land in den Krieg zu führen, war auch eine absehbare Konsequenz der immer massiveren materiellen und finanziellen Unterstützung der Entente-Mächte, die einer Parteinahme im Weltkrieg schon sehr nahekam. Aber selbst der Kriegseintritt der USA ­hätte Wilson seiner Position eines charismatischen Friedensstifters noch nicht ent­ ­ hoben, wäre er nicht gleichzeitig von seiner programmatischen Forderung nach einem „Frieden ohne Sieger und Besiegte“ abgerückt. Eine solche Festlegung hätte innenpolitisch wohl auch in einem Konflikt mit der beispiellosen Rüstungsund Mobilisierungskampagne gestanden, die ihre eigene Wucht und Dynamik entfaltete und die USA im Falle des Sieges auf eine völlig neue weltpolitische Höhe katapultieren musste. Das war es auch, was Wilson dazu veranlasste, vielleicht auch dazu verurteilte, den verzweifelten Friedensaufruf des Petrograder Sowjets vom April 1917 zu ignorieren, dem er (und nur er) ein globales weltpolitisches Gewicht hätte verleihen können. Stattdessen entsandte er, nachdem er Russland feierlich im Kreise der demo­kratischen Nationen begrüßt hatte, im Mai 1917 die „Root Mission“, deren Aufgabe es war, mit der neuen Provisorischen Regierung in Petrograd über die Mittel und Wege zu sprechen, „eine effektive Zusammenarbeit beider Regierun-

18  So das Ausgangsargument von Adam Tooze: Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931. Berlin 2015, S. 24–27.

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gen bei der Verfolgung des Kriegs in die Wege zu leiten“19 – ohne in Rechnung zu stellen, in welcher prekären Lage sich Russland befand. Damit stieß Wilson nicht nur die Mehrheit des auf einen Frieden „ohne An­ nexionen und Kontributionen“ sowie auf einen baldigen Waffenstillstand drängenden Petrograder Sowjets und der ihnen verbundenen Mitglieder der neuen ­Regierung vor den Kopf. Vielmehr drängten die Teilnehmer der amerikanischen Mission, welche die revolutionär-chaotische Situation in der russischen Hauptstadt mit offener Antipathie verfolgten, die Provisorische Regierung dazu, den Krieg so rasch und so offensiv wie möglich zur Entlastung der Alliierten wieder aufzunehmen. Als die russischen Verhandlungsführer um finanzielle Hilfen baten, um den erodierenden Staatsapparat und die Wirtschaft vor dem völligen Zerfall zu bewahren, antwortete der amerikanische Delegationsleiter Elihu Root so grob wie unverblümt: „No fight, no loans!“20 Das war eine von vielen Zurückweisungen, die das demokratische Russland, kaum dass es sich etabliert hatte, über die Klippe stießen. Überhaupt darf die Verantwortung der westlichen Verbündeten für den katastrophalen Zerfall, der den Bolschewiki erst den Weg bereitete, nicht gering angesetzt werden. Wiktor Schklowski, ein später berühmter Sprachwissenschaftler und Schriftsteller, der als junger Armeekommissar mit roter Armbinde die widerstrebenden Regierungstruppen im Juni 1917 in die Kerenski-Offensive zu führen suchte, um so einen Friedensschluss zu erzwingen, erklärte in seinem Kriegsbericht „Sentimentale Reise“ den „Kriegsbolschewismus“ der einfachen Soldaten wesentlich damit, dass „unsere Alliierten, Fluch über sie, […] ihre Zustimmung zu unserer Definition eines Friedens ‚ohne Annexionen und Kontributionen‘“ verweigerten. „Oh, hätten wir doch vor den Regimentern der Junioffensive das geheiligte Banner des ­gerechten Krieges entfalten können“, schrieb Schklowski, denn dann wäre die deutsche ebenso wie die bolschewistische Schützengrabenpropaganda, die den Soldaten unisono erklärten, dass sie ihr Blut für die englisch-französischen Imperialisten vergössen, nicht so glaubwürdig gewesen.21 Wie sehr hingegen die Mittelmächte der im November 1917 im Handstreich zur Macht gekommenen bolschewistischen Regierung dabei behilflich waren, ihr Gesicht zu wahren, zeigte sich daran, dass Deutschland und seine Verbündeten – obwohl in überlegener Position – zunächst keine Friedensverhandlungen und nicht einmal den förmlichen Abbruch der Bündnisbeziehungen zu den westlichen Alliierten verlangten, sondern diese selbst einluden, sich den Gesprächen in BrestLitowsk über einen Waffenstillstand und künftigen Frieden anzuschließen – in der sicheren Überzeugung, dass London und Paris darauf nicht eingehen würden. Die deutschen und österreichischen Unterhändler waren damit einverstanden, die Verhandlungen, wie von der russischen Räteregierung gefordert, öffentlich zu 19  George F.

Kennan: Russia Leaves the War. Soviet-American Relations, 1917–1920. Princeton 1956, S. 16–26, Zitat: S. 20 (Übersetzung durch den Verfasser). 20  Ebd., S. 25. 21  Viktor Schklowski: Sentimentale Reise. Frankfurt a. M. 1974, S. 32  f.

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führen und sich damit von der Geheimdiplomatie der europäischen Großmächte zu distanzieren. Und sie erlaubten es den bolschewistischen Delegierten und ihren Begleitern sogar, wenn sie das partout wollten, mit den deutschen Wachmannschaften zu fraternisieren oder sie zu agitieren.22 Allzu besorgt mussten die Mittelmächte zu dieser Zeit auch nicht sein. Aus den Berichten der Politischen Abteilung III b des deutschen Oberkommandos Ost über die Situation an den verschiedenen Frontabschnitten im Spätsommer und Herbst 1917 ergab sich das Bild eines von deutscher Seite aktiv geförderten ­Verkehrs über die Schützengräben hinweg, in dem die russischen Soldaten sich in eigens eingerichteten Marketenderwagen gegen ihre wertlosen Rubel mit Rasierzeug und Seife, Uhren, Tabak oder Lebensmitteln eindecken konnten. Am 9. November 1917, dem Tag eins des bolschewistischen Umsturzes, hieß es im ent­ sprechenden Tagesbericht: „Soweit bisher erkennbar, wissen die russischen Truppen an der Front […] noch nichts über die Vorgänge im Inneren. Unsere Propaganda hat befehlsgemäß eingesetzt.“ Zwei Tage später wurde festgestellt: „Kampf Kerenski – Lenin ist im Gang. […] Den Truppen werden Unterhaltungen stellenweise verschärft verboten; in den meisten Fällen haben sie durch unsere Propaganda den Umsturz erfahren und ihn mit Jubel begrüßt in der sicheren Erwartung des Friedens.“23 Tatsächlich trug der kurz darauf in Brest-Litowsk vereinbarte vorläufige Waffenstillstand in vieler Hinsicht das Gepräge einer einseitigen Kapitulation. In der „Illustrierten Kriegs-Chronik des Daheim“ las sich das so: „Es war gegen 11 Uhr vormittags, als der Telephonist aus seinem Bau gestürzt kam und uns zurief: ­‚Friede! Gefechtsmeldung: auf dem russischen Brückenkopf drei weiße Fahnen. Russische Kapelle spielt auf der Brustwehr, russische Offiziere sind zu unserem Brücken­kopf hinübergestiegen, wollen wegen Waffenstillstand verhandeln!‘ […] Es war Tatsache: sämtliche Stützpunkte zeigten weiße Fahnen. […] ‚Friede! Friede!‘ Aus den [deutschen] Unterständen dringt freudiger Gesang. Dazwischen laut und lauter, ein Lied, wildtrotzig, als seien die Augusttage 1914 wiedergekehrt: ‚Frankreich, ach Frankreich, wie wird’s dir ergehen …‘.“24 Die Reaktionen in der deutschen Öffentlichkeit auf den bolschewistischen Umsturz waren auch sonst eher hoffnungsfroh, wenngleich in unterschiedlicher Pointierung. Die offiziöse „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ schien sich geradezu in der Sprache eines neuen Zeitalters üben zu wollen, wenn sie unter der Schlagzeile „Chaos in Petersburg“ meldete: „Das Ziel, für das das Volk kämpfte, nämlich Vorschlag eines sofortigen demokratischen Friedens, Aufhebung des Rechtes der Grundeigentümer, Land zu besitzen, Aufsicht der Arbeiter über die Er­ zeugung und Bildung einer Regierung des Arbeiter- und Soldatenrates, ist ge­

22 

Tooze: Sintflut (wie Anm. 18), S. 142. PA-AA, Weltkrieg 2 Geh., Bd. 52, Bl. 17/18. 24  Otto Hoetzsch: Der Weltkrieg. Illustrierte Kriegs-Chronik des Daheim. Bd. 8: Bis zum Beginn der Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk. Bielefeld/Leipzig 1918, S. 241 f. 23 

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sichert.“25 Der sozialdemokratische „Vorwärts“ meldete am 5. Dezember 1917 im Tone der Befriedigung „Die maximalistische Regierung schafft Ordnung“ und stellte Lenin in einer biografischen Skizze vor, die mit den Worten endete: „Einen solchen Charakter braucht jetzt die russische Arbeiterklasse, wenn sie ihre historischen Forderungen erfüllt sehen will.“26 Umgekehrt war den Führern der Bolschewiki selbstverständlich klar, dass schon die bloße Einleitung von Waffenstillstandsverhandlungen in dem auf ­Messers Schneide stehenden Weltkonflikt dem Deutschen Reich einen enormen Vorteil verschaffte. Sie nahmen das nicht nur in Kauf, sondern verschärften diese Situation durch die einseitige Kündigung aller Bündnisverträge mit den Alliierten, die Annullierung der riesigen Kriegs- und Vorkriegsschulden Russlands sowie die Veröffentlichung der Geheimabkommen über die alliierten Kriegsziele. Vor allem diese seit 1914 sukzessive geschlossenen, von einem durch und durch kolonialen und imperialen Geist getragenen Abkommen zwischen dem Russländischen Reich, Großbritannien, Frankreich und Japan über die Dardanellen, den Balkan und „Südmesopotamien“ bis nach Afrika und China waren nicht nur der Stoff für einen über Wochen von Trotzki kunstvoll inszenierten internationalen Propaganda­ coup, sondern sie bedeuteten auch eine politisch-moralische Decouvrierung der Alliierten, die ganz im Sinne der deutschen Darstellungen über die wahren Ur­ sachen des Kriegs war, nämlich dem Wunsch der westlichen Mächte, das Deutsche Reich, die Habsburgermonarchie und das Osmanische Reich niederzuhalten, zu amputieren oder aufzuteilen.27 Die „Vierzehn Punkte“, die Woodrow Wilson während der deutsch-bolschewistischen Verhandlungen von Brest-Litowsk Anfang Januar 1918 lancierte und die ihrerseits ein weltweites Echo fanden, das sich beim erneuten Lesen dieses sehr zurückhaltenden und bruchstückhaften Friedensprogramms allerdings kaum noch recht erschließt, sind mit Wilsons Namen und Nachruhm zentral verbunden – obwohl sie weder die Worte „Demokratie“ noch „Selbstbestimmung“ explizit enthielten. Falls Wilson mit dieser Initiative die friedensbereiten Kräfte auf der Seite der Mittelmächte hatte stärken und seine eigenen Verbündeten unter Druck setzen wollen, doch noch in Friedensverhandlungen einzutreten und ihre von den ­Bolschewiki soeben publik gemachten, sehr weitgehenden Kriegs- und Annexi25  Vgl.

Alfred Opitz: Die russische Revolution des Frühjahrs 1917 im Echo führender Tageszeitungen des zeitgenössischen Deutschland. In: Osteuropa 67 (1967) 4, S. 235–257 (Zitat: S. 237). 26  P. Orlowski: Charakterköpfe des bolschewikischen Umsturzes. W. I. Lenin. Der „Vorwärts“ entnahm diesen Text direkt aus der Zeitung „Bote der Russischen Revolution. Organ der ausländischen Vertretung des Zentralkomitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Bolschewiki)“, Nr. 11, 28. 11. 1917, S. 7 f. Dieses Bulletin wurde in Stockholm von Radek, Hanecki und Orlowski herausgegeben, die von Lenin bei der Durchreise im April 1917 als Auslandsbüro seiner Partei installiert worden waren. 27  Frederick Seymour Cocks: The Secret Treaties and Understandings. Text of the Available Documents with Introductory Comments and Explanatory Notes. London 1918, online zugänglich unter http://www.gwpda.org/comment/secrettreaties.html (letzter Zugriff am 9. 1. 2023).

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onsziele zu revidieren, dann kam diese Initiative zu spät, wenn nicht zur Unzeit. Statt zum Innehalten, trieb sie die Kombattanten noch mehr zur Eile. Beide Seiten, aber auch die USA selbst, rüsteten für eine finale Endschlacht, wenn möglich noch 1918, ansonsten 1919. Als Blaupause eines allgemeinen Weltfriedens waren die „Vierzehn Punkte“ und die begleitenden Erklärungen außerdem verblüffend inkonsequent. Während „den Völkern Österreich-Ungarns […] die freieste Gelegenheit zu autonomer Entwicklung gewährt“ wurde waren die Zusicherungen für die unter türkischer Herrschaft lebenden Völker und Gebiete weitaus unbestimmter. Beide, die Habsburgermonarchie wie das Osmanische Reich, waren jedenfalls bis auf einen österreichischen beziehungsweise türkischen Reichskern vollständig aufzulösen. Das Deutsche Reich sollte erhalten bleiben, sich jedoch nicht nur aus allen besetzten Gebieten zurückziehen, sondern seine alten ebenso wie seine neuen Nachbarn an seinen westlichen und östlichen Grenzen territorial entschädigen. Dagegen wurde „Russland“ in seiner historischen Gestalt als russländisches Vielvölkerreich als eine selbstverständliche Einheit angesprochen, dessen „Gebiete“ unverzüglich von den deutschen und österreichischen Truppen geräumt werden sollten. Die bereits erfolgten Unabhängigkeitserklärungen der Ukraine, Finnlands und der baltischen Republiken, denen sich die der kaukasischen Republiken anschlossen, wurden damit übergangen. Stattdessen versicherte Wilson „Russland“ in der einzigen Passage dieses Textes, in der plötzlich ein sehr warmer Ton angeschlagen wurde, „eines aufrichtigen Willkommens im Bunde der freien Nationen unter von ihm selbst gewählten Staatseinrichtungen“.28 In der begleitenden Rede vor dem Kongress wurden „die gegenwärtigen Führer Russlands“ ohne Einschränkung als solche adressiert, und es wurde unterstellt, dass sie die Hoffnung des russischen Volkes „auf Freiheit und einen geordneten Frieden“ verträten.29 Lenin, der Wilsons Sondergesandten Edgar Sisson empfing, fragte spöttisch, warum die US-Regierung denn dann mit der diplomatischen Anerkennung zögere. Seine Absicht, die gerade zusammentretende, frei gewählte Verfassungsgebende Versammlung auseinanderzujagen und eine despotische Alleinherrschaft zu errichten, war zu diesem Zeitpunkt bereits offenkundig.30 Auf all das ging Wilsons Text nicht ein. Mehr noch: Er war für den entscheidenden Machtstreich der Bolschewiki so hilfreich, dass sie ihn breit publizierten und sogar plakatierten. Der eigentliche Bezug der „Vierzehn Punkte“ waren die Brest-Litowsker Verhandlungen, in denen es nicht zuletzt auch um Fragen des 28 Eine hinlänglich korrekte deutsche Übersetzung der „Vierzehn Punkte“ in 14-Punkte-Programm, https://de.wikipedia.org/wiki/14-Punkte-Programm (letzter Zugriff am 9. 1. 2023), hier: Punkt 6. 29  Kennan: Russia (wie Anm. 19), S. 256  f. 30  Zum hastigen Zustandekommen des Dokuments beziehungsweise der begleitenden Rede und der teilweise konfusen (Miss-)Kommunikation zwischen Wilson, seinen Beratern und Ministern sowie den in Petersburg anwesenden amerikanischen Vertretern, insbesondere seinem Sonder­ gesandten Edgar Sisson, vgl. ausführlich ebd., S. 255–274 sowie Tooze: Sintflut (wie Anm. 18), S. 153–157.

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„Selbstbestimmungsrechts der Völker“ ging – eine politische Waffe, die Wilson der deutschen Seite nicht aus der Hand schlug, sondern ihr im Gegenteil überließ. Letztlich blieb self-determination in der Doppelbedeutung von demokratischer Selbstregierung und nationaler Selbstbestimmung für die westlichen Alliierten einschließlich der USA selbst ein bei der Neuordnung der Welt 1919/20 je nach Bedarf eingesetztes oder außer Acht gelassenes Kriterium der Staatenbildung. Die Unterzeichnung der Pariser Friedensverträge und die Gründung des Völkerbundes, die für Wilson die Stunden seines größten Triumphs hätten werden sollen, wurden so die seiner größten Niederlage. Und die Nichtratifizierung dieser Verträge durch die neue, republikanische Kongressmehrheit in den USA bildete nur eine traurige Coda zu einer in ihren besseren Absichten weitgehend gescheiterten Politik, deren Ausstrahlung für die ganze weitere Weltkriegsperiode bis 1945 und darüber hinaus – trotz aller Anknüpfungen in Roosevelts oder Trumans One World-Rhetoriken – kaum wirklich erkennbar ist. Fasst man den prononcierten „Internationalismus“ Wilsons nüchterner, als ein Projekt der Neuordnung der Welt in Form einer neu justierten Hierarchie alter und neuer, großer und kleiner Staaten unter Führung der westlichen ­Demokratien, dann war das revolutionäre Weltprojekt Lenins allerdings eine direkte Antithese zu diesem Wilson-Projekt. Dieses beruhte auf einem erdrückenden ökonomischen Übergewicht der USA, denen allein schon wegen der inneren und äußeren Verschuldung aller übrigen Mächte durch den Weltkrieg die Rolle eines Supervisors in Fragen der Weltpolitik und Weltwirtschaft zufallen musste. Dieses Über­ gewicht enthielt durch die von Wilson initiierte massive Aufrüstung, vor allem zur See, auch eine militärische Komponente, die auf der Flottenkonferenz in ­Washington 1921/22 Züge eines regelrechten geostrategischen Machtverteilungsschlüssels annahm. Die Nichtratifizierung des Versailler Vertrags durch den Kongress, der Nichtbeitritt der USA zum Völkerbund sowie die eher „isolationistische“ Weltpolitik nach dem Ausscheiden Wilsons bedeuteten unter diesen Umständen keine Entspannung, sondern machten die globale Gesamtsituation noch problematischer, da das Gespenst einer perspektivisch drohenden Pax Americana die Siegermächte Frankreich und Großbritannien ebenso wie die Besiegten und die Frustrierten der neuen Pariser Weltordnung, insbesondere Deutschland wie auch Italien oder ­Japan, in ihren territorialen Revisionsansprüchen wie in ihren kolonialen Entwicklungsvorstellungen zu umso größerer Eile und Ruchlosigkeit trieb. Das Fernbleiben der USA von der Weltwirtschaftskonferenz in Genua 1922 verurteilte den vor allem von Großbritannien mit Unterstützung des deutschen Wiederaufbauministers Walther Rathenau unternommenen Versuch, die Fäden der Weltwirtschaft mittels eines europäisch-russischen Wiederaufbaukonsortiums neu zu knüpfen, zum Scheitern, so wie die Entschlossenheit der Sowjetregierung, alle derartigen multilateralen Vereinbarungen und Wiederaufbaupläne durch den Sondervertrag mit Deutschland in Rapallo zu sprengen, das umgekehrt tat. Gleichzeitig blieben die USA durch die gesteigerten weltwirtschaftlichen Verflechtungen, aber auch durch Ungleichgewichte selbst äußerst krisenanfällig – mit

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hysterischen Anteilen, die zum paranoid style amerikanischer Innenpolitik beitrugen. Eine Welle von Lohnstreiks und anarchistischen Anschlägen hatten Wilson schon im Sommer 1917 veranlasst, seine Unterschrift unter ein sehr weitgehendes Gesetz gegen Spionage zu setzen, das im Jahr darauf durch ein weiteres Gesetz gegen „Aufhetzung“ (sedition) ergänzt wurde und in den folgenden Jahren die legale Grundlage für Massenverhaftungen und Abschiebungen lieferte, begleitet von immer neu aufwallenden Schüben einer red scare. Darin kombinierte sich eine vage Bolschewismusfurcht mit antisemitischen Phantasmen und Residuen germanophober Affekte. So hatten sich im Sommer 1918 Regierungsstellen ausführlich mit einer angeblichen German-Bolshevik Conspiracy beschäftigt, die anhand teils authentischer, teils gefälschter Dokumente breit ausgemalt wurde.31 Offiziere und Diplomaten sowie verschiedene Teilnehmer der gescheiterten Murmansk-Expedition konnten in Publikationen des Außenministeriums ihre einhellige Ansicht verkünden, dass der Bolschewismus „seinen Ursprung in der deutschen Propaganda“ habe und fast ausschließlich „von internationalen Juden praktiziert“ werde. Ziel des Ganzen sei es, die nach sozialistischer Doktrin ruinierten Betriebe „durch Bankrotte in deutsche Hände zu bringen“.32 Veröffentlicht Anfang 1919, zeigen diese Dokumente, dass selbst nach der deutschen Kapitulation die Zwangsvorstellung weiterlebte, Russland könne mithilfe der Bolschewiki doch noch zu einem Annex eines weit nach Osten verlagerten deutschen Machtkomplexes ­werden, der mithilfe jüdischer Revolutionäre und Bankiers auch tief in die angelsächsische Welt hineinreiche – wie überhaupt der Topos vom „jüdischen Bolschewismus“ in seiner überlebensgroßen Bedeutung in den westlichen Siegerstaaten bereits ab 1915 expliziter Gestalt annahm und dort auf weit prominenterer Ebene diskutiert wurde als zu dieser Zeit in Deutschland und Mitteleuropa.33 Wenn man Lenin und Wilson als zwei Parallelfiguren sehen will, dann zunächst in dem Sinne, dass ihre hypertrophen moralisch-ideologischen Selbstbeauftragungen als Ausdruck und Legitimation ihrer übersteigerten Weltpolitiken zu werten sind. Diese waren ihrerseits der ganz unterschiedlichen, in vieler Hinsicht polaren historischen Konstitution und Daseinsweise der beiden Machtkomplexe geschuldet: einerseits den USA als dem weltgeschichtlichen Sonderfall eines auf rein licher, jedenfalls nicht feudaler Grundlage erbauten, einer enthemmten bürger­ 31  USA/Committee

on Public Information (Hg.): Die deutsch-bolschewistische Verschwörung. 70 Dokumente über die Beziehungen der Bolschewiki zur deutschen Heeresleitung, Großindustrie und Finanz. Bern 1919. Zur Geschichte der teils gefälschten, aber wohlinformierten „SissonDokumente“, die sich auf die von der Provisorischen Regierung zusammengetragenen Anklagematerialien für einen Hochverratsprozess gegen Lenin u. a. stützten, vgl. Semion Lyandres: The Bolsheviks „German Gold“ Revisited. An Inquiry in the 1917 Accusations. Pittsburgh 1997; Schiesser/Trauptmann: Roulette (wie Anm. 8), S. 235–263. 32  Die Verhandlungen des Kongressausschusses finden sich ausführlich referiert in Leon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus. Bd. VIII: Am Vorabend des Holocaust. Frankfurt a. M. 1988, S. 105–108. 33  Zum gesamten Komplex der 1919/20 von den alliierten Vertretern in Russland kolportierten Verschwörungsthesen vgl. Koenen: Russland-Komplex (wie Anm. 12), bes. S. 253–276 sowie ders.: Rom (wie Anm. 12), S. 459–503.

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­ rivatkapitalistischen Akkumulation und Reichtumsproduktion ergebenen lands p of the free; und andererseits dem von jeher autokratisch-staatswirtschaftlich verfassten russländischen Vielvölker-Imperiums, das in seiner kommunistischen Verwandlungsform als UdSSR erst recht ebensolche Züge trug. Wenn der Anspruch einer sozialistisch-revolutionären Weltmission, in dem viele Spurenelemente einer älteren Selbstüberhöhung (etwa einer angeblich spezifisch russischen „Allmenschlichkeit“ oder einer sobornost im Sinne eines spirituellen Gemeinschaftsgeists) mit enthalten waren, immer wieder auf den Gegenanspruch eines manifest destiny und eines amerikanischen Exzeptionalismus traf, sodass die USA – außer in der Roosevelt-Ära von 1932 bis 1945 – zum eigentlichen Bollwerk eines universellen Antikommunismus wurden, dann erklärt sich dies ebenfalls primär aus der vollkommen gegensätzlichen, latent antagonistischen historischen Daseinsweise der beiden großen Überstaaten des 20. Jahrhunderts. Tatsächlich lässt die Geschichte der Sowjetunion sich in vieler Hinsicht als die eines ideellen „Gegen-Amerika“ beschreiben, das nicht, wie es sich die russischen Staatsreformer und Nationalliberalen erträumt hatten, zu einem „anderen“, „zweiten Amerika“ hatte werden können. Gegen die Vereinigten Staaten mit ihrer entgrenzten kapitalistischen Reichtumsproduktion und gegen die subversive Attraktionskraft ihrer exzessiven Warenwelten, hedonistischen Lebensstile, massenkulturellen Produktionen, demokratischen Rechtsformen und so weiter stellte das bolschewistische Sowjetrussland ein Set kollektivistischer Sozialpraktiken, wirtschaftlicher Planungen, propagandistischer Mobilisierungen sowie eine Massenkultur eigenen, wahlweise avantgardistischen oder klassizistischen Stils. Als ein „Vaterland der hundert Völker“, und potenziell sogar aller sozialistischen Länder und Nationen, war diese 1922 gegründete „Union Sozialistischer Sowjet-Republiken“ ein theoretisch nach allen Seiten hin erweiterungsfähiger Komplex, der in Wirklichkeit aber phobisch abgeschlossen blieb. Alle auf Lenin zurückgehenden fixen Ideen, diesem trägen Koloss mit einer Mischung aus amerikanischem Tempo und russischem revolutionären Geist die Sporen zu geben, blieben letzten Endes Makulatur, weniger aus finanziellen und technischen Gründen als aus den alles überwölbenden Imperativen der Sicherheit von Staat und Partei. Stattdessen wurde die Sowjetunion zum Inkubationsraum für etwas kategorial vollkommen Neues: Durch die Kombination eines politisch-militärischen Terrors mit sozialem Terror konnte die im Handstreich zur Macht gekommene Partei der Bolschewiki sich nicht nur behaupten und einen neuartigen Staatsapparat errichten, sondern es gelang ihr sogar, um sich herum einen völlig neuen, synthetischen Sozialkörper zu schaffen. Die Bedingung dafür war die Zerschlagung aller organisch gewachsenen sozialen Texturen im Bürgerkrieg, und in einer zweiten, womöglich noch monströseren Gewaltorgie ab 1929/30 dann auch die Eliminierung der mühsam regenerierten Dorfstrukturen, des Kleinhandels und Handwerks, ­sowie schließlich aller noch halbwegs autonomen professionellen, akademischen und kulturellen Institutionen und Organisationen. Dieses zunächst praktisch und provisorisch, dann sogar juristisch und institu­ tionell auf Terror gegründete Gemeinwesen war von den übrigen Gewaltformen

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der Kriegs- und Bürgerkriegszeit nach 1918 zwar durch keine chinesische Mauer getrennt, sondern bildete in der Tat den Teil eines entgrenzten „Gewaltraums“, der aus dem Zusammenbruch der großen östlichen Reiche entstand. Aber es transzen­dierte diesen anomischen Zustand erstmals in eine Richtung, die seit den 1930er-Jahren zunehmend unter den Begriff einer „totalen“ oder „totalitären Herrschaft“ gefasst wurde, eben um das kategorial Neue, Präzedenzlose, Inkommensurable zu erfassen, das dann seine eigenen Dynamiken entfaltete.34 Dazu gehörte auch die von Lenin 1919/20 begründete „Kommunistische Internationale“, die über ihre engere Funktion als Instrument einer „demokratischzentralistischen“ Anleitung der Kommunistischen Parteien aller Länder hinaus auch als eine Art Moskauer „Anti-Völkerbund“ konzipiert war. In beiden Funktionen diente sie als Werkzeug einer sowjetisch-russischen Weltpolitik, die alle vom Weltkapitalismus und Imperialismus, sprich: vom „Versailler Weltsystem“, ausgebeuteten Klassen und unterdrückten Völker zum Aufstand rief und diese Erhebungen strategisch zu organisieren versuchte. In dieser Politik flossen, in unterschiedlicher Akzentuierung und Mischung, sowohl sozial- wie nationalrevolutionäre Motive und Energien zusammen, und das nicht nur bei den kolonial Unterdrückten von Asien bis Afrika, sondern auch bei von in der neuen Weltordnung ausgeschlossenen, in Schuldknechtschaft geworfenen und zu „Industriekolonien“ degradierten Mächten, allen voran dem besiegten Deutschen Reich.35 Auch wenn eine solche abenteuerliche Moskauer Weltpolitik die Aktivitäten der Internationale zu einer einzigen Kette von Niederlagen und Opfergängen verurteilte, lieferte diese immerhin, wie sich im Laufe des Zweiten Weltkriegs herausstellte, das Personal für die Gründung eines „sozialistischen Weltlagers“, das sich wie ein Phönix aus der Asche der Eroberungs- und Versklavungskriege des nationalsozialistischen Deutschland, des faschistischen Italien und des militaristischen Japan erhob. Mit dem Ausbruch des „Kalten Kriegs“ ab 1947 produzierte das ein zweites Mal die paranoide Vorstellung einer „roten Flut“, die die USA im Innern mit energischen Maßnahmen gegen kommunistische Unterwanderung und alle ­ namerican Activities eindämmen müssten, während sie ihr gleichFormen von U zeitig in Korea ebenso wie später in Indochina oder in Lateinamerika mit allen 34  Der

erste, der das von Mussolini halb einschüchternd, halb renommierend in Anspruch genommene Adjektiv totalitario auf den Bolschewismus übertrug, war der mit Hannah Arendt befreundete Waldemar Gurian. Waldemar Gurian: Der Bolschewismus. Einführung in Geschichte und Lehre. Freiburg i. Br. 1931, S. VI f. 35  Um dieses Thema kreiste, Hinweisen Lenins folgend, das von Eugen Varga unter der Ägide der Komintern in Berlin und Moskau betriebene Institut für Weltwirtschaft, vgl. Gerhard Duda: Jenö Varga und die Geschichte des Instituts für Weltwirtschaft und Weltpolitik in Moskau 1921– 1970. Berlin 1994. Noch im Frühjahr 1933 erklärte Varga im Vorwort zur Broschüre „W. I. Lenin: Über den Versailler Vertrag“ (Wien/Berlin 1933) in einem merkwürdigen Ton des Triumphs: Nachdem durch den Vertrag von Rapallo eine Intervention der Versailler Mächte verunmöglicht worden sei, habe die Sowjetunion sich „zu einer Art Polarisierungszentrum der durch das Versailler System bedrückten Völker“ entwickelt. Nun sei „der neue Turnus von Kriegen und Revolutionen im Anzug“, der „dem Versailler System ein Ende bereiten“ werde – und mit ihm „der Herrschaft der Bourgeoisie in weiteren Ländern“ (ebd., S. 6–10).

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verfügbaren politischen, wirtschaftlichen und militärischen Mitteln entgegenzutreten hätten. Diese rücksichtslosen Repressionen und verheerenden Interventionen spielten wiederum den längst zynisch gewordenen und verfeindeten kommunistischen Parteien und Regimes noch einmal moralische Titel und historische Siege zu, die sie über Jahrzehnte weiter bis ins Jahr 1989 trugen – und teilweise, ob in China, in Vietnam oder in Nordkorea, bis heute tragen. In alldem blieben die Vereinigten Staaten von Amerika, was sie von Beginn an waren: ein exklusiv abgegrenzter, im Prinzip aber weltoffener Siedler- und Zuwandererstaat. Ihre Außen- und Weltpolitik schwankte immer wieder zwischen Interventionismus und Isolationismus, wobei die eine wie die andere Politik den Prinzipien der Menschenrechte und eines neu etablierten Völkerrechts, als deren Hauptadvokat die USA seit Wilson und Roosevelt auftraten, in der eklatantesten Weise Hohn sprechen konnte. Aber trotz periodischer Schübe eines christlichrassistisch grundierten „Nativismus“ blieben sie für Flüchtlinge und Emigranten, Glückssucher, Unternehmernaturen und Wissenschaftler aus aller Welt eine magnetische Attraktionsmaschine, die nicht zuletzt deshalb materiell immer stärker wurde und tatsächlich Züge jenes „Überstaates“ annahm, den Wilson sich vorgestellt hatte.

Abstract This essay tries to ground those elements of the proclamations of Lenin and Wilson that appear to manifest overtly ideological, idealistic or utopian ideas in the more profane realities of Russian and American world politics. The main focus is on Lenin, whose charisma as a peacemaker obscures the fact that he variously used the German ambitions to become a world power as a battering ram to promote both his own aims and a revolutionary world-war politics of his own making. Wilson for his part contributed to the fall of the democratic governments in ­Russia by ignoring the peace initiatives of the Petrograd Soviet in April 1917 and instead making loans contingent on renewed Russian war efforts. In his “14 Points” and the accompanying declarations he showed himself blind to the Bolshevik grip on exclusive and dictatorial power and addressed “Russia” as an historical entity, that had never existed and didn’t exist at the time. In the rivalry between these two overextended world policies, Lenin clearly came out on top in the field of “Realpolitik” and was able to establish the USSR and a bloc of allied Communist Parties as an antagonist to the US and the West at large for an entire historical era.

Manfred Berg „We are not internationalists. We are American nationalists“ Woodrow Wilson und das Scheitern des Wilsonianism in den USA Kein Staatsmann weckte am Ende des Ersten Weltkriegs größere Erwartungen als Woodrow Wilson. Als der US-Präsident, der in seiner Kriegsbotschaft vom 2. April 1917 versprochen hatte, für die „Befreiung aller Völker“ und die „Rechte der großen und der kleinen Nationen“ einzutreten, Mitte Dezember 1918 in Europa eintraf, wurde er auf den Straßen von Paris, London und Rom wie ein Messias empfangen. Millionen Menschen erhofften sich von Wilson einen gerechten Frieden, weltweit inspirierte er nationale Bewegungen, die unter Berufung auf sein Vierzehn-Punkte-Programm das Selbstbestimmungsrecht forderten. Allerdings rief auch kein anderer Staatsmann größere Enttäuschung hervor. Denn Sieger und Besiegte verbanden mit dem Versprechen eines „Wilson-Friedens“ völlig unterschiedliche Vorstellungen und machten den US-Präsidenten zur Projektionsfläche ihrer Hoffnungen und Illusionen. Wilson wiederum missdeutete die anfängliche Begeisterung für seine Person als Zustimmung zu seinem liberalen Friedensprogramm. Tatsächlich waren die Völker nur Wilson-Anhänger, solange sie glaubten, er vertrete ihre nationalen Interessen und Sehnsüchte.1 Doch unterschätzte der US-Präsident nicht nur den europäischen, sondern auch den amerikanischen Nationalismus. Seine Vision einer neuen internationalen Ordnung, in der die Vereinigten Staaten im Rahmen eines Völkerbundes Ver­ antwortung für den Weltfrieden übernehmen sollten, bedeutete einen Bruch mit den geheiligten Traditionen außenpolitischer Handlungs- und Bündnisfreiheit, die 1  Woodrow Wilson: An Address to a Joint Session of Congress, 2. 4. 1917. In: Arthur S. Link (Hg.): PWW. Bd. 41. Princeton 1983, S. 525; das Vierzehn-Punkte-Programm: Woodrow Wilson: An Address to a Joint Session of Congress, 8. 1. 1918. In: Arthur S. Link (Hg.): PWW. Bd. 45. Princeton 1984, S. 534–539; zu Wilsons Ankunft in Frankreich und seiner Rundreise durch England und Italien vgl. Manfred Berg: Woodrow Wilson. Amerika und die Neuordnung der Welt. München 2017, S. 157–160; Erez Manela: The Wilsonian Moment. Self-Determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism. New York 2007; Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieges. München 2014, S. 1006; zur Empörung über Wilson in Deutschland vgl. Klaus Schwabe: Deutsche Revolution und Wilson-Frieden. Die amerikanische und deutsche Friedensstrategie zwischen Ideologie und Machtpolitik 1918/19. Düsseldorf 1971, S. 566–577.

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Amerikas auswärtige Beziehungen seit mehr als hundert Jahren geprägt hatten. Auch wenn Wilson insistierte, der Beitritt zu einem Völkerbund sei kein Bruch mit der Tradition, sondern deren Weiterentwicklung, keine Verstrickung in her­ gebrachte Bündnisse, sondern die Verwirklichung amerikanischer Prinzipien, konnte der entschiedene innenpolitische Widerstand gegen seine Pläne kaum über­ raschen. Das innenpolitische Scheitern des Völkerbundes war allerdings nicht unver­meidbar. Bei den beiden Abstimmungen im US-Senat im November 1919 und im März 1920 erhielten die Ratifizierung des Versailler Friedensvertrags und der Beitritt zum Völkerbund nicht die in der US-Verfassung geforderte Zwei­ drittelmehrheit, weil sich die Anhänger des Präsidenten auf keinen Kompromiss mit dem Gros der republikanischen Fraktion einigen konnten. Während Wilson auf einer Ratifizierung der Völkerbundsatzung ohne jeden Vorbehalt bestand, verlangten die sogenannten Reservationists eindeutige Klarstellungen, dass die Souveränität der USA und die verfassungsmäßigen Rechte des Kongresses unangetastet bleiben würden. Beide Male scheiterte die Ratifizierung an einer Sperrminorität aus loyalen „Wilson-Demokraten“, die auf Geheiß des Präsidenten alle Vorbehalte ablehnten, und der kleinen Gruppe der sogenannten Irreconcilables, der „unversöhnlichen“ Völkerbundsgegner, für die ein Beitritt Amerikas unter keinen Umständen infrage kam. Bei der letzten Abstimmung am 19. März 1920 fehlten ganze sieben Stimmen für die Annahme unter Vorbehalt, wie sie der ­republikanische ­Senator Henry Cabot Lodge, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, vorgeschlagen hatte. Anschließend schickte der Senat den Friedensvertrag offiziell ins Weiße Haus zurück. Die USA traten dem Völkerbund niemals bei.2 Der sogenannte League fight gehört bis heute zu den großen Kontroversen der amerikanischen Geschichte, weil stets die kontrafaktische Frage mitschwingt, ob ein Beitritt der USA den Völkerbund zu einem wirksamen Instrument der Friedenssicherung gemacht und so den Zweiten Weltkrieg verhindert hätte. Über die Verantwortung für das Scheitern des Völkerbundes im US-Senat stritten bereits die Zeitgenossen heftig. Wilson war fest davon überzeugt, dass es seinem Erzrivalen Lodge nicht um sachliche Vorbehalte, sondern um die Sabotage des Völkerbundes ging. Lodge seinerseits beschuldigte Wilson, aus Eitelkeit und Dogmatismus einen möglichen Kompromiss torpediert zu haben. Selbst treue Anhänger des Präsidenten beklagten dessen Sturheit und Beratungsresistenz. Mutmaßlich noch schwerwiegender war, dass Wilson Anfang Oktober 1919 einen Schlaganfall erlitt, der ihn monatelang ans Krankenbett fesselte. In der entscheidenden Phase des Kampfs um den Völkerbund war der US-Präsident ein schwer kranker, kaum amtsfähiger Mann. Die Einschätzung, dass er aus Prinzipienreiterei sein eigenes 2 Die

wichtigsten Standardwerke zum innenpolitischen Kampf um den Völkerbund sind Lloyd E. Ambrosius: Woodrow Wilson and the American Diplomatic Tradition. The Treaty Fight in Perspective. New York 1987; John M. Cooper: Breaking the Heart of the World. Woodrow Wilson and the Fight for the League of Nations. New York 2001; zur umfangreichen Historiografie vgl. auch ders.: The League Fight. In: Ross A. Kennedy (Hg.): A Companion to Woodrow Wilson. Malden 2013, S. 518–527; für Einzelbelege vgl. Berg: Woodrow Wilson (wie Anm. 1), S. 187–217.

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Werk zu Schanden gehen ließ, hat sich selbst bei den Wilson-Bewunderern unter den Historikern durchgesetzt. Angesichts seines Gesundheitszustands, so John Milton Cooper, hätte der Präsident zurücktreten müssen: „[T]he League Fight would have turned out differently, and the nation and the world would have been better off.“3 Woodrow Wilson selbst kamen indessen niemals Zweifel an seiner kompromisslosen Haltung. Der Völkerbund war für den tiefreligiösen Presbyterianer ein covenant, ein Gnadenbund Gottes mit der Menschheit. Der Beitritt, erklärte ­Wilson nach seiner Rückkehr aus Paris, sei den Amerikanern von der „Hand Gottes“ vorgezeichnet worden. Nach der zweiten Abstimmungsniederlage im ­ ­Senat versuchte der Präsident, für eine – historisch beispiellose – dritte Amtszeit zu kandidieren und die Präsidentschaftswahlen von 1920 zum Referendum über den Friedensvertrag zu machen. Vom Scheitern dieser Pläne ließ er sich keinesfalls entmutigen. Unentwegt versicherte er Vertrauten, das amerikanische Volk sei getäuscht worden, werde aber seine wahren Interessen erkennen. Anfang 1924 hoffte er erneut auf die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten durch seine Partei. Ein geläutertes Wahlvolk sollte ihm den Wiedereinzug ins Weiße Haus ebnen, damit er sein Werk vollenden könne. Sein gesundheitlicher Zusammenbruch Ende Januar und sein Tod am 3. Februar 1924 setzten jedoch allen Plänen für eine politische Wiederauferstehung ein jähes Ende.4 Wilsons unerschütterlicher Glaube, den wahren Willen des Volkes zu vertreten, mutet in der Rückschau grotesk an, verweist aber auf zwei zentrale Fragen in der Debatte über das Scheitern des Völkerbundes, die häufig von der Fixierung auf Wilsons Persönlichkeit und seine Intimfeindschaft zu Lodge überlagert werden: Wie viel Rückhalt besaß Wilsons liberaler Internationalismus in der politischen Öffentlichkeit und beim Wahlvolk? Wie kompatibel waren die Vorstellungen des Präsidenten und die seiner Kritiker von der zukünftigen internationalen Rolle der USA? Wilsons innenpolitische Gegner spitzten die Debatte auf den Gegensatz zwischen Internationalismus und Nationalismus zu. Dabei ist zu betonen, dass „Nationalismus“ zu Beginn des 20. Jahrhundert noch ein weithin positiv konnotierter Begriff war und in den USA häufig synonym mit Amerikanismus beziehungsweise Patriotismus gebraucht wurde. So schmähte Ex-Präsident Theodore Roosevelt, der bis zu seinem plötzlichen Tod im Januar 1919 neben Lodge die wichtigste außenpolitische Stimme der Republikaner war, bereits im Spätsommer 1918 Wilsons Vorschlag zur Gründung eines Völkerbundes öffentlich als Hirngespinst naiver Pazifisten: „We are not internationalists. We are American nationalists […]. To substitute internationalism for nationalism means to do away with patriotism. 3 

Henry C. Lodge: The Senate and the League of Nations. New York 1925, S. 212–217; zu Lodge vgl. William Widenor: Henry Cabot Lodge and the Search for an American Foreign Policy. Berkeley 1980; John M. Cooper: Woodrow Wilson. A Biography. New York 2009, S. 560. 4  Woodrow Wilson: A Draft of a Covenant of a League of Nations, 8. 1. 1919. In: Arthur S. Link (Hg.): The PWW. Bd. 53. Princeton 1986, S. 655–677; Woodrow Wilson: An Address to the ­Senate, 10. 7. 1919. In: Arthur S. Link (Hg.): PWW. Bd. 61. Princeton 1989, S. 426–436, hier: S. 436; Berg: Woodrow Wilson (wie Anm. 1), S. 209–217.

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The professional pacifist and the professional internationalist are equally undesirable citizens.“ Im Juni 1920 eröffnete Henry Cabot Lodge den Wahlkampf der Republikaner mit der Forderung: „We must be now and forever for Americanism and nationalism, and against internationalism.“ Und der republikanische Präsidentschaftskandidat Warren G. Harding versprach den Wählern: „[To] hold the heritage of American nationalism unimpaired and unsurrendered.“5 Der von Wilsons Kritikern beschworene Gegensatz zwischen Internationalismus und Nationalismus führt freilich in die Irre. Denn auch Wilson war ein amerikanischer Nationalist, der fest an den amerikanischen Exzeptionalismus, also an Amerikas moralische Sonderstellung und historische Fortschrittsmission, glaubte. Doch verstand er sich zugleich als Internationalist, insofern er leidenschaftlich dafür eintrat, dass die USA bei der Schaffung des Weltfriedens die Führung übernehmen und im Rahmen des Völkerbundes internationale Verpflichtungen und Einschränkungen ihrer Handlungsfreiheit akzeptieren müssten. Es waren mithin zwei konkurrierende Varianten des amerikanischen Nationalismus, die im League fight gegeneinanderstanden: die traditionelle, der zufolge Amerika der Welt ein moralisches und politisches Vorbild geben, sich aber unbedingt von den Querelen Europas und allen Bündnisverwicklungen fernhalten müsse, und die jüngere aktivistische, der zufolge die amerikanische Demokratie nur überleben könne, wenn die USA global für die Ausbreitung und Sicherung der Demokratie eintreten würden. Diese Variante ist historisch so eng mit dem Namen Woodrow Wilsons verbunden, dass sich für sie die Bezeichnung Wilsonianism eingebürgert hat.6 Wilsons „internationalistischer Nationalismus“ verfügte jedoch von Anfang an nur über eine schwache innenpolitische Basis, die selbst im Falle einer Ratifizierung des Friedensvertrags keine Grundlage für eine fundamental andere US-Außen­ politik in der Nachkriegszeit geboten hätte.

Wilson und der Wilsonianism Angesichts seiner überragenden Bedeutung für Diskurs und Praxis der USAußen­politik in den letzten 100 Jahren überrascht es nicht, dass der Wilsonianism beziehungsweise der liberale Internationalismus, wie diese Tradition ebenfalls ge5  Theodore

Roosevelt zitiert nach Thomas Knock: To End All Wars. Woodrow Wilson and the Quest for a New World Order. New York 1992, S. 169; Lodge und Harding zitiert nach Cooper: Breaking (wie Anm. 2), S. 384, S. 391. 6  Vgl. zu dieser Unterscheidung Henry W. Brands: What America Owes the World. The Struggle for the Soul of Foreign Policy. New York 1998, S. VII–X, S. 1–21; eine emphatische Rechtfertigung des Wilsonianism als Richtschnur der US-Außenpolitik im 20. Jahrhundert ist Tony Smith: America’s Mission. The United States and the Worldwide Struggle for Democracy in the Twentieth Century. Princeton 1994. Auch Kritiker der aktivistischen Variante der US-Außenpolitik bleiben häufig implizit der Vorstellung vom Vorbildcharakter Amerikas verhaftet, vgl. Joan Hoff: A Faustian Foreign Policy from Woodrow Wilson to George W. Bush. Dreams of Perfectibility. New York 2008, S. 17, die für eine weltpolitische Rolle der USA als „ethischer Hegemon“ plädiert.

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nannt wird, historiografisch und politisch bis heute äußerst umstritten geblieben ist. Kontroversen haben sich unter anderem daran entzündet, ob Wilson ein weltfremder Idealist, ein bornierter Theokrat, ein weitsichtiger Realist oder doch vor allem ein zynischer Machtpolitiker war, dessen universalistische Rhetorik über handfeste Interessenpolitik hinwegtäuschen sollte. Auch sein politisches Erbe ist bis in die Gegenwart umkämpft geblieben. Stand der machtpolitische Globalismus der USA im Kalten Krieg in der Kontinuität seines liberalen Internationalismus? Konnten sich die neokonservativen Ideologen während der Präsidentschaft von George W. Bush im „Krieg gegen den Terror“ zu Recht auf Wilson berufen?7 Die Beantwortung dieser Fragen hängt offenkundig davon ab, was man unter Wilsonianism versteht. In der neueren Wilson-Historiografie herrscht, bei allen Meinungsverschiedenheiten über Gewichtung und Bewertung, Konsens über vier konstitutive Elemente. Wilsons Vision einer neuen internationalen Ordnung beruhte demnach auf kollektiver Sicherheit durch multilaterale Institutionen, auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, auf der Kooperation demokratischer Nationalstaaten und auf einer liberalen Weltwirtschaft. Die jüngere Forschung betont, dass Wilsons Internationalismus eine globale Hegemonie der USA voraussetzte und die Welt aus dem Blickwinkel des amerikanischen Nationalismus betrachtete. Dies war jedoch keine amerikanische Besonderheit, auch in Europa ­basierte der Internationalismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf der Universalisierung der Nationalismen. In den Debatten über den Wilsonianism wird dieser Zusammenhang indessen sehr unterschiedlich beurteilt. Für Wilson-Anhänger wie Tony Smith markiert der Wilsonianism gleichsam eine moralische Transformation, die den amerikanischen Nationalismus über „das parochiale Eigen­interesse“ erhebe und die Nation durch die welthistorische Mission der Demo­kratie eine. Für Kritiker besteht das grundlegende Problem dagegen darin, dass Wilson und die Wilsonians die Welt stets durch die amerikanische kulturelle Brille betrachtet hätten und nach amerikanischem Vorbild umgestalten wollten. Das Resultat seien imperiale Hybris und blinder Interventionismus gewesen.8 7 

Einen umfassenden Überblick über die Wilson-Historiografie gibt Kennedy (Hg.): Companion (wie Anm. 2); vgl. auch John M. Cooper (Hg.): Reconsidering Woodrow Wilson. Progressivism, Internationalism, War, and Peace. Baltimore 2008; zu den Kontroversen über die Aktualität des Wilsonianism vgl. John G. Ikenberry (Hg.): The Crisis of American Foreign Policy. Wilsonianism in the Twenty-first Century. Princeton 2009; Manfred Berg: US-Präsident Woodrow Wilson und der liberale Internationalismus. In: JbzLF 28 (2016), S. 67–90; neue Darstellungen, in denen Wilson vor allem als amerikanischer Nationalist mit dem Ziel einer globalen Hegemonialrolle erscheint, sind Adam Tooze: The Deluge. The Great War, America and the Remaking of the Global Order, 1916–1931. London 2014; Robert E. Hannigan: The Great War and American Foreign Policy, 1914–24. Philadelphia 2017. 8 Vgl. Lloyd E. Ambrosius: Legacy and Reputation. In: Kennedy (Hg.): Companion (wie Anm. 2), S. 569–587, hier: S. 572–574. Ambrosius, der profilierteste Wilson-Kritiker unter den USHistorikern, vertritt seit Jahrzehnten die These, die fundamentale Schwäche des Wilsonianism sei seine Blindheit gegenüber der kulturellen Vielfalt der Nationen. Vgl. ders.: Wilsonian Statecraft. Theory and Practice of Liberal Internationalism during World War I. Wilmington 1991; ders.: Wilsonianism. Woodrow Wilson and His Legacy in American Foreign Relations. New York

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In letzter Zeit ist zudem immer stärker Wilsons Rassismus in den Mittelpunkt der Diskussionen gerückt. Der nach dem Bürgerkrieg im Süden der USA aufgewachsene spätere Präsident betrachtete Afroamerikaner und andere nicht-weiße Minderheiten niemals als gleichberechtigte Bürger. Während seiner Amtszeit wurde die Rassentrennung auch in den US-Bundesbehörden eingeführt. Auf internationaler Ebene galten seine Prinzipien der nationalen Selbstbestimmung und Demokratie nicht für die Kolonialbevölkerungen Afrikas und Asiens. Während der Pariser Friedenskonferenz schmetterte Wilson einen japanischen Zusatz zur Völkerbundakte, der alle Mitgliedstaaten zur rechtlichen Gleichbehandlung von Ausländern ungeachtet ihrer „Rasse und Nationalität“ verpflichten sollte, durch einen Geschäftsordnungstrick ab.9 Obwohl Wilsons Haltung nach den Maßstäben seiner Zeit keineswegs extrem, sondern typisch für die Mentalität der weißen Mehrheitsgesellschaft war, diskreditiert sie in den Augen einiger heutiger Historiker nicht nur ihn persönlich, sondern darüber hinaus auch seinen liberalen Internationalismus, der vor diesem Hintergrund vornehmlich als rassistisches und kolo­ nialistisches Projekt erscheint. Diese Deutung spiegelt freilich eher heutige Wertmaßstäbe als die Perspektive der Zeitgenossen. Tatsächlich warnten gerade prominente Gegner des Völkerbundes wie der aus Idaho stammende republikanische Senator William E. Borah, der Führer der „Unversöhnlichen“, durch eine Mitgliedschaft werde Amerika die Kontrolle über seine Einwanderungspolitik verlieren und seine Grenzen für Asiaten und Afrikaner öffnen müssen.10 Dass Wilson solche Behauptungen entschieden zurückwies, änderte nichts daran, dass ethnozentrische weiße Nationalisten zu seinen schärfsten Kritikern gehörten. Wilsons liberaler Internationalismus beruhte einerseits auf gängigen Vorstellungen von der historischen Sonderstellung Amerikas und der Überlegenheit der europäisch-atlantischen Zivilisation wie der „weißen Rasse“, andererseits auf dem Credo, dass der Frieden am besten durch Zusammenarbeit und Zusammenschlüsse der Nationen gesichert werde. In den USA waren vor allem Sozialisten, Pazifis2002; ders.: Woodrow Wilson and American Internationalism. New York 2017. Einen umfassenden historisch-theoretischen Rekonstruktionsversuch aus der Perspektive eines überzeugten ­Wilsonian, der seinen Helden gegen die Usurpation der „imperialistischen Neo-Wilsonianer“ verteidigt, unternimmt Tony Smith: Why Wilson Matters. The Origin of American Liberal Internationalism and Its Crisis Today. Princeton 2017, bes. S. 1–28, Zitat: S. 15 f.; zum Zusammenhang von Nationalismus und Internationalismus vgl. Glenda Sluga. Internationalism in the Age of Nationalism. Philadelphia 2013.  9  Zu Wilsons Haltung in Rassenfragen vgl. John Milton Cooper/Thomas J. Knock (Hg.): Jefferson, Lincoln, and Wilson. The American Dilemma of Race and Democracy. Charlottesville 2010; Gary Gerstle: Race and Nation in the Thought and Politics of Woodrow Wilson. In: Cooper (Hg.): Reconsidering (wie Anm. 7), S. 93–123; Jennifer D. Keene: Wilson and Race Relations. In: Kennedy (Hg.): Companion (wie Anm. 2), S. 133–151; besonders kritisch Eric S. Yellin: Racism in the Nation’s Service: Government Workers and the Color Line in Woodrow Wilson’s America. Chapel Hill 2013; Paul Gordon Lauren: Human Rights in History. Diplomacy and Racial Equali­ ty at the Paris Peace Conference. In: Michael L. Krenn (Hg.): Race and U.S. Foreign Policy from the Colonial Period to the Present. New York 1998, S. 99–120. 10 Vgl. z. B. Senator William Borah an James Phelan, 24. 3. 1919, LC MD, William E. Borah ­Papers, Box 767.

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ten, Frauenrechtlerinnen und linksliberale Sozialreformer die Bannerträger dieses „progressiven Internationalismus“, wie ihn einige Historiker genannt haben.11 Insofern stellt sich die Frage, ob es überhaupt angemessen ist, von Wilsonianism zu sprechen, und welchen intellektuellen Beitrag Woodrow Wilson selbst zu diesem mit seinem Namen verbundenen Denken leistete. Wilson gehörte, bevor er 1910 im Alter von 53 Jahren in die Politik ging, zu den bekanntesten Politikwissenschaftlern der USA, der wichtige Arbeiten zum USKongress und zur vergleichenden Regierungslehre vorgelegt hatte. Mit außenpolitischen Fragen hatte sich der spätere Präsident allerdings kaum befasst. In seiner jüngst erschienenen theoretischen Rekonstruktion des Wilsonianism argumentiert Tony Smith gleichwohl, Wilson habe bereits in seinen wissenschaftlichen Werken den intellektuellen Kern des liberalen Internationalismus entwickelt, nämlich den Gedanken, dass die weltweite Verbreitung der Demokratie die Voraussetzung für das friedliche Zusammenleben der Völker und die nationale Sicherheit der USA sei. Auch Smith muss allerdings konzedieren, dass sich in Wilsons Schriften dazu wenig Konkretes findet und dass der Politikwissenschaftler Wilson keineswegs von der Übertragbarkeit der amerikanischen Demokratie auf andere Gesellschaften ausging. Seit jungen Jahren war Wilson ein Bewunderer des konservativen ­britischen Denkers und Politikers Edmund Burke. Er teilte Burkes tiefe Skepsis gegenüber revolutionären Umbrüchen und abstrakten Prinzipien. Selbstregierung und Demokratie verstand Wilson als historisch gewachsene angelsächsische Ins­ titutionen, die anderswo nur als Ergebnis eines langen Entwicklungsprozesses Wurzeln schlagen konnten.12 Dafür, dass der Gedanke an eine Demokratisierung und Neuordnung der Welt Wilson bereits vor 1914 beseelt hätte, gibt es keine tragfähigen Belege. Wenn er in einer Wahlrede im Mai 1912 davon sprach, die USA seien „auserwählt, den Nationen der Welt den Weg auf den Pfad der Freiheit zu weisen“, so verkündete er damit kein politisches Programm, sondern artikulierte lediglich den amerikanischen Mainstream-Nationalismus seiner Zeit, demzufolge sich die Welt am amerikanischen Vorbild läutern solle. Als Präsident konzentrierte er sich zunächst auf umfassende innenpolitische Reformen wie die Beschränkung von Kartellen, die Einführung einer Bundeseinkommensteuer sowie die Ordnung des Bankenwesens durch das Federal Reserve Board. Kurz vor seinem Amtsantritt bemerkte er ge11  Vgl. u. a. Knock: End (wie Anm. 5), bes. S. 31–47; Harriet Hyman Alonso: Peace as a Women’s Issue. A History of the U.S. Movement of World Peace and Women’s Rights. Syracuse 1993; Robert D. Johnson: The Peace Progressives and American Foreign Relations. Cambridge 1995; Frances H. Early: A World without War. How U.S. Feminists and Pacifists Resisted World War I. Syracuse 1997; Michael Kazin: War against War. The American Fight for Peace, 1914–1918. New York 2017. 12  Smith: Wilson (wie Anm. 8), S. 31–64 (bes. S. 37), S. 130–143. Smith liest meines Erachtens zu viel Kohärenz und Originalität in Wilsons Schriften hinein. Woodrow Wilson: Edmund Burke. The Man and His Times, 31. 8. 1893. In: Arthur S. Link (Hg.): PWW. Bd. 8. Princeton 1970, S. 318–343; Woodrow Wilson: Democracy, 5. 12. 1891. In: Arthur S. Link (Hg.): PWW. Bd. 7. Princeton 1969, S. 344–369.

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genüber einem Freund, dass es geradezu „eine Ironie des Schicksals“ wäre, sollte er sich vornehmlich der Außenpolitik widmen müssen.13 Die „Ironie des Schicksals“ trat rasch ein, denn ab August 1914 dominierte die Außenpolitik seine Präsidentschaft. Unter dem Eindruck der Katastrophe des Weltkriegs entwickelte Wilson sukzessive politische Vorstellungen und Initiativen, die im Kern darauf hinausliefen, dass eine amerikanische Friedensvermittlung nicht nur das Ende des Gemetzels auf den Schlachtfeldern herbeiführen, sondern einen gerechten Frieden und eine Neuordnung der Welt, die weitere Kriege unmöglich machen würde, bringen sollte. Dabei rückte seit Mitte 1916 die Idee eines Völkerbundes, in dem die USA eine führende Rolle einnehmen würden, in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Auch nachdem der Kriegseintritt der USA im April 1917 eine Friedensvermittlung obsolet gemacht hatte, blieb die Neuordnung der Welt durch den Völkerbund das Kernstück seiner Politik wie seiner Über­ zeugungen. Ihr Gewicht erhielten diese nicht durch intellektuelle Originalität, sondern durch seine Rolle als autorisierte Stimme der Nation, die allein aufgrund ihrer ökonomischen Stärke dabei war, Großbritannien als führende Weltmacht abzulösen. Wilson mochte an seine politischen Vorstellungen aus der Zeit vor 1914 anknüpfen, doch im Wesentlichen entsprang sein Internationalismus der durch den Weltkrieg geschaffenen Krise. Insbesondere der Völkerbund war, so der Historiker Frank Ninkovich, ein beispiellos radikales Experiment, das den amerikanischen Traditionen widersprach und daher keinesfalls von vorneherein mit breiter Akzeptanz rechnen durfte.14

Neutralität und Wilsonianism Wilsons Neutralitätserklärung vom 18. August  1914 stand denn auch zunächst einmal völlig im Einklang mit der langen US-amerikanischen Tradition der Nichteinmischung in europäische Konflikte. Der Präsident appellierte an die nationale Einheit, die nicht durch ethnische Sympathien für die Krieg führenden Nationen gefährdet werden dürfe, und rief seine Landsleute zu strikter Neutralität „im Denken wie im Handeln“ auf. Nur ein unparteiisches Amerika könne dem Weltfrieden dienen. Ohne Zweifel entsprach Wilsons Botschaft dem Wunsch der überwältigenden Mehrheit der Amerikaner, die zwar – mit Ausnahme der Deutschamerikaner und der Iren – überwiegend mit der Entente sympathisierten, aber keine Verwicklung ihres Landes in den europäischen Krieg wünschten. Ob der Präsident und seine Regierung den eigenen Ansprüchen genügten, diskutieren 13  Woodrow Wilson: Address in Jersey City, 25. 5. 1912. In: Arthur S. Link (Hg.): PWW. Bd. 24. Princeton 1977, S. 443; Ray Stannard Baker (Hg.): Woodrow Wilson. Life and Letters. Bd. 4. Garden City 1931, S. 55. Alle Übersetzungen im vorliegenden Aufsatz aus dem Englischen wurden durch den Verfasser vorgenommen. 14  Zur Entwicklung der Völkerbundsidee bei Wilson vgl. umfassend Knock: End (wie Anm. 5); Frank Ninkovich: Wilsonianism after the Cold War. Words, Words, Mere Words. In: Cooper (Hg.): Reconsidering (wie Anm. 7), S. 299–325, hier: S. 300.

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Historiker seit vielen Jahrzehnten kontrovers. Die neuere Geschichtsschreibung sieht Wilsons Neutralitätspolitik zwar sehr kritisch, weil der Präsident im Konflikt um die Freiheit der Meere zweierlei Maß anlegte und einseitig die Westalliierten durch Waffenverkäufe und Anleihen begünstigte, billigt ihm aber zu, dass er den Krieg mit Deutschland zu vermeiden suchte, bis ihm Mitte März 1917 die Versenkung amerikanischer Handelsschiffe durch deutsche U-Boote keine Wahl mehr ließ.15 Je länger der Krieg dauerte und je größer die Gefahr einer amerikanischen Verwicklung erschien, umso klarer positionierten sich die politischen Lager. Auf der Linken bildete sich eine antimilitaristische Koalition, der traditionelle „Isolationisten“ aus dem Mittleren Westen und Populisten aus dem Süden ebenso angehörten wie Sozialisten, Sozialreformer und die pazifistischen Feministinnen der Woman’s Peace Party. Ein prominenter Kriegsgegner war Wilsons erster Außenminister, William Jennings Bryan, der nach der Versenkung des britischen Passagierschiffs „Lusitania“ durch ein deutsches U-Boot Anfang Mai 1915, bei der auch etwa 130  Amerikaner ums Leben kamen, aus Protest gegen die einseitige Neutralitätspolitik des Präsidenten zurücktrat. Das pazifistisch-progressive Lager bestritt, dass das Deutsche Reich die nationale Sicherheit der USA bedrohe, verlangte strikte Neutralität und eine aktive, unparteiische Friedensvermittlung. Viele progressive Internationalisten traten zudem für eine allgemeine Abrüstung und für die Gründung internationaler Organisationen zur Friedenssicherung ein.16 Die „Atlantiker“ in der Republikanischen Partei unter Führung von Theodore Roosevelt, Henry Cabot Lodge und Elihu Root, befürworteten dagegen eine klare Parteinahme für die Entente. Roosevelt drängte seit der „Lusitania“-Krise auf einen Kriegseintritt der USA, blieb mit dieser Haltung aber vorerst weitgehend isoliert. Die Amerikaner empörten sich zwar über die rücksichtslose deutsche Kriegsführung, waren aber keineswegs von der Notwendigkeit einer Kriegser­ klärung überzeugt. Allerdings erhielt nach der Versenkung der „Lusitania“ die ­sogenannte Preparedness-Bewegung immer mehr Zulauf, die Aufrüstung, Wehrhaftigkeit und „einhundertprozentigen Amerikanismus“ propagierte. Eine mitt­ lere Position, gleichsam einen konservativen Internationalismus, vertrat die im Juni 1915 von Vertretern der Ostküste-Elite gegründete, überparteiliche League to Enforce Peace (LEP), in der Ex-Präsident William H. Taft und der Präsident der Columbia Universität, Nicholas Murray Butler, eine wichtige Rolle spielten. Die LEP strebte für die Nachkriegszeit die Gründung eines internationalen ­Bundes zur Durchsetzung des Weltfriedens unter Mitwirkung der USA an, sympathisierte aber mit den Westmächten und hielt wenig von den Forderungen der 15  Woodrow

Wilson: An Appeal to the American People, 18. 8. 1914. In: Arthur S. Link (Hg.): PWW. Bd. 30. Princeton 1979, S. 393 f.; statt zahlreicher Einzelbelege vgl. den historiografischen Überblick bei Justus D. Doenecke: Neutrality Policy and the Decision for War. In: Kennedy (Hg.): Companion (wie Anm. 2); S. 243–269; vgl. auch meine eigene Darstellung Berg: Woodrow Wilson (wie Anm. 1); S. 90–117. 16 Vgl. die in Anm. 11 genannte Literatur, insbesondere Kazin: War (wie Anm. 11), S. 17–111; Knock: End (wie Anm. 5), S. 49–54; Johnson: Peace (wie Anm. 11), S. 53–69.

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progressiven Internationalisten nach allgemeiner Abrüstung und demokratischer Kontrolle der Außenpolitik.17 Wilson zeigte sich bis 1917 nach allen Seiten hin offen. So bekannte er sich wiederholt öffentlich zum Gedanken der Preparedness und kündigte 1916 gar den Ausbau der US Navy zur größten Kriegsmarine der Welt an. Gleichzeitig trieb er sein Ziel voran, amerikanische Friedensvermittlung mit Vorschlägen für eine neue internationale Ordnung zu verbinden. Im Mai 1916 hielt Wilson vor der LEP eine vielbeachtete Rede, in der er Amerikas Bereitschaft betonte, „als Partner an einer Assoziation der Nationen“ mitzuwirken. Sein Land, führte Wilson darin aus, ­stehe für das Recht aller Völker, selbst zu wählen, unter welcher Souveränität sie leben wollen, für die Sicherheit und territoriale Integrität auch der kleinen Nationen und für die Ächtung des Aggressionskriegs.18 Die Rede fand in der Öffentlichkeit ein sehr freundliches Echo. Im Wahlkampf 1916 zeigte sich, dass die Mehrheit der Amerikaner sich die Fortsetzung einer Politik der Neutralität und Friedensvermittlung wünschte. Dies galt insbesondere für Wilsons Demokratische Partei. Ohne Zustimmung des Präsidenten fügte das Programmkomitee der Partei dem Wahlprogramm den Slogan „He kept us out of war!“ hinzu. Wilson war darüber äußerst verärgert, weil der Satz als ein Versprechen verstanden werden würde, das er möglicherweise nicht halten konnte. Allerdings dementierte der Präsident die Losung auch nicht und attackierte die Republikaner im Wahlkampf als Partei der Kriegstreiber.19 Als „Friedenskandidat“ und Befürworter eines Völker­bundes positionierte sich Wilson klar im Lager der progressiven Internationalisten. Dass es ihm gelang, das gesamte linke Lager hinter sich zu versammeln, war nach Meinung vieler Historiker ausschlaggebend für seinen hauchdünnen Wahlsieg im November 1916.20 Viele seiner Unterstützer erwarteten nicht nur, dass Wilson die USA weiterhin neutral halten werde, sondern hofften auf konkrete Schritte, um den Krieg zu beenden. In der Tat leitete der Präsident nach seinem Wahlsieg eine Vermittlungsini17 Umfassend zu den diversen politischen Lagern vgl. Ross A. Kennedy: The Will to Believe. Woodrow Wilson, World War I, and America’s Strategy for Peace and Security. Kent 2009; Lloyd E. Ambrosius: The Great War, Americanism Revisited, and the Anti-Wilson Crusade. In: Serge Ricard (Hg.): A Companion to Theodore Roosevelt. Malden 2011, S. 468–484, hier: S. 474 f.; Kazin: War (wie Anm. 11), S. 59–65; John P. Finnegan: Against the Specter of a Dragon. The Campaign for American Military Preparedness, 1914–1917. Westport 1974; vgl. auch Manuel Franz: Preparedness Revisited. Civilian Societies and the Campaign for American Defense, 1914– 1920. In: JGAPE 17 (2018), S. 663–676, hier: S. 672 („100 percent Americanism“); zur LEP vgl. Knock: End (wie Anm. 5), S. 55–58. 18  Woodrow Wilson: An Address on Preparedness, 3. 2. 1916. In: Arthur S. Link (Hg.): PWW. Bd. 36. Princeton 1981, S. 114–121; Woodrow Wilson: An Address to the League to Enforce Peace, 27. 5. 1916. Arthur S. Link (Hg.): PWW. Bd. 37. Princeton 1981, S. 113–116. 19 Ray Stannard Baker (Hg.): Woodrow Wilson. Life and Letters. Bd. 6. Garden City 1937, S. 257–258; Arthur S. Link: Wilson. Campaigns for Progressivism and Peace 1916–1917. Princeton 1965, S. 108–112; Woodrow Wilson: A Campaign Speech, 30. 9. 1916. In: Arthur S. Link (Hg.): PWW. Bd. 38. Princeton 1982, S. 301–312. 20  Vgl. Knock: End (wie Anm. 5), S. 85–104; Kazin: War (wie Anm. 11), S. 113–145.

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tiative ein, die in seiner berühmten „Frieden ohne Sieg“-Rede vom 17. Januar 1917 gipfelte, in der er vor der Weltöffentlichkeit die Grundlagen seines liberalen Internationalismus skizzierte. Das alte System des Gleichgewichts der Mächte und des Länder- und Völkerschachers müsse durch eine neue internationale Gemeinschaft ersetzt werden. Voraussetzung dafür sei ein Friedensschluss ohne Sieger und Besiegte, basierend auf Abrüstung und Freihandel sowie der Gleichberechtigung und Souveränität aller Nationen, die über ihre Regierungsform und innere Entwicklung selbst entscheiden sollten. Der US-Präsident nahm für sich in Anspruch, für „die Liberalen und Menschenfreunde in allen Nationen“, ja für die „schweigende Masse der Menschheit“ zu sprechen. Mit großer Zuversicht beteuerte er, dass sich auch die USA an einem „Bund des Friedens“ beteiligen würden, und proklamierte zum Schluss: „These are American principles, American policies. We could stand for no others […]. They are the principles of mankind and must ­prevail.“21 Hinter Wilsons universalistischer Rhetorik stand unverkennbar der Anspruch auf die Rolle des Schiedsrichters, der die Friedensbedingungen maßgeblich mitbestimmen wollte. Anfang 1917 waren jedoch weder die Alliierten noch die Deutschen zu einem „amerikanischen Frieden“ bereit. Die deutsche Antwort auf Wilsons Friedensappell bestand in der Wiederaufnahme des unein­ geschränkten U-Boot-Kriegs – eine Entscheidung, bei der die politische und militärische Führung des Deutschen Reichs den Krieg mit Amerika bewusst in Kauf nahm.

Krieg und liberaler Internationalismus Mit ihrem Eintritt in den Ersten Weltkrieg gaben die USA erstmals den Grundsatz der Nichteinmischung in die Kriege Europas auf. Auf diese Zäsur war das amerikanische Volk mental kaum vorbereitet, zumal die Eskalation, die zum Kriegseintritt führte, für viele Amerikaner überraschend kam und nicht leicht zu durchschauen war. Weder der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Berlin Anfang Februar 1917 noch das Bekanntwerden des geheimen deutschen Bündnisangebots an Mexiko Anfang März, das Zimmermann-Telegramm, lösten in der breiten Öffentlichkeit den Ruf nach einer Abkehr von der Neutralitätspolitik aus. Kriegsgegner verlangten, vor einer Kriegserklärung müsse es eine Volksabstimmung geben. Wilson selbst hielt sich bedeckt und zögerte die Entscheidung ­hinaus, bis Mitte März deutsche U-Boote drei US-Handelsschiffe versenkten.22 Die Verletzung umstrittener Neutralitätsrechte war indessen kein Grund für die

21 Woodrow

Wilson: An Address to the Senate, 22. 1. 1917. In: Arthur S. Link (Hg.): PWW. Bd. 40. Princeton 1983, S. 533–539. 22  Vgl. Robert W. Tucker: Woodrow Wilson and the Great War. Reconsidering America’s Neutrality, 1914–1917. Charlottesville 2007, S. 204–214; Justus Doenecke: Nothing Less Than War. A New History of America’s Entry into World War I. Lexington 2011, S. 307; Kazin: War (wie Anm. 11), S. 147–155; Berg: Woodrow Wilson (wie Anm. 1), S. 113–117.

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Amerikaner, bereitwillig in einen opferreichen Krieg zu ziehen. Wilson musste dem Krieg einen historischen Sinn und ideelle Ziele geben, die, gemäß den Traditionen des amerikanischen Exzeptionalismus, nationale Interessen mit universalen Prinzipien verbanden. In seiner Kriegsbotschaft vom 2. April 1917 erklärte der Präsident, Amerika kämpfe nicht aus Rachsucht oder Eigennutz, sondern für die Interessen der gesamten Menschheit: „We are glad […] to fight for the ultimate peace of the world and for the liberation of its peoples, the German peoples ­included; for the rights of nations great and small and for the privilege of men ­everywhere to choose their way of life and of obedience.“ Die Voraussetzung für den künftigen Weltfrieden sei die Demokratie. Kein Satz seiner Kriegsbotschaft ist häufiger zitiert worden als Wilsons berühmte Forderung: „The world must be made safe for democracy.“ 23 Aber identifizierten sich die Amerikaner wirklich mit dem Wilsonianism? Von einer einmütigen Unterstützung für den Krieg konnte jedenfalls keine Rede sein. Im Kongress gab es beachtliche 56 Gegenstimmen gegen die Kriegserklärung, die vor allem von progressiven Sozialreformern aus Staaten mit hohem deutschen anteil, aber auch von Demokraten aus dem Süden kamen. Viele Bevölkerungs­ ­Demokraten stimmten wohl nur aus Loyalität zum Präsidenten für den Krieg. Wilsons Kritiker empörten sich, Amerika kämpfe nicht für eigene nationale Inte­ ressen, sondern ziehe, so der aus Nebraska stammende republikanische Senator George Norris, „auf Befehl des Goldes“ – gemeint war: der Wall Street – und für den Fortbestand des British Empire in den Krieg. Sein Fraktionskollege Robert LaFollette aus Wisconsin erinnerte daran, dass die Armen die Lasten und Opfer des Kriegs zu tragen haben würden. Und der Sprecher des Repräsentantenhauses, der Demokrat Claude Kitchin aus North Carolina, entgegnete auf Wilsons Kriegsrede: „I shall always believe we could and ought to have kept out of this war.“ Auch Jeannette Rankin, die einzige Frau im Kongress, stimmte gegen den Krieg.24 Selbst viele Befürworter der Kriegserklärung, wie Henry Cabot Lodge und Theodore Roosevelt, distanzierten sich ausdrücklich von Wilsons internationalistischer Rhetorik. Die Kriegsbegründungen führender Republikaner klangen betont nationalistisch. Senator William Borah aus Idaho lehnte Allianzen mit anderen Mächten kategorisch ab: „I seek or accept no alliances; I obligate this Government to no other power. I make war alone for my countrymen and their rights, for my country and its honor.“ Der konservative Republikaner Warren Harding aus Ohio wollte ebenfalls nur für amerikanische Interessen, nicht aber für die 23  Wilson: Address, 2. 4. 1917 (wie Anm. 1), S. 525. Allerdings ist umstritten, ob Wilson tatsächlich einen Kreuzzug für die Demokratie ausrief oder sich lediglich zu einer internationalen Ordnung bekannte, in der die Demokratie als Regierungsform gedeihen könne, wie John M. Cooper meint. Vgl. Cooper: Woodrow Wilson (wie Anm. 3), S. 5 f., S. 387. 24  Cooper: Woodrow Wilson (wie Anm. 3), S. 388  f.; Dennis Merrill/Thomas G. Paterson (Hg.): Major Problems in American Foreign Relations. Bd. 2. Boston 2005, S. 38 f.; Jeanette Keith: Rich Man’s War, Poor Man’s Fight. Race, Class, and Power in the Rural South During the First World War. Chapel Hill 2004, S. 13 f.; Kazin: War (wie Anm. 11), S. 179–186.

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­ emokratie in den Krieg ziehen: „I am not voting for war in name of democracy D […]. [I]t is none of our business what type of government any nation on this earth may choose to have.“25 Ob eine Mehrheit der Amerikaner im April 1917 für den Krieg war, ist umstritten. Von einer Begeisterung für Wilsons Internationa­ lismus kann jedenfalls keine Rede sein. Die Unterstützung für die Kriegser­ klärung im Kongress und in der Bevölkerung beruhte vielmehr ganz überwiegend auf der Überzeugung, sich gegen eine unprovozierte Aggression verteidigen zu müssen. Die Attacken gegen Wilsons Internationalismus machen leicht vergessen, dass auch der Präsident ein Nationalist war, der an Amerikas moralisch-politischem Überlegenheitsanspruch festhalten wollte. Die USA traten als „assoziierte“ und nicht als „alliierte“ Macht in den Krieg ein und schlossen auch keine förmlichen Bündnisverträge mit den Westmächten. Damit stellte sich der Präsident ostentativ in die Tradition der Bündnis- wie Handlungsfreiheit und distanzierte sich zugleich von den auf klassischer Machtpolitik beruhenden Kriegszielen der Entente. „England and France have not the same views with regard to peace that we have by any means“, schrieb er im Juli 1917 an seinen Berater Edward House. Doch nach dem Krieg werde man beide durch finanziellen Druck auf die eigene Linie bringen können.26 Nicht nur außenpolitisch verbarg sich hinter Wilsons Interna­ tionalismus ein robuster amerikanischer Nationalismus. Im Inneren war er bereit, die nationale Einheit durch gezielt geschürte Kriegshysterie und Repression zu erzwingen. Das gleich im April 1917 geschaffene Committee on Public Informa­ tion (CPI) wurde innerhalb kurzer Zeit zu einer allgegenwärtigen Propagandamaschine, die das gespaltene Land auf Kriegskurs bringen sollte. Die Gräuelpropaganda gegen die „Hunnen“ schlug rasch auf die Deutschamerikaner zurück, die in den Verdacht kollektiver Illoyalität gerieten und sich massiver Schikane ausgesetzt sahen. Überall im Land versuchten Eiferer, die deutsche Kultur und Sprache aus dem amerikanischen Leben zu verbannen. Dass die antideutsche Hysterie seiner Botschaft, Amerika hege keine Feindschaft gegen das deutsche Volk, völlig zu­ widerlief, ignorierte der Präsident geflissentlich. Volkswut und staatlicher Verfolgungseifer richteten sich zudem gegen Pazifisten, Linke und Progressive, die noch im Herbst  1916 Wilsons Wiederwahl unterstützt hatten. Der Sozialistenführer Eugene Debs, der den Krieg für die Demokratie als Heuchelei kritisiert und seine Sympathie für Kriegsdienstverweigerer bekundet hatte, wurde 1918 zu zehn ­Jahren Gefängnis verurteilt. Dagegen gab die Kriegshysterie ausgerechnet jenen reaktionären Kräften Auftrieb, von denen der Präsident wenig Unterstützung für seine Friedensvorstellungen erwarten durfte. Ein frustrierter Wilson-Anhänger beschrieb die Lage mit fassungsloser Verbitterung: „He puts his enemies in office and his friends in jail.“ Die Proteste seiner progressiven Gefolgschaft nahm der 25  Vgl. Knock: End (wie Anm. 5), S. 125; David Kennedy: Over Here. The First World War and American Society. New York 22004, S. 20. 26  Woodrow Wilson: Wilson and Edward House, 21. 7. 1917. In: Arthur S. Link (Hg.): PWW. Bd. 43. Princeton 1983, S. 237–239.

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Präsident mit freundlicher Gleichgültigkeit zur Kenntnis, ließ den patriotischen Eiferern jedoch freie Hand.27 Wie passte die Repression nach innen zu Wilsons liberalem Internationalismus? Wilson sah sich zwar als liberalen Demokraten, er war jedoch kein civil libertarian, wie in den USA die Anhänger einer weitreichenden Interpretation bürgerlicher Freiheitsrechte genannt werden. Im Krieg war für ihn unbedingte Loyalität die erste Bürgerpflicht, weil nur nationale Einheit und Entschlossenheit den Sieg und damit die Freiheit sichern könnten. Nachdem die Entscheidung zum Krieg ge­ fallen war, musste er auch nach innen mit aller Macht geführt werden, selbst wenn er damit seine ehemaligen politischen Verbündeten traf, die sich nicht vom Kriegsenthusiasmus hatten anstecken lassen. Dass Kriegspropaganda und Hysterie die innenpolitische Basis des Wilsonia­ nism untergraben hatten, zeigte sich im Herbst 1918. In seinen „Vierzehn Punkten“ vom Januar 1918, in denen Wilson seinen liberalen Internationalismus erstmals konkretisierte, hatte der US-Präsident einem demokratischen Deutschland die Mitgliedschaft im künftigen Völkerbund in Aussicht gestellt.28 Als das Deutsche Reich Anfang Oktober 1918 die „Vierzehn Punkte“ als Grundlage für Waffenstillstandsverhandlungen akzeptierte, forderten weite Teile der amerikanischen Öffentlichkeit jedoch die bedingungslose Kapitulation und einen harten Straf­ frieden. Auch aus Wilsons eigener Partei kamen Bedenken, der Präsident könne zu nachgiebig gegenüber den Deutschen auftreten. Ein demokratischer Senator beschwor ihn, ohne eine bedingungslose Kapitulation werde ihn der Volkszorn hinwegfegen. Wilson blieb gelassen und verwies selbstgewiss auf seine historische Mission: „I am now playing for 100 years hence.“ Das amerikanische Volk kenne sein Friedensprogramm und werde ihm folgen.29 Wilson war so sehr von der Unterstützung des Volkes überzeugt, dass er die Anfang November 1918 anstehenden Kongresswahlen nutzen wollte, um sich ein Mandat für sein Friedensprogramm zu verschaffen. Obwohl er selbst gar nicht zur Wahl stand, rief der Präsident die Wähler dazu auf, seine Position durch eine ­demokratische Kongressmehrheit zu stärken: „A return of a Republican Congress would […] certainly be interpreted on the other side of the water as a repudiation of my leadership.“30 Der Appell sollte sich als folgenschwerer Fehler herausstellen. In den Wahlen am 5. November errangen die Republikaner einen eindrucksvollen 27  Knock:

End (wie Anm. 5), S. 157–160, Zitat: S. 160; zur staatlichen Repression und zur Selbstmobilisierung der US-Gesellschaft im Ersten Weltkrieg vgl. umfassend Christopher Cappozola: Uncle Sam Wants You. World War I and the Making of the Modern American Citizen. Oxford 2008; Kennedy: Here (wie Anm. 25), S. 78–86; zu den Deutschamerikanern vgl. u. a. Katja Wüsten­becker: Deutsch-Amerikaner im Ersten Weltkrieg. US-Politik und nationale Identitäten im Mittleren Westen. Stuttgart 2007; zur historiografischen Debatte vgl. Kathleen Kennedy: Civil Liberties. In: Kennedy (Hg.): Companion (wie Anm. 2), S. 323–342. 28  Wilson: Address, 2. 4. 1917 (wie Anm. 1), S. 538. 29 From the Diary of Henry Fountain Ashurst, 14. 10. 1918. In: Arthur S. Link (Hg.): PWW. Bd. 51. Princeton 1985, S. 338–340, S. 339. 30  Woodrow Wilson: An Appeal for a Democratic Congress, 19. 10. 1918. In: ebd., S. 381  f.

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Erfolg, der ihnen in beiden Häusern eine Mehrheit bescherte. Nicht nur die Demokratische Partei, auch der Präsident persönlich stand als Verlierer da. Vielleicht scheiterte der gewagte Schachzug nur an dem unglücklichen Zufall, dass die Wahlen wenige Tage vor der Abdankung des deutschen Kaisers und der Unterzeichnung des Waffenstillstands stattfanden. Vielleicht hätten die Wähler den Präsidenten ein paar Tage später im Hochgefühl des Sieges gestärkt. Vielleicht demonstrierte der Wahlausgang aber auch, dass Kriegspropaganda und die Dämo­nisierung des Feindes die innenpolitische Basis von Wilsons Internationalismus untergraben ­hatten. Rechte Republikaner denunzierten Wilson als prodeutsch, während die progressive Linke von seiner repressiven Innenpolitik bitter enttäuscht war.31 Der Wahlausgang belastete Wilsons bevorstehende Friedensmission mit einer schweren innenpolitischen Bürde. Nicht ohne Plausibilität bestritten die Republikaner jetzt die Autorität des Präsidenten, auf der Friedenskonferenz in Paris für das amerikanische Volk sprechen zu können. Verbündete und Feinde müssten wissen, triumphierte Teddy Roosevelt, dass Wilson und seine „Vierzehn Punkte“ nicht mehr „den leisesten Schatten eines Anrechtes darauf haben, als Willen des amerikanischen Volkes akzeptiert zu werden“. Niemand dürfe sich darüber täuschen, dass der Präsident für den Friedensvertrag die Zustimmung des Senats brauche.32 Wilson zeigte allerdings keinerlei Neigung, auf die Opposition zuzugehen, und berief keinen führenden Republikaner in die US-Friedensdelegation, die Anfang Dezember  1918 nach Paris abreiste. Alle infrage kommenden Republikaner, so lautete ­seine Begründung, hätten sich bereits vorab von seinem Friedensprogramm distanziert, doch spielten gewiss auch seine unüberwindlichen persönlichen Animositäten gegenüber Lodge und Taft eine Rolle. Ein Angebot an Lodge, der bald den Vorsitz des außenpolitischen Ausschusses im Senat übernehmen würde, wäre ein Gebot der politischen Klugheit gewesen, denn dann hätten sich die Republikaner bekennen müssen, ob sie an einer überparteilichen Außenpolitik interessiert waren.33

Der League fight Als Woodrow Wilson Anfang Juli 1919 aus Paris zurückkehrte und den Friedensvertrag vor dem Senat vorstellte, erklärte er, die Zeit selbstgewählter Isolation sei endgültig vorüber, und Amerika müsse nun seiner weltpolitischen Verantwortung gerecht werden. Der Völkerbund, so Wilson mit dem ihm eigenen Pathos, sei die „letzte Hoffnung der Menschheit. […] Wollen wir es wirklich wagen, ihn abzulehnen und das Herz der Welt zu brechen?“34 Auch wenn Wilson sich optimistisch

31 

Sehr kritisch Knock: End (wie Anm. 5), S. 179–188. Roosevelt zitiert nach Kansas City Star, 27. 11. 1918, LC MD, Ray Stannard Baker Papers, Box 132. 33 Woodrow Wilson: To Richard Hooker, 29.  11. 1918. In: Link (Hg.): PWW. Bd. 53 (wie Anm. 4), S. 243 f.; Cooper: Woodrow Wilson (wie Anm. 3), S. 456–458. 34  Wilson: Address, 10. 7. 1919 (wie Anm. 4), S. 434. 32  Theodore

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gab, dass der Senat den Friedensvertrag ratifizieren würde, musste ihm klar sein, dass ihm ein harter innenpolitischer Kampf bevorstand. Bereits Anfang März, kurz nachdem der Präsident die Völkerbundsatzung in Paris vorgestellt hatte, war Lodge in die Offensive gegangen und hatte im Senat eine von 37 republi­kanischen Senatoren – genug für eine Sperrminorität – unterschriebene Stellungnahme ver­ lesen, die den Völkerbund in seiner vorliegenden Fassung als „unannehmbar“ ­bezeichnete.35 Die Herausforderung für Wilson bestand darin, die amerikanische Öffentlichkeit von der Notwendigkeit und den Vorteilen eines Beitritts der USA zum Völkerbund zu überzeugen, damit auch eine ausreichende Zahl skeptischer Senatoren mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung und den Wählerwillen zustimmen würde. Es ist wichtig zu betonen, dass die Opposition gegen den Völkerbund keineswegs nur aus engstirnigen „Isolationisten“ bestand. Tatsächlich war das politische Spektrum der Wilson-Kritiker sehr heterogen und schloss auch viele enttäuschte „Wilsonianer“ ein, die den Präsidenten beschuldigten, auf der Friedenskonferenz seine Prinzipien verraten zu haben. Die progressiven Internationalisten attackierten den Friedensvertrag als „unmenschliches Monstrum“ und den Völkerbund als „neue Heilige Allianz“, die einen ungerechten und unhaltbaren Status quo sichern sollte, für den Amerika auf keinen Fall Verantwortung übernehmen dürfe. Bereits kurz nach Bekanntwerden der Friedensbedingungen Anfang Mai 1919 waren mehrere Mitglieder der US-Friedensdelegation unter Protest zurückgetreten, darunter der Nachwuchsdiplomat und vormalige Wilson-Anhänger William C. Bullitt, der wenige Monate später öffentlich als Kronzeuge gegen den Völkerbund auftrat. Unter anderem zitierte Bullitt Außenminister Robert Lansing unwidersprochen mit der Einschätzung, der Völkerbund sei ein Coup der Briten und Franzosen und völlig „nutzlos“. Wenn der Senat und das amerikanische Volk dies verstünden, würden sie ihn zweifellos ablehnen.36 Im Unterschied zu den desillusionierten Wilsonians lehnten die „Unversöhn­ lichen“ einen amerikanischen Beitritt zum Völkerbund von vorneherein kate­ gorisch ab. Ihr wichtigster Wortführer, Senator William Borah, hatte schon im Februar 1919 seinen Widerstand selbst für den Fall angekündigt, „dass der Erlöser auf die Erde zurückkehren und sich für den Völkerbund aussprechen sollte“. Borah und die meisten anderen Irreconcilables verstanden sich als antimilitaris­ tische und antiimperialistische Nationalisten. Für sie grenzte der Völkerbund an Landesverrat, weil er die USA ausländischen Mächten und dem internationalen Großkapital ausliefern werde. Die „Unversöhnlichen“ hatten ihre Basis vor allem im Westen und Mittleren Westen sowie unter populistischen Südstaatlern, die den Völkerbund ebenfalls für eine antiamerikanische Verschwörung hielten.37 35 

Cooper: Breaking (wie Anm. 2), S. 56 f. Vgl. Knock: End (wie Anm. 5), S. 252–256; Cooper: Breaking (wie Anm. 2), S. 168–171. 37 Cooper: Woodrow Wilson (wie Anm. 3), Zitat: S. 477; William E. Borah an Frank S. Rea, 19. 6. 1919, LC MD, William E. Borah Papers, Box 767; William Borah: League of Nations, San Francisco Bulletin, 16. 6. 1919, LC MD, William E. Borah Papers, Box 767; Borah an William W. Morrow, 8. 7. 1919, LC MD, William E. Borah Papers, Box 767; vgl. zu den Irreconcilables allge36 

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Der Mainstream der Opposition jedoch stand dem Völkerbund nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber, sondern wollte sichergestellt wissen, dass die USA bei einem Beitritt ihre uneingeschränkte Handlungsfreiheit und Souveränität behielten und die verfassungsmäßigen Rechte des Kongresses gewahrt blieben. Die meisten Republikaner im Senat bestanden daher auf einer Ratifizierung unter ­bestimmten Vorbehalten, die sich bis zur ersten Abstimmung im November 1919 allerdings auf die Zahl von vierzehn summierten – eine offenkundige Spitze gegen Wilsons „Vierzehn Punkte“. Einige Vorbehalte galten als „milde“, weil sie lediglich Selbstverständliches festhielten wie den Grundsatz, dass die USA selbst bestimmen durften, welche Fragen sie als innere Angelegenheiten betrachteten. Andere Vorbehalte waren dagegen „stark“, weil sie den Inhalt des Vertrags direkt berührten, etwa die Nichtanerkennung der im Versailler Vertrag festgelegten Übertragung der deutschen Kolonialrechte in China auf Japan.38 Im Zentrum der Kontroverse stand jedoch Artikel X der Völkerbundsatzung, in dem sich die Mitglieder gegenseitig die Wahrung ihrer territorialen Integrität und politischen Unabhängigkeit sowie die Unterstützung gegen äußere Angriffe versprachen. Wilson bestritt, dass die Klausel eine automatische militärische Beistandsverpflichtung bedeute, bestand jedoch auf der Regelung. Ohne Artikel X werde der Völkerbund zum „Debattierklub“. Skeptiker befürchteten indessen, dass der Artikel die USA in sämtliche Konflikte der Welt hineinziehen werde und statt der gewählten Vertreter des amerikanischen Volkes künftig eine internatio­ nale Organisation US-Soldaten in den Krieg schicken könnte. Die Republikaner wollten eine Klarstellung, dass die USA nicht zum militärischen Beistand verpflichtet waren. In jedem Einzelfall müsse der Kongress zustimmen.39 Wilson schloss anfänglich nicht aus, seinen Kritikern entgegenzukommen, warnte jedoch immer wieder davor, dass amerikanische Vorbehalte möglicherweise der Zustimmung der übrigen Signatarstaaten bedürfen. Diese würden ihrerseits Zusätze formulieren, sodass schließlich der gesamte Vertrag hinfällig werde. Im Laufe des League fight verhärtete sich seine Haltung immer mehr. Seinen Kritikern, so argwöhnte der Präsident, gehe es in Wirklichkeit nicht um Vorbehalte, sondern um die vollständige Annullierung des Völkerbundes, sie wollten durch die Einschränkungen zu Artikel X dem Vertrag das „Herz aus dem Leib“ schneiden. Vor beiden Abstimmungen im Senat instruierte Wilson seine Gefolgsleute, den Reservationists keine Konzessionen zu machen, zu denen viele Demokraten durchaus bereit gewesen wären, wenn der Präsident sein Plazet signalisiert hätte.40 mein auch Johnson: Peace (wie Anm. 11), bes. S. 87–95; Ralph A. Stone: The Irreconcilables. The Fight against the League of Nations. Lexington 21973; Cooper: Breaking (wie Anm. 2), S. 60 f. 38  Zu den Fraktionen bei den Republikanern vgl. Cooper: Breaking (wie Anm. 2), S. 126–133; vgl. die Liste der Vorbehalte in Merrill/Paterson (Hg.): Problems (wie Anm. 24), S. 47. 39  Woodrow Wilson: A Report of a Press Conference, 10. 7. 1919. In: Link (Hg.): PWW. Bd. 61 (wie Anm. 4), S. 417–424, hier: S. 421; Lodge: Senate (wie Anm. 3), S. 172–177, S. 410. 40  Woodrow Wilson: A Memorandum by Cary Travers Grayson, 17. 11. 1919. In: Arthur S. Link (Hg.): PWW. Bd. 64. Princeton 1991, S. 43–45; Woodrow Wilson: To Gilbert Monell Hitchcock, 8. 3. 1920. In: Arthur S. Link (Hg.): PWW. Bd. 65. Princeton 1991, S. 67–71.

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Wilson war auch deshalb nicht an einer Verständigung mit der Opposition interessiert, weil er unbeirrbar auf das Volk und die Demokratie vertraute. Er wolle die Republikaner zwingen, den Vertrag abzulehnen, erläuterte er im November 1919. Diese müssten sich dann vor den Wählern verantworten: „I will get their political scalps when the truth is known to the people.“41 Dass der Völkerbund tatsächlich breite Unterstützung in der Bevölkerung genoss, musste indessen seit Wilsons missglücktem Wahlaufruf vom Herbst 1918 fraglich erscheinen. Immerhin, in den ersten Wochen nach Veröffentlichung der Satzung im Feb­ ruar 1919 schien der Völkerbund bei den Amerikanern durchaus populär zu sein. Eine Umfrage unter den Chefredakteuren von fast 1 400 Zeitungen ergab, dass über die Hälfte der Meinungsmacher eine Ratifizierung ohne Änderungen und immerhin weitere 35 Prozent die Annahme unter Vorbehalt favorisierte; lediglich 12 Prozent waren grundsätzlich gegen eine Mitgliedschaft. Die Leser einiger ­großer Blätter sprachen sich in nicht repräsentativen Umfragen zu drei Vierteln für eine uneingeschränkte Zustimmung aus. Auch Senator Lodge ging zunächst davon aus, dass die Mehrheit der Amerikaner den Völkerbund aus Friedenssehnsucht und Unwissenheit befürwortete, und entschied sich für vorsichtiges Taktieren. Als Vorsitzender des Senatsausschusses für Auswärtige Beziehungen hatte er jede Möglichkeit, den Ratifizierungsprozess in die Länge zu ziehen.42 Die Zeit arbeitete gegen Wilson, denn nach dem Abflauen der Siegeseuphorie plagten die Amerikaner zunehmend andere Sorgen als der Beitritt zum Völkerbund. Der Kriegsboom hatte die Preise in die Höhe getrieben, die Arbeitslosigkeit stieg, weil Millionen entlassener Soldaten Jobs suchten. Streiks legten ganze Industriezweige lahm. Anfang Juni 1919 erschütterten mutmaßlich von Anarchisten verübte Bombenattentate das Land. Wenige Wochen später entluden sich die wachsenden Rassenspannungen im Land in gewalttätigen Unruhen. Die Durchsetzung der gerade eingeführten Alkoholprohibition spaltete die Gesellschaft. Immer mehr Amerikaner fragten sich, warum ihr Präsident unbedingt die Welt retten wollte, obwohl zuhause so viele Probleme drängten.43 Wilson entschloss sich zur Flucht nach vorn und trat Anfang September eine mehrwöchige Reise durch die USA an, um auf zahlreichen Großkundgebungen das Volk vom Völkerbund zu überzeugen. So wie er im Herbst 1918 geglaubt hatte, dass ein Aufruf an die amerikanischen Wähler die Kongresswahlen zu seinen Gunsten beeinflussen werde, so ging er jetzt davon aus, dass seine Gegner im ­Senat nicht den wahren Willen ihrer Wähler repräsentierten und die Amerikaner ihm, dem Präsidenten, folgen würden, wenn er direkt an die Nation appelliere. Innerhalb von 21 Tagen hielt er 40 Reden in 16 Bundesstaaten zwischen Ohio und Kalifornien und sprach dabei zu Menschenmengen von bis zu 30 000 Personen. Der Präsident führte den Kampf für den Völkerbund unter Aufbietung aller phy41 

Wilson: Memorandum, 17. 11. 1919 (wie Anm. 40), S. 43. Cooper: Breaking (wie Anm. 2), S. 58; Widenor: Henry Cabot Lodge (wie Anm. 3), S. 313. 43  Vgl. Ann Hagedorn: Savage Peace. Hope and Fear in America, 1919. New York 2007; David F. Krugler: 1919. The Year of Racial Violence. How African Americans Fought Back. New York 2015. 42 

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sischen und rhetorischen Kräfte und im unerschütterlichen Bewusstsein, dass es um alles oder nichts ging. Scheitere der Völkerbund, beschwor Wilson seine Landsleute, bedeute dies das Todesurteil für viele amerikanische Kinder, die in ­einem zukünftigen Krieg sterben müssten, in dem die Existenz der Zivilisation selbst auf dem Spiel stehen werde. Wenn aber das amerikanische Volk der Wahrheit folge, deklamierte Wilson zum Schluss seiner Rede in Pueblo, Colorado, am 25. September 1919, „dann führt diese Wahrheit uns und, durch uns, die Welt, auf die grünen Weiden der Ruhe und des Friedens, von denen die Welt bisher nicht einmal träumte“.44 Dass ihm auf seiner Rundreise große Menschenmengen zujubelten, dürfte den Präsidenten in seiner Überzeugung bestärkt haben, dass das amerikanische Volk hinter dem Völkerbund stehe und seine Gegner aus ihren Ämtern jagen werde, sobald es die Chance dazu bekomme. Dabei übersah er allerdings, dass vorerst gar keine Wahlen anstanden. Alle seine führenden Kritiker hatten noch vier bis sechs Jahre Zeit, bis sie sich zur Wiederwahl stellen mussten. Wilson dagegen bezahlte die körperliche und geistige Kraftanstrengung der Rundreise mit seiner Gesundheit: Am 2. Oktober 1919 erlitt er einen Schlaganfall, zeitweilig rang er mit dem Tode. In den folgenden Monaten war der Präsident ans Krankenbett gefesselt und weitgehend von der Außenwelt isoliert. Die Krankheit verstärkte Wilsons Neigung zum Starrsinn und zur Kompromisslosigkeit, die selbst ihm nahestehende Menschen oft beklagten.45 Vor allem blieb der Präsident unerschütterlich davon überzeugt, nur er selbst könne den Kampf um den Völkerbund gewinnen. Nach der zweiten Abstimmung im März 1920 setzte er alle Hoffnungen auf die im Herbst anstehenden Präsidentschaftswahlen, zu denen er noch einmal auf die Nominierung durch seine Partei hoffte und die er zum „großen Referendum“ über seine Amtszeit und über den Völkerbund machen wollte.46 Zwar hatte eine dritte Kandidatur keine ernsthafte Chance, doch bekannte sich seine Partei im Wahlprogramm zum Völkerbund und zum Wilsonianism. Wilson reichte dies nicht, und gegen den Willen führender Parteifreunde erklärte der scheidende Präsident die anstehende Wahl öffentlich zum „nationalen Volksentscheid“ darüber, ob die USA dem Völkerbund beitreten und Verantwortung für den Weltfrieden übernehmen sollten. Auch die Republikaner bezogen eine klare Position und attackierten den Völkerbund als „unnötigen und ungerechtfertigten Bruch“ mit den Prinzipien Washingtons, Jeffersons und Monroes, den Wilson wie ein „Diktator“ habe durchsetzen wollen.47 44  Alle 40 Reden sind dokumentiert in: Arthur S. Link (Hg.): PWW. Bd. 63. Princeton 1990. Vgl. Woodrow Wilson: An Address in the City Auditorium in Pueblo, Colorado, 25. 9. 1919. In: ebd., S. 500–513, Zitat: S. 513; zur Reise vgl. Cooper: Woodrow Wilson (wie Anm. 3), S. 518–534. 45  Edwin A. Weinstein: Woodrow Wilson. A Medical and Psychological Biography. Princeton 1981, S. 355–360; Berg: Woodrow Wilson (wie Anm. 1), S. 199–205. 46  Woodrow Wilson: The Great Referendum and Accounting of your Government, 10. 6. 1920. In: Link (Hg.): PWW. Bd. 65 (wie Anm. 40), S. 382; Cooper: Woodrow Wilson (wie Anm. 3), S. 562–567. 47  Kirk Porter/Bruce Johnson (Hg.): National Party Platforms 1840–1964. Urbana 31966, S. 213– 215, S. 230 f.; Woodrow Wilson: A Statement, 3. 10. 1920. In: Arthur S. Link (Hg.): PWW. Bd. 66. Princeton 1992, S. 181–183.

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Auch wenn sich viele Amerikaner und – erstmals auch – Amerikanerinnen bei ihrer Wahlentscheidung im November 1920 vermutlich nicht vordringlich von außen­politischen Erwägungen leiten ließen, erbrachte die Wahl das von Wilson geforderte klare Votum. Mit über 60 Prozent der Wählerstimmen erzielte der Republikaner Warren G. Harding, der sich klar vom Völkerbund distanziert hatte, einen Erdrutschsieg. Im Kongress bauten die Republikaner ihre Mehrheiten ­weiter aus, im Senat verfügten sie nun sogar über eine Zweidrittelmehrheit. Die Republikaner hatten den Wählern die „Rückkehr zur Normalität“ versprochen und so musste das Wahlergebnis auch verstanden werden.48 Die Grand Old Party eroberte ihre Stellung als strukturelle Mehrheitspartei zurück, die sie seit dem Bürgerkrieg innegehabt hatte. Außenpolitisch bedeutete „Normalität“ die Rückkehr zur Bündnis- und Handlungsfreiheit, innenpolitisch die Abkehr vom Geist der Progressivismus. Nach zwei Jahrzehnten des inneren Reformeifers und der äußeren Mobilisierung markierte das Wahljahr 1920 eine konservative Wende in der amerikanischen Politik. Die meisten Amerikaner hatten wohl auch genug von Wilsons missionarischer Rhetorik. Die Kommentatoren waren sich einig, dass nicht der glücklose demokratische Kandidat James Cox, sondern Woodrow Wilson der eigentliche Verlierer der Wahlen war. Das amerikanische Volk hatte über seine Amtszeit abgestimmt und eine klare Mehrheit hatte den Daumen gesenkt. Am Ende seiner Amtszeit war Wilsons einstige Popularität weitgehend aufgezehrt. Gleichwohl plante er Anfang 1924 ein politisches Comeback als Präsidentschaftskandidat, bevor der Tod seinem eisernen Willen zur Selbsttäuschung ein Ende setzte.

Triumph des Isolationismus? Die große Paradoxie des League fight bestand darin, dass in beiden Senatsabstimmungen zwar jeweils rund 80 Prozent der Senatoren entweder mit oder ohne Einschränkungen für den Völkerbund stimmten, dass am Ende jedoch die kleine Minderheit der Unversöhnlichen triumphierte. Die Historiker sind sich einig, dass ein Kompromiss möglich gewesen wäre und eine Ratifizierung unter Vorbehalt dem Mehrheitswillen des amerikanischen Volkes entsprochen hätte. Nur war Woodrow Wilson, der Vorkämpfer der Demokratie, nicht zur Anerkennung der demokratischen Mehrheitsverhältnisse bereit und klammerte sich an die fixe Idee, er allein repräsentiere den wahren Willen des Volkes. Dass es im Senat nicht zu ­einem Kompromiss über die Ratifizierung unter Vorbehalt kam, wird daher zu Recht Wilson angelastet, auch wenn sein großer Rivale Henry Cabot Lodge über den Ausgang des League fight keinesfalls unglücklich war.49 48 

Wesley Bagby: The Road to Normalcy. The Presidential Campaign and Election of 1920. Balti­ more 1962; Allan Lichtman: The Election of 1920. In: Kennedy (Hg.): Companion (wie Anm. 2), S. 551–565. 49  Lodge: Senate (wie Anm. 3), S. 210  f.

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Gleichwohl greift die Konklusion, der Wilsonianism sei an Woodrow Wilson selbst gescheitert, zu kurz. Denn tatsächlich hatten Wilson und seine Gegner kaum miteinander vereinbare Vorstellungen vom Völkerbund und von Amerikas weltpolitischer Rolle. Wilson wollte ein wirksames Instrument der kollektiven Sicherheit, das notfalls auch militärischen Zwang anwenden konnte. Lodge dagegen sah den Völkerbund als Vermittlungsinstanz ohne Zwangsgewalt und bindende Verpflichtungen für seine Mitglieder.50 Dieser Konflikt lässt sich nicht auf die Schlagwörter „Internationalismus“ oder „Isolationismus“ reduzieren. Vielmehr ging es im Kern darum, wie die USA ihre neue Rolle als Weltmacht ausüben sollten. Lodge und andere führende Republikaner waren keine provinziellen Kleingeister, sondern selbstbewusste amerikanische Nationalisten, für die eine möglichst unbeschränkte nationale Souveränität, internationale Handlungsfreiheit und die Hegemonie in der westlichen Hemisphäre die unverzichtbaren Grundlagen der US-Außenpolitik bildeten. Sie waren Realisten, insofern sie davon ausgingen, dass die Ordnung der Welt auf der egoistischen Verfolgung nationaler Interessen und der Konkurrenz großer Nationen beruhte, unter denen die USA die mächtigste sein sollte. Wenn sich andere an ihren Idealen und an ihrem Gesellschaftsmodell ein Vorbild nahmen, umso besser. Wilson dagegen war seit 1914 sukzessive zum Vorkämpfer der missionarischen Variante des amerikanischen Nationalismus geworden, die er mit dem ihm charakterlich eigenen Dogmatismus verfocht. Er sah das nationale Interesse der USA darin, eine liberale Weltordnung nach amerikanischen Vorstellungen und unter amerikanischer Führung zu schaffen. Als wohlwollender Hegemon mussten die USA deshalb auch sicherheitspolitische Pflichten übernehmen und sich in die Regeln internationaler Organisationen einfinden. Unabhängig davon, wie man diese beiden Grundpositionen normativ beurteilt, repräsentierte der Wilsonianism in dieser Debatte die Minderheitenposition. Die Wahlniederlage der Demokraten 1920 war nicht, wie Wilson sich einredete, das Ergebnis von Ranküne und Täuschung seiner Gegner, sondern spiegelte eine veränderte Grundstimmung im amerikanischen Volk wider, das nach den Umbrüchen des Weltkriegs die von der Opposition versprochene „Rückkehr zur Normalität“ wünschte. Der Wilsonianism war jedoch das Gegenteil von Normalität, er war ein aus dem Weltkrieg entstandener Kriseninternationalismus, dessen innenpolitische Basis von Anfang an prekär gewesen und der bereits seit der Ver­ öffentlichung des Friedensvertrags im Frühjahr 1919 zunehmend in Misskredit geraten war. In Wilsons innenpolitischem Scheitern manifestierte sich eine in der US-Bevölkerung weitverbreitete Desillusionierung über die Ereignisse und Entscheidungen der Jahre 1917 bis 1919, die bis zum Zweiten Weltkrieg die US-Außenpolitik maßgeblich prägen sollte. In den 1930er-Jahren gewann eine Sichtweise enormen Einfluss, die Amerikas Kriegseintritt als Verschwörung profitgieriger Waffenproduzenten und Bankiers deutete, zu deren Handlanger sich der naive 50 Widenor:

Henry Cabot Lodge (wie Anm. 3), S. 336–341; aus Wilsons Perspektive vgl. auch Knock: End (wie Anm. 5), S. 265–267.

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Idealist Wilson nolens volens gemacht habe. Die Haltung der Irreconcilables war zum Mainstream geworden.51 Unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs kam es allerdings zur Rehabili­ tierung Wilsons und des liberalen Internationalismus. Der 28. Präsident der USA ­erschien nun als Prophet, dessen Friedensprogramm der Welt unendliches Leid erspart hätte, wenn nicht bornierte Isolationisten Amerikas Werte und Pflichten verraten hätten.52 Diese bis heute populäre These setzt allerdings voraus, dass die USA nach einem Beitritt zum Völkerbund auch eine Außenpolitik im Sinne Wilsons betrieben hätten, die aber nur unter der ziemlich unrealistischen Prämisse vorstellbar ist, dass ein gesunder Präsident sich im League fight durchgesetzt und anschließend tatsächlich vom Wähler eine dritte Amtszeit erhalten hätte.53 Wesentlich plausibler ist das ceteris paribus-Szenario einer Ratifizierung unter Vorbehalt mit anschließendem Wahlsieg der Republikaner. Die republikanischen USRegierungen betrieben ab 1921 die wirtschaftliche und politische Stabilisierung Europas durch indirekte finanzielle Einflussnahme, hielten jedoch an den Prin­ zipien der Bündnis- und Handlungsfreiheit und an einer protektionistischen Handelspolitik fest.54 Zur Übernahme sicherheitspolitischer Verantwortung oder gar zur Durchsetzung des Versailler Vertrags mit militärischem Zwang wären sie auch als Mitglied im Völkerbund kaum bereit gewesen. Genau dies sollten ja die Vorbehalte gegen Artikel X ausschließen. Als dann die Hoffnungen auf friedlichen Wandel und internationale Stabilität in der Weltwirtschaftskrise kollabierten, verschärfte sich die Abneigung der Amerikaner gegen die Übernahme internationaler Verpflichtungen. Auch der einstmals begeisterte Wilsonian Franklin D. Roosevelt musste in den 1930er-Jahren diese Realitäten akzeptieren, an denen die formale Mitgliedschaft der USA in einem längst handlungsunfähigen Völkerbund nichts geändert hätte. Angesichts der Erfah­rungen mit den Vereinten Nationen, denen die USA 1945 ohne eine dem League fight von 1919/20 vergleichbare Debatte beitraten, erscheinen die großen Erwartungen, die Wilson auf den Völkerbund und Artikel X als Instrumente der kollektiven Friedenssicherung setzte, als weit übertrieben. Vor diesem Hintergrund verbietet es sich, eine direkte Kausalkette vom Scheitern des Wilsonianism zum Zweiten Weltkrieg zu ziehen.

51 

Zur einschlägigen Publizistik in den 1920er- und 1930er-Jahren vgl. Doenecke: Neutrality (wie Anm. 15), S. 243–246; vgl. auch Berg: Woodrow Wilson (wie Anm. 1), S. 218–224. 52 Vgl. die einflussreichen Bücher von Thomas Bailey: Woodrow Wilson and the Lost Peace. New York 1944; ders.: Woodrow Wilson and the Great Betrayal. New York 1945; Robert A. Divine: Second Chance. The Triumph of Internationalism in America during World War II. New York 1967; Berg: Woodrow Wilson (wie Anm. 1), S. 225–227. 53  So treffend Cooper: Breaking (wie Anm. 2), S. 427. 54 Vgl. Frank Costigliola: Awkward Dominion. American Political, Economic, and Cultural ­Relations with Europe, 1919–1933. Ithaca 1984; Manfred Berg: Gustav Stresemann und die Ver­ einigten Staaten von Amerika. Weltwirtschaftliche Verflechtung und Revisionspolitik, 1907–1929. Baden-Baden 1990; Werner Link: Die amerikanische Stabilisierungspolitik in Deutschland 1921– 1932. Düsseldorf 1970.

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Abstract At the end of The First World War, no international statesman aroused greater hopes and expectations than U.S. President Woodrow Wilson. At the same time, no other statesman caused greater disappointment. After the Paris Peace Conference, friend and foe alike accused Wilson of having betrayed his promises of a just and lasting peace. In the United States the President’s opponents attacked the League of Nations – the center piece of Wilsonianism – as a dangerous illusion that violated America’s venerable tradition of non-alignment, undercut U.S. sovereignty and democracy and would henceforth draw the country into the wars of the world. Wilson, for his part, refused to compromise with his critics and preferred the defeat of the League Covenant in the U.S. Senate over ratification with reservations. In this essay I argue that the League Fight was not a conflict between isolationism and internationalism but instead pitted two competing varieties of American nationalism against each other. I probe the origins and meaning of Wilson’s liberal internationalism and its domestic political support between 1914 and 1920. Moreover, I raise the question if and to what extent Wilson and his antagonists held compatible views of America’s future international role. Wilsonianism failed, I conclude, because its domestic base had been precarious in the first place. Even if the Senate had ratified the League Covenant, this would not have led to a different U.S. foreign policy in the postwar period.

Jochen Böhler Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg Die Kontinuität der Gewalt in Ostmittel- und Südosteuropa über das Jahr 1918 hinaus Der Waffenstillstand von 1918 hatte den Ersten Weltkrieg in Europa offiziell beendet, aber die Gewalt ebbte auch mit der wenige Monate später erfolgten Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrags und der anderen Verträge 1920 nicht vollständig ab. Bewaffnete Konflikte dauerten nicht nur an der Peripherie – wie im Falle der alliierten Interventionen im Norden und Osten Russlands1 –, sondern auch im Herzen des Kontinents bis in die frühen 1920er-Jahre an. Die Grenzen in Mitteleuropa waren in den bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen zwischen den Armeen der sich entwickelnden neuen Staaten heftig umkämpft. Gewalt von Soldaten und Paramilitärs gegen die Zivilbevölkerung war allgegenwärtig und oft tödlich – vor allem wo sie gegen Juden verübt wurde. Wie die Entwicklungen in Großbritannien, Italien und Deutschland belegen, war paramilitärische Gewalt bis in die frühen 1920er-Jahre kein rein osteuropäisches Phänomen.2 Spezifisch für Ostmitteleuropa war jedoch die Intensität der Konflikte. Die Gründe sowohl für die Kontinuität als auch für die Intensität der Gewalt in Ostmitteleuropa waren vielschichtig und häufig miteinander verflochten. Festzustellen ist zunächst, dass hier andere Formen der Gewalt auftraten als diejenigen, die den Ersten Weltkrieg geprägt hatten. Dieser war weitgehend als konventioneller Krieg geführt worden, in seinem Verlauf waren paramilitärische Gewalt und Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung die Ausnahme und nicht die Regel gewesen. Zwar waren Ausmaß und Art der Kriegsführung neu – Masse, Geschwindigkeit, Reichweite und Zerstörungskraft der neuen Kriegstechnik sorgten für eine Auf­ lösung des Unterschieds zwischen Front und Heimat.3 Doch unmittelbar wurde 1  Vgl. Robert L. Willett: Russian Sideshow. America’s Undeclared War, 1918–1920. Washington 2003; Carl J. Richard: When the United States Invaded Russia. Woodrow Wilson’s Siberian ­Disaster. Lanham 2013. Aus der Sicht eines Augenzeugen vgl. Ralph Albertson: Fighting without a War. An Account of Military Intervention in North Russia. New York 1920. 2  Vgl. Robert Gerwarth/John Horne (Hg.): Krieg im Frieden. Paramilitärische Gewalt nach dem Ersten Weltkrieg. Göttingen 2013. 3 Vgl. Włodzimierz Borodziej: The War in the East. 1914–16. In: Jochen Böhler/ders./Joachim von Puttkamer (Hg.): The Routledge History Handbook of Central and Eastern Europe in the Twentieth Century. Bd. 4: Violence. London 2022, S. 30–69; Alan Kramer: Dynamic of Destruction. Culture and Mass Killing in the First World War. Oxford 2007.

https://doi.org/10.1515/9783110653359-004

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die Zivilbevölkerung Europas eher von den Folgen der Kriegszerstörungen getroffen, vor allem der Hungersnöte und Seuchen, als von der Kriegsgewalt selbst. Dies änderte sich in Ostmittel- und Südosteuropa mit dem Zusammenbruch der dort Krieg führenden Imperien, sprich der Mittelmächte und des Zarenreichs. Ab 1917 wurden ihre Armeen sukzessive von neuen Gewaltakteuren abgelöst. Zugleich änderten sich naturgemäß die Kriegsziele. Im konventionellen Krieg zwischen 1914 und 1918 hatten trotz einer teils aggressiven Propaganda Gebietseroberungen im Vordergrund gestanden. Der Zusammenbruch der Imperien hinterließ seit 1917 ein Machtvakuum, das sich sofort mit Gruppierungen füllte, die nur auf diesen Moment gewartet hatten und deren Ziele weit radikalerer Natur waren, da sie die gesamte traditionelle Ordnung infrage stellten. Wie es Tomas Balkelis für Litauen formuliert hat, war die paramilitärische Nachkriegsgewalt dort zwar „zurückhaltender und weniger zerstörerisch in Bezug auf die Zahl der Opfer. Sie war jedoch eher ideologisch motiviert und vielseitig ausgerichtet. Ein großer Teil dieser Gewalt fand innerhalb lokaler Gemeinschaften statt. Ein Merkmal dieser Zeit war, dass die Paramilitärs nach dem Ersten Weltkrieg nicht davor zurückschreckten, Terror gegen die Zivilbevölkerung auszuüben.“4 Neben bloß marodierenden Banden traten auch die Verfechter moderner Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit und nationaler Unabhängigkeit hinter den Kulissen hervor und übernahmen in dem Moment das Drehbuch, als die imperialen Akteure von der Bühne verschwanden. Die gesamte Region von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer durchlebte dabei eine traumatische Übergangsphase vom Weltkrieg zum Frieden, in der paramilitärische Gewalt die konventionellen Kämpfe ersetzte. Hier ließen, wie Dan Diner es in seinem Essayband „Das Jahrhundert verstehen“ formuliert hat, „die ineinandergreifenden Ereignisse von militärischer Niederlage, sozialer Revolution und nationalen Grenzkämpfen die Gestalt eines sonderbaren Konfliktbogens hervortreten. Dieser Bogen umspannte Mittel- und Ostmitteleuropa, reichte von der Ostsee bis zur Adria, vom Baltikum bis nach Norditalien. Auffälligerweise deckte er sich mit jenem kulturgeographischen Raum, den zuvor supranationale Reiche dynastischer Verfaßtheit einnahmen.“5 Mit Russland, Ostmittel- und Südosteuropa lassen sich hierbei drei Großräume voneinander abgrenzen.

Der Russische Bürgerkrieg Wie dem Beitrag von Gerd Koenen in diesem Band zu entnehmen ist, strebten die russischen Bolschewiki nach einer neuen Weltordnung, die keinen Platz für die Repräsentanten der alten Ordnung vorsah, deren vollständige Beseitigung sie 4 Tomas

Balkelis: From Defence to Revolution. Lithuanian Paramilitary Groups in 1918 and 1919. In: AHUK 28 (2014), S. 43–56, hier: S. 45 (Übersetzung durch den Verfasser). Vgl. auch ders.: War, Revolution, and Nation-Making in Lithuania, 1914–1923. Oxford 2018. 5 Dan Diner: Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung. München 1999, S. 84 f.

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planten, ohne dabei vor Massenmord zurückzuschrecken. Ihre Gegner, die Vertreter des bürgerlichen „weißen“ Lagers, standen ihnen in Entschlossenheit und Brutalität kaum nach. Der durch die revolutionären Umwälzungen ausgelöste Russische Bürgerkrieg wütete bis 1922. Nach einem kurzen Intermezzo deutscher Herrschaft, als unmittelbarem Ergebnis des Friedensvertrags von Brest-Litowsk im Februar 1918, erstreckte sich die ausgedehnte Kampfzone dieser Schlacht zwischen revolutionären und konterrevolutionären russischen Truppen mitunter gar von Sibirien bis zur Ostsee und umfasste Weißrussland sowie die Ukraine. Diese Einheiten griffen bisweilen auch auf das Gebiet der in Ostmitteleuropa entstehenden Nationalstaaten über und kamen dort in Kontakt mit der indigenen Bevölkerung, nicht selten zu deren Leidwesen. Schon nach der Februarrevolution 1917, als die zentralisierte Staatsmacht geschwächt war, hatten einige zaristische Generäle beschlossen, auf eigene Faust Disziplin und Ordnung an der Front wiederherzustellen. Der Versuch, Chaos durch militärische Ordnung zu ersetzen, diente dabei oft dem Versuch, eine Militärdiktatur zu errichten.6 Die Realität in beiden Lagern des Russischen Bürgerkriegs war jedoch häufig weit von einer „militärischen Ordnung“ entfernt. Dies stellt einen klaren Unterschied zur Zeit vor 1918 dar. Die „weiße“ „Freiwilligenarmee“ unter Anton Denikin, die hauptsächlich aus ehemaligen Offizieren der imperialen Armee und aus Kosaken bestand, war ebenso wenig mit einer regulären Armee vergleichbar wie die Rote Armee, die sich durch die Zwangsrekrutierung Tausender kriegsmüder Bauern zu bilden begann.7 Erst gegen Ende des Russischen Bürgerkriegs ähnelte dieses fünf Millionen Mann zählende Heer einer Berufsarmee. Angesichts zahlreicher Desertionen und einem eklatanten Mangel an ausgebildeten Unteroffizieren und Offizieren mussten die bolschewistischen Revolutionäre zumeist auf ex-zaristische Offiziere zurückgreifen. 1920 machten sie mit über 70 000 Mann mehr als ein Drittel des gesamten Offizierskorps aus.8 Der Westen des untergegangenen Zarenreichs wurde zwischen 1917 und 1923 von zahlreichen paramilitärischen Truppen durchquert. Die Armeen der „Weißen“ und „Roten“ waren keineswegs die einzigen Hauptakteure auf diesen Schlachtfeldern. In der Ukraine gelang es einer Vielzahl lokaler Kriegsherren, den sogenannten Atamanen, Zehntausende verstreute Soldaten und Bauern unter ihrem Kommando zu vereinen.9 Für 1921 wird die Anzahl solcher Atamanen- oder 6 

Vgl. Joshua A. Sanborn: The Genesis of Russian Warlordism. Violence and Governance during the First World War and the Civil War. In: CEH 19 (2010) 3, S. 195–213, hier: S. 204–207. 7  Vgl. Felix Schnell: Räume des Schreckens. Gewalträume und Gruppenmilitanz in der Ukraine, 1905–1933. Hamburg 2012, S. 246. 8 Vgl. Francesvo Benvenuti: The Red Army. In: Edward Acton/Vladimir Cherniaev/William Rosenberg (Hg.): Critical Companion to the Russian Revolution, 1914–1921. London 1997, S. 403– 415, hier: S. 413; Peter Gatrell: War after the War. Conflicts, 1919–1923. In: John Horne (Hg.): A Companion to World War I. London 2010, S. 558–575, hier: S. 569; Orlando Figes: The Red Army and Mass Mobilization During the Russian Civil War 1918–1920. In: P & P (1990) 129, S. 168–211. 9  Zu den Kriegsherren vgl. Sanborn: Genesis (wie Anm. 6); Vladimir Brovkin: Behind the Front Lines of the Civil War. Political Parties and Social Movements in Russia, 1918–1922. Princeton 1994.

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„grünen“ Armeen (die Farbe steht für das Gros ihrer Rekruten, die aus bäuerlichen Familien stammten) mit einer durchschnittlichen Stärke von 500 Mitgliedern auf etwa 100 geschätzt,10 aber die Truppen mächtiger Kriegsherren wie etwa Aleksander Antonow waren vorübergehend bis zu 20 000 Mann stark.11 Eine andere, zeitweise übermächtige Atamanenarmee in der Ukraine war die Truppe des jungen ukrainischen Anarchisten Nestor Machno. Im Sommer 1919 zählte seine Einheit bis zu 15 000 Kämpfer.12 Während der Operationsradius solcher Verbände eher begrenzt war, bildeten sich gegen deren marodierende Soldaten allerorten spontan lokale Selbstschutzeinheiten – in der Regel aus Kriegsveteranen oder Deserteuren, unterstützt von Bauern aus der Region. Obwohl die „grünen“ Armeen vorgaben, die Interessen der Bauern zu vertreten, waren sie oft selbst gewalttätig, und zwar nicht nur gegen ihre ideologischen Gegner, sondern auch gegen die Bevölkerung in den Gebieten, die weit von ihrer eigenen Heimat entfernt lagen und in denen man sie nicht freiwillig unterstützte. Der Siegeszug der russischen Bolschewiki brachte noch eine andere transnationale paramilitärische Bewegung hervor: In der Kontaktzone der mitteleuropäischen Nachfolgestaaten und des revolutionären Russlands bildete sich eine ganze Reihe antibolschewistischer Kampfgruppen. Obwohl die Bolschewiki außerhalb Russlands über keine nennenswerte Machtbasis verfügten, mobilisierte die Angst vor einem Übergreifen der Revolution im Zuge des Kriegs eine Phalanx von Konterrevolutionären in ganz Mitteleuropa. Sie bestanden hauptsächlich aus Kriegsveteranen, die sich weigerten, ihre Waffen niederzulegen und nach Hause zu gehen, sowie aus jungen Männern, die zwar selbst nicht an den Fronten des Ersten Weltkriegs gekämpft, aber in der Heimat Entbehrungen, die militärische Niederlage und den Zusammenbruch der alten Ordnung erlebt hatten. Ihre Kampfziele sowie die Mittel, die sie anzuwenden bereit waren, wichen deutlich von denen ab, die während der konventionellen Kriegsführung gültig waren: „Zusammen“, so Robert Gerwarth, „bildeten sie eine ultramilitärische männliche Subkultur, die sich von der ‚Gemeinschaft der Schützengräben‘ in ihrer sozialen Zusammensetzung, ihrer ‚Befreiung‘ von den Zwängen der militärischen Disziplin und ihrem selbst auferlegten Ziel, sowohl die äußeren als auch die inneren Feinde zu zer­ stören, unterschied.“13 Die Mobilisierung konterrevolutionärer Kräfte war bei

10  Vgl. Robert Conquest: The Harvest of Sorrow. Soviet Collectivization and the Terror-Famine. London 2002, S. 41; Schnell: Räume (wie Anm. 7), S. 261. 11  Vgl. Gatrell: War (wie Anm. 8), S. 561. 12  Vgl. Schnell: Räume (wie Anm. 7), S. 298; Włodzimierz Mędrzecki: Niemiecka interwencja militarna na Ukrainie w 1918 roku. Warschau 2000, S. 277–279. 13  Robert Gerwarth: The Central European Counter-Revolution. Paramilitary Violence in Germany, Austria and Hungary after the Great War. In: P & P (2008) 200, S. 175–209, hier: S. 207 f. (Übersetzung durch den Verfasser); vgl. auch ders.: Im „Spinnennetz“. Gegenrevolutionäre Gewalt in den besiegten Staaten Mitteleuropas. In: ders./Horne (Hg.): Krieg (wie Anm. 2), ­S.  108–133; für das revolutionäre Russland vgl. Peter Kenez: Pogroms and White Ideology in the Russian Civil War. In: John D. Klier/Shlomo Lambroza (Hg.): Pogroms. Anti-Jewish Violence in Modern Russian History.

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Weitem nicht auf die Regionen beschränkt, in denen die Rote Armee operierte. Vor allem die mitteleuropäischen Staaten, die im Ersten Weltkrieg fast alles verloren hatten – Ungarn, Deutschland und Österreich – wurden zur Basis für eine Gemeinschaft von Kämpfern, die nicht bereit waren, sich einfach geschlagen zu geben, sondern die versuchten, das Blatt zu wenden oder zumindest den Kampf in Friedenszeiten – gewissermaßen als raison d’être – fortzusetzen: „Man redete uns vor, dass der Krieg nun zu Ende sei. Wir lachten darüber. Denn der Krieg, das waren wir selbst“, notierte 1930 ein Veteran der deutschen Freikorps, einer der schillernden Formationen, die sich in dieser paramilitärischen Subkultur bildeten.14 Die ideologischen Gräben zwischen revolutionären Bolschewisten, enthusiastischen Nationalisten, sozialrevolutionären Bauern und fanatischen Faschisten waren tief, erwiesen sich aber bisweilen als überwindbar, etwa wenn es gegen einen gemeinsamen Feind ging oder andere pragmatische Gründe dafür sprachen. Die „grünen“ Atamanen etwa gingen Koalitionen sowohl mit den „Weißen“ als auch mit den „Roten“ ein. Im baltischen Küstengebiet schlossen sich 1919 die litau­ ischen nationalen Streitkräfte mit deutschen Söldnern, den sogenannten Sächsischen Freiwilligen, zusammen, um die einfallende Rote Armee zu bekämpfen. Die Soldaten, die sie noch einige Monate zuvor als Angehörige einer Besatzungs­ truppe angesehen hatten, waren jetzt Verbündete. Dieses Beispiel beweist, wie die Demobilisierungsprozesse des Ersten Weltkriegs nahtlos in Remobilisierungs­ ­ prozesse für die Nachkriegskämpfe mit ihren sich ständig verändernden Fronten übergingen.15 Wie unscharf diese Fronten oftmals verliefen, zeigen die Fälle von Massendesertion und wechselnden Koalitionen, die auf den Schlachtfeldern Osteuropas nach 1918 häufig auftraten. Außergewöhnlich ist dennoch der Fall der Lettischen Schützen, Veteranen des Ersten Weltkriegs, deren sozialistische Mitglieder zur Prätorianer-Vorhut der Bolschewiki und zum Kern der Roten Armee wurden, während ihre nationalistischen Mitglieder den Nukleus der lettischen Staatsarmee bildeten.16 Mit dem Zerfall der imperialen Ordnung ging im Russischen Bürgerkrieg nicht nur eine Transformation, sondern auch eine starke Erosion des staatlichen Gewaltmonopols einher. Auch „reguläre“ Truppen der „Weißen“ und „Roten“ erachteten völkerrechtliche Normen oftmals nicht als bindend. Der Kampf war nunmehr ein totaler geworden, und nicht nur gegnerische Kombattanten, sondern Cambridge 2004, S. 293–313; vgl. auch Paul Hanebrink: A Specter Haunting Europe. The Myth of Judeo-Bolshevism. Cambridge, MA 2018. 14 Friedrich Wilhelm Heinz: Sprengstoff. Berlin 1930, S. 7, zitiert nach Robert Gerwarth: Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs. München 2017, S. 95. 15  Vgl. Tomas Balkelis: Demobilization and Remobilization of German and Lithuanian Paramilitaries after the Great War. In: JCH 50 (2015) 4, S. 38–57; ders.: Von Bürgern zu Soldaten. Baltische paramilitärische Bewegungen nach dem Ersten Weltkrieg. In: Gerwarth/Horne (Hg.): Krieg (wie Anm. 2), S. 201–225. 16  Vgl. Geoffrey Swain: The Disillusioning of the Revolution’s Praetorian Guard. The Latvian Riflemen, Summer–Autumn 1918. In: EAS 51 (1999) 4, S. 667–686.

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die gesamte „gegnerische“ Bevölkerung rückte ins Fadenkreuz. So wie die Zu­ gehörigkeit der im Gebiet operierenden Verbände oftmals unklar blieb, so lag es auch im Ermessen und in der Einschätzung ihrer Kriegsherren, ob eine Bevöl­ kerung als „freundlich“ oder „feindlich“ gesinnt eingestuft wurde. Wie Dietrich Beyrau zutreffend angemerkt hat, lassen sich im Russischen Bürgerkrieg die ­Etiketten „Täter“/„Opfer“ nicht eindeutig einzelnen Gruppen zuordnen: „Juden zum Beispiel sind als bolschewistische Täter und als Opfer von Pogromen zu ­finden. Bauern verübten Racheakten und waren in Aufständen aktiv, fielen aber auch den Plünderungen der Weißen und Roten zum Opfer; als Rote Garden – oder später als Kommissare – verübten Arbeiter bolschewistische Gewalt, fielen aber auch ihr und in noch größerem Maße dem Zorn der Weißen zum Opfer; die wohlhabenden und gebildeten Eliten des alten Regimes finden sich unter den ­Tätern und Opfern beider Seiten.“17 So wie der konventionelle Krieg in Russland ab Ende 1917 in einen erbitterten Bürgerkrieg abdriftete, so veränderten sich auch die Formen und die Zielrichtung der Gewalt, mit der für Bürgerkriege ebenso typischen wie tragischen Konsequenz, dass die gesellschaftlichen und zivilisatorischen Grenzen verschwanden und Gewalt von jedem ausgeübt werden und jeden treffen konnte. Die Bevölkerungsverluste einschließlich der durch Hunger und Seuchen verursachten Opfer in Russland und der Ukraine zwischen 1917 und 1922 werden auf 3,5 bis 5 Mil­ lionen geschätzt.

Der Ostmitteleuropäische Bürgerkrieg Aufgrund der großen Unübersichtlichkeiten gegen Kriegsende hat Jonathan ­Smele die Vorstellung relativiert, dass es sich beim Russischen Bürgerkrieg um ein klar umgrenztes historisches Ereignis handele. Für ihn stellen die Ereignisse der Jahre 1917 bis 1921 auf dem Gebiet des vormaligen Zarenreichs nur den Höhepunkt eines Zerfallsprozesses dar, für den er ein ganzes Jahrzehnt veranschlagt, und der aus vielerlei ineinander verwobenen Konflikten resultierte.18 Ähnliches lässt sich für das Gebiet westlich davon feststellen: In Ostmitteleuropa tobten die Auseinandersetzungen zwischen den nationalen Erben der Imperien. Im Gegensatz zum Russischen Bürgerkrieg verliefen hier die großen Frontlinien nicht entlang ideo­logischer, sondern entlang angenommener ethnischer Grenzen. Auch in Ostmitteleuropa ebbte die Gewalt also nicht ab. Das war bereits Zeit­ genossen bewusst: „Friede und Rückkehr zur Normalität scheinen so weit weg – wenn nicht gar weiter – zu sein wie im Herbst [1918], als der Kriegszustand ­offiziell beendet wurde“, vermerkte im April 1919 der polnisch-litauische Rechts17  Dietrich Beyrau: Brutalization Revisited. The Case of Russia. In: JCH 50 (2015) 1, S. 15–37, hier: S. 33 (Übersetzung durch den Verfasser). 18 Vgl. Jonathan D. Smele: The „Russian“ Civil Wars 1916–1926. Ten Years that Shook the World. Oxford 2015.

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anwalt Michał Römer. „Verbannt aus den Schützengräben, von der Frontlinie, den formalen Regeln militärischen Kampfs, ist der Krieg wie eine Krankheit, die in das Innere der Gesellschaft hineinkriecht und in ein permanentes Chaos ausartet, in einen bellum omnium contra omnes.“19 Worauf der Tagebuchschreiber hier ab­ zielte, war das Ringen der neu gegründeten ostmitteleuropäischen Staaten um Souveränität und territoriale Integrität. Von der Forschung lange Zeit vernach­lässigt bilden diese bewaffneten Konflikte zwischen Litauern, Polen, Ukrainern, Tschechen und Deutschen in der Summe einen ostmitteleuropäischen Bürgerkrieg. Das wiedererstandene Polen hegte Ende 1918 nicht nur die Hoffnung auf eine glorreiche Zukunft, sondern auch die Erinnerung an eine alptraumhafte Vergangenheit. Vor der Erlangung seiner von den polnischen Eliten herbeigesehnten Unabhängigkeit im November 1918 hatte Polen als Schauplatz einiger der heftigsten Kämpfe der Ostfront unter den Folgen des Kriegs besonders gelitten. Das Land war ausgebeutet, Hunderttausende seiner Bewohner waren getötet oder von Deutschen, Österreichern oder Russen weit nach Westen beziehungsweise Osten deportiert worden. Der spätere amerikanische Präsident Herbert Hoover, damals Leiter der größten amerikanischen Hilfsorganisation für das notleidende Europa, konstatierte 1919, dass Teile von Polen während des Kriegs bis zu sieben Invasionen und Rückzüge erlebt hätten, die zahllose Opfer gefordert hätten.20 Nach den Friedensschlüssen plagten Epidemien und Hungersnöte die ländliche wie die städtische Bevölkerung und die Menschen starben weiterhin zu Hunderttausenden (am Ural gingen die Opferzahlen gar in die Millionen). Mit dem Rückzug der deutschen Truppen fehlte es in Polens „Wildem Osten“ für Monate oder gar Jahre an einer wirksamen staatlichen Kontrolle.21 Geografisch gesehen im Zentrum des Geschehens beanspruchte der aufstrebende polnische Nationalstaat Territorien, in denen Minderheiten fast aller am Ostmitteleuropäischen Bürgerkrieg beteiligten Nationen lebten. Genau darauf zielte Römer ab, als er von einem bellum omnia contra omnes sprach. Zwischen 1918 und 1921 befand sich das Land in einem permanenten Zustand des erklärten oder nicht-erklärten Kriegs an buchstäblich allen seinen Grenzen außer der zu Rumänien. Da sich die neuen Staaten als ethnisch verfasst verstanden, waren diese Konflikte zwischen ihnen auch ethno-national konnotiert. Der erste solche Konflikt brach noch vor Kriegsende aus. In Lemberg, der Metropole des Ostteils der österreichischen Provinz Galizien, übernahmen in der Nacht zum 1. November 1918 ukrainische Veteranen des österreichischen Heeres die Macht, denen sich sofort polnische Paramilitärs entgegenstellten. Die Stadt, in der eine polnische Mehrheit mit Ukrainern und Juden zusammenlebte, war ein ethnischer Schmelztiegel. Im Umland waren die Verhältnisse entgegengesetzt – hier stellten Ukrainer die Mehr19  Michał Römer: Dzienniki. Bd. 3: 1916–1919. Hg. von Agnieszka Knyt. Warschau 2018, S. 689 (Tagebucheintrag vom 1. 4. 1919) (Hervorhebung im Original; Übersetzung durch den Verfasser). 20  Vgl. Włodzimierz Borodziej: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert. München 2010, S. 97. 21  Vgl. Jochen Böhler: Europas „Wilder Osten“. Gewalterfahrungen in Ostmitteleuropa 1917– 1923. In: Osteuropa 64 (2014) 2–4, S. 141–155.

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heit und Polen, die hier die landbesitzende Oberschicht bildeten, waren ihnen zahlenmäßig weit unterlegen. Beide Seiten beanspruchten Lemberg als kulturelles und politisches Zentrum für sich. Im November 1918 entspann sich in den Straßen der Stadt ein Guerillakrieg, den die polnische Seite nach drei Wochen für sich entscheiden konnte. Der sich anschließende bewaffnete Konflikt zwischen der neu gebildeten Regierung in Warschau und der Westukrainischen Volksrepublik dauerte bis zum Sommer 1919 an. Auch daraus ging Polen als Sieger hervor und sicherte sich somit Ostgalizien als Staatsterritorium. Ganz ähnlich gelagert war der Fall von Vilnius und Umgebung im Nordosten. Hier lebten Polen als Mehrheit in der Stadt und Minderheit auf dem Land sowie Litauer als Minderheit in der Stadt und Mehrheit auf dem Land zusammen. Von Ende 1918 bis Ende 1920 waren Stadt und Umland ein Zankapfel zwischen Warschau und Kaunas, von wo aus die litauische Regierung nach ihrer Evakuierung aus Vilnius agierte. Die Besetzung der Stadt durch polnische Truppen im April 1919 war – wie im Fall Lembergs im November 1918 – von Pogromen gegen die dortige jüdische Minderheit begleitet. 1920 übernahm die Rote Armee, mit der sich die Litauer verbündet hatten, um die polnischen Truppen zu verjagen, für einige Monate die Macht.22 Zeitgleich entspann sich im Süden Polens ein lokaler Konflikt mit der Tschechoslowakei um das Teschener Schlesien mit seinen wertvollen Kohlevorkommen, der die Region für mehrere Jahre mit einer Welle ethno-nationaler paramilitärischer Gewalt konfrontierte und der erst im Sommer 1920 mit dem Zuschlag des Großteils der Region zur tschechoslowakischen Seite endete. Im Westen geriet der junge polnische Staat mit seinem durch die Niederlage im Weltkrieg geschwächten deutschen Nachbarn aneinander. Polen übernahm nach bewaffneten Aktionen zwischen Ende 1918 und Sommer 1920 die Macht im Raum Posen und in Oberschlesien. Polnische Paramilitärs und deutsche Freikorps trafen hier in einem erbittert ausgefochtenen Konflikt aufeinander, in dem die Zivilbevölkerung zwischen die Fronten geriet und Tausende Opfer zu beklagen hatte.23 Die bedeutendste Entwicklung dieser Nachkriegswirren in Ostmitteleuropa stellte der Übergang von einer imperialen zu einer nationalstaatlichen Ordnung dar, der zwar nicht vom Ersten Weltkrieg eingeleitet, aber beschleunigt worden war. In den Jahren 1918 bis 1921 bildeten sich im Verlauf eines gewaltsamen Prozesses die Nachkriegsgrenzen heraus. Das ostmitteleuropäische Staatensystem war somit das Ergebnis eines Bürgerkriegs zwischen den sich etablierenden Nationalstaaten. Auch im Ostmitteleuropäischen Bürgerkrieg waren nicht immer alle militärischen Formationen und Frontstellungen klar definiert. Vielmehr wurde dieser von paramilitärischen Einheiten oder erst im Entstehen begriffenen Armeen geführt und war von stetig wechselnden Koalitionen gekennzeichnet. Im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg war der Ostmitteleuropäische Bürgerkrieg in hohem Maße von verschiedenen Formen militärischer und paramilitärischer 22  Vgl. Jochen Böhler: Civil War in Central Europe, 1918–1921. The Reconstruction of Poland. Oxford 2018, S. 70–95. 23  Vgl. ebd., S. 95–121.

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Gewalt gegen Zivilisten geprägt. Die Vorstellung nationaler Unabhängigkeit bedeutete nicht nur die Zugehörigkeit zu einer Nation, sondern auch deren Abgrenzung nach außen. So wie der Russische Bürgerkrieg von politischer („revolutionärer“ und „konterrevolutionärer“) Gewalt gekennzeichnet gewesen war, so führte der Anspruch auf einen eigenen Nationalstaat, den vielerlei Gruppierungen in Ostmitteleuropa gleichzeitig erhoben, zu einer Welle ethnisch-nationaler Gewalt. Diese war auch hier zumindest als ständige Bedrohung insofern total, als Frauen, Senioren und Kinder als Gegner betrachtet werden konnten.

Paramilitärische Gewalt in Südosteuropa Auch die Nationalstaaten im Südosten Europas, in Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Jugoslawien, blieben von der für die Gebiete zwischen Russland und Deutschland typischen Nachkriegsgewalt nicht verschont. Die Erste Tschecho­ slowakische Republik wurde nicht nur an der Grenze zu Polen im Teschener Schlesien von Ausbrüchen ethno-nationaler Gewalt erschüttert, sondern auch innerhalb ihrer Grenzen in der Auseinandersetzung mit ihren Minderheiten – Deutschen, Juden und Ungarn.24 Die schwersten Ausbrüche ereigneten sich im slowakischen Teil des Landes, der früher zum Königreich Ungarn gehört hatte und 1919 kurze Zeit von der Roten Armee der bolschewistischen Revolutions­ regierung in Budapest unter Béla Kun besetzt wurde. Tschechische Militärs und paramilitärische Einheiten schikanierten die slowakische Bevölkerung derart, dass der tschechische Schriftsteller Josef Holeček darüber räsonierte: „Aber die Tschechen, die in die Slowakei einmarschierten, verhielten sich wie die Deutschen in Kamerun oder Belgien, und besudelten sowohl ihre eigene Ehre als auch die Ehre ihrer Nation.“25 Die Revolution in Ungarn war ebenfalls von Wellen paramilitärischer Gewalt begleitet. Die Weiße Garde – das ungarische Gegenstücke zu den deutschen Freikorps – konterte den Terror der „Roten“ mit einem eigenen ­Weißen Terror. Da der Bolschewismus in den Augen der Konterrevolutionäre das Ergebnis einer „jüdischen Verschwörung“ war, richteten sich ihre Gewalttaten in erster Linie gegen ungarische Juden. Allein in Transdanubien verzeichnete ein Bericht von 1922 etwa 3 000 jüdische Opfer des Weißen Terrors.26 24  Vgl.

Rudolf Kučera: Exploiting Victory, Sinking into Defeat. Uniformed Violence in the Creation of the New Order in Czechoslovakia and Austria, 1918–1922. In: JMEH 88 (2016) 4, S. 827– 855; ders.: „What a Republic It Was!“. Popular Violence and State Building in the Czech Lands After the First World War. In: CEH 28 (2019), S. 303–318. 25 Josef Holeček: Prvé tříletí Československé Republiky. Praha 1922, S. 25; vgl. auch Miloslav Szabó: Social or Ethnic Riots? Popular Violence in Slovakia in the Aftermath of WW I and the Discourse of the Czechoslovak Revolution. Vortrag auf der internationalen Konferenz „Beyond Defeat and Victory. Physical Violence and the Reconstitution of East-Central Europe, 1914– 1923“, Prag, 18. 9. 2015. 26  Vgl. Gerwarth: Counter-Revolution (wie Anm. 13); Béla Bodó: The White Terror. Antisemitic and Political Violence in Hungary, 1919–1921. New York 2019.

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Noch weiter südöstlich erstreckt sich eine Region, in der paramilitärische ­ ewalt nicht nur ein Erbe des Ersten Weltkriegs war, sondern ihre Wurzeln im G 19. Jahrhundert hatte. Hier, so John Paul Newman, verbanden „der Zerfall Österreich-Ungarns und die Schaffung eines großen südslawischen Staates 1918 zuvor separate Regionen und Akteure“ und schufen „neue und erweiterte ‚Zonen der Gewalt‘“.27 Dies galt in den ersten beiden Nachkriegsjahren weniger für Rumä­ nien, das wie die Tschechoslowakei die turbulente Situation im revolutionären Ungarn nutzte und 1919 – also noch vor dem Abschluss des Friedensvertrags von Trianon – in das Land einmarschierte. Ob diese militärische Operation von Mustern ethno-nationaler Gewalt begleitet war, ist in der Forschung umstritten, das Potenzial dafür war angesichts des ethnischen Flickenteppichs der neuen ungarisch-rumänischen Grenzzone aber sicherlich hoch.28 Die historischen Regionen Siebenbürgen, Bukowina und Bessarabien dagegen – allesamt ethnische Schmelztiegel – schlossen sich 1918 nahezu konfliktfrei Großrumänien an und bildeten damit eine bemerkenswerte Ausnahme gegenüber den Entwicklungen, die den Rest von Mittel- und Osteuropa zeitgleich prägten.29 Gleichwohl gab es in den mittel- und südosteuropäischen Grenzregionen mit gemischten Bevölkerungen in der Zwischenkriegszeit ethnische Spannungen. Der Balkan lässt sich für die Zeit unmittelbar nach dem Krieg in zwei Gewaltzonen aufteilen: das adriatische Küstengebiet, in dem das neu gegründete Jugoslawien an Italien grenzte, und den südlichen Balkan mit den historischen Regionen Mazedonien und Kosovo.30 Beide Gebiete waren heftig umkämpft, das erste zwischen Italien und Jugoslawien, das zweite zwischen Jugoslawien, Bulgarien und Griechenland. Ab Ende 1918 waren italienische Streitkräfte an der östlichen Adria stationiert. Hier verliefen die Frontlinien aber nicht zwischen zwei eindeutig ­ethno-national definierten Gruppen (wie zwischen Italienern auf der einen sowie Kroaten und Slowenen auf der anderen Seite), vielmehr bestimmte die zwischen konservativem Irredentismus (so nannte man vor dem Krieg die italienische Forderung nach Angliederung von Gebieten unter österreichischer Herrschaft) und Faschismus anzusiedelnde politische und ideologische Haltung der Verwaltungsund Militärelite die Tagesordnung. In ihren Augen befanden sich die Feinde, die Sozialisten, – egal ob Italiener oder Slawen – in der Mitte der Bevölkerung. Sie sollten öffentlich identifiziert, kontrolliert und ausgegrenzt werden, um den reibungslosen Übergang der Region in italienisches Staatsgebiet sicherzustellen. Eine Atmosphäre latenter paramilitärischer Gewalt, die immer wieder zum Ausbruch

27  John Paul Newman: Paramilitärische Gewalt auf dem Balkan. Ursprünge und Vermächtnisse. In: Gerwarth/Horne (Hg.): Krieg (wie Anm. 2), S. 226–249, hier: S. 226. 28  Es gibt in der rumänischen Presse der Zwischenkriegszeit Hinweise auf ungarische Gräuel­ taten gegen die rumänische Minderheit der Moţi, vgl. Roland Clark: Claiming Ethnic Privilege. Aromanian Immigrants and Romanian Fascist Politics. In: CEH 24 (2015) 1, S. 37–58, hier: S. 40. 29  Vgl. Keith Hitchins: A Concise History of Romania. Cambridge 2014, S. 154–156. 30  Vgl. Newman: Gewalt (wie Anm. 27), S. 234  f.

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kam, bestimmte den Alltag.31 Aber das Gebiet war nicht von Wellen massiver Gewalt mit Tausenden von Verwundeten und Toten betroffen wie die umkämpften Räume Ostmittel- und Osteuropas. Italien und Jugoslawien standen beide auf der Gewinnerseite des Ersten Weltkriegs, waren sich aber hinsichtlich der zukünftigen Zugehörigkeit des Küstenlandes uneins. Nichtsdestoweniger waren beide nicht daran interessiert, die heikle Situation eskalieren zu lassen. Der Konflikt eskalierte dennoch, als im September 1919 der rechtsgerichtete italienische Schriftsteller Gabriele D’Annunzio zusammen mit mehreren Hundert Söldnern in die adriatische Hafenstadt Fiume marschierte, um zu verhindern, dass diese gemäß den Bestimmungen der Pariser Friedenskonferenz zum Freistaat wurde. Er eroberte die Stadt kampflos von einer alliierten Besatzungstruppe und schuf über einen Zeitraum von fünfzehn Monaten einen halb anarchistischen, halb protofaschistischen Stadtstaat. Nachdem Italiener und Jugoslawen sich im Grenzvertrag von Rapallo geeinigt hatten, wurden D’Annunzio und seine Männer Ende 1920 von der italienischen Armee mit Waffengewalt aus der Stadt vertrieben.32 Aber selbst hier waren die Opfer auf beiden Seiten fast zu vernachlässigen.33 Blutvergießen und Brandstiftung waren dagegen das Markenzeichen der zwei stärksten paramilitärischen Formationen der Nachkriegszeit auf dem südliche Balkan: der Grünen Kader – wie die ukrainischen Bauernarmeen Teil einer spontanen „grünen“ paramilitärischen Mobilisierung zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer – und der Inneren Mazedonischen Revolutionären Organisation (IMRO). Die Grünen Kader waren Banden von Zehntausenden Deserteuren und Kriminellen ohne zentrale Führung, die hauptsächlich im kroatischen Hinterland, aber auch auf tschechischem und ungarischem Gebiet tätig waren.34 Diese lokal organisierten paramilitärischen Gruppen, die meist von charismatischen Führern geleitet wurden, waren kaum zu kontrollieren. Der Nationalrat der Serben, ­Kroaten und Slowenen appellierte daher Ende Oktober 1918 an die nicht demobilisierten Soldaten der ehemaligen Habsburger Armee: „Zerstört nicht, brennt nicht nieder, tötet nicht, denn Ihr zerstört und verbrennt das, was Euch gehört, Soldaten!“35 In Jugoslawien und Griechenland war in der Zwischenzeit ein Phänomen zu beobachten, das zu Beginn der 1920er-Jahre für ganz Mittel- und Osteuropa charakteristisch werden sollte: terroristische Gewalt, die von radikalisierten Minderheiten gegen den eigenen Staat ausgeübt wurde, in diesem Fall von der IMRO. 31  Vgl.

Borut Klabjan: Borders in Arms. Physical Violence in the North-Eastern Adriatic after the Great War. In: AH 26 (2018) 4, S. 985–1002. 32  Vgl. Margaret MacMillan: Die Friedensmacher. Wie der Versailler Vertrag die Welt veränderte. Berlin 2018, S. 401–405. 33  Vgl. Dominiqe Kichner Reill: The Fiume Crisis. Life in the Wake of the Habsburg Empire. Cambridge 2020. 34  Vgl. Newman: Gewalt (wie Anm. 27), S. 239  f.; Jakub Beneš: The Green Cadres and the Collapse of Austria-Hungary in 1918. In: P & P (2017) 236, S. 207–241. 35  John Paul Newman: Post-Imperial and Post-War Violence in the South Slav Lands, 1917–1923. In: CEH 19 (2010), S. 249–265, hier: S. 254.

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Die „in der Nachkriegszeit stärkste paramilitärische Kraft auf dem Balkan“ war im Gegensatz zu den Grünen Kadern eine straff organisierte Terrororganisation, die für die Gründung eines unabhängigen oder mit Sofia assoziierten mazedonischen Staatswesens kämpfte. Mit operativer Basis in Bulgarien konzentrierte sie ab 1920 ihre Terroranschläge gegen uniformierte Beamte und Zivilisten auf die makedo­ nischen Regionen Griechenlands und Serbiens.36 „Dabei konnten die IMROKämpfer (četnik) vor Ort auf ein breites Unterstützermilieu zählen. Bauern, Hirten, Popen, Mönche und andere sogenannte ‚Verstecker‘ (jatak) leisteten logistische und medizinische Hilfe sowie Aufklärungsdienste. Dieses dichte jatak-Netz ermöglichte auch größeren IMRO-Freischaren erhebliche Bewegungsfreiheit bei ihren oft mehrmonatigen Aufenthalten auf dem von regulären Armeeeinheiten, Polizei, Geheimdiensten sowie speziellen paramilitärischen Anti-IMRO-Forma­ tionen geradezu wimmelnden jugoslawischen Territorium.“37 Diese Umstände kamen denen eines lokalen Bürgerkriegs sehr nahe. Letzten Endes führten die Aktivitäten der Grünen Kader und der IMRO statt zur angestrebten Unabhängigkeit zu ihrer eigenen Unterwerfung, weil sie auf ­lange Sicht die Macht und den Einfluss der serbischen Armee im innerlich zerstrittenen Jugoslawien – ab Dezember 1918 dem „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ – stärkten. Selbst ein slawonischer Abgeordneter gestand vor dem jugoslawischen Nationalrat: „Das Volk ist in Aufruhr. Es herrscht totales Chaos. Nur die Armee, genauer nur die serbische Armee, kann die Ordnung wiederherstellen. Die Leute brennen und zerstören. Ich weiß nicht, wie wir Dalmatien und Bosnien ernähren sollen. Der Mob plündert jetzt die Kaufleute, da alle Grund­ besitze bereits zerstört sind. Private Vermögen sind zerstört. Die serbische Armee ist die einzige Rettung.“38 Der Ostmitteleuropäische Bürgerkrieg und die zumeist ethno-nationalen Konflikte in Südosteuropa wurden erbittert ausgefochten. Die damit verbundenen Gewalterfahrungen waren weitgehend vergleichbar. „Gewaltsame Versuche, umkämpften Balkanregionen ein integrales Nationalprogramm aufzunötigen“, fasst John Paul Newman zusammen, „hatten bis zu einem gewissen Grad viele Gemeinsamkeiten mit den gewaltsamen Nationalisierungsprojekten paramlitärischer Gruppen in Österreich, Deutschland, Polen und der Ukraine nach 1918“39 – und, um das Argument abzurunden, im Baltikum. Von 1918 an wurden auf den ehemaligen Schauplätzen des Ersten Weltkriegs immer noch Häuser geplündert und angezündet, Frauen vergewaltigt, Feinde gefoltert und ihre Leichen verstümmelt sowie Zivilisten in Massen getötet. Paramilitärische Gewalt löste militärische Gewalt ab.

36 

Vgl. ders.: Gewalt (wie Anm. 27), S. 235–239 (Zitat: S. 235). Troebst: Nationalismus und Gewalt im Osteuropa der Zwischenkriegszeit. Terroristische Separatismen im Vergleich. In: BJOG 3 (1996), S. 273–314, hier: S. 284 f. 38  Ivo Banac: The National Question in Yugoslavia. Origins, History, Politics. Ithaca 1993, S. 131 (Übersetzung durch den Verfasser). Dank an Jakub Beneš für den Hinweis auf dieses Zitat. 39  Newman: Gewalt (wie Anm. 27), 248  f. 37  Stefan

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Gewaltsame Staatenbildungen Dass friedliche Revolutionen die Ausnahme sind, gewaltsame dagegen die Regel, ist nicht weiter überraschend. In besonderem Maße galt dies für die bolschewistische Revolution in Russland und den sich anschließenden Bürgerkrieg. Wie dargelegt, war die (Re-)Konstruktion von Nationen zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur ein konstruktiver, sondern auch ein destruktiver Prozess.40 Der Nationalstaatsgedanke wurde in seiner Geschichte nie völlig friedlich umgesetzt. Im Gegenteil: Gewalt ist ein integraler Bestandteil bei der Errichtung von Nationalstaaten. Sie dient nicht nur dazu, neue Staatsgrenzen durchzusetzen, sondern auch Zugehörigkeit zu definieren. Die „Feuer des Hasses“ erhellten mit ihren Flammen die „dunkle Seite der Demokratie“.41 Oder mit den Worten von Eric D. Weitz formuliert: „Wie die Forschung der jüngeren Generation so eindringlich gezeigt hat, bedingt die Konstruktion von Staatsbürgerschaft notwendigerweise Grenzziehungen, zwischen Territorien, aber auch zwischen Völkern. Die Schaffung von Rechten für einige ist dann untrennbar damit verbunden, anderen den Zugang zu ebendiesen Rechten zu verwehren. […] Historisch gesehen bildeten sich also Rechte und Verbrechen gleichzeitig heraus.“42 Im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebten die Gesellschaften Ostmittel- und Südosteuropas eine Kombination ethno-politischer und sozio-politischer Umbrüche, die den Boden für zukünftige Konflikte bereiteten. Historiker haben drei unterschiedliche Ausrichtungen der Gewalt voneinander unterschieden, die die ideologische Konfrontation zwischen bolschewistischen und antibolschewistischen Kräften auf der einen und den ethnischen Kampf um die Vorherrschaft in einem zukünftigen Nationalstaat auf der anderen Seite begleiteten: den Roten und den Weißen Terror, Übergriffe gegen die lokale Bevölkerung im Allgemeinen und gegen Juden im Besonderen sowie ethnische Säuberungen. Während Letztgenannte im hier behandelten Zeitraum nur im Nachgang des Griechisch-Türkischen Kriegs (1919–1922) einsetzten, waren die beiden erstgenannten Formen der Makrogewalt nach dem Ersten Weltkrieg in unterschiedlicher Intensität und Mischung in ganz Ostmittel- und Südosteuropa anzutreffen. Nach Peter Holquist war der Russische Bürgerkrieg „jener Zeitpunkt, an dem viele der für den ‚normalen‘ Krieg geschmiedeten Gewaltpraktiken auf das Projekt der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft angewandt wurden“. Aber wie Holquist selbst feststellt, blieben diese gewalttätigen Praktiken nicht auf 40  Vgl. dazu Timothy Snyder: The Reconstruction of Nations. Poland, Ukraine, Lithuania, Belarus, 1569–1999. New Haven 2003. 41 Vgl. Norman M. Naimark: Flammender Hass. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert. München 2004; Michael Mann: Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung. Hamburg 2007. Vgl. auch Rogers Brubaker: Nationalizing States in the Old „New Europe“ – and the New. In: ERS 19 (1996) 2, S. 411–437. 42  Eric D. Weitz: Self-Determination. How a German Enlightenment Idea Became the Slogan of National Liberation and a Human Right. In: AHR 120 (2015) 2, S. 462–496, hier: S. 465 (Übersetzung durch den Verfasser).

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Russland beschränkt, denn „das ‚revolutionierende‘ Programm des bolschewistischen Staates wies gewisse Parallelen zu den ‚Nationalisierungsprogrammen‘ der neuen Staaten in ganz Ost- und Südeuropa auf“.43 Eine Vermischung ethnischer und politisch-ideologischer Gewalt trat am deutlichsten dort hervor, wo die Fronten des Russischen mit denen des Ostmitteleuropäischen Bürgerkriegs verschwammen. Im Polnisch-Russischen Krieg (1919/20) trafen die Soldaten einer jungen, weitgehend ethnisch definierten Zweiten Polnischen Republik auf die Rotarmisten des jungen bolschewistischen Russlands. Der Konflikt war von brutalen Übergriffen beider Seiten geprägt, wie sie der russischjüdische Schriftsteller Isaak Babel, der mit Budjonnys Reiterarmee nach Polen zog, eindrucksvoll festhielt. Über den Einmarsch in Berestetschko schrieb er: „Wir ritten an Kosakengräbern und dem Grabhügel Bogdan Chmelnizkis vorüber. […] Dann entrollten wir unsere Standarten und rückten unter dröhnenden Klängen eines Marsches in Berestetschko ein. Die Einwohner hatten die Eisenstangen vor die Fensterläden gelegt, und allmächtige Stille hatte ihren Thron ­bestiegen. […] Ich wusch mich und ging auf die Straße. […] Vor meinem Fenster hielten ein paar Kosaken einen alten Juden mit silbergrauem Bart gepackt, der wegen Spionage erschossen werden sollte. Der Alte schrie und wollte sich losreißen. Da klemmte Kudra, ein Soldat unserer MG-Abteilung, den Kopf des Alten unter seine Achsel. Der Jude verstummte und spreizte die Beine. Kudra zog mit der rechten Hand einen Dolch, und vorsichtig, ohne sich zu bespritzen, erstach er den Alten. Dann klopfte er an die geschlossene Fensterlade.“44 Zuvor war der Ort polnisch besetzt gewesen: „Der Haß auf die Polen ist einhellig. Sie haben geplündert, gefoltert, dem Apotheker glühende Eisen an den Körper gehalten, Nadeln unter die Fingernägel, die Haare ausgerissen – dafür, daß man auf einen polnischen Offizier geschossen hatte – Idiotie. Die Polen haben den Verstand verloren, sie richten sich selbst zugrunde.“45 Auf einer Ebene jenseits der Ideologien waren die Gewaltformen vergleichbar sowie Täter und Opfer oftmals austauschbar.

Antisemitische Gewalt Antisemtische Gewalt war in Ostmittel- und Südosteuropa im Nachgang des Ersten Weltkriegs ein verbreitetes Phänomen. Erste antijüdische Maßnahmen waren allerdings bereits von der zaristischen Armee zu Kriegsbeginn eingeleitet worden. Mehr als eine halbe Million der im ersten Kriegsjahr aus den russischen Westgebieten weit ins Landesinnere Deportierten waren Juden. Während diese antijüdische – wie auch antipolnische und antideutsche – Verfolgung zunächst eine koor43  Peter Holquist: Violent Russia, Deadly Marxism? Russia in the Epoch of Violence, 1905–21. In: Kritika 4 (2003) 3, S. 627–652, hier: S. 644 f. (Übersetzung durch den Verfasser). 44 Isaak Babel (Hg.): Die Reiterarmee. Mit Dokumenten und Aufsätzen im Anhang. Leipzig 1975, S. 83. 45  Ders.: Tagebuch 1920. Berlin 1990, S. 97.

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dinierte zaristische Staatspolitik war, wurde die antijüdische Gewalt ab 1917 nicht staatlich angeordnet. Sie uferte schnell aus, weil sich neben militärischen Einheiten und bewaffneten Banden auch oftmals die lokale nicht-jüdische Bevölkerung daran beteiligte, und reichte von Schikanen und Plünderungen bis hin zu Massenmorden. Alleine in der Ukraine verloren in den Jahren 1918 bis 1920 bei etwa 1 500 antijüdischen Pogromen zwischen 50 000 und 200 000 Menschen ihr Leben.46 Die Täter waren Soldaten der Weißen, Roten und Atamanen-Armeen, unter­stützt von Teilen der lokalen christlichen Bevölkerung.47 In geringerem Umfang, aber auf dem gesamten übrigen Territorium Ostmittel- und Südosteuropas, fielen Juden in diesem Zeitraum militärischen und paramilitärischen Einheiten zum Opfer, oft unterstützt von einem rasenden Mob. In den östlichen Grenzgebieten Polens, den Kresy, und in Zentralpolen waren polnische Soldaten die Haupttäter, auf dem Balkan die Grünen Kader. Juden waren auch die Hauptopfer der ultrakonserva­ tiven Paramilitärs, deren Verbreitungsgebiet sich wie ein nach Osten geöffneter Halbmond vom Baltikum über Deutschland, Österreich und Italien bis nach Ungarn, Rumänien und Kroatien erstreckte. „Die antijüdische Ausrichtung jedoch“, so die überzeugende Schlussfolgerung von Mark Levene, „überschritt eindeutig die Trennung zwischen militärischen Siegern und Verlierern und war vielmehr ein transnationales Phänomen“.48 Ganz Ostmittel- und Südosteuropa durchlebte in den Jahren 1917 bis 1921 eine Welle antijüdischer Gewalt. Sie ist – das gilt vor allem für die Ukraine mit Zehntausenden jüdischen Opfern – von der Forschung bislang weder ausreichend quantifiziert, noch überregional verglichen worden. Dennoch erscheint es wenig sinnvoll, sie völlig isoliert von anderen Gewaltformen zu betrachten, die zur gleichen Zeit in den gleichen Räumen auftraten. Alle Einheiten, die an antijüdischen Pogromen beteiligt waren, verübten Gräueltaten auch gegen andere Gruppen der lokalen Bevölkerung – selbst dann, wenn diese nicht als fremd betrachtet wurden. Insofern erscheint die antijüdische Gewalt als Extremfall einer Welle ethno-nationaler Gewalt, die nach Krieg und Revolution Ostmittel- und Südosteuropa überschwemmte. 46  Vgl.

Sanborn: Genesis (wie Anm. 6), hier: S. 208 f. Vgl. auch Alexander Victor Prusin: Nationalizing a Borderland. War, Ethnicity, and Anti-Jewish Violence in East Galicia, 1914–1920. Tuscaloosa 2005; Frank M. Schuster: „Für uns ist jeder Krieg ein Unglück“. Die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die Welt der osteuropäischen Juden. In: Joachim Tauber (Hg.): Über den Weltkrieg hinaus. Kriegserfahrungen in Ostmitteleuropa 1914–1921. Lüneburg 2009, S. 153–175. 47  Vgl. Piotr Wróbel: The Kaddish Years. Anti-Jewish Violence in East Central Europe, 1918– 1921. In: JSDI 4 (2005), S. 211–236; Mark Levene: Frontiers of Genocide. Jews in the Eastern War Zones, 1914–1920 and 1941. In: Panikos Panayi (Hg.): Minorities in Wartime. National and ­Racial Groupings in Europe, North America, and Australia During the Two World Wars. Oxford/Providence 1993, S. 83–117, hier: S. 98–105; Alexander Victor Prusin: A „Zone of Violence“. The Anti-Jewish Pogroms in Eastern Galicia in 1914–1915 and 1941. In: Omer Bartov/Eric D. Weitz (Hg.): Shatterzone of Empires. Coexistence and Violence in the German, Habsburg, Russian, and Ottoman Borderlands. Bloomington 2013, S. 362–377. 48  Mark Levene: Devastation. The European Rimlands 1912–1938. Oxford 2013, S. 192 (Übersetzung durch den Verfasser).

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Gewaltformen jenseits politischer oder ethnischer Motive In der Gewaltwelle kulminierten unterschiedliche Strömungen „staatsbildender“, revolutionärer und ethno-nationaler Gewalt. Es erscheint daher ebenfalls wenig sinnvoll, sie getrennt voneinander nur innerhalb der Komplexe des Russischen beziehungsweise des Ostmitteleuropäischen Bürgerkriegs oder der revolutionären, konterrevolutionären, paramilitärischen und terroristischen Gewalt in Südosteuropa zu betrachten. Politische Gewalt war an allen Schauplätzen oftmals ethnisch motiviert und ethnische Gewalt basierte oftmals auch auf politischen Motiven. Zudem gab es Formen von Übergriffen unterhalb der Ebene der staatsbildenden Gewalt – allen voran Plünderungen, aber auch Vergewaltigungen. Für diese lieferten ethnische oder politische Motive nur den Vorwand. Sie konnten die gesamte Zivilbevölkerung eines Gebiets treffen, in dem sich bewaffnete Banden beziehungsweise nationale Streitkräfte, die sich oftmals kaum voneinander unterschieden, herumtrieben. Das Phänomen der ethno-politischen Gewalt als Begleiterscheinung von revolutionärem Klassenkampf und nationalem Unabhängigkeitsstreben erklärt also nicht hinreichend andere sie begleitende und mit ihnen verflochtene Formen von Gewalt, die oftmals ganz anderen Zielen diente, etwa dem bloßen Überleben, der Befriedigung niederer Instinkte, der Etablierung einer ­charismatischen Führung oder der Stärkung des Zusammenhalts innerhalb einer paramilitärischen Formation. In Bürgerkriegen „wurde vieles von dem, was politisch erscheinen mag oder von den damaligen Akteuren tatsächlich als politisch bezeichnet wurde, durch bereits bestehende soziale Spannungen motiviert oder war ein Nebenprodukt von Neid, Gier oder Begierde“.49 Das gilt zum Beispiel für die genannten Pogrome in der Ukraine und in Polen, die damit begründet wurden, die Juden würden mit den Bolschewiki sympathisieren. Um solche Formen unpolitischer und oft willkürlicher Gewalt näher zu untersuchen, muss die Ebene des Staates verlassen und die lokale Ebene, wo politische Ziele oft in den Hintergrund traten, in den Blick genommen werden. Hier verliefen die Fronten zwischen militärischen oder paramilitärischen Einheiten, deren Mitglieder häufig die Seiten wechselten. Da alle Formationen, die fern von ihrem Zentrum operierten, oftmals von regulärer Versorgung abgeschnitten waren, waren sie stark auf Plünderungen angewiesen. Terror gegen Zivilisten wurde somit zum Selbstzweck und Gewaltanwendung nicht von der staatlichen Zentrale befohlen, sondern von örtlichen Kommandeuren oder sogar von einfachen Soldaten vielfach spontan eingeleitet. Immer wieder übten paramilitärische Einheiten Gewalt gegen Nichtkombattanten autonom aus, ohne dass sie von einer höheren Autorität angeordnet worden wäre. Aber selbst in diesen Fällen hatte die scheinbar willkürliche Gewalt oft eine Bedeutung und wurde mit Vorsatz angewandt, um eine klare Botschaft an die übrige Bevöl-

49 Robert Gerwarth/John Horne: The Great War and Paramilitarism in Europe, 1917–23. In: CEH 19 (2010) 3, S. 267–273, hier: S. 270 (Übersetzung durch den Verfasser).

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kerung zu senden: Wer sich den Tätern entgegenstellte, musste mit der gleichen Behandlung rechnen. Solche Formen lokal begrenzter Mikrogewalt sind im Kontext der Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs im Osten bisher kaum untersucht worden.50 Eine Gewaltforschung, die sich mit diesem Komplex beschäftigt, kann auf die viel ­weiter entwickelte Gewaltforschung zum Zweiten Weltkrieg einerseits und zu Bürgerkriegen andererseits zurückgreifen. Aus dieser lässt sich ableiten, dass ­Gewalt oft von situativen und motivationalen Faktoren abhängt, die den Ablauf der Ereignisse bestimmen – Anwesenheit von Opfern, die der Zielgruppe der ­Täter entsprechen, Straffreiheit, Weltanschauung, Erwartungen und Verhalten von Kameraden und Vorgesetzten.51 Anthropologen und Ritualexperten haben in ­diesem Zusammenhang auch auf die symbolische Bedeutung dieser Art von „liminaler“ Gewalt (wie etwa bei Pogromen), die oft in Zeiten gesellschaftlicher Umwälzung auftrat, hingewiesen.52 Darüber hinaus sollte man berücksichtigen, dass zwischen der staatsbildenden und der lokalen Gewalt ein Zusammenhang besteht. Eine solche Verbindung ­zwischen lokalen Tätern und Entscheidungsträgern in den staatlichen Zentren ist ein charakteristisches Merkmal der Bürgerkriegsgewalt. Nach Stathis Kalyvas kann „Bürgerkrieg […] als ein Prozess analysiert werden, der das Streben der ­politischen Akteure nach Sieg und Macht und das Streben der lokalen oder individuellen Akteure nach persönlichem und lokalem Vorteil in einen gemeinsamen Gewaltprozess verwandelt“.53 Dies ist ein interessanter Gedanke, der unter anderem von Norman Naimark geteilt wird.54 Staatliche und lokale Ebene waren nicht voneinander isoliert, sondern korrespondierten miteinander und bedingten sich 50  Für deutsche Gräueltaten an der Westfront vgl. John Horne/Alan Kramer: Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit. Hamburg 2004. 51 Die Grundlage legte hierfür Christopher R. Browning: Ordinary Men. Reserve Police Bat­ talion 101 and the Final Solution in Poland. New York 1992. Seine aus dieser Fallstudie abge­lei­ teten Schlüsse zum Zusammenhang motivationaler und situativer Faktoren als Auslöser gewalt­ tätigen Verhaltens haben seitdem viele Anhänger gefunden, vgl. etwa Harald Welzer: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt a. M. 2006. Wie solche Ansätze auf den hier behandelten Untersuchungsgegenstand gewinnbringend angewandt werden können, ist nachzulesen bei Łukasz Lewicki: Przestępczość w Wojsku Polskim podczas wojny pols­ ko-bolszewickiej 2015, https://www.konflikty.pl/historia/1918-1939/przestepczosc-w-wojskupolskim-podczas-wojny-polsko-bolszewickiej/ (letzter Zugriff am 3. 4. 2023); Jerzy Borzęcki: German Anti-Semitism à la Polonaise. A Report on Poznanian Troops’ Abuse of Belarusian Jews in 1919. In: EEPS 26 (2012), S. 693–707; William W. Hagen: The Moral Economy of Popular ­Violence. The Pogrom in Lwów, November 1918. In: Robert Blobaum (Hg.): Antisemitism and its Opponents in Modern Poland. Ithaca 2005, S. 124–147. 52  Vgl. Victor Turner: The Ritual Process. Structure and Anti-Structure. Ithaca 1989. 53  Stathis N. Kalyvas: The Logic of Violence in Civil War. Cambridge 2006, S. 364–387; Zitat: S. 365 (Übersetzung durch den Verfasser). 54  Norman M. Naimark: The Killing Fields of the „East“. Three Hundred Years of Mass Killing in the Borderlands of Russia and Poland. In: Marija Wakounig/Wolfgang Müller/Michael Portmann (Hg.): Nation, Nationalitäten und Nationalismus im östlichen Europa. Wien 2010, S. 179– 200, hier: S. 179.

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somit gegenseitig. Die jeweilige nationale Regierung konnte dabei das gewalttätige Verhalten ihrer Vertreter vor Ort sanktionieren, stillschweigend dulden, gutheißen oder weiter antreiben. Diese wiederum konnten sich der Unterstützung des Staates versichern, ihn über Form und Ausmaß der lokalen Gewaltakte im Un­ klaren lassen oder diese im offenen Bruch staatlicher Vorgaben ausüben.

Gewalt nach 1918 im europäischen Kontext Die nach der Oktoberrevolution und dem Ende des Weltkriegs in Ostmittel- und Südosteuropa zu beobachtende Gewalt fand nicht völlig isoliert von der Außenwelt statt. Zwar ist der Blick auf die staatliche und die substaatliche Ebene ­erkenntnisfördernd, doch haben Robert Gerwarth und sein Mitherausgeber in ­ihrer Studie über politische Gewalt im Europa des 20. Jahrhunderts zu Recht da­ rauf hingewiesen, dass „die Betonung, die bei der Erklärung von Gewalt oft auf die Rolle nationaler politischer Kontexte oder stärker noch auf nationale Be­ sonderheiten gelegt wurde, die Untersuchung gemeinsamer europäischer Trends bei der Entstehung politischer Gewalt tendenziell verhindert“ habe.55 Seine instabile politische und wirtschaftliche Lage bescherte Ostmittel- und Südosteuropa am Ende des Ersten Weltkriegs internationale Aufmerksamkeit: Nach Margaret MacMillan „mussten die Friedensmacher von Paris Hunderte Kilo­meter weit ausgreifen, um einer im Umbruch befindlichen Welt mit wechselnden Bündnissen, Bürgerkriegen, Flüchtlingsströmen und Banditenunwesen, wo durch den Zusammenbruch alter Reiche Recht und Gesetz, Handel und verbindungen in Trümmern lagen, eine neue Ordnung auf­ Kommunikations­ zuzwingen“. Das Problem der einander bekämpfenden nationalen Bewegungen in Ostmittel- und Südosteuropa sowie die gewaltsame Abgrenzung ihrer Staaten bildeten ein Dauerthema bei den Friedensverhandlungen56 und die Erschütterungen der Russischen Revolution beeinträchtigten die Entwicklung der Region in der Folgezeit schwer.57 West und Ost trafen nicht nur buchstäblich in Form alliierter Interventionsarmeen und bolschewistischer Truppen in Murmansk, Archangelsk oder Wladiwostok aufeinander, sondern auch bei der von außen gesteuerten Friedensstiftung, in den Grenzziehungen und in den Stellvertreterkriegen in Ost­ mittel- und Südosteuropa, wo sie das revolutionäre und nationalistische Ringen um Eigenstaatlichkeit zu hemmen oder zu unterstützen suchten. Darüber hinaus entsandten die alliierten Mächte, allen voran Großbritannien und Frankreich, erfahrene Offiziere nach Ostmittel- und Südosteuropa, um über 55  Donald

Bloxham/Robert Gerwarth: Introduction. In: dies. (Hg.): Political Violence in Twen­ tieth-Century Europe. Cambridge 2011, S. 1–10, hier: S. 7 (Übersetzung durch den Verfasser). 56  MacMillan: Friedensmacher (wie Anm. 32), S. 283. 57  Vgl. Peter Holquist: Making War, Forging Revolution. Russia’s Continuum of Crisis, 1914– 1921. Cambridge, MA 2002; Christopher Read: War and Revolution in Russia, 1914–22. The ­Collapse of Tsarism and the Establishment of Soviet Power. Basingstoke 2013; Smele: „Russian“ Civil Wars (wie Anm. 18).

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die Geschehnissen in den Krisenregionen Berichte aus erster Hand zu erhalten und ihrer Stimme bei den jeweiligen Regierungen Gehör zu verschaffen. Im Zuge großer Hilfsprogramme, die zur Rettung der hungernden und notleidenden Bevölkerung Mittel- und Osteuropas eingerichtet wurden, reisten Tausende von Westeuropäern in diesen Teil des Kontinents und kommunizierten ihre Eindrücke in die Heimat. Die Konfliktparteien Ostmittel- und Südosteuropas ihrerseits suchten nach internationaler Unterstützung, indem sie mit einer Flut von Publikationen im Westen emsige Lobbyarbeit betrieben.58 Die sich aus all diesen Kommunikationssträngen formenden und nicht selten verzerrten Bilder der Bedingungen vor Ort beeinflussten wiederum die Entscheidungsträger in Paris, die sich bemühten, den Bolschewismus einzudämmen und zugleich durch die Etablierung demokratischer Nationalstaaten die Voraussetzungen für Stabilität in der Region zu schaffen. In den vergangenen zehn Jahren haben Robert Gerwarth und andere Historiker das weit über Ostmittel- und Südosteuropa hinausreichende Phänomen der paramilitärischen Gewalt nach dem Ersten Weltkrieg beleuchtet.59 Winston Churchill hatte 1919 im Hinblick auf die in diesen Regionen weiter andauernden Konflikte herablassend angemerkt: „Der Krieg der Giganten ist vorbei; die Kriege der Pygmäen haben begonnen.“60 Dabei wurde Irland in seinem Sezessionskampf von ganz ähnlichen Gewaltausbrüchen erschüttert wie etwa Oberschlesien.61 Wie eingangs erwähnt lässt sich die Nachkriegsgewalt in Ostmittel- und Südosteuropa also keinesfalls auf eine angebliche Rückständigkeit dieser Landstriche oder eine besondere Gewaltaffinität seiner Bewohner zurückführen. Die gewaltgeprägte Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas, das zwischen 1917 und 1921 der gefährlichste Teil des kriegsmüden und revolutionär erschütterten Kontinents war, ist vielmehr nicht nur ein integraler Bestandteil europäischer, sondern globaler Geschichte.

58  Für

Litauen vgl. Executive Committee of the Lithuanian National Councils (Hg.): Lithuania Against Poland. An Appeal for Justice. Washington 1919; The Lithuanian National Council (Hg.): Lithuania. Facts Supporting Her Claim for Reestablishment as an Independent Nation. Washington 1918; für die Ukraine vgl. Mykhalo Lozynsky/Petro Karmansky (Hg.): Krivava Knyha. Bd. 1: Materialy do polskoï invaziï na ukraïnski zemli Skhidnoï Halychyny rr. 1918/1919. Wien 1921. Vgl. auch Adam Koseski (Hg.): Polonia w walce o niepodleglość i granice Rzeczypospolitiej, 1914–1921. Warschau 1999; Dan Diner: Between Empire and Nation State. Outline for a European Contemporary History of the Jews, 1750–1950. In: Bartov/Weitz (Hg.): Shatterzone (wie Anm. 47), S. 61–80. 59  Vgl. Robert Gerwarth/Erez Manela (Hg.): Empires at War, 1911–1923. Oxford 2014. 60  Winston Churchill: Britain’s Foreign Policy. In: The Weekly Dispatch, 22. 6. 1919, S. 6 (Übersetzung durch den Verfasser). 61 Vgl. Tim Wilson: Frontiers of Violence. Conflict and Identity in Ulster and Upper Silesia 1918–1922. Oxford 2010; Julia Eichenberg: The Dark Side of Independence. Paramilitary Violence in Ireland and Poland after the First World War. In: CEH 19 (2010) 3, S. 231–248.

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Zusammenfassung und Ausblick Lange Zeit haben westliche Historiker den Waffenstillstand im November 1918 als Wendepunkt zwischen Krieg und Frieden betrachtet. Die Mittelmächte waren als Hauptgegner der Entente besiegt und ihre Imperien waren dabei, sich aufzu­ lösen. Doch in Russland kämpften nach wie vor revolutionäre und konterrevo­ lutionäre Kräfte gegeneinander, während westlich und südlich davon die Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen nationalen Staatskonzeptionen sowie ethnische Spannungen den Frieden in weite Ferne rücken ließen. Während internationale Delegationen aus der ganzen Welt nach Paris strömten, um die Friedensverträge auszuhandeln, kam der Kontinent einfach nicht zur Ruhe. Die neuen, teilweise noch unübersichtlichen Machtverhältnisse produzierten neue Täter und Opfer und bereiteten den Boden für neue Formen von Gewalt. „Einige Veteranen“, resümiert Peter Gatrell, „glaubten, sie hätten die Pflicht, ‚die Welt in neue Formen zu prügeln‘, auch wenn dies bedeutete, Nichtkombattanten niederzutrampeln. Aus diesem Grund und wegen des hohen Einsatzes, der durch die virulenten Ideologien des revolutionären Sozialismus und Nationalismus ins Spiel kam, nahmen die Konflikte häufig eine besonders brutale Form an, wobei die Zivilbevölkerung oft zu den Opfern zählte.“62 Die Kontinuität der Gewalt in Ostmitteleuropa über das Jahr 1918 hinaus gründete sich dabei auf zwei Prämissen: Zum einen radikalisierten neue Vorstellungen des Primats der Politik und der Ethnie die Auseinandersetzungen zwischen den Erben und den Verfechtern der Imperien. Zum anderen hatten die Verwüstungen des Kriegs, das Vakuum staatlicher Ordnung und die völlig unzulängliche Demobilisierung der Armeen des Großen Kriegs Möglichkeiten geschaffen, die nicht ungenutzt blieben. Ostmitteleuropa war auch nach den Waffenstillständen voller Waffen und Männer, die bereit waren, diese zu ihrer Verteidigung oder zur Verfolgung unterschiedlichster Ziele einzusetzen – von der nationalen Unabhängigkeit über den Klassenkampf bis hin zur persönlichen Bereicherung. Die Pazifizierung der Region, vor allem in der Peripherie der Kontaktzone zu Russland, durch nationalstaatliche und sowjetische Polizisten, Soldaten und Grenztruppen dauerte bis weit in die 1920er-Jahre hinein. Danach wendete sich die Gewalt dies- und jenseits der sowjetischen Westgrenze nach innen. Politisch erlebte Ostmitteleuropa auch nach Abschluss der Grenzkämpfe bewegte Zeiten: Bis Ende der 1920er-Jahre hatten sich nahezu alle seine zu Beginn weitgehend ­demokratisch verfassten Staaten in autoritäre Staaten gewandelt. Ethnische Spannungen zwischen der jeweiligen Titularnation und den zahlenmäßig starken Minder­heiten schufen zudem ein Klima der latenten Bedrohung. In der Sowjetunion richtete sich die Gewalt, die sich Anfang der 1930er-Jahre mit der Zwangskollektivierung verstärkte, ebenfalls gegen die eigene Bevölkerung und kostete Millionen Menschen das Leben.

62 

Gatrell: War (wie Anm. 8), S. 559 (Übersetzung durch den Verfasser).

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Abstract In Eastern Europe, World War I did not end with the armistices in the West on November 11, 1918. Rather, the region stretching from the Baltic to the Black Sea continued to be ravaged by various waves of violence into the early 1920s. Revolutions and state-building wars, military, paramilitary, and anti-Semitic violence prevented the inhabitants of these lands from finding peace and enjoying its fruits. The article compares the different forms of violence and contrasts the ­historiographical concept of the Russian Civil War with that of a Central Euro­ pean Civil War. While in the east of the region a social revolution unfolded, the western part saw national revolutions give rise to nation states. Since these were ethnically constituted, the violent excesses that accompanied these upheavals were often directed against ethnic minorities. At the local level, such attacks were often motivated by a mixture of different motives, with ideologies carrying the same weight as the satisfaction of base instincts.

Erik-Jan Zürcher Die Weltanschauung der nationalen Widerstands­ bewegung im Osmanischen Reich der Nachkriegszeit Kein Regimewechsel Will man die Bewegung, die nach dem Ersten Weltkrieg die politische Szenerie in den türkischen Gebieten des Osmanischen Reichs beherrschte, verstehen, ist als Erstes zu beachten, dass die Kontinuität des Osmanischen Reichs über das Ende des Ersten Weltkriegs hinweg eine Ausnahme darstellt.1 Im Gegensatz zu den ­anderen großen Imperien – Österreich-Ungarn, Russland und Deutschland –, die zwischen Februar 1917 und November 1918 zusammenbrachen, blieb das Osma­ nische Reich bis Ende 1922 bestehen. Während die Verträge von Brest-Litowsk, Versailles, St. Germain und Trianon von Vertretern der Nachfolgestaaten der be­ treffenden Reiche unterzeichnet wurden, unterschrieben den Vertrag von Sèvres Repräsentanten der osmanischen Regierung, auch wenn diese Regierung nur noch wenig reale Macht besaß. Die Kontinuität zwischen Kriegs- und Nachkriegszeit reichte jedoch über den Fortbestand der Monarchie hinaus. In den kontinentaleu­ ropäischen Reichen bewirkten der Zusammenbruch der Moral und die wirtschaft­ lichen Verwerfungen sowie die extreme Not der Bevölkerung den Sturz der ­Monarchie. Nach dem Scheitern von Großoffensiven, mit denen die feindlichen Fronten durchbrochen und ein entscheidender Sieg errungen werden sollte – wie der Brussilow-Offensive im Sommer 1916, der Schlacht von Caporetto im Ok­ tober 1917 und der Kaiserschlacht im März 1918 –, war dort der Siegesglaube ver­ flogen. Die Probleme der Kriegswirtschaft, die Inflation und insbesondere die schlechte Lebensmittelversorgung hatten vielerorts zu sozialen Unruhen geführt. Streiks und Hungerrevolten in Petrograd hatten im Frühjahr 1917 die erste russi­ sche Revolution ausgelöst, und die riesige Streikwelle in Österreich, Ungarn und Deutschland im Januar 1918 hatte gezeigt, wie groß die Unzufriedenheit der rung geworden war. Auch in den Streitkräften regte sich Protest: Im Bevölke­ 1  Die folgende Passage stützt sich auf Erik-Jan Zürcher: The Odd Man Out. Why Was there no Regime Change in the Ottoman Empire at the End of World War I? In: Riva Kastoryano (Hg.): Turkey between Nationalism and Globalisation. Abington 2013, S. 21–35. Der vorliegende ­Beitrag wurde von Klaus-Dieter Schmidt, dem ein ganz herzlicher Dank gebührt, aus dem Eng­ lischen ins Deutsche übersetzt. Von ihm stammen auch – sofern nicht anders angegeben – die Übersetzungen der Zitate.

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­ eptember 1917 mussten französische Truppen eine Meuterei bei den an der West­ S front kämpfenden russischen Divisionen niederschlagen, im Februar 1918 meu­ terte die österreichische Marine in Cattaro, und in Deutschland wurde das Ende des Kaiserreichs durch den Matrosenaufstand in Kiel eingeläutet, der am 28. Ok­ tober 1918 ausbrach und bald mit Massenstreiks in ganz Norddeutschland ver­ schmolz. Die bedeutende Rolle von sozialem Protest, insbesondere innerhalb der Arbeiterschaft, beim Sturz der kontinentaleuropäischen Reiche erklärt zum Teil auch, weshalb sozialdemokratische Parteien nach dem Zusammenbruch der Kriegsregime das Vakuum füllen konnten. In jedem dieser Reiche – außer dem Osmanischen – übernahmen sozialdemokratische Führer die Macht: Kerenski in Russland, Renner in Österreich, Ebert in Deutschland. Im Falle Ungarns nahm der Liberale Károlyi Sozialisten und Kommunisten in sein Kabinett auf. Dies konnte nur geschehen, weil es den sozialdemokratischen Parteien vor 1914 gelun­ gen war, eine Massenbasis und solide Organisationsstrukturen aufzubauen. Es gab sie bereits, und im Chaos der unmittelbaren Nachkriegszeit schienen sie die einzi­ gen zu sein, die in der Lage waren, so etwas wie Ordnung zu schaffen. All dies stand in scharfem Gegensatz zur Situation im Osmanischen Reich. Hunger, Inflation und der allgemeine Niedergang der Wirtschaft gehörten auch dort zum Bild. Die gestiegene Zahl an Deserteuren – 1917/18 über 400 000 – deu­ tete darauf hin, dass der Verfall der Moral im osmanischen Heer ebenso fortge­ schritten war wie in den deutschen, habsburgischen und russischen Streitkräften. Die im Land herrschende Lebensmittelknappheit und die hohe Inflation sind gut dokumentiert. Doch gab es im Osmanischen Reich weder Massenstreiks noch größere Meutereien bei den Streitkräften. Das Ausbleiben von Streiks lässt sich leicht erklären. Zwar existierte durchaus eine städtische Arbeiterklasse, aber die Industrialisierung befand sich noch in den Anfängen. Abgesehen von den mit dem Staat verknüpften Unternehmen, wie beispielsweise Rüstungsbetriebe, existierte kaum eine Großindustrie. Die städtische Wirtschaft im Osmanischen Reich war vielmehr von kleinen Familienbetrieben geprägt. Infolgedessen blieb die sozia­ listische Bewegung äußerst schwach, zumal die stärkste sozialistische Partei, die ­Armenische Revolutionäre Föderation, dem Völkermord an den Armeniern im Jahr 1915 zum Opfer gefallen war. Das Ausbleiben von Meutereien mochte damit zusammenhängen, dass die osmanische, aus Wehrpflichtigen bestehende Armee sich überwiegend aus Bauern zusammensetzte, die keinerlei Erfahrung mit „Ar­ beitskämpfen“ besaßen. Die Übernahme der Macht durch eine von Arbeiter­ protesten getragene sozialdemokratische oder sozialistische Opposition stand im Oktober 1918 nicht zur Debatte. Dies hatte zur Folge, dass das Kriegsregime die Macht nur sukzessive und nur teilweise abgab. Außerhalb der Hauptstadt Kons­ tantinopel geschah dies überhaupt nicht. Während des Kriegs herrschte im Osmanischen Reich die jungtürkische Partei des „Komitees für Einheit und Fortschritt“ (KEF), die im Januar 1913 durch ei­ nen Staatsstreich an die Macht gelangt war. Obwohl sie in der Wahl von 1914, die unter Kriegsrecht stattfand, die absolute Mehrheit im Parlament errungen hatte, regierte sie mit zeitlich befristeten Gesetzen, welche nachträglich vom Parlament

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abgesegnet wurden. Seit Kriegsausbruch war das Osmanische Reich in jeder ­ insicht ein Einparteienstaat, in dem sich das Militär unter Führung von Enver H Pascha und das Zentralkomitee des KEF unter Talât Bey (ab 1917: Talât Pascha) die Macht teilten. Der Zusammenbruch der bulgarischen Armee in Mazedonien, der das mit den Mittelmächten verbündete Bulgarien am 29. September 1918 dazu zwang, um Waffenstillstand zu ersuchen, brachte das KEF zu der Erkenntnis, dass der Krieg verloren war. Am 8. Oktober trat die jungtürkische Regierung zurück. Ihr folgte eine Woche später ein Kabinett unter Feldmarschall Ahmet İzzet Pascha. İzzet war kein Anhänger des KEF, besaß aber als hochangesehener Berufssoldat und Patriot dessen Vertrauen. Zudem erhielten mehrere Jungtürken Regierungsposten. Der am 31. Oktober geschlossene Waffenstillstand von Mudros wurde von Ver­ tretern dieser Regierung unterzeichnet. Am 5. November löste sich das „Komitee für Einheit und Fortschritt“ auf sei­ nem letzten Parteitag offiziell auf, um sich am 9. November als Erneuerungspartei (Teceddüd Fırkası) neu zu konstituieren. Wenige Tage zuvor, am 2. November, verließen Enver, Talât und andere Schlüsselfiguren, die das Osmanische Reich während des Kriegs geführt hatten, an Bord eines deutschen Torpedoboots heim­ lich das Land. Nach ihrer Flucht ersetzte der Sultan die Regierung İzzet Pascha durch ein überparteiliches Kabinett mit dem greisen Diplomaten Ahmet Tevfik Pascha an der Spitze. Diese Regierung blieb bis zum 4. März im Amt, als ein libe­ rales Kabinett unter Damad Ferit Pascha, dem Schwager des Sultans, an ihre Stelle trat. Der hier verwendete Begriff „liberal“ bedarf der Erläuterung. In den Jahren vor dem Machtantritt des KEF im Januar 1913 hatten sich die meisten anderen Strömungen der breiteren jungtürkischen Bewegung, die kaum mehr verband als ihre Gegnerschaft zum KEF, in der „Partei für Freiheit und Einigkeit“, die auch unter ihrem französischen Namen Entente Libérale bekannt war, zusammenge­ funden. Ihr ideologischer Zusammenhalt war gering, aber sie war im Allgemeinen weniger zentralistisch, staatsgläubig und nationalistisch als das KEF. Nach dem Staatsstreich von 1913 war diese Partei vom KEF-Regime unterdrückt worden, und viele ihrer führenden Vertreter waren ins Exil gegangen. Nun übernahmen diese Liberalen mit Unterstützung des Sultans die Macht im Land. Das bedeutete jedoch nicht, dass sie es auch kontrollierten. Anders als das KEF besaß die „Partei für Freiheit und Einigkeit“ weder eine Basisorganisation noch ein entsprechendes Netzwerk in den Provinzen. Nach fünf Jahren KEF-Diktatur und vier Jahren Krieg waren die Beamtenschaft und das Offizierskorps von KEF-Anhängern durchsetzt, und das Komitee war eng mit großstädtischen Wirtschaftsorganisatio­ nen und Berufsverbänden verbunden. Außerdem verfügte es über ein umfang­ reiches Netz an „Klubs“ in den Provinzzentren. Das KEF behielt also auch nach dem Krieg in den verbliebenen Regionen des Reichs die wichtigsten administrati­ ven und militärischen Strukturen in der Hand. Hinzu kam, dass die Militärführung, bevor sie das Land verließ, Vorbereitun­ gen für die Nachkriegszeit getroffen hatte. Schon im November 1918 waren in den Landesteilen, von denen man befürchtete, sie an die Siegermächte oder andere

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nicht-türkische Mächte zu verlieren – Thrakien und die Westküste, die von Grie­ chenland beansprucht wurden, sowie der Nordosten des Reichs, den die Arme­ nier beanspruchten –, regionale „Gesellschaften für die Verteidigung nationaler Rechte“ gegründet worden, wobei die Initiative jeweils von der örtlichen KEFOrganisation ausgegangen war. Neben dieser öffentlich sichtbaren hatte darüber hinaus noch eine andere Mobilisierung stattgefunden. Bevor Enver Pascha das Land verließ, hatte er das seit 1913 aufgebaute Netz von Milizen und paramilitäri­ schen Verbänden angewiesen, sich von Anatolien aus auf einen möglichen Wider­ standskampf gegen die Siegermächte und gegen die territorialen Ansprüche der Griechen und Armenier vorzubereiten, das heißt: Waffen und Munition einzu­ lagern und eine Fluchtroute für Jungtürken, die aus der Hauptstadt nach Anatoli­ en gelangen wollten, zu organisieren.2 Im Osmanischen Reich der unmittelbaren Nachkriegszeit versuchte also eine KEF-feindliche Regierung, ein Land in den Griff zu bekommen, dessen staatliche Institutionen weiterhin vom KEF kontrolliert wurden und dessen Bevölkerung in den ländlichen Gebieten von diesem bereits auf einen Widerstandskampf hin vor­ bereitet worden waren. Welcher Seite sich das osmanische Militär zuneige, kam in dieser Situation die ausschlaggebende Bedeutung zu. Das osmanische Heer war im Süden von den britischen Expeditionstruppen in Palästina und Mesopotamien besiegt worden, im Osten aber nach dem Zerfall der russischen Armee im Jahr 1918 siegreich gewesen. Es war zwar mit nicht einmal 100 000 Mann unter Waffen erheblich geschwächt, aber immer noch eine funktionierende Streitkraft als Ganzes mit intakter Befehlskette. So entstand etwa im Nachkriegsanatolien kein Gebiet mit regionalen Warlords, auch wenn dies theoretisch durchaus vor­ stellbar gewesen wäre. Indem das KEF das Militär auf seine Seite zog, erlangte es einen bedeutenden Vorteil. Offiziere hatten schon vor der Jungtürkischen Revolution von 1908, mit der die Verfassung von 1876 wieder in Kraft gesetzt wurde, das Rückgrat des KEF gebildet. Sie spielten in der Politik der Verfassungsära nach 1908 eine wichtige Rolle. Darüber hinaus führte die große Reorganisation, die Enver und seine deut­ schen Militärberater nach der traumatischen Niederlage in den Balkankriegen 1912/13 in Gang gesetzt hatten, zur Entlassung einer ganzen Generation älterer Offiziere und zur Beförderung vieler junger Offiziere mit Verbindungen zum KEF.3 Der Erste Weltkrieg beschleunigte das Beförderungstempo, sodass Ende 1918 die meisten Kommando- und Stabspositionen in Armeekorps, Divisionen und sogar auf Regimentsebene mit KEF-Anhängern besetzt waren. Als die (ehemaligen) KEF-Mitglieder Ende 1918 und Anfang 1919 den Widerstand zu organisieren be­ gannen, sorgten ihre Verbündeten im Kriegs- und Innenministerium dafür, dass Schlüsselpositionen in Anatolien mit zuverlässigen Offizieren besetzt wurden. 2  Erik-Jan Zürcher: The Unionist Factor. The Committee of Union and Progress in the Turkish National Movement (1905–1926). Leiden 1984, S. 80–88. 3  Edward J. Erickson: Ordered to Die. A History of the Ottoman Army in the First World War. Westport 2001, S. 9 f.

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Mustafa Kemal Pascha, der spätere Atatürk, ist ein gutes Beispiel dafür, aber ­ eineswegs das einzige. Er wurde in der Hauptstadt von KEF-Vertretern an­ k gesprochen, die herausfinden wollten, ob er bereit sei, eine führende Rolle im Wider­stand zu übernehmen. Als er positiv reagierte, betraute das KEF ihn mit der Führung des Kampfs, und das Kriegsministerium schuf für ihn in Ostanatolien einen Posten mit weitreichenden Vollmachten.4 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die Nachkriegssituation im Osmanischen Reich grundlegend von derjenigen in den anderen besiegten Reichen in Europa unterschied. Nicht nur überlebte die Monarchie, sondern das Militär­ regime behielt auch nach dem Krieg die politische Macht im Land. Aufgrund der geringen Industrialisierung entwickelte sich keine Revolution durch eine sozialis­ tische Massenbewegung, und die Liberalen waren zu schwach, um das Land oder auch nur die staatlichen Institutionen unter Kontrolle zu bekommen. So blieb ein Regimewechsel aus. Mitglieder der ehemaligen von Militärs dominierten Regie­ rung während des Kriegs reorganisierten sich und formulierten in der Nach­ kriegszeit neue politische Ziele.

Das Programm der Widerstandsbewegung Mit Unterstützung von Militär und Milizen organisierten die Jungtürken den Wi­ derstand gegen eine Nachkriegsordnung, die sich offensichtlich gegen osmanische Interessen wandte. Das bevorzugte Mittel ihres Widerstands waren „Kongresse“, das heißt: Zusammenkünfte, deren Veranstalter für sich beanspruchten, die Mehr­ heit der Bevölkerung der jeweiligen Region zu repräsentieren und in ihrem ­Namen zu sprechen. In Wirklichkeit war die behauptete Repräsentativität dieser Kongresse, die möglicherweise auf Vorbilder aus dem 19. und frühen 20. Jahrhun­ dert vom Balkan zurückgingen,5 eher fraglich. Es trafen sich dort in der Regel jungtürkische Parteiführer mit Angehörigen der örtlichen Eliten und religiösen Autoritäten. Zwischen Dezember 1918 und Oktober 1920 wurden 28 solcher ­regionalen Kongresse veranstaltet.6 Darüber hinaus fasste man die Kongresse ab September 1919 zu einer landesweiten Organisation zusammen, die „Gesellschaft für die Verteidigung der nationalen Rechte von Anatolien und Rumelien“ (Anadolu Rumeli Müdafaa-i Hukuk-u Milliye Cemiyeti). Aus den Verlautbarungen, Programmen und Proklamationen sowohl der regio­ nalen Vereinigungen als auch der nationalen Organisation erhält man ein klares Bild nicht nur ihrer Ziele, sondern auch des begrifflichen Rahmens, in dem sich 4 

Vgl. nur Bilge Criss: Istanbul under Allied Occupation 1918–1923. Leiden 1999, S. 98–105. Ähnlichkeiten mit der 1878 in Prizren gegründeten „Albanischen Liga“ sind besonders auffallend. Da die meisten dieser Bewegungen auf dem Westbalkan entstanden, war den Jung­ türken diese Tradition sicherlich bekannt. Vgl. Nathalie Clayer: Aux origins du nationalisme ­albanais. La naissance d’une nation majoritairement musulmane en Europe. Paris 2007, S. 245– 255. 6  Bülent Tanör: Türkiye’de Yerel Kongre İktidarları. Istanbul 1992. 5 Die

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ihr Denken bewegte. Dabei lassen sich vier Einflüsse feststellen: das Erbe des Osma­nischen Reichs, der muslimische Nationalismus, der „Wilsonian Moment“ (Erez Manela) und der Antiimperialismus. Diese Einflüsse waren nicht zu jedem Zeitpunkt gleich bedeutsam. Zudem sprach die nationale Widerstandsbewegung zwei unterschiedliche Zielgruppen gleichzeitig an: eine äußere – die internationale Öffentlichkeit und insbesondere die zur Friedenskonferenz in Paris versammelten Diplomaten – und eine innere, also eine kriegsmüde Bevölkerung, die für den Wi­ derstand mobilisiert werden musste. Zuweilen unterschieden sich dabei nicht nur die Zielgruppen, sondern auch die Argumente, mit denen sie gewonnen werden sollten.

Das Erbe des Osmanischen Reichs Die Jungtürken, die den Widerstand gegen die sich abzeichnende Nachkriegsord­ nung organisierten, waren sich darin einig, dass sie weiterhin den politischen Strukturen des Osmanischen Reichs angehören wollten. Die Verlautbarungen der verschiedenen Regionalkongresse waren in dieser Hinsicht eindeutig. Die erste dieser Bekanntmachungen war das Programm der „Gesellschaft für die Verteidi­ gung der nationalen Rechte von Thrakien und Paşaeli“ (Trakya Paşaeli Müdafaa-i Hukuk-u Milliye Cemiyeti), also derjenigen Gebiete, die den europäischen Teil des Reichs ausmachten. Der erste Paragraf des am 7. Dezember 1918 in den ­Zeitungen veröffentlichten Programms lautete: „Unter dem Namen ‚Osmanisches Komitee für die Verteidigung von Thrakien und Paşaeli‘ hat sich eine Gesellschaft gegründet mit dem Ziel, die administrativen Verbindungen und die Einheit Thra­ kiens mit dem Osmanischen Reich zu bewahren.“7 Acht Monate später, am 20. August 1919, bezeichnete sich ein weiterer Kon­ gress in einer Region, die drohte, an Griechenland übergeben zu werden, nämlich Alaşehir im westlichen Kleinasien, in einer Erklärung als „Kongress von Brüdern und Schwestern, die in vollkommener Treue zum Staub unter den Füßen des ver­ ehrten Kalifats und der Institutionen des erhabenen Sultanats stehen“. Außerdem wurde der Sultan demonstrativ als „unser gemeinsamer Vater“ (Ebb-i Müşrikimiz) angesprochen.8 Solche klaren Bekundungen der Treue zum Thron und des Wunsches, weiter­ hin dem Osmanischen Reich anzugehören, finden sich in allen Erklärungen der Regionalkongresse und auch in der Proklamation der ersten landesweiten Wider­ standsversammlung, des Kongresses von Sives vom September 1919. Am 11. Sep­ tember verkündete die auf diesem Kongress gegründete „Gesellschaft für die Ver­ teidigung der nationalen Rechte von Anatolien und Rumelien“, dass ihr Haupt­ bestreben darin bestehe, „die nationalen Kräfte zum Tragen zu bringen und den 7 

Tevfik Bıyıklıoğlu: Trakya’da Milli Mücadele. Bd. 1. Ankara 1955, S. 129. Muhittin Çarıklı: Balıkesir ve Aleşehir Kongreleri ve Hacim Muhittin Çarıklı’nın Kuvayı Milliye Hatıraları (1919–1920). Ankara 1967, S. 211. 8 Hacim

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nationalen Willen an oberste Stelle zu setzen, um die Einheit der osmanischen Gemeinschaft und unsere nationale Unabhängigkeit sowie die Sicherheit der er­ habenen Institutionen des Kalifats und Sultanats zu bewahren“.9 Die im Entstehen begriffene Bewegung, die von Jungtürken organisiert und an­ geführt wurde, welche in den vorausgegangenen 15 Jahren ihre Karrieren fast aus­ nahmslos als Beamte oder Offiziere im Dienst des osmanischen Staates gemacht hatten, verstand sich also selbst als eine Bewegung zur Erhaltung der Reste des Osmanischen Reichs. Dies ist ein wichtiger Punkt. Da die neue türkische Repu­ blik im Oktober 1923 aus der nationalen Widerstandsbewegung entstand, neigt die internationale wie die türkische Geschichtsschreibung dazu, diese Bewegung als eine Art Vorstufe zur Republik und daher als revolutionär zu betrachten – was sie nicht war. Anders als etwa die Deutschösterreicher – die die Idee einer Fort­ führung der Habsburgermonarchie aufgaben, obwohl sie in ihrem Reichsteil die vorherrschende Volksgruppe gebildet hatten, ihre deutsche Identität hervorkehr­ ten und im März 1919 in Gestalt der Nationalversammlung mit überwältigender Mehrheit für die Vereinigung mit dem Deutschen Reich stimmten – trat die osma­ nische Widerstandsbewegung, die überwiegend aus Türken bestand, welche sich ebenfalls als „dominantes Volk“ (millet-i hakime) betrachteten, nicht für die Ab­ kehr von der Struktur des Osmanischen Reichs ein. Inwieweit diese Einstellung der Notwendigkeit geschuldet war, eine konserva­ tive Bevölkerung zu mobilisieren, in der die Treue zum Kalifat tief verwurzelt war, bleibt ebenso offen wie die Frage, ob eine solche Haltung tatsächliche die Auffassung der jungtürkisch-nationalistischen Führung widerspiegelte. Mustafa Kemal behauptete später Ersteres,10 aber einen zeitgenössischen Beleg dafür gibt es nicht.

Muslimischer Nationalismus Die Dokumente der Widerstandsbewegung sind voller Bezüge auf die „Nation“ (millet). Aber wer gehörte nach ihrer Vorstellung zu dieser Nation? Sowohl die Dokumente, Programme und Proklamationen der frühen Regionalkongresse als auch die Namen der auf ihnen gegründeten Organisationen bieten dafür einen klaren Anhaltspunkt. Die erste dieser Vereinigungen, die am 5. November 1918 in Kars – im kurz zuvor zurückeroberten Nordosten des Landes – ins Leben geru­ fen wurde, nannte sich „Nationaler Muslimischer Rat“ und bezeichnete es als ihr Ziel, die „Zersplitterung der im Kaukasus lebenden muslimischen Bevölkerung“ zu verhindern.11 İğdemir: Sivas Kongresi Tutanakları. Ankara 1969, S. 113. Kemal Atatürk: Nutuk. Bd. 1: 1919–1920. Istanbul 1967, S. 16. 11  Erik-Jan Zürcher: Young Turks, Ottoman Muslims and Turkish Nationalists. Identity Politics 1908–1938. In: Kemal H. Karpat (Hg.): Ottoman Past and Today’s Turkey. Leiden 2000, S. 150– 179, hier: S. 163.  9 Uluğ 10 

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Die wichtigste der im Osten gegründeten Organisationen war die „Gesellschaft für die Verteidigung der nationalen Rechte der östlichen Provinzen“, die im Juli 1919 einen Kongress abhielt, der für sich beanspruchte, den gesamten Osten zu repräsentieren und der am elften Jahrestag der Verfassungsrevolution von 1908 eröffnet wurde. Im ersten Absatz der Statuten der Gesellschaft wurde festgestellt, dass ihr Ziel darin bestehe, „die historischen nationalen Rechte der muslimischen Bevölkerung zu verteidigen“.12 Die Organisation spreche für „alle islamischen Elemente der Bevölkerung“ und betrachte „alle muslimischen Landsleute“ als ­natürliche Mitglieder. Solche Feststellungen finden sich in den Dokumenten sämt­ licher Regionalgesellschaften und -kongresse. Der bereits erwähnte Kongress von Alaşehir bezeichnete „unsere geliebten türkischen und muslimischen Landsleute“ als seine Zielgruppe und sprach von „unserem türkischen und muslimischen Vater­land und unserem heiligen, von dem Blut, das für unsere Religion geopfert wurde, rot gefärbten Boden“.13 Auch auf dem ersten landesweiten Kongress in Sivas waren „Nation“ und „na­ tional“ die zentralen Begriffe. In seiner viertelstündigen Eröffnungsrede benutzte Mustafa Kemal sie nicht weniger als 41-mal. Die Gemeinschaft, die man repräsen­ tierte und an die man sich wandte, war diejenige der osmanischen Muslime. Darü­ ber hinaus wurde deutlich gemacht, wer die Hauptfeinde waren: die rumluk und die ermenilik. Beide Begriffe sind schwer zu übersetzen. Als rum wurden die grie­ chisch-orthodoxen Bürger des Osmanischen Reichs bezeichnet, im Unterschied zu den Hellenen, die yunanlı genannt wurden. Ermeni meinte „Armenier“. Das Suffix -luk beziehungsweise -lik machte daraus Sammelbegriffe, sodass man ­rumluk annäherungsweise mit „Griechisch-orthodox-Sein“ und ermenilik mit „Armenisch-Sein“ übersetzen kann. Beide Begriffe verwiesen auf griechische be­ ziehungsweise armenische Ansprüche auf osmanisches Territorium. Dieser Umstand ist von grundlegender Bedeutung, wenn man den Nationalis­ mus verstehen will, von dem die Widerstandsbewegung im Osmanischen Reich nach dem Ersten Weltkrieg angetrieben wurde. Aus der Religionszugehörigkeit ein ethnisches Merkmal zu machen und daraus einen politischen Nationalismus zu begründen, war für die Nationalismen auf dem Balkan seit dem griechischen Aufstand und insbesondere seit dem Beginn der Agitation für ein bulgarisches Exarchat in den 1850er-Jahren typisch, und es gehörte zur Grundüberzeugung ­aller Jungtürken. Das „Komitee für Einheit und Fortschritt“ stellte von seiner Gründung im Jahr 1889 an eine Bewegung osmanischer Muslime dar, deren Hauptziel darin bestand, den osmanischen Staat zu stärken. Nach Ansicht seiner Anhänger würde die Einführung eines parlamentarischen Verfassungssystems im Osmanischen Reich zum einen all die verschiedenen ethnischen und religiösen Gemeinschaften in loyale Staatsbürger verwandeln, die sich um die Idee der osma­ nischen Bürgerschaft scharen würden. Zum anderen würde sie europäische Inter­ ventionen zum Schutz der christlichen Minderheiten verhindern. 12 

13 

Ebd., S. 164. Çarıklı: Balıkesir (wie Anm. 8), S. 211.

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Die 1906 in Thessaloniki gegründete jungtürkische „Osmanische Freiheitsge­ sellschaft“, die die Verfassungsrevolution von 1908 ins Werk setzte, war im Grun­ de zwar eine unabhängige Organisation, schloss sich aber im September 1907 mit dem älteren KEF zusammen. Wie dieses war sie eine fast ausschließlich muslimi­ sche Vereinigung, die jedoch nicht nur vom allgemeinen Wunsch angetrieben wurde, das Osmanische Reich zu stärken, sondern auch von der Sorge über die Zukunft des osmanischen Makedoniens nach der Umsetzung des von den europä­ ischen Mächten im Jahr 1904 aufgezwungenen Reformprogramms. Ähnlich wie die älteren Jungtürken sah diese jüngere Generation im parlamentarischen Verfas­ sungssystem die beste Garantie für den Fortbestand des Reichs. Der Balkankrieg von 1912/13, in dem das Osmanische Reich durch den Über­ raschungsangriff eines Bündnisses der christlichen Balkanstaaten fast sämtliche europäischen Besitzungen verlor, setzte dieser Hoffnung ein Ende. Die Niederlage wirkte als traumatisches Ereignis, nicht nur weil bis zu 400 000 Muslime aus den europäischen Provinzen vertrieben wurden und im Reichsgebiet neu angesiedelt werden mussten, sondern auch weil die Mehrheit der Jungtürken aus Makedonien stammte. Ab 1912 bildete sich daher ein stark antichristlicher osmanisch-muslimi­ scher Nationalismus heraus, mit Anklängen von Groll und Rachsucht sowie starken an Thomas Hobbes und sozialdarwinistischen Elementen orientierten ­ Leitmotiven, in deren Lichte die Weltgeschichte als Überlebenskampf zwischen Nationen erschien.14 In der Phase unmittelbar nach dem Balkankrieg richtete sich dieser Nationalismus vorwiegend gegen Bulgaren und Griechen, was im Juni 1914 zur Vertreibung von 120 000 Griechen von der Westküste Kleinasiens führte – eine Aktion, die hinter den Kulissen vom KEF gesteuert wurde. 1915/16 folgten dann die Deportation und Massentötung von Armeniern. Unter den Nachkriegsbedingungen gab es im KEF und in seiner Anhänger­ schaft viele, die zu Recht Vergeltung fürchteten. Schon im Mai 1915 hatten die Entente-Mächte verkündet, dass sie die Verantwortlichen für die Massaker an den Armeniern persönlich zur Rechenschaft ziehen würden. Zudem gab es über die am Völkermord unmittelbar Beteiligten hinaus Zehntausende, die von der Um­ verteilung griechischen und armenischen Eigentums – von Land, Häusern, Ge­ schäften und Unternehmen – an Muslime profitiert hatten. Der Vertrag von ­Sèvres von 1920 sollte schließlich die Restitution dieses Besitzes verlangen. Neben den Tätern und unmittelbaren Nutznießern existierte darüber hinaus noch ein weit größerer Kreis von Menschen, die sich der Geschehnisse vollauf bewusst waren. 1918 drehte sich die Definition des „Wir“ und „Sie“, der Eigenund der Fremdgruppe, fast nur noch um die Religionszugehörigkeit, die zum wichtigsten ethnischen Merkmal geworden war. Mustafa Kemal bekräftigte diese Vorstellung einer ausschließlich aus osmanischen Muslimen bestehenden Nation indirekt, als er im Dezember 1919 in der ersten Rede nach seiner Rückkehr nach Ankara die Formulierung „wir und das nichtmuslimische Element, das unter uns 14 Mustafa

Aksakal: The Ottoman Road to War in 1914. The Ottoman Empire and the First World War. Cambridge 2008, S. 22–58.

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lebt“ benutzte und feststellte, „unsere Nation“ habe „den Nichtmuslimen seit der Eroberung von Konstantinopel stets jede Freiheit gewährt“.15 Im zeitgenössischen Diskurs tauchten regelmäßig Behauptungen wie die auf, dass rum und ermeni in der Vergangenheit harmonisch mit den Muslimen zusam­ mengelebt, sich aber von fremden Mächten, insbesondere den Briten, auf Abwege hätten führen lassen und zu Verrätern geworden seien. In der Situation nach dem Ersten Weltkrieg wurden Armenier und Griechisch-Orthodoxe als Aggressoren betrachtet, die unschuldige Muslime angriffen, vor allem im Osten, insbesondere in der neu gegründeten Republik Armenien sowie im Pontos, der Schwarzmeer­ region, wo 1919/20 heftige und außerordentlich grausame Kämpfe zwischen Miliz­banden tobten.

Der Wilsonian Moment Das neben dem Reichsgedanken und dem muslimischen Nationalismus dritte wichtige Element, das aus dem Diskurs der kemalistischen Widerstandsbewegung hervorstach, war der Bezug auf Wilsons „Vierzehn Punkte“. Wie an vielen anderen Orten16 hatte Wilsons Vierzehn-Punkte-Programm auch in den Restgebieten des Osmanischen Reichs tiefen Eindruck gemacht. Der Ge­ danke, dass der Frieden auf einer gerechten, moralischen Regelung und dem Prin­ zip der Selbstbestimmung beruhen sollte, fand hier wie auch weltweit ein großes Echo. Osmanische Türken fühlten sich besonders durch den zwölften Punkt von Wilsons Programm angesprochen: „Den türkischen Teilen des gegenwärtigen ­Osmanischen Reichs sollte unbedingt Selbständigkeit gesichert werden. Aber den anderen Nationalitäten, die jetzt unter türkischer Herrschaft stehen, sollte völlige Sicherheit des Lebens und ganz ungestörte Gelegenheit zu selbständiger Entwick­ lung gesichert werden; die Dardanellen sollten als freie Durchfahrt den Schiffen und dem Handel aller Nationen unter völkerrechtlichen Bürgschaften dauernd geöffnet werden.“17 Daraus schöpften die Türken die Hoffnung, dass ein Vergeltungsfrieden ver­ mieden werden könne. In der osmanischen Hauptstadt wurde sogar eine „Liga für die Prinzipien Wilsons“ gegründet und die Idee eines amerikanischen Man­ dats fand innerhalb der osmanischen Intelligenz viel Anklang. 1927 sollte Mustafa Kemal Pascha, inzwischen Präsident der Republik Türkei, die Verfechter dieser Idee als naiv kritisieren und ihnen mangelndes Vertrauen in die türkische Nation nachsagen – eine Einschätzung, die von der späteren türkischen Geschichtsschrei­

15 

Zürcher: Young Turks (wie Anm. 11), S. 168. Erez Manela: The Wilsonian Moment. The International Origins of Anti-Colonial Na­ tionalism. Oxford 2007. 17  Woodrow Wilson: Ansprache an den Kongress vom 8. Januar 1918. In: ders.: Das staatsmän­ nische Werk des Präsidenten in seinen Reden. Hg. von Georg Ahrens/Carl Brinkmann. Berlin 1919, S. 219–226, hier: S. 224. 16  Vgl.

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bung im Allgemeinen übernommen wurde. Als Wilsons Abgesandter, General James Harbord, in seinem Bericht vom Oktober 1919 ein amerikanisches Mandat für Anatolien empfahl, zeigte sich aber auch Mustafa Kemal gegenüber dem Ge­ neral durchaus interessiert. In einer Erklärung über den Charakter und die Ziele der nationalen Widerstandsbewegung, die er Harbord schickte, deutete er seine Bereitschaft an, bei der Entwicklung des Landes amerikanische Hilfe anzuneh­ men. Die Dokumente sowohl der regionalen Zusammenkünfte als auch des nationa­ len Kongresses in Sivas waren voller direkter und indirekter Bezüge auf Wilsons „Vierzehn Punkte“. Im Programm der „Gesellschaft für die Verteidigung der nationalen Rechte von Thrakien und Paşaeli“ vom 7. Dezember 1918 hieß es: ­ „Zweck der Gesellschaft ist es, auf der Grundlage der Prinzipien von Wilson, dem Gründer des Ideals des Völkerbundes, das Selbstbestimmungsrecht und die Ein­ heit der Nation zu bewahren und zu verteidigen (innerhalb der Grenzen des Rechts).“18 Und kurz vor dem Kongress von Erzurum im Juli 1919 stellte die „Gesellschaft für die Verteidigung der nationalen Rechte der östlichen Provinzen“ in einer Erklärung fest, die „Stimme der Wahrheit, die sich auf der anderen Seite des [atlantischen, Anm. des Verfassers] Ozeans erhoben“ habe, werde „niemals das Recht irgendeiner anderen Nation als der der Türken, über diese Lande zu herrschen, anerkennen“.19 Schließlich bezog sich auch der Kongress von Sivas auf Wilsons Programm. Im achten Artikel seiner Proklamation hieß es: „In dieser his­ torischen Ära, in der die Nationen ihr Schicksal selbst bestimmen, ist es zwingend erforderlich, dass unsere Zentralregierung auf dem Volkswillen beruht.“20 Natürlich machte es die Behauptung, dass all diese Gesellschaften und Kon­ gresse den Volkswillen oder den Willen der Mehrheit repräsentierten, nötig, wei­ ter an der Aussage festzuhalten, Muslime und insbesondere Türken würden die Mehrheit in dieser Region stellen. Immerhin bezog sich Wilsons zwölfter Punkt auf die „türkischen Teile“ des Reichs. Da die griechischen und armenischen An­ sprüche zutreffenderweise darauf beruhten, dass die christliche Bevölkerung der umstrittenen Gebiete vor dem Beginn des Kriegs weit größer gewesen war als nach dessen Ende, musste die Behauptung der Kongresse in die Vergangenheit projiziert werden. Entsprechend hieß es in den Erklärungen sämtlicher Kongres­ se, dass Muslime und Türken seit unvordenklichen Zeiten dort die Mehrheit bil­ den würden. Die kemalistischen Nationalisten waren sich wohl bewusst, dass Wilsons Selbstbestimmungsprinzip für Nationen galt, und nicht einfach für Völker. Um sich aber als Nation, die sich selbst regieren konnte, oder auch nur als ein Völker­ bundmandat der A-Kategorie zu qualifizieren, musste ein Volk einen bestimmten Entwicklungsstand von Staatlichkeit und Regierung aufweisen. Deshalb verwie­ sen sowohl die Resolutionen des Kongresses von Erzurum als auch das Memo­ 18 Bıyıklıoğlu:

Trakya (wie Anm. 7), S. 129. Cevat Dursunoğlu: Milli Mücadelede Erzurum. Ankara 1946, S. 160. 20  İğdemir: Sivas (wie Anm. 9), S. 114. 19 

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randum, das Mustafa Kemal General Harbord zukommen ließ, auf die lange ­Tradition osmanischer Regierungskunst: „Das türkische Volk besitzt ein mehr als zehn Jahrhunderte altes Existenzrecht in diesen Gebieten. Dies wird durch den Fortbestand zahlloser Relikte der Vergangenheit belegt. Was den osmanischen Staat betrifft, so reicht er sieben Jahrhunderte zurück und kann sich einer ruhm­ reichen Vergangenheit und Geschichte rühmen. Wir sind ein Volk, dessen Macht und Hoheit von der Welt auf drei solchen Kontinenten wie Asien, Europa und Afrika anerkannt wurden. Unsere Krieger und Kaufleute befuhren die Ozeane und trugen unsere Fahne bis nach Indien. Unsere Fähigkeiten werden durch die Macht bewiesen, die wir einst ausübten und die in alle Welt reichte.“21 Das Programm des Kongresses von Sivas im September 1919 bildete später die Grundlage des Programms der nationalen Widerstandsbewegung. Es wurde im Januar 1920 vom letzten osmanischen Parlament als „Nationaler Pakt“ gebilligt. In dieser Erklärung beanspruchten die Nationalisten nicht nur die fortdauernde Unabhängigkeit und Einheit der osmanischen Gebiete mit einer muslimischen Mehrheit innerhalb der Waffenstillstandslinien, was sich nach ihrer Ansicht auf alle diese Gebiete bezog. Sie verlangten darüber hinaus auch eine Volksabstim­ mung in den besetzten arabischen Gebieten, damit deren Bewohner über die Zu­ gehörigkeit der Territorien selbst entscheiden könnten – was wiederum ein klarer Bezug auf die Prinzipien des amerikanischen Präsidenten darstellte. Hier müssen zwei weitere Anmerkungen zu den Resolutionen von Sivas und dem auf ihnen beruhenden „Nationalen Pakt“ angefügt werden: Erstens wurde die Existenz der Kurden im Osten ausdrücklich anerkannt, gleichzeitig aber betont, dass Türken und Kurden aufgrund ihrer historischen und kulturellen ­ ­Verbindungen sowie ihrer gemeinsamen Ziele eine Nation bildeten. Zweitens be­ anspruchte der nationalistische Widerstand zwar die Unabhängigkeit für die osmanisch-muslimische Mehrheit „innerhalb und außerhalb der Waffenstill­ ­ standslinien“, bestritt aber nicht die Gültigkeit des Waffenstillstands und dessen Regelungen. Auf osmanischer Seite war der Waffenstillstand von einer Delegation unter Leitung des Marineministers Hüseyin Rauf Bey (Orbay) geschlossen wor­ den. Da Rauf nach 1924 zu einem der wichtigsten Rivalen Mustafa Kemals wurde, ließ dieser Raufs Rolle bei den Verhandlungen von Mudros in seiner großen Erin­ nerungsrede vom Oktober 1927, der Nutuk, in negativem Licht erscheinen und bezichtigte ihn des Verrats. Die türkische Geschichtsschreibung hat diese Sicht­ weise im Allgemeinen übernommen. Der Waffenstillstand von Mudros wird als Tiefpunkt der Nachkriegsära betrachtet und demjenigen von Mudanya im Jahr 1922 gegenübergestellt, der den Sieg der Nationalisten besiegelte. Die Belege aus dem Jahr 1919 zeigen indes, dass die zeitgenössische Perspektive anders aus­ sah, denn die Kemalisten akzeptierten den Vertrag, der von der Bevölkerung mit Erleichterung aufgenommen wurde, und legten ihrem Programm die Waffenstill­ 21 James Harbord: Conditions in the Near East. Report of the American Military Mission to Armenia (October 1919), Exhibit C, http://www.armenianhouse.org/harbord/conditions-neareast.htm (letzter Zugriff am 19. 1. 2023).

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standslinien zugrunde. Was sie empörte, waren nicht die Waffenstillstandsbestim­ mungen selbst, sondern deren Verletzung durch die Briten – etwa durch die Be­ setzung von İskenderun und Mosul sowie dadurch, dass diese den Griechen die Besetzung von Izmir gestattet hatten.22

Antiimperialismus Das vierte Element, das neben dem Erbe des Reichs, dem muslimischem Nationa­ lismus und dem Selbstbestimmungsprinzip zumindest in einigen der kemalisti­ schen Verlautbarungen aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg hervorstach, war der Antiimperialismus. Zu ersten Nachkriegskontakten zwischen Jungtürken und Bolschewiken kam es in Berlin, wo sich Enver Pascha im selbstgewählten Exil aufhielt. Auf Anregung deutscher rechter Kreise und insbesondere des neuen Chefs des Truppenamts, General von Seeckt, Envers altem Generalstabschef von 1917/18, sowie seines guten Freundes Hans Humann, der jetzt für den Kohleund Stahlmagnaten Hugo Stinnes arbeitete, nahm Envers Kontakt zu Karl Radek auf, der damals in Berlin im Gefängnis saß und eine Verbindung zur Moskauer Führung herstellen sollte. Radek scheint die Idee der Zusammenarbeit unter der Bedingung gutgeheißen zu haben, dass die Jungtürken zusagten, den antiimperia­ listischen Kampf in der muslimischen Welt zu unterstützen.23 1919/20 führten untergetauchte jungtürkische Aktivisten in Konstantinopel Gespräche mit Agenten der Bolschewiken, während die anatolische Widerstands­ bewegung im Kaukasus Verbindung zur Roten Armee aufnahm und Abgesandte nach Moskau schickte. Im Lauf der Zeit mündeten diese vielfältigen Kontakte in eine erfolgreiche pragmatische Zusammenarbeit zwischen den Bolschewiken und der osmanischen Widerstandsbewegung, die im März 1921 im Abschluss des Moskauer Vertrags kulminierte, durch den die Osmanen jeden Anspruch auf Transkaukasien aufgaben. Im Gegenzug erhielten sie große Mengen an Gold, Waffen und Munition. Über diese praktische Zusammenarbeit hinaus, die auf dem Grundsatz vom „Feind meines Feindes“ beruhte, fand in Teilen der Widerstands­ bewegung aber auch die Idee einer antiimperialistischen Weltrevolution einen ge­ wissen Anklang, die die muslimischen Völker von europäischer Kolonialherr­ schaft befreien würde. Der linke Flügel der Bewegung machte sich 1920/21, als diese noch darum kämpfte, die unbesetzten Teile des Landes unter Kontrolle zu bekommen, wiederholt bemerkbar. 22 

Erik-Jan Zürcher: The Ottoman Empire and the Armistice of Mudros. In: Hugh Cecil/Peter H. Liddle (Hg.): At the Eleventh Hour. Reflections, Hopes and Anxieties at the Closing of the Great War, 1918. London 1998, S. 266–275. 23  Zu Envers komplexen Verhandlungen mit den Bolschewiken und den türkischen Nationalisten vgl. Masayuki Yamauchi: The Green Crescent under the Red Star. Enver Pasha in Soviet Russia 1919–1922. Tokio 1991; zu den Beziehungen zu früheren deutschen „Asienkämpfern“ wie Seeckt und Humann vgl. Jürgen Gottschlich: Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Ver­ nichtung der Armenier. Berlin 2015, S. 170–172.

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Enver nahm als Vertreter der „revolutionären Muslime Nordafrikas“ an dem von den Bolschewiken im September 1920 in Baku abgehaltenen „Kongress der Völker des Ostens“ teil und verfasste anschließend ein politisches Programm mit dem Titel „Mesai“ („Arbeit“), das sich wahrscheinlich an die linken Elemente des nationalistischen Widerstands in Anatolien richtete. Es beinhaltete eine Mischung aus islamistischen, sozialistischen und korporatistischen Ideen und übernahm zwar die marxistische Perspektive auf die Geschichte als einer Abfolge von Klas­ senkämpfen, lehnte den Kommunismus aber als Modell für die vorindustriellen Gesellschaften Asiens ab. Enver wusste von der linken Strömung in der nationalen Bewegung, da er mit einigen ihrer Führer in Kontakt stand. Sie hatten sich im Mai 1920 zunächst als „Grüne Armee“ organisiert und dann zwei Monate später die „Volksfraktion“ ge­ gründet, die sich aus Mitgliedern des Führungsgremiums des Widerstands zusam­ mensetzte, der Großen Nationalversammlung in Ankara. In den Debatten der Versammlung, insbesondere in denjenigen über das „Gesetz über die grundle­ gende Organisation“, mit dem die Verwaltung Anatoliens nach der britischen ­Besetzung der Hauptstadt Konstantinopel geregelt werden sollte, setzten sich ­diese linken Strömungen sowohl für demokratischere Strukturen als auch für weitreichende soziale Reformen ein. Mustafa Kemal schätzte die „Volksfraktion“, vor allem wegen ihrer Verbindun­ gen zu Enver und den Bolschewiken als bedrohlich ein und ließe ihre Führer zur Gründung einer offiziell anerkannten Kommunistischen Partei der Türkei ermun­ tern. Um die neue Partei fest im Griff zu behalten, brachte er einige seiner Anhän­ ger aus der Armee dazu, in sie einzutreten. Die echten Linken ließen sich jedoch nicht täuschen und gründeten, anstatt sich dieser falschen kommunistischen Partei anzuschließen, die „Partei der Volkssozialisten“. Angesichts der Vorbereitungen der griechischen Armee für den Angriff auf die Nationalisten hielt Mustafa Kemal es für nötig, allein die Beziehungen zu den Bolschewiken zu kontrollieren. Im Januar 1921 wurde die „Partei der Volkssozia­ listen“ aufgelöst, einige ihrer Führen kamen vor Gericht, und eine Delegation tür­ kischer Bolschewiken, die über Baku eingereist war, wurde zurückgeschickt und von Kemals Agenten auf dem Schwarzen Meer ertränkt. Das letzte Aufbäumen der Linken hatte wiederum mit Enver Pascha zu tun. Nach dem Kongress in Baku war er nach Berlin zurückgekehrt, wo er den „Allge­ meinen Bund revolutionärer Gesellschaften der islamischen Welt“, dem vor allem jetzt in Deutschland lebende ehemalige osmanische Agenten angehörten, und ­später einen türkischen Ableger, die „Volkssowjetpartei“, gründete. Von Juli bis September 1921 hielt er sich in Batumi auf, nahe der türkischen Grenze, und ­wartete auf eine Gelegenheit, nach Anatolien zu gelangen und die Führung der Widerstandsbewegung zu übernehmen. Vom 5. bis 8. September veranstaltete er und seine Partei in Batumi einen Kongress, interessanterweise jedoch nicht unter ihrem eigenen Namen, sondern als wiederbelebtes „Komitee für Einheit und Fortschritt“. Das auf dem Kongress beschlossene Programm war gleichwohl ­dasjenige der „Volkssowjetpartei“.

Die Weltanschauung der nationalen Widerstandsbewegung im Osmanischen Reich

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Envers große Gelegenheit sollte nie eintreten. Im September 1921 schlugen Mustafa Kemals Verbände die griechischen Invasionstruppen zurück, wodurch Kemals Stellung als Führer der Bewegung unantastbar wurde. Er unterhielt zwar weiterhin ausgezeichnete Beziehungen zu den Bolschewiken, unterdrückte­ ­gleichzeitig aber jede linke Strömung innerhalb der anatolischen Widerstands­ bewegung. Dennoch gab es, wie dieser kurze Überblick zeigt, während des Jahres 1920 vorüber­gehend einen aktiven linken Flügel der Widerstandsbewegung, der in ge­ wissem Maß von der bolschewistischen Revolution inspiriert war. Dieser agierte mittels kurzlebiger Parteien, hielt eigene Kongresse ab, druckte Zeitungen und veröffentlichte Programme. Bis auf eine Handvoll überzeugter türkischer Bol­ schewiken, die überwiegend in Russland und Transkaukasien agierten, waren die­ se Gruppen jedoch keine Anhänger des Kommunismus oder auch nur des Sozia­ lismus. Wie die drei überlieferten Parteiprogramme belegen, fühlten sie sich vor allem von der Ablehnung des Kapitalismus und Imperialismus sowie von der Idee der sozialen Gleichheit angezogen. So hieß es im vierten Artikel des Programms der „Volkssowjetpartei“: „Wo immer Anstrengungen unternommen werden, die als Ziel die Beseitigung der Geißel des Imperialismus auf der ganzen Welt verkün­ den, wird es das Bestreben der Partei sein, diese Anstrengungen mit ihrer Kriegs­ politik und ihrer Außenpolitik bedingungslos zu unterstützen.“24 In Artikel 5 des Programms wurde darüber hinaus ein Kapitalismus verdammt, „der eine Gestalt angenommen hat, in der er den menschlichen Geist und die menschliche Kultur abtöten und die Menschheit für immer gefangen halten wird, damit eine kleine Klasse ihren Nutzen aus den Profiten des Kapitalismus ziehen kann“, und Artikel 6 des Programms der „Volksfraktion“ lautete: „Die Fraktion betrachtet die äußeren Schulden und ausländischen Privilegien, die das Ergebnis der Falschheitsproduktion der Kapitalisten und die Mittel der Einmischung und Tyrannei der Imperialisten sind, als ungerechte und unterdrückerische Zwangs­ maßnahmen auf Kosten des unschuldigen Volkes.“25 Außerdem enthielten die linken Programme, insbesondere dasjenige der „Volksfraktion“, einen deutlichen islamischen Beiklang dadurch, dass der Islam des Propheten Mohammed und seiner Nachfolger mit Gerechtigkeit, Solidarität und Gleichheit identifiziert wurde. Interessanterweise wurde in keinem Doku­ ment der Linken eine republikanische Staatsform gefordert, während manche Ma­ nifeste, wie Envers „Arbeits“-Programm und das Programm der „Volkssowjet­ partei“, explizit sowohl das Sultanat als auch das Kalifat unterstützten. So hieß es in Artikel 3 des Letztgenannten: „Die Fraktion ist sich bewusst, dass es der Weg Gottes und der Weg des Rechts ist, auf den heiligen Grundsätzen fußend für die Wiederherstellung des gegenseitigen Vertrauens des Zeitalters der Glückseligkeit

Mete Tunçay: „Mesai“ Halk Şuralar Fırkası Programı 1920. In: Halk Zümresi Siyasi Programı. Ankara 1972, S. 86. 25  Ebd., S. 107. 24 

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zu arbeiten und die aus dem Westen kommende Unmoral, Unterdrückung und Begierde auszurotten.“26 Antiimperialistische Einstellungen waren jedoch keineswegs auf linke Kreise in Ankara beschränkt. Wie aus Mustafa Kemals langem Memorandum an General Harbord hervorgeht, ließen sich die Briten in ihrer Politik gegenüber dem Osma­ nischen Reich von „ihren Erfahrungen in Indien, Ägypten und anderen Ländern, die sie erfolgreich unter ihre Willkürherrschaft gebracht haben“, leiten.27 Im März 1921 schließlich hob man in dem Vertrag, den die türkischen Nationalisten mit den Bolschewiken schlossen, ausdrücklich die „nationale Freiheit der Völker des Ostens“ hervor.28 Natürlich waren die Verweise auf Imperialismus und Kolo­ nialismus zum Teil ein politisches Instrument, das insbesondere dazu diente, die Beziehungen zu den Bolschewiken zu festigen. Gleichwohl scheint die Furcht, von Kolonialreichen vereinnahmt zu werden, und der Kampf gegen diese Ent­ wicklung ein genuines Element der kemalistischen Weltsicht nach dem Ersten Weltkrieg gewesen zu sein.

Schlussbemerkung Die nationale Widerstandsbewegung in Anatolien zwischen 1918 und 1922 wurde von früheren Mitgliedern aus dem inneren Zirkel des „Komitees für Einheit und Fortschritt“ (KEF), das zwischen 1913 und 1918 das Machtmonopol in Händen gehalten hatte, organisiert und geführt. Sie waren Berufsbeamte und Berufsmili­ tärs im Dienst des osmanischen Staates. Auch in der unmittelbaren Nachkriegs­ zeit blieb ihr Bezugsrahmen das Osmanische Reich. Selbst als Anfang 1919 libera­ le Gegner des KEF die Regierungsmacht in der Hauptstadt übernahmen, gelang es diesen nicht, den Einfluss der Jungtürken auf die Staatsmaschinerie zurück­ zudrängen. Nach der britischen Besetzung der Hauptstadt im März 1920 war die Regierung des Sultans in jeder Hinsicht machtlos. Die Jungtürken in Anatolien versuchten die Unabhängigkeit und die Einheit der Überreste des Osmanischen Reichs zu bewahren, aber sie taten es im Namen dessen, was sie als Nation betrachteten: der Gemeinschaft der osmanischen Musli­ me. Infolge der sich seit dem Balkankrieg ständig verschärfenden Konfrontation zwischen Muslimen und Christen war es unvermeidlich, dass 1918 die Eigengrup­ pe, die türkische Nation, nur noch in dieser Weise verstanden wurde. Während die Begriffe „Muslim“ und „Türke“ – wie auf dem Balkan üblich – als austausch­ bar galten, erkannten die Nationalisten die Existenz des kurdischen Volkes an, das sie jedoch aufgrund der gemeinsamen Geschichte und Kultur in die eigene Nation einverleibten. Wie anderswo auf der Welt auch weckte das Programm des ameri­ 26 Ebd. 27 

Harbord: Conditions (wie Anm. 21). of Moscow, 16.  3.  1921, http://www.deutscharmenischegesellschaft.de/wp-content/ uploads/2011/01/Vertrag-von-Moskau-16.-M%C3%A4rz-1921.pdf (letzter Zugriff am 19. 1. 2023).

28 Treaty

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kanischen Präsidenten Wilson bei den Osmanen die Hoffnung auf eine Zukunft, in der sie ihr Schicksal selbst bestimmen könnten. In ihrem Fall wurde die Hoff­ nung auf Selbstbestimmung dadurch gestärkt, dass Wilson in seinen „Vierzehn Punkten“ die Rechte der Türken ausdrücklich erwähnt hatte und eine Zeit lang ein amerikanisches Mandat eine reale Möglichkeit zu sein schien. Bei ihren Akti­ vitäten achteten die Jungtürken sowohl der regionalen als auch der landesweiten Widerstandsbewegung darauf, zu demonstrieren, dass sie tatsächlich seit Langem bestehende Mehrheiten repräsentierten, die einen Anspruch auf Selbstbestim­ mung besaßen. Wie die Kemalisten die Idee der Erhaltung des osmanischen Staates mit den Vorstellungen von Volkswillen und Selbstbestimmung verquickten, wird beis­ pielhaft in dem am 20. Januar 1921 von der Nationalversammlung in Ankara ­verabschiedeten „Gesetz über die grundlegende Organisation“ („Teşkilati Esasiye Kanunu“) deutlich. Durch dieses Gesetz sollte die Tätigkeit der Nationalver­ sammlung angesichts der ausländischen Besetzung der Hauptstadt ein rechtliches Fundament erhalten. Es behielt den Rahmen des Osmanischen Reichs bei und löste die osmanische Verfassung nicht ab, betonte im ersten Paragrafen aber aus­ drücklich, dass die Souveränität bedingungslos „der Nation“ zustehe und „die Verwaltung auf dem Grundsatz der Selbstbestimmung“ beruhe.29 Während der Rahmen des Osmanischen Reichs, der muslimische Nationalis­ mus und die Berufung auf Wilsons „Vierzehn Punkte“ die Haltung der Mehrheit bestimmten, fanden beim linken Flügel der Widerstandsbewegung, der häufig auch islamistische Einstellungen pflegte, einige Aspekte der Revolution der Bol­ schewiken und des radikalen Sozialismus großen Anklang – insbesondere die Idee der Befreiung unterdrückter Völker von Kolonialismus und Imperialismus. Der Sozialismus selbst, vom Kommunismus ganz zu schweigen, hatte dagegen nur wenige Anhänger. Die Idee, dass der eigene nationale Kampf Teil einer größeren Auseinandersetzung mit dem Imperialismus sei, wurde in der nationalen Wider­ standsbewegung gleichwohl von vielen geteilt. Anscheinend sahen die Anhänger der Widerstandsbewegung darin keinen Widerspruch zu ihrem Eintreten für den Fortbestand des Osmanischen Reichs, das sie freilich weniger als echtes Imperium denn als nationalen Staat der osmanischen Muslime interpretierten.

Abstract After the armistice of Mudros, which ended World War I in the Middle East, the remnants of the wartime regime of the Committee of Union and Progress in the Ottoman Empire regrouped and successfully resisted the implementation of the peace treaty of Sèvres that was imposed by the victorious powers. An analysis of documents created by this “national resistance movement” in the Ottoman terri­ 29 Türk

Anayasa Hukuku Sitesi, http://www.anayasa.gen.tr/1921tek.htm (letzter Zugriff am 17. 6. 2017).

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tories in the period 1918-1921 shows us that it was motivated by a heterogeneous set of concepts and ideas: adherence to the continued existence of the Ottoman Empire; a nationalism that understood the nation to consist of Ottoman Muslims; the Wilsonian programme, and Bolshevik-inspired anti-imperialism.

Varianten globaler Erwartungen und Ermächtigungen

Stefan Rinke Große Skepsis Lateinamerikanische Zukunftserwartungen bei Kriegsende 1918/19 Bereits seit August 1914 hatte sich der von Europa ausgehende Krieg zu einer globalen Konflagration ausgeweitet, von der Lateinamerika durch den Wirt­ schafts- und Propagandakrieg auf vielfältige Weise betroffen war und zu der es durch den Export seiner kriegswichtigen Rohstoffe beitrug. Das Jahr 1917 brachte eine Intensivierung, traten doch in diesem Jahr nicht nur die USA, sondern auch zahlreiche lateinamerikanische Staaten offiziell in einen Konflikt ein, der sich zumindest formell außerhalb ihrer Hemisphäre abspielte. Mit diesem Schritt setzten sie sich über ein mehr als 100 Jahre gültiges Dogma gesamtamerikanischer Außenpolitik hinweg. Neue, grundsätzliche Fragen im Hinblick auf die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und die Behandlung der nationalen Minderheiten im eigenen Land kamen auf. Mit den Nachrichten über die Russische Revolution verschärften sich darüber hinaus die seit August 1914 virulenten sozialen Unruhen und die öffentlichen Debatten wurden immer emotionaler geführt. Als der Waffenstillstand im November 1918 bekannt wurde, konnte man in Latein­amerika nicht einfach zur Normalität zurückkehren, zu umwälzend waren die Ereignisse vor Ort und in der Welt. Wie reagierten Lateinamerikaner auf das Kriegsende und den Friedensvertrag? Welche Hoffnungen und Befürchtungen verbanden sie damit? Welche Veränderungen in der Weltlage wünschten sie sich, vor welchen hatten sie Angst? Welchen Wandel setzten lateinamerikanische Akteure im Kontext des Kriegsendes in Bewegung? Natürlich gestaltete sich 1918/19 die Lage in dieser heterogenen Weltregion mit ihren 19 unabhängigen Staaten und ihren insgesamt rund 80 Millionen Einwohnern alles andere als einheitlich. Dafür waren die Unterschiede beispielsweise zwischen dem kleinen neutralen El Salvador und dem riesigen Krieg führenden Brasilien viel zu groß. Jedoch lassen sich einzelne Diskurse herausfiltern, die mit unterschiedlicher Gewichtung vielerorts zu erkennen waren und die die Stimmungen in der Region prägten. Der vorliegende Beitrag analysiert zunächst die sozialen Verwerfungen, die die Jahre 1918/19 charakterisierten, sodann die direkten Reaktionen auf Waffenstillstand und Friedensvertrag, um schließlich auf die innenpolitischen Umbrüche einzugehen, die sich in diesem Kontext anbahnten.

https://doi.org/10.1515/9783110653359-006

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Soziale Verwerfungen Während der Krieg für eine kleine exportorientierte Oberschicht in Lateiname­ rika enorme Profite abwarf, sah sich die breite Masse der Bevölkerung – vor allem in den Metropolen – mit massiven Problemen in der Grundversorgung konfrontiert.1 Entsprechend nahm insbesondere in der städtischen Arbeiterschaft die Bereitschaft ab, den Appellen zur nationalen Geschlossenheit im Zeichen der kriegs­ bedingten Krise Folge zu leisten. Hatten Anzahl und Ausmaß der Streiks schon 1917 stark zugenommen, so sollte sich diese Entwicklung 1918/19 beschleunigt fortsetzen. Die sozialen Unruhen hatten tiefgehende Ursachen, wobei sowohl ­nationale als auch transnationale Faktoren eine Rolle spielten. Auf der transnationalen Ebene ist in erster Linie ein Ereignis zu nennen, das zwar schon 1917 stattgefunden hatte, in seiner welthistorischen Bedeutung in Lateinamerika aber erst 1918 verstärkt wahrgenommen wurde: die beiden russischen Revolutionen vom Frühjahr und Oktober 1917. Zwar hatte die lateinamerikanische Linke durchaus schon vor dem Krieg Interesse an den Entwicklungen im Russischen Reich gezeigt, doch erst nach 1917 rückte das Land vollends in den Fokus der Aufmerksamkeit. Die Nachrichtenagenturen Havas und Reuters verbreiteten ihre Berichterstattung über die revolutionären Ereignisse in der lateinamerikanischen Presse und stellten die Geschehnisse wegen der deutschen Unterstützung für die Bolschewisten und wegen des Ausstiegs Russlands aus dem Kriegsbündnis einseitig negativ dar. Durch ihre revolutionäre Missionstätigkeit und ihre gesamteuropäische, ja weltweite Vernetzung galt die bolschewistische Bewegung vielen lateinamerikanischen Beobachtern als Bedrohung, auf die der Staat und paramilitärische nationalistische Organisationen mit besonders brutalen Unterdrückungsmaßnahmen reagieren sollten.2 Die russischen Ereignisse motivierten die Linke in ganz Lateinamerika.3 In Argentinien spekulierten Kommentatoren bereits im März 1917 über den weiteren Verlauf der Entwicklungen. Der sozialistische Senator Enrique del Valle aus Argentinien stellte die Russische Revolution Mitte des Monats auf eine Stufe mit der von 1789 und sprach von einem Triumph des internationalen Proletariats.4 Besonders begeistert war der mexikanische Anarchist Ricardo Flores Magón. Seiner 1 Ein

Beispiel dafür war Kuba, vgl. Fernando Berenguer: El problema de las subsistencias en Cuba. Havanna 1918, S. 7–10. 2  Vicente Pardo Suárez: Ladrones de tierras. Havanna 1918, S. 120; Leopoldo Lugones: Mi beligerancia. Buenos Aires 1917, S. 224–226; Maximalismo. Un cancer social. In: Zig-Zag, 21. 12. 1918; Cossacos e Bolcheviques. In: Correio da Manhã, 31. 12. 1918, S. 3. 3  Bill Albert: South America and the First World War. Cambridge 1988, S. 271. Für Brasilien vgl. Moniz Bandeira/Clovis Melo/A. T. Andrade: O ano vermelho. A revolução russa e seus reflexos no Brasil. Rio de Janeiro 1967, S. 33. Pressemeldungen im Detail vgl. ebd., S. 73–113. Für Argentinien vgl. Patricio Geli: Representations of the Great War in the South American Left. The Socialist Party of Argentina. In: Helmut Bley/Anorthe Kremers (Hg.): The World during the First World War. Essen 2014, S. 201–214. 4  Ernesto del Valle Iberlucea: La cuestión internacional y el Partido Socialista. Buenos Aires 1917, S. 89. Vgl. auch M. Iaroschewsky: La revolución en Rusia. In: Nosotros 11 (1917), S. 289–294.

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Meinung nach hatte der Kriegseintritt der USA einen wichtigen Schritt in Richtung Weltrevolution gebracht, auf die er so lange gewartet hatte. Der Sturz des Zaren sowie die weltweit zu beobachtenden Hungersnöte gaben seines Erachtens das entscheidende Signal für den Beginn der globalen Anarchie und Mexiko, das seit 1910 selbst eine Revolution durchlebte, marschierte dabei vorweg.5 Nach der Russischen Oktoberrevolution nahmen solche Diskussionen zu. Mit ihrem Willen zur Beendigung des Kriegs gaben die Bolschewiki ein Signal, das die lateinamerikanischen Anarchisten enthusiastisch begrüßten.6 Der mexikanische Revolutionsführer Emiliano Zapata erkannte im Februar 1918 Parallelen zwischen der Russischen Revolution und der im eigenen Land. Flores Magón bestärkte ihn wenig später darin, ja er setzte die Russische Revolution unter ihren Anführern Lenin und Trotzki mit dem Versprechen der Weltrevolution gleich.7 Arbeiter vor allem in den Städten, aber auch auf dem Land, die davon erfuhren, schlossen sich der positiven Einschätzung an. Viele linke Intellektuelle in Lateinamerika verknüpften die Entwicklungen zwischen Mexiko und Russland und zogen in der Folgezeit nach Mexiko. Hinzu kamen die zahlreichen Kriegsdienstverweigerer aus den USA, die sogenannten slackers. Sie alle trugen dazu bei, Mexiko in der Außenwahrnehmung zu einem Bruderstaat des bolschewistischen Russlands werden zu lassen.8 Doch auch andernorts verbreiteten sich die Nachrichten über den Sieg der ­Bolschewisten im Lauf des Jahres 1918 immer schneller. So fanden etwa in Rio de Janeiro am 1. Mai 1918 trotz der Verbote durch die Regierung Kundgebungen mit Forderungen nach dem sofortigen Ende des Kriegs und nach einem revolutionären Umbau der Gesellschaft statt.9 Am 1. November 1918 wendete sich in Porto Alegre eine União Maximalista („Maximalistische Union“) an die Arbeiter und forderte diese zum Kampf gegen die Bourgeoisie auf.10 In Argentinien waren ­solche Einflüsse am stärksten. In einem Aufsatz über die „historische Bedeutung“ des Maximalismus – so nannte man seinerzeit den Bolschewismus – für die Zeitschrift „Nosotros“ schrieb der Intellektuelle José Ingenieros, dass der Krieg den Selbstmord der feudalen Autokratien gebracht habe und dass die Revolutionen keineswegs nur vom deutschen Geheimdienst gesteuert gewesen, sondern vielmehr Zeichen einer welthistorischen Wende seien, die letztlich wohl ganz Europa ergreifen werde.11 Doch auch in Ingenierosʼ eigenem Umfeld ließ sich der Wandel  5 Ricardo

Flores Magón: Rumbo a la anarquía. In: Regeneración, 10. 2. 1917, S. 2; ders.: El mundo marcha. In: Regeneración, 24. 2. 1917, S. 2; ders.: La revolución mundial. In: Regeneración, 24. 3. 1917, S. 1.  6  Geli: Representations (wie Anm. 3), S. 210.  7  Ricardo Flores Magón: La revolución rusa. In: Regeneración, 16. 3. 1918, S. 1.  8  Daniela Spenser: Los primeros tropiezos de la Internacional Comunista en México. Mexiko 2009, S. 67–77.  9 Bandeira/Melo/Andrade: Ano (wie Anm. 3), S. 115–120; Report on Foreign and Domestic Propaganda in the Argentine Republic, 9. 4. 1918, NA, RG 165, MID, 2327-L-1. 10  Bandeira/Melo/Andrade: Ano (wie Anm. 3), S. 363–367 (alle Übersetzungen hier und im Folgenden durch den Verfasser). 11  José Ingenieros: Significación histórica del maximalismo. In: Nosotros 12 (1918), S. 380–386.

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nicht aufhalten. Hier gründeten russische Immigranten unterschiedlicher sozialisti­ scher und anarchistischer Strömungen eine Federación Obrera Rusa de Sudamérica („Russische Arbeiterföderation Südamerikas“). Auf einer Massenkundgebung in Buenos Aires zur Feier des ersten Jahrestags der Oktoberrevolution erläuterten am 24. November 1918 Redner dieser Vereinigung das Programm der russischen Kommunisten, der „Maximalisten“. Der internationalistische Flügel der argentinischen Sozialisten schloss sich dieser Bewegung an und erhielt von den Macht­ habern in Moskau Ende 1918 die Einladung zur Teilnahme an der Gründung der Dritten Internationale.12 Die Attraktivität der neuen Ideen aus Russland ließ sich auf die teils katastrophale soziale Lage in vielen lateinamerikanischen Staaten zurückführen. Im Fall Argentiniens waren während des Kriegs die Löhne um rund 38 Prozent gefallen und gleichzeitig die Lebenshaltungskosten um 71 Prozent angestiegen. Waren es bis 1917 vor allem Lebensmittel und Textilien, deren Preise regelrecht explodierten, so verschärften 1918 die rasch steigenden Mieten die soziale Lage für viele Stadtbewohner. Die Reallöhne fielen auch 1918 weiter, obwohl sich die Konjunktur dank des Weizenexportgeschäfts bereits erholt hatte.13 Eine Folge war die starke Mobilisierung der Arbeiter, die sich bereits ab 1916, als die Hafenarbeiter in ­Buenos Aires die Arbeit niederlegten, in einer rasch zunehmenden Streiktätigkeit manifestiert hatte. Die Zahl der Streiks und ihrer Teilnehmer stieg allein in der Hauptstadt von 80 und 24 300 im Jahr 1916 auf 367 und 309 000 im Jahr 1919. Die meisten Streikenden waren in der Federación Obrera Regional Argentina organisiert, die jedoch wegen der zahlreichen Saisonarbeiter und Tagelöhner schwach blieb. Dennoch sorgte sich die Regierung angesichts der Streikaktivitäten um die Produktion in den Fleischfabriken sowie und das Funktionieren des Transportsektors. Die Alliierten, die hinter den Arbeitsniederlegungen deutsche Geheimdienstaktivitäten vermuteten, verstärkten massiv den Druck auf Präsident Hipólito Yrigoyen.14 Doch setzte dieser bis zum Kriegsende im Vergleich zu den Vorgängerregierungen eher selten Polizei oder Militär gegen die Streikenden ein und versuchte stattdessen zu vermitteln. Dennoch forderten die Arbeitskämpfe wiederholt Tote und Verletzte, deren genaue Zahl nicht bekannt ist. Darüber hinaus organisierten sich nun auch die Arbeitgeber, um den Bruch der Streiks und den Kampf gegen die Gewerkschaften systematisch zu betreiben.15 12 

Daniel Kersffeld: El activismo judío en el comunismo de entreguerras. Cinco casos latinoamericanos. In: Nueva Sociedad 247 (September/Oktober 2013), S. 152–154; ders.: Rusos y rojos: judíos comunistas en los tiempos de la Comintern. Buenos Aires 2012, S. 70–104; Spenser: Tropiezos (wie Anm. 8), S. 29. 13  Edgardo Bilsky: La Semana trágica. Buenos Aires 2011, S. 63  f. 14  Enrique Díaz Araujo: Yrigoyen y la guerra. Mendoza 1987, S. 233–239; Laura Gabriela Caruso: La huelga general marítima del Puerto de Buenos Aires, diciembre 1916. In: REMS 1 (2008) 1, S. 2. 15 Ebd., S. 11; Sandra McGee Deutsch: Las derechas. La extrema derecha en la Argentina, el ­Brasil y Chile, 1890–1939. Buenos Aires 2005, S. 113–115; Phillip A. Dehne: On the Far Western Front. Britain’s First World War in South America. Manchester 2009, S. 161.

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1918 spitzte sich die Lage weiter zu. Im März streikten die Arbeiter der im britischen Besitz befindlichen Eisenbahnen, was die Weizenlieferungen beeinträchtigte und damit die Versorgung der Alliierten empfindlich traf.16 Auf die bolschewistische Massenkundgebung vom 24. November antwortete der Erzbischof von Córdoba noch am selben Tag mit einem Hirtenwort gegen den Maximalismus. Anfang Dezember drohte selbst die Polizei in Rosario wegen ausstehender Lohnzahlungen mit Streiks. Aus Sicht der „Review of the River Plate“ lag bereits die Sowjetisierung des Landes in der Luft. Zum Jahresende konnte die Revolutionsfurcht unter den Eliten kaum größer sein.17 Die Spannungen entluden sich schließlich ab dem 7. Januar 1919 in einer Gewaltorgie, der sogenannten semana trágica („tragischen Woche“). In diesen Tagen kam es nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch in einigen Provinzstädten, zu bürgerkriegsartigen Zuständen, die zahllose Tote und Verletzte forderten. Der unter massivem Druck stehende Präsident setzte das Militär gegen die Streikenden ein, auch um den Putschtendenzen innerhalb der Streitkräfte zu begegnen. Die Gewerkschaften reagierten mit der Ausrufung des Generalstreiks. Besonders brutal waren die Übergriffe gegen rus­ sische und vor allem jüdische Einwanderer, die vielen als Anstifter der Unruhen galten.18 Der Offizier Emilio Kinkelin, der die Kriegsjahre als Korrespondent und Beobachter in Deutschland verbracht hatte, erkannte Parallelen zum Berliner Spartakusaufstand, den er vor seiner Rückreise miterlebt hatte. Nur dank des ­Militärs, so Kinkelin, habe das völlige Chaos vermieden werden können.19 Gewaltsame Konfliktlösungen gewannen auch in Chile an Bedeutung, je mehr sich die soziale Lage aufgrund des Kriegs zuspitzte. Wie in Argentinien begannen die Streikaktionen hier 1916 und nahmen 1917 wegen der stetig steigenden Lebens­ haltungskosten zu, die zwischen 1913 und 1919 um rund 140 Prozent nach oben geschnellt waren. Insbesondere der Streik der Hafenarbeiter von Valparaíso, der sich ab April 1916 auf das ganze Land ausbreitete, sowie die Arbeitsniederlegungen in der Salpeterregion im August gaben einen Vorgeschmack auf die Zukunft. Nachdem die Sozialisten 1917 die Führung innerhalb des gewerkschaftlichen Dachverbands Federación Obrera de Chile („Arbeiterföderation von Chile“, FOCh) übernommen hatten, nahm das Ausmaß der Arbeitskämpfe 1918 ebenso zu wie die Intensität der Krise, die auf das Ende des Salpeterbooms nach dem Waffenstillstand in Europa folgte. Am 22. November organisierte die FOCh in Santiago und Valparaíso Massenproteste gegen die Lebenshaltungskosten. Daran nahmen unterschiedliche politische Kräfte, darunter Sozialkatholiken, Frauenund Jugendverbände, teil. Selbst die Hauptstadtpresse lobte den friedlichen Verlauf der Demonstrationen und gab den Forderungen der Arbeiter prinzipiell

16  Report (wie Anm. 9); Carlos A. Goñi Demarchi/José N. Scala/Germán W. Berraondo: Yrigoyen y la Gran Guerra. Buenos Aires 1998, S. 122 f. 17  Kersffeld: Activismo (wie Anm. 12), S. 152–154. 18  Bilsky: Semana (wie Anm. 13), S. 96  f., S. 205; McGee Deutsch: Derechas (wie Anm. 15), S. 115– 118. 19  Emilio Kinkelin: Los estragos del hambre en Alemania. Buenos Aires 1919, S. 3  f.

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Recht, denn ein Volk, das hungere, so zum Beispiel „El Mercurio“, könne keine patriotischen Gefühle entwickeln und verliere den Respekt vor der Regierung.20 Dennoch reagierte die Regierung mit Repressionen. Im Dezember 1918 erließ sie ein Gesetz, das die Ausweisung „unerwünschter Subversiver“ erleichtern und deren Einwanderung verhindern sollte, obwohl diese Bedrohung angesichts der niedrigen Zahl von linksgerichteten Einwanderern in Chile gering war. Die aufkommende Xenophobie wurde durch den bei Kriegsende wieder aufflackernden Grenzkonflikt mit Peru, die sogenannte Tacna-Arica-Frage, angeheizt. In dieser Situation gründete sich mit der Liga Patriótica Militar („Patriotische Militärliga“) eine Bürgerwehr, die landesweit Ortsgruppen bildete und die nativistische Stimmung weiter schürte. Es kam zu Übergriffen gegen Peruaner und gegen chilenische Arbeiter, die man ebenfalls als unter ausländischem Einfluss stehend einstufte.21 Die Zeitschrift „Zig-Zag“ kommentierte in diesem Zusammenhang, dass das chilenische Volk im Zweifel die Nation gegen die rote Gefahr verteidigen werde, denn in Chile selbst gebe es keine Anarchisten oder Kommunisten.22 Die Furcht vor sozialen Unruhen und der neuen Ideologie aus Russland machte auch vor den Kriegsteilnehmern nicht halt. In Brasilien, wo sich die Lebens­ haltungskosten seit Kriegsausbruch ebenfalls verdreifacht hatten, hatte die Streikwelle 1917 einen ersten Höhepunkt erreicht, woraufhin die Regierung das Kriegsrecht nutzte, um die angeblich von ausländischen Agitatoren unterwanderte Arbeiter­bewegung zu zerschlagen.23 Besonders heftige Zusammenstöße ereigneten sich erst wieder am 18. November 1918 in Rio de Janeiro, nachdem sich die Lage für die Unterschichten aufgrund der zunehmenden Lebensmittelknappheit weiter verschärft hatte. Obwohl die Regierung versuchte, durch staatliche Eingriffe entgegenzusteuern und für eine gerechte Verteilung zu sorgen, war es zu diesem Mangel, der nicht zuletzt durch die Exporte an die Alliierten ausgelöst worden war, bekommen.24 Letztlich ähnelte die soziale Situation in Brasilien bei Kriegsende der in Argentinien und Chile. Allerdings wurden die Spannungen einstweilen noch durch die Euphorie über den für Brasilien positiven Kriegsausgang überlagert.25 Die krisenhafte Zuspitzung der sozialen Konflikte gegen Kriegsende war ein Phänomen, das sich fast überall in Lateinamerika beobachten ließ. In Peru etwa

20  Carestía

de los artículos de consumo. In: El Mercurio, 23. 11. 1918, S. 17. Vgl. auch La manifestación popular de ayer. In: ebd., S. 3. 21 McGee Deutsch: Derechas (wie Anm.  15), S. 89–91; Albert: South America (wie Anm. 3), S. 283–287; Julio Pinto Vallejos: Crisis salitrera y subversión social. Los trabajadores pampinos en la pos-primera guerra mundial (1917–1921). In: BIHAAER 14 (1996) 2, S. 70–80. 22  Los deberes de la hora presente. In: Zig-Zag, 30. 11. 1918. 23  McGee Deutsch: Derechas (wie Anm. 15), S. 145, S. 149. Albert: South America (wie Anm. 3), S. 267. 24  Bandeira/Melo/Andrade: Ano (wie Anm. 3), S. 128  f.; Francisco Luiz Teixeira Vinhosa: O Brasil e a Primeira Guerra Mundial. A diplomacia brasileira e as grandes potências. Rio de Janeiro 1990, S. 154 f.; V. da Silva Freire: Guerra e alimentação nacional. In: Revista do Brasil 3 (1918), S. 285. 25  Albert: South America (wie Anm. 3), S. 266.

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war es bis 1918 vergleichsweise ruhig geblieben, ehe sich die Streikwelle – anders als in den Nachbarstaaten – vom Land aus verbreitete. Ende des Jahres weitete die Arbeiterbewegung ihre Aktivitäten aus, und am 13. Januar 1919 begann mit dem Generalstreik eine Welle von Auseinandersetzungen im ganzen Land, die schließlich im Mai brutal niedergeschlagen wurden.26 In Mexiko flackerten seit 1917 immer wieder Streiks im Erdölfördergebiet um Tampico auf. Sie richteten sich ins­ besondere gegen die britische Firma El Aguila. Der Verdacht fiel ebenso wie beim großen Eisenbahnerstreik auf deutsche Geheimdienstmitarbeiter, denen man unter­stellte, gemeinsam mit Anarchisten und russischen Bolschewisten die alliierte Kriegsmaschinerie lahmlegen zu wollen.27 Zu schweren Arbeitskämpfe, die teils bis in das Jahr 1919 andauerten, kam es ebenfalls in Kolumbien, Ecuador, Bolivien, Paraguay, Uruguay und auf Kuba. Die Gründe waren immer dieselben: der revolutionäre Impetus aus Mexiko und Russland sowie die Krise des internationalen Kapitalismus aufgrund des Kriegs.28 Dass die sozialen Spannungen nicht überall eskalierten, lag nicht zuletzt an der Ausbreitung der sogenannten Spanischen Grippe. Die zweite Welle der Seuche, die 1918/19 weltweit rund 15 Millionen Todesopfer forderte, erfasste ab September 1918 Lateinamerika. Im Oktober waren bereits rund zwei Drittel der Bevölkerung der brasilianischen Hauptstadt erkrankt und die Sterberate stieg extrem stark an. Aufgrund der fehlenden staatlichen Gesundheitsfürsorge brach in Rio de Janeiro und bald danach in vielen anderen Städten Brasiliens das öffentliche Leben zusammen. Die Presse dokumentierte die Katastrophe vergleichsweise offen. Bald kursierten sogar Gerüchte über eine bakteriologische Kriegführung der Deutschen.29 In Ländern wie Mexiko, wo die Bevölkerung ohnehin schon geschwächt war und die Hygienestandards durch den langen Bürgerkrieg und die damit einhergehenden Typhusepidemien erheblich gesunken waren, hatte die Grippewelle ebenfalls verheerende Auswirkungen.30 Im Nachbarland Guatemala hatte ein schweres 26 

Ebd., S. 295–301. Ackerman: Mexico’s Dilemma, New York 1918, S. 68 f.; Lorenzo Meyer: Su majestad británica contra la Revolución Mexicana, 1900–1950. El fin de un imperio informal. Mexiko 1991, S. 199. 28 Albert: South America (wie Anm. 3), S. 236  f.; Hobart A. Spalding, Jr.: Organized Labor in Latin America. Historical Case Studies of Workers in Dependent Societies. New York 1977, S. 1–51. James P. Woodard: A Place in Politics. São Paulo, Brazil, from Seigneurial Republicanism to Regionalist Revolt. Durham 2009, S. 79–87. Milda Rivarola: Obreros, utopías y revoluciones. Formación de las clases trabajadoras en el Paraguay liberal, 1870–1931. Asunción 2010, S. 215– 221, S. 242. 29  A epidemia da „grippe“ toma cada vez maior vulto. In: Correio da Manhã, 13. 10. 1918, S. 1; A quinzena tragica. In: Fon-Fon, 2. 11. 1918; Christiane Maria Cruz de Souza: A gripe espanhola na Bahia. Saúde, política e medicina em tempos de epidemia. Rio de Janeiro 2009, S. 325; Liane Maria Bertucci: Influenza, a medicina enferma. Ciência e práticas de cura na época da gripe espanhola em São Paulo. Campinas 2004, S. 90–172; Cláudio Bertolli Filho: A gripe espanhola em São Paulo, 1918. Epidemia e sociedade. São Paulo 2003, S. 70–77. 30  Miguel Ángel Cuenya Mateos: Reflexiones en torno a la pandemia de influenza de 1918. El caso de la ciudad de Puebla. In: Desacatos 32 (Januar–April 2010), S. 145–158. 27  Carl W.

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Erdbeben zu Weihnachten 1917 schwere Zerstörungen angerichtet, die noch nicht beseitigt waren, als im August 1918 die Grippewelle einsetzte und eine hohe Zahl an Todesopfern – insbesondere unter der indigenen Bevölkerung – forderte.31 Wo ­immer sich die Epidemie ausbreitete, reagierten die Regierenden hilflos, sodass angesichts einer Bedrohung, die sich nicht greifen ließ, das Krisengefühl in ganz Lateinamerika zunahm.

Reaktionen auf Waffenstillstand und Friedensvertrag Der Waffenstillstand in Europa schien die Sorgen und Vorahnungen in den Hintergrund zu rücken und die Konfliktparteien zumindest kurzfristig zu versöhnen. Schon in den Tagen vor dem 11. November 1918 herrschte in vielen Städten amerikas eine gespannte Erwartung. Angesichts der lange andauernden Latein­ Verhandlungen der Kriegsparteien verlangte die mexikanische Tageszeitung „Excelsior“ am 9. November einen „Frieden um jeden Preis“.32 Die dann eintreffende Nachricht vom erfolgreichen Abschluss des Waffenstillstands löste in den Öffentlichkeiten Lateinamerikas große Begeisterung aus. Für die meisten Kommentatoren war das Ende der Kampfhandlungen ein „Triumph der Menschheit“, wie der uruguayische „Día“ anmerkte.33 Viele Artikel dieser Tage verdeutlichen das ­Gefühl der Verbundenheit mit den Menschen in allen Teilen der Welt, die das Kriegsende feierten. Der 11. November 1918, so die „Revista do Brasil“, sei ein außergewöhnlicher Tag gewesen, der in die Erinnerung der gesamten Menschheit eingehen werde.34 Die Berichterstattung spiegelte die Vorgänge in den Straßen der Städte wider, die die Nachricht vom Waffenstillstand auslöste. Spontane Freudenkundgebungen bestimmten das Geschehen am 11. und 12. November. In Buenos Aires etwa ­gaben die Unternehmer ihren Arbeitern frei, begeisterte Menschenmassen zogen durch die Straßen und ganze Straßenzüge wurden festlich geschmückt.35 Der Freudentaumel über das Ende der Kämpfe vermischte sich mit dem Jubel über den Sieg der Alliierten. Man feierte den „Triumph der Zivilisation“.36 Selbst in 31 David

McCreery: La pandemia de influenza en la ciudad de Guatemala. In: AAGHG 71 (1995), S. 111. 32  La paz a toda costa. In: Excelsior, 9. 11. 1918, S. 3; vgl. auch Os alliados assignaram o armisticio. In: Correio da Manhã, 8. 11. 1918, S. 1. 33  El triunfo de la humanidad. In: El Día, 12. 11. 1918, S. 3. 34  A paz. In: Revista do Brasil 3 (1918), S. 245; vgl. auch: O mundo inteiro vibra com a victoria dos alliados. In: Correio da Manhã, 13. 11. 1918, S. 1. 35  Júbilo popular. In: La Prensa, 12. 11. 1918, S. 9; María Inés Tato: La contienda europea en las calles porteñas. Manifestaciones cívicas y pasiones nacionales en torno de la Primera Guerra Mundial. In: dies./Martín O. Castro (Hg.): Del centenario al peronismo. Dimensiones de la vida política argentina. Buenos Aires 2010, S. 49–51. 36 A victoria da civilisação. In: O Imparcial, 13. 11. 1918, S. 4; Celebración del triunfo de los ­aliados. In: El Mercurio, 14. 11. 1918, S. 5; A Victoria dos Alliados. Manifestações Populares – As Acclamações á Belgica foram Delirantes. In: Jornal do Commercio, 16. 11. 1918, S. 4.

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neutralen Staaten wie Argentinien galt der Enthusiasmus den Siegern, und die englischen, französischen und italienischen Einwanderergemeinden waren an der Gestaltung der spontanen Feierlichkeiten und Triumphmärsche maßgeblich be­ teiligt.37 Die Feiern nahmen in den folgenden Tagen offiziellen Charakter an. Die Betonung lag nun klar auf dem Sieg der Entente und der USA. Neben der allgemeinen Verbundenheit mit dem siegreichen Teil der Menschheit sprach aus den Kommentaren zum Waffenstillstand ein Geist der lateinamerikanischen Zusammengehörigkeit, insbesondere derjenigen Staaten, die sich auf die eine oder andere Weise an den Kriegsanstrengungen beteiligt hatten.38 Doch hielt sich in manchen Ländern wie Mexiko oder Kolumbien, wo die Befürworter der Neutralität ihren Standpunkt trotz des Kriegsausgangs verteidigten, die Begeisterung vergleichsweise in Grenzen. Im mexikanischen Monterrey mussten Angehörige der Siegermächte sogar auf ihren Triumphzug verzichten, weil der öffentliche Widerstand dagegen zu groß war.39 In Argentinien mischte sich die offenkundig vorhandene Begeisterung mit Kritik an der Regierung Yrigoyen. Pro-alliierte Stimmen nutzten den Kriegsausgang, um den Präsidenten für sein Festhalten an der Neutralität heftig zu attackieren. Für Redner wie den Intellektuellen Ricardo Rojas trug Yrigoyen die Schuld daran, dass das Land in der Welt an Ansehen verloren habe. Auf Kundgebungen kam es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern des Präsidenten.40 Unter den in Lateinamerika lebenden Deutschen und Deutschstämmigen sowie unter den germanophilen Gruppen hingegen war die Bestürzung über den Kriegsausgang groß. Bis zum Ende hatte die Propaganda des wilhelminischen Kaiserreichs auf die Unbesiegbarkeit der deutschen Truppen hingewiesen. Ungläubig reagierten die Anhänger der Mittelmächte in Lateinamerika jetzt auf die Nachrichten vom Waffenstillstand und seinen harten Bedingungen.41 Die Niederlage anzunehmen, wurde durch den Spott und die heftigen Attacken erschwert, denen sich Deutschland nun in der Presse ausgesetzt sah.42 Der Sieg, so etwa die brasilianische Presse, bedeute einen moralischen Triumph über den Geist der Eroberung und der Zerstörung sowie eine erfolgreiche Verteidigung der Zivilisation gegen den Pangermanismus und die barbarische Autokratie.43 37  Entusiasmo popular por las victorias aliadas. In: La Prensa, 11. 11. 1918, S. 7; The Armistice. In: South Pacific Mail, 14. 11. 1918, S. 3. 38  O Brazil na guerra. In: A Epoca, 28. 10. 1918, S. 1. 39  Meyer: Majestad (wie Anm. 27), S. 249; Reinaldo Matiz: Amistad Colombo Germana. Bogotá 1918, S. 8. 40 Ricardo Rojas: La guerra de las naciones. Buenos Aires 1924, S. 73–82; vgl. auch La acción ­argentina pro aliados. In: Caras y Caretas, 16. 11. 1918. 41  Friedrich Katz: The Secret War in Mexico. Europe, the United States and the Mexican Revolution. Chicago 1981, S. 451; Stefan Rinke: „Der letzte freie Kontinent“. Deutsche Lateinamerikapolitik im Zeichen transnationaler Beziehungen, 1918–1933. Stuttgart 1996, S. 368 f. 42  El final de la guerra. In: Zig-Zag, 16. 11. 1918. 43 O grande momento historico. In: Jornal do Commercio, 13. 11. 1918, S. 3; vgl. auch Victor ­Viana: A derrocada allemã. In: Jornal do Commercio, 12. 11. 1918, S. 3.

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In Argentinien fügten die Herausgeber der Zeitschrift „Nosotros“ ihrem Jubel über den Waffenstillstand die Mahnung an die Siegermächte hinzu, einen dauerhaften und gerechten Frieden auf Basis der „Vierzehn Punkte“ Wilsons herzustellen.44 In Erwartung der Friedenskonferenz schrieb der argentinische Politologe Augusto Bunge im Januar 1919: „Wenn der näher rückende Frieden für die zivilisierte Welt nicht eine grundlegende Lösung der Probleme mit sich bringt, die sie heute beunruhigen, wird er nur eine Waffenruhe sein, während derer der Krieg mit anderen und nicht weniger zerstörerischen Mitteln als der bewaffnete Kampf fortgesetzt wird und die zu neuen, vielleicht noch schrecklicheren Konfrontationen führen wird.“45 Das Interesse in Lateinamerika an den Verhandlungen in Paris war enorm. Elf lateinamerikanische Staaten nahmen offiziell an der Konferenz teil: Die Kriegsteilnehmer Brasilien, Guatemala, Haiti, Honduras, Kuba, Nicaragua und Panama sowie Bolivien, Ecuador, Peru und Uruguay. Die Neutralen wurden zu den Verhandlungen zugelassen, sofern es um ihre Rechte ging, blieben aber ansonsten ausgeschlossen.46 Die Großmächte dirigierten die Vor­bereitungen und den Ablauf der Konferenz. Die Delegationen anderer Staaten luden sie nur dann zu den Verhandlungen ein, wenn es um deren Anliegen ging. Dadurch fühlten sich die „kleinen Nationen“ benachteiligt. Doch anstatt sich miteinander zu solidarisieren, bildeten sich auch unter ihnen Hierarchien heraus. So sorgte die Frage, wie die Lateinamerikaner in Paris zu behandeln seien, schon im Vorfeld für viel Unmut. Letztlich legten die Siegermächte drei Kategorien fest: Die erste ­umfasste Großmächte, in die zweite gehörten die Kriegführenden mit partiellem Interesse (darunter die zentralamerikanischen Staaten und Brasi­lien) und in der dritten Kategorie schließlich fanden sich die Staaten wieder, die bis Kriegsende lediglich die Beziehungen mit den Mittelmächten abgebrochen hatten.47 Während die zentralamerikanischen Staaten der zweiten Kategorie sich eng an der US-Regierung orientierten, sah sich die brasilianische Delegation privilegiert, was die Verärgerung unter den hispanoamerikanischen Vertretern der dritten Kategorie, die zu Statisten degradiert worden waren, verstärkte. Daher kooperierten die Repräsentanten aus Lateinamerika insgesamt nur wenig untereinander.48 Doch auch für Brasilien war die Lage unbefriedigend. Schon im Vorfeld entwickelten sich Spannungen mit den Alliierten in der Frage, mit wie vielen Delegierten das Land an der Konferenz teilnehmen dürfe. Nur auf den Druck Wilsons hin erhielt die brasilianische Delegation das Recht, drei Repräsentanten zu den Ver-

44 

Nueva era. In: Nosotros 12 (1918) 115, S. 365–373; vgl. auch EE.UU. y la Liga de las Naciones. In: El Sur, 30. 9. 1918, S. 1; Alemania y el fin de la guerra. In: El Comercio, 12. 11. 1918, S. 3. 45  Augusto Bunge: El socialismo y los problemas de la paz. Buenos Aires 1919, S. 5. 46  Los derechos de los neutrales. In: La Unión, 4. 1. 1919, S. 1. 47  Michael Streeter: South America and the Treaty of Versailles. London 2010, S. 85, S. 93–96. 48  Thomas Fischer: Die Souveränität der Schwachen. Lateinamerika und der Völkerbund, 1920– 1936. Stuttgart 2012, S. 85–93.

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handlungen zu entsenden – genauso viele wie Belgien und Serbien.49 Im ehemaligen Mutterland Portugal, das nur einen Delegierten zugesprochen bekam, löste dies Verärgerung aus. In erster Linie kämpfte die brasilianische Delegation für die nationalen Interessen ihres Landes. Dazu zählten finanzielle Forderungen gegenüber dem Deutschen Reich sowie ein Sitz im neu zu schaffenden Völkerbundsrat. In zweiter Linie setzte sich der brasilianische Chefunterhändler Epitácio Pessoa auch für eine angemessenere Beteiligung der „kleineren Mächte“ ein und erzielte dabei einige Achtungserfolge.50 Die Rolle der Vereinigten Staaten in Paris beurteilten lateinamerikanische Beobachter ambivalent. US-Präsident Wilson nahm man in Lateinamerika durchaus als großen Idealisten wahr. Die Propaganda der Vereinigten Staaten hatte dieses Bild seit dem US-Kriegseintritt gezielt vermittelt. Zwischen dem Waffenstillstand und dem Beginn der Friedenskonferenz gab es viele Sympathiebekundungen führender lateinamerikanischer Intellektueller, die mit der Hoffnung auf eine neue Weltordnung der Gleichberechtigung und internationalen Solidarität einhergingen.51 Für „Nosotros“ verband sich mit dem Namen Wilson sogar nicht weniger als das Vertrauen auf eine „neue Ära“ mit einer „friedlichen Revolution“, die eine gerechtere Verteilung des Landbesitzes und die Verbesserung des Lebensstandards aller Menschen bringen könnte.52 Nicht nur die internationalen Beziehungen, sondern auch die innergesellschaftlichen Probleme meinte man nun unter dem Eindruck der allgemeinen Aufbruchstimmung lösen zu können. Die Unterzeichnung des Friedensvertrags am 28. Juni 1919 bildete den Höhepunkt der Träume von einer besseren Welt.53 Allerdings waren längst nicht alle Kommentatoren so optimistisch gestimmt. In der Region herrschte auf einschlägigen Erfahrungen basierendes Misstrauen gegenüber den imperialistischen Absichten der Siegermächte und insbesondere ­denen der Vereinigten Staaten vor. Selbst in Brasilien waren diese Vorbehalte sehr stark ausgeprägt. Der Intellektuelle Lima Barreto stellte im April 1919 fest, dass sich die imperialistische Haltung der Europäer nicht geändert habe, obwohl diese doch „Senegalesen, Gurkas und Anamiten“ für sich hatten kämpfen lassen. Die Leistung der Friedenskonferenz beurteilte er negativ: „Die Konferenz macht ­keine Zukunft; das, was sie macht, ist nur, den Müll der Vergangenheit nochmal neu zu durchmischen.“54 49 Em

consideração ao Brazil serão admittidos tres delegados seus á confencia da paz. In: A ­Epoca, 15. 1. 1919, S. 1; Vinhosa: Brasil (wie Anm. 24), S. 191. 50  Abdias Neves: O Brasil e as espheras de influencia na Conferencia da Paz. Rio de Janeiro 1919, S. 201–205; Eugênio Vargas Garcia: O Brasil e a Liga das Nações (1919–1926). Vencer ou não ­perder. Porto Alegre 2000, S. 36–43. 51 José Ingenieros: Los tiempos nuevos. Buenos Aires 1947, S.  27; Bunge: Socialismo (wie Anm. 45), S. 5. 52  Nueva era. In: Nosotros 12 (1918) 115, S. 365–373. 53  Cinco annos depois. In: Correio da Manhã, 29. 6. 1919, S. 1. 54 Afonso Henriques de Lima Barreto: Feiras e mafuás. Artigos e crônicas. São Paulo 1955, S. 143.

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Der Versailler Vertrag schien den Kritikern Recht zu geben. Der Brasilianer Monteiro Lobato kommentierte ernüchtert, dieser sei eine Bestätigung des auf der internationalen Bühne dominierenden Egoismus.55 In der Tat hatten die Forderungen Brasiliens den Großmächten als zweitrangig gegolten. Auch die anderen lateinamerikanischen Delegierten beurteilten das Ergebnis der Friedensverhandlungen kritisch. Der bolivianische Delegierte Ismael Montes teilte in einem ­Schreiben aus Paris an das Außenministerium in La Paz mit, dass die Alliierten und vor allem Frankreich durch ihre harte Haltung gegenüber Deutschland viel Sympathie verloren hätten: „Der Friede ist noch nicht unterzeichnet und man kann bereits die Saat des neuen Kriegs erkennen. Der Hass, der in den besiegten Ländern wächst, könnte stärker sein als all die Mittel, die man gebraucht hat, um sie zu besiegen.“56 Mit der Unterzeichnung des Friedensvertrags war die Annahme der Satzung des Völkerbundes verbunden, in dem die elf lateinamerikanischen Vertragsunterzeichner ebenso Gründungsmitglieder werden sollten wie die dazu geladenen neutralen Staaten Argentinien, Chile, El Salvador, Kolumbien, Paraguay, Venezuela sowie das zur ersten Vollversammlung im November 1920 zugelassene Costa Rica. Letztlich blieb nur das revolutionäre Mexiko auf Druck Großbritanniens und der USA vorerst ausgeschlossen. Von den 42 ursprünglichen Mitgliedern des Völkerbundes kamen also allein 18 aus Lateinamerika. Diese starke quantitative Präsenz gab Anlass zur Hoffnung, dass sich das Ideal der internationalen Gleichberechtigung tatsächlich würde durchsetzen lassen.57 War damit aber wirklich eine neue Perspektive der „universalen Brüderlichkeit für die Welt“ gegeben, wie es ein brasilianischer Kommentator im ersten Überschwang formuliert hatte?58 In Wahrheit war der Eintritt in den Völkerbund vor allem eine Prestigefrage. Gerade die brasilianische Politik wollte dieses Prestige für sich nutzen, um die Vormachtansprüche des Landes in Lateinamerika zu unter­mauern, während der alte Rivale Argentinien der neuen Organisation gerade wegen der Sonderrolle des Nachbarlandes skeptisch gegenüberstand und sich dann auch sehr rasch wieder aus ihr zurückzog.59 Die anderen lateinamerikanischen Staaten traten häufig mit überzogenen Erwartungen in den Völkerbund ein, durch den sie sich – basierend auf den Ankündigungen Wilsons – die Lösung von teils seit Langem bestehenden offenen Streitfragen in ihrem Sinn erhofften.60 Die aus Sicht vieler lateinamerikanischer Diplomaten und Völkerrechtler wichtigste Frage war allerdings, inwieweit der Völkerbund in Zukunft ein Gegenge55 José

Bento Monteiro Lobato: Críticas e outras notas. São Paulo 1965, S. 230 f.; vgl. auch O tratado de paz. In: Revista do Brasil 4 (1919), S. 193 f. 56 Zitiert nach Streeter: South America (wie Anm. 47), S. 110; vgl. auch Lobato: Críticas (wie Anm. 55), S. 227–229. 57  Rinke: Kontinent (wie Anm. 41), S. 177. 58  Finis Germaniae. In: O Imparcial, 29. 6. 1919, S. 1. 59  Rinke: Kontinent (wie Anm. 41), S. 177  f. 60  Streeter: South America (wie Anm. 47), S. 93–96.

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wicht zur US-amerikanischen Hegemonie auf dem Doppelkontinent bieten könne. Ein entsprechendes lateinamerikanisches Interesse erkannte man in den USA schon früh. Der junge Mitarbeiter des US-State Department James G. McDonald hatte bereits im Januar 1918 in einem weitsichtigen Memorandum viele grund­ legende Probleme antizipiert. Die Forderung nach der absoluten Gleichberechtigung aller souveränen Staaten war laut McDonald nicht erfüllbar, was nicht zuletzt der Tatsache geschuldet war, dass Staaten wie Argentinien, Brasilien oder Chile keineswegs bereit waren, sich auf eine Stufe mit ihren schwächeren Nachbarn zu stellen. Daraus ergab sich für Lateinamerika ebenso wie für die USA ein Spannungsverhältnis zu den Prinzipien der neuen Weltorganisation. Vor diesem Hintergrund sollte die Politik Washingtons nach Meinung des Diplomaten darauf abzielen, den Panamerikanismus und die interamerikanischen Beziehungen aus dem Kontext des Völkerbundes herauszuhalten. Eine Diskussion strittiger Fragen – McDonald nannte den Panamakanal sowie den Status von Kuba, Puerto Rico und Haiti – sollte am besten vermieden werden.61 Aus lateinamerikanischer Sicht zählte vor allem die „Monroe-Doktrin“ zu den heiklen Themen, hatten doch die USA seit der Jahrhundertwende mit ihr und ihren Zusätzen immer wieder Interventionen in Lateinamerika legitimiert. Gerade unter Wilson hatte sich der US-amerikanische Interventionismus intensiviert. Tatsächlich fand die „Monroe-Doktrin“ trotz heftiger Diskussionen auf Druck der Vereinigten Staaten mit Artikel 21 Eingang in die Völkerbundsatzung und wurde somit quasi von der Weltgemeinschaft beglaubigt. Dies stieß in Lateinamerika auf heftige Kritik.62 So stand der Völkerbund aus lateinamerikanischer Sicht von Beginn an unter einem schlechten Stern. Unter den optimistischen Intellektuellen der Region, die wie Ingenieros auf Wilson, den Vater der Völkerbundidee, vertraut hatten, breitete sich Mitte 1919 Enttäuschung aus, die „decepción wilsonista“, wie der Argentinier es nannte.63 Eine Idee, die in diesem Kontext zunehmend an Bedeutung gewann, war die einer kontinentalen Solidarität Amerikas ohne Einschluss der Vereinigten Staaten. Aufgrund der innerlateinamerikanischen Rivalitäten war sie jedoch schwierig zu verwirklichen. Dennoch blieben entsprechende Forderungen nicht nur auf der Ebene der politischen Rhetorik. Dies war dem mexikanischen Präsidenten Venustiano Carranzas zu verdanken, der angesichts der konfliktbeladenen Nachbarschaft zu den Vereinigten Staaten die Notwendigkeit dieser Solidarität besonders klar erkannt hatte. Bereits während des Kriegs hatte der Mexikaner seine Fühler nach Lateinamerika ausgestreckt und Mitte des Jahres 1916 mit Isidro Fabela ­einen Sondergesandten nach Argentinien, Brasilien und Chile geschickt. Ferner finanzierte er zahlreiche Propagandareisen beispielsweise von Gewerkschaftern, 61 James G.

McDonald: Memorandum on Latin America and a Possible Peace Conference, 19. 1. 1918, NA, RG 256, Rolle 8, Nr. 103, S. 2. 62  Streeter: South America (wie Anm. 47), S. 133; Fischer: Souveränität (wie Anm. 48), S. 278–289. 63  Patricia Funes: Salvar la nación. Intelectuales, cultura y política en los años veinte latinoamericanos. Buenos Aires 2006, S. 109, S. 220 f.

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um Werbung für das revolutionäre Mexiko zu machen und damit ein Gegengewicht zur negativen Presse zu schaffen, die auf Meldungen der US-amerikanischen Nachrichtenagenturen beruhte.64 Somit arbeitete die mexikanische Regierung an einem anti-imperialistischen und pro-mexikanischen Netzwerk. Die Mexikanische Revolution galt als Gegenmodell zur US-amerikanischen Hegemonie. Sie öffnete neue Horizonte und genoss auch bei Intellektuellen wie etwa Ingenieros oder dem peruanischen Schriftsteller José Santos Chocano hohes Ansehen. Der argentinische Publizist Manuel Ugarte war zweifellos die wichtigste Stimme Lateinamerikas, die das Plädoyer für Mexiko mit dem Ruf nach der Einheit des Kontinents gegen die USA verband.65 Darauf aufbauend konnte Carranza in seiner Botschaft an den mexikanischen Kongress vom 1. September 1918 seine Ablehnung der US-amerikanischen „Monroe-Doktrin“ erneut betonen und dieser seine eigene „Carranza-Doktrin“ entgegenstellen. Diese beinhaltete die explizite Ablehnung der US-amerikanischen Position wegen ihrer vermeintlichen Einseitigkeit, Anmaßung und der schädlichen Folgen für Lateinamerika. Ferner konstatierte Carranza die Gleichheit aller Nationen und die Achtung der Institutionen und Gesetze. Des Weiteren sollten Staatsbürger und Ausländer vor dem Gesetz gleich sein und die Legislativen aller Länder sollten sich an denselben Grundsätzen orientieren. Schließlich forderte der Mexikaner, dass sich die Diplomatie in Zukunft an den Interessen der Zivilisation und an der Solidarität aller Nationen orientieren müsse und nicht zur Unterdrückung der Schwachen missbraucht werden dürfe.66 Mit diesem Programm stellte Carranza sich dem globalen Geltungsanspruch von Wilsons „Vierzehn Punkten“ entgegen und formulierte eine Politik, die ­wegen des kriegsbedingten Rückzugs der Europäer aus Lateinamerika auch einen realpolitischen Hintergrund hatte. Carranzas Worten kam deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil er sie als Staatschef in Form einer Regierungserklärung und nicht als Intellektueller in akademischen Foren oder in der veröffentlichten Meinung bekannt machte. Mit der Friedenskonferenz von Paris geriet neben dem US-amerikanischen Imperialismus der Kolonialismus als solcher auch in Lateinamerika unter Druck. Die Krieg führenden Mächte waren gleichzeitig auch Kolonialmächte und hatten Massen an Soldaten und Hilfskräften für die Fronten in Europa aus ihren Kolo­ nien rekrutiert. Außerdem war der Krieg auch in den Kolonien ausgetragen ­worden, was ebenfalls unzählige Opfer – zumal unter der Zivilbevölkerung – gefordert hatte. Die nach dem Ende des Kriegs wachsende Kritik am Imperialismus wurde von den lateinamerikanischen Beobachtern registriert und insbe­ sondere die Studentenbewegung nahm den Antikolonialismus in ihr Programm 64  Pablo

Yankelevich: Las campañas pro México. Estrategias publicitarias mexicanas en América latina (1916–1922). In: Cuadernos Americanos (Mexiko) 9 (1995) 49, S. 81–89. 65  Ders.: La revolución mexicana en América Latina. Intereses políticos e itinerarios intelectuales. Mexiko 2003, S. 123–126. 66  Isidro Fabela (Hg.): La política interior y exterior de Carranza. Mexiko 1979, S. 219–222.

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auf.67 Manuel Ugarte stellte in diesem Zusammenhang pointiert fest: „Europa ist in Afrika und Asien, die Vereinigten Staaten sind in Hispanoamerika immer Mächte der Ungerechtigkeit und der Herrschaft gewesen. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem es notwendig ist, dass sich die Dinge ändern. Wir erleben die Morgenröte eines Jahrhunderts. So wie wir die Sklaverei unter den Menschen abgeschafft haben, so müssen wir auch die Sklaverei unter den Nationen abschaffen.“68 Da sie nach wie vor von der Minderwertigkeit der Kolonialvölker überzeugt waren, lehnten jedoch die wenigen lateinamerikanischen Kommentatoren der bürgerlichen Presse, die sich mit dem Thema beschäftigten, die Kolonialherrschaft keineswegs rundweg ab. Vielmehr sorgten sie sich davor, dass die westliche Kolonialherrschaft auf den eigenen Kontinent ausgedehnt werden könnte.69

Die Zukunft der Nation Diejenigen, die sich an den sozialen Unruhen der letzten beiden Kriegsjahre in Lateinamerika beteiligt hatten, forderten nach 1918 einen Neuanfang oder zumindest einen tiefgreifenden Wandel. Letztlich ging es ihnen um soziale Gleich­ berechtigung und politische Partizipation. Dabei handelte es sich um Reaktionen auf grundlegende strukturelle Probleme der lateinamerikanischen Gesellschaften, doch lässt sich der Zusammenhang zum Weltkrieg nicht von der Hand weisen. Durch die öffentlich ausgetragenen Kontroversen über den Eintritt in ein Kriegsbündnis sowie über das Für und Wider des Kriegs als solchem gelangte die Konfrontation in den Alltag, auf die Straßen und öffentlichen Plätze, und das nicht nur in den Großstädten wie Buenos Aires, Rio de Janeiro oder São Paulo, sondern auch in den Provinzen. Selbst im bürgerkriegsgeplagten Mexiko verbanden die Medien die Forderung nach dem sofortigen Ende des Kriegs mit der nach grund­ atte, sätzlichen Reformen.70 Die politische Mobilisierung, die der Krieg ausgelöst h brachte der argentinische Psychologe Aníbal Ponce rückblickend auf den Punkt: „Für uns Junge, die wir inmitten des Grauens der europäischen Tragödie ins Leben traten, war der Krieg […] der große ‚Befreier‘ im weitesten Sinne. Alles, was von unserem Leben vor ihm lag, waren passive Aneignungen der Kindheit, folg­ same Gewohnheiten der Erziehung; alles, was auf ihn folgen musste, mussten schmerzhafte Eroberungen der Jugend sein, das Erschrecken und der Enthusiasmus der neuen Zeiten. Dank des Kriegs misstrauten wir von Anfang an der Vergangenheit. […] Er lebte mitten unter uns in den Straßen, den Schulen, den Hei67  La

juventud argentina de Córdoba a los hombres libres de América. In: Dardo Cúneo (Hg.): La reforma universitaria, 1918–1930. Caracas 1980, S. 2; vgl. auch Funes: Nación (wie Anm. 63), S. 36. 68  Manuel Ugarte: Mi campaña hispanoamericana. Barcelona 1922, S. 208; vgl. auch Ugarte: La patria grande. Buenos Aires 2010, S. 113. 69  Emilio Huidobro: La paz europea. Lima 1918, S. 60–66. 70  Historia de la actual guerra en Europa. In: El Diario del Hogar, 7. 10. 1914, S. 2.

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men. Er zerstörte Freundschaften, löste feste Bindungen, erhitzte die Gemüter. Wie konnte man angesichts dieses Unwetters, das uns mitriss und eine Haltung erzwang, unberührt bleiben?“71 Die studentische Jugend, zu deren Anführern 1918 Ponce zählte, verstand sich als Motor der Veränderung. Hoffnung auf ihr Engagement bestand gerade in proalliierten Kreisen, wie etwa beim Kolumbianer Mejía Rodríguez.72 In Argentinien war das Comité de la Juventud eine schlagkräftige Organisation, die sich im ganzen Land für den Kriegseintritt eingesetzt hatte und auch in den Provinzstädten von Rosario über Córdoba bis Tucumán die Massen mobilisieren konnte. Dies gab laut Ricardo Rojas ein Zeichen der Hoffnung, denn die neue Jugend sei die Kraft des wahren Argentiniens, der „Argentinidad“.73 „Ihr seid die jugendlichen Arbeiter des neuen Tages“, schrieb er, „beginnt ihn wie der junge Herkules damit, die Schlange zu erwürgen. Beendet ihn wie der Titan mit seiner harten Arbeit“.74 Der Sozialist Alfredo Palacios sah dies ähnlich, als er im Dezember 1917 vor dem Komitee Gerechtigkeit und Moral beschwor. Gemeinsam war diesen Stimmen der Aufruf zum Idealismus und zur Abkehr von der Vergangenheit – das hieß von der bloßen Imitation der europäischen Zivilisation.75 In seinem „Glaubensbekenntnis der neuen Generation“ schrieb Rojas gegen Kriegsende, es müsse sich eine große Allianz bilden, um die sozialen Probleme und das politische Chaos der Gegenwart zu bewältigen. Die alten Eliten hätten sich dazu als unfähig erwiesen, denn ihre Zeit sei abgelaufen. Die neue Generation werde dagegen soziale Reformen zur solidarischen Hilfe für die Arbeiter und die Armen durchsetzen, ohne dem Klassenkampf zu verfallen.76 Das brasilianische Pendant zum argentinischen Komitee bildete Olavo Bilacs Liga da Defesa Nacional („Liga der Nationalen Verteidigung“), die ebenfalls im ganzen Land Verbreitung fand. Wortführern wie Bilac ging es zum einen um die Ertüchtigung der Jugend durch den Wehrdienst, zu dem er diese unter Verweis auf die Mannhaftigkeit der tapferen jungen Europäer im Weltkrieg aufforderte. Zum anderen wollte man die Stärkung der Nation durch Modernisierung der ­sozialen Strukturen erreichen.77 Die 1916 in São Paulo durch Júlio de Mesquita Filho, Miteigentümer der führenden Tageszeitung „O Estado“, gegründete Liga Nacionalista („Nationalistische Liga“) verfolgte ähnliche Ziele. Auch ihr ging es 71 

Aníbal Ponce: El año 1918 y América Latina. In: Cúneo (Hg.): Reforma (wie Anm. 67), S. 223. Zum Bild des Weckrufs vgl. auch Olivier Compagnon: L’adieu à l’Europe. L’Amérique latine et la Grande Guerre (Argentine et Brésil, 1914–1939). Paris 2013, S. 17. 72  Alfonso Mejía Rodríguez: La France, notre mère intellectuelle, conférences et articles. [o. O.] 1918, S. 21. 73  Rojas: Guerra (wie Anm. 40), S. 15, S. 63–65. 74  Ebd., S. 46. 75  Alfredo L. Palacios: Prusianismo y democracia. Buenos Aires 1917, S. 5–7; vgl. auch Leopoldo Lugones u. a.: La convención patriótica del Comité Nacional de la Juventud y la proclama de los intelectuales argentinos sobre el gobierno imperial alemán y la guerra internacional. Buenos Aires 1917, S. 9. 76  Rojas: Guerra (wie Anm. 40), S. 254–311. 77  Olavo Bilac: A defesa nacional. Discursos. Rio de Janeiro 1965, S. 24–27.

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um die Stärkung der Nation durch die Förderung des Patriotismus und den Kampf gegen linke Strömungen.78 Die zweifellos großen Mobilisierungserfolge dieser Vereinigungen brachten den von Ponce genannten Nebeneffekt der Politisierung hervor und entwickelten eine Eigendynamik, die gegen Kriegsende in die vom argentinischen Córdoba ausgehende Studentenbewegung mündete. Dieser Bewegung war es in der Anfangsphase 1916 um die Reform verkrusteter Universitätsstrukturen gegangen. Sie verband die Forderung nach dem Führungsanspruch der Jugend mit der nach Partizipation und dem Ende des Kolonialismus. Die Studenten reklamierten damit den missionarischen Auftrag für sich, in die Gesellschaft hinein zu wirken und die Demokratisierung zu befördern. Dabei beriefen sich ihre Anführer auf die große Katastrophe des Weltkriegs, deren Wiederholung es zu vermeiden gelte, und auf die Oktoberrevolution, die ihres Erachtens eine neue Entwicklung der Menschheit ankündigte.79 Der Ende März 1918 begonnene Generalstreik der Studenten in Córdoba ­weitete sich schnell zu einer nationalen Bewegung aus, mit der sich bekannte Intellek­tuelle solidarisierten. Im Manifest der Bewegung von Córdoba „an die freien Menschen Südamerikas“ hieß es: „Die Jugend ist immer auf dem Weg zum Heldentum“.80 Der Anführer der Studierenden, Deodoro Roca, sprach bewusst von einer durch den Krieg geprägten „Generation von 1914“, deren Aufgabe es sei, für die Zukunft und das Schicksal der Nation zu kämpfen.81 Für seinen Mitstreiter Julio V. González bereitete darüber hinaus die Russische Revolution den Nährboden für den Protest und symbolisierte einen neuen Aufbruch überall in Lateinamerika.82 Anfang 1919 sprang der Funken auf die Nachbarländer Peru und Chile über und beeinflusste bald junge Akademiker in der gesamten Region. Das kontinentale Bewusstsein entwickelte sich vor dem Hintergrund einer lateinamerikaweiten Vernetzung. Später berühmt gewordene Persönlichkeiten wie der Kolumbianer Germán Arciniegas oder die Peruaner Víctor Raúl Haya de la Torre und José ­Carlos Mariátegui fühlten sich der Bewegung verbunden.83 Im Rückblick betonte Haya de la Torre, dass die Lektionen des Kriegs und der Verrat an den Idealen von Freiheit und Gleichheit schließlich die große grenzübergreifende Revolution der Studenten ermöglicht hätten.84 Letztlich habe diese einen globalen Anspruch.

78 

McGee Deutsch: Derechas (wie Anm. 15), S. 152 f. Funes: Nación (wie Anm. 63), S. 45–48. 80  La juventud argentina de Córdoba a los hombres libres de América. In: Cúneo (Hg.): Reforma (wie Anm. 67), S. 2; José Ingenieros: La reforma en América Latina. In: ebd., S. 221 f. 81 Deodoro Roca: La nueva generación americana. In: Cúneo (Hg.): Reforma (wie Anm. 67), S. 146–149; vgl. auch: Orden del día del mitín de solidaridad en Buenos Aires. In: ebd., S. 10. 82 Julio V. González: Significado de la reforma universitaria. In: Cúneo (Hg.): Reforma (wie Anm. 67), S. 188–196. 83  Roberto Aquiles Ferrero: Historia crítica del movimiento estudiantil de Córdoba. Bd. 1: 1918– 1943. Córdoba 1999, S. 14–17. 84 Víctor Raúl Haya de la Torre: La reforma universitaria y la gran lección de la guerra. In: ­Cúneo (Hg.): Reforma (wie Anm. 67), S. 230. 79 

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Der Argentinier Florentino Sanguinetti merkte ebenfalls rückblickend an, dass sich die Protestbewegungen und Streiks der Studenten und Arbeiter zu einem Zeitpunkt ergänzt hätten, als durch das Ende des Weltkriegs die gesamte Weltordnung zusammengebrochen sei.85 Und Aníbal Ponce schrieb: „Neunzehnhundert­ achtzehn ist für Lateinamerika der Geburtstag der Revolutionen.“86 Die betonte Nähe der Studenten zur Arbeiterbewegung war kein Zufall, denn beide verband die Kritik am Kapitalismus, der in ihren Augen die globale Kata­ strophe des Kriegs erst ermöglicht hatte.87 Von ihren Anfängen Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Bewegung seit der Jahrhundertwende durch die zunehmende Einwanderung einen raschen Zuwachs erhalten, wenngleich sie sich in ideologischer Hinsicht in viele unterschiedliche Gruppierungen aufsplitterte. Ihre Stärke bezog die Arbeiterbewegung von Beginn an aus ihrer transnationalen Verflechtung.88 Während der Kriegsjahre erfuhr sie in ganz Lateinamerika eine massive Zunahme, die in den sozialen Unruhen der Jahre 1917/18 ihren Höhepunkt fand.89 Der Krieg bot aus Sicht von Anarchisten wie etwa der Brüder Ricardo und ­Enrique Flores Magón ein durchaus günstiges Umfeld für ihren Kampf. Die in ganz Lateinamerika bestens vernetzten Mexikaner hatten den Kriegsausbruch zur Inten­sivierung ihrer Propaganda nutzen wollen.90 Zwar begrüßten die Sozialisten den Krieg nicht wie Ricardo Flores Magón als Türöffner der Weltrevolution, sondern beklagten die zahllosen Opfer unter den Arbeitern, doch erkannten auch sie die Möglichkeit, ihre Anhänger nun noch erfolgreicher zu mobilisieren. Daher hatten die Streiks, die zum Kriegsende hin kulminierten, eben auch politische ­Ziele.91 In den Vereinigten Staaten von Amerika hatte man diese Entwicklungen mit ­einiger Besorgnis beobachtet. Die US-Regierung wollte die radikalen anarchistischen Bewegungen eindämmen. Daher begrüßte Wilson die Anstrengungen der regierungsnahen Gewerkschaft American Federation of Labor („Amerikanische Arbeiterföderation“; AFL) unter Samuel Gompers, der bereits seit 1915 die Annähe­rung an den Anführer des mexikanischen Gewerkschaftsbunds Confederación Regional Obrera Mexicana („Regionale Arbeiterkonföderation Mexikos“; CROM), Luis Morones, suchte. Im Rahmen des Panamerikanismus wollte Gompers die Vernetzung mit lateinamerikanischen Partnern ausbauen. Im Juli 1916 85  Florentino V.

Sanguinetti: Reforma y contrarreforma en Buenos Aires. In: Cúneo (Hg.): Reforma (wie Anm. 67), S. 244. 86  Ponce: 1918 (wie Anm. 71), S. 224. 87  So argumentierte Bunge bereits 1914; vgl. Augusto Bunge: Nuestra tercera encuesta. In: Nosotros (Buenos Aires) 8 (Oktober 1914), S. 144. 88  Albert: South America (wie Anm. 3), S. 235; Spalding: Labour (wie Anm. 28), S. 1–47. 89  Spalding: Labour (wie Anm. 28), S. 48. 90 Yankelevich: Revolución (wie Anm. 65), S. 14; Enrique Flores Magón: Burlemos la ley. In: ­Regeneración, 8. 8. 1914, S. 3; Ricardo Flores Magón: Leyendo el porvenir. In: Regeneración, 12. 8. 1916, S. 1. 91  La grave situación. In: La Vanguardia, 7. 8. 1914, S. 1; En homenaje a Jaurès. In: La Vanguardia, 8. 8. 1914, S. 1; Valle Iberlucea: Cuestión (wie Anm. 4), S. 27.

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wandte sich Gompers mit einem Rundbrief an die Arbeiterorganisationen Ame­ rikas und forderte sie zur Schaffung einer Pan-American Federation of Labor („Panamerikanischen Arbeiterföderation“; PAFL) auf, um den Internationalismus der Arbeiterklasse zu stärken. Anfang Februar 1917 gründete sich ein Vorbereitungskomitee, an dem sich aber nur Delegierte aus Puerto Rico, Mexiko und den USA beteiligten. Am 13. November 1918 begann das Gründungstreffen der PAFL im texanischen Laredo mit Delegierten von CROM und AFL.92 Diese Ansätze einer panamerikanischen Verflechtung waren eindeutig im In­ teresse der US-amerikanischen Außenpolitik, blieben aber letztlich eine Rand­ erscheinung der lateinamerikanischen Arbeiterbewegungen. Sie waren jedoch Ausdruck der zunehmenden Transnationalisierung der Arbeiterbewegung. Diese sollte nach dem Kriegsende weiter an Bedeutung gewinnen, wie die Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation im Rahmen des Völkerbundes 1919 zeigt. Die Erwartungen, welche die von den lateinamerikanischen Regierungen mit unter­zeichneten Arbeiterschutzbestimmungen weckten, sollten jedoch noch lange unerfüllt bleiben.93 Vor 1918 hatte die Arbeiterbewegung ein ausgeprägtes Engagement zugunsten der Beendigung des Kriegs entfaltet. Wie andernorts waren auch in Lateinamerika die politische Linke und die Kirche besonders stark in pazifistischen Aktivitäten engagiert gewesen.94 Die sozialistischen Bewegungen und Parteien sahen sich als die wahren Vorreiter im Kampf gegen den Krieg. Der mexikanische Senator ­Enrique del Valle richtete noch Anfang 1917 seine Hoffnung auf die Internatio­ nale zur Beeinflussung der Arbeiter in Europa und forderte eine kontinentale Vereinigung, um das Prinzip der friedlichen Streitschlichtung durchzusetzen.95 In ­Brasilien engagierte sich die Confederação Operária Brasileira („Brasilianische Arbeiterkonföderation“) aktiv gegen den Krieg und viele sozialistische Organisationen schlossen sich den gemeinsamen Friedenskongressen an, die in den alljährlichen Maikundgebungen gipfelten.96 Doch die Hoffnung, dass „die Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten in Zukunft ausgedient habe“, sollte sich nicht erfüllen.97 Nicht nur in Brasilien gab es viele Beobachter, die die pazifistischen Strömungen belächelten, da der Krieg eine „naturgegebene und unvermeidliche Tatsache“ sei.98 Der Kampf gegen den Krieg, so stellten viele Aktivisten frustriert fest, sei letztlich 92 

Gregg Andrews: Shoulder to Shoulder? The American Federation of Labor, the United States, and the Mexican Revolution, 1910–1924. Berkeley 1991, S. 70–94. Vgl. auch Robert J. Alexander: International Labor Organizations and Organized Labor in Latin America and the Caribbean. A History. Santa Barbara 2009, S. 11–21. 93  Rojas: Guerra (wie Anm. 40), S. 204; Andrews: Shoulder (wie Anm. 92); S. 75, S. 89; Spalding: Labour (wie Anm. 28), S. 73. 94  María Inés Tato: La disputa por la argentinidad. Rupturistas y neutralistas durante la Primera Guerra Mundial. In: Temas de historia argentina y americana 13 (Juli–Dez. 2008), S. 229. 95  Valle Iberlucea: Cuestión (wie Anm. 4), S. 57. 96  Bandeira/Melo/Andrade: Ano (wie Anm. 3), S. 37. 97  Dura lección. In: La Vanguardia (Buenos Aires), 6. 8. 1914, S. 1. 98  O progresso do pacifismo. In: Jornal do Commercio, 13. 9. 1914, S. 2.

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­ ergeblich, denn die nationalistische Begeisterung habe den Wunsch nach Frieden v vollständig überlagert.99 Nicht zuletzt Frauen engagierten sich in der Friedensbewegung, die durch den Erfolg von Bertha von Suttner mit ihrem Roman „Die Waffen nieder!“ bekannt wurde, dessen dänische Verfilmung kurz nach Kriegsausbruch 1914 in lateinamerikanischen Kinos für Furore gesorgt hatte.100 Die Rolle der Frau in der Nation diskutierten die lateinamerikanischen Medien vor dem Hintergrund des Kriegs intensiver denn je. Der mexikanische Intellektuelle Manuel Gamio etwa bevorzugte in seinem Klassiker der Nationsliteratur „Forjando Patria“ von 1916 die „feminine Frau“, gegenüber der archaisch „dienenden“ oder der „vermännlichten feministischen“ Frau.101 Klare Vorgaben für weibliches Verhalten machten männliche Autoren insbesondere in Ländern wie Brasilien oder Kuba, die selbst in den Krieg eingetreten waren. So sollte die brasilianische Frau im Krieg ein Vorbild an Opferbereitschaft sein und durch Worte für die Ideale der Gerechtigkeit und des Rechts kämpfen.102 Außerdem gab es praktische Anforderungen, die Frauen als Mütter der Familie nun zu erfüllen hatten: Sparsamkeit, harte Arbeit, Fleiß und die Bereitschaft, Entbehrungen und Hunger zu ertragen – all dies erwarteten männliche Kommentatoren von der weiblichen Hälfte der Bevölkerung als Beitrag zum Krieg.103 Als dieser sich dem Ende zuneigte, mehrten sich die Appelle, dass die Frau zu heiraten und sich wieder in den Haushalt zurückzuziehen habe, um durch die Erziehung von möglichst vielen Kindern zum Wachstum der Na­ tion beizutragen und die Moral der Bevölkerung insgesamt zu stärken.104 Zu den vielen Gruppen, die im Kontext des Kriegs Gleichberechtigung und Partizipationsrechte einforderten, zählte nicht zuletzt die Frauenbewegung. Die chilenische Frauenrechtlerin Elena Ivens hatte im Namen vieler Frauen gesprochen, als sie im Oktober 1914 grundsätzliche Kritik an dem von Männern geführten barbarischen Krieg geübt hatte. Die Tatsache, dass eine männlich dominierte Justiz die Suffragetten vor dem Krieg aufgrund ihrer Gewaltbereitschaft weggesperrt hatte, wirkte vor diesem Hintergrund wie Hohn. Die gegen die Frauen gerichtete Minderwertigkeitsthese ließ sich laut Ivens angesichts des Kriegs nicht mehr halten, denn gerade der Krieg habe die moralische Überlegenheit der Frauen bewiesen. Der Kampf um die politischen und bürgerlichen Rechte der Frau erschien daher legitimer denn je.105 In der Tat war die Frauenbewegung während der Kriegsjahre beachtlich angewachsen. In Chile begann die bürgerliche Frauenbewegung 1915 mit der Gründung eines Círculo de Lectura (Lesezirkels) und eines Club de Señoras (Damen 99 

A hora da guerra. In: A Careta (Rio de Janeiro), 8. 8. 1914. Abaixo as armas! In: Jornal do Commercio, 21. 09. 1914, S. 10. 101  Manuel Gamio: Forjando patria. Mexiko 1960, S. 129. 102  Alcibiades Delamare Nogueira da Gama: O papel da mulher brasileira na guerra. In: FonFon, 1. 12. 1917. 103  A. Getulio das Neves: Appello ás mães de familia. In: Fon-Fon, 26. 1. 1918. 104  Carmela Nieto de Herrera: La mujer después de la guerra. In: Social, 3/1919, S. 55. 105  Elena Ivens: ¿Por qué luchan? In: Zig-Zag, 24. 10. 1914. 100 

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klubs). In Uruguay entstand 1916 der Consejo Nacional de Mujeres („Nationale Rat der Frauen“) und in Argentinien, wo sich bereits vor 1914 wichtige Frauen­ organisationen gegründet hatten, nahmen die Aktivitäten in den Kriegsjahren deutlich zu.106 In anarchistischen und sozialistischen Kreisen hatten sich ohnehin schon vor dem Krieg eigene Frauenbewegungen entwickelt. Autoren wie der ­Mexikaner Ricardo Flores Magón, der Chilene Luis Emilio Recabarren und der Peruaner Manuel González Prada intensivierten im Verlauf des Kriegs ihre Unter­ stützung für die politisierten Frauen. Neue Nahrung erhielten die feministischen Organisationen, die vor allem in den Ländern des südlichen Lateinamerika stark waren, nach Kriegsende durch die Einführung des Frauenwahlrechts in Ländern wie Deutschland und den USA.107 Die Aktivistinnen und ihre Unterstützer dachten und arbeiteten in dieser Phase in transnationalen Dimensionen. Sowohl ihre Forderungen als auch ihre Aktivitäten können nur vor dem Hintergrund dieser über den nationalen Rahmen hinausgehenden Vernetzung verstanden werden.

Schlussbetrachtung Lateinamerikaner fieberten dem Kriegsende entgegen und blickten doch gleichzeitig nervös in die Zukunft. Die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen gaben Anlass zur Besorgnis. Insbesondere die großen Unruhen in weiten Teilen der Region 1918/19 waren eine indirekte Folge des Kriegs in Europa. Darüber hinaus waren diese aber auch das Resultat von langfristigen sozialen Problemen und internationalen Ereignissen wie vor allem der Revolutionen in Russland 1917. Es passte ins Bild, dass die Euphorie, die das Kriegsende in Lateinamerika aus­ löste, sehr schnell in Ernüchterung umschlug. Die „wilsonianische Enttäuschung“ war ein Teilaspekt der lateinamerikanischen Erfahrungen des Kriegsendes. Die „neue Ära“, die viele lateinamerikanische Kommentatoren in diesem Moment gekommen sahen, enthielt viele Unsicherheiten. Der Krieg hatte vielfältige emanzipatorische Bestrebungen verstärkt. Das soll nicht heißen, dass diese Prozesse erst durch den Ersten Weltkrieg ausgelöst wurden, der Krieg wirkte vielmehr als Katalysator und Transformator. Die seit Längerem bestehenden sozialen Konfliktpotenziale verschärften sich allerorten. Die Probleme und die Wahrnehmung ihrer Dringlichkeit hatten sich während des Kriegs zugespitzt und wurden kontrovers diskutiert. Das transformative Element der Entwicklung lag darin, dass die Diskussionen in neue soziale Bewegungen mündeten, deren Ausrichtung höchst unterschiedlich war, die sich jedoch in zwei Punkten ähnelten: Erstens handelte es sich um transnationale Bewegungen, die nicht auf einen Staat oder wenige Länder beschränkt blieben, sondern an vielen 106  Asunción

Lavrin: Women, Feminism, and Social Change in Argentina, Chile, and Uruguay 1890–1940. Lincoln 1995, S. 286, S. 328. 107  De EE.UU. In: La Unión (Valparaíso) 10. 9. 1918, S. 1; Nueva era. In: Nosotros 12 (1918) 115, S. 365–373.

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Orten wirkten und miteinander verflochten waren. Zweitens beanspruchten sie für sich – in Abgrenzung vom alten Europa und teils auch von den in Lateinamerika herrschenden Oligarchien – die Jugend zu repräsentieren und damit für die Zukunft zu stehen.

Abstract Latin Americans eagerly looked forward to the end of the war, but at the same time were concerned about their future prospects. The economic and social developments gave cause for worry. In particular, the major disturbances that affected much of the region from 1918/19 on were an indirect consequence of the war in Europe. In addition, they were also the result of long-standing social problems and international events, including, first and foremost, the Russian Revolution. The euphoria which the end to the war had sparked in Latin America quickly turned into disappointment. The war, which ended in 1918/19, also cast long shadows on Latin America’s future. The “new era” that had now arrived according to many Latin American commentators was full of uncertainties.

Jan Schmidt „Den anglo-amerikanisch zentrierten Pazifismus beseitigen!“ Erwartungen an die Nachkriegszeit in Japan und das Scheitern des Wilsonian Moment in Ostasien, 1918–1920 Einleitung Im Dezember 1918 veröffentlichte Konoe Fumimaro1 einen Essay in der konservativen Zeitschrift „Nihon oyobi Nihonjin“ („Japan und die Japaner“), dessen ­Titel als programmatischer Aufruf zur Errichtung einer neuen Ordnung zu verstehen war: „Den anglo-amerikanisch zentrierten Pazifismus beseitigen!“ Im ­Beitrag wurde die Völkerbundsidee, die Konoe als ein Vehikel zur Festigung eines hegemonialen „anglo-amerikanischen“ Wirtschaftsimperialismus ansah, abgelehnt.2 Der Text war von unmittelbarer Brisanz, weil der damals 27-jährige Konoe als Sekretär Saionji Kinmochis, des Leiters der japanischen Delegation, wenige Wochen später an der Pariser Friedenskonferenz teilnehmen sollte. In längerer historischer Perspektive erhält der Artikel dadurch weitere Relevanz, dass Konoe zwischen Juni 1937 und Januar 1939 sowie zwischen Juli 1940 und Oktober 1941 Japan als Ministerpräsident regierte. In seine Amtszeit fielen nicht nur die Ausweitung des Zwischenfalls an der Marco-Polo-Brücke vom 7. Juli 1937 zum unerklärten Krieg mit China sowie die Ausrufung sowohl eines „Neuen Systems“ (shin-taisei) als auch einer „Neuen Ordnung für Großostasien“ (Daitōa shinchitsujo), sondern auch das Scheitern der Verhandlungen mit den USA im Spätjahr 1941, das unter seinem Nachfolger Tōjō Hideki zum Angriff auf Pearl ­Harbor 1  Für

die Umschrift aus dem Japanischen wird hier das revidierte Hepburn-System, für die aus dem Chinesischen die Pinyin-Umschrift und für die aus dem Koreanischen die McCune-Rei­ schauer-Umschrift verwendet. Die Schreibweise japanischer, chinesischer und koreanischer Namen erfolgt in der in Ostasien gebräuchlichen Reihenfolge: zuerst der Familien-, dann der Personenname. Alle Übersetzungen aus dem Japanischen – sofern nicht anders angemerkt – stammen vom Verfassers des Beitrags. 2  Konoe Fumimaro: Ei-Bei hon’i no heiwa-shugi o hai su [= Den anglo-amerikanisch zentrierten Pazifismus beseitigen!]. In: Nihon oyobi Nihonjin 746 (15. 12. 1918), S. 23–26. Für eine gekürzte Übersetzung ins Englische vgl. Konoe Fumimaro: A Call to Reject the Anglo-American Centered Peace. 1918. In: Sven Saaler/Christopher Szpilman (Hg.): Pan-Asianism. A Documentary History. Bd. 1: 1850–1920. Lanham 2011, S. 311–317. https://doi.org/10.1515/9783110653359-007

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führte. Die Ablehnung der Ideen Wilsons im Spätjahr 1918 wird gemeinhin als ein formativer Moment im politischen Denken Konoes wie auch vieler anderer junger Mitglieder der japanischen Delegation angesehen, die später in den 1930er- und 1940er-Jahren eine „Großostasiatische Wohlstandssphäre“ errichten wollten und am Bündnis mit dem nationalsozialistischen Deutschland und dem faschistischen Italien arbeiteten.3 Konoes Intervention im Vorfeld der Pariser Friedenskonferenz wurde und wird in der Forschung zur Zeitgeschichte Japans häufig erwähnt, eine Einordnung in den breiteren Nexus der mannigfaltigen Erwartungen, die in Japan an die Nachkriegszeit gerichtet wurden, erfolgt allerdings selten – von den we­ nigen Ausnahmen wie der kaum rezipierten tiefgehenden Analyse Nakanishi ­Hiroshis, in der dieser den oben genannten Text in seinen intellek­tuellen Entstehungskontext einordnet, sowie von Arbeiten zum „Asianismus“ in Japan einmal abgesehen.4 Ein Blick auf die schiere Breite der Erwartungen an die Nachkriegszeit und der diesen zugrunde liegenden Zukunftsvor­stellungen ist essenziell für das Verständnis des Denkens Konoes im Vorfeld der Pariser Friedenskonferenz – und damit des Denkens eines der später wesentlichen Architekten einer Politik der japanischen „Revolte gegen den Westen“.5 Mit ihm wird ein Verständnis des Erwartungshorizonts der japanischen Eliten nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erst möglich. Im Folgenden soll Konoes Intervention vom Dezember 1918 allerdings lediglich als Ausgangspunkt dienen, um die Vielfalt und bisweilen Radikalität der ­japanischen Erwartungen an die Nachkriegszeit sowie den besonderen Erwartungshorizont (im Sinne Reinhart Kosellecks) des Jahres 1919 zu umreißen. In einem Überblick sollen die überbordenden Erwartungen im Verlauf des Kriegs und die damit verbundene Fallhöhe für die folgende Enttäuschung über die Pariser ­Friedenskonferenz dargestellt werden. Konoes Text ist nur eine prominente Intervention. Sie war Teil einer Vielzahl von mit Forderungen verbundenen Zukunftsvorstellungen im Hinblick auf die Nachkriegszeit, die bereits seit 1914 in stetig wachsender Zahl in der japanischen Öffentlichkeit lanciert wurden. Ohne die 3  Vgl.

z. B. Ishida Ken: Japan, Italy and the Road to the Tripartite Alliance. Cham 2018, S. 150; Hotta Eri: Pan-Asianism and Japan’s War, 1931–1945. New York 2007, S. 68; Frederick Dickinson warnt jedoch davor, eine einfache Kontinuitätslinie von diesem Text zu Konoes späterer Politik als Ministerpräsident zu ziehen vgl. Frederick Dickinson: World War I and the Triumph of a New Japan, 1919–1930. Cambridge 2013, S. 62 4  Nakanishi Hiroshi: Konoe Fumimaro „Ei-Bei hon’i no heiwa shugi o hai su“ ronbun no haikei. Fuhenshugi e no taiō [= Der Kontext des Aufsatzes „Den anglo-amerikanisch zentrierten Pazifismus beseitigen!“. Eine Reaktion auf den Universalismus]. In: Hōgaku ronsō 132 (1993), S. 225– 258. In Verbindung mit der Geschichte des japanischen „Asianismus“ vgl. Miwa Kmitada: PanAsianism in Modern Japan. Nationalism, Regionalism and Universalism. In: Sven Saaler/Victor Koschmann (Hg.): Pan-Asianismus in Modern Japanese History. Colonialism, Regionalism and Borders. London 2007, S. 21–33; Torsten Weber: Embracing „Asia“ in China and Japan. Asianism Discourse and the Contest for Hegemony. Cham 2018. 5 Najita Tetsuo/Harry Harootunian: Japanese Revolt against the West. Political and Cultural Criticism in the Twentieth Century. In: Peter Duus (Hg.): The Cambridge History of Japan. Bd. 6: The Twentieth Century. Cambridge, S. 711–774.

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Kenntnis dieser Vorstellungen sind zentrale Entwicklungen des Jahres 1919 nicht zu verstehen. Diese in Japan öffentlich diskutierten Erwartungen und Forderungen fanden stets auch ihren Weg in chinesische Medien und wurden zudem von der koreanischen Diaspora in Ostasien wahrgenommen. Sie bildeten somit einen wichtigen Kontext auch der chinesischen und koreanischen Diskussionen über die unmittelbar bevorstehende Zukunft in der gerade erst angebrochenen Nachkriegszeit, und sei es nur als Antithese. Um wiederum zu verstehen, warum Konoes Anklage der vor allem mit Woo­ drow Wilson in Verbindung gebrachten Ideen im Dezember 1918 noch eher eine Minderheitenmeinung repräsentierte, aber schon im Juli 1919 in der japanischen Öffentlichkeit mehrheitsfähig war, reicht es nicht aus, nur den Verlauf der Pariser Friedenskonferenz und die Reaktionen in Japan auf diese zu betrachten. Vielmehr spiegelten sich hier Ressentiments gegenüber den USA und in vermindertem Maße auch gegenüber Großbritannien wider, die sich bereits seit 1915 stetig verschärft hatten. Hierbei sind auch die Vorstellungen hinsichtlich der weiteren Entwicklung des chinesisch-japanischen Verhältnisses und generell der Rolle Japans in Ostasien sowie das Selbstverständnis bezüglich des eigenen Kriegsbeitrags in den Blick zu nehmen. Im Hinblick auf Letzteren wurde häufig selbst in der ja­ panischen Forschung angenommen, dass nach Abschluss der militärischen Operationen gegen das deutsche Pachtgebiet um Qingdao und die deutschen Insel­ kolonien in Mikronesien der Weltkrieg in Japan eher als „Feuer am anderen Ufer“ (taigan no kaji) angesehen worden sei. Neuere Forschungen haben aber plausibel heraus­ gearbeitet, dass gerade durch die Berichterstattung in den japanischen Massen­medien weit über die politischen Eliten hinaus das Bewusstsein geherrscht hat, Japan sei durchaus kontinuierlich am Krieg beteiligt und werde von diesem ­fundamental beeinflusst.6 Dies geschah nicht nur durch die Wahrnehmung der ökomischen Verwerfungen. Auch die – massive – materielle Unterstützung für die verbündeten Entente-Mächte sowie die weitere – limitierte – militärischen Be­ teiligung beispielswiese durch japanische Kriegsschiffe, die 1917 im Mittelmeer sta­tioniert wurden, sowie die vielbeachtete Mission von Ärzten und Kranken­ schwestern des japanischen Roten Kreuzes, die in Militärhospitälern in Paris, London und St. Petersburg Verwundete pflegten, speiste diese Perzeption. Und nicht zuletzt erlaubten die vielen Berichte und Fotografien von diesen japanischen Krankenschwestern im Übrigen in der visuellen Darstellung eine nicht zu unterschätzende Umkehrung der bisherigen Machtverhältnisse, zumal im Hinblick auf Gender und „Rasse“. 6  Jan Schmidt: Nach dem Krieg ist vor dem Krieg. Medialisierte Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und Nachkriegsdiskurse in Japan (1914–1919). Frankfurt a. M. 2021; Frederick Dickinson: The View from Japan. War and Peace in Europe around 1914. In: Holger Afflerbach/David ­Stevenson (Hg.): An Improbable War. The Outbreak of World War I and European Political Culture before 1914. New York/Oxford 2007, S. 303–319. Morohashi Eiichi/Tamai Kiyoshi Seminar: The Japanese Press and Japan’s Entrance into the First World War. In: Jan Schmidt/Katja Schmidtpott (Hg.): The East Asian Dimension of the First World War. Global Entanglements and Japan, China, and Korea, 1914–1919. Frankfurt a. M. 2020, S. 101–124.

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Die ausgeprägte Volatilität, die den hohen Erwartungen dieser Zeit zu eigen war, muss auch im Kontext der sozioökonomischen Entwicklungen der Jahre 1914 bis 1920 gesehen werden. Denn obwohl die Wirtschaft Japans zwischen Mitte 1915 und März 1920 hohe Zuwachsraten zu verzeichnen hatte, mithin Japan ökonomisch stark von einer durch die Verwerfungen des Kriegs drastisch gestiegenen Nachfrage nach japanischen Produkten profitierte und in eine letzte Phase der Industrialisierung treten konnte, waren die Jahre 1914 bis 1920 von enormer Unsicherheit und – damit einhergehend – immer wieder auch von negativen ­Zukunftsvorstellungen durchdrungen. Die Gesellschaft dieser Zeit befand sich jedoch auch in einer gespannten Aufbruchsstimmung. Angesichts des präzedenz­ losen Gewalt­rauschs unter den europäischen Großmächten, die sich aus der Perspektive vieler asiatischer Kommentatoren desavouiert hatten, eröffnete sich in Japan ein diskursiver Raum zur Artikulation exaltierter, vielfach von einer ­ ­Orientierung an Europa befreiter Zukunftsvorstellungen. Die dann 1919 omnipräsenten Forderungen nach kaizō („Reformen“) in allen erdenklichen Bereichen können nur vor dem Hintergrund der schon während der Kriegsjahre in großer Zahl formulierten hohen Erwartungen an die Nachkriegszeit verstanden werden. Dieser Komplex von kriegszeitlichen Diskursen über die Nachkriegszeit, hier „Nachkriegsdiskurse“ genannt, ist in der bisherigen Forschung als Hintergrund der Vorstellungswelten von 1919/20 weitgehend ignoriert worden.7 Mithin soll es im vorliegenden Beitrag um die grundsätzlichen Vorstellungen und Voraussetzungen – in den Worten Reinhart Kosellecks: um den „Erfahrungsraum“ und den „Erwartungshorizont“ – gehen, mit denen das japanische Empire in das Jahr 1919 eintrat, und darum, welche Konsequenzen sich daraus für die Pariser Friedenskonferenz und die unmittelbare Folgezeit ergaben.8 Dies soll ein tieferes Verständnis des „Faktors Japan“ in seinem ostasiatischen Kontext ermöglichen. Die Relevanz vor allem der „Shandong-Frage“ für den Beginn der „Bewegung des 4. Mai 1919“ in China, die auch von der koreanischen Unabhängigkeitsbewegung des 1. März 1919 und deren blutiger Niederschlagung durch die japanischen Kolonialherren beflügelt wurde, liegt auf der Hand und wurde von Erez Manela, Guoqi Xu und anderen behandelt.9 Ziel dieses Beitrags ist es demgegen7  Jan Schmidt: Dai-ichiji sekai taisen-ki Nihon ni okeru „sengo-ron“. Miraizō no tairyō seisan [„Nachkriegsdiskurse“ in Japan in der Zeit des Ersten Weltkriegs. Eine Massenproduktion an Zukunftsvorstellungen]. In: Koseki Takashi (Hg.): Gendai no kiten. Dai-ichiji sekai taisen. Daiikkan: Sekai sensō [= Ausgangspunkt der Moderne. Der Erste Weltkrieg. Bd. 1: Weltkrieg]. Tokio 2014, S. 155–178; Jan Schmidt: Hochphasen von Zukunftsvorstellungen in Japan und der Umbruch des „Nachkriegs“- in den „Reform“-Interdiskurs, 1914–1923. In: BJOAF 41 (2018), S. 225– 250; ders.: Nach dem Krieg (wie Anm. 6). 8  Reinhart Koselleck: „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“. Zwei historische Katego­ rien. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1989, S. 349–375. 9 Erez Manela: The Wilsonian Moment. Self-Determination and the International Origins of ­Anticolonial Nationalism. Oxford 2007; Xu Guoqi: China and the Great War. China’s Pursuit of a New National Identity and Internationalization. Cambridge 2005; Jan Schmidt (Hg.): Themenschwerpunkt 1917–1919 als globaler Moment. Ostasien und der Beginn des Zeitalters der Extreme. In: BJOAF 34 (2010), S. 5–120.

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über, darauf hinzuweisen, dass wesentliche Entwicklungen in Japan beziehungsweise im japanischen Empire, die bei oberflächlicher Betrachtung ihren Ursprung im Jahr 1919 hatten und die von der Wahrnehmung des Verlaufs der Friedenskonferenz beeinflusst wurden, erst durch die nähere Beleuchtung ihrer formativen Phase während des Ersten Weltkriegs verständlich werden. Es handelt sich damit auch um einen moderaten Einspruch gegenüber jüngeren Veröffentlichungen Frederick Dickinsons, der die Offenheit der Vorstellungen, etwa des ausgiebigen Rufs nach „Reform“ beziehungsweise „Rekonstruktion“ (kaizō) in Japan für 1919 und die Folgejahre betont, während er andere Faktoren, die genau diese Offenheit massiv einschränkten, als minder wichtig ansieht.10

Die „Lösung der Chinafrage“: Die „21 Forderungen“ von 1915 als formatives Element des Erwartungshorizonts für die Nachkriegsordnung In einem mit „Der Europäische Krieg und China“ („Ōshū senran to Shina“) überschriebenen Leitartikel, der am 11. August 1914 – und damit im unmittelbaren Vorfeld des japanischen Kriegseintritts auf der Seite der Entente am 23. August – in der auflagenstarken, auch in den 1910er-Jahren häufig regierungskritischen ­japanischen Tageszeitung „Tōkyō asahi shinbun“ erschien, wurde der sich abzeichnende Kriegseintritt Japans folgendermaßen kommentiert: „Alle Staaten der Welt – wer auch immer mehr oder weniger enge Beziehungen zu den Großmächten unterhält –, sie alle werden durch den Krieg, der nun unter den euro­päischen Großmächten ausgebrochen ist, durch dieses unglückliche Ereignis, beeinflusst werden. Auf die eine oder andere Weise wird es unmöglich sein, die einhergehenden Leiden nicht zu teilen. […]. [Und nun] können wir, die japanische Nation, es keinesfalls zulassen, dass der Frieden in Ostasien gestört wird und dass es jemanden gibt, der die Ordnung in diesem Teil der Welt gefährdet. Auch wenn dies bedeutet, dafür nolens ­volens Waffengewalt einzusetzen, müssen alle notwendigen Maßnahmen ergriffen werden, um den Frieden in diesem Teil der Welt aufrecht zu erhalten. Ach, die ­Verantwortung der japanischen Nation in Ostasien – sie ist groß!“11 Dieser Kommentar entsprach durchaus dem Gros der zeitgenössischen Äußerungen in den japanischen Zeitungen und Zeitschriften. Trotz der Bezeichnung als „Europäischer Krieg“ spricht aus dem Artikel ein frühes Verständnis für die globale Dimension des Kriegs, was sich auch darin niederschlug, dass der Konflikt in vielen anderen zu dieser Zeit erschienenen Artikeln sowohl in Japan als auch in China bereits als sekai taisen, als „Weltkrieg“, bezeichnet wurde.12 Gleichzeitig 10 

Dickinson: World War I (wie Anm. 3). Ōshū senran to Shina [= Der Europäische Krieg und China]. In: Tōkyō asahi shinbun (11. 8. 1914), S. 3. 12  Yamamuro Shin’ichi: Der Erste Weltkrieg und das japanische Empire. In: BJOAF 34 (2010), S. 21–51, hier: S. 22–24. 11 

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zeigte sich eine weitverbreitete paternalistische Haltung gegenüber der als schwach und schutzbedürftig angesehenen jungen chinesischen Republik. Es ist diese sehr häufige Rhetorik von Japan als „Führungsmacht Asiens“ (Ajia no meishu) oder als „Träger des Friedens im Osten“ (Tōyō heiwa no ninaite), die in den Monaten unmittelbar nach Kriegseintritt des Empires im August 1914 einen extrem folgenreichen Schritt der japanischen Regierung begleiten sollte: die „21 Forderungen“, die – in fünf Gruppen gegliedert – im Frühjahr 1915 an China gerichtet wurden und mit denen die „Chinafrage“ gelöst werden sollte. Unter jenem Schlagwort wurde ein Bündel von Themen verstanden, deren Lösung als essen­ ziell für die Zukunft des japanischen Empire angesehen wurde. So sollten Japan ­beispielsweise das besetzte deutsche Pachtgebiet um Qingdao und die deutschen Sonderrechte auf der Halbinsel Shandong, insbesondere am Eisenbahnnetz, übertragen werden. Zudem setzte sich Japan für eine jahrzehntelange Verlängerung der 1905 infolge des Russisch-Japanischen Kriegs von China erzwungenen Pachtrechte an der Liaodong-Halbinsel mit Port Arthur, dem wichtigen Hafen von ­Dalian (auf Japanisch: Dairen), und an der von dort tief in die nordostchinesische Mandschurei verlaufenden Südmandschurischen Eisenbahn ein.13 Zugleich sollte der Einfluss der europäischen Großmächte und der USA zurückgedrängt werden, was sich in einer fünften Gruppe von Forderungen niederschlug, deren Erfüllung Japan großen Einfluss auf die Innen- und Sicherheitspolitik Chinas ein­geräumt hätte, etwa über eine Verpflichtung Chinas, japanische „Berater“ für das Polizeiwesen zu akzeptieren und Waffen nur noch von Japan zu erwerben. Es ­waren diese Ansprüche, die letztlich massiven chinesischen und anglo-amerika­nischen Widerstand provozierten. Zur Überraschung der japanischen Regierung ließ die chinesische Seite die vertraulich übermittelte fünfte Gruppe von Forderungen ­gezielt an die USA und Großbritannien sowie an die Weltpresse durch­sickern. Nach heftiger Kritik vor allem der USA und auch Großbritanniens, mit dem Japan 1902 ein Bündnis eingegangen war, sah sich die Führung in Tokio genötigt, dieses ­Bündel an Forderungen fallenzulassen. Yamamuro Shin’ichi sieht hier den Beginn eines – gleichwohl auf diplomatischen Parkett ausgetragenen – regelrechten ersten „US-amerikanisch-japanischen“ und „britisch-japanischen Kriegs“, der im Jahr 1919 in Paris seinen Höhepunkt erreichen sollte.14 In China löste die unter Kriegsandrohung erzwungene Annahme der japanischen Forderungen bezüglich der Übertragung der deutschen Rechte auf der Halbinsel Shandong sowie der Verlängerung bereits bestehender japanischer Rechte eine breite Protestwelle aus, die besonders von Studenten, Universitätsdozenten und Unternehmern getragen wurde, letztlich aber weitere Teile der Bevöl-

13 

Naraoka Sōchi: Taika nijūikkajō yōkyū to wa nan datta no ka. Dai-ichiji sekai taisen to Nitchū tairitsu no genten [= Was waren die Einundzwanzig Forderungen? Der Erste Weltkrieg und der Ursprung des Japanisch-Chinesischen Konflikts]. Nagoya 2015, S. 4 f. 14  Yamamuro Shin’ichi: Fukugō sensō to sōryokusen no dansō. Nihon ni totte no dai-ichiji sekai taisen [= Im Spannungsverhältnis zwischen sich überlagernden Kriegen und totalem Krieg. Der Erste Weltkrieg für Japan]. Kyoto 2011, S. 93–114.

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kerung ergriff. Der japanische Koreahistoriker Ono Yasuteru, der sich damit auseinandergesetzt hat, wie der Erste Weltkrieg von koreanischen Unabhängigkeitsaktivisten schon seit 1914 (und eben nicht erst 1919) gesehen wurde, betont die Relevanz der von Studenten aus Korea, China und Taiwan in Tokio im Juli 1915 als Reaktion auf die „21 Forderungen“ hin gegründeten geheimen „Neuen Asiatischen Liga“.15 Die beteiligten koreanischen Studenten warnten davor, dass China das gleiche Schicksal wie Korea drohe und letztlich Gefahr laufe, ebenfalls zur Kolonie Japans zu werden. Einer der 1915 in Tokio an den Diskussionen beteiligten chinesischen Studenten war Li Dazhao, 1921 Mitgründer der Kommunistischen Partei Chinas und späterer Mentor eines damals noch unbekannten jungen Bibliotheksgehilfen an der Universität Peking, Mao Zedong, der seinerseits 1919 wesentlich durch die „Bewegung des 4. Mai“ politisiert wurde. Letztere wiederum stand in direktem Zusammenhang mit der Welle der Empörung über die „21 Forderungen“: Nach deren Annahme wurde für den 9. Mai 1915 ein „Tag der Nationalschande“ in China ausgerufen, dessen Jahrestag 1919 unmittelbar bevorstand, als die Nachricht von der Entscheidung der Übergabe der ehemals deutschen Pachtrechte in China an Japan von Paris nach China gelangte und in der Folge die Proteste des 4. Mai auslöste.16 Von großer Relevanz für das Verständnis des japanischen Erwartungshorizonts der Kriegsjahre ist, dass die Forderungen von allen erdenklichen politischen und intellektuellen Lagern fast ausnahmslos begrüßt worden waren. Nur einige wenige Intellektuelle wie etwa der Wirtschaftsjournalist, Publizist und spätere kurzzeitige Ministerpräsident der Jahre 1956 und 1957, Ishibashi Tanzan, übten Kritik an den Forderungen. Ishibashi setzte sich als einer der wenigen für ein „Prinzip eines kleinen Landes“ (shōkoku-shughi) anstelle eines Empires ein, wonach Japan sich auf friedlichen Handel ausgehend von den Hauptinseln beschränken und keine territorialen Expansionsbestrebungen an den Tag legen solle, die letztlich die Gefahr von Kriegen erhöhen würden. Die meiste Kritik richtete sich jedoch lediglich gegen die „fünfte Gruppe“ der Forderungen.17 Die Verlängerung der bestehenden japanischen Pachtrechte und die Übernahme der deutschen Gebiete hingegen wurden zumeist als selbstverständlich empfunden. Neuere Arbeiten, welche detailliert die Presse sowie Äußerungen von Politikern, Bürokraten und Militärs außerhalb der Öffentlichkeit ausgewertet haben, kommen zum eindeutigen Ergebnis, dass der unter Außenminister Katō Takaaki (auch: Katō Kōmei) ausgearbeitete 15  Ono

Yasuteru: The Outbreak of the First World War and the Korean Independence Movement. Two Strategies Regarding the Twenty-One Demands on China. In: Schmidt/Schmidtpott (Hg.): Dimension (wie Anm. 6), S. 185–207. Zur koreanischen Unabhängigkeitsbewegung im Ersten Weltkrieg und in der Folgezeit ausführlicher vgl. ders.: Chōsen dokuritsu undō to HigashiAjia, 1910–1925 [= Die Koreanische Unabhängigkeitsbewegung und Ostasien, 1910–1925]. Kyoto 2013. 16 Chow Tse-Tsung: The May Fourth Movement. Intellectual Revolution in Modern China. Cambridge, MA 1960. 17  Okamoto Shumpei: Ishibashi Tanzan and the Twenty-One Demands. In: Akira Iriye (Hg.): The Chinese and the Japanese. Princeton 1980, S. 184–198.

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Forderungskatalog auf breite Zustimmung stieß.18 Naraoka Sōchi konstatiert in seiner umfassenden Monografie, dass Katō von der öffentlichen Meinung in Japan sowie von Wirtschaftsinteressen, vertreten etwa von den Industrie- und Handelskammern, zu dem überbordenden Forderungskatalog getrieben worden sei und den chinesischen und US-amerikanischen Widerstand unterschätzt habe.19 Ein besonders drastisches Beispiel für die hohe Akzeptanz der Forderungen ist der bekannte Politikwissenschaftler an der Reichsuniversität Tokio, Yoshino Sakuzō. Er gilt in der Forschung zur „Taishō-Demokratie“, also jenen starken Demokratisierungstendenzen der Jahre etwa von 1905 bis 1931 mit der Regierungszeit des Taishō-Kaisers (1912–1926) im Zentrum, als Gallionsfigur jener Phalanx von Intel­ lektuellen, die in den 1910er- und frühen 1920er-Jahren vehement Demokratisierungsschritte im Innern anmahnten.20 Fast zeitgleich jedoch bezeichnete Yoshino die an China gerichteten Forderungen als „im Großen und Ganzen das Mini­ mum“.21 Auch Ukita Kazutami, ein angesehener Politikhistoriker, Kollege Yoshi­ nos an der Reichsuniversität Tokio und Mitherausgeber der einflussreichen Zeitschrift „Taiyō“ („Die Sonne“), begrüßte die ersten vier Gruppen der For­derungen und hielt sie als künftige „Grundlage des Friedens in Fernost“ für notwendig.22 Die japanische Tagespresse reagierte zumeist mit Unverständnis auf die chinesischen Proteste gegen die Forderungen. So verglich die Tageszeitung „Tōkyō Asahi Shinbun“ die vehemente Ablehnung in China mit der Haltung eines trotzigen Kindes, das eine bittere, jedoch „heilsame Medizin“ nicht einnehmen wolle.23 Politik und Massenmedien in Japan erwarteten, dass die Hafenstadt Qingdao und ihr Hinterland de facto dauerhaft Teil des japanischen Empire werden würden. Letztlich mussten die vormaligen deutschen Rechte auf der Halbinsel zwar im Gefolge der Washingtoner Konferenz von 1921/22 von Japan an China zu­ rück­gegeben und die erzwungenen Verträge von 1915 nullifiziert werden, aber zwischen 1915 und 1919 erwartete eine solche Entwicklung noch niemand. Von der bisherigen Forschung ist weitgehend ignoriert worden, dass bereits unmit­ telbar nach Ende der Kampfhandlungen und mit der Besetzung Qingdaos im November 1914 erste Handbücher von wirtschaftsnahen Verlagen sowie den ­ ­Industrie- und Handelskammern zu Qingdao und zur Halbinsel Shandong he­ rausgegeben wurden. Sie sollten Unternehmern die notwendigen Informationen 18 Tamai

Kiyoshi kenkyūkai [= Tamai Kiyoshi Forschungsgruppe] (Hg.): Pari kōwa kaigi to ­ ihon no masumedia [= Die Pariser Friedenskonferenz und die japanischen Massenmedien]. N ­Tokio 2004, S. 283–288. 19  Naraoka: Taika nijūikkajō (wie Anm. 13), S. 11. 20  Mitani Taichirō: Shinpan. Taishō demokurashī-ron. Yoshino Sakuzō no jidai [= Neuauflage. Über die Taishō-Demokratie. Die Ära Yoshino Sakuzōs]. Tokio 1995; zur Sicht Yoshinos auf ­Japans Außenpolitik und zu seiner Befürwortung des Empire vgl. Han Jung-Sun: An Imperial Path to Modernity. Yoshino Sakuzō and a New Liberal Order in East Asia, 1905–1937. Harvard 2013. 21 Furuya Tetsuo: Ajia-shugi to sono shūhen [= Der Asianismus und sein Umfeld]. In: ders. (Hg.): Kindai Nihon no Ajia ninshiki [= Die Asien-Wahrnehmung des modernen Japan]. Tokio 22001, S. 47–102, hier: S. 64  f. 22 Ebd. 23 Tōkyō asahi shinbun (23. 4. 1915), zitiert nach Furuya: Ajia-shugi (wie Anm. 21), S. 64.

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liefern, damit diese dort langfristig investierten.24 In der Folgezeit wurden von zahlreichen japanischen Unternehmen hohe Beträge aus den Gewinnen der Kriegswirtschaft der Jahre 1914 bis 1918 auf der Halbinsel investiert.25 Dies ist nur damit zu erklären, dass gegenüber der japanischen Politik und gegenüber einer künftigen Friedenskonferenz die feste Erwartung bestand, dass Qingdao und Shandong, wenn nicht direkt in japanischem Besitz, so doch unter dauerhafter Kontrolle Japans verbleiben würden. Dasselbe galt für die ehemaligen deutschen Inselkolonien in Mikronesien, für die ebenfalls hohe japanische Investitionen schon in den Kriegsjahren nachzuweisen sind, ohne dass bis zur Friedenskonferenz völkerrechtlich geklärt worden wäre, ob die Inseln tatsächlich in japanischen Besitz wechseln würden. Es ist dieser weitreichende Konsens, der zu erklären vermag, warum der schwere Konflikt um die ehemaligen deutschen Pachtrechte in Shandong, der 1919 während der Friedenskonferenz zwischen China und Japan ausgetragen wurde, sowie die Einstufung der von Japan besetzten ehemaligen deutschen Inselkolonien als Mandatsgebiete des Völkerbundes unter japanischem Mandat zu einer verbreiteten Ablehnung der Konferenz in Japan beitrugen.26 Auch in dieser Hinsicht stellte der eingangs erwähnte Text Konoes also keine Besonderheit dar, richtete sich doch ein wesentlicher Teil seiner Kritik an der Friedenskonferenz gegen eine „anglo-amerikanische“ Friedensordnung, die aus seiner Sicht primär dazu dienen würde, die wirtschaftlichen Interessen der USA und Groß­britanniens in China zu schützen und diejenigen Japans auszublenden.

Erwartungen während der Weltkriegsjahre an die Nachkriegszeit Zwischen 1914 und 1918 kam es in Japan zu einer regelrechten Welle an Ver­ öffentlichungen, in denen Erwartungen an die „Nachkriegszeit“ (sengo) und Forderungen nach entsprechender Vorbereitung auf diese Phase formuliert wurden. ­Bezieht man nicht nur Monografien, Textsammlungen und Zeitschriftenbeiträge, sondern auch Zeitungsartikel ein, ist von mehreren Tausend Texten auszugehen.27 Die Breite der Diskussion erreichte dabei solche Dimensionen, dass immer wieder 24 Kōbe

shōgyō kaigisho shoki-kyoku [= Büro der Handelskammer Kobe] (Hg.): Seitō [= Qingdao]. Kobe 1914; Funzanbō hengōkyoku (Hg.): Santō hantō. Fu Seitō annai-ki [= Die Halbinsel Shandong. Annex: Führer für Qingdao]. Tokio 1914; Nōshōmu-shō shōkō-kyoku [= Büro für Industrie und Handel des Ministeriums für Landwirtschaft und Handel] (Hg.): Seitō oyobi ­Sainan hoppō keizai jijō [= Die Situation der Wirtschaft in Qingdao und im Norden Jinans]. Tokio 1914. Jan Schmidt: The First World War as Catalyst of Systematic Research of „Current Affairs“ (jikyoku chōsa) by Business Associations and the Ministerial Bureaucracy in Japan – The Reaction of the Tōkyō Chamber of Commerce and the Ministry of Agriculture and Commerce to the War in 1914–1915. In: Keizai kenkyū (The Economic Review) 13 (2021), S. 49–78. 25 Honjō Hisako (Hg.): Nihon no Seitō senryō to Santō no shakai keizai, 1914–1922 [= Die ­Besetzung Qingdaos durch Japan und Wirtschaft sowie Gesellschaft in Shandong, 1914–1922]. Tokio 2006. 26  Tamai Kiyoshi kenkyūkai (Hg.): Pari kōwa kaigi (wie Anm. 18), S. 37–43. 27  Schmidt: Dai-ichiji sekai taisen-ki (wie Anm. 7), S. 161–163.

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bereits erschienene Texte in eigenen Sammlungen publiziert wurden. Zudem schrieben Verlage gezielt Politiker, Ministerialbürokraten, Militärs, Akademiker sowie Vertreter aus Wirtschaft und Kultur an und veröffentlichten deren Äußerungen dann in Tageszeitungen oder gesammelt in Buchform. Im Verlauf des Kriegs entwickelte sich eine Art von „Nachkriegsdeutungsliteratur“, in der intensiv diskutiert wurde, welchen Einfluss der Krieg habe und welche Maßnahmen ergriffen werden müssten, um für die Nachkriegszeit vorbereitet zu sein. Als besonders relevant für die Erwartungshaltungen in der Zeit der Pariser Friedenskonferenz erwiesen sich einige Pfadabhängigkeiten, die aus diesen „Nachkriegsdiskursen“ der Kriegsphase hervorgingen, deren Logik aber sehr häufig mit der Zeit vor 1914 verbunden war. Die Vielzahl der Texte kann hier zwar nicht analysiert werden, dennoch seien im Folgenden einige Charakteristika wiedergegeben. Zunächst muss konstatiert werden, dass die zwischen 1914 und 1918 an die Zukunft gerichteten Erwartungen und die daraus abgeleiteten Forderungen an diverse Politikfelder ihrerseits Vorläufer in den Diskussionen über die Gestaltung der Nachkriegszeit im Gefolge des Ersten Chinesisch-Japanischen Kriegs (1894/95) und des Russisch-Japanischen Kriegs (1904/05) besaßen, die stets mit dem Begriff sengo keiei, was in etwa als „Nachkriegsmanagement“ übersetzt werden kann, verbunden waren. Gleichwohl handelte es sich dabei zumeist um sehr konkrete Auseinandersetzungen, etwa um die Verwendung der hohen chinesischen Reparationszahlungen nach dem Chinesisch-Japanischen Krieg und über die Frage nach Weiterführung oder Abschaffung der Kriegssondersteuern nach dem Russisch-Japanischen Krieg. Zukunftsweisend war jedoch in beiden Fällen, dass konkrete Forderungen nach wirtschaftspolitischen Maßnahmen mit relativ elaborierten Zukunftsvorstellungen von der politischen und ökonomischen Weltlage der jeweils kommenden Jahre verbunden wurden. Getragen von der Ausdifferenzierung der japanischen Gesellschaft und ihrer Eliten im Zuge der Modernisierung und Industrialisierung sowie der stetigen Ausweitung des Bildungswesens erweiterte sich die 1894/95 noch vor allem auf Politiker und Ministerial­bürokraten beschränkte Diskussion um das „Nachkriegsmanagement“ schon 1904/05 erheblich und wurde von einer wachsenden Zahl an Akteuren ­mitgeprägt. Wegweisend für die Jahre 1914 bis 1918/19 war dann die Tendenz, dass diese kriegszeitlichen Debatten um die Zukunft in einer durch die rasante Entwicklung der Massenmedien stetig wachsenden Öffentlichkeit ausgetragen wurden, was nicht nur die soziale Reichweite ihrer Rezeption, sondern auch die Zahl derjenigen, die sich zu Wort meldeten, nochmals anwachsen und über die politischen und wirtschaftlichen Eliten hinausgehen ließ.28 Da man demnach von einer gewissen Routine seit dem späten 19. Jahrhundert sprechen kann, schon während eines Kriegs über die Nachkriegszeit zu diskutieren, ist es auch kaum verwunderlich, dass bereits in den ersten Monaten nach dem japanischen Kriegseintritt im August 1914 eine breite Diskussion darüber begann, was dieser Krieg für Japan, für die bestehende, durch die Chinesische Revolution 28 

Schmidt: Nach dem Krieg (wie Anm. 6); ders.: Dai-ichiji sekai taisen-ki (wie Anm. 7), S. 158–161.

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von 1911/12 ohnehin als besonders volatil empfundene Ordnung Ostasiens und insgesamt in globaler Perspektive bedeute und wie sich die zu erwartende Nachkriegszeit darstellen werde. Naraoka Sōchi hat in seinen Arbeiten zum Kontext der bereits erwähnten „21 Forderungen“ an China auf eine groß angelegte Umfrage unter Politikern, Akademikern und vor allem unter Wirtschaftsvertretern durch die Wirtschaftszeitung „Chūgai shōgyō shinpō“ hingewiesen.29 Dieser lag die Frage zugrunde, wie lange der jüngst in Europa ausgebrochene Krieg nach Ansicht der Befragten vermutlich dauern und wie er sich entwickeln werde. Zwischen dem 17. August und 8. September 1914 druckte die Zeitung 57 Antworten ab, deren Autorennamen sich wie das „Who’s who“ der Eliten Japans lesen. Sechs Befragte gingen davon aus, dass der Krieg zwei bis vier Monate dauere, 39 – und damit die Mehrheit – vermuteten, dass er fünf Monate bis ein Jahr währe. Nur eine Person rechnete mit einer Länge von vier bis fünf Jahren, während elf sich nicht festlegen wollten. Trotz zahlreicher Unterschiede in den Begründungen, welche die einzelnen Autoren in Begleittexten darlegten, bestand ein Konsens darüber, dass allein die hohen Einbußen für die Außenwirtschaft der europäischen Großmächte einen längeren Konflikt nicht zulassen und die Großmächte nicht bereit sein würden, die hohen Kosten für einen lange andauernden Krieg zu tragen. Ganz offensichtlich sollte dieser Erwartungshorizont durch die Realität des fortdauernden und sich auch geografisch ausweitenden Kriegs bereits im Laufe des Jahres 1915 überholt werden. Dennoch zeigen diese Umfrage und viele wei­ tere Texte – wie etwa die Dezemberausgabe der Zeitschrift „Chūō kōron“ mit dem Schwerpunkt „Vorhersagen zur Nachkriegszeit“ („Sengo no yodan“) oder ein Aufsatzwettbewerb unter Studierenden der Meiji-Universität zum Thema „Die Position des japanischen Empire nach dem Krieg“ („Sengo ni okeru Nihon teikoku no chii“), dessen Siegerbeiträge im Dezember 1914 und Januar 1915 in der Zeitschrift „Kokka oyobi kokkagaku“ veröffentlicht wurden – den unmittelbaren Reflex, die Zukunft nach dem Krieg diskutieren zu müssen.30 Die 1915 und 1916 dann in immer größerer Zahl veröffentlichten Texte auf dem Feld der „Nachkriegsdiskurse“ waren von dem Eindruck geprägt, dass der Krieg vermutlich noch Jahre dauern werde, dass der Freihandel und damit ein wesentlicher Teil der maßgeblich durch die europäischen Großmächte geprägten Vorkriegsordnung zusammengebrochen sei und dass dieser Krieg – und damit sehr wahrscheinlich auch zukünftige Kriege – die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft von Nationen und Imperien einbeziehe. Sehr deutlich lässt sich dies etwa aus der durch den Journalisten Hanzawa Gyokujō im Dezember 1915 unter dem Titel „Frieden oder Blut und Eisen? Der große Wandel der Welt und Japan nach dem Krieg“ herausgegebenen Sammlung von 72 Texten herauslesen, die in den Wochen zuvor in der Tageszeitung „Yamato shinbun“ in Serie veröffentlicht worden

29  Naraoka:

Taika nijūikkajō (wie Anm. 13), S. 126; Chūgai shōgyō shinpō (Ausgaben vom 17. 8.  1914 bis zum 8. 9. 1914), je S. 4. 30  Schmidt: Dai-ichiji sekai taisen-ki (wie Anm. 7), S. 161–167.

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waren.31 Hanzawa, der zwischen 1921 und 1945 leitender Herausgeber der Zeitschrift „Gaikō jihō“ – dem wichtigsten Periodikum zu außenpolitischen Fragen mit großer Nähe zum japanischen Außenministerium – werden sollte, hatte Spitzenpolitiker, Militärs, Akademiker, Ministerialbürokraten, bedeutende Unternehmer und Personen aus der Kulturwelt gebeten, ihre Einschätzungen über die Auswirkungen des Kriegs auf die Zukunft Japans abzugeben. Eines der Vorworte stammte von Ministerpräsident Ōkuma Shigenobu, in dessen Amtszeit Japan auf der Seite der Entente in den Krieg eingetreten war. Ōkuma argumentierte, dass der Krieg Folgen für die „Gesamtsituation der Welt“ habe und das Verhältnis der Großmächte dauerhaft erschüttere. In Bezug auf das japanische Empire forderte er zu einer Taishō ishin, einer „Taishō-Restauration“ auf, also zu einer Erneuerungs- und Reformbewegung in Anlehnung an die „Meiji-Restauration“ von 1867/68.32 In Einigkeit und unter Einsatz aller Kräfte müssten nun umfassende Pläne für alle möglichen Handlungsfelder erstellt werden, angefangen bei der Welt der Ideen über die Erziehung, die Industrie, die militärische Vorbereitung bis hin zum Handel. Ōkuma begrüßte die Aktivitäten Hanzawas und anderer, mit solchen Publikationsprojekten zu diesem übergeordneten Ziel beizutragen.33 In nahezu allen der im Band versammelten Texte reklamierten die Autoren eine neue Größe Japans, verwiesen aber gleichzeitig auf die hohe Wahrscheinlichkeit eines „Wirtschaftskriegs“ von langer Dauer, den sie für die Nachkriegszeit antizipierten und der leicht in eine erneute militärische Konfrontation münden könne, an der Japan allerdings weitaus zentraler als an dem 1915 noch andauernden Weltkrieg beteiligt sein würde.34 Unverhohlen wurde in einigen Texten von einem möglichen US-amerikanisch-japanischen Krieg im Pazifikraum in naher Zukunft geschrieben. Selbst Autoren, die von der Nachkriegszeit als einem Zeitalter des Pazifismus sprachen, erachteten es als existenzielle Notwendigkeit, sich in den Jahren nach dem Weltkrieg auf einen verschärften ökonomischen Wett­ bewerb mit den USA und den europäischen Großmächten vorzubereiten, der jeder­zeit in einen militärischen Konflikt umschlagen könne. Während der Weltkriegsjahre und schon kurz davor kam es zudem zur Veröffentlichung zahl­ reicher fiktionaler Texte, die detailliert einen zukünftigen Krieg Japans gegen die USA beschreiben und von denen einige als Science-Fiction bezeichnet werden können, was zeigt, dass ein solcher Konflikt – im Übrigen auf beiden Seiten – zunehmend in den Bereich des „Denkbaren“ gerückt war. Als repräsentativ können hier etwa der Roman „Tsugi no issen“ („Der nächste Krieg“) aus dem Jahr 1914, dessen Autor, Mizuno Hironori, schon über den Russisch-Japanischen Krieg 31  Hanzawa

Gyokujō (Hg.): Heiwa ka tekketsu ka. Sekai no dai-henkaku to sengo no Nihon [= Frieden oder Blut und Eisen? Der große Wandel der Welt und Japan nach dem Krieg]. Tokio 1915. 32  Ōkuma Shigenobu: Jo [= Vorwort]. In: ebd., S. 1–3. 33  Ebd., S. 2. 34  Vgl. Hanzawa (Hg.): Heiwa (wie Anm. 31). Zum Diskurs über „nationale Größe“ in Japan vgl. Sandra Wilson: The Discourse of National Greatness in Japan, 1890–1919. In: JS 25 (2005) 1, S. 35–51.

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g­ eschrieben hatte und der während des Ersten Weltkriegs Luftangriffe in London erlebte, was ihn nach dem Krieg vor Luftangriffen auf japanische Städte warnen ließ, oder die „Zukunftsaufzeichnungen eines Japanisch-Amerikanischen Kriegs“ („Nichi-Bei sensō mirai-ki“) von Higuchi Reiyō gelten, deren erster Veröffentlichung als Serie in der Zeitschrift „Shin seinen“ („Neue Jugend“) in der Neujahrsausgabe 1920 der farbige Zusatz „Der Zweite Weltkrieg“ hinzugefügt war. Neben sich verschärfender wirtschaftlicher Konkurrenz ist als Kontext ­dieser Art von Publikationen auch der eskalierende Konflikt im Zuge der zu­ nehmenden Diskriminierung japanischer Einwanderer in den USA, vor allem in Kalifornien, anzusehen. Letztere kulminierte schließlich 1924 in einem offen rassistischen Gesetz, welches asiatisch-stämmigen Einwanderern wesentliche ­ Rechte verwehrte – ein Akt, der in der japanischen Öffentlichkeit heftigen Widerspruch hervorrief.35 Vielfach wurde auch angesichts der enormen Zerstörungskraft des Kriegsgeschehens in Europa die Vormacht des „Westens“ generell infrage gestellt. Ein ­frühes aber eindrückliches Beispiel hierfür bildet die Monografie „Der Untergang der europäischen Zivilisation“ („Ōshū bunmei no botsuraku“) von Endō Kichisaburō aus dem Spätjahr 1914, deren Titel an Oswald Spenglers vier Jahre später erschienenes Buch „Der Untergang des Abendlands“ erinnert.36

Der Erwartungshorizont unmittelbar vor der Pariser Friedenskonferenz Im Januar 1918 erschien unter dem Titel „Studien zur Nachkriegszeit. Hundert Stimmen“ („Sengo no kenkyū. Hyakunin ichiwa“) im auflagenstarken Verlag Fuzanbō eine weitere Sammlung von 76 Texten, deren Studium einen Zugriff auf den sich fortentwickelnden Erwartungshorizont einer großen Zahl von Politikern, Ministerialbürokraten, Akademikern, Journalisten und Unternehmern erlaubt.37 Im Folgenden sollen Tendenzen und einige Beispiele aufgeführt werden, die für das Verständnis der Reaktionen auf „Paris“ im Folgejahr relevant erscheinen: Erstens stellten sehr viele Autoren klar, dass der bisherige „Erfahrungsraum“, insbesondere die früheren Kriege Japans seit dem späten 19. Jahrhundert, nur noch bedingt oder gar nicht ausreiche, um die mögliche Zukunft nach diesem Krieg zu verstehen. Der Wirtschaftsmagnat und Bankier Koyama Kenzō beispielswiese verwarf unter Erwähnung der napoleonischen Kriege als zuvor möglichem, aber nun nicht mehr brauchbarem Bezugspunkt in der Vergangenheit die Idee, dass etwa der Russisch-Japanische Krieg in seinen Auswirkungen in irgendeiner Form Teil eines bei der Prognose der nun folgenden Zukunft brauchbaren Erfah35 

Yamamuro: Erste Weltkrieg (wie Anm. 12), S. 23–25. Kichisaburō: Ōshū bunmei no botsuraku [= Der Untergang der europäischen Zivilisation]. Tokio 1914. 37 Fuzanbō hensan-bu (Hg.): Sengo no kenkyū. Hyakunin ichiwa [= Studien zur Nachkriegszeit. Hundert Stimmen]. Tokio 1918. 36 Endō

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rungsraums sein könne.38 Koyama ging im Übrigen – wie die Mehrheit der Au­ toren des Bandes auch – davon aus, dass es nach dem Weltkrieg zu einem „Wirtschafts-“ oder „Handelskrieg“ kommen werde, wenn die durch den Krieg an­ geschlagenen westlichen Großmächte nach tiefgreifenden Reformen als Folge kriegszeitlicher Mobilisierungsanstrengungen und Rationalisierung versuchen würden, auf die Märkte, zumal die Asiens, zurückzukehren. Sehr häufig schwang in diesen Texten, entweder offen ausgedrückt oder zwischen den Zeilen, die Befürchtung mit, dass es durch die Konkurrenzsituation zu einem neuen „Großkrieg“ (taisen) kommen werde. Zweitens fällt auf, dass in vielen Texten bewusst Bezug auf sozioökonomische Entwicklungen vor allem in Großbritannien, Deutschland und den USA genommen wurde. Erwähnt wurden etwa die systematische Nutzung von Statistik und planwirtschaftlichen Elementen oder kriegszeitlichen Maßnahmen zum Ausbau ­eines Wohlfahrtsstaates sowie politische Maßnahmen im Zuge der Kriegsmobilisierung wie beispielsweise die Einrichtung oder der Ausbau von Institutionen zur Lenkung der Kriegswirtschaft. Diese dienten als Vorbilder und Argumente für ­eigene Forderungen.39 In manchen Fällen wurde auch direkt auf „Nachkriegs­ vorstellungen“ und Planungen für die Nachkriegszeit in anderen Ländern, so ­beispielsweise auf die Diskussionen in Großbritannien über eine Ausweitung des Sozialstaates und auf andernorts stattfindende Debatten über eine mögliche Ein­ führung des Frauenwahlrechts, rekurriert. In vielen Texten wird deutlich, dass die Nachkriegszeit sehr stark als ökonomisches Problem angesehen wurde, für dessen Bewältigung vor allem durch Ausweitung des Bildungswesens und durch aktive Infrastrukturpolitik, aber auch durch eine Art geistige Erneuerung insbesondere der Jugend die Grundlagen geschaffen werden müssten. Mit entsprechenden Maßnahmen sollte auch das Anwachsen sozialer Konflikte im Innern verhindert werden.40 Drittens: Die erhebliche Bedeutung der Wirtschaft, insbesondere des Außenhandels, dem ganz offensichtlich von vielen Autoren höchste Priorität zugeschrieben wurde, erlaubte in der Tendenz eine mehr oder weniger offen aggressive Haltung gegenüber China. Zwar gab es Verfechter einer Zusammenarbeit mit China, wie etwa den Unternehmer, Unterhausabgeordneten und – ab September 1918 – Bildungsminister Nakahashi Tokugorō, der sich in seinem Text „Die chinesisch-japanischen Beziehungen der Nachkriegszeit“ entsprechend positionierte.41 Aber indem er als „wichtigsten Punkt der Nachkriegspolitik […] eine gemeinsame Steuerung der chinesischen und japanischen Wirtschaft“ ansah, stand selbst in s­einem Beitrag die Frage im Raum, was im Falle einer chinesischen Verweigerung gegenüber solchen Offerten geschehen werde. Nakahashi betonte – ebenso wie der 38  Koyama

Kenzō: Sengo no shōsen to yūshō no tōryaku [= Der Handelskrieg der Nachkriegszeit und die darin siegbringende Strategie]. In: ebd., S. 171–176. 39  Morohashi Eiichi: Dai-ichiji sekai taisen to Nihon no sōryokusen seisaku [= Der Erste Weltkrieg und die japanischen Maßnahmen zum totalen Krieg]. Tokio 2021. 40  Schmidt: Nach dem Krieg (wie Anm. 6), S. 259–300. 41  Nakahashi Tokugorō: Sengo no Nisshi kankei [= Die chinesisch-japanischen Beziehungen der Nachkriegszeit]. In: Fuzanbō hensan-bu (Hg.): Sengo no kenkyū (wie Anm. 37), S. 94–99.

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e­ hemalige Diplomat und wirtschaftsnahe Abgeordnete des Adelshauses, ­Kurachi Tetsukichi, sowie viele weitere Autoren – die Relevanz japanischer Zugriffsrechte auf Rohstoffe in China.42 Jedoch befassten sich weder Kurachi noch Nakahashi mit der Möglichkeit einer Ablehnung entsprechender Angebote durch China. Viertens: Ein weiteres gemeinsames Kennzeichen der Texte war die häufige ­dramaturgische Verwendung des Topos einer existenziellen Gefährdung Japans, verbunden mit dem Hinweis auf die Erfahrungen der jüngsten Zeit. Gemeint war hierbei nicht zuletzt das Ausfuhrverbot von amerikanischem Stahl nach dem Kriegseintritt der USA – auch gegenüber Verbündeten, was Japan einschloss – sowie der immense Eigenbedarf an indischer Baumwolle im britischen Empire.43 In diesem Punkt zeigt sich eine der wichtigsten und im Konsens wohl von den meisten Autoren verinnerlichten Lehren des Weltkriegs noch während der Kriegs­ jahre: das Bewusstsein für die Fragilität des Freihandels und für die existenzielle Gefahr, die von dessen Zusammenbruch im Falle eines Kriegs zwischen den Großmächten ausgehen musste. Die logische Folge war eine als essenziell angenommene Notwendigkeit, sich ­alternativ zum Freihandel einen direkten Zugriff zumindest auf Rohstoffe aus China zu sichern. Diese Ansicht bildete nicht nur im Militär, sondern auch unter vielen Parteipolitikern und in Teilen der Wirtschaftselite Japans einen Konsens. Deutlich schwang in zahlreichen Texten, die in der ­zitierten und in ähnlichen ­Publikationen zwischen etwa 1916 und 1919 zu finden sind, bereits ein hohes Maß an Misstrauen gegenüber den USA mit, gepaart mit der Vorstellung eines möglichen zukünftigen Konflikts, der sich am Zugang zu den Märkten und Rohstoffen Chinas entzünden werde. Armeeminister Ōshima Ken’ichi vertrat vehement das Konzept einer „Mobilmachung der gesamten Nation“ (kokka sōdōin kōsō), das von 1918 bis in die 1930er-Jahre zum Leitmotiv derjenigen Generalstabsoffiziere heranreifen sollte, die zwischen 1915 und den 1920er-Jahren damit beauftragt worden waren, den Ersten Weltkrieg zu studieren und aus diesem Strategien für die Zukunft abzuleiten.44 Ōshimas Sicht kann als repräsentativ für die grundsätzlichen Lehren, die das ­Militär bis in die frühen 1920er-Jahre aus dem Krieg gezogen hatte, angesehen werden.45 Neben der Schaffung der materiellen Voraussetzungen für eine solche Mobilisierung, die mit „Mobilisierungsplänen“ schon in Friedenszeiten als Vor­ bereitung auf einen für sehr wahrscheinlich gehaltenen zukünftigen Krieg erreicht 42 Kurachi

Tetsukichi: Sengo no Nisshi teikei [= Die chinesisch-japanische Kooperation der Nachkriegszeit]. In: ebd., S. 99–102. 43 Jeffrey Safford: Experiment in Containment. The United States Steel Embargo and Japan, 1917–1918. In: PHR 39 (1970) 4, S. 439–451. 44  Ōshima Ken’ichi: Ōshū taisen ni tai suru kokumin no jikaku [= Das Bewusstsein der Nation gegenüber dem Großen Europäischen Krieg]. In: Fuzanbō hensan-bu (Hg.): Sengo no kenkyū (wie Anm. 37), S. 44–48. 45  Jan Schmidt: Der Erste Weltkrieg als vermittelte Kriegserfahrung in Japan. Mediale Aneignungen und Studien durch Militär und Ministerialbürokratie. In: GG 40 (2014) 2, S. 239–265; Michael Barnhart: Japan Prepares for Total War. The Search for Economic Security. Ithaca 1987; Kurosawa Fumitaka: Taisen kanki no Nihon rikugun [= Das japanische Heer in der Zwischenkriegszeit]. Tokio 2000.

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werden sollte, beschwor er die „nationale Einheit“. Gefährdet sah er diese durch die „Schwäche der Ideenwelt der Jugendlichen“.46 Wichtig im Zusammenhang mit den „Nachkriegsdiskursen“ scheint hierbei vor allem, dass die Idee der „Mobilisierung der ganzen Nation“ sowie die der Autarkie im Hinblick auf die Rohstoffversorgung – Ōshima sprach in seinen Veröffentlichungen immer wieder die notwendige „Selbstversorgung“ an – eine Öffnung der konservativen älteren Elite gegenüber Teilen der Parteienpolitik und der Wirtschaft zur Folge hatte. Andere Beiträge in der Textsammlung zeigen, dass Vertreter der Wirtschaft vielfach mit dem Militär darin übereinstimmten, dass die Zukunft eine harte Konkurrenz mit den westlichen Großmächten bringen werde und dass die Erfahrungen seit Kriegsausbruch gezeigt hätten, dass man sich auf das Bestehen des Freihandels nicht werde verlassen können. So stand selbst jemand wie Tokonami Takejirō, der Generalsekretär der damals größten Oppositionspartei, der Rikken Seiyūkai, mit seiner Meinung nur scheinbar in einem Gegensatz zu der Ōshimas.47 Einerseits ging Tokonami zwar für die Innenpolitik vom „Prinzip der Orientierung am Volkswillen“ aus sowie davon, dass „Kabinette von Spezialisten“ und „Militärkabinette“ nach diesem Krieg keine Zukunft mehr haben könnten, und sah ferner die Erreichung einer „Weltzivilisation“ gerade auf der Grundlage „unterschiedlicher Eigenschaften der Staaten“ als möglich an. Andererseits fügte er hinzu, dass es unumgänglich sei, die „Hegemonie über den Pazifik inne“ zu haben, damit Japan „in Zukunft einen Weltrang bekleiden“ könne.48 Es liege in „der Kraft unseres Landes“, im Falle von Unruhen in der Welt, „den Frieden in Ostasien aufrechtzuerhalten“ und auf dem Pazifik freien und sicheren Handel zu garantieren. „Ich glaube“, betonte Tokonami, „in dieser Rolle als Wahrer des Weltfriedens liegt die wichtigste Mission Japans“.49 „Ferner“ habe „der Krieg uns die Lehre [der Wichtigkeit von; Anmerkung des Verfassers] Selbstversorgung erteilt“. Allerdings verfüge Japan unglücklicherweise ­ iesem Dilemnur „über geringe Vorkommen an Rohstoffen“.50 Als Ausweg aus d ma empfahl auch Tokonami den Zugriff auf Ressourcen aus China: „Gerade die angrenzende Küstenregion des Festlands erweist sich als außerordentlich rohstoffreich. Wenn es gelingt, bei moderatem Vorgehen den Weg zu ­einem Schulterschluss mit China zu finden, könnte man erstmals eine Politik der Selbstversorgung garantieren. Es ist tatsächlich so, dass die Freundschaft zwischen China und Japan für unser Reich eine existenzielle Frage darstellt.“51 Auch Tokonami ließ damit offen, mit welchen Mitteln Japan vorgehen würde, sollte sich China dieser Zusammenarbeit verweigern. Dass er zumindest in Bezug auf die Sicherung der maritimen Interessen Japans eine militärische Option anŌshima: Ōshū taisen (wie Anm. 44), S. 48 Takejirō: Sekai no taisei to wagakuni no shimei [= Die allgemeine Weltlage und die Mission unseres Landes]. In: Fuzanbō hensan-bu (Hg.): Sengo no kenkyū (wie Anm. 37), S. 32–36. 48  Ebd., S. 35. 49 Ebd. 50  Ebd., S. 35  f. 51  Ebd., S. 36. 46 

47  Tokonami

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dachte, zeigt sein abschließender Kommentar: „Um aber die geografischen Voraus­ setzungen nutzen und die Mission erfüllen zu können, sind starke Schiffe notwendig. Daher müssten die Handelsflotte und die Marine ausgebaut werden.“52

Konoe Fumimaros Intervention und die Rezeption des Verlaufs der Pariser Friedenskonferenz in den japanischen Massenmedien Im Text „Den anglo-amerikanisch zentrierten Pazifismus beseitigen!“ von Dezember 1918 stellte Konoe den Begriff des „Existenzrechts der Nation“ (kokumin seizon-ken) ins Zentrum seiner Ausführungen und postulierte, dass nur auf dieser Grundlage und durch Gleichrangigkeit der Nationen eine „internationale Gerechtigkeit“ verwirklicht werden könne.53 Japan müsse nun, da es sich in einem S­ ystem ohne Gleichberechtigung befinde, das nur für die USA und das britische Empire vorteilhaft sei, eine radikale Veränderung dieses Systems fordern. Dazu müsse die rassistische Diskriminierung durch „weiße Westler“ gebrandmarkt und das Prinzip der „Rassengleichheit“ eingefordert werden. Bei diesen Forderungen handele es sich nicht etwa um den Versuch, Sonderrechte für Japan zu reklamieren, ­sondern es gehe dabei vielmehr um universale „Gerechtigkeit und Humanität“. Im Wesentlichen ging es Konoe um Chancengleichheit, sowohl auf der Grundlage einer von ihm – in Grenzen – begrüßten Demokratisierung im Innern von Staaten als auch auf internationaler Ebene. Hier setzte seine Fundamentalkritik an den USA und auch am britischen Empire an: Die „Monopolisierung von Kapital und natürlichen Rohstoffen durch die anglo-amerikanischen Mächte“ verhindere die Durchsetzung von Chancengleichheit. Ein „wirtschaftlicher Imperialismus“ sei mit derselben Schärfe abzulehnen wie ein „Imperialismus mit militärischen Mitteln“.54 Japan müsse sich auf der Pariser Friedenskonferenz diesen imperialistischen Bestrebungen entgegenstellen und als wirtschaftlich „entwickeltes Land“ die Rechte der sich noch entwickelnden Länder verteidigen. Dabei solle China zwar nicht zum alleinigen Einflussgebiet Japans werden, gleichwohl aber vor dem Zugriff des „anglo-amerikanischen Wirtschaftsimperialismus“ geschützt werden. Die „Vierzehn Punkte“ Wilsons und insbesondere die Idee des Völkerbundes wurden von Konoe als unverhohlener Versuch gewertet, die Hegemonie des besagten „anglo-amerikanischen Wirtschaftsimperialismus“ zu einem System ohne reale Revisionsmöglichkeit auszugestalten.55 Diese Ansicht stellte im Dezember 1918 sicher noch eine Minderheitenposition dar, wenn auch das zentrale Element, eine Infragestellung aller Gründe, die von den USA für ihre Außenpolitik angeführt wurden, in der japanischen Öffentlichkeit bereits konsensfähig war. Der Umschwung hin zu einer beinahe unisono vertretenen grundsätzlichen Ablehnung Wilsons und zu großen Zweifeln gegenüber 52 Ebd. 53 

Konoe: Ei-Bei hon’i (wie Anm. 2), S. 23 f. Ebd., S. 24–26. 55 Ebd. 54 

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dem Völkerbund ereignete sich in der japanischen Öffentlichkeit innerhalb weniger Wochen während der Pariser Friedenskonferenz.56 Oberflächlich betrachtet musste diese Reaktion überraschen, da zumindest die zentrale Forderung Japans nach Übergabe der deutschen Rechte in Shandong und der deutschen Inselkolo­ nien durchgesetzt werden konnte. Aber selbst dies wurde in der japanischen Presse überwiegend als Fehlschlag angesehen, da Japan sich binnen weniger Wochen von einem gleichberechtigten Partner und Teil der „großen Fünf“ zu einem „Zuschauer“ im Hinblick auf die wichtigsten Entscheidungen der Konferenz durch die „großen Vier“, Woodrow Wilson, David Lloyd George, Georges Clemenceau und Vittorio Orlando, degradiert sah. Die Opposition Australiens gegen die von Japan für die Völkerbundsatzung vorgeschlagene Klausel gegen die Diskriminierung von Bürgern aus Mitgliedstaaten des Völkerbundes aufgrund ihrer „Rasse“, vor allem aber die Entscheidung Wilsons, trotz einer Mehrheit für die Klausel in dieser Frage Einstimmigkeit zu verlangen, wurde als Verrat an den vom amerikani­ schen Präsidenten selbst eingebrachten Prinzipien angesehen. Diese folgenschwere Entscheidung des an der Völkerbundsatzung arbeitenden Gremiums erachtete man als endgültigen „Beweis“ dafür, dass Japaner beziehungsweise Ostasiaten auch in Zukunft rassistisch diskriminiert werden würden. Der Umstand, dass die USA gleichzeitig zur Aufrechterhaltung der „Monroe-Doktrin“ in der Völkerbundsatzung eine Ausnahme erwirken konnten, verschärfte angesichts der Tat­ sache, dass es während der Konferenz auch mit den USA zu heftigen Auseinandersetzungen über die Weitergabe der deutschen Pachtrechte auf der Halbinsel ­Shandong gekommen war, den in der gesamten japanischen Presselandschaft geäußerten Eindruck unterschiedlicher Standards.57 Hierbei darf auch nicht vergessen werden, dass es zeitgleich zu einem weiteren schweren Konflikt mit den USA über die Durchführung der „Sibirien-Intervention“ gekommen war, bei der sich Japan von Beginn an nicht an die ursprünglich festgelegte Obergrenze von eingesetzten Truppen hielt und sich aus Sicht der USA anschickte, eine weitere Einflusssphäre in den russischen Fernostprovinzen zu etablieren.58 Auch wurde im Frühjahr 1919 in der japanischen Öffentlichkeit die Haltung der USA gegenüber der Erneuerung eines Konsortiums für die Vergabe von Krediten an China heftig kritisiert. Darüber hinaus schrieb ein Großteil der japanischen Zeitungen USamerikanischen Missionaren eine erhebliche Mitverantwortung an den anti-­ japanischen Protesten in China im Zuge der „Bewegung des 4. Mai“ zu.59 Der Hauptgrund ­aller Frustration über Verlauf und Ergebnisse der Konferenz lag 56  Miwa Kimitada: Japanese Opinion on Woodrow Wilson in War and Peace. In: MN 22 (1967), S. 368–389; Tamai Kiyoshi kenkyūkai (Hg.): Pari kōwa kaigi (wie Anm. 18), S. 45–51, S. 63–71. 57  In Artikel 21 des Versailler Friedensvertrags, einem Artikel der zum ersten Teil des Vertrags, und damit zur Völkerbundsatzung (Artikel 1–26) gehörte, hieß es: „Internationale Abreden wie Schiedsgerichtsverträge und Abmachungen über bestimmte Gebiete wie die Monroe-Doktrin, welche die Erhaltung des Friedens sicherstellen, gelten nicht als mit einer der Bestimmungen der gegenwärtigen Satzung unvereinbar.“ In: RGBl. (1919) 140, S. 739. 58  Hosoya Chihiro: Shiberia shuppei no shiteki kenkyū [= Historische Studien zur Sibirien-Intervention]. Tokio 2005. 59  Yamamuro: Fukugō (wie Anm. 14), S. 93–114.

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nach Ansicht der japanischen Presse jedoch in der als schwach dargestellten Verhandlungsführung durch die japanische Delegation in Paris sowie durch die japanische Regierung beziehungsweise das Außenministerium in Tokio.60

Die „Bewegung des 4. Mai“ und das chinesisch-japanische Verhältnis als Faktor in Japan Auch was die Erwartungen und Wünsche Japans an das künftige chinesisch-japanische Verhältnis anbelangt, hatten die Vorgänge in Paris sowie die anti-japanischen Proteste ab dem 4. Mai 1919 in China und durch zahlreiche Chinesen in der ganzen Welt – inklusive chinesischer Studierender im Schulterschluss mit korea­ nischen Kommilitonen in Tokio selbst – schwerwiegende Konsequenzen: Wie ­bereits anhand der Textsammlung vom Dezember 1918 dargelegt, hatten sich im Rahmen der „Nachkriegsdiskurse“ viele Stimmen in der japanischen Politik und Gesellschaft im Vorfeld der Pariser Friedenskonferenz für eine „chinesisch-japanische Freundschaft“, bisweilen sogar für eine Art Staatenbund – gleichwohl mit Japan als primus inter pares – ausgesprochen. Letzterer wurde auch von dem nun sehr starken japanischen „Asianismus“ immer wieder vertreten – eine Strömung, die ihre Ursprünge im späten 19. Jahrhundert hatte, wobei Konoe Fumimaros ­Vater, Konoe Atsumaro, um die Wende zum 20. Jahrhundert einer ihrer führenden Vertreter war. Es handelte sich beim „Asianismus“ um eine heterogene Strömung, nie um ein kohärentes Konzept. Verbindendes Element war, wie Takeuchi Yoshimi prägnant angemerkt hat, lediglich eine Tendenz zur Bekundung von Solidarität mit den Ländern Asiens, vor allem mit China und Korea, wobei in Bezug auf Letztere häufig auf die „gleiche Schriftkultur und gleiche Rasse“ (dōbun dōshu) verwiesen wurde.61 Diese Solidarität richtete sich vor allem gegen den Imperialismus der westlichen Großmächte in Asien, wobei implizit von der Mehrheit der „Asianisten“ Japan als natürliche Führungsmacht Asiens und die anderen Länder des Kontinents allenfalls als Juniorpartner gesehen wurden. Das Jahr 1919 – da­ rauf hat jüngst Torsten Weber hingewiesen – war das annus mirabilis des japa­ nischen „Asianismus“, in dem unter dem Eindruck der Friedenskonferenz von Paris die Positionen der japanischen „Asianisten“ verstärkt in der öffentlichen Meinung wahrgenommen und vertreten wurden.62 Auch Konoes Text kann im Hinblick auf die Forderung nach Chancengleichheit und nach Protektion Chinas gegenüber dem „anglo-amerikanischen Wirtschaftsimperialismus“ in Teilen dem „Asianismus“ zugeordnet werden.

60 

Tamai Kiyoshi kenkyūkai (Hg.): Pari kōwa kaigi (wie Anm. 18), S. 63–71. Yoshimi: „Ajia-shugi no tenbō“ [= Ein Rundblick auf den Asianismus]. In: ders. (Hg.): Ajia-shugi. Tokio 1963, S. 7–66, hier: S. 12. In deutscher Übersetzung: ders: Der japanische Asianismus. In: ders.: Japan in Asien. Geschichtsdenken und Kulturkritik nach 1945. Übers. und hg. von Wolfgang Seifert und Christian Uhl. München 2005, S. 121–189, hier: S. 128. 62  Weber: Embracing (wie Anm. 4). 61 Takeuchi

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Der zähe Widerstand der chinesischen Delegation in Paris bis hin zur Ver­ weigerung der Unterschrift unter den Versailler Friedensvertrag und die sich dezidiert anti-japanisch manifestierende „Bewegung des 4. Mai“ setzten den ­ Vorstellungen von einer „japanisch-chinesischen Freundschaft“ jedoch mit der normativen Kraft des Faktischen neue Grenzen: Niemand konnte ignorieren, dass der vermeintliche „Juniorpartner“ China sich der paternalistischen Vereinnahmung und jeglicher Erweiterung der Einflusssphären des japanischen Empires verweigerte. Letztlich hatte die seit 1919 bestehende faktische Unmög­ lichkeit, in China Akzeptanz für die paternalistischen Rolle Japans zu finden, zur Folge, dass die japanische Armeeführung nun bereit war, zur Lösung der „Mandschurei-Mongolei-Frage“ (Man-Mō mondai), einzelne chinesische Warlords gezielt zu unter­stützen. Solche Schritte stießen, wenn auch zunächst nur zögerlich, bereits in den frühen 1920er-Jahren bei weiten Teilen der japanischen Bevölkerung auf Rückhalt. Das verbindende Element der „Nachkriegsdiskurse“ bis 1918 und des Studiums der Mobilisierung von Wirtschaft und Gesellschaft der Großmächte während des Kriegs durch das Militär und die Ministerialbürokratie bildete einmal mehr die Vorstellung eines immensen ökonomischen Konkurrenzdrucks, der als „Wirtschaftskrieg“ jederzeit in militärische Auseinandersetzungen umschlagen könne.

Erwartungen an Demokratisierung und „Reform“ (kaizō) in Japan Um die Rezeption der Pariser Friedenskonferenz auch im Kontext der japanischen Innenpolitik zu verstehen, bedarf es einiger ergänzender Erläuterungen, denn das Jahr 1919 war auch von optimistischen Erwartungen an Demokratisierung und „Wiederaufbau“ beziehungsweise „Reformen“ (kaizō) geprägt. Unter das Konzept kaizō konnten unterschiedlichste Forderungen nach Reformen in allen möglichen Lebensbereichen fallen, einschließlich einer affirmativen Haltung zu einer „Weltreform“ mithilfe des Völkerbundes und von Institutionen wie der International Labour Organization (ILO) oder des Ständigen Internationalen Gerichtshofs in Den Haag.63 Trotz aller Zustimmung innerhalb eines gewichtigen Teils dieser „Reform“-Diskurse gab es jedoch unterschwellig einen erheblichen Argwohn über Fairness und Universalität der Nachkriegsordnung, der weit über Stimmen wie der Konoes hinausging.64 Entgegen aller tief verwurzelten Zweifel 63  Thomas Burkman: Japan and the League of Nations. Empire and World Order, 1914–1938. Honolulu 2008; Matthias Zachmann: Völkerrechtsdenken und Außenpolitik in Japan, 1919–1960. Baden-Baden 2013; Maj Hartmann: Politics in Publishing. Japan and the Globalization of Intellectual Property Rights. [Diss.] Katholieke Universiteit Leuven 2020; Akami Tomoko: Imperial Polities, Intercolonialism, and the Shaping of Global Governing Norms. Public Health Expert Networks in Asia and the League of Nations Health Organization, 1908–37. In: JGH 12 (2017) 1, S. 4–25. 64 Zur affirmativen Haltung – den Argwohn ignorierend – vgl. Dickinson: World War I (wie Anm. 3), S. 60–73; dies bestätigend aber gleichzeitig die Grenzen aufzeigend vgl. Burkman: Japan (wie Anm. 63).

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engagierte sich Japan schon alleine aus pragmatischen Gründen sowie getragen von kosmopolitisch denkenden Politikern, Intellektuellen und Teilen des Unternehmertums als Mitglied des Völkerbundes – und zumindest in den frühen 1920er-Jahren waren japanische zivilgesellschaftliche Unterstützungsorganisa­ tionen wie die im April 1920 gegründete Kokusai renmei kyōkai (VölkerbundGesellschaft) sehr aktiv.65 Zugleich nutzten einflussreiche japanische Intellektuelle wie der bereits erwähnte Politikwissenschaftler Yoshino Sakuzō den „Reform“-Diskurs, um weitere Schritte zu einer Demokratisierung ihres Landes zu fordern. Schon 1915 hatte Yoshino in einem berühmten Aufsatz und in weiteren Texten die Durchsetzung eines „Prinzips der Orientierung am Volks(willen)“ (minpon-shugi) gefordert, was in dieser Konnotation als zeitgenössisch verwendetes Synonym für „Demokratie“ zu verstehen ist.66 In seinen Schriften nutzte er den Sieg der westlichen Demokratien 1918/19, um die Stärke einer demokratischen Ordnung als ein für Japan attraktives Politikmodel anzupreisen, wobei er die Institution des tennō ­allerdings unangetastet ließ. Yoshino und andere empfahlen, sich zwar einerseits den „weltweiten Trends“ der Demokratisierung und des Internationalismus an­ zuschließen, andererseits diese Trends aber auch auf globaler Bühne aktiv mit­ zugestalten.67 In dieser Forderung zeigte sich auch ein neues Selbstbewusstsein gegenüber den westlichen Großmächten, das in Ansätzen zwar schon vorher vorhanden gewesen war, durch den Weltkrieg und die Friedenskonferenz jedoch eine Stärkung erfahren hatte. Gleichzeitig wurden 1919 von der politischen Rechten jedoch auch Gegenentwürfe zu den diskutierten „Reformen“ (kaizō) eingebracht. Mithin war 1919 auch ein wichtiges Jahr für die Verfestigung rechter und bisweilen rechtsextremer Politiknetzwerke in Japan, in denen antiliberales, nativistisches, kulturessenzielles, militaristisches und ultranationalistisches Gedankengut erstarkte.68 Dies geschah zum Teil in Gegnerschaft zur russischen Oktoberrevolution der Bolschewiki, deren Übergreifen auf Japan man spätestens seit den landesweiten „Reisunruhen“ 65  Burkman: Japan (wie Anm. 63), S. 139–141; Ogata Sadako: The Role of Liberal Nongovernmental Organizations in Japan. In: Dorothy Borg (Hg.): Pearl Harbor as History. Japanese-­ American Relations 1931–1941. New York 1973, S. 459–486; Terada Kuniyuki: Actors of International Cooperation in Prewar Japan. The Discourse on International Migration and the League of Nations Association of Japan. Baden-Baden 2018. 66 Zur Begriffsgeschichte der verschiedenen Demokratiebegriffe im Japanischen während der Taishō-Zeit (1912–1926 beziehungsweise in breiter Definition 1905–1932) vgl. Harald Meyer: Die „Taishō-Demokratie“. Begriffsgeschichtliche Studien zur Demokratierezeption in Japan von 1900 bis 1920. Bern 2005. 67  Mitani: Shinpan. Taishō demokurashī-ron (wie Anm. 20), S. 200–207. 68 Die Beobachtung, dass sich diese Strukturen sowie das sie beherrschende Gedankengut ab 1919 zunehmend in der größeren Öffentlichkeit zeigten und dass sich in Teilen dieser Strukturen ein gewaltbereites Potenzial aufbaute, machte schon 1946 der Politikwissenschaftler Maruyama Masao in seiner Studie „Logik und Psychologie des Ultranationalismus“. Vgl. Maruyama Masao: Logik und Psychologie des Ultranationalismus. In: ders.: Freiheit und Nation in Japan. Ausgewählte Aufsätze 1936–1949. Bd. 1. Hg. von Wolfgang Seifert. München 2007, S. 113–144.

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im Sommer 1918 – den gewaltsamen Protesten gegen die stark gestiegenen Lebensmittelpreise infolge des kriegsbedingten globalen ökonomischen Verwerfungen sowie der „Sibirien-Intervention“ – befürchtete. Im Rahmen letztgenannter multinationaler militärischer Intervention waren insgesamt über 200 000 japanische Soldaten nach Sibirien entsandt worden, um dort gegen die bolschewistischen Revolutionäre zu kämpfen und, so die Erklärung der Regierung in Tokio, Sicherheitsrisiken durch möglicherweise in den Revolutionswirren befreite deutsche und österreichisch-ungarische Kriegsgefangene vorzubeugen. Die V ­ ersorgung der entsandten Truppen hatte die Reispreise in die Höhe getrieben. Sorge bereiteten Regierung, Militärführung und den nun erstarkenden rechten Kreisen zudem, dass japanische Soldaten im Rahmen der Intervention möglicherweise mit revolutionären Ideen in Kontakt kommen könnten.69 Bereits 1978 hat der Politikhistoriker Itō Takashi in seiner in Japan nunmehr klassischen und noch heute weitgehend überzeugenden Studie zur nationalistischen „Reform“-Rechten herausgearbeitet, dass deren Akteure ihre politische sierung in vielen Fällen selbst sehr wesentlich mit der Erfahrung der Radikali­ ­Pariser Friedenskonferenz 1919 verbanden.70 Die Kräfte am rechten Rand konnten zwar in den Folgejahren politisch noch nicht dominieren, sie formulierten aber ein mächtiges Gegennarrativ zum Parlamentarismus in Japan. Diesen begriffen sie als dysfunktional, da er in ihren Augen allein den Interessen der etablierten ­Parteien sowie von Industrie und Großbauerntum diente. Sie machten ihn dafür verantwortlich, dass Japan international nicht mit mehr Stärke gegenüber der ­ schon von Konoe gebrandmarkten, vermeintlich anglo-amerikanisch geprägten Weltordnung auftreten könne und dass die sich verschärfende soziale Ungleichheit Arbeiter und Bauern in Richtung des Kommunismus treiben würde. Ferner stehe der Parlamentarismus der von ihnen eingeforderten direkten Herrschaft des tennō im Weg. Eine zentrale Figur war innerhalb dieser Strömung am rechten ­politischen Rand der „National-Sozialist“ Kita Ikki, der 1919 sein Werk „Grundprinzipien eines Plans zur Reorganisation des Staates“ („Kokka kaizō-an genri daikō“) verfasste, das in den 1930er-Jahren in Kreisen junger, gewaltbereiter rechtsextremer Offiziere sehr einflussreich werden sollte. Es wurde zwar in Teilen verboten, fand aber in illegalen Kopien und Abschriften in rechtsextremen Kreisen einen stetig wachsenden Widerhall. Kita forderte darin die Abschaffung des Parlaments, die Verstaatlichung von Teilen der Wirtschaft, die Errichtung einer unmittelbaren Herrschaft des tennō und eine expansionistische Außenpolitik, die 69 

Andrew Gordon: The Crowd and Politics in Imperial Japan: Tokyo 1905–1918. In: P & P 121 (1988), S. 141–170; Paul Dunscomb: Japan’s Siberian Intervention, 1918–1922. A Great Disobedience against the People. Lanham 2011; Sven Saaler: Zwischen Demokratie und Militarismus. Die Kaiserlich-Japanische Armee in der Politik der Taishō-Zeit (1912–1926). Bonn 2000. 70 Itō Takashi: Taishō-ki „kakushin“-ha no seiritsu [= Die Entstehung der „Reform“-Gruppe in der Taishō-Zeit]. Tokio 1978; vgl. auch Arima Manabu: „Kaizō undō“ no taigai-kan. Taishō-ki no Nakano Seigō [= Die Sicht der „Reformbewegung“ auf das Ausland. Nakano Seigō in der TaishōZeit]. In: Kyūshū shigaku 60 (1976), S. 43–63; Sharon A. Minichiello: Retreat from Reform. Patterns of Political Behavior in Interwar Japan. Honolulu 1984.

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allerdings in Kooperation mit China erfolgen solle. Auch er wandte sich gegen die vermeintliche „anglo-amerikanische Dominanz“.71 Nach den „Reisunruhen“ im Sommer 1918 wurde Hara Takashi der erste „bürgerliche Ministerpräsident“ Japans. Er führte das erste „echte Parteienkabinett“ an und läutete mit diesem die „Ära der Parteienkabinette“ ein. Der Vorsitzende oder ein hochrangiger Funktionär aus der Partei, die im Unterhaus des Reichsparlaments die Mehrheit an Sitzen vereinte, stellte nun erstmals den Ministerpräsidenten. Dies bedeutete einen wesentlichen, weiteren Demokratisierungsschritt, nachdem Japan bereits 1889 als erster Staat in Asien eine moderne Verfassung angenommen hatte und ein Jahr später das Reichsparlament seine erste Sitzungs­ periode hatte.72 Mit der Ernennung Haras zum Regierungschef war nun eine Korrelation zwischen der Mehrheitsfraktion im Unterhaus und dem Amt des Ministerpräsidenten hergestellt – wobei in Japan bis zum Beschluss des allgemeinen Wahlrechts für Männer im Jahr 1925 noch ein (gleichwohl zunehmend abgemildertes) Zensuswahlrecht galt. Damit wurde eine Tradition begründet, die trotz einiger Unterbrechungen bis zur Ermordung des Ministerpräsidenten Inukai ­ Tsuyoshi durch junge Offiziere im Mai 1932 erhalten bleiben sollte. Diese Offiziere wiederum orientierten sich unter anderem an dem genannten Werk Kita ­Ikkis und dessen „Reformplan“ für das Reich aus dem Jahr 1919. An die Regierung Hara wurden im Spätjahr 1918 und im Jahr 1919 große Hoffnungen geknüpft, wobei Hara selbst mit einer Mischung aus Realpolitik, die zum Teil die immer noch mächtigen alten politischen Eliten der späten Meiji-Zeit bedienen sollte, und progressiveren Schritten aufwartete. Seine bereits im November 1917 noch aus der Opposition heraus verkündeten „vier großen politischen Vorhaben“ umfassten Reformen im Bildungs- und im Verkehrswesen, in der Landes­verteidigung sowie Maßnahmen gegen die enormen Preissteigerungen der Kriegszeit. Der Historiker Kawada Minoru plädiert dafür, im vehementen Einsatz des Ministerpräsidenten für diese „vier großen Vorhaben“ und auch in der darin enthaltenen „Vervollkommnung der Landesverteidigung“ primär das Ergebnis einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg als „totalem Krieg“ beziehungswiese als Krieg mit „totalisierender Logik“ (John Horne) zu sehen. Entsprechende Lehren wurden in Japan bereits seit 1918 weit über Militärkreise hinaus als Konzept einer „Mobilmachung der ganzen Nation“ (kokka sōdoin), welche in Friedenszeiten bereits vorzubereiten sei, diskutiert.73 Das innenpolitische Kalkül Haras erachtet Kawada hingegen als sekundär. Eine solche Deutung

71 

Tankha Brij: Kita Ikki and the Making of Modern Japan. A Vision of Empire. With an English Translation by Brij Tankha of the Fundamental Principles of the Reorganization of Japan (Kaizo hoan taiko). Folkestone 2003. 72  Zu den politischen Parteien und zu den „Parteienkabinetten“ der Taishō-Zeit vgl. Peter Duus: Party Rivalry and Political Change in Taishō Japan. Cambridge, MA 1968. 73  Schmidt: Erste Weltkrieg (wie Anm. 45); Kudō Akira: The Japanese Army’s Studies of Germany during the First World War and Its Preparations of a System of General National Mobilisation. In: Schmidt/Schmidtpott (Hg.): Dimension (wie Anm. 6), S. 291–311.

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deckt sich mit dem hier für 1918/19 konstatierten Konsens hinsichtlich der Erwartung eines drohenden scharfen wirtschaftlichen Konkurrenzkampfs.74 Obwohl die Regierung Hara einen großen Teil der Reformprojekte umsetzte, war sie durch die in weiten Teilen der japanischen Öffentlichkeit als Fehlschlag wahrgenommenen Friedensverhandlungen in Paris sowie durch das militärische Desaster der bis zu ihrer vollständigen Beendigung im Jahr 1925 andauernden und zunehmend unpopulären „Sibirien-Intervention“ in ihrer Position erheblich geschwächt.75 Die Ermordung Haras 1921 durch einen Eisenbahnangestellten, der wie seine Vorgesetzten gegen die innenpolitische Agenda des Ministerpräsidenten agitierte, blieb zwar zunächst eine isolierte Tat, mag aber als Hinweis auf die Sprengkraft der als „schwach“ wahrgenommenen Außenpolitik seines und der auf ihn folgenden „Parteienkabinette“ gelten, wobei es im Verlauf der 1920er-Jahre vermehrt zu Anschlägen durch Rechtsextreme auf Politiker kam. Man kann auch von einer „Über-Forderung“ der Tagespolitik durch die genannten „Reform“Bestrebungen sprechen. Diese weckten 1919 und 1920 enorme Erwartungen, die allerdings nicht zuletzt angesichts der massiven (Welt-)Wirtschaftskrise von 1920, welche auch den innenpolitischen und fiskalischen Spielraum für Reformen erheblich einschränkte, bei Teilen der Bevölkerung in Enttäuschung umschlugen.76

Soziale Bewegungen, „Gestaltungszukunft“ und die Nachkriegswirtschaftskrise von 1920 1919/20 erstarkten viele soziale Bewegungen in Japan, häufig als Reaktion auf ­globale Informationsflüsse und Vernetzungen. Dazu zählten: eine Wahlrechtsreformbewegung, die letztlich zur Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts im Jahr 1925 führen sollte; eine Frauenrechtsbewegung, deren Aktivitäten im Jahr 1922 zur Lockerung des Polizeigesetzes, das Frauen jegliche Teilnahme an politischen Veranstaltungen verboten hatte, führten, was im Zusammenhang mit den von (männlichen) Politikern und Ministerialbürokraten aus der erfolgreichen Mobilisierung von Frauen für die Heimatfront in Europa im Ersten Weltkrieg gezogenen Lehren stand; eine sozialistische und kommunistische Bewegung; die buraku-Befreiungsbewegung, die sich für die Gleichstellung der seit der Frühen Neuzeit diskriminierten Pariagruppe der burakumin, die über Jahrhunderte wegen ihrer Beschäftigung etwa als Gerber, Abdecker oder auf Hinrichtungsstätten

74  Kawada Minoru: Hara Takashi. Tenkanki no kōsō. Kokusai shakai to Nihon [= Hara Takashi. Konzeptionen während einer Wendezeit. Die internationale Gesellschaft und Japan]. Tokio 32000, S. 192. 75 Paul Dunscomb: „A Great Disobedience against the People“. Popular Criticism of Japan’s ­Siberian Intervention, 1918–22. In: JJS 32 (2006) 1, S. 53–81. 76 Zu den häufig unterschätzten Auswirkungen der Wirtschaftskrise von 1920 in Japan vgl.: Mark Metzler: Lever of Empire. The International Gold Standard and the Crisis of Liberalism in Prewar Japan. Berkeley 2006, S. 115–137.

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mit Verunreinigung und Tod assoziiert worden war, einsetzte; sowie eine Protestbewegung unter Pachtbauern.77 Die japanische Ministerialbürokratie reagierte auf die sozialen Bewegungen sowie auf die während des Kriegs zunehmende Bildung von Slums in den Großstädten mit einer Mischung aus Unterdrückungs- und Steuerungsversuchen, aber auch mit der vorauseilenden Gründung von Institutionen für sozialpolitische Maßnahmen, wie dem „Sozialbüro“ (Shakai-kyoku) im Innenministerium 1920.78 Hierbei orientierten sich besonders das Innen- und das Bildungsministerium an den Ergebnissen der von ihnen angestellten Studien zur Wirtschafts-, Sozial- und Bildungs­politik der Krieg führenden europäischen Staaten und der USA.79 An­ gesichts der wachsenden Zahl sozialwissenschaftlich ausgebildeter Akademiker nahm der Aspekt der Planung in der Bürokratie erheblich zu.80 In Anlehnung an Rüdiger Graf und Benjamin Herzog kann hier von der Verbreitung eines von der klassischen „Erwartungszukunft“ des 19. Jahrhunderts abgrenzbaren Modus der „Gestaltungszukunft“ gesprochen werden. Diese erlaubte der politisch einflussreichen Ministerialbürokratie sowie dem Militär und dem Unternehmertum einen neuen Zugriff auf die vorgestellte Zukunft.81 Schon während des Kriegs initiierte und 1918/19 weiterentwickelte Versuche im Bereich des  social engineering wurden etwa zu ausgefeilten Kampagnen im Bereich der „Volksbildung“, der „Förderung der Volksstärke“ und der „modernen Lebensführung“ ausgeweitet, welche vorwiegend von den einflussreichen Ministerialbürokraten aus Innen- und Erziehungsministerium sowie von universitär angebundenen Wissenschaftlern betrieben wurden. Ein solches Beispiel aus der Kriegszeit wäre die Kampagne zur „Vorbereitung auf die Nachkriegszeit“ (sengo junbi), welche wiederum an Kampagnen „zur Reform der ländlichen Gebiete“ (chihō kairyō) im Gefolge des Russisch-Japanischen Kriegs von 1904/05 anschloss.82 Seit 1915 77 

Andrew Gordon: A Modern History of Japan. From Tokugawa Times to the Present. Oxford S. 139–160; Sharon A. Minichiello (Hg.): Japan’s Competing Modernities. Issues in Culture and Democracy 1900–1930. Honolulu 1998; Ian Neary: Political Protest and Social Control in Pre-War Japan. The Origins of Buraku Liberation. Atlantic Highlands. 1989; Dimitri Vanoverbeke: Community and State in the Japanese Farm Village. Farm Tenancy Conciliation (1924– 1938). Leuven 2004. 78  Kagawa Kōzō: Naimu-shō shakai-kyoku no setchi ni tsuite [= Über die Gründung des Sozialbüros des Innenministeriums]. In: Hyōron – Shakai kagaku 22 (1983), S. 1–34. 79 Schmidt: Nach dem Krieg (wie Anm. 6), S. 301–371; ders.: Erste Weltkrieg (wie Anm. 45), S. 250–253. 80  Vgl. Shimizu Yuichirō: The Origins of the Modern Japanese Bureaucracy. London 2019; Itō Takashi: „Kokuze“ to „kokusaku“, „tōsei“, „keikaku“ [= „Politischer Leitsatz der Nation“ und „staatliche Politik“, „Kontrolle“, „Plan“]. In: Nakamura Takafusa/Odaka Kōnosuke (Hg.): Nijū kōzō [= Doppelstruktur]. Tokio 1994, S. 323–366. 81 Rüdiger Graf/Benjamin Herzog: Von der Geschichte der Zukunftsvorstellungen zur Geschichte ihrer Generierung. Probleme und Herausforderungen des Zukunftsbezugs im 20. Jahrhundert. In: GG 42 (2016), S. 497–515, hier: S. 508–510. 82  Ōshima Mitsuko: Dai-ichiji taisen-ki no chihō tōgō seisaku. Zasshi Shimin no shuchō o chūshin ni [= Maßnahmen zur Integration der ländlichen Regionen in der Zeit des Ersten Weltkriegs. Die Maßgaben der Zeitschrift „Shimin“ im Fokus]. In: Senshū shigaku 29 (1998), S. 1–49; Katja Schmidtpott: „Stadt und Land, Männer und Frauen, Jung und Alt“. Die Reichweite der Kampagne 32013,

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fand ein starker Austausch von Wissen zunächst insbesondere mit der britischen und französischen Bürokratie, dann mit den USA statt. Auch die während des Kriegs wesentlich erhöhte Zahl an Aufenthalten junger japanischer Ministe­rial­ bürokraten in diesen Ländern und nach 1919 auch in Deutschland erwies sich als wichtiger Impuls für diese Entwicklung.83 Zeitgleich startete im japanischen Militär das, was ab Beginn der 1930er-Jahre als kokka sōdōin undō, als „Bewegung zur Mobilmachung der gesamten Nation“, und als Forderung nach einem „hochgradigen Wehrstaat“ (kōdo kokubō kokka) virulent werden sollte und was mit Graf und Herzog ebenfalls als Beispiel für den Schwenk hin zu Vorstellungen einer „Gestaltungszukunft“ interpretiert werden kann.84 Unter dem Eindruck der von Heer und Marine ab 1915 und bis zu Beginn der 1920er-Jahre verfassten Studien zum Ersten Weltkrieg wurde 1918 der „Reichsverteidigungsplan“ geändert. Statt Russland wurden die USA und China als voraussichtliche „Gegnerstaaten“ der Zukunft antizipiert, wobei – entsprechend den Lehren aus den Weltkriegsjahren – aus China die Rohstoffe zur Führung eines totalen Kriegs stammen sollten.85 1918 wurde zudem ein „Gesetz zur Mobilmachung der Rüstungsindustrie“ („Gunju kōgyō dōin hō“) verabschiedet, das dem Militär und der Regierung im Kriegsfall die Kontrolle über die Kriegswirtschaft ermöglichen sollte. Zudem erhielt das Rüstungsamt die Kompetenz, Statistiken zur Gesamtwirtschaft und zu den Möglichkeiten einer zukünftigen Mobilisierung von Wirtschaft und Gesellschaft im Falle eines „totalen Kriegs“ zu erarbeiten.86 Von diesem Schritt gibt es einen direkten historischen Bezug zu den später eingeführten weiteren Institutionen zur Planung und zum ab 1937 im Krieg gegen China eingesetzten Wissen über Mobilisierungstechniken für Wirtschaft und Gesellschaft. Das Gesetz von 1918 war letztlich der direkte Vorläufer des „Kokka sōdōin hō“, des „Gesetzes zur Mobilmachung der gesamten Nation“ von 1938.87 Allerdings kann dieser Zusammenhang keineswegs als monokausal an­ gesehen werden, und natürlich kam es im Verlauf 1920er-Jahren auch zu einer Mitwirkung Japans an internationalen Abrüstungsbemühungen etwa durch die Beteiligung an der Washingtoner Konferenz von 1921/22 und dem daraus re­ sultierenden Vertragswerk, welches jedoch in Japan stets umstritten und dem für moderne Lebensführung (bunka seikatsu undō) in Japan in den 1920er Jahren. In: BJOAF 28 (2004), S. 105–135; Sheldon Garon: Molding Japanese Minds. The State in Everyday Life. Princeton 1997. 83 Shimizu Yuichirō: Lessons Learned. Japanese Bureaucrats and the First World War. In: Schmidt/Schmidtpott (Hg.): Dimension (wie Anm. 6), S. 271–290. 84  Hashikawa Bunzō: Kokubō kokka no rinen [= Die Idee des Wehrstaats]. In: ders./Matsumoto Sannosuke (Hg.): Kindai Nihon seiji shisō-shi II [= Politische Ideengeschichte des modernen ­Japan II]. Tokio 1970, S. 232–251. 85  Kurono Taeru: Dai-ichiji taisen to kokubō hōshin no dai-ichiji kaitei [= Der Erste Weltkrieg und die erste Revision des Reichsverteidigungsplans]. In: Shigaku zasshi 106 (1997) 3, S. 1–34. 86 Kōketsu Atsushi: Sōryokusen taisei kenkyū. Nihon rikugun no kokka sōdōin kōsō [= Forschungen zum System des totalen Kriegs. Die Konzeption des japanischen Heeres von einer allgemeinen Mobilisierung der Nation]. Tokio 1981. 87  Hashikawa: Kokubō kokka (wie Anm. 84), S. 232.

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­ erdacht des Ausverkaufs von Sicherheitsinteressen des Empires unterworfen V blieb. 1919 markierte in Japan auch das Jahr einer verstärkten Erwartung einer nahenden globalen Nachkriegsweltwirtschaftskrise. Eine solche wurde in Japan bereits seit Eintreten der von Kriegsgewinnen getriebenen Phase des Wirtschafswachstums ab 1915/16 antizipiert, weil für die Zeit nach Kriegsende mit der Rückkehr der europäischen Konkurrenz auf die Absatzmärkte in ganz Asien sowie mit dem Ende der kriegsbedingten Aufträge aus der Entente zu rechnen war.88 In Vorbereitung auf die befürchtete Krise wurden diverse Pläne erarbeitet, doch blieb der japanische Export 1919 durch den einsetzenden Wiederaufbau in Europa und die erst allmähliche Umstellung auf eine Friedenswirtschaft zunächst uner­ wartet hoch. Als die Krise im Folgejahr dann eintrat, kam es in Japan zu Massenentlassungen, Kurseinbrüchen an der Börse und einer großen Zahl von Firmenschließungen – und die Krise schlug sich im kommunikativen kollektiven Gedächtnis nieder, da das zwar erwartete, aber dann doch jähe Ende einer mehrjährigen Wachstumsphase in dieser Schärfe noch nicht erlebt worden war.

Schlussbetrachtung Den Ausgangspunkt dieses Beitrags bildete Konoe Fumimaros Text „Den angloamerikanisch zentrierten Pazifismus beseitigen!“. Eine Einordnung in das hier kurz beschriebene Phänomen der „Nachkriegsdiskurse“ der Jahre 1914 bis 1919 sowie in die mediale Rezeption der wenige Wochen nach Erscheinen seines Textes beginnenden Pariser Friedenskonferenz hat gezeigt, dass Konoes Interpretation der Ziele der USA und Großbritanniens Ähnlichkeiten mit dem Erwartungshorizont vieler anderer Mitglieder der politischen und ökonomischen Eliten Japans seiner Zeit aufwies. Auch Konoes paternalistische Haltung gegenüber China ­wurde von vielen anderen Autoren geteilt. Demgegenüber machte die in China entstehende „Bewegung des 4. Mai“ deutlich, dass China nicht länger bereit war, Einschränkungen der eigenen Souveränität hinzunehmen. Ja mehr noch: Der erstarkende moderne chinesische Nationalismus enthielt eine dezidiert anti-japanische Stoßrichtung. Seine Entwicklung ließ eine 1918 in Japan vielfach erwartete chinesisch-japanische Kooperation unter japanischer Führung unrealistisch erscheinen und trug gleichzeitig dazu bei, dass im japanischen Militär Stimmen laut wurden, die nun aus dem Paradigma der Planung eines möglichen künftigen Kriegs bei „Mobilmachung der gesamten Nation“ (kokka sōdōin) die Notwendigkeit eines erzwungenen Zugangs zu Rohstoffvorkommen in China ableiteten. Weniger bellizistisch, aber ebenfalls aus der Anschauung des Weltkriegs herge­ leitet, begann die japanische Ministerialbürokratie wiederum um 1919, Lehren aus dem Krieg zu ziehen. So kam man etwa zur Einsicht, dass eine kooperationsbereite Arbeiterschaft sowie die Mobilisierung von Frauen für die Zwecke des 88 

Metzler: Lever (wie Anm. 76), S. 115–137.

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Staates eine proaktivere Sozialpolitik und mehr politische Teilhabe voraussetzen würden. Die meisten hier wiedergegebenen Aussagen über die Erwartungen im direkten Vorfeld des Jahres 1919 besaßen einen eher dystopisch-pessimistischen Charakter. Die relative Abwesenheit und temporäre Schwäche der wirtschaftlich konkurrierenden Großmächte während des Kriegs war als Chance gesehen und die Zeit des nachfolgenden Friedens eher mit Sorge betrachtet worden. Die Vorstellungen zur Nachkriegszeit – und in der Nachkriegszeit selbst: die Vorstellungen zu „Re­ formen“ (kaizō) – wurden jedoch für alle erdenklichen Bereiche formuliert – und viele waren durchaus optimistischer Natur. Gemeinsam war ihnen, dass damit Forderungen für die neue Zeit verbunden wurden. Bei der kurzen Betrachtung des ersten „Parteienkabinetts“ unter Hara Takashi wurde darauf hingewiesen, dass 1919 politisch auch ein Jahr der „Über-Forderung“ war, dem im Jahr 1920 eine schwere Wirtschaftskrise folgte. Eine solche war in den kriegszeitlichen „Nachkriegsdiskurse“ bereits seit Langem befürchtet und vorhergesehen worden. Die Tatsache, dass sie eintrat und infolge des massiven Einbruchs der Steuereinnahmen den politischen Spielraum für die kommenden Jahre einschränkte, führte gleichwohl zu einer tiefen Frustration bei denen, die an dem breiten „Reform“Diskurs der Zeit beteiligt waren. Die Weltkriegserfahrungen all jener Staaten beziehungsweise Regionen ernster zu nehmen, die militärisch weniger involviert erscheinen, ist weiterhin ein Desiderat der Geschichtswissenschaft. Das Beispiel Japan legt nahe – mit etwas anderen Voraussetzungen könnte man dies auch für China konstatieren –, dass der Erste Weltkrieg und dessen häufig medialisierte Erfahrung aus der vermeintlichen Ferne einen diskursiven Raum öffnete, mithin eine Befreiung von bis dahin häufig am „Westen“ orientierten Paradigmen mit sich brachte, der neue Ordnungsvor­ stellungen und andere Konzepte ermöglichte. Während einer Konferenz der ­International Society for First World War Studies zu „War Time“ vertrat Steffen Rimner im November 2016 in Oxford überzeugend die These, dass sich für viele Beobachter in Japan und China nach den Enttäuschungen der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahre regelrecht eine eigene, asiatische „Zeitlinie“ vom dominanten Paradigma des Westens abgespalten habe, die es nun zu gestalten galt.89 Der berühmte chinesische Aufklärer Liang Qichao beispielsweise, der sich wie viele prominente ostasiatische Zeitgenossen im Jahr 1919 auf den Weg nach Europa machte, um die „Zustände im Westen“ der Nachkriegszeit aus erster Hand kennenzulernen, kommentierte bei seiner Ankunft in London das selbstredend schlechte Wetter lakonisch mit einem Gedicht von Huang Zunxian: „Der blasse Himmel ist schon tot, der gelbe Himmel erhebt sich“.90 Natürlich war 1919 der 89  Steffen

Rimner: „Soul-Stirring Times“. Wartime, Global Disintigration and Japan’s Case for Teleology. [unveröff. Vortrag auf der internationalen Konferenz „War Time“, Maison Française d’Oxford, 10./11. 11. 2016, hier verwendet mit freundlicher Genehmigung des Autors]. 90  Zitiert nach Gilbert Metzger: Liang Qichao, China und der Westen nach dem Ersten Weltkrieg. Ein Viertel der Menschheit hat gegenüber der gesamten Menschheit die Verpflichtung für ein Viertel ihres Glücks. Münster 2006, S. 109.

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Erwartungshorizont in Ostasien offen, die Beschäftigung mit den – sehr diversen – japanischen Erwartungen offenbart neben kosmopolitischen optimistischeren Sichtweisen jedoch auch viele Beispiele, die auf die starken politischen Hypotheken für Demokratie und internationale Zusammenarbeit hinweisen, welche sich aus der Wahrnehmung und Interpretation der Pariser Friedenskonferenz und aus den exaltierten Forderungen der „Nachkriegsdiskurse“ von 1914 bis 1919 und des sich anschließenden „Reform“-Diskurses ergeben haben. Der eingangs zitierte Text von Konoe Fumimaro ist hierfür ein prominentes Beispiel.

Abstract Japan had great expectations for the Paris Peace Conference and Japan’s position in the postwar order. In many cases, however, they were not optimistic but filled with suspicion toward the architects of the peace agreement. A notable example of such skepticism is Konoe Fumimaro, who later became Prime Minister in 1937 and presided over Japan as it headed into war with China and towards the declaration of a “New Order in East Asia” of 1938. In December 1918, about to depart for the Peace Conference, he published an article denouncing it as a ploy of “Anglo-American-centered pacifism” that should better be “abolished”. This paper takes this text as a point of departure to explore the expectations and related demands for reform that had originated in the “Postwar Discourses” of the First World War years in Japan. It argues that the “horizon of expectation” of 1918/19 stemmed from the “space of experience” of 1914 to 1918 and the political as well as socio-economic dynamic of these years. Paternalistic expectations for the Sino-Japanese relations clashed with the reality of Chinese resistance. In the context of the general call for domestic reforms (kaizō) of 1919 frequent references were made to a generally anticipated “economic war” that served to legitimize a Japanese zone of influence in China and to prepare the ground for a full mobilization of all available resources in case of a future, total, war. In that sense, Konoe’s text can be seen as being more in line with the heightened expectations of 1918/19 than had been previously thought.

Florian Wagner Ermächtigungsfrieden oder Ernüchterungserlebnis? 1919 aus afrikanischer und panafrikanistischer Sicht Im Dezember 1918 stieg der afroamerikanische Soziologe und Bürgerrechtler W. E. B. Du Bois in Paris aus dem Zug. Der profilierte Kritiker der rassistischen Gesellschaft in den USA hatte trotz der Nachkriegswirren den Atlantik überquert, um auf die anstehenden Friedensverhandlungen in der französischen Hauptstadt Einfluss zu nehmen. Obwohl Du Bois das Europa der Belle Époque regelmäßig besucht hatte, war er 1918 erleichtert, überhaupt in Paris angekommen zu sein. Denn die US-Regierung unter Woodrow Wilson, dem Herold der „Neuen Freiheit“ und des Selbstbestimmungsrechts der Völker, hatte dem Bürgerrechtler zunächst einen visitor’s pass für Europa verweigert, ihn dann aber doch unter geheimdienstlicher Beobachtung nach Frankreich reisen lassen.1 Um seinem Anliegen auf der internationalen Bühne von 1919 Gewicht zu ­verleihen, verband Du Bois die Emanzipationsforderungen der Afroamerikaner in den USA mit denjenigen der afrikanischen Bewohner in den europäischen Kolonien, und vereinte beide Aspekte unter dem Schlagwort des Panafrikanismus. Schon in seinem Frühwerk „The Conservation of Races“ (1897) und in „The Souls of Black Folk“ (1903) hatte er eine Gleichberechtigung für Afroamerikaner gefordert, die weit über eine reine „Absorption“ in die Gesellschaft weißer Amerikaner hinausgehen sollte. Die gemeinsame Diskriminierungsgeschichte der Schwarzen race führte Du Bois auf dem panafrikanischen Kongress von 1900 zu seiner berühmten Diagnose: „Das Kernproblem des zwanzigsten Jahrhunderts ist das Problem der color line.“ Eine Lösung dafür sah er in einem globalen Emanzipationsprogramm im Sinne eines „Pan-Negroism“.2 Hoffnung, dieses Programm einzulösen, machte ihm die Rekrutierung von circa 380 000 Afroamerikanern für den Ersten Weltkrieg in Europa. Er hoffte, dass sie nach der Erfüllung ihrer patriotischen Bürgerpflicht nun vehementer ihre Bürgerrechte einfordern würden. Gleichzeitig verkündete er, dass die Verpflichtung 1  F. P. Schoonmaker

an Intelligence Office, 1. 1. 1919. In: Herbert Aptheker (Hg.): The Correspondence of W. E. B. Du Bois. Bd. 1. Amherst 1973, S. 232; die „Neue Freiheit“ galt nicht für Afroamerikaner vgl. Manfred Berg: Woodrow Wilson. Amerika und die Neuordnung der Welt. München 2017, S. 77. 2 W. E. B. Du Bois: The Conservation of Races. Washington 1897, S. 12; Adom Getachew: Worldmaking after Empire. The Rise and Fall of Self-Determination. Princeton 2019, S. 6, S. 15. https://doi.org/10.1515/9783110653359-008

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von zwei Millionen afrikanischen Soldaten zur Teilnahme am Krieg der euro­ päischen Kolonisatoren endlich die Lüge von der Überlegenheit der „europäischen Zivilisation“ und der Weißen im Allgemeinen entlarvt habe. Sowohl die (selbst-)zerstörerische Kraft des Imperialismus als auch der Verschleiß der Kolonisierten im Krieg habe die kolonialen Zivilisierungsargumente ad absurdum geführt.3 Mit den genannten Argumenten übte Du Bois Druck auf die Teilnehmer der Friedenskonferenz von 1919 aus, damit sie die „Interessen von Schwarzen in den USA und weltweit berücksichtigen“. Wie er in einem Memorandum an den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson angekündigt hatte, wollte er in Paris die Internationalisierung der ehemals deutschen Kolonien vorantreiben und langfristig einen von Afrikanern regierten Staat in Zentralafrika schaffen, in den dann auch die in den USA diskriminierten Afroamerikaner repatriieren könnten.4 Während der Pariser Friedenskonferenz erhielt Du Bois jedoch kaum Möglichkeiten, seinen jahrzehntelangen Kampf für die Emanzipation der Afroamerikaner und Afrikaner der Weltöffentlichkeit bekannt zu machen. Zwar drängte er die amerikanische Delegation unter Wilson dazu, sich zum Fürsprecher beider Anliegen zu machen, er selbst durfte aber weder die Afroamerikaner vertreten, noch konnte er für die Kolonisierten sprechen.5 Du Bois passte daraufhin sein panafrikanistisches Programm den Gegebenheiten von 1919 an, um sich selbst als moderaten – aber darum nicht weniger legitimen – Vertreter des Panafrikanismus anzubieten und damit auch bei den Weißen Gehör zu finden. Dabei kam er kolonialen Positionen näher als antikolonialen. Wie der folgende Beitrag zeigt, gab es 1919 eine Vielfalt von antikolonialen und panafrikanischen Emanzipationspraktiken, die nicht unbedingt einer einheitlichen antikolonialistischen oder panafrikanistischen Theorie entsprachen. Weder Antikolonialismus noch Panafrikanismus bildeten 1919 ein systematisiertes und notwendig politisiertes Emanzipations- und Solidaritätsprogramm. In Ergänzung – aber nicht im Gegensatz – zum politisch-programmatischen Panafrikanismus werden im vorliegenden Artikel also panafrikanische und kolonialkritische Praktiken im Mittelpunkt stehen, die ambivalenter als die panafrikanistische und die antikolonialistische Theorie waren. Obwohl sich Du Bois anscheinend darum bemüht hatte, war 1919 nicht der Moment, in dem sich der Panafrikanismus und der Antikolonialismus zu einem schlagkräftigen emanzipatorischen Projekt vereinten. Keine der beiden Emanzipationsstrategien verfügte 1919 über in sich geschlossene globale Programme. Oft waren sie auf einen Ausgleich mit der dominanten weißen Gesellschaft bedacht. 3  Hew Strachan: The First World War in Africa. Oxford 2004, S. 3; Chad L. Williams: Torchbearers of Democracy. African American Soldiers in the World War I Era. Chapel Hill 2010, S. 3, S. 8–10; W. E. B. Du Bois: Lusitania. In: The Crisis 10 (Juni 1915) 2, S. 81. 4  Zum Memorandum vgl. Joseph Patrick Tumulty an W. E. B. Du Bois, 29. 9. 1918. In: Aptheker (Hg.): Correspondence (wie Anm. 1), S. 231 f. 5  Mark Ellis: „Closing Ranks“ and „Seeking Honors“. W. E. B. Du Bois in World War I. In: JAmH 79 (1992) 1, S. 96–124.

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Weder die innere Homogenität noch die emanzipatorische Symbiose von Anti­ kolonialismus und Panafrikanismus waren also 1919 selbstverständlich. Dafür gab es strukturelle Gründe, wie den Rassismus und color bars, aber auch individuelle, wie grundverschiedene sozioökonomische Lebensbedingungen, Erfahrungen und Interessen unter Schwarzen Menschen. Sie sollen in diesem Beitrag dargestellt werden. Die Bedingungen für eine Verbindung von Antikolonialismus und Panafrikanismus zu einem politischen Emanzipationsprogramm waren 1919 eigentlich sehr gut. Die idealtypischen Definitionen von „afrikanischem“ Antikolonialismus und Panafrikanismus scheinen aus heutiger Sicht fast kongruent. Durch ihre Ausformulierung und Globalisierung lernten sich kolonisierte Menschen aus Afrika und diejenigen, die in der afrikanischen Diaspora lebten, als Schicksalsgemeinschaft verstehen und kämpften transimperial gegen Kolonialherrschaft und rassistische Diskriminierungsstrukturen an, um so die eigene soziale, politische, wirtschaft­ liche, kulturelle und gesundheitliche Position zu verbessern.6 In der Praxis hatte Du Bois einen großen Anteil daran, Panafrikanismus und Antikolonialismus zusammen zu denken. Er beschäftigte sich mit afroamerikanischen und afrikanischen Soldaten, die am Weltkrieg teilgenommen hatten und 1919 teilweise noch in Paris auf ihre Repatriierung warteten.7 So befragte Du Bois afroamerikanische Soldaten nach ihren Erfahrungen in der rassistisch segregierten US-Army und bat den Senegalesen Blaise Diagne, der Abgeordneter im franzö­ sischen Parlament und Rekrutierungskommissar für Französisch-Westafrika war, um Material aus erster Hand über afrikanische Kolonialsoldaten in Frankreichs Diensten. Der Kontakt mit Diagne bestärkte Du Bois in seinem Vorhaben, 1919 einen eigenen Kongress mit afrikanischen und afroamerikanischen Teilnehmern zu organisieren, um Kolonialismus und Rassismus zum globalen Thema zu machen. Trotz Protesten aus Washington tolerierte die französische Regierung Du Bois’ Pläne und erlaubte sogar Diagne, der gleichzeitig Generalkommissar im Kolonial­ministerium war, den Kongress zu leiten. So begann im Februar 1919 der First Pan-African Congress in Paris.8 Hinter diesem ersten Panafrikanischen Kongress verbarg sich allerdings ein doppelter Etikettenschwindel, denn er war weder antikolonial noch panafrikanisch – und bildete erst recht keine Symbiose der beiden Projekte. Gemessen an der Diversität der Teilnehmer war der Kongress nicht panafrikanisch – nur wenige von ihnen kamen aus den Kolonien. Obwohl die Organisatoren beanspruchten, für „alle Schwarzen der Welt“ zu sprechen, kamen laut Du Bois nur an die 6 Zu

den Unterschieden: Sarah C. Dunstan: Race, Rights and Reform. Black Activism in the French Empire and the United States from World War I to the Cold War. Cambridge 2021, S. 3–4 (allerdings mit einer Fehlinterpretation von Nikhil Pal Singhs „Africa Is a Country“ auf S. 3); zu den Gemeinsamkeiten: Hakim Adi: Pan-Africanism. A History. London/New York 2018, S. 1–6. 7  Chad Williams: World War I in the Historical Imagination of W. E. B. Du Bois. In: MAH 1 (2018), S. 3–22, hier: S. 8–10. 8  Etwas tendenziös dazu vgl. Clarence G. Contee: Du Bois, the NAACP, and the Pan-African Congress of 1919. In: JNH 57 (1972), S. 13–28.

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20 Personen regelmäßig zusammen.9 In den USA und England verweigerte man Interessierten die Ausreise und verhinderte so deren Teilnahme am Kongress. Die USA ließen dafür extra den kriegsbedingten Passport Control Act von 1918 in Kraft, nach dem Amerikaner für die Ausreise nach Europa einen speziellen Pass beantragen mussten. Insbesondere afroamerikanischen Bürgerrechtlern wurde die Ausstellung des Passes und damit die Ausreise verweigert.10 Die Kolonialre­ gierungen kontrollierten die Mobilität ihrer afrikanischen Untertanen ohnehin.11 ­Etwas resigniert kommentierte daher Du Bois: „Immerhin schafften es ein paar Negroes nach Paris.“12 Die geringe Anzahl von Afrikanern kompensierten die Organisa­toren des Kongresses mit einer Aufstockung durch weiße Afrikafreunde und Philanthropen. Zugleich war der Panafrikanische Kongress gar nicht der erste, sondern der dritte Kongress dieser Art, nach dem Chicago Congress of Africa von 1893 und dem Panafrikanischen Kongress von 1900.13 Letztgenannter hatte mit 32 Delegierten aus Liberia, Sierra Leone, Gold Coast, Äthiopien, den USA und von den Westindischen Inseln in London stattgefunden. Auf ihn folgte die Gründung ­einer Pan-African Association mit einem weltweiten Netzwerk von Mitgliedern, das allerdings nur bis zum Weltkrieg aktiv war.14 Die strategische Benennung des Kongresses von 1919 als „erste“ panafrikanistische Großveranstaltung zeigt indes, welch außergewöhnliche Bedeutung Du Bois diesem Jahr zuschrieb. Indem er 1919 zum präzedenzlosen Ursprungsjahr des panafrikanistischen Emanzipationsprojekts erklärte, beanspruchte er auch, dass erstmals die kolonialkritischen Autonomiebestrebungen in Afrika mit den bürgerrechtlichen Assimilationsforderungen der Afroamerikaner gemeinsam artikuliert wurden. Erst mit dieser Bewusstseinserweiterung, so scheint es, wurde die panafrikanische Idee zur panafrikanistischen Bewegung.15  9  An der Konferenz nahmen insgesamt 57 Personen teil. Diese kamen unter anderem aus Französisch-Westindien, Haiti, Frankreich, den USA, Liberia, den spanischen Kolonien, den por­ tugiesischen Kolonien, Santo Domingo, Großbritannien, den britischen Gebieten in Afrika, den französischen Besitzungen in Afrika, Algerien, Ägypten, Belgisch-Kongo und Abessinien. Vgl. Glenda Sluga: Internationalism in the Age of Nationalism. Philadelphia 2013, S. 52. 10  Mark Ellis: Race, War, and Surveillance. African Americans and the United States Government during World War I. Bloomington 2001, S. 187–189. 11  Daniel Brückenhaus: Policing Transnational Protest: Liberal Imperialism and the Surveillance of Anticolonialists in Europe, 1905–1945. Oxford 2017, S. 81. 12  W. E. B. Du Bois: Winds of Time. In: Chicago Defender (26. 5. 1926) (die Übersetzungen der englischen Zitate ins Deutschen stammen hier und im Folgenden vom Verfasser). 13  Peter O. Esedebe: Pan-Africanism. The Idea and Movement, 1776–1991. Washington 1994, S. 41. 14  Immanuel Geiss: Panafrikanismus. Zur Geschichte der Dekolonisation. Frankfurt a. M. 1968; Marika Sheerwood: Origins of Pan-Africanism. Henry Sylvester Williams, Africa, and the African Diaspora. New York/London 2011, S. 75–102; Jonathan Schneer: London 1900. The Imperial Metropolis. New Haven/London 1999, S. 226; Matteo Grilli/Frank Gerits (Hg.): Visions of ­African Unity. New Perspectives on the History of Pan-Africanism and African Unification Processes. Cham 2020, S. 2. 15 Peter Olisanwuche Esedebe: Origins and Meaning of Pan-Africanism. In: Présence Africaine 73 (1970), S. 109–127, hier: S. 125.

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Einen ähnlichen historischen Präzedenzfall suggerierte die Verkündung des Selbstbestimmungsrechts der Völker durch den russischen Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin und den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson.16 Was ­Lenin und Wilson angeblich erstmals als universales Recht eines jeden Volkes, über seine eigene politische Organisationsform zu entscheiden, definierten, war in Wirklichkeit ein Instrument zur Schwächung multiethnischer Kontinentalimpe­ rien in einer spezifischen historischen Situation und diente nur zweitrangig der Friedenssicherung. Wilsons ethnisch-voluntaristische Definition setzte die Volkssouveränität an den Anfang und den Nationalstaat als Telos der Selbstbestimmung. Damit sprach er einem dezidiert westlichen Modell der Nationalstaats­ bildung universale Gültigkeit zu und machte ältere, nicht-westliche und ergebnisoffenere Versionen des Selbstbestimmungsrechts vergessen, wie zum Beispiel diejenigen der Panafrikanisten.17 Wilsons Selbstbestimmungsrecht inspirierte auch Menschen in den Kolonien, ihre Selbstverwaltung und ihre Unabhängigkeit von imperialer Herrschaft einzufordern.18 Aber diese hatten oft eigene und ältere Vorstellungen von Selbstbestimmung, bei denen die Unabhängigkeit nicht ausschließlich ein Mittel zum Zweck der Nationsbildung war. Obwohl ein solcher Kausalzusammenhang zwischen Unabhängigkeit und antikolonialer Nationsbildung von der Historiografie lange als selbstverständlich angesehen wurde, und auch auf einige europäische und asiatische Imperien zutraf, folgte das kolonisierte Afrika 1919 einem entsprechenden Modell nicht.19 Diese Diskrepanz zwischen historiografischer Annahme und historischer Entwicklung ist erklärungsbedürftig. Der Blick auf afrikanische und panafrikanistische Konzepte von Selbstbestimmung trägt zu solch einer Erklärung bei. Indem dieser Beitrag die westlichen Ursprungsnarrative über den Ersten Weltkrieg durch vielfältigere Perspektiven aus (Nord- und Subsahara-)Afrika und von der afrikanischen Diaspora ergänzt, relativiert er die Bedeutung von 1919 als Geburtsjahr von panafrikanistischen und antikolonial-nationalistischen Bewegungen.20 Auch wenn afrikanische und panafrikanistische Sichtweisen in ihrer Vielfalt niemals auf einen Nenner zu bringen sind, bieten sie die Möglichkeit, der Multiperspektivität gerecht zu werden, die es braucht, um die Pariser Konferenz von 1919 zu „dezentralisieren“, oder, um es mit den Worten von Dipesh Chakrabarty zu sagen, methodisch zu „provinzialisieren“.21 Die synchrone Dezentralisierung 16  Zur

Geschichte vgl. Jörg Fisch: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion. München 2010. 17  Arnulf Becker Lorca: Petitioning the International. A „Pre-history“ of Self-Determination. In: EJIL 25 (2014) 2, S. 497–523. 18 Erez Manela: The Wilsonian Moment. Self-Determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism. Oxford 2007. 19 Frederick Cooper: Conflict and Connection. Rethinking Colonial African History. In: AHR 99 (1994) 5, S. 1516–1545. 20  Vgl. Geiss: Panafrikanismus (wie Anm. 14), S. 182. 21  Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton 2000.

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bildet die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im „Moment“ von 1919 ab. Die Fokussierung auf 1919 zeugt also nicht von einem engstirnigen kalendarischen Determinismus, sondern birgt die Chance, die multiple Erfahrung eines historischen Augenblicks zu erfassen. Um den Moment „1919“ zu verstehen, muss neben der synchronen auch eine diachrone Dezentralisierung erfolgen. Vor allem aus afrikanischer Sicht ist 1919 nur aus seiner Vorgeschichte heraus zu erklären. Sein Charakter als Zäsur ist lediglich festzustellen, wenn man das Vorher genauso wie das Nachher berücksichtigt. Sicherlich ist hier bedeutsam, welche Rolle der Krieg spielte, an dem zwei Millionen Afrikaner und 380 000 Afroamerikaner teilnahmen, von denen viele nach 1919 als Veteranen Ansprüche stellten. Doch aus afrikanischer und afro­ amerikanischer Sicht stellt eine viel ältere Geschichte struktureller und exzessiver kolonialer Gewalt die in Europa propagierte Singularität des Weltkriegs infrage. Neben der Gewaltgeschichte ist es aber auch bedeutsam, zu untersuchen, inwiefern die panafrikanistischen und antikolonialen „Ideen von 1919“ schon in (pan-) afrikanischer Praxis und Agency vor dem Ersten Weltkrieg gelebt wurden, ohne dass sie als programmatisches Leitideal verbalisiert wurden. Wie schon Peter ­Olisanwuche Esedebe in seiner Geschichte des Panafrikanismus herausgearbeitet hat, haben Praktiken nicht erst dann existiert, wenn Menschen dafür Worte fanden.22 Worte für eine Einordnung des Jahres 1919 fanden indes nicht nur Historiker im Rückblick, sondern auch Aktivisten, die sich durch Berufung auf dieses geschichtsträchtige Datum Legitimität verschaffen wollten. Die retrospektive Verklärung von 1919 verlangt einen Blick auf die Nach- und Rezeptionsgeschichte, die historiografische Deutungskämpfe offenlegt und im Rückblick sinnvolle ­Zäsuren setzen kann. Nach einem einleitenden Kommentar zu historiografischen Debatten um ein (pan-)afrikanisches 1919 stellt der vorliegende Beitrag (pan-)afrikanische Praktiken in drei Schritten vor: Erstens wird gezeigt, dass panafrikanische Praktiken im 19. Jahrhundert teilweise aus kolonialen Kontexten entstanden und dass der „westliche“ Panafrikanismus 1919 mit kolonialen Zielen vereinbar war. Zweitens wird am Beispiel westafrikanischer Eliten Kwame Appiahs These, dass nur „afrikanische Panafrikanisten“ westliche Perspektiven überwinden konnten, empirisch konkretisiert. Und drittens wird dargestellt, inwiefern die Geschichte von afrikanischen Kriegsveteranen und „Subalternen“ das Jahr 1919 in eine lange Kontinuität kolonialer Gewalt einreiht und dadurch relativiert. Im ganzen Beitrag steht „Afrika“ stellvertretend für das subsaharische Afrika. Anstatt des im Englischen gebräuchlichen Begriffs „African Americans“ wird hier die im Deutschen geläufige Form „Afroamerikaner“ verwendet. Entsprechend den Empfehlungen zu einer diskriminierungssensiblen Sprache werden die Bezeichnungen „Schwarze“ und „Schwarze Menschen“ großgeschrieben. Damit soll deutlich werden, dass es sich nicht um eine tatsächliche Eigenschaft, sondern um eine konstruierte Kategorie handelt, die aber auch von den Betroffenen selbst gebraucht wird, um die gemein22 

Esedebe: Origins (wie Anm. 15), S. 125.

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same Diskriminierungserfahrung Schwarzer Menschen hervorzuheben. Auf geschlechterumfassende Benennungen wurde dagegen verzichtetet und im Text das generische Maskulinum verwendet.

Historiografische Deutungskämpfe um 1919 Die Proklamation des „Ersten“ Panafrikanischen Kongresses von 1919 kam nicht nur der panafrikanistischen Sache zugute, sondern auch Du Bois selbst. Dieser konnte sich als Gründervater des Panafrikanismus darstellen, obwohl er vor dem Weltkrieg nur einer unter vielen Panafrikanisten gewesen war und obwohl ihn Mitstreiter wegen seines Appells an alle Afroamerikaner, im Krieg die „Reihen“ mit den Weißen in einer rassistisch-segregationistisch hierarchisierten US-Army zu „schließen“, sogar des Verrats an der panafrikanistischen Sache bezichtigt hatten.23 Um sich zu rehabilitieren, nutzte Du Bois seit 1919 seine Zeitschrift „The Crisis“, in der er sich selbst zum revolutionären „Triumph des Panafrikanischen Kongress von 1919“ beglückwünschte und „in bewegender Prosa seine eigene Rolle in diesem Wendepunkt für die moderne Welt zelebrierte“.24 Du Bois betonte auch retrospektiv immer wieder die Originalität des Panafrikanischen Kongresses von 1919, wie zum Beispiel in der von George Padmore herausgegebenen „Geschichte des Panafrikanischen Kongresses“ von 1945.25 Im Gegensatz dazu sind Historiker zu dem Schluss gekommen, dass die von Du Bois organisierten panafrikanistischen Kongresse von 1919, 1921 und 1923 „obwohl sie symbolisch bedeutsam waren, doch damals wenig zählbare Erfolge brachten“.26 Mit seiner selbstdarstellerischen Ausnutzung des Kriegsendes reichte Du Bois aber nicht an seinen Präsidenten Woodrow Wilson heran, der sich als Schirmherr der Völkerbundsidee und Erfinder des Selbstbestimmungsrechts der Völker einen Namen machte, ohne sich an einer Umsetzung dieser Ideen zu beteiligen. Historiker haben seine Verkündung des Selbstbestimmungsrechts zum Anlass genommen, das Jahr 1919 zum Beginn systematischer antikolonialer Bewegungen zu erklären. So betont Erez Manela, die Verkündung des Selbstbestimmungsrechts durch Wilson sei im Januar 1918 in einigen Kolonien so wirkmächtig gewesen, dass die Zeit zwischen 1918 und 1920 als „Anfang vom Ende der imperialen Ordnung“ angesehen werden müsse. Dieser Wilsonian Moment sei der Ursprung des liberalen und nationalistischen Antikolonialismus gewesen, der 1919 durch die Friedenskonferenz amplifiziert und dann erst später von Lenins sozialistischem

23  Nach

Esedebe: Pan-Africanism (wie Anm. 13), S. 39–94; zur Rivalität mit Booker T. Washington und Kritik an Du Bois vgl. Williams: World War I (wie Anm. 7), S 9 f.; W. E. B. Du Bois: Close Ranks. In: The Crisis 16 (1918), S. 111. 24  Williams: World War I (wie Anm. 7), S. 12. 25 W. E. B. Du Bois: The Pan-African Movement. In: George Padmore (Hg.): Colonial and ­Coloured Unity. A Plan of Action. History of the Pan-African Congress. London 1963, S. 13–26. 26  Williams: World War I (wie Anm. 7), S. 17; Geiss: Panafrikanismus (wie Anm. 14), S. 182

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Antikolonialismus verdrängt worden sei.27 Als historiografisches Argument gegen Manelas Antikolonialismusthese kann Susan Pedersen’s Studie zum Völkerbund gesehen werden, die in der Internationalisierung kolonialer Verwaltung durch das Mandatssystem von 1919 eine Verstetigung und stellenweise Verstärkung kolonialer Strukturen erblickt.28 Diese beiden Positionen sind keineswegs miteinander unvereinbar. Manela fasst nämlich tatsächlich nur einen kurzen Moment ins Auge, während Pedersen sich mit Strukturen längerer Dauer beschäftigt. Beide konstatieren auf langfristige Sicht das Scheitern des Wilsonian Moment, das angesichts des kurzen, aber hef­ tigen Erfolgs erklärungsbedürftig ist.29 Erklärungspotenzial birgt der Fokus auf den Augenblick insofern, als dass hierbei der Antikolonialismus vom Narrativ seines linearen Fortschritts gelöst und stattdessen aus der spezifischen historischen Situation heraus erklärt wird. Ein solcher Bruch mit linearen Fortschrittsnarrativen erlaubt es zum Beispiel zu fragen, ob afrikanische Antikolonialisten der Zwischenkriegszeit „nationalistischer“ waren als nach 1945, als sie eher auf die bürgerrechtliche Assimilation und Integration in metropolitane Strukturen setzten.30 Um diese Kontingenz historischer Situationen zu erfassen, geben Manela und Pedersen außereuropäischen Sichtweisen auf 1919 viel Raum und distanzieren sich so von einer eurozentrischen Diplomatiegeschichte. Dazu nehmen sie verstärkt die zeitgenössischen soziokulturellen Verhältnisse in Afrika in den Blick, die zum Beispiel zum Auftauchen des ägyptischen Wafd-Nationalismus oder zu den Völkerbundpetitionen der Duala aus Kamerun führten. Durch eine metho­ dische Dezentralisierung des „europäischen“ Jahres 1919 schreiben beide eine multikausale Momentgeschichte afrikanischer Kolonialkritik.31 Trotz der Überwindung der eurozentrischen Herangehensweise tendieren sowohl Manela als auch Pedersen zu einem ideengeschichtlich diffusionistischen Modell, das davon ausgeht, dass die entscheidenden Impulse für Veränderungen im Jahr 1919 vorrangig aus dem Westen kamen. Demnach hätten die dynamischen Ideen aus Paris und Genf die eher statischen soziokulturellen Verhältnisse in 27  Manela: Wilsonian Moment (wie Anm. 18), S. 7, S. 140, S. 225. Aufgegriffen in Michael Goebel: Anti-Imperial Metropolis. Interwar Paris and the Seeds of Third-World Nationalism. Cambridge 2015, S. 151–157. 28 Susan Pedersen: The Guardians. The League of Nations and the Crisis of Empire. Oxford 2015, S. 3. Ähnlich vgl. Michael D. Callahan: Mandates and Empire. The League of Nations and Africa 1914–1931. Brighton 2008, S. 5–7. 29  So auch Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. München 2014, S. 711. 30 So der Eindruck, wenn man Michael Goebel’s Anti-Imperial Metropolis (vgl. Anm. 27) zusammen liest mit Frederick Cooper: Citizenship between Empire and Nation. Remaking France and French Africa. Princeton 2014, S. 1–3; ders.: Reconstructing Empire in British and French Africa. In: P & P 210 (2011) 6, S. 196–210, hier: S. 197. 31  Andere Werke zu 1919 gehen kaum auf die außereuropäische Welt ein, z. B. Margaret MacMillan: Paris 1919. Six Months That Changed the World. New York 2001. Manela sieht Wilsons Ideenwelt sehr kritisch und vor allem von rassistischem Denken beeinflusst, vgl. Manela: Wilsonian Moment (wie Anm. 18), S. 26–28.

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Übersee beeinflusst. Manelas enger Fokus auf den Wilsonian Moment verleitet zu der Lesart, dass es zwar schon vor 1919 antikoloniale Eigeninitiativen gab, die aber ohne Wilsons zündender Idee des Selbstbestimmungsrechts nicht in einen antikolonialen Befreiungsnationalismus hätte enden können.32 Bei Pedersen erscheint die vom Genfer Mandatssystem auferlegte Erhaltung kolonialer Strukturen als übermächtig, auch wenn die Kolonisierten auf lokaler Ebene oft über mehr Spielräume zur Gestaltung der Machtverhältnisse verfügt hätten.33 Jüngere Erkenntnisse zum rassistischen Weltbild Wilsons, das seine innenpolitische Segregationspolitik genauso wie seine weltpolitische Absage an ein Selbstbestimmungsrecht für Afrikaner prägte, verbinden sich hier mit der Neueinschätzung des Völkerbundes als freiheitsverhindernder „League of Empires“ zu einem Bild, das die Bedeutung von 1919 als Moment der Freiheitserwartung und Emanzipation für Panafrikanisten und kolonisierte Afrikaner relativiert.34 Indem man die Ikonisierung von Wilsons Selbstbestimmungsrecht der Völker und von Du Boisʼ Befreiungspanafrikanismus empirisch hinterfragt und als westliche Perspektive problematisiert, wie es für Du Bois schon Paul Gilroy in seiner epochalen Studie zum „Black Atlantic“ tat, ergeben sich ambivalentere Geschichten über das Jahr 1919.35 Der Perspektivwechsel zu „subalternen“ Panafrikanisten und Afrikanern in den (subsaharischen) Kolonien in diesem Beitrag stellt dabei insbesondere das Liberalisierungsnarrativ in Bezug auf das Jahr 1919 infrage. Die Einstufung von afrikanischen Kolonien als C-Mandate durch den „liberalen“ Völkerbund, welche ihre angebliche Unfähigkeit, „sich selbst zu verwalten“, implizierte, und die gewaltsame Unterdrückung der Emanzipationsforderungen von rückkehrenden Weltkriegssoldaten lassen die Ambivalenz plastisch hervortreten. Dies bedeutet keineswegs, dass das Jahr 1919 von „subalternen“ Afrikanern und Panafrikanisten nur passiv wahrgenommen wurde. Sie haben es in einer Weise mitgestaltet, die aber nicht unbedingt den durch Historiker perpetuierten Selbstnarrativen von Wilson und Du Bois entsprach. Ihre Geschichten sind diverser. Michael Goebel hat eindrücklich gezeigt, dass sich die afrikanisch-stämmige Diaspora im Paris der Zwischenkriegszeit mit antikolonialen Aktivisten aus Asien und Lateinamerika vernetzte, wodurch sich ein gemeinsames antikoloniales Be-

32 

Zu Kritik an der These, dass Wilson am Anfang des nationalistischen Antikolonialismus steht, vgl. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. München 32009, S. 723: Getachew: Worldmaking (wie Anm. 2), S. 40–62. 33  Frederick Cooper: Africa since 1940. Cambridge 2002, S. 38  f. 34  Zur Debatte um Wilson vgl. Berg: Woodrow Wilson (wie Anm. 1), S. 12–14; Miguel Bandeira Jerónimo: A League of Empires. Imperial Political Imagination and Interwar Internationalisms. In: Miguel Bandeira Jerónimo/José Pedro Monteiro (Hg.): Internationalism, Imperialism and the Formation of the Contemporary World. London/New York 2017, S. 87–126. 35  Paul Gilroy: The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness. London 2003 (EA: London 1993); Holger Weiss: Framing a Radical African Atlantic. African American Agency, West African Intellectuals and the International Trade Union Committee of Negro Workers. Leiden 2014, S. 6.

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wusstsein herausbildete, das sich in nationalistischen Forderungen niederschlug.36 Nicht alle Afrikaner und Panafrikanisten teilten jedoch solche Positionen. Während Goebel aber auf die fortschreitende Ideologisierung der teils europäisierten Eliten in Paris geschaut hat, sollen in diesem Beitrag stärker die anders gelagerten Interessen von weniger sichtbaren Afrikanern und Panafrikanisten in den Kolonien hervorgehoben werden. Denn diese hatten meist ihre eigene Agenda und waren in ihren ideologischen Positionen flexibler. Der Fokus auf die afrika­nische Agency in den Kolonien bestärkt die jahrzehntealte Problematisierung von Terence Rangers Unterscheidung zwischen einem angeblich passiven „primären“ Widerstand vor Wilson und einem politisiert-nationalistischem Widerstand nach Wilson.37 Schon vor 1919 gab es „modernen“ und auch nationalistischen Widerstand gegen die Kolonialherrschaft. Und auch nach 1919 war der Widerstand eher selten nationalistisch. Afrikaner handelten stattdessen koloniale Verhältnisse permanent neu aus und veränderten sie zu ihren Gunsten.38 Ihre Perspektiven und Aktivitäten helfen dabei, zu präzisieren, warum der Wilsonian Moment nicht – wie nach dem Zweiten Weltkrieg – in der Dekolonisierung endete oder wenigstens eine kritische Masse antikolonialer Agitation in Afrika bewirkte.39 Ihre Positionen waren also auch 1919 nicht primär nationalistisch-antikolonial, wie Frederick Cooper mehrfach hervorgehoben hat, sondern bildeten eine Bandbreite verschiedener Ermächtigungsstrategien, die von bürgerrecht­ licher Assimilation über wirtschaftliche Integration bis hin zu dosiertem Autonomiestreben reichte.40 Genauso wie es vor 1919 verschiedenste Formen von antikolonialem Widerstand gab, so waren auch unterschiedliche panafrikanistische Praktiken spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wirkmächtig geworden. Robert Gooding-Williams betont zum Beispiel, dass der afroamerikanische Sozialreformer und Abolitionist Frederick Douglass, welcher 1855 mit „My Bondage and my Freedom“ ein Manifest gegen die Versklavung veröffentlichte, weitaus radikaler als später der kompromissbereite Du Bois gegen die rassistische Unterdrückung in den USA vorging. Du Bois führte 1903 in „The Souls of Black Folk“ seinen Panafrikanismus zwar auf Douglass zurück, stellte diesen aber als weniger radikalen Assimilationisten dar, um sich gegenüber seinem segregationistischen afroamerikanischen Kontrahenten Booker T. Washington historische Legitimität zu verschaffen. In Wirklichkeit, so Gooding-Williams, sei Du Bois aber hinter Douglass Emanzipa36 

Goebel: Metropolis (wie Anm. 27), S. 3–16. Zu dieser Unterscheidung durch Terence Ranger ist die Literatur umfangreich. Zusammenfassend vgl. Klaas van Walraven/Jon Abbink: Rethinking Resistance in African History. An Introduction. In: dies./Mirjam de Bruijn (Hg.): Rethinking Resistance. Revolt and Violence in African History. Leiden 2003, S. 1–40, hier: S. 1 f. 38  Ein Beispiel für die Komplexität: Geert Castryck: Children of the Revolution. The Citizenship of Urban Muslims in the Burundian Decolonization Process. In: JEAS 14 (2020) 2, S. 185–203. 39  So Cooper: Empire (wie Anm. 30), S. 197. 40  Cooper zeigt das für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Seine These gilt aber umso mehr für die Zeit davor. Vgl. ebd.; ders.: Conflict (wie Anm. 19). 37 

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tionsprojekt zurückgefallen.41 Wie weiter unten gezeigt wird, gingen Du Boisʼ Pläne für eine Kolonialreform in Afrika von 1919 auch kaum über die weitaus ­ lyden konkreteren Praktiken des afroamerikanischen Aktivisten Edward Wilmot B hinaus. Dieser war schon 1850 nach Liberia „zurückgekehrt“, um dort das Programm des afroamerikanischen „self-improvements“ zu einem semi-kolonialen Zivilisierungsprogramm für Afrikaner zu erweitern.42 Mit guten Argumenten zeigt eine ganze Reihe an Studien, dass Panafrikanismus und Antikolonialismus erst in Verbindung mit kommunistischen Zielsetzungen entschlossener umgesetzt wurden. Du Bois, der 1919 alles andere als ein konsequenter Antikolonialist war, radikalisierte sich wie viele (pan-)afrikanische Aktivisten erst seit den späten 1920er-Jahren durch die strategische Aneignung kommunistischer Ideen und Infrastrukturen. Viele Panafrikanisten taten dies, ohne sich dabei als Black Radicals vom Marxismus zu distanzieren, aber auch ohne sich als Black Marxists kommunistischen Vorstellungen vollständig zu unterwerfen.43 Mittlerweile liegen zur schlagkräftigen Verbindung der Komintern mit panafrikanistischen und antikolonialen Bewegungen in den späten 1920er-Jahren ausführ­ liche Studien vor. Diese zeigen: Die League Against Imperialism and Colonial Oppression, welche sich 1927 auf dem Brüsseler „Kongress gegen koloniale Unter­drückung und Imperialismus“ konstituierte, war durch die Komintern gefördert und ein Paradebeispiel für den transimperialen Zusammenschluss von ­asiatischen und afrikanischen Antikolonialisten, wobei die Vertreter aus China und Indien eindeutig dominierten und nur zehn der 174 Teilnehmer aus (vorrangig Nord- und Süd-)Afrika kamen.44 Die erste wirkliche panafrikanistische Organisation, die zudem eher Arbeiter als intellektuelle Eliten global vernetzte, war das International Trade Union Committee of Negro Workers. George Padmore organisierte das Committee, „welches die britischen Inseln, Frankreich und Holland bis zur Karibik und von den Küstenhäfen Westafrikas aus landeinwärts auch Kamerun erreichte“, Anfang der 1930er Jahre unter der Aufsicht der Komintern 41 Robert

Gooding-Williams: In the Shadow of Du Bois. Afro-Modern Political Thought in America. Cambridge 2009, S. 5–7. 42  Zu Blyden vgl. u. a. Harry N. K. Odamtten: Edward W. Blydenʼs Intellectual Transformations. Afropublicanism, Pan-Africanism, Islam, and the Indigenous West African Church. East Lansing 2019. 43  Cedric J. Robinson: Black Marxism. The Making of the Black Radical Tradition. Chapel Hill 2000; Weiss: Framing (wie Anm. 35), S. 6–10; Minkah Makalani: In the Cause of Freedom. Radical Black Internationalism from Harlem to London, 1917–1939. Chapel Hill 2011, S. 13. Dies ist auch der Eindruck bei Goebel, zum Beispiel in Bezug auf Algerien. Antikolonialisten wie Messali Hadj beriefen sich erst in ihren Memoiren auf 1919. Vgl. Goebel: Metropolis (wie Anm. 27), S. 153. Léopold Senghor aus Senegal oder Ferhat Abbas aus Algerien waren bis kurz vor der Unab­ hängigkeit ihrer Länder Assimilationisten. 44  Michele Louro u. a.: The League against Imperialism. Lives and Afterlives. Leiden 2020, S. 17; Michele Louro: Comrades Against Imperialism. Nehru, India, and Interwar Internationalism. Cambridge 2018; Frederick Petterson: We Are neither Visionaries nor Utopian Dreamers. Willi Münzenberg, the League Against Imperialism, and the Comintern, 1925–1933. Åbo [PhD Dissertation] 2013.

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von Hamburg aus.45 Zu einer Verstetigung solcher panafrikanistischen Netzwerke kam es im gemeinsamen Protest gegen den Überfall Italiens auf „Abessinien“ im Jahr 1935. Dieser galt Afrikanern als Beginn des Zweiten Weltkriegs, stellte er doch einen Angriff auf das letzte unabhängige afrikanische Land dar. Äthiopien war zudem das Objekt der Rückkehrhoffnung derjenigen Black Zionists, die die afrikanische Diaspora nach Äthiopien repatriieren wollten. Als Reaktion darauf entstanden in den 1930er-Jahren identitätsstiftende Referenzwerke der panafrikanistischen Bewegungen: C. L. R. James schrieb „The Black Jacobins“ (1938) über die haitianische Revolution, George Padmore publizierte „Africa and World Peace“ (1937) sowie „How Britain Rules Africa“ (1938) und der spätere kenianische Präsident Jomo Kenyatta legte seine epochenmachende anthropologische aber nicht-marxistische Studie „Facing Mount Kenya“ (1938) vor. Die NégritudeBewegung, die Léopold Senghor und Aimé Cesaire – zusammen mit anderen – 1935 ins Leben rief, gab dem panafrikanistischen Projekt eine ästhetisch-körperbetonte Identität, die literarische und politische Ermächtigungsprojekte nach 1945 inspirierte. Gegenüber dieser Verdichtung emanzipatorischer Projekte und bewusstseinsschaffender Literatur blieb das Jahr 1919 blass, auch wenn schon damals mit der Vereinigung African Blood Brotherhood for African Liberation and Redemption in Harlem eine sozialistische Alternative zu Du Bois „bürgerlichem“ Panafrikanismus existierte, die allerdings nur über eine begrenzte Reichweite verfügte.46 Die Frage, welche Bedeutung 1919 überhaupt für das panafrikanistische und antikoloniale Projekt hatte, stellt sich also mit Nachdruck.

Afrokolonialismus und die panafrikanistischen Ursprünge des Mandatssystems Während Du Boisʼ Antirassismus ausführlich diskutiert und ambivalent beurteilt wurde, hinterfragten Kommentatoren seinen Antikolonialismus weitaus seltener.47 Dabei war sein Antikolonialismus von 1919 ebenso ambivalent wie inkonsequent, vor allem weil dieser in einer Linie mit den panafrikanistischen Kolonialtendenzen des 19. Jahrhunderts stand.48 45 

Makalani: Cause (wie Anm. 43), S. 6 f. S. 2; zur publizistischen Entdeckung des Panafrikanismus in den 1930er-Jahren vgl. Getachew: Worldmaking (wie Anm. 2), S. 5–9. Die Forschung zur Idee der Menschenrechte kommt zudem überein, dass diese erst lange nach 1945 in die antikoloniale Argumentation einflossen: Jan Eckel: Human Rights and Decolonization. New Perspectives and Open Questions. In: Humanity 1 (Herbst 2010), S. 111; Samuel Moyn: The Last Utopia: Human Rights in History. Cambridge 2010, S. 84–119. 47  Zu Du Boisʼ Verständnis von race vgl. Anthony Appiah: The Uncompleted Argument. Du Bois and the Illusion of Race. In. Critical Inquiry 12 (Herbst 1985) 1, S. 21–37. 48 Zur konzeptuellen Diskussion „Emigration“ versus „Kolonisation“ unter Afroamerikanern vgl. Katja Füllberg-Stolberg: Amerika in Afrika. Die Rolle der Afroamerikaner in den Beziehungen zwischen den USA und Afrika, 1880–1910. Berlin 2002, S. 19–22; Johnny van Hove: Congoism. Congo Discourses in the United States from 1800 to the Present. Bielefeld 2017. 46  Ebd.,

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Im Jahr 1919 konnte sich Du Bois auf die offene Kolonialkritik der alliierten Nachkriegspropaganda berufen. Diese hatte die Geringschätzung und Misshandlung afrikanischer Menschen im deutschen Kolonialreich publik gemacht, um zu beweisen, dass Deutschland eines weiteren Kolonialbesitzes unwürdig sei. Da auch die Gewaltexzesse gegen die kongolesische Bevölkerung unter Leopold II. aus der Vorkriegszeit noch im Raum standen, versprach sich Du Bois von den Pariser Verhandlungen die Erweiterung der „Kolonialfrage“ zur „Rassenfrage“ und mithin mehr Aufmerksamkeit für die Rassendiskriminierung in den USA.49 Um das gemeinsame Schicksal der Schwarzen in den USA und den Kolonien zu belegen, orientierte er sich kurioserweise auch an dem essenzialisierten Rassenbegriff des deutschen „Lebensraum“-Ideologen Friedrich Ratzel, der in Du Boisʼ Wahrnehmung eher kulturell als biologisch begründet war.50 Obwohl die Siegermächte die Misshandlung der Afrikaner als Hauptgrund für die Umverteilung der ehemaligen deutschen Kolonien vorbrachten, dachten die Unterhändler auf der Friedenskonferenz gar nicht daran, die „Kolonialfrage“ zur „Rassenfrage“ auszuweiten.51 Denn das hätte längerfristig auch ihre eigene Ko­ lonialpolitik infrage gestellt. An den Verhandlungen der African Questions in Vorbereitung der Friedensresolution nahmen dementsprechend ausschließlich Ver­ treter von Kolonialmächten teil, nämlich Amerikaner, Briten, Franzosen, Italiener, Japaner, Belgier und Portugiesen. Den Verantwortlichen ging es neben der Umverteilung der deutschen Kolonien um eine Aktualisierung der Kongo-Abkommen von 1884/85 und von 1890. Einer entsprechenden Neuauflage des kolonialen Völkerrechts widmete sich im August 1919 die „Convention Revising the General Act of Berlin, February 26, 1885, and the General Act and Declaration of Brussels, July 2, 1890“. Auf der Tagesordnung stand, wie schon im späten 19. Jahrhundert, die Frage, wie weit eine Open Door-Politik in afrikanischen Kolonien und Mandaten gehen sollte, welche Wasserwege internationalisiert werden sollten und wie man den Alkohol- und Waffenhandel eindämmen könne.52 Die Debatte drehte sich neben deutschen Kolonien vor allem um das 1885 internationalisierte, ­allerdings seit 1908 unter belgischer Verwaltung stehende Kongogebiet, das schon länger Gegenstand deutscher oder britischer Aufteilungspläne gewesen war. Bei der Neuverteilung der Kolonien nach dem Krieg wollten einige Großmächte dem Kongogebiet seinen internationalen Status zurückgeben oder es gar übernehmen.53 Pläne zur Neuverteilung der belgischen Kongokolonie kamen aber nicht nur aus Europa. Auch amerikanische Panafrikanisten boten sich bei den Verhand­ lungen als kolonialreformerische Zivilisierungsmissionare an. Du Bois verband 49 

Du Bois: The League of Nations. In: The Crisis 18 (1919), S. 10 f. Gooding-Williams: Shadow (wie Anm. 41), S. 51. 51  Editor’s Introduction. In: George Louis Beer: African Questions at the Paris Peace Conference. New York 1923, S. XV. 52 Ebd., S. XXIV. Vgl. auch William Roger Louis: African Origins of the Mandates Idea. In: IO 19 (1965) 1, S. 20–36. 53  Vgl. z. B. Pedersen: Guardians (wie Anm. 28), S. 20  f. 50 

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Strategie mit Opportunismus, als er in Paris mehrfach betonte, dass er den rassistischen Kolonialismus der Deutschen und die Gewaltexzesse im Kongo verurteile, nicht aber den zivilisatorischen Kolonialismus der Franzosen und den progres­ siven der Briten.54 Schon im Abschlussmanifest des Ersten Panafrikanischen Kongresses von 1900 hatte Du Bois gefordert, man solle „den Kongo-Freistaat zum großen und zentralen Negro State dieser Welt machen und seinen Wohlstand nicht nur an Geld und Handel festmachen, sondern an der Zufriedenheit und dem wahren Fortschritt seiner Schwarzen Bevölkerung“.55 Genau dies stand aber auch bereits in der Kongo-Akte von 1884/85, die auch die Zivilisierungsmission in Zentralafrika verbriefte. Führende Panafrikanisten hatten schon seit dem 19. Jahrhundert im Rahmen der Propagierung der „Rückkehr“ in den Kongo eine afroamerikanische Zivili­ sierungsmission entwickelt, welche Afrikaner als unterlegen ansah und auf einen westlichen Standard „heben“ wollte. Der afrikanische Priester und Afrika-Missionar Alexander Crummell schrieb zum Beispiel über afrikanische Sprachen, sie zeichneten sich durch eine „Unzulänglichkeit an Ideen“ aus und spiegelten „die Redeweise von groben Barbaren, gekennzeichnet durch brutale und rachsüchtige Gefühle“, wider. Auf der konzeptuellen Ebene würden „ihnen diese Ideen der Tugend, moralischer Wahrheit und diese Unterscheidungen zwischen richtig und falsch“, fehlen.56 Wie Tunde Adeleke gezeigt hat, war eine solche „Abwertung und Objektifizierung von Afrikanern“ üblich. Dazu kam eine „praktische Komponente mit dem Ziel, die mission civilisatrice, das heißt Kolonialismus zu ratio­ nalisieren“.57 Die Vortäuschung einer Zivilisierungsmission sollte also dem kolonialen Projekt Sinn und Legitimität verschaffen. Auch Katja Füllberg-Stolberg kommt zu dem Schluss, dass bis 1908 „der europäische Kolonialismus […] von der Mehrheit der African Americans als Garant für die Einführung von ‚Zivilisa­ tion‘ und Christentum in Afrika gesehen“ worden sei.58 So lobten führende Panafrikanisten wie Edward Blyden um 1900 sogar die Ausbeutungskolonie des ­Kongo Freistaates: „Alle vertrauen den philanthropischen Zielen, sowie den praktischen und kommerziellen Interessen des Königs der Belgier in dem mühsamen und teuren Unternehmen, das er im Kongo durchführt.“59 Die afroamerikanische Zivilisierungsmission war ähnlich paternalistisch gedacht. Vor dem Ersten Weltkrieg verarbeiteten Schwarze Intellektuelle darin auch ihre eigene Verschleppung und Versklavung, indem sie dieser einen zivilisato­ 54  Im Ausblick vgl. Nathaniel Berman: Shadows. Du Bois and the Colonial Prospect, 1925. In: VLR 45 (2000), S. 959–970. 55  Alexander Walter: My Life and Work. New York 1917, S. 257; Esedebe: Pan-Africanism (wie Anm. 13), S. 46. 56  Tunde Adeleke: Unafrican Americans. Nineteenth-Century Black Nationalists and the Civilizing Mission. Lexington 1998, S. 88. 57  Ebd., S. 27. 58  Füllberg-Stolberg: Amerika (wie Anm. 48), S. 14  f. 59  Valentin Y. Mudimbe: The Invention of Africa. Gnosis, Philosophy, and the Order of Knowledge. Bloomington 1998, S. 100.

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rischen Effekt zuschrieben. Der Back-to-Africa-Aktivist Edward Blyden schrieb zum Beispiel um 1900, der „Sklavenhandel würde als ein wichtiges Mittel ange­ sehen, die Schwarzen zu zivilisieren – als eine Art missionarische Einrichtung“.60 Andere Panafrikanisten, wie Alexander Crummell und Martin Delany sahen in der Versklavung ebenfalls eine schmerzhafte, aber zivilisierende Erfahrung, die ­ihnen die Mission auferlegt habe, ihrerseits die zurückgebliebenen Afrikaner an dieser Zivilisation teilhaben zu lassen.61 Kolonisations- und Zivilisierungsvorstellungen vereinten sich schon seit 1822 in Liberia, wohin Afroamerikaner durch Vermittlung philanthropischer und ras­ sistisch-segregationistischer Repatriierungslobbyisten „zurückgebracht“ wurden. Hinter dem Repatriierungprojekt stand vor allem die abolitionistische und bis 1919 vorrangig weiße American Colonization Society, die das sogenannte Rassenproblem in den USA lösen und einen afrikanischen Staat in Afrika aufbauen wollte.62 Mit ihr kooperierte auch der publikationsfreudige Panafrikanist Blyden, der selbst von einer versklavten Familie in Westindien abstammte und über die USA nach Liberia remigriert war. Schon seit 1883 engagierte sich Blyden zusammen mit der American Colonization Society und europäischen kolonialen Lobbygruppen in der „Zivilisierungsarbeit“ in Afrika.63 Sein zivilisierungsmissionarischer Paternalismus war auch christlich geprägt und enthielt konstituierende Elemente der west­lichen Kolonisationsideologie. Bei ihm zeugte die Vorstellung vom an­ gestammten Platz der afrikanischen „Rasse“ in Afrika und „die Wiederherstellung einer Rasse in ihrer ursprünglichen Ganzheit“ ebenfalls von einem essenziali­ sierten Rassenbegriff, mit dem weiße Rassentheoretiker durchaus einverstanden waren.64 Das Modell Liberia stand im Jahr 1919 Pate, um eine panafrikanische Heimstatt im Kongobecken auf die weltpolitische Agenda zu setzen. Im Gegensatz zu Blyden machten afroamerikanische Zeitungen nun klar, dass sie den Massenmord ­Leopolds II. im Kongo um 1900 nicht vergessen hatten. Sie erklärten, dass das, „was Deutschland in Belgien getan hat, niemals so schlimm sein kann, wie das was Belgier selbst im Kongo getan haben“. Die Belgier hätten im Weltkrieg lediglich „geerntet, was sie selbst gesät“ hätten: exzessive Gewalt.65 Als im April 1919 die Diplomaten in Paris tagten, erklärte die 1914 gegründete U ­ niversal Negro ­Improvement Association (UNIA) des radikalen Panafrikanisten Marcus Garvey, 60 

Ebd., S. 100. Adeleke: Americans (wie Anm. 56), S. 76, S. 101. 62  David Jenkins: Black Zion. The Return of Afro-Americans and West Indians to Africa. London 1975. 63 Edward Wilmot Blyden: The Origin and Purpose of African Colonization, Library of Congress, Daniel Murray Pamphlet Collection, https://www.loc.gov/resource/lcrbmrp.t0a10/ ­ ?sp=8&st=pdf&r=-0.299%2C-0.077%2C1.598%2C1.598%2C0&pdfPage=16 (letzter Zugriff am 9. 5. 2022), S. 4 f. 64  Ebd., S. 18. 65  William G. Jordan: Black Newspapers and Americaʼs War for Democracy, 1914–1920. Chapel Hill 2001, S. 40 f. 61 

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dass es „unser Ziel ist, Afrika zum großen Negro Empire zu erklären. Wir sehen keinen rechtlichen Grund, warum Belgien den Kongo behalten sollte. Wir werden warten, bis der Frieden wieder ganz hergestellt ist und dann Belgien zeigen, ­warum wir hier sind.“66 Die UNIA schleuste 1919 den Haitianer Eliézier Cadet als „Hochkommissar bei der Friedenskonferenz“ nach Paris ein, der aber – wie Du Bois – nichts Zählbares erreichen konnte.67 Marcus Garvey war dafür umso publikumswirksamer. Er drängte noch 1922 den belgischen König, ein panafri­ kanisches Mandat über die ehemaligen ost- und westafrikanischen K ­ olonien Deutschlands zu unterstützten, sicherlich mit dem latent mitschwingendem Angebot, sich dafür vom belgischen Kongo fernzuhalten.68 Seine Pläne bereiteten dem vormaligen belgischen Chefunterhändler für Kolonialfragen in Paris tatsächlich Sorgen: „Dieser Garvey ist zu einer Macht geworden, und auch wenn er ein Taugenichts ist, so wäre ich nicht überrascht, wenn bestimmte Länder mit ihm in Verhandlungen treten würden.“69 Sollte das Vorhaben, das Erbe der Kongokolonie anzutreten, nicht aufgehen, wollten Panafrikanisten in Paris Territorien in Afrika wenigstens als internationales Mandat übernehmen. Das Werben um eine Internationalisierung der deutschen Kolonien zugunsten einer (pan-)afrikanischen Verwaltung begann schon Mitte 1918. Fortan setzten Panafrikanisten auf eine afrikanische Selbstverwaltung unter ihrer Aufsicht. Sie zielten dabei wechselweise auf belgische, deutsche oder gar portugiesische Gebiete in Afrika ab. Du Bois kolportierte gar, die Idee von der Internationalisierung afrikanischer Kolonien in Form von Mandaten, wie sie der Völkerbund nach 1919 als neokoloniale Herrschaftsform einführte, stamme von ihm. Laut eigenen Angaben hatte er zum Beispiel ein Memorandum zur Internationalisierung und „Re-Afrikanisierung“ Mittelafrikas an den Council of Peace geschickt.70 Der amerikanische Abgesandte für Afrikafragen und Chef der kolonialen Sektion von Wilsons Delegation beim Friedenskongress, George Louis Beer, hatte das Wort „Mandat“ im Sinne der kolonialen Internationalisierung im Januar 1918 wohl als Erster gebraucht und hatte einen großen Anteil an der Durchsetzung des Mandatssystems des Völkerbundes.71 Beer traf in Paris unter anderem mit Du Bois zusammen. Das Treffen veranlasste Du Bois zur Behauptung, die Mandatsidee sei während ihres Gesprächs aufgekommen und letztendlich auf ihn selbst zurückzuführen.72 Tatsächlich hatte sich Walter Lippmann, der Mitgestalter von Wilsons Vierzehn-Punkte66 

Objects of the U. N. I. A. In: Robert A. Hill (Hg.): The Marcus Garvey and Universal Negro Improvement Association Papers. Bd. 1. Berkeley 1983, S. 397. 67  Becker Lorca: Petitioning (wie Anm. 17), S. 499  f. 68  Henri Jasper an P. Le Tellier, 26. 9. 1922. In: Hill (Hg.): Marcus Garvey (wie Anm. 66), S. 611. 69  Louwers an Namarh, 26. 9. 1922. In: ebd., S. 612. 70  Contee: Du Bois (wie Anm. 8), S 15–17. 71  Beer: Questions (wie Anm. 51), S. XVIII, S. XIX, S. XXII; William Roger Louis: The United States and the African Peace Settlement. The Pilgrimage of George Louis Beer. In: JAfH 4 (1963), S. 413–433, hier: S. 414. 72  David Levering Lewis: W. E. B. Du Bois. A Biography. New York 2009, S. 379.

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Programm, für Du Bois’ Pläne „sehr interessiert“ gezeigt. Über ihn erfuhr wohl auch Wilson selbst von den panafrikanistischen Mandatsplänen.73 Wichtiger als sein Beitrag zur Mandatsidee war allerdings die Frage, wie Du Bois sich auf dem Panafrikanischen Kongress von 1919 gegenüber dem kolonialen Erbe des Panafrikanismus aus dem „langen“ 19. Jahrhundert positionieren würde, das vom Anthropologen und Literaturwissenschaftler Valentin Mudimbe in ­seinem epochemachenden Buch „The Invention of Africa“ vor allem auf Edward Blyden zurückgeführt worden ist.74 Den Kongress organisierte Du Bois zusammen mit dem „assimilierten“ Senegalesen Blaise Diagne. Dieser war 1914 als ­Bewohner einer der vier Städte mit Wahlrecht (quatre communes) in FranzösischSenegal überraschend in die Pariser Nationalversammlung gewählt worden. Dort zeigte er sich loyal zu Frankreich, arbeitete für das Kolonialministerium und betonte auch in der Korrespondenz mit Du Bois immer wieder, man dürfe radikalen Panafrikanisten und afrikanischen Antikolonialisten keine Bühne geben.75 Du Bois scheint dessen Assimilationsbiografie als vorbildlich für die USA angesehen zu haben und einigte sich schon im Vorfeld mit Diagne darauf, dass der Kongress „politische Rechte“ lediglich für „zivilisierte“ Afrikaner fordern werde und erst einmal nur die Unabhängigkeit der ohnehin schon unabhängigen Staaten Äthio­ pien, Liberia und Haiti bestätigen solle.76 Auf dem Panafrikanischen Kongress von 1919 selbst einigten sich Du Bois und Blaise Diagne auf einen Kurs, der einzelne Aspekte kolonialer Herrschaft prob­ lematisierte, sie aber niemals grundsätzlich infrage stellte. Die Resolution des Kongresses kam einem paternalistischen kolonialen Programm weitaus näher als ­einem antikolonialen Pamphlet. „Zum Zwecke des Fortschritts der Zivilisation“, hieß es in der Erklärung, sollten „die alliierten Mächte […] mit allen Mitteln die Entwicklung von 200 Millionen Schwarzen fördern“. Konkret sollten die Alliierten einen „internationalen Kodex zum Schutz der Eingeborenen“ entwerfen, dessen Einhaltung von einem permanenten „Büro für Eingeborenenfragen“ beim Völkerbund überwacht werden sollte. Die in kolonialistischer Rhetorik paternalistisch indigènes genannten Afrikaner (man unterschied sie nicht, wie in Algerien, von legal assimilierten Afrikanern) sollten das Land und die Ressourcen, welche sie „in Wert setzen“ sollten, auch besitzen. Ein Teil der Einnahmen aus den Kolo-

73  Lippmanns

Interesse betraf aber vor allem den Panafrikanischen Kongress vgl. Lippmann an Du Bois, 20. 2. 1919. In: Aptheker (Hg.): Correspondence (wie Anm. 1), S. 233; zum Kontext vgl. Mark Mazower: No Entchanted Palace. The End of Empire and the Ideological Origins of the United Nations. Princeton 2009, S. 28–65; Jürgen Zimmerer: Von der Bevormundung zur Selbstbestimmung. Die Pariser Friedenskonferenz auf die britische Kolonialherrschaft im südlichen Afrika. In: Gerd Krumeich (Hg.): Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung. Köln 2001, S. 145–159; Louis: United States (wie Anm. 71), S. 414. 74  Mudimbe: Invention (wie Anm. 59), S. 98–135. 75 Memorandum confidentiel pour M. Diagne et Candace et leurs amis au sujet au prochain Congrès Pan-Africain, 1919 und Diagne to Du Bois, 15. 11. 1920, UAA, M 312, Du Bois Papers 1 A. 76  Memorandum W. E. B. Du Bois an M. Diagne, 1. 1. 1919, ebd.

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nien sollte zur „Entwicklung des moralischen und materiellen Wohlbefindens der Eingeborenen“ wiederverwendet werden. Sklaverei und Zwangsarbeit sollten abgeschafft werden, mit der Einschränkung, dass Zwangsarbeit als Strafmaßnahme weiterhin erlaubt sei. Neben ihrer Muttersprache sollten die Kolonisierten die Sprache des Mutterlandes lernen sowie eine Berufsausbildung erhalten, die der praktischen – jedoch nicht notwendigerweise der intellektuellen – Bildung dienen sollte. Schließlich sollten sie sich im Sinne der „öffentlichen Hygienevorschriften“ verhalten.77 Diese Resolution des Panafrikanischen Kongresses von 1919, die oft als Beginn eines antikolonialen Bewusstseins und als revolutionär verklärt wurde, ähnelte in ­Inhalt und Duktus der Kongo-Akte von 1885. Schon diese hatte in Artikel 6 die Abschaffung der Sklaverei, die Protektion der Eingeborenen und ihre Hinführung zu „moralischem und materiellem Wohlbefinden“ gefordert.78 Die Erziehung zu praktischer Arbeit und die Betonung der Hygienevorschriften, die oft eine rassistische Segregationspolitik legitimierten, erinnerten an die zivilisierungsmissionarischen Initiativen der Jahrhundertwende. Die Kongo-Akte und die Resolution des Panafrikanischen Kongresses von 1919 können so in eine koloniale Kontinuität gesetzt werden, die Marcus Garvey veranlasste, Du Bois als „Reaktionär im Sold der weißen Männer“ zu bezeichnen.79 Die französische Kolonialzeitung hingegen feierte die Beschlüsse von 1919 freudig als ein Musterbeispiel für eine „positive Kolonisation“ im Sinne Frankreichs.80 Der Historiker Immanuel Geiss bewertete die Resolution letztendlich als „Rückschritt“ gegenüber dem Panafrikanischen Kongress von 1900.81 Die Resolution deckte sich tatsächlich mit den Vorstellungen eines reformierten und angeblich humanitären Kolonialismus der Zwischenkriegszeit. Sie spielte den Kolonialmächten in die Hände, welche die koloniale Wirtschaft partizipativer gestalten wollten, ohne politische Zugeständnisse zu ­machen.82 Dagegen erwähnte die panafrikanische Resolution von 1919 das Selbstbestimmungsrecht der Völker mit keinem Wort. Wie der Völkerbund die Mandatsgebiete nach ihrem Entwicklungsstand in A-, B-, und C-Mandate einteilte, so machte auch der Panafrikanische Kongress den „Zivilisationsstatus“ der Kolonisierten zur Bedingung für die Unabhängigkeit ihrer Länder. Sowohl Diagne als auch Du Bois waren der Meinung, dass die Machtübergabe an Afrikaner erst schrittweise erfolgen, und nur dann zum vollständigen Souveränitätstransfer werden sollte, wenn eine afrikanische Führungselite einen entsprechenden Bildungsgrad erreicht 77 

Pan African Conference. Resolutions, ca. 21. 2. 1919, ebd. Beer: Questions (wie Anm. 51), S. XX. 79  Hill (Hg.): Marcus Garvey (wie Anm. 66), S. 394. 80 John D. Hargreaves: Maurice Delafosse on the Pan-African Congress of 1919. In: AHS 1 (1968) 2, S. 233–241, hier: S. 238. 81  Geiss: Panafrikanismus (wie Anm. 14), S. 182. 82  Vgl. Joe Lunn: Memoirs of the Maelstrom. A Senegalese Oral History of the First World War. Pourtsmouth 1999, S. 206; zum Reformismus vgl. Florian Wagner: Colonial Internationalism and the Governmentality of Empire, 1893–1982. Cambridge 2022. 78 

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habe und den Europäern ebenbürtig sei.83 Du Bois war zu diesem Zeitpunkt noch nie in den afrikanischen Kolonien gewesen und verfügte auch über wenig Kontakte dorthin. Er forderte für Schwarze lediglich Zugang zu Bildung und Arbeit. Seine Agenda war vorrangig von der entstehenden Bürgerrechtsbewegung in den USA geprägt. Diagne, der gerade den senegalesischen Wahlkampf mit einem ökonomischen Entwicklungsprogramm für sich entschieden hatte und mit 85 Prozent der Stimmen als senegalesischer Abgeordneter in Paris bestätigt worden war, richtete in ähnlicher Weise seinen Fokus auf Erziehung und wirtschaftlichen Fortschritt.84 Sein ökonomisches Wahlprogramm diente vorrangig der Anbiederung an die Europäer im Senegal, um deren Stimmen er buhlte. Du Bois und Diagne verschrieben sich also dem Programm eines ökonomisch partizipativen, aber politisch repressiven Kolonialismus, der auch vom Völkerbund als Kolonialismus mit humanitärem Antlitz propagiert wurde. Das Selbstbestimmungsrecht und die Unab­hängigkeit der Kolonien und deren Bewohner verschoben sie auf eine un­ bestimmte Zukunft nach der assimilativen „Zivilisierung“. Wenige Schwarze Menschen hatten die Möglichkeiten gegen die moderate Linie von Du Bois und Diagne zu protestieren. Die einzige afrikanische Delegation, die sowohl auf dem Panafrikanischen Kongress als auch offiziell an den Verhandlungen der Großmächte in Paris teilnahm, war die liberianische. Das von repatriierten Afroamerikanern regierte Liberia galt 1919 als Siegermacht, weil es 1917 auf Anweisung der USA hin dem Deutschen Reich den Krieg erklärt hatte. Darum handelte es sich bei der liberianischen Delegation auf der Friedenskonferenz um eine amerikanisch-liberianische mixed delegation unter Kontrolle der USA.85 Offizieller Leiter der Delegation war der liberianische Außenministers Charles B. D. King, der nach Einschätzung seiner Landsleute ein „diplomatisches Chamäleon“ war. King, der auch an Du Bois’ Panafrikanischem Kongress teilnahm, verweigerte den kolonisierten Bewohnern des afrikanischen Kontinents die Unterstützung für mehr Rechte und erklärte: „Ich arbeite für die liberianische Nation und nicht für die Schwarze Rasse.“ Weder auf der Friedenskonferenz noch auf dem Panafrikanistischen Kongress vertrat King antikoloniale Positionen.86 Stattdessen drängten er und die liberianische Delegation, die ihre Forderungen erst mit Washington absprechen musste, auf Kriegsentschädigungen und Handelsvorteile für das finanziell angeschlagene Liberia, das mit dem Deutschen Reich ­seinen wichtigsten Handelspartner verloren hatte. Die eher prokoloniale Haltung Kings passte zum Umgang der amerikanisch-liberianischen Politikerelite mit der liberianischen Bevölkerung. Sie förderte den Menschenhandel mit Liberianern wie den Krou, die an Plantagenbesitzer in andere Kolonien verkauft wurden. ­Diese Praxis brachte der liberianischen Regierung den Vorwurf der Ausbeutung und Ver83 

Contee: Du Bois (wie Anm. 8), S. 21. Lunn: Memoirs (wie Anm. 82), S. 198. 85  Vgl. ebd.; Polk an Bundy, 17. 1. 1919. In: Papers Relating to the Foreign Relations of the United States. The Paris Peace Conference, 1919. Bd. 1. Washington 1942. S. 252 f. 86 Ibrahim Sundiata: Brothers and Strangers. Black Zion, Black Slavery, 1914–1940. Durham 2003, S. 37–39, S. 79–96. 84 

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sklavung ein. In gewissem Sinne war Liberia selbst zu einem kolonialen Staat geworden, der noch dazu in seinen Entscheidungen von den USA gesteuert wurde.87 Auch wenn Du Bois 1919 sein panafrikanistisches Profil schärfen wollte, grenzte er sich mit dem kolonialen Programm nur in Nuancen von seinem großen ­Rivalen der Vorkriegszeit, Booker T. Washington, ab. Wie Andrew Zimmerman in seiner bahnbrechenden Studie zum Import afroamerikanischer Baumwollspezialisten von Washingtons Tuskegee Institute in Alabama in die deutsche Kolonie Togo im Jahr 1901 gezeigt hat, war auch für manche Panafrikanisten die rassistische Praxis der Segregation, gewaltsamen Disziplinierung und Degradierung von Schwarzen Menschen zur Handarbeit eine Selbstverständlichkeit. Eine Neuauf­ lage der rassistisch organisierten Plantagenökonomie in Afrika scheint Du Bois gebilligt zu haben.88

Emanzipation ohne Nation: Die westafrikanischen Wirtschaftseliten im Jahr 1919 Da die „westlichen“ Panafrikanisten 1919 koloniale Haltungen eher reproduzierten als widerlegten, hat Kwame Appiah die These aufgestellt, dass nur „afrika­ nische Panafrikanisten“ westliche Perspektiven hätten überwinden können.89 Wie verhielten sich also die Eliten in afrikanischen Kolonien? Diese Frage lässt sich nicht pauschal beantworten, aber auch im subsaharischen Afrika wogen ambi­ valente Eigeninteressen, die oft materieller Art waren, mehr als das Selbstbestimmungsrecht oder nationalistische Unabhängigkeitsforderungen. In Kamerun eignete sich zum Beispiel die wirtschaftlich und politisch sehr ak­ tive Gruppe der Duala die Idee des afrikanischen Mandats an, um ihre gesellschaftliche Stellung zu halten. Deren Vertreter hatten schon 1884 mit dem Deutschen Reich einen Schutzgebietsvertrag abgeschlossen. Seitdem sahen sie sich als ebenbürtige Partner und schickten selbstbewusst Gesandte und Petitionen zur deutschen Regierung. Vor 1914 drohten sie mehrfach an, den Vertrag auf­ zu­ kündigen. Dementsprechend forderten sie auch am 8. August 1919 mit einer Eingabe an die Friedenskonferenz mindestens ein Mitspracherecht bei der Neu­ verteilung der deutschen Kolonien.90 Sie machten dabei das Recht geltend, auch weiterhin ihre Vertragspartner selbst auszuwählen.91 87 The

Chargé in Liberia (Bundy) to the Acting Secretary of State, 9. 1. 1919. In: Papers (wie Anm. 85), Dok. 411. 88  Andrew Zimmerman: Alabama in Africa. Booker T. Washington, the German Empire, and the Globalization of the New South. Princeton 2010. 89  Adeleke: Americans (wie Anm. 56), S. 136. 90 Zu den Duala vgl. vor allem Andreas Eckert: Grundbesitz, Landkonflikte und kolonialer Wandel: Douala 1880 bis 1960. Stuttgart 1999; Jonathan Derrick: The „Germanophone“ Elite of Douala under the French Mandate. In: JAfH 21 (1980) 2, S. 255–267, hier: S. 259. 91 Ralph A. Austen/Jonathan Derrick: Middlemen of the Cameroons Rivers. The Dualas and their Hinterland. Cambridge 1999, S. 145.

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Duala-Vertreter zitierten dabei auch die „Vierzehn Punkte“ Wilsons vom Januar 1918, ohne jedoch das nationale Selbstbestimmungsrecht direkt ins Spiel zu bringen. Der US-Präsident hatte in Punkt 5 erklärt, dass bei der Neuvergabe der deutschen Kolonien „die Interessen der betroffenen Völker das gleiche ­Gewicht haben müssen wie die gerechten Forderungen derjenigen Regierung, deren Anspruch geprüft werden soll“. Tatsächlich befragten französische Abgesandte die Duala-Chiefs rhetorisch nach ihren Präferenzen bei der Neuvergabe Kameruns an eine europäische Kolonialmacht. Die erwünschte Antwort blieb aus, stattdessen wollten die Duala ihre Entscheidungshoheit behalten und entgegneten: „Wir erwarten das Kommen aller alliierten Vertreter und empfangen sie sehr gerne.“ Diese Einladung der Alliierten nach Kamerun klang wie eine Vorladung und bekräftigte den Anspruch, mit den Siegermächten auf Augen­ höhe zu verhandeln. Der Gouverneur von Französisch-Westafrika befürchtete darum vor den Verhandlungen, die Duala-Notablen würden gerne „aus dem gesamten Kamerungebiet ein zweites Liberia machen, dessen Regierung sie selbst übernehmen“.92 Diese Erwartung eines nationalistisch-panafrikanistischen Programms durch die französischen Kolonialbehörden entsprach kaum der viel pragmatischeren Agenda der Duala. Trotzdem sah sich die französische Kolonialregierung genötigt, die Duala zu besänftigen und sich deren Loyalität zu sichern. Sie baute dafür den in Europa sozialisierten Duala Alexander Manga Bell als kooperativen Thronfolger auf. Alexander Manga Bell war zwar tatsächlich ein Nachkomme des von den Deutschen 1914 gehängten Duala-Chiefs Rudolph Manga Bell, sprach aber kein Duala mehr und war eher für seine ausschweifende und korrupte Lebensart als für seine politische Verlässlichkeit bekannt. Seine Loyalität und Fürsprache imaginierten die Franzosen dennoch als guten Grund, im Rahmen der Friedensverhandlungen das Mandat über Kamerun einzufordern und zu erhalten.93 Für die politische Agenda der wirtschaftsorientierten Duala spielte er aber keine ­Rolle. Auch den politisch Aktiven in Kamerun war vorrangig daran gelegen, ihre wirtschaftlichen Interessen zu sichern, wobei Nationalismus und Antikolonialismus wiederum lediglich Mittel zum Zweck waren. Während politische Forderungen vorrangig von der Diaspora in Europa kamen und in der Tradition der Vorkriegspetitionen standen, waren die Begehren aus Kamerun selbst pragmatischer und flexibler. In Deutschland lebende Kameruner um den Bahnangestellten Martin Dibobé schickten zum Beispiel im Mai und Juni 1919 eine Reihe von Petitionen an den Reichstag und protestierten „gegen den Raub der Kolonien, sowie Unterstellungen derselben unter Herrschaft der Engländer und Franzosen“. Die politische Forderung bestand darin, dass die Kameruner lokale Selbstverwaltung erhalten, den Gouverneur mitbestimmen und ein Mitglied

92  Richard

Joseph: Un prétendant royal. Le prince Douala Manga Bell à Paris, 1919–1922. In: CEA 14 (1974) 54, S. 339–358, hier: S. 340 f. 93  Ebd., S. 342  f.

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des Deutschen Reichstags stellen wollten. Diese rein politische Initiative lief angesichts des falschen Adressaten allerdings ins Leere.94 Nachdem Deutschland am 28. Juni 1919 den Friedensvertrag von Versailles unter­ zeichnet hatte, sandten Duala-Chiefs aus Kamerun im August eine prag­ matischere Petition an die Friedenskonferenz. Darin forderten sie vorrangig die Rückerstattung von enteignetem Duala-Land. Es handelte sich um diejenigen ­Besitzungen, die das Deutsche Reich noch 1914 konfisziert hatte. Die daraufhin ausbrechenden Proteste hatten die Deutschen mit der Tötung des Duala-Chiefs Rudolf Manga Bell beantwortet. Die Petition vom August 1919 verlangte zudem eine Neutralisierung und Internationalisierung Kameruns, wobei die Kameruner mitbestimmen wollten, welcher Staat das Mandat über ihr Land übernehmen sollte. Unter den Duala in den Kolonien war dabei England der Wunschpartner, da dorthin bereits lukrative wirtschaftliche Beziehungen bestanden.95 In keiner der Petitionen brachten die Kameruner aber die Forderung nach nationaler Unabhängigkeit ins Spiel. Ralph Austen und Jonathan Derrick haben darauf hingewiesen, dass die Kameruner Petitionen an das Deutsche Reich vor dem Weltkrieg mehr Erfolg hatten als diejenigen von 1919. Immerhin seien Duala-Chiefs im Kaiserreich aufgrund ihrer Briefe nach Berlin eingeladen worden und hätten ihre Nachkommen zur Ausbildung nach Deutschland schicken können. Obwohl sie im Westen meist ignoriert wurden und kaum Aussicht auf Erfolg hatten, bekamen die politischen Petitionen der Diaspora an die internationale Gemeinschaft um 1919 viel historiografische Aufmerksamkeit. Sie verstellen allerdings oft den Blick auf die Pluralität und den Pragmatismus verschiedener Selbstermächtigungsrepertoires innerhalb der Mandate.96 Die Duala scheinen sich zum Beispiel mit der neu etablierten französisch-britischen Kolonialherrschaft abgefunden, wenn nicht gar arrangiert zu haben. Es folgten zehn Jahre ohne nennenswerte Petitionen an den Völkerbund. Erst 1929 argumentierten einige Kameruner in einer neuen Bittschrift nationalistisch und stellten programmatische Forderungen nach einer radikaleren „Selbstregierung“.97 Dass die Duala sich nach 1919 mit der französisch-britischen Oberherrschaft im Rahmen eines Völkerbundmandats vorerst abfanden, war auch eine Folge davon, dass sie ihre Position als Wirtschaftselite hatten festigen können. Diejenigen Duala, die schon vor 1914 aktiv mit englischen und französischen Kaufleuten in Kontakt gestanden hatten, pflegten ihre ökonomischen Beziehungen weiter. Wie bereits unter deutscher Herrschaft lebten einige als Rentiers von ihren Holzkonzessionen so94 Zu

Dibobé und den Initiativen aus Deutschland vgl. Eve Rosenhaft/Robbie Aitken: Black ­ ermany. The Making and Unmaking of a Diaspora Community 1884–1960. Cambridge 2013, G S. 88–118; Die Petitionen von Martin Dibobe u. a. an das Kolonialamt und an die Nationalversammlung aus BArch R 1001 7220, Bl. 130 f., Bl. 231 sind aufgelistet in: https://blackcentraleurope.com/ sources/1914-1945/petitionen-an-die-deutschen-behorden-1919/ (letzter Zugriff am 9. 5. 2022). 95  Austen/Derrick: Middlemen (wie Anm. 91), S. 146  f. 96  Ebd.; Helmuth Stoecker: Colonial Rule after the Defeat of the Uprisings, Cameroon 1906– 1914. In: ders.: German Imperialism in Africa. From the Beginnings until the Second World War. Berlin 1986, S. 161–173. 97  Derrick: Elite (wie Anm. 90), S. 263.

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wie von ihren Kakao- und Palmölplantagen. Darüber hinaus waren sie im Immobiliengeschäft tätig. In den 1920er-Jahren war sogar ein Großteil des Überseehandels des französischen Mandats Kameruns in ihrer Hand. Obwohl sie ihren in deutscher Zeit enteigneten Grundbesitz auch unter der französisch-britischen Herrschaft nicht zurückerstattet bekamen, war die Übernahme des Gebiets durch Großbritannien und Frankreich ihrer Handelstätigkeit kaum abträglich. Daher verfassten sie vorerst keine Petitionen – zumal seit 1925/26 auch die deutschen Handelspartner wieder zurück nach Westafrika kommen konnten.98 Es erstaunt daher nicht, dass sich die Duala erst in der Wirtschaftskrise von 1929 wieder zu Wort meldeten. Auch im Hinblick auf die britische Kolonie Gold Coast, die 1957 als erste afrikanische Kolonie unter dem Namen Ghana unabhängig werden sollte, eignet sich 1919 nur dem Anschein nach als Ursprungsjahr eines antikolonialen Nationalismus.99 Dort berichtete der „Gold Coast Leader“, eine in Cape Coast von dem ghanaischen Panafrikanisten Joseph Ephraim Casely Hayford herausgegebene Zeitung und das erste einflussreiche Presseorgan des westafrikanischen Bürgertums, über die Ereignisse in Paris. Der „Gold Coast Leader“ hatte aber schon seit 1902 sehr kritisch über die britische Kolonialherrschaft geschrieben und war eng mit der ghanaischen Wirtschaftselite verknüpft, die unter anderem durch die Kakao­produktion zu Wohlstand gelangt war. Im „Gold Coast Leader“ vom 12. April 1919 fand Du Bois’ Panafrikanischer Kongress von 1919 als Congress on the Protection of Natives Erwähnung. Vor ­allem aufgrund seiner programmatischen Überschneidungen, die in dem Artikel gekürzt zusammengefasst waren, wurde ihm eine enge Verbindung mit dem Völkerbund bescheinigt.100 Ansonsten war der Kongress dem „Gold Coast Leader“ keinen weiteren Kommentar wert. Ähnlich verhielt es sich mit der eigentlichen Friedenskonferenz und dem Friedensschluss von 1919. Hierüber berichtete die Zeitung ostentativ gleichgültig, indem sie die Kurznachrichten der Presseagentur Reuters im Telegrammstil unkommentiert abdruckte. Das Desinteresse Casely Hayfords stand im Gegensatz zu seiner sehr heftigen Kolonialkritik der Vorkriegszeit. Seit 1897 hatte er die britische Land- und Konzessionspolitik in der Region angeprangert. 1916 wurde er zum Mitglied des dortigen Legislative Council ernannt, eines gesetzgebenden Gremiums, in dem seit 1900 auch drei Vertreter der Küstenelite saßen, die allerdings nie die Mehrheit bildeten. Schon vor dem Kriegsausbruch 1914 plante Casely Hayford die Gründung des National Congress of British West Africa (NCBWA), der dann aber erst 1919 als politische Organisation ins Leben trat. An dem Gründungsprozess war auch Richard Akinwande Savage beteiligt, der sowohl den Panafrikanistischen Kongress von 1900 als auch denjenigen von 1919 besucht hatte und der später die nige­  98  Ebd., S. 261; Birthe Kundrus: Nach Versailles. Postkoloniale Phantasien und neokoloniale Realitäten. In: Christoph Cornelißen/Dirk van Laak: Weimar und die Welt. Globale Verflechtungen der ersten deutschen Republik. Göttingen 2020, S. 89–106.  99  Als Übersicht vgl. Richard Rathbone: World War I and Africa. An Introduction. In: JAfH 19 (1978) 1, S. 1–9. 100  Paris Congress and the Protection of Natives. In: Gold Coast Leader, 12. 4. 1919.

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rianische Abteilung des NCBWA ins Leben rief. Es folgten weitere Ableger in ­Gambia und Sierra Leone.101 Da sich Casely Hayford auf sein eigenes Projekt, den NCBWA, konzentrierte, verloren für ihn die Ereignisse in Paris an Bedeutung. Trotz des nationalistisch klingenden Namens des NCBWA setzte Casely Hayford nur auf eine systemimmanente Reform der kolonialen Herrschaft. Im Legislative Council trug er 1919 den britischen Vertretern seine Vorstellungen über die Zukunft der Kolonie vor: „In der vor uns liegenden Zeit des Wiederaufbaus wird mit Sicherheit viel Kapital investiert werden und einige Personen – Pioniere – werden versuchen, das Land zu erschließen. Sie sollten darum ein Mitspracherecht bei der Regierung des Landes haben. Gleichermaßen müssen diejenigen, deren Arbeitskraft den Pionieren überhaupt erst den Weg bereitet, eine direkte und vollständigere politische Vertretung erhalten. […] Ich glaube, Sir, dass wir uns in Zukunft auf ein westafrikanisches Dominion freuen können, in dem alle Kolonien unter dem Dach des Britischen Empire vereint sind. Ich bin überzeugt, dass die Goldküste zur rechten Zeit ein sehr heller Stern in derjenigen Konstellation sein wird, die als Westafrikanisches Dominion bekannt sein wird.“102 Casely Hayford strebte eine Vertretung und eventuell sogar eine Regierungsverantwortung der ghanaischen Wirtschaftselite in Britisch-Westafrika an, das in naher Zukunft Dominion-Status erhalten sollte. Er appellierte dazu konsequenterweise an Institutionen des britischen Empires, nämlich an das Gouvernement der Gold Coast sowie an „das Gewissen von Downing Street“ – und nicht an internationale Organisationen wie den Völkerbund.103 Für Casely Hayford, der die aufstrebende ghanaische Kakaoproduzentenelite vertrat, war klar, dass politische Entscheidungsträger und lukrative Handelspartner in London saßen und nicht in Genf. Seine ökonomischen Interessen konnte der Völkerbund kaum bedienen. Casely Hayford wollte eine „indigene Agro-Industrie“ schaffen und favorisierte die Politik einer „offenen Tür für Wissenschaft, Handel und Industrie, ohne Rücksicht auf nationale, rassische oder andere ‚Schranken‘ für den Fortschritt“.104 Ganz im Sinne der ghanaischen Kakaoindustrie, die im Weltkrieg ihre Autarkiefähigkeit bewiesen hatte, hoffte er so in einen kritischen Dialog mit der etablierten Kolonialmacht Großbritannien zu kommen. Daher rührte wohl auch seine zunächst geringe Erwartung an die Pariser Konferenzen. Für ihn war klar, dass die Ghanaer ihre wirtschaftlichen Interessen nur unter „England oder den USA“ als supervisor erhalten konnten. Wirtschaftlicher Pragmatismus und nicht-politischer Nationalismus bestimmten seine Agenda.105 Anders als bei westlichen Panafrikanisten waren Casely Hayfords panafrika­ nische Initiativen ein Mittel zur Verfolgung wirtschaftspolitischer Zwecke. Dafür instrumentalisierte er letztendlich auch den Völkerbund und das frühe Mandats101 

Esedebe: Pan-Africanism (wie Anm. 13), S. 42. Report on the Meeting in the Council of the Colony. In: Gold Coast Leader, 5. 4. 1919. 103 Ebd. 104  Scrutineers. In: Gold Coast Leader, 5. 4. 1919. 105  Elizabeth Wrangham: Ghana during the First World War. The Colonial Administration of Sir Hugh Clifford. Durham 2013. 102 

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system. Im Gegensatz zur Belanglosigkeit des Völkerbundes für die Gold CoastKolonie, schien derselbe für das zukünftige Mandat Togo eine bedeutende Rolle zu spielen. Der Ghanaer Casely Hayford nahm sich 1919 der Sache unzufriedener Togolesen vor dem Völkerbund und später vor der Permanenten Mandatskommission an. Was als panafrikanistische Unterstützung für das nationale Selbst­ bestimmungsrecht der Togolesen gedeutet werden könnte, war in Wirklichkeit aber ein erneutes Plädoyer für ein britisch-westafrikanisches Dominion. Casely Hayford gab nämlich anglophilen Togolesen eine Stimme. Diese forderten, Togo vollkommen unter britische Verwaltung zu stellen und damit die Franzosen als angehende Mandatsmacht zu verhindern. Mit seiner Erfahrung als Anwalt und Jurist unterstützte Casely Hayford in den 1920er-Jahren togolesische Notabeln, die mit der französischen Mandatsverwaltung in Konflikt geraten waren und schrieb für sie entsprechende Petitionen an den Völkerbund. Die wirtschaftlichpolitischen Eliten in Togo und Kamerun waren schon in der Zeit des deutschen Kolonialregimes vor 1914 durch ihre anglophile Einstellung aufgefallen. Sie schickten damals zum Beispiel ihre Kinder auf englische Schulen in der Gold Coast. Auch unter französischer Mandatsherrschaft sympathisierten große Teile der Eliten weiterhin mit der englischen Kolonialverwaltung.106 Auch in Togo selbst existierte eine lebhafte Petitionskultur, die auf den ersten Blick stark politisiert war, aber bei genauerer Betrachtung ebenfalls materielle Gründe hatte. In Togo bildete sich eine kleine Gruppe von zehn bis 20 Germanophilen, die über ihren Statusverlust nach dem Übergang zur französischen Herrschaft nicht hinwegkamen. Fünf bis zehn Togolesen gingen in das ghanaische ­Accra ins Exil und gründeten dort den Deutschen Togobund. Sein Gründer, Kofi Agboka, hatte für das „deutsche Gouvernement als Expedient gearbeitet und war seit dem Abzug der Deutschen arbeitslos“.107 Im Juni 1925 forderte er in zwei Briefen an den Völkerbund die Rückkehr der Deutschen. Sein Ziel war es, „enge Beziehungen zu den Deutschen aufzubauen und eine togolesische Vertretung im Völkerbund zu etablieren“. Anscheinend wurden sie tatsächlich von deutschen Kaufleuten und auch vom deutschen Konsul in Ghana materiell unterstützt. Aller­ dings war diese Finanzierung eher karitativ als politisch motiviert: Ein Führungsmitglied des Deutschen Togobundes, Koffi Paku, erzählte, sie hätten aus Deutschland „Schuhe, Kleidung, Socken, Lendenschurze und Instrumente“ erhalten, da sie im Exil und nach der Verfolgung durch die Franzosen „ihre Frauen und alle Besitzungen“ verloren hätten.108 Der Deutsche Togobund erfuhr in den 1920er-Jahren und in der Kolonialhistoriografie des 20. Jahrhunderts enorme Aufmerksamkeit. In Deutschland machten 106 Benjamin

Nicholas Lawrance: Locality, Mobility, and „Nation“. Periurban Colonialism in Togo’s Eweland, Rochester 2007, S. 51–53. 107  Rapport No. 230 du Commissaire de la République française au Togo, 7. 11. 1929, CAOM, FM, affaires politiques, carton 1038, dossier: Appel adressé à l’Allemagne par des indigènes du Togo 1926. 108  Entretiens avec Erhardt Koffi Paku. In: Dadja Halla-Kawa Simtaro: Le Togo Musterkolonie. Bd. 2: Souvenir de l’Allemagne dans la soc. togolaise. Aix-en-Provence 1982, S. 436–438.

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ihn die Kolonialrevisionisten bekannt, in Frankreich wurde er zum Schreckgespenst stilisiert. Seine zahlreichen Eingaben an den Völkerbund werden darum in der heutigen Forschung prominent diskutiert. Allerdings verfügte der Togobund in Togo selbst kaum über eine Basis. Seine wenigen Mitglieder warben intensiv, jedoch vergeblich um Unterstützung innerhalb des Landes. Trotz penibler Beobachtung konnten die französischen Geheimdienste pro Jahr nicht mehr als eine Heftseite an subversiven Tätigkeiten in Togo zusammentragen.109 Dagegen erklärte die traditionelle Wirtschaftselite Togos, allen voran der afro­ brasilianische Ökonom Sylvanus Olympio, ihre Loyalität zu Frankreich und bildete einen profranzösischen Cercle des amitiés françaises, dessen Vorsitz Olympio selbst übernahm. Dieser war zwar auf eine deutsche Missionarsschule gegangen, hatte dann aber an der London School of Economics Wirtschaft studiert und war beim Plantagenkonzern Unilever in Nigeria und Ghana angestellt, bevor er in den 1920er-Jahren die Geschäfte von Unilever in Togo leitete. Ironischerweise sollten die von der französischen Kolonialverwaltung selbst gegründeten profranzö­ sischen Lobbygruppen – und nicht der Deutsche Togobund – nationalistische Ambitionen entwickeln. Dies geschah allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als vor allem Sylvanus Olympio Togo in die Unabhängigkeit führte und der erste Präsident des Landes wurde. Die traditionellen Wirtschaftseliten profitierten in vielen Teilen Afrikas vom Ersten Weltkrieg: Sie konnten nach 1919 ihr Vermögen vergrößern und ihre politische Stellung ausbauen. Die beschriebenen Wirtschaftseliten stellten meist auch die politische Elite in Westafrika. In der Regel bewältigten sie die Nachkriegswirren und Regimewechsel von 1919 durch langfristig entwickelte Strategien, vor allem weil die konstante Krise des Kolonialismus für sie schon länger einen erschwerten Alltag bedeutete. Sie waren oft aus Eigeninteresse heraus panafrikanisch aktiv und interagierten gleichzeitig mit Vertretern von verschiedenen Kolonialmächten. Das Jahr 1919 wurde in Afrika also weniger als Zäsur wahrgenommen als es die eurozentrische Epocheneinteilung vermuten lässt. Selbst diejenigen Mittelsmänner und Chiefs, die wegen der Regimewechsel ihre Posten verloren, entwickelten selten antikoloniale und nationalistische Ambitionen. Stattdessen verband sich eine Routine von Mikro-Widerständigkeit und Eigensinnigkeit mit politischer Flexibilität und ­materiellen Interessen.

Veteranen, „Subalterne“ und die lange Geschichte kolonialer Gewalt Wie stand es aber um die „subalternen“ Afrikaner, unter denen auch viele ent­ lassene und zurückgekehrte Kriegsteilnehmer waren? Aufstände repatriierter Soldaten, die aufgrund ausbleibender Wertschätzung und Bezahlung nach der ­ 109  Inspecteur

des Colonies Clauzel à Ministre des colonies, direction du contrôle. Objet: Organisation de la surveillance politique générale, 28. 2. 1933, CAOM, FM, affaires politiques, carton 608, dossier 6.

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Kriegsteilnahme ausbrachen und von Kolonialmächten mit Massakern beantwortet wurden, ereigneten sich 1919 in Afrika selten.110 Es gab weder ein afrikanisches „Amritsar“ wie in Indien zur gleichen Zeit, noch ein „Thiaroye“ wie im Senegal nach dem Zweiten Weltkrieg. Viele afrikanische Veteranen verhielten sich nach ihrer Rückkehr vergleichsweise ruhig. Während des Kriegs hatte es zwar unter anderem in den französischen Kolonien noch Revolten in Bélédougou, Dédougou und Nord-Dahomey gegeben, sowie 1915 in Ostafrika, aber nach dem Krieg blieben diese aus.111 Der relative Quietismus der afrikanischen Veteranen am Ende des Ersten Weltkriegs war einer Kombination aus Kriegsmüdigkeit, Repression, Integration in die Kolonialarmee und sozialer Aufstiegserwartung geschuldet. Viele unter ihnen waren zudem Kriegsversehrte und hatten mit den mentalen und körperlichen Folgen des Kriegs zu kämpfen.112 1919 war noch nicht klar, ob bei den Rückkehrern die Enttäuschung oder die Aufstiegserwartung überwog. Meist existierte beides parallel und stand nicht im Widerspruch zueinander. Die Ankündigung der Kolonialmächte, die Soldaten aus den Kolonien zu entschädigen und ihnen mehr Rechte zu gewähren, stellte sich aber als ambivalent heraus. In Westafrika, wo Frankreich meist unter Zwang rund 140 000 Afrikaner für den Krieg rekrutiert hatte, hatte zwar Blaise Diagne schon 1917 erklärt, dass diese Frankreich einen „Blutzoll“ gezahlt hätten und dass Paris nun bei den Westafrikanern in einer „Blutschuld“ stünde.113 Diese martialische Rhetorik hatte die Hoffnung auf eine Blutsbrüderschaft geweckt, auch wenn den Soldaten keine konkreten Bürgerrechte in Aussicht gestellt worden waren. Die Kolonialverwaltungen ­reagierten auf entsprechende Erwartungen hingegen mit einer Ausweitung der Pflichten anstatt mit neuen Rechten: Ohne politische Rechte zu gewähren, führte Frankreich 1919 in seinen Kolonien die allgemeine Wehrpflicht ein.114 Die Mischung aus Rekrutierungszwang und Integrationsangebot durch das Militär trug letztlich dazu bei, dass es unter den repatriierten Tirailleurs Sénégalais praktisch keine nationalistischen Unabhängigkeitsforderungen gab, wie Marc Michel, ­David Killingray und Joe Lunn gezeigt haben.115 Dabei besaß für die Veteranen die 110  Derek

Sayer: British Reaction to the Amritsar Massacre, 1919–1920. In: P & P 131 (1991) 1, S. 130–164; Martin Mourre: Thiaroye 1944. Histoire et mémoire dʼun massacre colonial. Rennes 2017. 111  George Shepperson/Thomas Price: Independent African. John Chilembwe and the Origins, Setting and Significance of the Nyasaland Native Rising of 1915. Edinburgh 1958. 112  Vgl. Lunn: Memoirs (wie Anm. 82); Gregory Mann: Native Sons. West African Veterans and France in the Twentieth Century. Durham 2006, S. 17 f.; Marc Michel: LʼAppel à lʼAfrique. Contributions et réactions à lʼeffort de guerre en A. O. F. (1914–1919). Paris 1982. 113  Philippe Dewitte: La dette du sang. In: H & M 1148 (1991), S. 8–11. 114 Myron Echenberg: Colonial Conscripts. The Tirailleurs Sénégalais in French West Africa. 1857–1960. Portsmouth 1991, S. 46. 115  David Killingray: The Repercussions of World War I on the Gold Coast. In: JAfH 19 (1978), S. 39–59, hier: S. 59; Michel: LʼAppel (wie Anm. 112); Lunn: Memoirs (wie Anm. 82), S. 205, S. 225. Einige wenige Beispiele für kleinere Aufstände nennt Walter Gam Nkwi: Post-War ­S­ocieties (Africa). In: Ute Daniel u. a. (Hg.): 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War. Berlin 3. 8. 2015, https://encyclopedia. 1914-1918-online.net/article/post-war_ societies_africa (letzter Zugriff am 6. 5. 2022).

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Staatsbürgerschaft oberste Priorität, wie unter anderem Kojo Tovalou Houénou, ein ehemaliger Tirailleur aus Dahomey, verkündete: „Wir haben unser Blut für Frankreich vergossen. […] Warum kommen wir jetzt nicht in den Genuss der Staatsbürgerschaft? Wir wollen Staatsbürger sein, in welchem Land auch immer, und wenn Frankreich sie uns verwehrt, dann werden wir Autonomie fordern.“116 In ähnlicher Weise forderte der „Gold Coast Leader“ 1919 die Möglichkeit zur „Ausübung des Wahlrechts“ für die Bewohner der Goldküste.117 Ein Primat der Staatsbürgerschaft und Gleichberechtigung identifizierte Hew Strachan sogar für Südafrika: „Sowohl die coloured als auch die blacks nutzten die Gelegenheit, um ihre Loyalität zu bekunden und hofften deswegen auf die Staatsbürger­ schaft.“118 Viele Europäer rechneten trotzdem mit einem nationalen Aufstand der „afrikanischen Veteranen“, die sie oft essenzialisierend als Nationalisten und Antikolo­ nialisten einstuften.119 Die Erwartung von nationalistischen Aufständen ging, wie bereits angedeutet, aus einer Rebellionsparanoia hervor, die vor allem durch bewegungen und die Bildung unabhängiger Nationalstaaten in den Sezessions­ kontinentaleuropäischen Imperien befeuert wurde. Lenins erste Aprilthese von 1917, in der er den „imperialistischen Weltkrieg“ zum Anfang vom Ende der Kolonial­imperien und des Kapitalismus erklärte, verstärkte diese Paranoia. Vor diesem eurozentrischen Hintergrund verfestigte sich unter den Kolonisatoren die Vorstellung, die kolonisierten Afrikaner hätten durch den Konflikt zwischen den weißen Kriegsparteien „gelernt“, dass diese nicht unfehlbar und darum angreifbar seien.120 So schrieb 1918 zum Beispiel ein deutscher Offizier, dass „infolge des Krieges die Eingeborenen sich ihrer Kraft erst bewusst geworden sind, dass von der ‚schwarzen Gefahr‘ erst jetzt wirklich geredet werden kann“.121 Die Vor­ stellung, Afrikaner hätten von der Verletzbarkeit der Europäer untereinander erst im Krieg erfahren, passte gut ins Schema des paternalistischen Kolonialismus der Nachkriegszeit. Der teilweise rassistisch begründeten „Kindmetapher“ folgend hätten die unmündigen Afrikaner demnach erstmals im Krieg einen handfesten Streit zwischen ihren fürsorglichen Mutterländern mitbekommen und deswegen angefangen, deren Autorität zu hinterfragen.122 In der Vorstellung der Europäer setzte der Krieg die Hemmschwelle der Ko­ lonisierten herab, ihre eigentlich angelegte Brutalität nun auch gegen die Ange­ 116 

Zitiert nach Lunn: Memoirs (wie Anm. 82), S. 204. Six Resolutions Published by the Gold Coast and the Nigerian Sections of the Rejected West African Conference Committees for Reconstruction of West Africa. In: Gold Coast Leader, 5. 4. 1919. 118  Strachan: First World War (wie Anm. 3), S. 62 (Hervorhebungen im Original). 119  Zur Diversität dieser Gruppe vgl. Mann: Native Sons (wie Anm. 112), S. 63–67. 120  Vgl. zum Beispiel: Neujahrsgedanken 1917. In: Tropenpflanzer 20 (1917) 1, S. 9; Zur Rolle Lenins vgl. Getachew: Worldmaking (wie Anm. 2), S. 37. 121  Zitiert nach Thomas Morlang: Askari und Fitafita. „Farbige“ Söldner in den deutschen Kolonien. Berlin 2008, S. 92. 122  Mann: Native Sons (wie Anm. 112), S. 64, S. 66. 117 

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hörigen der Kolonialmächte zu richten.123 Von solchen rassistischen Gedanken geblendet, unterschätzten die Europäer das afrikanische Verständnis des Ausnahmezustands von Kriegen und verkannten, dass die Gründe für antikoloniale Aufstände nicht an der entfesselten Gewaltneigung der Kolonisierten lagen, sondern die Revolten meist rationale und existenzielle Ursachen wie Landenteignung, Abdrängung in lebensfeindliche Reservate, kriegsbedingte Hungersnöte oder Übergriffe der Europäer hatten. Strukturelle Gewalt durchlebten Afrikaner schon seit der Versklavung und den kolonialen Eroberungskriegen, sodass der Weltkrieg in dieser Hinsicht keine Ausnahme bildete.124 Gregory Mann hat überzeugend dargelegt, dass westafrikanische Weltkriegsteilnehmer die Zwangsrekrutierungen lediglich als leicht modifizierte Form der Versklavung wahrnahmen und diese somit als Fortführung kolonialrassistischer Routinen des Ancien Régime ansahen.125 Proteste und Widerständigkeiten gegen die andauernden Diskriminierungsstrukturen waren in der Regel von der Weltkriegserfahrung unabhängig, konnten aber durchaus durch Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit oder fehlende Lebensmittel im Krieg neue Impulse bekommen.126 Doch auch bei Momenten extremer und zeitlich verdichteter Gewalt nahm der Erste Weltkrieg gegenüber vorangegangenen Gewaltexzessen wie den Vernichtungsfeldzügen der „Wissmanntruppe“ (seit 1882) oder dem Ovaherero-NamaGenozid (1904–1908) keine Sonderstellung ein. Ebenso hatte die Integration von afrikanischen Kolonialsoldaten in weiße Gewaltinstitutionen wie Kolonialpolizei und -armee eine lange Geschichte und bildete kein Alleinstellungsmerkmal des Weltkriegs.127 Anders als nach dem Zweiten Weltkrieg, der aus afrikanischer Sicht mit dem faschistischen Überfall auf „Abessinien“ im Jahr 1935 begann, gab es 1919 auch keine systematische Theorie der antikolonialen Gegengewalt, wie sie seit 1950 von Aimé Césaire oder Frantz Fanon entwickelt wurde. Wenn man auch afrikanische Lebensweisen um 1919 nicht auf einen Nenner bringen kann, besaßen Afrikaner in der Praxis doch eine routinisierte panafrikanische Flexibilität und Mobilität, die nationalistisches Aufbegehren unwahrschein­ licher machte. Europäer konnten der Selbstverständlichkeit, mit der sich auch „subalterne“ Afrikaner zwischen verschiedenen Kolonien und in der Diaspora 123 Vgl.

dazu Tanja Bührer: Die Kaiserliche Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika. Koloniale Sicher­ heitspolitik und transkulturelle Kriegführung, 1885 bis 1918. München 2011; Susanne Kuss: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen. Eskalation von Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Berlin 2010. 124  Walter Dierck: Colonial Violence. European Empires and the Use of Force. London 2017, S. 6. 125  Mann: Native Sons (wie Anm. 112), S. 19–36. 126  Zum Kontext und gegen die „Brutalisierungsthese“ vgl. Richard S. Fogarty/David Killingray: Demobilization in British and French Africa at the End of the First World War. In: JCH 50 (2015) 1, S. 100–123. Zum Vergleich mit 1945 vgl. Thomas Martin/Gareth Curless: Decolonization and Conflict. Colonial Comparisons and Legacies. London 2017. 127  Vgl. dazu vor allem Joël Glasman: Les corps habillés au Togo. Genèse coloniale des métiers de police. Paris 2015; Marie Muschalek: Violence as Usual. Policing and the Colonial State in German Southwest Africa. New York 2019.

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austauschten und bewegten, seltener Grenzen setzen als von eurozentrischen Perspek­tiven angenommen. Die panafrikanische Flexibilität und Mobilität „sub­ alterner“ Afrikaner war dabei kein bewusstes panafrikanistisches politisches Programm, sondern rührte von einer panafrikanischen und diasporischen Praxis her, die sich aus notwendigen Überlebensstrategien und einem historisch bedingten Afropolitianismus entwickelt hatte.128 Auch wenn bei ihrer Rückkehr das Kolonialregime gewechselt hatte und sie ihre teilweise gut vergüteten Anstellungen in der Kolonialarmee verloren, führte dies unter den afrikanischen Weltkriegsveteranen selten zu größeren Protesten. Der ehemalige tansanische Askari Ali Kalikilima, der im Dienst der deutsch-ostafrikanischen Regierung gestanden hatte, arbeitete nach seiner Entlassung 1918 zunächst auf Sisalplantagen, wurde dann aber aufgrund seiner Erfahrung in die britische Kolonialpolizei in Tanganyika aufgenommen. Dabei kam ihm zugute, dass auch in den deutschen Truppen des Generals von Lettow-Vorbeck Englisch die Umgangs- und Kommandosprache gewesen war, afrikanische Söldner schon vor dem Krieg transkolonial angeheuert hatten und je nach Bezahlung zwischen deutschen, englischen und französischen Kolonien hin- und hergewechselt waren. Noch im Krieg ließen sich zum Beispiel in Ostafrika an die 4 000 Askaris, die für die Deutschen gekämpft hatten und in Kriegsgefangenschaft geraten waren, von der britischen und belgischen Kolonialarmee anwerben. Neben Ali Kalikilima konnten sich auch andere Veteranen unter der neuen britischen Verwaltung ihr Auskommen sichern. Eine Kommission stellte 1921 fest, dass in Britisch-Ost­ afrika viele ehemalige Askaris, die nicht in die britischen Polizeitruppen übernommen worden waren, mithilfe ihres Söldnerlohns als Startkapital mittlerweile Landwirte geworden waren.129 In den französischen Kolonien blieben die Tirailleure im Dienst der französischen Armee, kehrten zu ihren Familien zurück oder ließen sich häufig an der Küste nieder, um vom wiederauflebenden Handel zu profitieren.130 In den französischen Mandatsgebieten erhielten die ehemaligen Mitarbeiter der deutschen Kolonialverwaltung Französischunterricht und wurden teilweise in die franzö­ sische Administration übernommen.131 Eine Übernahme war auch in britischen Kolonien oft der Fall. Der Ewe Fritz Gabasu, ein Deutschlehrer aus Togo, ließ sich 1919 in der benachbarten britischen Kolonie Gold Coast nieder, wo alle Lehrer, die zuvor für Deutsche gearbeitet hatten, eine Englischprüfung ablegen konnten, um dann für die britische Verwaltung zu arbeiten. Die Sprachkurse wurden

128 

Achille Mbembe definiert Afropolitanismus als „weltoffenen Geist“, der durch die Unrechtsund Gewalterfahrung der Schwarzen Diaspora geprägt worden sei, aber im Gegensatz zu Pan­ afrikanismus und Négritude keine „Opferidentität“ hervorbringen wolle, vgl. Achille Mbembe: Afropolitanismus. In: Franziska Dübgen/Stefan Skupien (Hg.): Afrikanische politische Philo­ sophie. Berlin 2015, S. 330–337. 129  Morlang: Askari (wie Anm. 121), S. 46, S. 52, S. 85, S. 92, S. 150. 130  Lunn: Memoirs (wie Anm. 82), S. 210. 131  Derrick: Elite (wie Anm. 90), S. 259.

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von den Briten organisiert. „So nahmen wir alle sechs Monate lang an einem englischen Kursus in Amedzofe teil“, berichtete Gabasu.132 Wie schon vor dem Krieg waren viele Afrikaner auch in der Nachkriegszeit flexibel und konnten sich mit der neu entstandenen Situation pragmatisch arrangieren. Für sie war Multiloyalität und Pluriethnizität eine notwendige Bewältigungsstrategie angesichts imperialer Entmächtigungsstrukturen.133 Afrika war in dieser Hinsicht 1919 keineswegs der Kontinent der ethnischen Inflexibilität, die ihm oft von Kolonialethnologen angedichtet wurde. Ein Beispiel hierfür ist die oben dargestellte Mehrsprachigkeit vieler Westafrikaner, die schon vor dem Krieg lokale Sprachen, afrikanische Vehikularsprachen und die Sprachen verschiedener Kolonialmächte beherrschten und nutzen. Diese Flexibilität nahmen europäische Beobachter kaum wahr, weil sie in ihrem Projekt der „Ethnisierung“ Afrikas gefangen waren. Viele unter ihnen befürchteten darum 1919 eine Explosion des antiimperialen Ethno-Nationalismus in Afrika. Doch ihre Angst war „eurozentrisch“ und der Erfahrung vom Ende europäischer Kontinentalimperien im Weltkrieg geschuldet, die spätestens 1919 durch ethnonationalistische Bewegungen gesprengt wurden und zerfielen. In Afrika gab es 1919 keine solche ethnonationalistische Welle, die den dortigen Imperien ein Ende gesetzt hätte. Da der antikoloniale Nationalismus als Emanzipationsweg 1919 selten beschritten wurde, gewann das Ermächtigungsversprechen der rechtlichen und kulturellen „Assimilation“ für die Kolonisierten scheinbar noch mehr an Bedeutung. Aber auch hier lässt sich keine vereinfachende Aussage treffen. Der Krieg hatte nämlich die Absurdität des Assimilationsideals deutlich gemacht, zum Beispiel als die germanophile Oberschicht in Kamerun und Togo plötzlich britische oder französische Verwalter bekam. Erfolgreiche Assimilationsbiografien, wie diejenige von Blaise Diagne, waren eine große Ausnahme. Denn die Kolonialherren hatten nicht nur vor nationalistischen Aufständen Angst. Sie fürchteten gleichzeitig, sich durch die Assimilationspolitik ihre eigenen Feinde heranzubilden, die dann zur (Wähler-)Mehrheit im eigenen Kolonialimperium zu werden drohten. Vor ­allem deswegen setzte sich nach 1919 die Vorstellung durch, eine rechtliche und kulturelle Assimilation müsse vermieden werden. Nun schlug die Stunde von selbsternannten Kolonialreformern wie Albert Sarraut oder Frederick Lugard, die zur Verhinderung einer „Detribalisierung“ Afrikaner nicht französisieren oder anglifizieren, sondern sie lediglich besser in die koloniale Wirtschaft integrieren wollten. Diesen Plänen der „indirect rule“ lag die im Krieg gewonnene Erkenntnis zugrunde, dass die Kolonien das Mutterland wirtschaftlich stärken konnten und es nicht zwangsläufig – durch hohe Ausgaben für die Assimilierung – schwächen mussten.134 Die 1919 eingeleitete Abkehr vom Assimilierungsideal verstärkte 132 

Diedrich Westermann: Afrikaner erzählen ihr Leben. Berlin 1952, S. 187–189. z. B. Juhani Koponen: Development for Exploitation. German Colonial Policies in Mainland Tanzania, 1884–1914. Helsinki 1994, S. 118. 134  Christophe Bonneuil: Des savants pour lʼempire: La structuration des recherches scientifiques coloniales au temps de „la mise en valeur des colonies françaises“ 1917–1945. Paris, S. 21. 133 Vgl.

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sich im Verlauf der Zwischenkriegszeit. Sie war ein Grund für die Verweigerung der Staatsbürgerschaft durch das Mutterland. Die 1919 einsetzende Entwicklung stand den Hoffnungen vieler Afrikaner auf rechtliche Gleichstellung und politische Repräsentation diametral entgegen. Dabei hatte der Krieg die Bedeutung Afrikas für die Kolonialwirtschaft deutlich werden lassen.135 Zwischen 1914 und 1918 waren Kolonialadministratoren und Kolonisierte durch die Unterbrechung der Verbindung zum Mutterland vor allem ökonomisch auf sich allein gestellt gewesen. Die unfreiwillige Erprobung kolonialer Autarkie war, für viele überraschend, relativ „erfolgreich“ verlaufen. Trotz Zwangsarbeit und erhöhtem Steuerdruck sowie gleichzeitiger Nahrungsmittelknappheit kam es allenfalls zu lokalen Protesten. Der „Erfolg“ gründete etwa auf dem Einsatz von circa 2,5 Millionen Zwangsarbeitern wie im belgischen Kongo, aber auch auf der freiwilligen Teilnahme von afrikanischen Wirtschafts­ eliten am effort de guerre wie in Kamerun oder im Senegal. Im Krieg hatten bis zu 75 Prozent der europäischen Händler Westafrika verlassen und wurden teilweise durch einheimische Eliten ersetzt.136 Unter diesen Bedingungen konnten Gold Coast und Nigeria sogar die Eroberung der deutschen Kolonien in Westafrika selbst finanzieren. Gleichzeitig gewannen die alteingesessenen afrikanischen Wirtschaftseliten an Selbstbewusstsein. Die in den 1920er-Jahren steigenden Preise für cash-crops wie Rohkakao oder Erdnüsse aus Afrika vergrößerten ihren Wohlstand.137 Zwischen 1920 und 1926 sollten die ghanaischen Kakaofarmer in der britischen Gold Coast die Weltkakaoproduktion quasi monopolisieren und Senegal seine Erdnussproduktion um 60 Prozent steigern.138 Wie bereits erwähnt, übernahmen die Duala in Kamerun Anfang der 1920er-Jahre den Handel fast vollständig. Die Hoffnung indigener Eliten auf eine Übernahme der Kolonialökonomie war in Kamerun groß, zumal von den 219 ehemals deutschen Grundstücken immerhin 29 an Kameruner versteigert wurden.139 Darüber hinaus intensivierten sich die Handelsbeziehungen mit den USA. Die relative ökonomische Autonomie dauerte in den 1920er-Jahren an. Durch die Metropole finanzierte und gesteuerte industrielle Entwicklungsprogramme gab es erst ab der Krise während der 1930erJahre. Diese führten dann zu neuen Konflikten, wie etwa zu Streiks und sozialen Protesten gegen die koloniale Ausbeutung und Zwangsarbeit.140

135 Karin Pallaver: War and Colonial Finance (Africa). In: Daniel u. a. (Hg.): 1914–1918 (wie Anm. 115). 136  Ungefähr 2,5 Millionen, das heißt 1 Prozent, der Afrikaner arbeiteten im Krieg für die Europäer. Vgl. Michael Crowder: The First World War and its Consequences. In: A. Adu Boahen (Hg.): General History of Africa. Bd. 7: Africa under Colonial Rule. Paris 1985, S. 283–311, hier: S. 284, S. 292, S. 302. 137 Fritz Klopstock: Kakao. Wandlungen in der Erzeugung und der Verwendung des Kakaos nach dem Weltkrieg. Leipzig 1937, S. 39. 138  Ebd., S. 34; Lunn: Memoirs (wie Anm. 82), S. 206. 139  Eckert: Grundbesitz (wie Anm. 90), S. 79. 140  Frederick Cooper: Decolonization and African Society. The Labor Question in French and British Africa. Cambridge 1996.

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Wenig historiografische Aufmerksamkeit haben bis heute die circa 200 000 afrikanischen Opfer des Ersten Weltkriegs erhalten.141 Da sie zudem oft aus den unteren sozialen Schichten stammten, wie zum Beispiel die Rekruten aus dem nördlichen Westafrika, gibt es nur wenige Zeugnisse aus ihrem Umfeld.142 Für Ostafrika haben Michael Pesek und Melvin E. Page die Brutalität des Kriegs anhand von afrikanischen Quellen dargestellt.143 In diesem Gebiet war die Gewalttätigkeit der Kolonialtruppen einzigartig und die militärischen und zivilen Opferzahlen besonders hoch. Gleichwohl war hier die Diskrepanz zwischen der Vorkriegszeit und der Phase des Kriegs nicht so groß wie in Europa. In Afrika befanden sich viele Gebiete seit Mitte des 19. Jahrhunderts im permanenten Kriegszustand. Koloniale Eroberungskriege und „Strafexpeditionen“ nahmen oft das Ausmaß totalisierter Gewalt mit genozidalen Ausmaßen an. Darum hatten viele Afrikaner die äußerste Brutalität der europäischen Kolonialherrschaft schon vor dem Ersten Weltkrieg erfahren. Neben dem genozidalen Herero-Nama-Krieg und dem Maji-Maji-Krieg – Konflikte, die Zehntausende afrikanische Opfer forderten, – kamen Arbeiter massenhaft bei Infrastrukturprojekten ums Leben. Beim Bau der Kongo-MatadíEisenbahn etwa starben schon in den 1890er-Jahren an die 2 000 Arbeiter. Dazu kamen Hungersnöte, die zum Beispiel den Maji-Maji-Krieg begleiteten. Die strukturelle wie punktuelle Gewalt der Kolonialherren und die Entgrenzung des Kriegs durch die Europäer prägten also schon vor 1914 und auch nach 1919 die afrikanischen Kolonien.144 Was den Ersten Weltkrieg anbetrifft, so sind die Zäsuren in Afrika verschoben, da dieser für die meisten Westafrikaner schon zwischen 1915 und 1917 endete, während er in Ostafrika noch über den Friedensschluss von 1919 hinaus andauerte. Daher wurde 1919 für die meisten Afrikaner weder zum Erlösungs- noch zum Erweckungsjahr. Prägende Erfahrungen waren somit nicht automatisch an 1919 gekoppelt. Fritz Gabasu, der aufgrund seiner europäischen Schulbildung in Kalender­jahren rechnete, berichtete, für ihn habe sich das Vorjahr weitaus stärker in schlechter Erinnerung eingeprägt: „Das Jahr 1918 war für das Eweland und die Goldküste eine Leidenszeit, denn die böse Influenza tötete viele Menschen, und hätte Gott ihr nicht gewehrt, so wäre ich auch daran gestorben.“145 Die Leidenszeit war für Fritz Gabasu nicht der Krieg selbst, sondern die „Spanische Grippe“Pandemie, die innerhalb von sechs Monaten zwei Prozent der afrikanischen Bevölkerung das Leben kostete. Diese diversen afrikanischen Chronologien korrigieren und relativieren den Blick auf 1919 als Jahr des Kriegsendes.

141 

Strachan: First World War (wie Anm. 3), S. 3. wurden die Beerdigungsrituale ihrer Angehörigen analysiert. Vgl. Meshack O ­ wino: Bereavement and Mourning (Africa). In: Daniel u. a. (Hg.): 1914–1918 (wie Anm. 115). 143  Michael Pesek: Das Ende eines Kolonialreichs. Ostafrika im Ersten Weltkrieg. Frankfurt a. M. 2010; Melvin E. Page: The Chiwaya War. Malawians and the First World War. Boulder 2000. 144  Zur Übersicht vgl. Throalf Klein/Frank Schumacher (Hg.): Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeitalter des Kolonialismus. Hamburg 2006. 145  Westermann: Afrikaner (wie Anm. 132), S. 187–189. 142  Allerdings

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Fazit: Die Bedeutung von 1919 aus der Retrospektive Für Panafrikanisten und Afrikaner war das Jahr 1919 als Zäsur weitaus weniger bedeutend als für Europäer. Zwar nutzten einige von ihnen die Symbolik des Datums für ihre Zwecke und erklärten das Jahr zum Ursprung eines emanzipativen Projekts, doch blieben imperiale und diskriminierende Strukturen aus dem 19. Jahrhundert bestehen. Die Vorstellung einiger Aktivisten und Historiker, dass sich im Jahr 1919 das panafrikanistische und das antikoloniale Projekt zu einer gemeinsamen Emanzipationsbewegung Schwarzer Menschen habe vereinen können, wurde in diesem Beitrag hinterfragt. Statt einen übergreifenden und programmatischen panafrikanistischen Antikolonialismus handlungsleitend zu machen, agierten Panafrikanisten und Afrikaner flexibel im Sinne ihrer eigenen existenziellen, materiellen, und situativen Interessen. Unter den afrikanischen Eliten fand daher auch die europäische Fremdherrschaft Akzeptanz, sofern sie das alltägliche Leben und Überleben nicht komplett behinderte. Dabei konnten sie sowohl kolonialkritische auch pro-koloniale Positionen einnehmen und unterstützen. Diese Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit zu untersuchen, trägt dazu bei, essenzialisierende Aussagen über „Afrikaner“ zu vermeiden. Allerdings lässt sich feststellen, dass Afrikaner durchaus gemeinsame Routinen entwickelten, um innerhalb von hochgradig ­diskriminierenden und gewalttätigen Strukturen Handlungsfähigkeit zu erwerben. Situative Widerständigkeiten und routinisierte Ermächtigungsstrategien bestimmten die Agency der Panafrikanisten und Afrikaner gleichermaßen. Diese Agency gegenüber kolonialer Gewalt orientierte sich nicht an einer eurozentrischen oder westlichen Chronologie, die 1919 zum Ausnahmejahr erklärte. Die Vorstellung von der „Geburt“ oder der explosionsartigen Dynamisierung nationaler Bewegungen in Afrika durch den Krieg muss somit problematisiert werden. Sie war oftmals von eurozentrischen Vorstellungen geprägt und ging auf die eurozentrischen und zeitgenössischen Ängste der Kolonialherren zurück. Das Jahr 1919 war für Afrikaner also ein kontingenter Moment, dessen Wirkungen die Eliten selbst zu beeinflussen suchten. Erst in der längerfristigen sortie de guerre entschied sich, welche Bedeutung 1919 für sie haben sollte.146 Als klar wurde, dass die Weißen auch in der Zwischenkriegszeit am rassistischen color bar festhielten, der ein Zusammenleben und -arbeiten unmöglich machte, radikalisierten sich kolonisierte Afrikaner und Panafrikanisten. Betrachtet man die Um­ setzung antikolonialer Ideen in diachroner Hinsicht, so rückt meist die Phase von 1930 bis 1960 in den Vordergrund, in der sich afrikanische Eliten und Arbeiter erstmals verbündeten, um als sozialistisches, nationalistisches und panafrika­ nistisches Kollektiv gegen die Kolonialmächte zu protestieren.147 Auch der von Appiah beschriebene Aufstieg „afrikanischer Panafrikanisten“ gegenüber den „west­lichen“ Panafrikanisten fällt in diese Phase. 146  Bruno

Cabanes: 1919 Aftermath. In: Jay Winter (Hg.): The Cambridge History of the First World War. Bd. 1. Cambridge 2014, S. 172–198, hier: S. 181. 147  Zum Panafrikanismus nach 1945 vgl. Grilli/Gerits: Visions (wie Anm. 14).

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Für die Bedeutung diese Periode steht W. E. B. Du Bois, der 1919 zunächst z­ ivilisierungsmissionarische Ansichten appropriierte und paternalistischen kolonialen Projekten nicht unbedingt abgeneigt war. Allerdings kam es auch bei ihm in den späten 1920er-Jahren zu einem Desillusionierungsprozess, in dessen Folge er sich radikalisierte und sich deutlicher antikolonialistisch positionierte. Dafür verklärte er einerseits den Panafrikanischen Kongress von 1919 zum Ursprung antikolonialer und antirassistischer Bewegungen. Andererseits erkannte er aber auch das Scheitern der Friedenskonferenz und zu einem gewissen Grad des Panafrikanischen Kongresses an. Um auf die Bedeutung von 1919 zurückzublicken und diese neu zu bewerten, wählte Du Bois einen besonderen Moment. Als er 1945 an der Gründungskonferenz der UNO in San Francisco teilnahm, in der die antikolonialen Staaten bald eine Mehrheit bilden sollten, kam ihm seine Zeit in Paris in den Sinn: „Ich denke mit großem Interesse an den Kongress von Versailles zurück, welcher der Vorgänger der Konferenz von San Francisco war. […] Ich setzte mich damals vor allem dafür ein, die Rassen- und Kolonialfrage als den ersten Kriegsgrund auf die Tagesordnung der Konferenz zu bringen, was die beste Friedensversicherung für die Zukunft gewesen wäre.“ Seine Hoffnungen, so Du Bois, seien aber nicht einmal auf dem Panafrikanischen Kongress erfüllt worden: „Es sollte ein Kongress ohne Kongressteilnehmer werden. Was wir taten, hatte keinen Einfluss auf den Kongress von Versailles. Ich bezweifle, dass überhaupt einer der Delegierten davon gehört hat. Ich sprach mit Colonel House, Wilsons’ engem Freund. Er stand der Sache wohlwollend gegenüber, aber schließlich spielten Betrachtungen zu Kolonien und zu farbigen Völkern praktisch keine Rolle […], außer als Pfand, um die Gier der Kolonialmächte zu befriedigen. Das ist der Grund, warum es eine San Francisco-Konferenz gibt, warum es zum verheerendsten Krieg kam, den die Menschheit je gesehen hat, und warum das Hauptproblem auf der Konferenz von San Francisco das koloniale System und die kolonialen Völker sein sollten.“148 Rückblickend deklarierte Du Bois das Jahr 1919 also zu einem individuellen Ermächtigungsmoment und gleichzeitig zu einem kollektiven Enttäuschungsmoment. Durch diese Deutung konnte er die Gründung der UNO 1945 einerseits auf seinen Panafrikanischen Kongress von 1919 zurückführen und andererseits die ohne ihn stattfindenden Pariser Friedensverhandlungen zum gescheiterten „Anti-San-Francisco“ machen. Dies versetzte ihn in die Lage, sich nach 1945, als ein solidarischer afro-asiatischer Third-World Nationalism und ein deutlich antikolonialer Panafrikanismus zum politischen Programm verschiedener Unabhängigkeitsbewegungen wurde, erneut zu profilieren. Du Bois gelang es, für deren unverblümten Antikolonialismus, den zunehmend auch die Mehrheit der UNO-Mitglieder vertrat, zu stehen und zu sprechen.149 Durch die retrospektive 148 

W. E. B. Du Bois: Winds of Time. In: Chicago Defender, 26. 5. 1926. Matthew Connelly: A Diplomatic Revolution. Algeria’s Fight for Independence and the Origins of the Post-Cold War Era. Oxford 2002; Eva-Maria Muschik: Building States. The United Nations, Development, and Decolonization, 1945–1965. New York 2022; Jürgen Dinkel: The Non-Aligned Movement. Genesis, Organization and Politics (1927–1992). Leiden/Boston 2019. 149 

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Umdeutung von 1919 konnte Du Bois 1945 der Verbindung von Panafrikanismus und Antikolonialismus eine Geschichte verschaffen, in der auch – und vor allem – seine eigene Rolle hervortrat.

Abstract This paper argues that Africans and Pan-Africanists actively made use of the Peace Conference in 1919 to assert their interests without necessarily referring to anticolonial nationalism. To increase their agency within a world still dominated by European colonialism, African elites applied a much greater variety of em­ powering strategies that also influenced the general “spirit of 1919”. Among these strategies were plans to autonomously administer internationalized territories in Africa, partial assimilation and imperial integration, economic globalization, and transimperial mobility. Africans combined these often contradictory strategies to pursue situational interests, such as during the Peace Congress of 1919, when they sent numerous petitions to the predominantly E ­ uropean delegates in Paris. While Europeans were caught up in the postwar ­nationalization processes within Europe and expected similar developments in Africa, nationalism was often no more than a last resort for Africans and Pan-Africanists. On the African continent, the war had widened the gap between poorer Africans who had suffered from forced recruitment and coerced labor, and political and economic elites who could take advantage of the war. It was not until the 1930s that African elites and workers joined forces to launch a collective nationalist project of anti-colonialism. Nevertheless, nationalist anti-colonialism did not develop in a linear way but popped up in certain moments while being irrelevant in others. Throughout this process, ­Africans and Pan-Africanists constantly redefined the meaning of the year 1919 and used it to increase their agency and prestige.

Völkerrecht, Sicherheit und Zugehörigkeit als neue Herausforderungen

Marcus  M. Payk Vertrag und Diktat Der Pariser Friedensschluss von 1919/20 und das Völkerrecht Einleitung Das Vertrauen in die Macht des gedruckten Wortes schien grenzenlos. Als die ­Delegierten der Pariser Friedenskonferenz am 28. Juni 1919 ihre Unterschriften in den wuchtigen Band des Friedensabkommens mit Deutschland setzten, legten sie damit geradezu ein rechtspositivistisches Glaubensbekenntnis ab. Nicht politische Verfahren, diplomatische Kompromisse oder gar eine symbolische Versöhnung der verfeindeten Nationen sollten die Folgen des Kriegs bewältigen und zum Frieden führen, sondern Vertragstexte von beträchtlicher Komplexität. So groß die innere Distanz zahlreicher Delegierter gewesen sein mochte – der Vertreter Südafrikas, Jan Christiaan Smuts, erklärte seine Skepsis schon im selben Atemzug mit seiner Unterschrift1 –, so groß war die normative Selbstgewissheit, die aus den Abkommen von Versailles, Saint-Germain, Neuilly-sur-Seine, Trianon sowie ­Sèvres sprach: Für eine stabile und gerechte Friedensordnung in Europa und der Welt bedürfe es lediglich einer Umsetzung dieser Vertragswerke. Dass sich diese Erwartung nicht einmal ansatzweise erfüllte, ist offensichtlich. Trotzdem lässt sich die juristische Durchformung des Friedensschlusses nicht einfach als idealistische Verirrung abtun und als bedeutungslos in die Kulissen der Geschichte verbannen. Es hat seinen Grund, wenn innerhalb der Völkerrechtsgeschichte von einem „gewichtige[n] Wendepunkt“, gar von einer „Revolutionierung“ der internationalen Rechtsordnung durch den Frieden gesprochen wird.2 Erstmals sei hier die ungezügelte Souveränität der Staaten eingeschränkt und ­wenigstens zum Teil in ein Regelsystem überführt worden, so lautet eine übliche Annahme, die auf die Begründung des Völkerbundes und auf das Prinzip nationaler Selbstbestimmung verweisen kann, aber auch auf die Ansätze internationaler Strafverfolgung, auf das Mandatssystem oder auf die Fortentwicklung eines kollektiven Minderheitenschutzes. Doch so plausibel derartige Deutungen sind, steht 1 Vgl.

Charles T. Thompson: The Peace Conference Day by Day. A Presidential Pilgrimage Leading to the Discovery of Europe. New York 1920, S. 420. 2  Vgl. Thomas Würtenberger/Gernot Sydow: Versailles und das Völkerrecht. In: Gerd Krumeich (Hg.): Versailles 1919. Ziele, Wirkung, Wahrnehmung. Essen 2001, S. 35–52, hier: S. 35, S. 51. https://doi.org/10.1515/9783110653359-009

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dahinter meist ein genuin juristisches Bemühen, aus dem Wortlaut der Friedensverträge einzelne Aspekte zu abstrahieren, diese als Staatenwillen zu behaupten und in eine Fortschrittsgeschichte einzuordnen. Eine Betrachtung aus historischer Perspektive zeigt hingegen, dass sich die Motive der beteiligten Akteure kaum auf eine klare programmatische Intention herunterbrechen lassen und überaus vielschichtig waren; zugleich ist über den Stellenwert, welche die rechtlichen Argumente und Vorstellungen im Kontext der Friedensverhandlungen faktisch einnahmen, nur wenig bekannt.3 Der vorliegende Beitrag verlässt die beträchtliche Flughöhe der üblichen völkerrechtshistorischen Darstellungen und untersucht aus größerer Nähe, wieso der Friedensschluss auf einen juristisch verdichteten Vertragstext gegründet werden sollte und welche diskursive Macht dem Völkerrecht im Wechselverhältnis zwischen politischen Opportunitäten und normativen Erwartungen zukam. Insofern stehen weniger einzelne Normkomplexe und dogmatische Fragen im Vordergrund als vielmehr der allgemeine Stellenwert von juristischen Argumenten und Akteuren. Dazu wird zunächst die propagandistische Aufladung des Weltkriegs als Kampf um Recht und Gerechtigkeit, vor deren Hintergrund sich die späteren Friedensverhandlungen erst erschließen, erörtert. Ein weiterer Schritt behandelt die äußere Form, also die unabwendbare Notwendigkeit, den Friedensschluss als Vertrag anzulegen. Es folgt ein Blick auf das Argument einer besonderen Rechtsund Vertragstreue, in der sich ein maßgebliches inhaltliches Prinzip aller Bestimmungen ausmachen lässt. Ein letzter Abschnitt beschäftigt sich schließlich mit der Frage, inwieweit sich die Kriegsverlierer die normativen Ansprüche der Pariser Ordnung zunutze machten und gegen die Kriegssieger wenden konnten.

Weltkrieg um das Völkerrecht Es ist nur eine geringe Übertreibung, in der Verletzung der belgischen Neutralität bei Kriegsausbruch die Urszene des Weltkriegs zu erblicken. Als die deutschen Truppen am 2. August 1914 erst die luxemburgische und, nach einem unbeantwortet verstrichenen Ultimatum, einen Tag später auch die belgische Grenze überschritten, um die französischen Defensivstellungen nördlich zu umgehen, so taten sie dies unter offener Verletzung des Londoner Endvertrags von 1839, mit dem die europäischen Großmächte die Neutralität Belgiens garantiert hatten. An diesen war auch das Kaiserreich gebunden. Doch was sich in der deutschen Binnen­sicht als bedauerliche, wiewohl unvermeidliche Verletzung eines antiquierten Abkommens im Namen einer staatlichen Notwehr darstellte, öffnete eine ­eklatante argumentative Flanke, die sich im gesamten Kriegsverlauf nicht mehr schließen ließ. Dass Reichskanzler Bethmann Hollweg diesen Rechtsbruch am 4. August 1914 vor dem Reichstag offen eingestanden hatte, war für die Entente 3  Vgl.

Marcus M. Payk: Frieden durch Recht? Der Aufstieg des modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg. München 2018.

Vertrag und Diktat

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eine ebenso unwiderstehliche Steilvorlage wie seine ungeschickte Formulierung gegenüber dem britischen Botschafter, wonach es sich bei dem Garantievertrag um einen „Fetzen Papier“ (scrap of paper) handeln würde, der einen Krieg zwischen den europäischen Mächten nicht rechtfertigen könne.4 Insbesondere in Großbritannien und Frankreich wurden der deutschen Staatsführung daraufhin eine Abkehr von sämtlichen europäischen Zivilisationsstandards und eine präzedenzlose Verachtung des Rechts vorgeworfen. Die Bereitschaft, sich an die eigenen Zusagen zu halten, eingegangene Verträge aus freien ­Stücken zu erfüllen und die souveräne Gleichheit aller Nationen zu respektieren, hatte sich im 19. Jahrhundert als innerster Kern des europäischen Völkerrechts herausgebildet. Nur unter diesen Voraussetzungen ließ sich ein geordnetes Miteinander der Staaten ohne eine übergeordnete Zwangsgewalt vorstellen, wie es von den bürgerlich-liberalen Eliten der westlichen Welt als Idealform einer Gesellschaft verstanden wurde. Ähnlich wie es für das Zusammenleben freier und gleicher ­Bürger innerhalb einer Nation gelten würde, sollte sich auch die internationale Ordnung aus einer rationalen Abstimmung und vertragsförmigen, oft ökonomisch überformten Selbstregulation zwischen gleichrangigen Akteuren ergeben. Mehr noch: Die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, Selbstführung und freiwilligen Rechts­ treue war das entscheidende Kriterium, um die europäischen Staaten von den ­politischen Kollektiven und Verbänden der außereuropäischen Welt abzugrenzen. Die Selbstbindung an das Recht stellte sich gerade im ausgehenden 19. Jahrhundert als vorrangiges Kennzeichen und als Errungenschaft der zivilisierten Welt dar, ­wohingegen eine Geringschätzung förmlicher Regeln und schriftlicher Abkommen als Ausdruck unzivilisierter Verhältnisse begriffen wurde.5 Dieser unausgesprochene Bedeutungshorizont muss mitgedacht werden, wenn man die ungemein mobilisierende Kraft verstehen will, welche beispielsweise die Beschwörung einer „Heiligkeit der Verträge“ (sanctity of treaties) im öffentlichen Diskurs in Großbritannien ab August 1914 hervorrief. Noch bevor sich die Aufmerksamkeit auf die Okkupation Belgiens richtete, mit der sich das Bild der mordenden und brandschatzenden „Hunnen“ in den Vordergrund schob, hatte sich bereits der Eindruck einer deutschen Wortbrüchigkeit und Rechtsverachtung ­etabliert, der in nahezu jeder Etappe des Kriegsverlaufs von alliierter Seite pro­ blemlos ausgebaut werden konnte. Neben der Besatzungspolitik ließ sich auch der U-Boot-Krieg, der Einsatz von Giftgas oder die Behandlung von Kriegs­ gefangenen jeweils als Ausdruck einer spezifisch deutschen Rechtsverachtung beschreiben.6 Eine solche Deutung hatte nicht nur den Vorteil, dass in den alliierten 4 

Vgl. Isabel V. Hull: A Scrap of Paper. Breaking and Making International Law During the Great War. Ithaca 2014; Thomas G. Otte: A „German Paperchase“. The „Scrap of Paper“ Controversy and the Problem of Myth and Memory in International History. In: DS 18 (2007) 1, S. 53–87. 5  Vgl. Saliha Belmessous (Hg.): Empire by Treaty. Negotiating European Expansion, 1600–1900. Oxford 2015; Harald Kleinschmidt: Diskriminierung durch Vertrag und Krieg. Zwischenstaatliche Verträge und der Begriff des Kolonialkriegs im 19. und frühen 20. Jahrhundert. München 2013. 6  Eine vergleichbare Einbettung bei Nicoletta F. Gullace: Sexual Violence and Family Honor. British Propaganda and International Law during the First World War. In: AHR 102 (1997), S. 714–747.

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Gesellschaften kaum noch über eigene Anteile und Ambitionen im Vorfeld der Julikrise gesprochen werden musste, die Kriegsanstrengungen der Entente ließen sich vielmehr als selbstlose Aufopferung im Dienst der Staatengemeinschaft adeln, wobei insbesondere auf die Rechte der kleinen Nationen wie Serbien und Belgien hingewiesen wurde.7 Der Anblick einer „small nation born of freedom defending their borders against the lawless tyranny of the greatest military Monarchy of the Continent“,8 so hieß es im August 1914 etwa in der Londoner „Times“, rufe in der britischen Gesellschaft selbstverständliche Anteilnahme, Sympathie und bereitwillige Unterstützung hervor.9 Die suggestive Kraft der Behauptung, den Krieg im Namen des Völkerrechts und der internationalen Gemeinschaft zu führen, wuchs nach dem Ausscheiden des zaristischen Russlands und dem Kriegseintritt der USA nochmals beträchtlich an. Es war kein Zufall, dass Wilson die amerikanische Intervention vor dem USKongress am 2. April 1917 mit dem Hinweis begründete, dass sich die Staatengemeinschaft gegen die „lawless and malignant few“10 verteidigen müsse. Angesichts der Bedrohung der Welt durch autokratische Mächte sei eine Neutralität nicht mehr möglich. Die Regeln der internationalen Ordnung müssten in gleicher Weise gesichert und durchgesetzt werden, wie es auch für die innerstaatlichen Verhältnisse gelten würde: „We are at the beginning of an age in which it will be insisted that the same standards of conduct and of responsibility for wrong done shall be observed among nations and their governments that are observed among the individual citizens of civilized states.“11 Dass diese alliierte Selbstpräsentation aus der Distanz differenziert beurteilt werden muss, steht außer Frage. Die Achtung oder Ablehnung des Völkerrechts lässt sich kaum so eindeutig auf die Kriegslager aufteilen, wie es die Wortmeldungen aus den Reihen der Entente glauben machen wollten. Weder war beispielsweise das deutsche Verhalten in Belgien, also das drakonische Okkupationsregime und die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung, ein durchgängiger Verstoß gegen ­geltendes Recht,12 noch wird man das Vorgehen der Gegenseite außerhalb jedes juristischen Zweifels stellen können. Die völkerrechtlichen Regularien von Krieg und Frieden waren in vielen Punkten zudem noch unbestimmt.13 Zwar hatte sich die Völkerrechtslehre im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als juristische Teildisziplin neu erfunden und dabei ein beträchtliches normatives Selbstbewusstsein  7  Vgl.

Louis Renault: Les premières violations du droit des gens par l’Allemagne, Luxembourg et Belgique. Paris 1917.  8  England’s Word. In: The Times, 28. 8. 1914, S. 9.  9  Vgl. Gullace: Violence (wie Anm. 6). 10  Wilson: An Address to a Joint Session of Congress, 2. 4. 1917. In: Arthur S. Link (Hg.): PWW. Bd. 41. Princeton 1983, S. 519–527, hier: S. 526. 11  Ebd., S. 523. 12 Eine (nicht unumstrittene) Neubewertung der deutschen Besatzungspolitik in Belgien etwa bei Ulrich Keller: Schuldfragen. Belgischer Untergrundkrieg und deutsche Vergeltung im August 1914. Paderborn 2017. 13  Vgl. Annie Deperchin: The Laws of War. In: Jay M. Winter (Hg.): The Cambridge History of the First World War. Bd. 1. Cambridge 2014, S. 615–638.

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an den Tag gelegt, wie es dann auf den Haager Konferenzen von 1899 und 1907 zu beobachten war.14 Die Praxis des Kriegsrechts orientierte sich nach 1914 trotzdem noch wenig an kodifizierten Regelwerken mit eindeutigen Vorgaben, sondern folgte in vielen Fällen gewohnheitsrechtlichen Traditionen, die meist nicht nur variabel und deutungsoffen waren, sondern sich immer noch an einem Vorrang der euro­ päischen Großmächte orientierten. Ebenso wie die Führung des Deutschen Reichs ihr aggressives Vorgehen gegenüber Belgien mit dem Ermessensspielraum einer existenziell bedrohten Großmacht zu rechtfertigen versuchte, wollten sich auch die Entente-Mächte nicht allzu eng an das Völkerrecht binden. Dies zeigt etwa ein Blick auf die britische Blockade, welche von dem englischen Politiker Arthur Balfour mit dem bezeichnenden Argument verteidigt wurde, man dehne das geltende Völkerrecht nur deshalb bis zum Äußersten – vielleicht auch darüber hinaus –, um dessen Idee gegenüber der deutschen Infamie überhaupt retten zu können.15 Sicherlich kann man in dieser nominellen Rechtstreue immer noch einen Unterschied zur überheblichen Ignoranz erkennen, wie sie völkerrechtlichen Prinzipien von deutscher Seite häufig entgegengebracht wurde.16 Trotzdem muss man zugestehen, dass auch in den Reihen der Entente mit kaltem Realismus auf den Sinn völkerrechtlicher Vorgaben geblickt wurde. In britischen Regierungskreisen, in denen die Haager Konventionen von 1907 oder die (nicht in Kraft getretene) Londoner Seerechtsdeklaration von 1909 schon vor Kriegsausbruch misstrauisch beäugt worden waren, sah man sich jedenfalls durch den Verlauf der militärischen Auseinandersetzung bestätigt. Derartige Konventionen hätten die eigenen See­ streitkräfte ernsthaft behindert, so bilanzierte ein Memorandum für das Foreign Office zu Jahresanfang 1918, „had we been engaged with an enemy whose c­ onduct was honourable, and who, by observing these Conventions, gave us no ground for receding from them without discredit“.17 Doch solche ambivalenten Stellungnahmen drangen selten nach außen. Im Gegen­teil: Selbst nach Kriegsende konnten die Alliierten ihren Anspruch und ihre Attitüde als „Hüter des Völkerrechts“ nicht mehr ablegen, zumal mit dem be­ vorstehenden Friedensschluss neue Möglichkeiten in den Blick gerieten. Als der französische Staatspräsident Raymond Poincaré am 18. Januar 1919 die Interalliierte Vorkonferenz zur Beratung der Friedensbedingungen eröffnete, vermochte er ­darum nicht nur mit großer Überzeugung erklären: „Notre victoire aussi est la victoire du droit.“18 Aus diesem Sieg des Rechts leite sich vielmehr, wie Poincaré sogleich anfügte, ein Anspruch auf die Wiederherstellung verletzter Rechtsposi­tionen 14 Vgl.

Stephen C. Neff: Justice among Nations. A History of International Law. Cambridge 2014, S. 298–340; Martti Koskenniemi: The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law 1870–1960. Cambridge 2002. 15  Vgl. Arthur J. Balfour: The British Blockade. London 1915. 16  Vgl. Hull: Scrap (wie Anm. 4), S. 317–322. 17 [Pearce Higgins:] The Freedom of the Seas. Memorandum [undat.; ca. Januar 1918], TNA, FO 372/1186, Nr. 206760. 18 L’ouverture de la conférence des préliminaires de paix. In: Journal Officiel (19. 01. 1919), S. 714–716, hier: S. 715.

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nach den Grundsätzen strengster Gerechtigkeit ab: „Vous ne chercherez donc que la justice […]. Mais la justice n’est pas inerte; elle ne prend pas son parti de l’injustice; ce qu’elle réclame d’abord, lorsqu’elle a été violée, ce sont des restitutions et des réparations, pour les peuples et les individus qui ont été dépouillés ou maltraités. En formulant cette revendication légitime, elle n’obéit ni à la haine ni à un désir instinctif et irréfléchi de représailles; elle poursuit un double objet: rendre à chacun son dû et ne pas encourager le recommencement du crime par l’impunité.“19

Die Form des Friedens Den pathetischen Worten des französischen Staatspräsidenten zum Trotz bestand in den Reihen der alliierten und assoziierten Vertreter im Winter 1918/19 große Unsicherheit, wie man zu einem – wie auch immer definierten – Friedenszustand zurückkehren konnte. Für einen regulären Friedensvertrag nach dem Muster der europäischen Staatentradition, oder was man zu Beginn des 20. Jahrhunderts dafür halten mochte, erschienen die Voraussetzungen jedenfalls ungünstig. Bereits die auf alliierter Seite propagandistisch herausgestellte Rechtsverachtung, ja Verschlagenheit der Mittelmächte machte es schwer, sich eine förmliche Vereinbarung mit den Verliererstaaten vorzustellen – zu oft war der Gegenseite während des Kriegs jedwedes Handeln nach Treu und Glauben abgesprochen worden. In einer Rede am 27. September 1918 in New York hatte Woodrow Wilson dieses Miss­ trauen mit den Worten umrissen, dass „there will be parties to the peace whose promises have proved untrustworthy, and means must be found in connection with the peace settlement itself to remove that source of insecurity“.20 Ungewiss war aber auch, inwieweit sich in Bezug auf die Verlierer überhaupt noch von handlungsfähigen Staaten sprechen ließ, welche ein formelles Ende des Kriegs und die Rückkehr zu geordneten Verhältnissen hätten garantieren können. Nicht allein die ungeklärte Situation im revolutionären Russland sorgte in den Staatskanzleien und Kabinetten der westlichen Welt für Kopfzerbrechen, sondern mehr noch die politischen Zerfallsprozesse in Mittel- und Osteuropa. Angesichts der bürgerkriegsähnlichen Szenen, die sich zu Jahresbeginn in Berlin abspielten, schien es in Paris, London und Washington keineswegs ausgemacht, ob die neue deutsche Republik überhaupt den Winter überleben würde – ganz zu schweigen von der Frage, inwieweit der Rat der Volksbeauftragten oder das amtierende Reichskabinett belastbare Zusicherungen für einen Friedensvertrag geben könne.21 19 Ebd.

Eine englische Übersetzung vgl. Protocol No. 1, January 18, 3 p. m. In: FRUS PPC. Bd. 3. Washington 1943, S. 157–175. Die französischsprachige Rede war schon am Vortag ins Englische übersetzt und an die Presse verteilt worden. 20  Woodrow Wilson: Rede vom 27. 9. 1918. In: Arthur S. Link (Hg.): PWW. Bd. 51. Princeton 1985, S. 127–133, hier: S. 130. 21  Überblicke etwa bei Robert Gerwarth: The Vanquished. Why the First World War Failed to End, 1917–1923. London 2016; Jochen Böhler/Włodzimierz Borodziej/Joachim von Puttkamer (Hg.): Legacies of Violence. Eastern Europe’s First World War. München 2014.

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Trotzdem gingen die Alliierten in allen ihren Planungen von Beginn an von einem förmlichen Vertrag aus, der das Ende der Feindseligkeiten und die Rückkehr zu friedlichen Beziehungen besiegeln sollte. Ein Abbruch des Weltkriegs ohne vertragsförmig beurkundetes Einverständnis der Konfliktparteien – sei es durch stillschweigende Rückkehr zum Status quo ante, sei es durch Unterwerfung, Okkupation oder Auslöschung der Verlierer – war undenkbar, und dies nicht allein mit Blick auf die bis dato übliche Praxis, das Ergebnis einer bewaffneten Aus­ einandersetzung als Grundlage der wiederauflebenden Beziehungen schriftlich zu fixieren.22 Vor allem der geschickte Schachzug der deutschen Staats- und Militärführung, der es mit ihrem Ersuchen um einen Waffenstillstand und um Verhandlungen auf Grundlage des Vierzehn-Punkte-Programm gelungen war, eine Einstellung der Kämpfe ohne Zugeständnis einer Kapitulation zu erreichen, machte eine vertragliche Regelung unabdingbar. Die alliierten Vertreter hatten zwar im November 1918 ein Waffenstillstandsabkommen durchgesetzt, dessen drakonische Auflagen jede Wiederaufnahme der Kampfhandlungen erschweren sollten, doch eine sichtbare Niederwerfung der deutschen Truppen war ausgeblieben.23 Der Ausgang des Kriegs war insofern nicht selbsterklärend, sondern Sieg und Niederlage sowie die daraus folgenden Konsequenzen mussten in einem Abkommen festgehalten und von den beteiligten Parteien bestätigt werden. Im Rückblick lässt sich zwar kaum ein ernsthafter Zweifel daran formulieren, dass die deutschen Streitkräfte im Herbst 1918 vor der Auflösung standen und die militärische Führung mit ihrer Ende September erhobenen Forderung nach einem sofortigen Kriegsende lediglich einen Zusammenbruch der Disziplin vermeiden sowie jeden Makel einer Niederlage auf die neuen politischen Spitzen des Reichs abwälzen wollte. Trotzdem verhinderte dieser Schritt, dass sich – im Gegensatz etwa zur Kapitulation Österreich-Ungarns oder der des bulgarischen oder osmanischen Bündnispartners – aus der militärischen Dominanz der alliierten Streitkräfte eine politische Überlegenheit herleitete, welche als eindeutiger Ausganspunkt des Friedensschlusses hätte akzeptiert werden müssen. Überdies waren in der deutschen Publizistik schon im Oktober 1918 radikale Stimmen zu vernehmen gewesen, welche für eine Fortsetzung der Kämpfe plädiert hatten. Auch der geordnete Rückzug aus den besetzten Gebieten Nordfrankreichs und Belgiens, der die Disziplin der deutschen Truppen nach dem Waffenstillstand vom 11. November hatte weitaus höher erscheinen lassen, als sie tatsächlich war, führte in Deutschland binnen Kurzem zu dem Eindruck, „im Felde unbesiegt“ geblieben und lediglich von „hinten erdolcht worden“24 zu sein. 22  Vgl. Randall Lesaffer: Peace Treaties and the Formation of International Law. In: Bardo Fassbender/Anne Peters (Hg.): The Oxford Handbook of the History of International Law. Oxford 2012, S. 71–94; Andreas Zimmer: Friedensverträge im Völkerrecht. Koblenz 1989. 23  Vgl. Bullit Lowry: Armistice 1918. Kent 1996; Pierre Renouvin: L’Armistice de Rethondes. 11 novembre 1918. Paris 2006. 24  So Paul von Hindenburg (unter Hinweis auf den angeblichen Ausspruch eines englischen Generals), zitiert nach Ulrich Heinemann: Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik. Göttingen 1983, S. 163. Allgemein auch Christoph Mick: 1918. Endgame. In: Winter (Hg.): History (wie Anm. 13), S. 133–171; Boris Barth: Dolch-

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Der alliierten Führung standen hingegen kaum andere Optionen offen, als zur Beendigung des Kriegs auf ein förmliches Abkommen zu setzen. Der Versuch, den Krieg trotz des deutschen Waffenstillstandsgesuchs weiterzuführen und mit den eigenen Truppen bis nach Berlin zu marschieren – wie es der alliierte Oberbefehlshaber Ferdinand Foch erwogen haben soll25 –, wäre angesichts der Kriegsmüdigkeit in den eigenen Gesellschaften auf kaum zu überwindenden Widerstand gestoßen. Zudem löste bereits die Einstellung der Kriegshandlungen hochgespannte Erwartungen aus. Es ist für den britischen Wahlkampf Ende 1918 vielfach herausgestellt worden, wie vehement in der Öffentlichkeit eine Bestrafung der deutschen Kriegsschuldigen bis hin zur Staatsspitze (Hang the Kaiser) oder umfängliche Schadenersatzzahlungen gefordert wurden.26 Vielleicht noch bemerkenswerter ist allerdings die Selbstverständlichkeit, mit der davon ausgegangen wurde, dass zu diesem Zweck ein förmliches Abkommen ausreichen würde. Die Bewältigung des Kriegs, die Sicherung des Friedens und die Neubegründung der europäischen Staatenordnung nach den Maßstäben der Sieger bedurften in dieser Sicht lediglich der vertragsförmigen Niederschrift, deren Umsetzung sodann ­Sache der unterlegenen Nationen sei. Dass es sich hierbei um eine trügerische Erwartung handelte, dürfte offensichtlich sein. Kaum einer der Repräsentanten der Siegermächte, die sich in Paris versammelten, vermochte präzise zu sagen, welche Friedensbedingungen der Gegenseite auferlegt werden müssten und wie sie auszuformulieren wären. Auch deshalb war zunächst Beratungen im interalliierten Kreis der Vorzug gegeben worden. Aller­dings sorgte die nach dem Drängen der kleineren Nationen einberufene Vorkonferenz aller alliierten und assoziierten Nationen, welche ab dem 18. Januar 1919 die Gespräche der im Supreme Council versammelten Hauptmächte formal einrahmte und ergänzte, keineswegs für eine einfachere Abstimmung. Es wurden eine Vielzahl von Forderungen erhoben und konkurrierende Gesichtspunkte vertreten, die sich nur schwer in ein geschlossenes Vertragswerk integrieren ließen; bereits die Interessenunterschiede zwischen Frankreich, Großbritannien und den USA waren erheblich. Insofern sollte man die alliierte Entscheidung, sich zunächst über die ­eigenen Zielsetzungen und Schnittmengen zu verständigen, nicht als präzedenz­ lose Diskriminierung der Kriegsverlierer abtun. Es gab gute Gründe für diese Vorgehensweise, und die Vorstellung, dass die Konsequenzen des Weltkriegs mit den unterlegenen Nationen in einer ergebnisoffenen Diskussion erörtert werden würden, war zu keinem Zeitpunkt sonderlich realistisch.27 stoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914–1933. Düsseldorf 2003, S. 212–220. 25  Vgl. Elizabeth Greenhalgh: Foch in Command. The Forging of a First World War General. Cambridge 2011, S. 482–494. 26  Vgl. schon Arno J. Mayer: Politics and Diplomacy of Peacemaking. Containment and Counterrevolution at Versailles, 1918–1919. New York 1967, S. 133–166. 27 Zur Organisation der interalliierten Gespräche vgl. immer noch Frank S. Marston: The Peace Conference of 1919. Organization and Procedure. London/New York 1944. Eine neuere Lesart einzelner Aspekte bei Verena Steller: Diplomatie von Angesicht zu Angesicht. Diplomatische Handlungsformen in den deutsch-französischen Beziehungen 1870–1919. Paderborn 2011, S. 361–470.

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Die Ausweitung der Gespräche mitsamt der Einsetzung verschiedener Kommissionen machte trotzdem jede Chance zunichte, rasch zu verbindlichen Entscheidungen und damit zu einem baldigen Kriegsende zu kommen. Seit Herbst 1918 zirkulierte zwar die Idee eines schlanken Präliminarfriedens durch die alliierten Planungskreise, woran sich idealiter eine spätere Neuverhandlung und ein Definitivfrieden unter Beteiligung aller Nationen anschließen könnte. Doch diese Überlegung blieb ein Traumgespinst. Nicht nur war der Umgang mit solchen Friedenspräliminarien in der Vergangenheit weit weniger formalisiert und völkerrechtlich eindeutig gewesen, als von interessierter Seite behauptet wurde. Es stand auch fest, dass sich die Schwelle vom Krieg zum Frieden nur ein einziges Mal überschreiten ließ, dass man also nur bis zum Moment der Wiederherstellung friedlicher Beziehungen über einen Hebel verfügen würde, um von der Gegenseite unbequeme Zugeständnisse zu erzwingen. Alle maßgeblichen Bedingungen müssten sich an diesen ersten Akt knüpfen, so konstatierte ein britisches Memorandum nüchtern. Denkbar sei zu einem späteren Zeitpunkt lediglich eine Schlussakte, um neben den Friedensverträgen noch die weiteren in Paris beschlossenen Abkommen zu bündeln.28 Nachdem im März 1919 ein letzter Anlauf für vorgezogene Friedensprälimi­ narien gescheitert war, liefen alle Vorbereitungen auf einen singulären Friedensvertrag hinaus. An die Stelle eines Gesamtvertrags aller Kriegsparteien waren mittlerweile Einzelabkommen mit den verschiedenen Verliererstaaten getreten, die in Aufbau und Anlage jedoch identisch sein sollten. Der Friedensvertrag mit Deutschland stellte den Modellfall dar – auch wenn sein äußerer Charakter erst im April 1919 abschließend geregelt wurde. Obwohl zu diesem Zeitpunkt die Zusammen­stellung der einzelnen, von den verschiedenen Kommissionen ausgearbeiteten Bestimmungen durch das Redaktionskomitee weit vorangeschritten war und sich inzwischen auch eine deutsche Delegation auf den Weg nach Versailles gemacht hatte, verhandelte der Council of Four am 26. April 1919 über die Frage, wie die Präambel des Vertragswerks ausgestaltet sein sollte. Dahinter verbarg sich das ins Grundsätzliche reichende Problem, ob das Friedensabkommen von den Kriegsparteien in freier Vereinbarung geschlossen oder einseitig von den Siegermächten erzwungen worden sei.29 Die letztere Vorstellung war vor allem in dem von französischer Seite vorgelegten Entwurf der Präambel enthalten, der in der Einleitung des Friedensvertrags nur die Siegermächte als gleichberechtigte Vertragsparteien benannte. Die unterlegene Seite, hier also Deutschland, wurde nicht mehr auf gleicher Ebene genannt, sondern sollte sich durch Unterschrift lediglich dazu verpflichten, das von den Alliierten beschlossene Abkommen vorbehaltlos anzuerkennen und auszuführen.30 Dies entsprach 28  Vgl.

[Cecil Hurst:] Treaty of Peace with Germany. Memorandum [undat.; ca. 17./18. 3. 1919]. In: FRUS PPC. Bd. 11. Washington 1945, S. 532–535. 29  Vgl. April 26, 3 p. m. In: FRUS PPC. Bd. 5. Washington 1946, S. 299–301. 30  Vgl. Projet A 2. Traité de Paix. Entwurf vom 22. 4. 1919, GUSC, James Brown Scott Papers, Box 25/11, S. 7 f.

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zwar der alliierten Behauptung, den Weltkrieg gegen einzelne Störer der internationalen Ordnung geführt zu haben, und es signalisierte auch jene klare Zuweisung einer deutschen Kriegsschuld, die in dieser Deutlichkeit im gesamten weiteren Vertragstext nicht mehr zu finden war. Trotzdem handelte es sich augenscheinlich um eine so anfechtbare Abkehr von den gewohnten Standards, dass der französische Entwurf mitsamt seiner förmlichen Verurteilung Deutschlands als Feind „du droit des gens et de tout sentiment d’humanité“31 im Council of Four mehrheitlich zurückgewiesen wurde. Nach kurzer Debatte wurde beschlossen, dass der Friedensschluss in der Präambel nicht als erzwungen („imposed“), sondern als gegenseitig vereinbart („agreed“) beschrieben werden sollte.32 Als Ausgangspunkt diente da­ rum ein nüchterner Entwurf aus amerikanischer Feder, in dem es hieß, dass alle Vertragsparteien gemeinsam eine Rückkehr zu friedlichen Beziehungen beschließen würden. Auf nähere inhaltliche Ausführungen wurde verzichtet.33 Dass die Präambel ausdrücklich von einer Vereinbarung zwischen den Konfliktparteien sprach, unterstreicht die Bedeutung, welche die Siegermächte einer vertraglichen Ausgestaltung des Friedens beimaßen. Die äußere Form zielte nicht auf die Unterwerfung der unterlegenen Partei, sondern auf ihre Einbindung in ein gemeinsames Abkommen. Sicherlich war damit keine freie Aushandlung der inhaltlichen Bestimmungen gemeint, über welche die Alliierten nach den Prämissen des Siegerrechts frei zu verfügen beanspruchten. Auch ließen sich auf diese Weise keinesfalls alle Zweifel ausräumen, inwieweit sich die unterlegenen Staaten überhaupt an die friedensvertraglichen Auflagen halten würden. Trotzdem war es notwendig, den Friedensschluss nicht als einseitiges Diktat anzulegen, sondern am Grundsatz gleichrangiger Staatenbeziehungen festzuhalten. Denn einerseits ließen sich der militärische Triumph der Alliierten und damit ihre Interpretation des Konflikts nur durch eine deutsche Unterschrift beglaubigen, andererseits hatten sich die Siegermächte durch ihre Rhetorik der zwischenstaatlichen Gleichrangigkeit bereits so festgelegt, dass eine politische Fremdbestimmung der Verlierernationen kaum vorstellbar war. Im Ergebnis standen den Siegermächten bereits durch die Vorgaben der äußeren Form nur juristische Klauseln und Auflagen zur Ver­ fügung. Selbst die Einrichtung von alliierten Kontrollkommissionen, welche die Umsetzung der Friedensabkommen überwachen sollten, änderte nichts an dem Anspruch, dass sich die Vertragsparteien in rechtlicher Hinsicht auf gleicher ­Ebene begegnen würden. 31 

Ebd., S. 1. April 26, 3 p. m. (wie Anm. 29), S. 299. Der Beschluss auch in: Ministère des Affaires Étrangères (Hg.): Conférence de la Paix 1919–1920. Recueil des Actes de la Conférence. Bd. 1. Paris 1934, S. 126 f. 33  Der endgültige Entwurf war von James Brown Scott, dem Rechtsberater der amerikanischen Delegation, ausgearbeitet worden, vgl. Preamble (Treaty with Germany) [undat.], YUL, Manuscripts and Archives, Frank L. Polk Papers, Box 36/815. Außerdem James Brown Scott: The Trial of Kaiser. In: Edward M. House/Charles Seymour (Hg.): What Really Happened at Paris. The Story of the Peace Conference, 1918–1919, by American Delegates. London 1921, S. 231–258, hier: S. 236 f. 32 Vgl.

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Vertragstreue als inneres Prinzip der Pariser Ordnung Die Notwendigkeit, den Friedensschluss als förmliche Vertragsbeziehung anzu­ legen und in besonderer Weise juristisch auszugestalten, kennzeichnete nicht nur seine äußere Gestalt, sondern bestimmte auch seine Inhalte. Zwar scheiterten frühe Pläne eines „Weltvertrags“, in dem die Regelung des eigentlichen Kriegsendes nur einen kleinen Teil gegenüber dem Versuch, alle Staaten der Erde auf eine gemeinsame Rechtsordnung zu verpflichten, ausgemacht hätte.34 Doch die alliierte Kriegspropaganda, die ausgebliebene militärische Überwältigung und Besatzung der Verlierer sowie die vertragspositivistische Überformung des Friedens ließen den Siegermächten kaum eine andere Möglichkeit, als ihre Interessen in einer Sprache des Rechts, der Rechtlichkeit und Gerechtigkeit zu formulieren. In den fünf Hauptabkommen, welche zwischen Juni 1919 und August 1920 mit Deutschland, Österreich, Ungarn, Bulgarien und dem Osmanischen Reich abgeschlossen wurden, verschmolzen die Absichten der Sieger mit einem juristischen Steuerungs­ anspruch, der in der Geschichte internationaler Vertragsbeziehungen beispiellos war. Die Vertragstexte waren von überwältigender Komplexität und Detailliertheit. Allein der Versailler Friedensvertrag umfasste 440 Artikel nebst zahlreichen Anlagen und Anhängen, sodass zu Recht von den „mit Abstand längsten Friedensverträgen der Vertragsgeschichte“35 gesprochen worden ist. Daneben wurden im Rahmen der Friedenskonferenz rund 40 weitere Abkommen geschlossen, und diese Zahl wäre noch weit höher ausgefallen, wenn die darüber hinaus angestrebten oder diskutierten Vereinbarungen zu einem Abschluss gebracht worden wären. Die ehrgeizigen Pläne für eine globale Wirtschaftsordnung mit einer Harmonisierung des internationalen Handels sowie mit Vorgaben zu Marktzugang, ­Zollgesetzgebung oder Transitfreiheit schrumpften beispielsweise bald zu Auf­ lagen allein für die Kriegsverlierer und – das wird oft vergessen36 – für die neu begründeten Staaten zusammen. Ebenso konnte das ambitionierte Vorhaben einer Generalkonvention für internationale Verkehrswege, wie sie von britischer Seite vorgeschlagen worden war, nur in ersten Grundzügen debattiert werden. Ende Februar 1919 wurde das Projekt zurückgestellt und erst in einem zweiten Anlauf auf der Verkehrskonferenz von Barcelona 1921 wieder aufgegriffen.37 Immerhin konnte die aufkommende zivile Luftfahrt in Paris durch eine eigene Kommission 34 

So der amerikanische Entwurf von David Hunter Miller/James Brown Scott: Skeleton Draft of Peace Treaty [undat.; 30. 12. 1918]. In: FRUS PPC. Bd. 1. Washington 1942, S. 298–315. 35 Jörg Fisch: Krieg und Frieden im Friedensvertrag. Eine universalgeschichtliche Studie über Grundlagen und Formelemente des Friedensschlusses. Stuttgart 1979, S. 612. 36  Die Minderheitenverträge besaßen jeweils noch ein zweites Kapitel, in dem die neu begrün­ deten Staaten auf verschiedene multilaterale Konventionen und Vertragswerke zu Wirtschaft, Handel und Verkehr verpflichtet wurden, was in der einschlägigen Literatur bemerkenswert oft ignoriert wird, so auch bei Carole Fink: Defending the Rights of Others. The Great Powers, the Jews, and International Minority Protection, 1878–1938. New York 2006, S. 257–260. 37  Vgl. David Hunter Miller: The International Regime of Ports, Waterways and Railways. In: AJIL 13 (1919), S. 669–686; Karl F. Reiter: Die Verkehrsbestimmungen des Versailler Vertrages und ihre Weiterbildung auf den allgemeinen Verkehrskonferenzen von Barcelona und Genf. Würzburg 1929.

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in ihren Grundzügen geordnet und am 13. Oktober 1919 eine entsprechende Konvention verabschiedet werden.38 Wenn die systematische Regulierung der internationalen Verhältnisse stets mit besonderen Auflagen für die Verliererstaaten verknüpft wurde, so stand dahinter die Vorstellung, dass jedwede dauerhafte Sicherung des Friedens die Bändigung vor allem eines deutschen Machtwillens voraussetze. Ein Jurist der amerikanischen Delegation, George Finch, erhoffte sich vom Friedensschluss beispielsweise die Einrichtung jener internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, welche auf der Haager Konferenz 1907 am erbitterten Widerstand der deutschen Delegation gescheitert war: „Germany will not be in the position effectively to oppose the wishes of the civilized world, as she was and did at The Hague. […] The logical step for the Allies to take is to do now what they so earnestly desired to do but were prevented by Germany from doing in 1907, namely, conclude a general treaty of compulsory arbitration of arbitral disputes.“39 Ein solcher Optimismus verflog zwar rasch – in Artikel 14 der Völkerbundsatzung wurden lediglich spätere Verhandlungen über ein internationales Gericht in Aussicht gestellt.40 Trotzdem gab es kaum einen Bestandteil der Friedensabkommen, der nicht durch einen Rekurs auf Recht und Gerechtigkeit bestimmt war. Fragen der Wiedergutmachung sollten beispielsweise nicht durch eine pauschale Indemnitäts- oder Strafzahlung geregelt werden oder gar durch Tribute an die ­Sieger, sondern durch eine exakte Berechnung und Begleichung der rechtswidrig angerichteten Schäden.41 Es war auch keine moralische Verdammung, sondern ­ergab sich folgerichtig aus dem Anspruch eines Rechtsfriedens, wenn Fragen der allgemeinen Kriegsverantwortung wie einzelner Kriegsrechtsverletzungen justi­ ziell aufgearbeitet werden sollten.42 Dass die sich im Schnittfeld dieser beiden ­Aspekte befindliche „Kriegsschuldklausel“ in Artikel 231 des Versailler Vertrags darum nur eine juristische Absicherung der Entschädigungsforderungen darstellte, ist vielfach herausgehoben worden.43 Ein unvoreingenommener Blick wird 38 

Convention Relating to the Regulation of Aerial Navigation. In: LNTS 11 (1922), S. 173–310. Finch: Outline of a Plan for the Maintenance of International Peace, Memorandum 24. 12. 1918. In: David Hunter Miller: My Diary at the Conference of Paris. With Documents. Bd. 2. New York 1924, S. 487–495, hier: S. 488. Zur deutschen Politik in Den Haag vgl. etwa Jost Dülffer: Regeln gegen den Krieg? Die Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 in der inter­ nationalen Politik. Frankfurt a. M. 1981. 40  Vgl. Ole Spiermann: International Legal Argument in the Permanent Court of International Justice. The Rise of the International Judiciary. Cambridge 2005, S. 5 f., S. 10 f. 41  Vgl. Fisch: Krieg (wie Anm. 35), S. 205  f.; allgemein auch Bruce Kent: The Spoils of War. The Politics, Economics, and Diplomacy of Reparations, 1918–1932. Oxford 1991; zum dahinterstehenden Komplex der völkerrechtlichen Staatenverantwortlichkeit außerdem James Crawford: State Responsibility. The General Part. Cambridge 2013. 42  Vgl. Mark Lewis: The Birth of the New Justice. The Internationalization of Crime and Punishment, 1919–1950. Oxford 2014, S. 27–63. Vgl. auch Annette Weinke: Gewalt, Geschichte, Gerechtigkeit. Transnationale Debatten über deutsche Staatsverbrechen im 20. Jahrhundert. Göttingen 2016, S. 61–77. 43  So bereits von Robert C. Binkley/August C. Mahr: A New Interpretation of the „Responsibility“ Clause in the Versailles Treaty. In: CH 24 (1926) 3, S. 398–400; Camille Bloch/Pierre Renou39  George

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aber auch in der Einrichtung des Völkerbundes und der Internationalen Arbeitsorganisation, in den Bestimmungen zur Abrüstung oder zu den Wirtschafts- und Finanzbeziehungen, in der Anerkennung neuer Staaten oder im Minderheitenschutz- wie Mandatssystems jeweils die übergreifende Tendenz erkennen, dass die Alliierten jede Form der unverhüllten Willkür, der gewaltsamen Aneignung und der eigenen Interessenverfolgung peinlich genau zu vermeiden trachteten. Dies gilt selbst für das ominöse Prinzip der Selbstbestimmung, welches keineswegs ein Angebot an Volksgruppen unterschiedlichster Art darstellte, frei über ihre nationale Selbstständigkeit zu entscheiden. Zwar handelte es sich um eine suggestive Formel großer Kraft, die in zahlreichen Gesellschaften kaum beherrschbare Erwartungen weckte und auch von den Verlierernationen immer wieder bemüht wurde.44 Realiter wurde sie von den Siegernationen aber nur dann als Handlungsmaxime verstanden, wenn sich auf diese Weise stabile und lebensfähige Nationen schaffen ließen. Die national-ethnografische Zuordnung der jeweiligen Bevölkerung war dazu ein wichtiger Aspekt, allerdings ebenso politische, militärische oder wirtschaftliche Überlegungen. Als entscheidender Maßstab diente das Ziel, ein Staatensystem zu etablieren, in dem jeder Einzelstaat eine „suitable geographic and business unit“45 darstellen würde. Nur so war eine internationale Ordnung ohne übergeordnete Erzwingungsgewalt vorstellbar.46 Dass solche übergreifenden Rechtfertigungsmuster die eigenen Interessen oft nur notdürftig bemäntelten und in Einzelfällen zudem auf eklatante Weise durchbrochen wurden – genannt seien vor allem die Beschlüsse zu Fiume (Rijeka), Südtirol und Shandong –, dürfte unbestritten sein. Trotzdem konnten die alliierten Nationen aus dem Zwang zu einer ostentativ vertrags- und rechtsförmigen Ausgestaltung des Friedens kaum ausbrechen. Die unauflösbare Bindung an die völkerrechtlichen Glaubenslehren des ausgehenden 19. Jahrhunderts, insbesondere an den immer wieder beschworenen Grundsatz einer unbedingten Vertragstreue, stellte das innere Prinzip der Pariser Ordnung dar. Sicherlich sollte man sich ­hüten, darunter ein fest umrissenes Programm zu verstehen oder sich einseitig auf vin: L’art. 231 du Traité de Versailles. Sa genèse et sa signification. In: Revue d’Histoire de la Guerre Mondiale 10 (1932), S. 1–24. Zusammenfassend vgl. Vincent Laniol: L’article 231 du traité de Versailles, les faits et les représentations. Retours sur un mythe. In: RI 158 (2014), S. 9–25. 44  Vgl. Erez Manela: The Wilsonian Moment. Self-Determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism. Oxford 2007. 45  A Preliminary Brief Outline of the Subjects to be Dealt with on the Inquiry [undat.], Anlage zu Mezes an Lippmann, Brief vom 10. 11. 1917. In: FRUS PPC (wie Anm. 34), S. 15 f., hier: S. 15. 46 Diesen Zusammenhang legen auch neuere Überlegungen zum Vierzehn-Punkte-Programm nahe, vgl. Trygve Throntveit: The Fable of the Fourteen Points. Woodrow Wilson and National Self-Determination. In: DH 35 (2011), S. 445–481. Einzelne Aspekte aus einer uferlosen Literatur bei Volker Prott: The Politics of Self-Determination. Remaking Territories and National Identities in Europe, 1917–1923. Oxford 2016; Eric D. Weitz: Self-Determination. How a German Enlightenment Idea Became the Slogan of National Liberation and a Human Right. In: AHR 120 (2015), S. 462–496; Jost Dülffer: Selbstbestimmung, Wirtschaftsinteressen und Großmachtpolitik. Grundprinzipien für die Friedensregelung nach dem Ersten Weltkrieg. In: ders. (Hg.): Frieden stiften. Deeskalations- und Friedenspolitik im 20. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2008, S. 118–137.

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die vagen Ideen der „Vierzehn Punkte“ Woodrow Wilsons zu beschränken. In Wirklichkeit handelte es sich um ein Ensemble von normativen Ideen, Erwar­ tungen und Selbstverständlichkeiten, die sich aus einem bürgerlich-liberalen Verständnis der Staatenwelt herleiteten und die sich in den vorangegangenen ­ ­Dekaden vorrangig im Völkerrecht niedergeschlagen hatten. Dazu zählten die Vorstellung von einer berechenbaren Staatlichkeit und Regierungsgewalt, der Gedanke nationaler Geschlossenheit von Territorien mit eindeutigen Grenzen und einer definierten Bevölkerung, die Forderung nach internationaler Kooperation, Handel und Verkehr, schließlich eine humanitäre Gesittung, ein Fortschrittsoptimismus sowie der selbstverständliche Vorrang der zivilisierten Nationen in der Gestaltung der Weltverhältnisse. Auch der heikle Zusammenhang von Nationalstaatlichkeit und Bevölkerungspolitik, auf den die jüngere Forschung hingewiesen hat, besaß in diesem Umfeld eine in sich stimmige Rationalität.47 Die – sowohl freiwillige wie später erzwungene – Umsiedlung von Volksgruppen galt als geeignetes Mittel zur inneren Festigung von Staatlichkeit, was wiederum als Voraus­ setzung für friedfertige äußere Beziehungen begriffen wurde. Kurz gesagt: Der maßgeb­ liche Bezugspunkt der Pariser Ordnung war ein stabiles System aus ­souveränen, gleichrangigen rechts- und vertragstreuen Einzelstaaten. Welche politischen Möglichkeiten in der Berufung auf derartige Ideen und Prinzipien lagen, lässt sich anhand der Präambel der Völkerbundsatzung, in der die normative Sinngebung des Friedens unverstellt zum Ausdruck kam, exemplarisch erläutern. Die zugrundeliegende Vorstellung einer kooperativen Staatenwelt, in der nicht eine anarchische und machtpolitische Konkurrenz der Staaten herrschen solle, sondern welche auf die souveräne Gleichheit aller (zivilisierten) Na­ tionen gegründet sei, wurde hier gleich in mehreren Variationen zum Ausdruck gebracht. Dass die eigentliche Präambel des Gesamtvertrags, in den die Völkerbundsatzung eingebettet war, so knapp ausfiel, hatte mit diesem unmittelbar folgenden Auftakt zu tun. In der Präambel der Völkerbundsatzung war nicht allein von einer Förderung der zwischenstaatlichen Kooperation und von einer Verpflichtung aller Nationen zum Frieden die Rede.48 Besonderes Gewicht lag auf der Bindung aller Mitgliedstaaten an das Völkerrecht und insbesondere auf der genauen Beachtung aller eingegangenen Verträge. Das Echo auf die deutsche Verletzung der belgischen Neutralität war in diesen Passagen unüberhörbar. Überdies handelte es sich nicht um eine unverbindliche Forderung. Das unbedingte Bekenntnis zum Völkerrecht galt nach Artikel 1 der Satzung als entscheidendes ­Kriterium für eine Mitgliedschaft im neu zu gründenden Völkerbund. Nachdem sich die zuständige Kommission nicht auf inhaltliche Voraussetzungen für die Zulassung neuer Staaten hatte einigen können, stellte die Bereitschaft und Fähigkeit, eingegangene Verträge zu erfüllen, den kleinsten gemeinsamen Nenner dar. Das 47 

Vgl. Eric D. Weitz: From the Vienna to the Paris System. International Politics and the Entangled Histories of Human Rights, Forced Deportations, and Civilizing Missions. In: AHR 113 (2008), S. 1313–1343. 48  Vgl. Paul You: Le Préambule des traités internationaux. Freiburg i. Ü. 1941, S. 90–104.

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lag sicherlich auch daran, dass alle anderen Vorschläge kaum operationalisierbar zu sein schienen. Zahlreiche der diskutierten Anforderungen an die innere Verfasstheit, Verwaltung oder Selbstbestimmtheit eines politischen Kollektivs verboten sich schon mit Blick auf die verschiedenen Regierungsformen der Alliierten – von der Rücksichtnahme auf ihre kolonialen und imperialen Interessen ganz zu schweigen.49 Im Ergebnis erlaubte die Völkerbundsatzung daher die Zulassung von „any fully self-governing State, Dominion or Colony“, sofern „effective guar­antees of its sincere intention to observe its international obligations“ gegeben werden konnten. Die Forderung nach einer Rechts- und Vertragstreue ließ sich auch deshalb so mühelos erheben, weil dieser etablierte, allseits akzeptierte Grundsatz des europäischen Völkerrechts schon in der Vergangenheit vielfach machtpolitisch instrumentalisiert worden war. Gerade im 19. Jahrhundert hatte das Bestehen auf einer bedingungslosen Vertragserfüllung vielfach dazu gedient, außereuropäische Kollektive zu reglementieren und diese westlichen Standards des Staatenverkehrs zu unterwerfen. Im Zeitalter des Imperialismus hatte sich das Völkerrecht mit stark kolonialistischer Schlagseite entwickelt.50 Neu war jedoch, dass dieses Kriterium nach dem Ersten Weltkrieg auf Deutschland – und damit auf eine europäische Großmacht – bezogen wurde und sich in diesem Kontext ebenfalls als ungemein effektiv erwies. So hatten die französischen Delegierten der Pariser Konferenz zwar eine längerfristige Ausgrenzung Deutschlands aus der internationalen Politik gefordert, was ebenso wie der weitergehende Gedanke, den Völkerbund als Fortsetzung der Kriegsallianz anzulegen, abgelehnt wurde. Doch das Junktim, wonach eine deutsche Mitgliedschaft im Völkerbund an eine skrupulöse Beachtung des internationalen Rechts wie aller eingegangenen Vertragspflichten geknüpft war, erbrachte mit einer erheblich überzeugenderen Argumentation einen zumindest vordergründig ähnlichen Effekt. Es war eine mit der alliierten Kriegsrhetorik und Selbstpräsentation überaus konsistente Position, wenn die von deutscher Seite geforderte Mitgliedschaft im Völkerbund nicht rundheraus abgelehnt wurde, sondern an „clear proofs of its stability as well as of its intention to ob­ serve its international obligations – particularly those obligations which arise out of the Treaty of Peace“51 – geknüpft wurde. Noch deutlicher lässt sich der Versuch, die Grundsätze der internationalen Rechts- und Vertragstreue im eigenen Sinne einzusetzen, am Beispiel der Bestim49 Vgl.

die Kommissionsdebatte vom 5. 2. 1919. In: David Hunter Miller: The Drafting of the Covenant. Bd. 1. New York 1928, S. 158–167. 50  Vgl. Matthew Craven: Colonialism and Domination. In: Fassbender/Peters (Hg.): Handbook (wie Anm. 22), S. 862–889. Vgl. auch Jörn Axel Kämmerer/Paulina Starski: Imperial Colonialism in the Genesis of International Law – Anomaly or Time of Transition? In: JHIL 19 (2017), S. 50– 69; Antony Anghie: Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law. Cambridge 2005. 51  Reply of the Allied and Associated Powers to the Observations of the German Delegation on the Conditions of Peace, 16. 6. 1919. In: FRUS PPC. Bd. 6. Washington 1946, S. 935–996, hier: S. 940.

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mungen zur linken Rheinseite erkennen, die keineswegs – wie von Paris vernehmlich gefordert – auf eine Annexion oder wenigstens auf die Schaffung eines neu­ tralen Pufferstaates hinausliefen. Stattdessen blieb es bei einer Demilitarisierung und befristeten Besetzung des linken Rheinufers nach den Artikeln 428–432 des Versailler Vertrags, mit denen eine getreuliche Vertragserfüllung durch Deutschland abgesichert werden sollte. Bei Umsetzung der friedensvertraglichen Auflagen würden die besetzten Gebiete sukzessive (nach fünf, zehn beziehungsweise fünfzehn Jahren) geräumt werden. An die Stelle einer territorialen Absicherung der französischen Sicherheitsbedürfnisse sollten gesonderte Garantiepakte zwischen Frankreich und Großbritannien beziehungsweise den USA treten, in denen eine militärische Beistandspflicht im Fall eines neuerlichen Angriffs Deutschlands vorgesehen war.52 Diese Lösung sollte sich zwar bald als Niederlage für die französische Regierung erweisen – für seine vermeintliche Nachgiebigkeit wurde Premierminister Georges Clemenceau etwa von Marshall Foch mit dem Vorwurf bedacht, mate­ rielle Sicherheiten gegen papierene Zusagen eingetauscht zu haben –, folgte bei ­näherem Hinsehen jedoch einem nachvollziehbaren Kalkül. Clemenceau war sich bewusst, dass der Versuch einer unbedingten Durchsetzung der französischen Inte­ressen gegen den Willen der anderen Siegermächte zu heftigen Verwerfungen geführt und dass eine eigenmächtige Inbesitznahme der linksrheinischen Territorien die französische Position erheblich belastet hätte. Inhaltlich besaßen völkerrechtliche Überlegungen für Clemenceau fraglos nur geringen Stellenwert und für den hochgestimmten Idealismus eines paix par le droit, wie er etwa vom französischen Delegierten Léon Bourgeois verfochten wurde, hatte der Premierminister selten mehr als Verachtung übrig.53 Trotzdem erkannte Clemenceau die politische Kraft eines Arrangements, welches sich in Übereinstimmung mit den Grund­ sätzen des Völkerrechts und dem Vertragspositivismus des Friedensschlusses befinden würde. Nicht nur war die Besatzung fremden Staatsgebiets ein juristisch anerkanntes und unbestritten akzeptiertes Mittel, um die Vertragserfüllung der Gegenseite sicherzustellen.54 Der deutsche Versuch, die Besatzung als eine illegi­ time Inbesitznahme und willkürliche Gewaltpolitik zu diskreditieren, musste da­ rum ins Leere greifen. Wichtiger war noch die Überlegung, dass Deutschland die Bestimmungen des Friedensvertrags ohnehin nicht oder nicht hinreichend erfüllen würde, was die alliierte Präsenz am Rhein auf unabsehbare Zeit verlängert hätte. Man mag debattieren, ob die entsprechende Rechtfertigung, wie sie Clemenceau am 25. April 1919 auf einer Sitzung des französischen Ministerrats vortrug, eine 52 Vgl. Prott: Politics (wie Anm. 46), S. 54–82; Peter Jackson: Beyond the Balance of Power. France and the Politics of National Security in the Era of the First World War. Cambridge 2013, S. 277–283. 53 Vgl. ebd., S.  22, S. 28, S. 166 f., S. 227 f.; Jean-Baptiste Duroselle: Clemenceau. Paris 1988, S. 721–728, S. 756 f.; George Bernard Noble: Policies and Opinions at Paris, 1919. Wilsonian ­Diplomacy, the Versailles Peace, and French Public Opinion. New York 1935, S. 251–262. 54 Vgl. William Edward Hall: A Treatise on International Law. Oxford/London/New York 71917, S. 357.

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stringente außenpolitische Programmatik widerspiegelte oder vornehmlich an die innenpolitischen Kontrahenten adressiert war.55 Unbestreitbar dürfte jedenfalls sein, dass eine Lösung im Einklang mit der alliierten Rhetorik der Rechts- und Vertragstreue eine längerfristige Perspektive eröffnete. Anstatt Großbritannien und die USA durch eine gewaltsame Annexion der linken Rheinseite zu verprellen und den Anspruch einer moralischen und rechtlichen Überlegenheit Frankreichs zu verspielen, ließ sich das Kriegsbündnis auf diese Weise zunächst erhalten und die Strapazen eines machtpolitischen Alleingangs vermeiden. Kurzum: Für das linke Rheinufer wurde eine Lösung angestrebt, die sich nicht in einem offenen Gegensatz zum normativen Selbstanspruch der Sieger setzte, sondern sich diesen für die eigenen Interessen zunutze machen suchte. Dass dieses Kalkül nicht aufging, ist unübersehbar: Einerseits trat der amerikanisch-französische Garantievertrag nach der Ablehnung des Versailler Friedens durch den US-Senat nicht in Kraft, sodass auch das britisch-französische Abkommen hinfällig wurde.56 Andererseits fiel der Anspruch einer rechtlichen und moralischen Überlegenheit spätestens in dem Moment in sich zusammen, als Clemenceaus Nachfolger Raymond Poincaré mit der Ruhrbesetzung ab Januar 1923 auf klassische Instrumente der unilateralen Interessenverfolgung, der gewaltsamen Erzwingung und der Selbsthilfe zurückgriff. Zwar versuchte die Pariser Regierung ihre Intervention mit Hinweis auf die schleppende Erfüllung des Versailler Vertrags zu begründen, weshalb man nun zu einer Politik der „produktiven Pfänder“ habe greifen müssen.57 Doch nicht allein in Deutschland, sondern ebenso in Großbritannien wie in den USA wurde diese Argumentation zurückgewiesen. David Hunter Miller, der sich vor und während der Friedenskonferenz einen Namen als persönlicher Rechtsberater Wilsons gemacht hatte, kritisierte das französische Vorgehen an Rhein und Ruhr mit deutlichen Worten. Es könne sich weder wörtlich noch sachlich auf die Bestimmungen des Friedensvertrags berufen, so Miller, und schon gar nicht sei es mit den Prinzipien des einstigen amerikanischen Präsidenten zu vereinbaren, der eine einseitige Interessendurchsetzung stets abgelehnt habe.58 In solchen Momenten zeigte sich, dass die seit dem Weltkrieg genährten Erwartungen einer internationalen Rechts- und Vertragstreue ebenso auf die Siegermächte zurückfallen konnten. Mochte die Selbstpräsentation als Hüter des internationalen Rechts zumeist mit politisch-instrumenteller Zielsetzung erfolgt sein, so verknüpften sich damit normative Bindungen, über die man sich nicht mehr ohne Weiteres hinwegsetzen konnte. Das französische Vorgehen blieb überdies kein Einzelfall. Auch bei anderen Gelegenheiten sahen sich gerade die alliierten Hauptmächte mit dem Vorwurf konfrontiert, ihren im Weltkrieg und Friedens55 Vgl.

Jackson: Balance (wie Anm. 52), S. 299–302; Jacques Bariéty: Les relations franco-allemandes après la première guerre mondiale. Paris 1977, S. 62. 56  Vgl. Antony Lentin: Lloyd George and the Lost Peace. From Versailles to Hitler, 1919–1940. Basingstoke 2002, S. 57 f. 57  Vgl. Stanislas Jeannesson: Poincaré, la France et la Ruhr, 1922–1924. Histoire d’une occupation. Straßburg 1998. 58  Vgl. David Hunter Miller: The Occupation of the Ruhr. In: YLJ 34 (1924) 1, S. 46–59.

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schluss heraufbeschworenen normativen Anspruch selbst zu verfehlen. Nur am Rande sei hier auf Italien und Japan hingewiesen, deren außenpolitische Ambitionen in den 1930er-Jahren für Empörung sorgten. Das japanische Ausgreifen in die Mandschurei 1931/32 und die italienische Annexion von Abessinien 1935/36 ­versetzten dem Völkerbund vor allem deshalb so herbe Schläge, weil es sich um Aggressionen aus der Mitte des Völkerbundrats handelte, also ausgerechnet von Mitgliedstaaten jenes Organs, in welchem, glaubte man dem Anspruch der Pariser Satzung, die Schutzmächte der internationalen Ordnung und die Hüter der internationalen Verträge versammelt sein müssten.

Recht als Waffe der Schwachen? Dass sich die Alliierten auf komplexe Weise an das Völkerrecht gebunden hatten, war in den Reihen der Verlierermächte schon vor dem Waffenstillstand vom ­November 1918 genau registriert worden. Nachdem die deutsche Politik während des Weltkriegs zunächst eine zwischen Beschwichtigung, Indifferenz und Verachtung schwankende Haltung gegenüber völkerrechtlichen Fragen eingenommen hatte, erfolgte ab Ende 1916 ein schrittweises Umdenken. Besonders in zivilen Regierungskreisen hatte der hohe Stellenwert, den das Völkerrecht in der alliierten Kriegspropaganda einnahm, genaue Beachtung gefunden. Ein erster, noch ­verhaltener Vorstoß erfolgte mit der Gründung der „Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht“ im Januar 1917, welche – von behutsamen Anregungen und Sub­ ventionen des Auswärtigen Amtes begleitet – die „dornenreichen Wege“59 in die Nachkriegszeit ebnen sollte. Tatsächlich griff die deutsche Regierung umso mehr auf den hier versammelten Sachverstand zurück, je deutlicher sich die Niederlage abzuzeichnen begann. In diesem Umfeld entstand beispielsweise der offizielle deutsche Entwurf für einen Völkerbund, welcher der Gegenseite bei Friedensverhandlungen vorgelegt werden sollte.60 Auf dieser Linie bewegte sich auch der bald nach Waffenstillstand erhobene Anspruch auf einen „Rechtsfrieden“, den die junge Republik gegenüber den Sieger­mächten geltend machen wollte.61 Zwar räumte Außenminister Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau in den internen Debatten offen ein, dass bei den bevorstehenden Friedensverhandlungen kaum mit einem „Wilson-Frieden“ oder auch nur mit mündlichen Gesprächen zu rechnen sei.62 Doch fast keine Wortmeldung von 59 Karl Strupp: Eine deutsche Gesellschaft für Völkerrecht. In: DJZ 22 (1917), Sp. 492  f., hier: Sp. 493. 60  Vgl. Ursula Fortuna: Der Völkerbundsgedanke in Deutschland während des Ersten Weltkrieges. Zürich 1974, S. 192–202. 61  So etwa Ulrich von Brockdorff-Rantzau: Programmatische Erklärung nach der Ernennung zum Staatssekretär im Auswärtigen Amt, 24. 12. 1918. In: ders.: Dokumente. Charlottenburg 1920, S. 13. 62  [Ulrich von Brockdorff-Rantzau:] Anlage zum Protokoll der Kabinettssitzung vom 21. 3. 1919. In: ADAP. Bd. A 1. Göttingen 1982, S. 322–329. Vgl. auch Udo Wengst: Graf Brockdorff-Rantzau und die außenpolitischen Anfänge der Weimarer Republik. Bern/Frankfurt a. M./New York 21986, S. 31  f.

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deutscher Seite versäumte es, sich in der Öffentlichkeit mit großem Gestus auf e­ inen Frieden des Rechts und der Gerechtigkeit zu berufen, wie er angeblich in den Aussagen und Zusicherungen der Gegenseite – namentlich im deutsch-amerikanischen Notenwechsel von Herbst 1918 – angelegt sei und der es allen Kriegsparteien erlauben würde, den Konflikt gesichtswahrend beizulegen. Sicherlich standen hinter solchen Äußerungen neben taktischen Erwägungen auch inhalt­ liche Überzeugungen. Der Glaube an die pazifizierende Kraft des Rechts schloss nicht aus, dass man den Bruch mit der Politik des Kaiserreichs möglichst deutlich herausstreichen wollte. Allerdings besaßen solche Überlegungen stets eine funktionale Seite und wurden besonders gerne dort angestellt, wo man die Siegermächte von der demokratischen Wandlung Deutschlands überzeugen wollte.63 In jedem Fall bestärkten sie mit autosuggestiver Dynamik das Selbstbild als einer ungerecht behandelten, ungebührlich diffamierten, teils auch übertölpelten Nation, woraus rasch ein hochsensibles Rechtsbewusstsein mit Zügen einer geradezu kohlhaas­ schen Empörungsbereitschaft erwuchs. Dass die deutsche Delegation in Versailles ganz auf eine legalistische Verhandlungsstrategie setzte, zeigte sich bei der offiziellen Übergabe der Vertragsbedingungen am 7. Mai 1919 jedenfalls in unverstellter Deutlichkeit. Während Georges Clemenceaus Ansprache weit weniger triumphalistisch ausfiel, als dies in den meisten Darstellungen behauptet wird – seine Ausführungen waren vielmehr von verletzender Förmlichkeit und beschränkten sich größtenteils auf Verfahrenshinweise –, nutzte Brockdorff-Rantzau die Gelegenheit für einen rhetorischen Generalangriff. Unter den vorbereiteten Stellungnahmen wählte er die ausführlichste und schärfste Erwiderungsrede. Eine alleinige deutsche Verantwortung für den Krieg lehnte er rundweg ab und machte stattdessen einen rechtlichen Anspruch auf jene angeblichen Zusagen der Lansing-Note vom November 1918 geltend, mit denen sich die alliierte Seite während der Waffenstillstandsverhandlungen zu ­einem Friedensschluss auf Grundlage der „Vierzehn Punkte“ Wilsons verpflichtet habe. „Sie selbst haben uns einen Bundesgenossen zugeführt“, so hielt Brockdorff-Rantzau den versammelten Delegierten entgegen, nämlich „das Recht, das uns durch den Vertrag über die Friedensgrundsätze gewährleistet ist“.64 Diese Argumentation baute die deutsche Delegation in den folgenden Wochen konsequent aus. Im Zentrum stand die Behauptung, die Alliierten hätten mit den am 7. Mai 1919 vorgelegten Friedensbedingungen die „vereinbarte Basis des Rechts­ friedens“65 verlassen. Die zentrale Begründung stammte von Walter Schücking, einem pazifistisch-linksliberalen Juristen, der, mutmaßlich durch Anregungen aus dem Auswärtigen Amt und dessen Umfeld, bald schon die Theorie eines pactum de 63 

Dies gilt beispielsweise für die Heidelberger „Arbeitsgemeinschaft für Politik des Rechts“, vgl. dazu Weinke: Gewalt (wie Anm. 42), S. 78–102. 64  Ulrich von Brockdorff-Rantzau: Rede bei der Überreichung des Vertragsentwurfes durch die Alliierten und Assoziierten Mächte, 7. 5. 1919. In: ders.: Dokumente (wie Anm. 61), S. 113–118, hier: S. 115. 65 Brockdorff-Rantzau an Clemenceau: Note vom 9. 5. 1919. In: Herbert Kraus/Gustav Rödiger (Hg.): Urkunden zum Friedensvertrage vom Versailles vom 28. Juni 1919. Bd. 1. Berlin 1920, S. 208 f.

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contrahendo in die Debatte einbrachte. Demnach sei mit den Zusagen der Waffen­ stillstandsvereinbarung ein bindender Vorvertrag geschlossen worden, mit dem die alliierten Nationen einen Friedensschluss nach den Grundsätzen der „Vierzehn Punkte“ garantiert hätten. „Deutschland hat ein Recht auf diese Friedens­grund­ lage“, so lautete darum die maßgebliche Formulierung in den ­deutschen Gegen­ vorschlägen vom 29. Mai 1919, gefolgt von dem Nachsatz: „Wenn die Alliierten sie verlassen wollten, würden sie ein völkerrechtliches Abkommen brechen.“66 Bei Licht besehen stammte das Argument eines pactum de contrahendo zwar aus dem Zivilrecht und war im Völkerrecht der Zeit weitgehend unbekannt. Eine unvoreingenommene Beurteilung dürfte schon mit Blick auf den fehlenden Bindungswillen der alliierten Unterhändler skeptisch ausfallen, von Fragen nach ihrer zweifelhaften Verhandlungsvollmacht oder nach einer Ratifikation der Vereinbarung ganz abgesehen. Doch für die deutsche Delegation war es unwiderstehlich, die von alliierter Seite in den Kriegsjahren so effektvoll gebrauchte Rhetorik des Rechts- und Vertragsbruchs nun umzukehren und auf die Gegenseite anzu­ wenden. Die leisen Zweifel, welche die Hausjuristen des Auswärtigen Amtes um Walter Simons gegenüber dem belehrenden Ton hegten, mit der Schücking seine Argumentation vortrug, drangen kaum durch.67 Im Gegenteil: Bei jeder sich bietenden Gelegenheit wiederholten die deutschen Delegierten nunmehr die Behauptung gebrochener Zusagen und nicht gehaltener Versprechungen. Dieser Versuch, von den Alliierten eine wohlwollende Behandlung und günstige Friedensbedingungen als gleichsam vertraglich geschuldet einzuklagen, war nur bedingt erfolgreich. In der deutschen Öffentlichkeit waren die am 7. Mai 1919 vorgelegten Friedensbedingungen zwar auf große Empörung gestoßen, die sich in den folgenden Wochen noch steigerte, nachdem sich die Debatte ganz auf die Frage nach einer alleinigen Kriegsschuld Deutschlands verlagert hatte.68 Die Resonanz in den Gesellschaften der Kriegsgegner war jedoch gering, schon weil die deutschen Pressekampagnen durch eine fortbestehende Zensur nur gefiltert durchdrangen. Auch die alliierten Unterhändler in Paris reagierten zurückhaltend. Anstatt zu mündlichen Verhandlungen überzugehen, um, wie es Brockdorff-Rantzau formuliert hatte, die wechselseitigen „Missverständnisse“69 auszuräumen, sahen sie sich eher in ihrer Auffassung über die Unbeugsamkeit und Unbelehrbarkeit der Kriegsverlierer bestärkt. Wohl konzedierte man nach Vorlage der deutschen Gegenvorschläge vom 29. Mai eine Reihe kleinerer Zugeständnisse, und das alliierte Ant66 Die

Gegenvorschläge der Deutschen Regierung zu den Friedensbedingungen. Vollständiger amtlicher Text. Berlin 1919, S. 5. Offenbar wurde das Argument des pactum de contrahendo erstmals in der Denkschrift „Der Friede, ein Rechtsproblem“ des Rechtsanwalts Ernst Frankenstein an die Delegation herangetragen, vgl. Brief Frankenstein an Simons, 26. 4. 1919, PA-AA, R 25808. 67  Vgl. Brief Ernst von Simson an Walter Simons, 22. 5. 1919; Brief Walter Simons an Ernst von Simson, 30. 5. 1919, PA-AA, R 25808. 68 Vgl. Michael Dreyer/Oliver Lembcke: Die deutsche Diskussion um die Kriegsschuldfrage 1918/19. Berlin 1993, S. 123–167. 69 Ulrich von Brockdorff-Rantzau: Mündliche Verhandlungen Vorbedingung einer Verständigung, Interview vom 2. 6. 1919. In: ders.: Dokumente (wie Anm. 61), S. 153–155, hier: S. 154.

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wortschreiben vom 16. Juni bestätigte überdies, dass sämtliche Beschlüsse auf Grundlage der „Vierzehn Punkte“ getroffen worden seien. Ein Verständnis dieser Grundsätze als bindende Rechtsnormen wurde freilich abgelehnt. Es handele sich bei dem Programm Wilsons als „agreed basis of peace“ allein um Prinzipien und von ebendiesen Prinzipien seien die vorgelegten Friedensbedingungen bestimmt: Sie würden „undo the wrongs of 1914, vindicate justice and international right, and reconstruct the political foundations of Europe on lines which would give liberty to all its peoples, and therefore the prospect of a lasting peace“.70 Die Woge der Empörung in Deutschland ließ sich mit solchen Stellungnahmen kaum glätten. Obwohl die alliierten Bedingungen schließlich akzeptiert wurden und die deutsche Delegation den Friedensvertrag am 28. Juni 1919 unterzeichnete, setzte sich das Trauma eines „Diktat-“ oder „Unrechtsfriedens“ auf Jahre hinaus in der deutschen Politik fest.71 Umso bemerkenswerter ist, wie sehr alle Bemühungen um eine Revision des Vertragswerks zunächst weiterhin von völkerrechtlichen Prämissen ausgingen. Juristische Argumente spielten in der Außenpolitik der Weimarer Republik eine herausgehobene Rolle.72 Dass etwa der Völkerrechtler Philipp Zorn im Jahr 1920 vorschlug, die Versailler Bestimmungen durch weitestmögliche Durchführung in ihrer Unerfüllbarkeit zu entlarven und den ­ Grundsatz des impossibilium nulla obligato gegen das Prinzip einer unbedingten Vertragstreue auszuspielen, lässt sich als Vorläufer der bald einsetzenden „Erfül­ lungs­politik“ verstehen.73 Auch die verstärkte Kooperation des Auswärtigen Amtes mit der akademischen Völkerrechtswissenschaft, die nicht nur in einer engen Zusammenarbeit mit der „Gesellschaft für Völkerrecht“ bestand, sondern beispielsweise auch in die Einrichtung des Berliner „Kaiser-Wilhelm-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht“ im Jahr 1925 mündete, kann hierzu gerechnet werden.74 Der „Kampf gegen Versailles“, so der übergreifende Konsens in der deutschen Politik, müsse zunächst als juristische Auseinandersetzung geführt werden.75 70 

Reply (wie Anm. 51), S. 937. nur Thomas Lorenz: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht!“. Der Versailler Vertrag in Diskurs und Zeitgeist der Weimarer Republik. Frankfurt a. M. 2008; Barth: Dolchstoßlegenden (wie Anm. 24); Heinemann: Niederlage (wie Anm. 24). 72  Vgl. Friedrich Kießling: Macht, Recht, Legitimität. Aufstieg und Verfall von Verrechtlichung und kollektiver Sicherheit in den internationalen Beziehungen der Zwischenkriegszeit. In: Ulrich Lappenküper/Reiner Marcowitz (Hg.): Macht und Recht. Völkerrecht in den internationalen Beziehungen. Paderborn 2010, S. 181–206. 73  Vgl. Philipp Zorn: Der Friedensvertrag und das Recht. In: DJZ 25 (1920), Sp. 665–669. Mit dem gleichen Argument bereits Christian Meurer: Die Grundlagen des Versailler Friedens und der Völkerbund. Würzburg 1920, S. 96. Zur „Erfüllungspolitik“ vgl. lediglich Peter Krüger: Die Außenpolitik der Republik von Weimar. Darmstadt 1985, S. 132–182. 74  Vgl. [Viktor Bruns:] Denkschrift über die Errichtung eines Instituts für internationales öffentliches Recht der Kaiser Wilhelm Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (Abschrift) [undat.; ca. 1925], PA-AA, R 54245. 75  Vgl. Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 3: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur, 1914–1945. München 1999, S. 88; Koskenniemi: Civilizer (wie Anm. 14), S. 236–265. 71  Vgl.

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Am Ende fruchteten diese Bemühungen wenig. Nicht nur blieb das deutsche Revisionsverlangen vergeblich, auch der Glaube an die Gestaltungskraft des Völker­rechts schwand in den 1920er-Jahren auf allen Seiten. Hellsichtige Zeitdiagnostiker begannen Überlegungen zu einem „Realismus“ in der Staatenpolitik an­ zu­stellen,76 wie er sich nicht nur angesichts zahlreicher internationaler Krisen ­aufdrängte, sondern bereits in dem schwierigen Friedensschluss mit dem Osma­ nischen Reich abzulesen gewesen war. Auf der Pariser Friedenskonferenz war dieses Abkommen im Mai 1919 zunächst zurückgestellt und erst nach der Abreise der amerikanischen Delegation im Dezember 1919 wieder ernsthaft angegangen worden. Der daraufhin entstandene Vertrag von Sèvres entsprach zwar äußerlich ganz dem Modell des Versailler Vertrags. Seine Inhalte waren allerdings weitaus drakonischer und liefen letztlich auf jene gewaltsame Unterwerfung hinaus, von der in Deutschland immer nur in selbstsuggestiver Weise gesprochen wurde. Das Osmanische Reich sollte auf einen westanatolischen Rumpfstaat reduziert werden, dem nicht nur sämtliche Herrschaftsansprüche im arabischen Raum sowie unter anderem in Ägypten, Armenien und Teilen Kurdistans entzogen worden wären, sondern der sich einer von außen diktierten Modernisierung unter westlichem Kuratel hätte unterwerfen müssen. Dazu sollte nicht allein eine dauerhafte Demilitarisierung, die erzwungene Verfolgung von Kriegsverbrechern oder Auflagen zum Minderheitenschutz zählen, was in ähnlicher, wenngleich deutlich schwächerer Form auch für die anderen Verliererstaaten galt. In unmittelbarer Fortführung der Debatten zur „Orientalischen Frage“ aus dem 19. Jahrhundert sahen die alliierten Pläne auch eine Kontrolle des Staatshaushalts vor sowie den Aufbau eines gänzlich neuen Justizsystems durch westliche Experten, mit dem die – in den Augen der Siegermächte antiquiert erscheinende – Konsulargerichtsbarkeit abgelöst werden sollte.77 Es waren diese einschneidenden Bestimmungen, die vor dem Hintergrund einer jahrzehntelangen Bevormundung des Osmanischen Reichs durch die europäischen Mächte nun einen erbitterten Widerstand hervorriefen. Begünstigt durch die (erste) alliierte Besetzung Konstantinopels im November 1918 und die ­griechische Intervention in Smyrna im Mai 1919 sowie angesichts einer durch­ setzungsschwachen Sultansregierung, formierte sich unter der Führung des abtrünnigen Generals Mustafa Kemal (später bekannt als „Atatürk“) eine türkische Nationalbewegung, die sich weder dem alten Regime noch gar den alliierten Kriegssiegern verpflichtet fühlte. In der Folge konnten die Siegermächte im August 1920 zwar die amtierende Regierung in Konstantinopel zur Unterzeichnung des Friedensabkommens von Sèvres zwingen, doch eine Ratifikation ließ sich

76 

Eine frühe Auseinandersetzung bei Edward H. Carr: The Twenty Years’ Crisis, 1919–1939. An Introduction to the Study of International Relations. London 1939. 77  Als Überblick vgl. Roland Banken: Die Verträge von Sèvres 1920 und Lausanne 1923. Eine völkerrechtliche Untersuchung zur Beendigung des Ersten Weltkrieges und zur Auflösung der sogenannten „Orientalischen Frage“ durch die Friedensverträge zwischen den alliierten Mächten und der Türkei. Berlin 2014, S. 196–373.

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nicht mehr durchsetzen. Im Schatten des nun voll entbrannten griechisch-türkischen Kriegs stiegen die Kemalisten zur dominierenden politischen Kraft auf, ­wohingegen die Alliierten sich kaum auf eine gemeinsame außenpolitische Linie verständigen konnten und vor jeder größeren militärischen Intervention zurückschreckten. Auf der Konferenz von Lausanne 1922/23 wurden darum die neue Regierung der Türkei akzeptiert und erhebliche Teile des Friedensvertrags von Sèvres in einem neuen Abkommen, dem Friedensvertrag von Lausanne, revidiert.78 In dieser gewaltsamen Zurückweisung des Pariser Friedensschlusses ließ sich durchaus ein Präzedenzfall erkennen. Erschrocken merkte die „New York Times“ im September 1922 an, dass „for the sake of the peace of Europe it is to be hoped that the German Nationalists will not attempt to follow the example of the Turkish Nationalists“.79 Eine solche Gefahr war zwar 1922 nicht konkret gegeben, doch der politische Triumph der Kemalisten bedeutete eine unmissverständliche Absage an die Pariser Ordnung. Auf ähnliche Weise schlugen bald auch Italien, Japan und die Sowjetunion den Pfad einer einseitigen und gewaltsamen Interessenverfolgung ein, gefolgt ab Mitte der 1930er-Jahre vom überaus aggressiven Revisionismus der NS-Diktatur. Entsprechende ideologische Rechtfertigungen gab es viele. Gerade die „jungen Völker“, so hatte etwa Arthur Moeller van den Bruck schon 1919 postuliert, müssten ihr vitales Lebensrecht gegen den erstarrten Formalismus und Rechtspositivismus der „alten Völker“ durchsetzen.80 Auch andere Stimmen verwarfen den Pariser Friedensschluss als Versuch der westlichen Nationen, die eigene Machtstellung mit einem System internationaler Verträge und Rechtspflichten zu verschleiern und zu verewigen.81 In der Tat sollten es im 20. Jahrhundert vor allem die kommunistischen, autoritären und faschistischen Diktaturen sein, welche das Völkerrecht als Ausdruck einer „westlichen Welt­ ideologie“ aggressiv infrage stellten.

Zusammenfassung Nicht allein für die Geschichte des Völkerrechts, für seine Weiterentwicklung und Bekräftigung, stellte der Pariser Friedensschluss von 1919/20 eine wesentliche Etappe dar. Kehrt man diese übliche Perspektive um, so erkennt man die politische Kraft und Geschichtsmächtigkeit, welche völkerrechtliche Argumente und normative Erwartungen in der schwierigen Friedenssuche nach dem Ersten Weltkrieg besaßen. Vor allem vier Aspekte können an dieser Stelle herausgehoben wer-

78 

Vgl. ebd.; Yanis Yanoulopoulos: The Conference of Lausanne 1922/23. London 1974. Edwin L. James: Allies Promise East Thrace to Turks. In: NYT, 24. 6. 1922. 80  Vgl. Arthur Moeller van den Bruck: Das Recht der jungen Völker. München 1919. 81  Auf dieser Annahme sind nicht zuletzt zahlreiche Schriften Carl Schmitts aufgebaut, vgl. Carl Schmitt: Frieden oder Pazifismus? Arbeiten zum Völkerrecht und zur internationalen Politik 1924–1978. Hg. v. Günter Maschke. Berlin 2005. 79 

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den: Erstens avancierte der Krieg zu einem ideologischen Konflikt um das Völkerrecht, indem die Alliierten die deutschen Rechtsbrüche markant herausstellten und sich als Schutzmächte der internationalen Ordnung profilierten. Vor dem Hintergrund europäischer Diskurse über Rechtsbewusstsein, Vertragstreue und Zivilisiertheit seit dem 19. Jahrhundert war das naheliegend bis unvermeidbar, wenngleich auf unabsehbare Weise folgenreich. Zweitens: Obwohl die rhetorische Unversöhnlichkeit und ideologische Aufladung des Kriegs einen Friedensschluss nach dem Muster der europäischen Staatentradition schwer vorstellbar machte, war ein förmliches Abkommen unverzichtbar. Nur durch eine gemeinsame Vereinbarung aller Parteien ließ sich der Ausgang des Konflikts nach alliierter Auffassung mit hinreichender Bestimmtheit feststellen. Eine Annäherung oder inhaltliche Konzessionen waren mit einem in diesem Sinne verstandenen Vertragsfrieden jedoch nicht notwendig verbunden. Dem entsprach drittens, dass alle Forderungen der Siegermächte nur in der Sprache des Rechts ausgedrückt werden konnten. Eine offensichtliche Machtpolitik oder die Verfolgung nationaler Eigeninteressen ließ sich nur schwer mit einem Frieden, der sich ostentativ auf die Wiederherstellung und Etablierung von Recht und Gerechtigkeit in der Staatenwelt berief, in Übereinstimmung bringen. Das bedeutet keineswegs, dass die Siegermächte nicht versucht hätten, ihre jeweiligen Absichten im Vertragstext unterzubringen. Sie konnten diese jedoch selten unverstellt artikulieren, sondern mussten ganz auf rechtliche Begründungen und juristische Klauseln setzen. Damit verloren die alliierten Vertreter einen Teil ihrer politischen Gestaltungsfreiheit und sahen sich an die normative Eigenlogik des Rechts gebunden. Viertens wurde diese intrikate Selbstbindung der alliierten Mächte seitens der Verlierer rasch erkannt. Dieser Umstand beförderte die stark legalistisch überformte Argumentation der deutschen Delegation, welche allerdings wenig geeignet war, die Siegermächte zu einem großzügigen und nachsichtigen Friedensschluss zu motivieren. In allen Lagern verhärteten sich die Positionen bis hin zu einer doktrinären Rechthaberei; zugleich blieb die Weimarer Außenpolitik auch nach Abschluss des Versailler Vertrags weiterhin auf das Recht als Waffe des Schwachen angewiesen, um eine Revision auf dem Verhandlungsweg und unter Rückgriff auf juristische Argumente zu erreichen. Dass dieser Weg nicht alternativlos und die völkerrechtlichen Prämissen des Friedensschlusses wenig belastbar waren, macht der Seitenblick auf das türkische Aufbegehren gegen den Vertrag von Sèvres deutlich. Überhaupt traten in den 1920er-Jahren die innere Schwäche und die politischen Defizite des Pariser Vertragsregimes immer deutlicher zutage. Es galt bald als ausgemacht, dass der Positivismus des Friedens auf tönernen Füßen ruhte, wofür man unter anderem die mangelnde Durchsetzungskraft Frankreichs und Großbritanniens oder den Rückzug der USA verantwortlich machte. Zahlreiche Staaten verfochten ihre revisionistischen und expansionistischen Absichten jedenfalls in bewusster Verachtung der ambitionierten Regelwerke von Paris, weshalb am Ende der vielleicht nur auf den ersten Blick paradox anmutende Befund steht, dass es ausgerechnet ein juris-

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tisch weitreichender und normativ überdeterminierter Friedensschluss war, der das Vertrauen in das internationale Recht schwer erschütterte.

Abstract This chapter takes a closer look at how ideas of international law, legality, or ­justice influenced and informed the Paris Peace Settlement of 1919/20. Allied wartime propaganda about defending international society had created normative expectations that proved to be impossible to ignore during the negotiations of Paris. This chapter assesses how delegates both from the victorious powers as well as from the defeated nations understood international law, how they employed legal arguments to further their goals, and why this approach to treaty-making created ambivalent results more often than not. Going beyond conventional narratives about the many failures and few achievements of the peacemakers, this chapter offers a more nuanced picture of the peace settlement and argues that, in the end, more law did not mean a better peace.

Patrick  O. Cohrs Keine Pax Atlantica Das Ringen um eine atlantische Friedens- und Sicherheitsordnung – ein Schlüsselproblem der Neuordnungsprozesse von 1919 Nach der zutiefst verunsichernden Eskalation des Ersten Weltkriegs zum bis dahin verlustreichsten und destruktivsten Konflikt der Geschichte kam dem Pro­ blem der Sicherung des Friedens eine zentrale und qualitativ neue Bedeutung zu. Es wurde – wie den Hauptakteuren der Pariser Friedenskonferenz durchaus bewusst war – zu einem, wenn nicht dem Schlüsselproblem der Neuordnungsprozesse von 1919. Dieser Befund lässt sich gut hundert Jahre nach dem am Ende nahezu „totalen Krieg“, der zur grundstürzenden Katastrophe des die Ordnung der Welt transformierenden „langen“ 20. Jahrhunderts (1860–2022) werden sollte, nachdrücklich bekräftigen. In der Neuinterpretation, die dem folgenden Beitrag zugrunde liegt, brach dieses äußerst konfliktreiche, aber auch bemerkenswerte Pazifizierungsfortschritte zeitigende Jahrhundert bereits in den 1860er-Jahren an – in einer historischen Schwellenzeit, in der sich im Wechselspiel zwischen rasanten nationalen Entwicklungen, den neuartigen Dynamiken der industriellen Revolution und einem bald eskalierenden Wettbewerb global ausgreifender Imperialismen jene modernen Staaten herausbildeten, die sich am Ende im Ersten Weltkrieg gegenüberstehen sollten. Von entscheidender Bedeutung ist, dass das Gravitationszentrum dieses Transformationsprozesses, der für die gesamte Welt immense Folgen haben sollte, eindeutig in der von nun an für die Entwicklung der globalen Politik maßgeblichen nordatlantischen Sphäre lag.1 Somit war es 1919 dann auch keineswegs eine Verirrung des Weltgeistes, dass sich vor allem die wesentlichen europäischen Entscheidungsträger und zum ersten Mal ein – charismatischer – Präsident der Vereinigten Staaten der Herausforderung stellen mussten, eine wirklich diesen Namen verdienende Friedensordnung für das „lange“ 20. Jahrhundert zu begründen. Und aus der historischen Distanz wird sogar noch deutlicher, dass die entscheidende Frage im Rahmen dieser Prozesse war, ob und wie nach den Zerstörungen des Kriegs und dem Zusammenbruch des Vorkriegssystems – der alten, kompetitiven Un-Gleichgewichtsordnung 1 

Zum Konzept des „langen“ 20. Jahrhunderts in der modernen internationalen und globalen Geschichte vgl. Patrick O. Cohrs: The New Atlantic Order. The Transformation of International Politics, 1860–1933. Cambridge 2022. https://doi.org/10.1515/9783110653359-010

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der Ära des Hochimperialismus – ein neues und wirkungsvolleres System inter­ nationaler Sicherheit geschaffen werden konnte – für Europa und für eine immer interdependentere Welt. Zwingend notwendig, zugleich aber schwierig zu ­etablieren, waren neue, effektivere Mechanismen, Regeln und Prinzipien, die es ­ermöglichten, mit den vielschichtigen sicherheitspolitischen Herausforderungen zurechtzukommen, die der Krieg in und über Europa hinaus hinterlassen hatte – und die vor allem eines verhindern sollten: die Wiederholung einer Katastrophe wie jener von 1914, oder genereller den Ausbruch eines erneuten Kriegs zwischen hochgerüsteten industriellen Mächten. Der folgende Beitrag sucht neue Perspektiven darauf zu eröffnen, weshalb es 1919 letzten Endes nicht oder nur in ersten Ansätzen möglich war, diese essen­ zielle Herausforderung zu bewältigen. Wie bereits angerissen war die eigentliche Crux nach dem Großen Krieg, dass es zum ersten Mal in der Geschichte der inter­nationalen Beziehungen erforderlich, gar unerlässlich war, einem tragfähigen transatlantischen Friedens- und Sicherheitssystem den Weg zu bahnen. Und dies konnte nur gelingen, wenn die politischen Verantwortungsträger der Vereinigten Staaten, die durch den Krieg nicht nur zur finanziellen und ökonomischen, ­sondern auch zur politischen Schlüsselmacht aufgestiegen waren, den Willen und ­politischen Spielraum hatten, hierbei eine zentrale Rolle zu spielen. Wie sich bald herausstellen sollte, waren sie und die amerikanische Öffentlichkeit in der Tat nur sehr unzulänglich auf die Übernahme solch neuer hegemonialer Verantwortung vorbereitet. Es ist argumentiert worden, dass Wilsons machtvolle universale Völkerbundaspirationen angemesseneren europäischen Ansätzen zur Friedenssicherung im Wege gestanden hätten.2 Doch das Grundproblem in dieser weltgeschichtlichen Umbruchphase bestand gerade darin, dass europäische Entscheidungsträger nicht länger in der Lage waren, eine europäische Friedensordnung zu gestalten und entscheidende Fragen ohne die nunmehr dominanten USA zu regeln. Um­ gekehrt war es für Wilson und andere amerikanische Entscheidungsträger eine mindestens ebenso große Herausforderung, mit den Komplexitäten europäischer Politik konfrontiert zu sein und zum ersten Mal als weltpolitische Vormacht agieren zu müssen. Angesichts dieser neuartigen Grundkonstellation bedürfen drei Fragen einer genaueren Betrachtung und Neubewertung: 1. Inwiefern konnte unter den Bedingungen von 1919 überhaupt ein transatlantisches System geschaffen werden, das den Frieden nach dem Großen Krieg nachhaltig sicherte? 2. Wie musste ein solches System beschaffen sein? 3. Weshalb gelang es auf der Pariser Friedenskonferenz letztlich nicht, stabilere Grundlagen für eine neue atlantische Ordnung zu legen?3

2 Peter

Krüger: Das unberechenbare Europa. Epochen des Integrationsprozesses vom späten 18. Jahrhundert bis zur Europäischen Union. Stuttgart 2006, S. 123–127. 3  Vgl. auch Cohrs: Order (wie Anm. 1).

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Friedenssicherung nach dem Ersten Weltkrieg: Wesentliche Interpretationskontexte und ein neuer Ansatz Für Generationen von Vertretern der lange dominanten und neuerlich wieder einflussreicheren „realistischen“ Schule, deren Interpretationsmuster sich unter dem Einfluss der Erfahrungen der 1930er-Jahre und des Zweiten Weltkriegs herausbildeten, stellte die Gefahr eines inhärent aggressiven deutschen Revisionismus den Kern des Sicherheitsproblems nach 1918 dar. Sie sind vor allem der Frage nach­ gegangen, weshalb es die Sieger des Weltkriegs versäumten, ein funktionierendes balance of power-System zu schaffen, das auf einer robusten Allianz zwischen den Siegermächten basierte und die einzig „realistische“ Möglichkeit eröffnet hätte, dieser Gefahr zu begegnen. Besonders kritisiert worden sind hier zum einen die angeblich „illusorische“ Völkerbundpolitik Wilsons, zum anderen eine fehlgeleitete britische Ausgleichspolitik, die französische Bestrebungen zur machtpolitischen Einhegung Deutschlands konterkariert habe.4 Von anderer, „liberaler“ Seite ist seit Keynes’ einflussreichem Buch „The Economic Consequences of the Peace“ hingegen betont worden, dass das eigentliche Problem der Nachkriegsordnung ein anderes gewesen sei – nämlich, dass es vor allem aufgrund der Vorbehalte der britischen und französischen Imperialmächte, aber auch infolge der Kompromisse, die Wilson einging, nicht gelungen sei, den Völkerbund als autoritative Zentralinstanz eines neuartigen, universalen Systems kollektiver Sicherheit zu etablieren.5 Auch neuere transnationale Forschungs­ ansätze haben sich stark auf die Rolle des Völkerbundes konzentriert. Zugleich hat sich das Interesse auf die Aktivitäten von Aktivisten und Interessengruppen verlagert, die bestrebt waren, durch die Bildung transnationaler Netzwerke und durch den Kampf für friedliche Streitschlichtung, Abrüstung, Kriegsächtung sowie politische Reformen den Frieden und die Sicherheit zwischen den verschiedenen Nationen und Gesellschaften auf eine neue Basis zu stellen.6 Allzu oft haben solche Ansätze indes entscheidende Probleme und Dimensionen internationaler Beziehungen aus dem Blick verloren. 4  Einen Überblick bietet William Keylor: The Twentieth-Century World and Beyond. An International History since 1900. Oxford 2011, S. 73–79. Für neuere Tendenzen vgl. Adam Tooze: The Deluge. The Great War and the Remarking of Global Order 1916–1931. London 2014, S. 255–270. 5  John M. Keynes: The Economic Consequences of the Peace. London 1919. Vgl. auch James Shotwell: At the Paris Peace Conference. New York 1937. 6 Susan Pedersen: Back to the League of Nations. In: AHR 112 (2007), S. 1091–1117; Glenda ­Sluga/Patricia Clavin (Hg.): Internationalisms. A Twentieth-Century History. Cambridge 2017; Emily Rosenberg (Hg.): Geschichte der Welt 1870–1945. Weltmärkte und Weltkriege. München 2012; aber auch die interessante Synthese in William Mulligan: The Great War for Peace. New Haven 2014. Im Übrigen konzentriert sich die jüngste Forschung weniger auf Grundfragen internationaler Politik und Sicherheit, sondern zum einen auf eine umfassendere Kriegsgeschichte, zum anderen auf die Geschichte der Gewalt in der Ära des Ersten Weltkriegs und im weiteren Kontext des 20. Jahrhunderts. Vgl. hierzu Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. München 2014; Jörg Baberowski: Räume der Gewalt. Frankfurt a. M. 2015; Robert Gerwarth: The Vanquished. Why the First World War Failed to End, 1917–1923. London 2016.

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Die folgende Analyse sucht einen anderen, im wesentlichen systemischen Interpretationsansatz zu untermauern, der relevante transnationale Prozesse berücksichtigt, aber im Kern zu einem umfassenderen und präziseren Verständnis von Grundfragen internationaler – und das heißt hier vor allem zwischenstaatlicher – Politik, Sicherheit und Ordnung im 20. Jahrhundert beitragen soll. Sie beleuchtet nicht nur übergeordnete Entwicklungen und Transformationsprozesse des internationalen Systems, sondern auch den Wandel der vorherrschenden Vorstellungen, Spielregeln und geopolitischen Rahmenbedingungen von Sicherheitspolitik. Zudem sucht sie die wachsende Interdependenz von internationalen, transnationalen und innerstaatlichen Entwicklungen zu erhellen, die gerade im zentralen Bereich der Sicherheit einen markanten Einfluss auf das sich wandelnde Spielfeld der internationalen Politik hatten. Wie gezeigt werden soll, waren die gravierendsten unmittelbaren und strukturellen Sicherheitsprobleme nach 1918 nicht durch die Konsolidierung eines balance of power-Systems der Siegermächte zu meistern, das einen Unsicherheit produ­ zierenden Antagonismus zwischen ihnen und einer ausgegrenzten deutschen ­Republik nur vertieft hätte. Jedoch bestand unter den gegebenen Bedingungen auch keine realistische Aussicht auf eine „transformative Lösung“ dieser Probleme durch ein ambitioniertes globales Regime kollektiver Sicherheit und einen mit weitreichender supranationaler Autorität ausgestatteten Völkerbund. Letztlich wollte keiner der Hauptakteure von Versailles einen solchen Völkerbund, auch Wilson nicht. Als entscheidend erwies sich vielmehr eine andere Frage: ob es möglich war, konzeptionelle und politische Grundlagen für ein spezifischeres, auf neuen Regeln basierendes System kollektiver Sicherheit und friedlicher Konfliktlösung zu legen, das an die Stelle der inhärent Unsicherheit fördernden und zudem unwiederbringlich zerstörten europäischen Vorkriegsordnung treten konnte. Genauer gesagt lautete die systemische Kernfrage, inwieweit im Rahmen des Völkerbundes – doch auch über diesen hinausweisend – der Nukleus eines neuartigen atlantischen Konzertsystems begründet werden konnte, das vor allem den Weg für eine fried­liche Integration der gerade erst gegründeten Weimarer Republik in eine neu gestaltete euro-atlantische Ordnung ebnen würde – und zugleich die verständlichen Sicherheitsbedürfnisse Frankreichs, Belgiens und der neu formierten Staaten Osteuropas so wirksam zu befriedigen vermochte, dass ein solcher Inte­ grationsprozess ermöglicht wurde. Im weiteren Zusammenhang konnte nur ein integratives Ordnungs- und Sicherheitssystem den Rahmen schaffen für eine Befriedung Europas auf dem steinigen, aber einzig realistischen Weg eines Interessenausgleichs und für alle relevanten Akteure innenpolitisch legitimierbaren Aushandlungs- und Verständigungsprozesses. Ein solcher Prozess musste nicht nur unter den Siegern erfolgen, sondern auch zwischen ihnen und den Besiegten des Weltkriegs angestrebt werden. Nur so konnte auf längere Sicht eine Sicherheitsarchitektur begründet und ausgestaltet werden, die nicht nur Westeuropa stabilisierte, sondern die auch die prekäre Sicher­heitslage der sich im Frühstadium der Staatsbildung befindenden osteuropäischen Staaten wirksamer verbesserte als jede machtpolitische „Lösung“. Zu

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analysieren ist somit, warum nur sehr begrenzte Fortschritte in Richtung einer solchen Neuordnung gemacht werden konnten. Dies kann auch ein neues Licht darauf werfen, welch prägende, aber auch ambivalente Bedeutung die Neuansätze und Frustrationen von 1919 im weiteren Kontext eines epochalen Transformations- und Lernprozesses hatten, der erst nach 1945 kulminierte: bei der Herausbildung einer dauerhafteren transatlantischen und Friedens- und Sicherheitsordnung – einer Pax Atlantica – im „langen“ 20. Jahrhundert. Die Prozesse von 1919 waren im Übrigen auch in einem allgemeineren Kontext und in globaler Perspektive äußerst signifikant.7 Zum ersten Mal wurde substanziell darum gerungen, ein „modernes“ internationales Sicherheitssystem zu begründen. Und es trafen unterschiedliche, für das 20. Jahrhundert formative Vor­ stellungen davon aufeinander, worauf ein solches System basieren sollte – von neu orientierten „realistischen“ Konzepten von Sicherheit durch effektivere Bündnissysteme und Abschreckungsstrategien bis hin zu progressiv-liberalen Ideen von einer völkerrechtlich sanktionierten „kollektiven Sicherheit“ – um nur die wichtigsten zu nennen.8 Hervorzuheben ist, dass sich diese Auseinandersetzung im Wesent­lichen in einem nunmehr für alle weltpolitischen Entwicklungen zentralen Bezugsrahmen abspielte: dem Geflecht und Spannungsfeld der Beziehungen zwischen den USA und Europa. Doch das, was sich hier herausbildete, hatte zugleich auch eine entscheidende globale Bedeutung. Potenziell konnte es den Nukleus einer globalen Sicherheitsordnung bilden; potenziell konnten Grundregeln, Normen und Prämissen, die hier entwickelt und verbindlich gemacht wurden, auch weltweit prägend wirken. Jedoch konnte sich – wie die Pariser Verhandlungen zeigten – auch eine andere Grundtendenz manifestieren, nämlich die, dass ungeachtet aller universalistischen Rhetorik im Kern Regeln und Prinzipien ausgehandelt wurden, die im Grunde für eine distinktive transatlantische Ordnung und nicht für eine vielbeschworene „neue Welt-Ordnung“ galten. In Wahrheit hoben sich die neuen „egalitären“ euro-atlantischen Regeln und Prinzipien von 1919 merklich von den weiterhin essentiell hierarchischen, von den westlichen Vormächten zu ihrem Vorteil bestimmten Grundregeln ab, die in ihrem Verständnis in der übrigen Welt v­ orherrschen sollten. Nicht nur die Möglichkeiten, sondern vor allem auch die Grenzen einer „Globalisierung“ der auf der Pariser Friedenskonferenz debattierten neuen euro-atlantischen Normen kristallisierten sich insbesondere in den Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung des Völkerbundes heraus. 7 

Zum globalen Kontext und den globalen Auswirkungen der Pariser Friedenskonferenz vgl. die neue wichtige Studie von Jörn Leonhard: Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt. München 2018. 8  Natürlich darf nicht übersehen werden, dass während des Kriegs neben traditionelleren machtpolitischen Sicherheitsmaximen und extremeren autoritär-imperialistischen Ansätzen auch noch andere radikalere Alternativen zum Vorschein kamen. Zu verweisen ist hier vor allem auf die von Lenin und Trotzki propagierte „bolschewistische Lösung“ der Sicherheitsfrage: die Zerstörung der „alten Ordnung“ und revolutionäre Neubegründung einer Weltordnung solidarischer Sowjet­republiken. Diese Konzepte beeinflussten die Neuordnungsprozesse von 1919 jedoch nicht entscheidend.

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Die Hauptakteure und die präzedenzlosen Herausforderungen von 1919 Eine systemische Analyse kann veranschaulichen, dass unter den vorherrschenden Bedingungen ein transatlantisches Friedenssystem – ungeachtet der neuen Einflussmöglichkeiten von Akteuren, die nicht den verhandelnden Regierungen ­angehörten – im Wesentlichen durch einen intergouvernementalen Prozess und als zwischenstaatliche Ordnung konstituiert werden musste. Im günstigsten Fall konnte ein solcher Prozess längerfristig tatsächlich Bedingungen für einen tiefgreifenden Strukturwandel des internationalen Systems schaffen. Er konnte internationale Normen, Praktiken und Institutionen wie den Völkerbund stärken, ­deren Konsolidierung und Bewährung notwendigerweise länger dauern musste. Und er war unabdingbar für den Erfolg weitergehender Formen transnationaler Kooperation und inner- wie zwischengesellschaftlicher Reform- und Verstän­ digungsprozesse, ohne die eine dauerhaftere Sicherung des Friedens nach 1918 undenkbar war. Wie in der neueren Forschung zu Recht betont worden ist, führten die Um­ brüche des Kriegs dazu, dass eine nie gekannte Vielzahl von Regierungsvertretern sowie von nichtstaatlichen und inoffiziellen Akteuren bestrebt war, Einfluss auf den späteren Friedensschluss sowie die Neuordnung Europas und der Welt zu nehmen. Zu Letzteren zählten insbesondere führende Repräsentanten nationaler Unabhängigkeitsbewegungen sowie Aktivisten und Interessengruppen, die sich – wie die britische League of Nations Union oder die amerikanische League to Enforce Peace – auf beiden Seiten des Atlantiks für einen „Bund der Völker“ und eine fundamentale Reform der globalen Ordnung einsetzten.9 Trotz dieser an ­Bedeutung gewinnenden Einflüsse waren es jedoch unzweifelhaft die führenden Politiker der mächtigsten Staaten, der Siegermächte des Großen Kriegs, die, unter­ stützt von ihren engsten Beratern, den Prozess der sicherheitspolitischen Neuordnung maßgeblich bestimmten. Und so müssen vor allem die Ordnungs­visionen und Verhandlungsstrategien von Woodrow Wilson, David Lloyd George und Georges Clemenceau neu beleuchtet werden, die nicht von ungefähr zu den ­Protagonisten der Pariser Friedenskonferenz wurden. Denn ob und wie eine ­dauerhafte neue Ordnung konzipiert und gestaltet werden konnte, hing entscheidend von der rela­ tiven Vereinbarkeit der Sicherheitsperzeptionen sowie der ­sicherheitspolitischen Ansätze und Lernprozesse dieser Akteure ab – während Neuansätze deutscher Friedenspolitik die Prozesse von 1919 nur marginal beeinflussen konnten. Nicht minder ausschlaggebend war indes, welche internationalen und innenpolitischen Handlung- und Gestaltungsspielräume die Regierungschefs der Hauptsiegermächte während der komplexesten Friedensverhandlungen der neueren Geschichte hatten. Und bedeutsam war sodann, wie sie mit der neuerlich relevanten transnationalen Dynamik umgingen, die das politische und ideologische Ringen um die Parameter von Frieden und Sicherheit prägte – in und jenseits von Paris.

9 

Mulligan: War (wie Anm. 6), S. 180–222.

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Dies war ein Prozess, in dem sie selbst – allen voran Wilson – eine zentrale Rolle spielten und Deutungshoheit beanspruchten.

Die Folgen des Weltkriegs: Essenzielle und neuartige Sicherheitsprobleme und -erwartungen Um zu ermessen, wie steinig 1919 der Weg zu einer tragfähigen transatlantischen Sicherheitsordnung war, ist ein genaueres Verständnis der so zentralen wie vielschichtigen und in wichtigen Aspekten neuartigen Sicherheitsprobleme und -erwartungen, die der Krieg geschaffen oder verschärft hatte, unabdingbar. Wie oben angerissen, hatten viele der Herausforderungen, die nach 1918 in den Vordergrund rückten, zweifelsohne dezidiert globale Dimensionen und verwiesen auf ein neues Zeitalter regionaler und globaler Unsicherheit. Man denke etwa an die konflikt­ reiche „Neuordnung“ des Nahen und Mittleren Ostens nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs, den sich in Ostasien verschärfenden Konflikt zwischen Japans imperialen Ansprüchen und chinesischen Selbstbestimmungsund Souveränitätsforderungen oder die bereits virulente Kollision der Interessen der verbliebenen Imperialmächte und der Aspirationen antikolonialer nationalistischer Unabhängigkeitsbewegungen.10 Die drängendsten und weitreichendsten Sicherheitsfragen stellten sich jedoch dort, wo die Katastrophe ihren Ausgang genommen und die destruktivsten Folgen gezeitigt hatte – in Europa. Besonders prekär waren die Probleme, die in Mittel- und Osteuropa nach dem Kollaps der östlichen Imperien durch das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Großmacht­interessen und rivalisierende Ansprüche auf „nationale Selbstbestimmung“ entstanden waren – Probleme, die nach dem Waffenstillstand noch an Virulenz gewannen. Allgemeiner bargen die verschiedenen Formen von Nationalismus und die antagonistischen nationalistischen Ideologien, die sich im Verlauf des Kriegs auf allen Seiten weiter radikalisiert hatten, immenses und schwer einzudämmendes Unsicherheitspotenzial. Zudem gingen sie einher mit einem auf allen Seiten extremer gewordenen Militarismus und mit Tendenzen einer „Militarisierung“ der in den Krieg involvierten Gesellschaften, die nach 1918 eine „Abrüstung in den Köpfen“ dringlicher und zugleich schwieriger machten als je zuvor. Eine ganz andere, präzedenzlose Bedrohung ging sodann – zumindest aus der im Westen vorherrschenden Sicht – davon aus, dass es jetzt ein bolschewistisches Regime gab, dessen führende Köpfe – Lenin und Trotzki – die „alte“ zwischenwie innerstaatliche Ordnung kapitalistischer Prägung nicht nur durch ihre radikale Ideologie, sondern auch durch eine auf rücksichtslose Gewaltanwendung ­setzende Weltrevolution umzustürzen trachteten. Im Mittelpunkt der Sicherheitsproblematik von 1919 stand jedoch zweifelsohne die „deutsche Frage“ – oder 10  Vgl.

Erez Manela: The Wilsonian Moment. Self-Determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism. Oxford 2007; Adom Getachew: Worldmaking after Empire. The Rise and Fall of Self-Determination. Princeton 2019.

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­ enauer gesagt: Die Frage, wie Deutschlands alte und neue Nachbarstaaten am g wirkungsvollsten vor dem geschützt werden konnten, was als die Gefahr einer erneuten deutschen Aggression apostrophiert wurde. In der Rückschau scheint es angemessener, hier von der Bedrohung zu sprechen, die von möglichen Bestrebungen der unterlegenen Macht ausging, sowohl die – nur partiell eingestandene – Niederlage als auch die von den Siegermächten angestrebte Nachkriegsordnung gewaltsam zu revidieren. Bei genauerer Betrachtung war das deutsche Problem allerdings nur ein zentraler Aspekt der übergeordneten Sicherheitsproblematik, die sich nach dem Ende des Großen Kriegs stellte – der Frage, wie am wirksamsten der Eskalation eines neuerlichen allgemeinen Großmachtkonflikts vorgebeugt werden konnte. Um diese eng miteinander verknüpften Fragen – die deutsche Frage und die Sicherheitsfrage – kreisten auch die wesentlichen sicherheitspolitischen Diskussionen vor und während der Pariser Verhandlungen. Die Protagonisten auf der Pariser Friedenskonferenz standen hier vor einer systemischen – den Gesamtzusammenhang der strukturellen Neuordnung des internationalen Systems betreffenden – Herausforderung, deren Tragweite sie nur unzureichend erkannten. Im Kern warf dies die weit über die Behandlung der Besiegten hinausweisende Frage nach dem Umgang mit dem „Gesamterbe“ der Vorkriegsära auf. Genauer gesagt war vor allem eines unabdingbar: eine Auseinandersetzung mit den längerfristigen Folgen der Ära des Hochimperialismus, in der ein kompetitives UnGleichgewichtssystem innereuropäischer und global-imperialer Machtrivalitäten, antagonistischer Allianzen und dominierender „realpolitischer“ Spielregeln und Zwänge entstanden war, das sich zusehends zu einem immer weniger regulier­baren kompetitiven „Nullsummenspiel“ ausgewachsen hatte. Denn es war dieses System und dieses „Spiel“, das am Ende die Konstellation schuf, in der sich 1914 ein relativ „peripherer“ Konflikt zwischen der österreich-ungarischen Doppel­monarchie und Serbien zur Katastrophe eines Weltkriegs ausweiten konnte. 1919 richtete sich die Aufmerksamkeit daher zum einen darauf, effektivere Methoden zu finden, um zu vermeiden, dass lokale Krisen und Konflikte zu einem unkontrollierbaren Krieg eskalierten – zum anderen darauf, nicht nur potenzielle Aggres­soren wirkungsvoll abzuschrecken, sondern eine nachhaltige Kriegsprävention zu betreiben. Im Übrigen lag unter dem Eindruck eines beispiellos zerstörerischen Kriegs ganz allgemein ein neuer Hauptakzent auf der Sicherung und Wahrung des Friedens, dem als „höchstem Gut“ eine neue Wertigkeit zugesprochen wurde. Der Grundsatz, dass Friedenssicherung und Schutz der nationalen Sicherheit notfalls auch mit militärischen Mitteln erfolgen konnten, wurde zwar nicht aufgegeben, aber der Schwerpunkt lag mehr denn je darauf, diese Ziele auf politischem, rechtlichem, nicht-kriegerischem Wege zu erreichen. Allerdings wurden solche Vorstellungen – speziell in Frankreich und Deutschland keineswegs von allen maßgeblichen Akteuren geteilt. Zu berücksichtigen ist zudem, dass das ­beispiellose Ausmaß an Gewalt und die vielen Opfer, die der Krieg mit sich gebracht hatte, weitreichende politisch-psychologische Sicherheitsbedürfnisse und -erwartungen geweckt hatten. Solche Bedürfnisse und Erwartungen waren jedoch durchaus von

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unterschiedlicher Qualität und Intensität. Besonders ausgeprägt waren sie in den Staaten und Gesellschaften, die der Krieg aufgrund ihrer geopolitischen Lage am stärksten betroffen hatte. Wege zu finden, ihnen gerecht zu werden, sollte zu einer der grundlegenden Herausforderungen der Nachkriegspolitik werden.11 In engem Zusammenhang hiermit steht ein Kernproblem der Pariser Neuordnungsprozesse, das man als „asymmetrische Sicherheitskonstellation“ bezeichnen kann. Es war gekennzeichnet durch grundlegend divergierende Sicherheitslagen und Bedrohungsperzeptionen der wesentlichen Akteure. Die britischen und noch stärker die amerikanischen Entscheidungsträger repräsentierten allen anderen weit überlegene Seemächte, die sich in relativer oder sogar erheblicher Distanz zu Kontinentaleuropa befanden. Nicht zuletzt deshalb war nach Abschluss des Waffen­stillstands die unter ihnen vorherrschende Einschätzung, dass ihren Staaten und Gesellschaften auf längere Sicht keine ernsthafte Gefahr drohen würde, sofern sie die faktische Ausschaltung Deutschlands als maritime Weltmacht sicherstellten. Was hingegen die gesamte französische Nachkriegsplanung dominierte, war die Perzeption, dass Frankreich aufgrund seiner prekären geopolitischen Lage weiterhin einer existenziellen Bedrohung durch seinen nach wie vor strukturell – von seinem demografischen wie ökonomisch-strategischen Potenzial her – übermächtigen deutschen Nachbarn ausgesetzt war. All die genannten strukturellen Faktoren und Perzeptionen beeinflussten auch die sicherheitspolitischen Grund­ orientierungen der verschiedenen Akteure. Sie reichen aber nicht aus, um deren Ansätze und Entscheidungen zu erklären.

Die konkurrierenden Ordnungsvorstellungen und Sicherheitskonzepte der Sieger Die Protagonisten der Siegermächte von 1919 nahmen die drängendsten wie die grundsätzlichen Probleme der Friedenssicherung auf sehr unterschiedliche Weise wahr. Signifikant war, dass sie verschiedene Konsequenzen und Lehren aus der Katastrophe des Kriegs und aus dem, was sie als seine Ursprünge ansahen, gezogen hatten. Zudem darf nicht übersehen werden, dass sie sich nicht nur aufgrund der unilateralen Friedensagenda Wilsons vor Beginn der Friedensverhandlungen weder auf Eckpunkte einer gemeinsamen Sicherheitsordnung noch auf den Weg zu einer solchen verständigt hatten. Was auf der Pariser Friedenskonferenz aufeinandertraf, waren drei distinkte, teils komplementäre, aber in wesentlichen Punkten konkurrierende und unvereinbare Ordnungsvorstellungen, die jedoch allesamt im Kern transatlantisch ausgerichtet waren. Genauer gesagt hatten sich zwei relativ komplementäre Ordnungsentwürfe herausgebildet. Wilson und die Protagonisten der Lloyd George-Regierung zielten im Wesentlichen auf die Grundlegung eines im Rahmen des Völkerbundes zu er11  Vgl.

hierzu übergreifend Eckart Conze: Geschichte der Sicherheit. Entwicklung – Themen – Perspektiven. Göttingen 2018.

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richtenden integrativen Systems kollektiver Sicherheit ab, das Regeln und Normen politischer Konzertierung und Streitschlichtung akzentuierte und in naher Zukunft ein sich demokratisierendes Deutschland einbeziehen sollte. Ihnen stand eine von Clemenceau und seinen engsten Beratern entwickelte, sehr ambitionierte Neuordnungsagenda gegenüber, deren übergeordnetes Ziel die Etablierung eines exklusiven transatlantischen Bündnissystems der Sieger war, das einer vollgültigen Allianz so nahe wie möglich kommen und vor allem der machtpolitischen Ein­ hegung Deutschlands dienen sollte. All diese Entwürfe und Ansätze müssen neu interpretiert werden.

„To make the world safe for democracy“? Wilsons auf die USA und Europa zentrierte Vorstellungen einer progressiven Friedens- und Sicherheitsordnung Einer Neubewertung bedarf vor allem Wilsons ambitioniertes Programm zur Schaffung einer neuen internationalen Ordnung, das seit 1916 Gestalt angenommen, doch erst kurz vor Beginn der Friedenskonferenz an Substanz gewonnen hatte. Nach seiner Wiederwahl im Herbst 1916 hatte Wilson als neuer mächtiger Akteur die weltpolitische Bühne betreten. Mit dem Anspruch, unter amerikanischer Führung eine progressive Friedensordnung „kollektiver Sicherheit“ und fortschreitender Demokratisierung zu begründen, die das Ende aller Kriege zeitigen sollte, hatte er nicht nur in den Vereinigten Staaten und in Europa, sondern weltweit enorme, nicht zu erfüllende Erwartungen geweckt. Zugleich erforderte das, was Wilson anvisierte, auch eine fundamentale Neudefinition der internationalen Rolle der USA – eine Neuorientierung, für die er am Ende des Großen Kriegs noch lange nicht die zwingend notwendige innenpolitische Unterstützung mobilisiert hatte. Ein idealisiertes ideologisches Leitbild entwerfend, stilisierte Wilson die Ver­ einigten Staaten, die bis dahin ein weitgehend isolationistisches Verhältnis zu ­Europa und eine unilateral-imperialistische Politik gegenüber Lateinamerika und Ostasien präferiert hatten, zur exzeptionalistisch-exemplarischen Vormacht einer neuen Weltordnung. Seiner Auffassung nach waren die USA nicht nur durch ihre ökonomische Stärke, sondern vor allem durch ihre politisch-zivilisatorische Fortschrittlichkeit zu einer Führungsrolle bei der Sicherung des Weltfriedens berufen. Der amerikanische Präsident hatte seine Vorstellungen 1916 und 1917 zunächst als Maximen einer neutralen „Frieden ohne Sieg“-Agenda präsentiert. Nach der kriegsentscheidenden Intervention der Vereinigten Staaten stellte Wilson schließlich sein Konzept, das er 1918 in den „Vierzehn Punkten“ und weiteren Grundsatzreden umrissen hatte, als Friedensprogramm vor und stieß dabei auf großen Widerhall. Obgleich er punktuell auf Empfehlungen seines wichtigsten Beraters, Colonel House, und des locker-improvisierten Planungszirkels der InquiryGruppe sowie auf britische „Anregungen“ zurückgriff, bestimmte Wilson den sicherheits­ politischen Kurs der USA im Wesentlichen selbst. Aber gerade im

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­ inblick auf den Völkerbund und die Kernfrage der Sicherung des zu schließenH den Friedens begann er erst sehr spät – nach dem Waffenstillstand –, substanzielle Pläne zu entwickeln.12 Wilsons ideologisch-politischer Friedensentwurf kann durchaus als Versuch interpretiert werden, Lehren aus der Katastrophe des Weltkriegs und den in seinen Augen maßgeblichen Gründen für dessen Ausbruch zu ziehen. Grundlegend war seine Überzeugung, dass eine wesentliche Voraussetzung für die künftige Sicherung des Friedens nicht nur die Ausschaltung des preußisch-deutschen Autoritarismus und Militarismus sei, sondern die Überwindung des gesamten – aus seiner Sicht inhärent kriegsträchtigen – europäischen Vorkriegssystems. Seine Kritik bezog sich hierbei im Wesentlichen auf das europäische balance of power-System antagonistischer Allianzen und „geheimer Diplomatie“, das sich seit den 1880erJahren herausgebildet hatte, und das er – wie im Übrigen auch die Wiener Ordnung von 1815 – nur sehr oberflächlich verstand. An die Stelle dieses Systems sollte eine neue Weltordnung treten. Was der amerikanische Präsident in universalistischer Rhetorik entwarf, hatte zweifellos globale Dimensionen und Implikationen. Im Kern jedoch war es eine auf die Beziehungen zwischen den USA und Europa fokussierte Agenda von Leitideen für einen strukturellen, aber nicht revolutionären, sondern evolutionären Wandel des internationalen Systems. Zugleich entwickelte Wilson eine liberal-progressive, aber eher amerikanistische als internationalistische Vision der Friedenssicherung. Er argumentierte, dass der Frieden nur dann nachhaltig gesichert werden könne, wenn es gelinge, einen tiefgreifenden transnationalen Reformprozess in die Wege zu leiten, der amerikanischen Regeln und Prinzipien folge und sich auf zwei essenziellen interdependenten Ebenen vollziehen müsse: auf der Ebene der internationalen, im Wesentlichen zwischenstaatlichen Politik und auf der Ebene der innerstaatlichen Politik, wobei Wilson hier vor allem Demokratisierungsprozesse anstrebte. In der internationalen Sphäre sollte eine neuartige Institution, die er zunächst als „Bund für den Frieden“ bezeichnete, die Unsicherheit begünstigende „Balance der Macht“ und die „organisierten Rivalitäten“ der Vorkriegszeit durch ein institutionalisiertes „stabiles Äquilibrium“, eine „Gemeinschaft der Macht“ und einen „gemeinsamen organisierten Frieden“ ablösen, dessen Kernelement ein Regime „kollektiver Sicherheit“ war.13 Der amerikanische Präsident wurde spätestens 1916 zum machtvollsten Vorkämpfer eines Völkerbundes. Hervorzuheben ist, dass er ursprünglich eine integrative, prinzipiell universelle Idee einer League of Nations verfocht, die auch alle Krieg führenden Staaten einschließen sollte. Bei 12 Wilsons

Aspirationen waren durch zahlreiche amerikanische und britische Aktivisten und pressure groups wie die Union of Democratic Control, die League to Enforce Peace und die Woman’s Peace Party beeinflusst worden, die sich insbesondere für einen Völkerbund einsetzten. Ihr Einfluss darf allerdings nicht überwertet werden. 13 An Address to the Senate, 22. 1. 1917. In Arthur Link u. a. (Hg.): PWW. Bd. 40. Princeton 1983, S. 536 f. Wilsons Völkerbundkonzeption war weder originell noch bahnbrechend. Sie folgte vielmehr, größtenteils uneingestanden, europäischen Konzeptionen, die seit der Epoche der Aufklärung entwickelt worden waren.

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näherer Betrachtung war das, was Wilson vorschwebte, zugleich höchst ambitioniert und begrenzt. Die Integrität und die politische Unabhängigkeit aller, auch der kleineren, Staaten sollten dadurch geschützt und potenzielle Aggressoren abgeschreckt werden, dass sich die Mitgliedstaaten des Völkerbundes dazu verpflichten sollten, jedem Mitglied im Falle einer Bedrohung Beistand zu leisten. Vor allem aber sollte die League dadurch Sicherheit schaffen, dass sie Instrumentarien zur Krisenvorbeugung und friedlichen Konfliktlösung bereitstellte und ihre Mitglieder – sowie tendenziell alle Staaten – auf in der Völkerbundsatzung fest­ geschriebene Normen und Prinzipien internationaler Politik und internationalen Rechts wie insbesondere jene der friedlichen Streitschlichtung verpflichtete. Eine robustere und legalistische Völkerbundkonzeption, wie sie etwa Vertreter der League to Enforce Peace oder französische Internationalisten wie Léon Bourgeois vertraten, lehnte Wilson indes entschieden ab. Er wandte sich gegen einen militaristischen Völkerbund und erteilte Forderungen nach einem Regime obligatorischer Streitschlichtung und automatischer Sanktionen gegen Aggressoren eine klare Absage. Seine Grundintention war vielmehr, die League zum festen Rahmen eines zwischenstaatlichen Konzerts auszubauen, das eine evolutionäre Umgestaltung der internationalen Politik ermöglichen sollte. Wesentliche Attribute staat­ licher Souveränität sollten keineswegs eingeschränkt, Grundentscheidungen über Krieg und Frieden weiterhin in den Händen nationaler Regierungen und Parlamente liegen. Das Hauptaugenmerk des US-Präsidenten lag auf der Einführung verbindlicher, aber nicht legalistisch-inflexibler Regeln und Verfahren zur politischen Bewältigung internationaler Konflikte – im Licht der öffentlichen Meinung der Welt. Zeitgenössische und spätere Kritiker haben diese Orientierung als eine wesentliche Schwäche der Völkerbundvision des amerikanischen Präsidenten gebrandmarkt. Letztendlich spiegelten Wilsons Prioritäten aber die fundamentalen Souveränitätsvorbehalte aller entscheidenden Mächte wider.14 Ausschlaggebender für die Neuordnungsprozesse von 1919 war, dass der ­amerikanische Präsident seine Friedenskonzeption vor und während der Pariser Friedenskonferenz entscheidend revidierte – eine Neuausrichtung, die in ihrer Tragweite von der Forschung bisher verkannt wurde. Im Kern wandte sich Wilson von seinem ursprünglichen integrativen Ansatz ab und verfolgte nun die prononcierter hierarchische Priorität, zunächst den „Nukleus“ einer Nachkriegsordnung zu schaffen und somit den Völkerbund als Organisation und Sicherheitssystem der Sieger (und der neutralen Staaten) zu begründen. Er verlegte sich somit auf die Formel, die neu gegründete Weimarer Republik könne erst nach einer Bewährungsphase in die neue Organisation und Ordnung aufgenommen werden.

14  Address to a Joint Session of Congress, 8. 1. 1918. In: Arthur Link u. a. (Hg.): PWW. Bd. 45. Princeton 1984, S. 534–559; Wilson’s Second „Paris Draft“ of the Covenant, 18. 1. 1919. In: Arthur Link u. a. (Hg.): PWW. Bd. 54. Princeton 1986, S. 138–159. Zu alternativen Völkerbundkonzeptionen vgl. Stephen Wertheim: The League That Wasn’t. American Designs for a Legalist-Sanctionist League of Nations and the Intellectual Origins of International Organization, 1914–1920. In: DH 35 (2011) 5, S. 797–836.

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Zu weiteren Komponenten von Wilsons „Sicherheitskonzeption“ zählten nicht nur die „Freiheit der Weltmeere“, sondern auch die Forderung nach weitgehender allgemeiner Abrüstung von Landstreitkräften. Der Überzeugung folgend, dass dies die internationalen Beziehungen pazifizieren würde, mahnte er an, die Eliminierung der deutschen Militärmacht müsse den Auftakt für einen generellen Abrüstungsprozess bilden. Und auch Wilsons Eintreten für ein liberales Welthandelssystem, das auf den Grundsätzen der open door basierte, hatte durchaus eine sicherheitspolitische Dimension. Vorherrschenden amerikanischen Vorstellungen entsprechend würde ein offenes System dieser Art, das imperialen Einflusssphären ebenso ein Ende setzen sollte wie anderen politisch motivierten Handelsbegrenzungen, friedlichen ökonomischen Wettbewerb und Prosperität fördern. Realiter würde eine Umsetzung dieser Konzeption natürlich vor allem den USA als neuer Vormacht der Weltwirtschaftsordnung Vorteile bringen. Im Übrigen ging die ­angestrebte Globalisierung der open door keineswegs mit einer Abkehr von der protektionistischen Zollpolitik des US-Kongresses einher, was die neue amerikanische Politik von Beginn an inkohärent und angreifbar machte. Im größeren Zusammenhang des „langen“ 20. Jahrhunderts muss hervorgehoben werden, dass Wilson – auch weil er keine existenziellen Bedrohungsszenarien vorhersah – weit davon entfernt war, im Fahrwasser seines Vorgängers Theodore Roosevelt oder im Vorgriff auf den revolutionären Wandel amerikanischer An­ sätze nach 1945 eine Politik zu verfolgen, die unter dem Primat der nationalen und internationalen Sicherheit stand. Vielmehr erachtete er eine Politik, die der Wahrung der Sicherheit alles andere unterordnete und darauf ausgerichtet war, hierzu substanzielle strategische Verpflichtungen einzugehen und militärische Kapazitäten zu entwickeln, nicht nur als rückschrittlich, sondern gar als gefährlich.15 Wilsons wichtigster innenpolitischer Gegenspieler, der republikanische Senator Henry Cabot Lodge, befürwortete eine andere Prioritätensetzung. Während er die ambitionierten Völkerbundpläne des Präsidenten kritisierte, plädierte Lodge für einen andersartigen Bund der Siegermächte, der einer Allianz sehr nahekam und dessen Hauptzweck die machtpolitische Kontrolle Deutschlands sein sollte.16 Wilson lehnte einen solchen Kurs strikt ab. Er verfocht auch deshalb eine politisch-evolutionäre Konzeption des Völkerbundes, weil er verhindern wollte, dass sich die USA längerfristig in einen zentralistischen Sicherheitsstaat verwandelten – einen Staat nach europäischem Muster. Eine solche Entwicklung erschien ihm für die Zukunft der liberalen amerikanischen Demokratie, als deren Hüter er sich verstand, als höchst bedenklich. Die einzige bedeutsame Ausnahme bildete seine Unterstützung der durch den „Naval Act“ von 1916 initiierten bis dahin größten Expansion der amerikanischen Seestreitkräfte, welche die Vereinigten Staaten zu 15 Vgl.

die Reden Wilsons nach Minutes of a Meeting of the Commission on the League of ­ ations, 11. 2. 1919. In: Arthur Link u. a. (Hg.): PWW. Bd. 55. Princeton 1986, S. 75–80; An AdN dress to the Third Plenary Session of the Peace Conference, 14. 2. 1919. In: ebd., S. 164–178, hier: S. 175. 16  Lodge an Bryce, 14. 10. 1918, Bodleian Library, Oxford, NL Bryce, Bd. Letters A–P.

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einer Großbritannien mindestens ebenbürtigen maritimen Ordnungsmacht machen sollte – zur Verteidigung der nationalen Sicherheit ebenso wie zum Schutz weltweiter amerikanischer Interessen und der „Freiheit der Meere“. Von entscheidender Bedeutung für Wilsons progressiven Ansatz waren hin­ gegen weitreichende Reformen in einer anderen Sphäre, die er – traditionellere Abgrenzungen zwischen äußerer und innerer Politik für überholt erklärend – als kritisch für eine dauerhaftere Sicherung des Friedens ansah: der Sphäre innerstaatlicher politischer Ordnung. Hier strebte er an, eine Befriedung der internationalen Beziehungen dadurch zu befördern, dass anstelle des von Imperien dominierten Vorkriegssystems eine Ordnung von Staaten auf der Basis demokratischer „Selbstregierung“ nach amerikanischem Vorbild begründet wurde. Bekanntlich lag seit dem amerikanischen Kriegseintritt im Frühjahr 1917 ein Hauptakzent der Kreuzzugsrhetorik Wilsons auf dem Kampf für die universelle Sache der Demokratie gegen die Kräfte der Autokratie. Indem er das Motto ausgab, dass „die Welt sicher für die Demokratie gemacht werden“ müsse, betonte er, dass der „ultimative Weltfrieden“ und „ein stetiges Konzert für den Frieden“ nur durch eine „Partnerschaft demokratischer Nationen“ garantiert werden könnten.17 Was Wilson damit anzustoßen suchte – wenn nötig durch ideologisch-politische Kriegsführung und forcierten „Regimewechsel“ –, waren Demokratisierungsprozesse, die nach seinem Dafürhalten und der Auffassung führender amerikanischer Progressives wie Herbert Croly und Walter Lippmann wesentlich zu einem peace to end all wars beitragen würden. Obgleich Wilson diese Agenda in universellen Kategorien präsentierte und sie globale Auswirkungen zeitigte, bezogen sich seine Vorstellungen jedoch auch hier im Wesentlichen auf Europa. Ihre Grundprämisse war, dass die Expansion demokratischer Regierungsformen Europa und langfristig die Welt sicherer machen würde, indem diese den Ambitionen von nicht auf demokratische Legitimation angewiesenen Machteliten ein Ende setzte. Diese Vorstellung war verbunden mit der Überzeugung, dass demokratische checks and balances-Systeme, in denen insbesondere auch die öffentliche Meinung als Kontrollinstanz fungierte, per se eine weniger aggressive, friedensförderliche Politik begünstigten. Für die Gültigkeit dieser ideologisch verbrämten Sicht der Dinge bot indes gerade die bellizistische Geschichte der Vereinigten Staaten keine überzeugenden Anhaltspunkte. Zu betonen ist zudem, dass Wilson Demokratisierung als einen hierarchisch-evolutionären Prozess verstand, der je nach dem Grad der zivilisatorischen Befähigung bestimmter Völker sehr viel Zeit oder gar die „Vormundschaft“ fortschrittlicherer Mächte erfordern konnte. 1919 prägte diese Einstellung seine Haltung gegenüber den Vertretern der Weimarer Republik und bestärkte ihn in der Entscheidung, diese von den Neuordnungsprozessen auszuschließen.18 17  The War Message to Congress, 2. 4. 1917. In: Arthur Link u. a. (Hg.): PWW. Bd. 41. Princeton 1983, S. 519–549, hier: S. 525–527. 18 Address (wie Anm. 13); The Modern Democratic State (1885). In: Arthur Link u. a. (Hg.): PWW. Bd. 5. Princeton 1968, S. 71–77.

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Der Demokratisierungsimpetus blieb indes bestimmend für Wilsons Politik. Die Forderung nach einem Frieden auf der Basis des Prinzips der nationalen Selbstbestimmung machte er sich dagegen erst im Frühjahr 1918 zu eigen. Ohne je exakt zu definieren, was er unter diesem Prinzip verstand, vertrat der amerikanische Präsident im Wesentlichen eine politische und keine ethnisch definierte Konzeption.19 Ihm ging es um die Förderung demokratischer Selbstbestimmung sowohl in bereits existierenden Staaten als auch in jenen, die nach dem Krieg entstehen würden. Angesichts der vielfältigen Forderungen verschiedener Nationalbewegungen vor und während der Pariser Friedenskonferenz musste der amerikanische Präsident jedoch feststellen, dass nicht zuletzt seine Rhetorik in und über Europa hinaus vor allem ethnisch-nationalen Selbstbestimmungsansprüchen Auftrieb gegeben hatte. Und er musste erkennen, dass eine der heikelsten Herausforderungen des Friedensstiftungsprozesses, die gravierende sicherheitspolitische Auswirkungen haben sollte, die war, mit rivalisierenden Forderungen zurechtzukommen, die vor allem im komplizierten multiethnischen postimperialen Raum Mittel- und Osteuropas aufeinanderstießen. Es gab jedoch noch eine weitere, oft nicht hinreichend berücksichtige Dimen­ sion dessen, was man als Wilsons progressiven Ansatz zur Friedenssicherung bezeichnen kann. Kurz gesagt verstand er sich als hegemonialer Schiedsrichter, dessen Mission es war, auf einen Friedensschluss hinzuwirken, der nicht länger auf dem „Recht des Siegers“ basierte, sondern auf allgemeinen Normen und Prinzipien von „Gerechtigkeit“ und „Fairness“ beruhte – oder vielmehr auf dem, was seinem Gerechtigkeitsverständnis entsprach. Im Mittelpunkt standen hier die „gerechten“ Friedensbedingungen, die er nicht etwa mit der deutschen Regierung auszuhandeln, sondern dieser aufzuerlegen beabsichtigte. Wilsons unrealistische Grundannahme war, dass ein solcher Frieden von den Besiegten akzeptiert werden und das Potenzial zukünftiger Konflikte minimieren konnte. So drang er etwa darauf, bei der Festlegung der deutsch-polnischen Nachkriegsgrenze so weit wie möglich deutsche Selbstbestimmungsansprüche zu berücksichtigen.20 Wie sind Wilsons Bestrebungen aus der Distanz des 21. Jahrhunderts zu bewerten? Bei aller berechtigten Kritik an ihren unrealistischen Prämissen und den überzogenen Erwartungen, die sie wecken mussten, sollte man nicht verkennen, dass das, was Wilson vorschwebte, durchaus einen möglichen und entwicklungsfähigen Rahmen für eine im Kern transatlantische Friedensordnung schaffen konnte – für die Entstehung eines Staatensystems oder gar Staatenkonzerts, das die Vereinigten Staaten als eine neue Vor- und Garantiemacht einbezog und auf mittlere Sicht auch Deutschland und potenziell die Sowjetunion einschließen 19  Address to a Joint Session of Congress, 11. 2. 1918. In: Arthur Link u. a. (Hg.): PWW. Bd. 46. Princeton 1984, S. 318–380, hier: S. 320 f. 20  From the Diary of Dr. Grayson, 26. 3. 1919. In: Arthur Link u. a. (Hg.): PWW. Bd. 56. Princeton 1987, S. 283–286, hier: S. 284; The Meetings of the Council of Four, 26. 3. 1919 und 27. 3. 1919. In: Arthur Link (Hg.): The Deliberations of the Council of Four (March 24–June 28, 1919). Notes of the Official Interpreter Paul Mantoux. Bd. 1: To the Delivery to the German Delegation of the Preliminaries of Peace. Princeton 1992, S. 20, S. 31.

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würde. Wilsons Einschätzung, dass der Völkerbund in dieser Umbruchphase den einzig möglichen Mechanismus darstelle, der ein dauerhafteres amerikanisches Engagement bei der Sicherung des europäischen Friedens gewährleisten konnte, war keineswegs irreführend. Das wesentliche Problem bestand nicht darin, dass sein progressiver Ansatz der Etablierung eines effektiveren Allianzsystems der Siegermächte entgegenstand. Entscheidend war vielmehr, dass Wilsons allzu ambitionierte Vision einer weltumspannenden neuen Ordnung keine hinreichenden Ansatzpunkte bot, um die dringendsten Herausforderungen zu meistern, ohne deren Bewältigung eine nachhaltige Neuordnung nicht möglich war. Essenziell war hier die Befriedigung elementarer französischer Sicherheitsbedürfnisse, um so die Voraussetzungen für die Einbindung Deutschlands in ein atlantisches System kollek­ tiver Sicherheit zu schaffen. Auch konnten Demokratisierungsprozesse, die im destabilisierten Nachkriegseuropa gerade im deutschen Fall notwendigerweise konfliktreich waren, nur mittelbar und im besten Falle längerfristig zur Sicherung des Friedens beitragen. Vor allem in Zeiten internationaler Krisen und innenpo­litischer Volatilität konnten sie Letzteres sogar schwieriger und komplizierter machen. Und schließlich musste Wilsons wachsende Entschlossenheit, der besiegten Macht einen „gerechten“ Frieden zu oktroyieren, sowohl einen späteren Ausgleich als auch die Stabilisierung ihrer republikanisch-demokratischen Ordnung erschweren. Zugleich sah sich Wilson mit einem zentralen innenpolitischen Legitimationsproblem konfrontiert, das er letztlich nicht meistern konnte. Es stellte sich die Frage, inwieweit er in der Lage sein würde, in seinem eigenen Land die unabdingbare öffentliche und politische Unterstützung für seine Aspirationen zu erlangen. Und es stellte sich die grundsätzlichere Frage, inwiefern es nach dem Sieg über die Mittelmächte in der vorherrschenden amerikanischen Wahrnehmung überhaupt noch Bedrohungen beziehungsweise vitale Interessen oder mit dem eigenen zivilisatorischen Selbstverständnis zusammenhängende Gründe gab, die weitreichende Verpflichtungen der USA im Völkerbund und bei der europäischen Friedenssicherung rechtfertigen konnten. Man kann nicht genug betonen, wie tiefgreifend der Rollen- und Paradigmenwechsel war, den Wilson der amerikanischen politischen Kultur und Öffentlichkeit zumutete. Schließlich hatte die amerikanische Republik im Zeichen der „Monroe-Doktrin“ und eines selektiven Isolationismus sowie imperialen Unilateralismus bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein keinerlei substanzielle internationale Verantwortung jenseits der westlichen Hemisphäre übernommen und sich ins­ besondere von jedweden Bündnissen mit anderen Staaten ferngehalten. Abgesehen von vereinzelten weltpolitischen Initiativen Theodore Roosevelts war der weit­ gehendste, aber die amerikanische Politik kaum beeinflussende Schritt der Beitritt des Landes zu den Haager Konventionen von 1899 und 1907 gewesen. Subjektiv hatte man lange auf die privilegierte geopolitische Lage gesetzt, welche die expandierende Republik in ihrer durch den Atlantik und P ­ azifik geschützten hemisphärischen Festung vor äußeren Bedrohungen bewahrt habe. In der Rückschau ist indes zu Recht hervorgehoben worden, dass die USA sich in Wirklichkeit lange Zeit wie ein sicherheitspolitischer „Nutznießerstaat“ verhielten, der sich informell

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auf den Schutzschirm der dominanten britischen Royal Navy verließ, jedoch auch von der Friedenswahrung und Expansionsein­hegung profitierte, die das Wiener System von 1815 bewirkte.21 In Reaktion auf die große Krise des Weltkriegs plädierte Wilson nun dafür, all dies grundlegend zu ändern. Doch war die Zeit für eine amerikanische Führungsrolle in einer neuen atlantischen und globalen Ordnung wirklich gekommen?

Die Begründung eines neuen transatlantischen Konzerts: Lloyd George und britische Ansätze zur Friedenssicherung nach dem Großen Krieg Ähnlich wie jene Wilsons sind auch britische Ordnungsvorstellungen und Politik­ ansätze nach dem Großen Krieg lange missverstanden worden. Sie waren ins­ gesamt bedeutsamer für die Neuordnungsprozesse von 1919, als dies von Histo­ rikern der „realistischen Schule“ postuliert worden ist. Was sie prägte, war eine dezidiert transatlantische Orientierung.22 Die Vorstellungen, die entscheidende Völkerbundbefürworter – wie der Ende 1918 die vorbereitenden Planungen des Foreign Office leitende Robert Cecil, aber auch Premierminister Lloyd George selbst – zu entwickeln begannen, basierten nicht auf der Maxime einer Wiederbe­ lebung der angeblich dominanten britischen Tradition, nationale und imperiale Sicherheit durch ein Neuaustarieren des europäischen und globalen „Gleich­ gewichts der Macht“ zu garantieren. Vielmehr kristallisierte sich eine qualitativ andere Strategie heraus, die darauf abzielte, sowohl die nationale Sicherheit der britischen Seemacht als auch die wichtige Absicherung und Konsolidierung des infolge des Kriegs und der Völkerbundsmandate im Nahen Osten und in Afrika nochmals erweiterten globalen Systems des British Empire durch neue Mecha­ nismen und Methoden zu gewährleisten. Der Grundgedanke dieser die Pariser Friedensverhandlungen wesentlich beeinflussenden Strategie war, durch eine interessengeleitete und dessen Bestrebungen kanalisierende Kooperation mit Wilson einen Völkerbund zu begründen, der im Kern als institutionalisierter Rahmen für ein neuartiges, die Vereinigten Staaten einbeziehendes und von den „zivilisierten“ Großmächten geleitetes Konzertsystem fungieren sollte. Die Pläne führender Akteure im Imperial War Cabinet sahen vor, dieses neu konstituierte Konzert, das baldmöglichst auch Deutschland einbeziehen sollte, zum zentralen politischen Sicher­heits- und Konfliktlösungsmechanismus der Nachkriegsordnung auszubauen und so die Rahmenbedingungen für eine pazifizierende Stabilisierung Europas und den Fortbestand eines sich reformierenden Empire zu schaffen. Zweifellos war die Hinwendung der Lloyd George-Regierung zum Völkerbund auch von den Anstrengungen britischer Interessengruppen beeinflusst wor21  Paul

Schroeder: Europe’s Progress and America’s Success, 1760–1850. In: Frederick Schneid (Hg.): The Projection and Limitations of Imperial Powers, 1618–1850. Leiden 2012, S. 170–195. 22  Für ältere Ansätze vgl. Antony Lentin: Guilt at Versailles. Lloyd George and the Pre-History of Appeasement. London 1985.

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den, die sich seit Ende 1914 für die Gründung eines internationalistischen „Friedensbundes“ eingesetzt und hierzu weitverzweigte transnationale Netzwerke vor allem über den Atlantik geknüpft hatten. Mit Unterstützung aus Kreisen der Liberalen und der Labour-Partei hatten diese Gruppierungen bei Kriegsende eine veritable Völkerbundbewegung gebildet. Mitte Oktober 1918 hatten sich einige der einflussreichsten Organisationen zur League of Nations Union zusammengeschlossen und ihre Kampagne für eine autoritative „Weltorganisation“ nochmals ausgeweitet. Sie warben für einen Bund freier – das heißt demokratischer – Nati­ onen, der einen Rat und einen Obersten Internationalen Gerichtshof umfassen und alle Staaten zur Garantie der „Freiheit der Nationen“ und auf „Methoden friedlicher Streitschlichtung“ verpflichten sollte, um so die Menschheit „endlich vom Fluch des Kriegs zu befreien“.23 Jedoch hatten diejenigen, die den Völkerbundplänen der britischen Regierung die wesentlichen Impulse gaben – der bereits erwähnte Cecil sowie der südafri­ kanische General und spätere Premierminister Jan Christiaan Smuts –, weniger ­progressive und durchaus hierarchische Vorstellungen davon, wie eine League zur Sicherung des Weltfriedens beitragen sollte. Der Entwurf, den Smuts dem Kabinett und der Weltöffentlichkeit präsentierte, war indes ambitionierter. Er sah ­einen Völkerbund vor, der nicht als ein wesent­liche nationale oder imperiale Prärogative beschneidender „Superstaat“ entworfen war, wohl aber als eine robuste Institution, die das Instrument einer Weltregierung werden konnte. An ihrer Spitze sollte ein von den Hauptsiegermächten – und entscheidend von den angloamerikanischen Mächten – dominierter „Völkerbundsrat“ stehen, der etwa in Kernentscheidungen über gegen Aggressoren zu verhängende Sanktionen mit erheblicher exekutiver Autorität ausgestattet war.24 Als noch bestimmender für die britische Völkerbundpolitik auf der Friedenskonferenz sollten sich indes die von Cecil und Experten des britischen Außen­ ministeriums erarbeiteten Konzeptionen erweisen. Cecil vertrat die Ansicht, dass die Etablierung eines wirksamen „Bundes der Völker“ eine der wesentlichsten Konsequenzen war, die aus der Katastrophe des Kriegs gezogen werden mussten. Allerdings plädierte er für eine Organisation, die weder internationalistischen Vorstellungen eines egalitär-demokratischen, Spielraum und Souveränität der Großmächte eng begrenzenden Friedensbundes entsprach noch den Ideen derjenigen, die eine League to Enforce Peace mit einem robusten Regime obligatorischer Streitschlichtung und automatischer Sanktionen gegen Aggressoren forderten. Cecils Leitidee war vielmehr, den Völkerbund als Rahmenorganisation für ein institutionalisiertes, jedoch hierarchisch gegliedertes Staatenkonzert zu errichten, in dem alle wesentlichen Entscheidungen von den Großmächten getroffen werden sollten. Letztere sollten als einzige ständige Mitglieder des Völkerbundsrats zu 23  League of Nations Union-Program, November 1918, Swarthmore College Peace Collection, LNU Papers. 24  Jan C. Smuts: The League of Nation. A Practical Suggestion. London 1918, S. 5–9, S. 40–63; ders.: The League of Nations, 16. 12. 1918, TNA, CAB 29/2.

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Vormächten der Friedenssicherung werden und als solche besondere Prärogative erhalten.25 Zu den wesentlichen Aufgaben der neuen Organisation sollte im Rahmen eines relativ elastischen Systems „kollektiver Sicherheit“ insbesondere der Schutz kleinerer, zumal seit 1918 neu gegründeter Staaten gehören. Vor allem aber beabsichtigte Cecil, den Völkerbund und zuvorderst das Gremium des Völkerbundsrats zum zentralen politischen Mechanismus der neuen internationalen Ordnung zu machen. Er sollte den Frieden im Wesentlichen dadurch sichern und fördern, indem er eine konzertierte Konfliktlösung und die friedliche Beilegung internationaler Dispute sowie, im weiteren Sinne, zwischenstaatlichen Interessenausgleich ermöglichte. Obgleich er sich vor und nach Kriegsende wiederholt öffentlich für die Schaffung eines Völkerbundes aussprach und Cecils Empfehlungen grundsätzlich unterstützte, wurde Lloyd George selbst nie zu einem überzeugten Verfechter der neuen Institution. Er begegnete Wilsons Visionen mit Skepsis und beurteilte auch generell die zu erwartende Effektivität einer League in Kernfragen der Friedens­ sicherung kritisch, da auch er hierfür eher auf ein informelles Konzert der fortschrittlichsten großen Mächte setzte. Zugleich lehnte Lloyd George eine Einschränkung britischer Souveränität noch entschiedener ab als Smuts oder Cecil. So tendierte seine Vorstellung davon, wie der Völkerbund funktionieren sollte, in Richtung der Idee eines flexiblen Konzerts, das vor allem den politischen Führungsfiguren der großen Mächte erlauben sollte, durch regelmäßige Konsultationen Krisen zu entschärfen und Konflikte zu bewältigen.26 Was den britischen Premier am Ende maßgeblich zu einer befürwortenden Haltung bewog, war auch aus Sicht seiner Berater entscheidend. Sie alle erblickten im Völkerbund das einzig mögliche Instrument, um die Vereinigten Staaten nach dem Krieg in eine strategische Partnerschaft und Lastenteilung einzubinden, die sie trotz aller bilateralen Streitigkeiten, etwa auf dem Feld maritimer Rüstung und der „Freiheit der ­Meere“, als britische Kerninteressen ansahen. Was hier Konturen gewann, war die Vorstellung einer geteilten Sicherheitshegemonie der größten demokratischen commonwealths der Welt. Diese Hegemonie hatte globale Dimensionen, bezog sich jedoch zentral auf die Sicherung des Friedens auf dem durch den Krieg erschütterten europäischen Kontinent. Indem man Wilson im Sinne der britischen Völkerbundagenda zu beeinflussen trachtete, strebte man zugleich jedoch eine neue Art der Absicherung des imperialen britischen Welt­ systems an, das Lloyd George als eigenständigen „Bund der Völker“ neu zu le­ gitimieren suchte – auch gegen die zumindest rhetorisch anti-imperialistischen Aspirationen des amerikanischen Präsidenten.27 25  Cecil Plan vom 14. 12. 1918, zitiert nach David Miller: The Drafting of the Covenant. Bd. 2. New York/London 1928, S. 61–64. Cecil entwickelte hier frühere Empfehlungen des PhillimoreKomitees weiter. 26  Rede Lloyd Georges, 12. 9. 1918, abgedruckt in: The Times, 13. 9. 1918; Erklärung Lloyd Georges, 16. November 1918, House of Lords Record Office, London, Lloyd George Papers, F 237. 27 Imperial War Cabinet Minutes, 24.  12. 1918 und 30. 12. 1918, TNA, CAB 23/42; Smuts: League, 16. 12. 1918 (wie Anm. 24).

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Für ein Verständnis des britischen Neuansatzes ist eine Analyse der strategischpolitischen Lehren, die von maßgeblichen Akteuren aus der Katastrophe des Kriegs gezogen wurden, entscheidend. Britische Lernprozesse gingen einerseits in eine ähnliche Richtung wie die Wilsons, andererseits verwiesen sie zurück auf ­Ansätze aus dem 19. Jahrhundert, vor allem auf Maximen der britischen Äquili­ briumspolitik, die entscheidend zur Begründung der Wiener Ordnung von 1815 beigetragen hatte. Mehr als hundert Jahre später war die zentrale sicherheitspoli­ tische Lehre des Weltkriegs, dass es unabdingbar sein würde, effektivere Mechanismen und Regeln zur friedlichen Bewältigung von Konflikten und zur Präven­ tion von Krisen zu schaffen, die wie jene von 1914 zu einem erneuten allgemeinen Krieg eskalieren konnten. Was die britische Sicherheitspolitik nach 1918 prägte, war der Versuch, das Ordnungskonzept des Europäischen Konzerts wiederzubeleben und den gewandelten systemischen Bedingungen und Erfordernissen des 20. Jahrhunderts anzupassen. Eine der wesentlichen Erfordernisse, welche die Protagonisten der Lloyd George-Regierung erkannten, war die Erweiterung eines solchen Konzerts im Rahmen des Völkerbundes in ein transatlantisches System, das die USA einbezog.28 Diese Orientierung bedeutete zugleich, dass sich eine Mehrheit der britischen Entscheidungsträger zumindest mit Blick auf Europa von der Vorstellung distanzierte, Friedenssicherung durch spezifische Bündnisse nach dem Muster einer perpetuierten Entente Cordiale anzustreben – Bündnisse, die grundsätzlich der Logik des balance of power-Denkens folgten. Es gab durchaus strategische Vordenker wie die graue Eminenz des Foreign Office, Eyre Crowe, der Wilsons Völkerbundpläne für zutiefst unrealistisch hielt und weiterhin in Kategorien traditionellerer Macht- und Gleichgewichtspolitik dachte. Crowe argumentierte, dass auch nach dem Krieg die Sicherheit Großbritanniens und des Empire vor allem die Konsolidierung einer effektiven Gleichgewichtsordnung in Europa erfordere. Dies wiederum mache, da der amerikanische „Freund“ von Europas Problemen sehr weit entfernt sei, eine Fortsetzung der anglo-französischen Kriegs-Entente zur Kontrolle des deutschen Machtpotenzials, aber auch zur Mäßigung der französischen Politik unverzichtbar.29 Crowes eindringliche Warnungen und Empfehlungen fanden jedoch keinen Widerhall. Im Imperial War Cabinet überwog klar die Auffassung, dass eine bündnispolitische Festlegung dieser Art die falsche Antwort auf die veränderten sicherheitspolitischen Herausforderungen sei, die aus dem Krieg entstanden waren. Dies ging einher mit der jetzt zusehends dominanten Einschätzung, dass aus balance of power-Erwägungen geschlossene Allianzen und Abkommen 1914 nicht kriegsvermeidend, sondern konfliktverschärfend gewirkt hatten. Beides akzentuierte die durch die Kriegserfahrungen bedingte britische Priorität, alles zu tun, um zu verhindern, nochmals in einen auf dem europäischen Kontinent eskalierenden 28 Memorandum

Cecils, 17.  12.  1918, TNA, CAB 23/42; Imperial War Cabinet Minutes, 30. 12. 1918, TNA, CAB 23/42; Memorandum Hankeys, 16. 1. 1918, TNA, CAB 24/39. 29  Memorandum Crowes, 7. 12. 1918, TNA, FO 371/3451.

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großen Konflikt hineingezogen zu werden. Dies und der Konsens, sich angesichts knapper werdender Ressourcen auf die Sicherung des in Indien, Ägypten und ­Irland kriselnden britischen Imperialsystems zu konzentrieren, verstärkten die Grundtendenz, strategische commitments in Eu­ropa zu begrenzen und auf den Völkerbund, diplomatisch-politische Friedens­ sicherung und eine Lastenteilung mit den USA zu setzen. Was diese Priorisierung beeinflusste und den Handlungsspielraum der Lloyd George-Regierung merklich einschränkte, waren nicht zuletzt innenpolitische Zwänge, vor allem die vorherrschende Wahrnehmung, dass die britische Öffentlichkeit nach einem präzedenzlos verlustreichen Krieg keine Politik unterstützen würde, die das Risiko einer erneuten Involvierung in europäische Konflikte barg, und im Übrigen von Lloyd George vor allem die Einlösung seines Wahlversprechens erwartete, innere Reformen einzuleiten und Großbritannien durch den Aufbau eines Wohlfahrtstaates zu einem fit country for heroes zu machen. Ähn­ liche Erwartungen herrschten in den Dominions vor. Zudem hatte sich parallel zu nationalistischen Forderungen nach einem „Straffrieden“ nicht nur in linksliberalen Kreisen zusehends eine Grundstimmung breitgemacht, in der pazifistische Tendenzen und der Ruf nach internationaler Verständigung dominierten.30 So lässt sich die eigentlich bemerkenswerte Tatsache erklären, dass eine Mehrheit in der Lloyd George-Regierung einschließlich des Premierministers sich ­dagegen aussprach, die nationale und europäische Sicherheit durch die Konsolidierung einer anglo-französischen Nachkriegsallianz zu garantieren. Noch entschiedener lehnte man es ab, den neuen Nationalstaaten in der osteuropäischen Unsicherheitszone, und vor allem Polen, spezifische Garantien zu geben, die über generelle Völkerbundverpflichtungen hinausgingen. Es ist bezeichnend, dass Lloyd George erst auf der Friedenskonferenz selbst die Idee seines Beraters Philipp Kerr aufgriff, französischen Sicherheitsforderungen mit dem Angebot ­ eines begrenzten anglo-amerikanischen Garantieabkommens zu begegnen. Im ­ Wesentlichen schlug er vor, dass sich Großbritannien und die Vereinigten Staaten verpflichten sollten, Frankreich im Falle einer nicht provozierten deutschen ­Aggression Beistand zu leisten.31 Diese Offerte, die erst in Reaktion auf die aus britischer Sicht friedensgefährdende Rheinlandpolitik der Clemenceau-Regierung erfolgte, konkretisierte die Idee eines strategischen burden sharing mit den Ver­ einigten Staaten und konzentrierte britische Garantieverpflichtungen auf entscheidende Aspekte der westeuropäischen Sicherheit. Aber sie zeigte auch, dass sich die Einsicht durchgesetzt hatte, dass über den Völkerbund hinaus konkrete Schritte zur Befriedigung des französischen Sicherheitsverlangens unerlässlich waren, um weitergehende, bald auch Deutschland einbeziehende Stabilisierungsprozesse zu ermöglichen. Diese in ihrer Bedeutung lange verkannte britische ­Initiative sollte eine entscheidende Rolle bei der Aushandlung der Sicherheits­ architektur des Versailler Friedens spielen. 30  31 

Martin Ceadel: Pacifism in Britain, 1914–1945. Oxford 1980. War Cabinet Minutes, 4. 3. 1919, TNA, CAB 23/15/54.

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Im Übrigen ist hervorzuheben, dass in britischen Konzeptionen noch stärker als bei Wilson der Gedanke im Vordergrund stand, der Völkerbund könne den Frieden längerfristig nur dann wirksam sichern und effektiv als internationales Konzert operieren, wenn er nicht eine exklusive Institution der Sieger und der Neutralen blieb, sondern auch die Besiegten des Kriegs integrierte. Insbesondere war an eine frühzeitige Aufnahme Deutschlands und seine Einbindung in ein System gemeinsamer Regeln und Obligationen gedacht – sofern seine weitgehende Abrüstung und Ausschaltung als eine das britischen Weltsystem gefährdende Macht sichergestellt waren.32 Die Stabilisierung einer republikanischen Ordnung in Deutschland erschien führenden britischen Nachkriegsplanern in diesem Zusammenhang im Sinne einer Entmachtung „preußisch-militaristischer“ Führungseliten wünschenswert, wurde aber als weniger essenziell angesehen als von amerikanischer Seite. In jedem Falle erkannte man darin einen langwierigen Prozess, der durch die frühe Wiedereinbeziehung des Weltkriegsverlierers in das comity of nations gefördert werden konnte. Diese Vorstellungen wurden in Versailles zu Kernelementen eines umfassenderen britischen Ansatzes, der sich in Lloyd Georges „Fontainebleau Memorandum“ vom März 1919 manifestierte und den man in Kurzform als Friedenssicherung durch einen ausbalancierten und gemäßigten Friedensschluss bezeichnen kann, der allerdings die Frage der Reparationen ausdrücklich ausschloss. Die nach Maßgabe britischer Interessen formulierte Leitidee dieses Ansatzes war die Aushandlung eines von den Siegern bestimmten Friedensreglements, das nicht nur von ihnen, sondern auch von den Besiegten akzeptiert werden konnte, das Quellen zukünftiger Konflikte und Unsicherheit minimieren und die Voraussetzungen für einen längerfristigen Ausgleichs- und Verständigungsprozess schaffen sollte. All dies sollte die Konsolidierung eines neuen sicherheitspolitischen Äquilibriums in Europa ermöglichen. Solche Erwägungen waren ausschlaggebend für den ­anhaltenden britischen Widerstand gegen französische Pläne, einen rheinischen Puffer­staat zu etablieren, und für die mit Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht erhobene Forderung der britischen Führung, bei der Reorganisation Osteuropas der Gefahr eines kriegsträchtigen deutschen Irredentismus vorzubeugen, indem man so wenig deutsche Bevölkerungsgruppen wie möglich zu Minderheiten im neu konstituierten polnischen Staat machte.33 Die Konzepte und Ansätze der britischen Protagonisten von 1919 waren in vielerlei Hinsicht – und gerade im Hinblick auf die Zielvorstellung eines handlungsfähigen und integrativen internationalen Konzerts – realistischer und entwicklungsfähiger als das, was Wilson anstrebte. Und sie boten bessere Ansatzpunkte für eine Bewältigung der grundsätzlichen Sicherheitsprobleme nach dem Ersten Weltkrieg, allen voran der deutsch-französischen Sicherheitsfrage. Aber sie waren auch geprägt von selbstgesetzten und durch innenpolitische wie global-imperiale 32 

Memorandum Cecils (wie Anm. 28). Memorandum by David Lloyd George [The Fontainebleau Memorandum], 25. 3. 1919. In: Link u. a. (Hg.): PWW (wie Anm. 20), S. 259–270. 33  A

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Prioritäten bedingte Vorbehalte und Beschränkungen. Eines der Grundprobleme lag in der Unwägbarkeit einer funktionierenden Sicherheitspartnerschaft mit den Vereinigten Staaten. Die Crux jedoch war, dass britische Entscheidungsträger nur in begrenztem Maße dazu bereit und in der Lage waren, substanzielle sicherheitspolitische Verpflichtungen einzugehen und Verantwortung zu übernehmen, um so einer tragfähigen transatlantischen Sicherheitsordnung, wie sie ihnen vorschwebte, den Weg zu ebnen. Entscheidend war und blieb hier die Rückversicherung Frankreichs.

Sécurité durch eine atlantische Allianz und die Einhegung Deutschlands? Französische Sicherheitskonzepte und -bedürfnisse nach dem Großen Krieg Die britischen und amerikanischen Bestrebungen kollidierten in entscheidenden Punkten mit einem ambitionierten, die französische Sicherheitspolitik über 1919 hinaus dominierenden Neuansatz, den Premier Clemenceau entschlossen ver­ folgte und der maßgeblich von seinem engsten Berater, André Tardieu, konzipiert worden war. Auch dieser Neuansatz, der sowohl auf eine strukturelle Schwächung und Isolierung Deutschlands als auch auf die Begründung einer exklusiven westlichen Sicherheitsgemeinschaft abzielte, war im Wesentlichen transatlantisch und insbesondere auf eine strategische Kooperation mit den USA ausgerichtet.34 Ausgangspunkt der Politik Clemenceaus war ein von der politischen Entscheidungselite als existenziell empfundenes und tendenziell übersteigertes französisches Sicherheitsbedürfnis in der Folge des verlust- und zerstörungsreichen Kriegs – im Kern das Verlangen nach sécurité intégrale, einer „vollständigen Sicherheit“ vor einer „erneuten Aggression“ des in puncto seines militärischen, ökonomischen und demografischen Potenzials auch nach der Niederlage überlegenen deutschen Nachbarn.35 Beträchtlich und zweifellos relevant war hier der innenpolitische Druck, unter dem die Clemenceau-Regierung stand – der Druck nach einem Krieg, der einschließlich Versehrten mehr als zwei Millionen Opfer gefordert hatte, die Sicherheitserwartungen und -bedürfnisse der französischen Öffentlichkeit zu erfüllen.36 Diese bündelten sich in der Forderung nach wirksamem Schutz vor der deutschen Bedrohung. Auch sah sich Clemenceau mit Interessengruppen wie dem comité de la rive gauche du Rhin oder der Ligue française konfrontiert, die für einen drako34  Dies

ist neuerlich zu Recht herausgestrichen worden. Vgl. Peter Jackson: Beyond the Balance of Power. France and the Politics of National Security in the Era of the First World War. Cambridge 2013, S. 197 ff. 35  Rede Clemenceaus, 29. 12. 1918. In: Journal officiel de la République française. Débats parlementaires. Chambre des députés, S. 3732 f.; Memorandum Tardieus, 20. 1. 1919, MEA, NL Tardieu, PA-AP 166 (49). 36  Jean-Jacques Becker/Gerd Krumeich: La grande guerre. Une histoire franco-allemande. Paris 2008, S. 294 f.

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nischen Frieden und insbesondere die Annexion der linksrheinischen Gebiete agitierten. Politisch noch brisanter war, dass nicht nur Präsident Poincaré, sondern auch der hoch angesehene militärische „Vater des Sieges“, General Foch, die Etablierung einer strategischen Rheingrenze forderte. Nur die oppositionelle Sozialistische Partei und eine Minderheit liberaler und linker Intellektueller traten für eine alternative Politik der Sicherheit durch Verständigung und dezidiert für einen „Bund der Völker“ ein. Allerdings zeichnete Clemenceau oft ein übersteigertes Bild der innerfranzösischen Druckkulisse, um Wilson und Lloyd George zur Erfüllung seiner Sicherheitsforderungen zu bewegen. Die Lehren, welche die französischen Protagonisten aus dem Krieg gezogen hatten, hoben sich deutlich ab von jenen, welche die Strategien ihrer anglo-amerikanischen Verhandlungspartner prägten. Für Clemenceau und Tardieu konnte Frankreichs und damit Europas Sicherheit längerfristig weder durch „neue Diplomatie“ und einen Völkerbund nach wilsonschem Muster noch durch einen als ­illusionär erachteten „gerechten“ Ausgleichsfrieden und eine Demokratisierung Deutschlands gewährleistet werden. Vielmehr hatten Vorgeschichte und Verlauf des Kriegs sie in ihrer Überzeugung bestärkt, dass dieses übergeordnete Ziel allein durch eine auf die neuen Machtverhältnisse zugeschnittene realpolitische Strategie zu verwirklichen war. Diese beruhte nicht nur, aber wesentlich auf ihrer Ansicht nach unverzichtbaren Grundsätzen europäischer Macht- und Gleichgewichtspolitik. Eine solche Politik musste jedoch in neuer, zukunftsweisender Form verfolgt und legitimiert werden, um die notwendige Unterstützung Wilsons zu gewinnen. Letzteres hofften die französischen Strategen vor allem durch die Akzentuierung des Leitbilds einer „Sicherheits- und Wertegemeinschaft“ der demokratischen Sieger­mächte zu erreichen, als deren wesentlicher Zweck die Verteidigung einer neuen „zivilisatorischen Grenze“ entlang des Rheins gegen zukünftige deutsche Übergriffe postuliert wurde.37 Bei genauerer Betrachtung waren die auf die wahrgenommene deutsche Bedrohung fixierten Sicherheitsstrategien, die Clemenceau und Tardieu in Paris verfolgten, von einer spannungsreichen Mischung sehr traditioneller und durchaus progressiver Prämissen und Vorstellungen geprägt. Frankreichs zukünftige Sicherheit sollte durch eine maximale strukturelle Schwächung des deutschen Machtpotenzials gewährleistet werden. Hierbei war nicht an die Aufspaltung des bismarckschen Nationalstaats gedacht, wohl aber – neben strikten Abrüstungsbestimmungen, substanziellen Reparationsforderungen und wirtschaftlichen Restriktionen – an die Einschränkung und Zurückdrängung deutscher Souveränität, vor allem durch die Abspaltung strategisch wichtiger Regionen. Im Zentrum stand Tardieus Plan, separatistische Bestrebungen im Rheinland zu fördern und als Kernelement eines westlichen Sicherheitsglacis einen rheinischen Pufferstaat zu etablieren, der die „historische [deutsche] Invasionsroute“ blockieren und mittelfristig durch eine Zollunion in die französische Einflusssphäre eingeglie-

37 

Rede Clemenceaus (wie Anm. 35); Memorandum Tardieus (wie Anm. 35).

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dert werden sollte.38 Tardieu bemühte sich vergeblich darum, anglo-amerikanische Unterstützung für seine Pläne zu erlangen, indem er argumentierte, sie wider­sprächen durchaus nicht den Maximen des Selbstbestimmungsrechts, da sich die rheinische Bevölkerung auf längere Sicht aus politischen wie wirtschaftlichen Gründen für eine unabhängige Republik entscheiden werde, um so der preußisch-deutschen Unterdrückung zu entkommen. In Bezug auf Osteuropa verfolgte die französische Delegation parallel dazu eine klassische machtpolitische Gleichgewichtsstrategie, die darauf ausgerichtet war, einen speziell aus Polen und der Tschechoslowakei gebildeten cordon sanitaire zwischen Deutschland und einem bolschewistisch dominierten Russland zu schaffen, der den Ausfall des zaristischen Bündnispartners kompensieren sollte. Diese Planung erklärte auch den besonderen Einsatz der französischen Politik für eine Stärkung der neu gebildeten Nationalstaaten. Sicherheitsimperative überwogen hierbei klar gegenüber der Rücksichtnahme auf deutsche Selbstbestimmungsansprüche.39 Die eigentliche Priorität der französischen Politik bestand jedoch darin, Wilson und Lloyd George dafür zu gewinnen, die seit Frühjahr 1917 de facto bestehende Kriegsallianz in ein langfristiges und robustes transatlantisches Bündnis in Friedenszeiten umzuwandeln, das es bislang so nicht gegeben hatte. Clemenceau und Tardieu strebten ein Abkommen „gegenseitiger Garantie und militärischen Beistands“ an, dessen wesentlicher Sinn der Schutz Frankreichs gegen den ennemi outre-Rhin sowie die strategische Eindämmung und Ausgrenzung Deutschlands sein sollte. Tardieu war sich bewusst, dass Frankreich sicherheitspolitisch entscheidend auf die anglo-amerikanischen Mächte angewiesen war – was umgekehrt nur sehr begrenzt galt. Er war daher umso mehr bestrebt, sein Vorhaben als Entwurf einer transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft der freien und zivilisierten westlichen Demokratien zu präsentieren und entwickelte gar das ambitionierte Konzept einer „politischen, ökonomischen und militärischen Union“. Zugleich unterstrich er das gemeinsame Interesse, das alle Siegermächte an einer Absicherung dieser zivilisatorischen Gemeinschaft haben sollten – gegen die Bedrohung, die von einer grundsätzlich nicht zu ihr gehörenden deutschen Macht ausging.40 Um diesem übergeordneten Ziel näherzukommen, war Clemenceau auch bereit, auf anglo-amerikanische Völkerbundpläne einzugehen, obgleich er seine funda­mentale Skepsis nie überwand und die société des nations im Wesentlichen als eine mögliche Plattform für die angestrebte Allianz betrachtete. Dieses Interesse dominierte am Ende auch gegenüber der Alternativstrategie, die der führende französische Völkerbundvorkämpfer Léon Bourgeois in Paris vertrat. Bourgeois und andere maßgebliche Repräsentanten der Association française de la Société des Nations hatten empfohlen, den anglo-amerikanischen Entwürfen das Konzept 38 Tardieu

Aufzeichnungen, 20. 1. 1919 und 26. 1. 1919, MAE, NL Tardieu, PA-AP 166 (417); Memorandum Tardieus, 25. 2. 1919. In: André Tardieu: La Paix. Paris 1921, S. 165–184. 39  Aus machtpolitischen Erwägungen forderte die französische Delegation bei den Friedensverhandlungen von Paris insbesondere, Polen die oberschlesische Industrieregion zuzusprechen. 40  Memorandum Tardieus, Januar 1919, MAE, NL Tardieu, PA-AP 166 (422).

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e­ ines robusteren Völkerbundes entgegenzusetzen, der den Weltfrieden, aber vor allem Frankreich kraft weitgehender Sanktionsbefugnisse und sogar eigener Streitkräften sichern und im Übrigen ein striktes Regime obligatorischer Streitschlichtung durchsetzen sollte.41 Clemenceau ließ sich nicht von seinen vorrangigen Zielen abbringen. In der Rückschau erscheinen die Anstrengungen, die er und Tardieu 1919 unternahmen, jedoch nicht so sehr als zukunftsweisender Vorgriff auf die Nordatlantische Allianz nach dem Zweiten Weltkrieg, zu deren Wesensmerkmalen nicht zuletzt die Einbindung (West-)Deutschlands gehörte. Vielmehr können sie als ein am Ende gescheiterter Versuch charakterisiert werden, die USA und Großbritannien für ein Bündnissystem nach dem Muster der Entente Cordiale aus der Vorkriegsära zu gewinnen und hierfür eine adäquate „fortschrittliche“ ideologische Agenda zu entwerfen.42 Die führenden französischen Sicherheitspolitiker waren sich darüber im Klaren, wie essenziell sie auf die Kooperation der britischen wie der amerikanischen Regierung angewiesen waren – und setzten durch ihre aggressive, „maximalistische“ Verhandlungstaktik die Beziehungen zu ihren bevorzugten Bündnispartnern dennoch einer enormen Belastungsprobe aus, die auch nach 1919 Spuren hinterlassen sollte. Während der dominante Einfluss französischer Sicherheitsbedürfnisse nach dem prekären Sieg von 1918 verständlich war, bestand das eigentliche Problem jedoch darin, dass wesentliche Elemente der von Clemenceau und Tardieu verfolgten Politik keine realistischen Ansatzpunkte zu einer Bewältigung der für Frankreich so zentralen Sicherheitsprobleme boten. Dies galt vor allem für ihre Rheinland­ politik, aber auch für die weiter gefasste Strategie zur Einhegung Deutschlands, zu der es trotz aller innenpolitischen Widerstände durchaus Alternativen gegeben hätte. Zugespitzt formuliert drohte die französische Strategie, nicht einer auch Frankreich zugutekommenden sicherheitspolitischen Neuordnung im transatlantischen Raum den Boden zu bereiten, sondern fortgesetzter Unsicherheit und Instabilität in ­Europa. Denn sie erschwerte genau das, was für die längerfristige Sicherung des europäischen Friedens entscheidender war als alles andere: eine Überwindung des deutsch-französischen Antagonismus und einen Ausgleichs- und Verständigungsprozess mit Deutschland, der wiederum die Voraussetzungen dafür hätte schaffen können, den im Umbruch befindlichen östlichen Nachbarn in eine beiderseits akzeptable Sicherheitsordnung einzubeziehen. Die französischen Hauptakteure antizipierten zwar durchaus, dass es länger­ fristig unaus­weichlich sein würde, sich in irgendeiner Form mit Deutschland zu verständigen, aber sie unternahmen 1919 keinerlei Schritte, um selbst minimale Voraus­setzungen hierfür zu schaffen. Öffentlich deutete Clemenceau eine solche Perspektive bezeichnenderweise erst nach der Friedenskonferenz überhaupt zum ­ersten Mal an. Aber er unterstrich zugleich, dass solche Schritte erst in fernerer 41 Bourgeois’

Empfehlungen basierten auf einem „juristisch-internationalistischen“ Programm, dessen Grundzüge er bereits als ein Impulsgeber der Haager Konventionen von 1899 und 1907 entwickelt hatte. Vgl. Bericht der Bourgeois-Kommission, 8. 6. 1918, AN, F 12 8106. 42  Vgl. die Interpretation in Jackson: Balance (wie Anm. 34), S. 270–295.

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Zukunft erwogen werden könnten, wenn „sichere Bedingungen“ geschaffen worden seien und sich die Eindämmungs- und Ausgrenzungspolitik gegenüber dem östlichen Nachbarn bewährt habe.43 Natürlich sahen sich auch und besonders die neuen deutschen Verantwortungsträger wie etwa der erste Außenminister der Weimarer Republik, Ulrich von Brockdorff-Rantzau, mit grundlegenden sicherheitspolitischen Herausforderungen konfrontiert. Die Protagonisten der Regierung Scheidemann konnten unter den Bedingungen von 1919 letztlich nur darin scheitern, zugleich die Konsequenzen der verdrängten Niederlage abzuwenden, einen möglichst milden Frieden auszuhandeln und einen Neuanfang zu initiieren, indem man sich von den Tra­ ditionen deutscher Machtpolitik löste und Grundlagen einer republikanischen ­Außen- und Sicherheitspolitik entwickelte. Als relativ unerfahrenen Repräsentanten einer akut g­ eschwächten Macht war ihnen nur unzureichend bewusst, wie gravierend das Problem war, vor allem den französischen Sorgen vor einer künf­ tigen deutschen Bedrohung überzeugend zu begegnen und so überhaupt Handlungsspielraum für eine Politik zu gewinnen, die Deutschland als gleichberechtigte Großmacht in eine neue internationale Ordnung zu führen trachtete. Ihre allzu einseitige Orientierung auf Wilson und ihre Bekenntnisse zu den Grundprinzipien eines univer­salen Völkerbundes waren unter den gegebenen Umständen nicht überraschend, aber noch weit entfernt davon, einen realistischen Ansatz zur Bewältigung der auf Deutschland konzentrierten Sicherheitsfrage darzustellen. Und sie wurden von wesentlichen westlichen Entscheidungsträgern nicht von ungefähr als opportunistisch angesehen. Glaubwürdigkeit musste von deutscher Seite nach den Entwicklungen der Kriegs- und Vorkriegszeit durch eine längerfristige Bewährung erst wieder erworben werden.44 Grundsätzlich war eine nachhaltige Friedenssicherung ohne einen Deutschland einbeziehenden Aushandlungsprozess unmöglich. Aber die Konzepte und Interessen der ersten Weimarer Regierung wurden zunächst marginalisiert. Da alle Siegermächte hierauf bestanden, vollzogen sich die sicherheitspolitischen Neuordnungsanstrengungen von 1919 ohne deutsche Beteiligung. Dies sollte weitreichende Konsequenzen haben.

Das hybride Unsicherheitssystem von Versailles: Die Neuordnungsprozesse und die fragile Kompromissarchitektur von 1919 Angesichts der besonderen Sicherheitsperzeptionen und angesichts der in entscheidenden Aspekten gegensätzlichen Ordnungsvorstellungen der führenden Akteure waren die Aussichten, auf der Pariser Friedenskonferenz ein effektives euro-atlantisches Sicherheitssystem für das „lange“ 20. Jahrhundert zu begründen, 43  Rede

Clemenceaus, 25. 9. 1919. In: Journal officiel de la République française. Débats parlementaires. Chambre des députés, S. 4572–4580. 44 Vgl. Peter Krüger: Die Außenpolitik der Republik von Weimar. Darmstadt 1985, S. 17–76; Gottfried Niedhart: Die Außenpolitik der Weimarer Republik. München 2013, S. 1–10, S. 46–62.

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von vornherein äußerst begrenzt. Was die Versuche der Protagonisten, sich auf Mechanismen und Regeln der künftigen Friedenssicherung zu verständigen, zusätzlich erschwerte, war die Tatsache, dass sie unter den einem rationalen Interessenausgleich wenig zuträglichen Bedingungen des ersten modernen, tendenziell globalen und zweifellos komplexesten Friedenstiftungsprozesses der neueren Geschichte erfolgen mussten. Die Friedensstifter hatten somit nicht nur sehr unterschiedliche Beurteilungen der wesentlichen Sicherheitsprobleme und Ansätze zu ihrer Lösung auszubalancieren, sondern sahen sich auch mit einer weiteren fundamentalen Herausfor­derung konfrontiert: Sie mussten sowohl Wege finden, in einem komplizierten Spannungsfeld transnational wirkender Kräfte und Einflüsse zu agieren, zumal der Maximen Wilsons und bolschewistischer Ideen und Bestrebungen, als auch mit den sich dynamisch verändernden innenpolitischen Grund- und insbesondere Legitimationsbedingungen internationaler Politik zurechtzukommen, denen in der Folge des Kriegs eine größere Relevanz als je zuvor zufiel. Im Ganzen schränkte die 1919 neue Intensität gewinnende Interdependenz internationaler, transnationaler und innerstaatlicher Politik die Handlungsspielräume der Entscheidungsträger gerade auf dem weiten Feld der Sicherheit merklich ein. Als ­führende Politiker mehr oder minder demokratischer Staaten hatten sie vor allem essenzielle innenpolitische Legitimations­anforderungen zu erfüllen. Sie mussten den Interessen, Besorgnissen und Forderungen der von ihnen repräsentierten Bevölkerungen nach Sicherheit und angemessener Kompensation für die im Krieg gebrachten Opfer Rechnung tragen. Zugleich mussten sie jedoch auch lernen, die innenpolitischen Zwänge und Erfordernisse ihrer Verhandlungspartner zu berücksichtigen. Und hervorzuheben ist auch hier noch einmal, wie unterschiedlich sich die ­wesentlichen Erfordernisse darstellten und wie weit die verschiedenen Sicher­ heitserwartungen auseinanderklafften. Für Wilson und Lloyd George bestand das zentrale Problem darin, die unerlässliche innenpolitische Unterstützung für die sicherheitspolitischen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten zu mobilisieren, was sowohl die jeweiligen Parlamente als auch die „öffentliche Meinung“ betraf. Beide Staatsmänner betonten an kritischen Punkten der Pariser Verhandlungen nicht nur aus taktischen Gründen, dass sie nur solche Verpflichtungen eingehen würden, die in der britischen und amerikanischen Öffentlichkeit Zustimmung ­finden konnten. Im Kontrast hierzu stand Clemenceau wie erwähnt vor dem Problem, immense französische Sicherheitserwartungen erfüllen zu müssen, die auf die deutsche Bedrohung fixiert waren. Es kann vor diesem Hintergrund nicht verwundern, dass die Hauptakteure auf der Pariser Friedenskonferenz und ihre maßgeblichen Berater nicht in der Lage waren, Fundamente für eine effektive und stabile Sicherheitsordnung zu legen. Wilson hatte ursprünglich gehofft, sein transformatives Programm mithilfe einer transnationalen Phalanx liberal-progressiver Kräfte nicht nur den Besiegten, sondern auch den Führern der Entente-Mächte gleichsam oktroyieren zu können. Aber er musste sehr rasch feststellen, wie illusorisch dies war, denn er verfügte nicht über die Macht, als „Weltschiedsrichter“ einen progressiven Frieden dekre-

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tieren zu können – und war gerade für die Umsetzung seiner Völkerbundpläne entscheidend auf die Kooperation mit den europäischen Siegermächten ange­ wiesen. Nicht minder waren indes Clemenceau und Lloyd George darauf angewiesen, mit dem amerikanischen Präsidenten eine Einigung zu erzielen, um ihre sicherheitspolitischen Hauptziele zu erreichen. Was sich so 1919 vollzog, war ein Neuordnungsprozess, der gerade in den entscheidenden Sicherheitsfragen durch das konfliktreiche Aushandeln komplexer Kompromisse gekennzeichnet war. ­ Gerade weil es sich für die Siegermächte als so schwierig erwies, sich auf allseits akzeptable Eckpunkte zu einigen, insistierten sie darauf, ihre Kompromissvereinbarungen zu wesentlichen Elementen eines „Sieger-Friedens“ zu machen, der den Besiegten am Ende ohne substanzielle Verhandlungen aufgezwungen wurde. Dieses Vorgehen hatte weitreichende Folgen für die Legitimität der Pariser Friedensordnung. Es verschärfte insbesondere die ohnehin schon erheblichen sicherheitspolitischen Herausforderungen, in deren Zentrum die ungelöste deutsche Frage der Nachkriegsära stand, indem es auf deutscher Seite übersteigerte Ablehnungsreaktionen und revisionistische Bestrebungen provozierte. Eine genauere Analyse macht deutlich, dass es sich bei dem, was am Ende der Friedenskonferenz Gestalt angenommen hatte, bestenfalls um erste Konturen eines sehr fragilen und in seiner Grundbeschaffenheit hybriden Sicherheitssystems der Sieger handelte, das in wesentlichen Aspekten von Beginn an reformbedürftig war und so, wie es zustande gekommen war, den Frieden schwerlich wirksam ­sichern konnte. Es war geprägt durch eine spannungsreiche Mischung aus drei Komponenten: 1. „kollektiver Sicherheit“ im Rahmen eines Völkerbundes, der zunächst im Kern als Institution der Sieger gegründet und sowohl Deutschland als auch das bolschewistische Russland ausgrenzte; 2. spezifischer – aber noch zu bestätigender – anglo-amerikanischer Garantien, Frankreich im Fall einer nicht provozierten deutschen Aggression Beistand zu leisten; und 3. traditioneller territorialer Sicherheit, die sich vor allem in der unter den ­Siegern umstrittene Besetzung von Teilen des Rheinlands manifestierte. All dies wurde komplementiert durch die umfassenden Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrags, die Deutschland bis auf Weiteres als militärische Großmacht ausschalteten, aber das strukturelle Problem des deutschen Machtpotenzials nicht aus der Welt schaffen konnten. Bekanntlich sollten sie den Ausgangspunkt zu einer allgemeinen Abrüstung bilden, was jedoch eine Absichtserklärung blieb. Das Sicherheitsregime der am 21. April 1919 vollendeten Satzung des Völkerbundes basierte auf den in Paris dominierenden britischen und amerikanischen Konzeptionen. Der in Genf konstituierte Völkerbund etablierte weder ein ambi­ tioniertes System obligatorischer Streitschlichtung noch ein robustes Sanktions­ regime. Und er verfügte schon gar nicht über eigene Streitkräfte, wie es Bourgeois im Namen der französischen Delegation gefordert hatte.45 Sowohl Wilson als 45 

Vgl. die Ausführungen Bourgeois’ nach Minutes, 11. 2. 1919 (wie Anm. 15), hier: S. 74–77.

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auch Cecil und Lloyd George hatten eine solche Ausrichtung strikt abgelehnt. Stattdessen waren vor allem durch Artikel X des Covenant Grundlagen für ein weniger ambitioniertes kollektives Sicherheitssystem gelegt worden. Es sollte den Frieden und die Integrität aller, vor allem auch kleinerer Staaten dadurch schützen, dass sich die Mitglieder und zuvorderst die im Völkerbundsrat dominierenden Großmächte verpflichteten, angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um jenen, die durch Aggressoren bedroht waren, Beistand zu gewähren – und in letzter ­Instanz auch militärisch zu intervenieren. Aber es gab keinen Automatismus. Vor allem weil Wilson und Lloyd George hierauf bestanden hatten, lagen die Entscheidungen letztlich bei den Regierungen und den Parlamenten der Mitglied­ staaten, deren wesentliche Souveränitätsrechte in Fragen von Krieg, Frieden und Intervention somit bewahrt blieben. Der eigentliche Schwerpunkt lag jedoch den Vorstellungen Wilsons und Cecils entsprechend darauf, den Völkerbund zur zentralen permanenten „Clearingstelle“ der Weltpolitik und insbesondere der ­ transatlantischen Beziehungen zu machen. Er war somit nicht als Plattform einer Nachkriegs­allianz der Sieger angelegt, sondern als institutionalisierter politischer Schlichtungsmechanismus eines neu formierten internationalen Konzerts, der es den ­Vertretern der Staaten und an deren Spitze den Vertretern der sich als die fortschrittlichsten Akteure betrachtenden Großmächte ermöglichen sollte, Dispute friedlich beizulegen, Krisen zu entschärfen und kollektive Praktiken für eine nachhaltige Sicherung des Friedens zu entwickeln.46 Ungeachtet all seiner unvermeidbaren ursprünglichen Konstruktionsmängel, die sich im Covenant von 1919 widerspiegelten, hatte der Völkerbund durchaus das Potenzial, sich zum wichtigsten Sicherheits- und Konfliktregelungsmechanismus einer neuen euro-atlantischen Ordnung zu entwickeln. Entscheidend hierfür war allerdings nicht nur ein konstruktives Engagement seiner wesentlichen Mitgliedstaaten, sondern auch, dass die neue Organisation sobald wie möglich zu ­einer essenziell integrativen Sicherheitsinstitution ausgebaut wurde, die auch die Besiegten, insbesondere Deutschland, einbezog und auf die in ihrer Satzung festgeschriebenen Grundsätze und Obligationen festlegte. Dass der Völkerbund dann bekanntlich nicht als eine universale Organisation, sondern als eine Rumpfinsti­ tution der Sieger etabliert wurde, die nicht nur den mächtigsten Verlierer des Kriegs, sondern auch das bolschewistische Regime vorerst ausschloss, sollte weitreichende Folgen für seine Entwicklung haben. Und es trug beträchtlich zur Verschärfung der Unsicherheit in Europa bei. Maßgeblich hierfür war der Grundkonsens zwischen Wilson und Clemenceau, einen Beitritt der neu gegründeten deutschen Republik erst nach einer „Bewährungsfrist“ in Betracht zu ziehen, ohne sich auf genaue Bewährungskriterien zu verständigen.47 46 Rede

Wilsons nach Protocol of a Plenary Session of the Inter-Allied Conference for the ­ reliminaries of Peace, 25. 1. 1919. In: Arthur Link u. a. (Hg.): PWW. Bd. 54 (wie Anm. 14), P S. 264–271, hier: S. 266 f.; Tagebuchaufzeichnungen Cecils, 11. 2. 1919, BL, NL Cecil. 47  The Meetings of the Council of Four, 7. 6. 1919. In: Arthur Link (Hg.): The Deliberations of the Council of Four (March 24–June 28, 1919). Notes of the Official Interpreter Paul Mantoux.

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Die separaten, aber miteinander verzahnten, britischen und amerikanischen Garantie­vereinbarungen mit Frankreich, die den zweiten Pfeiler der brüchigen transatlantischen Sicherheitsarchitektur von 1919 bildeten, entsprangen bezeichnenderweise keiner langfristigeren Planung der Siegermächte. Sie waren vielmehr, wie bereits skizziert, das Resultat der britischen Reaktion auf die als extrem friedensgefährdend angesehene französische Rheinlandpolitik, die auch Wilson entschieden ablehnte. Mit dem Ziel, Clemenceau und Tardieu von ihren Aspirationen abzubringen, einen rheinischen Pufferstaat zu etablieren, lancierte der britische Premierminister Mitte März 1919 den von seinem Berater Kerr entwickelten Vorschlag einer restriktiv definierten anglo-amerikanischen Garantie gegenüber Frankreich, die er ausdrücklich auf das Szenario eines nicht provozierten deutschen Angriffs beschränkte. Der britische Vorstoß zielte darauf ab, nicht nur die französische Nachkriegspolitik zu mäßigen, sondern auch die Vereinigten Staaten in dieser entscheidenden Frage in die Absicherung des prekären europäischen Friedens einzubinden und gleichzeitig britische Verpflichtungen auf das zu begrenzen, was die eigenen Sicherheitsinteressen besonders zu tangieren schien. Das übergeordnete Ziel der Initiative war indes, durch eine hinreichende Befriedigung französischer Sicherheitsbedürfnisse einem Ausgleich mit Deutschland und einer Einbeziehung des besiegten Gegners in die Nachkriegsordnung den Weg zu bereiten. Denn von britischer Seite glaubte man, Europa nur so längerfristig stabilisieren zu können.48 Der Erfolg der britischen Strategie hing entscheidend von der amerikanischen Bereitschaft ab, zumindest eine begrenzte Rolle als Garantiemacht in Nachkriegseuropa zu übernehmen. Es mag auf den ersten Blick überraschen, dass Wilson nicht zögerte, seine Unterstützung für Lloyd Georges Pläne zu signalisieren. Aber der amerikanische Präsident blieb in Sicherheitsfragen keineswegs der progressive Idealist, als der er oft dargestellt worden ist. Er entwickelte auf der Pariser Friedenskonferenz durchaus ein Verständnis für die machtpolitischen Dimensionen der deutschen Frage und für das französische Sicherheitsverlangen, auch wenn er Letzteres für übersteigert hielt. Seine Vision zur Lösung der Sicherheitsfrage unter­schied sich jedoch weiterhin fundamental von französischen Ansätzen. Er erteilte Clemenceaus und Tardieus Ideen einer militärischen Allianz oder exklu­siven Sicherheitsgemeinschaft der Sieger eine klare Absage und verwahrte sich ­dagegen, die USA zu einer europäischen Macht alten Musters zu machen, die Bündnisse mit anderen Staaten einging und eine führende Rolle bei einer machtpolitischen Durchsetzung des Friedens und der Einhegung Deutschlands spielen würde. Wilson warnte, dass eine solche Politik „nicht Frieden“, sondern eine Konflikte schürende „bewaffnete alliierte Dominanz“ bringen würde; und er betonte, dass das Abkommen, um die Zustimmung des US-Senats sicherzustellen, nicht einmal den „Anschein“ eines europäischen Traditionen entsprechenden „Paktes zwischen Bd. 2: From the Delivery of the Peace Terms to the German Delegation to the Signing of the Treaty of Versailles. Princeton 1992, S. 347. 48 War Cabinet Minutes, 4. 3. 1919, TNA, CAB 23/15/54; From the Diary of Dr. Grayson, 14. 3. 1919. In: Arthur Link u. a. (Hg.): PWW. Bd. 55. Princeton 1986, S. 497 f.

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den drei Mächten“ erwecken dürfe. Er bestand somit auf separaten amerikanischen und britischen Verträgen mit Frankreich. Grundsätzlich rechtfertigte der amerikanische Präsident die Garantievereinbarungen als eine temporäre und komplementäre Maßnahme, die in seiner Interpretation die Vereinigten Staaten in puncto kollektiver Sicherheit zu nicht mehr verpflichtete als dem, was bereits Artikel X der Völkerbundsatzung stipulierte. Wilson sah sie wie Lloyd George als Mittel zu dem höheren Zweck, die französische Politik abzumildern, eine spätere Eingliederung Deutschlands in den Völkerbund zu ermög­lichen und so bessere Bedingungen für die Konsolidierung eines qualitativ neuen Friedenssystems zu schaffen. Im Übrigen soll nicht unerwähnt bleiben, dass ­ weder Wilson noch Lloyd George bereit waren, den noch ungefestigten neuen Staaten in Osteuropa – insbesondere Polen, das sich mit dem Problem deutscher Minderheiten und irredentistischer Forderungen konfrontiert sah – besondere Garantien in Aussicht zu stellen. Wilson argumentierte, dass auch die Sicherheit dieser Staaten am wirkungsvollsten durch die im Völkerbund gebündelte „kombinierte Macht der Welt“ gewährleistet werden könne.49 Die Garantieabkommen von 1919 waren somit von vornherein durch inhärente Einschränkungen und Vorbehalte geprägt, und obwohl Clemenceau sie als eines der für Frankreich bedeutsamsten Resultate der gesamten Friedensverhandlungen betrachtete, legten sie keineswegs den Grundstein für eine vollwertige Defensiv­ allianz oder gar eine atlantische Sicherheitsgemeinschaft gemäß französischen Prämis­sen.50 Zudem hielten weder Clemenceau noch Tardieu die politischen Garantien der anglo-amerikanischen Mächte für ausreichend, um französische ­ Sicherheits­interessen zu befriedigen. Sie pochten weiterhin auch auf eine möglichst weitgehende Schwächung Deutschlands und eine langfristige Kontrolle über das Rheinland. So war die anglo-amerikanische Sicherheitsofferte am Ende nur ein – wenn auch ein wesentlicher – Bestandteil einer der Kernkompromisse von Versailles. Nach langwierigen Verhandlungen konnten die britischen und amerikanischen Unterhändler die französischen Protagonisten dazu bewegen, a­ nstatt eines rheinischen Pufferstaates eine abgeschwächte Form territorialer Garantien gegen die deutsche Bedrohung zu akzeptieren – nämlich die längerfristige Besetzung von Teilen des Rheinlands durch die „alliierten und assoziierten Mächte“.51 Allerdings konnte dieser Rheinlandkompromiss kaum den fortbestehenden Dissens zwischen den Siegermächten kaschieren. Aus französischer Sicht war das Besatzungsregime nicht nur für die Kontrolle deutscher Macht, sondern auch für die Durchsetzung der Friedensbedingungen, einschließlich der Repara­ tions­ forderungen, unabdingbar. Wilson und Lloyd George billigten es hingegen nur sehr widerwillig, da sie es weiterhin als Quelle fortgesetzter Nachkriegskonflikte 49 

Remarks to Members of the Democratic National Committee, 28. 2. 1919. In: Link u. a. (Hg.): PWW (wie Anm. 15), S. 309–324, hier: S. 317 f. 50 The Meetings of the Council of Four, 13. 6. 1919. In: Link (Hg.): Deliberations. Bd. 2 (wie Anm. 47), S. 438–440. 51  Remarks, 28. 2. 1919 (wie Anm. 49).

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und als ein Arrangement ansahen, das keine wirkliche Sicherheit erbringen und zugleich den ihrerseits anvisierten mittelfristigen Ausgleichsprozess mit Deutschland behindern würde. In der Tat vertiefte die Versailler Regelung den deutschfranzösischen Antagonismus der Kriegszeit weiter und schuf eine Konstellation mit erheblichem Eskalationspotenzial. Weitere Konflikte zwischen den Siegern waren folglich absehbar, und im Rückblick müssen „territoriale Garan­tien“ sowie das Instrument der Besetzung strategischer Gebiete der besiegten Macht als kon­ traproduktive Elemente der sicherheitspolitischen Neuordnung nach dem Ersten Weltkrieg bewertet werden.52 Letzten Endes konnten die Friedensstifter von 1919 somit nicht mehr aus­ handeln als ein durch innere Widersprüche gekennzeichnetes Konglomerat von Sicherheitskompromissen. Das höchst fragile „Versailler System“, das sich in Wahrheit nie zu einem tragfähigen System konsolidieren konnte, vergrößerte in vielerlei Hinsicht die ohnehin beträchtliche Unsicherheit und Instabilität in Mittel- und Osteuropa, insbesondere durch die Grenzdispute und Minderheitenprobleme, die es geschaffen oder verschärft hatte. Aber sein eigentlicher und wesentlicher Mangel war aber nicht nur, dass es als oktroyiertes System der Sieger entscheidende Legitimitätsdefizite aufwies, sondern lag vor allem darin begründet, dass keine belastungs- und entwicklungsfähige atlantische Sicherheitsarchitektur geschaffen werden konnte und dass man sich auf keine Grundregeln für einen noch zu vollziehenden, für die Sicherung des europäischen Friedens essenziellen Verhandlungs- und Verständigungsprozess mit den Verlierern des Weltkriegs verständigt hatte. Zugleich waren für eine Konsolidierung der Weimarer Republik sehr belastende äußere Bedingungen geschaffen und gerade jene Akteure geschwächt worden, die eine Verständigung mit den Westmächten und eine Kooperation im Völkerbund anstrebten, während der deutsche Nationalstaat bekanntlich trotz aller Verluste und Beschränkungen in seinem Großmachtcharakter erhalten blieb. All diese Probleme waren untrennbar miteinander verknüpft. Das hybride Sicherheitsgerüst von 1919 war somit von Anfang an nicht nur konsolidierungs-, sondern entwicklungsbedürftig. Es konnte den Frieden nur dann dauerhaft sichern, wenn es nicht nur gefestigt, sondern weiterentwickelt, gar grundlegend reorganisiert und zu einem umfassenderen Sicherheitssystem ausgebaut wurde. Aber selbst seine elementare Konsolidierung – und insbesondere die Etablierung eines effektiven Völkerbundes – hing natürlich entscheidend davon ab, inwieweit die politischen Führungseliten der Siegermächte willens und innenpolitisch in der Lage waren, diese Prozesse voranzutreiben, und inwiefern sie sich überhaupt darüber verständigen konnten, was für eine Sicherheitsordnung sie stabili­sieren wollten. In der Folgezeit der Pariser Friedenskonferenz zeigte sich bereits sehr früh, dass die westlichen Hauptakteure weiterhin divergierende Ziele und Strategien verfolgten, während Instabilität und Unsicherheit gerade in Mittel52  Zu

anderen Schlussfolgerungen gelangt Stephen Schuker: The Rhineland Question. In: Manfred Berg/Gerald Feldman/Elisabeth Glaser (Hg.): The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years. Cambridge 1998, S. 275–312.

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und Osteuropa noch zunahmen. Der Schwerpunkt der französischen Politik lag auf der Durchsetzung der Versailler Vertragsbestimmungen und auf der Festigung der Abkommen zu einem der erstrebten Siegerallianz so nahe wie möglich kommen­ den System der Kontrolle, Eindämmung und langfristigen Isolierung Deutschlands. Ein begrenzter Ausgleich sollte erst später, aus einer Position der Stärke und durch die anglo-amerikanischen Garantien gewährleisteten Sicherheit erwogen werden. Der ursprüngliche Hauptakzent der britischen Politik wie der Bestrebungen Wilsons nach Versailles lag hingegen darauf, den Völkerbund als Nukleus eines neuen internationalen Konzerts zu festigen und baldmöglichst eine Einbindung Deutschlands in eine sich evolutionär entwickelnde Nachkriegsordnung anzustreben. Als wesentliche Vorbedingungen für eine Wiederaufnahme Deutschlands in die comity of nations wurden zum einen der erkennbare Wille zur Erfüllung der Friedensbedingungen, zum anderen die Stabilisierung einer demokratisch-repu­ blikanischen Ordnung angesehen. Die Frankreich gegebenen Garantiezusagen wurden weiterhin als notwendige, aber auch größtmögliche Konzessionen betrachtet, die Fortschritte in diese Richtung befördern sollten, während sowohl in Washington als auch in London bald die Ansicht dominierte, dass das Befriedungshindernis der Rheinlandbesetzung so bald wie möglich beseitigt werden müsse. Was in Paris ausgehandelt worden war, blieb somit zunächst nicht nur ein unvollendetes, sondern auch inhärent konfliktträchtiges Vertragssystem der Sieger, das nur in sehr begrenztem Maße Optionen zur Bewältigung der gravierendsten europäischen Sicherheitsprobleme eröffnete.53 Inwieweit und vor allem wie sich das ursprüngliche System von 1919 entwickelt hätte, wenn alle seine drei Hauptmächte weiter an ihm partizipiert hätten und gezwungen gewesen wären, ihre unterschiedlichen Ziele, Interessen und Vorstellungen angesichts der prekären europäischen Nachkriegslage doch noch auszubalancieren, bleibt der Spekulation überlassen. Denn Wilsons innenpolitisches Scheitern, seine Niederlage im „Kampf um den Versailler Vertrag“ in dem von den oppositionellen Republikanern dominierten Senat, bedeutete auch das Scheitern des ersten Versuchs, ein transatlantisches Sicherheitssystem zu begründen. Die Anfang der 1920er-Jahre erfolgende amerikanische Rückkehr zu einer in Wahrheit nicht länger möglichen Normalität weltpolitischer Zurückhaltung und eines selektiven Unilateralismus beraubte nicht nur den Völkerbund seiner po­tenziell wichtigsten Ordnungsmacht, sondern ließ auch das gesamte Konstrukt der anglo-amerikanischen Garantieabkommen kollabieren, da Lloyd George d ­arauf bestanden hatte, die ­britische an die amerikanische Zusage zu koppeln. So war bereits im Frühjahr 1920 überdeutlich, dass neue Wege beschritten werden mussten. 53 In

der jüngeren Forschung dominiert hingegen noch immer eine positivere Bewertung des Versailler Vertragssystems, auch im Hinblick auf die Friedenssicherung. Vgl. etwa Margaret MacMillan: Peacemakers. Six Months that Changed the World. London 2001; Zara Steiner: The Lights that Failed. European International History 1919–1933. Oxford 2005, S. 15 ff., S. 69 f.; aber auch Leonhard: Frieden (wie Anm. 7), S. 1254–1277.

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Ausblick: Von der Ordnung „jenseits von Versailles“ in den 1920er-Jahren zur atlantischen Sicherheitsgemeinschaft nach 1945 Die Pariser Friedenskonferenz markierte keineswegs den Höhepunkt oder gar das Ende zwischenstaatlicher wie transnationaler Anstrengungen, nach 1918 der Unsicherheit und Instabilität auf dem europäischen Kontinent Herr zu werden. Entscheidende Fortschritte auf dem Weg zu einer stabilisierenden Reform des Versailler Systems und zur Konsolidierung einer internationalen Ordnung „jenseits von Versailles“, die es ermöglichte, den Kernproblemen der Ära nach dem Ersten Weltkrieg wirkungsvoller zu begegnen, konnten jedoch erst Mitte der 1920er-­ Jahre gemacht werden. Wesentliche Voraussetzungen hierfür wurden nach der ­Eskalation des deutsch-französischen Nachkriegsantagonismus und der Zäsur der Ruhrkrise durch das erste zwischen Siegern und Besiegten ausgehandelte Friedens­abkommen, das Londoner Reparationsabkommen von 1924, geschaffen. Seine eigentliche Grundlegung erfolgte dann durch den Sicherheitspakt von Locarno im Herbst 1925 mit signifikanter Unterstützung der amerikanischen Regierung und Hochfinanz hinter den Kulissen der europäischen Diplomatie. Das Londoner Abkommen und der Locarno-Pakt wurden zu Grundpfeilern einer qualitativ neuen euro-atlantischen Friedens- und Sicherheitsordnung, die sich nach dem Ersten Weltkrieg herauszubilden begann. Ihr wesentlicher Mechanismus war ein neuartiges, die Weimarer Republik einschließendes und mit dem Völkerbund verzahntes europäisches Konzert. Aber ihre eigentliche – jetzt informell agierende – politische wie ökonomische und finanzielle Schlüsselmacht waren die Vereinigten Staaten. Essenziell für den Beginn dieser Transformation waren nicht nur Lern- und Neuorientierungsprozesse der entscheidenden politischen Akteure, sondern auch politische Veränderungen und ein beginnender Mentalitätswandel auf beiden Seiten des Atlantiks, welche die Handlungs- und Legitimationsspiel­räume für eine konzertierte, auf Interessenausgleich setzende Sicherheitspolitik erweiterten. Das Locarno-System, dessen wesentliche Architekten die Außenminister Austen Chamberlain, Gustav Stresemann und Aristide Briand waren, stellte nicht nur die Sicherheit Westeuropas auf ein neues, festeres Fundament wechsel­seitiger Garan­ tien. Es etablierte innerhalb des neu geschaffenen Konzerts der L ­ ocarno-Mächte Großbritannien, Frankreich und Deutschland auch neue – von allen relevanten Akteuren akzeptierte – Regeln und Praktiken politischer Streitschlichtung und friedlichen Wandels, was gerade auch im Hinblick auf die Grenz- und Minder­ heitenkonflikte in Osteuropa essenziell war. So eröffnete es auch neue, obschon zunächst kaum verheißungsvolle Perspektiven für den überaus schwierigen, aber nicht unmöglichen Prozess einer Ausbalancierung von französischen und osteuropäischen Sicherheitsbedürfnissen auf der einen und der internationalen Einbindung einer sich auf kooperative Verständigung und eine friedliche Revi­sionspolitik verpflichtenden Weimarer Republik auf der anderen Seite.54 54  Zu

Wesen und Bedeutung des Locarno-Systems und der Locarno-Politik vgl. Steiner: Lights (wie Anm. 53) und vor allem Patrick O. Cohrs: The Unfinished Peace after World War I. America, Britain and the Stabilisation of Europe, 1919–1932. Cambridge 2006.

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Die intergouvernementalen Fortschritte der Locarno-Politik schufen im Übrigen auch Rahmenbedingungen für weiterführende Bemühungen von Nichtregierungs­ akteuren, zumal von Aktivisten und Interessengruppen, die in den 1920er-Jahren für transnationale Verständigung eintraten und so etwas wie eine transatlantische international society schaffen wollten. Zu ihnen gehörten die amerikanischen ­Initiatoren der Kriegsächtungsbewegung, die wichtige Impulse für den KelloggBriand-Pakt von 1928 gaben, sowie die Vielzahl derer, die für eine Stärkung des Völkerbundes und der völkerrechtlichen Instrumente zur Einhegung des Kriegs und zur friedlichen Streitschlichtung eintraten – und die zu diesem Zweck neue Brücken über den Atlantik schlugen.55 Der Fortentwicklung des Systems von London und Locarno zu einer robusteren transatlantischen Sicherheitsordnung wurden jedoch vor allem dadurch klare Grenzen gesetzt, dass Wilsons republikanische Nachfolger weder über den poli­ tischen Willen noch den nötigen innenpolitischen Spielraum verfügten, um substanziellere sicherheitspolitische Verantwortung in Europa zu übernehmen und mit den Europäern bei der Konsolidierung des noch ungefestigten Regimes kollektiver Sicherheit zu kooperieren. Dies trug entscheidend dazu bei, dass das System der 1920er-Jahre dann unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise zusammenbrach und die engere Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs begann. Eine wirkliche Transformation der transatlantischen Politik konnte erst erfolgen, und eine dauerhafte transatlantische Ordnung erst entstehen, nachdem der Zweite Weltkrieg und die Eskalation des Kalten Kriegs die Voraussetzungen für einen solchen Prozess fundamental verändert hatten. Die euro-atlantische Sicherheitsgemeinschaft, die jetzt geschaffen wurde, basierte nicht nur auf dem Fundament des Regimes kollektiver Sicherheit der Nordatlantischen Allianz, sondern auch auf einem weitverzweigten System gemeinsamer politischer wie rechtlicher Grundregeln und ökonomischer wie ideologischer Stützelemente, dessen Grundstein durch das European Recovery Program gelegt worden war. Was sich seit 1947 entwickelte, wuchs sich zu einem umfassenden Gesamtsystem nicht nur intergouvernementaler, sondern auch weit in die verschiedenen Gesellschaften hineinreichender transnationaler Einflüsse und Verbindungen aus, das durch die Leitideologie einer atlantischen Wertegemeinschaft unterfüttert wurde. Eine Ordnungs- und Sicherheitsgemeinschaft dieser Art konnte sich einerseits nur im euroatlantischen Raum ausprägen. Andererseits ging von den Normen und Regeln, die hier entwickelt wurden, eine globale Wirkungsmacht aus. Die Pax Atlantica der Ära des Kalten Kriegs ging somit weit über das hinaus, was 1919 konzipiert oder angestrebt worden war. Sie tat dies auch, indem sie nicht nur die amerikanische Supermacht und die Staaten Westeuropas, sondern auch die neu gegründete Bundesrepublik integrierte – und indem sie den essenziellen Si-

55  Vgl.

z. B. Daniel Gorman: The Emergence of International Society in the 1920s. Cambridge 2013; Daniel Laqua (Hg.): Internationalism Reconfigured. Transnational Ideas and Movements between the World Wars. London 2011.

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cherheitsrahmen für die westeuropäischen Integrationsprozesse bildete, die nach 1989 dann auch auf Osteuropa ausgedehnt wurden. Die trotz aller Krisen und korrosiver Entwicklungen bemerkenswerte Dauerhaftigkeit und Legitimität dieses Systems lässt sich nicht allein durch die Dynamiken und Zwänge des Kalten Kriegs erklären. Sie kann in entscheidendem Maße auch darauf zurückgeführt werden, dass jene Akteure, die es aufbauten und fortentwickelten – Vordenker wie George F. Kennan und Jean Monnet und Politiker wie Ernest Bevin, Dean Acheson, Robert Schuman und Konrad Adenauer –, es mit beträchtlichem Erfolg verstanden, konstruktive Lehren aus den Problemen und Fehlschlägen der Pariser Friedenskonferenz und der Zwischenkriegszeit zu ziehen. Diese Lehren sind seit Beginn des 21. Jahrhunderts zusehends in Ver­ gessenheit geraten. Zugleich stellt sich hundert Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs die Frage, wie eine funktionierende und legitime Weltordnung zu gestalten ist, drängender als zu irgend­einem Zeitpunkt seit 1945. Gerade deswegen erscheint es wichtiger denn je, neues Licht darauf zu werfen, wie ungeheuer schwierig es war, im „langen“ 20. Jahr­hundert Grundlagen für ein trag- und entwicklungsfähiges atlantisches Friedenssystem zu schaffen.

Abstract This essay seeks to shed new light on the problem that arguably lay at the core of the struggle for a new world order at the Paris Peace Conference: the search for a “modern” and more effective security system that fostered a durable peace order for the “long” 20th century after a war of unprecedented destructiveness. It aims to show that, following the transformative Great War, the crux was to create, for the first time, a sustainable transatlantic peace and security architecture in which the United States was cast to play a pivotal role. Attempts to lay foundations for such new Atlantic order spawned novel, more comprehensive yet also competing conceptions of peace and collective security that proved formative for 20th-century international politics – and had a global impact. The essay’s core argument is that it was impossible to secure European and world peace after 1918 through a “balance-of-power” system that contained and excluded Germany. Yet nor could this be achieved solely through the League of Nations and transnational democratisation processes. Instead, the western victors of the war needed to make advances towards an integrative Atlantic international system that established new, more efficacious mechanisms and rules of collective security and concerted conflict resolution. Above all, this system had to foster the Weimar Republic’s inclusion into the reconfigured postwar order. The systemic analysis focuses on a reappraisal of the dominant concepts, strategies and learning processes that shaped the peace negotiations at Versailles – those of Wilson and the leading British and French decision-makers. It then illuminates why ultimately only a fragile victors’ peace and very tenuous underpinnings of postwar secu­rity could be forged under the conditions of 1919 – a hybrid “Ver-

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sailles system” of progressive and traditional guarantees that was impossible to sustain and offered little to “solve” the critical German question. But it also shows that by the ­mid-1920s the nucleus of a different, more inclusive and legitimate Euro-Atlantic order had been constructed, particularly through the Locarno security pact of 1925. More broadly, the essay thus interprets the struggles of 1919 as a decisive yet also highly ambivalent stage in a momentous longer-term process: the emergence of the transatlantic security community – and Pax Atlantica – of the long 20th century (1860–2022), which ultimately could only be created after a second world war and the escalation of the cold war. It highlights that what was attempted in the wake of the First World War in some ways prefigured these transformative changes, but mainly provided crucial lessons for subsequent endeavours – lessons that should be revisited 100 years later, at a time when the Atlantic order that arose from an era of global crisis and war is in danger of disintegrating.

Kathrin Kollmeier Erwartungen und Enttäuschungen Staatenlosigkeit als Ausdruck einer transnationalen Semantik von Zugehörigkeit nach 1918 Einleitung Mit dem Zusammenbruch der europäischen Imperien und dem Triumph des National­staates als Modell moderner Staatlichkeit in den Pariser Friedensverträ­ gen wurden im sortie de guerre nach dem Ersten Weltkrieg etwa drei Millionen Menschen in verschiedenen Regionen Europas und im Nahen Osten staatenlos. Die Gründe hierfür differierten – sie reichten von rechtssystematischen Lücken und Widersprüchen infolge von Grenzverschiebungen, Optionsrechten und ­neuen Staatsangehörigkeitsregelungen bis hin zu zielgerichteten Ausbürgerungen und Denationalisierungen. Flüchtlinge aus dem Russländischen Reich und arme­ nische Überlebende von Völkermord und Vertreibung bildeten unter den Staaten­ losen die größten Gruppen.1 Jüdische Minderheiten waren von Staatenlosigkeit be­sonders betroffen, ebenso wurden Frauen und Kinder aufgrund konfligierender Angehörigkeitsrechte oftmals staatenlos. Diese ganz unterschiedlichen, margina­ lisierten Personengruppen wurden in einer negativ formulierten Semantik der Nicht-Zugehörigkeit als „Staatenlose“, apatrides und stateless erfasst. Staatenlosigkeit – die im Rückblick geradezu als Sinnbild der Krisenhaftigkeit der Nachkriegsperiode gilt – als neue Massenerscheinung nach dem Ende des Ers­ ten Weltkriegs steht im Zentrum des vorliegenden Beitrags. Der Umgang mit ihr zeigt exemplarisch Chancen und Grenzen des neuen internationalen Politik­ raumes „Völkerbund“ und seines Leitprinzips, durch multilaterale diplomatische Aushandlung in Konflikten Verständigung zu erzielen und deren Ergebnisse durch Verrechtlichung zu sichern. Denn nachdem die zeitgenössisch brennende Frage der Staatenlosigkeit bei den Friedensverhandlungen in Paris ignoriert wor­ den war, wurde der Umgang mit den staatenlosen Flüchtlingen in der folgenden Dekade zu einem wichtigen humanitären und juristischen Arbeitsfeld des Völker­ 1  Vgl. zum Hintergrund von Bevölkerungs- und Minderheitenpolitiken knapp Ryan Gingeras: Nation States, Minorities, and Refugees, 1914–1923. In: Nicholas Doumanis (Hg.): The Oxford Handbook of European History, 1914–1945. Oxford 2016, S. 138–159; Alexander N. Prusin: Na­ tion-Building and Moving People. In: ebd., S. 557–575.

https://doi.org/10.1515/9783110653359-011

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bundes. Die Praxis zwischenstaatlicher Kooperation durch die Einführung inter­ nationaler Rechtsstandards und durch humanitäre Hilfe war eng mit der Etablie­ rung eines neuen Rechtsbegriffs für moderne Staatenlosigkeit verbunden. Der vorliegende Beitrag skizziert die in diese Semantik eingegangenen Erfahrungen und Erwartungen in drei Bereichen des zeitgenössischen Internationalismus. Die Analyse der juristischen Expertise nach 1918 zeigt erstens die Konstruktion des juristisch-bürokratischen Begriffs der Staatenlosigkeit mit Blick auf die Verletz­ lichkeit der betroffenen Bevölkerungsgruppen und verweist zugleich auf die cha­ rakteristische Verflechtung von juristischen sowie humanitären Argumentationen, Rhetoriken und Diskursen. Zweitens wird die internationale Aushandlung einer Ersatziden­tität für Staatenlose und von Schutzmaßnahmen in den Blick genom­ men. Der Völkerbund war hier in der Zwischenkriegszeit einerseits durch eine Serie diplomatischer Großkonferenzen seit 1920, andererseits durch die 1930 in Den Haag stattfindende Internationale Kodifikationskonferenz für Völkerrecht aktiv. Während im juristischen Diskurs übereinstimmend eine Ächtung und Ab­ schaffung von Staatenlosigkeit gefordert wurde, zeigte sich im internationalen Umgang mit dem Problem eine pragmatische Lastenverteilung. Eine abschließen­ de Reflexion verfolgt drittens die im Begriff „Staatenlosigkeit“ zum Ausdruck kommende neue Semantik der Nicht-Zugehörigkeit durch das gesamte 20. und beginnende 21. Jahrhundert und stellt Staatenlosigkeit als Deutungskategorie vor, die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts von Theoretikerinnen und Theoretikern, Künstlerinnen und Künstlern sowie anderen Akteuren genutzt wurde, um gesell­ schaftliche Deprivation zu thematisieren und Teilhabe einzufordern.

Staatenlosigkeit in juristischen Expertisen: Schutzlosigkeit und Anomalie In enger Verflechtung von juristischer und humanitärer Expertise entstand nach dem Ersten Weltkrieg im Völkerrecht ein neuer Rechtsbegriff von Staatenlosigkeit als eine erfahrungsgesättigte Kategorie radikaler Ausgrenzung und Individualisie­ rung. Als rechtliche „Anomalie“ und „unnatürlicher Zustand“ wahrgenommen, konstruierten Juristen in den zentral- und westeuropäischen Ländern, in denen nach 1918 viele Staatenlose lebten, also vor allem im Deutschen Reich, in Frank­ reich, Polen, Österreich, in der Tschechoslowakei, in Ungarn und anderen Staa­ ten, die neue Rechtskategorie wesentlich über die Merkmale der Schutzlosigkeit und Verletzlichkeit.2 Dies charakterisierte Beiträge zum Völkerrecht wie zu natio­ nalen Rechtstraditionen gleichermaßen. Massenhafte Staatenlosigkeit galt deshalb 2 

Sigismund Gargas: Die Staatenlosen. Leiden 1928, S. 128; ähnlich Heinrich Achler: Die Voraus­ setzungen der Staatenlosigkeit nach geltendem deutschem Recht. Ein Beitrag zur Reform des Deutschen Staatsangehörigkeitsgesetzes. Arnstadt 1931, S. 68; Marc Vichniac: Le Statut Interna­ tional des Apatrides. In: RdC 43 (1933), S. 115–246, hier: S. 127; Jean Pierre Adrien François: Le problème des apatrides. In: RdC 53 (1935), S. 287–373, hier: S. 371.

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als höchst bedenklich, weil die Betroffenen ohne staatlichen Schutz lebten und jeder­zeit von ihrem Wohnort verwiesen werden konnten.3 Ihr Status war prekär, da sie aller Rechte, die Staaten ihren Bürgern gewähren, entbehrten. Schon der Begriff der Staatenlosigkeit, so zahlreiche Juristen, widerspreche „dem modernen Rechtsempfinden“.4 Im 19. Jahrhundert waren Heimatlose als individuelle Einzelfälle wahrgenom­ men worden oder es handelte sich um politisch aktive Exilanten. In Abgrenzung zu diesen wurden bei Staatenlosen nach 1918 die Unfreiwilligkeit und die politi­ schen Hintergründe der Situation betont. Eine schnelle Behebung der Staaten­ losigkeit wurde als Frage von Gerechtigkeit und Menschlichkeit betrachtet. Mit der Verwendung von Topoi wie Widernatürlichkeit und Unmenschlichkeit war die juristische Kritik an der Staatenlosigkeit häufig humanitär aufgeladen. Der Völkerrechtler Lassa Oppenheim verglich die Situation Staatenloser mit der von Schiffen, die ohne Flagge segelten. Hans Kelsen begriff Staatenlose knapp als „völker­rechtlich vogelfrei“. Da das Völkerrecht insgesamt in Bezug auf die Rech­ te Fremder unterentwickelt sei, lasse das einzelstaatliche Recht Ausländer rechtlos und das Völkerrecht die Schutzlosen schutzlos. Wo der Staat als Schutzmacht des Individuums fehle, so schlug Kelsen vor, sollten zwischenstaatliche Verträge die Mängel im Völkerrecht ausgleichen und eine internationale Organisation ersatz­ weise einspringen.5 Diese Forderungen formulierte der Jurist in einer emphati­ schen Stellungnahme für eine Druckschrift der Österreichischen Liga für Men­ schenrechte. In dieser Veröffentlichung wurde die charakteristische Verflechtung des Rechtsdiskurses mit der Publizistik humanitärer Hilfs- und Menschenrechts­ organisationen, die gleichfalls die prekäre Rechtssituation anprangerten und auf Abhilfe drängten, deutlich. Insbesondere skandalisierten entsprechende Vereini­ gungen die zerstörerischen Auswirkungen der Staatenlosigkeit auf das Leben der Betroffenen und schilderten das „Elend der Staatenlosen“ empathisch anhand ein­ zelner Fallgeschichten, etwa solchen über die beklagenswerte Lage von Offiziers­ witwen der ehemaligen Habsburgermonarchie, die aufgrund entgangener Ver­ sorgungsansprüche hungerten.6 Die Betroffenen wurden typischerweise als „Un­ glückliche“, ihre Leben als „Tragödien“, die Mitleid und Abhilfe erforderten, beschrieben.7 Der Bericht über eine Umfrage der Österreichischen VölkerbundLiga, an der 1931 gut eintausend Staatenlose mit Einsendungen teilgenommen hatten, stellte die vielen „schmerzhaften Eindrücke“, welche „ein unglaubliches Bild menschlichen Elends und echter Tragödien“ ergeben und deren Ausmaß die 3 

Gargas: Staatenlosen (wie Anm. 2), S. 10. z. B. Ismar Freund: Staatsangehörigkeit und Staatenlosigkeit. In: Der Morgen 8 (1932) 5, S. 385–398, hier: S. 398. 5  Hans Kelsen: Geleitwort. In: Heinrich Engländer: Die Staatenlosen. Wien 1932, S. 5. 6  Leo Epstein: Staatenlosigkeit in Mitteleuropa. In: Völkerbundfragen 3 (1926) 3, S. 51–57, hier: S. 54. 7  Josef L. Kunz: Les Apatrides de l’europe centrale. Mémoire concernant lʼaction entreprise en leur faveur par lʼassociation autrichienne pour la S.D.N. In: Les minorités nationales  4 (1931), S. 8 f., hier: S. 9; Freund: Staatsangehörigkeit (wie Anm. 4), S. 398. 4 So

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Erwartungen der Organisatoren noch übertrafen hätten, heraus.8 In ihrer Schutz­ losigkeit galten Staatenlose vielen Völkerrechtlern geradezu als Testfall für den Status des Individuums in der internationalen Rechtsordnung, welche die question des questions, die Frage schlechthin, sei.9 Der lebhafte internationale Diskurs ab 1918 lässt sich als Teil einer Kultur des Übergangs in die Nachkriegszeit verstehen, in der die Aushandlung kollektiver und individueller Rechte die Abkehr vom Krieg sowie die Hoffnung auf dauern­ den Frieden und auf Gerechtigkeit bedeutete. In diesem Sinne identifizierte Boris Mirkine-Guetzévitch, russischer Verfassungsrechtler und Generalsekretär des ­Institut international de droit public, der 1920 selbst vor der Revolution nach ­Paris geflüchtet war, 1930 in einem Beitrag für die Zeitschrift der internationalen Pazifisten die „Idee der internationalen Bedeutsamkeit der Menschenrechte“ und deren völkerrechtlichen Schutz als Charakteristikum des „Rechtsbewußtseins der Nachkriegsjahre“.10 Für den Historiker Bruno Cabanes bilden der Kriegsausgang und der Über­ gang zum Frieden eine Transitionsphase und den Wendepunkt zu einer „Transna­ tionalisierung des modernen Humanitarismus“. In diesem ­humanitarian moment der Nachkriegszeit seien die humanitären Praktiken der Vorkriegszeit und das Völkerrecht tiefgreifend verändert worden.11 Cabanes betrachtet diese Über­ gangsphase von 1918 bis 1920 als Schlüsselperiode in der Geschichte des moder­ nen Humanitarismus. In jenen Jahren habe sich die westliche Welt in besonderer Weise mit globalen Problemen neuen Ausmaßes – etwa der Fragen nach dem Um­ gang mit den Veteranen, Kriegsopfern und Flüchtlingen, mit Hungersnöten und Epidemien, mit sozialen Spannungen, Wirtschaftskrisen und der Massenarbeitslo­ sigkeit –, konfrontiert gesehen, die neue Lösungen erforderten. Die zeitgenössisch vorgebrachten Lösungsansätze interpretiert Cabanes als eine weitere Stufe der „Transnationalisierung“ des bereits zuvor bestehenden internationalen Humanita­ rismus, als eine Steigerung der internationalen Interaktion in Ausmaß und Form.12 Auch auf der Diskursebene habe der sortie de guerre ein neues humanitäres ­Narrativ hervorgebracht: Die Rechte von Kriegsopfern etwa seien durch diese selbst beziehungsweise durch Juristen kodifiziert worden.13 Individuelle wie ­kollektive Identitäten seien in jener Transitionsphase neu bestimmt worden.14 In dieses Narrativ lässt sich auch Staatenlosigkeit als Massenerscheinung der Nach­ kriegszeit einfügen, wenngleich sie zeitlich und in ihrer Wirkung weit über diese Phase hinausreichte.  8 

Kunz: Apatrides (wie Anm. 7), S. 9. Ion G. Lipovano: L’apatridie. [Thèse doctorat] Paris 1935, S. 2. 10  Boris Mirkine-Guetzévitch: Das Menschenrecht der Heimatlosen. In: Die Friedens-Warte 30 (1930), S. 213–215, hier: S. 213. 11  Bruno Cabanes: The Great War and the Origins of Humanitarianism, 1918–1924. Cambridge 2014, S. 16, S. 4. 12  Ebd., S. 5. 13  Ebd., S. 6. 14  Ebd., S. 4.  9 

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In der Zwischenkriegszeit kamen für Juristen wie humanitäre Akteure nur inter­nationale Lösungsansätze infrage. Besonders große Erwartungen und Hoff­ nungen richteten sich an das Völkerrecht als Instrument und den Völkerbund als Akteur.15 Der polnische Soziologe und Minderheitenforscher Sigismund Gargas forderte etwa, ein einheitliches internationales Staatsangehörigkeitsrecht zu ­schaffen, um die unterschiedlichen nationalen Angehörigkeitsrechte anzugleichen – auch wenn ihm klar war, dass eine solche Unterordnung der Interessen der Ein­ zelstaaten kaum zu realisieren sei.16 Ein anderer radikaler Vorschlag sah vor, alle Staatenlosen zu Bürgern eines Staates zu erklären, der dann verpflichtet wäre, sie aufzunehmen.17 Solche und andere Formen von Zwangseinbürgerungen wurden kontrovers diskutiert.18 Außerdem wurde angeregt, eine Liquidierungskommis­ sion einzurichten, bei der Staatenlose Unterstützung für ihr Ersuchen um Staats­ bürgerschaft erhalten könnten.19 Solange keine Lösung des Problems auf inter­ nationaler Ebene zustande komme, seien regionale Abstimmungen zwischen Nachbarstaaten immerhin ein vielversprechender Anfang.20 Die juristischen Expertisen trugen zur Internationalisierung der Flüchtlingsfrage bei. Rechtsstudien dienten als Grundlage zwischenstaatlicher Vereinbarungen auf internationalen Konferenzen, dokumentierten den jeweils aktuellen Verhand­ lungsstand und spiegelten in ihren Empfehlungen die Hoffnungen und Forde­ rungen humanitärer Interessengruppen. Seit Mitte der 1920er-Jahre richteten sich ­zudem popularisierte Fachbeiträge an ein breiteres Publikum, etwa in Form von Sonderveröffentlichungen mitteleuropäischer Völkerbunds- und MenschenrechtsLigen.

Staatenlosigkeit in diplomatischer Aushandlung: Lastenverteilung statt Ächtung Die Reichweite der Aktivitäten des Völkerbundes blieb jedoch hinter den Er­ wartungen vieler Juristen zurück. Dies zeigen die sogenannten Nansen-Verein­ barungen, die in einer Serie internationaler Regierungskonferenzen auf Initiative des Internationalen Roten Kreuzes und unter Beteiligung anderer humanitärer Organisationen und Interessenverbände seit 1921 verschiedene rechtliche und

15 

Vgl. etwa Freund: Staatsangehörigkeit (wie Anm. 4), S. 29. Gargas: Staatenlosen (wie Anm. 2), S. 127. 17  Engländer: Staatenlosen (wie Anm. 5), S. 26. 18 Befürwortend z. B. Emil Borger: Staatenlosigkeit und mehrfache Staatsangehörigkeit. Eine völkerrechtliche Studie. Würzburg 1933, S. 10; ablehnend z. B. Catheryn Seckler-Hudson: State­ lessness. With Special Reference to the United States (A Study in Nationality and the Conflict of Laws). Washington 1934, S. 266. 19  Epstein: Staatenlosigkeit (wie Anm. 6), S. 56  f. 20 Heinrich Engländer: Das Problem der Staatenlosigkeit. In: Schweizer Juristenzeitung 30 (1934), S. 196–199, hier: S. 199. 16 

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institu­tionelle Innovationen hervorbrachten.21 1921 setzte der Völkerbund den norwegischen Polarforscher Fridtjof Nansen, der sich durch seinen erfolgreichen Einsatz bei der Repatriierung russischer Kriegsgefangener empfohlen hatte, als Hohen Kommissar für russische Flüchtlinge ein, damit dieser die Angelegen­ heiten der staatenlosen Exilanten aus dem Russländischen Reich vertrete.22 1922 entwickelte Nansen einen Identitätsnachweis für diese Gruppe Staatenloser. 1926 wurde mit dem Office International Nansen pour les réfugiés eine Art Hilfsor­ ganisation eingerichtet, die zudem einen Umlagehilfsfonds (revolving fund) zur Unter­stützung Bedürftiger schuf. Ein verbindliches rechtliches Statut, das die einzelnen Abkommen der 1920er-Jahre zusammenfasste, entstand erst Ende 1933 mit der „Konvention über den Internationalen Flüchtlingsstatus“, der ersten Genfer Flüchtlingskonvention.23 All diese durch den Völkerbund initiierten Neuerungen waren Antworten auf die neuartige prekäre Situation von Personen­ gruppen, die von ihrer Regierung im Stich gelassen worden waren. Sie gelten ­daher bis heute zu Recht als wichtige Meilensteine auf dem Weg zu einem inter­ nationalen Flüchtlingsrecht. Jedoch hatten diese Errungenschaften lediglich eine beschränkte Reichweite: Sie galten nur temporär und fallbezogen für einzelne Gruppen staatenloser Flüchtlinge und blieben vollständig im Horizont einer national­staatlichen Logik. Die Ambivalenz der Maßnahmen verdeutlicht exemplarisch der nach Nansen benannte Ersatzausweis für undokumentierte Flüchtlinge. Die Etablierung des „Nansen-Zertifikats“ als international anerkanntes Identifikations- und Reise­ dokument für russische Flüchtlinge im Jahr 1922 auf der Basis einer breiten multi­ lateralen Absprache gilt als diplomatischer Erfolg. 1926 hatten 14 Staaten das ­Zertifikat insgesamt 155 000 Mal ausgestellt, bis Ende der 1920er-Jahre stimmten 53 Staaten den unverbindlichen Regelungen zu. Der Ausweis erlaubte es, Grenzen legal zu überqueren, verpflichtete die Staaten aber nicht zur Aufnahme der Mig­ ranten. Er bot den Passlosen einen Identitätsnachweis, aber keinen sicheren Auf­ enthaltsstatus. Selbst seine Funktion als „Trägerpapier für etwaige Visa“ wurde in der Praxis nicht genutzt, da solche aus Sorge vor einer dauerhaften Ansiedlung der Flüchtlinge faktisch kaum erteilt wurden.24 „Nansen-Zertifikate“ standen nur 21 Vgl.

dazu allgemein Michael R. Marrus: The Unwanted. European Refugees from the First World War through the Cold War. Philadelphia 2002, S. 51–120; Gérard Noiriel: Die Tyrannei des Nationalen. Sozialgeschichte des Asylrechts in Europa. Lüneburg 1994; Dzovinar Kévonian: Réfugiés et diplomatie humanitaire. Les acteurs européens et la scène proche-orientale pendant l’entre-deux-guerres. Paris 2004; Catherine Gousseff: L’exil russe. La fabrique du réfugié apatride (1920–1939). Paris 2008. 22 Vgl. Francesca Piana: L’humanitaire d’après-guerre: prisonniers de guerre et réfugiés russes dans la politique du Comité International de la Croix-Rouge et de la Société des Nations. In: Relations Internationales 151 (2012), S. 63–75. 23  Convention Relating to the International Status of Refugees, Genf, 28. 10. 1933. In: John Hope Simpson: The Refugee Problem. Report of a Survey. London 1939, S. 566–595. 24  United Nations (Hg.): A Study of Statelessness. New York 1949, S. 33; Zitat: Martin Stiller: Eine Völkerrechtsgeschichte der Staatenlosigkeit. Dargestellt anhand ausgewählter Beispiele aus Europa, Russland und den USA. Wien 2011, S. 129.

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für wenige, präzise definierte Herkunftsgruppen zur Verfügung. Auf dem Höhe­ punkt der russischen Flüchtlingskrise entstanden, war das Dokument exklusiv für „Personen russischer Herkunft“ entwickelt worden, die keine neue Staatsange­ hörigkeit angenommen hatten, nachdem sie durch ein Dekret der Sowjetunion im Dezember 1921 faktisch ausgebürgert und damit de facto zu Staatenlosen gewor­ den waren. Sukzessive wurde die Gültigkeit der „Nansen-Zertifikate“ ausgewei­ tet, 1924 zunächst auf circa 300 000 staatenlose armenische Flüchtlinge, 1928 dann auf weitere Minderheiten aus dem Nahen Osten – auf Christen sowie auf türki­ sche und assimilierte Flüchtlinge syrischer und kurdischer Herkunft.25 Letztmals wurden die Trägergruppe 1935 um „Flüchtlinge von der Saar“ und jüdische Flücht­linge aus Deutschland und Österreich erweitert. Mit dem „Nansen-Zertifikat“ waren staatenlose Flüchtlinge aus dem einstigen Zaren- und dem früheren Osmanischen Reich provisorisch versorgt worden und gegenüber anderen Gruppen privilegiert. Sie konnten ihre Identität nachweisen und ab 1928 das Hochkommissariat auch für konsularische Dienste in Anspruch nehmen. Für die noch 1931 auf eine Zahl von 100 000 geschätzten Staatenlosen in den sieben Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie sowie für die Betroffenen der polnisch-deutschen Grenzverschiebungen galten entsprechende Vergünstigun­ gen jedoch nicht.26 Zugunsten der ehemaligen Bewohner Österreich-Ungarns, die aufgrund der Friedensverträge von Saint-Germain und Trianon staatenlos gewor­ den waren, setzte sich die Österreichische Völkerbund-Vereinigung intensiv ein. 1931 forderte eine von dem österreichischen Völkerrechtler und Kelsen-Schüler Josef L. Kunz verfasste Mémoire eine gemeinsame Konvention für alle Nachfolge­ staaten der Doppelmonarchie. Auf deren Grundlage sollte ein verbindliches Schieds­gericht gegründet werden, um alle bestehenden Fälle von Staatenlosigkeit zu lösen – oder, als pragmatische Alternative zu dieser eigentlich zu erstrebenden solution juridique, um wenigstens die Ausgabe von „Nansen-Zertifikaten“ an Staa­ tenlose jedweder Herkunft zu ermöglichen. Das Dokument verspreche zwar keine endgültige Problemlösung, aber es gewähre immerhin Reisefreiheit, so Kunz.27 Doch eine Anwendung der „Nansen-Vereinbarungen“ auf alle Staatenlosen, wie es 1926 die deutsche Delegation im Völkerbund vorschlug, kam nicht zustan­ de.28 Das „Nansen-Zertifikat“ war damit kein internationaler Passierschein oder gar ein „Völkerbundpass“, wie Staatenlose es selbst hoffnungsvoll in zahlreichen Schreiben an den Völkerbund erbeten hatten.29 Es handelte sich vielmehr um ein Ersatzdokument, das die teilnehmenden Regierungen jeweils nur für die Dauer eines Jahres ausstellten. Das „höchst minderwertige Dokument von kränklich 25  Vgl.

dazu Keith David Watenpaugh: Bread from Stones. The Middle East and the Making of Modern Humanitarianism. Oakland 2015. 26  Engländer: Staatenlosen (wie Anm. 5), S. 8. 27  Kunz: Apatrides (wie Anm. 7), S. 8  f. 28  Vgl. Drucksachen des Völkerbundes: Société des Nations, Organisation des communications et du transit: Conférence des Passeports, Acte final, 18. 5. 1926 (C.320.M. 119. 1926.VIII), S. 9. 29 Vgl. diverse Korrespondenzen in UNOG, The Refugees Mixed Archives Group („Nansen Fonds“, 1920–1946).

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grüner Farbe“,30 wie es der staatenlose Schriftsteller Vladimir Nabokov verächt­ lich nannte, ermöglichte zudem nicht etwa grenzüberschreitende Bewegungsfrei­ heit, sondern verlor seine Gültigkeit bei der Wiedereinreise in das Ausstellerland. Darüber hinaus unterwarf es die Inhaber zermürbenden bürokratischen Ausein­ andersetzungen um Pässe und Visa und machte sie immobil. Denn viele wagten sich aus Angst, nach der Heimat auch noch das Land ihrer Zuflucht zu verlieren, nicht über die Grenzen.31 Die ursprünglich zugedachte Funktion, die Abreise uner­wünschter Flüchtlinge zu erleichtern und die ausstellenden Staaten aus der Verantwortung für sie zu lösen, trat damit praktisch nicht ein. 1926 wurde daher gestattet, Rückkehrvisa – sofern sie denn überhaupt erteilt wurden – auf den Zertifi­katen anzubringen. Seinen Wert hatte das Zertifikat als verlässlicher Iden­ titätsnachweis, der den Inhabern überhaupt erst erlaubte, Visa zu beantragen, und der für zahlreiche bürokratische Aspekte des praktischen Lebens unerlässlich war, etwa Eheschließungen, Eigentumsfragen oder Arbeitsverhältnisse. In der Zwischenkriegszeit wurde keine allgemeine Definition von Staatenlosig­ keit erreicht, da sich der Völkerbund auf die Flüchtlingsfrage konzentrierte. Wie die umstrittenen Minderheitenrechte, blieben auch die Maßnahmen des Völker­ bundes für staatenlose Flüchtlinge in einem kollektiven Denken verhaftet, das ­bestimmten – nach nationaler Herkunft definierten – Gruppen Schutzrechte zu­ sprach, ohne diese aber garantieren zu können. Auch blendete ein solches Denken die an ihrem Heimatort staatenlos gewordenen Menschen vollständig aus. Die Begrenztheit des zeitgenössischen Problemhorizonts wird noch deutlicher, wenn man den Versuch der internationalen Völkerrechtskodifikation einbezieht. Ebenfalls vom Völkerbund initiiert, wurde Staatenlosigkeit auf der ersten Interna­ tionalen Kodifikationskonferenz für Völkerrecht in Den Haag im Jahr 1930 be­ handelt. Ziel war es, Nationalitätenkonflikte rechtssystematisch zu lösen.32 Diese vierwöchige Konferenz, zu der 47 Regierungen Delegierte entsandten, bildete in der Zwischenkriegszeit den einzigen zwischenstaatlichen Versuch, Staatenlosig­ keit generell zu regulieren. Sie scheiterte jedoch so deutlich an ihren Zielen, dass der Völkerbund auf die ursprünglich geplante Weiterentwicklung einer Kodifika­ tion verzichtete. Denn anstatt die Rechtsentwicklung durch neue Normsetzungen voranzutreiben, blieben die Ergebnisse weit hinter den Erwartungen zurück. Die Konferenz tolerierte eher die aktuelle Staatenpraxis, anstatt Sicherheiten, Schutz­ maßnahmen oder Mindeststandards in neuen Normen zu formulieren und damit auf eine Veränderung des Umgangs mit Staatenlosigkeit hinzuarbeiten. Viele Lösungs­vorschläge, die darauf abzielten, die nationale Logik – etwa durch die 30 Vladimir

Nabokov: Erinnerung, sprich. Wiedersehen mit einer Autobiographie. In: ders.: ­ esammelte Werke. Bd. XXII. Hg. von Dieter E. Zimmer. Reinbek bei Hamburg 1991, S. 7–552, G hier: S. 376 (zuerst als: ders.: Exile. In: Partisan Review 28 (1951), S. 45–58). 31 Konferenz bezüglich der russischen Flüchtlinge in Genf, 3. 7. 1922, UNOG, The Refugees Mixed Achives Group („Nansen Fonds“, 1920–1946), Nr. 20 A/22045/19172. 32  Zum Folgenden ausführlicher vgl. Kathrin Kollmeier: Eine „Anomalie des Rechts“ als Politi­ kum. Die internationale Verhandlung von Staatenlosigkeit 1919–1930. In: ZNR 35 (2013), S. 193– 208.

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Etablierung neutraler, übergeordneter Instanzen oder von Schiedsgerichten – zu durchbrechen oder Staatenlose als eigenständige Völkerrechtssubjekte zu ermäch­ tigen, wurden gar nicht erst diskutiert. Indem der Völkerbund die im Umfeld der Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 unternommenen Versuche zur Systematisierung des Völkerrechts zu be­ stimmten Einzelthemen wiederaufnahm, bot sich ein wichtiger Neuansatz. Zum ersten Mal wurde auf internationaler Ebene versucht, ganze Gebiete des Völker­ rechts zu entwickeln und zu kodifizieren, anstatt lediglich spezielle Rechtsproble­ me zu regulieren. Das internationale Staatsbürgerschaftsrecht wurde im Vorfeld von einem Expertenkomitee als „reif für internationale Vereinbarungen“ beurteilt und daher als Thema für die 1930 stattfindende Kodifikationskonferenz aus­ gewählt.33 Ausschlaggebend war, wie die Konferenzbeiträge deutlich machten, die Dringlichkeit des seit 1920 im Völkerbund diskutierten Themas der Staatenlosig­ keit. Das Exposé, als Diskussionsgrundlage maßgeblich von dem polnischen Ju­ risten Simon Rundstein verfasst, beschrieb den Konflikt zwischen den Problemen Staatenloser einerseits und dem Primat der auch durch völkerrechtliche Normen nicht eingeschränkten einzelstaatlichen Souveränität, Staatsangehörigkeit zu re­ geln, andererseits.34 Das Ziel der Bemühungen war aus Sicht eines Kommentators klar, die „Beseitigung oder doch Abminderung der doppelten Staatsangehörigkeit und der Staatslosigkeit zu erreichen“.35 Tatsächlich postulierte die Präambel der als Ergebnis der Konferenz im Ap­ ril 1930 verabschiedeten „Convention on Certain Questions Relating to the Con­ flict of Nationality Laws“ mit dem allgemeinen Recht auf eine – und nur eine – Staatsangehörigkeit („every person should have a nationality and should have one nationality only“) explizit das langfristige Ziel, Staatenlosigkeit und mehrfache Staatsangehörigkeit gleichermaßen abzuschaffen: „The ideal towards which the ef­ forts of humanity should be directed in this domain is the abolition of all cases both of statelessness and of double nationality“. Doch schon im nächsten Satz wurde eingestanden, dass es unter den gegebenen wirtschaftlichen und sozialen Umstän­ den unmöglich sei, dieses Ideal zu erreichen. Das Ziel, mit völkerrechtlichen Instru­ menten ein Ideal zu verwirklichen, wurde auf einen ersten Schritt beschränkt.36 Abgesehen von Detailregelungen zur Staatsangehörigkeit verheirateter Frauen und von Kindern, wurde die Beseitigung und Vermeidung von Staatenlosigkeit 33  League

of Nations – Official Journal. Special Supplement. Nr. 53 (1927), S. 9. Andere Themen waren: 2. Rechtsregeln in Küstengewässern, 3. Verantwortlichkeit des Staates für Schäden gegen­ über Ausländern. 34  Comité d’experts pour la codification progressive du droit international: Questionnaire Nr. 1, 9. 2. 1926, C.43.M.18; Exposé von M. Rundstein (C.P.D.I.20), zitiert nach MAE, Service juri­ dique, Nr. 55. 35 Heinrich Rauchberg: Die Kodifikation des internationalen Staatsbürgerschaftsrechtes. In: ZÖR 8 (1929) 4, S. 485–509, hier: S. 489. 36  Convention on Certain Questions Relating to the Conflict of Nationality Laws, 12. 4. 1930, Präambel. In: League of Nations – Official Journal, July 1930, C.224.M.III.1930 V, S. 847–859, hier: S. 847.

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– laut Präambel immerhin der Hauptgegenstand der Vereinbarung – in der Kon­ vention gar nicht behandelt. Stattdessen formulierte man vage „Wünsche“: Bei der „Ausübung ihrer Freiheit in der Regelung der Staatsbürgerschaft“ sollten sich die Staaten doch „bemühen, die Fälle von Staatslosigkeit möglichst abzumildern“. Der Völkerbund solle in dem „Werke fortfahren, um zu einer internationalen Eini­gung über dieses schwerwiegende Problem zu gelangen“. Nur von wenigen Staaten und von einem Bruchteil der Konferenzteilnehmer getragen, trat die Konvention 1937 mit einem Protokoll in Kraft, das die Staatsbürgerschaft für Kinder eines Vaters ungeklärter Nationalität an die der Mutter band. Ein zweites „Spezial­protokoll be­ treffend Staatenlosigkeit“, das im Sinne einer gerechten zwischenstaatlichen Vertei­ lung der Lasten die Rücknahme bedürftiger Staatenloser in ihren vormaligen Staat vorgesehen hatte, blieb mangels Ratifikationen vollständig ohne Rechtswirkung.37 Die Erfahrung mit der Kodifikationskonferenz 1930 dämpfte die Hoffnungen auf eine Lösung der Staatenlosenfrage. Mit Blick auf die Konferenz urteilte die nordamerikanische Staatsrechtlerin Catheryn Seckler-Hudson am Ende eines Jahr­ zehnts intensiver Verhandlung, dass man internationale Vereinbarungen derzeit nur so ambitionslos denken könne, dass eine Einigung gerade keine Lösung ver­ spreche.38 Boris Mirkine-Guetzévitch sah in der Haager Konferenz ein verfehltes Forum: Da eine „rein rechtliche Behandlung des Problems nicht geeignet [sei], es einer befriedigenden Lösung zuzuführen“, sollte es nicht als Rechtsproblem, son­ dern „als internationales politisches Problem erkannt und als solches vom Völker­ bund verhandelt werden“.39 Hinsichtlich ihrer Ziele, Staatenlosigkeit und die gleichfalls als Anomalität kritisierte mehrfache Staatsangehörigkeit zu beseitigen, war die Konferenz also ein klarer Misserfolg. Sie brachte, wie die Vollversammlung der Union der Völkerbund-Ligen 1930 bedauerte, „kein Ergebnis von wirklicher Bedeutung“ hervor.40 Auch bei Juristen, die den Kodifikationsprozess aufmerksam beobachteten, fanden die Resultate keine Gnade. Heinrich Rauchberg bemängelte neben dem Versagen der Regierungen auch die Zögerlichkeit seiner Fachkollegen, Erstere nicht durch mutigere Vorschläge zu mehr Beweglichkeit gezwungen zu ­haben. Sie hätten die Handlungsmöglichkeiten, die sich aus einer diplomatisch ver­ einbarten, internationalen Juristenkonferenz ergaben, nicht genutzt. Zudem habe die Konferenz nicht die Expertise ausgeschöpft, die in den politischen Debatten im Völkerbund, durch Interventionen und Publikationen von Interessengruppen wie den Völkerbund-Ligen, Frauen- und Menschenrechtsgruppen sowie durch die völker­rechtliche Fachdiskussion längst vorhanden gewesen sei.41 37  Special

Protocol Concerning Statelessness, 12. 4. 1930. Art. 1. In: League of Nations – Official Journal, July 1930, C.227.M.114.1930 V, S. 881–887, hier: S. 881; Protocol Relating to a Certain Case of Statelessness, 12. 4. 1930, Art. 1. In: League of Nations – Official Journal, July 1930, C.226.M.113.1930 V, S. 871–879, hier: S. 871. 38  Seckler-Hudson: Statelessness (wie Anm. 18), S. 259. 39  Mirkine-Guetzévitch: Menschenrecht (wie Anm. 10), S. 214  f. 40  Union der Völkerbund-Ligen: Supplément au Bulletin Nr. IV (1930), S. 108. 41 Heinrich Rauchberg: Die erste Konferenz zur Kodifikation des Völkerrechts. In: ZÖR 10 (1931) 4, S. 483–526, hier: S. 514.

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In der Rückschau dürfen die desillusionierenden Ergebnisse der Kodifikations­ konferenz jedoch nicht übersehen lassen, dass unter internationalen Völkerrecht­ lern sowohl ein hohes Problembewusstsein wie auch die Bereitschaft bestand, ko­ operativ an rechtssystematischen Lösungen zur Einhegung einzelstaatlicher Be­ völkerungspolitiken zu arbeiten. Dazu gehörten auch die Hoffnungen, die in neue Rechtsinstrumente, etwa Schiedsinstanzen, gesetzt worden, welche letztlich auf eine Veränderung des Status des Individuums in der Rechtsordnung und auf eine internationale Garantie seiner Rechtsansprüche zielten. Diese Absicht verfolgten auch zeitgenössische wissenschaftliche Stellungnahmen und Projekte, die dem Indi­viduum den Status als Völkerrechtssubjekt zusprechen wollten, wie die 1921 vom Institut de droit international verabschiedete „Deklaration der Rechte und Pflichten der Nationen“.42 Jedoch gelang es nicht, diese Positionen aus den juristi­ schen Fachforen in den zwischenstaatlichen Verhandlungsraum zu übertragen. Angesichts der Ziele und Ergebnisse in beiden Verhandlungsforen im Umfeld des Völkerbundes – der Kodifikationskonferenz wie den Regierungskonferenzen zur Flüchtlingsthematik – zeigt sich für die Zwischenkriegszeit im Umgang mit Staatenlosigkeit ein pragmatischer, fallbezogener Internationalismus der politi­ schen Lastenverteilung. Auf dem technischen Wege humanitärer und juristischer Anstrengungen vermied dieser explizite politische Verurteilungen ebenso wie eine völkerrechtliche Ächtung von Staatenlosigkeit. Die tatsächlichen Ursachen von Exil und Staatenlosigkeit – politische Unterdrückung, religiöse Verfolgung und ethnische Konflikte – blieben ungenannt. Zugleich wurde jedoch sichtbar, welche großen Erwartungen Völkerrechtler und Rechtsanwälte, humanitäre Akteure, In­ teressenvertreter und Betroffene mit der Entwicklung des Völkerrechts und mit neuartigen internationalen Institutionen verbanden. Diese Erwartungen konnten im Umfeld des Völkerbundes zwar artikuliert werden und waren Ausdruck der vielfältigen Hoffnungen der Betroffenen und Interessengruppen, wurden aber von den Verhandlungsergebnissen der im Völkerbund tagenden souveränen Nati­ onen enttäuscht. Von den Mitgliedstaaten wurde Staatenlosigkeit als ein Problem wahrgenom­ men, das aus akuten – fallweise zu lösenden – Fluchtkrisen resultierte. Diese Sichtweise begrenzte die beginnende transnationale Verrechtlichung von vorn­ herein. Die neuen Instrumente wie das „Nansen-Zertifikat“ sicherten bestimmten, kulturell passenden Flüchtlingsgruppen, deren Unterstützung gegenüber ihrem aggressiven Herkunftsstaat politisch opportun schien, rechtliche Minimalstan­ dards zu. In der Fokussierung auf eine bestimmte Gruppe boten die Maßnahmen aber keinen Schutz gegen aggressive Bevölkerungspolitiken wie sie etwa in Form von Massenausbürgerungen, Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen durch die faschistischen und totalitären Regime betrieben wurden. Die enttäuschten Hoff­ nungen der Zwischenkriegszeit sowie die Erfahrung mit der entgrenzten Gewalt im Zweiten Weltkrieg prägten die Lösungserwartungen nach 1945. Die Nach­ 42 

Albert de Lapradelle: Déclaration des droits et devoirs des nations. In: AIDI 28 (1921), S. 202– 224, hier: S. 215.

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kriegszeit bildete daher eine zweite Hochphase der Thematisierung und Verrecht­ lichung von Staatenlosigkeit. Im New Yorker „Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen“ wurde 1954 erstmals eine grundsätzliche, nicht gruppenbezogene Definition von Staatenlosigkeit angewendet, die – analog zum bis heute gültigen Flüchtlingsbe­ griff in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 – Schutzrechte aufgrund von individuell erfahrener Bedrohung und Verfolgung zugesteht.43 In Europa wurden die Folgen von Staatenlosigkeit nun durch die Einführung von Asylrechten einge­ hegt. Nachdem der Völkerbund nach 1930 keine weiteren Kodifikationsversuche unternommen hatte, wurde diese Aufgabe in der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen wieder aufgenommen. Die enttäuschenden Erfahrungen aus Den Haag erklärten allerdings, warum deren Mitglieder besonders vorsichtig und kleinschrittig vorgingen.

Staatenlosigkeit als Deutungskategorie des 20. Jahrhunderts: Deprivation und Teilhabe Retrospektiv wird die zielgerichtete Entlassung marginaler und unerwünschter Bevölkerungsgruppen in die Staatenlosigkeit als ein Kristallisationspunkt in der Epoche entfesselter Nationalstaaten begriffen. Für Enzo Traverso sind die recht­ losen Staatenlosen Sinnbild des „europäischen Bürgerkriegs“, für James Sheehan Symbol der Souveränitätskrise europäischer Staaten.44 Eric Hobsbawm spannt seine Beschreibung des „Zeitalters der Extreme“ anhand der Wortneuschöpfun­ gen für die Massenerfahrungen extremer Gewalt „Genozid“ und „Apatride (staa­ tenlos)“ auf.45 In diesen historiografischen Deutungen spiegelt sich der begriffsge­ schichtliche Umschlag von einem konkreten und sehr speziellen Rechtsterminus hin zu einer breiter gefassten Kategorie. Um die Jahrhundertmitte trat „Staaten­ losigkeit“ eine zweite Karriere als Deutungskategorie im politischen Denken an. Nach 1918 wurden zur Bezeichnung von ambivalenter oder zweifelhafter Loyali­tät politische Kategorisierungen und Feindbegriffe aus der Kriegszeit, wie etwa enemy alien oder „unerwünschte Ausländer“, gebraucht, welche die Betrof­ fenen nicht nur stigmatisierten, sondern auch ihre Rechte mindestens in Bezug auf Bewegungsfreiheit, freie Meinungsäußerung und Besitz massiv einschränkten.46 43  Vgl.

dazu knapp Kathrin Kollmeier: Status: staatenlos. Rechtliche Regulierungsversuche nach zwei Weltkriegen. In: Norbert Frei/Annette Weinke (Hg.): Toward a New World Order? Men­ schenrechtspolitik und Völkerrecht seit 1945. Göttingen 2013, S. 63–74. 44  Enzo Traverso: Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg 1914–1945. München 2008, S. 142 f.; James J. Sheehan: The Problem of Sovereignty in European History. In: AHR 111 (2006), S. 1–15. 45  Eric J. Hobsbawm: Age of Extremes. The Short Twentieth Century, 1914–1991. London 1994, S. 50. 46  Vgl. dazu Daniela Caglioti: Why and How Italy Invented an Enemy Aliens Problem in the First World War. In: WIH 21 (2014), S. 142–169; dies.: Dealing with Enemy Aliens in World War I. Security Versus Civil Liberties and Property Rights. In: IJPL 2 (2011), S. 180–194.

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Staatenlose galten als das Gegenbild zu Staatsbürgern.47 Sie erschienen im juristi­ schen und humanitären Diskurs aufgrund ihrer radikalen Recht- und Schutzlosig­ keit („völkerrechtlich vogelfrei“) geradezu als unbehauste Unpersonen, wenn nicht gar als Untote. Der Topos ihrer Gespensterhaftigkeit findet sich als litera­ rische Zeitkritik vielfältig in der Belletristik der Nachkriegszeit. Das existenzielle Ausgestoßensein demonstrierte zum Beispiel B. Traven 1926 anhand einer ganzen Typologie staatenloser Figuren in seiner tragikomischen Abenteuer- und klassen­ bewussten Ausbeutungsgeschichte „Das Totenschiff“, die ganz in der Unterwelt angesiedelt ist.48 Über das Motiv der ewigen Irrfahrt verknüpfte er die staatenlose Gespensterexistenz zudem mit dem älteren Ahasver-Motiv der heimatlosen Wan­ derung jüdischer „Luftmenschen“. In diesem Bild thematisierte etwa Joseph Roth 1927 Heimatverlust und Fremdheit als Grunderfahrung jüdischer Existenz.49 Staatenlose, vor allem die an vielen Orten in Europa präsenten russischen Flüchtlinge, weckten sowohl Mitleid als auch Ängste – ihr Status und ihre Zuge­ hörigkeit blieben für viele Beobachter unklar. Als hochambivalente Figuren zeig­ ten sie an, dass der Krieg noch nicht ganz überwunden war und weiterhin Chaos herrschte.50 Sowohl die juristische Definition, die auf die Schutzlosigkeit und ­Verletzlichkeit von Staatenlosen abhob, als auch die humanitären Narrative, wel­ che das Elend ihrer prekären Existenzen skandalisierten – typischerweise in (ano­ nymisierten) Fallgeschichten in pitisierender Sprache – zeichneten Staatenlose grundsätzlich als Opfer.51 In der Fremdwahrnehmung wurden sie nicht selten zu Objekten ohne jegliche Handlungsmacht. Auch aus diesem Grund lehnten die Betroffenen die negative Semantik der Nicht-Zugehörigkeit, die den juristischbürokratischen Terminus der Staatenlosigkeit in vielen europäischen Sprachen ­bestimmte (stateless, without a country, apatride, apolidi, „heimatlos“), lange Zeit ab oder verwendeten sie nur distanziert. Aus Russland stammende Staatenlose wehrten sich in den 1920er-Jahren vehement gegen eine entsprechende Fremd­ beschreibung, die sie als abwertend und identitätsbedrohend empfanden. Im sen-Zertifikat“ wurde der Terminus „staatenlos“ im Übrigen nicht ge­ „Nan­ braucht, sondern hilfsweise die Umschreibung „toute personne d’origine russe n’ayant acquis aucune autre nationalité“ gewählt – und damit zugleich die be­ sondere Situation der Betroffenen betont.52 Und zahlreiche vertriebene und aus­

47  Vgl. Linda K. Kerber: The Stateless as the Citizen’s Other: A View from the United States. In: AHR 112 (2007), S. 1–34. 48 B. Traven: Das Totenschiff. Die Geschichte eines amerikanischen Seemanns. Berlin 1926, S. 189 f. 49  Joseph Roth: Juden auf Wanderschaft. München 1927; Nicolas Berg: Luftmenschen. Zur Ge­ schichte einer Metapher. Göttingen 2008. 50  Cabanes: Great War (wie Anm. 11), S. 302, S. 138. 51 Vgl. dazu allgemein Didier Fassin: Humanitarian Reason. A Moral History of the Present. Berkeley 2012; Thomas W. Laquer: Mourning, Pity, and the Work of Narrative in the Making of „Humanity“. In: Richard Ashby Wilson/Richard D. Brown (Hg.): Humanitarian and Suffering. The Mobilization of Empathy. Cambridge 2009, S. 31–57. 52  Vgl. dazu Vichniac: Statut (wie Anm. 2), S. 201.

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gebürgerte deutsche Juden vermieden es in ihren Erinnerungstexten, die ihr Schicksal als Staatenlose detailliert schildern, diese als diffamatorisch empfundene Bezeichnung auch nur zu erwähnen. Erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts, dem zweiten Höhepunkt massenhafter Entwurzelung Staatenloser in Europa, finden sich auch Beispiele einer strategischen Aneignung des Begriffs. Eine affirmative Gruppenselbstbezeichnung als „Staatenlose“ stellte etwa die Deklaration einer Gruppe Osteuropäer in einem Displaced Person-Lager der französischen Besat­ zungszone in Österreich Ende 1945 dar. Sie verstanden sich als Section de la Croix Rouge des Apatrides und beantragten beim Roten Kreuz die Aufnahme als natio­ nale Sektion in die internationale Dachorganisation, um sich so einer Repatriie­ rung in ihre nun im Einflussbereich der Sowjetunion liegenden Herkunftsländer widersetzen zu können.53 Zahlreiche als Displaced Persons registrierte Überle­ bende der nationalsozialistischen Zwangsarbeit und Vernichtungspolitik zogen nach 1945 die Selbstbezeichnung als „Staatenlose“ einer nationalen Identifizie­ rung vor. Andere verstanden die Begriffsverwendung als politische Geste. Anstatt durch eine rasche Wiedereinsetzung in die zuvor entzogene Staatsbürgerschaft diesen Gewaltakt unsichtbar zu machen, dokumentierten sie als Staatenlose de­ monstrativ die gewaltsame Ausgrenzung aus der nationalen Herkunftsgesellschaft oder verstanden ihre Staatenlosigkeit als zionistische Übergangsidentität, während sie auf eine neue Heimat in einem jüdischen Staat in Palästina warteten.54 Mit seiner existenziellen Dimension radikaler Vereinzelung und menschlicher Unbehaustheit, lud der Begriff zugleich immer wieder zu metaphorischen oder utopischen Aufladungen ein. In der Zwischenkriegszeit gingen diese Aufladungen mit Forderungen nach Anerkennung und nach moralischer Gerechtigkeit einher oder waren auf juristische Gedankenspiele beschränkt. Nach dem Zweiten Welt­ krieg wurden Ideen einer Überwindung nationaler Identitäten in einer Weltbür­ gerschaft (world citizenship) populär.55 Galten Staatenlose schon Mitte der 1930erJahre als Testfall für den Status des Individuums in der internationalen Rechtsordnung,56 erhob Hannah Arendt sie in ihrem wirkungsmächtigen Essay „Der Niedergang des Nationalstaates und das Ende der Menschenrechte“ 1951 dann zum Maßstab menschenrechtlicher Standards. Arendt deutete Staatenlosig­ keit als fundamentalen Angriff auf die Identität des politisch handlungsfähigen

53  BDIC, FR BDIC, F delta res 890; zur DP-Politik Daniel G. Cohen: In War’s Wake. Europe’s Displaced Persons in the Postwar Order. Oxford 2011; Wolfgang Jacobmeyer: Vom Zwangs­ arbeiter zum „Heimatlosen Ausländer“. Die Displaced Persons in Westdeutschland, 1945–1951. Göttingen 1985. 54  Joel Sack: Dawn after Dachau. New York 1990, S. 47, zitiert nach Anna Holian: Between Na­ tional Socialism and Soviet Communism. Displaced Persons in Postwar. Michigan 2011, S. 156. 55  Vgl. Derek B. Heater: World Citizenship and Government: Cosmopolitan Ideas in the Histo­ ry of Western Political Thought. New York 1996; Glenda Sluga: „Spectacular Feminism“. The International History of Women, World Citizenship and Human Rights. In: Francisca de Haan u. a. (Hg.): Women’s Activism. Global Perspectives from the 1890s to the Present. London 2013, S. 44–58. 56  Lipovano: L’apatridie (wie Anm. 9), S. 2.

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Menschen und proklamierte polemisch-paradox ein „Volk der Staatenlosen“. Denn Abhilfe konnten in ihren Augen nur die Entrechteten selbst schaffen, wenn sie sich als „bewusste Paria“ nicht durch die Versuche beeindrucken ließen, mit Ausweisungen, verweigerten Papieren oder Kategorisierungen ihre Identität ab­ zuerkennen – wenn sie also eine Art eigensinnige Souveränitätsleistung vollbrach­ ten.57 Arendts Essay wurde ein zentraler Grundlagentext der historischen Ana­ lyse und Theoretisierung von Staatenlosigkeit in einer philosophischen Kritik staatlicher Souveränität. Er ist aber auch das Dokument der Selbstreflexion einer ausgebürgerten deutschen Jüdin, die an ihrer jüdischen und intellektuellen Identi­ tät festhielt, indem sie ihre eigene Situation historisierte und theoretisierte – eben­ so geprägt von ihrer Fluchterfahrung wie von ihren politischen Hoffnungen. Begriffsgeschichtlich markierte Arendts Analyse die Wende von einer spezifi­ schen juristischen Semantik im Flüchtlings- und Völkerrecht hin zu einer breite­ ren Metapher für gesellschaftliche und politische Teilhabe. Arendts Stilisierung der Staatenlosen zu politischen Avantgardefiguren wurde spät, dann aber breit rezi­piert. Auf diesem Weg gelangte der juristische Begriff seit den 1990er-Jahren schließlich auch in die philosophisch-politologische Theorie. Giorgio Agamben beispielsweise wendete die Grenzfigur des Flüchtlings in den Ausdruck einer ge­ meinschaftsbildenden Kategorie.58 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts reflektierte ­Judith Butler im Gespräch mit Gayatri Chakravorty Spivak unter dem Begriff ­stateless, wie Zugehörigkeit, unabhängig vom konkreten oder rechtlichen Status, performativ angeeignet werden könne.59 Anstelle von Sprachlosigkeit und einer vielsagenden Leerstelle lassen sich heute also auch selbstbewusste Präsenz und performative Affirmation beobachten. Ne­ ben dem politischen Protest – wie er in den sozialen Bewegungen undokumen­ tierter Ausländer (sans-papiers) in Frankreich und der Schweiz seit den 1990erJahren zum Ausdruck kommt – finden sich vor allem künstlerische Strategien der Thematisierung von Staatenlosigkeit. Auf der Biennale 2011 in Venedig agierte etwa eine Künstlergruppe als „Anonymus Stateless Immigrants“. Und der kollek­ tive Blog einer Kunstinitiative in Aix-en-Provence feierte 2014 die unstrittige Zu­ gehörigkeit von Staatenlosen: „L’apatride est un citoyen“, beginnt eine Strophe.60 Diese personalisierende Strategie griff die Weltflüchtlingsorganisation, die erst seit 2003 offiziell ein Mandat für Staatenlose ausübt, in ihrer aktuellen Kampagne auf. 57  Hannah

Arendt: Der Niedergang des Nationalstaates und das Ende der Menschenrechte. In: dies.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herr­ schaft. München 2001, S. 559–625; zuerst formuliert in dies.: We Refugees. In: Menorah Jour­ nal 1943 (nachgedruckt in: dies.: The Jewish Writings. Hg. von Jerome Kohn und Ron H. Feld­ man. New York 2007, S. 264–274). 58  Vgl. Giorgio Agamben: Jenseits der Menschenrechte. In: ders.: Mittel zum Zweck. Noten zur Politik. Berlin 2001, S. 23–32. 59  Judith Butler/Gayatri Chakravorty Spivak: Who Sings the Nation-State? Language, Politics, Belonging. London 2007. 60  Noemi Lefebvre: Vive l’apatride, 18. 02. 2014, http://blogs.mediapart.fr/blog/noemi-lefebvre/ 180214/vive-lapatride (letzter Zugriff am 9. 1. 2023).

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Unter dem programmatischen Titel „#IBELONG“ – „Ich gehöre dazu“, will sie Staatenlosigkeit bis 2024 durch Identifikation, Prävention und Schutz weltweit beseitigen.61 In Anbetracht von weltweit mehr als zehn Millionen Staatenlosen ist dieses Maximalziel mehr als ehrgeizig – und erinnert in seinem Erwartungsüber­ schuss durchaus an die Hoffnungen von Völkerrechtlern vor 100 Jahren, die Staa­ tenlosigkeit im Ausgang des Ersten Weltkriegs erstmals konzeptualisierten.

Schluss In historischer Perspektive steht Staatenlosigkeit erstens – auf der Ebene nationa­ ler Zugehörigkeitspolitiken und Staatsbürgerschaftsgesetze – für den Übergang von multiplen Zugehörigkeitsmustern multinationaler und -ethnischer Reiche zum homogen imaginierten Nationalstaat, dessen Rechtsinstitution „Staatsbür­ gerschaft“ zum „Signum politischer Zugehörigkeit im 20. Jahrhundert“62 aufstieg. Mit dem Ausschluss von dieser Zugehörigkeit konnte Politik gemacht werden. Zweitens erlaubt der Blick auf Staatenlosigkeit, das Wechselspiel von zwei para­ doxen politischen Prozessen des 20. Jahrhunderts exemplarisch zu erfassen: Einer­ seits lässt sich die Entrechtung ganzer Bevölkerungsgruppen als Herrschafts­ strategie souveräner Staaten beobachten, andererseits zielte die international ­aus­gehandelte Verrechtlichung auf die Regulierung der Folgen dieser sowohl be­ völkerungs- als auch indirekt außenpolitischen Aggression. Die erste Zäsur der neuen Entrechtungspolitiken bildet die Pariser Nachkriegsordnung. An dieser Schwelle wirkten die Durchsetzung des souveränen Nationalstaats und eine neu­ artige Biopolitik von Genozid und Bevölkerungstransfers zusammen.63 Im Zwei­ ten Weltkrieg setzten sich die Entrechtungspolitiken fort. Den Kern des Prozesses einer Verrechtlichung stellten die sich schrittweise herausbildenden, neuen Rechtskategorien von Staatenlosen und Flüchtlingen als besondere, schutzbedürf­ tige Personengruppen, die vom Ausländerrecht ausgenommen wurden, dar. Doch trotz des überaus lebhaften internationalen Rechtsdiskurses in den 1920er-Jahren und der einhelligen Verurteilung der Staatenlosigkeit als eine zu tilgende juristi­ sche Anomalie wurde ein entsprechender Prozess erst nach dem neuen Höhe­ punkt von Entwurzelung und Vertreibung im Zweiten Weltkrieg forciert. Die Geschichte moderner Massenfluchten, Minderheiten- und Bevölkerungspolitiken war in der ersten Jahrhunderthälfte stets von völkerrechtlichen Überlegungen zur Situation von Staatenlosen begleitet, bevor sich in der zweiten Hälfte des Jahr­ hunderts mit den internationalen Normen und der Durchsetzung eines regulier­

61 

Ending Statelessness, http://www.unhcr.org/stateless-people.html (letzter Zugriff am 9. 1. 2023). Dieter Gosewinkel: Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft im 20. und 21. Jahrhundert. Berlin 2016, S. 8. 63  Eric D. Weitz: From the Vienna to the Paris System. International Politics and the Entangled Histories of Human Rights, Forced Deportations, and Civilizing Missions. In: AHR 113 (2008), S. 1313–1343, hier: S. 1314. 62 

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ten Asylrechts Staatenlosigkeit als Massenphänomen in außereuropäische Territo­ rien verlagerte – und dort besonders virulent wurde. Nach dem Ende des sowjeti­ schen Imperiums kehrte Staatenlosigkeit punktuell noch einmal nach Europa zurück. Staatenlosigkeit war im 20. Jahrhundert, in einem Zeitalter hochmoderner Staat­ lichkeit, nicht nur ein immer wieder aktuelles Phänomen, sondern auch Diskurs­ gegenstand. Um die Jahrhundertmitte, nachdem eine gesellschaftliche Allgemein­ geltung politischer Grundbegriffe, wie es Reinhart Koselleck als Prozess der „De­ mokratisierung“ für die Sattelzeit beschrieben hat, weitgehend eingetreten war, fand eine Reflexion in der politisch-sozialen Sprache statt.64 Wurde in der ersten Jahrhunderthälfte der Begriff der Staatenlosigkeit geprägt, um die neuartige Er­ fahrung von Ausgrenzung und Entrechtung zu erfassen, diente die Begrifflichkeit in der zweiten Jahrhunderthälfte zugleich der Verarbeitung und Reflexion dieser Erfahrungen. Staatenlose und marginalisierte Personengruppen erhielten durch diesen Perspektivwechsel diskursiv einen Teil ihrer Rechte zurück. Auch in der historischen Forschung findet ein solcher Wandel statt, etwa in der in Deutsch­ land jüngst neu belebten und institutionalisierten Historischen Flucht- und Flüchtlingsforschung.65 In dieser wird versucht, Angehörige vulnerabler Bevölke­ rungen als eigenständige historische Akteure zu würdigen, anstatt sie nur als Pro­ blemkategorien und Objekte staatlichen oder humanitären Verwaltungshandelns zu beschreiben, wie es für die Geschichte von Flüchtlingen, Displaced Persons und unerwünschten Bevölkerungen Tradition hat.66 Für die historische Urszene moderner Staatenlosigkeit in der Transitionsphase nach dem Ersten Weltkrieg bleibt ein solcher Ansatz aufgrund der Quellensituation und der Distanz der Be­ troffenen zur Begrifflichkeit „staatenlos“ jedoch ein anspruchsvolles Postulat.

Abstract In the sortie de guerre, three million people became stateless across Europe and the neighbouring region of the Middle East, with the reasons differing from re­ gion to region. A new subcategory of population emerged to encompass different groups of marginalised peoples, who were now, as “stateless persons” subjected to a negatively formulated semantics of non-belonging. The way in which this new mass phenomenon of the post-war order was dealt with provides a good case64 

Vgl. Reinhart Koselleck: Einleitung. In: Otto Brunner/Werner Conze/ders. (Hg.): Geschichtli­ che Grundbegriffe. Bd. 1. Stuttgart 1972, S. XIII–XXVII. 65  Im Jahr 2013 gründete sich ein multidisziplinäres Netzwerk für Flüchtlingsforschung (2018 umbenannt in „Netzwerk Fluchtforschung“, http://fluchtforschung.net), das 2016 eine erste große Konferenz in Osnabrück veranstaltete und 2017 die interdisziplinäre „Zeitschrift für ­ Flucht- und Flüchtlingsforschung“ lancierte. Zu den Begrifflichkeiten vgl. Marcel Berlinghoff/ J. Olaf Kleist/Ulrike Krause/Jochen Oltmer: Editorial zur Umbenennung in Z’Flucht: Zeitschrift für Flucht- und Flüchtlingsforschung. In: Z’Flucht 3 (2019) 1, S. 3–7. 66  Vgl. etwa Peter Gatrell: The Making of the Modern Refugee. Oxford 2015, S. VII.

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study of the opportunities and limits of the new international political space ­created by the League of Nations and its guiding principle of achieving communi­ cation and solutions in conflict situations through multilateral diplomacy and then securing them through legal agreements. In a period dominated by aggressive political nationalism, the transnational problems reveal the ambivalence of con­ temporary internationalism. The article outlines and then analyses the experiences and expectations incorpo­ rated into these new semantics by considering three fields of international politi­ cal discourse: firstly, legal expertise produced after 1918; secondly, the diplomatic negotiations aimed at establishing a substitute identity for stateless persons and providing protective measures; and thirdly, the late 20th century interpretations of these experiences that were used to negotiate social deprivation and participation. While jurists wanted to outlaw statelessness, a pragmatic internationalism of ­burden-sharing prevailed in interwar politics. Meanwhile, the long history of the term and its strong impact continue to preserve the shock caused by this novel phenomenon.

Demokratie als Versprechen und Krisenerfahrung

Boris Barth Ethnisierungen und die Krise der europäischen Demokratien nach 1918/19 Einführung Als die fünf Pariser Friedenskonferenzen 1919 begannen, schien der Weg in eine demokratische europäische Nachkriegsordnung vorgezeichnet zu sein. Die Hoff­ nung auf Frieden war allerdings verfrüht, weil nach dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 zwar der Weltkrieg vorbei war, gleichzeitig aber eine erheb­ liche Zahl von regionalen Konflikten weiterhin militärisch ausgetragen wurden. Neben dem großen Russischen Bürgerkrieg schwelten viele kleine Grenzkriege – vor allem in Ost- und Ostmitteleuropa. Zudem schien im Deutschen Reich die latente Gefahr eines konterrevolutionären Bürgerkriegs zu bestehen. Auch die meisten Grenzen der neuen Staaten waren keineswegs fest fixiert. Nationalistische Politiker und Militärs versuchten Fakten zu schaffen, bevor die Staatsmänner in Paris zu Lösungen gekommen waren. Tatsächlich waren viele der neuen Grenzen in Osteuropa die Folge regionaler Konflikte und wurden dann in Paris im Nach­ hinein abgesegnet. Dennoch hatten sich in vielen derjenigen Länder, die sich noch im Prozess der Staatsbildung befanden, demokratische beziehungsweise parlamentarische Regie­ rungsformen bereits durchgesetzt. Nur zwanzig Jahre später sah die politische Landkarte Europas ganz anders aus. In Ost- und Ostmitteleuropa hatte die De­ mokratie nur in der Tschechoslowakei überlebt, und mit dem Spanischen Bürger­ krieg hatte der Faschismus auch auf Westeuropa übergegriffen – Portugal wurde bereits seit den frühen 1930er-Jahren von António de Oliveira Salazar diktato­ risch regiert. Ob 1934 in Frankreich die Gefahr einer rechtsradikalen Macht­ ergreifung bestand, ist unter Historikern bis heute umstritten. Republikanische Zeitgenossen befürchteten aber eine derartige Entwicklung, und die Bildung der Volksfrontregierung von 1936, die von den Kommunisten toleriert wurde, stellte eine wirksame Antwort auf die latente antidemokratische Bedrohung von rechts dar. Die Gründe dafür, warum die meisten der neuen Demokratien in den 1920erund 1930er-Jahren scheiterten, sind nicht auf einen einfachen Nenner zu bringen. Zahlreiche unterschiedliche Faktoren, die sich oft gegenseitig bedingten, spielten eine Rolle. Paramilitärische Gewalt, zahlreiche Nachkriegskonflikte, Bürger- und Grenzkriege, ein langsamer, aber unaufhaltsamer Niedergang des politischen Li­ https://doi.org/10.1515/9783110653359-012

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beralismus und der staatstragenden gemäßigten bürgerlichen Parteien belasteten die parlamentarischen Systeme. Hinzu kamen massive ökonomische Probleme wie Inflationen und Hyperinflationen, die die Innenpolitik in vielen der neuen Staaten vor große Herausforderungen stellten. Revanchistische Vorstellungen, die darauf abzielten, die in Paris gefundenen Kompromisse doch noch im Nachhinein zu verändern, bestanden in vielen Ländern nicht nur in den Eliten. Die damit ver­ bundene lautstarke Propaganda unterminierte die Stabilität der bestehenden Staatsformen. Zudem waren im Ersten Weltkrieg die zivilgesellschaftlichen Struk­ turen in ganz Europa erheblich geschwächt worden. Ein staatlicher Dirigismus, den es vor 1914 in dieser ausgeprägten Weise noch nicht gegeben hatte, kenn­ zeichnete die Jahre nach 1919. Im Rahmen dieses Aufsatzes ist es nicht möglich, all diese Themenfelder voll­ umfänglich zu behandeln,1 deshalb wird im Folgenden nur ein Faktor näher be­ trachtet, der dazu beitrug, die Demokratien in einigen der neuen Nationalstaaten zu destabilisieren. Nationale Minderheiten und vor allem die Kategorie der „Eth­ nie“ wurden zu neu definierten Problemfeldern, die vor allem in Mittel- und Ost­ europa die Schaffung stabiler parlamentarischer Regime behinderten. Außerdem wird am Rande der Frage nachgegangen, warum die Schaffung eines demokrati­ schen Europas für die Alliierten 1919 und auch in den darauffolgenden Jahren nur eine sehr untergeordnete Rolle spielte.

Demokratisierung, Nationsbildung und Ethnisierung Im Deutschen Reich war gegen Ende des Ersten Weltkriegs die Meinung weitver­ breitet, dass die Parlamentarisierung Deutschlands ein Kriegsziel der Alliierten und vor allem der Regierung der USA sei. Diese Auffassung war Teil einer bipolar argumentierenden Propaganda, die auf das sogenannte Augusterlebnis und auf die „Ideen von 1914“ zurückging: Die deutsche Kultur musste gegen eine geistlose westliche Zivilisation verteidigt werden.2 Vor allem Woodrow Wilsons Rhetorik, seine „Vierzehn Punkte“ und der Notenwechsel, der dem Waffenstillstand vom November 1918 vorausgegangen war, schienen ebenfalls in diese Richtung zu deuten. Die Abschaffung der konstitutionellen Monarchie Wilhelms II. oder zumin­dest die starke Einschränkung der Rechte des Monarchen schien für die Regie­rung der USA als Forderungen bei einem Friedensvertrag sehr weit oben auf der Agenda zu stehen. Ein wichtiges Motiv bei den hektischen Reformen der ­Regierung Max von Badens in den letzten Kriegswochen bestand deshalb darin, durch die Parlamentarisierung des Reichs von den westlichen Alliierten bessere 1 

Vgl. weiterführend Boris Barth: Europa nach dem Großen Krieg. Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit, 1918–1938. Frankfurt a. M. 2016. Der vorliegende Aufsatz entwickelt ­einige der dort vertretenen Thesen weiter. 2  Vgl. zu diesem Themenkomplex immer noch Jeffrey Verhey: Der Geist von 1914 und die Er­ findung der Volksgemeinschaft. Hamburg 2000.

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Waffenstillstands- und Friedensbedingungen zu erhalten, als sie einer autoritären Monarchie gewährt worden wären. Diese Annahme stellte sich jedoch zur großen Enttäuschung vieler deutscher Demokraten und Sozialisten spätestens in Versailles als ein Trugschluss heraus. Wie sich bei den Friedensverhandlungen der Alliierten untereinander in Paris zeigte, war die Demokratisierung des Deutschen Reichs und auch die der anderen europäischen Staaten kein zentrales Anliegen der Siegermächte. Es handelte sich um eine untergeordnete Angelegenheit, die auch von Wilson nicht vorangetrieben wurde oder werden konnte. Vor allem die französische Seite weigerte sich, einen Unterschied zwischen der untergegangenen deutschen Monarchie und der neuen Weimarer Republik zu machen – zu groß war die Erbitterung über den unprovo­ zierten Überfall vom August 1914 und die Trauer über die unzähligen Opfer und Verwundeten in den endlosen Materialschlachten des Weltkriegs. Die politische Öffentlichkeit in Frankreich drängte auf eine massive Schwächung des Deutschen Reichs. Aus dieser Perspektive musste sichergestellt werden, dass sich ein derar­ tiger Krieg niemals wiederholen würde. Außerdem hatten die europäischen Kolo­ nialmächte kein Interesse daran, den Punkt der Demokratisierung an prominenter Stelle auf die Tagesordnung zu setzen, weil schon eine Debatte darüber unüber­ sehbare Folgen für ihre Imperien nach sich gezogen hätte. Stattdessen diskutierten die Staatsmänner in Paris umfassend über europäische territoriale Regelungen, Grenzziehungen, Zugänge zum Meer, die Abrüstung oder über Reparationen. Das Diktum vom Selbstbestimmungsrecht der Völker, das Wilson aufbauend auf seine „Vierzehn Punkten“ gefordert hatte, entfaltete aber unkontrollierte Ef­ fekte, die weit über diese in Paris beratenen Themen hinausgingen.3 Seine enorme Wirkung ist unter anderem dadurch zu erklären, dass die Termini „Selbstbestim­ mungsrecht“ und „Volk“ – genau wie „Nation“ – unscharf waren und weit inter­ pretiert werden konnten. Nationalisten aller Couleur versuchten bereits während der Verhandlungen, die eigene Nation so positiv wie möglich zu präsentieren, um für den jeweils angestrebten Nationalstaat maximale territoriale Forderungen durchsetzen zu können. Dieses Faktum alleine war wenig überraschend. Proble­ matisch und charakteristisch für die Zwischenkriegszeit war aber, dass populari­ sierte Vorstellungen von Nation und Volk zunehmend aggressiv mit ethnischen Denkmustern verknüpft wurden. Die Kategorie „Ethnie“ ist unmöglich objektiv und historisch-wissenschaftlich definierbar. Ethnie spielte und spielt aber eine enorm wichtige Rolle sowohl als Selbst- als auch als Fremdzuschreibung von meist sprachlichen Gruppen von Menschen. Zudem wurde seit dem 19. Jahrhundert sehr häufig auf eine vermeint­ liche oder wirkliche gemeinsame Herkunft und Abstammung rekurriert, die – un­ terstützt durch Gründungsmythen – allerdings oft hochgradig konstruiert war. Die Selbst- oder Fremdzuordnung zu einer ethnischen Gemeinschaft ist nicht notwendigerweise rassistisch. Sie kann aber rassistische Züge annehmen, weil die 3  Vgl. etwa Erez Manela: The Wilsonian Moment. Self-Determination and the International Ori­ gins of Anticolonial Nationalism. Oxford 2007.

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Abstammung im Gegensatz zur Religionszugehörigkeit oder zum sozialen Status nicht veränderbar ist. Theoretisch ist die Zuordnung zu einer Nation eine freiwil­ lige Angelegenheit, wie vor allem Eric Hobsbawm überzeugend hervorgehoben hat.4 Dies ist aber nicht mehr der Fall, wenn ein Volk ethnisch definiert wird, weil dann der individuelle Wechsel von einer Nation zu einer anderen schwierig oder unmöglich wird. Auch wird eine rassistische Interpretation wahrscheinlicher als zuvor, wenn zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen Hierarchien der Überund Unterordnung gebildet werden. Die meisten Eliten in den neuen Staaten strebten die Formierung von National­ staaten an, auch wenn häufig starke sprachliche, religiöse oder nationale Minder­ heiten existierten. Diese wurden keineswegs immer ethnisch definiert, aber aus heutiger Perspektive bestand ein unübersehbarer Trend, der in diese Richtung zeigte. Deshalb ist es historisch sinnvoll, nicht so sehr von real existierenden Eth­ nien, sondern eher von Versuchen der gezielten Ethnisierung zu sprechen. Diese fanden meist in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Imperien statt, in denen eine große religiöse, sprachliche und eben auch „ethnische“ Vielfalt geherrscht hatte. Die von Nationalisten angestrebte Eindeutigkeit musste vor allem auf zwei Ebenen erhebliche direkte und indirekte Konflikte nach sich ziehen. Einerseits waren viele Menschen nicht bereit, sich einer eindeutigen Zuschreibung zuzuord­ nen, ein Punkt auf den noch eingegangen wird. Andererseits waren sehr viele Zeitgenossen von der realen Existenz ethnischer Kategorien überzeugt und sie versuchten, diese – notfalls mit Gewalt – auch durchzusetzen. Solche Ethnisierun­ gen fanden zwar nicht überall in gleicher Intensität statt und selbstverständlich gab es Ausnahmen, im extremen Fall konnte aber jeder Lebensbereich der betrof­ fenen Personen davon erfasst werden: Es begann bei der Konstruktion ethno-lin­ guistischer Vorstellungen und endete bei dem Versuch, soziale Beziehungen zu biologisieren – Aspekte, die ebenfalls im Folgenden näher thematisiert werden. Kategorisiert man die Nationsbildungen seit dem 19. Jahrhundert in verglei­ chender Absicht, so bildet die Zwischenkriegszeit in Europa eine eigenständige Periode. Sie ist vor allem durch diese Ethnisierungen gekennzeichnet, aber auch dadurch, dass – häufig als Folge des Ersten Weltkriegs – hypernationalistische Vorstellungen noch viel stärkeres Gewicht als im 19. Jahrhundert erhielten. Aus heutiger Perspektive war daran besonders bedenklich, dass zunehmend rassisti­ sche Stereotypen von den jeweiligen Nationalismen aufgenommen wurden. Be­ reits vor dem Ersten Weltkrieg waren zugespitzte und stark popularisierte ­sozialdarwinistische Vorstellungen nicht nur im Deutschen Reich häufig auf das „Volk“ als Ganzes übertragen worden. In dieser biopolitischen Sichtweise hingen der Aufstieg und der Niedergang von Völkern und Staaten von Homogenität und von einer imaginierten „Volksgesundheit“ ab. Deshalb mussten als „fremd“ defi­ nierte Personenkreise isoliert beziehungsweise aus diesem Volk ausgeschlossen werden. Auch wenn sich in Deutschland diese Vorstellungen bis weit in die libe­ 4  Vgl. Eric J. Hobsbawm: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Frank­ furt a. M. 1991, S. 19–21.

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ralen Parteien fanden, wurden sie jedoch vor 1914 – mit dem Ausnahmefall des Kolonialismus – kaum politisch handlungsbestimmend.5 Versuche der Antisemi­ ten, sich parteipolitisch zu organisieren, scheiterten weitgehend. Die Stoecker-Be­ wegung und die Antisemitenpartei, die sich als politische Sammelbewegungen verstanden, blieben Randerscheinungen. Nach dem Ersten Weltkrieg spitzten sich die biopolitischen Sichtweisen drama­ tisch zu, auch wenn sie sich nicht in allen politischen Lagern gleichmäßig durch­ setzten: Völkisches Denken war salonfähig geworden. Der Antisemitismus wurde in der Zwischenkriegszeit dadurch gefördert, dass eine wachsende Zahl von Men­ schen bereit war, in ethnischen Kategorien zu denken und hieraus konkretes po­ litisches Handeln abzuleiten. Trotz der kaum noch zu überblickenden Menge an Literatur zum deutschen und zum europäischen Antisemitismus ist diese Frage­ stellung bisher vergleichend nur wenig untersucht worden, eine präzise Analyse dürfte allerdings auch erhebliche methodische Probleme aufwerfen. Auffällig ist aber, dass sich diese Form der Ethnisierung im Deutschen Reich gegen eine Grup­ pe richtete, die nicht nur gesellschaftlich und ökonomisch bestens integriert, son­ dern auch – wie der Erste Weltkrieg gezeigt hatte – zumindest teilweise bereit war, einen aggressiven Nationalismus mitzutragen. Ein Nebenprodukt des Strebens nach „Volksgesundheit“ oder nach einer homogenen „Volksgemeinschaft“ stellte die Eugenik dar, die nach 1918/19 in ganz Europa und vor allem in den USA ei­ nen enormen Aufschwung erlebte. Dieses Streben nach Einheitlichkeit der Staatsbürger war – jenseits von Ethnie – auch eine indirekte Folge des Demokratisierungsprozesses. In einem demokrati­ schen Staat muss, gleichgültig ob in ihm viele oder wenige Minderheiten leben, anders als in einem autoritär regierten Imperium, die Frage der Staatsangehörig­ keit zwingend beantwortet werden. Diese ist direkt an das aktive und passive Wahlrecht gekoppelt. Alle Staaten mussten deshalb festlegen, wer zum Staatsvolk gehörte – und vor allem, wer nicht dazu gehörte. Der Staat verfügte über die Definitions­macht und über die Machtmittel, um In- und Outgroups zu benennen. Fast immer war in Europa der Staat auch an ein Staatsvolk gebunden. Selbst das vergleichsweise weltoffene Frankreich, das – von einigen kleinen rechtsradikalen Gruppierungen abgesehen – keine „ethnischen“ Franzosen kannte, schuf hier scharfe Grenzen. Theoretisch konnte jeder, der Französisch sprach und sich zur französischen Kultur bekannte, auch die Staatsbürgerschaft erhalten. Afrikanern aus den französischen Kolonien gelang dies aber nur in wenigen Ausnahmefällen.6 Komplexe Regelungen verhinderten, dass koloniale Untertanen Franzosen wur­ den und damit das Wahlrecht erhielten. Dies führte zu der paradoxen Situation, dass die meisten Afrikaner, die im Ersten Weltkrieg für Frankreich an der West­ 5 Zu

diesem Themenkomplex vgl. weiterführend etwa: Frank Becker (Hg.): Rassenmischehen – Mischlinge – Rassentrennung. Zur Politik der Rasse im deutschen Kolonialreich. Stuttgart 2004. 6 Weiterführend hierzu vgl. Carole Sweeney: From Fetish to Subject. Race, Modernism, and Primi­tivism. 1919–1935. London 2004, S. 37–50.

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front gegen die Deutschen gekämpft und gelitten hatten sowie vielleicht sogar verwundet oder verkrüppelt worden waren, dennoch von Wahlen ausgeschlossen blieben. Auf dem Balkan kam den orthodoxen Kirchen für die Formierung und für die Durchsetzung von nationalen Ideen eine besondere Bedeutung zu. Anders als der Katholizismus, der von seinem Grundverständnis her universalistisch ausgerichtet war und ist, waren seit dem 19. Jahrhundert unabhängige nationale orthodoxe Kirchen entstanden, die meist Träger eines strikten und säkular überhöhten Na­ tionalismus waren. Sie konservierten nationale Sprachen, Sitten und Gebräuche, bei denen es sich aber häufig um invented traditions handelte. Der Einfluss dieser Institutionen war erheblich, und sie mischten sich ganz selbstverständlich und kontinuierlich in die Tagespolitik ein. Deshalb trugen die Kirchen in den ortho­ doxen Ländern dazu bei, das Nationale nicht nur zu sakralisieren, sondern auch zu ethnisieren. Der Mythos, dass die Kirche die unterdrückte Nation im dunklen Zeitalter der Fremdherrschaft bewahrt habe, verwandelte religiöse Identitäten in ethnisch-messianische Vorstellungen. Beispielsweise proklamierte die SerbischOrthodoxe Kirche eine überaus aggressive, religiös und mythisch aufgeladene Nationsvorstellung. Hierbei wurde recht sorglos und selektiv mit den histori­ schen Fakten umgegangen. Katholische Kroaten oder muslimische Bosnier und Albaner, die mit orthodoxen Serben zusammen im SHS-Staat (Jugoslawien) leb­ ten, konnten sich mit diesem religiösen Extremismus überhaupt nicht identifizie­ ren. Die Haltung des serbischen Klerus wirkte desintegrierend und trug dazu bei, den Staat als Ganzes zu schwächen. Die orthodoxen Kirchen waren zwar nicht grundsätzlich antidemokratisch eingestellt, sie waren aber meistens durch eine große Zahl von Kontakten personell und institutionell eng mit den herrschenden politischen und ökonomischen Eliten verzahnt. Daher tendierten sie viel stärker zu autoritären als zu parlamentarischen Denkmodellen, bei denen notwendiger­ weise permanent Kompromisse angestrebt werden mussten.7 Ein Bestandteil der zunehmenden Versuche, ethnische Kategorien zu verwen­ den, war auch der Rückgriff auf die Geschichte. Historische Mythen sind keines­ wegs zwangsläufig anfällig für ethnische Interpretationen – im Gegenteil: Kein Staat und keine Nation kommen ganz ohne Mythen, Symbole oder geschichtliche Narrative aus, die der eigenen Identität Legitimität verschaffen. Auch Demokra­ tien benötigen diesen Rekurs auf die Vergangenheit, um kollektive Denkmuster zu vermitteln. Bestimmte historische Ereignisse, wie etwa die Revolution von 1848, können der kollektiven Erinnerung als Bezugspunkte dienen und im Be­ darfsfall emotional besetzt werden. Allerdings gingen in der Zwischenkriegszeit überzeugte Nationalisten viel weiter und übersteigerten historische Ereignisse auf 7  Aus

der reichhaltigen Literatur zu den politisierten orthodoxen Kirchen sei nur erwähnt: Fre­ derick F. Anscombe: State, Faith, and Nation in Ottoman and Post-Ottoman Lands. Cambridge 2014; Lucian N. Leustean: Orthodoxy and Political Myths in Balkan National Identities. In: Na­ tional Identities 10 (2008), S. 421–432; Vjekoslav Perica: Balkan Idols. Religion and Nationalism in Yugoslav States. Oxfold 2002.

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eine Weise, die eine Verzerrung der Realität darstellte. Erinnerungen wurden mit strategischen Intentionen teilweise instrumentalisiert, teilweise auch neu geschaf­ fen. Geschichte war damit nicht mehr eine Angelegenheit professioneller Analyse, sondern enthielt metaphysische Spekulationen. Zeiten des nationalen Niedergangs konnten problemlos auch in Opfer- und Leidensnarrative eingebettet werden, ­Perioden des Aufstiegs ließen sich im nationalen Sinne als „goldene Zeitalter“ deuten. Bei derartigen Interpretationen wurde auf mehreren Ebenen argumentiert: Erstens wurden bestimmte Territorien beansprucht, weil sie in der Vergangen­ heit wirklich oder angeblich Teil des eigenen Landes gewesen oder von Angehöri­ gen des eigenen Volkes bewohnt worden seien. Der argumentativen Kreativität waren hier kaum Grenzen gesetzt. Der aggressive Nationalismus der Zwischen­ kriegszeit griff häufig auf Großreichvorstellungen zurück, die historisch legitimiert wurden. Problematisch daran war allerdings, dass diese Reiche stets Imperien und keine Nationalstaaten gewesen waren – ein Widerspruch, der häufig einfach aus­ geklammert wurde. Zweitens wurde versucht, die Geschichte des eigenen Volkes so weit wie mög­ lich in die Vergangenheit zurückzuschreiben. Dies führte beispielweise zu stark nationalisierten Interpretationen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Um die Nationalität einzelner Gelehrter wurde heftig gestritten. Die Frage, ob Slawen oder Germanen ein bestimmtes Territorium als erste besiedelt hätten, ließ sich aller­dings nur in Zeiträumen diskutieren, die viele Jahrhunderte – wenn nicht Jahrtausende – umfassten, die für die eigenen Ansprüche nationalisiert wurden. In der Literatur ist deshalb betont worden, dass diese mythischen Narrationen nicht nach der Epochalität von Ereignissen gefragt hätten, sondern ihr Alter beweisen wollten oder sogar ihre Ewigkeit betonten.8 Drittens wurde in diesem Zusammenhang häufig auf nationale Gründungs­ mythen zurückgegriffen, die zugleich personalisiert wurden. Dies konnte der ein­ gedeutschte Arminius, also Hermann der Cherusker, sein, der Germanien aus der römischen Fremdherrschaft errettet hatte. Infrage kam auch Praotec Čech, der in ein angeblich leeres Land geritten war und sich dort niedergelassen hatte. Die „anderen“, zum Beispiel die Deutschen, seien erst später gekommen. Hieraus ab­ geleitete genealogische Linien ließen sich leicht ethnisieren. Allerdings hatten sol­ che Narrative etwas Autistisches und appellierten fast nur an die eigene Nation: Politische Gegner und Angehörige anderer Nationen ließen sich durch derartige „Argumente“ kaum überzeugen. Viertens unterscheiden sich die historischen Mythen eines Nationalstaates grundlegend von denen eines Imperiums. Beide beziehen sich auf einen bestimm­ ten Gründungsakt. Im imperialen Kontext ist aber klar, dass der Staat zerbrechen kann und damit temporär ist. Britischen Staatsmännern war beispielsweise stets 8 

Vgl. Stefan Guth: Mythen und Stereotypen der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte in der Zwischenkriegszeit. In: Heidi Hein-Kircher u. a. (Hg.): Politische Mythen im 19. und 20. Jahr­ hundert in Mittel- und Osteuropa. Marburg 2006, S. 207–224, hier: S. 214 f., S. 217.

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bewusst, dass das Empire ein fragiles Gebilde war, das mit Augenmaß und Klug­ heit regiert werden musste. Die Nation als solche hingegen ist – nachdem sie ein­ mal entstanden ist – ewig, beziehungsweise ihr Untergang ist entweder gar nicht oder nur in einem apokalyptischen Szenario denkbar. Fünftens diente der Rekurs auf große Persönlichkeiten der Vergangenheit wie Luther, Bismarck, Alexander der Große, Skanderbeg oder die römischen Kaiser dazu, kollektive nationale Identitäten – auch unabhängig von ethnischen Projek­ tionen – wachzuhalten oder zu schaffen. Von der neueren Forschung ist klar gezeigt worden, dass sich in den 1920erund 1930er-Jahren sehr viele Individuen und Gruppen von Menschen in Europa einer eindeutigen Klassifizierung und somit einer Zuordnung zu nur einer einzi­ gen Nation oder Ethnie widersetzten. Dies konnte auf verschiedenen gesellschaft­ lichen Ebenen sowie entweder offen oder indirekt geschehen. James E. Bjork hat diese Personen mit dem zutreffenden Begriff der „nationalen Amphibien“ charak­ terisiert.9 Die imperialen Traditionen wirkten bei den Zeitgenossen sehr viel stär­ ker und länger nach, als dies noch vor wenigen Jahren von den meisten Histori­ kern angenommen worden ist, weil viele derjenigen Stereotypen, die noch von den „Nationalbewegungen“ geprägten worden waren, nur wenig hinterfragt wor­ den sind. Dieses Faktum hat sich inzwischen grundlegend geändert und vor allem steht eine breite und belastbare Quellenbasis für weitere Analysen zur Verfügung. Viele individuelle und kollektive Identitäten waren keineswegs eindeutig an nur einen bestimmten nationalen Kontext gebunden. Gerade in Zentraleuropa be­ standen komplexe Identitäten, die sich nicht auf Nation oder Ethnie reduzieren ließen. In dem hier verfolgten Zusammenhang ist zentral, dass ein erheblicher Wider­spruch zwischen dem Anspruch der jeweiligen Nationalbewegungen auf ­einen einheitlichen Staat und den multiethnischen Bevölkerungsstrukturen der neuen Staaten bestand. Diese potenziell sehr konfliktreiche Situation musste Defi­ zite im demokratischen Lernprozess, in der Parteienbildung und in der Kompro­ missbereitschaft bei Regierungsbildungen und im Gesetzgebungsverfahren nach sich ziehen. Zugleich wurden zivilgesellschaftliche und parlamentarische Struktu­ ren geschwächt. Zwangsassimilationen, Vertreibungen oder Separatismus waren 9 

Aus der Fülle der Literatur seien nur einige repräsentative Beispiele genannt: Philipp Ther: Die dunkle Seite der Nationalstaaten. „Ethnische Säuberungen“ im modernen Europa. Göttingen 2011; Michael Schwartz: Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne. Globale Wechselwirkungen nationalistischer und rassistischer Gewaltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert. München 2013; Holm Sundhausen: Die Ethnisierung von Staat, Nation und Gerechtigkeit. Zu den Anfängen na­ tionaler „Homogenisierung“ im Balkanraum. In: Mathias Beer (Hg.): Auf dem Weg zum ethnisch reinen Nationalstaat? Europa in Geschichte und Gegenwart. Tübingen 2004, S. 69–90; Stephanie Zloch: Polnischer Nationalismus. Politik und Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen. Köln 2010; James E. Bjork: Neither German nor Pole. Catholicism and National Indifference in a Central European Borderland. Ann Arbor 2008, bes. S. 6–9; Theodora Dragostinova: Between Two Motherlands. Nationality and Emigration among the Greeks of Bulgaria. 1900–1949. Ithaca 2011; Renée Hirschon: „Unmixing Peoples“ in the Aegean Region. In: ders (Hg.): Crossing the Aegean. An Appraisal of the 1923 Compulsory Population Exchange between Greece and ­Turkey. New York 2010, S. 3–12.

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keine zwangsläufigen Folgen dieser durchaus dynamischen Situationen, sie traten aber häufig auf. Stabile demokratische Länder, die zugleich Vielvölkerstaaten sind, sind keineswegs undenkbar, wie das konservative Erfolgsmodell der Schweiz be­ reits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zeigt. Allerdings sind derartige Fälle his­ torisch selten, und traten in gehäufter Form erst während der Dekolonisation der 1950er- und 1960er-Jahre in Asien und Afrika auf. Da in der Zwischenkriegszeit fast überall nationale Minderheiten als Belastung galten, wurden gesellschaftliche Konflikte vieler Art, die einzeln durchaus lösbar gewesen wären, zusätzlich politisiert. Forderungen nach nationaler, religiöser oder ethnischer Gleichberechtigung wurden häufig als Bedrohung der nationalen Einheit empfunden. Deshalb entstanden in den neuen Demokratien von Anfang an Szenarien der wirklichen oder imaginären Bedrohung, durch die soziale, politi­ sche und auch ökonomische Ausgrenzungen begünstigt wurden.10 Demokratien, in denen frei gewählte Parlamente und parlamentarisch verantwortliche Regierun­ gen handlungsfähig sind, müssen nicht zwangsläufig auch Zivilgesellschaften sein, aber diese Kombination erleichtert die Entschärfung von potenziellen Konflikten mit Minderheiten oder wirkt den Ethnisierungstendenzen entgegen. Zivilgesell­ schaftliche Strukturen waren in einigen der neuen Staaten aber gar nicht vorhan­ den und konnten nur sehr langsam aufgebaut werden. In anderen Staaten, wie im Deutschen Reich oder in Italien, waren diese durch den Ersten Weltkrieg und vor allem durch die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen der unmittelbaren Nachkriegszeit erheblich geschwächt worden. Am Beispiel der Weimarer Republik der späten 1920er-Jahre ist häufig argu­ mentiert worden, dass die große Zahl von Splitterparteien desintegrierend gewirkt und die Bildung stabiler Kabinette behindert habe. Diese Annahme ist sicherlich korrekt, aber eine große Zahl von Parteien alleine stellte in Europa – mit Ausnah­ men wie Frankreich oder Großbritannien – eher die Regel als die Ausnahme dar. So beteiligten sich in den stabil demokratischen Niederlanden 54 Parteien an der Wahl von 1933 und 14 von ihnen zogen ins Parlament ein. Für den hier verfolgten Kontext ist bemerkenswert, dass sich in multiethnischen Gesellschaften Parteien nicht nur entlang weltanschaulicher und sozialer, sondern zusätzlich auch noch entlang der angenommenen oder imaginierten ethnischen und sprachlichen Gren­ zen bildeten, obwohl in Sachfragen zwischen ihnen häufig ähnliche inhaltliche Vorstellungen bestanden. Bei den letzten demokratischen Wahlen in Lettland tra­ ten 44 Parteien gegeneinander an. Jeweils sechs von ihnen definierten sich als jü­ disch oder als russisch, jeweils zwei als polnisch oder deutsch und eine als litau­ isch. Sehr ähnliche Tendenzen bestanden in Jugoslawien, Bulgarien und Polen.11 Auch scheiterten Versuche in der Tschechoslowakei, eine gemeinsame sozial­ demokratische Partei zu bilden, in der sowohl Tschechen und Slowaken als auch 10  Vgl. Lutz Raphael: Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945. München 2011, S. 121 f.; Mark Mazower: Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert. Berlin 2000, S. 50, S. 70. 11  Vgl. Barth: Europa (wie Anm. 1), S. 181  f.

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Deutsche willkommen waren. Da die sprachlichen oder ethnischen Unterschiede als wichtiger als die politischen und sozialen Gemeinsamkeiten eingeschätzt wur­ den, entstanden neuartige Bruchlinien im gesellschaftlichen System. Nur die Kommunisten versuchten – mit wechselndem Erfolg – sprachliche und ethnische Grenzen zu überbrücken. Allerdings wurden die kommunistischen Parteien in Polen schon 1919, im SHS-Staat Ende 1920, in Bulgarien und Rumänien 1924, in Albanien 1928 und in Griechenland 1936 verboten. Zudem widersprach die inter­ nationalistische Rhetorik zunehmend der tagespolitischen Realität, mit der sich diese Parteien an der stalinistischen Sowjetunion orientierten. Diese parteipoliti­ sche Orientierung an der Nationalität hat sicherlich Kompromisse und notwen­ dige demokratische Lernprozesse erschwert.

Der Minderheitenschutz Den Staatsmännern der Entente war in Paris bewusst, dass durch die Friedens­ regelungen in zahlreichen europäischen Staaten große Gruppen von sprachlichen, religiösen oder ethnischen Minderheiten geschaffen werden würden. Gegen den erheblichen Widerstands der europäischen Kolonialmächte konnte Wilson aber nur einen vagen Minderheitenschutz durchsetzen.12 Dieser galt theoretisch für etwa 25 Millionen Menschen in zwölf europäischen Ländern.13 Er wurde dem Völkerbund übertragen, und die neuen mittel- und osteuropäischen Staaten muss­ ten sich in Paris vertraglich verpflichten, entsprechende Regelungen in nationale Gesetzgebung zu überführen. Schnell stellte sich aber heraus, dass diese Schutz­ maßnahmen in der Praxis wenig effektiv waren und sich – gemessen an der ursprüng­lichen Intention Wilsons – kaum bewährten. Allerdings wäre es auch falsch, anzunehmen, dass der Schutz vollständig gescheitert wäre. Alleine seine Existenz hat wahrscheinlich einige Regierungen davon abgehalten, exzessive Maß­ nahmen gegen Minderheiten zu ergreifen. Auch war im Völkerrecht immerhin ein Zeichen gesetzt worden, auf das sich international denkende Menschenrechtsak­ tivisten theoretisch berufen konnten. In der Praxis nutzten aber eher die Natio­ nalisten und die Revisionisten dieses neue Instrument für sich. Gut bekannt ist Gustav Stresemanns Versuch, Deutsche von der Auswanderung aus Polen ab­ zuhalten, weil er diese Gruppe für seine – allerdings friedliche – Revisionspolitik einsetzen wollte. Für die Schwäche des Minderheitenschutzes waren mehrere Gründe verant­ wortlich: Erstens wurde diese Pflicht den Nachfolgestaaten der Imperien von den Westmächten aufoktroyiert. Diese verpflichteten sich selbst aber nicht, ihn ein­ zuhalten; auch Italien und das Deutsche Reich übernahmen keine vertraglichen Schutzmaßnahmen. Vor allem wegen des Bürgerkriegs in Irland und angesichts der prekären kolonialen Situation nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wäre 12  13 

Vgl. Erik Goldstein: The First World War Peace Settlements 1919–1925. London 2002, S. 6. Vgl. Ther: Dunkle Seite (wie Anm. 9), S. 90.

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­ iese Maßnahme für das imperiale Großbritannien auch nicht hinnehmbar gewe­ d sen, sondern hätte zahlreichen Unabhängigkeitsbewegungen erheblichen Auftrieb gegeben. Damit wurde im internationalen System aber eine Asymmetrie veran­ kert, die allen Beteiligten sehr bewusst war. Zweitens wurde der Schutz beispiels­ weise in Polen als eine äußere Einmischung in die inneren Angelegenheiten des neuen souveränen Staates empfunden und nur unter Druck und mit großem Un­ willen akzeptiert. Ein Nebengedanke der polnischen Regierung beim Abschluss des Nichtangriffspaktes mit dem Deutschen Reich von 1934 bestand darin, dass gleichzeitig der Minderheitenschutz aufgekündigt werden konnte. Drittens rati­ fizierten die USA den Versailler Vertrag nicht und blieben auch dem Völkerbund fern. Damit fiel die wichtigste Garantiemacht für den Minderheitenschutz fort. Viertens zwangen die Schutzbedingungen viele Menschen in Ost- und Ostmittel­ europa, sich eindeutig einer bestimmten nationalen Gruppe zuzuordnen. Damit trugen die Maßnahmen – entgegen der ursprünglichen Intention – dazu bei, dass sich ethnische und nationalistische Denkmuster verfestigten. Fünftens waren die Regelungen, mit denen der Schutz von Minderheiten durchgesetzt werden sollte, kompliziert und wenig effektiv. Nur Individuen, nicht betroffene Minderheiten insgesamt, konnten in Den Haag klagen. Für Einzelpersonen bedeutete ein derar­ tiges Verfahren einen hohen individuellen, zeitlichen und auch finanziellen Auf­ wand. Die Zahl der eingereichten und erfolgreichen Klagen war deshalb sehr klein. Außerdem gab es kaum Sanktionsmöglichkeiten, sodass dem Völkerbund die Machtmittel fehlten, um im Konfliktfall Maßnahmen auch durchzusetzen. Der Minderheitenschutz funktionierte deshalb nur, wenn die betroffenen Re­ gierungen kooperationswillig waren. Hierbei entstand in Europa ein klares NordSüd-Gefälle. Vorbildlich wurde die Situation von Minderheiten in Estland und Finnland gelöst. Seit 1925 konnten sich Minderheiten in Estland, wenn sie eine Mindestzahl von 3000 Personen nachwiesen, eigene kulturelle und schulische Ein­ richtungen schaffen. Ferner durften sie sich einen Beirat wählen, der in der Hauptstadt als Ansprechpartner bei politischen und organisatorischen Fragen diente. Die russischsprachige Minderheit machte von diesem Recht keinen Ge­ brauch, sehr wohl aber die deutsche und die jüdische Minderheit. Auf diese Weise entspannte sich das Verhältnis der deutschen Volksgruppe zu dem neuen Staat schnell.14 Deutlich schlechter sah es hingegen auf dem Balkan und vor allem in der Türkei aus, wo Minderheiten offen und mit erheblichem Einsatz von oft ­tödlicher Gewalt unterdrückt wurden. In der Türkei fanden am Ende der 1920erund in den 1930er-Jahren mehrfach Massaker an Kurden statt, die als potenzielle Irredenta angesehen wurden.

14  Vgl. Frank Lothar Kroll: Vertreibung und Minderheiterschutz im 20. Jahrhundert. In: ders. u. a. (Hg.): Vertreibung und Minderheitenschutz in Europa. Berlin 2005, S. 3–11, hier: S. 8; Mazower: Kontinent (wie Anm. 10), S. 97; Hans Lemberg: Sind nationale Minderheiten Ursachen für Kon­ flikte? Entstehung des Problems und Lösungskonzepte in der Zwischenkriegszeit. In: Ulf Brunn­ bauer u. a. (Hg.): Definitionsmacht, Utopie, Vergeltung. „Ethnische Säuberungen“ im östlichen Europa des 20. Jahrhunderts. Berlin 2006, S. 32–48, hier: S. 39–41.

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Vor allem Juden, aber auch Sinti und Roma und einige weitere kleine Minder­ heiten stellten in ganz Europa besonders gefährdete Gruppen dar. Sie hatten kei­ nen Staat, an den sie sich im Notfall wenden oder in den sie hätten auswandern können. Dies war im 19. Jahrhundert nur ein untergeordnetes Problem gewesen, weil die Migration in die USA eine zwar individuell riskante, aber zugleich stets mögliche Option dargestellt hatte. Europas demografische Probleme wurden ein Jahrhundert lang durch Nordamerika gelöst. 1921 wurde die Einwanderung in die USA aber erheblich erschwert. Der „Johnson-Reed Act“ von 1924 verschärfte aus rassistischen Gründen die bereits bestehenden Quotenregelungen und unterband – von seltenen Ausnahmen abgesehen – jede legale Einwanderung aus Ost- und Südeuropa. Daran wirkt besonders paradox, dass nur sechs Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs Migranten aus dem Deutschen Reich, das immerhin ein ehemaliger Kriegsgegner war, ausdrücklich willkommen waren, während solche aus den ehemals verbündeten Staaten Italien, Portugal oder Griechenland faktisch ausgeschlossen wurden. Einige tschechische Historiker haben die Geschichte ihres Landes zwischen 1918 und 1938 kritisch dargestellt, weil in der Tat zeitweise erhebliche Probleme im Umgang mit den Minderheiten auftraten und vor allem in der Endphase viele Sudetendeutsche mit fliegenden Fahnen in das nationalsozialistische Lager wech­ selten.15 Allerdings muss einschränkend bemerkt werden, dass im internationalen Vergleich die Erste Tschechoslowakische Republik das Problem ihrer Minderhei­ ten weit besser gelöst hat als viele andere Staaten in Ost- und Ostmitteleuropa. Trotz aller Schwächen in der tschechoslowakischen Gesetzgebung zeigt dieses Beispiel, dass in der Zwischenkriegszeit funktionierende Alternativen zu einer ausschließenden „Minderheitenpolitik“ existierten und dass ein demokratischer Konsens möglich war. Die Tschechoslowakei war ein Vielvölkerstaat, in dem mehr Deutsche als Slowaken lebten. Dieser Umstand war den meisten Zeitgenos­ sen sehr bewusst, und die meisten tschechoslowakischen Regierungen haben ver­ sucht, den Deutschen zumindest ein Stück weit entgegenzukommen. Obwohl sich die staatlichen Integrationsangebote in Grenzen hielten, verhielt sich ein gro­ ßer Teil der Deutschen in den 1920er-Jahren deshalb loyal zu dem neuen Staat. Bei Wahlen stimmten mehr als 60 Prozent von ihnen für die staatsbejahenden Par­ teien. Die deutsche Minderheit verfügte ferner mit der deutschen Universität in Prag über eine eigenständige Hochschule. 1926 und 1929 traten staatsbejahende deutsche Parteien in die Regierung ein, auch wenn ihre Mitwirkungsmöglichkei­ ten dort begrenzt waren, weil sie keine Schlüsselministerien erhielten. Die tschechoslowakischen Sprachenregelungen waren allerdings extrem kom­ pliziert, weil erst 1926 eine – obendrein noch stark interpretationsfähige – Durch­ führungsverordnung zu dem recht unübersichtlichen Sprachengesetz von 1920 erlassen wurde. Selbst Fachleute konnten häufig nicht genau sagen, in welcher 15 

Vgl. etwa den durchweg sehr kritischen Unterton in dem ansonsten ausgezeichneten Buch von Jaroslav Kučera: Minderheiten im Nationalstaat. Die Sprachenfrage in den tschechisch-deutschen Beziehungen 1918–1938. München 1999.

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konkreten Situation welche Sprache benutzt werden durfte oder musste. Im tschechoslowakischen Parlament in Prag durfte – ganz untypisch für die Zwi­ schenkriegszeit – jeder Abgeordnete in seiner Muttersprache sprechen. Allerdings gab es keine Übersetzungen. Sechs Sprachen wurden gesprochen (Tschechisch, Slowakisch, Deutsch, Ungarisch, Polnisch, Ruthenisch), was die Möglichkeit von Debatten erschwerte. Nur Minister beziehungsweise Mitglieder der Regierung mussten die tschechische Amtssprache benutzen.16 Auch in zahlreichen regiona­ len Institutionen wie zum Beispiel den Handelskammern ist keine Diskriminie­ rung der deutschen Minderheit erkennbar – im Gegenteil: Es bildete sich hier eine pragmatische, erfolgsorientierte und häufig gute Zusammenarbeit heraus.17 Erst unter dem Einfluss der Weltwirtschaftskrise, die die sudetendeutsche Minderheit in den Grenzgebieten aus strukturellen Gründen besonders hart traf, und wegen der wachsenden Aggressivität des Nationalsozialismus rückten viele Deutsche in der Tschechoslowakei vom parlamentarischen Staat ab, ohne diesen allerdings wirklich gefährden zu können. Die tschechoslowakische Demokratie wurde erst in München 1938 unter aktiver Mithilfe der Westmächte zerstört.

Flucht und Vertreibungen Die Nationalstaatsbildungen nach 1918 wurden häufig von Vertreibungen und „ethnischen Säuberungen“ im großen Stil begleitet. Sieht man von den gezielten Völkermorden der Jungtürken ab, so waren viele Umsiedelungen und Vertreibun­ gen bis dahin primär militärisch bedingt gewesen. Autoren wie Jörn Leonhard oder Philipp Ther haben deshalb hervorgehoben, dass nicht im Krieg selbst, ­sondern vor allem in der Nachkriegszeit Millionen von Menschen in Europa zu Flüchtlingen wurden. Durch den Zusammenbruch mehrerer Imperien wurde das Problem nicht gelöst, sondern verschärft.18 Der Zerfall Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reichs sowie der Bürgerkrieg in Russland mündeten in Wellen ethnischer Gewalt und massenhaften Vertreibungen. Besonders betroffen waren nach 1918 Griechen und Türken, aber auch sehr viele Ungarn und Deutsche mussten ihre ursprüngliche Heimat verlassen. Ein Beispiel zeigt, dass Umsiedlungen Letzterer oft quantitativ erheblich waren, aber zugleich häufig relativ undramatisch verliefen. Geschätzt wird für das Elsass, dass zwischen 112 000 und 150 000 Menschen das Land verlassen mussten. Die meisten gehörten zu den deutschen Funktionseliten. Nach einer kurzen und chaotischen 16  Vgl. ebd., S. 210–214, S. 218–220; Katharina Wessely: Theater der Identität. Das Brünner deut­ sche Theater in der Zwischenkriegszeit. Bielefeld 2011, S. 41 f. 17 Vgl. Christoph Boyer: Nationale Konkurrenten oder Partner? Studien zu den Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen in der Wirtschaft der CSR (1918–1938). München 1999. 18  Vgl. Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieges. München 2014, S. 965; Ther: Dunkle Seite (wie Anm. 9), S. 45; vgl. auch die vergleichende Studie von Kristina Heizmann: Fremd in der Fremde. Die Geschichte des Flüchtlings in Großbritannien und Deutschland. 1880–1925. [Diss.] Konstanz 2012.

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Phase direkt nach dem Ende des Weltkriegs, in der auch viele persönliche Rech­ nungen beglichen wurden, bemühten sich die französischen Behörden aber mit Erfolg, die Umsiedlungen nach rechtsstaatlichen Kriterien zu organisieren. Die Bevölkerung wurde nach dem deutschen Vorbild der Abstammungsgemeinschaft in vier unterschiedliche Gruppen eingeteilt, von denen einige bleiben durften, wenn sie wollten. Über die politische Haltung derjenigen, die dann meist in das Deutsche Reich, weniger in andere Länder, auswandern mussten, ist bisher nur wenig bekannt.19 Angenommen wird, dass bis 1925 etwa 1,38 Millionen Deutsche ins Reich ein­ wanderten. Hierzu gehörten zwischen 700 000 und 850 000 deutschsprachige Per­ sonen aus Polen und etwa 120 000 aus dem ehemaligen Zarenreich. Ungefähr die Hälfte derjenigen, die aus Russland kamen, wanderte weiter – zum Beispiel in die USA – oder kehrte nach dem Ende des Bürgerkriegs in die Sowjetunion zurück. In der Zwischenkriegszeit waren die Deutschen in Europa die zahlenmäßig größ­ te nationale Minderheit. 1930 lebten etwa 9 Millionen deutschsprachige oder deutschstämmige Menschen außerhalb des Deutschen Reichs.20 Die jeweilige Selbstzuordnung dieser Gruppen unterschied sich allerdings stark voneinander. Anders als die Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei entwickelte die deutschsprachige Minderheit in Polen kein ausgeprägtes nationales Gemeinschafts­ gefühl, auch wenn einige geschlossene Siedlungsgebiete bestanden. Ein Adliger in Posen hatte mit einem Industriearbeiter in Oberschlesien oder mit einem bürger­ lichen Stadtbewohner in Lublin zu wenig gemeinsam und die Kategorie des ­Nationalen reichte hier nicht aus, um eine nachhaltige „polendeutsche“ Identität zu schaffen. Alle neuen Staaten in Mittel-, Süd- und Osteuropa beriefen sich bei ihrer Grün­ dung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker und betonten die Prinzipien des Nationalstaates. Nur die Verlierernationen Österreich, Ungarn und Bulgarien, zu denen noch Albanien kam, waren aber „ethnisch“ beziehungsweise sprachlich homo­gene Nationalstaaten. Alle anderen stellten Nationalitätenstaaten dar, in ­denen sehr starke Minderheiten lebten. Polen und der SHS-Staat (das spätere Jugo­slawien) waren sprachlich und ethnisch fast genauso vielfältig wie die unter­ gegangene Habsburgermonarchie. Beide Staaten verfolgten – mit Abstufungen – eine repressive Minderheitenpolitik, die große Gruppen von Menschen aus dem politischen Leben ausschloss. Minderheiten wurden in Polen von Anfang an als 19  Vgl. Christiane Kohser-Spohn: Die Vertreibung der Deutschen aus dem Elsaß 1918–1920. In: Jerry Kochanowski u. a. (Hg.): Die „Volksdeutschen“ in Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei. Mythos und Realität. Osnabrück 2006, S. 90–92; Stefan Fisch: Der Übergang des Elsass vom Deutschen Reich an Frankreich 1918/19. In: Michael Erbe (Hg.): Das Elsass. His­ torische Landschaft im Wandel der Zeiten. Stuttgart 2002, S. 147–152, hier: S. 147 f.; Paul Smith: The Alsatians and the Alsace-Lorraine Question in European Politics c. 1900–1925. In: ders. (Hg.): Ethnic Groups in International Relations. New York 1991, S. 78 f. 20 Vgl. Schwartz: „Säuberungen“ (wie Anm. 9), S. 328; ferner die entsprechenden Angaben in Detlef Brandes u. a. (Hg.): Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und eth­ nische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts. Wien 2010, eigene Auswertung der dortigen Daten.

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eine potenziell illoyale Irredenta betrachtet. Versuche, Integrationsangebote zu initiieren, hielten sich in engen Grenzen, sodass der Staat seine immerhin denkba­ re Integrationskraft nicht nutzte. Da aber von den 27 Millionen Einwohnern acht Millionen zu einer nationalen Minderheit gehörten, wurde fast ein Drittel der Bevölke­rung – mit Abstufungen – aus dem politischen Leben verdrängt, obwohl bei der Staatsgründung im Prinzip jeder die polnische Staatsangehörigkeit er­ halten konnte.21 Abgesehen von den Kriegsjahren 1918 bis 1920 wurden Deutsche in Polen nur selten offen diskriminiert. Es bestand aber ein erheblicher indirekter Assimilie­ rungsdruck, der dazu führte, dass in den 1920er-Jahren eine nur schwer zu schät­ zende Zahl Deutscher mehr oder minder freiwillig das Land verließ. Die Motive waren uneinheitlich: Viele Deutsche wollten nicht in dem neuen Staat leben be­ ziehungsweise in der polnischen Armee dienen. Die Nationaldemokraten unter Roman Dmowski verfolgten im Gegensatz zu Józef Piłsudski eine ethnische Defi­ nition des Polentums. Nicht-Polen sollten aus der Nation verdrängt beziehungs­ weise nicht-polnische Völker in einen straff organisierten Nationalstaat eingeglie­ dert werden, ohne dass sie einen Anspruch auf den Minderheitenschutz gehabt hätten. Mit diesem exklusiven Nationsverständnis waren diese Minderheiten aber kaum für den neuen Staat zu gewinnen. Entsprechend entwickelten die National­ demokraten auch einen ausgeprägten aggressiven Antisemitismus.22 Sehr viel schärfer als gegen die Deutschen ging die polnische Regierung gegen die weißrus­ sische und gegen die ukrainische Minderheit vor: Repressalien und Bestrebungen nach Unabhängigkeit schaukelten sich gegenseitig hoch. Anfang der 1930er-Jahre führte dann das Piłsudski-Regime einen regelrechten Krieg in den Ostprovinzen. Da Polen seit dem Putsch von 1926 aber keine Demokratie mehr war, fällt dieser Fall nicht mehr in den Themenkreis dieses Aufsatzes. Eine bewusst polnisch-nationale Symbolkultur entfremdete Weißrussen, Ukrai­ ner, Litauer, Deutsche und weitere Angehörige von Minderheiten zunehmend vom polnischen Staat. Unter dem „Grabmal des unbekannten Soldaten“ in War­ schau lag ein polnischer Soldat, der in Lemberg während des Grenzkriegs gegen die Westukraine gefallen war. Er war also mit Sicherheit von einem Ukrainer ge­ tötet worden. Eine solche nationale Symbolkultur machte den Minderheiten kein Angebot zur Integration in den polnischen Staat. Bei Piłsudskis Putsch 1926 spiel­ te die Frage der Minderheiten zwar keine Rolle, sie hatte aber davor erheblich dazu beigetragen, dass die polnische Demokratie keine Stabilität finden konnte. Der Friedensvertrag von Lausanne von 1923 zwischen Griechenland und der Türkei markierte für die Geschichte der Minderheiten und der Vertreibungen eine

21  Vgl. Ingo Loose: Der Erste Weltkrieg als Eschatologie. In: Natali Stegmann (Hg.): Die Welt­ kriege als symbolische Bezugspunkte. Polen, die Tschechoslowakei und Deutschland nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Prag 2009, S. 39–57, hier: S. 49; Gerhard Besier: Das Europa der Diktaturen. Eine neue Geschichte des 20. Jahrhunderts. München 2006, S. 148. 22 Vgl. Joachim von Puttkamer: Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. München 2010, S. 198; Zloch: Nationalismus (wie Anm. 9), S. 25.

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eindeutige Zäsur. Der Hintergrund dieses Vertrags bestand darin, dass seit den Balkankriegen in dieser Region fast ununterbrochen militärische Konflikte und „ethnische Säuberungen“ stattgefunden hatten, die im Ersten Weltkrieg genozi­ dale Dimensionen erreicht hatten. Der Griechisch-Türkische Krieg war ebenfalls von massiven Vertreibungen und Massenmorden an Zivilisten begleitet worden, die 1922 in der Zerstörung der ehemals multinationalen und multikulturellen Metro­pole Smyrna gegipfelt hatten.23 Zunehmend setzte sich bei den Regierungen der Westmächte die Vorstellung durch, dass derartige Gewaltexzesse nur ver­ hindert werden könnten, wenn Minderheiten in ihren jeweiligen Nationalstaat auswandern beziehungsweise in geordneter Weise dorthin abgeschoben werden würden. Der Vertrag von Lausanne wurde deshalb unter aktiver Beteiligung der West­ mächte ausgehandelt. Er stellte ein Novum dar, weil er die Vertreibungen und Umsiedlungen als völkerrechtlich legitim absegnete und damit ein verhängnis­ volles Prinzip in das internationale Recht einführte. Die Vertreter der westlichen Großmächte hatten – anders als sie später behaupteten – dieses Konzept nicht nur ausdrücklich unterstützt, sondern sich auch für die Einsetzung von Zwangsmaß­ nahmen bei Umsiedlungen ausgesprochen.24 Im Lausanner Vertrag wurden Ver­ treibungen von Minderheiten ausdrücklich gebilligt, modern gesprochen: „Eth­ nische Säuberungen“ wurden als völkerrechtlich wünschenswert angesehen. Die westlichen Staatsmänner waren der Ansicht, dass auf diese Weise der Frieden in Europa besser gesichert werden könnte, als dies mit einer großen Zahl von Min­ derheiten in Griechenland und in der Türkei sowie in anderen Staaten möglich gewesen wäre. Aus heutiger Sicht ist besonders bemerkenswert, dass die ethnischen Klassifi­ zierungen in der Praxis überhaupt nicht funktionierten, wie mehrere Autoren ­gerade in den letzten Jahren herausgearbeitet haben. Da die ethnische Definition eines Türken oder eines Griechen unmöglich war, wurde in der Praxis auf die Kate­gorie der Religion zurückgegriffen. Als Folge hiervon mussten beispielsweise Muslime Griechenland verlassen, auch wenn sie kein Türkisch sprachen. Das Gleiche galt für orthodoxe Griechen in der Türkei. An der kleinasiatischen Küste hatten seit etwa 3000 Jahren Griechisch sprechende Menschen gelebt, doch der Friedensvertrag von Lausanne stellte das definitive Ende dieser Kultur dar. ­Ohnehin waren Klassifizierungen auch nach religiösen Kriterien extrem schwierig beziehungsweise unmöglich, weil in dieser Region viele weitere religiöse Gemein­ schaften lebten, die sich überhaupt ethnischen Zuordnungen entzogen. Muslimi­ sche Griechen und orthodoxe Türken waren eher der Normalfall als die Aus­ nahme. Ferner existierten Mischformen: Beispielsweise lebten in der Gegend von Saloniki die Dönme, eine ursprünglich jüdische Gruppe, die unter dem Einfluss 23 Vgl. Norman M. Naimark: Flammender Haß. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert. München 2004, S. 64–70. 24  Vgl. Ther: Dunkle Seite (wie Anm. 9), S. 100; Dimitri Pentzopoulos: The Balkan Exchange of Mi­ norities and Its Impact upon Greece. Paris 1962, S. 65; Schwartz: „Säuberungen“ (wie Anm. 9), S. 405.

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eines charismatischen Führers zum Islam konvertiert war, aber dennoch weiterhin jüdische Riten praktizierte.25 Der Versuch, durch zahlreiche Ausnahmegenehmi­ gungen eine gerechtere Regelung der Umsiedlungen zu erreichen, stellte im Grun­ de eine Kapitulation vor der Realität dar. Bemerkenswert ist ferner, dass die Frage der Staatsform bei den Beratungen in Lausanne wiederum überhaupt nicht disku­ tiert wurde. Den westeuropäischen Staatsmännern war dieser Aspekt offenbar gleichgültig. Der Einfluss, den die große Zahl von Vertriebenen auf die Innen­ politik und möglicherweise sogar auf die Staatsformen der betroffenen Länder nehmen würde, spielte bei den Erwägungen keine prominente Rolle: In Lausanne galt ein klares Primat der Außenpolitik. Die politischen Folgen, die diese Wellen der Ethnisierungen und Vertreibungen nach sich zogen, sind insgesamt nur schwer einzuschätzen. Man kann aber davon ausgehen, dass die vielen Flüchtlinge die neuen demokratischen Ordnungen der Zwischenkriegszeit erheblich destabilisierten, auch wenn sich dies im Einzelfall nur schwer nachweisen lässt. Michael Mann hat materialreich gezeigt, dass eine große Zahl der späteren nationalsozialistischen Täter aus den Rand- und Grenz­ gebieten des Deutschen Reichs stammte. Ihre Herkunft hat sie offenbar schon früh anfällig für ethnische beziehungsweise ethnisierte Gewalt gemacht.26 Auch wenn detaillierte Studien hierzu oft fehlen, standen Minderheiten beziehungswei­ se Gruppen von Vertriebenen häufig der bestehenden demokratischen Staatsform fern beziehungsweise feindlich gegenüber. In vielen Ländern dienten die Vertrie­ benen auch als Vorwand, um nationale Hassparolen zu popularisieren und expan­ sive außenpolitische Ziele zu proklamieren oder zu rechtfertigen. Auf diese Weise konnten populistische und häufig rechtsextreme Politiker Legitimität beanspru­ chen: Sie gaben vor, die Interessen von Flüchtlingen zu vertreten und reizten die nationale Karte maximal aus. Außenpolitischer Revanchismus und demokratische Staatsform sind durchaus miteinander vereinbar. Von Ausnahmen abgesehen nutzten aber antidemokratische Politiker oft das Wählerpotenzial der Vertriebe­ nen, weil das ethnische Argument scheinbar Plausibilität beanspruchen konnte. Ein erhebliches Unruhepotenzial bildete die vielen Griechen, die aus dem ­Osmanischen Reich beziehungsweise aus der Türkei oder aus Bulgarien geflohen oder vertrieben worden waren. Anfangs gelang es dem autoritär regierenden grie­ chischen Ministerpräsidenten Eleftherios Venizelos, diese an den Staat und an ­seine Liberale Partei heranzuführen, auch wenn die materielle Lage der Vertriebe­ nen häufig sehr schlecht blieb. Bei den Wahlen von 1926 und 1928 spielten sie eine wichtige Rolle für seine Wahlsiege. Die Monarchie und der König wurden zu­ nächst erfolgreich für das Elend der Flüchtlinge verantwortlich gemacht. Ende der 1920er-Jahre bemühte sich Venizelos dann aber um eine Verbesserung des Verhältnisses zur Türkei und schloss 1930 mit dem Nachbarstaat ein Abkommen, 25  Vgl.

Hirschon: Peoples (wie Anm. 9), S. 6; Alexis Heraclides: The Greek-Turkish Conflict in the Aegean. Imagined Enemies. Basingstoke 2010, S. 66 f.; Leonhard: Büchse (wie Anm. 18), S. 94. 26  Vgl. Michael Mann: Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung. Hamburg 2007, S. 329–336, S. 351.

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das jede Entschädigung der Flüchtlinge für den verlorenen Besitz ausschloss. ­Daraufhin wandten sich die meisten Flüchtlinge nicht nur von Venizelos, sondern auch vom politischen System Griechenlands insgesamt ab. Viele von ihnen liefen zu den Kommunisten über, obwohl die Politik der Komintern in natio­ nalen ­Fragen den Kommunismus für sie eigentlich unattraktiv machte: Die Komintern unterstrich gerne und häufig ihren Internationalismus, an dem Flüchtlinge meist gar kein Interesse hatten. Auch ist argumentiert worden, dass die Proletarisierung der Vertriebenen zur Radikalisierung des Bürgerkriegs von 1944 bis 1947 beige­ tragen habe.27 Derartige antidemokratische Tendenzen bei Flüchtlingen und Vertriebenen sind auch in anderen Ländern zu beobachten. Offiziell lebten in Ungarn etwa 350 000 Flüchtlinge, deren Versorgung das Land überforderte, obwohl sie meist in der aufgeblähten staatlichen Bürokratie untergebracht werden konnten. Weil die Proletarisierung rasch zunahm, radikalisierten sich vor allem die unteren Einkom­ mensschichten nach rechts. Ungarn war in den 1920er-Jahren keine Demokratie, aber nach dem Ende des „weißen Terrors“, der sich wahllos gegen alles gerichtet hatte, was irgendwie „links“ zu sein schien, und vor der Weltwirtschaftskrise hiel­ ten sich die direkten Repressionen in Grenzen. Die zunehmend nach rechts ten­ dierende Bürokratie stellte eine wichtige Stütze für Miklós Horthys Herrschaft dar.28 Besonders destruktiv war die Minderheitenpolitik im SHS-Staat. Theoretisch gab es mit Serben, Kroaten und Slowenen drei Staatsnationen. Bereits bei der Gründung bestand aber ein eindeutiges Übergewicht Serbiens, das sich in der Fol­ ge noch verstärkte. Eine parlamentarische Konflikt- und Kompromisskultur konnte auf diese Weise nicht entstehen. Radikal ausgegrenzt wurden muslimische Albaner, die sich deshalb zunehmend in ihre eigene Subkultur zurückzogen und kaum am politischen Leben des Staates teilnahmen beziehungsweise teilnehmen konnten. Viele flohen in die Türkei. Militanter Widerstand gegen die offene Un­ terdrückung driftete häufig in terroristische Aktionen ab, die wiederum sehr harte Reaktionen des Zentralstaates provozierten. Die Entstehung von rechtsterroristi­ schen hypernationalistischen Gruppierungen in Kroatien kann in den gleichen Kontext eingeordnet werden. Die Blutspur der Ustaša ist ohne den Kontext der fehlgeschlagenen Nationalisierung des Vielvölkerstaates nicht zu erklären. Nach dem Putsch von 1929 war Jugoslawien keine Demokratie mehr, sondern wurde zum Prototyp der Königsdiktatur – einer neuartigen Staatsform, die sich in den folgenden Jahren auf dem Balkan mehrfach entwickelte. Der nahezu widerstands­ lose Zusammenbruch des jugoslawischen Staates beim Einmarsch der Achsen­

27  Vgl. Schwartz: „Säuberungen“ (wie Anm. 9), S. 407; Onur Yildirim: Repräsentation und Reali­ tät. Historiografie, nationale Meistererzählungen und persönliche Erfahrungen des griechischtürkischen Bevölkerungsaustausches von 1923. In: Brunnbauer u. a. (Hg.): Definitionsmacht (wie Anm. 14), S. 49–76, hier: S. 65. 28  Vgl. Margit Szöllösi-Janze: Horthy-Ungarn und die Pfeilkreuzlerbewegung. In: GG 12 (1986), S. 163–182, hier: S. 166, S. 168, S. 170.

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mächte im Jahr 1941 zeigt aber, dass es auch in der Königsdiktatur nicht gelungen war, Ansätze zu einer gemeinsamen Identität und zu Staatsloyalität herzustellen. Auf den Pariser Konferenzen waren die Siegermächte davon überzeugt, am Verhandlungstisch ein neues und friedliches Europa zu erschaffen. Dies war eine Fehleinschätzung – das Gegenteil war der Fall. Zwar sind die Ethnisierungen in der Zwischenkriegszeit nicht alleine dafür verantwortlich, dass so viele Demokra­ tien scheiterten, sie belasteten aber die verschiedenen parlamentarischen Systeme erheblich und trugen zu deren Untergang bei. Der Versuch, möglichst homogene Nationalstaaten zu schaffen, scheiterte an der Realität komplexer ethnischer Strukturen. Erst der mörderische genozidale Rassismus im Zweiten Weltkrieg und die darauffolgenden Vertreibungen haben – zu einem extrem hohen Preis – ein ethnisch einheitliches Europa hergestellt.

Fazit Dieser Aufsatz ging von der Frage aus, warum derart viele europäische Demokra­ tien in der Zwischenkriegszeit scheiterten. Die Gründe waren meistens vielfältig und komplex, deshalb wurde mit Ethnisierungen und Vertreibungen ein Aspekt herausgenommen und näher betrachtet. Nach dem Zusammenbruch der großen Imperien entstanden seit 1918/19 neue Staaten, die sich selbst als Nationalstaaten definierten, obwohl in ihnen zahlreiche nationale oder ethnische Minderheiten lebten. Die Integration dieser Minderheiten stellte eine der zentralen Aufgaben für die neuen Demokratien dar, die allerdings nur selten erfolgreich gelöst wurde. Stattdessen verfolgten viele der neuen Staaten eine gezielte Politik der Ethnisie­ rung. Hiermit wurde ein durchaus vorhandenes demokratisches Potenzial ge­ schwächt beziehungsweise nicht genutzt. Hinzu kam, dass große Gruppen von Flüchtlingen revanchistische Forderungen wachhielten, was dazu beitrug, das inter­nationale politische System zu destabilisieren. Häufig gelang es nicht oder nur unzureichend, diese Vertriebenen erfolgreich in den parlamentarischen Staat zu integrieren. Ohnehin stellte – wie mehrfach ausgeführt – die Demokratisierung Europas für die Siegermächte des Ersten Weltkriegs kein primäres Ziel dar.

Abstract In 1919, after the end of World War I, most European countries were ruled by more or less democratic or parliamentarian regimes. About 20 years later this had completely changed: With the exception of Czechoslovakia all of the newly founded democracies in Central and Eastern Europe had collapsed, and by 1936 fascism had even reached Western Europe in Spain. The article deals with the deeper reasons for the decline of democracy in the interwar period. While a combination of many factors was responsible for the breakdown of parliamentarian systems, the article specifically focusses on the

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problem of ethnicity and ethnic cleansing. Nearly all states in Central and in East­ ern Europe defined themselves as nation states, despite the huge minorities living within their borders. Only few governments were interested in pursuing any pol­ itics of integration – on the contrary: minorities were suppressed, discriminated against or forced to leave the country. After the war the new borders in Central and Eastern Europe were not yet fixed. The breakdown of empires in World War I, accompanied by regional conflicts and civil wars intensified the problem. The article also discusses how history and invented traditions were used to create new forms of national identities. Although the League of Nations programmatically had initiated several at­ tempts to protect minorities and to establish minority rights, the international ­effects were limited. Most governments tried to establish strong and homogenous nation states instead. Several waves of ethnic cleansing reached their climax in the infamous treaty of Lausanne in 1923. In the following years eager politicians ex­ ploited refugees for their own purposes. Displaced persons became the spearhead of revanchism and contributed to the decline of democratic states.

Tim  B. Müller „Siegeszug“ der „Weltdemokratie“ James Bryce, Ernst Troeltsch und die transatlantische Diskussion um die globale und soziale Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg Einleitung: Neue Perspektiven auf die Demokratiegeschichte Die Geschichte der Demokratie lässt sich, wenn die empirischen Erkenntnisse und theoretischen Erwägungen der internationalen Diskussion reflektiert werden, kaum noch als lineare und nationale Fortschrittsgeschichte darstellen, sondern vielmehr als transnational verflochten, von vielfältigen Wandlungen gekennzeichnet, gebrochen und uneinheitlich, im Modus des Stop-and-go.1 Was die Epoche der Neuordnung nach dem Ersten Weltkrieg betrifft, hat sich, wie dieser Beitrag zu zeigen versucht, die historische Forschung dem Bild angenähert, das sich die Zeitgenossen von der Demokratie und ihrem Werden machten. Das gilt für die globale Perspektive, wenn etwa der weltweite Wilsonian Moment der Demokratieverheißung oder das große demokratische Schauspiel der Wahlen in Russland, China oder der Weimarer Republik beschrieben wird,2 aber es gilt auch für die Geschichte der zuvor als seit Langem etabliert angesehenen Demokratien west­ licher Nationen. Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und insbesondere die Phase im und nach dem Ersten Weltkrieg treten in der jüngeren Debatte vielfach – vor dem Hintergrund von „Demokratisierungsepisoden“ im 19. Jahrhundert3 – als zwei transnationale Durchbruchsmomente auf, in denen die Schwelle zur Demokratie als Regierungs- und Gesellschaftsform überschritten wurde.4 Die ­ 1  Vgl. etwa John Keane: The Life and Death of Democracy. London 2009; Paul Nolte: Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart. München 2012; ders.: Jenseits des Westens? Überlegungen zu einer Zeitgeschichte der Demokratie. In: VfZ 61 (2013), S. 275–301; Hedwig Richter/Hubertus Buchstein (Hg.): Idee und Praxis der Wahlen. Eine Geschichte der modernen Demokratie. Wiesbaden 2017; Pierre Rosanvallon: Democracy – Past and Future. New York 2006. 2 Vgl. etwa, bei unterschiedlicher Akzentuierung, Erez Manela: The Wilsonian Moment. Self-­ Determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism. Oxford 2007; Adam Tooze: The Deluge. The Great War and the Remaking of Global Order. London 2014. 3  Daniel Ziblatt: How Did Europe Democratize? In: WP 58 (2006), S. 311–338, hier: S. 314. 4 Vgl. etwa Joris Gijsenbergh u. a. (Hg.): Creative Crises of Democracy. Brüssel 2012; Joanna Innes/Mark Philp (Hg.): Re-Imagining Democracy in the Age of Revolutions. France, America, Britain, Ireland 1750–1850. Oxford 2013; Jussi Kurunmäki/Johan Strang (Hg.): Rhetorics of ­Nordic Democracy. Helsinki 2010; Tim B. Müller/Adam Tooze (Hg.): Normalität und Fragilität. Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg. Hamburg 2015.

https://doi.org/10.1515/9783110653359-013

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beinahe synchrone Einführung des allgemeinen Wahlrechts und vor allem des Frauenwahlrechts in vielen Staaten innerhalb eines kurzen Zeitraums war nur das sichtbarste Symptom dieses Demokratisierungsschubs.5 Das, was noch im Jahr 2000, als Margaret Anderson ihre große Studie über das Einüben der Demokratie durch Wahlen im Kaiserreich vorlegte, als historiografische Avantgarde betrachtet wurde, kann mittlerweile fast als eine demokratie­ geschichtliche Communis Opinio gelten. In vergleichender Perspektive hatte die Autorin die gegenüber den deutschen Zuständen nicht minder gravierenden demokratischen „Defizite“ Frankreichs, Großbritanniens und Amerikas aufgezeigt und war zu dem Schluss gekommen, „dass das deutsche Kaiserreich – genau wie England, Amerika und Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg – keine volle Demokratie genoss“, diese jedoch den allgemeinen politischen Erwartungshorizont ­bildete: „Weit davon entfernt anzunehmen, dass sie eine historische Anomalie ­bildeten, einen Ausnahmefall, maßen die Deutschen ihre eigene Legalität an den Entwicklungen außerhalb ihrer Grenzen […]. Kein Zeitgenosse hätte das Kaiserreich als Demokratie beschrieben, aber die Menschen konnten einige seiner Verfahren und Haltungen als demokratisch bezeichnen – und taten es auch“.6 Andersons Befunde werden auch von Erkenntnissen der politischen Ideengeschichte der Demokratie untermauert. Der Erste Weltkrieg wurde zeitgenössisch jenseits der später entworfenen großen nationalen Erzählungen von alten und neuen Demokratien als das historische Ereignis wahrgenommen, das eine entscheidende demokratiegeschichtliche Zäsur setzte und eine zuvor noch nicht ­gekannte demokratische Dynamik auslöste. „Das übergreifende normative Selbstverständnis von Frankreich, Großbritannien und Amerika während des Ersten Weltkrieges ordnete sich […] erst im Laufe des Krieges dem Rubrum Demokratie zu, und zwar sowohl begriffsgeschichtlich wie politisch“, erklärt etwa Marcus Llanque in seiner wegweisenden Studie „Demokratisches Denken im Krieg“. „Innerhalb eines Monats“, womit der Zeitraum von der russischen Märzrevolution (nach dem julianischen Kalender die Februarrevolution) über die britische Gesetzesvorlage zur Wahlrechtsreform nach dem Krieg bis zur amerikanischen Kriegserklärung am 6. April 1917 gemeint ist, hätten sich die politischen Koordinaten geändert: „Bei allen institutionellen Unterschieden im einzelnen avancierte erst jetzt die Demokratie zum integrativen Leitbegriff des alliierten Bündnisses.“ Die Differenzierung der politischen Ordnungen erfolgte vor 1914 selten so trennscharf wie im Rückblick, nachdem die politisch-ideologischen Frontverläufe neu 5 

Vgl. etwa Hedwig Richter: Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert. Hamburg 2017; Jad Adams: Women and the Vote. A World History. Oxford 2014; Gisela Bock: Das politische Denken des Suffragismus. Deutschland um 1900 im internationalen Vergleich. In: dies. (Hg.): Geschlechtergeschichten der Neuzeit. Ideen, Politik, Praxis. Göttingen 2014, S. 168–203; Tim B. Müller: Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien. Hamburg 2014, S. 36–41. 6 Margaret Lavinia Anderson: Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich. Stuttgart 2009, S. 51, S. 48 f.; zum aktuellen Forschungsstand vgl. etwa Richter: Wahlen (wie Anm. 5).

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gezogen waren. Vor dem Krieg war die Demokratieskepsis unter den intellektuellen und politischen Eliten gerade in Großbritannien weitverbreitet – und sie war auch in der Folgezeit nicht mit einem Schlag verschwunden. Die britische politische Theorie etwa „verfügte selber über keinen klaren Begriff von Parlamentarismus“, die „Grenzen der Verallgemeinerbarkeit“ des englischen Beispiels standen für die Zeitgenossen fest. Aus diesem Grund, so Llanque, habe „es auch kein west­liches Vorbild der parlamentarischen Demokratie vor dem Krieg“ gegeben, das man etwa in Deutschland „einfach hätte adaptieren können“.7 Dies galt in vielen Fällen auch für das amerikanische System: Am Ende des Kriegs erklärte in Deutschland selbst ein Demokrat wie der sozialdemokratische Theoretiker Heinrich Cunow, dass ihm „das Regierungssystem der schwedischen oder dänischen Monarchie weit lieber“ sei „als das der großen nordamerikanischen [oder] der französischen […] Republik“.8 Und der spätere Weimarer „Verfassungsvater“ Hugo Preuß hatte bereits 1915 betont, dass es nicht nur den britischen parlamentarischen Pfad zur Demokratie gebe: „Die eigenartige Entwicklung Amerikas“ verwirkliche den demokratischen „Gedanken auf anderem Wege. So ist auch für Deutschland die Möglichkeit, vielleicht die Wahrscheinlichkeit ­gegeben, dass es von seinen besonderen historisch-politischen Grundlagen aus ­eigenartige Wege der Entwicklung gehen mag.“9 Die Eigenheiten der nationalen Entwicklungen bei universaler Ähnlichkeit des sich Entwickelnden wurden von Preuß und anderen Zeitgenossen sehr genau wahrgenommen.10 „Es ist eine Haupt­ ursache des unentwirrbaren europäischen Elends“, klagte Preuß im letzten Kriegsjahr, „daß man alle die augenfälligen Verschiedenheiten der nationalen In­ dividualitäten nicht als bloße Nuancen erkennt, hinter denen sich eine nahe Verwandtschaft, fast Gleichheit […] verbirgt“. Denn, so lautete ein Satz, der als ­Motto der neueren, normativ weniger überladenen Demokratiegeschichte dienen könnte: „Anderssein bedeutet an sich nicht besser oder schlechter sein.“11 Zu der Komplexität, mit der sich die jüngere Demokratiegeschichtsschreibung auseinandersetzen muss, gehören darum auch Bereiche, die in älteren Darstellungen oft ignoriert oder zu ephemeren Erscheinungen in einer demokratischen Erfolgsgeschichte erklärt wurden – jene „Nachtseite, die in der offiziellen Legende  7 Marcus Llanque: Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg. Berlin 2000, S. 104, S. 107, S. 112 f., S. 127; zum aktuellen Forschungsstand vgl. etwa Tim B. Müller: Deutschlands „Anderssein“, der „Westen“ und die Demokratie. Hugo Preuß’ Weltkriegsschrift „Das deutsche Volk und die Politik“. In: Detlef Lehnert (Hg.): „Das deutsche Volk und die Politik“. Hugo Preuß und der Streit um „Sonderwege“. Berlin 2017, S. 41–82.  8  Wolfgang Mager: Republik. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 5. Stuttgart 2004, S. 549–651, hier: S. 644.  9  Hugo Preuß: Das deutsche Volk und die Politik. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 1: Politik und Gesellschaft im Kaiserreich. Hg. von Lothar Albertin. Tübingen 2007, S. 383–530, hier: S. 520. 10  Vgl. Hugo Preuß: Nationaler Gegensatz und internationale Gemeinschaft. In: ebd., S. 706–718, hier: S. 716. 11  Ders.: Offener Brief an Herrn William Harbutt Dawson. In: ebd., S. 697–706, hier: S. 699  f.

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der Nationalstaaten und nicht weniger in ihrer progressiven Kritik übergangen wird“.12 So waren Sklaverei, Rassismus, Segregation, rechtliche Ungleichheit und Gewalt untrennbar mit der amerikanischen Demokratiegeschichte verbunden. Ihre Virulenz nahm im 19. Jahrhundert keineswegs ab.13 Rassistische Gewalt, Exklusion und die Verweigerung von Grundrechten bestanden vielmehr auch nach dem Bürgerkrieg fort oder verschärften sich sogar – selbst in der demokratischen Ära des New Deal.14 Dass Afroamerikaner, Frauen und Angehörige ärmerer Schichten lange von der Politik ausgeschlossen blieben, war Laura F. Edwards zufolge für die amerikanische Demokratie konstitutiv: „White men were constituted as freemen through their rights over those without rights.“15 Nicht nur der amerikanische, auch der britische Weg zur Demokratie weist indes viele Unebenheiten auf. Im 19. Jahrhundert blieb der Widerstand der politischen Eliten in Großbritannien gegen die Demokratisierung beträchtlich. Dass die Wahlrechtsreformen sukzessive die Einführung der Demokratie bewirkten, entsprach weniger den Absichten ihrer Initiatoren, sondern kann eher als „unintended consequences“ gedeutet werden.16 Fragen für die Demokratiegeschichte er­ geben sich darüber hinaus aus der Gewaltgeschichte der britischen Kolonialherrschaft.17 Der demokratische Durchbruch nach dem Ersten Weltkrieg bedeutete 12  Max

Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1997, S. 265. 13  Vgl. etwa Edmund S. Morgan: American Slavery, American Freedom. The Ordeal of Colonial Virginia. New York 2003; Don E. Fehrenbacher: The Slaveholding Republic. An Account of the United States Government’s Relations to Slavery. Oxford 2001. 14  Vgl. etwa Ira Katznelson: Fear Itself. The New Deal and the Origins of Our Time. New York 2013, S. 29–57, S. 96–129, S. 227–275; Jason Scott Smith: Building New Deal Liberalism. The Political Economy of Public Works, 1933–1936. New York 2006; Ta-Nehisi Coates: We Were Eight Years in Power. An American Tragedy. New York 2017, S. 184, S. 186–191, S. 207 f.; Armanda L. Tyler: Habeas Corpus in Wartime. From the Tower of London to Guantanamo Bay. Oxford 2017. 15  Laura F. Edwards: The Contradictions of Democracy in American Institutions and Practices. In: Innes/Philp (Hg.): Democracy (wie Anm. 4), S. 40–54, hier: S. 54; vgl. etwa Lacy F. Ford: Deliver Us from Evil. The Slavery Question in the Old South. New York 2009; Barbara Young Welke: Law and the Borders of Belonging in the Long Nineteenth-Century United States. New York 2010; Glenn C. Altschuler/Stuart M. Blumin: Rude Republic. Americans and Their Politics in the Nineteenth Century. Princeton 2000; zum Wahlrecht vgl. Alexander Keyssar: The Right to Vote. The Contested History of Democracy in the United States. New York 2009; Richter: Wahlen (wie Anm. 5), S. 71–94, S. 418–444; zu Bürgerkrieg, demokratischen Ideen und Partizipation auf beiden Seiten vgl. James M. McPherson: For Cause and Comrades. Why Men Fought in the Civil War. Oxford 1997; ders.: Battle Cry of Freedom. The Civil War Era. Oxford 2003. 16  Robert Saunders: Democracy and the Vote in British Politics, 1848–1867. The Making of the Second Reform Act. Farnham 2011, S. 9–13, S. 26, S. 278; vgl. etwa ders.: Democracy. In: David Craig/James Thompson (Hg.): Languages of Politics in Nineteenth-Century Britain. Basingstoke 2013, S. 142–167; Innes/Philp (Hg.): Democracy (wie Anm. 4); Michael Bentley: Politics Without Democracy, 1815–1914. Perception and Preoccupation in British Government. London 1996; Bernard Crick: Democracy. A Very Short Introduction. Oxford 2002, S. 73. 17  Vgl. etwa Jennifer Pitts: A Turn to Empire. The Rise of Imperial Liberalism in Britain and France. Princeton 2005; Caroline Elkins: Imperial Reckoning. The Untold Story of Britain’s ­Gulag in Kenya. New York 2005.

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nicht, dass Anfechtungen der Demokratie in Großbritannien ausblieben.18 So betont etwa Martin Pugh: „Whatever the reason for the failure of fascism to grow into a major movement in interwar Britain, the explanation does not primarily lie in British political culture“; „timing and contingencies“ sowie der Monarchie als „Sicherheitsventil“ kommen in diesem Erklärungsansatz entscheidende Bedeutung zu.19 Selbst einem moderaten Politiker wie dem mehrfachen Premierminister Stanley Baldwin fiel der Weg zur Demokratie schwer: Er maß demokratische ­Reife an konservativen Wahlerfolgen und erklärte noch 1937, die Massen seien für das Wahlrecht nicht ausreichend gebildet.20 Zudem waren aufseiten der britischen Rechten faschistische und antidemokratische Neigungen verbreitet.21 Wie die genannten wenigen Beispiele hier nur andeuten können, ist das Bild der Demokratie um 1918/19 in der Forschung, jedenfalls facettenreicher, aber auch widersprüchlicher und unübersichtlicher geworden. Französische Demokratietheoretiker wie Pierre Rosanvallon und Marcel Gauchet denken die moderne Demokratiegeschichte in Spannungsverhältnissen – geprägt von Konflikten zwischen Volkssouveränität und Menschenrechten, Individualisierung und kollektivem Handeln, Partizipation und Rechtstaatlichkeit, Gegebenem und Gewolltem.22 Und der deutsche Historiker Paul Nolte erfasst die globalen Transformationen der Demokratie in den dynamischen Konstellationen von Erfüllungsgeschichten, Suchbewegungen und Krisengeschichten.23 Maßstabsetzende Forschungen haben in den vergangenen drei Jahrzehnten – bei allen auffälligen nationalen Unterschieden im Einzelnen – einen transatlantischen Gesprächsraum rekonstruiert, in dem vor dem Ersten Weltkrieg nicht fundamentale politische oder zivilisatorische Differenzen, sondern wechselseitige Verflech18 

Als Überblick vgl. Helen McCarthy: Whose Democracy? Histories of British Political Culture between the Wars. In: HJ 55 (2012), S. 221–238; dies.: Parties, Voluntary Associations and Democratic Politics in Interwar Britain. In: HJ 50 (2007), S. 891–912. 19  Martin Pugh: „Hurrah for the Blackshirts!“. Fascists and Fascism in Britain between the Wars. London 2006, S. 315 f., S. 241. 20  Vgl. Philip Williamson: Stanley Baldwin. Conservative Leadership and National Values. Cambridge 1999, S. 143, S. 145, S. 203–242. 21  Vgl. etwa Pugh: Hurrah (wie Anm. 19); Richard Griffiths: Fellow Travellers of the Right. British Enthusiasts for Nazi Germany 1933–1939. London 1980; ders.: Patriotism Perverted. Captain Ramsay, the Right Club and British Anti-Semitism, 1939–40, London 1998; Dan Stone: Breeding Superman. Nietzsche, Race and Eugenics in Edwardian and Interwar Britain. Liverpool 2002; ders.: Responses to Nazism in Britain 1933–1939. Before War and Holocaust. Basingstoke 2003; Bernhard Dietz: Neo-Tories. Britische Konservative im Aufstand gegen Demokratie und politische Moderne (1929–1939). München 2012. 22  Vgl. Rosanvallon: Democracy (wie Anm. 1); ders.: Für eine Begriffs- und Problemgeschichte des Politischen. In: Mittelweg 36 20 (2011) 6, S. 43–66; ders.: Le Peuple introuvable. Histoire de la représentation démocratique en France. Paris 1998; ders.: La Démocratie inachevée. Histoire de la souveraineté du peuple en France. Paris 2000; ders.: Demokratische Legitimität. Unpartei­ lichkeit – Reflexivität – Nähe. Hamburg 2010; Marcel Gauchet: L’Avènement de la démocratie. 4 Bde. Paris 2007–2017; ders.: Democracy. From One Crisis to Another. In: Social Imaginaries 1 (2015), S. 163–187. 23  Nolte: Demokratie (wie Anm. 1), S. 16–20.

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tungen dominierten. Auch die intellektuellen Eliten der Vereinigten Staaten vertraten keineswegs nur Vorstellungen eines amerikanischen demokratischen Exzeptionalismus,24 sondern verstanden sich häufig eher als Teil eines Groß­ britannien und das deutsche Kaiserreich einschließenden transnationalen Reformund Demokratisierungsdiskurses, in dem alle Seiten voneinander lernten, sich aufeinander bezogen und mit den Herausforderungen von Demokratie und ­ Rechtsstaat, Paternalismus und Selbstbestimmung, Sozialpolitik und Wirtschaftswachstum befasst waren.25 Zwei bedeutende Stimmen der transatlantischen Demokratiedebatte, die kurz nach der Errichtung der Pariser Friedensordnung als Beobachter, Deuter und Fürsprecher der neuen internationalen Ordnung der Demokratie prominent hervortraten,26 sollen im Folgenden ausführlicher zu Wort kommen: der britische Verfassungsrechtler und liberale Politiker James Bryce sowie sein deutscher Leser Ernst Troeltsch, einer der führenden Intellektuellen und liberalen Politiker im Übergang vom Kaiserreich zur Republik. Was dabei sichtbar wird, sind typische Demokratievorstellungen jener von globalen Transformationen geprägten Zeit.

James Bryces Demokratievorstellungen und deren Rezeption Der liberale Gelehrte, Diplomat und Politiker James Bryce war der vielleicht bedeutendste Verfassungstheoretiker seiner Tage in Großbritannien. Wie viele ­ Protagonisten britischer intellektueller und wissenschaftlicher Kreise hatte er vor 24 

Zu den progressiven amerikanischen Intellektuellen, die sich nicht von der deutschen Sozialreform inspirieren ließen, sondern einen amerikanischen Eigenweg postulierten, gehörte etwa der prominente Philosoph und Pädagoge John Dewey. Zu Dewey und der amerikanischen Diskus­ sion um die Erziehung zur Demokratie vgl. Robert B. Westbrook: John Dewey and American Democracy. Ithaca 1991; zu Deweys Konstruktion eines charakterlichen und ideologischen Gegensatzes von Deutschen und westlichen Nationen im Krieg vgl. etwa Alan Cywar: John Dewey in World War I. Patriotism and International Progressivism. In: AQ 21 (1969), S. 578–594; James Campbell: Dewey and German Philosophy in Wartime. In: TCSPS 40 (2004), S. 1–20. 25 Vgl. etwa Howard Brick: Transcending Capitalism. Visions of a New Society in Modern American Thought. Ithaca 2006; Nancy Cohen: The Reconstruction of American Liberalism 1865–1914. Chapel Hill 2002; Daniel R. Ernst: Tocqueville’s Nightmare. The Administrative State Emerges in America 1900–1940. Oxford 2014; James T. Kloppenberg: Uncertain Victory. Social Democracy and Progressivism in European and American Thought 1870–1920. Oxford 1988; Daniel T. Rodgers: Atlantic Crossings. Social Politics in a Progressive Age. Cambridge, MA 1998. 26  Zum Stand der Weltkriegsforschung vgl. Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieges. München 2014; zur Ordnung der Pariser Vorortverträge, zur internationalen Politik nach 1919 und zu Potenzialen der Kooperation und Stabilität vgl. Patrick O. Cohrs: The Unfinished Peace after World War I. America, Britain and the Stabilisation of Europe, 1919– 1932. Cambridge 2008; Conan Fischer: A Vision of Europe. Franco-German Relations during the Great Depression, 1929–1932, Oxford 2017; Ewald Frie: 100 Jahre 1918/19. Offene Zukünfte. In: ZF 15 (2018), S. 98–114; Margaret MacMillan: Peacemakers. The Paris Conference of 1919 and Its Attempt to End War. London 2002; Zara Steiner: The Lights that Failed. European International History 1919–1933. Oxford 2007; dies.: The Triumph of the Dark. European International History 1933–1939. Oxford 2013; Tooze: Deluge (wie Anm. 2).

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dem Krieg Sympathie gegenüber Deutschland gehegt, vor allem gegenüber dessen akademischer Welt. Aber auch politisch gemeindete er die „Teutonic freedom“ ins liberale Lager ein und sprach von den Vereinigten Staaten von Amerika, dem britischen Empire und dem deutschen Kaiserreich als „‚natural‘ friends“. Während des Kriegs, in dem er sich am ideologischen Kampf gegen das Kaiserreich beteiligte, trübte sich sein Deutschlandbild ein, ohne dass Bryce seine Zuneigung zur deutschen Kultur allerdings völlig aufgab.27 Als 1921 sein epochales Monumentalwerk „Modern Democracies“ erschien, war Bryce jedoch skeptisch, ob man die deutsche Republik bereits als etablierte Demokratie betrachten könne.28 Zwar stellte Bryce zunächst fest: „The term Democracy has in recent years been loosely used to denote sometimes a state of society, sometimes a state of mind, sometimes a quality of manners“, er habe auch „acquired attractive associations of a social and indeed almost of a moral character“.29 Doch um seinen gewaltigen Forschungsgegenstand handhaben zu können, schränkte er die Länderstudien, die den Großteil des Werks ausmachten, auf das „study of institutions“ ein. Dem Hinweis, dass sich der Begriff nicht mehr kontrollieren und eingrenzen lasse, ließ Bryce eine Arbeitsdefinition des Phänomens „Demokratie“ für seine Zwecke folgen: „Democracy really means nothing more or less than the rule of the whole people expressing their sovereign will by their votes. It shows different features in different countries […]. But it also shows some features which are ­everywhere similar.“30 Die ausschließlich westlichen Demokratien, die er untersuchte, mussten ihren eigenen Maßstäben noch nicht völlig gerecht werden: Beim Wahlrecht genügten Bryce 75 Prozent der Bevölkerung als Orientierungsgröße, sofern eine demokratische Tendenz in den Entscheidungsprozessen sichtbar wurde: „But though we cannot define either Oligarchy or Democracy, we can usually know either the one or the other when we see it. Where the will of the people prevails in all important matters, even if it has some retarding influences to overcome, […] that may be called a Democracy.“31 Die großen Linien seiner Demokratiedeutung überschritten jedoch den west­ lichen Horizont und die begrifflichen Einschränkungen, die er sich in seinen Fallstudien auferlegte. Zutage traten in den allgemeinen Rahmensetzungen Grundbausteine einer globalen politischen Rhetorik der Demokratie. Temporale Mehrschichtigkeit32 – plötzlicher Durchbruch in der Gegenwart; lange, uneinheitliche 27 

Vgl. Keith G. Robbins: Lord Bryce and the First World War. In: HJ 10 (1967), S. 255–278, hier: S. 255 f.; Llanque: Denken (wie Anm. 7), S. 109–113; Stuart Wallace: War and the Image of Germany. British Academics, 1914–1918. Edinburgh 1988; John T. Seaman: A Citizen of the World. The Life of James Bryce. London 2006. 28  James Bryce: Modern Democracies. Bd. 1. New York 1921, S. 21, S. 22  f. 29  Ebd., S. VII  f., S. 23. 30  Ebd., S. VIII. 31  Ebd., S. 21  f. 32  Zur temporalen Mehrschichtigkeit des Demokratiebegriffs vgl. Reinhart Koselleck: Begriffs­ geschichte und Sozialgeschichte. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1989, S. 107–129, hier: S. 117 f., S. 125 f.

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Vorgeschichte; Demokratie als Zukunftshorizont – und geografische Entgrenzung charakterisierten Bryces demokratiegeschichtliches Panorama. Die Demokratie war für ihn zu einem globalen Phänomen geworden, die Geschichte der Demokratie würde in Zukunft nicht nur im euro-amerikanisch-pazifischen Westen ­geschrieben. Bryce beobachtete „the experiment of popular government in India, in China, in Russia, in Egypt, in Persia, in the Philippine Islands. If any of the bold plans […] are attempted in practice they will apply new tests to democratic principles and inevitably modify their working“.33 Ein politischer Erwartungs­ horizont jenseits der Demokratie oder von der demokratischen Welle unberührte Regionen schienen bei Bryce nicht mehr zu existieren: „We see backward popu­ lations, to which the very conception of political freedom had been unknown, summoned to attempt the tremendous task of creating self-governing institutions. China, India, and Russia contain, taken together, one half or more of the population of the globe, so the problem of providing free government for them is the largest problem statesmanship has ever had to solve.“34 Doch durfte man sich dieser Deutung zufolge die westliche Geschichte nicht als lineare Erfolgsgeschichte einer seit dem Zeitalter der Revolutionen entstandenen Demokratie vorstellen, in die sich nun der Rest der Welt einschrieb. Mit Ausnahme eines lokalen Sonderfalls gab es keine ungebrochene Kontinuität demokratischer Traditionen: „A century ago there was in the Old World only one tiny spot in which the working of democracy could be studied. A few of the ancient rural cantons of Switzerland“ bildeten für Bryce die demokratische ­ Avantgarde. In Bezug auf die großen Nationen stellte er hingegen Brüche in der politischen Entwicklung fest: „Nowhere else in Europe did the people rule.“ Großbritannien erschien ihm „still oligarchic“, Frankreich habe neben der Restauration „years of revolution, in which democracy had no chance of approving its quality“, durchlebt, und selbst die Vereinigten Staaten hätten zu Zeiten Alexis de Tocquevilles, dem sie ihre berühmteste Darstellung als Demokratie verdankten, „scarcely begun to show some of their most characteristic features“. Ungeachtet aller auf die Demokratie zulaufenden Trends fiel vom historischen Augenblick nach dem Ersten Weltkrieg aus betrachtet der fundamentale Wandel auf: „Within the hundred years that now lie behind us what changes have passed upon the world! Nearly all the monarchies of the Old World have been turned into democracies.“ Aber auch der amerikanische Kontinent und das britische Empire durchlaufe Transformationen: „While twenty new republics have sprung up in the Western hemisphere, five new democracies have been developed out of colonies within the British dominions.“35 Gleichwohl erblickte Bryce in der angel­sächsischen Welt sich immer mehr verdichtende demokratische Traditionen. In Großbritannien standen die Gesetze zur Wahlrechtsreform für einen solchen graduellen Wandel, einen „process by which it passed from an oligarchy to a 33 

Bryce: Democracies (wie Anm. 28), S. X. Ebd., S. 5. 35  Ebd., S. 3  f. 34 

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­ emocracy“, eine Schwelle, die offenbar mit der Einführung des allgemeinen d Wahlrechts für Männer 1918 überschritten war.36 Vor dem Hintergrund uneinheitlicher Vorgeschichten betrachtete Bryce den Punkt, an dem eine länger andauernde, aber alles andere als lineare Entwicklung umschlug in eine neue Qualität der politischen Ordnungsvorstellungen, als historische Zäsur. Die globale Synchronisierung der individuellen Entwicklungen in der Gegenwart führten für ihn zu einer im 19. Jahrhundert noch unvorstellbaren, unangefochtenen Durchsetzung und Anerkennung der Demokratie als einziger denkbarer politischer Ordnung: „A no less significant change has been the uni­ versal acceptance of democracy as the normal and natural form of government. Seventy years ago, as those who are now old can remember, the approaching rise of the masses to power was regarded by the educated classes of Europe as a menace to order and prosperity. Then the word Democracy awakened dislike or fear. Now it is a word of praise. Popular power is welcomed, extolled, worshipped. The few whom it repels or alarms rarely avow their sentiments. Men have almost ceased to study its phenomena because these now seem to have become part of the established order of things. The old question, – [sic!] What is the best form of government? is [sic!] almost obsolete because the centre of interest has been shifting. It is not the nature of democracy, nor even the variety of the shapes it wears, that are to-day in debate, but rather the purposes to which it may be turned, the social and economic changes it may be used to effect.“37 Zugleich aber übersah Bryce in seiner Diagnose der Normalität der Demokratie und der Etablierung eines universalen demokratischen Erwartungshorizonts keinesfalls die Fragilität der neuen demokratischen Ordnung. „Yet its universal ­acceptance is not a tribute to the smoothness of its working“, merkte er bereits einleitend an, um am Ende seines Werks demokratische Pathologien und die Zukunft der Demokratie zu erörtern. Die Ankunft der Demokratie schien das Ende der Geschichte anzukündigen, aber die Demokratie selbst blieb an historische Bedin­gungen geknüpft, wie Bryce erkennbar mit Bezug auf Alexis de Tocqueville argumentierte: „[T]he roads that have led or may lead out of democracy are many“. Kriege und die damit einhergehende Machtkonzentration bei der Exekutive waren, wie in den Jahren zuvor erlebt, die größte Gefahr für die Demokratie. Darüber hinaus erblickte er in einer so heftigen Eskalation politischer Konflikte, dass dem politischen Gegner seine Rechte verweigert wurden, und in der Auslieferung der Demokratie durch eine politisch desinteressierte, mit ihrer privaten Freiheit zufriedenen Bevölkerung „to an intelligent bureaucracy capable of ­giving business men the sort of administration and legislation they desire, and keeping the multitude in good humour by providing comforts and amusements“ die drei wahrscheinlichsten Zerfallsszenarien. Und wenn die Massen nach der Abschaffung des Privateigentums und einer Art „communistic system“ verlan-

36  37 

Ebd., S. 7. Ebd., S. 4.

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gen sollten, was für Bryce kaum vorstellbar war, drohte eine „industrial bureaucratic oligarchy“.38 Der liberale Optimismus wich bei Bryce nach dem Weltkrieg, der die Menschheit mit „terror and dismay“ geschlagen habe, historischer Skepsis. Die Euphorie der „prophets of democracy“ von vor 1914 war zerstört. In seinen Schriften erinnerte Bryce daran, dass eine dauerhafte Sicherung der Freiheit in der Geschichte selten gelungen, die Bedrohung aber zumeist von innen gekommen sei: „Oli­ garchy springs up everywhere as by a law of nature“. Und weil die Demokratie für Bryce nicht funktionierte ohne ein moralisches, sogar explizit religiöses Fundament, ohne die Kultivierung von „virtues“, um egoistische Interessen zu überwinden, würde sie „flourish or decline according to the moral and intellectual progress of mankind as a whole“. Dabei schlug Bryce offenkundiger Vorurteile zum Trotz Töne an, die antirassistisch zu verstehen waren und die „freshness und vitality“ priesen, mit der nicht-westliche Akteure und Intellektuelle das globale demokratische Projekt bereicherten.39 Der demokratische Fortschritt sei nicht garantiert – zu dünn sei „the veneer of civilization“, der die menschlichen Abgründe überdecke, und der menschliche Verstand könne mit der „growing magnitude and complexity of human affairs“ kaum noch Schritt halten. Völlig verzichten auf den erschütterten „faith in progress“ wollte der ernüchterte Bryce „in a chastened mood“ aber nicht. Nicht die Demokratie, sondern die Umstände, die historischen Konstellationen, hätten die Katastrophe des Kriegs und die Krisen der Nachkriegszeit ausgelöst. Die Demokratie selbst bot aus seiner Sicht noch die beste Hoffnung, eines Tages Gewalt und Fanatismus zu überwinden. Die Idee eines begrenzten „progress in the ­science and art of free government“ verteidigte Bryce daher für die Gegenwart nach dem Krieg. Er blieb überzeugt, dass „the rule of the Many is safer than the rule of One, […] and the rule of the multitude is gentler than the rule of a class. However grave the indictment that may be brought against democracy, its friends can ­answer, ,What better alternative do you offer?‘“.40 Für Bryce war es ein Gebot des politischen Realismus, den Glauben an die Demokratie trotz ihrer offenkundigen Schwächen und trotz ihrer Fragilität nicht aufzugeben: „The experiment has not failed, for the world is after all a better place than it was under other kinds of ­government, and the faith that it may be made better still survives.“41 Die Veröffentlichung von Bryce’ zweibändigem Werk „Modern Democracies“ im Jahr 1921 erregte nicht nur in Großbritannien, sondern auch jenseits des Atlantiks und in Kontinentaleuropa große Aufmerksamkeit. Ein prominenter ­ Kritiker in den USA war Carl L. Becker – einer der führenden amerikanischen

38 

Ders.: Modern Democracies. Bd. 2. New York 1921, S. 602 f., S. 604. Ebd., S. 606, S. 603, S. 605. 40  Ebd., S. 607  f. 41  Ebd., S. 609. 39 

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Historiker jener Zeit.42 Er nahm den transatlantischen Gesprächsfaden auf, bekräftigte in seiner Auseinandersetzung mit Bryce jedoch, dass die demokratischen Erwartungen nach dem Ersten Weltkrieg zumeist ambitionierter ausgefallen seien als in Bryces bei allem Überschwang letztlich minimalistischem globalen Panorama der Demokratie.43 Gleichwohl würdigte Becker das große Werk des Demokraten Bryce, der sich Skepsis gegenüber der real-existierenden Demokratie nicht versagte, als „masterpiece of irony“. Der von Bryce angewendete Demokratie­ begriff, die Vernachlässigung der Ideale und Utopien der Demokratie sowie die Ausblendung der sozialen und ökonomischen Herausforderungen erregten aber Beckers Widerspruch. Das, was die Demokratie war, was sie sein konnte und sollte, gehe in Bryces prozeduraler Behandlung des Stoffs verloren. Beckers Demokratieverständnis dagegen war politisch, ökonomisch und sozial anspruchsvoller, wie die zentrale Stelle seiner Kritik zeigt. Demokratie war demnach allein mit der Etablierung demokratischer Verfahren, etwa in Form von Wahlen, noch keineswegs verwirklicht. Vielmehr forderte Becker eine über das allgemeine Wahlrecht und die parlamentarische Regierung hinausgehende Demokratisierung. So führte er in seiner Kritik aus: „Many people will say that democracy really means something more than ‚the rule of the whole people expressing their sovereign will by their votes‘. They will say that democracy […] is rather an idea than a form of government […]; and they will therefore conclude that ‚the rule of the whole ­people expressing their sovereign will by their votes‘ is not democracy, but only a method for securing democracy, a method moreover which, as it actually operates in most of the six countries described by Lord Bryce, seems in a fair way of ­defeating rather than of securing the desired end. This may seem a quarrel about words; but one often feels that Lord Bryce does not adequately meet the vital question of whether the whole people, where it has a legal right to express its sovereign will by its votes, does or can, under modern conditions, really express its will. To assume that democracy, and not class rule, exists because it exists formally, is much like assuming that Great Britain is not a democracy but a monarchy because it has a king. After all, words are powerful things […]. Just now the world is filled with valiant and verbal defenders of ‚democracy‘ whose chief fear is precisely that the whole people might in fact some day express its sovereign will, ­either by its votes or otherwise. If the future of our ideals of democracy (very nearly the only ideals the world has left) is to depend upon a form of government about which half of Europe has grown cynical, then must our Hope be faint ­indeed. A critic looking for the most vulnerable point of attack would no doubt seize upon Lord Bryce’s contention that democracy has nothing to do with economic equality.“

42  Vgl.

etwa Peter Novick: That Noble Dream. The „Objectivity Question“ and the American Historical Profession. Cambridge 1988; Michael Kammen (Hg.): „What is the Good of History?“. Selected Letters of Carl L. Becker, 1900–1945. Ithaca 1973. 43  Vgl. Carl Becker: Lord Bryce on Modern Democracies. In: PSQ 36 (1921), S. 663–675.

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Und weiter merkte Becker an: „Political equality can undoubtedly exist along with or apart from economic equality“, doch lasse sich „the question of political democracy“ nicht losgelöst von „the question of the economic organization of society“ betrachten. Erst die ökonomische und soziale Demokratisierung könne der politischen Demokratie, die nun überall entstanden sei, Stabilität verleihen und die Spannung zwischen politischen und ökonomischen Dynamiken aufheben: „Most of our political troubles, both domestic and international, are due precisely to the fact that as a result of the progress of the Industrial Revolution of the nineteenth and twentieth centuries the political organization of the modern world is out of harmony with its economic organization.“ Nur in seiner Darstellung der Rolle der Gewerkschaften habe Bryce die sozialen und ökonomischen Voraussetzungen der Demokratie implizit anerkannt. Wahlen allein jedenfalls machten noch keine Demokratie aus. Im Gegenteil könnten demokratische Wahlen ohne eine soziale Demokratie, ohne Behebung der „economic inequality“, sogar zur Zerstörung der Demokratie führen.44 Die in diesen Worten aufscheinende kontinentaleuropäisch klingende Erwartung Beckers, wonach die neue demokratische Nachkriegsordnung auch eine der sozialen Demokratie sein müsse, wurde von vielen amerikanischen Intellektuellen geteilt.45 So erörterte einer der prominentesten amerikanischen Soziologen der ersten Jahrhunderthälfte, John Lewis Gillin von der University of Wisconsin, am Ende des Kriegs symptomatisch die Frage, was das nun zur Parole der neuen Zeit gewordene Wort „Demokratie“ bedeute. Ursprünge demokratischer Verfahrensweisen fand Gillin, noch vor dem „New England town meeting“, im biblischen Israel und bei den Germanen sowie bei außereuropäischen Völkern. Die moderne Geschichte der Demokratie jedoch hatte für ihn noch gar nicht richtig begonnen. Was war mit jenem Begriff, „that is rather loosely used by many people and covers a variety of meanings“, gemeint? Ähnlich wie Bryce fragte auch Gillin danach, was Demokratie bedeute und führte aus: „The term is sometimes used to denote democracy in the state. By this term is meant universal manhood or adult suffrage. Here the control of the government may be democratic or representative. We have this form of government in only a few of the states in the United States at the present time. Before the Civil War the black man had no part in the government of the state, and until very recently woman had no part in political affairs.“ Aber das sei nur eine Ebene von vielen, auf die sich das demokratische Projekt erstrecke: „Again democracy indicates the equality of opportunity as between individuals and different classes, not only political, but educational, social, and economic, opportunity. Nowhere as yet has this form of democracy been completely realized. This phase of the matter is sometimes called social democracy in a broad way. One aspect of it is known as industrial democracy.“ Historisch beschrieb Gillin die Entstehung der Demokratie als höchst voraussetzungsreich. Soziale Homogenität, Bildung, gemeinsame politische Vorstellungen 44 

45 

Ebd., S. 666, S. 672–674. Vgl. etwa Brick: Capitalism (wie Anm. 25); Rodgers: Atlantic (wie Anm. 25).

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und klassenüberschreitende Solidarität gehörten zu den von ihm identifizierten Bedingungen. Eine „wirkliche“ Demokratie gab es aus seiner Sicht jedoch noch gar nicht, sondern sei eine Zielvorstellung: „A real democracy will possess the characteristic of participation by the people in all of these relationships. A real democracy is therefore yet to be realized, although great steps have been taken toward the realization of democracy in all phases of our social life in the last half-century.“ Seine Betrachtungen schloss Gillin mit dem Appell, die Demokratie als historisch noch nicht unumstößlich gewordene Norm zur Grundlage politischen Handelns zu machen: „Let us hope that out of the present dreadful war there may come a greater consciousness of the value of democracy and a greater impetus toward the realization of democracy in all the wide range of our American social life.“46 In dieser und anderen stärker amerikazentrierten Perspektiven auf die Demokratie fehlte der globale Bezug jedoch keineswegs. Vielmehr war das unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg verbreitete Demokratieverständnis von der Vorstellung der Multitemporalität der Demokratie – ihrer vielfältigen Genealogien, ihrer Dominanz in der Gegen­wart, ihrem anspruchsvollen Programm für die Zukunft – geprägt.

Ernst Troeltsch und die Demokratiedebatte in Deutschland Die Debatte um die Demokratie nach dem Weltkrieg wurde mit ähnlichen Argumenten wie in Großbritannien und den USA sowie unter Bezugnahme auf Bryce auch in Deutschland geführt. Der prominente Jurist Albrecht Mendelssohn Bartholdy und der Staatsrechtler Karl Löwenstein, der später für sein Nach­ denken über die „wehrhafte Demokratie“ bekannt wurde, besorgten die deutsche Übersetzung von Bryces Demokratiestudie, welche 1923 bis 1926 in drei Bänden erschien.47 Bei vielen Teilnehmern am Weimarer Demokratiediskurs wie etwa Moritz Julius Bonn, Ferdinand Aloys Hermens, Otto Kirchheimer, Gerhard Leibholz, Richard Thoma, Ferdinand Tönnies oder selbst Carl Schmitt finden sich Verweise auf Bryce. Otto Hintzes Schüler Fritz Hartung besprach das Werk 1928 ausführlich in der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“.48 Bryce 46 John Lewis Gillin: The Origin of Democracy. In: AJS 24 (1919), S. 704–714, hier: S. 704, S. 710 f., S. 712, S. 714. 47  James Bryce: Moderne Demokratien. 3 Bde. München 1923–1926. 48  Vgl. etwa Moritz Julius Bonn: Die Krisis der europäischen Demokratie. München 1925, S. 15; Fritz Hartung: Moderne Demokratie. In: ZgS 84 (1928), S. 1–21; Ferdinand Aloys Hermens: ­Demokratie und Kapitalismus. Ein Versuch zur Soziologie der Staatsformen. München 1931, S. 4; Otto Kirchheimer/Nathan Leites: Bemerkungen zu Carl Schmitts „Legalität und Legitimität“ [1932]. In: ders.: Von der Weimarer Republik zum Faschismus. Die Auflösung der demokratischen Rechtsordnung. Frankfurt a. M. 1976, S. 113–151, hier: S. 115; Gerhard Leibholz: Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland und das autoritäre Staatsbild. München 1933, S. 13; Carl Schmitt: Verfassungslehre. München 1928, S. 223 f.; Richard Thoma: Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff. In: Melchior Palyi (Hg.): Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber. Bd. 2. München 1923, S. 37–64, hier: S. 40; Ferdinand Tönnies: Zur Soziologie des demokratischen Staates. In: ders.: Soziologische ­Studien und Kritiken. Bd. 2. Jena 1926, S. 304–352.

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gehörte also zum Inventar der intellektuellen Auseinandersetzung um die Demokratie in der Weimarer Republik.49 Zu den frühen und bedeutendsten deutschen Bryce-Lesern zählte Ernst ­Troeltsch, der sich bereits im Krieg an den Debatten um die künftige politische Ordnung beteiligt hatte. Während in der älteren wissenschaftlichen Behandlung der „Ideen von 1914“ und der geistigen Mobilmachung im Ersten Weltkrieg einzelne situativ bedingte Äußerungen Troeltschs einseitig militaristisch gedeutet und in wenig adäquate Kontexte gestellt wurden,50 haben neuere Forschungen die deutsche Kriegsdiskussion differenzierter erschlossen und dabei auch die Komplexität von Troeltschs politischem Denken in den Kriegsjahren herausgestellt.51 Der protestantische Theologe und liberale Intellektuelle, der im Jahr 1919 schließlich Spitzenkandidat der Deutschen Demokratischen Partei in Preußen wurde und dessen politisches und intellektuelles Profil dank großer Editionsprojekte und einer damit einhergehenden Spezialforschung in den vergangenen Jahren immer schärfer zutage getreten ist,52 avanciert in der internationalen Forschung zunehmend zum innovativen Demokratietheoretiker und kosmopolitischen Kritiker des Eurozentrismus in der Epoche der globalen Transformation im und nach dem Weltkrieg.53 Mit dem allzu sehr auf die deutsche nationale Perspektive beschränk-

49  Zu

führenden Protagonisten dieser Debatten vgl. etwa Jens Hacke: Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit. Berlin 2018; Udi Greenberg: The Weimar Century. German Émigrés and the Ideological Foundations of the Cold War. Princeton 2014; Detlef Lehnert (Hg.): Hugo Preuß 1860–1925. Genealogie eines modernen Preußen, Köln 2011. 50  Vgl. etwa Klaus Schwabe: Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges. Göttingen 1969; Wolfgang J. Mommsen: Der Geist von 1914. Das Programm eines politischen Sonderweges der Deutschen. In: ders.: Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur des deutschen Kaiserreiches. Frankfurt a. M. 1992, S. 407–421; Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Berlin 2000; Andreas Wirsching: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918–1933/39. Berlin und Paris im Vergleich. München 1999, S. 307. 51 Vgl. etwa Llanque: Denken (wie Anm. 7); Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin 2003; Heinz Hagenlücke: Deutsche Vaterlandspartei. Die nationale Rechte am Ende des Kaiserreiches. Düsseldorf 1997; Peter Hoeres: Krieg der Philosophen. Die deutsche und britische Philosophie im Ersten Weltkrieg. Paderborn 2004; als Zwischenposition vgl. Jörn Leonhard: „Über Nacht sind wir zur radikalsten Demokratie Europas geworden“. Ernst Troeltsch und die geschichtspolitische Überwindung der Ideen von 1914. In: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): „Geschichte durch Geschichte überwinden“. Ernst Troeltsch in Berlin. Gütersloh 2006, S. 205–230. 52 Vgl. als Zwischenbilanz etwa Gangolf Hübinger: Engagierte Beobachter der Moderne. Von Max Weber bis Ralf Dahrendorf. Göttingen 2016, S. 130–190; Robert E. Norton: The Crucible of German Democracy. Ernst Troeltsch and the First World War. Tübingen 2021. 53 Vgl. etwa Stefan Eich/Adam Tooze: The Allure of Dark Times. Max Weber, Politics, and the Crisis of Historicism. In: H&T 56 (2017), S. 197–215, hier: S. 206–215; Austin Harrington: ­German Cosmopolitan Social Thought and the Idea of the West. Voices from Weimar. Cambridge 2016, S. 117–119, S. 183–189, S. 216 f., S. 224 f., S. 244–252; Hans Joas: A German Idea of Freedom? Cassirer and Troeltsch between Germany and the West. Göteborg 2006, S. 9–14, S. 26–37.

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ten Etikett „Vernunftrepublikaner“ wird man diesem globalen Demokratiedenker dabei kaum gerecht.54 Dieser neueren Lesart zufolge war Troeltsch – wie auch andere deutsche Denker jener Jahre – für pluralistische Vorstellungen in Bezug auf Kultur und Geschichte durchaus aufgeschlossen. Gleichwohl blieb er, wie Austin Harrington herausgearbeitet hat, skeptisch-distanziert gegenüber linearen weltgeschichtlichen Annahmen. Immer wieder wies er auf den kulturspezifischen Kontext hin, der den westlichen Vorstellungen und Äußerungen implizit zugrunde lag. In seinem die Provinzialität des Westens reflektierenden „peripheren“ kulturpluralistischen Denken, in dem er zugleich an universalen, westlich konnotierten Werten festhielt, gelang es Troeltsch, „sich selbst zu dezentrieren“.55 Zu Recht kann er als der vielleicht bedeutendste deutsche Beiträger zur internationalen Demokratiedebatte in der globalen Transformationsphase nach 1918/19 angesehen werden. Troeltsch hatte sich bereits während des Kriegs in der Debatte zu Wort gemeldet: Seine Ablehnung des „Imperialismus“ aus dem Jahr 1915 richtete sich explizit auch gegen das deutsche Verlangen nach Vorherrschaft.56 Und kurz nachdem er das Wort von den „Ideen von 1914“ in den Mund genommen hatte, kritisierte er bereits den Mangel an Humanismus und Individualismus bei vielen Vertretern dieser – ohnehin kaum als Einheit fassbaren – Ideen. Im Oktober 1915 folgte ­Troeltsch in einem Plädoyer für eine weitergehende Demokratisierung Deutschlands dann zum Teil ausdrücklich der Argumentation von Hugo Preuß.57 Die „deutsche Freiheit“ sah er keineswegs nur als eine überlegene Idee an, vielmehr relativierte er die angebliche deutsche Besonderheit durch den Hinweis, dass die „moderne Freiheit […] bei uns gebrochener entwickelt“ sei „als im Westen“: Die „Sicherstellung des Individuums durch formale Rechtsgleichheit, als soziale Gegenseitigkeit der Anerkennung und Gleichberechtigung, als Freiheit des Zusammenschlusses und der Vereinsbildung, ja auch als Freiheit der kommunalen und ländlichen Selbstverwaltung“ müsse noch stärker um den Aspekt der Partizipa­ tion, der „Mitbeteiligung an der Ausübung des staatlichen Gesamtlebens“, erweitert werden. In seiner eigenständigen Entwicklung sollte sich Deutschland auch an den „Westmächten“ orientieren und endgültig „vom Obrigkeits- zum Volks54 Vgl.

etwa Matthias Wolfes: Vernunftrepublikanismus und Wissenschaftsverständnis in der protestantischen Theologie der Weimarer Zeit. In: Andreas Wirsching/Jürgen Eder (Hg.): Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft. Stuttgart 2008, S. 219–230. Generell wäre bei vielen der unter dieses Rubrum Eingeordneten zu reflektieren, dass es sich dabei um demokratiehistorisch über Deutschland hinaus typische Geschichten handelte sowie Demokratiebejahung und -begeisterung sehr unterschiedliche Gesichter und sprechaktlich relevante Kontexte hatten. Wenn sich Troeltsch als „Vernunftdemokrat“ bezeichnete (Hübinger: Beobachter (wie Anm. 52), S. 190), so ist die argumentative Situation zu bedenken, um nicht mit dieser Etikettierung den Demokratiedenker unkenntlich zu machen. 55  Vgl. Harrington: Thought (wie Anm. 53), S. 5–7. 56  Vgl. Ernst Troeltsch: Imperialismus. In: Die neue Rundschau 26 (1915), S. 1–14. 57  Vgl. etwa Llanque: Denken (wie Anm. 7), S. 35–37, S. 116–118, S. 154, S. 221  f.; Hoeres: Krieg (wie Anm. 51), S. 262–275, S. 414–422; Bruendel: Volksgemeinschaft (wie Anm. 51), S. 256 f.; Müller: „Anderssein“ (wie Anm. 7), S. 59 f.

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staate, vom Klassenstaat zur gegenseitigen Gleichberechtigung, vom Herrschaftsstaat zum Gemeinwesen“ fortschreiten, womit Troeltsch vor allem eine Zurückdrängung der Bürokratie aus der Politik meinte.58 Dass diese spezifisch deutsche, zugleich universal ausgerichtete Perspektive mit dem Verzicht auf essenzialistische Volksbegriffe verbunden sein konnte, zeigt das Beispiel des Troeltsch eng verbundenen, in den Kriegsdebatten und auch danach prominent auftretenden liberal-konservativen Historikers Hans Delbrück. In ­seinen Veröffentlichungen schien die Möglichkeit eines föderativen Weges in eine europäische Demokratie auf. Delbrück verlieh in seiner Schrift „Regierung und Volkswille“ von 1914 der Überzeugung Ausdruck, dass sich die deutsche Verfassungsordnung aus sich selbst heraus reformieren könne und müsse. Dabei verweigerte sich Delbrück sowohl einem ethnischen als auch einem kulturellen Volksbegriff und sprach lieber von „der Einwohnerschaft des deutschen Reiches“, einer nicht „von der Natur gegebene[n]“, sondern künstlichen „Einheit“, die „unter tausend Zufälligkeiten“ gebildet sei und sich verändere.59 Sein antinationalistisches Denken ließ einen prä- und supranationalen Etatismus für die europäische Gegenwart produktiv werden – in seinem Engagement für den später in „Deutsche Liga für Menschenrechte“ umbenannten, sich auf Europa beziehenden „Bund Neues Vaterland“ auch im Hinblick auf die Nachkriegszeit. Der einstige preußische Prinzenerzieher wurde erst zu einem der frühen Kritiker der deutschen Kriegsstrategie und von Annexionsforderungen, dann zum Fürsprecher ­einer preußischen Wahlrechtsreform und eines „Tory-Demokratismus“ sowie in der Weimarer Republik schließlich zu einem führenden Kämpfer gegen die Dolchstoßlegende und zum Anhänger einer auch für Konservative attraktiven Demokratie.60 Die Anerkennung kultureller Vielfalt in Verbindung mit der selbstkritischen Suche nach einem Fundament universaler Werte bildete in Troeltschs Fall das intellek­tuelle Bindeglied zwischen seiner politischen Kriegspublizistik und seinem zeitgleich entstandenen, im Wesentlichen 1916 vollendeten, aber erst 1922 veröffentlichten monumentalen Werk „Der Historismus und seine Probleme“.61 In diesem wies er einen intellektuellen Ausweg aus den kriegerischen Gegensätzen, indem er die Grenzen einer eurozentrischen Perspektive offenlegte, die „nur naiver

58  Ernst

Troeltsch: Die deutsche Idee von der Freiheit. In: ders.: Deutsche Zukunft. Berlin 1916, S. 7–60, hier: S. 60, S. 19–21. 59 Hans Delbrück: Regierung und Volkswille. Berlin 1914, S. 1  f.; vgl. Llanque: Denken (wie Anm. 7), S. 89–96. 60  Vgl. Christian Lüdtke: Hans Delbrück und Weimar. Für eine konservative Republik – gegen Kriegsschuldlüge und Dolchstoßlegende. Göttingen 2018; Llanque: Denken (wie Anm. 7), S. 30 f., S. 152–158; Bruendel: Volksgemeinschaft (wie Anm. 51), S. 74–81, S. 94 f., S. 104 f., S. 201 f., S. 249– 251. Nicht wenige aus der Familie und dem persönlichen Umfeld des 1929 gestorbenen Delbrück leisteten später Widerstand gegen den Nationalsozialismus. 61 Vgl. Hartmut Ruddies: Gelehrtenpolitik und Historismusverständnis. Über die Formierung der Geschichtsphilosophie Ernst Troeltschs im Ersten Weltkrieg. In: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Ernst Troeltschs „Historismus“. Gütersloh 2000, S. 135–163.

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und verfeinerter Europäerhochmut“ sei, „Übertreibungen des europäischen Selbst­ gefühls“, oft genug kolonialistische Anmaßung einer privilegierten Perspektive, die Troeltsch „mit unseren Erkenntnis- und Denkmitteln ganz unmöglich“ erschien. „Etwas derartiges“, nämlich „eine Übersicht über die Allheit des Historischen“, fügte er hinzu, gebe „es nur für Gott“. Um den Horizont des europäischen histo­ rischen Denkens aufzulösen, zitierte er indische und japanische Gelehrte. Der Blick der Europäer war für ihn einer unter vielen: „Wir kennen in Wahrheit nur uns selbst und verstehen nur unser eigenes Sein und deshalb auch nur unsere eigene Entwicklung. […] Man muss sich klarmachen, dass es verschiedene Möglichkeiten des Menschentums gibt,“ so Troeltsch. Was in der Einsicht dieser Grenzen „von der Geschichtsphilosophie und Universalgeschichte übrig bleibt“, sei „die brennend wichtige Aufgabe der Formulierung des europäischen Wesens und der Herausarbeitung der europäischen Zukunft“. Für die „westliche“ Zivilisation übernahm Troeltsch den von einem indischen Sozialwissenschaftler eingeführten Begriff „Euramerika“ und mahnte, „den Gedanken der Kultursynthese nicht zu eng und nicht zu zentraleuropäisch aufzufassen und ihn für die wachsenden Völker unseres Kulturkreises von vornherein als verschiedenartig zu betrachten“.62 Der Gedanke der „Kultursynthese“ kam in Troeltschs wohl berühmtestem – vor den Eliten der Weimarer Republik an der Hochschule für Politik im Oktober 1922 in Berlin gehaltenen sowie von Thomas Mann und anderen Kulturgrößen aufgegriffenen – Vortrag über „Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik“ zum Ausdruck. In dieser Rede nahm Troeltsch mehrfach auf Bryce und dessen Werk „Modern Democracies“ Bezug.63 Die „Kultursynthese“, die kulturelle Vielfalt nicht ersticken, sondern diese auf der Grundlage universaler Werte ermöglichen solle, habe mit Blick auf die europäische Nachkriegsordnung eine moralisch-intellektuelle und eine politische Seite. In das Zentrum seiner Überlegungen stellte Troeltsch zum einen die „Idee der Menschenrechte“ als Fundament eines „europäischen Ethos“, das die Kooperation erleichtern solle. „Die Menschen“, erklärte er, seien „einander viel ähnlicher, als es nach den Theorien scheinen“ müsse. Die im Krieg propagandistisch überzogenen „Gegensätze“ zwischen angelsächsisch-romanischen und deutschen politischen Traditionen seien „im letzten Grunde weniger ausschließend […] als sie scheinen. Beide Systeme setzen die Idee der Autonomie des Menschen und der Persönlichkeit, die kritische Grundhaltung gegen Wirklichkeit und Überlieferung voraus, die die Aufklärung geschaffen hat.“ Zum anderen identifizierte Troeltsch eine diesem Ethos der Menschenrechte angemessene politische Form, die für ihn zu der politischen Ordnung der Welt nach dem Ersten Weltkrieg schlechthin geworden war. Er bezeichnete –

62  Ernst

Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe. Bd. 16: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie [1922]. Hg. von Friedrich Wilhelm Graf. Berlin 2008, S. 1025 f., S. 1031, S. 1027 f., S. 1048. 63  Ernst Troeltsch: Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik [1922]. In: ders.: Kritische Gesamtausgabe. Bd. 15: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918–1923). Hg. von Gangolf Hübinger. Berlin 2002, S. 477–512, hier: S. 494, S. 500, S. 506.

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in Anlehnung an einen Vortrag, den Charles Evans Hughes, Richter am Supreme Court und Außenminister der USA, vor dem Krieg an der Yale University ge­ halten hatte – „die Demokratie als die schwierigste, moralisch die größten Forderungen stellende Verfassung, aber auch als die durch Gott, Natur und Humanität geforderte“. Die Demokratie sei universal, und es gebe kein Zurück hinter die Demokratie mehr.64 Die universale, zumindest die internationale Dimension der Demokratie in der Pariser Friedensordnung thematisierte Troeltsch an zahlreichen Stellen, akademisch distanziert ebenso wie tagespolitisch intervenierend. So reflektierte er etwa in Vorträgen, die er aufgrund seines Todes Anfang des Jahres 1923 nicht mehr selbst in Großbritannien halten konnte, die ethischen Grundlagen moderner Politik und erörterte die Idee einer „world-government“ nach dem Vorbild des mittelalterlichen Reichs. Die damit unweigerlich verbundene globale Vormachtstellung Amerikas barg ihm jedoch zu viele Konfliktpotenziale in sich, weshalb ihm der Völkerbund in Verbindung mit „universal Free Trade“ besser geeignet schien, bei der notwendigen Preisgabe politischer Souveränität dennoch nationale Individualitäten und kulturelle Vielfalt zu bewahren. In der Phase nach dem Krieg stellte Troeltsch eine vollständige Transformation des internationalen Systems fest.65 Auch seine berühmten „Spectator-Briefe“ (ab August 1920 „Berliner Briefe“ genannt), die Troeltsch zu einem der führenden public intellectuals der Weimarer Republik werden ließen, verdankten ihre zeitgenössische Bedeutung nicht allein der innenpolitischen Intervention, sondern ebenso der weltpolitischen Aufgeschlossenheit dieses „engagierten Beobachters“.66 „Der Schwerpunkt der Welt ist verschoben“, erklärte er seinem Publikum in einem provokant gegen Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlands“ betitelten Beitrag. Europa habe seine zentrale Rolle in der Welt für immer verloren, es sei zur Peripherie geworden. Eine „Weltdemokratie“ mit angelsächsischer „Weltpolizei“ etabliere sich nun als „Weltsystem“, als neue Ordnung der Nachkriegszeit, dem das „Weltsystem des Bolschewismus“ gegenüberstehe.67 In diesem Weltsystem der Weltdemokratie, auch im Völkerbund, dominierte seiner Ansicht nach das „angelsächsische Imperium“ oder „Weltregiment“, die „Dyarchie“ Amerika-Großbritannien, die amerikanisch-britische Doppelweltmacht. „The world is rapidly becoming English“, beobachtete Troeltsch, nicht nur in politischer und ökonomischer Hinsicht: „Die europäischen Völker werden zweisprachig werden, für die Welt englisch reden 64 

Ebd., S. 510, S. 508, S. 505 f., S. 500. Troeltsch: Politics, Patriotism, and Religion [1923]. In: ders.: Kritische Gesamtausgabe. Bd. 17: Fünf Vorträge zu Religion und Geschichtsphilosophie für England und Schottland. Der Historismus und seine Überwindung (1924)/Christian Thought. Its History and Application (1923). Hg. von Gangolf Hübinger. Berlin 2006, S. 188–203, hier: S. 198–201. 66  Vgl. Hübinger: Beobachter (wie Anm. 52), S. 167–190. 67  Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe. Bd. 14: Spectator-Briefe und Berliner Briefe (1919– 1922). Hg. von Gangolf Hübinger. Berlin 2015, S. 172 (Oktober 1919), S. 483 (Januar 1922), S. 509 (März 1922), S. 547 (Juni 1922), S. 363 f. (Januar 1921); vgl. ebd., S. 64 (Februar 1919), S. 296 (Juni 1920). 65  Ernst

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und schreiben müssen und für ihre Privatzwecke ihre alten Sprachen wie Dialekte weiter benützen.“68 Das bedeutete zugleich jedoch, dass für ihn „der ‚Westen‘ […] keine Einheit“ darstellte. Während Troeltsch „in dem angelsächsischen System die Rettung er­ blicken“ konnte und die neue Friedensordnung mit ihrer „wirtschaftlichen Weltsolidarität“ begrüßte, distanzierte er sich von der als destruktiv, als „Hegemonieund Gewaltpolitik“ verstandenen Rolle Frankreichs in den ersten Jahren nach dem Krieg: „Mit dem englischen System kann man leben, mit dem französischen nicht.“ Entsprechend trat gerade der Demokrat und Republikanhänger Troeltsch als scharfer Kritiker des Versailler Vertrags auf, den er als „Belastung für die Demokratie“ bezeichnete, und knüpfte an die vielen Wendungen der internationalen Politik in den folgenden Jahren die wachsende Hoffnung auf eine kooperative ­Revision der im Pariser Frieden festgelegten Regelungen. So betrachtete er die Konferenz von Genua als „Fortschritt“, die gleichzeitigen Geheimverhandlungen seines engen Freundes Walther Rathenau mit dem kommunistischen Russland in Rapallo hingegen sah er skeptisch. Als ein auch für die europäischen Verhältnisse wegweisendes Ereignis verfolgte Troeltsch aufmerksam die Washingtoner Konferenz von 1921/22, die das internationale System im pazifischen Raum stabilisierte und zur Neuordnung der Beziehungen unter den Großmächten führte. Für ­Troeltsch bestand eine erkennbare Verknüpfung zwischen dem Washingtoner Abkommen und einer künftigen Neuregelung für Europa, einer „europäischkontinentale[n] Ergänzung für die Weltabmachung von Washington“.69 Gelegentlich beschlichen Troeltsch jedoch Zweifel, ob der „Westen“, insbesondere Amerika, seiner Führungsrolle gerecht werden würde. Für ihn war die neue internationale Ordnung allzu sehr auf „Seeherrschaft“, Welthandel und angelsächsische „Seepolizei“ ausgerichtet, was eine nur begrenzte Bereitschaft zum kontinentalen Engagement andeute. Die delikaten Probleme, die sich für eine „Landmacht“ wie Deutschland aus ihrer exponierten „Mittellage“ ergaben, schienen ihm in der Nachkriegsordnung unberücksichtigt zu bleiben.70 Dass Deutschland aus dem Kreis der Großmächte ausgeschieden sei und keine Weltpolitik mehr betreiben könne, stand für Troeltsch fest. In seinen außenpoli­ tischen Stellungnahmen plädierte er für ein realistisches Selbstbild der eigenen natio­nalen Rolle auf der internationalen Bühne. Die Deutschen müssten ihre Illusionen, ob sie nun „phantastisch, pessimistisch oder heroisch“ ausgemalt seien, aufgeben und sich vielmehr dem Aufbau der inneren staatlichen Ordnung und 68 

Ebd., S. 130 f. (Juli 1919), S. 175 (Oktober 1919), S. 344 (November 1920), S. 484 (Januar 1922). S. 547 (Juni 1922), S. 495 (Februar 1922), S. 549 (Juli 1922), S. 468 (Dezember 1921), S. 479–484 (Januar 1922), S. 503 f. (März 1922), S. 513 (April 1922), S. 537 (Juni 1922), S. 547 (Juni 1922), S. 549 f., S. 550 f. (Juli 1922); vgl. ebd., S. 90 (April 1919), S. 115–124, S. 125–132 (Juli 1919), S. 222, S. 227 (Januar 1920), S. 329 (Oktober 1920), S. 353, S. 356 f. (Dezember 1920), S. 395 (April 1921). Zur Washingtoner Konferenz vgl. zuletzt etwa Tooze: Deluge (wie Anm. 2), S. 4, S. 11 f., S. 394–407. 70  Troeltsch: Spectator-Briefe (wie Anm. 67), S. 547 (Juni 1922), S. 343 (November 1920), S. 480  f. (Januar 1921); vgl. ebd., S. 167 (Oktober 1919), S. 481 (Januar 1922). 69 Ebd.,

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ihrer Demokratie widmen, so Troeltsch. Genau das meinte er auch mit seiner ­berühmten Wendung vom „Traumland der Waffenstillstandsperiode“, aus dem die Deutschen vertrieben worden seien: „Ich weiß nur, dass jetzt für uns die ­Weltmachtpolitik auf lange Zeit und wohl überhaupt zu Ende ist“.71 Historische Orientierung für die neue Ordnung der Weltdemokratie bot ihm der Blick in die Antike. Die anglo-amerikanische Dyarchie sei das neue Rom, Deutschland sei hingegen in die Liga hellenistischer Staaten abgestiegen, was aber auch seine ­Vorteile habe: Als eine größere Schweiz könne ein wirtschaftlich erfolgreiches Deutschland weltweite Anerkennung zurückgewinnen.72 Auch über die außenpolitische Analyse der anglo-amerikanisch dominierten globalen Demokratie hinaus lassen Troeltschs Interventionen erkennen, dass er, der auch in tagesaktuellen Beiträgen Bryce zitierte,73 Teilnehmer nicht nur an einer nationalen, sondern auch an einer internationalen Demokratiedebatte war und dass die im transatlantischen Gesprächsraum der Umbruchsphase von 1918/19 verbreiteten Demokratievorstellungen in seinem Denken über die Demokratie zum Ausdruck kamen. Das trifft sowohl auf die Leitidee einer sozialen Demokratie zu, die für den Liberalen Troeltsch selbstverständlich war, als auch auf sein Verständnis der mehrschichtigen Zeitlichkeit der Demokratie sowie auf die anspruchsvolle Vielgestaltigkeit, den Variantenreichtum und die Transformations­ fähigkeit, durch die sich für ihn die gerade entstandene moderne Demokratie auszeichnete. Innen- und Außenpolitik gehörten dabei zusammen, die neue demokratische Welt besaß seiner Ansicht nach ein Doppelgesicht: „Wir haben uns auf eine völlig neue Lage einzurichten, die durch die Idee des Völkerbundes nach ­außen und eine demokratisch-soziale Neuordnung nach innen allein gesichert werden kann“.74 Das neue internationale System war für Troeltsch auch in ökonomischer Hinsicht das des Siegers im Krieg: des „amerikanische[n] Kapitalismus, eingehüllt in die demokratische Tugendideologie“. Aber dieses weltwirtschaftliche System habe nichts mit dem alten ungezügelten Kapitalismus zu tun, sondern sei das neue System einer „regulierten Wirtschaft, wie denn der heutige Kapitalismus schon lange nicht mehr der alte ist und nur die Nutznießer des gegenwärtigen Chaos die teuflischen Eigenschaften eines unregulierten Kapitalismus zur Schau tragen“.75 In seinen nach innen für die neue Republik werbenden Stellungnahmen bekräftigte Troeltsch immer wieder, dass die Demokratie in jeder Konstellation, „welche Form auch immer sie in ihrer technischen Gestaltung irgendwann einmal annehmen mag“, eine „soziale Demokratie“ sein müsse, in der die „Wirtschaft im Inte­

71  Ebd., S. 343 (November 1920), S. 547 (Juni 1922), S. 131 (Juli 1919) (Hervorhebung im Original). 72  Vgl. ebd., S. 110, S. 130 (Juli 1919), S. 175 (Oktober 1919), S. 356, S. 360  f. (Dezember 1920). 73  Vgl. ebd., S. 586–588 (November 1922). 74  Ernst Troeltsch: Demokratie [1919]. In: ders.: Schriften (wie Anm. 63), S. 207–224, hier: S. 216 (Hervorhebung im Original). 75  Ders.: Spectator-Briefe (wie Anm. 67), S. 484 (Januar 1922), S. 547 (Juni 1922).

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resse und im Dienste des Ganzen“ stehe.76 Die demokratische Ordnung sollte eine der internationalen ökonomischen Kooperation und der begrenzten wirtschaftlichen Planung sein. Wiederholt nahm Troeltsch in der sich zuspitzenden Inflationskrise auf John Maynard Keynes Bezug und vertrat die Ansicht, dass die „Weltwirtschaft […] nur durch gegenseitige Verständigung und Solidarität aus schwersten Erschütterungen und Lähmungen befreit werden“ könne, während eine „autarkische Zoll- und Schutzpolitik“ die Krise verschärfen werde. Vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden ökonomischen Katastrophe konnte sich Troeltsch einen Ausweg des „wahre[n] und einzige[n] Internationalismus“, nämlich eine „Weltplanwirtschaft und Stabilisierung der erschütterten Währungen“ vorstellen.77 In Bezug auf die Zeitlichkeit der Demokratie wiesen Troeltschs Vorstellungen den temporalen Facettenreichtum auf, der sich auch bei Bryce, Becker oder Gillin findet – unterschiedliche Vorgeschichten, die Gegenwart als Moment einer globalen Demokratiewerdung, Demokratie als einzig verbliebener politischer Horizont –, verbunden mit einer Einschätzung der Zukunft der Demokratie, die die Ambi­ valenz von Normalität und Fragilität, von Gegebenheiten und Unwägbarkeiten reflektierte. Die Demokratie war für Troeltsch einerseits mit unerwarteter Plötzlichkeit hereingebrochen: „Über Nacht sind wir zur radikalsten Demokratie Europas geworden“, so der Denker im Dezember 1918 vor dem „Demokratischen Studentenbund“. Dabei habe der Krieg als Katalysator der vollständigen Demokratisierung gewirkt: „Der furchtbare Weltkrieg musste ganz von selbst die Demokratie zum Siege bringen.“ Andererseits habe der plötzliche Durchbruch seine Geschichte, war dieser „doch nicht so ganz über Nacht geschehen. Die Demokratie ist die natürliche Konsequenz der modernen Bevölkerungsdichtigkeit [sic!], verbunden mit der zu ihrer Ernährung notwendigen Volksbildung, Industrialisierung, Mobilisierung, Wehrhaftmachung und Politisierung.“78 Eine solche Perspektive reichte über die deutsche Entwicklung hinaus. ­Troeltsch zeigte sich mit Tocqueville davon überzeugt, „daß der Siegeszug der Demokratie unaufhaltsam sei, weil sie der modernen Gesellschaft entspreche“. Die Demokratie sei eine „praktische Notwendigkeit geworden“. So sprach Troeltsch auch von der „notwendigen und unumgänglichen Entwicklung aller modernen Staaten“, vom „Notwendigwerden der Demokratie“.79 Im „Welthorizont“ war sie nach ­seinen Worten „eine der ganz wenigen großen Hauptlösungen des politischen Organisationsproblems“ der Moderne, das sich aus „der modernen Bevölkerungsmasse, Intellektualität und moralischen Idee vom Menschen“ ergebe. Kein Staat könne „auf die Dauer“ der Demokratie als Lösungsansatz „widerstehen“, so ­Troeltsch.80 76  Ders.: Demokratie (wie Anm. 74), S. 216, S. 219; ders.: Sozialismus [1920]. In: ders.: Schriften (wie Anm. 63), S. 355–370, hier: S. 358 f. 77  Ders.: Spectator-Briefe (wie Anm. 67), S. 539 (Juni 1922), S. 583 (November 1922); vgl. ebd., S. 571, S. 576 (Oktober 1922), S. 582, S. 588 (November 1922). 78  Ders.: Demokratie (wie Anm. 74), S. 211. 79  Ebd., S. 218, S. 212, S. 215. 80  Ders.: Spectator-Briefe (wie Anm. 67), S. 586 (November 1922).

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Reinhart Kosellecks Argument, dass die „explosive Verwendung“ von Begriffen wie „Volk“ während des Weltkriegs und danach den „unumkehrbaren Trend zur ‚Demokratisierung‘, und zwar quer durch die Regierungsformen der konstitutionellen Monarchie, der parlamentarischen Republik und des nationalsozialistischen, streckenweise sog. Führerstaates“ anzeige,81 lässt sich auch auf Troeltsch stützen. Deutschland war nicht nur „endgültig“, sondern auch „unabänderlich“ zur Demokratie geworden, verkündete er auf dem Leipziger Parteitag der Deutschen Demokratischen Partei im Dezember 1919.82 Die Demokratie sei zur „Grund­ lage aller denkbaren Zukunft“ geworden – zum einzigen politischen Hori­zont, „auch wenn man auf 20 oder 30 Jahre hinaus denkt“. Selbst eine von Troeltsch für unvorstellbar gehaltene, nur als politisch-theoretisches Gedankenspiel erwogene „militärische Diktatur“ müsse „auch ihrerseits mit demokratischen Formen und Mitteln arbeiten“. Eine „Restauration“ bürokratischer Herrschaft liege jenseits des Mög­lichen83 und auch eine Wiedereinführung der Monarchie könne nur noch auf demo­kratischer Grundlage erfolgen.84 Auf lange Sicht wagte Troeltsch sogar die These, dass die soziale Demokratie „für immer“ Wirkung entfalten würde, denn der „Weg zu Freiheit und Würde“ könne „nur der […] der Demokratie sein“ – unabhängig davon, „welche Form auch immer sie in ihrer technischen Gestalt irgendwann einmal annehmen“ möge.85 Dass die Demokratie zum einzig denkbaren politischen Horizont geworden sei, bedeute jedoch nicht, dass sie ebenso schnell die Zustimmung aller finden werde. Demokratietheoretisch sensibel bedachte er, dass „Zeit und Gewöhnung“ erforderlich seien, „bis eine neue Rechtsordnung als legitim empfunden“ werde und um Demokraten zu formen.86 Die in solchen Aussagen zum Ausdruck kommende Einsicht in die Fragilität der Demokratie ist auch in der von Troeltsch stets betonten Vielgestaltigkeit und Vielschichtigkeit der Demokratie spürbar. In seinem Denken öffnete er die Demokratie für viel breitere Kreise als nur für diejenigen, die sich von Anfang an zu ihr bekannt hatten. Er wandte sich gegen das – oft gegenüber seiner Aussageabsicht entstellte und damit falsch zitierte – Wort von der „Demokratie ohne Demokraten“, der „Republik ohne Republikaner“, und widersprach der polemischen Behauptung, „die psychologischen Voraussetzungen wahrer und erfolgreicher 81 Reinhart

Koselleck u. a.: Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: Otto Brunner/Werner ­ onze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur poliC tisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 7. Stuttgart 1992, S. 141–431, hier: S. 390. 82  Ernst Troeltsch: Bericht über Kulturfragen [1919]. In: ders.: Schriften (wie Anm. 63), S. 313– 320, hier: S. 313. 83  Ders.: Demokratie (wie Anm. 74), S. 215. 84  Vgl. ders.: Aristokratie [1919]. In: ders.: Schriften (wie Anm. 63), S. 270–283, hier: S. 273. 85  Ders.: Demokratie (wie Anm. 74), S. 216. 86  Ders.: Spectator-Briefe (wie Anm. 67), S. 585 (November 1922), S. 463 (November 1921); vgl. etwa Ursula Büttner: Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur. Stuttgart 2008, S. 507; Nicola Fuchs-Schündeln/ Matthias Schündeln: On the Endogeneity of Political Preferences. Evidence from Individual ­Experience with Democracy. In: Science 347 (2015), S. 1145–1148.

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Demokratie fehlten uns vollständig“. So viel Berechtigung die Kritik am Bestehenden im Einzelnen haben möge, so Troeltsch, habe doch „ein seit lange [sic!] sich vorbereitendes Schicksal unabänderlich die Demokratisierung gebracht“. Darum gelte es nun, mit dem demokratieskeptischen „Fatalismus zu brechen und ihm pädagogisch mit allen Mitteln entgegenzuwirken“. Die Demokratie müsse als „politische Lebensform“ entdeckt und sich zu eigen gemacht werden.87 Diesem Ziel widmeten sich Troeltschs Interventionen. Seine Texte waren auch „pädagogische“ Handlungen im Debattenfeld der sich etablierenden Demokratie. Als „Lebensform“ war die Demokratie seiner Ansicht nach ein vielschichtiges Projekt, das über die Politik hinausreiche und auch auf moralischen und emotionalen Fundamenten beruhe. Troeltsch versah sie mit einem kulturellen Programm: „Die Demokratie kann breite große Volkskreise zu ungeheurer Produktivität zusammenfassen, kann Liebe und Hoffnung an den gemeinsamen Staat begründen, die menschliche Würde und Persönlichkeit jedes Bürgers zu größerer Geltung bringen, Verantwortung und Initiative in die einzelnen Willen einpflanzen.“ Den Übergang zur Demokratie erfasste er nicht nur als konstitutionelle, politische oder ökonomische Zäsur, vielmehr sprach er von neuen „Lebensformen und -inhalten“. Entsprechend rief er sein Publikum zu „einer auch gefühlsmäßigen Entscheidung und Einsetzung für die Republik“ auf.88 In dieser Absicht warb der bürgerliche Intellektuelle und Politiker Troeltsch vor allem im Bürgertum für die Demokratie. Eine soziale Demokratie sei nicht gleichbedeutend mit einer sozialdemokratisch dominierten Demokratie, betonte er, auch wenn er zunehmend die stabilisierende Rolle der Sozialdemokratie, ebenso wie die der Zentrumspartei, in der deutschen Demokratie als vorbildlich anerkannte.89 Zu seinen Argumenten, die beim Bürgertum auf offene Ohren stoßen konnten, gehörte auch Troeltschs Aussage, dass die Demokratie Ordnung stifte. Sie sei „keineswegs das Ergebnis der Revolution“, sondern „vielmehr in der Haupt­ sache das Gegengift gegen die Revolution“. In den „Berliner Briefen“ schrieb er gar: „Nur auf dem Boden der Republik, nicht gegen die Republik ist Ordnung möglich.“ Nur in ihrem Zeichen ließen sich die „Ordnungskräfte“ sammeln, nur die Demokratie garantiere das Überleben des Staates in der Inflationskrise.90 Troeltschs Ordnungsargument korrespondierte mit seinem „Ideal einer konservativen Demokratie“. Gegen eine vorherrschende, als dominant beklagte ­linke Lesart der Demokratie setzte er die „Möglichkeit einer konservativen Demo­ kratie“,91 die sich aber keineswegs im Ordnungsgedanken erschöpfe, sondern vielmehr auf die Anerkennung kultureller Pluralität ziele, der von progressiven

87 

Troeltsch: Aristokratie (wie Anm. 84), S. 273. Ders.: Demokratie (wie Anm. 74), S. 218; ders.: Spectator-Briefe (wie Anm. 67), S. 584. 89  Vgl. ders.: Demokratie (wie Anm. 74), S. 219; ders: Spectator-Briefe (wie Anm. 67), S. 447 (Oktober 1921), S. 474 (Dezember 1921), S. 561 (August 1922). 90  Ders.: Aristokratie (wie Anm. 84), S. 270; ders: Spectator-Briefe (wie Anm. 67), S. 567, S. 561 (August 1922). 91  Ders.: Demokratie (wie Anm. 74), S. 224, S. 222. 88 

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Kräften mit egalisierendem Elan Gewalt angetan werde. Der Historist und der Denker eines universalen Wertefundaments, der engagierte Demokrat und der bürgerliche Intellektuelle Troeltsch fanden auf diesem Terrain zusammen. Auch wenn Troeltsch keinen politischen Horizont jenseits der Demokratie mehr erkennen konnte, reflektierte er selbstkritisch die Grenzen auch des Neuen, denn „das Wesen der geschichtlichen Wandlungen“ sei „nicht ein immer höher steigender Fortschritt, sondern ein Wechsel von Lebensformen und -inhalten, deren jede ­ihren eigenen Geist und ihre eigenen Gebrechen hat“.92 Im kritischen Gründungsmoment der modernen Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg hielt Troeltsch somit Räume demokratischen Handelns offen, die sich immer wieder zu schließen drohten.93 Er erinnerte eine politische Elite, die sich mit der Versöhnung der Attribute „demokratisch“ und „konservativ“ schwertat, daran, dass es „sehr wohl eine konservative Demokratie“ gebe, die einen „gründlich bourgeoisen und historisch-geheiligten Charakter“ haben könne. Dafür schienen ihm das britische und vor allem das amerikanische Verständnis der Demokratie zu stehen, die den geforderten Respekt vor den „Individualitäten in der Geschichte“ an den Tag legen würden.94 Seiner Ansicht nach war die konservative Demokratie in Amerika „ohne jedes verewigte Revolutionsdogma“. „Demokratie“ stand in dieser konservativen Lesart, für die Troeltsch in der öffentlichen Debatte stritt, sowohl für eine „Idee der Gemeinschaft und Einheit“ als auch für eine „Idee der persönlichen Würde und Verantwortung“.95 In diesen Leitideen schimmerte der für Troeltsch – ähnlich wie für Bryce – so anziehende „tiefe moralische Charakter der Demokratie“ hindurch. Demokratie konnte auf dieser Grundlage und unter Achtung traditioneller Rollen und Gewohnheiten historisch-evolutionär voranschreiten. Entsprechend warb Troeltsch eindringlich für eine bürgerliche, „konservative und die Religion erhaltende Demokratie“.96 Das Fundament der Demokratie, auch und gerade das der von ihm befürworteten konservativen Demokratie, bildeten „Menschenrechte und Menschenwürde“, wie Troeltsch etwa in seiner Berliner Rede über „Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik“ aufzeigte. Auf der Anerkennung dieser Werte gründe, ungeachtet der existenziellen Krisen jener Zeit, auch die langfristige „Fortdauer demokratischer Verfassungs- und Regierungskunst“. Die institutionelle Gestalt der Demokratie, die Regelungen der Verfassung könnten immer wieder verändert und ­neuen Situationen angepasst werden. Insofern war die Weimarer Reichsverfassung 92 

Ebd., S. 218. etwa Thomas Mergel: Das Scheitern des deutschen Tory-Konservatismus. Die Um­ formung der DNVP zu einer rechtsradikalen Partei 1928–1932. In: HZ 276 (2003), S. 323–368; Philipp Nielsen: Verantwortung und Kompromiss. Die Deutschnationalen auf der Suche nach einer konservativen Demokratie. In: Müller/Tooze (Hg.): Normalität (wie Anm. 4), S. 294–314; Barry A. Jackisch: The Pan-German League and Radical Nationalist Politics in Interwar Ger­ many, 1918–39. Farnham 2012. 94  Troeltsch: Naturrecht (wie Anm. 63), S. 495  f. 95  Ders.: Demokratie (wie Anm. 74), S. 221. 96  Ders.: Spectator-Briefe (wie Anm. 67), S. 587 (November 1922), S. 561 (August 1922). 93 Vgl.

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für Troeltsch so wenig wie für die meisten seiner Zeitgenossen für die Ewigkeit gedacht. Gleichwohl müsse derjenige, der für Menschenrechte und Menschwürde eintrete, so Troeltsch, „die Republik innerlich bejahen: nicht die gegenwärtige Verfassung in ihren Einzelheiten, aber die demokratische Republik als Grund­ satz“.97

Gustav Bauers Demokratievorstellungen und die Krise der Demokratie Ernst Troeltsch war der intellektuell interessanteste und gemessen an der Aufmerksamkeit, die ihm im Ausland geschenkt wurde, vermutlich auch der inter­ national angesehenste Demokratiedenker der jungen Weimarer Republik. Aber er war kein singulärer Fall. Seine Demokratievorstellungen, so sehr sie sein individuelles Profil und seine gedankliche Originalität erkennen lassen, wiesen typische Züge auf und finden sich auch bei zahlreichen anderen Stimmen der politischen Debatte in Deutschland. Dazu gehörten etwa führende, aber nicht dem Bildungsbürgertum entstammende Politiker wie der sozialdemokratische Reichskanzler Gustav Bauer. In dessen „Programmrede“ zur Demokratie, die er am 23. Juli 1919, vier Wochen nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrags hielt, kommt – wenn man sie analytisch ordnet – eine komplexe und konsistent gedachte Demokratievorstellung zum Vorschein.98 Die Annahme der Unabänderlichkeit und Endgültigkeit der Demokratie prägte auch Bauers transnationalen politischen Horizont: „Wir nehmen diesen Ruf von jenseits der Grenzen auf, wir sind einig im Glauben an die Unbesiegbarkeit der Demokratie, die nicht nur die Gleichheit zwischen den Volksgenossen, sondern auch die Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit zwischen den Völkern, den Völkerbund erschaffen muss.“ Der SPD-Kanzler verstand somit die deutsche Demokratiegründung als Teil einer europäischen Entwicklung.99 Bauers Vorstellungen von Demokratie wiesen vier Aspekte auf: Erstens Demokratie in ihrer parlamentarischen Repräsentation als Ausdruck der Souveränität und Selbstherrschaft des Volkes – eine Vorstellung, die ähnlich auch sein Innenminister Eduard David vertrat: „Der Wille des Volkes ist fortan das oberste Gesetz 97 Ebd.,

S. 587, S. 585 (November 1922); vgl. ders.: Naturrecht (wie Anm. 63), S. 500 f., S. 506, S. 510; sowie etwa Eberhard Kolb: Diskussion. In: Heinrich August Winkler (Hg.): Die deutsche Staatskrise 1930–1933. Handlungsspielräume und Alternativen. München 1992, S. 49, S. 285 f.; Eberhard Kolb: Umbrüche deutscher Geschichte. 1866/71 – 1918/19 – 1929/33. Ausgewählte Auf­ sätze. München 1993. 98  Vgl. Müller: Ersten Weltkrieg (wie Anm. 5), S. 74–113; ders.: Gustav Bauer (1870–1944) und seine Zeitgenossen. Demokratische Visionen. In: Peter Brandt/Detlef Lehnert (Hg.): Sozialdemokratische Regierungschefs in Deutschland und Österreich. 1918–1983. Bonn 2017, S. 97–125. 99 Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 328. Berlin 1920, 64. Sitzung, 23. 7. 1919, S. 1843–1852. Daraus auch nicht einzeln nachgewiesene Zitate im Folgenden.

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[…]. Die Bahn ist frei für jede gesetzlich-friedliche Entwicklung. Das ist der Hauptwert einer echten Demokratie.“100 Für Bauer ging damit einher, die zentrale Rolle der Parteien im Prozess der politischen Willensbildung zu verteidigen,101 den „Antiparlamentarismus“ zu bekämpfen102 und einen konstruktiven Begriff von parlamentarischer Opposition zu vertreten.103 Die politische Gleichheit der Bürger war durch die Demokratie erreicht. Besonderen Wert legten er und seine Regierung auf die politische Gleichberechtigung der Frauen als Staatsbürgerinnen. Die bekannte Aussage „Nirgends in der Welt ist die Demokratie konsequenter durchgeführt als in der neuen deutschen Verfassung“ versah Innenminister David mit drei Begründungen: dem Hinweis auf das Wahlrecht, auf die Möglichkeit zu Volksentscheiden und darauf, „daß die Frauen in Deutschland die volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung errungen haben. (Bravo!) Die deutsche Republik ist fortan die demokratischste Demokratie der Welt.“104 In der internationalen Wahrnehmung jener Zeit stach der letztgenannte Aspekt in Bezug auf die deutsche Demokratie besonders hervor. „Germany will have the honor of being the first Republic founded on the true principles of democracy, universal equal suffrage for all men and women“, hieß es 1919 in den „International Woman ­Suffrage News“. Und noch einige Jahre später erläuterte mit Herbert Kraus ein prominenter deutscher Jurist einem englischsprachigen Publikum die „generally sympathetic feministic tendency on the part of the Weimar Constitution“.105 Zweitens betonte Bauer in seiner Programmrede von 1919 die Demokratie als Lebensweise, die politische Kultur der Demokratie. Der „Geist“ der Demokratie finde seinen Ausdruck unter anderem im Bekenntnis zur internationalen Zusammenarbeit. Die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund, einschließlich des damit verbundenen Verzichts der Staaten „auf einen Teil ihrer Souveränität“, galt der Regierung Bauer als „das höchste Ziel“ der Außenpolitik. Innen- und Außenpolitik waren dabei wie in der intellektuellen Debatte bei Troeltsch miteinander verzahnt: „Wir brauchen die völkerbündliche Gesinnung auch unter uns Volks­ genossen“. Völkerbund und „Volksgemeinschaft“ – oder „deutsche Schicksals­ gemeinschaft“106 – bildeten nach den Worten Bauers die nationale und interna­ tionale Form der Demokratie. Gemäßigter Nationalismus und internationale

100 Verhandlungen

der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 329. Berlin 1920, 71. Sitzung, 31. 7. 1919, S. 2194. 101  Verhandlungen (wie Anm. 99), 68. Sitzung, 28. 7. 1919, S. 2018. 102 Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 331. Berlin 1920, 136. Sitzung, 14. 1. 1920, S. 4203. 103 Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 330. Berlin 1920, 95. Sitzung, 10. 10. 1919, S. 3005. 104  Verhandlungen (wie Anm. 100), 71. Sitzung, 31. 7. 1919, S. 2194. 105  Ius Suffragii. In: International Woman Suffrage News 13/4 (Januar 1919), S. 1; Herbert Kraus: The Crisis of German Democracy. Princeton 1932, S. 138. 106 Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte. Bd. 327. Berlin 1920, 40. Sitzung, 22. 6. 1919, S. 1115; Verhandlungen (wie Anm. 100), 71. Sitzung, 31. 7. 1919, S. 2193.

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Koopera­tion würden sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern Hand in Hand gehen. Und auch auf die Multitemporalität der Demokratiegeschichte verwies der frühere Gewerkschaftsfunktionär Bauer: auf die große demokratische Tradition der Revolution von 1848 als Vorgeschichte, in deren Kontinuität sich die Re­ gierung stelle, die Gegenwart der Ausbreitung der Demokratie auf alle Lebensbereiche und ihrer Fundierung durch Bildung sowie schließlich die Demokratie als unumkehrbare Zukunft.107 Drittens spielten in diesen Konzepten der demokratische Staat und die Demokratisierung der Verwaltung eine wichtige Rolle. Demokratie und Staat – verstanden als das politische Agieren der Bürger – gehörten für den SPD-Politiker zusammen. Bauer vertrat dabei keinen etatistisch oder paternalistisch verengten Staatsbegriff. Aber der Verfassungsstaat war seiner Ansicht nach nur dann mehr als ein institutionelles Gefüge, wenn er sich Handlungsgrundlagen verschaffte, die in der Gesellschaft auch konkrete Wirkung zeigten – Bauer dachte dabei an die Hoheit über das Verkehrswesen, die Energieversorgung und das Steueraufkommen. Die Steuerverwaltung war bereits neu geschaffen worden, eine große Steuerreform, die nicht nur auf Haushaltsdeckung, sondern auch auf Umverteilung abzielte, war angekündigt. Das ganze System der Besteuerung, so Bauer, sollte „bewusst und planvoll auf das Ziel eines Vermögensausgleichs“ hinwirken. Viertens schließlich beschrieb Bauer im Einklang mit diesem Ziel das Projekt einer sozialen und wirtschaftspolitisch aktiven Demokratie. Entsprechend warnte auch sein Innenminister Eduard David davor, „die politische Demokratie“ gegen die „wirtschaftliche Demokratie“ auszuspielen – beide seien in der Verfassung „verankert“, der „Verfassung einer sozialen Demokratie. Das deutsche Volk ist das erste Volk, das diesen Gedanken, diese Wegweisung zum sozialen Frieden in seine Grundrechte aufgenommen hat. Es hatte hierfür kein Vorbild. Es ist seine eigenste Leistung und es ist eine Leistung besten deutschen Geistes, des Geistes von Weimar, der in der Geistes- und Kulturgeschichte der Welt ein so hohes Ansehen sich errungen hat.“108 Zwar nahmen im Verlauf der 1920er-Jahre die Stimmen zu, die von der Krise der Demokratie sprachen, doch hat die historische Forschung der vergangenen Jahre erschlossen, dass „Krise“ in den zeitgenössischen Auseinandersetzungen auch Offenheit, Chance oder die ersehnte Erfüllung von Erwartungen bedeuten konnte.109 Die Rede von der Krise in Deutschland wurde zeitgenössisch auch in den europäischen Nachbarländern keineswegs als Vorzeichen des Untergangs,

107 

Vgl. auch Verhandlungen (wie Anm. 99), 68. Sitzung, 28. 7. 1919, S. 2017. Verhandlungen (wie Anm. 100), 71. Sitzung, 31. 7. 1919, S. 2194. 109  Vgl. etwa Moritz Föllmer/Rüdiger Graf (Hg.): Die Krise der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters. Frankfurt a. M. 2005; Rüdiger Graf: Die Zukunft der Weimarer Repu­ blik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933. München 2008; sowie bereits Reinhart Koselleck: Krise. In: Otto Brunner/Werner Conze/ders. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 3. Stuttgart 1982, S. 617–650. 108 

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sondern vielmehr als auf die Zukunft weisend wahrgenommen.110 Darüber hinaus handelte es sich hierbei, wie bereits bei der früheren „optimistischen“ Demo­ kratiediskussion, um ein internationales Phänomen. Krisenrhetorik und Krisen­ reflexion waren in den späten 1920er- und den 1930er-Jahren generell weitver­ breitet.111 Eine solche Lesart, wonach die Krise auch als Möglichkeit gedeutet werden konnte und wurde, findet in der Tatsache Bestätigung, dass die internationale ­Politik von der Mitte der 1920er- bis in die 1930er-Jahre hinein für Initiativen der Kooperation stand.112 Während Troeltsch bis zu seinem Tod im Jahr 1923 ein euro­päisches Pendant zur Washingtoner Konferenz erwartet hatte, das die Verhältnisse auf eine stabilere Grundlage als die Pariser Vorortverträge stellen würde, erfüllte 1929 die Entwicklung in Europa Winston Churchill mit erkennbarem Optimismus: „A threefold pact of mutual security“ sei im Oktober 1925 in ­Locarno geschlossen worden. „The histories may be searched for a parallel for such an undertaking.“ Die Friedensordnung, die in Versailles noch eine von Konflikten überlagerte Vision gewesen war, wurde damit für Churchill zu einer Realität: „It had been throughout conceived in harmonious accord with the ­Covenant of the League of Nations […]. Thus was achieved the greatest measure of self-preservation yet taken by Europeans.“ Es war Troeltschs Gedanke, den man bei Churchill zum Bild der „Zwillingspyramide“ ausgebaut sehen kann: „The Treaty of Locarno may be regarded as the Old World counterpart of the Treaty of Washington between the United States, Great Britain and Japan, which in 1921 had regulated and insured the peace of the Pacific. These two august ­instruments give assurance to civilization. They are the twin pyramids of peace rising solid and unshakable on either side of the Atlantic, commanding the allegiance of the leading nations of the world and of all their fleets and armies. They form the granite cores around which the wider conception of the League of Nations and the idealism of the Kellogg Pact can rear the more spacious and more unified structures of the future.“ Und weiter erklärte Winston Churchill, ohne die Fragilität dieser neuen Ordnung aus den Augen zu verlieren: „Since Locarno, Hope rests on a surer foundation. […] In this blessed interval the great nations may take their forward steps to world organization with the conviction that the

110 Vgl. etwa Gaby Sonnabend: Pierre Viénot (1897–1944). Ein Intellektueller in der Politik. München 2005, S. 216 f. 111  Vgl. etwa für Großbritannien John Carey: The Intellectuals and the Masses. Pride and Prejudice among the Literary Intelligentsia, 1880–1939. London 1992; Richard Overy: The Morbid Age. Britain between the Wars. London 2009; Pugh: Hurrah (wie Anm. 19); Daniel Ritschel: The Politics of Planning. The Debate on Economic Planning in Britain in the 1930s. Oxford 1997; Philip Williamson: National Crisis and National Government. British Politics, the Economy and Empire, 1926–1932. Cambridge 1992; als zeitgenössische Beispiele vgl. Leonard Woolf/Lord Eustace Perry: Can Democracy Survive? In: Mary Adams (Hg.): The Modern State. London 1933, S. 15–162; Harold J. Laski: Democracy in Crisis [1933]. Chapel Hill 1935. 112  Vgl. zuletzt etwa Conan Fischer: A Vision of Europe. Franco-German Relations during the Great Depression, 1929–1932. Oxford 2017.

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difficulties they have yet to master will not be greater than those they have already overcome.“113 Wie nicht nur diese Äußerung Churchills zeigt, wurde selbst in der Ende der 1920er-Jahre beginnenden und mit der Weltwirtschaftskrise einhergehenden Existenzkrise der Demokratie, deren Ende selten erwartet. Die Krisenerscheinungen innerhalb der „Weltdemokratie“ wurden wechselseitig beobachtet und führten vielfach zum Umbau von Institutionen und Verfassungsordnungen.114 Die größte Sorge bereitete einmal mehr die ökonomische Ungleichheit sowie die Ungleichzeitigkeit von verwirklichter politischer und erst in Ansätzen erreichter sozialer Demokratie. In den Worten des britischen Politikwissenschaftlers und LabourPolitikers Harold Laski, der mit seiner Pluralismustheorie der Demokratie bekannt wurde, konnte die Krise der Demokratie nur auf einem Wege überwunden werden: „Representative democracy, at this stage, is, briefly put, asked to solve the problem by paralleling the political equality it achieved with a similar eco­ nomic equality.“115 Ungeachtet des offenkundig verbreiteten Bewusstseins für die Fragilität der noch jungen demokratischen Ordnung überwog vielerorts die Überzeugung, dass, schon aus strukturellen Gründen, die Demokratie als die der modernen Gesellschaft und Wirtschaft entsprechende politische Organisationsform nicht zu überwinden war. So nahm etwa der Ökonom und Zentrumspolitiker Ferdinand Aloys Hermens, ein Schüler Joseph Schumpeters und später ein Vertrauter Heinrich Brünings, die „augenblickliche Bedrohtheit der deutschen Demokratie“ durch Wahlerfolge von Extremisten wahr, merkte aber an: „Eine ernsthafte Gefahr für die deutsche Demokratie dürfte trotzdem nicht gegeben sein.“ Und selbst auf dem Höhepunkt der Krise begründete er im Jahr 1931 die globale „Unausweichlichkeit der Demokratie“ mit einem Argument, das auf ­Deutungsmuster späterer Jahrzehnte vorauswies: „Überall da, wo der moderne Kapitalismus seine volle wirtschaftliche und soziale Ausprägung gefunden hat, [ist] eine andere Staatsform als die Demokratie mit ihm auf die Dauer nicht verträglich.“116 Kurz darauf brach dieses internationale Denken, das vom Ideal einer globalen und sozialen Demokratie unter stabilen ökonomischen Bedingungen durchzogen war, vorübergehend ab, um schließlich in unterschiedlicher Gestalt das internationale System und das Zeitalter der Demokratien nach 1945 erneut zu prägen.

113 

Winston S. Churchill: The World Crisis. Bd. 4: The Aftermath. London 1929, S. 458 f. etwa Marcus Llanque: Die Diktatur im Horizont der Demokratieidee. Zur verfassungspolitischen Debatte der Zwischenkriegszeit. In: Christoph Gusy (Hg.), Demokratie in der Krise. Europa in der Zwischenkriegszeit. Baden-Baden 2006, S. 52–85; Pugh: Hurrah (wie Anm. 19), S. 316–319; Katznelson: Fear (wie Anm. 14), S. 29–57; Jussi Kurunmäki: „Nordic Democracy“ in 1935. On the Finnish and Swedish Rhetoric of Democracy. In: ders./Strang (Hg.): Rhetorics (wie Anm. 4), S. 37–82. 115 Harold J. Laski: The Present Position of Representative Democracy. In: APSR 26 (1932), S. 629–641, hier: S. 640. 116  Hermens: Demokratie (wie Anm. 48), S. V  f.

114  Vgl.

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Abstract Taking into consideration recent empirical findings and theoretical considerations of the international discussion, the history of democracy can hardly be presented as a linear and national history of progress, but rather as a fractured and inconsistent history of transnational entanglement, characterized by manifold transformations that progressed only in the mode of stop-and-go. As far as the period of ­international reorganization after the First World War is concerned, current historical research informed by this complexity is once again coming closer to the image that contemporaries of the First World War and the interwar period had of democracy and its development. This article traces some key elements of this transatlantic discussion of democracy on the basis of interventions by James Bryce and Ernst Troeltsch and their historical contexts.

Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren Professor Dr. Boris Barth ist Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte am Institut für Internationale Studien an der Karls-Universität Prag. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Geschichte der Demokratie, Genozid, Rassismus und ethnische Säuberungen, Verschwörungstheorien, Imperialismus und Kolonialismus seit dem späten 18. Jahrhundert sowie Zivilisierungsmissionen. E-Mail: [email protected] Professor Dr. Manfred Berg ist seit 2005 Curt-Engelhorn-Stiftungsprofessor für Amerikanische Geschichte an der Universität Heidelberg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung, die Rassen­ beziehungen in den USA, Lynchjustiz und Mobgewalt sowie die Geschichte der US-Außenpolitik. Unter anderem veröffentlichte er „Woodrow Wilson. Amerika und die Neuordnung der Welt. Eine Biographie“ (München 2017). E-Mail: [email protected] Privatdozent Dr.  Jochen Böhler ist seit 2022 Direktor des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien. Er studierte Geschichte, Ethnologie und Volkswirtschaftslehre an der Universität zu Köln und wurde mit der Arbeit „Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939“ (Frankfurt a. M. 2006) promoviert. Von 2000 bis 2010 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Warschau sowie von 2010 bis 2019 am Imre Kertész Kolleg in Jena. Von Oktober 2019 bis September 2022 vertrat er die Professur für Osteuropäische Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 2017 war er Gastprofessor am Chair dʼexcellence LabEx EHNE (Écrire une Histoire Nouvelle de lʼEurope) an den Universitäten Paris 1, Paris-Sorbonne und Nantes. E-Mail: [email protected] Professor Dr. Patrick O. Cohrs ist Professor für internationale Geschichte an der Universität Florenz. Seine Forschung befasst sich vor allem mit den Ursprüngen von Kriegen und wesentlichen Friedensprozessen, dem Wandel der modernen inter­ nationalen Politik und der Transformation der atlantischen und globalen Ordnung im „langen“ 20. Jahrhundert (1860–2022). Er war Associate Professor für Geschichte und internationale Beziehungen an der Yale University, Alistair Horne Fellow am St Antonyʼs College, Oxford, sowie Fellow an Harvards Kennedy School of Government und Center for European Studies. Er lehrte zudem als Gastprofessor an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, der Libera ­Università https://doi.org/10.1515/9783110653359-014

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Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren

Internazionale degli Studi Sociali in Rom und der Sciences Po in Paris. Cohrs ist der Autor von „The New Atlantic Order. The Transformation of International Politics, 1860–1933“ (Cambridge 2022) und „The Unfinished Peace after World War I“ (Cambridge 2006). E-Mail: [email protected] Dr. Gerd Koenen ist nicht-akademischer Historiker und Sachbuchautor mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen und des Kommunismus. Seine bekanntesten Buchpublikationen zum Thema sind unter anderem: (Hg. zusammen mit Lew Kopelew) „Deutschland und die Russische Revolution 1917–1924“ (München 1997), „Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus?“ (Berlin 1998), „Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900 bis 1945“ (München 2005; aktualisierte Neuausgabe 2023), „Die F ­ arbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus“ (München 2017) und zuletzt „Im Widerschein des Krieges. Nachdenken über Russland“ (München 2023). E-Mail: [email protected] Dr. Kathrin Kollmeier ist Historikerin und leitet seit 2017 die Akademie, die Programmabteilung für Bildung, Vermittlung und Wissenschaft, der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss. Zuvor forschte sie, unter anderem am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und am Institut national dʼétudes démographiques Paris, zur Geschichte Staatenloser in Westeuropa nach den beiden Weltkriegen. Ihre weiteren Forschungsinteressen und Arbeitsschwerpunkte liegen auf den Historischen Semantiken des 20. Jahrhunderts, auf der Geschichte des Nationalsozialismus sowie der Neuen Museologie und Kulturellen Bildung. E-Mail: [email protected] Professor Dr. Jörn Leonhard ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau. Von 1987 bis 1994 studierte er Geschichte, Politische Wissenschaft und Deutsche Philologie in Heidelberg sowie Oxford und wurde 1998 an der Universität Heidelberg pro­moviert. Von 1998 bis 2003 war er Fellow and Tutor in Modern History an der Universität Oxford. Im Jahr 2004 habilitierte er sich an der Universität Heidelberg. 2004 bis 2006 war er Hochschuldozent für Westeuropäische Geschichte an der Universität Jena. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte in Freiburg berufen. 2007 bis 2012 war Leonhard Direktor der School of History am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS). Seine Forschungs­schwerpunkte liegen auf der vergleichenden Geschichte Europas in globaler Perspektive seit 1750, Empires im „langen“ 19. Jahrhundert sowie der Globalgeschichte der Epoche 1900 bis 1940. E-Mail: [email protected] Dr. Tim B. Müller ist wissenschaftlicher Leiter des Verbands Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg. 2005 bis 2010 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Univer-

Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren

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sität zu Berlin und 2010 bis 2018 am Hamburger Institut für Sozialforschung. Zu seinen wichtigsten Publikationen zählen die Monografien „Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg“ (Hamburg 2010) und „Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien“ (Hamburg 2014), der zusammen mit Adam Tooze herausgegebene Sammelband „Normalität und Fragilität. Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg“ (Hamburg 2015) sowie das gemeinsam mit Hedwig Richter herausgegebene „Geschichte und Gesellschaft“-Themenheft „Demokratiegeschichten“ (3/2018). E-Mail: [email protected] Professor Dr. Marcus M. Payk ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der ­Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr in Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem in der Internationalen Geschichte des 19./20. Jahrhunderts, der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und der Geschichte des Verfassungs- und Völkerrechts. E-Mail: [email protected] Professor Dr.  Stefan Rinke ist Professor für Geschichte Lateinamerikas am Latein­amerika-Institut und am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Univer­ sität Berlin. 2013 wurde er mit einem Einstein Research Fellowship und 2017 mit dem Premio José Antonio Alzate der Mexikanischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet. Sein Buch „Im Sog der Katastrophe: Lateinamerika und der Erste Weltkrieg“ (Frankfurt a. M. 2015) erschien in englischer Übersetzung 2017 bei Cambridge University Press und in spanischer Übersetzung 2019 beim Fondo de Cultura Económica. Gemeinsam mit Michael Wildt gab er 2017 den Band ­„Revolutions and Counter-Revolutions. 1917 and Its Aftermath from a Global Perspective“ (Frankfurt a. M. 2017) heraus. E-Mail: [email protected] Professor Dr. Jan Schmidt ist Associate Professor für Neuere und Neueste ­ eschichte Japans an der Faculty of Arts der Katholieke Universiteit Leuven (KU G Leuven). Zwischen 2007 und 2014 war er Mitglied des Forschungsprojekts „A Trans-Disciplinary Study of the First World War“ des Institute for Research in Humanities an der Kyoto University. 2020 erschein der von ihm zusammen mit mit Katja Schmidtpott herausgegebene Sammelband „The East Asian Dimension of the First World War. Global Entanglements and Japan, China and Korea, 1914– 1919“ (Frankfurt a. M.) sowie 2021 seine Monografie „Nach dem Krieg ist vor dem Krieg. Medialisierte Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und Nachkriegsdiskurse in Japan (1914–1919)“ (Frankfurt a. M.). E-Mail: [email protected] Dr. Florian Wagner ist akademischer Rat auf Zeit an der Universität Erfurt und Autor der Studie „Colonial Internationalism and the Governmentality of Empire, 1893–1982“ (Cambridge 2022). Wagner wurde am Europäischen Hochschulin­ stitut in Florenz zur Neuausrichtung der Kolonialpolitik durch international kooperie­rende Kolonialexperten zwischen 1880 und 1950 promoviert. Er war

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Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren

Postdoktorand an der Universität Hamburg und publizierte zur transnationalen Dimension der Kolonialgeschichte sowie zu afrikanischen Perspektiven auf den europäischen Hochimperialismus. Sein aktuelles Projekt beschäftigt sich mit ­Theorien und Praktiken der Repatriierung von Geflüchteten und Arbeitsmigranten im 20. Jahrhundert. E-Mail: [email protected] Professor Dr. em. Erik Jan Zürcher war von 1997 bis 2020 Professor für Tur­ kologie an der Universiteit Leiden. Nach seiner Promotion an der Universiteit ­Leiden im Jahr 1984 schrieb er zahlreiche Bücher hauptsächlich über die spät­ osmanische und türkisch-republikanische Geschichte. Seine Studie „Turkey. A Modern History“ (London 1998) erschien in zehn Sprachen. 2008 wurde Zürcher zum Mitglied der Königlichen Niederländischen Akademie der Künste und Wissen­schaften gewählt. E-Mail: [email protected]

Personenregister Abbas, Ferhat  179 Acheson, Dean  269 Adeleke, Tunde  182 Adenauer, Konrad  269 Agamben, Giorgio  285 Agboka, Kofi  193 Ahmet İzzet (Pascha/Furgaç)  99 Alexander der Große  298 Allenby, Edmund  10 Ambrosius, Lloyd E.  55 Anderson, Margaret  312 Antonow, Aleksander  78 Appiah, Kwame  174, 188, 202 Arciniegas, Germán  133 Arendt, Hannah  49, 284f. Arminius = Hermann der Cherusker Atatürk, Mustafa Kemal = Mustafa Kemal (Pascha/Atatürk) Austen, Ralph  267 Babel, Isaak  88 Baldwin, Stanley  315 Balfour, Arthur James  11, 211 Balkelis, Tomas  76 Barbusse, Henri  26 Barreto, Lima  127 Barth, Boris  23 Bauer, Gustav  335–337 Becker, Carl L.  320–322, 331 Beer, George Louis  184 Beneš, Jakub  86 Berg, Manfred  19 Bethmann Hollweg, Theobald von  208 Bevin, Ernest  269 Beyrau, Dietrich  80 Bilac, Olavo  132 Bismarck, Otto von  256, 298 Bjork, James E.  298 Blyden, Edward Wilmot  179, 182f., 185 Böhler, Jochen  19 Bonn, Moritz Julius  323 Borah, William E.  56, 62, 66 Bourgeois, Léon  222, 244, 257f., 261 Briand, Aristide  23, 267f.

Brockdorff-Rantzau, Ulrich von 224–226, 259 Brüning, Heinrich  339 Brussilow, Alexei Alexejewitsch  97 Bryan, William Jennings  59 Bryce, James  311, 316–324, 327, 330f., 334, 340 Budjonny, Semjon Michailowitsch  88 Bullitt, William C.  66 Bunge, Augusto  126, 134 Burke, Edmund  57 Bush, George W.  55 Butler, Judith  285 Butler, Nicholas Murray  59 Cabanes, Bruno  274 Cadet, Eliézier  184 Carranzas, Venustiano  129f. Casely Hayford, Joseph Ephraim  191–193 Cecil, Robert  249–251, 262 Cesaire, Aimé  180 Chakrabarty, Dipesh  173 Chamberlain, Austen  267 Chmelnizki, Bogdan  88 Chocano, José Santos  130 Churchill, Winston  93, 338 Clemenceau, Georges  16, 18, 156, 222f., 225, 238, 242, 253, 255–258, 260–264 Cohrs, Patrick  22 Cooper, Frederick  178 Cooper, John Milton  53 Cox, James  70 Croly, Herbert  246 Crowe, Eyre  252 Crummell, Alexander  182f. Cunow, Heinrich  313 D’Annunzio, Gabriele  85 Damad Ferid (Pascha)  99 Damad İsmail Enver (Pascha) 15, 109–111 David, Eduard  335–337 Debs, Eugene  63 Delany, Martin  183

99f.,

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Personenregister

Delbrück, Hans  326 Denikin, Anton  77 Derrick, Jonathan  190 Dewey, John  5, 316 Diagne, Blaise  171, 185–187, 195, 199 Dibobé, Martin  189f. Dickinson, Frederick  140, 143 Diner, Dan  76 Dmowski, Roman  305 Douglass, Frederick  178 Du Bois, W. E. B.  169–172, 175, 177–182, 184–188, 191, 203f. Ebert, Friedrich  98 Edwards, Laura F.  314 Ehemann, Christina  VII Endō Kichisaburō 151 Enver Pascha = Damad İsmail Enver (Pascha) Esedebe, Peter Olisanwuche  174 Fabela, Isidro  129 Fanon, Frantz  197 Feige Otto = Traven, B. Ferid, Mehmed = Damad Ferid (Pascha) Filho, Júlio de Mesquita  132 Finch, George  218 Flores Magón, Enrique  134, 137 Flores Magón, Ricardo  118f., 134 Foch, Ferdinand  214, 222, 256 Frankenstein, Ernst  226 Füllberg-Stolberg, Katja  182 Fürstenberg-Hanecki, Jakub  35, 44 Gabasu, Fritz  198f., 201 Gamio, Manuel  136 Ganzeki, Jakub = Fürstenberg-Hanecki, Jakub Gargas, Sigismund  275 Garvey, Marcus  183f., 186 Gatrell, Peter  94 Gauchet, Marcel  315 Geiss, Immanuel  186 Georges-Picot, François  11 Gerwarth, Robert  78, 92f. Gillin, John Lewis  322f., 331 Gilroy, Paul  177 Goebel, Michael  176–179 Gompers, Samuel  134f. González Prada, Manuel  137 González, Julio V.  133 Gooding-Williams, Robert  178 Graf, Rüdiger  163f. Gurian, Waldemar  49

Hadj, Messali  179 Haffner, Sebastian  35 Hanecki = Fürstenberg-Hanecki, Jakub Hanzawa Gyokujō 149f. Hara Takashi  161f., 166 Harbord, James  107f., 112 Harding, Warren G.  54, 62, 70 Harrington, Austin  325 Hartung, Fritz  323 Haya de la Torre, Víctor Raúl  133 Hayford, Joseph Ephraim Casely = Casely Hayford, Joseph Ephraim Helphand, Alexander  35f. Hermann der Cherusker  297 Hermens, Ferdinand Aloys  323, 339 Herzog, Benjamin  163f. Higuchi Reiyō 151 Hindenburg, Paul von  16, 213 Hintze, Otto  323 Hồ Chí Minh = Nguyễn Tất Thành Hobbes, Thomas  105 Hobsbawm, Eric  282, 294 Holeček, Josef  83 Holquist, Peter  87 Hoover, Herbert  81 Horne, John  161 Horthy, Miklós  308 Houénou, Kojo Tovalou  196 House, Colonel = House, Edward House, Edward  63, 203, 242 Huang Zunxian  166 Hughes, Charles Evans  328 Humann, Hans  109 Hüseyin Rauf (Bey/Orbay)  108 Ingenieros, José  119, 127, 129f. Inukai Tsuyoshi  161 Ishibashi Tanzan  145 Ivens, Elena  136 İzzet, Ahmet = Ahmet İzzet (Pascha/Furgaç) James, C. L. R.  180 Jefferson, Thomas  69 Johnson, Albert  302 Julius Caesar  312 Kalikilima, Ali  198 Kalyvas, Stathis  91 Károlyi, Mihály  98 Katō Kōmei = Katō Takaaki Katō Takaaki  145f. Kawada Minoru  161 Kellogg, Frank B.  23, 268, 338

Personenregister Kelsen, Hans  273, 277 Kennan, George F.  269 Kenyatta, Jomo  180 Kerenski, Alexander F.  7, 42f., 98 Kerr, Philipp  253, 263 Ketteler, Clemens von  3 Keynes, John Maynard  235, 331 Killingray, David  195 King, Charles B. D.  187 Kinkelin, Emilio  121 Kirchheimer, Otto  323 Kita Ikki  160f. Kitchin, Claude  62 Klinger, Monika  VII Koenen, Gerd  18, 76 Kohlhaas, Michael  225 Kollmeier, Kathrin  23 Konoe Atsumaro  157 Konoe Fumimaro  139–141, 147, 155, 157f., 160, 165, 167 Koselleck, Reinhart  140, 142, 287, 332 Koyama Kenzō 151f. Kraus, Herbert  336 Kun, Béla  83 Kunz, Josef L.  277 Kurachi Tetsukichi  153 LaFollette, Robert  62 Lansing, Robert  66, 225 Laski, Harold  339 Leibholz, Gerhard  323 Lenin, Wladimir Iljitsch  6–8, 10, 12, 18, 31– 40, 43–50, 119, 173, 175, 196, 237, 239 Leonhard, Jörn  303, 324 Lettow-Vorbeck, Paul von  198 Levene, Mark  89 Li Dazhao  145 Liang Qichao  166 Lippmann, Walter  184f., 246 Llanque, Marcus  312f. Lloyd George, David  16, 156, 238, 241, 249, 251–254, 256f., 260–264, 266 Lobato, Monteiro  128 Lodge, Henry Cabot  19, 52–54, 59, 62, 65f., 68, 70f., 245 Löwenstein, Karl  323 Lugard, Frederick  199 Lunn, Joe  195 Luther, Martin  298 Machno, Nestor  78 MacMillan, Margaret  92 Manela, Erez  102, 142, 175–177

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Manga Bell, Alexander  189 Manga Bell, Rudolph  189f. Mann, Gregory  197 Mann, Michael  307 Mann, Thomas  15, 327 Mannerheim, Carl Gustav Emil  16 Mao Zedong  5, 145 Mariátegui, José Carlos  133 Maruyama Masao  159 Marx, Karl  12, 34, 110, 179f. Masaryk, Tomáš Garrigue  8 Max von Baden  292 Mbembe, Achille  198 McDonald, James G.  129 Meiji  149f., 161 Mendelssohn Bartholdy, Albrecht  323 Meyer, Gustav  36 Michel, Marc  195 Miller, David Hunter  223 Mirkine-Guetzévitch, Boris  274, 280 Mizuno Hironori  150f. Moeller van den Bruck, Arthur  229 Monnet, Jean  269 Monroe, James  69, 129f., 156, 248 Montes, Ismael  128 Moor, Carl  36 Morones, Luis  134 Mudimbe, Valentin  185 Müller, Tim B.  24 Mussolini, Benito  14, 49 Mustafa Kemal (Pascha/Atatürk)  14, 16, 101, 103–108, 110–112, 228 Nabokov, Vladimir  278 Naimark, Norman  91 Nakahashi Tokugorō 152f. Nakanishi Hiroshi  140 Nansen, Fridtjof  23, 275–278, 281, 283 Napoleon Bonaparte  151 Naraoka Sōchi  146, 149 Newman, John Paul  84, 86 Nguyễn Tất Thành  11 Ninkovich, Frank  58 Nolte, Paul  315 Norris, George  62 Ōkuma Shigenobu  150 Olympio, Sylvanus  194 Ono Yasuteru  145 Oppenheim, Lassa  273 Orlando, Vittorio  156 Orlowski, P.  44 Ōshima Ken’ichi  153f.

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Personenregister

Padmore, George  175, 179f. Page, Melvin E.  201 Paku, Koffi  193 Palacios, Alfredo  132 Paquet, Alfons  36 Parvus = Helphand, Alexander Parvus-Helphand, Alexander = Helphand, Alexander Payk, Marcus M.  22 Pedersen, Susan  176f. Pesek, Michael  201 Pessoa, Epitácio  127 Pétain, Philippe  16 Phillimore, Walter  251 Piłsudski, Józef  16, 305 Poincaré, Raymond  211, 223, 256 Ponce, Aníbal  131–134 Preuß, Hugo  313, 325 Pugh, Martin  315 Radek, Karl  44, 109 Ranger, Terence  178 Rankin, Jeannette  62 Rathenau, Walther  46, 329 Ratzel, Friedrich  181 Rauchberg, Heinrich  280 Rauf Bey, Hüseyin = Hüseyin Rauf (Bey/ Orbay) Recabarren, Luis Emilio  137 Reed, David  302 Renner, Karl  98 Retterath, Jörn  VII Rimner, Steffen  166 Rinke, Stefan  20 Roca, Deodoro  133 Rodríguez, Mejía  132 Rojas, Ricardo  125, 132 Römer, Michał  81 Roosevelt, Franklin D.  46, 48, 50, 72 Roosevelt, Teddy = Roosevelt, Theodore Roosevelt, Theodore   53, 59, 62, 65, 245, 248 Root, Elihu  41f., 59 Rosanvallon, Pierre  315 Roth, Joseph  283 Rundstein, Simon  279 Saionji Kinmochi  139 Salazar, António de Oliveira  291 Sanguinetti, Florentino  134 Sarraut, Albert  199 Savage, Richard Akinwande  191 Scheidemann, Philipp  15, 36, 259 Schklowski, Wiktor  42

Schmidt, Jan  21 Schmitt, Carl  229, 323 Schücking, Walter  225f. Schuman, Robert  269 Schumpeter, Joseph  339 Scott, James Brown  216 Seckler-Hudson, Catheryn  275, 280 Seeckt, Hans von  109 Senghor, Léopold  179f. Sheehan, James  282 Simons, Walter  226 Sisson, Edgar  45, 47 Skanderbeg 298 Sklarz, Georg  35 Smele, Jonathan  80 Smith, Tony  54–57 Smuts, Jan Christiaan  207, 250f. Spengler, Oswald  151, 328 Spivak, Gayatri Chakravorty  285 Stalin, Josef  32, 37, 300 Stinnes, Hugo  109 Stoecker, Adolf  295 Strachan, Hew  170, 196 Stresemann, Gustav  39, 267, 300 Sun Yat-sen = Sun, Zhongshan Sun, Zhongshan  3 Suttner, Bertha von  136 Sykes, Mark  11 Syngman Rhee  12 Taft, William H.  59, 65 Taishō  146, 150, 159, 161 Takeuchi Yoshimi  157 Talât (Bey/Pascha), Mehmed  99 Tardieu, André  255–258, 263f. Tevfik (Pascha), Ahmet  99 Ther, Philipp  303 Thoma, Richard  323 Thyssen, Fritz  VII Tocqueville, Alexis de  7, 318f., 331 Tōjō Hideki  139 Tokonami Takej  154 Tönnies, Ferdinand  323 Traven, B.  283 Traverso, Enzo  282 Troeltsch, Ernst  6, 16f., 316, 323–336, 338, 340 Trotzki, Leo  44, 119, 237, 239 Truman, Harry S.  46 Ugarte, Manuel  130f. Ukita Kazutami  146

Personenregister Valle Iberlucea, Enrique del  118, 135 Varga, Eugen  49 Venizelos, Eleftherios  307f. Wagner, Florian  21 Washington, Booker T.  175, 178, 188 Washington, George  69 Weber, Torsten  157 Weitz, Eric D.  87 Wilhelm II.  3, 125, 292 Wilson, Woodrow  4–8, 10, 14, 16, 18–21, 31, 41f., 44–47, 50–73, 102, 106f., 113f., 126– 130, 137, 140f., 155f., 169f., 173, 175–178, 184f., 189, 203, 210, 212, 220, 223–225, 227, 234–236, 238f., 241–249, 251f., 254, 256f., 259–264, 269, 293, 300 Wissmann, Hermann von  197

Xu, Guoqi  142 Yamamuro Shin’ichi  144 Yoshino Sakuzō  146, 159 Yrigoyen, Hipólito  120, 125 Zapata, Emiliano  119 Zimme­­­rman, Andrew  188 Zimmermann, Arthur  61 Zorn, Philipp  227 Zürcher, Erik-Jan  20

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Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien, Band 111 2023. XI, 210 S., 15 Abb. ISBN 978-3-11-099216-8

Regentinnen und andere Stellvertreterfiguren Vom 10. bis zum 15. Jahrhundert Herausgegeben von Gabriela Signori und Claudia Zey Die mittelalterliche Welt kennt eine bemerkenswerte Vielzahl von Rechtsfiguren, durch die Frauen standesunabhängig, formalisiert oder qua Gewohnheit, Ehemänner oder Söhne vertreten konnten. Regentschaft ist in dieser Vielfalt eine besonders wichtige Spielart stellvertretender Herrschaftsausübung, da sie den meist krisenanfälligen Herrschaftsübergang markiert. Es lohnt sich daher, im europäischen Vergleich und im historischen Wandel nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in Theorie und Praxis zu suchen. Gefragt wird nach Handlungsspielräumen, nach Institutionen und nach Personen, die für eine solche Stellvertretung als geeignet erachtet wurden. Besonderes Augenmerk gilt dabei den Grenzregionen an der Peripherie Europas mit ihren unterschiedlichen rechtlichen und sozialen Voraussetzungen. In diesem Sammelband werden daher neben Beispielen aus dem römisch-deutschen Reich weibliche Regentschaften in den Königreichen Sizilien, Aragón und Jerusalem sowie dem Herzogtum Schlesien und dem Großfürstentum Moskau in den Blick genommen.

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Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien, Band 110 2023. X, 305 S., 72 Abb. ISBN 978-3-11-099456-8

Lost Cities Vom Leben mit verlassenen Städten in den Kulturen der Welt Herausgegeben von Martin Zimmermann Angesichts einer fortschreitenden Urbanisierung und der ungeheuren Erfolgs­ geschichte der Siedlungsform „Stadt" wird selten die paradoxe Kehrseite dieser Geschichte in den Blick genommen. Seit 5000 Jahren steht der Entstehung von Städten ihr Untergang gegenüber. Verlassene Städte sind ein geradezu allgegenwärtiges Phänomen aller Zeiten und Regionen. Die in den Band versammelten Aufsätze unterschiedlicher Disziplinen beschreiben, wie von der Antike bis in die aktuelle Zeitgeschichte Stadtruinen wahrgenommen wurden. Ihre Interpretation, Instrumentalisierung und symbolische wie inhaltliche Aufladung verrät sehr viel über die Kulturen, in denen diese Prozesse zu beobachten sind. In einem faszinierenden Spektrum, das vom antiken Nahen Osten, Kleinasien und Italien über das präkolumbianische Nordamerika und Europa des 19. Jahrhunderts bis in den heutigen Oman, Palästina, die Mongolei, die USA oder nach Osteuropa reicht, wird die vielfältige Deutung von Ruinen und ihre Rolle in politischen, kulturellen und sozialen Verständigungen und Kontroversen thematisiert. Verlassene Städte erweisen sich auf diese Weise als ein zentrales und äußerst fruchtbares Thema der Kultur-, Kunst- und politischen Geschichte.

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Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien, Band 108 2022. XI, 219 S., 4 Abb. ISBN 978-3-11-074268-8

Narrative und Darstellungsweisen der Globalgeschichte Herausgegeben von Gabriele Lingelbach Während sich Globalhistorikerinnen und -historiker bereits intensiv damit aus­ einandergesetzt haben, welche Themen und Fragestellungen in ihrem Ansatz ­behandelt werden sowie welche Theorien und Methoden Anwendung finden ­sollten, gibt es bislang nur wenige Überlegungen zu Darstellungsformen und Er­ zählweisen von globalgeschichtlichen Texten. Diese Lücke möchte der vorliegende Band schließen: Zum einen fragt er danach, welche Meister- und Metaerzählungen existieren und welche Kritik an diesen geübt wurde. Zum anderen werden unterschiedliche Darstellungsweisen vorgestellt, mit denen sich die Geschichte des Kolonialis­ mus, der Migrationen sowie des globalen Waren- und Wissensaustauschs erzählen lassen. Darüber hinaus werden exemplarisch einige häufig in ­globalgeschichtlichen Darstellungen zu findende Begriffe und Visualisierungen analysiert. Im Mittelpunkt des Bandes steht die Frage, welchen spezifischen ­narrativen Herausforderungen sich Globalhistorikerinnen und -historiker stellen müssen.

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Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien, Band 107 2021. VIII, 354 S., 150 Abb. ISBN 978-3-11-073479-9

Körper-Bilder in der Frühen Neuzeit Kunst-, medizin- und mediengeschichtliche Perspektiven Herausgegeben von Michael Stolberg Zahlreiche Abbildungen von gesunden und kranken, von wohlgestalteten und missgebildeten menschlichen Körpern sind aus der Frühen Neuzeit überliefert. Kunst-, medizin- und kulturgeschichtliche Perspektiven in einem dezidiert interdisziplinär angelegten Unterfangen verknüpfend, bietet dieses Buch faszinierende Einblicke in zeitgenössische Formen und Strategien der Visualisierung des Körpers im zeitlichen Wandel. Das Themenspektrum, das die Autorinnen und Autoren in ihren Beiträgen abhandeln, ist breit. Es reicht von anatomischen Tafeln und dem Vergleich von westlichen und chinesischen anatomischen Illustrationen über medizinische und künstlerische Darstellungen von Pest und Syphilis bis hin zu Bildern von Kastraten, Hinkenden, Buckligen, „siamesischen Zwillingen“ und anderen abnormen Körpern. Zahlreiche farbige Abbildungen – von denen etliche hier erstmals veröffentlicht werden – lassen die Lektüre zugleich zu einem eindrucksvollen visuellen Erlebnis werden.

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Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien, Band 106 2021. XII, 255 S., 15 Abb. ISBN 978-3-11-073076-0

Gute Erinnerungen an schlechte Zeiten? Wie nach 1945 und nach 1989 rückblickend über ­glückliche Momente in Diktaturen gesprochen wurde Herausgegeben von Monica Rüthers Dem Wissen um den amoralischen Charakter der nationalsozialistischen und kommunistischen Herrschaft stand nach 1945/1989 das Bedürfnis der Menschen gegenüber, sich auch an die schönen Momente im eigenen Leben während der Diktatur zu erinnern. Daraus ergab sich ein moralisches Dilemma: Wie konnte die problematische Vergangenheit in die eigene Lebenserzählung integriert werden? Möglich war das vor allem in „Erzählgemeinschaften“ der Zeitzeugen, aber auch in nonverbalen Formen des Erinnerns – etwa durch das Einrichten privater Museen und Sammlungen obsolet gewordener Alltagsgegenstände, entlang derer sich wiederum Narrative herausbildeten. Der Band geht der Frage nach den wechselnden Rahmenbedingungen des positiven Erzählens über Diktaturen des 20. Jahrhunderts nach. Hierbei werden West- und Ostdeutschland, die ehemalige Sowjetunion und die Tschechoslowakei in den Blick genommen.

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Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien, Band 105 2021. VIII, 275 S., 3 Abb. ISBN 978-3-11-070964-3

Der Siebenjährige Krieg 1756–1763 Mikro- und Makroperspektiven Herausgegeben von Marian Füssel Der Siebenjährige Krieg (1756–1763) war ein globaler Konflikt mit Schauplätzen in Europa, Afrika, Amerika und Südasien. Ein Szenario, das nicht nur die Frage nach Formen globaler Verflechtungen aufwirft, sondern zu einer grundsätzlichen Reflexion über das Verhältnis von Mikro- und Makrogeschichten frühmoderner Kriege Anlass bietet. Wie verhielten sich Gewalt und Leid vor Ort zu den geopolitischen Strategien der europäischen Monarchien? Ausgewiesene, internationale Expertinnen und Experten widmen sich dem großen Krieg aus der Nähe aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit neuen Forschungsansätzen. Die Beiträge des Bandes handeln u.a. von diplomatischem Kalkül und weltweiten Kommunikationsnetzwerken, von der Praxis militärischer Gewalt in Belagerungen, von der Finanzierung und Zählung von Streitkräften oder den Erfahrungen von Okkupationen vor Ort. Besondere Aufmerksamkeit gilt der bislang weniger gewürdigten Verwicklung des spanischen Imperiums in den Konflikt.

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Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien, Band 104 2020. XVI, 430 S. ISBN 978-3-11-067954-0

Emotionen und internationale Beziehungen im Kalten Krieg Herausgegeben von Hélène Miard-Delacroix und Andreas Wirsching Die Erforschung von Emotionen, „emotional regimes“ und „emotional communities“ hat in den vergangenen Jahren große Aufmerksamkeit erfahren. Zugrunde liegt unter anderem die Einsicht, dass Rationalität und Gefühlswelt keine starren Gegensätze sind, wie es eine ältere Auffassung lange Zeit glaubte. Vielmehr fließen Emotionen regelmäßig in die Konstruktion von Bildern des anderen, Wahrnehmungen und Interpretationsmustern ein und stehen in einem komplexen Zusammenhang mit „rational“ vermittelten Handlungen. Dies gilt in besonderem Maße für die Geschichte der internationalen Beziehungen, die dieser Band erstmals systematisch unter einer emotionsgeschichtlichen Perspektive in den Blick nimmt. Mit ihr untersuchen renommierte Historikerinnen und Historiker zentrale Phasen und Schauplätze des Kalten Krieges. Damit eröffnet der Band einen wichtigen Dialog zwischen unterschiedlichen methodischen Traditionen der Geschichtswissenschaft.

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Band 111 Regentinnen und andere Stellvertreterfiguren. Vom 10. bis zum 15. Jahrhundert Herausgegeben von Gabriela Signori und Claudia Zey 2023. XI, 210 S. ISBN 978-3-11-099216-8 Band 110 Lost Cities. Vom Leben mit verlassenen Städten in den Kulturen der Welt Herausgegeben von Martin Zimmermann 2023. X, 305 S. ISBN 978-3-11-099456-8 Band 108 Narrative und Darstellungsweisen der Globalgeschichte Herausgegeben von Gabriele Lingelbach 2022. XI, 219 S. ISBN 978-3-11-074268-8 Band 107 Körper-Bilder in der Frühen Neuzeit. Kunst-, medizin- und mediengeschichtliche Perspektiven Herausgegeben von Michael Stolberg 2021. VIII, 354 S.  ISBN 978-3-11-073479-9

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Band 106 Gute Erinnerungen an schlechte Zeiten? Wie nach 1945 und nach 1989 rück­ blickend über glückliche Momente in Diktaturen gesprochen wurde Herausgegeben von Monica Rüthers 2021. XII, 255 S.  ISBN 978-3-11-073076-0 Band 105 Der Siebenjährige Krieg 1756–1763. Mikro- und Makroperspektiven Herausgegeben von Marian Füssel 2021. VIII, 275 S.  ISBN 978-3-11-070964-3 Band 104 Emotionen und internationale Beziehungen im Kalten Krieg Herausgegeben von Hélène Miard-Delacroix und Andreas Wirsching 2020. XVI, 430 S.  ISBN 978-3-11-067954-0 Band 103 Identities and Representations in Georgia from the 19th Century to the Present Herausgegeben von Hubertus Jahn 2021. XII, 194 S.  ISBN 978-3-11-065927-6 Band 102 Theoderich der Große und das gotische Königreich in Italien Herausgegeben von Hans-Ulrich Wiemer 2020. XI, 460 S.  ISBN 978-3-11-065820-0 Band 101 Gerechtigkeit und gerechte Herrschaft vom 15. bis zum 17. Jahrhundert. Beiträge zur historischen Gerechtigkeitsforschung Herausgegeben von Stefan Plaggenborg 2020. XII, 287 S.  ISBN 978-3-11-065078-5

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Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien

Band 100 Große Erwartungen – 1919 und die Neuordnung der Welt Herausgegeben von Jörn Leonhard 2023. XII, 349 S. ISBN 978-3-11-062429-8 Band 99 Kulturen des Risikos im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit Herausgegeben von Benjamin Scheller 2019. IX, 278 S.  ISBN 978-3-11-061891-4 Band 98 Medizin und öffentliche Gesundheit. Konzepte, Akteure, Perspektiven Herausgegeben von Heinz-Peter Schmiedebach 2018. X, 245 S.  ISBN 978-3-11-055980-4 Band 97 Hochkultur für das Volk? Literatur, Kunst und Musik in der Sowjetunion aus kulturgeschichtlicher Perspektive Herausgegeben von Igor Narskij 2018. XX, 315 S.  ISBN 978-3-11-055649-0 Band 96 Transatlantic Democracy in the Twentieth Century. Transfer and Transformation Herausgegeben von Paul Nolte 2016. XII, 191 S.  ISBN 978-3-11-048970-5 Band 95 Der Verlust der Eindeutigkeit. Zur Krise päpstlicher Autorität im Kampf um die Cathedra Petri Herausgegeben von Harald Müller 2017. X, 244 S.  ISBN 978-3-11-046154-1

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Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien

Band 94 Monarchische Herrschaft im Altertum Herausgegeben von Stefan Rebenich unter Mitarbeit von Johannes Wienand 2017. XIII, 678 S.  ISBN 978-3-11-046145-9 Band 93 Entgrenzungen des Wahnsinns. Psychopathie und Psychopathologisierungen um 1900 Herausgegeben von Heinz-Peter Schmiedebach 2016. IX, 306 S.  ISBN 978-3-11-041269-7 Band 92 Der Reformator Martin Luther 2017. Eine wissenschaftliche und gedenkpolitische Bestandsaufnahme Herausgegeben von Heinz Schilling unter Mitarbeit von Anne Mittelhammer 2014. XVII, 309 S.  ISBN 978-3-11-037447-6 Band 91 The Purpose of the First World War. War Aims and Military Strategies Herausgegeben von Holger Afflerbach 2015. X, 258 S.  ISBN 978-3-11-034622-0 Band 90 „Wahre“ und „falsche“ Heiligkeit. Mystik, Macht und Geschlechterrollen im Katholizismus des 19. Jahrhunderts Herausgegeben von Hubert Wolf 2013. X, 265 S.  ISBN 978-3-486-71611-5 Band 89 Kollektive Gewalt in der Stadt. Europa 1890–1939 Herausgegeben von Friedrich Lenger 2013. XVII, 204 S.  ISBN 978-3-486-71858-4