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German Pages [393] Year 2020
Christoph Cornelißen / Dirk van Laak (Hg.)
Weimar und die Welt Globale Verflechtungen der ersten deutschen Republik
SCHRIFTENREIHE DER STIFTUNG REICHSPRÄSIDENT-FRIEDRICH-EBERT-GEDENKSTÄTTE
Schriften der Stiftung ReichspräsidentFriedrich-EbertGedenkstätte Band 17
Christoph Cornelißen/Dirk van Laak (Hg.)
Weimar und die Welt Globale Verflechtungen der ersten deutschen Republik
Vandenhoeck & Ruprecht
Die Stiftung wird gefördert aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM).
Mit 8 Abbildungen und 2 Tabellen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-35695-7
Inhalt
Christoph Cornelißen /Dirk van Laak Einleitung: Die (Ent-)Provinzialisierung Weimars ..............................................9 Gabriele Lingelbach Globalgeschichtliche Perspektiven auf die Weimarer Republik Globalisierungs- und Deglobalisierungstendenzen in der Zwischenkriegszeit ..........................................................................................................23
Postkoloniale Orientierungen Jürgen Dinkel »Mecca of Oriental patriots« Antikolonialismus in Deutschland 1900 bis 1960 ............................................53 Birthe Kundrus Nach Versailles Postkoloniale Phantasien und neokoloniale Realitäten ...................................89 Christian Koller Senegalschützen und Fremdenlegionäre Französische Kolonialtruppen als Projektionsflächen des Weimarer Blicks nach Afrika ......................................................................................107
Richtungen der Orientierung Andy Hahnemann Suggestive Kartographie für die Massen Populäre Literatur und Geopolitik in der Zwischenkriegszeit .......................133
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Inhalt
Heidi Hein-Kircher Der gefährdete »Volkskörper« Die »um ihr Dasein kämpfenden Grenz- und Auslandsdeutschen« in Lexika der Weimarer Zeit .............................................................................................159 Sabine Mangold-Will Vorbild Türkei – dunkles Licht aus dem »Orient« Zu einer transnationalen Geschichte der Weimarer Republik auf dem Weg in den Abgrund ...................................................................................181
Neue Medien, neue Inhalte Lu Seegers Das Radio in der Welt Fernempfang und Programm in der Weimarer Republik ...............................197 Wolfgang Struck Globus-Kino Claire Golls Traum vom Kinematographen ..........................................................211 Martin Rempe Verflochtene Provinzialisierung Jazz und Neue Musik ....................................................................................................227 Erhard Schütz Weltbummler ohne Kolumbus-Trieb Kosmopolitismus, Antikolonialismus und Zivilisationskritik bei Arnold Höllriegel und Richard Katz ........................................................................249
Verflechtungsarbeit Isabella Löhr Deutschland im Völkerbund ......................................................................................275 Ingrid Sharp Die internationale Frauenbewegung und die Weimarer Republik – neue Handlungsspielräume? ......................................................................................313
Inhalt
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Maren Möhring Die »Welt in einem Haus« Der Berliner Unterhaltungs- und Gastronomiekomplex »Haus Vaterland« in der Weimarer Republik ......................................................327 Jan-Otmar Hesse Die globale Verflechtung der Weimarer Wirtschaft De-Globalisierung oder Formwandel? ...................................................................347
Anhang Verzeichnis der Abkürzungen .....................................................................................378 Personenverzeichnis Weimar und die Welt ..........................................................380 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren .............................................................387
Christoph Cornelißen/Dirk van Laak
Einleitung: Die (Ent-)Provinzialisierung Weimars Im Jahr 2004 vermittelte der von Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel herausgegebene Sammelband »Das Kaiserreich transnational« wichtige Anstöße zur globalen Verortung der deutschen Geschichte.1 Er stand damals noch relativ am Beginn einer globalgeschichtlichen Horizonterweiterung, die aber mittlerweile erfreulich etabliert zu sein scheint. Seit den späteren 1990er Jahren leisten zahlreiche Studien zur Globalisierung und Globalgeschichte entscheidende Impulse, um die deutsche Geschichte stärker in eine transnationale Perspektive zu stellen. Dabei richtete sich ein besonderer Fokus auf die Geschichte des 1871 gegründeten Deutschen Kaiserreiches, einer Zeit geradezu stürmischer Globalisierung.2 Die Geschichte der Weimarer Republik ist von diesem Forschungszweig und den Fragen nach globaler Verortung oder Vernetzung aber bislang in auffälliger Weise ausgespart worden. Auch viele Darstellungen zu späteren Phasen der deutschen Geschichte beleuchten zwar transnationale Perspektiven, überspringen dabei aber oft die Vorstufen aus den Weimarer Jahren.3 So führten auch in den vor einigen Jahren geführten Debatten um eine Kontinuität des deutschen Vernichtungswillens die Wege vom kaiserzeitlichen Antisemitismus
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Sebastian Conrad/Jürgen Osterhammel (Hrsg.): Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871–1914, Göttingen 2004; siehe auch Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006; Cornelius Torp: Die Herausforderung der Globalisierung. Wirtschaft und Politik in Deutschland 1860–1914, Göttingen 2005; Sven Oliver Müller/Cornelius Torp (Hrsg.): Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009. Siehe unter anderem Birthe Kundrus (Hrsg.): Phantasiereiche: Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt a. M. u. a. 2003; Sönke Kunkel/Christoph Meyer (Hrsg.): Aufbruch ins postkoloniale Zeitalter. Globalisierung und die außereuropäische Welt in den 1920er und 1930er Jahren, Bielefeld 2012; Florian Krobb/Elaine Martin (Hrsg.): Weimar Colonialism. Discourses and Legacies of Post-Imperialism in Germany after 1918, Bielefeld 2014; Britta Schilling: Postcolonial Germany. Memories of Empire in a Decolonized Nation, Oxford 2014. Vgl. Eckart Conze (Hrsg.): Herausforderung des Globalen in der Ära Adenauer, Bonn 2010.
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in Berlin direkt nach Buchenwald bzw. vom ersten deutschen Völkermord in der Nähe von Windhuk auf direktem Weg nach Auschwitz. 4 Trotz der vielen transnationalen und transkulturellen Trends, welche die Zwischenkriegsjahre ansonsten konstatierten, ist die Verflechtung der Weimarer Republik mit der übrigen Welt bislang seltsam unterbelichtet geblieben.5 Das ist zum Teil erklärlich. Denn das politisch, territorial und militärisch gestutzte Deutsche Reich war nach 1918/19 kaum mehr in der Lage, weiterhin eine »Weltpolitik« zu betreiben. Daher fallen die vierzehn Jahre der Republik, die zwischen dem imperialistischen Kaiserreich und dem expansionistischen »Dritten Reich« liegen, in der Tat etwas aus der Reihe. Dennoch ist die bis heute vorherrschende These der Globalgeschichtsschreibung, es bei der Zwischenkriegszeit mit einer Zeitspanne der »Deglobalisierung« zu tun zu haben, auch in Bezug auf die Weimarer Republik missverständlich, wenn nicht sogar irreführend.6
Globalisierung und Deglobalisierung Die These einer durchdringenden De-Globalisierung färbte von der Wirtschaftsgeschichte auf andere Untersuchungsfelder ab. In dieser Sichtweise erscheinen der Regionalismus der Weltwirtschaft in den Zwischenkriegsjahren – und hier vor allem die zugespitzten Formen des Strebens nach einer Autarkie – als Versuche, sich aus der bisweilen bedrohlichen Verflochtenheit von Weltwirtschaft und -politik herauswinden zu wollen. Mit der Großen Depression schien sich diese Befürchtung dann einmal mehr zu bewahrheiten (siehe den Beitrag von Jan-Otmar Hesse).7
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Jürgen Zimmerer: Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust, Münster 2007. Madeleine Herren-Oesch: Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung, Darmstadt 2009; Glenda Sluga/Patricia Clavin (Hrsg.): Internationalisms: A Twentieth-Century History, Cambridge 2017; Nicholas Doumanis (Hrsg.): The Oxford Handbook of European History 1914–1945, Oxford 2016 (enthält einen Teil zu »Interwar Europe and the Wider World« mit drei Kapiteln); vgl. aber auch Kapitel 3 in: Dirk van Laak: Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005. Jürgen Osterhammel/Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2003, S. 26. Jan-Otmar Hesse/Roman Köster/Werner Plumpe: Die Große Depression. Die Weltwirtschaftskrise 1929–1932, Frankfurt a. M. 2014.
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In grundsätzlicher Hinsicht kann man dagegen zunächst ins Feld führen, dass auch De-Globalisierungsprozesse ihrerseits oft globale Ursachen aufweisen. Deren Wirkungsmechanismen sind für die Weimarer Jahre empirisch aber selten genauer untersucht worden. In vielen Fällen handelte es sich eher um eine »Ent-Europäisierung« der Strukturen als um eine Deglobalisierung, indem sich wirtschaftliche Prozesse eben verstärkt in den außereuropäischen Raum verschoben.8 Deutsche Unternehmen sind in verschiedenen Branchen aber auch nach 1918/19 international durchaus aktiv und erfolgreich gewesen. Auffallend ist zudem, dass grenzübergreifende Migrationen nach einem Rückgang direkt im Anschluss an den Ersten Weltkrieg wieder rasch an die Muster der Jahre vor 1914 anknüpften.9 Von einem Abbruch in den internationalen Wirtschafts- und Wissenschaftsbeziehungen kann jedenfalls keine Rede sein (siehe den Beitrag von Gabriele Lingelbach). Schon auf die Zeitgenossen wirkte jedoch vor allem die nach dem Ersten Weltkrieg erzwungene »Dekolonisation« des Deutschen Reiches auf der Grundlage der Pariser Friedensverträge wie eine »Provinzialisierung« – freilich im negativen Verständnis des Wortes, nicht in dem relationalen Sinn, den Dipesh Chakrabarty ihm später gegeben hat.10 Gegen diesen Befund richtete sich in der Zwischenkriegszeit vor allem in bürgerlichen Kreisen und auf der politischen Rechten ein lautstarker Kolonialrevisionismus. Der vermochte an den machtpolitischen Realitäten zwar nichts zu verändern. Immerhin hielt er aber indirekt ein Bewusstsein für die globalen Bezüge Deutschlands aufrecht. Die koloniale Revisionspropaganda erfasste vorübergehend vielleicht sogar mehr Deutsche, als vor 1914 für eine aktive Kolonialpolitik eingetreten waren. Denn mehr noch als im Fall der sogenannten »Kriegsschuld« Deutschlands 8 Christof Dejung: Deglobalisierung? Oder Enteuropäisierung des Globalen? Überlegungen zur Entwicklung der Weltwirtschaft in der Zwischenkriegszeit, in: Kunkel/ Meyer (Hrsg.): Aufbruch ins postkoloniale Zeitalter, (wie Anm.2) S. 37–61; Ders.: Die Fäden des globalen Marktes. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des Welthandels am Beispiel der Handelsfirma Gebrüder Volkart 1851–1999, Köln 2013; vgl. differenziert abwägend auch Peter E. Fäßler: Globalisierung. Ein historisches Kompendium, Köln u. a. 2011, sowie Boris Barth: Europa nach dem Großen Krieg. Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit 1918–1938, Frankfurt a. M./New York 2016, S. 108–113; siehe auch Fritz Georg von Graevenitz: Argument Europa. Internationalismus in der globalen Agrarkrise der Zwischenkriegszeit (1927–1937), Frankfurt a. M. 2017. 9 Eine größere Studie Lingelbachs zur deutschen Geschichte im globalen Kontext ist in Arbeit. 10 Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton N. J. 2000; eine frühe Studie dazu ist Woodruff D. Smith: The German Colonia Empire, Chapel Hill 1978.
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war allzu offensichtlich, dass der Vorgang einer »Abstrafung« des deutschen Expansionismus’ der wilhelminischen Epoche diente.11 Auch die neuen Konstellationen in der Außenpolitik, die das Deutsche Reich ab 1919 ähnlich wie die Sowjetunion eher isolierte, lenkten den Blick schon der Zeitgenossen in eine Richtung scheinbar schwindender internationaler Bedeutung. In der Konsequenz sind tatsächlich nur ganz wenige Staatsgäste offiziell in das außenpolitisch weitgehend isolierte Deutsche Reich gekommen, so der österreichische Bundeskanzler Ignaz Seipel im Jahr 1922, der US-amerikanische Außenminister Charles E. Hughes zwei Jahre später. 1927 wurde der afghanische König Aman Ullah in Berlin empfangen, 1929 dann der ägyptische König Ahmad Fuad I.12 Es ist sicher bezeichnend, dass Präsident Friedrich Ebert während seiner gesamten Amtszeit keine einzige Auslandsreise in offizieller Mission unternahm.13 In der beschriebenen Lage betrieb das Deutsche Reich eine eher unentschieden zwischen den Mächten des Westens und des Ostens hin und her schwankende Außenpolitik. Peter Krüger hat dargelegt, dass sie auf komplizierte Weise eingebunden blieb in die Außenwirtschafts- und Reparationspolitik der Republik.14 Sie musste in alle Richtungen hin Angebote unterbreiten, um Verständigung für die Situation in Deutschland werben. Dazu hatte sie mit häufig wechselndem Führungspersonal und zudem mit der Tatsache zu operieren, dass viele Deutsche sich nach wie vor »großmächtiger« fühlten, als die Bestimmungen des Versailler Vertrags und die ökonomischen Daten dies hergaben.15
11 Eckart Conze: Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt, Berlin 2018; Marcia Klotz: The Weimar Republic. A Postcolonial State in a Still-Colonial World, in: Eric Ames/Marcia Klotz/Lora Wildenthal (Hrsg.): Germany’s Colonial Pasts, Lincoln/ London 2005, S. 135–147; Florian Krobb/Elaine Martin (Hrsg.): Weimar Colonialism. Discourses and Legacies of Post-Imperialism in Germany after 1918, Bielefeld 2014. 12 Michael Meyer: Symbolarme Politik? Das politische Zeremoniell der Weimarer Republik in den Staatsbesuchen zwischen 1920 und 1933, Frankfurt a. M. u. a. 2014; Frank Uwe Mäuer: Zu Gast in Deutschland. Staatsbesuche in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Hamburg 2016. 13 Walter Mühlhausen: Friedrich Ebert. Sein Leben in Bildern, Ostfildern 2019, S. 192. 14 Hierzu Leonard Gomes: German Reparations, 1919–1932. A Historical Survey, Basingstoke 2010. 15 Peter Krüger: Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1985; Gottfried Niedhart: Die Außenpolitik der Weimarer Republik, 2. aktualis. Aufl. München 2006; dass deutsche Unternehmen dies gerade in Südosteuropa offensiv interpretierten, zeigt Stephen G. Gross: Export Empire. German Soft Power in Southeastern Europe, 1890– 1945, Cambridge 2015; ähnlich verhielt man sich in Lateinamerika, vgl. Stefan Rinke:
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Früher als andere Länder Europas sah sich Deutschland in der Gefahr, in einen wie auch immer definierten »Rückstand« zu geraten oder sich in einer seiner kulturellen Bedeutung inadäquaten Position zu befinden. Die Rede von einer »Krise« war in der deutschen Öffentlichkeit allgegenwärtig.16 Sehr aufmerksam schaute man in den Zwischenkriegsjahren dagegen in Richtung solcher Länder, die man in der Wahrnehmung der Zeit als »jung« und »aufstrebend« empfand, also Nationen wie Kanada oder Australien, aber natürlich auch in Richtung des faschistischen Italien17 oder der kemalistischen Türkei.18
Revisionssyndrom Für den Eindruck einer weitgehend auf sich selbst bezogenen Republik sorgten nicht zuletzt die vielen innenpolitischen Krisen der 1920er und frühen 1930er Jahre, die auch die Aufmerksamkeit großer Teile der deutschen Bevölkerung immer wieder vollständig zu absorbieren schienen. Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs militarisierte sich die Politik immer weiter und war durch einen großzügigen Einsatz von Gewalt gekennzeichnet.19 Viele Fragen waren durch das Versailler »Revisionssyndrom« (Michael Salewski) mitgeprägt. Verschiedene Veteranenverbände bemühten sich darum, dass etwa die kolonialen »Phantomschmerzen« nicht nachließen. Als im Zuge der Rheinlandbesetzung auch farbige Soldaten aufmarschierten, fühlten sie sich als Deutsche selbst »kolonisiert« und sahen unter Umständen auch und gerade ihre »Männlichkeit« infrage gestellt.20 Solche Impulse verstärkten dann
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»Der letzte freie Kontinent«: Deutsche Lateinamerikapolitik im Zeichen transnationaler Beziehungen, 1918–1933, Stuttgart 1996. Rüdiger Graf/Moritz Föllmer (Hrsg.): Die »Krise« der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt a. M./New York 2005. Matthias Damm: Die Rezeption des italienischen Faschismus in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2013. Sabine Mangold-Will: Begrenzte Freundschaft. Deutschland und die Türkei 1918–1933, Göttingen 2013. Dirk Schumann: Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918–1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001; Robert Gerwarth: Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs, München 2018. Christian Koller: »Von Wilden aller Rassen niedergemetzelt«. Die Diskussion um die Verwendung von Kolonialtruppen in Europa zwischen Rassismus, Kolonial- und Militärpolitik (1914–1930), Stuttgart 2001; Jared Poley: Decolonization in Germany: Weimar Narratives of Colonial Loss and Foreign Occupation, Bern u. a. 2005; Sandra Mass: Weiße Helden, schwarze Krieger. Zur Geschichte kolonialer Männlichkeit in Deutsch-
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Bestrebungen, alles außerhalb der Republik Liegende als »Rückzueroberndes« einzuordnen oder die Welt sogar aus der Warte eines »Rassenkampfes« der Völker wahrzunehmen (siehe den Beitrag von Christian Koller).21 Tatsächlich kehrten im Laufe der 1920er Jahre viele deutsche Kolonialbeamte, Farmer, Manager und Missionare aus politischen, eher aber aus wirtschaftlichen und kulturellen Gründen an ihre früheren Wirkungsstätten zurück. Vereinigungen wie die Deutsche Kolonialgesellschaft sorgten mit Ausstellungen und einem breiten medialen Ensemble von Pamphleten und Romanen bis hin zu Filmen, Comics und Kinderbüchern dafür, dass die Idee einer deutschen »Kolonialmission« in den Weimarer Jahren weiter lebendig blieb. Stereotype Bilder von Afrika und seinen Bewohnern blieben somit auch in den Weimarer Jahren präsent (siehe den Beitrag von Birthe Kundrus).22 Zeitgenossen wie Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht vermochten es dann aber auch als einen Vorteil zu sehen, dass die gleichsam »dekolonisierten« Deutschen nun auf den Weltmärkten als »kolonial unbelastet« auftreten und auf diese Weise Geschäfte mit den sich langsam emanzipierenden Ländern machen konnten.23 Solche Haltungen förderten das aktive Verdrängen der Kolonialzeit als eine periphere »Episode« der deutschen Geschichte. Der Nationalökonom Moritz Julius Bonn sprach schon 1932 von einer weltweit einsetzenden »Gegenkolonisation«.24 Dies verdichtete sich sogar in Vorstellungen, Deutschland könne bei der bevorstehenden Dekolonisation ein Vorreiter werden (siehe den Beitrag von Jürgen Dinkel).25 Dass neue Formen der Arbeitsorganisation wie der industriellen Massenproduktion, vor allem Taylorismus und Fordismus, einen transnationalen
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land, 1918–1964, Köln u. a. 2006; vgl. auch Stefan Gerbing: Afrodeutscher Aktivismus. Interventionen von Kolonisierten am Wendepunkt der Dekolonisierung Deutschlands 1919, Frankfurt a. M. 2010. Michael Fahlbusch: »Wo der Deutsche ist … ist Deutschland«. Die Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig 1920–1933, Bochum 1994. Vgl. Susann Lewerenz: Geteilte Welten. Exotisierte Unterhaltung und Artist*innen of Color in Deutschland 1920–1960, Köln/Weimar/Wien 2017. Hjalmar Schacht: Neue Kolonialpolitik. Vortrag, gehalten in der Abteilung BerlinCharlottenburg der Deutschen Kolonial-Gesellschaft am 24. März 1926, Berlin 1926, S. 5. So Bonn im Jahr 1932, nach Wolfgang Reinhard: Geschichte der europäischen Expansion. Bd. 3, Stuttgart u. a. 1988, S. 187. Frederick Petersson: Willi Münzenberg, the League against Imperialism, and the Com intern, 1925–1933, Queenston 2013; Kris Manjapra: Age of Entanglement: German and Indian Intellectuals across Empire, Cambridge 2014; Jürgen Dinkel: Die Bewegung Bündnisfreier Staaten. Genese, Organisation und Politik (1927–1992), Berlin 2015.
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Charakter besaßen, hat die Forschung immerhin herausgearbeitet.26 An der weltweiten Zirkulation des Expertenwissens musste sich jedes Land mit Anspruch an Wissenschaft, Industrie und Technik sowieso weiter beteiligen. Ungebrochen weiter wie vor 1914 ging in dieser Zeit der internationale Ausbau der Infrastrukturen des Transports und der Kommunikation, etwa der Telegraphen-, Telefon- und Eisenbahnnetze oder des internationalen Flugverkehrs. Alle diese Faktoren trugen erheblich zur Absenkung der Transaktionskosten für international agierende Unternehmen bei.27 Vergleichsweise gut untersucht wurde mittlerweile auch, wie nicht nur der Völkerbund oder die International Labour Organisation, sondern auch zahlreiche andere Gremien des »technokratischen Internationalismus« Deutschland in die materiellen, ideellen und prozessualen Verflechtungen des europäischen Kontinents mit eingewoben haben.28 Dazu zählen auch deutsche Initiativen bei der Fortentwicklung des Völkerrechts, wofür etwa die Namen von Hans Wehberg, Walther Schücking und Ludwig Quidde angeführt werden können (siehe den Beitrag von Isabella Löhr). Auch wenn revisionistische Agenden letztlich obsiegten, zeigt sich mit dem Völkerbund, der institutionellen Konsolidierung des Völkerrechts und der Mandatspolitik doch eine neue Qualität der internationalen Politik.29 Diese Initiativen waren mindestens so vorausweisend auf die spätere politische Integration West- und Osteuropas, wie die in der Zwischenkriegszeit eher in Ansätzen stecken gebliebenen deutsch-französischen Verständigungsversuche oder die paneuropäischen Utopien. Die nahmen bisweilen seltsame
26 Darauf verwies schon Thomas P. Hughes: Die Erfindung Amerikas. Der technologische Aufstieg der USA seit 1870, München 1991, S. 287 ff. 27 Vgl. Dirk van Laak: Verkehr und Infrastruktur in der Zeit der beiden Weltkriege, in: Ralf Roth/Karl Schlögel (Hrsg.): Neue Wege in ein neues Europa. Geschichte und Verkehr im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York 2009, S. 141–155. 28 Johan Schot/Vincent Lagendijk: Technocratic Internationalism in the Interwar Years: Building Europe on Motorways and Electricity Networks, in: Journal of Modern European History, Bd. 6, Heft 2/2008, S. 196–216, sowie die sechs Bände der Reihe »Making Europe«, hrsg. von Johan Schot und Phil Scranton (Basingstoke 2013–2019), in denen die Zwischenkriegszeit als enorm wichtige Scharnierphase der europäischen und internationalen Beziehungen aufscheint. Zur ILO vgl. Daniel Maul: The International Labour Organization. 100 years of Global Social Policy, Berlin 2019. 29 Siehe dazu jetzt auch Marcus M. Payk: Frieden durch Recht? Der Aufstieg des modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg, Berlin 2018.
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Umwege, indem sie einen »paneuropäischen« oder »eurafrikanischen« Großraum skizzierten, den es nun vereint zu erschließen gelte.30 Zu den Besonderheiten der Verflechtung Weimars mit der Welt gehören verschiedene distinkte Merkmale. Wir möchten drei davon hervorheben: Erstens zählt dazu die antagonistische Grundstruktur vieler intellektueller Entwürfe von der Welt. Der globale Raum erschien vielen Autoren als zweidimensionale Fläche, auf der verschiedene Kollektive sich in einem existenziellen Kampf untereinander befänden. In der suggestiven Sprache dieser Traktate oder geographischer Karten war viel von politischen Energien, Kraftlinien oder Kraftfeldern die Rede.31 Dabei wurden »Grenz-« und »Auslandsdeutsche« als »Kulturträger« ausgewiesen, die vermeintlich einen »zivilisierenden« Einfluss auf andere Völker ausübten. Solche »Territorialkonzepte« wurden in den 1920er Jahren in zahlreichen Disziplinen ausbuchstabiert (siehe den Beitrag von Heidi Hein-Kircher).32 Zweitens führten die globalen Verflechtungen Weimars zu einer Stärkung nationalistischer Bestrebungen sowie von Bemühungen um eine Überwindung der Pariser Friedensordnung. In diesem Sinn erklärt sich unter anderem die »Türkenbegeisterung« oder auch die Sehnsucht nach dem Orient: Der ehemalige Bundesgenosse galt als ein Testfall für eine grundlegende Revision der von den Westmächten etablierten Ordnung (siehe den Beitrag von Sabine Mangold-Will).33 Dabei spielten kleine, aber ausgesprochen effektive Lobbys wie der »Bund der Asienkämpfer« eine wichtige Rolle, zumal sie mit den Sympathien von Tausenden von »Auslandsdeutschen« rechnen konnten, die einen
30 Vgl. Oliver Burgard: Das gemeinsame Europa – von der politischen Utopie zum außenpolitischen Programm. Meinungsaustausch und Zusammenarbeit pro-europäischer Verbände in Deutschland und Frankreich 1924–1933, Frankfurt a. M. 2000; Christian Bailey: Between Yesterday and Tomorrow. German Visions of Europe, 1926–1950, New York 2013; Peo Hansen/Stefan Jonsson: Eurafrica: The Untold History of European Integration and Colonialism, London u. a. 2014. 31 Vgl. Andy Hahnemann: Texturen des Globalen. Geopolitik und populäre Literatur in der Zwischenkriegszeit, 1918–1939, Heidelberg 2010. 32 Guntram Henrik Herb: Von der Geschichtsrevision zur Expansion: Territorialkonzepte in der Weimarer Republik, in: Iris Schröder/Sabine Höhler (Hrsg.): Welt-Räume. Geschichte, Geographie und Globalisierung seit 1900, Frankfurt a. M./New York 2005, S. 175–203; ders.: Under the Map of Germany. Nationalism and Propaganda 1918–1945, London 1997. 33 Vgl. Paul Leidinger/Ulrich Hillebrand (Hrsg.): Deutsch-Türkische Beziehungen im Jahrhundert zwischen Erstem Weltkrieg und Gegenwart. Grundlagen zu Geschichte und Verständnis beider Länder. 100 Jahre Deutsch-Türkische Gesellschaft Münster, Münster 2017.
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völkischen Irredentismus propagierten. Teilweise wurden hier auch bereits der Auslandsrundfunk und andere Kanäle der Kommunikation instrumentalisiert.34 Die ansonsten national codierten Kommunikationsräume machten es auch etwa für Friedens- oder Frauenorganisationen schwer, der Idee einer internationalen Zusammenarbeit zur Geltung zu verhelfen (siehe den Beitrag von Ingrid Sharp).35 Drittens zeigen jedoch vor allem Formen der ästhetischen Aneignung der Welt aus den Weimarer Jahren alternative Projektionen an. Namentlich das Kino dieser Jahre erwies sich als ein Möglichkeitsraum für einen nicht nur politischen, sondern auch kulturellen Neubeginn nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs (siehe den Beitrag von Wolfgang Struck).36 Die Reisesehnsucht der Weimarer Jahre wurde oft stellvertretend durch polyglotte Schriftsteller ausgelebt. Kosmopolitische Autoren wie Arnold Höllriegel oder Richard Katz begegneten einer vom Kolonialismus gezeichneten Welt durchaus selbstkritisch und mit Neugier und Vertrauen auf die Möglichkeit einer Vielfalt koexistierender Lebensweisen (siehe den Beitrag von Erhard Schütz). Schließlich war, wie nicht zuletzt die Betroffenheit der jungen Republik von der »Spanischen Grippe« erweist, Deutschland längst unwiderruflich in die Chancen wie Risiken einer steigenden Verflechtung des Weltverkehrs, des Rohstoffhandels, der Gesundheitsvorsorge oder des Humanitarismus miteinbezogen.37
34 Vgl. hierzu auch Suzanne Lommers: Europe – on Air. Interwar Projects for Radio Broadcasting, Amsterdam 2012; Heidi J. S. Tworek: News from Germany. The Competition to Control World Communications, 1900–1945, Cambridge, M. A. 2019. 35 Vgl. auch Ingrid E. Sharp/Matthew Stibbe (Hrsg.): Women Activists between War and Peace. Europe 1918–1923, London 2017; Christine von Oertzen: Strategie Verständigung. Zur transnationalen Vernetzung von Akademikerinnen 1917–1955, Göttingen 2012. 36 Vgl. Kai Nowak: Projektionen der Moral. Filmskandale in der Weimarer Republik, Göttingen 2015; Ursula Saekel: Der US-Film in der Weimarer Republik – ein Medium der »Amerikanisierung«? Deutsche Filmwirtschaft, Kulturpolitik und mediale Globalisierung im Fokus transatlantischer Interessen, Paderborn u. a. 2011. 37 Vgl. etwa Dorothee Wierling: Mit Rohkaffee handeln. Hamburger Kaffee-Importeure im 20. Jahrhundert, Hamburg 2018; Iris Borowy: Coming to Terms with World Health. The League of Nations Health Organisation, Frankfurt a. M. u. a. 2009; Michael Barnett: Empire of Humanity. A History of Humanitarianism, Ithaca 2011; Anna-Katharina Wöbse: Weltnaturschutz. Umweltdiplomatie in Völkerbund und den Vereinten Nationen, Frankfurt a. M. 2011.
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Roaring Twenties Seit Detlev Peukerts Anregung aus der Mitte der 1980er Jahre, die Weimarer Zeit als »Krisenjahre der klassischen Moderne« neu zu durchdenken, sind nur wenige neue Gesamtdarstellungen erschienen.38 Im angelsächsischen Raum ist »Weimar Germany« dagegen bis heute ein ungebrochenes Faszinosum geblieben. Die Kunst, Kultur und Wissenschaft der Zeit galten und gelten als maßgebend oder stilbildend und besaßen einen »Weltruf« – so das vieldiskutierte »Bauhaus«.39 Gleichzeitig schwingt dabei immer die Tragik des abrupten Abbruchs dieser Ansätze nach 1933 mit, weil die Repräsentanten dieser Weimarer Moderne ins Exil oder in den Tod getrieben wurden. 40 Andere schmiegten sich den neuen politischen Verhältnissen an, so der später vor allem in Afrika gefeierte Ethnologe Leo Frobenius oder der Reiseschriftsteller Colin Ross. 41 Die Weimarer Jahre stehen aber auch für den Durchbruch neuer oder die Ausweitung etablierter Medien wie das Radio oder die Massenpresse. Auch dank einer professionellen Bildberichterstattung beflügelten sie die Aneignung der Welt in den unterschiedlichsten Altersgruppen massiv (siehe den Beitrag von Lu Seegers). Die literarische Reportage erlebte einen ihrer Höhepunkte und diskutierte schon in den 1920er Jahren Phänomene wie eine »Amerikanisierung« bzw. »Bolschewisierung« Deutschlands. 42 Vor allem im Kino konnte auch der »Durchschnittsdeutsche« erfahren, was und wie »die Welt« ist, wenn auch oft verzerrt. 43 Die Ausbreitung unterschiedlichster Formen der Populärkultur sorgte dafür, dass viele transnationale
38 Ursula Büttner: Weimar. Die überforderte Republik, 1918–1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Stuttgart 2008; Andreas Wirsching: Die Weimarer Republik, 2. Aufl. München 2008; Eberhard Kolb/Dirk Schumann: Die Weimarer Republik, 8. überarb. Aufl. München 2013. 39 John A. Williams: Weimar Culture Revisited, Basingstoke 2011; Sabine Becker: Experiment Weimar. Eine Kulturgeschichte Deutschlands 1918–1933, Darmstadt 2018. 40 Vgl. etwa Udi Greenberg: The Weimar Century. German Émigrés and the Ideological Foundations of the Cold War, Princeton, N. J. 2014. 41 Karl-Heinz Kohl: Leo Frobenius und sein Frankfurter Institut, in: Jürgen Zimmerer (Hrsg.): Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, Frankfurt a. M. u. a. 2013, S. 387–405. 42 Erhard Schütz: Kritik der literarischen Reportage. Reportagen und Reiseberichte aus der Weimarer Republik über die USA und die Sowjetunion, München 1977. 43 Vgl. Hans-Michael Bock/Wolfgang Jacobsen/Jörg Schöning (Hrsg.): Triviale Tropen. Exotische Reise- und Abenteuerfilme aus Deutschland 1919–1939, München 1997; siehe auch Wolfgang Struck: Die Eroberung der Phantasie. Kolonialismus, Literatur und Film zwischen deutschem Kaiserreich und Weimarer Republik, Göttingen 2010.
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Tendenzen erstmals auch in der Fläche zum Durchbruch gelangten. Die Bilder der »goldenen 1920er Jahre« verbinden sich aber natürlich vor allem mit den kosmopolitischen »Weltstadtvergnügen« Berlins mit seinen Unterhaltungstheatern, Vergnügungsparks, den Musik- und den Tanzpalästen. 44 An Orten wie dem »Haus Vaterland« mit seinen vermeintlich ländertypischen Restaurants konnte man auf kommerzieller Basis Vorstellungen von Globalität entwickeln und sich »weltläufig« geben – auch wenn diese Imaginationen klischeebehaftet blieben und an kulturellen Differenzen und bestehenden Machtverhältnissen festhielten (siehe den Beitrag von Maren Möhring). 45 Wenn Theodor W. Adorno dem Musikgeschehen der 1920er Jahre das sehr kritische Zeugnis ausstellte, es trage »Phänomene der Rückbildung, der Neutralisierung, des Kirchhoffriedens« in sich, traf das allenfalls für die ernste Musik zu, die nicht annähernd an die »Universalität« der klassischen und romantischen Meister des 19. Jahrhunderts anzuknüpfen vermochte. Doch gerade im Unterhaltungssektor entwickelte sich das Musikleben der Weimarer Republik noch internationaler, durchmischter und abwechslungsreicher als vor dem Ersten Weltkrieg (siehe den Beitrag von Martin Rempe). 46 Die populäre Kunst spiegelte auch sich verändernde Beschleunigungs- und Raumerfahrungen. Technische Neuerungen wie Luftschiffe und Flugzeuge beflügelten die Phantasien der Massen, selbst wenn sie noch keine Massen beförderten. Wenn sogar eine junge Frau wie Clärenore Stinnes zwischen 1927 und 1929 in einem Automobil die Erde zu umrunden vermochte, weckte dies Wünsche ähnlicher Art. Überhaupt nahm das Reisefieber in der Zwischenkriegszeit an Fahrt auf, wenngleich die ökonomischen Voraussetzungen für Auslandsreisen in den meisten Familien noch nicht gegeben waren. 47 Umso leichter aber vermochten Phantasien die Grenzen zu überwinden. Ideen von
44 Daniel Morat et al.: Weltstadtvergnügen. Berlin 1880–1930, Göttingen 2016; Kerstin Lange: Tango in Paris und Berlin. Eine transnationale Geschichte der Metropolenkultur um 1900, Göttingen 2015. 45 Vgl. auch Maren Möhring: Fremdes Essen. Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland, München 2012. 46 Siehe dazu Sven Oliver Müller/Jürgen Osterhammel/Martin Rempe (Hrsg.): Kommunikation im Musikleben. Harmonien und Dissonanzen im 20. Jahrhundert, Göttingen 2015 sowie Cornelius Partsch: Schräge Töne. Jazz und Unterhaltungsmusik in der Kultur der Weimarer Republik, Stuttgart 2000. 47 Vgl. Peter J. Brenner (Hrsg.): Reisekultur in Deutschland. Von der Weimarer Republik zum »Dritten Reich«, Tübingen 1997; Gabriele Lingelbach/Moritz Glaser: Tourismusgeschichte in globalhistorischer Erweiterung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 69 (2018), Nr. 3/4, S. 125–139.
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Christoph Cornelißen/Dirk van Laak
einer Neuaufteilung der Welt bezogen sich nun auf die »dritte Dimension« und schlugen sich in »Raketenträumen« und sogar in imaginierten Besuchen auf dem Mond nieder. 48 Genau diese, oft von Kartenwerken untersetzte »Vogelperspektive« beförderte seit den 1920er-Jahren ein weit verbreitetes Interesse für geopolitische Prozesse und Panideen, deren Gedankengut in breite soziale Kreise einsickerte (siehe den Beitrag von Andy Hahnemann). 49 In Philosophie und Kulturdeutung waren in den 1920er-Jahren in Deutschland viele außereuropäische, insbesondere asiatische Einflüsse von erheblicher Bedeutung, intellektuelle Beeinflussungen gingen vor allem von indischen, chinesischen oder japanischen Gedankenwelten aus.50 Dass ab 1933 ein extrem nationalistischer Rückschlag einsetzte, verweist indirekt darauf, wie stark die rasante Öffnung Weimars zur Welt tatsächlich ausgefallen war. Doch vermochte sich auch das »Dritte Reich« nicht aus den Spannungsverhältnissen zwischen Nationalismus und Globalisierung zu lösen. Der schon von den Vertretern der »Konservativen Revolution« erhobene Anspruch, es gelte »Zustände zu schaffen, deren Erhaltung sich lohnt« (so Arthur Moeller van den Bruck im Jahr 1923), haben sich Populisten im Kampf gegen die globale Veränderungsdynamik seither zu eigen gemacht.51 Das dynamische Wechselspiel zwischen nationalistischen und kosmopolitischen Grundorientierungen, zwischen scheinbaren »Gewinnern« einer weiteren Öffnung und Globalisierung und den scheinbaren »Verlierern« solcher Prozesse begleitet uns bis heute.52
48 Vgl. Peter Fritzsche: A Nation of Fliers. German Aviation and the Popular Imagination, Cambridge 1994. 49 Guntram Henrik Herb: Under the Map of Germany. Nationalism and Propaganda 1918–1945, London/New York 1997; Rainer Sprengel: Kritik der Geopolitik. Ein deutscher Diskurs 1914–1944, Berlin 1996; David Thomas Murphy: The Heroic Earth. Geopolitical Thought in Weimar Germany, 1918–1933, Kent 1997. 50 Almut Hille/Gregor Streim/Pan Lu (Hrsg.): Deutsch-chinesische Annäherungen. Kultureller Austausch und gegenseitige Wahrnehmung in der Zwischenkriegszeit, Köln 2011; Elija Horn: Indien als Erzieher. Orientalismus in der deutschen Reformpädagogik und Jugendbewegung 1918–1933, Bad Heilbrunn 2018. 51 Thorsten Beigel/Georg Eckert (Hrsg.): Populismus. Varianten von Volksherrschaft in Geschichte und Gegenwart, Münster 2017. 52 Vgl. etwa Bernhard Gißibl/Isabella Löhr (Hrsg.): Bessere Welten. Kosmopolitismus in den Geschichtswissenschaften, Frankfurt a. M. 2017; Austin Harrington: German Cosmopolitan Social Thought and the Idea of the West. Voices from Weimar, Cambridge 2016.
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Eine Korrektur des zuweilen noch starken Selbstbezugs der Historiographie zu dieser Periode der deutschen Geschichte ist überfällig. Wir sind aber zuversichtlich: Nachdem in den letzten Jahren vor allem der Erste Weltkrieg umfassend globalisiert wurde, ist Ähnliches nun auch mit der unmittelbaren Nachkriegszeit geschehen.53 In dieser Logik ist jetzt eigentlich auch die Weimarer Republik an der Reihe, entprovinzialisiert zu werden. Die Beiträge dieses Sammelbandes gehen überwiegend aus einer wissenschaftlichen Tagung der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte hervor, die vom 20. bis 22. September 2017 in Heidelberg stattfand. Einige Beiträge wurden nachträglich ergänzt, um möglichst viele Facetten des Zusammenhangs zwischen Weimar und der Welt anzusprechen. Wir danken den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stiftung, auch in unserer Eigenschaft als Mitglieder ihres Wissenschaftlichen Beirates, für die sorgfältige Vorbereitung und reibungslose Durchführung der Tagung sowie für die Mühewaltung bei der Drucklegung dieses Tagungsbandes. Unser Dank gilt außerdem Freya Leinemann, die alle Manuskripte vorab durchgeschaut und formal sowie sprachlich vereinheitlicht hat. Wie immer ist so ein Sammelband das Ergebnis einer vernetzten Anstrengung, vor allem der Autorinnen und Autoren, deren Beiträgen wir zahlreiche Leserinnen und Leser wünschen. Frankfurt am Main und Leipzig, im Frühjahr 2020
53 Vgl. Jörn Leonhard: Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923, München 2018; Conze, Die große Illusion (wie Anm. 11).
Gabriele Lingelbach
Globalgeschichtliche Perspektiven auf die Weimarer Republik Globalisierungs- und Deglobalisierungstendenzen in der Zwischenkriegszeit Einleitung Wer in den vergangenen Jahren regelmäßig und systematisch die Berichte über Neuerscheinungen, die Tagungsankündigungen, die Call for Papers und die Stellenausschreibungen auf den entsprechenden Mailinglists für Historiker gelesen hat, der ist Zeuge eines erstaunlichen Siegeszuges: Globalgeschichte boomt. Begriffe wie Verflechtung, Entanglement, Transfer, Connected History, Métissage, Histoire Croisée oder eben auch Weltgeschichte, Globalgeschichte und Globalisierungsgeschichte sind in aller Munde. Doch (noch?) herrscht keine Einigkeit darüber, was genau unter Globalgeschichte eigentlich zu verstehen sei: Definitorische Festlegungsversuche variieren bezüglich der methodologischen und theoretischen Grundlagen des Ansatzes ebenso wie in Hinblick auf das Spektrum der unter dem Begriff zu subsummierenden Forschungsthemen.1 Im Folgenden wird daher von einer eher pragmatischen Definition ausgegangen, nach der Globalgeschichte vor allem eine thematische und eine Forschungsfragen generierende Fokussierung bedeutet: Globalgeschichte untersucht nicht nur transnationale, sondern auch trans- oder intergesellschaftliche Kontakte und Interaktionen zwischen Akteuren aus unterschiedlich strukturierten Gesellschaften. Globalhistoriker analysieren dabei erstens die gesellschaftlichen Ursachen, die Motive und Interessenlagen, die zu Kontaktaufnahmen über geographische Distanzen hinweg geführt haben. Zweitens erforschen sie die 1
Siehe u. a. folgende Einführungen: Sebastian Conrad: What is Global History? Princeton 2016; Margit Pernau: Transnationale Geschichte, Göttingen 2011; Lynn Hunt: Writing History in the Global Era, New York 2014; Dominic Sachsenmaier: Global Perspectives on Global History. Theories and Approaches in a Connected World, Cambridge 2011 sowie die Sammelbände Maxine Berg (Hrsg.): Writing the History of the Global. Challenges for the 21st Century, Oxford 2013; Bruce Mazlish/Akira Iriye (Hrsg.): The Global History Reader, New York 2005; Jürgen Osterhammel (Hrsg.): Weltgeschichte. Basistexte, Stuttgart 2008.
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Strukturen, die diese Kontakte ermöglichten und beschleunigten, aber auch gestalteten, also beispielsweise die technischen Infrastrukturen in Form von Kommunikations- und Transportsystemen oder auch organisatorische Infrastrukturen wie etwa supranationale Institutionen. Drittens analysieren sie die Formen und den Ablauf der so ermöglichten Interaktionen. Viertens, und wohl am wichtigsten, untersuchen sie die gesellschaftlichen Folgen dieses Aufeinandertreffens für die miteinander in Kontakt getretenen Akteure und dies oft nicht nur am Ort des Zusammentreffens selbst, sondern infolge von Rückkopplungseffekten ebenfalls in den Entsendekontexten. Damit einher geht die Analyse von gegenseitigen Durchdringungen, Verflechtungen und Aneignungen, von Aushandlungsprozessen und gemeinsamen Strukturbildungen, aber auch von Abwehr äußerer »Einflüsse«. Fünftens wird der Wandel dieser Beziehungen im Zeitverlauf untersucht und damit die zwar nicht lineare und ausnahmslose, aber doch insgesamt deutlich zu erkennende »Verdichtung von […] Weltzusammenhängen«.2 Unterstellt wird dabei keineswegs, dass die wachsende Häufigkeit und Intensität transgesellschaftlicher Interaktionen stets und quasi teleologisch zu einer wachsenden Homogenisierung »der Welt« geführt hätten. Vielmehr geht es ebenso darum, Widerstände und Heterogenisierungseffekte zu analysieren. Zentral für alle Globalhistoriker ist die Überlegung, dass sich historischer Wandel für viele Untersuchungsgegenstände – beileibe nicht für alle! – oft nicht mehr allein in den Kategorien innergesellschaftlicher Dynamiken erfassen lässt, schließlich werden Entwicklungen in vielen Fällen durch transgesellschaftlichen Kontakt in Gang gesetzt oder zumindest beschleunigt bzw. in bestimmte Richtungen gelenkt. Das bedeutet unter anderem, dass der traditionelle, verengte, internalistische Blick beispielsweise auf Nationalstaaten, aber auch auf Regionen und Lokalitäten für viele Untersuchungsgegenstände nicht ausreicht, da deren Wandel nicht ausschließlich über endogene Entwicklungspotenziale, sondern eben auch über exogene Anregung zu erklären ist. Es ist zu fragen, inwieweit auch die Erforschung der Weimarer Republik von einer solchen globalgeschichtlichen Perspektivierung profitieren könnte. Die Mehrheit der Spezialisten in diesem Forschungsfeld scheint diese Frage bisher eher verneint zu haben, denn überblickt man die rezente Produktion globalhistorischer Arbeiten zur deutschen Geschichte, so fällt auf, dass viele Globalhistoriker um »Weimar« einen großen Bogen gemacht haben. Während die Frühneuzeitforschung und insbesondere die Forschung zum langen 19. Jahrhundert vor allem über die Untersuchung der deutschen Kolonial-
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Ders.: Alte und neue Zugänge zur Weltgeschichte, in: ebd., S. 9–34, hier: S. 19.
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oder Migrationsgeschichte einen globalgeschichtlichen Boom erleben und zudem auffällig viele Promotions- und Habilitationsarbeiten die bundesrepublikanische Geschichte globalgeschichtlich vermessen haben, sieht dies in Hinblick auf die Weimarer Epoche deutlich anders aus. Der Grund für diese relative globalgeschichtliche Vernachlässigung liegt auf der Hand: Die Zeit zwischen 1918 und 1933 gilt als Phase der Deglobalisierung Deutschlands.3 Als weltpolitische Macht durch die territoriale Verkleinerung und den Verlust der Kolonien zurückgestutzt, als Welthandelsmacht und ehemals starke Exportnation durch die Enteignungen von deutschem Auslandsvermögen und durch die weltweite Rückkehr zum Protektionismus geschwächt, als Anziehungspunkt für intellektuellen und wissenschaftlichen Austausch diskreditiert, als Auswanderungsziel unattraktiver geworden, scheint Deutschland weitgehend abgeschnitten gewesen zu sein von den Transmissionsriemen potenzieller transgesellschaftlicher Verflechtungen. Doch das allein dürfte im Prinzip kein Grund für Globalhistoriker sein, die Weimarer Republik unberücksichtigt zu lassen, denn zumindest proklamatorisch nimmt der Ansatz für sich in Anspruch, auch Deglobalisierungsprozesse in den Blick zu nehmen. 4 Zumal letztere ihrerseits oft globale Ursachen haben, können sie folglich mit der zentralen globalgeschichtlichen Fragestellung nach den Folgen von externen Dynamisierungsmomenten analysiert werden. Doch bislang haben sich Globalhistoriker stärker für die Intensivierung von Vernetzungen und deren Folgen interessiert und weniger für die Konsequenzen von Entflechtungen oder die Ursachen für das Scheitern von Transfer. Die Vernachlässigung der deutschen Zwischenkriegszeit ließe sich mit den mangelnden Bemühungen um die Untersuchung dieser Nichttransfers zumindest teilweise erklären. Doch ist zu fragen, ob die Prämisse von der Deglobalisierung Weimars überhaupt zutrifft, ob die These, die Jahre zwischen 1918 und 1933 würden eine Phase der Deglobalisierung Deutschlands konstituieren, in dieser Pauschalität
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So z. B. Knut Borchardt: Globalisierung in historischer Perspektive, München 2001, S. 32–34. Ulrich Pfister setzt den Beginn des globalization backlash allerdings schon früher, mit dem späten 19. Jahrhundert an: Ulrich Pfister: Globalisierung und Weltwirtschaft, in: Hans-Ulrich Thamer (Hrsg.): WBG Weltgeschichte. Eine Globale Geschichte von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert. Bd. VI: Globalisierung 1880 bis heute, Darmstadt 2010, S. 277–326, hier: S. 300. Harold James wiederum lässt ihn mit der großen Depression beginnen: Harold James: The End of Globalization: Lessons from the Great Depression, Cambridge, MA 2001. Siehe z. B. Jürgen Osterhammel: Globalisierungen, in: ders.: Flughöhe der Adler. Historische Essays zur Globalen Gegenwart, München 2017, S. 17.
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überhaupt stimmig ist.5 Müsste hier nicht viel stärker differenziert und gefragt werden, ob nicht auch weiterhin Globalisierungsphänomene zu beobachten waren? Die folgenden Ausführungen versuchen, auf diese Frage eine erste, wegen der schwierigen Forschungslage lediglich tentative Antwort zu geben. Welche Entwicklungen in der Weimarer Republik zeugen tatsächlich eher von einer Deglobalisierungs- als von einer Globalisierungstendenz? In welchen gesellschaftlichen Teilbereichen ist ein Abbau, eine Ausdünnung transgesellschaftlicher Vernetzungen zu beobachten? Wo kam es zu einer Intensivierung von Verflechtungen? Zu diesem Zweck werden drei thematische Fokussierungen vorgenommen, anhand derer die Frage nach der Gewichtung von Globalisierungs- und Deglobalisierungsprozessen zwischen 1918 und 1933 beantwortet wird: Erstens geraten menschliche Mobilitäten in Form des Überquerens von staatlichen Grenzen in den Fokus, zweitens der transnationale wirtschaftliche Austausch und drittens die Transfers im Bereich der Wissenschaft. Diese Aufzählung erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, ließen sich doch noch viele weitere Phänomene nennen, anhand derer man die Frage nach Deglobalisierungs- oder Globalisierungstendenzen in der Zwischenkriegszeit stellen könnte: Zu untersuchen wären zum Beispiel die transnationalen Infrastrukturen des Transports und der Kommunikation inklusive der Medien, die Ver- und Entflechtungen im Bereich der Außen- und Kolonialpolitik oder der Ausschluss von bzw. die Partizipation an supranationalen Organisationen. Ebenso könnte man umweltgeschichtliche Phänomene auf ihre (de-)globalisierende Dimension hin analysieren oder (Nicht-)Transfers im Bereich der Populärkultur usw. Mithin handelt es sich bei der vorliegenden Darstellung um eine Vorstellung von Fallbeispielen, deren Repräsentativität für die Fragestellung allerdings anzunehmen ist.
Menschliche Mobilitäten Hinsichtlich der Wanderungsprozesse von Menschen über die Staatsgrenzen Deutschlands hinweg sind zwei Formen von Mobilität aus globalgeschichtlicher Perspektive für die Weimarer Republik von besonderem Interesse: zum einen die Migration im engeren Sinne, also die mittel- oder langfristige Aus5
Zur definitorischen Klärung der Begriffe Globalisierung und Deglobalisierung siehe beispielsweise Peter E. Fäßler: Globale Netzwerkbildung in Zeiten der Deglobalisierung. Das internationale Kartell der Graphitelektrodenhersteller (1929–1939), in: Rolf Walter (Hrsg.): Globalisierung in der Geschichte, Stuttgart 2011, S. 233–251, hier: S. 236 f.
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wanderung von Deutschen und die Einwanderung nach Deutschland, zum anderen der Tourismus, also sowohl das Phänomen, dass Deutsche zu Erholungs- oder Vergnügungszwecken ins Ausland reisten, als auch, dass Ausländer zu diesen Zwecken nach Deutschland kamen.6 Beide Formen menschlicher Mobilität hatten eine sehr unterschiedliche Wirktiefe in Bezug auf die gesellschaftlichen Strukturen in der Weimarer Republik. Dies wird im Folgenden ausschließlich anhand der nach Deutschland hereinkommenden Mobilität erläutert. In Bezug auf die Einwanderung sowohl in Form von temporärer Arbeitsmobilität als auch von dauerhafter Niederlassung in Deutschland herrschte seit dem späten Kaiserreich eine gewisse Kontinuität, denn in den 1890er Jahren war aus dem klassischen Auswanderungsland Deutschland innerhalb weniger Jahre ein Einwanderungsland geworden.7 Zwar stieg die Zahl deutscher Auswanderer nach dem Ersten Weltkrieg wieder an – während der gesamten Weimarer Republik verließen etwa 141.000 Menschen den neuen Staat – doch quantitativ überwog auch nach 1918 weiterhin die Einwanderung.8 Das lag zum einen daran, dass am Ende des Krieges viele Deutsche ihre Heimat verließen, weil die deutschen Staatsgrenzen über sie hinweg gewandert waren.9 Aus den infolge des Versailler Vertrags abgetretenen Gebieten des Reiches siedelten bis Mitte der 1920er Jahre etwa eine Millionen reichsdeutsche oder »deutschstämmige« Menschen – sei es aus dem ehemals deutschen Elsass und Lothringen, sei es aus dem westlichen Polen, sei es aus den verloren gegangenen Kolonien – in das verkleinerte Staatsgebiet über.10 Hinzu kamen
6 Zur Differenzierung der verschiedenen Formen menschlicher territorialer Mobilität siehe Valeska Huber: Multiple Mobilities. Über den Umgang mit verschiedenen Mobilitätsformen um 1900, in: Geschichte und Gesellschaft 36 (2010), S. 317–341. 7 Überblicke über die deutsche Migrationsgeschichte bieten Klaus J. Bade/Jochen Oltmer: Zwischen Aus- und Einwanderungsland. Deutschland und die Migration seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, in: Klaus J. Bade: Sozialhistorische Migrationsforschung, Göttingen 2004, S. 501–546; Jochen Oltmer: Migration im 19. und 20. Jahrhundert, München 2010. 8 Speziell zur Migrationsgeschichte der Zwischenkriegszeit siehe mit dem Schwerpunkt auf staatlichem Handeln Jochen Oltmer: Migration und Politik in der Weimarer Republik, Göttingen 2005. 9 Zum größeren Zusammenhang siehe Philipp Ther: Die dunkle Seite der Nationalstaaten. »Ethnische Säuberungen« im modernen Europa, Göttingen 2011, S. 69–108. 10 Oltmer, Migration (wie Anm. 8), S. 89–138. Zu den einzelnen Gruppen siehe u. a. Christiane Kohser-Spohn: Die Vertreibung der Deutschen aus Elsaß-Lothringen 1918–1920, in: Jerzy Kochanowski (Hrsg.): Die »Volksdeutschen« in Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei. Mythos und Realität, Osnabrück 2006, S. 79–94.
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Deutsche aus Regionen jenseits des ehemaligen deutschen Staatsgebietes, darunter circa 120.000 »Deutschstämmige« aus Russland, die zwischen 1917 und 1921/22 vor den revolutionären Umbrüchen bzw. dem in Osteuropa tobenden Bürgerkrieg sowie der großen Hungersnot zu Beginn der 1920er Jahre flohen. Die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der Weimarer Republik waren von diesen koethnischen Migrationen insofern beeinflusst, als politisch-administrative Strukturen geschaffen und Ressourcen umverteilt werden mussten, was wiederum Verteilungskonflikte und politische Auseinandersetzungen nach sich zog. Auch bei der temporären, nicht koethnischen Arbeitsmigration zeigen sich Kontinuitäten in Bezug auf das Kaiserreich: Wie schon vor 1914 vor allem gegenüber polnischstämmigen Arbeitsmigranten praktiziert, ging es auch in der Zeit der Republik darum, Einwanderung möglichst zu kontrollieren und zeitlich zu begrenzen, um den Arbeitsmarkt, den Wohnungsmarkt und die sich entwickelnden sozialstaatlichen Strukturen vor Konkurrenz zu schützen.11 Im Unterschied zum Kaiserreich wurde diese Ausrichtung angesichts der hohen Arbeitslosigkeit und der überlasteten Sicherungssysteme nun aber deutlich rigider gehandhabt als vor 1914. Jochen Oltmer hat die Nachkriegszeit dementsprechend als Phase einer »protektionistischen Wende« der deutschen Migrationspolitik bezeichnet, in deren Folge Deutschland seinen Status als wichtigstes Zielland kontinentaleuropäischer Arbeitsmigration verlor.12 Diese restriktive Politik richtete sich wesentlich stärker gegen »Fremdstämmige« als gegen »Deutschstämmige«, mithin prägten ethno-nationale, rassistische Konzepte von »Volkszugehörigkeit« die Grenzregime der Republik, wobei weiterhin die Angst vor einer polnischen Infiltration, welche angeblich die innere Sicherheit und auch die nationale Identität Deutschlands bedrohe, eine große Rolle spielte. Die ethno-nationale Ausrichtung der Migrationspolitik wurde nach 1918 zum Beispiel in der Steuerung des Arbeitsmarktes ersichtlich: Ausländer durften nur noch dann beschäftigt werden, wenn keine deutschen Arbeitnehmer zur Verfügung standen. Die Einstellung von Ausländern unterlag einem Genehmigungsverfahren, was den Behörden die Möglichkeit 11 Jochen Oltmer: Begrenzung und Abwehr: De-Globalisierung und protektionistische Migrationspolitik nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland und Europa, in: Holger Huget/Chryssoula Kambas/Wolfgang Klein (Hrsg.): Grenzüberschreitungen. Differenz und Identität im Europa der Gegenwart, Wiesbaden 2005, S. 153–172. 12 Ebd., S. 154. Siehe zudem Horst Kahrs: Die Verstaatlichung der polnischen Arbeitsmigration nach Deutschland in der Zwischenkriegszeit, in: Christoph Diekmann (Hrsg.): Arbeitsmigration und Flucht. Vertreibung und Arbeitskräfteregulierung im Zwischenkriegseuropa, Berlin/Göttingen 1993, S. 130–194.
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gab, die Zahl der Zusagen von der Arbeitsmarktlage abhängig zu machen. Außerdem wurden Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen für höchstens ein Jahr ausgestellt – ausgenommen waren nur jene Ausländer, die bereits seit langem in Deutschland lebten und selbst diese waren vor willkürlichen Ausweisungen nicht sicher, konnten die Betroffenen doch vielerorts gegen Ausweisungsbefehle keine Rechtsmittel einlegen.13 So wurden etwa polnische Wanderarbeiter öfters in Massenabschiebungen aus dem Deutschen Reich abtransportiert, um zu verhindern, dass aus ihnen Einwanderer wurden. Insgesamt blieb der Prozentsatz ausländischer Arbeitskräfte in Deutschland infolge dieser Maßnahmen deutlich geringer als in der Vorkriegszeit und nahm nach 1918 weiterhin ab, wenn auch die Zahl der illegal Beschäftigten sicherlich nicht zu unterschätzen ist. Offizielle Statistiken registrierten 1921/22 etwa 300.000 ausländische Arbeitskräfte, 1924 211.000 und 1932 nur noch 109.000.14 Diese Verringerung der ausländischen Arbeitnehmer in deutschen Betrieben kann durchaus als Deglobalisierung der Arbeits- und Lebenswelten der Weimarer Republik gedeutet werden. Sieht man aber von der transnationalen Arbeitsmigration ab, so kommt die Tatsache in den Blick, dass nach 1918 nicht nur deutschstämmige Flüchtlinge die deutschen Staatsgrenzen überquerten: Als Folge der zunehmenden antisemitischen Pogrome in Polen, Galizien, Russland und der Ukraine flohen Hunderttausende Juden nach Westen. Außerdem kamen etwa zwei Millionen Russen, die sich angesichts von Revolution, Bürgerkrieg und Hungersnot zur Emigration entschlossen.15 Ein bedeutender Teil der schätzungsweise 9,5 Millionen Menschen, die in Europa in den ersten zehn Jahren nach dem Krieg auf der Suche nach einer neuen Heimat waren, kamen kurz- oder langfristig nach Deutschland. Für einen Großteil unter ihnen waren eigentlich die USA das Migrationsziel, da diese aber zunehmend ihre Grenzen für Einwanderer verschlossen, blieb ein bedeutender Teil der Flüchtlinge als Folge dieser »gestoppten Durchwanderung«16 gezwungenermaßen auf dem europäischen
13 Eva Schöck-Quinteros: »Lästige Ausländer«. Zur Praxis der Ausweisungen in Bremen 1908–1933, in: Arbeiterbewegung und Sozialgeschichte. Zeitschrift für die Regionalgeschichte Bremens im 19. und 20. Jahrhundert (2000), Nr. 6, S. 28–46. 14 Zahlen bei Oltmer, Begrenzung und Abwehr (wie Anm. 11), S. 161. 15 Siehe dazu die entsprechenden Beiträge im Sammelband Karl Schlögel (Hrsg.): Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941. Leben im europäischen Bürgerkrieg, Berlin 1995. 16 Anne-Christin Saß: Berliner Luftmenschen. Osteuropäisch-jüdische Migranten in der Weimarer Republik, Göttingen 2012, S. 45.
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Kontinent.17 Doch wie die USA reagierten auch in Europa viele Staaten mit der Abschottung ihrer jeweiligen Grenzen, es kam zu einem Dominoeffekt der Deliberalisierung. Die Weimarer Republik war hier keine Ausnahme, intensivierte man doch die Grenzkontrollen, legte die Pass- und Visumspflicht streng aus und handhabte die Asylpolitik immer restriktiver. Auch hier setzte sich die Vorstellung durch, die »Fremden« – und gemeint waren hier vor allem Juden und Polen bzw. »Slawen« – seien eine Belastung und Bedrohung, sei es für den Arbeitsmarkt, den Wohnungsmarkt, die sozialen Sicherungssysteme oder die ethnisch-nationale Homogenität. Auch dies spricht dafür, dass im Bereich der menschlichen Mobilitäten durch die Versuche, nicht koethnische Zuwanderung weitgehend zu beschränken, deglobalisierende Tendenzen überwogen. Dies lässt sich statistisch untermauern: Bei der Volkszählung von 1910 wurden 1,26 Millionen in Deutschland lebende Ausländer erfasst, 1925 noch 957.000, 1933 hingegen nur noch etwas über 750.000.18 Doch ist der Befund der Deglobalisierung in Bezug auf die Einwanderung nicht völlig eindeutig, denn trotz der zunehmend restriktiven staatlichen Migrationspolitik kamen nach Kriegsende viele Tausende Migranten, teilweise illegal, über die Grenzen und prägten die Lebensverhältnisse in Deutschland, vor allem in den Städten, in denen die Mehrheit der Hinzukommenden eine Unterkunft suchten.19 Menschen aus China, Indien, ehemalige »Kolonialuntertanen« lebten, wenn auch in nur geringer Zahl, zeitweise oder dauerhaft in Deutschland.20 Anhand des Beispiels der sogenannten Ostjuden kann dargelegt werden, in welchem Maße deren Anwesenheit die gesellschaftlichen
17 Diesen internationalen Hintergrund der deutschen Entwicklung beleuchtet Christiane Reinecke: Grenzen der Freizügigkeit. Migrationskontrolle in Großbritannien und Deutschland, 1880–1930, München 2010, S. 257–378. 18 Kahrs, Verstaatlichung (wie Anm. 12), S. 130. 19 Zur illegalen Wanderung siehe Christiane Reinecke: Riskante Wanderungen. Illegale Migration im britischen und deutschen Migrationsregime der 1920er Jahre, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), S. 64–97. 20 Siehe dazu u. a. Lars Amenda: Fremd-Wahrnehmung und Eigen-Sinn. Das »Chinesenviertel« und chinesische Migration in Hamburg, 1910–1960, in: Angelika Eder (Hrsg.): »Wir sind auch da!« Über das Leben von und mit Migranten in europäischen Großstädten, Hamburg 2003, S. 73–94; Pascal Grosse: Zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Kolonialmigration in Deutschland, 1900–1940, in: Birthe Kundrus (Hrsg.): Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt a. M. 2003, S. 91– 109; Joachim Oesterheld: Zum Spektrum der indischen Präsenz in Deutschland von Beginn bis Mitte des 20. Jahrhunderts, in: Gerhard Höpp (Hrsg.): Fremde Erfahrungen. Asiaten und Afrikaner in Deutschland, Österreich und in der Schweiz bis 1945, Berlin 1996, S. 331–346.
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Konstellationen in Deutschland veränderte.21 Vor allem in Berlin verstärkte der nach dem Krieg einsetzende weitere Zustrom von jüdischen Flüchtlingen aus Osteuropa die bereits bestehende Diaspora – reichsweit hatten 1910 etwa 70.000 »Ostjuden« in Deutschland gelebt, während des Krieges waren jüdische Zwangsarbeiter hinzugekommen.22 »Ostjuden« prägten insbesondere das Berliner Scheunenviertel, blieb doch von den mehreren Zehntausend jüdischen Flüchtlingen, die nach Deutschland kamen, etwa jeder fünfte in Berlin.23 Das Bild des Stadtviertels erhielt dadurch eine spezifische Prägung: Ein bedeutender Teil der »Ostjuden« hielt zunächst an Traditionen wie etwa dem Tragen von Schläfenlocken oder des Kaftans fest und sprach auch weiterhin jiddisch. Es entstanden zudem Ansätze einer ethnic economy und einer ethnischen Infrastruktur aus Läden mit koscheren Lebensmitteln, aus Kaffeehäusern, Bibliotheken mit hebräischer und jiddischer Literatur, aus Theatern und anderen kulturellen Einrichtungen, aus Presseorganen und Vereinigungen sowie Anlaufstellen und Hilfsorganisationen für Juden auf dem Weg in die USA oder nach Palästina. Doch von Anfang an trafen die jüdischen Flüchtlinge auf weitgehende Ablehnung seitens der Aufnahmegesellschaft: Staatliche Stellen versuchten mit unterschiedlichen Mitteln zu verhindern, dass Deutschland die Endstation für die Flüchtenden werden könnte, sei es durch rigide Grenzkontrollen, Unterstützung bei der Weiterreise nach Amerika, Abschiebungen oder sogar durch Internierungen in Lagern. Kontroversen über die Frage des Umgangs mit diesen Migranten wurden intensiv in der Öffentlichkeit ausgetragen, eine Intensität, die in keinem Verhältnis zur letztlich doch geringen Zahl von »Ostjuden« in Deutschland stand. Vor allem agitierten rechtsgerichtete, völkische, antisemitische Zirkel intensiv gegen die »Ostjuden« und waren umfassend in der Lage, die öffentliche Meinung zu prägen. Antijüdische Ausschreitungen in mehreren deutschen Städten mit einer Eskalation der Gewalt im Novem-
21 John P. Fox: Weimar Germany and the »Ostjuden«, 1918–1923. Acceptance or Expulsion?, in: Anna Bramwell (Hrsg.): Refugees in the Age of Total War, London 1988, S. 51–68; Frank Golczewski: Ostjuden in Deutschland, in: Arno Herzig (Hrsg.): Die Geschichte der Juden in Deutschland, Hamburg 2007, S. 150–169; Trude Maurer: Ostjuden in Deutschland 1918–1933, Hamburg 1986. 22 Tobias Brinkmann: Ort des Übergangs. Berlin als Schnittstelle der jüdischen Migration aus Osteuropa nach 1918, in: Verena Dohrn/Gertrud Pickhan (Hrsg.): Transit und Transformation. Osteuropäisch-jüdische Migranten in Berlin 1918–1939, Göttingen 2010, S. 25–44. 23 Ebd.; Saß, Berliner Luftmenschen (wie Anm. 16). Bis 1921 waren etwa 70.000 jüdische Flüchtlinge aus Osteuropa ins Land gekommen.
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ber 1923 in Berlin in Form der Scheunenviertelkrawalle zeigten, wie sehr der Antisemitismus in breiten Bevölkerungskreisen auf Resonanz traf.24 Aber auch der emanzipierte Teil der deutschen Juden verhielt sich gegenüber den Neuankömmlingen aus Osteuropa ambivalent, sahen viele doch mit Ablehnung auf ihre überwiegend armen, ungebildeten, noch stark religiösen und damit in Erscheinungsbild und Verhaltensweisen »fremden« Glaubensbrüder herab und fürchteten zudem, der antisemitische Reflex könne sich auch auf die weitgehend assimilierten deutschen Juden ausweiten. Insofern ist zu differenzieren: Wenn auch weniger Einwanderer und insbesondere Arbeitsmigranten nach Deutschland kamen als dies noch vor dem Ersten Weltkrieg der Fall gewesen war, so gab es doch Regionen, deren Strukturen sich durch die Anwesenheit von Migranten umfänglich veränderten. Und auch die Intensität, mit der das Thema Zuwanderung in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, verstärkte sich trotz der sinkenden Zahlen im Vergleich zum Kaiserreich. Im Sinne der anfangs genannten Definition von Globalgeschichte sind hier also durchaus Globalisierungstendenzen zu finden. Der internationale Tourismus war in der Weimarer Republik hingegen weniger strukturbildend als die Einwanderung.25 Allerhöchstens kann ein lokaler Einfluss auf die zentralen touristischen Reiseziele ausgemacht werden, also die vornehmen Seebäder an der Ostsee oder die mondänen Kurorte wie BadenBaden, die zumindest teilweise auch Publikum aus dem Ausland anzogen.26 Hier waren schon im Kaiserreich insofern touristifizierte Räume entstanden, als die Infrastrukturen vor Ort und damit auch die Erwerbsmöglichkeiten, das
24 David Clay Large: »Out with the Ostjuden«. The Scheunenviertel Riots in Berlin, November 1923, in: Werner Bergmann/Christhard Hoffmann/Helmut Walser Smith (Hrsg.): Exclusionary Violence. Antisemitic Riots in Modern German History, Ann Arbor 2002, S. 123–140. 25 Christine Keitz: Grundzüge einer Sozialgeschichte des Tourismus in der Zwischenkriegszeit, in: Peter J. Brenner (Hrsg.): Reisekultur in Deutschland. Von der Weimarer Republik zum »Dritten Reich«, Tübingen 1997, S. 49–72. Einen Überblick über die Tourismusgeschichte bieten Moritz Glaser/Gabriele Lingelbach: Tourismusgeschichte in globalhistorischer Erweiterung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 69 (2018) H. 3/4, S. 125–139; Hasso Spode: Der Aufstieg des Massentourismus im 20. Jahrhundert, in: Heinz-Gerhard Haupt/Cornelius Torp (Hrsg.): Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990. Ein Handbuch, Frankfurt a. M. 2009, S. 114–128. 26 Wiebke Kolbe: Strandurlaub als liminoider (Erfahrungs-)Raum der Moderne? Deutsche Seebäder im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Hans-Jörg Gilomen/Beatrice Schumacher/Laurent Tissot (Hrsg.): Freizeit und Vergnügen vom 14. bis zum 20. Jahrhundert, Zürich 2005, S. 187–199; David Clay Large: The Grand Spas of Central Europe. A History of Intrigue, Politics, Art and Healing, Lanham 2015.
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örtliche Erscheinungsbild, die Konsumangebote etc. sich nach den Bedürfnissen der Reisenden ausgerichtet hatten. Und dies bedeutete, dass auch den Wünschen ausländischer Gäste Rechnung getragen wurde, sei es, dass Personal mit entsprechenden Sprachkenntnissen eingestellt oder den kulinarischen Geschmäckern beispielsweise der russischen oder US-amerikanischen Oberschicht entgegengekommen werden musste. Aus globalgeschichtlicher Perspektive sind diese lokalen Transformationen überaus spannende Untersuchungsgegenstände, lassen sich hier doch selektive Rezeptionen und kreative Adaptionen an aus dem Ausland kommende Erwartungshaltungen und Bedürfnisse in besonderer Weise erforschen. Die reinen Zahlen sprechen im Bereich des Tourismus aber eher für eine Deglobalisierung im Vergleich zum Kaiserreich, auch wenn die vorhandenen statistischen Daten als nicht sonderlich valide einzuschätzen sind: Gegenüber der Vorkriegszeit verringerte sich der Zustrom ausländischer Gäste.27 Nähme man als weitere Mobilitätsformen noch die nichttouristisch motivierten kürzeren Reisen nach Deutschland in den Blick, beispielsweise die Aufenthalte der »Makler der Globalisierung«,28 wie Experten, Wissenschaftler, Führungspersonal von Unternehmen, Diplomaten oder Künstler, würde sich wahrscheinlich ein ähnliches Bild ergeben.29 Sicherlich, es existierte weiterhin das Phänomen globaler Lebensläufe, das heißt es gab eine Gruppe von Personen, für die ein in einer Nation verankerter, dauerhafter Heimatort, zu dem man immer wieder zurückkehrte, gar nicht mehr existierte. So etwa im Fall der Thyssen-Familie, bei der die einzelnen Familienmitglieder aus Gründen des Vermögensaufbaus und der Vermögenssicherung, der Zielsetzung, soziale Netzwerke zu knüpfen, um die Geschäftsbeziehungen zu verdichten, aber auch aus Gründen der Heirat oder aus politischen Motiven auch in der Zwischenkriegszeit immer wieder ihren Lebensmittelpunkt über nationale Staatsgrenzen hinweg verlagerten.30 Über diese frühen global players entstand ein transnationaler sozialer Raum, in dem sich die Familienmitglieder bewegten und aus dem heraus sie ihre sozialen und wirtschaftlichen Netz27 Keitz, Grundzüge (wie Anm. 25), S. 56. 28 Sebastian Conrad: Globalgeschichte. Eine Einführung, München 2013, S. 215. 29 Wahrscheinlich wäre dann zwischen unterschiedlichen Phasen zu differenzieren, da in der Hochinflationszeit Deutschlandaufenthalte für Ausländer, insbesondere für USAmerikaner überaus billig waren, was z. B. viele Künstler für mittelfristige Aufenthalte anlockte, siehe Michael Wala: Amerikanisierung und Überfremdungsängste. Amerikanische Technologie und Kultur in der Weimarer Republik, in: ders./Ursula Lehmkuhl (Hrsg.): Technologie und Kultur. Europas Blick auf Amerika vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Köln 2000, S. 121–146, hier: S. 140 f. 30 Simone Derix: Die Thyssens. Familie und Vermögen, Paderborn 2015, S. 107–216.
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werke knüpften. Es bleibt aber abzuwägen, wie solch quantitativ insignifikante Ausnahmefälle für die Frage nach mobilitätsbedingter Globalisierung oder Deglobalisierung während der Weimarer Republik gewichtet werden sollten. Alles in allem kann man zumindest gegenüber dem späten Kaiserreich eine Verlagerung der Mobilitätsformen und des mobilen Personals bei gleichzeitiger quantitativer leichter Verringerung feststellen. Das Potenzial, gesellschaftliche Strukturen tatsächlich tiefgreifend zu verändern, variierte je nach Ort, Mobilitätsform und involvierten Personengruppen deutlich.
Die Außenwirtschaftsbeziehungen Deutschlands in der Zwischenkriegszeit Ebenso wie bei den menschlichen Mobilitäten finden sich bei den wirtschaftlichen Beziehungen Deutschlands zum Ausland sowohl globalisierende als auch deglobalisierende Momente. So ergibt sich hinsichtlich des Zuflusses ausländischer Waren nach Deutschland, des Exports deutscher Produkte und Dienstleistungen ins Ausland und der ökonomischen Verflechtung in Form der Integration deutscher Produktions- und Handelsstrukturen in transnationale Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalmärkte eine gemischte Bilanz.31 Dabei sind die Elemente des Deglobalisierungsnarrativs durchaus bekannt: Der Krieg unterbrach die zuvor von deutscher Seite aus gepflegten transnationalen Geschäftskontakte weitgehend, der kriegsbedingte deutliche Rückgang der gesamten europäischen Exporte führte in vielen Ländern, etwa Lateinamerikas oder Asiens, die ehemals vor allem als Rohstofflieferanten für Europa und Abnehmer europäischer Fertigprodukte fungiert hatten, zum Aufbau eigener Industrien.32 Für die stark exportorientierte deutsche Industrie in der Nachkriegszeit war dies ebenso folgenreich wie der kriegsbedingte Aufstieg der US-amerikanischen Konkurrenz. Der Mangel an Transportkapazitäten und die
31 Überblicke zur Geschichte der wirtschaftlichen Globalisierung finden sich in Michael D. Bordo/Alan M. Taylor/Jeffrey G. Williamson (Hrsg.): Globalization in Historical Perspective, Chicago 2003; Jürgen Osterhammel/Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen – Prozesse – Epochen, München 2007; zur Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik siehe Mark Spoerer/Jochen Streb: Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 2013, S. 13–99; zur Position Deutschlands auf dem Weltmarkt vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs siehe u. a. Cornelius Torp: Mitten im Weltmarkt. Globalisierung und deutsche Volkswirtschaft im späten 19. Jahrhundert, in: Michael Epkenhans/Ulrich von Hehl (Hrsg.): Otto von Bismarck und die Wirtschaft, Paderborn 2013, S. 1–28. 32 Siehe dazu u. a. Pfister, Globalisierung (wie Anm. 3), S. 277–326.
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Zerstörung von Kommunikationsnetzwerken während des Krieges behinderten zunächst ebenfalls die Wiederaufnahme transnationalen Warenaustauschs. Nach dem Krieg wurden zudem der weltweite Handel und damit auch die deutsche Exportwirtschaft durch den Niedergang des Goldstandards und die Weiterführung und Verstärkung des Protektionismus geschwächt, insbesondere als die Zölle seit 1930 international auf breiter Front nochmals angehoben wurden. Mit der um sich greifenden Abkehr von wirtschaftsliberalen Leitideen und der Hinwendung zu Autarkiebestrebungen wurde dem globalen Handel ebenso der Boden entzogen wie durch den Wegfall eines Hegemons auf dem Weltmarkt in Form Großbritanniens. Der weitere Aufstieg des Nationalismus, der internationale Kooperationen erschwerte, die Bilateralisierung des Außenhandels und der Ausbruch der Großen Depression verstärkten in der Folgezeit ebenfalls die deglobalisierenden Tendenzen. Deutschlands Wirtschaft trafen die Auswirkungen des Krieges besonders hart, da das deutsche Auslandsvermögen infolge der Bestimmungen des Versailler Vertrages in fast allen Ländern beschlagnahmt wurde. Schätzungen gehen davon aus, dass allein die deutschen Direktinvestitionen im Ausland einen Wert von 2,6 Milliarden US-Dollar repräsentierten, von denen 1922 nur noch 0,4 Milliarden übrig blieben.33 Die Enteignungen führten insbesondere bei den deutschen Multinationalen Unternehmen (MNU) zu großen Verlusten und einer Deglobalisierung der Aktionsradien, weil nicht nur Gelder, Gebäude und Maschinen, sondern auch Patente und Markenrechte verloren gingen. Insgesamt wurde die Auslandstätigkeit der deutschen Exportwirtschaft durch den Versailler Vertrag stark eingeschränkt. Da beispielsweise bedeutende Teile der Handelsflotte und der Eisenbahn ausgeliefert und auf dem Reparationskonto verrechnet wurden, fehlten dem deutschen Außenhandel Transportkapazitäten. Zudem zwangen die Alliierten Deutschland eine einseitige Meistbegünstigung auf, mit der Folge, dass deutsche Exporte bei den Siegermächten mit höheren Zöllen belastet werden konnten, während der deutschen Seite diese Option für die Importe der Alliierten verwehrt war. Hinzu kam, dass die Reichsregierung wegen der im Vergleich zu anderen Ländern hohen Inflation einen Ausverkauf deutscher Werte befürchtete und sich gezwungen sah, 1919 Exportkontrollen zu erlassen. 1920 folgte eine Einfuhrverordnung, die alle Importe genehmigungspflichtig machte – erst mit der wirtschaftlichen Erholung und der Währungsstabilisierung hob die Regierung diese Außenwirtschaftskontrollen 33 Harm G. Schröter: Continuity and Change. German Multinationals since 1850, in: ders./ Geoffrey Jones (Hrsg.): The Rise of Multinationals in Continental Europe, Aldershot 1993, S. 28–48, hier: S. 30.
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1925 wieder auf. Die gestörte Vertrauensbasis zu vielen Handelspartnern in den Ländern der ehemaligen Kriegsgegner behinderte außerdem das Anbahnen neuer Geschäftsverbindungen. Darüber hinaus tobten in Russland Revolution und Bürgerkrieg, dadurch fiel ein Markt weitgehend fort, auf dem sich deutsche Akteure zuvor in besonderem Maße engagiert hatten. All dies spricht für eine Deglobalisierung der deutschen Wirtschaft, die sich allerdings mit dem Ende der Hyperinflation und dem Dawes-Plan 1923/1924 abschwächte, ablesbar unter anderem an den nun wieder nach Deutschland strömenden Krediten ausländischer, vor allem US-amerikanischer Geldgeber.34 Aber lässt sich hinter die These, die Zwischenkriegszeit sei eine Phase der wirtschaftlichen Deglobalisierung gewesen, nicht vielleicht doch ein Fragezeichen setzen? Christof Dejung hat sie beispielsweise bezweifelt und von einer »Epoche der Ent-Europäisierung des Globalen«35 gesprochen. Tatsächlich stiegen mit den USA, Japan und Lateinamerika neue Wirtschaftsmächte und -regionen auf, was die vormals doch eher eurozentrische Weltwirtschaft polyzentrierte. Peter Fäßler wiederum überschrieb in seiner Gesamtdarstellung zum Thema Globalisierung das Kapitel über die Zeit von 1914 bis 1945 als »Zeit der Gegenläufe«, in der sich deglobalisierende und globalisierende Prozesse zugleich abspielten und gegenseitig beeinflussten.36 Denn es kam durchaus zu einer Erweiterung der internationalen Transport- und Kommunikationsinfrastrukturen, also zum Ausbau der Telegraphen-, Telefon- und Eisenbahnnetze und zur Etablierung des internationalen Flugverkehrs. All diese Entwicklungen trugen dazu bei, die Transaktionskosten für international agierende Unternehmen zu senken. Und dies betraf auch den deutschen Raum. So begannen nach dem Ende der Seeblockade im Juli 1919 die von Deutschland ausgehenden Transatlantiklinien langsam wieder, die Kontinente untereinander zu verbinden. Der internationale Schiffsverkehr aus den deutschen Häfen bzw. in Richtung der deutschen Häfen erreichte Mitte der 1920er Jahre bereits wieder etwa 60 % des Umfangs von 1913.37 Im zivilen Luftverkehr entstand ein vergleichsweise dichtes Linienflugnetz, das vor allem für den Gütertransport genutzt wurde. Die 34 Florian Pressler: Die erste Weltwirtschaftskrise. Eine kleine Geschichte der Großen Depression, München 2013, S. 27–49. 35 Christof Dejung: Die Fäden des globalen Marktes. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des Welthandels am Beispiel der Handelsfirma Gebrüder Volkart 1851–1999, Köln 2013, hier: S. 255. 36 Peter E. Fäßler: Globalisierung. Ein historisches Kompendium, Köln/Weimar/Wien 2007. 37 Zahlen in Hartmut Rübner: Konzentration und Krise der deutschen Schifffahrt. Maritime Wirtschaft und Politik im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, Bremen 2005, S. 451.
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1926 gegründete Lufthansa weitete das eigene Streckennetz schnell aus, flog beispielsweise nach Moskau und Venedig, in den späten 1920er Jahren kamen die ersten Non-Stop-Atlantikflüge hinzu. Zwar war der Optimismus hinsichtlich der Aussichten weltwirtschaftlicher Integration durch Infrastrukturmaßnahmen etwa im Transportbereich nach 1918 deutlich abgeschwächt, doch auf der Realebene der die deutschen Grenzen überschreitenden Verkehrsvernetzung war der Pessimismus nicht in jeglicher Hinsicht gerechtfertigt.38 Auch im Kommunikationssystem hatten die Zerstörungen des Ersten Weltkrieges zwar Spuren hinterlassen – man denke nur an die Kappung der deutschen Unterseetelegrafenkabel im August 1914 und an die Verwüstung der Telegrafenstationen in den deutschen Kolonien – doch diese Unterbrechungen waren meist nur vorübergehender Natur: Schon bald hatten deutsche Unternehmen wieder Zugriff auf ein Telegrafennetz, das weltweit expandierte.39 Zumal der Telegrafie nach dem Krieg bald die Telefonie zur Seite gestellt wurde. Bereits in den späten 1920er Jahren verfügte Deutschland über das fortgeschrittenste Netzwerk für zwischenstaatliche Telefonie in ganz Europa. 40 Trotz der Verdichtung der transnationalen Transport- und Kommunikationsnetze, die eher Anzeichen einer wirtschaftlichen Globalisierung der Zwischenkriegszeit sind, bleibt aber die Frage, ob die von Dejung oder Fäßler formulierten Relativierungen der pauschalen These von der wirtschaftlichen Deglobalisierung in der Zwischenkriegszeit auch für die deutsche Situation plausibel sind. Eruiert werden sollte zudem, ob sie tatsächlich für die gesamte deutsche Außenwirtschaft zutreffen oder doch eher branchenspezifisch verifiziert oder falsifiziert werden müssten. So lässt sich zumindest für die Gesamtheit der deutschen Außenwirtschaft eine Ent-Europäisierung im größeren Umfang laut Béatrice Dedinger nicht feststellen: Bereits seit der Jahrhundertwende war der Anteil Europas am deutschen Außenhandel kontinuierlich zurückgegangen und machte bei Kriegsbeginn nur noch zwei Drittel aus. Dieser abnehmende Trend akzelerierte sich aber während der Weimarer Republik nicht, im Gegenteil wurde Europa in den frühen 1930er Jahren für die deutsche Außenwirtschaft 38 So die These von Dirk van Laak in: Verkehr und Infrastruktur in der Zeit der beiden Weltkriege, in: Ralf Roth/Karl Schlögel (Hrsg.): Neue Wege in ein neues Europa. Geschichte und Verkehr im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York 2009, S. 141–155. 39 Simone M. Müller: Wiring the World. The Social and Cultural Creation of Global Telegraph Networks, New York 2016. 40 Harm G. Schröter: The German Long Distance Telephone Network as a Large Technical System, 1919–1939, and its Spin-offs for the Integration of Europe, in: Francois Caron/ Paul Erker/Wolfram Fischer (Hrsg.): Innovations in the European Economy between the Wars, Berlin 1995, S. 83–105, hier: S. 103.
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sogar wieder wichtiger, während der Handel mit dem amerikanischen Kontinent, der Ende der 1920er Jahre noch mehr als ein Viertel betragen hatte, unter die 20 %-Marke sackte und der Handel mit dem asiatischen Kontinent bei einem Anteil um die 10 % verharrte. 41 Die These von der Ent-Europäisierung und Globalisierung des Handels im Sinne einer Ausweitung von Geschäftsradien deutscher Firmen lässt sich anhand dieser Zahlen für die Zwischenkriegszeit mithin nicht bestätigen. Quantitative Indizien sprechen tatsächlich eher für eine Deglobalisierung der deutschen Außenwirtschaft in dieser Phase. So lag die Exportquote der deutschen Wirtschaft, also der Anteil am Nettosozialprodukt zu Marktpreisen, in den Jahren zwischen 1910 und 1913 bei 17,5 %, 1924 bis 1927 aber nur noch bei 14,9 % und 1930 bis 1934 bei 12 %. 42 Der Anteil Deutschlands am europäischen Export sank von 24,7 % im Jahr 1913 auf 19,3 % im Jahr 1928. 43 Doch diese branchenübergreifende Analyse verallgemeinert zu sehr. Einige wenige Fallbeispiele mögen illustrieren, dass das Ausmaß von Deglobalisierung bzw. Globalisierung je nach Wirtschaftszweig tatsächlich unterschiedlich ausfiel. Untersucht man etwa die Entwicklung des deutschen Kaffeehandels, einer Branche, die mit einer klassischen globalen Ware handelte, so sprechen einige Beobachtungen für einen spezifischen Rhythmus von Deglobalisierung und Globalisierung in der Zwischenkriegszeit. 44 So kam der Kaffeeimport während des Krieges weitgehend zum Erliegen, die Kriegsblockade bis Juli 1919 verhinderte weiterhin alle Importe und wegen der Währungskrise wurde staatlicherseits 1920 ein Einfuhrstopp verhängt. Die Weltwirtschaftskrise traf dann auch den Kaffeehandel hart, sodass hiesige Kaffee-Importeure zur Gruppe jener Unternehmen gehörten, die Bankrott anmelden mussten – was vor dem Hintergrund, dass der deutsche Handel mit Lateinamerika in den Krisen-
41 Béatrice Dedinger: L’Allemagne et la France dans la mondialisation commerciale aux XIXe et XXe siècles, in: Jean-François Eck/Dietmar Hüser (Hrsg.): Deutschland und Frankreich in der Globalisierung im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2012, S. 33–51, hier: S. 40. 42 Wolfram Fischer: Expansion – Integration – Globalisierung. Studien zur Geschichte der Weltwirtschaft, Göttingen 1998, S. 198. 43 Ebd., S. 196. Von den Exportvolumina her bedeutete dies aber keinen so radikalen Einschnitt, erreichten diese zumindest in den Jahren 1928 und 1930 wieder das Vorkriegsniveau. 44 Dies und Folgendes nach Christiane Berth: Kaffeehandel in Krisenzeiten. Die Netzwerke deutscher Kaffee-Akteure in Zentralamerika 1919–1939, in: Sönke Kunkel/Christoph Meyer (Hrsg.): Aufbruch ins postkoloniale Zeitalter. Globalisierung und die außereuropäische Welt in den 1920er und 1930er Jahren, Frankfurt a. M. 2012, S. 62–81.
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jahren von 1929 bis 1932 um 70 % abfiel, nicht verwunderlich ist. Die 1931 eingeführte Devisenbewirtschaftung beschränkte den Überseehandel zusätzlich, der allgemeine Trend zum Protektionismus führte auch im deutschen Kaffeehandel zum Ausweichen auf bilaterale Abkommen. All dies sind Argumente, welche eher für eine Deglobalisierung sprechen. Doch es gab auch gegenläufige Tendenzen: So wanderten beispielsweise relativ viele Deutsche in der Nachkriegszeit nach Zentralamerika aus, die ihre noch frischen Verbindungen nach Deutschland nutzten, um den Kaffeehandel mit dem Reich zu intensivieren. Hinzu kam, dass die Kaffeebranche von den sich verbessernden Kommunikationsinfrastrukturen profitieren und ihre Transaktionskosten senken konnte. Es gab Erholungsphasen mit deutlichen Aufwärtstrends hinsichtlich der Handelsintensität und des -umfangs, was sich unter anderem in der Wiederöffnung der Hamburger Kaffee-Börse 1925 niederschlug. Kurzum: Es lassen sich beim deutschen Kaffeehandel viele auf eine Deglobalisierung hindeutende Entwicklungen feststellen, aber eben auch einige gegenläufige Tendenzen. Eindeutiger liegt der Fall in der Finanzbranche:45 Die Internationalisierung des Bankenwesens war bereits vor 1914 weit vorangeschritten gewesen, da im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein liberalisiertes Finanzsystem entstanden war, das es auch deutschen Geldanlegern erlaubt hatte, weitgehend ohne Restriktionen im Ausland zu investieren. 46 Dementsprechend hatten sich deutsche Banken vor 1914 über Direktinvestitionen und Portfolioanlagen beispielsweise in Eisenbahnprojekten in anderen Erdteilen engagiert, überseeische Industrieunternehmen und Handelstransaktionen finanziert oder mit ausländischen Wertpapieren gehandelt. Deutsche Übersee-Banken wie die Deutsch-Asiatische Bank hatten versucht, den britischen Finanzdienstleistern Konkurrenz zu machen, so wie insgesamt deutsche Banken über die Gründung von Tochtergesellschaften an wichtigen Finanzplätzen zu multinationalen Dienstleistern avanciert waren. Der Erste Weltkrieg stellte hier eine deutliche Zäsur dar, insbesondere der von Großbritannien geführte Wirtschaftskrieg etwa in Form des »Trading with the Enemy Act« führte schnell zum Zerreißen internationaler, Deutschland involvierender Netzwerke auf den Finanzmärkten. In den kriegführenden Ländern wurde das Bankenwesen umfassend verstaatlicht,
45 Dies und Folgendes nach Boris Barth: Die deutschen Auslandsengagements vor 1933. Ein Beitrag zur Debatte um die Globalisierung, in: Institut für bankhistorische Forschung (Hrsg.): Internationalisierungsstrategien von Kreditinstituten, Stuttgart 2003, S. 13–32. 46 Zur Vorkriegszeit siehe auch Richard Tilly: Der deutsche Kapitalmarkt und die Auslandsinvestitionen von 1870–1913, in: ifo Studien 38 (1992), S. 199–225.
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die Kontakte deutscher Banken zu ausländischen Finanzinstitutionen dadurch unterbrochen, ebenso wie der Kontakt zu den Niederlassungen im Ausland. Nach dem Krieg gab es umfangreiche Bemühungen, die internationalen Finanzbeziehungen der Vorkriegszeit wiederaufzubauen, letztlich scheiterten diese aber. Der Goldstandard konnte beispielsweise nicht reetabliert werden, so dass neben Wechselkurs- und Inflationsrisiken auch die Transaktionskosten stiegen. Die bereits erwähnte Beschlagnahmung des deutschen Auslandsvermögens traf deutsche Finanzdienstleister zudem hart. Ganz abgesehen davon vernichteten Inflation und Hyperinflation zwischen 1916 und 1923 einen großen Teil des deutschen Kapitals. Ein nennenswertes Auslandsgeschäft lässt sich daher in diesem Zeitraum für deutsche Banken kaum nachweisen. Zwischen 1924 und 1929 wendete sich allerdings das Blatt nicht nur für die deutsche Wirtschaft, sondern auch für die deutschen Banken wieder, die abermals begannen, Auslandskontakte zu knüpfen. Doch diese kurze Erholung wurde durch den Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 mitsamt dem dramatischen Rückgang der internationalen Warenströme und der Weltexportquote sowie durch die internationale Bankenkrise von 1931 wieder zunichtegemacht. Insbesondere letztere aber war ihrerseits ein Zeichen der internationalen Übertragung deflationärer Tendenzen respektive der globalen Verflechtung des deutschen Finanzmarktes, erklärt sich das Ausmaß des Einbruchs in Deutschland doch vor allem durch den Abzug bzw. das abrupte Ausbleiben US-amerikanischer Kredite. 47 Einschränkungen des freien Kapitalverkehrs als Folge von Protektionismus in Form von Devisenkontrollen und anderer Maßnahmen dominierten von nun an. Kurzum: Betrachtet man ausschließlich die internationalen Finanzmärkte, so kann für die Zeit von 1918 bis 1933 aus deutscher Sicht tatsächlich – abgesehen von einer kurzen Erholungsphase in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre – von einer Deglobalisierung gesprochen werden. So schätzt Boris Barth, dass der Grad der Globalisierung des deutschen Bank- und Finanzsektors von vor 1914 erst wieder Ende der 1960er/Anfang der 1970er erreicht worden ist. 48 Als stellvertretend für andere auslandsorientiert produzierende Branchen in Deutschland wie der Elektrotechnik und dem Maschinenbau kann die Entwicklung der Chemiewirtschaft herangezogen werden. 49 Denn mit ihr gerät die
47 Zu den Folgen der Großen Depression in Deutschland siehe u. a. Pressler, Weltwirtschaftskrise (wie Anm. 34), S. 126–143. 48 Barth, Auslandsengagements (wie Anm. 45), S. 31. 49 Dies und Folgendes nach Harm G. Schröter: Die Auslandsinvestitionen der deutschen chemischen Industrie 1870 bis 1930, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 35 (1990), S. 1–22.
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Situation eines Wirtschaftszweiges in den Blick, der vor 1914 eine weltweite Führungsrolle innegehabt und hohe Exportquoten aufgewiesen hatte (1913 stammten etwa 28 % der weltweiten Exporte dieser Branche aus Deutschland) sowie in bedeutendem Maße Direktinvestitionen im Ausland getätigt hatte und daher auch durch eine relativ hohe Zahl an MNU geprägt gewesen war.50 Dieser Wirtschaftszweig deglobalisierte sich nach dem Krieg ebenfalls graduell, was sich beispielsweise in der Exportquote niederschlug, die von 35,5 % im Jahr 1913 auf 31,3 % 1928 fiel. Die Chemiebranche wurde insbesondere durch die Enteignungen zum Ende des Krieges massiv getroffen: Von den 153 für das Jahr 1913 bekannten deutschen Chemiefirmen mit ausländischen Tochterunternehmen hatten 1920 nur noch 24 ihre Auslandszweige behalten. Sicherlich lag die Dunkelziffer deutlich höher. Doch interessanterweise wuchs letztere Zahl innerhalb der folgenden zehn Jahre wieder auf 85 an, wobei eine Verschiebung der Investitionen in Richtung derjenigen Länder Ost- und Südosteuropas stattgefunden hatte, die während des Krieges auf deutscher Seite gestanden hatten oder zumindest neutral geblieben waren. Und auch innerhalb der Branche hatten Verschiebungen stattgefunden, trauten sich doch nach dem Krieg fast nur noch Unternehmen mit Direktinvestitionen ins Ausland, die im Bereich der Farbenherstellung, der Reinigungsmittel oder Kosmetik und der Chemikalien tätig waren, während beispielsweise Düngemittelhersteller oder Pharmaunternehmen den Sprung kaum noch wagten. Von ersteren hatten auffällig viele vor dem Krieg noch keine Direktinvestitionen getätigt und daher keine Enteignungen erfahren. Mithin waren die Folgen des Krieges ein Grund
50 Zu den MNU – hier definiert als Muttergesellschaften, die über im Ausland produzierende Einheiten Verfügungsgewalt haben – siehe Mira Wilkins: Multinational Enterprise to 1930. Discontinuities and Continuities, in: Alfred D. Chandler/Bruce Mazlish (Hrsg.): Leviathans. Multinational Corporations and the New Global History, New York 2005, S. 45–79; zu den deutschen MNU siehe Peter Hertner: German Multinational Enterprise before 1914. Some Case Studies, in: Peter Hertner/Geoffrey Jones (Hrsg.): Multinationals. Theory and History, Aldershot 1983, S. 113–134. Weitere Wirtschaftszweige könnten analysiert werden. Zum Verlust der weltweiten Führungsrolle der deutschen elektrotechnischen Industrie in der Zwischenkriegszeit siehe z. B. Peter Hertner: Financial Strategies and Adaption to Foreign Markets. The German ElectroTechnical Industry and Its Multinational Initiatives. 1890s to 1939, in: Alice Teichova (Hrsg.): Multinational Enterprise in Historical Perspective, Cambridge 1986, S. 145–159. Globalisierungsstrategien der deutschen Stahlindustrie untersucht Françoise Berger: Les stratégies d’adaptation à la mondialisation. Étude comparée du secteur sidérurgique en France et en Allemagne au XXe siècle, in: Jean-François Eck/Dietmar Hüser (Hrsg.): Deutschland und Frankreich in der Globalisierung im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2012, S. 73–92.
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für die Risikoaversion vieler deutscher Chemieunternehmen, die sich stärker als zuvor auf den nationalen Markt konzentrierten. Allerdings gab es bedeutende Ausnahmen wie die IG Farben, die in den 1920er Jahren in den USA bereits wieder umfangreiche Direktinvestitionen tätigte. Gegen die pauschalisierende Rede von der Deglobalisierung spricht auch, dass viele deutsche Unternehmen innerhalb und auch jenseits der Chemiebranche wegen des grassierenden Kapitalmangels statt auf Direktinvestitionen auf internationale Kartelle setzten, um ihre Exporte wieder zu steigern – eine Intensivierung der Kooperation über staatliche Grenzen hinweg also.51 Ein solcher Ausbau internationaler Zusammenarbeit zeigt sich auch bei Organisationen oder Unternehmen, die auf internationaler Ebene Informationen über die Kreditwürdigkeit von Firmen oder auch Privatleuten sammelten – unter anderem tauschte die deutsche Creditreform in der Zwischenkriegszeit Informationen mit Büros in den Niederlanden, Österreich, der Schweiz, Schweden und der Tschechoslowakei aus.52 Es ist ein Forschungsdesiderat, die Vielzahl von Teilmärkten und Branchen zu vergleichen, um beurteilen zu können, ob die Zeit von 1914 bis 1933 wirklich als eine von nur wenigen Jahren gegenläufiger Entwicklung unterbrochene Epoche der Deglobalisierung der deutschen Wirtschaft betrachtet werden kann. Bisher spricht Vieles dafür, branchen- und phasenbedingt lassen sich jedoch auch konträre Entwicklungen nachweisen. Bestätigt wird dieses Bild, wenn nicht die bereits dargelegten deutschen Export-, sondern die Importentwicklungen analysiert werden, zeigt sich doch auch hier ein Rückgang in Bezug auf das Vorkriegsniveau: Die Importrate halbierte sich von 20,2 % in den Jahren 1910 bis 1913 auf 10,1 % in den Jahren 1930 bis 1934, auch, weil das Deutsche Reich die Zölle im Jahr 1920 auf 41 % anhob, die Agrarzölle sogar auf exorbitante 83 %.53 Der Anteil Deutschlands an den europäischen Importen sank daher von 21,2 % im Jahr 1913 auf 17,8 % im Jahr 1928. Das war zum Beispiel im Vergleich zu Frankreich eine deutlichere Abkopplung vom internationalen Handel. Zugleich war aber die Herkunft der importierten Waren insofern globaler im Vergleich zur Vorkriegszeit, als nun verstärkt US-amerikanische Produkte und Unternehmen auf den deutschen 51 Siehe für unterschiedliche Branchen z. B. Daniel Barbezat: Cooperation and Rivalry in the International Steel Cartel, 1926–1933, in: The Journal of Economic History 49 (1989), S. 435–447; Fäßler, Netzwerkbildung (wie Anm. 5). 52 Rowena Olegario: Credit Information, Institutions, and International Trade. The United Kingdom, United States, and Germany, 1850–1930, in: Christof Dejung/Niels P. Petersson (Hrsg.): The Foundation of Worldwide Economic Integration. Power, Institutions, and Global Markets, 1850–1930, Cambridge 2013, S. 60–85. 53 Fäßler, Globalisierung (wie Anm. 36), S. 109.
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Markt drängten. Die durch den Kapitalmangel noch geschwächten deutschen Firmen ließen Marktlücken, in die US-amerikanische Investoren drängten. Die USA avancierten so auch zum mit Abstand führenden Patentnehmer in Deutschland, zudem kauften US-Unternehmen Anteile deutscher Firmen auf.54 Dass in den späten 1920er Jahren Ford in Köln Produktionsstätten aufmachte, General Motors eine Mehrheitsbeteiligung bei der Opel AG erwarb, General Electric größere Anteile von Osram aufkaufte und ein großes Aktienpaket der AEG erwarb oder Coca-Cola in Deutschland eingeführt wurde, war symptomatisch: Bis 1930 eröffneten weit über 1.000 US-amerikanische Unternehmen in Deutschland Produktions- oder Vertriebsstätten – eine deutliche Globalisierung also, die allerdings auf deutscher Seite durchaus kritische Stimmen und Überfremdungsängste hervorrief.55 Anhand des Beispiels US-amerikanischen Wirkens auf dem deutschen Markt wird aber auch deutlich, dass der eher quantifizierende Blick auf die außenwirtschaftlichen Beziehungen Deutschlands und auf die Makrodaten nicht annähernd ausreicht, um die Frage nach Globalisierung und Deglobalisierung adäquat zu beantworten. Vielmehr ist es notwendig, auch Konsummuster, Managementstrukturen, Entwicklungen im Bereich der ökonomischen Leitbilder etc. zu betrachten.56 Beispielsweise betonen viele Studien, dass die Amerikanisierung in den Bereichen von Produktion, Handel, Konsum oder auch Werbung nicht erst als ein Phänomen der Zeit nach 1945 zu bezeichnen ist.57 Vielmehr sei die Zwischenkriegszeit, genauer: die Zeit ab der relativen Stabilisierung der Weimarer Republik als »Sattelzeit der Amerikanisierung«58
54 Spoerer/Streb, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 31), S. 54. 55 Diese Zahlen nach Alexander Schug: Missionare der globalen Konsumkultur. Corporate Identity und Absatzstrategien amerikanischer Unternehmen in Deutschland im frühen 20. Jahrhundert, in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.): Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Göttingen 2005, S. 307–342, insbes. S. 322. 56 Die Literaturlage zur »Amerikanisierung« ist überbordend, für die europäische Dimension siehe Victoria de Grazia: Irresistible Empire. America’s Advance Through Twentieth-Century Europe, Cambridge 2005; zur deutschen Situation siehe u. a. die Sammelbände Alf Lüdtke/Inge Marßolek/Adelheid von Saldern (Hrsg.): Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1996; Frank Becker/Elke Reinhardt-Becker: Mythos USA. »Amerikanisierung« in Deutschland seit 1900, Frankfurt a. M. 2006. 57 Zur sogenannten Amerikanisierung der deutschen Wirtschaft siehe z. B. Adelheid von Saldern: Transatlantische Konsumleitbilder und Übersetzungspraktiken 1900–1945, in: Heinz-Gerhard Haupt/Claudius Torp (Hrsg.): Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1900. Ein Handbuch, Frankfurt a. M. 2009, S. 389–402. 58 Schug, Missionare (wie Anm. 55), S. 308.
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anzusehen, ersichtlich u. a. an der selektiven Rezeption, kreativen Adaption und der kritischen Auseinandersetzung von und mit Taylorismus und Fordismus in Deutschland.59 Daher muss die Rede von der Deglobalisierung der deutschen Wirtschaft insofern differenziert werden, als sich zugleich etwa in der Wirtschaftskultur eben auch gegenläufige Tendenzen feststellen lassen. Ein weiterer Blick auf die Strukturen internationaler Wirtschaftskontakte beispielsweise in Form von Weltwirtschaftskonferenzen oder Messen würde das Bild abermals differenzieren.60
Wissenstransfers Abschließend sei noch ein Blick auf den transgesellschaftlichen Austausch von dem, was man »Konzepte« und »Ideen« nennen könnte, geworfen. Bekannt sind beispielsweise jene schon im späten Kaiserreich einsetzenden und in der Weimarer Republik fortgesetzten »Importe« von selektiv perzipierten, ebenso selektiv rezipierten sowie kreativ adaptierten Elementen afrikanischer oder auch asiatischer Kunst im Expressionismus, die einem Exotismus dienten, der im Rahmen einer Zivilisationskritik »Afrika« oder »Asien« zu Gegenmodellen stilisierte und damit auch erst konstruierte.61 Ebenso bekannt ist, wie in der Zwischenkriegszeit US-amerikanischer Jazz die deutschen Tanzlokale und USamerikanische Filme die deutschen Kinos eroberten, so wie insgesamt Elemente der amerikanischen Populärkultur sich in deutschen Städten großer Beliebtheit erfreuten – und gleichzeitig national orientierte Kulturkritiker auf den Plan riefen.62 Angesichts der unendlichen Menge an potenziellen Beispielen 59 Wala, Amerikanisierung (wie Anm. 29), S. 121–146. Wie von Saldern und Wala Aspekte der kritischen Zurückweisung und der kreativen Adaption »amerikanischer« Elemente betonen, so tut dies beispielsweise auch Paul Thomes: Searching for Identity. Ford Motor Company in the German Market (1903–2003), in: Hubert Bonin/Yannick Lung/ Steven Tolliday (Hrsg.): Ford, 1903–2003, Paris 2003, S. 151–196. Generell ist auch die Untersuchung von gescheiterten Einführungen ausländischer Waren auf dem deutschen Markt besonders interessant, siehe z. B. Ole Sparenberg: How the Germans did not Appropriate Fish and Chips. The Case of the Fischbratküche in the 1920s and 1930s, in: Christian Huck/Stefan Bauernschmidt (Hrsg.): Travelling Goods, Travelling Moods. Varieties of Cultural Appropriation (1850–1950), Frankfurt a. M. 2012, S. 61–78. 60 Siehe dazu auch den Beitrag von Jan-Otmar Hesse in diesem Band. 61 Wolfgang Lauber (Hrsg.): Die expressive Geste. Deutsche Expressionisten und afrikanische Kunst, Ostfildern 2007. 62 Martin Pfleiderer: Die Erfindung Amerikas aus dem Geiste des Jazz. Jazzrezeption in Deutschland zwischen den Weltkriegen; in: Michael Fischer/Christofer Jost (Hrsg.):
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für den Transfer solch eher kultureller Phänomene, kann eine entsprechende Betrachtung allerhöchstens pointillistisch ausfallen. Im Folgenden findet daher eine Konzentration auf die Rahmenbedingungen für den transnationalen wissenschaftlichen Austausch statt, anhand derer exemplarisch der Frage nach Deglobalisierungs- und Globalisierungstendenzen in der Zwischenkriegszeit aus deutscher Sicht nachgegangen wird. Auch hier lassen sich gegenläufige Entwicklungen ausmachen: So verlor Deutschland während der Weimarer Republik als Studienort an Attraktivität.63 Seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre ging die Zahl ausländischer Studierender an deutschen Universitäten zurück. Während Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg noch der beliebteste Studienort für ausländische Studierende gewesen war, waren zu Beginn der 1930er Jahre Frankreich und die USA zu den begehrteren Studienzielen avanciert. Allerdings erfolgte der Niedergang von einem hohen Niveau aus: 1925 kam immer noch jeder zehnte Studierende an deutschen wissenschaftlichen Hochschulen aus dem Ausland. Einen anderen Rhythmus weisen dagegen die von Gabriele Metzler erforschten internationalen Kontakte deutscher Wissenschaftler auf. Hier kann bereits der Erste Weltkrieg als deutlicher Einbruch für die deutsche Seite gewertet werden.64 Zuvor hatte der internationale wissenschaftliche Austausch seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmend Gestalt angenommen, sich quantitativ gesteigert und institutionalisiert. Die jeweiligen nationalen Akademien hatten begonnen, zusammenzuarbeiten und sich 1900 zur Internationalen Assoziation der Akademien zusammengeschlossen, einzelne Disziplinen hatten internationale
Amerika-Euphorie – Amerika-Hysterie. Populäre Musik Made in USA in der Wahrnehmung der Deutschen 1914–2014, Münster 2017, S. 39–54; Thomas J. Saunders: Hollywood in Berlin. American Cinema and Weimar Germany, Berkeley 1994. 63 Peter Drewek: »Die ungastliche deutsche Universität«. Ausländische Studenten an deutschen Hochschulen 1890–1930, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 5 (1999), S. 197–224. 64 Dies und Folgendes nach Gabriele Metzler: Deutschland in den internationalen Wissenschaftsbeziehungen, 1900–1930, in: Michael Grüttner/Rüdiger Hachtmann/Konrad H. Jarausch/Jürgen John/Matthias Middell (Hrsg.): Gebrochene Wissenschaftskulturen. Universität und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 55–82; siehe außerdem Christophe Charle (Hrsg.): Transnational Intellectual Networks. Forms of Academic Knowledge and the Search for Cultural Identities, Frankfurt a. M. 2003; Eckhardt Fuchs: Räume und Mechanismen der internationalen Wissenschaftskommunikation und Ideenzirkulation vor dem Ersten Weltkrieg, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 27 (2002), S. 125–143.
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Fachorganisationen gegründet.65 Ebenso hatte der internationale Tagungstourismus an Fahrt aufgenommen, sei es, dass man zu fachübergreifenden internationalen Wissenschaftskongressen etwa anlässlich der Weltausstellung 1904 nach St. Louis gereist war oder zu Fachtagungen der eigenen Disziplin. Hinzu kamen transnationale Publikationen, etwa in Form von Enzyklopädien oder Editionen. Des Weiteren waren erste bilaterale Austauschprogramme für Professoren institutionalisiert worden, zum Beispiel zwischen Deutschland und den USA,66 es gab die archäologischen Auslandsinstitute in Italien und Griechenland, wo sich Fachleute aus vielen Ländern begegneten.67 In all diesen Initiativen, die ihrerseits in nationale und auch imperiale Macht- und Prestigekonkurrenzen eingebunden waren, hatten deutsche Wissenschaftler bzw. Wissenschaftsorganisationen oft eine zentrale Rolle gespielt, das Renommee der deutschen Wissenschaft war vor 1914 international akklamiert. Doch mit dem Krieg, der zunehmenden Involvierung der deutschen Forschung in die Kriegsanstrengungen und insbesondere mit dem Aufruf »An die Kulturwelt« von 93 deutschen Wissenschaftlern im Oktober 1914 diskreditierte und isolierte sich die deutsche Wissenschaft für lange Zeit.68 Denn die wissenschaftlichen Institutionen, beispielsweise in Frankreich, Großbritannien oder Belgien und auch viele individuelle Wissenschaftler stellten nun die Kooperationen mit deutschen Partnern ein, schlossen die Unterzeichner des Aufrufs aus ihren Mitgliedschaften aus und stellten Korrespondenzen ein. Nach dem Krieg wiederum verweigerten die deutschen Wissenschaftler jegliche Geste der Entschuldigung oder Bescheidenheit: Schroff wiesen sie das Ansinnen
65 Anhand des Beispiels der Historiker: Karl Dietrich Erdmann: Die Ökumene der Historiker. Geschichte der Internationalen Historikerkongresse und des Comité international des sciences historiques, Göttingen 1987. 66 Ragnhild Fiebig von Hase: Die politische Funktionalisierung der Kultur. Der sogenannte »deutsch-amerikanische« Professorenaustausch von 1904–1914, in: dies./Jürgen Heideking (Hrsg.): Zwei Wege in die Moderne. Aspekte der deutsch-amerikanischen Beziehungen 1900–1918, Trier 1998, S. 189–221; zum Austausch zwischen Deutschland und den USA siehe Gabriele Lingelbach: Cultural Borrowing or Autonomous Development? American and German Universities in the late Nineteenth Century, in: Thomas Adam/Ruth Gross (Hrsg.): Travelling between Worlds. German-American Encounters, College Station 2006, S. 100–123. 67 Gabriele Lingelbach: Klio macht Karriere. Die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft in Frankreich und den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2003, S. 191–195. 68 Jürgen von Ungern-Sternberg/Wolfgang von Ungern-Sternberg: Der Aufruf »An die Kulturwelt!«. Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg, Frankfurt a. M. 2013.
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zurück, das Manifest der 93 zurückzunehmen und warteten darauf, in die internationalen Institutionen wieder aufgenommen oder zu Vorträgen im Ausland eingeladen zu werden, was aber nicht geschah. Zu groß waren insbesondere auf belgischer und französischer Seite die Vorbehalte, zugleich aber vollzog sich eine Selbstisolation der deutschen Wissenschaftler. In der Folge fanden von den 135 internationalen Wissenschaftskongressen, die zwischen 1922 und 1924 veranstaltet wurden, zwei Drittel ohne deutsche Beteiligung statt.69 Da außerdem Deutschland dem Völkerbund erst 1926 beitrat, war der Zugang zu dessen wissenschaftsbezogenen Kommissionen und Komitees für deutsche Experten ebenfalls schwierig, wenn auch nicht unmöglich.70 Die deutschen Wissenschaftler versuchten, den Verlust an wissenschaftlichen Kontakten mit den westlichen Wissenschaftsnationen zumindest ansatzweise auszugleichen, streckten ihre Fühler in andere Richtungen, eher nach Ost- und Südosteuropa aus, aber eine Kompensation stellte dies nur in Ansätzen dar. Vor allem die USA füllten nun die von Deutschland gelassene Lücke als international führende Wissenschaftsnation. Zusätzlich zu dem Verlust an internationalen Kontakten deglobalisierte sich die deutsche Wissenschaft aber auch aufgrund der Knappheit finanzieller Mittel: So mussten beispielsweise Bibliotheken ihre Bestände ausländischer wissenschaftlicher Zeitschriften rigoros zusammenkürzen, um die knappen Etats nicht überzustrapazieren. Insgesamt überwogen im Bereich des internationalen Wissenschaftsaustauschs und -kontakts zunächst mithin eher die deglobalisierenden Momente. Erst in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre begannen einige Annäherungen an die internationale scientific community wieder Früchte zu tragen, was sich an der Teilnahme deutscher Wissenschaftler an internationalen Konferenzen ablesen lässt, aber auch daran, dass wieder mehr deutsche Studierende ins Ausland gingen, etwa nach Frankreich, in die Schweiz, nach Großbritannien und in die USA. Alles in allem ergibt sich also auch in Hinblick auf die transnationalen Wissenschaftskontakte ein ambivalentes Bild von Globalisierungsund Deglobalisierungstendenzen in der Zwischenkriegszeit mit durchaus auch gegenläufigen Entwicklungsrhythmen bei einzelnen Teilaspekten.
69 Metzler, Wissenschaftsbeziehungen (wie Anm. 64), S. 78. 70 Eckhardt Fuchs: The Creation of New International Networks in Education. The League of Nations and Educational Organizations in the 1920s, in: Paedagogica Historica 43 (2007), S. 199–209.
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Resümee Welches Fazit kann also nach dem Überblick über die verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche gezogen werden? Sicherlich eines, das einen Aufruf zur Differenzierung beinhaltet und damit zur Abkehr von der pauschalisierenden Rede, die Zwischenkriegszeit sei eine Phase der Deglobalisierung gewesen. Denn deutlich wurde, erstens, dass nach gesellschaftlichen Teilbereichen unterschieden werden sollte: je nach gesellschaftlichem Subsystem und den in diesen relevanten Akteursgruppen waren globalisierende und deglobalisierende Tendenzen je spezifisch gemischt. In vielen Bereichen waren Verflechtungen und Vernetzungen bereits 1914 so verfestigt, dass sie sich auch durch den Krieg und die anschließenden politischen und ökonomischen Krisen nicht auflösten. Andere gesellschaftliche Teilbereiche aber erfuhren tatsächlich einen Rückbau internationaler Kontakte und Verflechtungen mit den entsprechenden politischen, sozialen, wirtschaftlichen und mentalen Konsequenzen. Man muss mithin auch die »spezifisch-selektive Wirksamkeit von Interaktionsbarrieren« und die »relative Autonomie einzelner gesellschaftlicher Bereiche« berücksichtigen, wenn man die Frage nach Globalisierungs- oder Deglobalisierungstendenzen in der Weimarer Republik stellt.71 Die Differenzierung nach gesellschaftlichen Subsystemen sensibilisiert daher auch für die Feststellung, dass zweitens stärker gefragt werden muss, ob nicht auch eine regionale Differenzierung angebracht ist: Die ländliche Globalisierung und Deglobalisierung unterlagen anderen Rhythmen als die städtische, wo große exportorientierte Firmen oder international ausgerichtete Wissenschaftsorganisationen ihren Sitz hatten und tayloristische Produktionsformen die Lebenswelten stärker veränderten. Die Gebiete im Osten des Reichs waren wiederum stärker durch Migration geprägt als etwa der agrarisch dominierte Norden im heutigen Schleswig-Holstein. Es gilt mithin, regional und sogar lokal zu spezifizieren. Das bedeutet auch, dass man aus den Überlegungen, die im Rahmen des Glokalisierungsansatzes bzw. der Translokalität angestellt wurden, auch für die deutsche Geschichte von 1918 bis 1933 Funken schlagen könnte.72 Konkrete Orte, seien sie nun Tourismusdestinationen, Hafenstädte oder Regionen mit großen Migrantenpopulationen, die von Globalisierungs-
71 Fäßler, Globalisierung (wie Anm. 36), S. 119. 72 Angelika Epple: Lokalität und die Dimensionen des Globalen. Eine Frage der Relationen, in: Historische Anthropologie 21 (2013), S. 4–25; Roland Robertson: Glocalization. Time-Space and Homogeneity-Heterogeneity, in: Mike Featherstone/Scott Lash/Roland Robertson (Hrsg.): Global Modernities, London 1995, S. 25–44.
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und Deglobalisierungsphänomenen betroffen waren und globale Prozesse vor Ort konfigurierten, ließen sich hier gewinnbringend auch für die Weimarer Republik untersuchen. Neben der strukturellen und der regionalen ist drittens eine Differenzierung vorzunehmen, die wohl besonders wichtig ist: eine chronologische. Nach dem Krieg fand in vielen Gesellschaftsbereichen eine kurzfristige Renaissance kleinräumiger Beziehungen und somit eine Degloba lisierung statt, die sogenannten Goldenen 20er Jahre sahen aber eher eine Ausweitung und Intensivierung von Vernetzungen, etwa in der Wirtschaft seit dem Ende der Hyperinflation in den Jahren 1923/24, die während der Großen Depression zumindest teilweise dann doch wieder zurückgenommen wurden. Des Weiteren sollte viertens unterschieden werden, wohin sich die grenzüberschreitenden Verflechtungen von Deutschland aus richteten. Es war schließlich nicht »die Welt«, mit der sich deutsche Akteure und Strukturen verbanden oder auch entkoppelten, vielmehr waren die Verbindungen zu den westeuropäischen Nachbarn und nach Nordamerika deutlich dichter als jene zu asiatischen oder afrikanischen Regionen, zudem intensivierten sich in einigen Teilbereichen die Kontakte nach Südosteuropa. Würde man für die zeitgenössischen deutschen Unternehmer, Wissenschaftler oder auch Auslandskorrespondenten auf Weltkarten Netzwerke visualisieren, dann würden sich die Verbindungslinien in den meisten Fällen wohl kaum in erster Linie Richtung Asien oder Afrika ausstrecken. Vielmehr gäbe es Verdichtungen und Ausdünnungen je nach Weltregion, je nach Land in verschiedenem Maße, die noch dazu starkem Wandel unterworfen waren, stiegen doch die USA in den Mental Maps vieler Deutscher seit den 1920er Jahren zu einem zentralen Fixpunkt auf. Zu guter Letzt gilt es für die Epoche der Weimarer Republik noch eine übergreifende Frage zu klären: Was kann als die deutsche Spezifik der Gemengelage von Deglobalisierung und Globalisierung für die Zwischenkriegszeit angesehen werden? Ist beispielsweise der letztlich doch deutliche Rückgang an transnationaler wirtschaftlicher Verflechtung als ein deutscher Sonderfall zu bewerten, resultierend aus Kriegsniederlage und spezifischer Struktur der deutschen Vorkriegswirtschaft? Oder war dies der globale oder zumindest europäische Normalfall? Allgemeiner gesprochen: Deglobalisierte sich Deutschland in der Zwischenkriegszeit stärker als andere Regionen beispielsweise Europas eben wegen der spezifischen Folgen von Krieg und Niederlage? Erst im europäischen, im transkontinentalen, aber auch im globalen Vergleich ließe sich herausarbeiten, ob Deutschland in der Zwischenkriegszeit einen »Sonderweg« der Deglobalisierung und Globalisierung ging. Um diese Fragen bereits zu beantworten, steckt die Forschung zur Globalgeschichte der Weimarer Republik allerdings noch zu sehr in ihren Anfängen.
Postkoloniale Orientierungen
Jürgen Dinkel
»Mecca of Oriental patriots« Antikolonialismus in Deutschland 1900 bis 1960
Einleitung Im November 1909 erhielt die britische Polizei Informationen über die ihr bis dahin unbekannte Zeitschrift »The Talwar«.1 In dieser von Virendranath Chattopadhyaya – kurz Chatto – herausgegebenen Zeitschrift wurde die britische Kolonialherrschaft in Indien stark kritisiert, es wurde sogar zu deren gewaltsamer Beseitigung aufgerufen. Die britische Polizei ging zunächst davon aus, dass die Zeitschrift in Berlin gedruckt worden sei. Sie fragte daher bei ihren deutschen Kollegen an, ob diese ihnen weitere Informationen über die Herausgeber und das Unterstützernetzwerk der Zeitschrift übermitteln könnten. Daraufhin teilte ihr die deutsche Polizei mit, dass die Zeitschrift nicht in Deutschland gedruckt worden sei, und fügte in einer zutreffenden Lagebeurteilung noch hinzu, dass Berlin nur eine marginale Position in antikolonialen Netzwerken einnehme. In Berlin befänden sich nur ein halbes Dutzend Inder, die völlig harmlos wären.2 Berlin und alle anderen deutschen Städte waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts keine Zentren antikolonialer Aktivitäten. Ganz anders stellte sich die Situation zwanzig Jahre später dar. Antikoloniale Tätigkeiten hatten in Deutschland stark zugenommen und von Deutschland gingen bedeutende Impulse zur globalen Vernetzung kolonialkritischer Gruppierungen aus. Chatto und Willi Münzenberg organisierten beispielsweise von Berlin aus den Zweiten Internationalen Kongress der Liga gegen Imperialismus und für nationale Unabhängigkeit. Ungefähr 200 Kolonialkritiker aus allen Erd-
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Das Titelzitat befindet sich in: Har Dayal: Forty-four Months in Germany and Turkey, February 1915 to October 1918. A record of personal impressions, London 1920, S. 55: »Berlin was the Mecca of Oriental patriots of all shades of opinion. Their common bond was hatred of England and France. Every one formed plans for the regeneration of his Fatherland after the war.« Daniel Brückenhaus: Policing Transnational Protest. Liberal Imperialism and the Surveillance of Anticolonialists in Europe, 1905–1945, New York 2017, S. 26.
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teilen kamen hierfür im Juli 1929 in Frankfurt am Main zusammen. Unter der Schirmherrschaft von Albert Einstein, Upton Sinclair und Maxim Gorki riefen die Redner, darunter Mohammed Hatta, der spätere Außenminister Indonesiens, Jomo Kenyatta, der spätere Präsident Kenias, oder auch Diego Rivera zum Kampf gegen die europäische Kolonialherrschaft und die imperialistische Politik der Vereinigten Staaten auf. Einzelne deutsche Städte waren somit Ende der 1920er fest in transnationale, antikoloniale Netzwerke eingebunden und bildeten zentrale Knotenpunkte kolonialkritischer Aktivitäten.3 Dies änderte sich allerdings schon wenige Jahre später. Unter den Präsidialkabinetten der späten Weimarer Republik und in der Frühphase des Dritten Reichs ging die Polizei gegen zahlreiche antikoloniale Vereinigungen vor und löste diese auf. Auch die in Berlin ansässige Liga gegen Imperialismus verlegte nach mehreren Hausdurchsuchungen ihren Hauptsitz erst nach Paris und dann nach London. Einen ähnlichen Weg schlugen viele in Deutschland ansässige Kolonialkritiker ein, die das Land in Richtung seiner westlichen, liberaleren Nachbarländer verließen. Andere Kolonialkritiker wie Chatto setzten auf das revolutionäre, antikoloniale Potenzial der jungen Sowjetunion und emigrierten nach Moskau. Gleichwohl blieb Deutschland – wenngleich in geringerer Intensität – auch nach der Weimarer Republik bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg in transnationale antikoloniale Netzwerke eingebunden. Das nationalsozialistische Deutschland kooperierte auf dem Weg in den Zweiten Weltkrieg mit den Anführern einzelner antikolonialer Gruppierungen wie zum Beispiel Subhash Chandra Bose oder Mohammed Amin al-Husseini. Und nach dem Zweiten Weltkrieg stellte die Bundesrepublik Deutschland einen der wichtigsten Operationsräume der algerischen Unabhängigkeitsbewegung außerhalb Frankreichs dar, während die Deutsche Demokratische Republik eine antikoloniale und antiimperialistische Außenpolitik sogar zur offiziellen Staatsräson erklärte. Transnationale antikoloniale Vernetzungen stellen damit einen geeigneten Untersuchungsgegenstand dar, durch deren Analyse sich an einem konkreten Fallbeispiel ein Beitrag zu den übergeordneten Fragen nach den Verflechtungen zwischen Weimar und der Welt leisten lässt. Hierzu ist es jedoch notwendig, Analysekategorien wie »Deutschland« oder auch »Welt« aufzubrechen und zu schärfen und möglichst konkret nach Austauschbeziehungen zwischen einzelnen Akteuren innerhalb bestimmter Räume zu fragen. Dies gilt auch 3
Der Ablauf des Kongresses ist nur bruchstückhaft in Veröffentlichungen der kommunistischen Internationalen Pressekorrespondenz überliefert; vgl. zum Beispiel »Informations- und Pressedienst«, Nr. 4 (22. Juli 1929).
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für die Kategorien »Antikolonialisten« und »antikoloniale Netzwerke«. Denn in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kritisierte ein extrem heterogenes Akteurs-Ensemble von Nationalisten über Liberale bis hin zu Kommunisten aus Deutschland und aus den Kolonien die europäische Kolonialpolitik, wobei ihre Forderungen von der Reform kolonialer Herrschaft bis zu deren sofortiger Beendigung reichten. Ebenso vielfältig waren die Argumente, auf die sie sich dabei beriefen, und die je nach Erfahrung und ideologischer Überzeugung von nationalistischen Forderungen nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker über wirtschaftspolitische Überlegungen bis hin zu kommunistischen Analysen des Imperialismus reichten. Dies bedeutete zugleich, dass die Gegner des Kolonialismus unterschiedliche Ziele mit ihrem Kampf gegen koloniale Herrschaft verfolgten und auf unterschiedliche, meist ohnehin nur vage ausformulierte postkoloniale Ordnungen hinarbeiteten. Der Antikolonialismus der Weimarer Republik war höchst eklektizistisch und manifestierte sich in unterschiedlichen personellen und organisatorischen Konstellationen. Gleichwohl lässt sich bei generelleren Aussagen über mehrere Akteure deren zusammenfassende Kennzeichnung als Kolonialgegner, -kritiker oder Antikolonialisten kaum vermeiden. Dadurch treten Unterschiede zwischen ihnen in den Hintergrund, die jedoch immer mitzudenken sind. Um die Fragen nach den Verflechtungen zwischen Weimar und der Welt daher sowohl möglichst präzise als auch anschlussfähig zu beantworten, wird in diesem Aufsatz sieben Fragekomplexen nachgegangen: 1. Welchen quantitativen Umfang nahmen die Verflechtungen zwischen kolonialkritischen Akteuren in Deutschland und außerhalb des Landes an und welche Qualität und Intensität hatten sie? 2. Wie manifestierten sich diese Verflechtungen? Wie sah die Praxis der Verflechtungen aus und wie wurden sie inszeniert und symbolisiert? 3. Aus welchen Gesellschaftsbereichen stammten die jeweiligen Akteure und welche Akteursgruppen waren miteinander verbunden? 4. Welche konkreten Orte und Regionen in Deutschland waren mit welchen konkreten Orten und Regionen in der Welt verbunden? 5. Wie sahen die Verflechtungsrichtungen aus? Welche Impulse kamen von außen, welche Impulse gingen von Akteuren in Deutschland in die Welt hinaus? 6. Wie beeinflussten diese Verflechtungen die Wahrnehmung von Deutschland und wie beeinflussten sie die Wahrnehmung der Welt von Akteuren in Deutschland? 7. Wie lassen sich diese Ver- und Entflechtungen periodisieren? In den klassischen Gesamtdarstellungen zur Geschichte der Weimarer Republik finden sich nur wenige Antworten auf diese Fragen. Antikoloniale Verflechtungen zwischen Akteuren in Deutschland und in anderen Weltregionen werden darin nur am Rande oder gar nicht behandelt. Demgegenüber hat die
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Forschung zur Geschichte des Kolonialismus und zur Dekolonisierung unser Wissen über antikoloniale Akteure, Netzwerke und Debatten in der Zwischenkriegszeit enorm erweitert. 4 Dies gilt auch für die Arbeiten der zahlreichen postkolonialen Initiativen, die überwiegend koloniale Spuren in einzelnen deutschen Städten sichtbar machten.5 Vor diesem Hintergrund verfolgt der Beitrag das Ziel, die Verflechtungsgeschichte antikolonialer Netzwerkbildung in die Geschichte Deutschlands von ca. 1900 bis 1960 zu integrieren, mit Schwerpunkt auf die Zeit der Weimarer Republik. Die Verflechtungsgeschichte zwischen Weimar und der Welt wird in diesem Beitrag exemplarisch anhand des indischen Nationalisten und Kosmopoliten Virendranath Chattopadhyaya (kurz: Chatto) erzählt.6 Die von ihm gemachten 4
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Für eine Darstellung des aktuellen Forschungsstandes vgl. Brückenhaus, Policing (wie Anm. 2); siehe auch Marianne Bechhaus-Gerst/Joachim Zeller (Hrsg.): Deutschland postkolonial? Die Gegenwart der imperialen Vergangenheit, Berlin 2018. Ulrich van der Heyden/Joachim Zeller (Hrsg.): Kolonialismus hierzulande. Eine Spurensuche in Deutschland, Erfurt 2007; Anne-Kathrin Horstmann/Marianne BechhausGerst (Hrsg.): Köln und der deutsche Kolonialismus. Eine Spurensuche, Köln/Wien/ Weimar 2013; Heiko Möhle/Susanne Heyn/Susann Lewerenz: Zwischen Völkerschau und Kolonialinstitut. AfrikanerInnen im kolonialen Hamburg, Hamburg 2006; einen ersten Überblick über die zahlreichen postkolonialen Initiativen in Deutschland bietet die Homepage: Postkoloniale Initiativen in Deutschland, online verfügbar: https://www. kolonialismus.uni-hamburg.de/postkoloniale-initiativen-in-deutschland-2/ (zuletzt abgerufen am: 17. Februar 2019). Nirode K. Barooah: Chatto. The Life and Times of an Indian Anti-Imperialist in Europe, New Delhi 2004; Heike Liebau: Chattopadhyaya, Virendranath, in: 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War, online verfügbar: https://encyclopedia.1914-1918-online.net/article/chattopadhyaya_virendranath (zuletzt abgerufen am: 17. Februar 2019); Purnima Bose: Transnational Resistance and Fictive Truths. Virendranath Chattopadhyaya, Agnes Smedley and the Indian Nationalist Movement, in: Journal of South Asian History and Culture 2 (2011), Nr. 4, S. 502–521; Ole Birk Laursen: Anti-Colonialism, Terrorism and the ›Politics of Friendship‹: Virendranath Chattopadhyaya and the European Anarchist Movement, 1910–1927, in: Anarchist Studies 27 (2019), Nr. 1, S. 47–62. Zu indischen Nationalisten und Revolutionären in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vgl. Michele L. Louro: Comrades against Imperialism. Nehru, India, and Interwar Internationalism, Cambridge/New York 2018; Henrik Chetan Aspengren: Indian Revolutionaries Abroad. Revisiting their Silent Moments, in: Journal of Colonialism and Colonial History 15 (2014) Nr. 3; Sugata Bose/Kris Manjapra (Hrsg.): Cosmopolitan Thought Zones. South Asia and the Global Circulation of Ideas, Basingstoke 2010; Harald Fischer-Tiné: »Indian Nationalism and the World Forces«. Transnational and Diasporic Dimensions of the Indian Freedom Movement on the Eve of the First World War, in: Journal of Global History 2 (2007), S. 325–344; Ole Birk Laursen (Hrsg): M. P. T. Acharya: We Are Anarchists: Essays on Anarchism, Pacifism, and the Indian Independence Movement, 1923–1953, Chico (CA)/Edinburgh 2019;
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Erfahrungen und seine Handlungen sind – so die Annahme des Beitrags – in vielerlei Hinsicht charakteristisch für in der Zwischenkriegszeit in Europa tätige, aus außereuropäischen Regionen stammende, antikoloniale Akteure. Gleichwohl führt die Konzentration auf Chatto dazu, dass eine bestimmte Variante antikolonialer Aktivität in den Vordergrund gerückt wird, während andere nur angedeutet werden können. Chatto als indischer Nationalist war eng in kommunistische Netzwerke eingebunden und sein antikoloniales Engagement war hauptsächlich gegen das Britische Empire gerichtet und damit in weiten Teilen anti-britisch. Dies galt jedoch nicht für Migranten aus den Kolonien der anderen europäischen Kolonialmächte. Der aus Indonesien stammende und überwiegend in den Niederlanden aktive Mohammed Hatta agitierte beispielsweise vornehmlich gegen die niederländische Kolonialmacht und der aus Indochina nach Paris immigrierte Nguyen Ai Quoc (Ho Chi Minh) hauptsächlich gegen die französische Kolonialmacht. Im Folgenden werden daher vor allem die Gemeinsamkeiten zwischen Chatto und anderen antikolonialen Akteuren herausgearbeitet, Unterschiede werden mit Verweis auf weiterführende Studien nur kurz skizziert.
Antikoloniale Zentren und Netzwerke in Europa und Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg Virendranath Chattopadhyaya kam im Jahr 1880 in Hyderabad zur Welt. Er war der älteste Sohn einer wohlhabenden, gebildeten bengalischen Familie. Sein Vater Aghorenath Chattopadhyaya hatte in Edinburgh promoviert, war Professor am prestigeträchtigen Nizam College in Hyderabad und legte großen Wert auf die Ausbildung seiner acht Kinder. Ebenso wie seine ältere Schwester Sarojini Naidu, eine später berühmt gewordene indische Poetin und Politikerin, wurde Chatto daher nach seinem Studium an den Universitäten in Madras und Kalkutta zur weiteren Ausbildung ins Mutterland des British Empire geschickt. Im Jahr 1902 wechselte er zur Vorbereitung auf eine Karriere im Indian Civil Service als Jura-Student an die Universität Oxford.7
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ankaj Mishra: From the Ruins of Empire. The Revolt against the West and the Remaking P of Asia, London 2012; Zaib un Nisa Aziz: Passages from India: Indian anti-colonial activism in exile, 1905–20, in: Historical Research 90 (2017), Nr. 248, S. 404–421; Priyamvada Gopal: Insurgent Empire. Anticolonial Resistance and British Dissent, New York 2019. Barooah, Chatto (wie Anm. 6), S. 7–29.
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Chatto steht damit repräsentativ für die verstärkte Migration von den Kolonien in die europäischen Mutterländer zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Diese Migration erfolgte – entsprechend der Größe und Dauer der bestehenden Kolonialreiche – hauptsächlich nach Frankreich und Großbritannien, weniger nach Portugal, Belgien, in die Niederlande und das Deutsche Kaiserreich. Einen kleinen Teil dieser Migranten machten die Gegner kolonialer Herrschaft aus. Um den strengen Zensurrichtlinien und Sondergesetzen in den Kolonien zu entgehen, zogen sie in die liberaleren europäischen Zentren der Kolonialmächte, wovon sie sich einen größeren Handlungsspielraum für ihre kolonialkritischen Aktivitäten erhofften. Die Mehrzahl der außereuropäischen Migranten war zunächst allerdings weitgehend unpolitisch. Zum Teil stammten sie wie Chatto oder Jawaharlal Nehru aus den lokalen Eliten in den Kolonien und reisten zur weiteren Ausbildung in die Zentren der kolonialen Imperien, zum Teil führte sie die Suche nach Arbeit nach Europa.8 Andere kamen als Bedienstete ihrer europäischen Herrschaften – wie Franz Seelemann, der später an der deutschen Kolonialschule in Witzenhausen als Hausdiener arbeitete – oder im Zuge von Truppenverschiebungen als Kolonialsoldaten in Europa an.9 Die von Migranten in den europäischen Metropolen gemachten alltäglichen Erfahrungen sozialer Benachteiligung und rassistischer Diskriminierung im Umgang mit Behörden und Vermietern, auf dem Arbeitsplatz und auf der Straße führten schnell dazu, dass sie sich zunehmend zunächst sozial und dann auch politisch betätigten und organisierten. Zielte das soziale Engagement vor allem auf das Überleben und Zurechtkommen am neuen Wohnort und manifestierte es sich im Aufbau von Hilfskomitees aller Art, war das politische auf die Reform oder gar den Umsturz des sie benachteiligenden politischen Systems gerichtet. In diesen Kontexten griffen Migranten antikoloniale Ideen auf und schlossen sich antikolonialen Netzwerken an, die häufig auch soziale Hilfeleistungen anboten. Umgekehrt warben bereits überzeugte Kolonialkritiker, Gewerkschaftler, Sozialdemokraten oder Kommunisten unter den neu an-
8 Adam McKeown: Global Migration 1846–1940, in: Journal of World History 15 (2004) Nr. 2, S. 155–189. 9 Robbie Aitken/Eve Rosenhaft: Black Germany. The Making and Unmaking of a Diaspora Community, 1884–1960, Cambridge/New York 2013; Karsten Linne: Von Witzenhausen in die Welt. Ausbildung und Arbeit von Tropenlandwirten 1898 bis 1971, Göttingen 2017; Marion Hulverscheidt/Hendrik Dorgathen (Hrsg.): Raus Rein. Texte und Comics zur Geschichte der ehemaligen Kolonialschule in Witzenhausen, Berlin 2016.
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kommenden Migranten gezielt um deren Mitarbeit in ihren Organisationen.10 Dieses Muster zeigte sich auch bei Chatto, der zwar bereits während seiner Studienzeit in Indien mit kolonialkritischen Ideen in Kontakt gekommen war, der sich aber erst nach einigen Jahren in England der sich im Londoner India House treffenden Gruppe indischer Nationalisten und Revolutionäre unter der Führung von Shyamji Krishnavarma anschloss.11 Von dort aus gab er dann in den Jahren 1909 und 1910 die kolonialkritische Zeitschrift »The Talwar« heraus. Dadurch knüpfte er zugleich Kontakte zu anderen in Europa ansässigen Kolonialkritikern, ebenso wie durch seine anschließende Flucht vor der britischen Polizei nach Paris, wo er sich von 1910 bis 1914 aufhielt, und durch weitere Reisen in andere europäische Städte. Als Teilnehmer am Stuttgarter Kongress der Zweiten Internationale im Jahr 1907 lernte er beispielsweise Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg kennen.12 Auch im Deutschen Kaiserreich wurde Kritik an der europäischen Expansion geübt. Kolonialkritiker entwickelten im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine ganze Reihe an Argumenten häufig zur Reform, seltener zur Abschaffung kolonialer Herrschaft.13 Das Spektrum der vorgebrachten Argumente reichte von Hans Paasches liberal-humanitär motivierten Vorwürfen gegen die mit kolonialer Herrschaft einhergehenden Gewaltpraktiken und Rassismen über Walther Rathenaus wirtschaftspolitische Kosten-Nutzen-Rechnungen, die in kolonialer Herrschaft ein Verlustgeschäft des Reiches sah, bis hin zu Friedrich von Bernhardis geopolitischer und militärstrategischer Logik, nach der – angesichts eines wahrscheinlichen, zukünftigen Krieges gegen England und Frankreich – ein Bündnis Deutschlands mit den nationalen Unabhängigkeitsbewegungen in den französischen und britischen Kolonien zu begrüßen sei.14
10 Michael Goebel: Anti-imperial Metropolis. Interwar Paris and the Seeds of Third World Nationalism, New York 2015; Marc Matera: Black London. The Imperial Metropolis and Decolonization in the Twentieth Century, Berkeley, Calif. 2015. 11 Harald Fischer-Tiné: Shyamji Krishnavarma. Sanskrit, Sociology and Anti-imperial Struggle, London/New Delhi 2014. 12 Barooah, Chatto (wie Anm. 6), S. 22 ff. 13 Benedikt Stuchtey: Die europäische Expansion und ihre Feinde. Kolonialismuskritik vom 18. bis in das 20. Jahrhundert, München 2010. 14 Hans Paasche: Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland, Hamburg 1921; Walther Rathenau: Denkschrift über den Stand des südwestafrikanischen Schutzgebietes (September 1908), wiederabgedruckt in: Nachgelassene Schriften, Bd. 2, Berlin 1928, S. 74–141; Friedrich von Bernhardi: Deutschland und der nächste Krieg, Stuttgart 1912; zum geopolitischen Denken in der Weimarer Republik vgl. den Beitrag von Andy Hahnemann in diesem Band.
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Ähnlich wie in den anderen europäischen Kolonialreichen waren koloniale Herrschaftsformen im Kaiserreich umstritten. Anders als in Großbritannien oder in Frankreich kam die antikoloniale Kritik in Deutschland aber weniger von Migranten aus den Kolonien, sondern wurde hauptsächlich von aus Deutschland stammenden Personen formuliert. Das heißt, auf diskursiver Ebene war Deutschland schon vor dem Ersten Weltkrieg in kolonialkritische, transnationale Debatten eingebunden. Dies galt aber weniger für die personellen Netzwerke der aus den verschiedenen Kolonien kommenden Kolonialkritiker und Nationalisten. Sie organisierten sich schwerpunktmäßig in Paris und London, wobei sich diese Situation im direkten Vorfeld des Ersten Weltkriegs änderte.
Antikoloniale Aktivisten und Netzwerke in Europa und Deutschland während des Ersten Weltkriegs Im Vorfeld des Ersten Weltkriegs kam es zur personellen und organisatorischen Annäherungen zwischen Kolonialgegnern aus den französischen und britischen Kolonien und der Regierung des Deutschen Reichs. Bereits im Jahr 1910 teilte der indische Nationalist Har Dayal seinen Lesern in Frankreich, Algerien und den Vereinigen Staaten mit, dass Berlin die Hauptstadt des Landes sei, das England momentan am feindlichsten gegenüberstehe, und dass es für indische Revolutionäre daher geboten sei, gute Beziehungen zu Deutschland zu unterhalten. Ähnlich äußerte sich zwei Jahre später der Pan-Islamist Mohamed Barakatullah, der im Falle eines europäischen Krieges alle Muslime aufforderte, zusammen mit Deutschland zu marschieren.15 Je näher der Kriegsausbruch rückte, desto mehr häuften sich ähnliche Reden und Publikationen, die antikoloniale Bewegungen in den französischen und britischen Kolonien zu Bündnissen mit dem Deutschen Kaiserreich aufforderten. Die Aufrufe folgten augenscheinlich der Logik: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Und so war es nur folgerichtig, dass im Jahr 1913 ein unbekannter indischer Nationalist in den »Leipziger Neuesten Nachrichten« die Deutschen aufforderte, sich stärker mit der indischen Unabhängigkeitsbewegung und deren Zielen aus-
15 Barooah, Chatto (wie Anm. 6), S. 39f; vgl. auch Benjamin Zachariah: A Long, Strange Trip. The Lives in Exile of Har Dayal, in: South Asian History and Culture 4 (2013), S. 574–592; Erik-Jan Zürcher (Hrsg.): Jihad and Islam in World War I. Studies on the Ottoman Jihad on the Centenary of Snouck Hurgronje’s »Holy War Made in Germany«, Leiden 2016.
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einanderzusetzen, um sie als potentiellen Bündnispartner in einem Krieg gegen Großbritannien zu erkennen.16 Zugleich deutet dieser Artikel an, dass jede Verflechtung und Vernetzung jenseits aller machtpolitischen Arithmetik Wissen übereinander voraussetzt und weiteren Wissensaustausch mit sich bringt. Die Grundlagen hierfür waren gegeben. Denn parallel zur Verbreitung von negativen Charakterisierungen der asiatischen Völker, die sich unter anderem in den Warnungen vor der »Gelben Gefahr« bündelten, setzte um 1880 sowohl im deutschsprachigen Mitteleuropa als auch in Indien unter Schriftstellern, Intellektuellen, Wissenschaftlern und Militärs eine positiv grundierte Faszination für den jeweils anderen ein.17 Es kam zu einer intensiven Beforschung, Bereisung und Beschreibung des jeweils anderen Gebiets und seiner Bewohner, die zahlreiche Austauschprozesse mit sich brachten. Auf dieses Wissen konnten die Befürworter von Bündnissen zwischen dem Deutschen Kaiserreich und indischen Unabhängigkeitsbewegungen dann vor und während des Ersten Weltkrieges aufbauen. Über den Hinweis auf gemeinsame Feinde hinaus betonten sie dementsprechend ihre gemeinsame Ablehnung des »westlichen Materialismus«, die »Seelenverwandtschaft« zwischen ihren Kulturen, ein sie verbindendes, naturverbundenes, kriegerisch-maskulines Selbstverständnis oder die Erwartung, dass sie als aufstrebende Mächte die Zukunft gestalten würden.18 Für die Entstehung antikolonialer Netzwerke in Deutschland ist darüber hinaus entscheidend, dass 1913 und 1914 zahlreiche außereuropäische Revolutionäre – wie Har Dayal und Mohamed Barakatullah – aus England, Frank-
16 O. A.: Gute Aussichten für Deutschland in Indien, in: »Leipziger Neueste Nachrichten« vom 1. April 1913. 17 Maria Paula Diogo/Dirk van Laak: Europeans Globalizing. Mapping, Exploiting, Exchanging, London 2016, S. 181 ff.; Ute Mehnert: Deutschland, Amerika und die »Gelbe Gefahr«. Zur Karriere eines Schlagworts in der Großen Politik, 1905–1917, Stuttgart 1995. 18 Andreas Weiß: Asiaten in Europa. Begegnungen zwischen Asiaten und Europäern 1880–1914, Paderborn 2016; Kris Manjapra: Age of Entanglement. German and Indian Intellectuals across Empire, Berlin/Cambridge, Mass. 2014; Joanne Miyang Cho/Eric Kurlander/Douglas T. McGetchin (Hrsg.): Transcultural Encounters between Germany and India. Kindred Spirits in the Nineteenth and Twentieth Centuries, London 2014; Cemil Aydin: The Politics of Anti-Westernism in Asia. Visions of World Order in PanIslamic and Pan-Asian Thought, New York 2007; Edmund Weber (Hrsg.): Indien in Deutschland. Darmstädter Beiträge zum Diskurs über indische Religion, Kultur und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1990; Fischer-Tiné: Indian Nationalism (wie Anm. 6); Heike Liebau: Theory of Martial Races, in: 1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War, online verfügbar: https://encyclopedia.1914-1918-online.net/article/ martial_races_theory_of (zuletzt abgerufen am: 17. Februar 2019).
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reich oder aus anderen Ländern nach Deutschland auswanderten, um ihren nationalen Unabhängigkeitskampf mit Unterstützung der deutschen Regierung fortzusetzen. Auch Chatto war eine dieser Personen. Er zog im April 1914 nach Deutschland und schrieb sich an der Universität Halle als Student ein. Bereits wenige Monate später wandte er sich mit der Bitte um Unterstützung des indischen Unabhängigkeitskampfes an Max von Oppenheim im Auswärtigen Amt, der dem indischen Nationalisten, ebenso wie sein Amtskollege Arthur Zimmermann, Unterstützung zusicherte.19 In den Jahren 1914 und 1915 entstanden vor allem in Berlin zahlreiche Vereinigungen antikolonialer Migranten – wie das Indian Independence Committee, an dem Chatto beteiligt war. Ziel dieser Vereinigung war es, mit Hilfe staatlicher Stellen (z. B. von Oppenheim), an Universitäten lehrende Wissenschaftlern (z. B. Wilhelm Mertens) und indische Nationalisten wie Chatto mit indischen Studierenden und Migranten in Berlin zusammenzubringen und auf einen Aufstand in Indien vorzubereiten.20 Spiegelbildlich zu den indischen, islamistischen und antifranzösischen Vereinigungen gründete das Auswärtige Amt daher Abteilungen, wie die Nachrichtenstelle für den Orient, welche die Kooperation mit diesen Gruppen koordinieren und sie bei der Durchführung von Aufständen und Revolten in den britischen und französischen Kolonien unterstützen sollten. Dies fiel deutschen Politikern umso leichter, als sie die Kontrolle über die eigenen Kolonialgebiete bereits wenige Monate nach Kriegsbeginn (bis auf Ostafrika) verloren hatten.21 Relativ schnell stießen diese Vorhaben allerdings an ihre Grenzen. Die Verschiffung von Propagandamaterial, Waffen oder gar Revolutionären in die Kolonien scheiterte an der britischen Seeblockade, womit der direkte Kontakt zwischen Aktivisten in Deutschland und den antikolonialen Bewegungen in den britischen und französischen Kolonien abriss. Notgedrungen konzentrierten sich Chatto und andere antikoloniale Gruppen – in Zusammenarbeit mit offiziellen Stellen des Reiches und Wissenschaftlern – daher auf die Beeinflussung von Kriegsgefangenen aus den Kolonien und auf Exilanten in den neutralen europäischen Ländern. In Brandenburg versuchten sie beispielsweise
19 Barooah, Chatto (wie Anm. 6), S. 91. 20 Heike Liebau: Berlin Indian Independence Committee, in: 1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War, online verfügbar: https://encyclopedia.1914-1918-online.net/article/berlin_indian_independence_committee (zuletzt abgerufen am: 17. Februar 2019). 21 Gerhard Höpp/Brigitte Reinwald (Hrsg.): Fremdeinsätze. Afrikaner und Asiaten in europäischen Kriegen 1914–1945, Berlin 2000.
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ca. 12.000 muslimische Kriegsgefangene aus den französischen Kolonien, Indien und einigen russischen Gebieten durch Vorträge und Informationsbroschüren von der Notwendigkeit eines Jihads gegen ihre Kolonialmacht zu überzeugen. Hierfür verwiesen sie auf die antiislamische Politik und Lebensweise der westlichen Kolonialmächte, während sie das Bündnis des Kaiserreichs mit dem Osmanischen Reich als islamischer Macht hervorhoben. Insgesamt wurden im Jahr 1916 in Deutschland 82 antikoloniale Zeitschriften und Magazine in 17 verschiedenen Sprachen gedruckt und verbreitet. Darüber hinaus warb Chatto während der ersten Kriegsjahre an über 30 Universitäten für ein Bündnis zwischen nationalen Unabhängigkeitsbewegungen und dem Deutschen Kaiserreich. In paradoxer Umkehrung bekannter deutscher Kriegspropaganda führten die entsprechenden Aktivitäten von außereuropäischen Kolonialkritikern in Deutschland dazu, dass britische und französische Politiker und Medien den Deutschen vorwarfen, dass sie die Solidarität der weißen Völker verraten würden, indem sie »Farbige« zum Aufstand gegen die »Weißen« anstacheln würden.22 Direkte persönliche Kontakte und Einflussmöglichkeiten eröffneten sich den in Deutschland ansässigen Kolonialgegnern in die neutralen Länder Europas, die sich während des Krieges zu wichtigen Zentren antikolonialer Netzwerke entwickelten. Dort versuchten unter anderem indische Nationalisten, Emigranten aus den Kolonien zu beeinflussen und für ihren Unabhängigkeitskampf zu gewinnen, während französische und britische Geheimdienstler genau dies zu verhindern suchten. Auch Chatto beteiligte sich an diesem Ringen um die Köpfe der Kolonialbevölkerung und reiste immer wieder in die Schweiz, um dort gegen die britische Kolonialherrschaft zu agitieren oder um neue Kontakte herzustellen. Bei einer seiner Reisen in die Schweiz entkam er nur knapp dem
22 Franziska Roy/Heike Liebau (Hrsg.): Soldat Ram Singh und der Kaiser. Indische Kriegsgefangene in deutschen Propagandalagern 1914–1918, Heidelberg 2014; Gerhard Höpp: Muslime in der Mark. Als Kriegsgefangene und Internierte in Wünsdorf und Zossen 1914–1924, Berlin 1997; Salvador Oberhaus: »Zum wilden Aufstande entflammen«. Die deutsche Ägyptenpolitik 1914–1918. Ein Beitrag zur Propagandageschichte des Ersten Weltkrieges, Univ. Diss., Düsseldorf 2006, PDF online verfügbar: https://docserv. uni-duesseldorf.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-3695/-Zum %20wilden %20Aufstande %20entflammen- %20Die %20deutsche %20 %C3 %84gyptenpoliti.pdf (zuletzt abgerufen am: 17. Februar 2019); Rebekka Habermas: Debates on Islam in Imperial Germany, in: David Motadel (Hrsg.): Islam and the European Empires, Oxford 2014, S. 231–253 und S. 249 f.; zu den Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei vgl. den Beitrag von Sabine Mangold-Will in diesem Band. Ich danke Jan Brauburger für seine kenntnisreiche Einführung in diesen Themenaspekt.
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Mordanschlag eines britischen Agenten. Wenig später, im Jahr 1917, wanderte er dann – als dem Deutschen Reich die Ressourcen ausgingen und die Kooperationen zwischen diesem und antikolonialen Gruppierungen zum Erliegen kamen – in ein anderes neutrales Land, nämlich Schweden, aus.23 Insbesondere Stockholm stellte gegen Ende des Ersten Weltkriegs eine weitere wichtige Kontaktzone dar, in der sich Kolonialkritiker aus verschiedenen außereuropäischen Gebieten, Pazifisten und Friedensaktivisten, Sozialdemokraten und führende russische Kommunisten begegneten. Dort revitalisierte Chatto in den nächsten Jahren bereits bestehende Beziehungen und knüpfte neue Kontakte zu europäischen und russischen Sozialdemokraten und Kommunisten sowie zu politischen Akteuren aus außereuropäischen Gebieten wie M. N. Roy.24 Diese verfolgten in unterschiedlichen Schattierungen und Mischungsverhältnissen nationalistische, antikoloniale, panasiatische, panislamische, panafrikanische, sozialistische oder auch kommunistische Ideen und Ziele, wofür sie sowohl antikoloniale als auch liberale, sozialdemokratische oder kommunistische Organisationen nutzten. Gemeinsam war ihnen eine kosmopolitische Lebensweise. Sie hatten gelernt, sich in unterschiedlichen Ländern und Netzwerken zu bewegen, und konnten häufig in mehreren Sprachen kommunizieren.25 Dies gilt auch für Chatto, der am Ende seines Lebens neben mehreren in Indien gesprochenen Sprachen auch Englisch, Französisch, Deutsch, Dänisch, Italienisch, Schwedisch und Russisch beherrschte.26 Seine fortdauernde Suche nach finanzieller und politischer Unterstützung für den indischen Unabhängigkeitskampf führte ihn in dieser Zeit zudem zurück nach Berlin, wo er geheime Treffen indischer Revolutionäre organisierte, nach Moskau, wo er über M. N. Roy sowohl weitere indische Nationalisten, als auch führende Kommunisten, darunter Lenin, kennenlernte, ehe er 1921 wieder in das Deutschland der Weimarer Republik übersiedelte.
23 Brückenhaus, Policing (wie Anm. 2), S. 63–72. 24 Kris Manjapra: M. N. Roy. Marxism and Colonial Cosmopolitanism, New Delhi 2010; Michael Goebel: Geopolitics, Transnational Solidarity or Diaspora Nationalism? The Global Career of M. N. Roy, 1915–1930, in: European Review of History 21 (2014) Nr. 4, S. 485–499; Aspengren, Indian Revolutionaries (wie Anm. 6). 25 Nico Slate: Colored Cosmopolitanism. The Shared Struggle for Freedom in the United States and India, Cambridge 2012; Jürgen Dinkel: Farbiger Kosmopolitismus? Die Asiatisch-Afrikanische Konferenz von Bandung (1955), in: Bernhard Gißibl/Isabella Löhr (Hrsg.): Bessere Welten. Kosmopolitismus in den Geschichtswissenschaften, Frankfurt/ New York 2017, S. 103–129. 26 Barooah, Chatto (wie Anm. 6), S. 286.
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Antikolonialismus in der Weimarer Republik bis ca. 1923 Für antikoloniale Akteure ergaben sich in der Weimarer Republik größere Handlungsspielräume und vielfältigere Kooperationsmöglichkeiten mit unterschiedlichen politischen Parteien und Interessengruppen als in den anderen europäischen Kolonialstaaten, was dazu führte, dass viele von ihnen ihren Aufenthaltsort nach Deutschland verlegten. Ausschlaggebend waren hierfür zunächst die politischen Rahmenbedingungen der Weimarer Republik, die sich für Kolonialgegner in drei wesentlichen Punkten von denen des Kaiserreichs unterschieden: 1. Die Weimarer Republik war keine Kolonialmacht mehr. Deutschland musste während der Friedensverhandlungen in Versailles alle Kolonien abgeben, die in Mandatsgebiete des Völkerbundes überführt worden waren. Dies war einerseits die Geburtsstunde noch lange fortdauernder kolonialer Revisionswünsche sowie zahlreicher Mythen über die angeblichen Leistungen deutscher Kolonialherrschaft.27 Andererseits sahen Nationalisten, Liberale und Sozialisten in der erzwungenen Abgabe der Kolonien auch eine Chance für Deutschland. Nicht zuletzt der Sieg der asiatischen Macht Japan über die europäische Macht Russland im Jahr 1905 hatte zeitgenössische Beobachter zu der Überzeugung gebracht, dass sich die Dekolonisierung der Kolonien nicht aufhalten lasse – Unstimmigkeit herrschte nur bezüglich des Zeitpunktes. Von diesen Annahmen ausgehend, so ihre Prognosen, bedeute die erzwungene Abgabe der Kolonien nur, dass Deutschland deren weitere kostspielige Verwaltung und blutige Unabhängigkeitskämpfe erspart bleiben würden. Zugleich sahen sie für die Republik die Möglichkeit, sich als Vorreiter einer postkolonialen Weltordnung zu profilieren und kolonial unbelastet gute Beziehungen zu den künftigen Machthabern in Delhi, Kairo oder Algiers aufzubauen, was wiederum die Position Deutschlands in der Welt stärken würde. Es waren auch solche in allen politischen Lagern und Verwaltungen angestellte Überlegungen, die Antikolonialisten in Deutschland größere Handlungsspielräume als in den Ländern der westeuropäischen Kolonialmächte verschafften.28 2. Schon vor 1914 hatten sich deutsche Sozialrevolutionäre kolonialkritisch geäußert. Deren kapitalismus- und imperialismuskritische Weltanalysen, nach denen einige Zentren und Klassen im kapitalistischen Westen Arbeiter und 27 Britta Schilling: Postcolonial Germany. Memories of Empire in a Decolonized Nation, Oxford 2014; vgl. des Weiteren den Beitrag von Birthe Kundrus in diesem Band. 28 Dirk van Laak: Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005, S. 121 f.
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Kolonien ausbeuten würden, boten bereits im Kaiserreich eine Grundlage, auf der Sozialisten, Kommunisten und Nationalisten aus den Kolonien kooperieren konnten. In der Weimarer Republik gewannen nun SPD und KPD enorm an politischem Einfluss bis hin zur Regierungsübernahme durch die Sozialdemokraten. Zudem verlegte die Komintern ihr westeuropäisches Koordinationszentrum für antikoloniale Aktivitäten nach Berlin anstatt nach Paris. Beide Parteien sowie die Komintern verfügten zu diesem Zeitpunkt über bereits ausgebaute Informationskanäle und organisatorische Strukturen, die sie antikolonialen Gruppen punktuell zur Verfügung stellten, da sie um die Gunst von Anführern aus den Kolonien warben, um über deren Vermittlerrolle ihre Ideologie in den Kolonien zu verbreiten. Antikolonialisten fanden damit in der Weimarer Republik organisatorisch gut aufgestellte Bündnispartner vor.29 3. Schließlich schuf die von den Entente-Mächten gestaltete Nachkriegsordnung eine Grundlage, auf der es zur Kooperation zwischen nationalistischen Kräften in Deutschland und Kolonialgegnern aus den Kolonien kam. Diese beiden Kräfte fühlten sich von den europäischen Kolonialmächten bei der Auslegung des proklamierten Selbstbestimmungsrechts der Völker und durch ihren Ausschluss aus dem Völkerbund benachteiligt, wenn nicht gar um ihre Rechte betrogen.30 In den Kolonien und Mandatsgebieten führte die Enttäuschung über die Nachkriegsordnung sogar dazu, dass einzelne Akteure, wie der Panarabist und arabische Nationalist Rashid Rida, anders als noch während des Krieges ihre Loyalitäten zu ihrer jeweiligen Kolonialmacht aufgaben und stattdessen für ein Bündnis mit Deutschland warben.31 Im Ziel, die Nachkriegsordnung zu revidieren und das Selbstbestimmungsrecht auch für ihre Völker durchzusetzen, trafen sich die politischen Interessen von deutschen Nationalisten und Revanchisten mit denen von Kolonialgegnern aus den Kolonien. Die deutschen Behörden fanden aufgrund dieser Rahmenbedingungen nie zu einer eindeutigen Haltung gegenüber den antikolonialen Aktivitäten
29 Wladislaw Hedeler/Alexander Vatlin (Hrsg.): Die Weltpartei aus Moskau. Der Gründungskongress der Kommunistischen Internationale 1919. Protokoll und neue Dokumente, Berlin 2008; John Riddell (Hrsg.): Workers of the World and Oppressed Peoples, Unite! Proceedings and Documents of the Second Congress of the Communist International, 1920, 2 Bde., New York 1991. 30 Erez Manela: The Wilsonian Moment. Self-determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism, Oxford/New York 2007; Jörg Fisch: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion, München 2010. Zum Völkerbund vgl. auch den Beitrag von Isabella Löhr in diesem Band. 31 Umar Ryad: Anti-Imperialism and the Pan-Islamic Movement, in: David Motadel (Hrsg.): Islam and the European Empires, Oxford 2014, S. 131–149, hier: S. 146.
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auf deutschem Boden. Manchmal kooperierten sie mit der britischen und französischen Polizei, um sich deren Wohlwollen in anderen politischen Fragen zu sichern. Ein anderes Mal schützten sie Antikolonialisten, von denen sie ihre Herrschaft nicht bedroht sahen, gegenüber den Nachforschungen Frankreichs und Großbritanniens. Die konkrete Entscheidung war häufig personen- und situationsabhängig und verschaffte antikolonialen Akteuren größere Handlungsspielräume als in Frankreich oder England. Zusammengenommen führte dies dazu, dass sich in den 1920er Jahren einzelne Städte und Regionen Deutschlands – insbesondere Hamburg und Berlin und während der französischen Besatzung auch das Rheinland und das Ruhrgebiet – zu wichtigen Zentren antikolonialer Netzwerke in Europa entwickelten. In diesen Orten und Räumen kam es in unterschiedlichen Konstellationen zeitweise zur Kooperation von Kolonialgegnern mit deutschen Behörden, Parteien und bestimmten Interessengruppen. Die Weimarer Republik war eine Zeit des Experimentierens und Ausprobierens – sowohl im Hinblick auf Kooperationsmodelle antikolonialer Akteure, als auch im Hinblick auf die Entwicklung kolonialkritischer Argumente und Überzeugungsstrategien. Einige solcher kolonialkritischen Aktivitäten und Kooperationen werden im Folgenden skizziert – zunächst solche aus dem Kontext der Rheinland- und Ruhrgebietsbesetzung, anschließend Beispiele aus Hamburg und Berlin. Die Abgabe von Teilen Schlesiens an Polen im Jahr 1922 und vor allem die französische Besetzung des Rheinlands und des Ruhrgebietes im Jahr darauf lösten in nationalistisch-konservativen Öffentlichkeiten einen Sturm der Entrüstung aus. Insbesondere der französische Einsatz und die Stationierung von farbigen Kolonialsoldaten in Deutschland wurde von Nationalisten als Demütigung (»Schwarze Schmach«) und durchaus auch als kolonialer Akt empfunden.32 Diese Situation griffen wiederum französische, afrikanische und indische Kolonialgegner auf, um auf ihre eigenen Ziele hinzuarbeiten. Auch im Auftrag von Nguyen Ai Quoc folgten Kolonialgegner in Paris den Kolonialtruppen in die besetzten deutschen Gebiete. Denn dort konnten sie zunächst relativ ungestört ihr antikoloniales Propagandamaterial vertreiben und mit den Kolonialsoldaten in Kontakt treten. Zu Beginn der Besetzung gab es keine französischen Polizeidepartments, die für die Überwachung der deut-
32 Christian Koller: »Von Wilden aller Rassen niedergemetzelt«. Die Diskussion um die Verwendung von Kolonialtruppen in Europa zwischen Rassismus, Kolonial- und Militärpolitik (1914–1930), Stuttgart 2001; Sandra Maß: Weiße Helden, schwarze Krieger. Zur Geschichte kolonialer Männlichkeit in Deutschland 1918–1964, Köln 2006; vgl. hierzu auch den Beitrag von Christian Koller in diesem Band.
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schen Gebiete zuständig waren, und die deutschen Behörden hatten weder ein Interesse an der Überwachung und Verfolgung französischer Antikolonialisten noch waren sie bereit, mit den französischen Behörden zu kooperieren. Angesichts von Wirtschaftskrise und Inflation, so eine weitere Erkenntnis von Nguyen Ai Quoc, ließen sich im Rheinland zudem gute Geschäfte machen. Kolonialkritische Vereinigungen in Paris finanzierten sich Anfang der 1920er Jahre auch über den Handel im besetzten Deutschland.33 Insbesondere kamerunische Migranten, die noch vor dem Krieg aus der damaligen deutschen Kolonie nach Deutschland gekommen und denen in vielen Fällen deutsche Staatsbürgerrechte vorenthalten worden waren, nutzten die Situation auf ganz eigene Weise. So hielt der farbige Kameruner Edimo Wilhelm Munumé in Wiesbaden in einer Gaststätte eine öffentliche Rede, in der er sich als deutschen Patrioten stilisierte und die französische Besatzung auf das schärfste verurteilte. Die französische Militärpolizei reagierte daraufhin sofort und verhaftete den antifranzösischen Agitator. Dies wiederum nutzte Munumé, um beim Auswärtigen Amt um Unterstützung für sich – einen pa triotischen Deutschen – zu erbitten. Auch nach seiner Freilassung inszenierte er sich in der Öffentlichkeit als vorbildhafte Patriot, der für seinen Einsatz für Deutschland ins Gefängnis gegangen sei und der zudem eine wichtige Funktion einnehmen könne, wenn die deutsche Flagge eines Tages wieder über Kamerun wehen sollte. Das Auswärtige Amt erkannte schnell die komplizierte Lage, in die es von Munumé, einem Schauspieler, der bereits zuvor mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, mit seinen öffentlichen Aktionen gebracht wurde. Während nämlich Munumés Vortrag gegen die französische Besatzung und sein Plädoyer für die Rückgabe der deutschen Kolonien ganz auf der Argumentationslinie nationalistischer und konservativer Politiker lagen und auf große Zustimmung gestoßen waren, wollte man ihn als »Farbigen« dennoch nicht zum patriotischen Deutschen aufwerten. Am Ende der Auseinandersetzungen fand das Auswärtige Amt dann einen Ausweg aus dieser Bredouille, indem es Munumé soziale Unterstützung aus einem neuen Sozialprogramm für Einwanderer aus den Kolonien gewährte und damit seinen Einsatz honorierte, womit es ihm zugleich aber den Status als gleichberechtigter Deutscher verwehrte. Munumé setzte daher seine kolonialkritischen Tätigkeiten in Berlin und im Umfeld der Liga gegen Imperialismus, ebenso wie seine kleinkriminellen Betrügereien fort,
33 Brückenhaus, Policing (wie Anm. 2), S. 84–95.
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die ihn Ende der 1920er Jahre ins Gefängnis brachten und beinahe zu seiner Deportation nach Kamerun geführt hätten.34 Schließlich verlieh die Besetzung des Rheinlands in Verbindung mit den geforderten hohen Reparationszahlungen auch der in konservativen und nationalistischen Kreisen kursierenden Wahrnehmung Deutschlands als durch die Kriegsgegner »unterdrücktes Volk« neue Plausibilität. Ihre Befürchtung, Deutschland werde von Großbritannien zu einem »europäischen Indien« degradiert, ermöglichte es indischen Nationalisten wiederum, ihren eigenen Unabhängigkeitskampf als einen dem deutschen ähnlichen zu beschreiben und auf die Interessengleichheit beider Nationen hinzuweisen.35 Jenseits des Rheinlands und des Ruhrgebiets entwickelten sich vor allem Hamburg und Berlin zu Zentren antikolonialer Aktivitäten, in denen Anfang der 1920er Jahre eine ganze Reihe an antikolonialen Organisationen entstand.36 So verlegte auch Chatto 1921 seinen Lebensmittelpunkt von Stockholm nach Berlin, wo er das »Indian News Service and Information Bureau« mitgründete und erneut für eine Kooperation zwischen Deutschland und der indischen Nationalbewegung warb. Angesichts der akuten Wirtschaftskrise hob Chatto in seinen Reden und Publikationen nun die Potenziale eines unabhängigen indischen Marktes für deutsche Exporte hervor. Dieser werde zurzeit noch von Großbritannien kontrolliert, wodurch es indirekt möglich sei, über den indischen Markt auch die deutsche Wirtschaftsentwicklung zu beeinflussen.37 Chatto knüpfte damit gezielt sowohl an wirtschaftspolitische Debatten in Deutschland an, in denen die Bedeutung außereuropäischer Märkte für die deutsche Wirtschaft hervorgehoben wurde, als auch an den Topos der »unter-
34 Brückenhaus, Policing (wie Anm. 2), S. 103–105; Holger Weiss: Framing a Radical African Atlantic. African American Agency, West African Intellectuals, and the International Trade Union Committee of Negro Workers, Leiden/Boston 2014, S. 283–285 und S. 446–450; Aitken/Rosenhaft: Black Germany (wie Anm. 9), S. 155–158. 35 Barooah, Chatto (wie Anm. 6), S. 189 ff. 36 Zu Berlin vgl. Nathanael Kuck: Anti-colonialism in a Post-Imperial Environment. The Case of Berlin 1914–33, in: Journal of Contemporary History 49 (2014), Nr. 1, S. 134– 159; Gerdien Jonker: In Search of Religious Modernity. Conversion to Islam in Interwar Berlin, in: Umar Ryad/Mehdi Sajid/Bekim Agai (Hrsg.): Muslims in Interwar Europe – A Transcultural Historical Perspective, Leiden 2015, S. 18–46; Ulrich van der Heyden/ Joachim Zeller (Hrsg.): »… Macht und Anteil an der Weltherrschaft«. Berlin und der deutsche Kolonialismus, Münster 2005; Susanne Heyn: Der kolonialkritische Diskurs der Weimarer Friedensbewegung zwischen Antikolonialismus und Kulturmission, in: Stichproben. Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien, (2005), Nr. 9, S. 37–65. 37 Barooah, Chatto (wie Anm. 6), S. 180.
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drückten Völker« und des »europäischen Indiens«.38 Überhaupt waren Chattos Tätigkeiten in den 1920er Jahren dahingehend charakteristisch für Kolonialkritiker in der Zwischenkriegszeit, als sie erstens auf die Beeinflussung von lokalen, regionalen und überregionalen Öffentlichkeiten, zweitens auf die Zusammenarbeit mit Studierenden und drittens den Aufbau und die Vernetzung von antikolonialen Organisationen zielten. In der Beeinflussung von Öffentlichkeiten ging es den Kolonialgegnern zum einen darum, die Mythen von der segensreichen Kolonialherrschaft zu widerlegen und deren Kern – Gewalt und Ausbeutung – bekannt und sichtbar zu machen, um so letztlich jegliche Form kolonialer Herrschaft zu delegitimieren. Zum anderen sollten gezielt Anhänger und Unterstützer für ihre Unabhängigkeitskämpfe gewonnen oder bereits bestehende Gruppierungen mit Publikationen, finanziellen Mitteln oder direkt mit Waffen versorgt werden. Hierfür setzten sie auf ein breites Spektrum an Strategien und Kooperationen mit unterschiedlichen Akteuren. Antikoloniale Vereinigungen publizierten kolonialkritische Artikel in bereits bestehenden Zeitschriften und Zeitungen und gründeten eine ganze Reihe von eigenen Organen (z. B. »Der koloniale Freiheitskampf« oder die von Chatto mitherausgegebene »Anti-Imperialist Review«).39 Darüber hinaus baute der Kommunist Albert Walter auch in Zusammenarbeit mit Kolonialkritikern in Hamburg einen Seemannsklub auf, in dem günstiges Essen angeboten und Filme gezeigt wurden sowie gewerkschaftsnahe, sozialistische, kommunistische und kolonialkritische Zeitungen und Zeitschriften auslagen und Vorträge gehalten wurden. Ziel war es, Hafenarbeiter und an Land gehende Matrosen aus verschiedenen Erdteilen von kommunistischen und antikolonialen Ideen zu überzeugen und diese zugleich dazu zu bewegen, Zeitschriften und andere Güter heimlich in andere Weltregionen zu schmuggeln. Nach eigenen Angaben erreichten die Klubbetreiber im April 1931 ca. 5.000 Matrosen von 333 Schiffen. Der Kreis um Walter stand Ende der 1920er Jahre zudem in Kontakt mit ähnlichen Seemannsklubs und Vereinigungen in Europa (u. a. in Marseilles, Rotterdam, London) und anderen Weltregionen (San Francisco, Shanghai, Wladiwostok). 40
38 Vgl. zur Weimarer Wirtschaft auch den Beitrag von Jan-Otmar Hesse in diesem Band. 39 Vgl. hierzu auch Mehdi Sajid: Muslime im Zwischenkriegseuropa und die Dekonstruktion der Faszination vom Westen. Eine kritische Auseinandersetzung mit Sakib Arslans Artikeln in der ägyptischen Zeitschrift al-Fath (1926–1935), Berlin 2015. 40 Holger Weiss: The International of Seamen and Harbour Workers. A Radical Global Labour Union of the Waterfront or a Subversive World-Wide Web?, in: Holger Weiss
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Ähnlich wie in London kam es zudem auch in der Weimarer Republik zu Protestaktionen von ausländischen Studierenden und Kolonialgegnern bei der Aufführung von Filmen, die ihrer Ansicht nach rassistische und koloniale Stereotypen bedienten und popularisierten. 1919 organisierten chinesische Studierende etwa Kundgebungen gegen Joe Mays Film »Die Herrin der Welt«. 41 Des Weiteren organisierten indische Migranten und Nationalisten um Chatto und A. C. Narayanan Nambiar im Jahr 1926 Proteste gegen die ihrer Ansicht nach herablassende Zurschaustellung von Indern, in der von der Firma Hagenbeck organisierten und im Berliner Zoo stattfindenden Indienschau. Damit gelang es ihnen nicht nur, dass überregionale Zeitungen (z. B. das »Berliner Tageblatt« oder die »Dresdner Neuesten Nachrichten«) kritisch über die Ausstellung berichteten, sondern auch indische Zeitungen (z. B. »The Hindu« oder »Forward«). Daraufhin trafen Protestbriefe aus Indien beim Reichspräsidenten ein und der indische Nobelpreisträger Rabindranath Tagore, der sich gerade in Deutschland aufhielt, äußerte sich ablehnend gegenüber der Schau. Zusammengenommen führten die Proteste dazu, dass man sich im Auswärtigen Amt genötigt sah, die Auswirkungen der Ausstellung auf die außenpolitischen Interessen der Republik gegenüber den Indern und Großbritannien zu überprüfen. Der Generalkonsul in Kalkutta, Heinrich Rüdt von Collenberg, verwies daher mit Bezug auf die Kritik, dass Inder in Deutschland als arm und rückständig gezeigt würden, gegenüber dem Herausgeber des »Forward« auf das große Interesse und die damit verbundene Hochschätzung deutscher Wissenschaftler an der indischen Kultur, insbesondere der Religion, Philosophie und des Sanskrit. 42 Dass es überhaupt zu diesen Studierendenprotesten kam, lag auch am Anstieg der ausländischen Studierendenzahlen an den deutschen Hochschulen. Ausschlaggebend hierfür waren die aufgrund der Wirtschaftskrise Anfang der 1920er Jahre günstigen Lebenshaltungskosten für Ausländer in Deutschland. Einige Studierende führte zudem ihre Distanzierung von den jeweiligen Kolonialmächten in die Weimarer Republik. Am wichtigsten war aber das weltweite Renommee deutscher Universitäten, das Studierende dazu brachte, sich trotz aller damit verbundenen sprachlichen Verständigungsschwierig-
(Hrsg.): International Communism and Transnational Solidarity. Radical Networks, Mass Movements and Global Politics, 1919–1939, Leiden/Boston 2017, S. 256–317. 41 Tobias Nagl: Die unheimliche Maschine. Rasse und Repräsentation im Weimarer Kino, München 2009. Zu den Themen Film und Musik vgl. auch die Beiträge von Wolfgang Struck und Martin Rempe in diesem Band. 42 Barooah, Chatto (wie Anm. 6), S. 207–214.
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keiten an deutschen Universitäten einzuschreiben. In den 1920er Jahren kam etwa ein Sechstel aller in Deutschland Studierenden aus dem Ausland. Darunter stellten die Gruppen der afrikanischen, arabischen, chinesischen und indischen Studierenden wiederum sowohl eine wichtige zu beeinflussende Zielgruppe antikolonialer Akteure dar, die aber auch selbst kolonialkritische Proteste organisierten und dazu mobilisierten. 43 Auch Chatto war an diesen Aktionen beteiligt. Mit A. C. N. Nambiar, seinem langjährigen Weggefährten und Ehemann seiner Schwester Suhasini Chattopadhyaya, gründete er – mit Unterstützung von Jawaharlal Nehru – im Jahr 1929 in Berlin das »Indian Students’ Information Bureau«. In Zusammenarbeit mit anderen antikolonialen Organisationen und kolonialkritischen Wissenschaftlern bot das Büro unter anderem für Studierende Informationsveranstaltungen zu antiimperialistischen Bewegungen in verschiedenen Teilen der Welt an. Alfons Goldschmidt hielt beispielsweise einen Vortrag über Lateinamerika, Chatto einen über die indische Unabhängigkeitsbewegung und Hansin Liau über die Kämpfe in China. 44 Universitätsstädte waren in der Weimarer Republik Orte eines doppelten Wissenstransfers, an denen sowohl akademisches Wissen als auch informelles kolonialkritisches Wissen vermittelt und ausgetauscht wurde. Schließlich riefen antikoloniale Gruppierungen, insbesondere Mitte der 1920er Jahre, als es in mehreren Kolonien und Mandatsgebieten zu Aufständen gegen die europäischen Kolonial- respektive Mandatsmächte kam, regelmäßig zu Demonstrationen gegen deren überaus brutale Vergeltungsaktionen auf. Das rücksichtslose Vorgehen der französischen Mandatsmacht 1925 gegen die syrischen Aufständischen unter Sultan Al-Atrash führte etwa zu europaweiten Protesten in Paris, London und Berlin. Im Anschluss an eine Kundgebung des »Komitees gegen Kolonialgräuel in Syrien« gründete sich dann am 10. Februar 1926 in Berlin die Liga gegen koloniale Unterdrückung, an der auch Chatto beteiligt war und welche in den nächsten Jahren maßgeblich zur Vernetzung von antikolonialen Gruppierungen und Bewegungen in Europa beitragen sollte. 45 43 Kuck, Anti-colonialism (wie Anm. 36), S. 141; Gerhard Höpp (Hrsg.): Fremde Erfahrungen. Asiaten und Afrikaner in Deutschland, Österreich und in der Schweiz bis 1945, Berlin 1996; Joachim Osterheld: Aus Indien an die Alma mater berolinensis – Studenten aus Indien in Berlin, in: Periplus. Jahrbuch für außereuropäische Geschichte 14 (2004), S. 191–200; Dagmar Yue-Dembski: China in Berlin, 1918–1933, in: Hengyü Kuo (Hrsg.): Berlin und China. 300 Jahre wechselvolle Beziehungen, Berlin 1987, S. 117–130. 44 Kuck, Anti-colonialism (wie Anm. 36). 45 Susan Pedersen: The Guardians. The League of Nations and the Crisis of Empire, Oxford 2015, S. 142 ff.; Abdel Fattah Haikal/Mustafa Haikal: Für eine Internationale der
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Dass Mitte der 1920er Jahre vor allem von Berlin aus konkrete Impulse zur Verzahnung von kolonialkritischen Personen, Gruppierungen und Bewegungen in Europa und darüber hinaus ausgingen, lag zum einen an den bereits skizzierten politischen Rahmenbedingungen der Weimarer Republik. Wichtig war allerdings auch, dass es nun in Berlin vier größere, antikolonial eingestellte Gruppierungen aus dem außereuropäischen Raum gab, die einen wichtigen Resonanzraum für kolonialkritische Aktivitäten darstellten: Zahlenmäßig am größten waren die chinesische, die indische und die arabische, am kleinsten die aus Migranten der ehemaligen deutschen Kolonien. Zusammen umfassten diese Gruppierungen mehr als 5.000 Personen, die darüber hinaus Kontakte zu kolonialkritischen Kreisen in anderen Städten innerhalb und außerhalb Deutschlands besaßen. 46 Einzelnen Akteuren, darunter der Kommunist und einflussreiche Verleger Willi Münzenberg und Chatto, gelang es in dieser Kon stellation mit Hilfe der Liga gegen koloniale Unterdrückung, diese verschiedenen Gruppen enger zu vernetzen. Höhepunkt dieser Bestrebungen war der maßgeblich von Münzenberg und Chatto von Berlin aus organisierte »Kongress gegen koloniale Unterdrückung und Imperialismus«, der am 10. Februar 1927 im Brüsseler Palais Egmont begann. Münzenberg und Chatto hatten es geschafft, Mitglieder aus den drei wichtigsten antikolonialen Strömungen ihrer Zeit, dem sozialistisch-kommunistischen, dem liberal-humanitären und dem Lager der kolonialen Unabhängigkeitsbewegungen von einer Teilnahme zu überzeugen. Unter der Schirmherrschaft von Albert Einstein und Romain Rolland nahmen unter anderem Jawaharlal Nehru, der algerische Nationalist Messali Hadj und als eine der wenigen Frauen Helene Stöcker an der Konferenz teil. Insgesamt waren 174 Delegierte aus über 30 Ländern und Kolonien angereist, die trotz aller ideologischer und regionaler Divergenzen in drei Punkten übereinstimmten: der Ablehnung des Völkerbundes, den sie als Instrument der Kolonialmächte ansahen, der Ablehnung kolonialer und imperialer Herrschaft und der Forde-
Völker. Zur Tätigkeit arabischer Antikolonisten in der »Liga gegen Imperialismus und für nationale Unabhängigkeit«, in: Asien, Afrika, Lateinamerika 18 (1990) Nr. 5, S. 846–856. 46 Kuck, Anti-colonialism (wie Anm. 36); Aitken/Rosenhaft, Black Germany (wie Anm. 9); Ulrich van der Heyden (Hrsg.): Unbekannte Biographien. Afrikaner im deutschsprachigen Europa vom 18. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, Berlin 2008; Jonathan Derrick: Africa’s Agitators. Militant Anti-Colonialism in Africa and the West 1918–1939, London 2008.
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rung, den kolonisierten Völkern ihr Selbstbestimmungsrecht zu gewähren. 47 Nehru erklärte später, dass er erst in Brüssel im Austausch mit vielen anderen Kolonialgegnern aus unterschiedlichen Weltregionen erkannt habe, dass Kolonialismus nicht isoliert als Herrschaftsverhältnis zwischen einer Kolonie und einer Kolonialmacht verstanden werden könne, sondern nur als ein Phänomen, dass das internationale politische System als Ganzes betreffe, und dass daher auch grenzüberschreitenden Widerstand notwendig mache. 48 Zur Durchsetzung ihrer Ziele vereinbarten die Teilnehmer eine koordinierte Öffentlichkeitsarbeit sowie den Auf- und Ausbau eines transnationalen antikolonialen Netzwerkes. Im Ergebnis stand die Gründung der Liga gegen Imperialismus und für nationale Unabhängigkeit. Als deren Hauptsitz wurde Berlin bestimmt; Münzenberg und Chatto übernahmen die Leitung des LigaSekretariats. Die Liga entwickelte sich in den nächsten Jahren zu einem wichtigen Knotenpunkt antikolonialer Kommunikation und trug wesentlich zur Globalisierung des antikolonialen Widerstandes bei. 49 Ende der 1920er Jahre organisierten Münzenberg und Chatto weitere kleinere Konferenzen und Demonstrationen, unter anderem in Köln – mit Jawaharlal Nehru als Redner – Amsterdam und Brüssel. Sie gaben eine eigene Zeitschrift, »The Anti-Imperialist Review«, heraus, organisierten (Film-)Vorträge und unterstützten den Aufbau von Liga-Sektionen in 22 Ländern und Kolonien. 47 Liga gegen Imperialismus und für nationale Unabhängigkeit (Hrsg.): Das Flammenzeichen vom Palais Egmont. Offizielles Protokoll des Kongresses gegen koloniale Unterdrückung und Imperialismus Brüssel, 10.–15. Februar 1927, Berlin 1927. 48 Diethelm Weidemann: Herausbildung und Entwicklung der Auffassung Jawaharlal Nehrus zu Krieg und Frieden (1927 bis 1939), in: Asien, Afrika, Lateinamerika 18 (1990) Nr. 6, S. 985–997; vgl. auch Louro, Comrades (wie Anm. 6); siehe auch Silke Martini: Postimperiales Asien. Die Zukunft Indiens und Chinas in der anglophonen Weltöffentlichkeit 1919–1939, Berlin 2016. 49 Die detaillierteste Darstellung der Liga gegen Imperialismus findet sich bei Fredrik Petersson: »We Are Neither Visionaries Nor Utopian Dreamers.« Willi Münzenberg, the League against Imperialism, and the Comintern, 1925–1933, Doctoral Thesis, History Department, Åbo Akademi University, 2013, online verfügbar: https://www.doria.fi/ bitstream/handle/10024/90023/petersson_fredrik.pdf?sequence=2 (zuletzt abgerufen am: 17. Februar 2019); vgl. des Weiteren: Hans Piazza (Hrsg.): Die Liga gegen Imperialismus und für Nationale Unabhängigkeit 1927–1937. Zur Geschichte und Aktualität einer wenig bekannten antikolonialen Weltorganisation; Protokoll einer wissenschaftlichen Konferenz am 9. und 10. Februar 1987 an der Karl-Marx-Universität Leipzig, Leipzig 1987; für eine stärkere Einbindung der Liga in die Geschichte der Süd-Süd- Kooperationen im 20. Jahrhundert vgl. Vijay Prashad: The Darker Nations. A People’s History of the Third World, New York 2007; Jürgen Dinkel: Die Bewegung Bündnisfreier Staaten. Genese, Organisation und Politik, 1927–1992, Berlin 2015.
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In Deutschland gründeten sich nach ihren eigenen Angaben zwischen 12 und 15 Ortsgruppen unter anderem in Berlin, Frankfurt am Main, Köln, Chemnitz, Dresden, Essen und Remscheid. Zudem warben sie neue Bündnispartner an. Chatto nutzte beispielsweise seine Beziehungen nach Schweden, um den Oberbürgermeister Stockholms Carl Lindhagen von einem Beitritt zur Liga zu überzeugen. Auch mit der Nehru-Familie stand er zu dieser Zeit in engem Kontakt, die sich ebenfalls in der Liga engagierte. Die Liga erlangte für kurze Zeit innerhalb antikolonialer Netzwerke große Strahl- und Anziehungskraft und ist als erster Versuch globaler, lagerübergreifender antikolonialer Kooperation anzusehen. Der zweite Weltkongress der Liga fand vom 20. bis 31. Juli 1929 in Frankfurt am Main statt. Organisiert wurde das Treffen vor Ort von den Kommunisten Karl August Wittfogel, Werner Jantschke und Robin Page Arnot und von Berlin aus von Münzenberg und Chatto. Auftakt der Konferenz war eine Festveranstaltung im Hippodrom. Dabei überreichten Soldaten des nicaraguanischen Generals Augusto Sandino dem Kongress feierlich eine eroberte blutige USamerikanische Flagge. Fortgesetzt wurde das Treffen im Zoologischen Garten. Weitere informelle Treffen fanden den Erinnerungen von Münzenbergs Lebensgefährtin Babette Gross zufolge abends im Restaurant »Heyland am Römerberg« statt.50 Zu den Teilnehmern zählte unter anderem der spätere indonesische Außenminister Mohammed Hatta, der Panafrikanist George Padmore und der spätere erste Präsident Kenias Jomo Kenyatta. Der Kongress stellte zudem eine Anlaufstelle für nationale Minderheiten in Europa dar, die sich in ihren Separationsbestrebungen ebenfalls Unterstützung von der Liga erhofften. Kroatische Vertreter sahen sich von Serbien unterdrückt, makedonische Nationalisten gleich von mehreren Ländern und Iren von Großbritannien. Insgesamt nahmen 257 stimmberechtigte Mitglieder der Liga an dem Kongress teil, weitere 2.000–3.000 Gäste sollen anwesend gewesen sein, darunter Wolfgang Abendroth und Edimo Wilhelm Munumé.51 Auf personeller und inhaltlicher Ebene war der Frankfurter Kongress zudem eng verbunden mit der von George Padmore mit organisierten Ersten Internationalen Konferenz der Negerarbeiter in Hamburg, einer weiteren großen antikolonialen Veranstaltung zur Zeit der Weimarer Republik, die 1930 stattfand.52
50 Babette Gross: Willi Münzenberg. Eine politische Biografie, Leipzig 1991, S. 305 ff. 51 Andreas Diers: Arbeiterbewegung – Demokratie – Staat. Wolfgang Abendroth – Leben und Werk 1906–1948, Hamburg 2006, S. 250 f. 52 Eine ausführliche und detaillierte Darstellung der Hamburger Konferenz und der sie hervorbringenden afrikanischen, afroamerikanischen und kommunistischen Netzwerke bietet Weiss, Framing (wie Anm. 34).
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Anders als die Konferenz in Brüssel führten diese beiden Konferenzen jedoch zu keiner weiteren oder engeren Vernetzung antikolonialer Bewegungen; sie lösten eher das Gegenteil aus. Dies lag zum einen am gewandelten politischen Umfeld der Liga: Ende der 1920er Jahre schlugen die Kolonialmächte die Aufstände in Marokko, Syrien und Indonesien endgültig nieder, in denen viele Kolonialgegner den Anbruch einer neuen Zeit gesehen hatten. Die Niederlande und Frankreich verfolgten und verhafteten zudem Mitglieder der Liga und verboten mit der Liga sympathisierende Zeitschriften. Es waren aber vor allem interne Schwierigkeiten, welche der Liga ebenso wie anderen antikolonialen Vereinigungen Probleme bereiteten. Technische und finanzielle Krisen erschwerten die Koordination der Liga und enttäuschten Hoffnungen bezüglich ihrer Einflussmöglichkeiten. Zudem beklagten einzelne Mitglieder, vor allem aus Lateinamerika und Südafrika, die »jämmerliche Apathie« der anderen Bündnispartner gegenüber ihren Problemen.53 Jüdische Intellektuelle wie Albert Einstein verurteilten außerdem die antisemitischen Ausfälle arabischer Delegierter auf dem Frankfurter Kongress. Hinzu kamen persönliche Streitigkeiten, zum Beispiel zwischen Munumé und anderen Afrikanern, womit schnell die Suche nach Sündenböcken für das Scheitern der Liga begann.54 Entscheidend für die Auflösung der Liga waren schließlich Machtkämpfe zwischen den drei maßgeblichen Bündnispartnern der Liga, den Sozialdemokraten, Kommunisten und Vertretern aus den Kolonien. Die gemeinsamen Ziele konnten die Divergenzen zwischen den Bündnispartnern kaum mehr überdecken, als die Komintern 1927/1928 ihren Kurs gegenüber der Liga änderte. Unter dem Eindruck der Ermordung tausender Kommunisten in China unter Chiang Kai-shek im April 1927 wich sie von ihrer Strategie der Einheitsfront und der Kooperation mit antikolonialen, nichtkommunistischen Kräften ab. Stattdessen forderte Moskau seine Anhänger auf, die Liga unter Kontrolle zu bringen und Nichtkommunisten aus der Liga zu drängen, was ihnen auch gelang. Im Jahr 1930 trat Mohammed Hatta aus der Liga aus und erklärte, dass er kein Vertrauen mehr in die Unterstützung der holländischen Arbeiter habe; die Indonesier würden ihren Kampf alleine austragen. Auch Nehru beschuldigte das Liga-Sekretariat, ihm in den Rücken zu fallen, zu einem Zeitpunkt, als der Indian National Congress zum ersten Mal die volle Unabhängigkeit als Ziel ausgab. In einem Brief an Chatto erklärte Nehru wütend, dass er auf Chattos Ratschläge aus Berlin im indischen Unabhängigkeitskampf verzichten könne. Chatto hätte offensichtlich keine 53 RGASPI, Antiimperialisticˇeskaja Liga, D. 18. S. 61. 54 Weiss, Framing (wie Anm. 34), S. 446–450.
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Ahnung mehr von den tatsächlichen Gegebenheiten in Indien, da er das Land seit knapp 30 Jahren nicht mehr betreten habe.55 Übrig blieben in Deutschland stark von Kommunisten geprägte Organisationen und Netzwerke, die dann wiederum in den Fokus der Polizei rückten. Mit dem Wandel antikolonialer Vereinigungen und mit Beginn der Präsidialkabinette im Deutschen Reich änderten staatliche Stellen ihre ambivalente Haltung gegenüber kolonialkritischen Gruppierungen. Diese wurden von den Regierungen auf Länder- und Reichsebene immer häufiger als rein kommunistische Vereinigungen und als staatsfeindlich eingestuft.56 Die polizeiliche Überwachung und Verfolgung einzelner Aktivisten nahm zu und Deutschland verlor seine Bedeutung als ein Raum mitten in Europa, in dem sich Kolonialkritiker relativ uneingeschränkt betätigten konnten. Dies führte zur Auflösung und zur Flucht zahlreicher antikolonialer Aktivisten und Organisationen. So löste die Liga gegen Imperialismus ihr Sekretariat im Jahr 1933 in Berlin auf und verlegte es zunächst nach Paris, 1935 dann nach London, wohin ihm ein Teil der Mitglieder folgte. Andere Kolonialgegner, wie zum Beispiel Chatto, setzten im Kampf gegen den europäischen Kolonialismus in dieser Situation nun alles auf die sowjetische Karte und emigrierten nach Moskau. Dort untersagten ihm die Machthaber jedoch kurz nach seiner Ankunft die Publikation von antibritischen Schriften, da sie selbst Bündnismöglichkeiten mit Großbritannien gegen NS-Deutschland sondierten. Relativ schnell verlor Chatto in der Sowjetunion daher den Kontakt zu zahlreichen ihm bekannten Anführern antikolonialer Bewegungen in anderen Ländern. In seinen letzten Lebensjahren war er hauptsächlich als Übersetzer tätig. Als Mitglied der indischen Sektion an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR und gefördert von Sergei M. Kirow übersetzte er Lenins Werke ins Englische, englischsprachige ethnologische Studien sowie Werke von Friedrich Engels und Karl Marx ins Russische. Von anderen Antikolonialisten isoliert und ohne Kontakte nach Indien fiel der indische Nationalist und Kommunist Chatto im Jahr 1937 schließlich den stalinistischen Säuberungen zum Opfer. Als Grund für die Hinrichtung Chattos, der bis zu diesem Zeitpunkt mit unterschiedlichen Strategien und wechselnden Bündnispartnern gegen die britische Kolonialherrschaft in Indien gekämpft hatte, nannte die Anklage dessen Kooperation mit dem Deutschen Reich während des Ersten Weltkrieges.57
55 Brief von Nehru an Chatto, 30.1.1930, in: RGASPI, Antiimperialisticˇeskaja Liga, D. 44, S. 41. 56 BArch, R 1501/20200 Reichsministerium des Inneren, Reichsminister des Inneren, Berlin, August 1930: Memorandum über die Liga gegen Imperialismus. 57 Barooah, Chatto (wie Anm. 6), S. 283–309.
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Antikoloniale und antiimperiale Netzwerke in Deutschland nach der Weimarer Republik In Deutschland setzte die nationalsozialistische Regierung zunächst die harte Linie der Präsidialkabinette gegenüber antikolonialen Vereinigungen und Aktivisten aus den Kolonien fort. Überhaupt war die Wiedergewinnung der alten Kolonien ein politisches Ziel, das zumindest Teile der NS-Elite anstrebten. Diese Haltung der Regierung gegenüber antikolonialen Bewegungen änderte sich allerdings auf dem Weg in den Zweiten Weltkrieg. Ähnlich wie vor dem Ersten Weltkrieg erörterten ab Mitte der 1930er Jahre einzelne Behörden und Militärs Kooperationsmöglichkeiten mit antikolonialen Gruppen zur Schwächung Frankreichs und Englands, was sich in der Gründung beziehungsweise der Umstrukturierung der Deutschen Akademischen Auslandsstelle oder dem Deutschen Orientverein niederschlug. Etwa zeitgleich wandten sich dann auch wieder Vertreter von außereuropäischen Unabhängigkeitsbewegungen an die nationalsozialistische Regierung mit der Bitte um Unterstützung in ihren Kämpfen. Am bekanntesten sind in dieser Hinsicht die Kooperationen zwischen dem Dritten Reich und dem indischen Nationalisten Subhas Chandra Bose sowie Mohammed Amin al-Husseini im arabischen Raum geworden. Auch für diese Zusammenarbeit gilt jedoch, dass sie nicht nur von machtpolitischem Kalkül getragen wurde, sondern auch auf sich zumindest teilweise überlappenden Weltbildern beruhte. Sei es in der Bewunderung faschistischer Führungsstärke im Falle Boses oder auf der Basis eines gemeinsamen Antisemitismus im Falle al-Husseinis.58 Diese politischen Abgrenzungen und Annäherungen zwischen dem NSRegime und antikolonialen Gruppierungen in Deutschland zeigen sich exemplarisch in den Erlebnissen und Handlungen von Chattos langjährigem Weggefährten und Schwager A. C. Narayanan Nambiar. Nambiar war Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre in mehreren indischen Vereinigungen in Deutschland tätig und Leiter des von ihm mitgegründeten »Indian Students’ 58 Maria Framke: Delhi – Rom – Berlin. Die indische Wahrnehmung von Faschismus und Nationalsozialismus 1922–1939, Darmstadt 2013; David Motadel: Islam and Nazi Germany’s War, Cambridge, Mass. 2014; Rheinisches JournalistInnenbüro: »Unsere Opfer zählen nicht«. Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg, Berlin/Hamburg 2005; Höpp/ Reinwald, Fremdeinsätze (wie Anm. 21); Daniel Hedinger: The imperial nexus. The Second World War and the Axis in global perspective, in: Journal of Global History 12 (2017), S. 184–205; Nils Riecken: How to read German state archives differently: the case of the »Iraqi traveler« Yu¯nis Bah·r¯ (ca. 1901–1979) in a global frame, in: Zentrum Moderner Orient – Working Papers (2017), Nr. 17, S. 1–14.
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Information Bureaus« in Berlin. Anders als Chatto verließ Nambiar Deutschland jedoch nicht, als antikoloniale Vereinigungen von der Polizei immer stärker als kommunistische Vereinigungen wahrgenommen und verfolgt wurden. Als Leiter des Bureaus wurde er nach dem Reichstagsbrand verhaftet und anschließend von den Nationalsozialisten des Landes verwiesen. Er ging zunächst nach Prag und nach der Angliederung der sogenannten »Rest-Tschechei« an Deutschland nach Paris aus. Nach dem Krieg gegen Frankreich flüchtete er, wie viele andere Antikolonialisten in Frankreich, in den Machtbereich des VichyRegimes. Von dort aus diskutierte er sowohl mit Bose in Berlin als auch mit Nehru in Indien über die Strategien der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Wie viele seiner Weggefährten stellte sich Nambiar 1940/1941 die Fragen, auf welcher Seite er sich im ideologischen Ringen des Zweiten Weltkriegs positionieren sollte und welche Positionierung der eigenen Sache am meisten nützen würde. Anders als die meisten Kolonialgegner, die sich angesichts des offen zur Schau getragenen Rassismus der Nationalsozialisten auf die Seite der Kolonialmächte schlugen, entschied sich Nambiar in dieser Situation für ein Bündnis mit dem nationalsozialistischen Deutschland. 1941 kehrte er nach Berlin zurück, wo er mit Bose und anderen Nationalisten aus den französischen und britischen Kolonien zusammenarbeitete und versuchte, mit Hilfe deutscher Unterstützung antikoloniale Aufstände in Indien und anderen Kolonien zu initiieren. Dass ihm diese Kollaboration, verstanden als kontinuierlicher Kampf gegen die britische Kolonialherrschaft, nicht schadete, zeigt sich auch daran, dass ihn Nehru als Premierminister im Jahr 1955 zum Botschafter des unabhängigen Indiens in Bonn ernannte.59 Die Lebensstationen von Nambiar verweisen somit auch darauf, dass die Verflechtungen zwischen antikolonialen Akteuren und Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht abrissen, wenngleich die wichtigen Knotenpunkte anti- und postkolonialer Ver-
59 Brückenhaus, Policing (wie Anm. 2), S. 169 und S. 197. Zum breiteren Kontext der Indienpolitik beider deutscher Staaten vgl. Johannes H. Voigt: Die Indienpolitik der DDR. Von den Anfängen bis zur Anerkennung (1952–1972), Köln/Weimar/Wien 2008; Amit Das Gupta: Handel, Hilfe, Hallstein-Doktrin. Die bundesdeutsche Südasienpolitik unter Adenauer und Erhard 1949 bis 1966, Husum 2004; Madhavan K. Palat (Hrsg.): India and the World in the First Half of the Twentieth Century, Abingdon/Oxon/New York 2018; Corinna R. Unger/Andreas Hilger (Hrsg.): India in the World since 1947. National and Transnational Perspectives, Frankfurt a. M. 2014.
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netzung sich von Europa in die außereuropäische Welt – beispielsweise nach Bandung, Delhi, Algier, Havanna oder Kairo – verlagerten.60 Gleichwohl bestanden antikoloniale Verflechtungen zwischen der außereuropäischen Welt und den beiden deutschen Staaten in schwächerer Form und unter veränderten weltpolitischen Bedingungen fort. Die rasant voranschreitende Entkolonialisierung zunächst überwiegend in Asien in den späten 1940er Jahren und in Afrika vor allem Anfang der 1960er Jahre brachte eine Reformulierung antikolonialer und antiimperialer Kritik mit sich. Kritiker wie Ghanas erster Präsident Kwame Nkrumah, der algerische Intellektuelle Frantz Fanon oder der argentinische Ökonom Raúl Prebisch forderten nicht mehr die bereits erreichte politische Unabhängigkeit der Kolonien, sondern nun die Reform oder die Beseitigung von ihrer Meinung nach noch aus dem Kolonialzeitalter fortbestehenden asymmetrischen Machtstrukturen in den internationalen Beziehungen im wirtschaftlichen und kulturellen Bereich. Dieser Konflikt über die Schaffung einer postkolonialen Weltordnung kulminierte in den 1970er Jahren im Nord-Süd-Konflikt. Zu dessen Lösung wurde 1977 die Nord-SüdKommission ins Leben gerufen, die von Willy Brandt geleitetet und daher auch als Brandt-Kommission bekannt wurde. Parallel zur Dekolonisierung schufen zudem der sich in die außereuropäische Welt verlagernde Ost-West-Konflikt sowie die deutsch-deutsche Konkurrenz neue Resonanz- und Möglichkeitsräume für antikoloniale Verflechtungen zwischen den beiden deutschen Staaten und der außereuropäischen Welt. Sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR griffen erneut Politiker, Studierende und Intellektuelle vor allem in großen Städten einzelne Stränge auf und führten sie unter den neuen Rahmenbedingungen und in neuen Konstellationen fort. Beispielsweise nutzten in beiden deutschen Staaten Akteure im Bereich der humanitären Hilfe und der Entwicklungszusammenarbeit das Argument, dass deutsche Organisationen kolonial unbelastet und damit prädestiniert für die Zusammenarbeit mit der außereuropäischen Welt seien.61
60 Jeffrey James Byrne: Mecca of Revolution. Algeria, Decolonization, and the Third World Order (Oxford Studies in International History), New York 2016; Dinkel, Bewegung (wie Anm. 49); Philmon Ghirmai: Globale Neuordnung durch antikoloniale Konferenzen. Ghana und Ägypten als Zentren der afrikanischen Dekolonisation, Bielefeld 2019. 61 Eric Burton: African Manpower Development During the Global Cold War – The Case of Tanzanian Students in the Two German States, in: Andreas Exenberger/Ulrich Pallua (Hrsg.): Africa Research in Austria. Approaches and Perspectives, Innsbruck 2016, S. 101–134; Hubertus Büschel: Hilfe zur Selbsthilfe. Deutsche Entwicklungsarbeit in Afrika 1960–1975, Frankfurt a. M. 2014.
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Für die Bundesrepublik der 1950er Jahre lässt sich des Weiteren in der Zusammenarbeit zwischen staatlichen Stellen und Frankreich gegenüber der algerischen Unabhängigkeitsbewegung (»Front de Libération Nationale«, FLN) ein ähnliches Lavieren wie in der Weimarer Republik erkennen. Angesichts des algerischen Unabhängigkeitskriegs kooperierte die Regierung offiziell mit Frankreich gegen FLN-Aktivisten, inoffiziell tolerierte sie aber deren Aktivitäten sowie diejenigen ihrer Unterstützer, den sogenannten Kofferträgern, in Deutschland. Die Bundesregierung ging relativ früh von einem Sieg der FLN aus und wollte durch ein zu hartes und striktes Vorgehen gegen die algerische Befreiungsbewegung weder die Sympathien der zukünftigen algerischen Regierung noch der bereits unabhängigen Staaten wie Indien verspielen, die ganz offiziell den FLN unterstützen. Auch aufgrund dieser ambivalenten Haltung der Adenauer-Regierung entwickelten sich einzelne Städte und Regionen in der Bundesrepublik, zum Beispiel Hessen, insbesondere Frankfurt am Main, zu wichtigen Operationsräumen des FLN.62 Im gleichen Zeitraum tauchten NS-Kriegsverbrecher in arabischen Staaten unter, insbesondere in Ägypten. Dort waren sie an der Ausbildung von antikolonialen Kämpfern beteiligt, fungierten als Militärberater der arabischen Regierungen in deren Kampf gegen Israel. Johann von Leers beispielsweise, früherer SS-Führer, arbeitete in Kairo erneut mit Mohammed Amin al-Husseini zusammen, konvertierte zum Islam und versuchte – weitgehend erfolglos – deutsche Veteranen für die Armeen der arabischen Staaten anzuwerben. Von diesen erhoffte er sich die Überwindung der westlichen Besatzungsmächte und die Befreiung Deutschlands. Vom zuständigen Referat V (»Mittlerer und Naher Osten«) des Auswärtigen Amtes, das eine hohe personelle Kontinuität aufwies, wurden diese Personen und ihre Tätigkeiten nach Möglichkeit beschwiegen oder, falls möglich, als antikommunistische Beratertätigkeiten gerechtfertigt.63 In den 1960er Jahren waren westdeutsche Universitätsstädte über die Aktivitäten von in- und ausländischen Studierenden und Intellektuellen in kolonial- und imperialismuskritische Netzwerken eingebunden. Hans Magnus Enzensberger, Rudi Dutschke und Bahman Nirumand standen beispielsweise in 62 Mathilde von Bülow: West Germany, Cold War Europe and the Algerian War, Cambridge 2016; Claus Leggewie: Kofferträger. Das Algerien-Projekt der Linken im AdenauerDeutschland, Berlin 1984. 63 Benjamin Brendel: Experten von Krieg, Hass und Gewalt. Deutsche im Ägypten der 1950er und 1960er Jahre im Blick von AA und CIA, in: Geschichte und Gesellschaft 44 (2018), S. 526–553; Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Klaus Hildebrand/Moshe Zimmerman: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010, S. 574.
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engem Austausch. Diese persönlichen Kontakte und die Rezeption der Reden und Schriften von antikolonialen und antiimperialen Denkern und Politikern wie Frantz Fanon oder Ernesto »Che« Guevara führten zu Protesten gegen die portugiesische Kolonialherrschaft, die Apartheidpolitik in Südafrika und gegen den Besuch des Shahs von Persien Mohammad Reza Pahlavi in Deutschland im Jahr 1967. Enttäuscht über die Politik des Parteimarxismus und das geringe revolutionäre Potenzial der westlichen Arbeiterbewegungen solidarisierten sich Aktivisten und Studierende in Deutschland mit den antikolonialen Bewegungen in der außereuropäischen Welt und projizierten ihre Hoffnungen auf die Durchsetzung einer besseren Welt auf die Anführer der Dritten Welt – wie Fidel Castro, Ho Chi Minh oder Mao Zedong.64 Ähnlich wie in der Weimarer Republik protestierten auch in der Bundesrepublik Studierende in mehreren Städten gegen Kinofilme wie »Africa Addio« (1966), die sie als das Kolonialzeitalter verherrlichend und rassistisch ansahen. Gegen den Mythos von der segensreichen deutschen Kolonialherrschaft argumentierte auch die von Ralph Giordano produzierte Dokumentation »Heia Safari« (1966) und ein Jahr später stürzten Mitglieder des SDS in Hamburg die Denkmäler für Hans Dominik und Hermann von Wissmann, zweier Offiziere der kaiserlichen Kolonialtruppen.65 Mitglieder der KPD gründeten 1971 in West-Berlin eine neue Liga gegen Imperialismus, die nach dem Vorbild der 64 Werner Balsen/Karl Rössel: Hoch die internationale Solidarität. Zur Geschichte der Dritte Welt-Bewegung in der Bundesrepublik, Köln 1986; Quinn Slobodian: Foreign Front. Third World Politics in Sixties West Germany, Durham, NC 2012; Wilfried Mausbach: Von der »zweiten Front« in die friedliche Etappe. Internationale Solidaritätsbewegungen in der Bundesrepublik 1968–1983, in: Sven Reichardt/Detlef Siegfried (Hrsg.): Das alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, Göttingen 2010, S. 423–444; Andreas Eckert, »Was geht mich denn Vietnam an«? Internationale Solidarität und »Dritte Welt« in der Bundesrepublik, in: Axel Schildt (Hrsg.): Von draußen. Ausländische Einflüsse in der Bundesrepublik bis 1990, Göttingen 2016, S. 191–210; Christian Helm: Booming Solidarity: Sandinista Nicaragua and the West German Solidarity Movement in the 1980s, in: European Review of History (2014), Nr. 4, S. 597–615; Christian Helm: Botschafter der Revolution. Das transnationale Kommunikationsnetzwerk zwischen der Frente Sandinista de Liberación Nacional und die bundesdeutsche NicaraguaSoldidarität 1977–1990, Berlin 2018; Dorothee Weitbrecht: Aufbruch in die Dritte Welt. Der Internationalismus der Studentenbewegung von 1968 in der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2012. 65 Kai Nowak: Der Schock der Authentizität. Der Filmskandal um Africa Addio (1966) und antikolonialer Protest in der Bundesrepublik, in: WerkstattGeschichte 24 (2015), Nr. 69, S. 35–51; Jürgen Dinkel: Dekolonisation und Film. Ein Literaturbericht, in: WerkstattGeschichte 24 (2015), Nr. 69, S. 5–20.
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Liga aus den 1920er Jahren den Befreiungskampf der unterdrückten Völker unterstützen sollte. Auch die RAF oder die Roten Zellen stellten ihren »Kampf« explizit in eine Reihe mit den antiimperialistischen Kämpfen in der Dritten Welt. Ein Teil der bundesrepublikanischen Linksextremisten ließ sich in palästinensischen Trainingscamps ausbilden. Wenig später sammelten Solidaritätskommitees Geld für den Kampf in Nicaragua oder schickten Erntehelfer dorthin. Stärker in der Tradition des christlich humanitär-liberalen Austausches mit der außereuropäischen Welt standen beispielsweise die Hilfsaktionen für Biafra oder die in den 1970er Jahre gegründeten Dritte-Welt-Läden und die daraus hervorgehende Fair Trade-Bewegung. Auch die in zahlreichen deutschen Städten existierenden postkolonialen Initiativen der Gegenwart setzen die kritische Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit fort.66 In der DDR wurde im Kontext der deutsch-deutschen Rivalität und des Kalten Krieges die Unterstützung antikolonialer und antiimperialistischer Bewegungen sogar offizielle Staatspolitik. Anders als in der Bundesrepublik gingen viele Initiativen daher nicht von NGOs und anderen nichtstaatlichen Gruppierungen, sondern direkt von der Regierung aus. Die Regierungen unter Ulbricht und Honecker förderten beispielsweise die Produktion von imperialismuskritischen Filmen wie »Der lachende Mann – Bekenntnisse eines Mörders« (1965), sie vergaben Stipendien an Studierende beispielsweise aus Mosambik und Vietnam, sie unterstützten die nordkoreanische und nordvietnamesische Regierung mit Wirtschafts- und Entwicklungshilfe, sie setzten sich für die Freilassung der Black-Power-Aktivisten Angela Davis ein, kritisierten die südafrikanische Apartheidpolitik, bildeten Aktivisten des African National Congress (ANC) aus, die sich in Südafrika für eine Überwindung der Apartheid einsetzten, und sie leisteten Regimen Militär- und Ausbildungshilfe, die ihnen ideologisch nahe standen – wie in Äthiopien, Mozambik oder Nicaragua – oder mit denen sie gemeinsame Feinde teilten – wie Ägypten oder Syrien. Darüber hinaus war Ost-Berlin über sozialistische Netzwerke nicht nur mit Warschau und Moskau, sondern auch mit Accra, Hanoi oder Havanna verbunden. 66 Florian Hannig: The Biafra-Crisis and the Establishment of Humanitarian Aid in West Germany as a new Philanthropic Field, in: Arndt Bauernkämper/Gregory Witkowski (Hrsg.): German Philanthropy in Transnational Perspective, Cham 2016, S. 205–225; Lasse Heerten: The Biafran War and Postcolonial Humanitarianism. Spectacles of Suffering, New York 2017; Benjamin Möckel: »Gegen die Plastikwelt der Supermärkte«: Konsum- und Kapitalismuskritik in der Entstehungsgeschichte des »fairen Handels«, in: Archiv für Sozialgeschichte 56 (2016), S. 335–352; David Kuchenbuch: »Eine Welt«. Globales Interdependenzbewusstsein und die Moralisierung des Alltags in den 1970er und 80er Jahren, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), Nr. 1, S. 158–184.
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In der Praxis zeigte sich allerdings, dass die propagierte Solidaritätspolitik immer wieder in Konflikt mit anderen innen- und außenpolitischen Interessen geriet oder durch auch in der ostdeutschen Gesellschaft vorhandene rassistische Denkmuster konterkariert wurde. Die gemeinsamen Projekte und durchgeführten Kooperationen zwischen der ostdeutschen Regierung sowie antikolonialen Akteuren und postkolonialen Regierungen in Asien und Afrika waren daher ebenso wie in der Bundesrepublik sowie zur Zeit der Weimarer Republik nicht widerspruchsfrei, sondern stellten vielmehr eine Variante der Verflechtungen zwischen Deutschland und der Welt im 20. Jahrhundert dar.67
Fazit und Einordnung Im Gegensatz zu den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg und der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gelten die zwanzig Jahre zwischen den beiden Weltkriegen immer noch als ein Zeitraum, in dem es zu einer De-Globalisierung und zur Hinwendung zum Nationalstaat kam.68 Demgegenüber zeigt sich ein völlig anderes Bild der Weimarer Republik, wenn der Blick auf die Ent-
67 Klaus P. Storkmann: Geheime Solidarität. Militärbeziehungen und Militärhilfen der DDR in die »Dritte Welt«, Berlin 2012; Quinn Slobodian (Hrsg.): Comrades of Color. East Germany in the Cold War World, New York/Oxford 2015; Berthold Unfried: Friendship and Education, Coffee and Weapons. Exchanges between Socialist Ethiopia and the German Democratic Republic, in: Northeast African Studies (2016), Nr. 1, S. 15–38; James Mark/Quinn Slobodian: Eastern Europe, in: Martin Thomas/Andrew Thompson (Hrsg.): The Oxford Handbook of the Ends of Empire, online verfügbar: http://www.oxfordhandbooks.com/view/10.1093/oxfordhb/9780198713197.001.0001/ oxfordhb-9780198713197-e-20 (zuletzt abgerufen am: 17. Februar 2019); Sebastian Gehrig: Reaching out to the Third World. East Germany’s Anti-Apartheid and Socialist Human Rights Campaign, in: German History 36 (2018), Nr. 4, S. 574–597; Tanja Müller: Legacies of Socialist Solidarity. East Germany in Mozambique, Lanham MA, 2014; Gerd Horten: Sailing in the Shadow of the Vietnam War. The GDR Government and the »Vietnam Bonus« of the Early 1970s, in: German Studies Review 36 (2013), Nr. 3, S. 557–578; Eric Burton: Navigating global socialism. Tanzanian students in and beyond East Germany, in: Journal of Cold War History 19 (2018), Nr. 1, S. 63–83; Eric Burton: Hubs of Decolonization. African Liberation Movements and Eastern Connections in Cairo, Accra and Dar es Salaam, in: Lena Dallywater/Helder A. Fonseca/Chris Saunders (Hrsg.): Southern African Liberation Movements and the Global Cold War »East«. Transnational Activism 1960–1990, Berlin 2019, S. 25–56. 68 Aus einer globalen Perspektive wird diese Deutung hinterfragt von Sönke Kunkel/ Christop Meyer (Hrsg.): Aufbruch ins postkoloniale Zeitalter. Globalisierung und die außereuropäische Welt in den 1920er und 1930er Jahren, Frankfurt a. M. 2012.
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stehung, den Ausbau und den Rückgang antikolonialer Netzwerke in Europa und Deutschland gerichtet wird. Dann nämlich stellen sich die 1920er Jahre als ein Zeitraum dar, indem sich die Verflechtungen zwischen Deutschland und der Welt intensivierten. Gleichwohl sollte nicht von einer Verflechtung zwischen »Deutschland« und der »Welt« gesprochen werden, sondern von Verflechtungen zwischen konkreten Akteuren und Räumen, die je nach Zeitphase unterschiedliche Intensitäten annahmen. Der Umfang antikolonialer Verflechtungen lässt sich nur ungenau quantifizieren. Mitte der 1920er Jahre lag die Zahl derer, die sich zumindest punktuell an antikolonialen Aktivitäten beteiligten, vermutlich im mittleren einstelligen Tausenderbereich. Deutlich niedriger war die Zahl derjenigen, die sich dauerhaft auch in der Organisation antikolonialer Netzwerke oder in der Herstellung und Herausgabe von Publikationen engagierten. Deutlich höher, aber nicht zu beziffern, ist die Zahl derjenigen, die durch kolonialkritische Reden und Veröffentlichungen oder durch die Medienberichterstattung über ihre Protestaktionen und Kongresse erreicht wurden und von ihren Zielen erfuhren. Damit sind zugleich Fragen nach der Qualität, Intensität und Performanz der antikolonialen Verflechtungen angesprochen. Sie waren schwach institutionalisiert, räumlich extrem fluide und flexibel, da sie hauptsächlich auf den persönlichen Kontakten einzelner Personen basierten. Sie hingen folglich stark von den Vertrauens- und Näheverhältnissen zwischen einzelnen Akteuren ab. Im öffentlichen Raum manifestierten sie sich vor allem in öffentlichen Reden, Publikationen und gemeinsamen Veranstaltungen und zielten auf die Beeinflussung von lokalen, regionalen und überregionalen Öffentlichkeiten. In den kurzen Zeiträumen während des Ersten und Zweiten Weltkriegs, als es zu Kooperationen zwischen Antikolonialisten und den jeweiligen deutschen Regierungen kam und auch konkrete militärische Unterstützungsleistungen angedacht wurden, scheiterten diese am Widerstand der Kriegsgegner. Die Bundesrepublik tolerierte zumindest die Vorbereitung militärischer Operationen der algerischen Unabhängigkeitsbewegung auf ihrem Hoheitsgebiet. Die DDR war der erste deutsche Staat, der über einen längeren Zeitraum antikoloniale Bewegungen zum Beispiel in Mosambik mit Waffen und technischer Ausrüstung unterstützte. Migranten aus der außereuropäischen Welt – wie Chatto – stellten eine für antikoloniale Vernetzungen zentrale gesellschaftliche Gruppe dar. Darüber hinaus beteiligten sich auch deutsche Nationalisten, Liberale, Sozialdemokraten und Kommunisten an antikolonialen Veranstaltungen. Auch Wissenschaftler wie Albert Einstein oder Wolfgang Abendroth nahmen an antikolonialen Kongressen teil oder berichteten über deren Abläufe. Neben Politikern waren es
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vor allem gebildete und weitgereiste Kosmopoliten, welche die persönliche Vernetzung antikolonialer Akteure vorantrieben.69 Die Frage, ob diese Netzwerke tatsächlich auch überwiegend aus Männern bestanden oder ob die historische Forschung bisher lediglich überwiegend die Aktivitäten männlicher Akteure hervorgehoben hat, bedarf noch weiterer Forschung. Chatto war jedenfalls auch über Frauen – wie seine Schwestern Sarojini Naidu und Suhasini Chattopadhyaya oder seine Lebensgefährtin Agnes Smedley – in antikoloniale Netzwerke eingebunden.70 Neben dem Rheinland und dem Ruhrgebiet zu Beginn der 1920er Jahre waren es hauptsächlich einige große Städte – zum Teil ältere Universitätsstädte wie Heidelberg, vor allem aber Hamburg und Berlin –, die Knotenpunkte europäischer und globaler antikolonialer Verflechtungen darstellten. Den Fragen, wie ausgeprägt antikolonialer Protest in mittelgroßen Städten oder auf dem Land war, wie er sich dort manifestierte und wie diese Gebiete in antikoloniale Netzwerke eingebunden waren, wurde noch kaum systematisch und auf empirischer Basis nachgegangen.71 Für die besser erforschten Orte lassen sich die Verflechtungsrichtungen bestimmen, die sich als Pendelbewegung beschreiben lassen. Die politischen Rahmenbedingungen der Weimarer Republik machten diese zu Beginn der 1920er Jahre zu einem attraktiven Raum für antikoloniale Akteure. Sie zogen zu dieser Zeit daher aus den europäischen Nachbarländern, weniger aus außereuropäischen Gebieten, in die genannten deutschen Städte und brachten einen antikolonialen Impuls mit. In Hamburg und Berlin kam es Mitte und Ende der 1920er Jahre zur engen Kooperation von Antikolonialisten aus verschiedenen politischen Lagern, von denen wiederum ein Impuls zur engeren Verflechtung zwischen Antikolonialisten in Europa und der außereuropäischen Welt ausging.
69 Vgl. Gißibl/Löhr (Hrsg.), Kosmopolitismus, (wie Anm. 25). 70 Barooah, Chatto (wie Anm. 6), S. 225 ff.; Shompa Lahiri: Indian Mobilities in the West 1900–1947. Gender, Performance, Embodiment, New York 2010; Janice R. MacKinnon/ Stephen R. MacKinnon: Agnes Smedley. The Life and Times of an American Radical, London 1988; Bose, Transnational Resistance (wie Anm. 6). 71 Als Anregung können hierfür Studien dienen, welche Ausprägungen des Kolonialismus im ländlichen Raum untersucht haben; vgl. hierfür Markus Seemann: Kolonialismus in der Heimat. Kolonialbewegung, Kolonialpolitik und Kolonialkultur in Bayern 1882–1943, Berlin 2011; Linne, Von Witzenhausen in die Welt (wie Anm. 9); Heiko Wegmann: Vom Kolonialkrieg in Deutsch-Ostafrika zur Kolonialbewegung in Freiburg. Der Offizier und badische Veteranenführer Max Knecht (1874–1954), Freiburg i. Br. 2019; Albert Gouaffo/Stefanie Michels (Hrsg): Koloniale Verbindungen – transkulturelle Erinnerungstopografien. Das Rheinland in Deutschland und das Grasland Kameruns, Bielefeld 2019.
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Die veränderten politischen Kontexte gegen Ende der Weimarer Republik ließen die Bedeutung Deutschlands in den Geographien antikolonialer Akteure dann wieder abnehmen. Um die globale Reichweite antikolonialer Aktivitäten in der Weimarer Republik und im Europa der Zwischenkriegszeit zu ermitteln, müssen diese zukünftig jedoch noch stärker provinzialisiert werden. Studien der letzten Jahre haben die Entstehung antikolonialer Netzwerke im Europa der Zwischenkriegszeit detailliert herausgearbeitet. Die Bewegungsmuster und Aufenthaltsorte von Chatto illustrieren die Reichweite dieser Netzwerke relativ gut: Sie erstrecken sich von England, Frankreich und Belgien über die Schweiz, Deutschland und Schweden bis hin zur Sowjetunion. Die Weimarer Republik war vielfältig in diese europäischen transnationalen Netzwerke eingebunden. Deutlich seltener wurde bisher allerdings der Frage nachgegangen, mit welchen antikolonialen Bewegungen in der außereuropäischen Welt Antikolonialisten in Europa in Kontakt standen, wie eng diese Kontakte waren und wie sich Antikolonialisten in Europa und in den Kolonien gegenseitig wahrnahmen und beeinflussten. Chatto beispielsweise war, obwohl er sich über drei Jahrzehnte für die indische Unabhängigkeit einsetzte, nur für wenige Jahre Ende der 1920er Jahre in engem Kontakt mit der indischen Nationalbewegung und deren Anführern in Indien wie Nehru, die dessen Ansichten zudem nicht immer teilten. Das Beispiel Chatto sollte daher zumindest davor warnen, von der Existenz von antikolonialen Netzwerken in Europa vorschnell auf deren enge Verbindung in die Kolonien oder auf deren Bedeutung für den Unabhängigkeitskampf in den Kolonien zu schließen, diese Wechselwirkungen gilt es vielmehr zukünftig noch genauer aus beiden Richtungen zu untersuchen.72 Die im Beitrag skizzierten Verflechtungen und Bündnisse basierten in vielen Fällen auf der Logik, dass der Feind meines Feindes mein Freund sei. Alle Bündnispartner bemühten sich jedoch immer, über diese strategische Logik hinausgehende Begründungen für ihren Antikolonialismus oder für ihre Unterstützung antikolonialer Akteure zu finden. Entstanden ist dabei in der ersten Jahrhunderthälfte ein Sammelsurium an – zum Teil widersprüchlichen – Weltdeutungen und kolonialkritischen Argumenten. Indische Kolonialgegner und deutsche Aktivisten und Behörden beschrieben Indien entweder als Bündnispartner im Kampf gegen Großbritannien, als Führungsmacht in der asiatischen Region, als wichtigen Wirtschaftsmarkt oder als eine gegen den »westlichen Materialismus« gerichtete alte Kulturnation. Umgekehrt erschien Deutschland
72 Vgl. Louro, Comrades (wie Anm. 6).
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in diesen Debatten ebenfalls als Gegner Großbritanniens, als Vorreiter einer postkolonialen Weltordnung, als Wirtschaftsmacht, als faschistischer Modellstaat und als Kulturnation. Diese Weltbilder und Argumente wurden nie von allen Beteiligten gleichermaßen geteilt. Vielmehr stellten sie Angebote dar, auf die einzelne Akteure in bestimmten Konstellationen zurückgreifen konnten und die in bestimmten Kontexten bis nach dem Zweiten Weltkrieg Kooperationen ermöglichten. Damit führten sie zugleich zu einem Wissenstransfer, der von kulturellen Übersetzern wie Chatto geleistet wurde und der dazu führte, dass die daran Beteiligten mehr über ihr Gegenüber erfuhren. Bis kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs stellte das deutsche Kaiserreich – im Vergleich mit England und Frankreich – keinen Raum dar, in dem sich besonders viele außereuropäische Antikolonialisten bewegten und sich vernetzten. Dies änderte sich mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als viele antikoloniale Aktivisten in Deutschland einen Verbündeten in ihrem Kampf gegen das britische respektive französische Empire sahen und nach Deutschland übersiedelten. Den Höhepunkt erreichten antikoloniale Aktivitäten in der Weimarer Republik: In dieser Zeit experimentierten Antikolonialisten, Nationalisten, Liberale, Sozialdemokraten und Kommunisten aus Deutschland und der außereuropäischen Welt in unterschiedlichen Konstellationen mit verschiedenen Kooperationsformen. Der Antikolonialismus der Zwischenkriegszeit hatte viele Facetten. Diese Aktivitäten nahmen bereits Ende der Weimarer Republik wieder ab, und gingen im nationalsozialistischen Deutschland weiter zurück, wenngleich sie sich auch nicht vollständig auflösten. Während des Zweiten Weltkriegs kam es erneut zur Kooperation zwischen der deutschen Regierung und Nationalisten im arabischen und indischen Raum; diesmal über einen gemeinsamen Antisemitismus respektive die Bewunderung für faschistische Organisationsmodelle sowie erneut über gemeinsame Feinde. Die Verbindungen zwischen antikolonialen Aktivisten im deutschsprachigen Raum mit denen in der außereuropäischen Welt rissen auch nach 1945 nicht ab, sie setzen sich unter veränderten globalen, nationalen und lokalen Rahmenbedingungen sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik Deutschland fort. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich sicherlich, noch einmal genauer über Kontinuitäten und Diskontinuitäten antikolonialer Verflechtungen und deren Stellenwert in einer transnationalen Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert nachzudenken.
Birthe Kundrus
Nach Versailles Postkoloniale Phantasien und neokoloniale Realitäten
In einer jüngst erschienenen Gesamtschau auf die deutsche Kolonialgeschichte wagen die Historiker Hermann Hiery und Horst Gründer folgende These: »Man könnte argumentieren«, so die beiden Autoren, dass »der Verlust der Kolonien – und damit das Ende der Begegnung mit andersartigen Vorstellungen, Lebensweisen, Ideen und Konzepten – Deutschland nach 1918 verarmt hat. Zurückgezogen auf den Kern seiner selbst, im Schmollwinkel des Ausgestoßenen verharrend, schottete sich das Reich nach dem Verlust seiner Kolonien mentalitätsmäßig ab und wurde noch provinzieller als es – im Vergleich mit Frankreich oder Großbritannien, selbst mit Spanien und Portugal – ohnehin schon war.«1 Nun ließe sich zu den Prämissen dieses Arguments vieles fragen: War Weltoffenheit eine Frage von Kolonialbesitz? Oder andersherum gewendet: Verband sich die Kolonialbegegnung in den metropolitanen Gesellschaften immer mit globalen und kosmopolitanen Haltungen und Befindlichkeiten? Die kolonialisierten Gesellschaften hätten diese Fragen, hätte man sie ihnen denn gestellt – und ihre Kolonialherrschaften vor Augen – mutmaßlich eher verneint. Und auch so jemand wie Martin D. Hoffmann, Sozialist und erbitterter Kolonialgegner, war 1927 ganz anderer Ansicht. Für ihn brauchte es nicht Kolonien, um Fremdheit zu begegnen. Ein Besuch in heimischen Völkerkundemuseen tue es auch. Dort könne sich jeder die »prachtvollen Negerplastiken« ansehen, die einen Eindruck, so Hoffmann, von der gleichwertigen, aber eben anderen Kultur in Afrika geben würden. Unversehens wurden hier ethnologische Museen zu Horten alternativen Wissens – im Rahmen einer antikolonialen und um Solidarität bemühten Rhetorik. Nun soll es Folgenden nicht um den Dauerstreit um das Berliner HumboldtForum gehen. Die Frage ist vielmehr, ob die Prämisse der global-mentalen Austrocknung Deutschlands stimmt, die Hiery und Gründer vorsichtig ansprechen. 1
Hermann Hiery/Horst Gründer: Deutschland und sein koloniales Erbe – Versuch einer Bewertung, in: dies. (Hrsg.): Die Deutschen und ihre Kolonien. Ein Überblick, Berlin 2017, S. 317–325, hier: S. 323.
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Mit anderen Worten: Gab es nach Versailles keine »koloniale Begegnung« mehr? Gab es in der Weimarer Republik quasi »nur« einen Kolonialismusdiskurs ohne aktuelle Kolonialerfahrungen? Eine Zuspitzung dieser These von der Provinzialisierung Weimars findet sich auch in der Studie von Jared Poley zu dem Schriftsteller Hanns Heinz Ewers und seinen Postcolonial Fantasies. Der USamerikanische Historiker argumentiert, dass auf der Ebene der Imaginationen die Vorurteile gegenüber Afrikanern, Arabern, Chinesen ins Kraut geschossen seien – weil die Deutschen sich auf einmal nicht mehr als Weltmacht, sondern als Paria unter den Völkern wiedergefunden hätten.2 Beide Interpretationen eint die Fixierung auf den kalten Entzug der Kolonien im Versailler Vertrag. Und beide teilen die Einschätzung, dass die gefühlte Ohnmacht im Deutschland der 1920er Jahre Folgen gehabt haben müsse, entweder in Form einer Abschottung – Stichwort »Auto-Provinzialisierung« – oder in Form einer ästhetischen Überkompensation – Stichwort »radikalisierter Rassismus«. Aber welche Bedeutung hatte für zeitgenössische Akteure der »Kolonialraub« durch die Alliierten? Wie »provinziell« – wenn man das Argument von Hiery und Gründer zum Ausgangspunkt nimmt – wurde die deutsche Gesellschaft? Die Antwort wird im Folgenden lauten: vielleicht weniger als gedacht, u. a. weil die Bedeutung der de iure Dekolonisation Deutschlands überschätzt wird.
Versailles – und die Folgen Das Deutsche Reich war nach dem Ersten Weltkrieg formal ein »postkolonialer« Staat – und das war in der Tat ein entscheidender Unterschied zu den von Hiery und Gründer angesprochenen Staaten Frankreich und Großbritannien oder auch Portugal und Belgien. Zudem profitierten drei dieser Imperialstaaten vom Versailler Vertrag: Die deutschen Kolonien wurden Großbritannien (mit den Dominions Neuseeland und Südafrika), Frankreich, Belgien sowie Japan als Mandate übertragen.3 In der Folge erschien den Koloniallobbyisten der »Verzicht« auf die Überseegebiete gemäß Artikel 119 bis 127 des Versailler Vertrages als ein einziger nicht enden wollender Albtraum. Er habe, so der Eindruck, die Deutschen nicht nur auf politischer Ebene für ihr Weltmacht-
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Jared Poley: Decolonization in Germany. Weimar Narratives of Colonial Loss and Foreign Occupation (Studies in Modern Germany Literature, Bd. 99), Wien u. a. 2005, S. 251. Eine gute Zusammenfassung des Mandatssystems liefert Caroline Authaler: Deutsche Plantagen in Britisch-Kamerun. Internationale Normen und lokale Realitäten 1925 bis 1940, Wien/Köln/Weimar 2018, S. 49–60.
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streben bestraft; auf symbolischer Ebene sei ihnen obendrein die Zugehörigkeit zur Gruppe der westlichen »Kulturnationen« streitig gemacht worden. 4 Dieser Eindruck täuschte nicht. Die Formulierung aus der Mantelnote vom 16. Juni 1919, die auf Kritik der deutschen Delegierten an den Forderungen der Entente reagierte, war ganz eindeutig: »Endlich haben die Alliierten und Assoziierten Mächte sich davon überzeugen können, daß die eingeborenen Bevölkerungen der deutschen Kolonien starken Widerspruch dagegen erheben, daß sie wieder unter Deutschlands Oberherrschaft gestellt werden, und die Geschichte dieser deutschen Oberherrschaft, die Traditionen der Deutschen Regierung und die Art und Weise, in welcher diese Kolonien verwandt wurden als Ausgangspunkte für Raubzüge auf den Handel der Erde, machen es den Alliierten und Assoziierten Mächten unmöglich, Deutschland die Kolonien zurückzugeben oder dem Deutschen Reiche die Verantwortung für die Ausbildung und Erziehung der Bevölkerung anzuvertrauen.«5
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Vgl. nur: Florian Krobb/Elaine Martin (Hrsg.): Weimar Colonialism. Discourses and Legacies of Post-Imperialism in Germany after 1918, Bielefeld 2014; Britta Schilling: Postcolonial Germany. Memories of Empire in a Decolonized Nation, Oxford 2014; Shelley Baranowski: Nazi Empire. German Colonialism and Imperialism from Bismarck to Hitler, Cambridge 2011; Wolfgang Struck: Die Eroberung der Phantasie. Kolonialismus, Literatur und Film zwischen deutschem Kaiserreich und Weimarer Republik, Göttingen 2010; Eric Ames/Marcia Klotz/Lora Wildenthal (Hrsg.): Germany’s Colonial Pasts, Lincoln 2005; Dirk van Laak: Imperiale Infrastruktur. Deutsche Planungen für eine Erschließung Afrikas 1880 bis 1960, Paderborn u. a. 2004; Christian Rogowski: »Heraus mit unseren Kolonien!« Der Kolonialrevisionismus der Weimarer Republik und die »Hamburger Kolonialwoche« von 1926, in: Birthe Kundrus (Hrsg.): Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt a. M./New York 2003, S. 243–262; Joachim Nöhre: Das Selbstverständnis der Weimarer Kolonialbewegung im Spiegel der Zeitschriftenliteratur, Münster 1998; Jan Esche: Koloniales Anspruchsdenken in Deutschland im Ersten Weltkrieg, während der Versailler Friedensverhandlungen und in der Weimarer Republik (1914 bis 1933), Hamburg 1989; Edgar Hartwig: Deutsche Kolonialgesellschaft (DKG) 1887–1936, in: Dieter Fricke (Hrsg.): Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945). Bd. 1, Leipzig 1983, S. 724–748; Adolf Rüger: Der Kolonialrevisionismus der Weimarer Republik, in: Helmuth Stoecker (Hrsg.): Drang nach Afrika. Die koloniale Expansionspolitik und Herrschaft des deutschen Imperialismus in Afrika von den Anfängen bis zum Ende des zweiten Weltkrieges, Berlin 1977, S. 243–279; vgl. auch Christoph Cornelißen: Europäische Kolonialherrschaft im Ersten Weltkrieg, in: Wolfgang Kruse (Hrsg.): Eine Welt von Feinden. Der Große Krieg 1914–1918, Frankfurt a. M. 1997, S. 43–54. Zit. nach Klaus Schwabe: Quellen zum Friedensschluss von Versailles, Darmstadt 1997, S. 365.
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Der Akt des Entzugs von Kolonien in Friedensverhandlungen war dabei nicht neu. Neu war aber seine »moralische Begründung«, die im Übrigen eine koloniale Phantasie ganz eigener Art war.6 Die Großmächte begriffen Kolonien weiterhin als »Machtattribute«, wie der Hamburger Journalist Cheskel Zwi Klötzel 1928 ebenso nachdrücklich wie hellsichtig betonte.7 Beides zusammen – die Aberkennung wie ihre Begründung – markierte unverhohlen den Ausschluss der Deutschen aus dem Kreis der politischen global players. Diese Suspendierung empfand die Koloniallobby als Prestige- und Statusverlust. Er wurde kompensiert durch eine ebenso vehement wie hartnäckig vorgetragene Forderung nach Rückgabe der »Schutzgebiete«. Ziel war mithin, eine gleichzeitig völkerrechtliche und kulturelle Rehabilitierung zu erzwingen. Aber dieses laute Trommeln der Kolonialisten war eben nur ein Teil der Geschichte. Denn auf die Kolonialrevisionisten reagierten Kolonialgegner wie der erwähnte 37-jährige Klötzel. Noch vor dem Krieg hatte er ein großes Interesse an den deutschen Überseegebieten entwickelt. Dann aber fesselte Palästina seine Aufmerksamkeit – alles Kolonisieren galt ihm fortan nur als eine Form von »Sklaverei«. Offenbar konnte er seine Faszination für jüdische Siedlungen im Heiligen Land, das mit dem Ende des Osmanischen Reiches 1920 zum britischen Mandatsgebiet wurde, durchaus mit einer antikolonialen Haltung vereinbaren. Jedenfalls hielt er gerade das für eine »der wenigen glücklichen Folgen des Krieges, daß er uns sozusagen auf eine honorige Weise um den Besitz unserer Kolonien gebracht hat«.8 Schließlich habe für die Kolonialgeschichte mit dem Weltkrieg ein neues Kapitel begonnen: »eines ihrer Schlußkapitel«.9 Jeder, der für Kolonien eintrete, stürze Deutschland daher in ein Abenteuer, in eine Katastrophe, »aus der wir eben wie durch ein Wunder gerettet wurden«.10 Schmerzen der Demütigung waren bei dem Zionisten Klötzel eher Fehlanzeige. Er beurteilte die unfreiwillige Dekolonisation durch den Versailler Vertrag durchweg positiv als Zeichen einer Zeitenwende. Offensichtlich war auch Statusverlust keine Kategorie für ihn. Der Stein des Anstoßes für seine
6 Jost Dülffer: Versailles und die Friedensschlüsse des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Gerd Krumeich (Hrsg.): Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung, Essen 2001, S. 17–34, hier: S. 27. 7 Cheskel Zwi Klötzel: Gegen Kolonien, in: ders./Theodor Seitz/Paul Rohrbach (Hrsg.): Für oder gegen Kolonien. Eine Diskussion in 10 Aufsätzen von Freunden und Gegnern des kolonialen Gedankens, Berlin 1928, S. 8. 8 Ebd., S. 7 f. 9 Ebd., S. 9. 10 Ebd., S. 10.
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Schrift lag dann auch weniger in Artikel 119 des Versailler Vertrages als vielmehr im Propaganda-Wirbel der Koloniallobby. Eine dritte Möglichkeit neben Wehgeschrei und Jubelrufen war eine sozialdemokratisch inspirierte Variante semikolonialer Herrschaft. Auf dieser Grundlage entwickelte Quane Martin Dibobe in mehreren Schreiben vor allem an das Reichskolonialministerium seine Zukunftsvision für ein immer noch von Deutschland beherrschtes Kamerun und Ostafrika. Dibobe war ein 43-jähriger Zugführer der Berliner Hochbahn, der in Kamerun geboren war. 1896 war er im Zuge der »Deutschen Colonial-Ausstellung« als »Schauneger« in die Hauptstadt gekommen und geblieben. Schnell fand er sich zurecht, absolvierte eine Schlosserlehre und wurde dann bei der Hoch- und Untergrundbahngesellschaft beschäftigt. Immer wieder stand er im Kontakt mit dem Kolonialamt, etwa als er die weiße Berlinerin Helene Noste ehelichen wollte und sich die Behörde sperrte oder als Berlin ihn ob seiner Kenntnisse nach Kamerun sandte, um dort bei dem Bau einer Eisenbahnstrecke zu helfen. Als nach eigener Aussage Sohn von David Joss, der 1884 als Vertreter der Duala, einer damals kleinen einflussreichen Elite, die »Schutzverträge« in Kamerun mitunterzeichnet hatte, nahm er 1919 angesichts der neuen europäischen Mächtekonstellation erneut Kontakt mit dem Reichskolonialministerium auf. In mehreren Gesprächen, offenbar auch mit Bernhard Dernburg, dem ehemaligen Staatssekretär des Reichskolonialamtes, und Briefen machte er den Vorschlag, diplomatisch vermittelnd aktiv zu werden und die Republik bei ihren Kolonialforderungen zu unterstützen. Zugleich bat er, für seine Tätigkeit entlohnt zu werden. Im Mai 1919 erklärte er schriftlich den schärfsten Protest »der hier lebenden Eingeborenen aus Kamerun sowie Ostafrika« gegen den zu erwartenden »Raub der Kolonien«. Das war Musik in den Ohren des Adressaten, Kolonialminister Johannes Bell, der sich solche Loyalitäts-Bekundungen gewünscht hatte. Vice versa irritierten Dibobes Aktivitäten die französische Regierung, die ihn beschatten ließ und als Deutschenfreund antifranzösischer Umtriebe und aufrührerischer Hetze unter nunmehr französischen Kolonialuntertanen bezichtigte.11 Diese Annahme jedoch war eine Fehlinterpretation. Denn in den Schriftstücken vom Juni wurde klar, dass es Dibobe keineswegs um Ergebenheit und auch nicht um Verhältnisse wie ehedem ging. Anders als bei Kolonialgegnern wie -befürwortern, die beide den Charakter von Versailles als Einschnitt einer geschichtlichen Entwicklung betonten, aber unterschiedlich bewerteten, ver11 Vgl. Daniel Brückenhaus: Policing Transnational Protest. Liberal Imperialism and the Surveillance of Anticolonialists in Europe, 1905–1945, New York 2017, S. 99–103.
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schmolzen in seinen Entwürfen Zäsur und Kontinuität. Dibobes ebenso couragierte wie selbstbewusste Aktivitäten mündeten nämlich in eine Petition an die Nationalversammlung im Namen von 17 in Deutschland lebenden Afrikanern. Ihr Kernstück war eine Art Programm für eine neue Herrschaft der Deutschen in den alten Kolonien Afrikas. Ganz klar erwartete Dibobe, dass die Kolonien wieder an Deutschland zurückfallen würden und dass dann »die Behandlung der Eingeborenen eine andere und bessere« sein würde »als unter der gewesenen kaiserl. Regierung«.12 Sodann entwickelte er in der Petition eine quasi antikoloniale und quasi demokratische »Alternative« zur Schutzgebietsherrschaft der Wilhelminischen Epoche – »quasi«, weil auch er den gegebenen imperialen Referenzrahmen nicht verließ.13 Angesichts des deutschen Aufbruchs in eine demokratische Zukunft und der aktuell debattierten neuen Verfassung enthielt die Petition 32 detaillierte Forderungen. Dibobes Vision für ein rundum erneuertes deutsches Kolonialreich in Teilen Afrikas speiste sich dabei aus mehreren Quellen. Der migrantische Berliner war zu einem überzeugten Anhänger der Sozialdemokratie geworden, und die neue »sociale Republik« versprach, alle seine politischen wie persönlichen Hoffnungen zu erfüllen. Nicht Differenz, sondern Gleichberechtigung wurde zum Leitfaden seiner Petition – zumindest an manchen Stellen. In anderen Passagen hingegen vermischte er Elemente einer partizipativen Demokratie mit paternalistischen Formen von Kolonialherrschaft. Dibobe orientierte sich überdies in der »Neugestaltung« an den Rechtsverhältnissen in Deutschland. Zugleich verwies er als Vorbild auf die – in der Realität jedoch von Protesten geprägte – Situation in den britischen Kolonien Afrikas, vor allem in Nigeria. Ebenso benutzte er die in der Mantelnote gegen Deutschland gerichtete, aber de facto als eine Selbstverpflichtung aller Kolonialmächte zu begreifende 12 BArch R 1001, 7220, Bl. 224–235. Vgl. auch Robbie Aitken/Eve Rosenhaft: Black Germany. The Making and Unmaking of a Diaspora Community, 1884–1960, Cambridge 2013, S. 198–202; Stefan Gerbing: Afrodeutscher Aktivismus. Interventionen von Kolonisierten am Wendepunkt der Dekolonisierung Deutschlands 1919, Frankfurt a. M. 2010; Peter Martin: Anfänge politischer Selbstorganisation der deutschen Schwarzen bis 1933, in: Marianne Bechhaus-Gerst/Reinhard Klein-Arendt (Hrsg.): Die (koloniale) Begegnung. AfrikanerInnen in Deutschland (1880–1945) – Deutsche in Afrika (1880–1918), Frankfurt a. M. 2002, S. 19–206; Andreas Eckert: Die Duala und die Kolonialmächte. Eine Untersuchung zu Widerstand, Protest und Protonationalismus in Kamerun vor dem Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1991, S. 224 f.; Adolf Rüger: Imperialismus, Sozialreform und antikoloniale demokratische Alternative. Zielvorstellungen von Afrikanern in Deutschland im Jahre 1919, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 11 (1975), S. 1293–1308, hier: S. 1302 f. 13 Martin, Anfänge (wie Anm. 12), S. 197.
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Fürsorge für ihre Untertanen als Argument.14 Weiterhin griff er auf die lange Tradition der kritischen Petitionen der Duala zurück.15 Insofern liest sich das Dokument auch als Anklageschrift gegen die brutalen deutschen Kolonialpraktiken der Vorkriegszeit. Und schließlich verarbeitete Dibobe persönliche Erfahrungen von rassistischer Diskriminierung in Deutschland in dem Schriftstück, etwa die Hindernisse, die ihm in den Weg gelegt worden waren, als er eine Weiße heiraten wollte. Im Zentrum des Katalogs stand die Aufwertung der afrikanischen Kolonien zu weitgehend selbstverwalteten Überseeterritorien. Schon der erste Punkt brachte den Wunsch nach Souveränität deutlich zum Ausdruck: »Die Eingeborenen verlangen Selbstständigkeit und Gleichberechtigung, wie es jetzt in der neuen socialen Republik in Deutschland eingeführt ist.«16 Auf Grundlage des BGB sollte eine umfassende rechtliche Gleichstellung von Deutschen und Afrikanern herrschen – ohne Prügelstrafe und Rassentrennung, aber mit Schulzwang, dem Recht auf Eigentum an Land, auf die deutsche Staatsbürgerschaft, auf Reisefreiheit, auf freie Wahl des Ehepartners und auf einen kamerunischen Repräsentanten im Reichstag. Gleichwohl sollten administrative und exekutive Führungspositionen, etwa in der Polizei, »Weißen« vorbehalten bleiben. Der Gouverneur sollte dabei einer halbjährigen Probezeit unterliegen. Bemerkenswert ist zudem, wie Dibobe Versatzstücke aktueller Diskurse aufgriff, zum Beispiel die Rede von Lettow-Vorbecks vorgeblichen Großtaten oder auch den einsetzenden Askari-Mythos, um diese zur Untermauerung seiner Forderungen zu nutzen. Gleichzeitig unterstrich er damit nicht nur die eigene Loyalität, sondern erinnerte auch an die Verantwortung der Deutschen für eine bessere Zukunft der afrikanischen Kolonien. Dibobe entwickelte mithin neue globale Verflechtungsverhältnisse für das republikanische Deutschland. Seine Motivation zum Schreiben war zwar auch der »Raub« der Kolonien, mehr noch aber die »Revolution und Umwälzung« in Deutschland.17 Sie begriff er als Chance zur Neugestaltung deutsch-afrikanischer Beziehungen. Die Beamten Bells leiteten jedoch, trotz mehrerer Besuche Dibobes im Ministerium, die Petition weder, wie gewünscht, an die Nationalversammlung
14 Vgl. Jürgen Zimmerer: Von der Bevormundung zur Selbstbestimmung. Die Pariser Friedenskonferenz und ihre Auswirkungen auf die britische Kolonialherrschaft im südlichen Afrika, in: Krumeich, Versailles (wie Anm. 6), S. 145–158, hier: S. 146. 15 Vgl. Andreas Eckert: Grundbesitz, Landkonflikte und Kolonialer Wandel. Douala 1880 bis 1960, Stuttgart 1999. 16 BArch R 1001, 7220, Bl. 224. 17 BArch R 1001, 7220, Bl. 130, Schreiben an Bell vom 22. Mai 1919.
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in Weimar noch an die deutsche Presse weiter. Allein die Loyalitätsbekundung erschien gekürzt 1920 in einer vom Reichskolonialministerium initiierten Schrift zur Kolonialfrage in Versailles.18 Offensichtlich dachten sie bei ihren rückwärtsgewandten Zukunftsplänen nicht an Bundesstaaten in Übersee, sondern an Kolonien als »Machtattribute«.
Indirekter Kolonialismus und »kolonialer Wiederaufbau«19 Auch für die folgenden Akteure gilt, dass die Zäsur der beendeten formalen Kolonialherrschaft für manche keineswegs so bedeutsam war, wie es die damalige Koloniallobby in ihrem Phantomschmerz Glauben machen wollte. Im Mittelpunkt stehen in diesem Fall nicht Immigranten in Berlin, sondern deutsche Remigranten in den Kolonien: Es geht um Kolonialbeamte, Farmer, Manager und deren zwar mitunter auch politische, vor allem aber wirtschaftliche Interessen.20 Eine der Begründungen der Kolonialverbände für ihre Kritik war die angebliche Beschneidung ökonomischer Verflechtungen durch den Artikel 119. Schon der deutsche Außenminister Ulrich von Brockdorff-Rantzau hatte in den Friedensverhandlungen die Siegermächte gemahnt, an die Folgen zu denken, wenn Deutschland, ein »mit der ganzen Weltwirtschaft verknüpfter« Industriestaat, seine Schiffe, Kolonien und Auslandsrechte einbüßen sollte.21 Von einer Einbuße konnte im Fall von Hans Bogislav Graf von Schwerin nicht die Rede sein. Der 36-Jährige war ein enger Mitarbeiter des letzten Gouverneurs von Deutsch-Südwestafrika, Theodor Seitz, gewesen. In einem Bittbrief an den südafrikanischen Handelskommissar für Europa, Carl Spilhaus – das britische Dominion hatte das Mandat über die ehemalige Kolonie übernommen – antichambrierte er im Dezember 1922 nicht nur bei Spilhaus, sondern entkleidete seine Biographie auch fast aller kolonialen Kontexte. Er schrieb: »Sehr geehrter Herr Spilhaus! Von Geburt ein Deutscher bin ich zehn Jahre lang in Südwestafrika als Verwaltungsbeamter und Farmer tätig gewesen. Nach meiner Ende 1919 erfolgten Rückkehr in die alte Heimat habe ich
18 Hans Poeschel: Die Kolonialfrage im Frieden von Versailles. Dokumente zu ihrer Behandlung, Berlin 1920, S. 244 f. 19 »Hamburger Börsen-Halle« vom 7. Juli 1926. 20 Siehe auch den Beitrag von Jan-Otmar Hesse in diesem Band. 21 Zit. nach Esche, Koloniales Anspruchsdenken (wie Anm. 4), S. 80.
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die Bewirtschaftung meiner hiesigen Güter übernommen, doch liegt der Schwerpunkt meiner Interessen und meiner Tätigkeit nach wie vor in Südwest, da ich dort größere Besitzungen habe und Südwest meine zweite Heimat geworden ist, zu der es mich immer wieder hinaus zieht. Als südwestafrikanischer Farmer fühle ich mich nicht nur persönlich verbunden mit der großen südafrikanischen Union, sondern ich bin auch davon überzeugt, dass das Schicksal Südwest’s und das der Union zum Segen beider unwiderruflich miteinander verknüpft bleiben wird.«22 Im Folgenden ging es dann darum, dass von Schwerin im Jahre 1919 97.000 Hektar Farmland und 7.000 Stück Großvieh erworben hatte und nun einen Partner suchte, um eine Fleischkonservenfabrik aufzumachen. Bei dieser Suche sollte ihm Spilhaus helfen. Auffällig ist, was er alles ausgelassen hatte, als er sich und seine Person vorstellte. Weder führte er seine Tätigkeit bei der Unterzeichnung des Waffenstillstandes mit den Briten im Jahr 1915 an noch seine als Rückkehr ummantelte Ausweisung aus Südwestafrika 1919. Überhaupt unterblieb jede Erwähnung des Krieges und des unfreiwilligen Herrschaftswechsels. Die südafrikanische Regierung war ihrerseits bei dieser stillschweigenden Geschichtsrevision und biographischen Kontinuität behilflich, wollte sie die Besiedelung mit Weißen zu Lasten der Afrikaner doch vorantreiben und nahm hierfür – Hunnen hin, Hunnen her – gerne die ehemaligen deutschen Siedler wieder auf.23 Die Unionsregierung hatte ohnehin etwa die Hälfte der deutschen Siedler von der durch Art. 22 Versailler Vertrag ermöglichten Repatriierung ausgenommen. Dass die Situation für Deutsche in den ehemaligen Kolonien und speziell in Southwestafrica günstig war, wusste im September 1922 auch Rolf Hartig, bis 1919 Leiter der deutschen Farmgesellschaft AG in Südwestafrika. Von Schwerin hatte ihn angeschrieben und um eine Einschätzung der Zukunftsaussichten für das Mandatsgebiet gebeten. Hartig stimmte dem Grafen weitgehend zu, ja, mehr noch: Er begrüßte den de facto Anschluss an die Südafrikanische Union ausdrücklich, schienen doch antikoloniale Revolten, der Geist der Oktoberrevolution und sonstige »Unruhen« durch die weißen Hardliner in Cape Town besser gebändigt als noch unter deutscher Ägide. Hartig schrieb: Seit seinem Weggang verfolge er »alle Entwicklung in Südwest mit grösstem Interesse«. Er kenne »aus eigner Erfahrung die enorme Re22 StAHH, 132–1 II, 944, Anlage zu Bl. 1. 23 Vgl. Martin Eberhardt: Zwischen Nationalsozialismus und Apartheid. Die deutsche Bevölkerungsgruppe Südwestafrikas 1915–1965, Berlin 2007, S. 138–153.
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generationskraft ganz Südafrikas, sobald nur einmal politisch hemmende Momente beseitigt sind, und hierzu ist Südwest zweifellos auf dem besten Wege. Es wird bei künftigen weltpolitischen Störungen nicht nur nicht berührt werden, sondern die Gelegenheit benutzen, um zu einer ungeahnten wirtschaftlichen Eigenentwicklung den entscheidenden Schritt zu tun. Nennenswerte Störungen durch Eingeborenen-Unruhen halte ich nach Lage der Dinge für ausgeschlossen, solange Männer wie General Smuts oder Hertzog am Ruder sind. Auch ist ein Eindringen bolschewistischer Ideen bei der vorwiegend landwirtschaftlichen Bevölkerung unmöglich. (…) Nirgends in der Welt sind in einem von in den Krieg hineingezogenen Ländern deutsche Kapitalien derartig anständig behandelt worden wie in der Union und ihrem Mandatsgebiet Südwestafrika.«24 Diese so positiv beurteilte politische wie wirtschaftliche Situation nutzte von Schwerin wenig. Sein Unternehmen ging 1925 infolge der weltwirtschaftlichen Turbulenzen in Konkurs. Hartig und Schwerin hatten dennoch recht: Deutsche waren in den britischen Mandatsgebieten nach einigem Zögern auf Seiten der neuen Herrschaftsträger gerngesehene Unternehmer. Am spektakulärsten lief diese Wiedereingliederung im Falle Kameruns ab.25 Der Süden des Landes um den Mount Cameroon war vor dem Krieg eine Art deutsches Plantagenparadies gewesen. Auf 58 bis zu 18.000 Hektar großen Plantagen – die Westafrikanische Pflanzungsgesellschaft Victoria hatte hier die »weltgrößte Kakaoplantage« besessen – hatten im Jahr 1912 23 Unternehmen, zumeist in Form einer GmbH oder Aktiengesellschaft, Kakao, Kaffee, Palmöl, Tabak oder Kautschuk bewirtschaftet und etwa 18.000 Afrikaner zur Plantagenarbeit – überwiegend zwangsweise – herangezogen. Der Versailler Vertrag gab den Mandatsmächten das Recht, allen deutschen Besitz in den Kolonien und damit die Insignien deutschen Aufbaustolzes, die Plantagen in Kamerun, zugunsten der neuen Mandatare zu enteignen. Die
24 StAHH, 132–1 II, 944, Anlage zu Bl. 4, Schreiben vom 25. September 1922. 25 Vgl. Caroline Authaler: Negotiating »Social Progress«: German Planters, African Workers and Mandate Administrators in the British Cameroons (1925–1939), in: Magaly Rodriguez Garcia/Davide Rodogno/Liat Kozma (Hrsg.): The League of Nations’ Work on Social Issues. Visions, Endeavours and Experiments, Genf 2016, S. 47–56; Authaler, Plantagen (wie Anm. 3); Richard A. Goodridge: »In the Most Effective Manner«? Britain and the Disposal of the Cameroons Plantations, 1914–1924, in: The International Journal of African Historical Studies 29 (1996), Nr. 2, S. 251–277; Karin Hausen: Deutsche Kolonialherrschaft in Afrika. Wirtschaftsinteressen und Kolonialverwaltung in Kamerun vor 1914 (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte, Bd. 9), Zürich/Freiburg 1970; Kerstin Wilke: Die deutsche Banane. Wirtschafts- und Kulturgeschichte der Banane im Deutschen Reich 1900–1939, Diss. Hannover 2004.
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südafrikanische Union hatte in »Südwest« darauf verzichtet – im Gegensatz zu Frankreich und Großbritannien. London wollte im Falle Kameruns zunächst die Besitzungen öffentlich versteigern, um über den Erlös die deutschen Reparationsverpflichtungen zu reduzieren. Die teilweise schon seit Mitte des Krieges in London antichambrierenden deutschen Pflanzer blieben einstweilen außen vor. Im britischen Mandatsgebiet von Kamerun fand London 1922 jedoch nur zehn Käufer, die zudem enttäuschend niedrige Gebote abgaben. Europäische und amerikanische Unternehmen hielten sich aus einer Vielzahl von Gründen zurück. Da waren zum einen die hohen Investitionen, um die Plantagen wieder rentabel zu machen, und auch die gleichzeitig fallenden Rohstoffpreise machten das Ganze zu einem gewagten Unterfangen. Zum anderen befürchteten die Interessenten, dass der Völkerbund aufgrund des deutschen Drucks Großbritannien das Mandat wieder entziehen könnte. Dann brach auch noch der Vulkan des Kamerunberges aus. Einige Parzellen konnten an Einheimische verkauft werden, alle Anwesen aber in Kleinbetriebe aufzusplittern und an die lokalen Kpe, eine Ethnie in Südwestkamerun, zu verkaufen, schien weder ökonomisch noch politisch eine Option zu sein. Die Kosten für die brachliegenden Besitzungen, für deren Erhalt das britische Empire Gelder zur Verfügung stellen musste, waren eine Ursache dafür, dass Großbritannien im Jahr 1923 bzw. 1925 das Einwanderungs- und Niederlassungsverbot für Deutsche in den britischen Kolonien und Mandatsgebieten aufhob. Ein weiterer Grund war der damals diskutierte Eintritt Deutschlands in den Völkerbund, der derartige diskriminierende Klauseln ohnehin obsolet werden lassen würde. Nachdem diese Immigrationshürde beseitigt war, gingen vermutlich über Tausend Deutsche nach Kamerun und Ostafrika zurück, aber auch nach Samoa, dessen Mandatar das Dominion Neuseeland war, und nahmen in der Regel ihre alten Geschäfte als Plantagenbesitzer, Verwalter, Farmer und Arbeitgeber wieder auf.26 Im Zuge der britischen Kursänderung entschied sich die neue konservative Regierung in London, für Kamerun im November 1924 eine große Auktion zu veranstalten, an der nun auch die zuvor ausgeschlossenen deutschen Bieter teilnehmen durften. Das ließ das Auswärtige Amt, dem ein umtriebiges Netzwerk aus ehemaligen Kolonisten und aktiven Kolonialbeamten angehörte, aufhorchen. Dazu zählten Heinrich F. Picht, der vor dem Ersten Weltkrieg 26 Vgl. Stefanie Michels/Caroline Authaler: Postwar Colonial Administration (Africa), in: 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War, online verfügbar: http://www.encyclopedia.1914-1918-online.net/article/post-war_colonial_administration_africa (zuletzt abgerufen am: 14. Februar 2019).
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lange Jahre als Pflanzer in Kamerun tätig gewesen war, und Edmund Brückner, ehemals Gouverneur von Togo, dann führender Beamter im Reichsfinanzministerium, bevor er zum Leiter der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes ernannt worden war. In Kamerun biete sich die Chance, »ein geschlossenes deutsches Betätigungsfeld zu schaffen, auf dem gezeigt werden kann, was durch deutsche Arbeit geleistet werden kann«. Schließlich müsse der Reichsregierung daran gelegen sein, »die deutschen Kolonien oder einen Teil derselben in irgendeiner Form wenigstens wirtschaftlich wieder in die Hände zu bekommen.« Das sei gerade im Falle Kameruns möglich, denn London habe an diesem schmalen Handtuch ohnehin kein großes wirtschaftliches oder strategisches Interesse. Die zurückkehrenden Gesellschaften würden in Kürze aller Schwierigkeiten Herr werden und die Pflanzungen wieder profitabel machen. Diese Erfolge würden die Mandatsstaaten positiv stimmen und eine Rückübertragung wahrscheinlicher werden lassen, so die Hoffnung der Kolonialabteilung im Außenamt und der kolonialen Netzwerker. Auf die Agenda trat nun neben der Propaganda in Wort und Schrift die »Propaganda der Tat«.27 Sowohl das Finanz- als auch das Außenministerium zeigten sich im Folgenden spendabel – zumindest nach außen hin. Der Friedensvertrag verpflichtete das Reich, seine Staatsangehörigen für die Wegnahme ihres Eigentums zu entschädigen. Diese Ausgleichszahlungen zogen sich aber aufgrund der schlechten Haushaltslage des Reiches jahrelang, zum Teil Jahrzehnte hin. Dennoch, so die Beamten, müsse man »die sich bietende Möglichkeit« ausnutzen und der »moralischen Verpflichtung des Reiches, helfend einzugreifen«, nachkommen.28 Und die Möglichkeit bot sich: Der Dawes-Plan vom August 1924 und die über ihn bereitgestellten Mittel spülten frisches Geld in die Reichskassen. Mit den Anleihen sollte das Reich seinen Reparationsverpflichtungen nachkommen. Das Finanzministerium leitete nach der Bewilligung Teile der Gelder in den Entschädigungsfonds, der nun dazu diente, Darlehen für »koloniale Unternehmungen« zur Verfügung zu stellen. Auf diese Kredite wurden die Restitutionsansprüche der Firmen als Vorschüsse angerechnet. Zum Verdruss der britischen Presse senkten damit die Erlöse für die Plantagen in Kamerun die Deutschland auferlegten Reparationen. Insofern lagen die Kritiker auf der Insel nicht ganz falsch, wenn sie zähneknirschend bemerkten, das Reich »kolonisiere indirekt«.29 Berlin nahm das amerikanische Geld, musste 27 BArch R 2, 689, Bl. 14–16, Schreiben vom 24. August 1924. 28 BArch R 2, 689, Bl. 14 f.; vgl. auch ebd., Bl. 56–57, Schreiben Brückners vom 25. Oktober 1924. 29 BArch R 2, 689, »Berliner Tageblatt« vom 13. November 1925.
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zwar Zinsen aufbringen und verzichtete weitgehend auf die Rückzahlung der den deutschen Großkaufleuten, Bankiers und Industriellen geliehenen Mittel. Aber mit dem Entschädigungs-Coup subventionierte es die koloniale Zukunft Deutschlands auf nunmehr fremden Boden – und reduzierte zugleich seine hohen Reparationsschulden. In Kamerun durften die Einheimischen derweil zusehen, wie ihr Land ein zweites Mal an die Deutschen fiel. Auf der Aktion ersteigerte ein Deutscher eine kleinere Besitzung, der Großteil ging über einen britischen Strohmann an das deutsche Konsortium der früheren Pflanzer und Pflanzungsgesellschaften, die Fako-Pflanzungen GmbH, benannt nach dem Gebiet und dem Vulkan. Die Irreführung mit dem »reichen Londoner Grundstücksspekulanten« inszenierte die Fako, um die Gebote niedrig zu halten und nichtdeutsche Interessenten abzuschrecken. Von ursprünglich etwa 107.000 Hektar gerieten auf diese Weise 83.770 Hektar wieder in deutsche Hände. Selbstzufrieden resümierte Picht, nunmehr Vorstand des Konsortiums, dass es mit dem Friedenswert einer Plantage gelungen sei, fast alle früheren Besitzungen wieder zurückzukaufen. Allerdings schließe dieser Rückerwerb »eine sehr grosse Verantwortung« ein, da nur durch »vorsichtiges Auftreten, angestrengten Fleiss und sorgfältiges Abwägen der Außenwirkung aller Massnahmen (besonders gute Verpflegung und Unterbringung der Arbeiter usw.) der zweifellos sehr scharfen Kontrolle durch die englische Presse entgegengetreten werden kann«.30 300 Deutsche kehrten zurück, und deutsche Dampfer liefen wieder die Häfen Kameruns an, um die Erzeugnisse der Plantagen in den internationalen Handel zu bringen. Die koloniale Situation habe sich dabei, wie Caroline Authaler in ihrer Studie zu Kamerun zeigt, allerdings vielfältiger als noch vor dem Krieg dargestellt. Vertreter von nunmehr drei europäischen Mächten in der ehemaligen Kolonie, eine Arbeitsmigration aus dem französischen Mandatsgebiet und aus Nigeria sowie ein Mandatssystem, das sich zumindest nominell auch dem sozialen Fortschritt Kameruns verpflichtet sah, gestalteten die Handlungsräume der einzelnen Akteure neu.31 Statt von einer Kolonialsituation solle man daher eher von einer »Mandatssituation« sprechen. Das Kameruner Beispiel sollte Schule machen und die darniederliegenden Kolonialunternehmen aus ihrem »Dornröschenschlaf« wecken, wie die »Berliner Montagspost« am 5. Mai 1925 schrieb. Nicht nur Hamburger Handelshäuser forderten ähnliche Darlehen ein, um ihre alten Geschäfte wieder auf-
30 BArch R 2, 689, Bl. 107–112, Bericht Pichts vom 2. Dezember 1924. 31 Vgl. Authaler, Plantagen (wie Anm. 3).
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zunehmen.32 Auch für Togo, Südwestafrika und Tanganjika/Ostafrika sowie für die portugiesischen Bissagos-Inseln fanden sich ab 1925 Pflanzungsgesellschaften, Unternehmen und Farmer, die ihren früheren Betrieb wieder aufnahmen – oder neu ins Land kamen.33 Im Falle Tanganjikas fabulierte der zuständige Abteilungsleiter im Auswärtigen Amt, Walter de Haas, am 23. April 1927 gar von einer »Invasion«.34 Das war vielleicht etwas zu euphorisch, aber immerhin hatten in den zwei Jahren zwischen 800 und 1.000 deutsche Ansiedler den Weg zu Sisal-, Kaffee- und Kokospalmenplantagen gefunden. 1933 sollten 2.665 Reichsbürger im ehemaligen Ostafrika leben. Bis 1928 würden 36 Millionen RM an die deutschen kolonialen Wiederaufbauer fließen, davon allein an die Fako 9,3 Millionen RM.35 Die britischen Regierungen irritierte die deutsche Präsenz kaum, da sie sich der Hoheit über ihre Mandate gewiss waren. Zur Sicherheit aber begannen die lokalen Behörden ab Ende der 1920er Jahre, immer häufiger Anträge von Deutschen auf Landkäufe abzulehnen. Die Gesellschaften und Firmen aus dem Reich, die nicht zurückkehren konnten oder wollten, liquidierten entweder ihr Unternehmen oder engagierten sich in anderen Überseeterritorien, wie zum Beispiel die Neu Guinea Compagnie in Mittelamerika. Paris war im Gegensatz zu London den Klauseln des Versailler Vertrages treu geblieben und hatte eine Remigration von Deutschen weiterhin verhindert. Ausnahmen, etwa zwei deutsche Staatsbürger in Togo, bestätigten nur diese Regel.36 Publizisten wie der Afrikaexperte Camille Martin beobachteten daher die Vorgänge in den britischen Kolonien mit großem Misstrauen. Die Lage überzeichnend, aber dennoch zutreffend befürchtete er, dass die Deutschen Vorbereitungen dazu träfen, »sich im Auslande ›wirtschaftliche Einflusssphären‹ 32 Z. B. BArch R 2, 690, Bl. 97–99, Schreiben an das RFM vom 10. Dezember 1925. 33 Vgl. auch Hans-Joachim Fieber: Die Kolonialgesellschaften – ein Instrument der deutschen Kolonialpolitik in Afrika während der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 9, Sonderheft: Zur Geschichte des Kolonialismus und der nationalen Befreiung (1961), S. 210–219. 34 BArch R 2, 782, Schreiben an das RFM vom 23. April 1927; vgl. Mathias Mulumbar Rwankote: Ostafrika in den Zielvorstellungen der Reichspolitik und der verschiedenen Interessengruppen im Rahmen der kolonialen politischen Aktivitäten in der Zeit der Weimarer Republik, Diss. Köln 1985, S. 155–207; Wolfgang Hinnenberg: Die deutschen Bestrebungen zur wirtschaftlichen Durchdringung Tanganyikas 1925 bis 1933. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Kolonialpolitik in der Weimarer Republik, Diss. Hamburg 1973. 35 BArch R 2, 690, Vermerk des RFM o. D. »Streng vertraulich!«, Bl. 201–205. 36 Jonas Bakoubayi Billy: Musterkolonie des Rassenstaats. Togo in der kolonialpolitischen Propaganda und Planung Deutschlands 1919–1943, Dettelbach 2011, S. 67.
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zu schaffen, von neuem die fruchtbringende kolonisatorische Parasitenmethode anzuwenden, die darin besteht, sich in den Kolonien der anderen Völker einzuschmeicheln, wenn es möglich ist, die Stelle des Herrn einzunehmen und sich ›in das gemachte Bett‹ zu legen. […] Ihre Forschungsreisenden, ihre Kaufleute werden in ihre früheren Kolonien zurückkommen, die sie […] hartnäckig noch als ihr Eigentum bezeichnen.« Er sah hier eine Form des »deutschen Kulturimperialismus« am Werk.37 Nachdem sich ab Mitte der 1920er Jahre die außenpolitische Lage wieder etwas beruhigt hatte, lebten viele deutsche Arbeitsmigranten wieder in den ehemaligen Kolonien, deutsche Firmen pflanzten wieder Rohstoffe oder ließen diese bearbeiten, und deutsche Handelsgesellschaften und deutsche Reedereien vermarkteten und transportierten diese Güter. Dabei standen die kolonialen Netzwerker unter dem Druck einer dauernden Bewährungsprobe, um die Vorwürfe aus der Mantelnote der Entente zu widerlegen. Die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes pochte hingegen auf eine »angemessene« Behandlung der einheimischen Bevölkerung und begleitete den ökonomischen »Wiederaufbau« mit einer kulturellen Offensive. Gleichzeitig stiegen die ehemaligen Kolonien zu einem beliebten Reiseziel von Publizisten und Journalistinnen auf, und Dokumentarfilmer drehten eine Reihe von »Kulturfilmen« mit Titeln wie »Deutsche Pflanzer am Kamerunberg«.38 Wie ehedem kümmerte sich der Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft um die Einrichtung von deutschen Schulen, deutschen Kindergärten, deutschen Internaten, sandte deutsche Frauen als Lehrerinnen, Gouvernanten, Kindergärtnerinnen und angehende Pflanzer- und Farmerehefrauen.39 Viele ihrer Reisen mit Dampfern der Firma Woermann wurden aus einem Extrafonds des Auswärtigen Amtes gezahlt. 40 Dennoch erreichten alle diese Aktivitäten unter den veränderten politischen Strukturen und Handlungsoptionen nicht mehr den früheren Umfang. Die Plantagengesellschaften konnten Arbeitskräfte in Kamerun nicht länger per Zwang rekrutieren, sondern mussten sie – mittels afrikanischer Vermittler – mit attraktiven Löhnen anwerben. Diese intermediaries waren oftmals ehemalige afrikanische Soldaten, die in deutschen Diensten gestanden hatten. Beide Seiten waren in Kontakt geblieben – nun zum gegenseitigen Nutzen.
37 BArch R 2, 2765, Martin, Camille: »Die öffentliche Meinung Deutschlands über die koloniale Frage und der Friedensvertrag«. 38 Vgl. nur Struck, Eroberung (wie Anm. 4); siehe auch den Beitrag von Wolfgang Struck in diesem Band. 39 Lora Wildenthal: German Women for Empire, Durham 2001, S. 172–200. 40 Vgl. die Vorgänge in BArch 1001, 6408.
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Ungeachtet der neuen Umstände zeigten sich die beteiligten offiziellen Stellen wie Privatleute höchst zufrieden angesichts ihres »über Erwarten« großen Erfolges. 41 Die Weltwirtschaftskrise rief dann allerdings bei den Rohstoffen einen Preisverfall hervor, und die einsetzende Kapitalknappheit sollten viele Betriebe nicht überstehen. 42 Einen weiteren Einbruch erlebte dieser deutsche indirekte Kolonialismus 1939/1945, als die Mandatare die meisten Unternehmen enteigneten und die in den Mandatsgebieten lebenden Deutschen als »feindliche Ausländer« internierten. Weniger der Erste als vielmehr der Zweite Weltkrieg, das heißt die Niederlage des Nationalsozialismus und seiner Siedlungs- und Versklavungsphantasien, scheint den geschilderten Verflechtungen und imperialen Träumen ein Ende bereitet zu haben. 43 Zu prüfen wäre jedoch, ob deutsche koloniale Aspirationen nicht lediglich ein weiteres Mal die Form wandelten und erst die politische Dekolonisation des globalen Südens im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts für eine tiefere Zäsur sorgte. 44
Fazit Ein Journalist, der die Ziele der Koloniallobby für gefährlich hielt und in einem postkolonialen Deutschland nicht nur einen Vorreiter der Dekolonisation, sondern auch größere Chancen für Weltoffenheit erblickte; ein Kolonialmigrant, der auf sozialdemokratischer Grundlage ein neues deutsches Afrika erfand; ein Farmer, der dort weitermachen wollte, wo er aufgehört hatte; ein Manager, der eine blendende Zukunft für deutsche Unternehmen in Southwestafrica voraussah; und schließlich koloniale Wiederaufbauer: Die deutsche Gesellschaft der 1920er Jahre reagierte sehr widersprüchlich auf das kolonial beschnittene Reich, mit Entsetzen, aber auch mit Erleichterung, mit Optimismus – und
41 Der deutsche Generalkonsul in Shanghai am 8. Februar 1922, zit. nach: Wolfgang Bauer: Tsingtau 1914 bis 1931. Japanische Herrschaft, wirtschaftliche Entwicklung und die Rückkehr der deutschen Kaufleute, München 2000, S. 157. 42 Aufschlussreiche Einblicke in: BArch R 1001, 6723 und 6724 sowie 6726h. 43 Am überzeugendsten entwickelt bei David Blackbourn: »Die Eroberung der Natur«. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2007. Auch Authaler nimmt ihre Forschungen zu den deutschen Plantagen in Britisch-Kamerun zum Ausgangspunkt, um statt einer kurzen deutschen Kolonialgeschichte eine längere, mindestens bis 1941 dauernde Phase zu statuieren, siehe Authaler, Plantagen (wie Anm. 3). 44 Vgl. Dirk van Laak: Im Tropenfieber. Deutschlands afrikanische Kolonien zwischen kollektivem Verlangen und Vergessen, in: Jörn Leonhard/Rolf G. Renner (Hrsg.): Koloniale Vergangenheiten – (post-)imperiale Gegenwart, Berlin 2010, S. 87–98.
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mit Aktivismus. Während Antiimperialisten den Versailler Vertrag begrüßten, machten sich andere an die neo- oder semikoloniale Zukunftssicherung. Gerade die Aktionen eines Dibobe und seiner Mitunterzeichner, vor allem aber der kolonialen Netzwerker im Auswärtigen Amt und in der Kolonialbewegung belegen eindringlich, dass die de iure Dekolonisation durch den Versailler Vertrag nicht überschätzt werden sollte, nur weil die Koloniallobby so viele Quellen hinterließ und öffentlichkeitswirksam ihre Propaganda verbreitete. Es lassen sich etliche Akteure finden, die sehr pragmatisch mit dem neuen Status quo umgingen, wenn sie ihre eigenen Interessen in res coloniae durchsetzen wollten. Dabei konnte die Weimarer Republik auch ohne Kolonien kolonial sein, und sie konnte auch ohne Kolonien global vernetzt sein. In den 1920er Jahren wurde eine indirekte Form von Kolonialismus aufgebaut, führten alte und neue Kolonialisten die bis 1918 etablierten deutschen Strukturen und Netzwerke weiter – wenngleich nicht in toto und unter den erschwerten Bedingungen der weltwirtschaftlichen Krisenerscheinungen der 1920er und frühen 1930er Jahre. Zwar war die politische Gestaltungsmacht in den Überseegebieten verloren. Aber die Koexistenz von globalem Imperialismus, an dem man formal nicht mehr beteiligt war, und subkutanem Kolonialismus, die Gleichzeitigkeit, »nicht behaftet mit dem Makel« einer Kolonialmacht, wirtschaftlich aber durchsetzungsfähig zu sein, eröffnete Handlungsräume. 45 Manche der Kolonialmigranten, der indigenen Eliten, aber auch Teile der internationalen Antirassismus- und Antikolonialismus-Bewegung blickten mit Wohlwollen auf ein vorgeblich unbelastetes demokratisches Deutschland, derweil Wirtschaftsvertreter weiterhin ihren Interessen nachgehen konnten, ohne für Ungerechtigkeiten, Ausbeutung oder Diskriminierungen in politische Haftung genommen zu werden. 46 Versteht man Globalisierung als wirtschaftliche Verflechtung und weltweite Siedlungs- und Arbeitsmigration, als »raumgreifende und grenzüberschreitende Dynamik«, dann war der indirekte Kolonialismus in der Weimarer Republik ein Teil dieser Prozesse internationaler Interaktion. 47 Die von den Deutschen betriebene Globalisierung verlief dabei teils in den bekannten kolonialen, teils
45 Klötzel, Gegen Kolonien (wie Anm. 7), S. 10. 46 Vgl. aus der umfangreichen Literatur nur Robbie Aitken: Embracing Germany. Interwar German Society and Black Germans through the Eyes of African American Reporters, in: Journal of American Studies (2017), S. 1–27; siehe auch den Beitrag von Jürgen Dinkel in diesem Band. 47 Jürgen Osterhammel: Die Flughöhe der Adler. Historische Essays zur globalen Gegenwart, München 2017, S. 49.
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in neuen Formen von Asymmetrien und Hierarchien. Sie sicherten deutschen Unternehmen und Privatpersonen den Zugang zu Rohstoffen, Waren, Märkten und Arbeitskräften im globalen Süden, während die nunmehrigen Mandatsgebiete das blieben, was sie gewesen waren: nichtsouveräne und politisch von einer fremden Macht abhängige Gebiete. Insofern kann keine Rede sein vom »Ende der Begegnung mit andersartigen Vorstellungen, Lebensweisen, Ideen und Konzepten« nach 1919. Weiterhin waren Staat und Gesellschaft der Weimarer Republik integriert in Prozesse der Globalisierung im Rahmen imperialer Politik wie antiimperialer Befreiungsbewegungen. Inwiefern diese Partizipation Einstellungen und Haltungen, Gefühle und Mentalitäten beeinflusst hat, inwiefern sie die deutsche Gesellschaft weltoffener, globaler oder eben provinzieller gemacht hat, ist nur schwer abzuschätzen. Hierfür bräuchte es weitere Forschungen. Lora Wildenthal konstatiert in ihrer Untersuchung zum Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft, dass sich die Perspektive der Deutschen in den afrikanischen Mandatsgebieten verengt habe, die Afrikaner seien mehr oder minder aus dem Blick geraten. 48 Das hieße, dass global-koloniale Migration mit Selbstprovinzialisierung einhergegangen wäre. Schaut man sich wiederum die Handlungsweisen des Außenamtes gegenüber Martin Dibobe an, dann sieht man ein immer noch von rassistischen Verblendungen geprägtes, aber doch auch zugewandtes Beamtentum agieren. Dessen Festhalten an tradierten bürokratischen Umgangsformen war einerseits der neuen Situation geschuldet, sich mit einem kolonialen Kronzeugen gut stellen zu müssen. Möglicherweise aber hatten andererseits die im Raum stehenden Vorwürfe einer deutschen Kulturlosigkeit eine zivilisierende Wirkung, fühlten sich manche dieser Staatsdiener herausgefordert, Dibobe mit Respekt zu begegnen. 49 Respekt war indessen für den ehemaligen Farmleiter Hartig keine Kategorie in kolonialen Herrschaftsverhältnissen. Aus seinem Brief sprachen die nach wie vor willkommenen Vorurteile gegenüber »Eingeborenen«. Neu in seinem Schreiben war allerdings ein anderes, sich bald globalisierendes Element, nämlich der Antikommunismus. Beides zusammen, angestammter Rassismus und angeheizter Antibolschewismus, ließen Hartig für Südafrika entflammen – und den »Raub der Kolonien« bald vergessen.
48 Wildenthal, German Women (wie Anm. 39), S. 7. 49 Dass dies nicht die Regel war, lässt sich am Verhalten des Orientalischen Seminars und des Reichskolonialamtes z. B. gegenüber dem Sprachlehrer Mdachi bin Sharifu veranschaulichen. Vgl. Holger Stoecker, Afrikawissenschaften in Berlin von 1919 bis 1945. Zur Geschichte und Topographie eines wissenschaftlichen Netzwerkes, Stuttgart 2008, S. 51–62.
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Senegalschützen und Fremdenlegionäre Französische Kolonialtruppen als Projektions flächen des Weimarer Blicks nach Afrika
Mit der Unterzeichnung des Vertrags von Versailles am 28. Juni 1919 wechselten die bereits in den Vorjahren auf den Schlachtfeldern verlorenen afrikanischen Kolonien des Deutschen Reiches nun endgültig den Besitzer. Die zwischen Herbst 1914 und November 1918 sukzessive kapitulierenden Kolonien Togo, Deutsch-Südwestafrika, Kamerun und Deutsch-Ostafrika wurden zu Völkerbundmandaten unter britischer, französischer oder südafrikanischer Verwaltung. Hatte man kurz zuvor noch von einem großen »Deutsch-Mittelafrika« geträumt, das als Gegenstück zu Britisch-Indien die Krone des Wilhelminischen Kolonialimperiums werden und eine deutsche Vormachtstellung in Afrika begründen sollte, so fand sich das Deutsche Reich nun seiner Kolonialherrlichkeit vollständig entledigt.1 Damit waren die vielfältigen afrikanisch-deutschen Verflechtungen aber keineswegs beendet. Dies zeigt besonders drastisch das Beispiel des Rif-Krieges, bei dem spanische und französische Truppen zwischen 1921 und 1926 die RifRepublik Mohammed Abd al-Karims niederkämpften. Obwohl das Deutsche Reich seine Machtgelüste in Marokko bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte beerdigen müssen, waren Deutsche im Rif-Krieg in vielfältiger Weise involviert. Mehrere Hundert kämpften sowohl in der spanischen als auch in der französischen Fremdenlegion in diesem Konflikt. Ebenfalls aus Deutschland kam ein großer Teil der chemischen Waffen, die die Spanier gegen die aufständischen Rifkabylen einsetzten. Das Munsterlager-Breloh lieferte Spanien von 1921 bis 1923 etwa 500 Tonnen Phosgen – mit Wissen Frankreichs, das bei diesem Verstoß gegen den Versailler Vertrag keine Einwände hervorbrachte. Mehrere Dutzend deutscher Fremdenlegionäre liefen aber zu den Aufständischen über und kämpften gegen die Kolonisatoren. Einige von ihnen spielten eine wesentliche Rolle beim Aufbau des Telefon- und Radiokommunikationsnetzes der
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Vgl. Thomas Paul: Ein Deutsches Indien in Afrika. Über die Kontinuität eines Kolonialziels 1879–1943, Lizentiatsarbeit Univ. Zürich 1996.
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Rif-Republik. Schließlich befanden sich auch Deutsche unter den zahlreichen Kaufleuten, die mit Abd al-Karim ins Geschäft zu kommen hofften.2
Dimensionen des Weimarer Blicks nach Afrika Der Weimarer Blick nach Afrika war vielgestaltig und auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gerichtet. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien etwa genannt: 1. Die Erinnerungskultur an die ehemaligen afrikanischen Kolonien, die sich in unterschiedlichen Formen manifestierte. Dazu gehörten unter anderem Denkmäler wie das 1909 in Daressalam errichtete und dann ab 1922 in Hamburg aufgestellte Wissmann-Denkmal, das 1925 errichtete Kolonialdenkmal von Braunschweig und das 1932 mit Liveübertragung im Rundfunk eingeweihte Bremer Reichskolonialehrendenkmal in Gestalt eines Elefanten.3 Die deutschen Kriegsanstrengungen in Ostafrika im Ersten Weltkrieg wurden sofort nach Kriegsende zum Gegenstand eines Heldenkultes. Den zurückkehrenden 143 deutschen Soldaten unter Führung Paul von Lettow-Vorbecks wurde am 2. März 1919 am Brandenburger Tor ein triumphaler Empfang bereitet, und er selbst wurde als unbesiegter »Held von Ostafrika« und Führer der gleichermaßen stilisierten »tapferen Askari« bald zu einem Mythos. 4 Ab 1920 wurde der Jahrestag der siegreichen Schlacht von Tanga vom November 1914 zu einem allgemeinen Gedenktag für die in den Kolonien gefallenen Deutschen. 1922 erfolgte die Gründung der Dachorganisation des »Deutschen Kolonial-
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Rudibert Kunz/Rolf-Dieter Müller: Giftgas gegen Abd el Krim. Deutschland, Spanien und der Gaskrieg in Spanisch-Marokko 1922–1927, Freiburg 1990; Dirk Sasse: Franzosen, Briten und Deutsche im Rifkrieg 1921–1926. Spekulanten und Sympathisanten, Deserteure und Hasardeure im Dienste Abdelkrims, München 2006. Vgl. Joachim Zeller: Kolonialdenkmäler und Geschichtsbewusstsein. Eine Untersuchung der kolonialdeutschen Erinnerungskultur, Frankfurt 2000. Vgl. Uwe Schulte-Varendorff: Kolonialheld für Kaiser und Führer. General Lettow-Vorbeck – Mythos und Wirklichkeit, Berlin 2006; Sandra Mass: Weiße Helden, schwarze Krieger. Zur Geschichte kolonialer Männlichkeit in Deutschland 1918–1964, Köln 2006; Eckard Michels: »Der Held von Deutsch-Ostafrika«. Paul von Lettow-Vorbeck. Ein preußischer Kolonialoffizier, Paderborn 2008; Stefanie Michels: Askari – treu bis in den Tod? Vom Umgang der Deutschen mit ihren schwarzen Soldaten, in: Marianne Bechhaus-Gerst/Reinhard Klein-Arendt (Hrsg.): AfrikanerInnen in Deutschland und schwarze Deutsche – Geschichte und Gegenwart, Münster 2004, S. 171–186.
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kriegerbundes«. Auch zahlreiche Publikationen erinnerten an die Kämpfe in Afrika während des Weltkrieges.5 2. Eng mit der kolonialen Memoria verbunden war der Kolonialrevisionismus, der gegen den »Kolonialraub« von Versailles und die »Kolonialschuldlüge« agitierte6 und sich in einer Vielzahl von Vereinigungen (wie der »Deutschen Kolonialgesellschaft«, dem »Kolonialkriegerbund«, dem »Kolonialen Volksbund«, dem »Bund der Kolonialfreunde«, dem »Akademischen Kolonialbund« und der »Gesellschaft für Eingeborenenschutz«) organisierte.7 Schon 1922 schlossen sich diese Organisationen unter dem Dach der »Kolonialen Reichsarbeitsgemeinschaft« (KORAG) zusammen. Das ehemalige Reichskolonialministerium wurde 1920 in eine Abteilung im Reichsministerium für Wiederaufbau umgewandelt, die die Entwicklung der ehemaligen deutschen Siedlungsgebiete verfolgte und die Kolonialvereine politisch und finanziell unterstützen sollte. Hans Grimms im südlichen Afrika spielender kolonialrevisionistischer Roman »Volk ohne Raum« (1926) wurde zum Bestseller und bis 1933 über 200.000 mal verkauft.8 3. Die Präsenz von Deutschen in den ehemaligen afrikanischen »Schutzgebieten« kam mit dem Versailler Vertrag nicht zu einem völligen Ende. Eine teilweise Kontinuität aus der Zeit vor der formalen Kolonisation über die Periode deutscher »Schutzherrschaft« bis in die Weimarer Zeit bildete die Mission. Artikel 438 des Versailler Vertrages stellte deren Aktivitäten und Eigentum unter die Aufsicht der Siegermächte.9 Während sich der »Afrika-Verein deutscher
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Zum Beispiel Heinrich Schnee: Deutsch-Ostafrika im Weltkriege. Wie wir lebten und kämpften, Leipzig 1919; Ludwig Deppe: Mit Lettow-Vorbeck durch Afrika, Berlin 1919; Paul von Lettow-Vorbeck: Heia Safari! Deutschlands Kampf in Ostafrika, Leipzig 1920; Wolfgang Foerster (Hrsg.): Kämpfer an vergessenen Fronten. Feldzugsbriefe, Kriegstagebücher und Berichte. Kolonialkrieg, Seekrieg, Luftkrieg, Spionage, Berlin 1931. 6 Vgl. z. B. Heinrich Schnee: Braucht Deutschland Kolonien? Leipzig 1921; ders.: Die koloniale Schuldlüge, Berlin 1924. 7 Vgl. den Beitrag von Birthe Kundrus in diesem Band sowie Birthe Kundrus (Hrsg.): Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt a. M./ New York 2003; Susanne Heyn: Kolonial bewegte Jugend. Beziehungsgeschichten zwischen Deutschland und Südwestafrika zur Zeit der Weimarer Republik, Bielefeld 2018. 8 Hans Grimm: Volk ohne Raum, München 1926; vgl. Tobias Schneider: Bestseller im Dritten Reich, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 52 (2004), S. 77–98, hier: S. 84. 9 Der Vertrag von Versailles. Der Friedensvertrag zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten nebst dem Schlussprotokoll und der Vereinbarung betr. die militärische Besetzung der Rheinlande. Hrsg. im Auftrag des Auswärtigen Amtes, Berlin 1924.
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Katholiken« 1920 auflöste, setzte die 1828 gegründete Rheinische Missionsgesellschaft ihre Tätigkeit in Süd- und Südwestafrika nach dem Ersten Weltkrieg fort.10 Die Missionare der 1886 gegründeten Bethel-Mission mussten Ostafrika 1916/17 verlassen, konnten Mitte der 1920er Jahre aber dorthin zurückkehren.11 In Togo wurden die Prediger der seit 1847 in Westafrika tätigen Norddeutschen Mission in den Jahren 1920/21 ausgewiesen, bereits 1923 im britischen Mandatsgebiet indessen wieder zugelassen.12 Von den etwa 15.000 in Namibia verbliebenen deutschen Siedlern wurden nach der Übernahme der südafrikanischen Mandatsherrschaft etwa die Hälfte ausgewiesen. Durch das Londoner Abkommen von 1923 erhielten die verbliebenen Deutschen dann die Möglichkeit, die britische Staatsbürgerschaft zu erhalten, wovon aber nur knapp die Hälfte Gebrauch machte. 1924 wurde in Windhoek die Partei »Deutscher Bund für Südwestafrika« gegründet, die 1926 bei den ersten auf Europäischstämmige beschränkten Wahlen zur südwestafrikanischen Versammlung die Mehrheit gewann, diese 1929 aber wieder verlor. Von 1932 bis zum Verbot 1934 breitete sich der südwestafrikanische Ableger der NSDAP im ganzen Mandatsgebiet aus.13 4. Auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Afrika ging weiter, nachdem sich in Disziplinen wie der Linguistik, der Völkerkunde und der Humangeografie die Afrikanistik bereits im späten 19. Jahrhundert an deutschsprachigen Universitäten etabliert hatte.14 Die 1904 aufgenommenen Feldforschungen des Ethnologen Leo Frobenius in verschiedenen Teilen Afrikas etwa gingen bis 1935 weiter und dessen »Institut für Kulturmorphologie« wurde 1925 an die Universität Frankfurt angegliedert.15 Das für 1914 geplante 10 Heinrich Drießler: Die Rheinische Mission in Südwestafrika, Gütersloh 1932, S. 265– 316; Gustav Menzel: Die Rheinische Mission. Aus 150 Jahren Missionsgeschichte, Wuppertal 1978, S. 265 f., S. 269–273, S. 279–287 und S. 354–358. 11 Ders.: Die Bethel-Mission. Aus 100 Jahren Missionsgeschichte, Neunkirchen-Vluyn 1986, S. 233–252 und S. 261–267. 12 Kakou Azamede: Ewe-Christen zwischen Württemberg und westafrikanischen Missionsstationen (1884–1939), in: Rebekka Habermas/Richard Hölzl (Hrsg.): Mission global. Eine Verflechtungsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2014, S. 177–198. 13 Eberhardt Martin: Zwischen Nationalsozialismus und Apartheid. Die deutsche Bevölkerungsgruppe Südwestafrikas 1915–1965, Berlin 2007. 14 Vgl. Arno Sonderegger: Racist Fantasies. »Africa« in Austrian and German African Studies, in: Wulf D. Hund/Christian Koller/Moshe Zimmermann (Hrsg.): Racisms Made in Germany, Münster 2010, S. 123–143. 15 Jean-Louis Georget/Hélène Ivanoff/Richard Kuba (Hrsg.): Kulturkreise. Leo Frobenius und seine Zeitgenossen, Frankfurt a. M. 2016.
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»Deutsche Koloniallexikon« erschien erst 1920. In der Folge verfassten ab den späten 1920er Jahren Fritz Jaeger, Franz Thorbecke, Erich Obst und Fritz Klute Länderkunden des gesamten afrikanischen Kontinents.16 Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Afrika stand dabei unter dem Einfluss zeitgenössischer Strömungen wie der Rassenanthropologie, der Kulturkreislehre oder dem Sozialdarwinismus. Auch in den Gedankengängen der »Geopolitik« kam Afrika vor: In Karl Haushofers während der Weimarer Zeit konzeptionalisierter und dann in der Nazi-Periode weiter ausgearbeiteter Vorstellung von »Pan-Regionen« bildete Afrika zusammen mit dem deutsch dominierten Europa eine der vier Pan-Regionen der Welt,17 und in Herman Sörgels seit den späten 1920ern ausgearbeitetem »Atlantropa«-Projekt sollten Afrika und Europa durch eine teilweise Trockenlegung des Mittelmeers zu einem Wirtschaftsraum verkoppelt werden.18 5. In der Sphäre der Diplomatie spielte Afrika ebenfalls eine Rolle. Zum einen unterhielt die Weimarer Republik mit den wenigen souveränen Staaten Afrikas frühzeitig diplomatische Beziehungen. Nachdem das Deutsche Reich mit dem Kaiserreich Abessinien bereits 1906 Diplomaten ausgetauscht hatte, nahm es 1922 auch entsprechende Kontakte zur Republik Liberia und dem gerade eben in die Unabhängigkeit entlassenen Königreich Ägypten auf.19 Zu den ganz wenigen Staatsbesuchen der Weimarer Zeit zählte die Visite des ägyptischen Königs Fu’ad I. im Juni 1929. Zum anderen war die Forderung nach Aufnahme in die Mandatskommission und mithin einer gewissen Kontrollfunktion in Bezug auf die ehemaligen deutsch-afrikanischen Kolonien eine wesentliche und schließlich erfüllte Forderung Deutschlands bei seinem Beitritt zum Völkerbund.20 6. Schließlich ist auch die populär- und alltagskulturelle Präsenz Afrikas in der Weimarer Gesellschaft zu erwähnen. Sie reichte von exotistischer Werbung für sogenannte »Kolonialwaren«21 und andere Produkte (wie die 1931 eingetragene Marke »Afri-Cola«) über in Afrika angesiedelte Spielfilme und
16 Carsten Gräbel: Die Erforschung der Kolonien. Expeditionen und koloniale Wissenskultur deutscher Geographen, 1884–1919, Bielefeld 2015, S. 352 f. 17 Karl Haushofer: Geopolitik der Pan-Ideen, Berlin 1931. 18 Herman Sörgel: Atlantropa, Zürich 1932; vgl. Wolfgang Voigt: Atlantropa. Weltbauen am Mittelmeer. Ein Architektentraum der Moderne, Hamburg 1998. 19 Hans J. Massaquoi: »Neger, Neger, Schornsteinfeger!« Meine Kindheit in Deutschland, Bern/München/Wien 1999, S. 18; Mahmoud Kassim: Die diplomatischen Beziehungen Deutschlands zu Ägypten 1919–1936, Hamburg 2000. 20 Vgl. den Beitrag von Isabella Löhr in diesem Band. 21 Vgl. Négripub. L’image des noirs dans la publicité depuis un siècle, Paris 1987.
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Abenteuerromane22 bis hin zu »Völkerschauen« mit Fokus auf Afrika wie etwa John Hagenbecks »Afrikanisches Dorf« (1920), Ludwig Ruhes und John Hagenbecks »Somali-Dorf aus Abessinien« (1926) oder die Schau der »Lippennegerinnen« (1930/31).23 Im Kino, das rasch zu einem dominierenden Element der Weimarer Freizeitgestaltung aufstieg, war in den frühen 1920ern eine ganze Reihe von Raubtierfilmen unter der Regie von Ernst Wendt zu sehen.24 Bereits 1919 hatte der Großwildjäger, Reiseschriftsteller und Filmemacher Hans Schomburgk die Übersee-Film GmbH gegründet, die in der Folge Abenteuerfilme mit einmontierten Originalaufnahmen aus Afrika produzierte. 1921 ging Schomburgk mit dem Streifen »Afrika im Film«, der Aufnahmen aus Togo enthielt, auf Vortragstournee. 1923 drehte er mit einer Crew für den Film »Mensch und Tier im Urwald« (1924) in Liberia.25 Daneben gab es auch ethnographische Dokumentarfilme, so den Streifen »Zum Schneegipfel Afrikas« (1925), der auf 1924 in Ostafrika gemachten Expeditionsaufnahmen Carl-Heinz Boeses beruhte, den von der Kolonialbewegung zu Propagandazwecken gebrauchten Film »Das Kolonialland Afrika« (1924), der heimlich in den ehemaligen deutschen Kolonien angefertigte Aufnahmen zeigte, oder den ethnographischen und zoologischen Expeditionsfilm »Mit Büchse und Lasso durch Afrika« (1930) über Tierfangaktionen des Berliner Zoos im Kongo und in Ostafrika.26 Im Rundfunk hingegen war Afrika wenig präsent. Der Weimarer Blick nach Afrika lässt sich eindrucksvoll anhand zweier öffentlich geführten Kontroversen analysieren: derjenigen um den Einsatz afrikanischer Kolonialtruppen in der französischen Besatzungszone im Rheinland und derjenigen um die Rekrutierung von Deutschen für die in Nordafrika beheimatete französische Fremdenlegion. Die Stationierung afrikanischer Truppen im Rheinland war die bis dahin größte Präsenz von Afrikanern auf 22 Vgl. Thomas Bleicher: Das Abenteuer Afrika. Zum deutschen Unterhaltungsroman zwischen den Weltkriegen, in: Wolfgang Bader/János Riesz (Hrsg.): Literatur und Kolonialismus, Frankfurt 1983, S. 251–290; Véronique Porra: L’Afrique dans les relations francoallemandes entre les deux guerres. Enjeux identitaires des discours littéraires et de leur réception, Frankfurt 1995, S. 32–35. 23 Vgl. Hilke Thode-Arora: Für fünfzig Pfennig um die Welt. Die Hagenbeckschen Völkerschauen, Frankfurt a. M./New York 1989. 24 Jörg Schöning: »Kleines Urwaldreich gedeiht«. Die Dschungelfantasien des Filmproduzenten John Hagenbeck, in: Michael Flitner (Hrsg.): Der deutsche Tropenwald. Bilder, Mythen, Politik, Frankfurt a. M./New York 2000, S. 79–93. 25 Vgl. Tobias Nagl: Die unheimliche Maschine. Rasse und Repräsentation im Weimarer Kino, München 2009, S. 227–238 und S. 261–268. 26 Ebd., S. 227–238, S. 261–268, S. 311–315 und S. 336–341; vgl. auch den Beitrag von Wolfgang Struck in diesem Band.
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deutschem Boden, während die Fremdenlegion in der Zwischenkriegszeit zur quantitativ wichtigsten Institution aufstieg, durch welche Deutsche nach Afrika gelangten. Schwerpunkte der folgenden Ausführungen werden die Bilder von Afrika, den Afrikanerinnen und Afrikanern, die dem afrikanischen Kontinent zugemessene geopolitische Bedeutung sowie diskursive Kontinuitäten aus der Zeit vor 1919 bis in die Zeit nach 1933 bilden.
»Afrika am Rhein« Die französischen Besatzungstruppen im Rheinland von 1919 bis 1930 wiesen einen bedeutenden Anteil afrikanischer Kolonialsoldaten auf. Von den 85.000 ab Januar 1920 im Rheinland stationierten französischen Besatzungssoldaten waren in den Sommern 1920 und 1921 beinahe die Hälfte Afrikaner – Algerier, Marokkaner, Westafrikaner, Tunesier und Madegassen. Danach nahm die Zahl der Kolonialtruppen ab, die Westafrikaner wurden sogar vollständig abgezogen. Insbesondere zwischen 1920 und 1923 waren die Afrikaner im Rheinland Gegenstand einer intensiven, auch transnationalen Diskussion.27
27 Vgl. Keith S. Nelson: Black horror on the Rhine. Race as a factor in post-World War I diplomacy, in: Journal of Modern History 42 (1970), S. 606–627; Sally Marks: Black Watch on the Rhine. A study in propaganda, prejudice and prurience, in: European Studies Review 13 (1983), S. 297–333; Gisela Lebzelter: Die »Schwarze Schmach«. Vorurteile – Propaganda – Mythos, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 37–58; Hans-Jürgen Lüsebrink: »Tirailleurs Sénégalais« und »Schwarze Schande«. Verlaufsformen und Konsequenzen einer deutsch-französischen Auseinandersetzung, in: János Riesz/Joachim Schultz (Hrsg.): »Tirailleurs sénégalais«. Zur bildlichen und literarischen Darstellung afrikanischer Soldaten im Dienste Frankreichs, Frankfurt a. M. 1989, S. 57– 71; Joachim Schultz: Die »Utschebebbes« am Rhein. Zur Darstellung schwarzer Soldaten während der französischen Rheinlandbesetzung (1918–1930), in: ders./Riesz, Tirailleurs sénégalais, S. 75–95; Peter Martin: Die Kampagne gegen die »Schwarze Schmach« als Ausdruck konservativer Visionen vom Untergang des Abendlandes, in: Gerhard Höpp (Hrsg.): Fremde Erfahrungen. Asiaten und Afrikaner in Deutschland, Österreich und in der Schweiz bis 1945, Berlin 1996, S. 211–224; Christian Koller: »Von Wilden aller Rassen niedergemetzelt«. Die Diskussion über die Verwendung von Kolonialtruppen in Europa zwischen Rassismus, Kolonial- und Militärpolitik (1914–1930), Stuttgart 2001, S. 199–341; Jean-Yves Le Naour: La honte noire. L’Allemagne et les troupes coloniales françaises, 1914–1945, Paris 2003, S. 57–167; Iris Wigger: Die »Schwarze Schmach am Rhein«. Rassistische Diskriminierung zwischen Geschlecht, Klasse, Nation und Rasse, Münster 2006; Eberhard Kettlitz: Afrikanische Soldaten aus deutscher Sicht seit 1871. Stereotype, Vorurteile, Feindbilder und Rassismus, Frankfurt 2007, S. 96–100; Julia Roos: Women’s Rights, Nationalist Anxieties, and the »Moral« Agenda in the Early
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Die deutsche Propagandakampagne gegen die Stationierung von Kolonialtruppen im Besatzungsgebiet wies hochgradig rassistische Züge auf und operierte mit Schlagworten wie »Schwarze Schmach«, »Schwarzer Schrecken« und »Schwarze Schande«. Im Zentrum der Argumentation standen die angeblich massenhaften sexuellen Übergriffe der Afrikaner auf die Zivilbevölkerung. Daneben gab es auch nichtdeutsche propagandistische Stimmen gegen die französische Kolonialtruppenpolitik, am wichtigsten war der britische Linkssozialist Edmund Dene Morel,28 aber etwa auch die amerikanische Schauspielerin und Journalistin Ray Beveridge, der schwedische Pastor Martin Liljeblad oder katholisch-konservative Völkerbundgegner in der Schweiz.29 Bis in das Frühjahr 1920 waren nur vereinzelte Stimmen gegen die Kolonialtruppen laut geworden. Am 6. April 1920 wurde eine breitere Öffentlichkeit auf die afrikanischen Besatzungseinheiten aufmerksam, als es in Frankfurt am Main zu einem Zwischenfall kam, bei dem marokkanische Soldaten mit einem Maschinengewehr mehrere Menschen töteten. Dieser Vorfall markierte den Beginn einer nahezu drei Jahre anhaltenden Präsenz der Kolonialtruppenproblematik in der öffentlichen Diskussion. In der deutschen Presse wurden die afrikanischen Besatzungstruppen nun plötzlich zu einem Dauerbrenner, und auch im Parlament kamen sie immer wieder zur Sprache. Am 23. April 1920 reichten mehrere deutschnationale Abgeordnete eine Anfrage an die Regierung, betreffend »die Greuel, welche schwarze Franzosen an den deutschen Frauen des besetzten Gebietes verüben«, ein.30 Am 19. Mai gab die Nationalversammlung ihrer Empörung über »diese missbräuchliche Verwendung der Farbigen« in einer Interpellation Ausdruck, die von allen Fraktionen mit Ausnahme der Unabhängigen Sozialdemokraten unterstützt wurde: »Für deutsche Frauen und Kinder […] sind diese Wilden eine schauerliche Gefahr. Ihre Ehre,
Weimar Republic. Revisiting the »Black Horror« campaign against France’s African Occupation Troops, in: Central European History 42 (2009), S. 473–508; Peter George Collar: The Propaganda War in the Rhineland. Weimar Germany, Race and Occupation After World War I, London 2013; Brett M. Van Hoesen: The Rhineland Controversy and Weimar Postcolonialism, in: Bradley Naranch/Geoff Eley (Hrsg.): German Colonialism in A Global Age, Durham/London 2014, S. 302–329; Dick van Galen Last: Black shame. African soldiers in Europe, 1914–1922, London 2015. 28 Robert C. Reinders: Racialism on the Left. E. D. Morel and the »Black Horror on the Rhine«, in: International Review of Social History 13 (1968), S. 1–28. 29 Koller, Von Wilden (wie Anm. 27), S. 226 f. und S. 308–311. 30 Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 343, Berlin 1920, S. 3081.
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Leib und Leben, Reinheit und Unschuld werden vernichtet.«31 Der mehrheitssozialdemokratische Außenminister Adolf Köster lehnte es seitens der Reichsregierung zwar ab, »in eine öde und billige Rassenhetze« einzutreten, bezeichnete »die Verpflanzung von ungefähr 50.000 schwarzen, fremdrassigen Truppen und Menschen nach Europa, in das Herz des weißen Europa« aber gleichwohl als »ein Vergehen an Gesamteuropa«.32 In der Folgezeit führten verschiedene Propagandaschriften diese Argumente weiter aus.33 Der Propagandafeldzug gegen die »Schwarze Schmach« lässt sich grob in einen offiziellen und einen inoffiziellen Teil gliedern. Ersterer wurde – natürlich ohne sich durchwegs als offiziell zu erkennen zu geben – vom Auswärtigen Amt und vom Reichsministerium des Innern gesteuert. Diese beiden Ministerien arbeiteten eng mit Organisationen von offiziösem Charakter wie der »Rheinischen Frauenliga« und der »Rheinischen Volkspflege« zusammen. Auch für die Belieferung der Presse im In- und Ausland mit einschlägigem Material waren diese Stellen besorgt. Offenbar stießen sie dabei auf gewisse Probleme, bemerkte doch der Reichskommissar für die besetzten Gebiete in einem Bericht vom 6. Mai 1920, »dass nach den von mir eingezogenen Erkundigungen die schwarzen und gelben Truppen tatsächlich nicht so schlimm sind wie es den Anschein hat und dass sie auch an den Belästigungen deutscher Frauen weniger beteiligt sind als die weißen französischen Truppen«.34 Tatsächlich scheint trotz aller Gräuelpropaganda das effektive Verhältnis der Bevölkerung in der Besatzungszone zu den Kolonialsoldaten nicht schlechter als dasjenige zu den anderen französischen Besatzungstruppen gewesen zu sein. Eine wie auch immer verursachte, sich ausschließlich auf die kolonialen Besatzungssoldaten beziehende Furcht oder Verachtung lässt sich in den einschlägigen Quellen vor Ort nicht nachweisen.35 Die offizielle Propaganda zielte darauf ab, das Ausland auf die Zustände im Rheinland aufmerksam zu machen. Besonders wurden die Vereinigten Staaten angepeilt; deren öffentliche Meinung sollte gegen die Kolonialtruppen 31 Ebd., S. 3407. 32 Ebd., S. 5692 f. 33 Zum Beispiel August Ritter von Eberlein: Schwarze am Rhein. Ein Weltproblem. Französisch-Deutsche Schrift und Gegenschrift, Heidelberg 1921; Alfred Brie: Geschändete deutsche Frauen. Wie die farbigen Franzosen in den besetzten Gebieten wüten, Leipzig 1921; Wilhelm F. von der Saar: Der blaue Schrecken (la terreur bleue) und die schwarze Schmach, 2. Aufl., Stuttgart 1921; Joseph Lang: Die schwarze Schmach. Frankreichs Schande, Berlin 1921. 34 Lebzelter, Schwarze Schmach (wie Anm. 27), S. 44 f. 35 Vgl. Koller, Von Wilden (wie Anm. 27), S. 249–261.
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aufgewiegelt und die Regierung durch öffentlichen Druck dazu veranlasst werden, sich von den europäischen Siegermächten zu distanzieren. Frankreich sollte aber auch von seinen europäischen Verbündeten isoliert werden. Demgegenüber scheint die inoffizielle Propaganda primär innenpolitisch motiviert gewesen zu sein: Die Anwesenheit afrikanischer Besatzungstruppen bot die ideale Gelegenheit, im Windschatten der offiziellen Propaganda eine breitere Öffentlichkeit mit rassistischem Gedankengut zu indoktrinieren und gleichzeitig gegen das »System« und seine Repräsentanten, die »Novemberverbrecher«, die die Vorgänge im Rheinland nicht zu verhindern vermochten, Stimmung zu machen. Der Münchner Ingenieur Heinrich Distler, der sich dann bereits 1922 der nationalsozialistischen Bewegung anschließen sollte, gründete den »Deutschen Notbund gegen die Schwarze Schmach« und gab die Zeitschrift »Die Schmach am Rhein« heraus, die von den deutschen Behörden wegen ihrer allzu rassistischen Tendenz als kontraproduktiv abgelehnt wurde und mangels Nachfrage ihr Erscheinen schon nach wenigen Nummern einstellen musste. Distler war auch an der Produktion des (heute verschollenen) Films »Die Schwarze Schmach« (1921) beteiligt, der stark mit sexuellem Sensationalismus arbeitete und dann von der Interalliierten Rheinlandkommission in den besetzten Gebieten und schließlich aufgrund seiner zahlreichen faktischen Fehler auch von den deutschen Behörden für das ganze Reichsgebiet verboten wurde. Auch der parallel dazu im Auftrag der »Rheinischen Frauenliga« produzierte und eugenisch argumentierende Film »Die schwarze Pest« blieb in den Maschen der Zensur hängen.36 Opposition gegen die Propagandakampagne kam aus unabhängig-sozialdemokratischen, kommunistischen und pazifistischen Kreisen sowie von den rheinischen Separatisten.37 Erst 1923, zur Zeit der Ruhrbesetzung, nahm die Propaganda gegen die »Schwarze Schmach« ab. Einerseits hatte sich Frankreich mit seiner Aktion in den Augen der Deutschen vor der Weltöffentlichkeit derart als Aggressor disqualifiziert, dass die antifranzösische Propaganda nun des Topos’ »Kolonialtruppen« gar nicht mehr bedurfte. Andererseits zogen die Vereinigten Staaten aus Protest gegen die Ruhrbesetzung ihr gesamtes Besatzungskontingent ab, womit einer der Hauptadressaten der deutschen Propaganda sein Interesse an der Rheinlandfrage zunehmend verlor. Bis zum Abzug der letzten französischen
36 Nagl, Maschine (wie Anm. 25), S. 169–205; ders.: »Die Wacht am Rhein«. »Rasse« und Rassismus in der Filmpropaganda gegen die »schwarze Schmach« (1921–1923), in: Hella Hertzfeld/Katrin Schäfgen (Hrsg.): Kultur, Macht, Politik. Perspektiven einer kritischen Wissenschaft, Berlin 2004, S. 135–154. 37 Koller, Von Wilden (wie Anm. 27), S. 231–235.
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Besatzungstruppen im Jahre 1930 tauchte das Thema aber sporadisch immer wieder einmal in den Medien auf. Die in der Kampagne gegen die »Schwarze Schmach« gezeichneten Afrikanerbilder bewegten sich ganz im Rahmen des zeitgenössischen Kolonialrassismus. Zentral war die Betonung eines angeblich zügellosen Sexualtriebes der Afrikaner. In voyeuristischer Art und Weise wurden in den deutschen Propagandaschriften über Dutzende von Seiten Fälle von Vergewaltigungen deutscher Frauen, Männer und Kinder minutiös geschildert. Vereinzelt war sogar von Sodomie die Rede.38 Eine Resolution des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes vom Juni 1920 beklagte, das deutsche Volk müsse »mit Grauen ansehen, wie seine Frauen und Kinder […] geschändet und misshandelt werden. Keine militärische Manneszucht […] ist imstande, die wilden Instinkte dieser […] christlicher Erziehung entbehrenden […] Leute in Schranken zu halten […]. Mund und Feder sträuben sich, die Greuel zu schildern, die alle Kriegsschrecken übertreffen.«39 Und eine Propagandaschrift von 1921 behauptete: »Opfer der zügellosen Bestialität der farbigen Scheusale werden in Wiesen und Gräben halbtot aufgefunden, die Kleider in Fetzen gerissen, manche mit Bisswunden, die deutlich zeigen, wie das Tier über sein bedauernswertes Opfer hergefallen ist […]. Der schwarze Soldat lebt nur seinem Naturtriebe nach.«40 Das Plakat »Jumbo« zeigte einen gigantischen, nur mit einem Stahlhelm bekleideten Afrikaner, der deutsche Frauen an seinen Unterleib presste; in verschiedenen Karikaturen waren die Kolonialsoldaten als Menschenaffen dargestellt. Eine 1920 verbreiteten Medaille zeigte unter dem Prägewort »Die schwarze Schande« einen stahlbehelmten Phallus, an den eine nackte deutsche Frau gefesselt war. Adolf Hitler erwähnte in seinen Reden der frühen 1920er Jahre wiederholt, dass im Rheinland »unsere Frauen und Töchter von tierischen Schwarzen geschändet« würden. 41 Während die offizielle und offiziöse Propaganda sich damit begnügte, als Folge der angeblichen sexuellen Übergriffe eine rasante Zunahme von Geschlechtskrankheiten in den Besatzungsgebieten zu beklagen, wies die inoffizielle Propaganda noch auf einen anderen Aspekt hin: das Problem der »Rassenmischung«. So führte Joseph Lang in seiner Broschüre »Die schwarze Schmach – Frankreichs Schande« aus: »Im Interesse unserer selbst und der
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Vgl. Klaus Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht, Memmingen 1952, S. 87 f. »Deutsche Allgemeine Zeitung« (26. Juni 1920). Lang, Schwarze Schmach (wie Anm. 33), S. 8 und S. 11. Eberhard Jäckel/Alex Kuhn (Hrsg.): Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905–1924, Stuttgart 1980, S. 444.
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ganzen weißen Rasse dürfen wir es nicht länger dulden, dass dort im besetzten Rheinland ein Seuchenherd großgezogen wird, der alles gesunde Leben zu ersticken droht. Es ist eine Tatsache, dass über 60 v. H. der Kinder, die durch die farbige Besatzung das Licht der Welt erblicken, schon mit Syphilis behaftet sind. Es ist weiter eine bekannte Tatsache, dass Mischlingskinder fast immer die schlechten Eigenschaften und Laster der Eltern mit zur Welt bringen.«42 Die französische Kolonialtruppenpolitik wurde in der deutschen Propaganda auch in geopolitischen Zusammenhängen gedeutet. Auf der einen Seite erschien Afrika als Soldatenreservoir, dessen einseitige Kontrolle durch die Siegermächte des Weltkriegs das geopolitische Gleichgewicht stören und in eine französische Hegemonie über Europa münden werde: »Außer Alkohol und Syphilis bringen die Franzosen ihren schwarzen Untertanen europäische Waffen, die Reveille und den Zapfenstreich. Sie lehren sie zur Trommel marschieren. Der französische Tambourmajor geht voran, es geht zum Ruhm, […] zu den Geheimnissen der europäischen Zivilisation, zu den weißen Frauen. Die Neger folgen der Trommel. Sie sammeln sich in all den von den Franzosen bestimmten Knotenpunkten […]. Sie warten auf den Tag, an dem Frankreich den Befehl geben wird, dass Afrika nach Europa marschieren soll.«43 Auf der anderen Seite gab es Warnungen, die Afrikaner verlören durch ihren Einsatz in Deutschland den Respekt vor den Europäern, was deren Vorherrschaft in der Welt in Gefahr bringe. Joseph Lang etwa schrieb: »Die Farbigen sind sich jetzt erst ihrer Stärke bewusst geworden, sie kennen jetzt die Mittel, die dem Weißen bisher die Vorherrschaft über sie verschafften. Ihr Hass wird sich eines Tages furchtbar entfalten […]! So ist die gesamte weiße Rasse durch das von wahnsinnigem Rachedurst diktierte Vorgehen gefährdet! […] Wenn nicht bald die gesamte zivilisierte Welt geschlossen aufsteht und die Zurückziehung der farbigen Truppen von europäischem Boden verlangt, wird der Tag kommen, an dem sich die rollende Lawine nicht mehr aufhalten lässt! […] Es geht letzten Endes um das Weiterbestehen oder den Untergang der weißen Rasse!«44 Die afrikanischen Besatzungssoldaten waren also nach Ansicht der rechten Propagandisten nichts weniger als die Vorboten vom Untergang des Abendlandes. In der Propaganda der sich formierenden nationalsozialistischen Bewegung wurde die Anwesenheit afrikanischer Soldaten in Deutschland ins Narrativ von 42 Lang, Schwarze Schmach (wie Anm. 33), S. 7 f. 43 Erich Lilienthal: Wer entwaffnet die Franzosen? Frankreich und die Sicherheit Europas, Berlin o. J. [1923], S. 18. 44 Lang, Schwarze Schmach (wie Anm. 33), S. 16.
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einer angeblichen jüdischen Weltverschwörung eingepasst. Der »Völkische Beobachter« machte in den frühen 1920er Jahren wiederholt die »jüdischen Ententefreimaurer«, die »Pariser Börsenjuden« oder schlicht die »Weisen von Zion« für die den Kolonialsoldaten im Rheinland zur Last gelegten Verbrechen verantwortlich. 45 Auch in mehreren Hitlerreden dieser Jahre finden sich entsprechende Passagen. 46 In »Mein Kampf« tauchte diese in der gesamten Propaganda gegen die »Schwarze Schmach« einzigartige Verknüpfung von Kolonialrassismus, Radikalrevisionismus und Antisemitismus ebenfalls auf: »Juden waren es und sind es, die den Neger an den Rhein bringen, immer mit dem gleichen Hintergedanken und klaren Ziele, durch die dadurch zwangsläufig eintretende Bastardisierung die ihnen verhasste weiße Rasse zu zerstören, von ihrer kulturellen und politischen Höhe herunterzuschmettern und selber zu ihren Herren aufzusteigen. […] Dieses an sich immer mehr der Vernegerung anheimfallende Volk [der Franzosen] bedeutet in seiner Bindung an die jüdische Weltbeherrschung eine lauernde Gefahr für den Bestand der weißen Rasse Europas. Denn die Verpestung durch Negerblut am Rhein im Herzen Europas entspricht ebensosehr der sadistisch-perversen Rachsucht dieses chauvinistischen Erbfeindes unseres Volkes wie der eisig kalten Überlegung des Juden, auf diesem Wege die Bastardisierung des europäischen Kontinents im Mittelpunkte zu beginnen und der weißen Rasse durch Infizierung mit niederem Menschentum die Grundlagen zu einer selbstherrlichen Existenz zu entziehen.«47 Zur Zeit des Abzuges der letzten französischen Besatzungstruppen im Jahre 1930 erinnerte die NS-Presse – wie auch zahlreiche andere Zeitungen – an die »Schwarze Schmach«. 48 Der »Stürmer« griff dabei das Thema der »Bastardisierung« erneut auf: »Die Besatzung ist fort, die Besetzung bleibt […]. Hohnlachend verkünden es die Zeitungen des Diktators Alljuda: 15.000 Kinder bleiben im deutschen Lande am Rhein zurück! 15.000 Kinder von schwarzen und weißen Franzosen, von deutschen Frauen und Mädchen zur Welt gebracht!
45 »Völkischer Beobachter« (22. Mai 1920; 11. November 1920; 14. April 1921; 1. Februar 1922). 46 Jäckel/Kuhn, Hitler (wie Anm. 41), S. 531 und S. 645. 47 Christian Hartmann/Othmar Plöckinger/Roman Töppel/Thomas Vordermayer (Hrsg.): Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, München/Berlin 2016, S. 851, S. 1583 und S. 1585. Hervorhebung im Original. 48 »Völkischer Beobachter« (29. Juni 1930; 30. Juni 1930; 1. Juli 1930).
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15.000 Kinder mit dem Blute von Mongolen, Negern und Juden. 15.000 Bastarde (Mischlinge) bleiben zurück und wachsen heran und werden Bürger des deutschen Staates und Giftträger für’s deutsche Blut. 15.000 Bastarde […] bringen zur Verwesung, was noch deutsch war und darum gut.«49 Die Diskussion über die afrikanischen Besatzungstruppen am Rhein stand in einer Kontinuität, die rund fünf Jahrzehnte zurückreichte. Bereits während des Deutsch-Französischen Kriegs hatte Frankreich algerische Einheiten eingesetzt, die in der deutschen Kriegspublizistik als »Wilde« dargestellt worden waren.50 Als dann während des Ersten Weltkriegs rund 440.000 französische Kolonialsoldaten aus Algerien, Marokko, Tunesien, Französisch-Westafrika sowie Madagaskar auf den europäischen Kriegsschauplätzen zum Einsatz gelangten, gab dies Anlass zu einer intensiven Propagandakampagne, die insbesondere von diesen Soldaten angeblich begangene Grausamkeiten betonte.51 Das Afrikanerbild war hochgradig rassistisch. Die Palette der Begrifflichkeiten reichte von »Menschenwirrwarr von Farben und Religionen«, »Teufel«, »entmenschte Wilde«, »totes Menschengeschmeiß der Wildnisse«, »in teuflischer Ekstase herumstechenden Afrikanern«, »Hilfstruppengesindel aller Farben«, »Affen« und »halbtierische Völker Afrikas« sowie Ausdrücken wie »Afrikanerausstellung« oder »Völkerschau nicht oder nur ungenügend zivilisierter Banden und Horden« über »schwarze Flut« und »dunkler Schlamm« bis hin zum in den frühen 1920ern dann prominenten Schlagwort »schwarze Schande«.52 Und wie dann erneut in den 1920er Jahren wurde als Konsequenz der französischen Kolonialtruppenpolitik das Ende des Kolonialsystems und der europäischen
49 »Der Stürmer« (Juli 1930). 50 Koller, Von Wilden (wie Anm. 27), S. 49–51; Kettlitz, Soldaten (wie Anm. 27), S. 63–68. 51 Koller, Von Wilden (wie Anm. 27), S. 103–134; Gregory Martin: German and French Perceptions of the French North and West African contingents, 1910–1918, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 56 (1997), S. 31–68. 52 Erwin Rosen: England. Ein Britenspiegel. Schlaglichter aus der Kriegs-, Kultur- und Sittengeschichte, 7. Aufl., Stuttgart 1916, S. 96 und S. 98; Victor Valois: Nieder mit England! Betrachtungen und Erwägungen, Berlin 1915, S. 7; Rudolf Borchardt: Der Krieg und die deutsche Selbsteinkehr. Rede, öffentlich gehalten am 5. September 1914 in Heidelberg, in: ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Bd. V: Prosa, Stuttgart 1979, S. 217–264, hier: S. 243; Lisbeth Dill: Die Gefangenenlager bei Merseburg, in: Gartenlaube 63 (1915), S. 7–9, hier: S. 9; Ein Dutzend englischer Sünden wider das Völkerrecht. Tatsachen und Feststellungen, o. O. u. J., S. 5; Casimir Hermann Baer (Hrsg.): Der Völkerkrieg. Band 3: Eine Chronik der Ereignisse seit dem 1. Juli 1914, Stuttgart 1914, S. 217 f.; Kriegschronik. Kriegstagebuch, Soldatenbriefe, Kriegsbilder, Berlin Juni 1915, S. 48; Illustrierte Geschichte des Weltkrieges (Bd. 5), Stuttgart/Berlin/ Leipzig/Wien 1916, S. 307.
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Vorherrschaft in der Welt an die Wand gemalt. In der unmittelbaren Nachkriegszeit tauchten die afrikanischen Kolonialtruppen Frankreichs dann auch in den Memoiren Ludendorffs und Hindenburgs auf und wurden als Beleg dafür gewertet, dass die Entente ihren Sieg auf unredliche Art und Weise errungen habe.53 Auch in der Zeit nach 1933 zeigen sich Kontinuitäten: In den ersten Jahren des »Dritten Reiches« erschienen mehrere Heimatromane, in denen die Stationierung von Kolonialtruppen im Rheinland als Höhepunkt der Demütigungen nach der Niederlage im Weltkrieg erschien. Anlässlich der Remilitarisierung des Rheinlandes im Jahre 1936 wurde eine Medaille in Umlauf gesetzt, die auf der Vorderseite die Umrisse des Rheinlandes und das Hakenkreuz zeigte und auf der Rückseite einen schwarzen Soldaten, der eine weiße Frau attackierte.54 Schon 1933 wurde mit der Erfassung und anthropologischen Untersuchung der Mischlingskinder im Rheinland begonnen. Total wurden 385 Kinder erfasst, ihre Gesamtzahl schätzte man aber auf 500 bis 800. Von verschiedenen Seiten wurde nun – wie vereinzelt schon in den 20er Jahren – die Sterilisierung dieser »Rheinlandbastarde« gefordert. Im Sommer 1937 wurde dann unter strengster Geheimhaltung damit begonnen, die Mischlingskinder zu sterilisieren.55 Nach dem Angriff auf Frankreich im Frühjahr 1940, das sich unter anderem auch mit kolonialen Einheiten zu verteidigen versuchte, griff die NS-Propaganda das Thema der afrikanischen Besatzungstruppen im Rheinland erneut auf.56 Während des Westfeldzuges fiel eine große Zahl afrikanischer Soldaten in deutsche Hände. Verschiedentlich wurden sie auf der Stelle ermordet. Die Gesamtzahl der Opfer dieser Massaker wird auf mehrere Tausend geschätzt.57 53 Erich Ludendorff: Meine Kriegserinnerungen, 1914–1918, Berlin 1919, S. 206, S. 240, S. 514 und S. 545; Paul von Hindenburg: Aus meinem Leben, Leipzig 1920, S. 352. 54 Nelson, Black Horror (wie Anm. 27), S. 626. 55 Reiner Pommerin: »Sterilisierung der Rheinlandbastarde«. Das Schicksal einer farbigen deutschen Minderheit 1918–1937, Düsseldorf 1979; Georg Lilienthal: »Rheinlandbastarde«. Rassenhygiene und das Problem der rassenideologischen Kontinuität, in: Medizinhistorisches Journal 15 (1980), S. 426–436. 56 Willi A. Boelcke (Hrsg.): Kriegspropaganda 1939–1941. Geheime Ministerkonferenzen im Reichspropagandaministerium, Stuttgart 1966, S. 369 f.; Heinz Boberach (Hrsg.): Meldungen aus dem Reich. Auswahl aus den geheimen Lageberichten des Sicherheitsdienstes der SS 1939–1944, Neuwied/Berlin 1965, S. 1238. 57 Raffael Scheck: Hitler’s African victims. The German Army Massacres of Black French Soldiers in 1940, Cambridge 2006; Julien Fargettas: Der andere Feldzug von 1940. Das Massaker an den schwarzen Soldaten, in: Peter Martin/Christine Alonzo (Hrsg.): Zwischen Charleston und Stechschritt. Schwarze im Nationalsozialismus, Hamburg 2004, S. 567–572.
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»Deutsches Blut in fremdem Land« Von den etwa 350.000 Soldaten, die zwischen 1870 und 1962 in der französischen Fremdenlegion dienten, stammte mehr als ein Drittel aus Deutschland.58 In drei Phasen, nämlich den zwei Jahrzehnten nach dem Deutsch-Französischen Krieg, zur Mitte der 1920er Jahre und auf dem Höhepunkt des Indochina-Krieges 1953/54, waren sogar mehr als die Hälfte der Fremdenlegionäre Deutsche.59 Während in der ersten dieser drei Phasen die Priorisierung von Elsässern und Lohringern bei der Rekrutierung zur deutschen Dominanz beitrug, waren es in den 1920er und 1950er Jahren neben den Lebensbedingungen in Deutschland die Rekrutierungsmöglichkeiten in den französischen Besatzungszonen. Die organisatorisch zur »Armée d’Afrique« gehörende Fremdenlegion hatte bis 1962 ihren Hauptsitz im algerischen Sidi-bel-Abbès, die Ausbildung von Legionsrekruten erfolgte in Nordafrika. Die Fremdenlegion kam vor allem in den französischen Kolonien zum Einsatz. Wichtigstes Einsatzgebiet in den 1920er Jahren war Marokko, wo die Legion bei der endgültigen Unterwerfung aller Landesteile und dann 1925/26 wie bereits erwähnt im Rif-Krieg kämpfte.60 Die wachsende militärische Bedeutung der Fremdenlegion für Frankreich, dessen Bevölkerung nach dem Ersten Weltkrieg alles andere als nach kriegerischen Einsätzen von Wehrpflichtigen lechzte, schlug sich in ihrem Mannschaftsbestand nieder, der sich zwischen 1920 und 1932 von 12.000 auf 33.000 Mann beinahe verdreifachte.61 Zeitweilig waren mehr als die Hälfte der zwischen 1920 und 1931 jährlich rekrutierten 4.000 bis 7.000 Freiwilligen Deutsche.62 Es waren dies in der Mehrzahl Männer der unteren Gesellschaftsschichten mit geringer beruflicher und familiärer Integration. Hatte die deutsche Presse im Frühjahr 1918 noch das faktische Ende der Fremdenlegion infolge der hohen Kriegsverluste verkündet,63 so wurde man spätestens mit dem Versailler Vertrag eines Besseren belehrt, der die Fremdenlegion vom Verbot des Eintritts deutscher Staatsangehöriger in fremde Streitkräfte explizit ausnahm und die Rekrutierung von Deutschen als »Recht
58 Eckard Michels: Deutsche in der Fremdenlegion. Mythen und Realitäten 1870–1965, Paderborn 1999, S. 331 f. 59 Ebd., S. 11. 60 Vgl. Jean-Paul Mahuault: L’épopée marocaine de la légion étrangère 1903–1934 ou Trente années au Maroc, Paris 2005. 61 John Laffin: The French Foreign Legion, London 1974, S. 96–108. 62 Michels, Deutsche (wie Anm. 58), S. 91. 63 Vgl. »Vossische Zeitung« (11. Mai 1918).
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Frankreichs« bezeichnete.64 Parallel zur Kampagne gegen die Stationierung afrikanischer Kolonialtruppen im Rheinland entflammte nun eine Anti-Legionskampagne, die sich primär gegen die Anwerbungen in der französischen Besatzungszone und sogar im unbesetzten Gebiet richtete.65 Dieses Thema wurde in der deutschen Presse zu einem Dauerbrenner und auch mehrfach Gegenstand von Debatten im Reichstag und den Landtagen;66 die deutsche Presse berichtete in der Folge regelmäßig über die Flucht von Kriminellen in und abenteuerlichen Desertionen aus der Legion und publizierte vereinzelt auch Legionärsbriefe.67 In den Schulen gab es ab 1920 entsprechend einer Empfehlung des Reichsministeriums des Innern regelmäßige »Aufklärungsstunden« über die Fremdenlegion.68 Die von der dem Auswärtigen Amt unterstehenden »Reichszentrale für Heimatdienst« unterstützte »Liga zum Schutz der deutschen Kultur/Sonderstelle Frankreich« bot dazu Lichtbilder und Broschüren an,69 und die »Deutsche Liga für Menschenrechte« machte vor allem gegen die Rekrutierung Minderjähriger mobil.70 Manche der 12.000 bis 15.000 nach Deutschland zurückgekehrten ehemaligen Fremdenlegionäre versuchten als Vortragsredner oder Autoren Geld zu verdienen.71 Auch wurden verschiedene Anti-Legions-
64 Vertrag von Versailles (wie Anm. 9), durch welche Deutsche nach Afrika gelangten. Art. 179,3. 65 Michels, Deutsche (wie Anm. 58), S. 59–61; Christian Koller: Die Fremdenlegion. Kolonialismus, Söldnertum, Gewalt, 1831–1962, Paderborn 2013, S. 59–61. 66 Vgl. Verhandlungen des Reichstags: I. Wahlperiode 1920, Bd. 345. Berlin 1921, S. 1052; ebd., Bd. 354, S. 6739 und S. 7045; ebd., Bd. 357, S. 8964; ebd., Bd. 363, S. 231 und S. 289; ebd. Bd. 365, S. 757 f. und S. 1132; ebd., Bd. 372, S. 3381 und S. 4107; ebd., Bd. 375, S. 5181 und S. 5626; Verhandlungen des Reichstags: III. Wahlperiode 1924, Bd. 388. Berlin 1926, S. 4600; ebd., Bd. 389, S. 6441; ebd., Bd. 392, S. 9994, S. 9996, S. 10001 und S. 11011; ebd., Bd. 393, S. 10081; ebd., Bd. 394, S. 12490; ebd., Bd. 404, S. 1414; ebd., Bd. 412, S. 112 f.; Verhandlungen des Reichstags: IV. Wahlperiode 1928, Bd. 425. Berlin 1929, S. 2783 f. und S. 2787; ebd., Bd. 428, S. 5502 und S. 5744; Verhandlungen des Reichstags: V. Wahlperiode 1930, Bd. 445. Berlin 1931, S. 1125; »Vossische Zeitung« (24. April 1920; 10. August 1921). 67 Zum Beispiel »Vossische Zeitung« (29. Mai 1919; 7. Januar 1920; 9. November 1920; 19. Januar 1921; 8. Mai 1921; 9. Dezember 1926; 23. Februar 1927; 2. März 1927; 8. März 1927; 3. Juli 1928; 20. Dezember 1928; 10. April 1929; 5. Juni 1930). 68 »Vossische Zeitung« (10. August 1921). 69 Vgl. z. B. Franz von Papen: Die französische Fremdenlegion. Mit einem Anhang. Die spanische Fremdenlegion. Eine Warnung für deutsche Söhne, Großenhain 1926. 70 Vgl. »Vossische Zeitung« (3. Juli 1930; 25. Januar 1931; 12. Mai 1931). 71 Zum Beispiel Alfred Krueger: Als weißer Sklave Frankreichs. Erlebnisse in der Fremdenlegion. Nach den Berichten des ehemaligen Fremdenlegionärs Alfred Krüger-Kottbus
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organisationen aus der Taufe gehoben.72 Während die meisten von ihnen kurzlebig waren, zählte der 1927 in Düsseldorf gegründete »Schutzverband gegen die Fremdenlegion«, eine Vereinigung von ehemaligen Legionären, schließlich mehrere Tausend Mitglieder.73 Die bis 1933 herausgegebene Verbandszeitschrift »Die Fremdenlegion« schwankte zwischen Verdammung der Fremdenlegion und der Glorifizierung der in Marokko vollbrachten Heldentaten. Ab 1929 tourte der »Schutzverband« mit einer Wanderausstellung durch Deutschland.74 Die Afrika-Bilder in den Fremdenlegionsdiskursen bewegten sich in der für den Kolonialdiskurs typischen Dialektik von rassistischer Abwertung und exotistischer Neugier. Neben der dominanten Verteufelung der Legion als sadomilitaristische Hölle standen kolonialrassistische Bemerkungen zu den Afrikanern, die in Legionärsmemoiren etwa als »schwarze Schweine«75 tituliert wurden. In der öffentlichen Thematisierung der Fremdenlegion war aber auch der Exotismus präsent – etwa beim Stück »Der Fremdenlegionär«, das 1922/23 in den Zirkussen Hagenbeck und Busch präsentiert wurde.76 In den frühen 1930er Jahren publizierte der Dresdner Mignon-Verlag über hundert Hefte der Abenteuerserie »Norbert Falk in der Fremdenlegion«. Auch das Kino nahm sich der Thematik an. Die deutschen Legionsfilme »Die Flucht der Fremdenlegionäre« (1920), »Fremdenlegionär Kirsch« (1921),77 »Wenn die Schwalben heimwärts ziehen (Der Fremdenlegionär)« (1928),78 und »Sergeant X – Das Geheimnis des Fremdenlegionärs« (1932)79 verbanden dabei die Verteufelung der Söldnertruppe mit der Darstellung exotischer und abenteuerlicher Welten. Einige dieser Streifen riefen die Missbilligung der interalliierten Zensurbehörden
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textlich gestaltet und herausgegeben von Dr. Walther Kupsch, Dresden 1922; Leopold Gheri: Drei Jahre Fremdenlegion. Erlebnisse, Leipzig 1923; Hermann Vagt: Vierzehn Jahre in der Fremdenlegion 1906–1920, Oldesloe 1926; Karl Robert Schmidt: Deutsches Blut im fremden Land, oder In der Fremdenlegion, Mühlhausen 1928; Gotthilf Conzelmann: Meine Erlebnisse in der französischen Fremdenlegion 1921–1928, Tailfingen 1929; Willy Lepa: Erlebnisse eines Harzers in der französischen Fremdenlegion. Eine Aufklärung und Warnung für alle jungen Deutschen, Clausthal-Zellerfeld 1931. Michels, Deutsche (wie Anm. 58), S. 88–98; »Vossische Zeitung« (19. Juli 1929). Vgl. »Vossische Zeitung« (1. Oktober 1933). Michels, Deutsche (wie Anm. 58), S. 97. Fred Westphal (Hrsg.): Gemarterten-Schreie in die Kulturwelt. Briefe deutscher Söhne aus der Hölle der Fremdenlegion, Stuttgart 1931, S. 106. »Vossische Zeitung« (26. Januar 1923) Vgl. »Vossische Zeitung« (1. Juli 1928). Vgl. »Vossische Zeitung« (4. März 1928). Vgl. »Vossische Zeitung« (6. April 1932).
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hervor und wurden in den besetzten Gebieten verboten.80 Für den von der spanischen Fremdenlegion handelnden Streifen »Flucht in die Fremdenlegion« (1929) verlangten die Siegermächte die Streichung einiger Szenen,81 während derselbe Film in der deutschen Presse als Propaganda für die Fremdenlegionen kritisiert und dann nach der nationalsozialistischen Machtübernahme verboten wurde.82 Der Fremdenlegion wurde in diesen Debatten eine erhebliche geostrategische Rolle zugemessen. Zum einen verschöbe sie, so der deutsche Konsens, ganz direkt das militärische Stärkenverhältnis zwischen Frankreich und Deutschland. Während die demographische Entwicklung zuungunsten Frankreichs verliefe, würden durch die Institution der Fremdenlegion Deutschland Soldaten entzogen und Frankreich zugeführt. Zum anderen wurde aber auch die geopolitische Rolle Afrikas ins Spiel gebracht. Nur dank der Fremdenlegion sei es Frankreich möglich, große Teile Afrikas zu kontrollieren – und dadurch dessen militärische Ressourcen gegen Deutschland zu mobilisieren. Fred Westphal, Ex-Legionär und Vorsitzender des deutschen »Schutzverbandes gegen die Fremdenlegion«, behauptete 1931 in der Schrift »Gemarterten-Schreie in die Kulturwelt«, das »ganze riesige Machtgebilde des französischen Kolonial-Imperialismus« wäre ohne die Fremdenlegion »nicht lebensfähig«. Eine Auflösung der Legion würde »den Zusammenbruch der französischen Kolonial-Herrschaft« bedeuten. Erst durch die Legion, »die die eingeborenen Völker blutig unterdrückte und ihre Söhne für den Waffendienst Frankreichs presste«, sei der Aufbau der französischen Kolonialarmee möglich geworden. Und diese sei im Ersten Weltkrieg entscheidend gewesen: »Wenn Deutschland diese ungeheuren Volkskräfte erhalten geblieben wären und wenn diese mehr als 320.000 jungen Deutschen Frankreichs Kolonialkriege nicht geführt und Frankreich die Pionierarbeit in seinen Kolonien nicht geleistet hätten, dann hätte Deutschland den Weltkrieg nicht verloren. Frankreich hätte ohne seinen Kolonien-Reichtum und ohne seine braunen und schwarzen Truppen den Krieg nicht zu bestehen vermocht. Frankreich – Deutschlands Schicksal!«83 80 Amtsblatt der Reichskommission für die besetzten Gebiete, Nr. 26 (2. Juli 1921), S. 81, in: Quellen zur Filmgeschichte, online verfügbar: www.kinematographie.de/AMTSBL. HTM#a033 (zuletzt abgerufen am: 11. Februar 2019); ebd., Nr. 50 (20. Dezember 1922), S. 173; »Vossische Zeitung« (1. Juli 1921; 22. Mai 1927). 81 Interalliierte Rheinland-Oberkommission, Rundschreiben 033a (16. September 1929), in: Quellen zur Filmgeschichte, online verfügbar: www.kinematographie.de/HCITR33A. HTM#R033A (zuletzt abgerufen am: 11. Februar 2019). 82 Vgl. »Vossische Zeitung« (1. August 1929; 18. September 1933). 83 Westphal, Gemarterten-Schreie (wie Anm. 75), S. 10–13.
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Wie die Diskussion über afrikanische Kolonialsoldaten stand auch diejenige über die Fremdenlegion in Kontinuität zur Wilhelminischen Zeit. Ab der zweiten Hälfte der 1880er Jahre war im Deutschen Reich Anti-Legionsliteratur, die primär vor dem Eintritt in die Fremdenlegion warnen wollte, zuweilen aber auch generell Frankreich verteufelte, zu einem eigenen Genre geworden.84 Zahlreiche dieser Publikationen wurden in Elsass-Lothringen verlegt, teilweise mit amtlicher Unterstützung. Besonders in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg nahm die Anti-Legionspropaganda massiv zu. Auslöser war die so genannte »Casablanca-Affäre« von 1908/09, als in der marokkanischen Metropole ein Zusammenstoß zwischen dem deutschen Konsul und den französischen Hafenbehörden im Kontext der Desertion von 16 deutschen Legionären mit einer diplomatischen Niederlage Deutschlands endete. Auf Anraten des Auswärtigen Amtes wurde die Fremdenlegion ab 1910 in Preußen, Württemberg, Baden, Hessen und Sachsen im Schulunterricht thematisiert. Zwischen 1909 und 1914 erschienen mehr als 70 Veröffentlichungen, darunter auch Theaterstücke, mit teilweise hohen Auflagen und einer meist ausgeprägt frankophoben Grundstimmung. Einen Höhepunkt erreichte die deutsche Propaganda parallel zur zweiten Marokko-Krise im Jahre 1911, als es auch zur Bildung der ersten gegen die Fremdenlegion gerichteten Vereine kam. Im Januar 1913 entstand dann in München der »Deutsche Schutzverband gegen die Fremdenlegion e. V.«, in dessen Vorstand hohe Vertreter aus Politik, Militär, Kirchen und Kultur saßen.85 Der Verband bediente sich propagandistischer Mittel wie Plakataktionen, Theateraufführungen und der Herausgabe der Zeitschrift »Fremdenlegion: Ein Warnungsblatt für das deutsche Volk«.86 Zudem entstand 1913 der Film »Die Schrecken der Fremdenlegion«.87 In den Jahren 1911 bis 1914 war die Fremdenlegion auch im Reichstag mehrfach ein Thema.88
84 Marielouise Christadler: Schreckensbild und Vorbild. Die Fremdenlegion in der deutschen Literatur und Propaganda vor 1914, in: Helga Abret/Michel Grunewald (Hrsg.): Visions allemandes de la France (1871–1914), Bern/Berlin/Frankfurt a. M./New York/ Paris/Wien 1994, S. 63–77. 85 Michels, Deutsche (wie Anm. 58), S. 54–64. 86 Christadler, Schreckensbild (wie Anm. 84), S. 66. 87 Vgl. Kinema (3. Mai 1913; 1. November 1913). 88 Vgl. Verhandlungen des Reichstags. XII. Legislaturperiode, II. Session, Bd. 264, Berlin 1911, S. 4895, S. 4915, S. 4925 und S. 4951; ebd., Bd. 266, S 5976 f., S. 6203, S. 7791 und S. 7798; ebd., Bd. 285, S. 1862 f.; ebd., Bd. 287, S. 3212; Verhandlungen des Reichstags: XIII. Legislaturperiode, I. Session, Bd. 289. Berlin 1913, S. 4737, S. 4753 und S. 4791 f.; ebd., Bd. 290, S. 5288 und S. 5449; ebd., Bd. 291, S. 6142, S. 6153, S. 6155, S. 6165, S. 6169, S. 6179, S. 6284 f. und S. 6424; ebd., Bd. 294, S. 8508; ebd., Bd. 295, S. 8560,
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Das Ende der Weimarer Republik bedeutete dann dagegen eine Zäsur in der deutschen Fremdenlegionsdiskussion. Die Nazis versuchten, um die Thematik einen Mantel des Schweigens zu hüllen, und verboten infolgedessen zahlreiche Bücher, Theaterstücke und Filme.89 Der »Schutzverband gegen die Fremdenlegion« wurde im Oktober 1933 mit dem neu gegründeten nationalsozialistischen »Kampfbund gegen die Fremdenlegion« gleichgeschaltet, der daraufhin jedoch kaum Aktivitäten entfaltete.90 Nur noch ganz vereinzelt konnten Veröffentlichungen zur Fremdenlegion erscheinen.91 Zudem verbreitete der »Völkische Beobachter« im Sommer 1937 die international beachtete Propagandalüge, Einheiten der Fremdenlegion seien im spanischen Bürgerkrieg auf republikanischer Seite zum Einsatz gelangt.92 Im Frühjahr 1939 schließlich wurde angekündigt, Deutschen, die der Legion beiträten, würde zukünftig die Staatsbürgerschaft entzogen. Hintergrund war der Legionseintritt mehrerer Tausend deutscher und österreichischer Flüchtlinge.93 Hingegen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg, als erneut eine große Zahl von Deutschen in den militärischen Dienst für die französische Republik eintrat, das Thema wieder intensiv diskutiert – und zwar in beiden Teilen Deutschlands. Insbesondere die Jugendorganisation der SPD betrieb im südwestdeutschen Raum ab 1952 eine Propagandakampagne gegen die Legion.94 Erneut erschienen auch abschreckende Erlebnisberichte.95 1958 belegte Freddy
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S. 8617, S. 8833, S. 8843–8845, S. 8869 f., S. 8875, S. 8892, S. 8895 und S. 8900; ebd., Bd. 301, S. 860; ebd., Bd. 305, S. 3391. Michels, Deutsche (wie Anm. 58), S. 104. Vgl. »Vossische Zeitung« (1. Oktober 1933; 5. Oktober 1933) So Ernst Jünger: Afrikanische Spiele (1936), Neuauflage, Stuttgart 1960; Anton Kaiser: Die Fremdenlegion als Freimaurer- und Jesuiten-Werkzeug! Ein Stück Weltgeschichte völkisch gesehen, Leipzig 1938. »Völkischer Beobachter« (22. Juli 1937; 23. Juli 1937). Vgl. »Times« (23. Juli 1937); »Manchester Guardian« (24. Juli 1937); »Journal de Genève« (24. Juli 1937; 25. Juli 1937). Vgl. Christian Koller: »Gerade vom Professorenstuhl heruntergestiegen und in die Uniform hineingeschlüpft«. Söldnertruppen als Asylort im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Sönke Neitzel (Hrsg.): Diversität im Militär. Portal Militärgeschichte, online verfügbar: http://portal-militaergeschichte.de/koller_soeldnertruppen (zuletzt abgerufen am: 11. Februar 2019). Michels, Deutsche (wie Anm. 58), S. 233–241. Vgl. Die Straße der Legionäre. Tatsachen aus der französischen Fremdenlegion. Aufgezeichnet nach den Berichten der ehemaligen Legionäre Martin Dutschke, Arno Marx und Günter Walter, Leipzig 1951; Hans E. Bauer: Verkaufte Jahre. Ein deutscher Fremdenlegionär berichtet über seine Erlebnisse in Indochina und Nordafrika, Gütersloh 1957.
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Quinn mit dem Lied »Der Legionär« drei Wochen lang Platz eins der westdeutschen Hitparade. Die Bundesregierung und zunehmend auch die sozialdemokratische Opposition hielten sich während des Algerienkrieges zum Thema Fremdenlegion stark zurück, um die Beziehungen zu Frankreich nicht zu verschlechtern.96 Bis 1960 blieb die Legion ein beständiges Thema in der bundesdeutschen Presse; mit dem Ende des Algerienkrieges ging dann aber ihre Beachtung rasant zurück.97 In der Presse der DDR war das Thema ebenfalls präsent. Hier wurden deutsche Fremdenlegionäre als Opfer des Imperialismus dargestellt. Mehrfach strahlte der DDR-Rundfunk Paul Herbert Freyers Antilegions-Hörspiel »Jack Holsten« aus,98 und 1959/60 produzierte das ostdeutsche Filmunternehmen DEFA die vierteilige Fernsehserie »Flucht aus der Hölle«, die als zweiteiliger Spielfilm auch in die DDR-Kinos kam und von der Desertion eines deutschen Legionärs mit Hilfe der algerischen Nationalen Befreiungsfront und seiner Flucht in die DDR handelte.99
Fazit Insgesamt bewegten sich die dominanten Bilder von Afrika und seinen Bewohnern in der Weimarer Republik nach wie vor im für den Kolonialdiskurs charakteristischen Spannungsfeld zwischen Rassismus und Exotismus. Der Fokus lag dabei auf dem Gegensatz zwischen europäischer Zivilisation und afrikanischer »Wildheit«, die bald in Naturmetaphern, bald in rassenbiologischer Terminologie verbalisiert wurde. Die geostrategische Rolle Afrikas fand sich in diesen Diskursen in drei Ausprägungen: Erstens erschien der Kontinent als Soldatenreservoir, was seine Beherrschung zu einer Angelegenheit von europaund weltstrategischer Bedeutung machte. Zweitens wurde aber auch die Gefahr einer Revolutionierung Afrikas, eines Zusammenbruchs des Kolonialsystems und gar eines globalen »Rassenkampfes« an die Wand gemalt. Und drittens beschworen Anhänger des biologischen Rassismus die Gefahr der genetischen Eroberung (»Vernegerung«) Deutschlands und Europas durch Afrika herauf. All diese Diskurse standen in Kontinuität zur Wilhelminischen Zeit und fanden nach 1933 mit teilweise drastischen Konsequenzen ihre Fortsetzung. Bezüglich ihres Blicks nach Afrika war die Weimarer Zeit also keineswegs eine Phase der 96 97 98 99
Michels, Deutsche (wie Anm. 58), S. 305–330. Ebd., S. 247–251. Ebd., S. 222–226. Vgl. »Der Spiegel« (26. Oktober 1960; 30. Oktober 2009).
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Abwendung von der Welt. Die Bilder von Afrika und seinen Bewohnern wie auch die Vorstellung von Afrika als geopolitischem Asset waren in Deutschland auch zwischen 1919 und 1933 präsent und wurden zwar stärker aus der Defensive heraus, aber nicht minder aggressiv vorgetragen als zuvor.
Richtungen der Orientierung
Andy Hahnemann
Suggestive Kartographie für die Massen Populäre Literatur und Geopolitik in der Zwischenkriegszeit
Kein Zweifel, die Welt war den Deutschen zum Problem geworden.1 Nach den Erfahrungen eines ersten industriell geführten Weltkriegs, der mit einer Niederlage endete, und den anschließenden, als drakonische Strafjustiz wahrgenommenen Versailler Verträgen, mit denen die einstige Weltmacht scheinbar für immer auf die Verliererseite der Geschichte abgeschoben werden sollte, war Deutschlands Platz in einer neuen Weltordnung, ja diese selbst, höchst prekär geworden. In sämtlichen Medien der Zeit, in allen gesellschaftlichen Schichten und Segmenten entspannte sich in den 1920er und 30er Jahren mal in hysterisch-apokalyptischer Tonlage, mal betont sachlich oder – öfter noch – in einer seltsamen Mischung aus beidem ein breiter Diskurs über die Zukunft und Gegenwart der Welt, in dem die ganz großen Fragen globaler Politik erörtert und beantwortet wurden. Das Wissen über die Welt und ihre politischen Verwerfungen wurde in semi-wissenschaftlichen Zeitschriften und Sachbüchern zusammengetragen, in zornigen Pamphleten und assoziativumherschweifenden Reiseberichten. Selbst die Romanschriftsteller entfalteten eine rege Tätigkeit, wenn es darum ging, Prognosen und Wünsche über die globale Politik von morgen an den Mann zu bringen. In der virtuellen Welt der Bücher, Debatten und Diskurse wurde oft genug jener Platz an der Sonne aufgesucht, der, so schien es den Zeitgenossen, dem nationalen Kollektiv in der Nachkriegswirklichkeit verloren gegangen war. Die Kontinuität wilhelminischen Weltdenkens ist in diesem Zusammenhang genauso unübersehbar, wie das Bewusstsein der Zeitgenossen, an einem völlig neuen Punkt der weltgeschichtlichen Entwicklung angelangt zu sein, der auch neue Strategien politischen Handelns und neue Verfahren der Repräsentation erforderte. Waren die imperialistischen Großmachtträume Deutschlands schon vor dem Ersten Weltkrieg durch ein gehöriges Maß an Illusionismus und ein 1
Dieser Aufsatz fußt im Wesentlichen auf drei Kapiteln meiner Dissertation: Texturen des Globalen. Geopolitik und populäre Literatur in der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Heidelberg 2010, S. 7–12, S. 21–29 und S. 264–278.
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ans Phantastische grenzendes Selbstbewusstsein gekennzeichnet, so gilt dies noch verstärkt für die Nachkriegszeit. Die jetzt artikulierten Vorstellungen besitzen bis in die späten 1930er Jahre hinein oft genug einen utopischen oder dystopischen Überschuss, sind von einer ins Krisenhafte überspitzten Wahrnehmung gekennzeichnet und entwerfen Weltbilder, in denen alles in Bewegung und deshalb sehr viel möglich ist. Die nunmehr produzierten Weltbilder waren – ob vor oder nach 1933 – in der Regel stark affektiv überformt und orientierten sich häufig eher an den Begehrlichkeiten und Ängsten ihrer Urheber als an den Tatsachen, ohne freilich den Anspruch auf Referenzialisierbarkeit aufzugeben. Was in diesem Krisendiskurs – in dem sich oft genug das schon ältere Ideal einer deutschen Weltgeltung als einzige Alternative zum kollektiven Untergang präsentierte – ablesbar wird, ist eine tiefe Verunsicherung über die geschichtliche Existenz der Nation in einer Welt, der die scheinbar selbstverständliche Ordnung abhandengekommen ist. Dabei war die Grenzenlosigkeit der Krise auch die Folge einer Krise der Grenzenlosigkeit. Die Überholung oder Unterwanderung nationaler Immunisierungstechniken durch die neuen Medien Flugzeug und Radio und durch die katastrophalen Folgen der Weltwirtschaftskrise ließen das Modell des Nationalstaates ebenso wie das der liberalen kapitalistischen Demokratie als veraltet erscheinen. Vor dem Hintergrund einer technisch, medial und wirtschaftlich globalisierten Welt, in der die althergebrachten zwischenstaatlichen und kolonialen Hierarchien in Auflösung begriffen waren, drohte auch das Bild der Nation an Prägnanz zu verlieren und gewann die verstärkte Beschäftigung mit kontinentalen und globalen Kriegs- und Krisenszenarien an Selbstevidenz und Legitimität. Das globale oder – schon zeitgenössisch nicht selten synonym gebraucht – geopolitische Denken brachte eine Form von Literatur hervor, die, permanent eingeklemmt zwischen der ressentimentgeladenen Erinnerung an den vergangenen Weltkrieg und der Erwartung kommender Konflikte, vornehmlich an einer dramatisierten, dynamisierten und parteiischen Darstellung inter- oder transnationaler Politik Interesse zeigte. Man mag bei dem Stichwort Geopolitik vornehmlich an Autoren wie Karl Haushofer denken, an Carl Schmitt oder vielleicht an Oswald Spengler, es sollte aber nicht vergessen werden, dass es darüber hinaus zahlreiche Autoren geopolitischer Texte gab, die damals ein nicht unbeträchtliches Publikum fanden, heute allerdings, abgeschattet von kulturellen Kanonisierungsprozessen, höchstens noch den Spezialisten ein Begriff sind. Zu den prominenteren und (auf verschiedenen Feldern) sehr einflussreichen Autoren gehörten etwa Colin Ross, Anton Zischka, Walther Pahl oder Hans Dominik. Aber wer kennt heute noch Namen wie Paul Schmitz-Kairo, Eugen Diesel, Gustav Adolf Gedat, Ivar
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Lissner oder Karl August von Laffert, die mit ihren Büchern kaum Spuren im kulturellen Langzeitgedächtnis hinterlassen haben? Anders als die geopolitischen Meisterdenker entfalteten diese Autoren keine haltbaren Überlegungen und prägten keine Begriffe, die sich auch längerfristig als attraktiv erwiesen. Die geopolitische Literatur der Zwischenkriegszeit war zu weiten Teilen für den Augenblick geschrieben, der unmittelbaren Wirksamkeit und ihren konkreten Produktions- und Rezeptionsbedingungen verpflichtet, und sie gehört, alles in allem, zu jenen eher apokryphen und abgestandenen Überresten der Zeitgeschichte, die auf Kulturhistoriker bisher keinen besonderen Reiz ausgeübt haben. Bücher mit Titeln wie »Wetterzonen der Weltpolitik«, »Menschen und Mächte am Pazifik«, »All-Islam! Weltmacht von Morgen?«, »Ein Christ erlebt die Probleme der Welt«, »Wissenschaft bricht Monopole« oder »Weltbrand von Morgen« verstanden sich als umfassende Orientierungsangebote in einer Zeit, in der die Sehnsucht nach festen Ordnungen und längerfristigen Perspektiven groß, die Chancen auf eine friedliche Koexistenz der Nationen allerdings gering war. Hier wurden Bilder eines permanent dynamisierten Weltgeschehens entworfen, in dem zahlreiche verschiedene Kräfte um die Dominanz und Hegemonie in den diversen Regionen wetteiferten und der nächste große Kladderadatsch niemals in allzu weiter Ferne lag. Das Bild der Welt, wie es sich den deutschen Lesern präsentierte, war in der Regel ein hochdramatisches. Aber mehr noch: Fragen der Weltpolitik wurden in populären Erzählformen präsentiert, als Abenteuergeschichte, als Tatsachen- oder Zukunftsroman, als Reiseerzählung oder erzählendes Sachbuch. Manche der genannten Titel konnten eine fünf- oder sogar sechsstellige Auflagenhöhe verzeichnen und weder vorher noch nachher ist solch ein alle sozialen Segmentierungen und kulturellen Felder übergreifendes Bemühen zu beobachten, die globale Politik als Angelegenheit der breiten Masse, als Spektakel und Unterhaltungsangebot zu inszenieren, das den anderen Offerten der Kulturindustrie in nichts nachstand. Geopolitik wurde in der Zwischenkriegszeit populär, und jede Rekonstruktion des Globalisierungsdiskurses tut gut daran, diese populären Formen der Literatur miteinzubeziehen. Eine zweite hier mit Nachdruck vertretene Behauptung ist, dass die gerade genannten Autoren wesentlich mehr miteinander zu tun haben, als gemeinhin angenommen wird. In der Tat ließe sich mit einigem Recht fragen, was es begründet, abstruse Science-Fiction-Romane in einem Atemzug mit Reiseberichten zu nennen, denen es weniger aufs Phantasieren als auf die prägnante Beobachtung ankam, oder was Sachbücher über die chemische Ersatzstoffwirtschaft – ein immer wiederkehrendes Thema bei Anton Zischka oder Walther
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Pahl – mit jenen Vorstellungswelten verbindet, die Oswald Spengler und andere Weltanschauungsliteraten der Zeit beschäftigt haben. Wenn im Folgenden deshalb von Geopolitik oder von geopolitischer Literatur die Rede ist, dann nicht in jenem engen Verständnis des Begriffs, der darunter lediglich die im Umkreis der »geopolitischen Schule« Karl Haushofers und in der »Zeitschrift für Geopolitik« publizierten Texte verstehen möchte. Der Ansatzpunkt ist vielmehr umfassender: Der vorliegende Aufsatz (und die literaturwissenschaftliche Dissertation, auf der er beruht) fragt exemplarisch nach Aspekten einer Imaginationsgeschichte des Globalen. Wie haben sich die Zeitgenossen jenen »Weltraum« erschlossen, der durch die unterschiedlichsten Publikationen der Zeit geistert? Was hieß es überhaupt in der Zwischenkriegszeit, global zu denken, und warum erschien es zahllosen Menschen von so großer Bedeutung, auf eine Darstellung des großen Ganzen, des globalen Raums zu gehen, um Konzepte und Vorstellungen zu artikulieren, die man als »Weltgedanken« bezeichnen könnte? Gibt es auffällige und rekurrente Muster, die sich in den Texten finden lassen, und welche Gattungen, Erzählformen und Metaphern waren dabei im Spiel? Nahm das globale Denken der Zeit gar eine spezifische Form an, die in ästhetischer und epistemischer Hinsicht näher zu bestimmen wäre? Fragt man in diesem Sinn nach einer »Imaginationsgeschichte des Globalen«, sind gerade die verbindenden Elemente, die paradigmatischen Sub- oder Epitexte, die zahlreichen Echos der Begriffsbildungen, Geschichten und Bilder, mithin also die dominanten travelling concepts der infrage stehenden Kultur und Zeit von Interesse. Erst die Resonanz der Texte aufeinander, mal explizit nachzuweisen, mal implizit zu erschließen, eröffnet eine Perspektive, innerhalb derer der globale Raum nicht bloß als Dimension oder Größenordnung erscheint, sondern einen eigenen Diskurs formiert, in dem jede Rede eine Mit- und Gegenrede provoziert. Auszugehen ist von der Existenz einer »Textur des Globalen«, in der die zahlreichen Verknüpfungen zwischen einer Reihe von Texten unterschiedlicher Provenienz Muster der Weltwahrnehmung bzw. -modellierung sichtbar werden lassen, die eine gewisse Stabilität aufwiesen und das Denken und Handeln der Zeitgenossen beeinflussten, indem sie Handlungsanweisungen anboten und Affekte organisierten. Eine wichtige Frage ist dabei, ob in der Zwischenkriegszeit ein epistemischästhetisches Programm auszumachen ist, das die zahllosen und sehr heterogenen Texte auf eine jeweils spezifische Art und Weise formatierte. Die These, die ich in diesem Aufsatz nachdrücklich vertreten möchte, ist, dass das Denken und Schreiben über die Welt in den 1920er und 30er Jahren ganz wesentlich ein geopolitisches Denken und Schreiben war. Konzipiert wurde der globale Raum
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als zweidimensionale Fläche, in der die nationalen oder transnationalen Kollektive gegeneinander im Kampf um Raum antraten. Mit Vorliebe bedienten sich die Autoren einer Sprache, in der viel von politischen Energien, Kraftlinien oder Kraftfeldern die Rede war, und multiplizierten so – weit über die engen Kreise der »Geopolitiker« hinaus – eine Metaphorik, die selten eindeutig war, dafür aber auf den prägnanten Ausdruck und die suggestive Wirkung setzte. Die Sprache der Geopolitik durchdringt radikalmodernistische Planungsvisionen genauso wie völkisch-idealistische Traktate, faktografische Texte genauso wie fiktionale und wissenschaftliche Formationen wie die luftigen Sphären des phantastischen Utopismus. Vorstellungen von einer »farbigen Front«, einem »Volk ohne Raum« oder dem wahlweise wirtschaftlichen, demographischen oder militärischen »Untergang des Abendlandes« machten die Runde und luden zahlreiche Intellektuelle ein, sich an einem umfassenden Krisengespräch zu beteiligen, das in der Raum- und Grenzproblematik die epochale Signatur schlechthin erkannte. Es gab – so darf man wohl unterstellen – kaum einen politisch artikulierten Zeitgenossen, der nicht in irgendeiner Weise auf diese geopolitischen Metaphern, Perspektiven und Konzepte Bezug nahm. Am Anfang soll deshalb die Frage stehen: Was macht eine spezifisch geopolitische Repräsentation des globalen Raums aus? Worin bestehen die ästhetischen Strategien, mit denen sich geopolitisches Wissen in verschiedenen Medien artikuliert?
Suggestive Kartografie 1939 schrieb der Journalist und Reiseschriftsteller A. E. Johann in einer Gratulationsadresse zum 70. Geburtstag Karl Haushofers: »Wie es so oft in der Geistesgeschichte sich ereignet, so geschah es auch mit den großen, einfachen Grundlehren Haushofers: sie gingen als notwendige, zur rechten Zeit reif gewordene Wahrheiten in die gesamte geistige Atmosphäre der Zeit und Zukunft über; sie wurden längst anonym. Man kann über Fragen der Außen- und Weltpolitik heute überhaupt nicht mehr denken, ohne wenigstens teilweise haushoferisch, also geopolitisch darüber zu denken, ganz gleich, wie auch immer man zu einzelnen Thesen bewußt stehen mag.«2 2
Alfred Ernst Johann [d. i. Alfred Wollschläger]: Zum siebzigsten Geburtstage Karl Haushofers!, in: Zeitschrift für Geopolitik 16 (1939), H. 8/9, S. 543–546, hier S. 544.
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Lässt sich für die Zwischenkriegszeit eine Gruppe von Wissenschaftlern und Publizisten ausmachen, die sich konsequent der Analyse und öffentlichen Präsentation von Fragen globaler Politik verschrieben haben, dann war es wohl jene der »Geopolitiker«, die sich am Schnittpunkt von Wissenschaft, Volksbildung und Politik der Zukunft Deutschlands in der Welt, ja der Weltpolitik im Ganzen widmeten. Die Präsenz geopolitischer Texte und Themen in den Medien der Zwischenkriegszeit ist beachtlich; es gab eine viel gelesene »Zeitschrift für Geopolitik«, Buchreihen, die sich ausschließlich geopolitischen Themen widmeten, Einführungen, Rundfunksendungen, Filme, Zeitungsartikel und öffentliche Veranstaltungen zum Thema. »Geopolitik« war spätestens seit Beginn der 1930er Jahre zu einem Schlagwort der Epoche avanciert, das eng mit dem Namen Karl Haushofer verbunden wurde.3 Wie von Karl Haushofer und anderen betont, kam es jedoch nie zur Ausbildung der Geopolitik als einer »allen einleuchtenden Lehre« oder auch nur einem spezialisierten Wissenschaftszweig. 4 Fast alle geopolitischen Autoren – Otto Maull, Erich Obst, Hermann Lautensach und wie sie alle heißen – hatten ihre unterschiedlichen Steckenpferde und die Zeitschrift für Geopolitik und die kanonischen Sammelbände beschäftigten sich thematisch mit sämtlichen Regionen der Welt, mit Fragen der Migration, Technik, Religion, Sprache, Demographie, Ökonomie oder – verstärkt nach 1933 – mit der Dialektik von Rasse und Raum. »Dazu kommt, dass die Geopolitik tatsächlich […] eine gewisse Schulung auf geographischem, geschichtlichem, staatswissenschaftlichem und soziologischem Gebiet fordert« oder, was dasselbe ist, einen gewissen »Mut zum Dilettantismus«, schreibt Karl Haushofer.5
3
4 5
Vgl. die nach wie vor beste Gesamtdarstellung der Geopolitik für die Jahre der Weimarer Republik Thomas D. Murphy: The Heroic Earth. Geopolitical Thought in Weimar Germany 1918–1933, Kent/Ohio 1997. Otto Maull: Das Wesen der Geopolitik, Leipzig/Berlin 1936, S. 25. Karl Haushofer: Geopolitik und Presse, in: Karl Haushofer/Erich Obst/Hermann Lautensach/Otto Maull (Hrsg.): Bausteine zur Geopolitik, Berlin 1928, S. 259–269, hier: S. 261.
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Abb. 1: Otto Maull: Das Wesen der Geopolitik. Leipzig/Berlin (Teubner) 1936, U1.
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Schon den Zeitgenossen erschien es plausibler, das Wesen der Geopolitik nicht in ihren Themen zu suchen, sondern in ihrem politischen Auftrag oder in ihrer Perspektive, das heißt ihrer »dynamischen Denkweise«.6 Und in der Tat kann die Geopolitik der Zwischenkriegszeit nicht zuletzt als die Summe spezifischer Inszenierungsformen begriffen werden, mit denen und in denen eine Form von Raumwissen produziert wurde. Insbesondere der sogenannten suggestiven Kartographie kommt dabei eine enorme Bedeutung zu, weil sie in sehr konzentrierter Form die Paradigmen geopolitischer Darstellung abbildet. Schon 1922 entwickelte Karl Haushofer in einem Artikel in den »Grenzboten« das Konzept einer Kartographie, die nicht länger einer möglichst getreuen Abbildung verpflichtet ist, sondern ihre Ästhetik an der propagandistischen Zwecksetzung ausrichtet. Der Text beginnt mit einer Kritik an der »kleinliche[n] Treue im Kleinen« und der fehlenden Prägnanz, die das deutsche Kartenwesen seit jeher kennzeichne und sich während der Verhandlungen von Versailles desaströs ausgewirkt habe.7 Bedient wird damit der Topos von den vermeintlich unterlegenen Propagandatechniken, denn: »Im Gegensatz zur deutschen Kartendarstellung ging die englische […] weit mehr vom Typisieren, vom Schaffen eines suggestiven, das Wesentliche heraushebenden […] Kartenbildes aus«, und war, nach Haushofer, gerade deshalb effektiver.8 Alle Karten, so Haushofer weiter, seien weit eher künstlerische als wissenschaftliche Gebilde und ihnen hafte aufgrund der Notwendigkeit zur Selektion und illustrativen Formgebung grundsätzlich etwas Subjektives an. Hier gelte es anzusetzen, um die Karte durch ein »feineres Verständnis für suggestive Wirkung und völkerpsychologische Folgen« als Propagandamittel zu entwickeln, ohne das Ziel der wirklichkeitsgetreuen Abbildung aufzugeben.9 »Selbstverständlich muß das suggestive Kartenbild wahr sein, denn kartographische Lügen haben ganz besonders kurze Beine.«10 Haushofer stand mit seinem Ruf nach neuen Karten zu Beginn der 1920er Jahre allerdings alles andere als allein. Vielmehr beginnen erste Initiativen zur Ausarbeitungen von Karten, die mit Blick auf die Friedensverhandlungen Argumente für den berechtigten Anspruch Deutschlands auf bestimmte Räume liefern sollten, schon im Winter 1918.11 Von Mitte der 1920er Jahre an wussten 6 Vgl. Maull, Wesen der Geopolitik (wie Anm. 4), S. 26. 7 Karl Haushofer: ›Die suggestive Karte‹?, in: Grenzboten 81 (1922), H. 1, S. 17–19, hier: S. 17. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 18. 11 Dazu und im Folgenden vgl. Henrik Herb: Under the Map of Germany. Nationalism and Propaganda 1918–1945, London/New York 1997, S. 23 f. und S. 76 ff.
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neben der Geopolitik auch zahlreiche völkische Organisationen den Nutzen propagandistischer Kartenbilder zu schätzen, und spätestens für die beginnenden 1930er Jahre lässt sich von einer »Flut von suggestiven Karten« sprechen,12 die nicht nur in den Printmedien, sondern auch in zahlreichen Kultur- und Propagandafilmen ihre Spur hinterließ.13 Besonders wenn es um das große Ganze geht, kommen die Stärken geopolitischer Kartographie, die ganz wesentlich in ihrer Tendenz zur Verdichtung und Dynamisierung liegen, voll zur Geltung. Verdichtung meint nicht die Ansammlung von vielen Details auf knappem Raum, sondern im Gegenteil: die Entscheidung zur ganz bewussten Reduktion. Außerordentlich heterogenes Material wird auf wenige (dafür in der Regel recht dicke) Striche zusammengeschmolzen. Die »geopolitische Läuterung des umfassenden Stoffs«, so heißt es bei Haushofer, zielt vor allem auf eine wesentliche Konzentration des Ausdrucks hin zur thesenhaften Verknappung.14 Nicht die Vermittlung von detailliertem Fachwissen ist das Ziel, sondern die Herstellung eines synthetischen Gesamteindrucks, einer politisch auszubeutenden Rahmenerzählung. Die Karten sind in der Mehrzahl durch eine geringe Anzahl von Elementen, das heißt schraffierte Flächen, Signaturen oder Pfeile bestimmt, unter Vermeidung jeder überflüssigen Information. Der Effekt ist einerseits eine gesteigerte Prägnanz – territoriale Einheiten oder Einflüsse sind außerordentlich deutlich zu erkennen – andererseits eine bewusst in Kauf genommene epistemologische Unschärfe. Besonders die die geopolitischen Karten kennzeichnenden Pfeilmarkierungen – aber auch die »Riegel« oder »Einkreisungen« u. ä. – bleiben unterbestimmt. In den seltensten Fällen wird eindeutig benannt, welche konkrete Bewegung durch einen Pfeil ausgedrückt wird. Phänomene der Migration, der politischen oder finanziellen Beeinflussung, der militärischen oder technologischen Eroberung von Raum fallen im Extremfall in ein- und demselben Zeichen zusammen. Übrig bleibt beim Betrachter die Vorstellung eines richtungsgebundenen Zusammenhangs der verschiedenen auf der Karte verzeichneten Territorien.
12 Ebd., S. 91; vgl. auch: Rupert von Schumacher: Zur Theorie der Raumdarstellung, in: Zeitschrift für Geopolitik 11 (1934), H. 10, S. 635–652, hier S. 635. 13 Klaus Kreimeier spricht von einer »Geographie als bewegte Geometrie« in einigen der frühen Kulturfilme vgl. Klaus Kreimeier/Antje Ehmann/Jeanpaul Georgen (Hrsg.): Geschichte des dokumentarischen Films, Bd. 2: Weimarer Republik 1918–1933, Stuttgart 2005, S. 89 ff. 14 Haushofer, Geopolitik und Presse (wie Anm. 5), S. 269.
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Abb. 2: Karl Springenschmid: Großmächte unter sich. Die geopolitischen Grundlagen der Großmachtpolitik. Salzburg (R. Kiesel) 1934, S. 56v.
Den Pfeilen auf der Karte entspricht in den geopolitischen Texten die omnipräsente Metaphorik des »Drucks« und der »Kräfte«. Die Liste von KraftKomposita aus biologischen und technischen Wortfeldern ist schier endlos: Die Rede ist von Kraftfeldern, Kraftströmen, Kraftlinien, Kraftlinienbündeln, Kraftmittelpunkten, Bewegungskräften; von Kulturstrahlungen, Triebrichtungen oder allgemeiner von Wellen, Hemmungen, Schranken, Schwellen usw. Dieses Metapherngeflecht dient dazu, geographische, wirtschaftliche, kulturelle, militärische, technologische und politische »Fakten« zu integrieren, und selten sind die Bezüge dabei eindeutig.15 Auch für die geopolitischen Texte ist
15 Im Original liest sich dieser Anspruch der geographischen Voll-Inklusion so: »Die Lagebeziehungen, Oberflächenformen nach Höhengestaltung und horizontaler Gliederung, Bodenarten, Bodenschätze, Klimaeigenschaften, Meeresströmungen, Flußnetze, Erdbeben und vulkanischen Erscheinungen gehen in diese umfassenden, immer dynamisch gestalteten Betrachtungen über den erdgebundenen politischen Werdegang der von ihm als geopolitische Einheiten erkannten und erwiesenen Räume ebensogut ein wie
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Abb. 3: Werner Chomton: Weltbrand von Morgen. Ein Zukunftsbild. Stuttgart (Thienemann) 1934, S. 1.
eine epistemische Unschärfe konstitutiv, die es einerseits erlaubt, den Gegenstandsbereich der Geopolitik ins Unendliche zu strecken, denn »alle im Raume wirkende Kraft ist politisch« und andererseits alles auf einer Ebene, auf einer zweidimensionalen Fläche zu verhandeln, in der es eigentlich nur ein hin und her, ein vor oder zurück, kurz: eine Konfrontation oder Konkurrenz der Kräfte gibt.16 In gewissem Sinn sind damit auch die geopolitischen Texte ihrem Wesen nach kartographisch; sie bedienen ein Denken in der Fläche, in der sich die Dinge »hart im Raum mit anderen Sachen stoßen«.17
Rassenbau, Wanderbewegung, soziale Schichtung, Siedlung, Volksdichte, Eigenwirtschaft, Weltverkehr und -handel.« Karl Haushofer: Über die historische Entwicklung des Begriffs Geopolitik, in: ders./Erich Obst/Hermann Lautensach/Otto Maull (Hrsg.): Bausteine zur Geopolitik, S. 1–28, hier: S. 18. 16 Fritz Hesse: Das Gesetz der wachsenden Räume, in: Zeitschrift für Geopolitik 1 (1924), S. 1–4, hier: S. 4. 17 Karl Haushofer: Geopolitik der Pan-Ideen, Berlin 1931, S. 16.
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Die textuelle Kraftmetaphorik und der »Pfeilkult« geopolitischer Karten erfüllen eine ähnliche Funktion.18 Der von ihnen konstituierte Raum ist nicht statisch, sondern dynamisch. Damit aber ist er auch unweigerlich narrativ. Anders als herkömmliche Karten sind geopolitische Karten sujethaft; sie stellen Skripte zur Verfügung, in denen bestimmte Grenzen von bestimmten Kräften überschritten werden.19 Das Ziel ist dabei nicht nur die prozesshafte Beschreibung der zeitgenössischen Wirklichkeit, sondern auch die Öffnung eines Zukunftsraumes, innerhalb dessen die »Fernziele der großen Mächte« sichtbar gemacht werden können.20 In der Ausrichtung auf ein zukünftiges Geschehen wird die Karte zu einem »Tummelplatz der Einbildungskraft«.21 Sie codiert nicht nur Faktisches, sondern öffnet einen Raum für Prognose und Spekulation. Ihren Horizont findet die geopolitische Prognostik dabei in der Regel in der Voraussage des nächsten Krieges, der nächsten Konfrontation zwischen konkurrierenden Kräften. Die ideologische Matrix, auf der die kartographischen Repräsentationen geschaffen werden, ist der permanente und globale Kampf um Lebensraum. Ähnlich wie in Kartendarstellungen militärischer Schlachten, ein Vergleich, den Haushofer explizit zieht, wird die geopolitische Flächendarstellung von agonalen Kräften, die zur Entscheidung drängen, dominiert.22 Der »geopolitische Blick« ist dabei gleichsam einer aus der Feldherrenperspektive oder der »Hochwarte«.23 In gewissem Sinn ist die geopolitische Ästhetik als Projektionsmechanismus zu beschreiben. Im geopolitischen Blick spielt sich Weltpolitik auf einer zweidimensionalen Fläche ab, auf der die Geschichten vom Aufstieg und Fall der großen Weltreiche in Gegenwart und Zukunft gezeigt werden. Geopolitik ist nicht zuletzt ganz großes Kino für die Massen, in dem die politischen Tagträume der Zeitgenossen stimuliert werden. 18 Rupert von Schumacher: Zur Theorie der geopolitischen Signatur, in: Zeitschrift für Geopolitik 12 (1935), H. 4, S. 247–265, hier: S. 249. 19 Zum Unterschied von sujetlosen und sujethaften Karten vgl. Juri M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, München 1989, S. 340. 20 Karl Haushofer: Die weltpolitische Machtverlagerung seit 1914 und die internationalen Fronten der Pan-Ideen. Fernziele der Großmächte, in: ders./Kurt Trampler (Hrsg.): Deutschlands Weg an der Zeitenwende, München 1931, S. 208–223, hier: S. 223; vgl. zur geopolitischen Prognose auch: Rainer Matern: Karl Haushofer und seine Geopolitik in den Jahren der Weimarer Republik. Ein Beitrag zum Verständnis seiner Ideen und seines Wirkens, Karlsruhe 1978, S. 40 ff. 21 Haushofer, Suggestive Karte (wie Anm. 7), S. 17. 22 Karl Haushofer: Rückblick und Vorschau auf das geopolitische Kartenwesen, in: Zeitschrift für Geopolitik 8 (1932), H. 12, S. 735–745. 23 Haushofer, Machtverlagerung (wie Anm. 20), S. 223.
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Suggestiv ist also auch der Gestus des geopolitischen Schauens selbst, weil es immer auch mit den kollektiven Wünschen zu tun hat. Und was das für die deutsche Rechte der Zwischenkriegszeit bedeutet hat, ist klar. Zitat Haushofer: »Die Oberfläche der Erde wird immer wieder neu verteilt: diese Tatsache des Lebenskampfes lehrt nichts deutlicher als die dynamische, geopolitische Karte«, und deren besondere Stärke bestehe darin, so Haushofer weiter, »dass sie Mittel zur Prognose, zur Vorausschau, zur Vorhersage« biete. »Auf diese aber kommt es bei der Äußerung des politischen Willens im Raum doch entscheidend an, […] ›Wissen ist Macht!‹«24 Und, so wurde an anderer Stelle hinzugefügt: »Geographisches Wissen ist Weltmacht.«25 Die geopolitische Propaganda imaginiert sich selbst als »Kraftlinie«, die das nationale Kollektiv im Wettstreit um Raum entscheidend voranbringen soll.26 Ihre Suggestivität ist in diesem Sinn auch als Autosuggestion zu verstehen. In einer permanenten Rhetorik der Selbstermächtigung, nach der eine Entscheidung für das geopolitische Denken einer Entscheidung für die zukünftige Größe Deutschlands in der Welt gleichkommt, wird Deutschland von der Geopolitik als Subjekt der Weltpolitik gleichsam ins Leben gerufen. Nun zeigte sich in den 1920er Jahren schnell, dass der Chor derjenigen, die Deutschland weltpolitisch ins Leben rufen wollten, recht groß war. Es ist der Boom einer Literatur zu beobachten, die, mal phantasmatisch übersteigert, mal im Gestus der Nüchternheit globale Zusammenhänge geopolitisch interpretierte. An diesem Gespräch waren fast alle Gattungen beteiligt, auch und besonders die populären Formen von Literatur für den sogenannten Mann von der Straße. Beispiele für diesen geopolitischen Diskurs lassen sich zuhauf finden, ich möchte mich im Folgenden auf einen kleinen Ausschnitt beschränken.27
24 Karl Haushofer: Staat, Raum und Selbstbestimmung, in: ders. (Hrsg.): Raumüberwindende Mächte, Leipzig/Berlin 1934, S. 63–90, hier: S. 80. 25 Rainer Sprengel: Geopolitik und Nationalsozialismus. Ende einer deutschen Fehlentwicklung oder fehlgeleiteter Diskurs, in: Irene Diekmann/Peter Krüger/Julius H. Schoeps (Hrsg.): Geopolitik. Grenzgänge im Zeitgeist, Band 1.1.1890 bis 1945, Potsdam 2000, S. 147–168, hier: S. 147. 26 Vgl. Haushofer, Pan-Ideen (wie Anm. 18), S. 34 f: »[J]e stärker der Einfluß von Mehrheiten an der politischen Formung der von ihnen bewohnten Räume wird, um so mehr sehen wir ihr Bedürfnis, sich zur Stützung ihres Weltbildes […] an deutliche, überzeugende, in Film, suggestive Karte, mit den Methoden der Zeitungswissenschaft in die Massen tragende Kraftlinien zu halten.« 27 Ich verweise hier noch einmal auf meine Dissertation, die sowohl entlang der einzelnen Gattungen (Sachbuch, Reisebericht, Weltanschauungsliteratur, Zukunftsroman) als auch entlang einzelner beliebter Denkfiguren versucht, diesen Diskurs zu erschließen.
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Achtung Australien! – Achtung Asien! Populäre Literatur und Geopolitik Eine im geopolitischen Diskurs häufig und gern gebrauchte Entgegensetzung lautet: »Volk ohne Raum« und »Raum ohne Volk«. Das erste Schlagwort ist bekanntermaßen von Hans Grimm popularisiert worden, das zweite findet sich verstreut in zahllosen geopolitischen Publikationen. Zusammengenommen bezeichnen beide ein demographisches Krisenszenario, das sich in ganz unterschiedlichen Weltregionen abspielen kann: Auf der einen Seite herrscht ein demographischer Überdruck, auf der anderen Seite ein Bevölkerungsmangel, was quasi naturgesetzlich zu einem Ausgleich führen wird. Ein Zitat aus dem Sachbuch »Raum ohne Volk« von Heinrich Raab aus dem Jahr 1935 mag demonstrieren, wie das so klang: »Vorerst gehen still, aber mächtig und stet besonders von Ostasien und China Verschiebungen und Wanderungen nach allen Richtungen aus. Sollte man diese Kräfteverschiebungen gänzlich abriegeln wollen, dann wird sich der Druck verstärken, das Feld erbrausen und die wahrhaft hungernden und darbenden Millionen werden die unnatürlichen Dämme mit Gewalt zerbrechen.« Mit den unnatürlichen Dämmen meint Heinrich Raab die »Abriegelung der riesigen leeren Räume durch die Weißen« – zum Beispiel in Australien. »Ein ›Australien für die Australier‹ hat bloß dann einen Sinn, wenn es mehr Australier gibt, die der drohenden Millionenflut der Mongolen, namentlich der Japaner, einen Damm entgegenstellen könnten.«28 Wo Raab im Zweifelsfall für die dynamischen Gesellschaften des Ostens argumentieren würde – er spricht auch gelegentlich von einer »weißen Gefahr«, die aus der unvernünftigen Raumpolitik resultiere – vertritt Burgdörfer, ungleich mehr im Trend der Zeit, eher die Belange der »weißen Rasse«, wenn er sich – im identischen Jargon – darüber besorgt zeigt, »daß eines Tages die Dämme der kinderreichen, überbevölkerten Länder Ostasiens brechen werden und die farbige Flut das leere Land überschwemmen wird.«29 Was Burgdörfer vorschwebt, ist eine zweite Kolonisierungswelle durch die europäischen Länder, für deren Bevölkerungsüberschuss Australien seine Häfen öffnen solle »– solange noch Zeit dazu ist«30. Obwohl politisch nicht unbedingt auf einer Linie, sind sich beide in der Analyse grundsätzlich einig. Solle es nicht in naher Zukunft zu einem Rassenkrieg 28 Ebd., S. 92. 29 Friedrich Burgdörfer, Sterben die weißen Völker? Die Zukunft der weißen und farbigen Völker im Lichte der biologischen Statistik, München 1934, S. 76. 30 Ebd., S. 78.
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Abb. 4: Walther Pahl: Das politische Antlitz der Erde. Ein weltpolitischer Atlas. Leipzig (Goldmann) 1938, S. 202.
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Abb. 5: Hans Brosius: Fernost formt seine Gestalt. Berlin (Deutsche Verlagsgesellschaft) [1936], S. 77.
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von allergrößtem Ausmaß kommen, müsse schleunigst irgendetwas passieren, das die Lage entschärft. Dass sich in einer solchen Situation auch die geopolitischen Fiktionen aufgerufen fühlen, einen Beitrag zu leisten, leuchtet unmittelbar ein, und wie so oft gehen sie auch im Falle Australiens der fundierten Analyse voraus. Während Burgdörfers Studie erst 1934 erschien (und Raabs »Raum ohne Volk« 1935), fragt sich Hans Dominik in seinem Roman »Befehl aus dem Dunkel« schon 1933, was der gelben Flut entgegenzustellen wäre. Die Geschichte lebt, ganz genrekonform, von der Interaktion von französischen und asiatischen Schurken, Weltreportern, Militärs, deutschen Ingenieuren und jungen Frauen im heiratsfähigen Alter. Der Held heißt diesmal Georg Astenryk, arbeitet intensiv an der hundertprozentigen Energieausnutzung von Kohle und interessiert sich brennend für jene Fragen von allergrößter Bedeutung, die in deutschen und internationalen Zeitungen besprochen werden. »Der Zug rollte über die Rheinbrücke. Georg Astenryk legte die Zeitungen kopfschüttelnd beiseite … wann würde dieser Erdball einmal zur Ruhe kommen? Sollte es wirklich wahr werden, das Wort vom Untergang des Abendlandes, was wäre anderes daran Schuld als der ewige innere Zwist der weißen Rasse.«31 Die angesprochenen Zwistigkeiten meinen in diesem Fall einige englisch-amerikanische Streitereien um den wirtschaftlichen Einfluss in Lateinamerika, den langsamen Zerfall des Empire, vor allem aber die daraus folgenden Probleme im Pazifik. Japan nutzt die Gelegenheit, um Druck auf Australien auszuüben, und ein Krieg scheint in greifbare Nähe zu rücken. Als vorbildlicher Zeitungsleser und Bekannter eines australischen Offiziers kommt Astenryk nicht umhin, sich so manchen Gedanken zu machen. Während er in der Abgeschiedenheit der bayrischen Berge an seiner Erfindung arbeitet, beschäftigt er sich in den Pausen mit den »drohenden Kämpfen um die Herrschaft des Stillen Ozeans« und die Bedeutung der Konflikte, »die für Jahrzehnte … vielleicht Jahrhunderte das Schicksal der weißen Rasse« bestimmen werden.32 Auf einem Spaziergang hat Astenryk ein Schlüsselerlebnis: »Ein lautes Krachen und Stürzen im Oberlauf der Schlucht schreckte ihn auf. Da mochten wohl ein paar Felsstücke oder ein unterhöhlter Hang in den Bach gestürzt sein. Nach kurzer Zeit begannen die Wasser stärker zu rauschen. Eine trübe gelbe Flut wälzte sich über die Hindernisse hinweg, stürzte auf den leichten Steg zu, der unterhalb seines Platzes über den Bach führte. Die Stützen des Ste31 Hans Dominik: Befehl aus dem Dunkel, Berlin 1933, S. 21. 32 Ebd., S. 106.
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ges begannen zu schwanken, zu brechen. Dann war er von der gelben Flut verschlungen. – Verschlungen von der gelben Flut die weißen Siedlungen dahinten im Fernen Osten, die die Brücke schlugen zwischen den weißen Kontinenten. – Georg sprang auf. Nein! War das, was sein Auge da eben gesehen, ein Symbol künftigen Geschehens …«33 Spontan entscheidet sich Astenryk dafür, seinem Bruder Jan in Australien einen Besuch abzustatten. Mit im Gepäck hat er die Idee zu einem Gedankenverstärker, der es dem Benutzer erlaubt, auch auf weite Distanzen zahlreiche Menschen telepathisch zu beeinflussen. Gerade ist Georg in Australien angekommen, als die Lage im Fernen Osten nach einigen diplomatischen und militärischen Scharmützeln dramatisch eskaliert: »Jedermann wußte, daß jetzt Ereignisse folgen würden, die das ganze Weltbild im Osten von Grund auf ändern könnten. […] Mit ungeheurer Spannung sah die Welt den kommenden Ereignissen entgegen.«34 Und während die amerikanische Regierung zögert, die englische Diplomatie mit Hochdruck arbeitet und in allen Teilen des Empires fieberhaft aufgerüstet wird, gelingt es Astenryk, in aller Heimlichkeit seinen Gedankenverstärker fertigzustellen. Zusammen mit den australischen Militärs entwirft Astenryk einen Verteidigungsplan für die Invasion, und als die Japaner Sydney und Melbourne erobern, geht Astenryk auf Sendung. Spielend bewegt er einige japanische Regimenter durch seine telepathischen Befehle zur Aufgabe und gewinnt den Krieg für Australien. »Die Welt stand noch unter dem ersten Eindruck dieser so unglaublichen Ereignisse, da kam eine Erklärung durch die australische Regierung. In kurzen Worten wurde dargelegt, daß der Zusammenbruch des japanischen Überfalls einzig und allein der wunderbaren Erfindung eines deutschen Ingenieurs zuzuschreiben sei.«35 Damit aber nicht genug. Denn kaum ist der Krieg gewonnen, zaubert Astenryk den Friedensplan hervor: »Er ging zu einem Schrank und holte eine Karte von Australien heraus, die mit vielen Fähnchen besteckt war, wie wohl eine Karte vom Kriegsschau33 Ebd., S. 107. 34 Ebd., S. 347. 35 Ebd., S. 367 f.
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platz im Zimmer der Oberbefehlshaber. […] ›Diese Fähnchen, meine Herren, wurde aufgrund der geologischen Bodenuntersuchungen des Landeskulturamtes gesteckt. Die verschiedenen Farben bedeuten die Tiefe, in der mehr oder weniger starke Wasservorräte zu finden sind. Diese Wassermengen, mit der billigen Energie meiner Kohlenbatterien nach oben gebracht, auf die dürren Steppen verteilt, dürften im Lauf der Jahre das australische Land aufnahmefähig machen für viele Millionen weißer Siedler. Kein besserer Schutz für ein Land, als die Arme seiner bodenständigen Bauern. Sollte dann später wieder einmal eine gelbe Flut gegen Australiens Küste branden, würde die australische Regierung das Land durch Millionen kräftiger Bauernfäuste sicherer verteidigen können als durch solchen empfindlichen Apparat!‹«36 Es fällt nicht schwer, in dem Roman Dominiks die gleichen Metaphern, Überlegungen und Spekulationen wiederzuerkennen, die auch Burgdörfer und Raab die Feder geführt haben. Die Narrative, mit denen die weltpolitische Lage beschrieben wird (und die Annahme der zugrundeliegenden bevölkerungspolitischen Dynamik), ähneln sich, und auch wenn der fantastische Überschuss im Zukunftsroman und der daraus folgende Zug ins Spielerische die Rezeption bestimmten, werden hier Plausibilitäten und Szenarien entwickelt, die der Rezeption der späteren, sich wissenschaftlich verstehenden Arbeiten den Weg gebahnt haben dürften. Einflussreicher als der Spannungsroman Dominiks waren in diesem Zusammenhang aber die Reiseberichte und -filme, die Colin Ross um 1930 veröffentlichte. Keinem aufmerksamen Kinogänger dürfte etwa die Pointe des von Ross produzierten Kulturfilms »Achtung Australien! Achtung Asien!« entgangen sein. Der »Illustrierte Film-Kurier« widmete dem Film – Erstaufführung war am 14. November 1930 in Berlin – eine achtseitige Ausgabe mit zahlreichen Szenenfotos. Beschrieben wird der Film dort so: »›Achtung Australien, Achtung Asien!‹ Mit diesen Worten ist bereits der Akzent gesetzt. Dies ist ein Titel, der aufhorchen lässt. Achtung, Achtung, hier ist was los. […] Australien allein wäre bereits das Thema eines abendfüllenden Kulturfilms, aber Colin Roß will diesmal mehr geben als Bilder von Land und Leuten, seien sie auch noch so interessant, neuartig und spannend. Er will uns mit diesem Tonfilm mitten in die Problematik der Weltpolitik unserer Zeit führen, und so nimmt er uns mit von dem menschenleeren
36 Ebd., S. 375.
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Australien, dem ›Raum ohne Volk‹, nach dem dichtbesiedelten Südostasien, dem ›Volk ohne Raum‹. – Wir sehen uns plötzlich in dem menschenüberfüllten China. In den engen schmutzigen Straßen seiner Städte, inmitten seiner seltsamen Flusssiedlungen. In denen die Menschen auf Booten wohnen, weil auf dem Lande kein Raum mehr ist.«37 Der Film wurde mehrfach begeistert rezensiert und keine Rezension vergaß zu erwähnen, dass es erstens ganz zentral um die Antithese von »Volk ohne Raum – Raum ohne Volk« ging und dass zweitens die von Ross gefundenen Bilder (meistens werden die chinesischen Flussschiff-Kolonien erwähnt) dieses weltpolitische Schlagwort brillant illustrierten.38 Gleiches gilt auch für den von Ross 1930 veröffentlichten Reisebericht »Der unvollendete Kontinent«. Die Wahrnehmung einer gelungenen Vermittlung von konkreter Zeigegeste (bzw. Beschreibung) und geopolitischer Kontextualisierung macht auch hier den Kern der durchweg lobenden Besprechungen aus. Als charakteristisch kann eine Rezension aus dem »Geographischen Anzeiger« gelten: »Aber der sowohl in Europa als auch in Süd- und Ostasien bestehende Menschenüberdruck wird auf irgendeine Art nach einer Entspannung drängen, so daß sich Australien bald vor die Entscheidung gestellt sehen wird, ob es ein weißer oder farbiger Erdteil werden will. Das ist der Grundgedanke des Wer37 Illustrierter Film-Kurier, Nr. 1490 (o. D., vermutlich Mitte November 1930 erschienen) Der Artikel schließt mit den Worten: »Unmittelbar nach dem Elend und der Enge der Inflation brachte uns Dr. Colin Roß mit seinem Weltreisefilm ›Mit dem Kurbelkasten um die Erde‹ als erster den ganzen bunten Zauber unserer Erde in einem großen Reisefilm heim. Er wollte damals uns nur daran erinnern, wie bunt und groß die Erde ist, und unsere schönheitsdurstigen Augen wollten nur trinken. Seitdem sind sieben Jahre vergangen, und neues Gewölk zieht sich zusammen. Diesmal auf der ganzen Erde. Da bringt uns der unermüdliche Forscher, der in 20 Jahren immer von neuem die Erde umkreiste und in ihrem letzten Winkel erforschte, nochmals im Rahmen eines Films die bunte Welt vor unsere Augen, und diesmal auch vor unsere Ohren, in einem Filmwerk, das uns eindringlich daran erinnert, daß heute die ganze Welt, die ganze Menschheit eine eng miteinander verbundene Einheit bildet, und daß das, was draußen bei fremden und wilden Völkern sich abspielt, heute kein Gegenstand mäßigen Erstaunens mehr bilden kann, sondern daß uns heute alles angeht, was sich draußen ereignet, sei es auch bei den fernsten Völkern: denn eine neue Welt, eine neue Erde ist im Entstehen, und an uns liegt es, bei ihrer Neugestaltung nicht übergangen zu werden.« 38 Vgl. Lotte Eisner: Achtung Australien! Achtung Asien!, in: Film-Kurier (15. November 1930); Conrad Frigo: Achtung Australien, Achtung Asien!, in: Reichsfilmblatt 8, Nr. 46 (15. November 1930); [o. A.]: Achtung Australien!–Achtung Asien!, in: Kinematograph 24, Nr. 268 (15. November 1930); Belz: Achtung Australien! Achtung Asien!, in: Der Film 15, Nr. 46 (15. November 1930).
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kes, während die Erlebnisse und Beobachtungen in fesselnden, mit erprobter Künstlerschaft geschriebenen Einzelskizzen an dem Leser vorüberziehen.«39 Es ist allerdings auffällig, dass die explizit geopolitischen Analysen auf den ersten und letzten Seiten des Buches gebündelt werden, während die gut 250 Seiten dazwischen primär dem Reiseabenteuer verpflichtet sind. Im Wesentlichen sind es Einleitung und Schluss sowie Buchtitel und Kapitelüberschriften, die – sozusagen Top-down – die Rezeption lenken und selbst eher unschuldige Entdeckungsfahrten mit dem Automobil in die Prospektion einer noch zu besiedelnden oder auszubeutenden Landschaft verwandeln. Wenn Ross und seine Familie beispielsweise in einem Kapitel mit der Überschrift »Das Meer unter der Wüste«40 einige artesische Quellen besichtigen und die Stimme des Erzählers eher en passant auf die wirtschaftlichen Möglichkeiten hinweist, die eine Ausnutzung dieser unterirdischen Seen bieten, mag sich mancher technikbegeisterte Leser bereits aufgefordert gefühlt haben, über gigantische Bewässerungsprojekte und Garnisonen von weißen Siedlern nachzudenken. 41 Es ist freilich die Rahmung, die suggeriert, dass Australien als unvollendeter Kontinent und allzu schwacher »Vorposten der weißen Rasse in der gelben Interessensphäre« unbedingt der rassenpolitischen und technischen Aufrüstung bedarf. 42 Der suggestive Zug der Landschaftsbeschreibung wird dabei gelegentlich relativiert, denn »es soll hier nicht gewertet, noch gar moralisch geurteilt, sondern einfach festgestellt werden, was ist.«43 Es ist die 39 [o. A.], in: Geographischer Anzeiger 31 (1930), H. 9, S. 300; weitere Rezensionen des Buches mit ähnlicher Stoßrichtung in: Militär-Wochenblatt 114 (1929/30), Nr. 47, S. 1869; Die schöne Literatur 31 (1930), H. 10, S. 499; Zeitschrift für Völkerpsychologie und Soziologie 7 (1931), S. 239; Weltwirtschaft. Monatsschrift für Weltwirtschaft und Weltverkehr 18 (1930), H. 1, S. 287; Die Bücherwelt 28 (1931), S. 292; Literarischer Handweiser 66 (1929/30), H. 12, S. 944. Ein Ausreißer stellt die Besprechung in den »Heften für Büchereiwesen« (14. Jg., 1930, S. 300) dar, die das Buch als oberflächlich kritisiert und auf die gediegene, gründliche Forschungsarbeit von Hermann Lufft verweist, die unter dem Titel »Das britische Weltreich« (1930) in der Reihe »Provinzen der Weltwirtschaft und Weltpolitik« erschienen ist. 40 Colin Ross: Der unvollendete Kontinent, Leipzig 1930, S. 207 ff. 41 Wie Hans Dominik dies macht. Noch in anderer Hinsicht ist der Zusammenhang zwischen Dominik und Ross beachtenswert. Wenn Ross schreibt: »Nun ist aber durchaus eine weltpolitische Lage denkbar, in der England nicht imstande ist, Australien zu schützen, oder auch nicht willens« (S. 272) markiert er damit genau den Punkt, an dem die geopolitische Fiktion mit ihrer Geschichte einsetzt. Das lässt sich verallgemeinern: Die geopolitischen Romane nisten sich nicht selten in den Spekulationen und Prognosen der faktografischen Literatur ein und fabulieren diese aus. 42 Ebd., S. 6. 43 Ebd., S. 233.
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Stärke dieser Beschreibungskunst, niemals ins »Programm« oder »Projekt« zu kippen, obschon die Anschlüsse dafür ganz offensichtlich gelegt werden. Ross war zwar nicht der erste, sicher aber der einflussreichste Stichwortgeber für die Wahrnehmung Australiens als »Raum ohne Volk«. 44 Das legen schon die Titel nahe, die sich ganz offensichtlich an Ross orientieren oder in der Textorganisation ganz ähnlich verfahren, wie etwa Alfred Ernst Johanns »Känguruhs, Kopra und Korallen« von 1936. Erzählt wird vom »königlichen Sport des Wellenreitens, von der gefährlich schönen vulkanischen Landschaft Neu-Seelands, von dem Rassenmischmasch in der Südsee«, aber auch von »den machtpolitischen Bewegungen im Pazifik«. 45 Hier weiß der ansonsten noch politisch zurückhaltende Johann seinen Lesern klar zu machen: »Wenn Australien fern dem Strudel des Weltgeschehens läge, so bildete es in der Tat eine glückliche Insel, denn die wenigen Menschen darin vermöchten bei dem Überfluß an Raum und natürlichen Schätzen auf viele Jahrhunderte hinaus ein Dasein im Überfluß und Sorglosigkeit zu führen.«46 Da dem aber nicht so ist und es heute »überhaupt keinen Bezirk der Erde mehr [gibt], der sich dem wilden Wirbel des geschichtlichen Geschehens der Gegenwart« entziehen könnte, 47 bliebe dem gefährdeten Kontinent nur eins: »Menschen und immer wieder Menschen zu sich zu laden, um seine leeren Weiten zu beleben und um sich Verteidiger zu schaffen, die im Falle der Not ihre neue Heimat behaupten können.« Gedacht ist freilich an echte Siedler und Bauern, die sich als »Eroberer im Boden selbst tief verankert und verwurzelt haben«, wie die Deutschen in ihrem Heimatland (und nicht wie die Engländer in ihren Kolonien). 48 Heinrich Hauser wird etwa acht Jahre später als Ross sein Australienbuch in deutlicher Referenz »Der menschenscheue Kontinent« nennen und ebenso wie Ross von einer gelben und »olivenfarbigen« Gefahr reden. Der Ton ist hier – kurz vor dem Zweiten Weltkrieg – sehr entschieden nach den Vorgaben der nationalsozialistischen Politik ausgerichtet: »Drei andere Länder besitzen bei zu kleinem Lebensraum einen Bevölkerungsüberschuß: Italien, Japan, Deutschland. Ihre Bevölkerungszahl und ihre Lebensnotwendigkeit sind die Grund-
44 Bereits in einem Reisebericht von 1928 ist das Australienkapitel mit »Raum ohne Volk« überschrieben, vgl. Edmund Kleinschmitt: Durch Werkstätten und Gassen dreier Erdteile. Das soziale Bild von Amerika, Ostasien und Australien, Hamburg 1928. 45 So steht es auf dem Klappentext von Alfred Ernst Johann: Känguruhs, Kopra und Korallen, Berlin 1936. 46 Ebd., S. 177. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 173.
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tatsachen, aus denen sich die Zukunft der Welt gestalten wird.«49 Und schon die erste Kapitelüberschrift reproduziert prominent die mittlerweile stereotyp gewordene Beschreibung vom »Volk ohne Raum – Raum ohne Volk«.50 Im Goldmann Verlag erschien 1938 ebenfalls ein Buch unter dem Titel »Australien. Kontinent der Gegensätze«, am deutlichsten zeigte sich aber Anton Zischka vom »unvollendeten Kontinent« inspiriert.51 Das Australienkapitel in seinem Buch »Japan in der Welt« beinhaltet zahlreiche ganz offensichtliche Plagiate, die der zeitgenössischen Kritik auch aufgefallen sind.52 Ohne die Stellen zu kennzeichnen, spricht Zischka etwa – ganz so wie Ross – von »Australien als schwachem Vorposten der weißen Rasse« oder kolportiert dieselben Geschichten mit nur geringfügigen Änderungen.53 Unverzeihlich sind freilich die Stellen, 49 Heinrich Hauser: Australien. Der menschenscheue Kontinent, Berlin 1939, S. 215. 50 Ebd., S. 5. Hausers zweiter Reisebericht ist ebenfalls der Suche nach Neuland gewidmet und macht Kanada als »Zukunftsland im Norden« aus: Heinrich Hauser: Kanada Zukunftsland im Norden, Berlin 1940. 51 Wilhelm Nowack: Australien. Kontinent der Gegensätze, Leipzig 1938. Dabei handelte es sich allerdings nicht um einen Reisebericht, sondern um ein erzählendes Sachbuch, dessen Darstellung zwischen dramatisierenden (»Leutnant Hicks setzte noch einmal das Fernrohr an«, S. 5) und historiografischen Passagen (»In diesen Jahren begann aber auch eine andere bedeutungsvolle Entwicklung«, S. 233) hin und her springt. 52 Anton Zischka: Japan in der Welt, Leipzig 1936. So schrieb damals der Verleger Wilhelm Goldmann seinem Autor: »N. B. Nachdem dieser Brief geschrieben war, kommt eine Besprechung aus dem Hamburger Tageblatt vom 23.10.37 die hier beigefügt ist. Auch da wieder der Hinweis auf Colin Ross. Mir wird schlecht, lieber Herr Zischka! Wenn das mal gut ausgeht!« Für eine weitergehende Analyse der Plagiatsproblematik vgl. Hahnemann (wie Anm. 1), Texturen des Globalen, S. 42–55. 53 Dabei ist nicht in jedem Fall genau zu sagen, ob Zischka wirklich abgeschrieben hat oder nur dieselben – naheliegenden – Anekdoten erzählt. Man vergleiche etwa folgende Stellen. Bei Ross ist zu lesen: »Da wurde ein reinblütiger Engländer nicht ins Land gelassen, weil er die Intelligenzprüfung nicht bestand. Als von englischer Seite an dem Beamten Kritik geübt wurde, weil er dem Einwanderer Französisch diktiert hatte, erklärte dieser in aller Harmlosigkeit, er hätte gerade Französisch gewählt, weil er wußte, daß der Engländer kein Französisch konnte!« (S. 265) Bei Zischka wird daraus: »Und so wird ein Paragraph der australischen Einwanderungsgesetze sehr eigentümlich ausgelegt. In diesem Gesetz wird vorgeschrieben, daß jeder Einwanderer einer Intelligenzprüfung zu unterziehen sei. Man diktiert also irgendetwas in irgendeiner Sprache. Und da nicht festgesetzt ist, in welcher das geschehen soll, läßt man Engländer französische Aufsätze schreiben und diktiert Deutschen in Japanisch.« (S. 206) Heinrich Hauser steht freilich nicht zurück und erzählt die Geschichte ein drittes Mal: »So muß der farbige Einwanderer sein Aufnahmegesuch in einer europäischen Sprache ausfüllen, die Wahl dieser Sprache steht dem Einwanderungsbeamten frei. Angenommen, es käme nun ein gebildeter Chinese daher, ein Mann, von dem man annehmen kann, daß er Englisch, Deutsch und Französisch spricht, so wird vielleicht von ihm verlangt werden, daß er
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an denen Zischka Beschreibungen, die von Ross stammen, leicht redigiert in seinen Text einfließen lässt und geschickt ein »Ich« in die Sätze strickt, um Glauben zu machen, dass er Australien wirklich als Reisender besucht hätte.54 Zischka versucht damit nicht nur seiner Person die nötige Glaubhaftigkeit und seinem Bericht die erwünschte Lebendigkeit einzuhauchen, sondern auch die von ihm gewählte Form des populären Sachbuchs unter Anknüpfung an das etabliertere Genre des Reiseberichts zu nobilitieren. Heinrich Hauser verfuhr im Übrigen ganz ähnlich. Ein zeitgenössischer Rezensent bemerkte giftig, »daß all die netten Anekdoten und Schilderungen, meist in unmittelbarer Ichform oder wörtlicher Übersetzung gebracht, aus nirgend genannten Quellen, z. B. Kirwan, An Empty Land, 1934, u. a. m. bezogen sind.«55 Jenseits der Plagiatsproblematik zeigt sich dabei vor allem eins: dass die Gattungen und Texte in
sein Gesuch unter den Augen der Behörde auf Tschechisch oder Russisch schreibe.« (S. 219) Auch in der »Landung in Australien« von Kisch ist die Diktatprobe, mehr noch als in den anderen Texten, ein zentrales Motiv. Der Unterschied ist freilich gewaltig: Während bei Ross, Zischka und Hauser die Einwanderungskontrolle (und die Anekdote) im Kontext der bevölkerungspolitischen Problematik, und damit aus der geopolitischen Vogelperspektive, verhandelt wird, inszeniert sich Kisch selbst als Opfer der Prozeduren. Seine Perspektive ist eine von unten. Vgl. Egon Erwin Kisch: Landung in Australien, in: ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Bd. 4, Berlin 1962, S. 328 f., S. 344 und S. 373 ff. 54 Wenn Zischka schreibt: »Es gibt auch heute, trotz der scharfen Krise, keine Dienstboten, ich sah Minister sich selber die Schuhe putzen […]« (wie Anm. S. 206) geht dies ganz offensichtlich auf ein Kapitel zurück, das bei Ross »Das Land ohne Dienstboten« heißt (S. 141 ff.). Auch die Beschreibung Newcastles (bei Zischka heißt es dort: »Wir fuhren von Sydney nach Newcastle […]«, S. 212) greift er auf das Kapitel »Im australischen Ruhrgebiet« (S. 174 ff.) von Ross zurück. 55 Wolfgang Carius, Rezension über Heinrich Hauser, Australien, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde 39. (1939), S. 154. Das heißt freilich nicht, dass Hausers Reisebericht – oder auch Zischkas Japan-Buch – schlechte Kritiken einfuhren. Beide Bücher wurden in der Regel sehr gut rezensiert. Über Hauser schrieb Karl Haushofer etwa: »Ähnlich wie bei den Pazifikbüchern von E. Johann ist in Hausers Australienbuch eine Weltschau von ungewöhnlichem Rang und großer geopolitischer wie ethnopolitischer Blickweite hinter prickelnder Journalistik getarnt und zeigt zuletzt in einer großartigen Prognose die Gefahren, die aus dem unbekümmerten Gegenwartstreiben und übersteigerten Lebensstandard eines verstädterten und dennoch menschenleeren Erdteils für seine Zukunft emporwachsen werden.« (in: Zeitschrift für Geopolitik 16 (1939), H. 3, S. 218. Auch im »Geographischen Anzeiger« hieß es: »Ausgezeichnete Abbildungen vervollständigen die gelungene Form der Darstellung aller kulturellen und geopolitischen Fragen Australiens in dichterischer Betrachtung. Allgemein und für die höhere Schule ist das Buch zu empfehlen.« (Geographischer Anzeiger 40 (1939) H. 16, S. 383).
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einem regen Austauschverhältnis stehen und gemeinsam an einer spezifischen Repräsentation der globalen Wirklichkeit arbeiten. In der Zwischenkriegszeit breitete sich das geopolitische Denken ohne Einschränkungen zwischen den Polen von Spannung und Information, Wissenschaft und Fantastik aus und lässt sich nicht auf einzelne Genres oder einen beschränkten Personenkreis festlegen. Sie erzeugt Erregungswellen, mit denen politische Ängste und Hoffnungen quer durch die Bevölkerung inszeniert werden. Geopolitik ist aus dieser Perspektive – und so ähnlich haben Haushofer und Konsorten sich das ja auch vorgestellt – etwas, das eine kollektive Aufmerksamkeitsfokussierung erzwingt. Gewissermaßen handelt es sich bei der populären Geopolitik um eine Form der eingeklammerten Selbstmobilisierung, der aber die Sehnsucht nach einer wirklichen, einer politischen – Entgrenzung eingeschrieben ist. Jenes von Spengler so geschätzte geflügelte Wort Hamlets: »In Bereitschaft sein ist alles«56 markiert auch den Ausgangspunkt des Interesses am Weltgeschehen im Fernen Osten. In seiner schon 1924 erschienen Studie über die »Geopolitik des pazifischen Ozeans«, am Schluss des Kapitels über die »Siedlungspolitik der Pazifikränder«, schreibt Haushofer, nachdem er auf die Gefahr hingewiesen hat, die die »Untervölkerung« Australiens für den Weltfrieden bedeuten könne: »Für diesen Zeitpunkt, wenn die nächste, die erste ganz große, den ganzen Pazifik umfassende Entladung und Entspannung eintritt, ist Bereitsein Alles – wenigstens ein Bereitsein durch Wissen, wenn schon nicht durch Können und Macht!«57 Dass die meisten Deutschen spätestens mit dem Dreimächtepakt 1940 der Überzeugung waren, durch Macht, Wissen und Können bereit für das ganz große Spiel der Weltpolitik zu sein, war nicht zuletzt der Geopolitik zu verdanken.
56 Oswald Spengler: Neue Formen der Weltpolitik, in: ders.: Politische Schriften, München 1933, S. 157–183, hier: S. 183. 57 Karl Haushofer: Geopolitik des pazifischen Ozeans. Studien über die Wechselbeziehungen zwischen Geographie und Geschichte, Berlin 1924, S. 281.
Heidi Hein-Kircher
Der gefährdete »Volkskörper« Die »um ihr Dasein kämpfenden Grenz- und Auslandsdeutschen« in Lexika der Weimarer Zeit
Die Sorge um den deutschen »Volkskörper« gehörte zu den zentralen politischen Topoi in der Weimarer Republik. Im metaphorischen Sinn sah man diesen an seinen äußeren Gliedern gefährdet und bezog sich damit vor allem auf die Lage der »Auslandsdeutschen« und insbesondere des »Grenzlanddeutschtums«. Dass durch die Gebietsabtretungen nach dem Ersten Weltkrieg Teile der deutschen Bevölkerung nun in an das Deutsche Reich angrenzenden Gebieten leben mussten, stieß in der Bevölkerung oft auf Ablehnung – angeheizt durch die völkisch orientierte Problematisierung in der öffentlichen Debatte. Gerade die Fokussierung auf die »Grenz(land)deutschen« führte in besonderer Weise dazu, dass Ostmitteleuropa, das heißt vor allem die Regionen Ostmitteleuropas mit deutscher Bevölkerung, als besondere Konfliktregion dargestellt und wahrgenommen wurde. In zahlreichen Diskursen wurde eine Bedrohungslage für das deutsche Volk konstruiert. Ohne eine nachhaltige Vermittlung des Bildes der »um ihr Dasein kämpfenden Grenz- und Auslandsdeutschen«1 und damit vom gefährdeten »Volkskörper« wäre jedoch die Wirksamkeit dieser versicherheitlichenden Konstruktion nicht gegeben gewesen.2 Einen wichtigen Beitrag hierzu leisteten Lexika, die scheinbar neutrale, letztlich aber politisch motivierte Wissensbestände vermittelten und gleichsam normierten. Zusätzlich fungierten sie als Wissensmultiplikatoren in dem Sinne, dass auf sie beispielsweise bei dem Verfassen von Schulbüchern oder auch von journalistischen Texten zurückgegriffen wurde. Sie reihten sich damit ein in die Vielzahl der als Schulunterrichtsmaterialien genutzten Medien, welche die zeit-
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Carl Petersen: Vorwort, in: Ders. (Hrsg.): Handwörterbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums [HGA]. Bd. 1, Breslau 1933, S. V. Hiermit greift der Beitrag auf konzeptionelle Überlegungen zurück, die im Rahmen der von der Verfasserin geleiteten Teilprojekte des SFB/TRR 138 »Dynamiken der Sicherheit« (A06) und des Loewe-Verbundes »Konfliktregionen im östlichen Europa« (B06) erarbeitet wurden.
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genössische Aktualität und Brisanz der Minderheitenproblematik, gerade hinsichtlich der »Grenz- und Auslandsdeutschen«, in der Bevölkerung vermitteln und so eine zentrale Erziehungs- und Bildungsaufgabe wahrnehmen sollten.3 Einen umfassenden Blick auf die sogenannten »Grenz- und Auslandsdeutschen« während der Weimarer Republik lässt die historische Forschung bislang vermissen, auch wenn sie in den zahlreichen Studien zur »Ostforschung« immerhin thematisiert werden. Wichtige Grundlagen für das Verständnis des deutschen Blickes auf Osteuropa legte kürzlich Christophs Kienemanns Studie über den deutschen kolonialen Osteuropadiskurs des Kaiserreiches. 4 Dagegen ist der Forschungsstand hinsichtlich des Verhältnisses zur deutschen Diaspora im europäischen Osten nicht so elaboriert, wie er auf den ersten Blick zu sein scheint. Denn die einschlägigen Studien konzentrieren sich auf die Haltung gegenüber den Deutschen im östlichen Europa und ihren rechtlichen Status, darunter insbesondere auf die Deutschen im Polen der Zwischenkriegszeit und damit auf die Minderheitenproblematik. Im Mittelpunkt steht damit nach wie vor der gesamtgesellschaftliche Revisionskonsens gegenüber der Friedensordnung und der Ostgrenze, was gleichzeitig den Fokus auf die in den Staaten lebenden deutschen Minderheiten erklärt.5 Hierüber wird deutlich, dass die Beurteilung des »Ostens« und der dort lebenden deutschsprachigen Bevölkerung gerade von nationalistisch-konservativen Kräften geprägt und die Geschichtswissenschaft hier zur Bestätigung einer politischen Haltung genutzt wurde.6 Die Zwischenkriegszeit ist bislang vor allem hinsichtlich der deutsch-baltischen Minderheit7 und der revisionistischen Politik gegenüber den deutschen
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Rudolf Jaworski: Die »Kunde vom Grenz- und Auslanddeutschtum« im Schulunterricht der Weimarer Republik, in: Cornelia Eisler/Silke Göttsch-Elten (Hrsg.): Minderheiten im Europa der Zwischenkriegszeit. Wissenschaftliche Konzeptionen, mediale Vermittlung, politische Funktion, Münster 2017, S. 120–132, hier: S. 119. Christoph Kienemann: Der koloniale Blick nach Osten. Osteuropa im Diskurs des Deutschen Kaiserreichs von 1871, Paderborn 2018. O. V. [Deutscher Bundestag. Wissenschaftliche Dienste]: Deutsche Minderheiten in der Zwischenkriegszeit, o. O. [Berlin] 2009, PDF online verfügbar: https://www.bundestag. de/blob/411708/72a5544c10ee7ae5f13d3aee 9badbb80/wd-1-093-09-pdf-data.pdf (zuletzt abgerufen am: 11. Dezember 2018). Thomas Lorenz: Weltgeschichte ist das Weltgericht! Der Versailler Vertrag in Diskurs und Zeitgeist der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 2008; Guntram H. Herb: Under the Map of Germany. Nationalism and Propaganda 1918–1945, London/New York 1997. Karl-Heinz Grundmann: Deutschtumspolitik zur Zeit der Weimarer Republik. Eine Studie am Beispiel der deutsch-baltischen Minderheit in Estland und Lettland, Hannover-Döhren 1977.
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Bevölkerungsgruppen auch als Problem der Außenpolitik untersucht worden.8 Ein prägendes Element für das Weimarer Verhältnis zu den »Grenzlanddeutschen« bildete der Diskurs um den Verlauf der Ostgrenzen.9 Auch die Frage des Einflusses der nationalsozialistischen Propaganda auf die Deutschen in Polen und in der Tschechoslowakei wurde immer wieder behandelt.10 Meist beziehen sich wissenschaftliche Studien zur deutschen Diaspora in (anderen Teilen) der Welt auf die Phase der Weimarer Republik; hierbei stehen vor allem deutsche Institutionen wie der Verein für das Deutschtum im Ausland ( VDA) im Vordergrund.11 Obwohl die »geistige und politische Lage des deutschen Volkes«12 in der Weimarer Zeit eine rege wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Publikationstätigkeit hervorrief, hat die neuere historische Forschung und auch die begleitenden, das Deutschen-Bild im Bewusstsein der Weimarer Bevölkerung verankernden Diskurse bisher nicht umfassend betrachtet.13 Die
8 Z. B. Jerzy Kochanowski/Meike Sach (Hrsg.): Die »Volksdeutschen« in Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei. Mythos und Realität, Osnabrück 2006. 9 Vanessa Conze: »Unverheilte Brandwunden in der Außenhaut des Volkskörpers«. Der deutsche Grenz-Diskurs der Zwischenkriegszeit (1919–1930), in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.): Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900– 1933, München 2007, S. 21–48; dies.: Die Grenzen der Niederlage. Kriegsniederlagen und territoriale Verluste im Grenz-Diskurs in Deutschland (1918–1970), in: Horst Carl/ Hans-Henning Kortüm/Dieter Langewiesche/Friedrich Lenger (Hrsg.): Kriegsniederlagen. Erfahrungen und Erinnerungen, Berlin 2004, S. 163–184; Agnes Laba: Die Grenze im Blick. Der Ostgrenzen-Diskurs der Weimarer Republik, Marburg 2019; Juliane Haubold-Stolle: Mythos Oberschlesien. Der Kampf um die Erinnerung in Deutschland und Polen 1919–1956, Osnabrück 2008. 10 Zum Beispiel Detlef Brandes: »Umvolkung, Umsiedlung, rassische Bestandsaufnahme«. NS-Volkstumspolitik in den böhmischen Ländern, München 2012; Pia Nordblom: Für Glaube und Volkstum. Die katholische Wochenzeitung »Der Deutsche in Polen« (1934–1939) in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, Paderborn 2000. 11 Nikolaus Barbian: Auswärtige Kulturpolitik und »Auslandsdeutsche« in Lateinamerika 1949–1973, Wiesbaden 2014; Michael Fahlbusch: »Wo der deutsche … ist, ist Deutschland!«. Die Stiftung für Deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig 1920– 1933, Bochum 1994. Eine frühe, kritische Studie aus Sicht eines DDR-Historikers: Kurt Possekel: Studien zur Politik des Vereins für das Deutschtum im Ausland (VDA) in der Weimarer Republik. Rostock 1967; Heinrich Volberg: Auslandsdeutschtum und Drittes Reich. Der Fall Argentinien, Köln/Wien 1981, fokussiert sich als Zeitzeuge auf die nationalsozialistischen Vereinigungen in Argentinien. 12 Petersen, Vorwort (wie Anm. 1), S. V. 13 Im Rahmen der Wissenschaftsgeschichte zur Weimarer Republik siehe Cornelia Eisler: Minderheiten als volkskundliches Kompetenzfeld? Das Konzept des »Grenz- und Auslandsdeutschtums« in der Weimarer Republik, in: dies. et al., Minderheiten (wie Anm. 3), S. 43–66. In den 1970er Jahren entstanden einige kleinere Artikel, denen aber keine
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deutschsprachige Diaspora, das »Grenz- und Auslandsdeutschtum«, wurde jedoch nicht allein in der breiten Publizistik problematisiert, sondern ebenfalls in auf wissenschaftlichen Diskursen beruhenden, letztlich als »objektiv« geltenden Nachschlagewerken, kartografischen Werken, wissenschaftlichen Zeitschriften und Schulbüchern. Werten Studien vor allem propagandistische Quellen wie Postkarten, Presseerzeugnisse und kartografische Werke aus, so hat die historische Forschung Nachschlagewerke und Lexika14 hinsichtlich dieser Fragestellung noch nicht analysiert.15
Fachlexika zum »Grenz- und Auslandsdeutschtum« Bereits 1922 legte der Begründer des Leipziger Instituts für Auslandskunde und Auslandsdeutschtum Hugo Grothe einen »politisch-geographische[n] Führer für den gebildeten Laien« mit dem Titel »Staaten und Völker nach dem Weltkrieg« vor,16 der 1932 unter dem Titel »Grothes Kleines Handwörterbuch des Grenz- und Ausland-Deutschtums« in erweiterter Fassung erschien.17 Beide Werke sind wegen ihrer Zielsetzung von besonderer Bedeutung für die Vermittlung des Bildes über die »Grenz- und Auslandsdeutschen«. Ersteres sollte auf »politisch-geographischer Grundlage« nicht nur Informationen über die
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umfassenderen Analysen folgten: Rudolf Jaworski: Der auslandsdeutsche Gedanke in der Weimarer Republik, in: Annali dell’ Instituto storico italo-germanico in: Trento IV (1978), S. 369–386; John Hiden: The Weimar Republic and the Problem of the Auslandsdeutsche, in: Journal of Contemporary History 12 (1977), S. 273–289. Eine Ausnahme bildet das hier behandelte Handwörterbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums (HGA): Willi Oberkrome: Geschichte, Volk und Theorie. Das »Handwörterbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums«, in: Peter Schöttler (Hrsg.): Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt a. M. 1997, S. 104–127; Eisler, Minderheiten (wie Anm. 13). Grundlagen zur Wirksamkeit von Enzyklopädien und Lexika wurden am Beispiel des 19. Jahrhunderts erarbeitet: Anna Kochanowska-Nieborak: Das Polenbild in Meyers Konversationslexika des »langen« 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. u. a. 2010; vgl. auch Ulrike Spree: Das Streben nach Wissen. Eine vergleichende Gattungsgeschichte der populären Enzyklopädie in Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert, Tübingen 2000. Hugo Grothe: Staaten und Völker nach dem Weltkrieg, Heidelberg 1922, S. VI. Hugo Grothe: Grothes Kleines Handwörterbuch des Grenz- und Ausland-Deutschtums, München/Berlin/Oldenburg 1932.
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»Kunde fremder Länder und Völker, ihres Wesens und Machtgrundlagen darstellen, zugleich aber die Unnatürlichkeit der Rolle vergegenwärtigen, die durch die von der Entente verfügten Gebietsabtretungen, durch die Entrechtungen der vom deutschen Reichskörper abgesplitterten heutigen Grenzlanddeutschen und der in ihrem kulturellen Dasein gefährdeten Auslandsdeutschen wie durch die unter der Maske der sogenannten ›Reparationsleistungen‹ auferlegte wirtschaftliche Verkümmerung und Versklavung dem deutschen Volk seit 1918 aufgezwungen wurde.«18 Ging es darum, die Revisionsforderungen zu begründen, so sollte »Grothes kleines Handwörterbuch« explizit der »heranwachsenden Jugend« Wissen über die deutsche »Geistes- und Seelengemeinschaft« vermitteln. Das »Flaggschiff« der zahlreichen Publikationen über das »Grenz- und Auslandsdeutschtum« bildete das in drei Bänden in der Zwischenkriegszeit erschienene, jedoch nicht abgeschlossene »Handwörterbuch des Grenzund Auslandsdeutschtums«19 (Lemmata Aachen – Massachusetts). Dieses Nachschlagewerk wurde seit 1926/27 von der 1926 gegründeten Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung konzipiert und vom Reichsinnenministerium kofinanziert. Die Autoren bildeten ein Netzwerk, das an den landesgeschichtlichen Instituten und vor allem in den »volksdeutschen Forschungsgemeinschaften« beheimatet war.20 Sie formten hierüber schließlich die personelle Grundlage für die seit den ausgehenden 1920er Jahren als »Volksgeschichtsschreibung« bezeichnete Teildisziplin.21 Das Werk galt
18 Grothe, Staaten (wie Anm. 16), S. VI. 19 Der Band 1 des HGA erschien in neun Lieferungen vom 20. Mai 1933 bis 20. Juli 1935. Die ersten drei Lieferungen (bis S. 240) erfolgten noch im Jahr 1933 und sind somit vermutlich weniger von der nationalsozialistischen Ideologie beeinflusst als die darauffolgenden Lieferungen und Bände. 20 Carl Petersen/Otto Scheel (Hrsg.): Handwörterbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums unter Mitwirkung von 800 Mitarbeitern in Verbindung mit 40 Teilredaktionen. Probelieferung, Breslau 1932, beinhaltet eine Übersicht aller Mitwirkenden, deren Vornamen abgekürzt sind und deren berufliche Position genannt wird. Sie waren vor allem Universitätsprofessoren, übten aber auch andere Professionen wie Pastor, Museumsdirektor etc. in den betreffenden Regionen aus. Nur eine genaue Recherche aller 800 Personen ließe eine Auskunft zu, in welchem Rahmen überhaupt Frauen beteiligt waren. 21 Agnes Laba: Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung, Leipzig, in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012. Online verfügbar: http://www.ome-lexikon.uni-oldenburg.de/53872.html (zuletzt abgerufen am: 1. April 2018); Oberkrome, Geschichte (wie Anm. 14), S. 108; Carl Petersen: Über die geistigen und politischen Grundlagen der Arbeit am HGA. Erster Bericht der
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als »Kristallisationspunkt zeitgenössischer ethnographischer Anstrengungen«, dessen Grundlagen zwar in der Weimarer Zeit gelegt wurden, das aber dann im Laufe des Nationalsozialismus den ideologischen Anforderungen angepasst wurde.22 Als umfangreiches Kompendium des Wissens der ausgehenden 1920er und 1930er Jahre über die Deutschen in der gesamten Welt, ihre Kultur, Wirtschaft und politische Lage sollte es mit 5–6.000 Lemmata23 eine interessierte Öffentlichkeit informieren und zugleich als »einheitliches Lese- und Erziehungswerk dienen«.24 Sein übergeordnetes politisches Ziel war es, »dem Ringen Deutschlands um seine künftige nationale Gestaltung [zu] dienen« und damit »im Grenz- und Auslandsdeutschtum die volklichen, geistigen und geschichtlichen Kräfte« dort aufzeigen, »wo das Deutschtum im Kampf um die Bewahrung seiner Art und Sitte und seines von den Vätern ererbten Bodens steht, [… um] die geistigen Kräfte zu stärken für dieses Ringen.«25 So erörterten Lemmata etwa das Deutschtum in Argentinien, aber auch in einzelnen europäischen Regionen wie beispielsweise im Banat und in außerhalb der Weimarer Republik gelegenen Städten wie Graz.26 Während sich das »Handwörterbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums« an einen spezialisierten Leserkreis richtete, berücksichtigten die beiden großen und bekanntesten deutschen Enzyklopädien, der »Große Brockhaus« und »Meyers Lexikon« das deutsche »Grenz- und Auslandsdeutschtum« im Rahmen ihres umfassenden Anspruchs in eigenen Lemmata bzw. Abschnitten in den Länderartikeln. Die auch als »Weimarer Brockhaus« bezeichnete 15. Auflage der Enzyklopädie war bereits in der Vorkriegszeit geplant worden und
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Hauptredaktion, Sonderdruck: Deutsche Hefte für Volks- und Kulturbodenforschung 3 (1932), H. 6, S. 1. Petersen (ebd.) verweist darauf, dass zwischenzeitlich die Arbeit am HGA geruht habe, weil es 1929/30 zu persönlichen, aber von »außen herangetragenen« (also politisch bedingten) Konflikten gekommen sei, die er als »Symptom des völligen inneren Zerfalls unseres Volkes« bewertet, der »innerhalb der auf wissenschaftliche Zusammenarbeit angewiesenen Kreise besonders verderbliche Formen angenommen« habe. Nach Übernahme der Redaktionstätigkeit habe die neue Hauptredaktion zunächst eine »einheitliche geistige Grundlage« schaffen müssen (ebd., S. 2), d. h. die Annahme eines »einheitlichen deutschen Volkes« durchsetzen müssen (ebd., S. 2 f.). Oberkrome, Geschichte (wie Anm. 14), S. 108. Petersen, Grundlagen (wie Anm. 21), S. 2. Insgesamt waren etwa 800 Mitarbeiter mit 46 fachlichen und regionalen Teilredaktionen und ein Redaktionsbeirat an dem Werk beteiligt. Petersen, Vorwort (wie Anm. 1), S. VII. Petersen, Grundlagen (wie Anm. 21), S. 4. Petersen, Vorwort (wie Anm. 1), S. V; vgl. auch Grothe, Staaten (wie Anm. 16), S. 30: »Kampf ums Dasein«. Carl Petersen: HGA. Bd. 3, Breslau 1938, S. 81–85.
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umfasste zwanzig Bände.27 Sie erschienen zwischen 1929 und 1935; die sich durch den nationalsozialistischen Einfluss ergebenden Veränderungen wurden in einer seit 1939 (und nur im ersten Band) erscheinenden Auflage umgesetzt. Dennoch wiesen bereits die seit dem Januar 1933 erscheinenden Bände 14 bis 20 (ab Osu – Por) erste, aber noch nicht durchgängig durchgeführte Anpassungen hinsichtlich der neuen ideologischen Prämissen auf, die auch die Auswahl der Lemmata betrafen.28 Die siebte Auflage von »Meyers Lexikon« erschien zwischen 1924 und 1930, die Ergänzungsbände bis 1935.29 Beide Enzyklopädien hatten pro Band eine hohe Auflage von mehreren zehntausend Exemplaren und waren im Wesentlichen in öffentlichen Büchereien und den Privatbibliotheken bildungsbewusster Bürger verbreitet. Ihr Renommee führte letztlich dazu, dass die Inhalte dieser Nachschlagewerke gleichsam ex cathedra ihre Botschaften vermitteln konnten, weil sie das repräsentative Wissen ihrer Zeit darstellten. Durch ihre langsame und aufwendige Entstehungszeit nahmen ihre Lemmata eine selektive und normative Dimension an, die nicht nur die jeweilige Gegenwart abzubilden, sondern auch zukunftsgerichtet Haltungen zu vermitteln versuchten. Zunächst kann man grundsätzlich festhalten, dass Lexika in besonderer Weise durch ihren umfassenden, wissenschaftlich fundierten Ansatz und ihren sich an das Bildungsbürgertum und Wissensmultiplikatoren richtenden Anspruch eine Deutungshoheit von Sach-, Ereignis- und Personenzusammenhängen konstruieren. Die Herausgeber dieser Enzyklopädien verstanden sie als Mittel zur »Flüssigmachung und Popularisierung der wissenschaftlichen, künstlerischen und technischen Ergebnisse, nicht für die geschäftliche Praxis, sondern für die Befriedigung und Förderung der allgemeinen Bildung«.30 Noch deutlicher und in der Diktion den neuen politischen Erfordernissen angepasst begründet das Vorwort zum ersten Band des Handwörterbuchs seine Intentionen: Es solle zur »Einheit der Anschauung unserer deutschen Volksgeschichte und der Lebensgesetze unserer nationalen Entwicklung hinführen«.31 Ähnliche Absichten werden in den beiden großen Enzyklopädien deutlich. Damit stehen sie in deutscher Tradition: Bereits die deutschen Konversationslexika des 19. Jahrhunderts zeichneten sich im Gegensatz etwa zu den britischen
27 Der Große Brockhaus [GB]. Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden, 15. Aufl. Leipzig 1928–1935. 28 Thomas Keiderling: F. A. Brockhaus 1905–2005, Leipzig/Mannheim 2005, S. 100–107. 29 Meyers Lexikon [ML], 12 Bde., Leipzig 1924–1930. 30 GB, Vorrede des 15. Bandes der 11. Aufl., S. V. 31 Petersen, Grundlagen (wie Anm. 21), S. 4.
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dadurch aus, dass sie ein geringeres Interesse an naturwissenschaftlichen Fragen zeigten als an aktuellen historisch-politischen. Für die Nutzer der Nachschlagewerke, die sich kurz und knapp in einem scheinbar »neutralen« auf umfassende Information über wichtige Lebensbereiche ausgelegten Werk informieren wollten, wurden diese Intentionen nicht explizit deutlich, sofern sie nicht die jeweiligen »Vorreden« berücksichtigten.32 (Konversations-) Lexika sollten also nicht nur das Wissen der Zeit abbilden, sondern zugleich auch die Wertvorstellungen und Maßstäbe der Zielgruppe, der »Gebildeten«, und nicht nur der »Gelehrten«, spiegeln und formen.33 Sie nahmen daher eine »besondere Nähe zur Entwicklung der ›öffentlichen Meinung‹ und zur ›Tagespresse‹« an, um den »kleinsten gemeinsamen Nenner desjenigen Wissens zu bestimmen, das für den gesellschaftlichen Verkehr unabdingbar ist.«34 Durch diese Orientierungsfunktion wurden die Lexika zu weit verbreiteten Werkzeugen der Wissens- und letztlich auch der Stereotypenvermittlung.35 Besonders bei der Definition und Normierung des Fremden und Unbekannten, also dem, was nachgeschlagen werden musste, zeigen sich die Einflussmöglichkeiten einer Enzyklopädie: Nicht nur, dass in den Lemmata ein bestimmter Blick auf das Fremde eingenommen wurde, auch walten Autoren mit der Länge und Auswahl der Texte über den »Wert« eines Wissensbestandes. Dies traf auch auf die Haltung gegenüber den Deutschen im europäischen Osten und in der Welt zu. Die Analyse, die diesem Beitrag zugrunde liegt, konzentriert sich auf die Lemmata der »großen« Enzyklopädien, die sich mit der politischen Entwicklung nach 1918 und den deutschsprachigen Bevölkerungsgruppen auseinandersetzen. Die entsprechenden Artikel wurden, sofern vorhanden, mit denen des »Handwörterbuchs des Grenz- und Auslandsdeutschtums« gespiegelt, um nicht nur das als wissenswert eingestufte, sondern auch die interpretative Haltung dieser Quellengattung zum Deutschtum im Osten und in der Welt herauszufiltern. Hierzu müssen zunächst Begrifflichkeiten wie »Grenz-« und »Auslandsdeutschtum« diskutiert werden, die als ideelle Grundlage für die Aufnahme als Lemma gewertet werden. Daran anschließend wird die Darstellung der Deutschen im europäischen Osten und exemplarisch in einigen Siedlungsgebieten weltweit diskutiert, indem auf wesentliche übergreifende Probleme, die Darstellung und damit das Verständnis von nationalen Minderheiten und
32 Kochanowska-Nieborak, Polenbild (wie Anm. 15), S. 35–38. 33 Ebd., S. 60–61. So auch Petersen, Grundlagen (wie Anm. 21), S. 1: Die Form solle der »wissenschaftlichen und politischen Lage der Gegenwart« genügen. 34 Zitate: Spree, Streben (wie Anm. 15), S. 37 und S. 60. 35 Kochanowska-Nieborak, Polenbild (wie Anm. 15), S. 11.
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Minderheitenschutz allgemein und dem deutschen Beitrag für die jeweilige Kultur des Landes Bezug genommen wird.
Zur Entwicklung von Auffassungen des »Auslandsdeutschtums« Im Zuge der deutschen Einigungsbewegung erwachte Mitte des 19. Jahrhunderts auch das Interesse an der deutschen Diaspora in der Welt, an den »Deutschen im Ausland« bzw. den »Auslandsdeutschen«. Ein erstes »Gesamtbild des deutschen Nationallebens und der verschiedensten Seiten des deutschen Charakters« zeichnete bereits 1845 Wilhelm Stricker (1816–1891) anlässlich der deutschen Auswanderung und den sich bildenden deutschen Sprachinseln nach.36 Dieses Interesse verblasste jedoch nach der Reichsgründung, während gerade das östliche Europa als kolonialer Raum diskursiv konstruiert wurde. Den dort lebenden Deutschen wurde eine besondere zivilisatorische Bedeutung zugeschrieben und ein kulturell, seit der Jahrhundertwende zunehmend biologisch begründeter Gegensatz zu den Slawen konstruiert. So konnten auch Bedrohungsängste geschürt werden.37 In dieser Zeit wurde das Thema »Auslandsdeutsche« lediglich im Rahmen der kirchlichen Diasporafürsorge durch Organisationen aufgegriffen, die sich um die Deutschen in der Welt, insbesondere durch Schulgründungen, kümmerten. Gerade der Alldeutsche Verband, der 1894 aus dem drei Jahre zuvor gegründeten Allgemeinen Deutschen Verband hervorgegangen war, vertrat mit seinen völkischen und antisemitischen Zielsetzungen eine koloniale Expansion und eine Stärkung der deutschen Identität im Ausland, um dem Weltmachtstreben des Deutschen Reiches zur Geltung zu verhelfen. Unter seinem Einfluss wandelte sich das Verständnis von den »Auslandsdeutschen«. Nunmehr wurden unter diesem Begriff nicht nur die im Ausland lebenden Personen deutscher Staatsangehörigkeit subsumiert, sondern auch die emigrierten Deutschen und ihre Nachkommen, die ihre deutsche Staatsangehörigkeit aufgegeben hatten.38 Allmählich setzte sich unter dem Einfluss der Deutschtumsverbände sowie den Bestimmungen des Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913 eine Ethnisierung des Verständnisses von deutscher Staatsangehörigkeit im
36 Vgl. Wilhelm Stricker: Die Verbreitung des deutschen Volkes über die Erde, Leipzig 1845, S. VI. 37 Hierzu ausführlich Kienemann, Blick (wie Anm. 4), S. 55–232 (Kap. 3), S. 239 ff. 38 Cornelia Eisler: Lemma Auslandsdeutschtum, in: Ostmitteleuropa-Lexikon. Online verfügbar: http://www.ome-lexikon.uni-oldenburg.de/begriffe/auslandsdeutschtum/ (zuletzt abgerufen am: 15. März 2018).
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Sinne völkischen Denkens durch.39 Trotz unterschiedlichen Migrationshintergrundes, trotz diverser Herkunftsorte und höchst unterschiedlicher kultureller Einflüsse in den aufnehmenden Ländern und Regionen entwickelte sich die Vorstellung von einer vergleichsweise »homogene[n], spezifisch deutsche[n] Kultur außerhalb des Staates«40. Die Bezeichnung »Auslandsdeutsche« deutete somit nicht nur einen – faktisch nicht vorhandenen – statischen Charakter an, um eine geistige Einheit aller Deutschen zu beschwören. Sie bezog sich auch auf die Herkunftsländer dieser Personen und den Gebrauch der deutschen Sprache. 41 Eine nicht unwichtige Rolle spielten nicht nur die in Deutschland ansässigen Deutschtumsverbände, sondern auch diejenigen vor Ort, die sich in die Reihe zahlloser, auch von anderen Nationalitäten gegründeten »Schutzvereine« zur Abwehr einer Entnationalisierung einreihten. 42 Die deutschen Auswanderer wurden durch diese Entwicklung immer öfter als »Auslandsdeutsche« wahrgenommen, so dass sie sich zunehmend von der nicht-deutschsprachigen Umgebungsbevölkerung abgrenzten. Damit formte der Begriff eine »Vorstellung einer kollektiven sprachlichen, nationalen und vermeintlich ›deutschstämmigen‹, jedoch nichtstaatlichen Gemeinschaft außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches«. 43 Es wird deutlich, »[that] the Auslandsdeutsche problem of early twentieth century Europe was rooted in the conflicts engendered by the growth of the German National State in the nineteenth century. The tug of war between loyalties to the new ›Fatherland‹ and their current ›homeland‹ was experienced in varying degrees by Germans living outside the Reich and, inevitable, the process became more painful in the decade or so of international conflict leading up to World War One. […] The surge of anti-German feeling following the war left the Auslandsdeutsche in an exposed and threatened position.«44
39 Dieter Gosewinkel: Staatsangehörigkeit in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert, in: Christoph Conrad/Jürgen Kocka (Hrsg.): Staatsbürgerschaft in Europa. Historische Erfahrungen und aktuelle Debatten, Hamburg 2001, S. 48–62, hier: S. 58. 40 Eisler, Auslandsdeutschtum (wie Anm. 38). 41 Bradley Naranch: Inventing the »Auslandsdeutsche«. Emigration, Colonial Fantasy, and German national Identity, 1848–1871, in: Eric Ames/Marcia Klotz/Lora Wildenthal (Hrsg.): Germany’s Colonial Pasts, Lincoln 2005, S. 21–40. 42 Vgl. Peter Haslinger (Hrsg.): Schutzvereine in Ostmitteleuropa. Vereinswesen, Sprachenkonflikte und Dynamiken nationaler Mobilisierung 1860–1939, Marburg 2009. 43 Eisler, Auslandsdeutschtum (wie Anm. 38). 44 Hiden, Problem (wie Anm. 13), S. 273.
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Deutscher Nationalismus und Expansionsdrang sowie das Wirken entsprechender Organisationen vor und während des Ersten Weltkriegs hatten also dazu geführt, dass die »Auslandsdeutschen« in den jeweiligen Ländern sich verstärkt als solche wahrnahmen – auch indem sich andere Migrantengruppen von ihnen abgrenzten. Dieser Prozess verstärkte sich, als die neuen Grenzziehungen nach 1918 dazu führten, dass nun in Gebieten außerhalb der Grenzen der Weimarer Republik weitere deutschsprachige Gruppen (»Minderheiten«) lebten. Sie galten nicht nur als »Auslandsdeutsche«, sondern wurden oft als »Grenzlanddeutsche« bezeichnet. 45 Ihre Werte und Bedeutung seien, so Hugo Grothe, »den Reichsdeutschen erst seit der Niederlage im Weltkriege, und vor allem durch die Bestimmungen des Vertrags von Versailles, zur rechten Erkenntnis gekommen«. 46 Gerade die so genannte »Volks- und Kulturbodenforschung« und damit die sich entwickelnde »Ostforschung« trugen somit dazu bei, dass diese Tendenz durch akademische Bemühungen untermauert wurde. Wissenschaftlich legitimiert fanden sich damit politische Ziele mit der Arbeit des 1917 mit privaten Mitteln gegründeten Deutschen Auslands-Institutes47 in Stuttgart, aber auch durch das zunächst als Deutsche Burse bezeichnete und 1918 gegründete Institut für Grenz- und Auslandsdeutschtum an der PhilippsUniversität Marburg sowie die als Forschungseinrichtung 1926 gegründete und 1931 aufgelöste Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig. 48 Gerade die »Ostforschung« stellte sich in den Dienst des »Volkstumskampfes«. Jedoch gelang es dem Auswärtigen Amt in der Weimarer Zeit nicht, die verschiedenen bestehenden Organisationen bzw. Verbände zusammenzuführen. Gleichwohl brachte der Versuch, so John Hiden, drei wichtige Resultate hervor: So bemühten sich private Organisationen beispielsweise um bessere Zusammenarbeit. 49 Die Reichsregierung habe diese Bemühungen unterstützt und beeinflusst, um mögliche Konflikte zwischen diesen und der auswärtigen Regierungspolitik zu vermeiden. Außerdem seien einige »private« Organisationen tatsächlich in »verdeckte« staatliche Körperschaften umgewandelt
45 Ebd. vgl. auch Grothe, Staaten (wie Anm. 16), S. 102. 46 Ebd., S. 102 f. 47 Dessen Aufgaben bestanden einerseits in der Dokumentation aller deutschen Gruppen im Ausland und andererseits in der Beratung von Emigrationswilligen. Ernst Ritter: Das Deutsche Ausland-Institut in Stuttgart 1917–1945. Ein Beispiel deutscher Volkstumsarbeit zwischen den Weltkriegen, Wiesbaden 1976. 48 Laba, Stiftung (wie Anm. 21). 49 Hiden, Problem (wie Anm. 13), S. 274.
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worden.50 Die Grenz- und Auslandsdeutschen waren darüber zu einem zentralen außen- resp. kulturpolitischen Thema geworden, das wissenschaftlich behandelt werden konnte. Dieses Anliegen und das sich daraus ergebende Bild dieser Bevölkerungsgruppen sollte auch in der gesamten Bevölkerung verbreitet und verankert werden, um tatsächlich eine legitimierende Wirkung für eine auf die »Grenz- und Auslandsdeutschen« hin ausgerichtete auswärtige Politik51 im Sinne eines triadic nexus erhalten zu können.52
Die Darstellung des Grenz- und Auslandsdeutschtums Um dieses Ziel zu erreichen, galt es, die inhaltliche »Botschaft« in Verbindung mit der Präsentation der wichtigsten Definitionen und Fakten zu leisten. Nur so könne sie der »Bewußtwerdung und Bewußtmachtung des deutschen Menschen […] mit den Mitteln des Geistes und der Wissenschaft« dienen.53 Das »Handbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums« wich jedoch einer Definition im Rahmen der Lemmata aus. So verwies der Eintrag »Auslandsdeutschtum«54 auf den Begriff »Grenz- und Auslandsdeutschtum«55, dieser (nur unter »Grenzdeutschtum«56) wiederum verwies auf die »Gesamtübersicht am Schluss des Werkes«, die jedoch nicht mehr erschienen ist. Ein Blick auf die verschiedenen Lemmata der Bände macht aber deutlich, dass »Grenz- und Auslandsdeutschtum« in einem umfassenden sprachlichen Sinn gesehen wurde, dass also beispielsweise über die Deutschen im zu Österreich gehörenden Kärnten ebenso berichtet wurde wie über die deutschen Emigranten in Detroit oder deutsche Millionäre und Ordensschwestern auf Borneo. Gerade die Beiträge über die ostmitteleuropäischen deutschsprachigen Gruppen spiegelten das Stereotyp wieder, wonach sich in ihnen eine ethnisch authentische Lebenswelt ohne Überlagerungen der (westlichen) Moderne erhalten habe und sie daher zu einem »Nukleus einer nationalen Wiedergeburt« werden könnten.57 50 Ebd. 51 Deutlich wird dies bei Helmut Pieper: Die Minderheitenfrage und das Deutsche Reich 1919–1933/34, Hamburg 1974. 52 Rogers Brubaker: Nationalism reframed. Nationhood and the national question in the New Europe, Cambridge 1996, S. 67 ff. 53 Petersen, Vorwort (wie Anm. 1), S. V. 54 HGA, Bd. 1, S. 163. 55 HGA, Bd. 3 (wie Anm. 24), S. 97. 56 Ebd., S. 85. 57 Oberkrome, Geschichte (wie Anm. 14), S. 107.
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»Auslandsdeutschtum«, »Deutschtum im Ausland« und »Grenzlanddeutschtum« wurden gleichzeitig auch zu Lemmata in den Weimarer Ausgaben beider großer Enzyklopädien. Der »Große Brockhaus« definierte das Auslandsdeutschtum in einem mehrseitigen Beitrag als »die Gesamtheit der Deutschen, die ihre Heimat außerhalb des Deutschen Reiches haben. Als Auslandsdeutscher ist anzusehen, wer im Ausland lebt, deutsch spricht und seine deutsche Abstammung betont.« Der Eintrag ging von insgesamt 35–40 Mio. Auslandsdeutschen aus, die sich in drei Gruppen unterteilten: 1. diejenigen, die durch die Friedensverträge vom Deutschen Reich und Österreich »abgetrennt« wurden, 2. die »bodenständigen Deutschen« aller übrigen außerdeutschen Länder, namentlich der überseeischen mit einer Sonderrolle der ehemaligen deutschen Kolonisten und 3. die »Bürger des Deutschen Reiches, die außerhalb seiner polit. Grenzen«58 wohnten. In eigenen Unterabschnitten wurde noch auf die zentrale Bedeutung von deutschen Auslandsschulen für die »Erhaltung des D. i. A.« eingegangen.59 Veränderungen in der Definition waren in dem 1935 erschienenen Ergänzungsband des »Großen Brockhaus« erkennbar. Das Deutschtum im Ausland wurde nun definiert sowohl als die »eigentlichen Auslandsdeutschen, die Bürger fremdvölkischer Staaten sind, als auch die Reichsdeutschen im Ausland, die als im staatl. Ausland lebende Bürger des Deutschen Reiches eine Sonderstellung einnehmen.«60 Hiernach zählte man zu den »Auslandsdeutschen […] auch die deutschen Volksgenossen, deren Wohngebiet wohl zum geschlossenen deutschen Sprachgebiet Mitteleuropas gehört, die aber unter fremdvolkischer [sic!] Staatshoheit stehen, so die Deutschen in Elsaß-Lothringen, Eupen-Malmedy, Nordschleswig, im Memelgebiet, in Pommerellen, Posen, Ostoberschlesien, in den Sudetenländern, in Westungarn, Untersteiermark und Südtirol […]. Eine besondere Stellung nehmen die deutschen Ansiedler in den ehemaligen deutschen Kolonien ein (Kolonialdeutsche).«61 Das Lemma informierte anschließend über die wichtigsten deutschen Siedlungsgebiete nicht nur im östlichen Europa und den durch den Versailler Vertrag verlorenen westlichen Gebieten, sondern auch in Australien, Kanada und den Vereinigten Staaten von Amerika, wo die Existenz des Deutschtums bedroht werde. So könnten in Australien nur ca. die Hälfte der Deutschen als »deutschbewusst« angesehen werden und in den USA seien nur drei von 58 59 60 61
Zitate GB, Bd. 4, 1929, S. 717–720, hier: S. 717. Ebd., S. 720; vgl. auch Grothe, Staaten (wie Anm. 16), S. 29 f. (s. v. Auslandsdeutschtum). GB, Ergänzungsband 21, Leipzig 1935, S. 240–241; vgl. auch ML, Bd. 3, 1925, S. 27–41. GB, Ergänzungsband 21, 1935, S. 240.
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acht Millionen Deutschen tatsächlich als »volksbewusst anzusprechen«. Explizit verwies die Enzyklopädie schließlich noch auf das Verbot des deutschsprachigen Unterrichts nach dem Weltkrieg in Kanada, wodurch das Deutschtum »jetzt stärker gefährdet« sei. Lediglich in Argentinien verlaufe die Entwicklung wegen der Neutralität des Landes im Weltkrieg günstiger, so dass sich das deutsche Schulwesen dort »ausgezeichnet entwickeln« könne.62 Während »Meyers Lexikon« in der siebten und selbst in der achten Auflage von 1938 über kein Lemma zu den »Grenzlanddeutschen« verfügte,63 widmete der »Weimarer Brockhaus« dem Eintrag unter »Grenzlanddeutsche, Grenzdeutsche, die bodenständigen Deutschen an und nahe den Grenzen des geschlossenen deutschen Sprachgebiets in Mitteleuropa« etwas mehr als eine Druckseite. Betont wird der »Unterschied zu den als Binnendeutsche bezeichneten Deutschen des Reichs, Österreichs, der deutschen Schweiz und Liechtensteins. Die G. sind ein Teil der Auslandsdeutschen […]; insbesondere gehören zu den G. die durch die Verträge von Versailles und St. Germain abgetrennten Gebiete des geschlossenen deutschen Sprachgebiets.«64 Die weiteren regional untergliederten Erläuterungen gingen von der Prämisse aus, dass das »Grenzlanddeutschtum […] seiner Entstehung nach gegen die Romanen im W und S bis in die Völkerwanderungszeit zurück«65 reiche. »Im O und SO ist es im Mittelalter entstanden, erhielt aber wesentliche Erweiterung bis tief in die Neuzeit hinein in Weichselmitteleuropa und nach Türkenkriegen in Donaumitteleuropa. Die G. des O sind vielfach von den fremden Herrschern ins Land gerufen worden; ihnen ist die Urbarmachung großer Wald- und Sumpfgebiete, Städtegründung und die Erschließung der Bergschätze zu verdanken.«66
62 Ebd., S. 240 f. Zur positiven Bewertung der »Wirtsvölker« vgl. Jaworski, Kunde (wie Anm. 3), S. 130. 63 Lediglich ist eine knappe Definition der »Grenzlandschulen« zu finden, die die »Aufgabe [haben], volks- und grenzpolit. Lehrgänge durchzuführen.«, ML, Bd. 5, 8. Aufl., Leipzig 1938, S. 211. 64 Beide Zitate: GB, Bd. 7, 1930, S. 610 f. 65 Ebd. 66 Ebd.
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In dieser historischen Interpretation wurden die deutschen Kolonisten im östlichen Europa seit dem Hochmittelalter als die eigentlich für die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung verantwortlichen Kulturträger dargestellt. »Der Begriff des Grenzlanddeutschtums schließt ein, daß deutsches Volkstum bedroht ist und das Grenzlandschicksal erlebt. In diesem Sinne gehört auch die rein deutsche Bevölkerung des Saargebiets zu den G., obgleich dieses nicht Grenzland ist. […] In einem weiteren Sinne gehören zu den G. nach ihrer geogr. Lage und geschichtl. Herkunft die etwa 2 Mill. zählenden Deutschen Donaumitteleuropas, die jetzt an Ungarn, Rumänien, Jugoslawien und die Slowakei aufgeteilt sind.«67 Unter dem Stichwort »Bedrohung« wird die jeweilige Minderheitenpolitik gegenüber den Deutschen beschrieben, so dass hierin eine versicherheitlichende Botschaft inhärent war. Die Verwendung des Begriffs »Grenzlandschicksal« forcierte die Konstruktion dieses Bedrohungsszenarios noch. Mit dem Hinweis auf die ethnischen Gemengelagen mit anderen Bevölkerungsgruppen wurde einerseits eine besondere Konfliktkonstellation abgeleitet, weil »Grenzlandschicksal« darauf anspielte, dass die umgebenden anderen Bevölkerungsgruppen für die deutsche insbesondere auch in kulturell-sprachlicher, aber auch politischer Hinsicht gefährlich seien, andererseits impliziert er eine gewisse BollwerkFunktion und zugleich eine mission civilisatrice der dort lebenden deutschen Bevölkerung.68 Ein nicht zu unterschätzender argumentativer Faktor waren in allen Lexika statistische Daten: So ging man vollmundig von 40 Milionen Auslandsdeutschen aus, der »Volkskörper« insgesamt würde folglich 100 Millionen Menschen und in Mitteleuropa allein 73 Millionen Menschen umfassen. Hierdurch wurde das deutsche Volk zum bevölkerungsstärksten in Europa stilisiert, womöglich um einen politischen Geltungsanspruch zu legitimieren.69 Mit dem (Selbst-)Bild des »deutschen Volkskörpers« konnten seine Gliedmaßen, die »Grenz- und Auslandsdeutschen«, in die Volksgemeinschaft integriert, »als ein 67 GB, Bd. 7, 1930, S. 610 f. Der nicht namentlich gekennzeichnete Artikel gibt als Literaturhinweise Publikationen des »Ostforschers« Max Hildebert Boehm an, so dass davon auszugehen ist, dass dieser Artikel zumindest von einer Person aus dessen Netzwerk stammt. 68 Der »Grenzland«-Diskurs reicht bis in das erste Drittel des 19. Jahrhunderts in Deutschland zurück, der jedoch nach der Reichsgründung, aber auch in der späten Habsburgermonarchie intensiviert wurde. Letztlich ist er damit durchaus mit Grenzland-Vorstellungen, z. B. der polnischen Kresy und von antemurale-Mythen, vergleichbar. 69 Vgl. auch Jaworski, Kunde (wie Anm. 3), S. 119.
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›organisch‹ zusammenhängendes Konglomerat von Einzelteilen konstruiert« und somit auch territoriale Forderungen zumindest angedeutet werden.70 »Only an ancestral homeland can provide the emotional as well as physical security required by the citizens of the nation«, so dass gerade den von den Grenzlanddeutschen bewohnten Gebieten im Sinne eines mental mapping als Gliedmaßen des deutschen Territoriums eine besondere Bedeutung und Schutzbedürftigkeit zugeschrieben wurde.71 Damit wurde Raum »existenzialisiert und untrennbar mit der politischen Einheit Staat verknüpft.«72 Wurde bereits darauf hingewiesen, dass die »Volks- und Kulturbodenforschung« das Verständnis gerade der »Grenzlanddeutschen« speiste, so spiegelt sich in der Charakterisierung der deutschsprachigen Volksgruppen der Ostgrenzen-Diskurs der Weimarer Zeit wider. Der Hinweis auf die kolonisatorischen Leistungen der deutschsprachigen Bevölkerung im Hochmittelalter und in der Frühen Neuzeit diente zum Beispiel dazu, die Russen und die übrigen europäischen »Randvölker« im Osten auf eine niedrigere Kulturstufe als die Deutschen zu stellen. Das Gefühl deutscher Überlegenheit, das sich nach Agnes Laba seit etwa 1925 im Ostgrenzen-Diskurs widerspiegelte und Möglichkeiten für Territorialforderungen eröffnete, trat in den Lemmata der hier behandelten Lexika deutlich zum Vorschein.73
Lebensumstände der Grenz- und Auslandsdeutschen Um das »Grenzlandschicksal« aus deutscher Sicht zu dramatisieren, war es notwendig, die Lebensumstände innerhalb der Staaten möglichst negativ zu beschreiben. Hierzu gehörte es auch, die Legitimität der Staatsgründungen und die Integrität ihrer wichtigsten Akteure anzuzweifeln.74 So führen die Lexika in den Lemmata zu den Staatsgründungen nach 1918 diese vor allem auf das
70 Gernot Briesewitz: Raum und Nation in der polnischen Westforschung 1918–1948. Wissenschaftsdiskurse, Raumdeutungen und geopolitische Visionen im Kontext der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte, Osnabrück 2014, S. 70. 71 Antony Smith: Myths and Memories of the Nation, New York 1999, S. 150 f. 72 Briesewitz, Raum (wie Anm. 70), S. 74. 73 Laba, Grenze im Blick (wie Anm. 9), S. 364. 74 Beispielsweise wurde der polnische Nationaldemokrat Roman Dmowski wegen seiner pro-russischen Politik kritisiert, ML, Bd. 3, 1925, S. 859. Dagegen betont der GB (Bd. 14, S. 700 f) seine deutschfeindliche Richtung. ML (Bd. 12, 1930, S. 286 f.) verweist etwa auch darauf, dass der lettische Präsident Karlis Ulmanis wortbrüchig gegenüber den deutschen Baltikumstruppen geworden sei, weil er ihnen kein Land zugeteilt habe.
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Engagement der feindlichen Entente zurück. Auf diese Weise legitimierten sie auch die für die Deutschen gefährlichen Revisionsbestrebungen innerhalb der Staaten. Der »Große Brockhaus« stellte etwa in dem Lemma »Polen« die Anerkennung als Staat so dar, als sei Wilson in Paris »umgefallen«, weil der amerikanische Gutachter die »Behauptungen der polnischen Propaganda als seine gutachterlichen Äußerungen vortrug.«75 Der Eintrag zur Tschechoslowakei führte die inneren Schwierigkeiten des Landes auf die Außenpolitik, das Paktieren mit der Entente, allen voran mit Frankreich, zurück. Die Lebensumstände in diesen Ländern wurden infolgedessen durchweg als problematisch beschrieben. So berichtet der Eintrag zu Lettland in »Meyers Lexikon«, dass der deutsche (und polnische in Lettgallen) Großgrundbesitz 1919 größtenteils enteignet worden sei, nachdem sich »gleich nach dem Bolschewistenumsturz«76 am 30. November 1917 in Walk (anstelle des von Deutschen besetzten Rigas) ein Nationalstaat gebildet hatte. Bemerkenswert ist der Hinweis, dass bereits 1920 im Inneren ein Gesundungsprozess begonnen habe, weil am 1. Mai eine Nationalversammlung zusammengetreten war und eine vorläufige Verfassung Ende des Monats angenommen hatte. Dieses eher wohlwollende Urteil beruhte wohl auf einer minderheitenfreundlichen Gesetzgebung Lettlands. Das Lemma zu Litauen in »Meyers Lexikon« betont, dass das Land zwar die durch die Botschafterkonferenz am 15. März 1923 anerkannte Grenze zum Memelland bestritten, aber mit dem Deutschen Reich im November desselben Jahres einen Vertrag über einen gegenseitigen Verzicht aller aus dem Kriege stammenden Forderungen geschlossen habe.77 Für den »Großen Brockhaus« war es dagegen wichtig, auf die vom Deutschen Reich anerkannte Unabhängigkeit Litauens zu verweisen und den Konflikt um Wilna zu beschreiben, das von Polen »einverleibt« und dessen Besitz von der Entente bestätigt worden war.78 Hier kommt ein negatives Polenbild zum Tragen, das über den Verweis auf die polnischen Expansionsbestrebungen die Bedrohung der Grenzlanddeutschen akut werden ließ. Die Lexika thematisieren die jeweiligen multiethnischen Bevölkerungsverhältnisse und die Minderheitenpolitik der verschiedenen Regierungen. »Minderheiten« würden, wie Konrad Köstlin ausführt, durch die Verträge von Versailles und Trianon begrifflich zusammengeführt, weil sie »erstmals 75 76 77 78
GB, Bd. 14, 1933, S. 701. ML, Bd. 7, 1927, S. 886–890. ML, Bd. 7, 1927, S. 1060–1065. GB, Bd. 11, 1932, S. 481–484.
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auch als sprachlich/ethnisch thematisiert« worden seien, während sie im »Historischen Schlagwörterbuch« aus dem Jahr 1906 noch fehlten.79 Die Einträge bezogen sich immer wieder auf die Auslandsdeutschen, so wie auch in den einschlägigen Diskursen insgesamt das Verständnis von »nationalen Minderheiten« mit dem von den »Auslandsdeutschen« zusammengeführt wurde.80 Daher erörterte auch der »Große Brockhaus« ausführlich die »Minderheitenfrage«.81 Danach sei die »wichtigste Voraussetzung für die gleichberechtigte Teilnahme der nationalen Minderheiten am staatl. Leben […], daß ihren Angehörigen ein gewisser Kreis von Freiheits- und Grundrechten im Staat gewährleistet ist.«82 Der Artikel nannte anschließend die genauen Rechte der nationalen Minderheiten im Deutschen Reich: ihre »aus ihrer Nationalität erwachsenen Aufgaben« wie »Pflege der Muttersprache, des Schrifttums […] der nationalen Geschichte und Weltanschauung, ferner der Schule mit der Muttersprache als Unterrichtssprache sowie der Forschungs- und Bildungsarbeit« werde »namentlich von denjenigen Nationalitäten erstrebt […], deren Angehörige, Anstalten und Organisationen schon kulturell beachtliche Leistungen erzielt haben.«83 Da dies nicht einheitlich für alle Nationalitäten erreicht werden könne, »bleibt nur übrig, daß die Staaten […] ›Verwaltungsautonomien‹ schaffen […] oder einen Teil ihrer Hoheit im entsprechenden Umfang an nationalkulturelle Organe der Minderheiten abgeben.«84
79 Konrad Köstlin: Minorities all? Ein Begriff als Kulturmuster, in: Eisler et al., Minderheiten (wie Anm. 3), S. 13–32, hier: S. 19. 80 Eisler, Minderheiten (wie Anm. 13), S. 49. 81 GB, Bd. 12, 1932, S. 571–576. 82 Ebd., S. 572. 83 Ebd. 84 Ebd.
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Mit Blick auf die Deutschen im Baltikum verwies der »Große Brockhaus« darauf, dass in Estland die Kulturautonomie eingeführt worden sei, während sie im Deutschen Reich von der polnischen und dänischen Minderheit abgelehnt worden sei. Im anschließenden Abschnitt über die Minderheitenschutzverträge legitimiert der Eintrag die politischen Interventionen beim Völkerbund zugunsten der deutschen Minderheit gerade in Polen und der Tschechoslowakei. Die Interessen bedrängter Nationalitäten wahrzunehmen, sei schließlich eine Option, die jedem im Völkerbund vertretenen Staat, wie auch dem Deutschen Reich, zustünde. Letztlich könne nur das Minderheitenrecht im Deutschen Reich, Österreich und England, aber auch in Finnland wegen seiner Sprachengesetzgebung und in Estland als vorbildlich gelten, während fast alle anderen Staaten dieses noch verbessern müssten, insbesondere Polen, Litauen, Frankreich und Italien.85 Bereits in der Überblicksdarstellung zu Polen in »Meyers Lexikon« wurde auf die »sehr schwierigen« Bedingungen für die deutsche Minderheit als Ergebnis der »chauvinistischen Politik der Regierungen« eingegangen. Jedoch, so das Fazit des Lemmas, habe sich die Lage der Minderheiten gebessert.86 Der »Große Brockhaus« sah in der Minderheitenfrage ebenfalls eine »schwere Belastung für den neuen polnischen Staat, bes. den Deutschen und Ukrainern«, weil Polen »seinen Minderheiten gegenüber eine strenge Unterdrückungspolitik eingeschlagen hat«.87 Die von der Entente 1923 versprochene Autonomie für die Ukrainer sei beispielsweise nicht realisiert worden. Hierin spiegelt sich eine grundsätzlich negative Haltung gegenüber der Minderheitenpolitik der neuen Staaten, »die [sich…] trotz den in den Friedensverträgen niedergelegten Minoritätsrechten – am wenigstens an demokratische Grundsätze [hielten] und […] die Niederhaltung und Aufsagung fremden Volkstums als oberstes innenpolitisches Gebot« erachteten.88 Dagegen verweisen die längeren Berichte in den Lexika über die Landeskunde eher implizit auf die Lage der Deutschen. Der Beitrag in »Meyers Lexikon« über Estland etwa berichtet, dass die ehemals deutsche, dann russifizierte 85 86 87 88
Ebd., S. 573. ML, Bd. 9, 1928, S. 1021–1040, hier: S. 1038. GB, Bd. 14, 1933, S. 687–702, hier: S. 689 ff. Grothe, Staaten (wie Anm. 16), S. 102.
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Universität Dorpat nun estnisiert sei, während die Deutschen als das »bisher herrschende Element in den Städten und als Grundbesitzer auf dem Land« jetzt ganz entrechtet und verarmt seien. Dennoch stünde die »Volksbildung infolge des deutschen Einflusses auf hoher Stufe (kaum ein Fünftel sind Analphabeten)«.89 Der »Große Brockhaus« macht indes ausdrücklich auf die Enteignungen der deutschen Gutsbesitzer aufmerksam. Die Esten würden sich jedoch als arbeitsames und genügsames Volk gut auf die Landwirtschaft verstehen.90 »Meyers Lexikon« betont hingegen die kulturellen Einflüsse der Deutschen im Baltikum, weil die »meist ev.-lth. Letten durch den Einfluss der seit dem 12. Jh. ansässigen Deutschen eine ziemliche Kulturhöhe erreicht haben, und die Volksbildung auf beträchtlicher Höhe steht.«91 Deutlicher pointiert »Meyers Lexikon« die gegenwärtige Lage der Minderheiten und damit im zeitgenössischen Verständnis die Situation der Deutschen: Sie habe es von jeher gegeben, jedoch seien sie infolge der Bildung der neuen Staaten für die Staatenordnung zur Gefahr geworden, weil bei den Staatsbildungen das Selbstbestimmungsrecht der Völker außer Acht gelassen worden sei.92 Der Beitrag unterscheidet zwischen »echten«, außerhalb einer nationalen Gemeinschaft wohnenden und »unechten« Minderheiten, die innerhalb eines geschlossenen Siedlungsgebietes von einem fremden Staatsvolk im Widerspruch zu dem Gedanken des Nationalstaates festgehalten werden.93 Im »Großen Brockhaus« verweist das Lemma »Minderheitenfrage«94 auf »Nationalitätenfrage«, und erläutert den Widerspruch zum Selbstbestimmungsrecht, weil Deutsche, Magyaren und Ukrainer in fremden Grenzen lebten. Somit sei sie eine der »schwierigsten europ. Fragen« geworden. In besonderer Weise hob der »Große Brockhaus« den »Volkstumskampf« in Polen, Böhmen und Südtirol hervor, indem er auch auf die unterschiedlichen politischen Rechte der nationalen Minderheiten in den verschiedenen Staaten hinweist. So gebe es in der Ausübung der politischen Rechte im Deutschen Reich, Österreich, Dänemark, Estland und Lettland keine Einschränkung; sie würden dagegen in Polen, Litauen und der Tschechoslowakei behindert, wobei insbesondere in Polen und in der Tschechoslowakei die Wahlkreiseinteilungen dazu geführt hätten.95
89 90 91 92 93 94 95
Zitate: ML, Bd. 4, 1926, S. 262–264. GB, Bd. 5, 1930, S. 705. ML, Bd. 4, 1926, S. 262. ML, Bd. 8, 1928, S. 498–499. Zum Beispiel Deutsche in Nordböhmen. Ebd., S. 499. GB, Bd. 12, 1932, S. 571–576. Ebd., S. 574 f.
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Fazit Die Lexika als spezifische Wissensträger und -mediatoren gerade für breitere, gebildete Bevölkerungsgruppen griffen insgesamt die politischen, revisionistischen Diskurse auf und entwickelten sie in normativer Weise weiter. Die Nutzer einer Enzyklopädie schreiben dieser aufgrund dieser systematisierenden und scheinbar neutralen Textgattung, aber auch wegen ihrer Funktion als Referenz- und Orientierungspunkt hohe Sachlichkeit zu. Sie stellen die deutsche Diaspora in der Welt mit wenigen Ausnahmen als durch (bildungs-)politisch erzwungene Akkulturation gefährdet dar. Insbesondere die Situation der »Grenzlanddeutschen« und ihrer vermeintlich durch die Minderheitenpolitik bedrohte Kultur im europäischen Osten erfuhr eine auffällige, dramatisierende Emphase. Die einschlägigen Lemmata beschreiben nicht die mit der Staatsbildung verbundenen Probleme, sondern kritisieren lediglich die nationalisierende Politik der Staaten. Die Darstellungen des »Grenz- und Auslandsdeutschtums« definieren die Glieder des deutschen »Volkskörpers«, die aber gerade wegen ihrer Eigenschaft der Abgeschiedenheit als besonders gefährdet galten. Somit konstruieren sie eine Bedrohung des »deutschen Volkskörpers«, die umso dringlicher erscheint, als hierdurch eine vermeintlich höhere Kultur und »Zivilisation« gefährdet seien. Hierüber wurden die Raumdiskurse in besonderer Weise beeinflusst, zugleich wurde eine spezifische Form von Konfliktregion, nämlich die vom »Grenzlanddeutschtum« besiedelte Grenzlandlandschaft, geschaffen. Die dort lebenden Deutschen wurden somit zu Opfern der nationalisierenden Politik des jeweiligen Staates stilisiert. Diese versicherheitlichende Darstellung konnte somit zur Legitimation der auswärtigen (Kultur-)Politik und politischer Interventionen herangezogen werden. Die Bewertung der historischen, kulturellen und wirtschaftlichen Leistungen der »Grenz-« und der »Auslandsdeutschen« insgesamt folgte schließlich immer der Prämisse, dass diese als »Kulturträger« wirkten und letztlich einen »zivilisierenden« und fortschrittlichen Einfluss auf die jeweiligen Staaten hatten. Dies zeigte sich auch in den Ausführungen zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen deutschen Kolonisationsbewegung und zur deutschen Auswanderung nach Übersee. Der deutschen Diaspora in der Welt wurde somit – ganz im kolonialen Sinne – eine kulturelle und wirtschaftliche Zivilisierungsmission zugesprochen. Hierdurch gelang es – zumindest in der Eigenwahrnehmung – global präsent zu bleiben und damit das durch die Kriegsniederlage und deren Folgen verletzte Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Letztlich ging es in der idealisierten Darstellung der historischen Leistungen des »Grenz- und Auslandsdeutschtums« auch um eine Kompensation für die verlorene Macht, es »bot
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somit einen idealen Ersatz für die verloren gegangene ›Weltgeltung‹, für die Abtretung von Grenzgebieten und Kolonien.«96 In besonderer Weise wurden daher gerade die von Deutschen bewohnten Gebiete in Ostmitteleuropa zu einer Konfliktregion stilisiert, in der die äußeren Ränder des deutschen »Volkskörpers« zu verteidigen waren, denn nach den revisionistischen Worten Hugo Grothes aus dem Jahr 1922 wurden »die künstlichen Schranken, die zwischen den Gliedern des deutschen Volkes aufgerichtet worden sind, […] vor dem Ansturm nicht zu ertötender völkischer Forderungen früher oder später fallen.«97 Zur Verbreitung dieser Forderungen trugen Lexika in erheblichem Maße bei, indem sie in den Lemmata zum »Grenz- und/oder Auslandsdeutschtum« eine deutsch-völkische Sichtweise einnahmen, so das Konzept einer schutzbedürftigen, bedrohten »deutschen Minderheit« in die Köpfe der Nachschlagenden trugen und damit eine an nationalen Interessen orientierte Sichtweise propagierten.
96 Jaworski, Kunde (wie Anm. 3), S. 118. 97 Grothe, Staaten (wie Anm. 16), S. VIII.
Sabine Mangold-Will
Vorbild Türkei – dunkles Licht aus dem »Orient« Zu einer transnationalen Geschichte der Weimarer Republik auf dem Weg in den Abgrund
Wer die transnationale Geschichte der ersten deutschen Demokratie untersucht, wird unweigerlich den Blick gen Osten richten müssen. Denn der »Orient« bot, wie schon in den Jahrhunderten und Jahrzehnten davor in der deutschen Geschichte, auch in der Weimarer Republik weiterhin Orientierung. Die Frage war nur, welche? Wohin führte die Ausrichtung am Nahen Osten und inwiefern wirkte die morgenländische Perspektive tatsächlich auf die Weimarer Republik verändernd zurück? Wo lassen sich Verflechtungen und Verbindungen zwischen »Weimar« und dem »Orient« erkennen, die Deutschland zwischen 1918 und 1933 wenn nicht gleich globalisierten, so doch wenigstens »transnationalisierten«1, mithin also aus seiner vermeintlichen europäischen Selbstbezüglichkeit lösten? Dieser Beitrag verzichtet darauf zu beklagen, dass die Handbücher zur Geschichte der Weimarer Republik selbst in den Kapiteln zur Außen- oder Wirtschaftspolitik in der Regel immer noch kaum ein Wort zur erneuerten politischen, wirtschaftlichen wie kulturellen Präsenz Deutschlands im Nahen und Mittleren Osten verlieren.2 Zumindest daran erinnern will er indes, dass das Bild von der Provinzialisierung Deutschlands nach 1918 schon immer in Frage stand, wenn Darstellungen der Weimarer Republik explizit auf Kultur, Mentalitäten oder Lebensweisen blickten.3 Außen vorgelassen sei wiederum eine ausführliche Debatte der mittlerweile weitreichenden und differenzier1
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Da der gesamte Band dem Problem der transnationalen Geschichtsschreibung gewidmet ist und die Herausgeber in ihrer Einleitung ausführlich darauf eingegangen sind, wird hier auf die erneute Diskussion dieses Ansatzes verzichtet. Lediglich ein Referenzwerk soll hier noch einmal genannt werden: Sebastian Conrad/Jürgen Osterhammel (Hrsg.): Das Kaiserreich transnational. Deutschland und die Welt 1871–1914, Göttingen 2006. Vgl. stellvertretend für den traditionellen Blick auf Weimar: Eberhard Kolb/Dirk Schumann: Die Weimarer Republik (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 16), 8., überarb. und erw. Aufl. München 2013. Vgl. z. B. die Abschnitte zu Deutschland bei Gunther Mai: Europa 1918–1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen, Stuttgart 2001.
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ten Revision der ursprünglichen These von der Deglobalisierung der Welt in der Zwischenkriegszeit. 4 Die zuweilen kurios anmutende Diskussion über die Entflechtung oder De-Transnationalisierung von Staaten und Menschen durch den Zerfall der Imperien am Ende des Ersten Weltkrieges war und ist so eurozentrisch, dass sie unter Nahost- oder Asienhistorikern, wenn überhaupt, ohnehin meist mit einer gehörigen Portion Ratlosigkeit registriert wurde. Es kommt in der Tat auf die Perspektive an, ob man Nachkriegszeiten eher als Phasen des stagnierenden globalen Wirtschaftsaustausches, der unterbrochenen Kommunikation und der Eindämmung von Migration betrachtet, oder stattdessen regionale (durch neue Grenzen gerade erst verursachte) Fluchtbewegungen, mentale und kulturelle Grenzgänge und illegale oder alltägliche Kontakte in den Mittelpunkt stellt. Denkt man mit Blick auf die Weimarer Republik beispielsweise allein daran, wie viele Armenier und Türken, Opfer wie Täter des ersten Genozids des 20. Jahrhunderts, in den Wirren des Kriegsendes ihre Zuflucht in Berlin und München fanden und Deutschland geradezu zu einem »Türkischen Schauplatz« machten, dann sieht die Welt von Weimar ganz anders aus, als wenn man nur auf staatliche Grenzregime und den offiziellen Schiffsverkehr blickt.5 Rechtfertigen indes muss dieser Beitrag zu Beginn seinen eingeschränkten Blick auf den Nahen Osten. Denn mit der Türkei – dem einzigen Staat, der aus dem zerfallenden Osmanischen Reich (weitgehend) unabhängig und souverän hervorging – wurde ein Fallbeispiel gewählt, dessen Subsumierung unter den »Nahen Osten« wie den »Orient« in der Zwischenkriegszeit gleichermaßen unsicher war. Die Besonderheit, aber damit auch der Reiz einer Beschäftigung mit der Türkei im Zusammenhang mit der transnationalen und globalen Verortung Weimars besteht genau darin, dass nach 1918 über die Zuschreibung der Türkei zu Europa, Asien oder dem »Orient« vehement verhandelt wurde. Anders formuliert: Ein Blick auf die Verflechtungsgeschichte zwischen der Weimarer Republik und der Türkei stellt uns vor Fragen der Kategorisierung von Transnational- und Globalgeschichte der Weimarer Republik. Sind Vernetzungserscheinungen zwischen Deutschland und der Türkischen Republik 4 5
Dazu sei auf den ausführlichen Beitrag von Gabriele Lingelbach zur Entwicklung der Globalgeschichtsschreibung in diesem Band verwiesen. Zur Weimarer Republik als Schauplatz türkischer Politik und Gesellschaft vgl. Sabine Mangold-Will: Begrenzte Freundschaft. Deutschland und die Türkei, Göttingen 2013, S. 41–65. Ergänzend sei – ohne Nennung der zahlreichen Aufsätze und Monographien dazu – an die Anwesenheit von Kriegsgefangenen, Flüchtlingen, Studenten und Migranten aller Art aus Ostasien, Indien und der arabischen Welt erinnert, die nicht nur, aber vor allem in Berlin lebten.
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schon allein aufgrund der geographischen Lage der Türkei als Globalisierung oder aus interpretatorischen Überlegungen doch eher als Hinweise auf einen erfolgreichen europäischen Abgrenzungsprozess und die verstärkte Selbstbezüglichkeit Europas zu verstehen? Ist die Transnationalität, die im deutschtürkischen Fall greifbar wird, wirklich Anzeichen einer De-Nationalisierung der Nationalstaaten und ihrer Gesellschaften? Oder besteht die Globalisierung geradezu in der radikalisierten Nationalisierung, die wiederum aber eben nicht allein von »Europa« ausgeht, sondern von den neuen Nationalstaaten im »Orient« mitbestimmt wird? Wirkt also in dem in der Überschrift postulierten »Vorbild Türkei« tatsächlich die Welt jenseits der eigenen Grenzen auf Deutschland zurück oder findet nicht eigentlich nur die Imaginierung eines global vernetzten Deutschlands statt? Ist vielleicht gerade diese Uneigentlichkeit der Globalisierung eine der Eigenheiten der transnationalen Weimarer Republik? Wer seinen Blick auf Weimar im Nahen Osten und den Nahen Osten in Weimar richtet, wird leicht feststellen, dass die Weimarer Gesellschaft kaum weniger am Nahen Osten interessiert bzw. mit ihm konfrontiert war als die des Kaiserreichs. Zweifellos endeten 1918 mit der Kriegsniederlage der Osmanen grenzüberschreitende Geschichten; doch gerade weil das Osmanische Reich nie jemandes Kolonie war und danach immerhin »nur« in Mandatsgebiete oder – wie die Türkei – in unabhängige Staaten aufgeteilt wurde, blieb der Nahe Osten, der auf so vielfältige Weise während des Krieges mit Deutschland verbündet und verbunden war, für Deutsche offen.6 Zudem suchten »orientalische« Eliten auch nach dem Krieg gezielt Zugang zu Deutschland. Ja, beide Regionen wurden über diese gelebten Beziehungen hinaus wechselseitig zu Projektionsflächen (und bisweilen sogar Aktionsfeldern) politischer Zukunftsentwürfe. Berlin erfuhr nicht nur einen Globalisierungsschub durch den längst bekannten und gut erforschten Zuzug von Ostjuden, sondern wurde genauso zum Schauplatz global agierender Untergrund-, National- und später sogenannter Befreiungsbewegungen der »orientalischen« Welt, sei es der armenischen »Nemesis« oder der indischen Kalifatsbewegung. Der britische Geheimdienst wusste das früher, als die Deutschen es bemerken wollten.7
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Zum deutsch-osmanischen Bündnis vgl. u. a. Alexander Will: Kein Griff nach der Weltmacht. Geheime Dienste und Propaganda im deutsch-österreichisch-türkischen Bündnis 1914–1918, Köln 2012. Vgl. John Ferris: The British Empire vs. The Hidden Hand. British Intelligence and Strategy and ‘The CUP-Jew-German-Bolshevik combination’, 1918–1924, in: Keith Neilson/Greg Kennedy (Hrsg.): The British Way in Warfare. Power and International System, 1856–1956. Essays in Honor of David French, Farnham 2013, S. 325–346.
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In diesem Andrang der Welt kam der Solidarität mit der 1923 gegründeten Türkischen Republik und der von Mustafa Kemal geführten türkischen Nationalbewegung eine besondere Bedeutung zu. Denn die gesellschaftlich weitverbreitete Sympathie für die Türkei war in der Weimarer Republik ein zentraler Baustein des Versuchs, den Widerstand gegen die Westmächte (einschließlich des Kampfes gegen die als westeuropäisch deklarierte parlamentarische Republik) zu internationalisieren und dadurch den weltpolitischen Einfluss Deutschlands in Konkurrenz vor allem zu Großbritannien zurückzugewinnen. Die Legitimierung dieser letztlich demokratiegefährdenden Globalisierungsstrategie vollzog sich, indem den eigenen (als deutsch reklamierten) Wertvorstellungen von Nation, Volk und politischer Führung im Begriff des legitimen Widerstandes gegen Unterdrückung globale Gültigkeit zugeschrieben wurde. Anders formuliert: Die These, mit der ich im Folgenden operiere, geht davon aus, dass der Nahe Osten – hier vertreten durch die Türkei – in der Weimarer Republik gerade deswegen als Orientierungspunkt in einer zunehmend als verflochten wahrgenommenen Welt diente, weil er bei aller Möglichkeit kolonialer Phantasien zur Beherrschung des »orientalisch Rückständigen« und »Anderen«, vor allem als Projektionsfläche einer grundsätzlich global wünschenswerten, alternativen, ebenso modernen wie konservativen Ordnung aus Nation, Demos und politischem Tatmenschen diente. In der Welt, die hier erdacht wurde, entsprachen sich das neue Deutschland und der »junge« Nahe Osten gerade in der als nicht-westeuropäisch interpretierten Versöhnung von Technik und Geist, »Populismus«8 und Nationalisierung, Fortschritt und Tradition, Europa und Asien, Orient und Okzident, West und Ost. Die Türkei, das Land auf der geographischen Schwelle zwischen dem europäischen Kontinent und Asien, bot sich genau deswegen einem verunsicherten Spektrum der Weimarer Gesellschaft und Politik als Vorbild für die deutsche Republik an. Wer im Nachkriegseuropa nach einer Alternative zum siegreichen, aber zugleich verhassten Westeuropa suchte, konnte sie leicht im »erwachenden Orient« finden. Echte Souveränität, nationale Identität und politische Homogenität gab es in der 8
Zum Problem des Populismus in historischer und globaler Perspektive vgl. Thorsten Beigel/Georg Eckert (Hrsg.): Populismus. Varianten von Volksherrschaft in Geschichte und Gegenwart, Münster 2017. In den darin versammelten Beiträgen wird deutlich, wie sehr der Begriff gerade in der Zwischenkriegszeit ebenso semantischen Anteil an Demokratisierung wie politischer Manipulation hatte. Vgl. zudem die besondere Funktion des Populismus-Begriffs im Kemalismus einschließlich der Übersetzungsvarianten in der deutschen Zwischenkriegszeit: Sabine Mangold-Will: Ein Pfeil des Kemalismus. »Populismus« als Parteiraison in der frühen Türkischen Republik, in: ebd., S. 177–189.
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Welt, so lautete das Versprechen des türkischen Beispiels, und zwar in einem »jungen«, »bereinigten« Asien: Vermeintlich entlastet von den Verwerfungen ethnischer und kultureller »Vermischung«, die einst so typisch waren für den alten »bunten Orient«, verzichteten – so die deutsche Interpretation – die neuen, zukunftssicheren Staaten des Nahen Ostens keineswegs auf die bereits seit längerem als »orientalisch« apostrophierten Werte wie Traditionalismus, Opferbereitschaft oder Spiritualität. Eine solch geartete Ordnung – und darin lag ein weiteres Globalisierungsmoment – würde mitnichten einzigartig oder allein dastehen, sondern selbst wiederum Maßstab für Andere, bestenfalls für die ganze Welt abgeben. Entscheidend aus der Perspektive der Globalisierungsgeschichte der Weimarer Republik scheint mir demnach zu sein, dass die Türkei als Musterstaat im Nahen Osten gerade nicht (oder jedenfalls nicht primär) als Experimentierfeld deutscher Normen erschien, sondern als Vorbild einer global erstrebenswerten politischen Ordnung der konservativen Moderne imaginiert wurde. Dass diese Ordnung in ihrer Ausprägung sehr wohl als »deutsch« oder »europäisch« bezeichnet werden konnte (nämlich dann, wenn Nationalismus als ein genuin deutsches Produkt wahrgenommen wurde), erleichterte die Akzeptanz einer im Grunde irritierenden Erfahrung und verweist zudem auf die angesprochene Problematik einer imaginierten Globalisierung. Anders ausgedrückt: Nationalisierung, nationale Abschottung und Europäisierung sind gewichtige Erscheinungsarten von Globalisierung in der Zwischenkriegszeit, zumal wenn man bedenkt, wie viele Staaten weltweit davon betroffen waren und diese Entwicklung zugleich als eine Reaktion und Wechselwirkung im globalen Zusammenhang interpretierten. Grundsätzlich lässt sich die Orientierung am Nahen Osten damit als eine Variante der Weimarer Kulturkritik verstehen, die sich als Suche nach »anderen Modernen«9 äußerte; durch die darin enthaltene Suche nach einer »harmonischen Gegenwelt«10 haftet auch dieser Alternative globalisierten Denkens das Merkmal des von Edward Saïd beschriebenen auf Alterität ausgerichteten »Orientalismus« an. Wenn man die Richtung der Orientierung, die der Nahe Osten bot, also schärfer fassen wollte, müsste man davon sprechen, dass das Morgenland nach 1918 der Deutschen Aufmerksamkeit erregte, weil es fast in Europa lag, ohne sich jedoch auf den Weg nach Westen gemacht zu haben. In der Sprache des Orientalismus ließe sich formulieren, der Nahe Osten zog die Weimarer Blicke an, weil er in seiner Orientierung an der konservativen 9 Mai, Europa (wie Anm. 3), S. 25. 10 Ebd., S. 29.
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nationalen Moderne doch noch die Überlegenheit Europas bestätigte. Die Quellen weisen indes darauf hin, wie sehr die Entwicklungen in der Türkei konkret und im Nahen Osten allgemein tatsächlich als globale Herausforderung gelesen wurden und gerade deswegen in der Verbindung von Europa und Asien ein neues zu globalisierendes Ideal gesucht wurde. Diese allgemeine, quasi die Ordnung des Weimarer »Orientalismus« nachzeichnende Skizze soll nun durch den Blick auf das angekündigte Beispiel Türkei konkretisiert werden. Dazu gilt es zunächst, kurz an die machtpolitischen Gegebenheiten zu erinnern, denn der deutsche Blick auf den Nahen Osten war auch in Weimar durch globalpolitische Konstellationen geprägt. Während das Osmanische Reich bei allen Einschränkungen, die zu nennen wären, immerhin eine unabhängige Mittelmacht geblieben war und gerade deswegen als koloniale Projektionsfläche dienen konnte, geriet der mehrheitlich islamische Nahe Osten jetzt, erst nach 1918, sichtbar unter europäischen Einfluss: Syrien und der Libanon wurden französisches, der Irak, Jordanien und Palästina britisches Mandat. Die Arabische Halbinsel, abgesehen von Aden, sowie Persien konnten zwar mühsam ihre Unabhängigkeit bewahren; Ägypten und Afghanistan sogar formal wiedergewinnen; an ihrer wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeit von Großbritannien änderte das jedoch wenig. Frankreichs Kolonien in Nordafrika blieben unberührt; die Besetzung Libyens durch Italien wurde nicht beendet, und die mittelöstlichen Staaten gerieten zudem noch ins Visier Sowjetrusslands. Unter all den nah- und mittelöstlichen Staaten war mithin allein die Türkei nach 1923 als weitgehend souveräner und innenpolitisch stabiler Staat anzusprechen, der frei von alliierter Militärpräsenz und politischer Einflussnahme blieb. Wer sich das vor Augen führt und zusätzlich daran erinnert, dass die Türkei diesen Zustand trotz der Kapitulation im Oktober 1918 durch die Fortsetzung des Weltkrieges für weitere fünf Jahre bis 1923 gegen Italien, Frankreich, Griechenland, Armenien und Großbritannien erreichte, wird leicht erkennen, warum die Türkei und ihr künftiger Präsident Mustafa Kemal spätestens seit 1921 die Blicke der Deutschen bannte. Jahrzehntelang war die historische Forschung zur Weimarer Republik davon geprägt, die Verflechtungen Weimars mit Amerika, der Sowjetunion und dem faschistischen Italien zu untersuchen und auf diese Weise nicht zuletzt ihren Untergang gesamteuropäisch, ja globalgeschichtlich zu kontextualisieren; erst in jüngerer Zeit zeichnet sich dabei immer deutlicher ab, wie präsent in den zeitgenössischen Diskussionen um die Gestalt des Staates und die Natur des idealen Politikers gerade in Deutschland außereuropäische, nicht-westliche Bezugnahmen waren und welche Rolle dabei ausgerechnet die Türkei spielte.
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Die Arbeiten von Stefan Plaggenborg11, Dorothée Guillemarre-Acet12, Sabine Mangold-Will13 oder Stefan Ihrig14, die hier stellvertretend für eine immer intensiver werdende vergleichende und transnationalgeschichtlich inspirierte Forschung zur Türkei und Deutschland genannt werden sollen, haben deutlich gemacht, dass die Verbindungen zur und die Rezeption der politischen Entwicklung in der Türkei in der deutschen (wie übrigens auch in der restlichen europäischen) Öffentlichkeit weit über die Kreise der beruflich dazu verpflichteten Diplomaten hinausreichte. Rein quantitativ mögen Personen mit nahöstlichen Netzwerken oder Autoren, die über den Nahen Osten und insbesondere die Türkei berichteten, in Weimar eine Minderheit gewesen sein; ihre Wirkung als gesellschaftliche, mediale und politische Multiplikatoren reichte jedoch sehr viel weiter, wobei sich grundsätzlich in allen politischen Milieus der Weimarer Gesellschaft von den Nationalsozialisten bis zu den Pazifisten »orientalische« Verbindungen identifizieren lassen.15 Gemeinsam war diesen transnationalen Akteuren in aller Regel die kriegsbedingte persönliche »Orienterfahrung«. Die größte und wichtigste Gruppe unter diesen »Orientfahrern« bildeten dabei die rund 20.000 Offiziere und Mannschaften (und einige Krankenschwestern), die während des Ersten Weltkrieges an den osmanischen Fronten zur Unterstützung des »Waffenbruders« Türkei eingesetzt waren. Aus ihren Reihen ging nach dem Krieg eine kleine, aber politisch aktive Vereinigung hervor, die über 1918 hinaus Weimar als einen Staat und eine Gesellschaft in transnationalen Verflechtungen dachte (und teilweise auch lebte): der »Bund der Asienkämpfer«.16
11 Stefan Plaggenborg: Ordnungen und Gewalt. Kemalismus–Faschismus–Sozialismus, München 2012. Plaggenborgs Arbeit fügt sich in die vergleichende Diktaturforschung ein, zeichnet sich aber dadurch aus, dass er – als einer der wenigen Historiker in Deutschland – die Türkei in diesen Vergleich miteinbezieht. 12 Dorothée Guillemarre-Acet: Impérialisme et nationalisme. L’Allemagne, l’Empire ottoman et la Turquie (1908–1933), Würzburg 2009. 13 Mangold-Will, Begrenzte Freundschaft (wie Anm. 5), vgl. besonders das Kapitel zu Mustafa Kemal als Prototyp des »Führers«, S. 465–472. 14 Stefan Ihrig: Atatürk in Nazi Imagination, Cambridge/London 2014. 15 Eine einschlägige, neuere Untersuchung zu sozialistischen deutsch-türkischen Netzwerken und Wahrnehmungen der Türkei in der Weimarer SPD oder unter den europäischen Kommunisten fehlt indes. Zu den (wenn auch wenigen) Pazifisten, die ihre »Orienterfahrung« in die Weimarer Debatte einbringen, vgl. Michael Unger: Die bayerischen Militärbeziehungen zur Türkei vor und im Ersten Weltkrieg, Frankfurt a. M. 2003, S. 171. 16 Zu den Asienkämpfern vgl. Mangold-Will, Begrenzte Freundschaft (wie Anm. 5), S. 269– 287 und dies.: Andere »Asienkämpfer«: Deutsche Frauen an der Orientfront während
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Hinzu kamen die schätzungsweise 10.000 Auslandsdeutschen, die bis 1918 im Osmanischen Reich und den benachbarten Staaten gelebt hatten, mit der Niederlage des Kaiserreiches aber gezwungen wurden, ihre »zweite Heimat« zu verlassen. Viele von ihnen kehrten mit der Restauration der diplomatischen Beziehungen der Weimarer Republik zu den nahöstlichen Staaten wieder in ihr altes grenzüberschreitendes Leben zurück und trugen so ebenfalls zur Globalisierung Weimars bei.17 Stefan Ihrig hat durch die akribische Auswertung mehrerer tausend Zeitungsartikel darüber hinaus gezeigt, dass die deutsche politische Presse, einschließlich des sozialdemokratischen »Vorwärts«, während der gesamten Weimarer Jahre mit einer zyklischen Hochphase zwischen 1919 und 1923 intensiv über die Entwicklung in der Türkei sowie Türken in Deutschland berichtete.18 Auch ein systematischer Blick auf den deutschen Buchmarkt oder die Populärkultur der Weimarer Republik würde das »Türkenfieber« der deutschen Zeitgenossen zweifellos bestätigen; für eine sichere Aussage fehlen aber die Forschungsgrundlagen. Nicht zufällig – um nur einen einzigen Hinweis zu geben – erschien die weltweit erste Biographie über Mustafa Kemal bereits 1929 in Deutschland aus der Feder des »Asienkämpfers« Dagobert von Mikusch – demselben Autor, der bereits 1927 »Die Sieben Säulen der Weisheit« des britischen Archäologen und Geheimdienstmitarbeiters Thomas Edward Lawrence ins Deutsche übersetzt hatte. Der Untertitel von Mikuschs Atatürk-Biographie lautete »Zwischen Europa und Asien« und verweist nicht zufällig auf die globale Dimension, die der deutschen Auseinandersetzung mit Mustafa Kemal anhaftete.19 Ohne eine lebendige transnationale Subgesellschaft, die sich im Wesentlichen aus ehemaligen Soldaten und Krankenschwestern mit »Orient«-Erfahrung, Auslandsdeutschen und ihren nahöstlichen Netzwerkpartnern zusammensetzte –
des Ersten Weltkrieges, in: Yavuz Köse (Hrsg.): Osmanen in Hamburg. Eine Beziehungsgeschichte zur Zeit des Ersten Weltkrieges, Hamburg 2016, S. 157–172. 17 Vgl. dazu das Weimar-Kapitel in: Anne Dietrich: Deutschsein in Istanbul. Nationalisierung und Orientierung in der deutschsprachigen Community von 1843 bis 1956, Opladen 1998. Entgegen der Annahme, dass gerade im Zeitalter des Imperialismus ein Großteil der deutschen Gesellschaft transnational vernetzt war, kann Dietrich zeigen, dass die Zahl der Auslandsdeutschen, die bis 1918 ganz oder zeitweise im Osmanischen Reich lebten, deutlich geringer war als die Zahl der Deutschen, die nach 1918 in die Türkei gingen bzw. die mit einer Identität als »Türkeideutsche« in Deutschland lebten. Zu den deutschen Grenzgängern nach 1918 vgl. auch Mangold-Will, Begrenzte Freundschaft (wie Anm. 5), S. 307–339. 18 Ihrig, Atatürk (wie Anm. 14). 19 Dagobert von Mikusch: Gasi Mustafa Kemal. Zwischen Europa und Asien, Leipzig 1929.
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mithin also aus der Intensität der Verflechtung im Zeitalter des Imperialismus und des Krieges erklären lässt –, hätte es diese unübersehbare Anwesenheit einer Globalisierungsdebatte mittels des Themas Türkei in der Weimarer Republik nicht gegeben. Doch was bedeutete die Vergegenwärtigung und Aneignung der türkischen Ereignisse in der Öffentlichkeit der Weimarer Republik konkret? Worum ging es bei der immer wieder konstatierten deutschen »Türkenbegeisterung«, die unter Vernunftrepublikanern und Demokraten zunehmend als »Krankheit«20 und Krisensymptom der Weimarer Republik empfunden wurde? Die Orientierung an der Türkei und damit an Veränderungen jenseits Europas – das machten insbesondere die »Asienkämpfer« und eine breite Front an konservativen Zeitungen in ihren politischen Formulierungen immer wieder deutlich21 – war elementar mit dem Kampf gegen die internationale Pariser Nachkriegsordnung wie mit der Kritik an der parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik verbunden. Der Fall »Türkei« erschien dabei keineswegs als peripher oder wie eine zufällige Ausnahme, sondern als globaler Testfall für eine grundlegende Revision der nach 1918 von den alliierten Westmächten etablierten Ordnung. Gerade auf dem Experimentierfeld des Nahen Ostens, so schien es vielen Beobachtern, die gebannt auf Istanbul und den Kampf der Kemalisten gegen die britische Besatzung starrten, entschied sich die Zukunft nicht nur jenseits Europas, sondern in Europa und damit der Welt.22 Insofern war das Interesse an der Türkei motiviert durch nationale, selbstreferentielle Überlegungen, wie die Zukunft Deutschlands in der von den westlichen Alliierten geprägten Nachkriegswelt aussehen könne; doch auch, ja gerade in dieser scheinbaren Selbstisolierung lohnte es sich, nach globalen politischen Weggefährten jenseits Europas zu suchen.23 Entsprechend positiv fielen auf-
20 Besonders prägnant ist in diesem Zusammenhang der Satz des Diplomaten im Auswärtigen Amt, Wilhelm Padel, in einem privaten Brief an einen Kollegen, die »Türkenbegeisterung« sei eine »bekannte deutsche Krankheit«. Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, R 78487, Wilhelm Padel an Curt Prüfer (14. März 1933). Zur Kontextualisierung vgl. Mangold-Will, Begrenzte Freundschaft (wie Anm. 5), S. 188. 21 Vgl. ebd., S. 269–287 und S. 437–449 sowie Ihrig, Atatürk (wie Anm. 14), S. 10–67. 22 Vgl. dazu ausführlicher das Kapitel »Von weltgeschichtlicher Bedeutung: die neue Türkei – erwachendes Asien oder Teil Europas?« in: Mangold-Will, Begrenzte Freundschaft (wie Anm. 5), S. 449–462. 23 Zu dieser Globalisierung des Widerstandes gegen die Pariser Ordnung mit den und mittels der Türken vgl. z. B. die Rolle der in Deutschland exilsuchenden, ehemals regierenden Jungtürken in der »Liga der unterdrückten Völker«, deren erster Kongress 1919 in Berlin stattfand. Vgl. ebd., S. 52 f.; vgl. auch Ferris, British Empire (wie Anm. 7).
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fällig viele deutsche Veröffentlichungen über den einzigen souveränen, von der Pariser Nachkriegsordnung befreiten Staat und seinen Präsidenten aus. Kritik an der Türkei und ihrer Politik begrenzte sich in der Weimarer Republik auf den nicht minder global angelegten, aber innerhalb Deutschlands eher marginalen und zunehmend marginalisierten Einspruch vor allem christlich-protestantisch religiöser und pazifistischer Kreise. Sie erinnerten parallel zur Globalisierung des Widerstandes gegen die Pariser Ordnung an die türkischen Menschheitsverbrechen während des Ersten Weltkrieges und traten für die Globalisierung eines neuen Humanitarismus ein.24 Wie sehr es bei der Orientierung an der Türkei oder genauer gesagt bei der Inszenierung der Orientierung an der neuen Türkei tatsächlich um eine grundsätzliche Debatte um die globale Selbstverortung Deutschlands jenseits des »Westeuropas« der siegreichen Alliierten ging, will ich abschließend an zwei Beispielen im Detail deutlich machen: zum einen an der Imaginierung Mustafa Kemals als Prototyp des »guten Diktators« in der Zwischenkriegszeit, zum anderen an der Konstruktion der Türkei als politisches Vorbild im Kampf gegen »den Westen«. Zur Illustrierung dienen dabei die bereits erwähnte erste Mustafa Kemal-Biographie von 1929 sowie die Schriften einer Prignitzer Diakonisse namens Annemarie von Auerswald, die nach 1918 dem »Bund der Asienkämpfer« beitrat.25 Kritik an der Ein-Partei-Diktatur, die Mustafa Kemal nach der Proklamation der Türkischen Republik im Oktober 1923 etablierte, fand sich in Weimar – selbst unter deutschen Liberalen – extrem selten; der spätere Atatürk galt vielmehr – selbst dann, wenn er ausdrücklich als Diktator bezeichnet wurde26 – 24 Zur Vorgeschichte dieser Globalisierung des humanitären Eingreifens, die sich gerade am Osmanischen Reich festmachte und damit zugleich einen Akt imperialer Aneignung von Welt durch Europa darstellte, vgl. Davide Rodogno: Against Massacre. Humanitarian Intervention in the Ottoman Empire 1814–1914, Princeton/Oxford 2011 sowie Hilmar Kaiser: Humanitärer Widerstand gegen den Genozid an den Armeniern in Aleppo, in: Rolf Hosfeld/Christin Pschichholz (Hrsg.): Das Deutsche Reich und der Völkermord an den Armeniern, Göttingen 2017, S. 244–264. 25 Zur erwähnten Mustafa Kemal Biographie vgl. Mangold-Will, Begrenzte Freundschaft (wie Anm. 5), S. 464; zu Annemarie von Auerswald vgl. Mangold-Will, Andere »Asienkämpfer« (wie Anm. 16), S. 166–170 sowie Oliver Stein: »Orientfahrten«. Deutsche Soldaten im Osmanischen Reich und der Krieg als Reiseerlebnis 1914–1918, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 57 (2016), S. 327–358, hier: S. 343–346. 26 Der bekannte liberale Journalist der Weimarer Republik, Emil Ludwig, nannte Kemal öffentlich einen Diktator. Vgl. Emil Ludwig: Besuch bei Mustafa Kemal. Die neue Türkei, in: Neue Freie Presse, 9. März 1930 (Morgenblatt) und 11. März 1930 (Morgenblatt), in: ders.: Franklin C. West (Hrsg.): Für die Weimarer Republik und Europa. Ausgewählte
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als der einzige »gute« Diktator27 unter den nicht gerade wenigen weltweiten Autokraten der Zwischenkriegszeit: »Kemal« habe, so lautete die Formulierung des berühmten liberalen Journalisten Emil Ludwig, »zum Demokraten das Streben und die Überzeugung es zu sein«28. Für den konservativen Asienkämpfer Dagobert von Mikusch verkörperte Kemals Türkei erst recht »eine Art Diktatur umkleidet mit der Toga der Demokratie«29. Kemals Vorzug lag in von Mikuschs Wahrnehmung darin begründet, dass er in idealer Weise westeuropäische Volksherrschaft und orientalische Despotie miteinander verband: »Aber er hat sich nie über die Volksvertretung hinweggesetzt oder auch nur ihre Bedeutung herabgedrückt. Er stützte sich auf das Parlament und beherrschte es zugleich, er hob es und hob damit seine eigene Stellung, er unterwarf sich Mehrheitsbeschlüssen, wußte aber stets die Entscheidung ohne Kompromisse in die ihm erwünschte Richtung zu bringen.«30 Diese Verbindung von Demokratie und Diktatur, von Freiheit und Führertum reservierte Mikusch in seinem biographischen Panorama nun aber keineswegs für den »Türken« oder »Orientalen« Mustafa Kemal; er erklärte sie vielmehr zu einer allgemeingültigen, zukunftsverheißenden Maxime. Schon in seinem Vorwort beanspruchte von Mikusch, Erkenntnisse zu vermitteln, die die globalen »Gegensätze« zwischen den sich annähernden »Kraftfeldern Europa und Asien« milderten, um so »den Ausgleich in gewollte Bahnen zu lenken«.31 Das Gefühl, an einem Wendepunkt, einer Epochengrenze zu stehen, die von »Annäherung« durch »Technik und Verkehr« und gleichzeitig wachsenden »Spannungen« zwischen zwei Weltteilen gekennzeichnet wurde, mache, so Mikusch, die Beschäftigung mit Mustafa Kemal für den »europäischen Menschen der Gegenwart«32 geradezu drängend notwendig. Bemerkenswerterweise führte die Erkenntnis, die der Blick auf den Diktator Mustafa Kemal gewährte, aber nicht zu einer Abwehr oder Ablehnung der
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Zeitungs- und Zeitschriftenartikel 1919–1932, Frankfurt a. M. 1991, S. 181–192, hier: S. 185. Ludwigs Bewunderung für Kemal tat das indes keinen Abbruch. Für Frankreich ist das Bild des guten Diktators Atatürk sehr gut untersucht: Pinar DostNiyego: Le Bon Dictateur. L’Image de Mustafa Kemal Atatürk en France 1919–1938, Istanbul 2014. Eine vergleichbare Studie für Deutschland und Gesamteuropa fehlt. Ludwig, Besuch bei Mustafa Kemal (wie Anm. 26), S. 185. Mikusch, Gasi Mustafa Kemal (wie Anm. 19), S. 218. Ebd. Ebd., S. VI. Ebd.
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von ihm in der Türkei etablierten Ordnung, sondern zu einer Nachahmung dieser neuen Manifestation des »Führerproblems«33 in der Weltgeschichte. War schon das Vorbild Türkei in einem klaren Bewusstsein zunehmender globaler Verflechtung Deutschlands und der Welt jenseits von Europa entstanden, so ließ sich dieses Vorbild nun zugleich in die Vorstellung eines globalen Kampfes gegen die westeuropäische Moderne einbauen. Die Kritik am reinen Parlamentarismus in Kemals Beschreibung als »Führer« der türkischen Nationalbewegung wies für den, der zwischen den Zeilen lesen konnte, darauf hin, wie auch die Lösung für Deutschland aussehen konnte. Verbalisiert wurde diese weltweite Front indes nur selten so klar, wie in den Texten der Diakonisse Annmarie von Auerswald. Diese hatte sich während des Krieges bewusst als Krankenschwester an die Orientfront versetzen lassen. Nach dem Krieg publizierte sie verschiedene Schriften zu ihrem »Orienterlebnis«. In einem dieser Stücke, überschrieben »Erinnerungen aus türkischen Lazaretten«, verband sie geradezu exemplarisch den traditionellen, abwertenden Orientalismus-Diskurs mit der neuen Weimarer Bewunderung für ein geglücktes antiwesteuropäisches nahöstlich-asiatisches Modernisierungsprojekt: In einer Art Groteske führte sie ihren Lesern zunächst die als typisch orientalisch rezipierten Unzulänglichkeiten türkischer Ärzte und Pfleger sowie den vermeintlich kindlichen Fatalismus ihrer Patienten vor Augen. Doch sobald sie an den Nationalstolz der Türken dachte, schlug sie eine scharfe Sprache der Selbstkritik an und beklagte den »so unberechtigten Hochmut unserer westlichen Kultur« und ihr eigenes »von Europas Kultur allzu übertünchte(s) Empfinden«.34 Es wäre indes völlig verfehlt, diese Aussagen als grundsätzliches Abrücken von einer europäischen Überlegenheitsgeste zu interpretieren, denn die politische Funktionalität dieser Kritik war unübersehbar: Den Europäern waren, wie sie feststellte, selbstgefährdend die »ungeheuren Anstrengungen« entgangen, die »die Türken auf allen Gebieten machten, um Jahrhunderte einzuholen« und durch die ihnen schließlich »die Freiheit von der Bevormundung des Westens« als »wohlverdienter Siegespreis zufiel«.35 Der »Westen«, so sollte ein deutscher Leser mitdenken, war das Europa der Alliierten, dem Deutschland genauso wenig angehörte wie die Türkei. Ein Sieg über den Westen stand
33 In der Zeitschrift des Bundes der Asienkämpfer hieß es bereits 1923 dazu: »Immer waltet in der Geschichte das Führerproblem«, vgl. Dr. Pritze: Der neue Geist, in: Der Asienkämpfer (1. April 1923), S. 1. 34 Annmarie von Auerswald: Erinnerungen aus türkischen Lazaretten, in: Der Asienkämpfer 1927, S. 146–148, hier: S. 148 und S. 146. 35 Ebd., S. 148.
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für Deutschland indes noch aus. Allein in der Welt war es jedoch mit seinem Kampf gegen die Alliierten mitnichten, wie das türkische Beispiel deutlich machte. Das Vorbild, das hier beispielhaft für die Welt beschworen wurde, war allerdings ein ebenso auf Krieg wie auf nationale Homogenität setzende türkische Nationalbewegung unter Führung des »Gasi«, also des »Glaubenskämpfers« Mustafa Kemal. Ähnliche Formulierungen, wie diejenigen der Annmarie von Auerswald, in denen sich die Faszination für die neue Türkei mit ihrer Funktion als globales Vorbild im Kampf gegen die alliierte Nachkriegsordnung und für eine nichtwesteuropäische Moderne verband, lassen sich vielfach nachweisen – und keineswegs nur bei den nationalkonservativen Asienkämpfern. Wie Stefan Ihrig mit seiner Analyse der nationalsozialistischen Presse sichtbar gemacht hat, fand sich diese Form der mentalen Globalisierung auch in Hitlers Bewegung wieder.36 Der Nationalsozialismus machte letztlich aber auch deutlich, dass die vermeintlich globale Front junger, auf ethnische Homogenität und Kriegsbereitschaft aufgebauten Nationalbewegungen, die in der Diktion der Asienkämpfer Deutsche und Türken über die Spannungen der Kontinente hinweg verband, allenfalls die Imagination einer Globalisierung antiwesteuropäischer Stoßrichtung darstellte. Am Abgrund der Moderne ließ sich die Vorstellung einer globalen antiimperialistischen Solidarität, die Berlin und Ankara vorgeblich verband, nicht mehr lange aufrechterhalten. Das republikanische, demokratische Weimar war in diesem Globalisierungsdiskurs, der auf so fatale Weise auf das gereinigte Morgenland gerichtet war, ohnehin schon lange zu Grabe getragen worden.
36 Vgl. Ihrig, Atatürk (wie Anm. 13), insbes. S. 68–107, wo Ihrig die schon länger kursierende These belegt, dass der Hitler-Putsch auch eine Reaktion auf den Sieg der kemalistischen Bewegung und die Ausrufung der Türkischen Republik im Herbst 1923 war.
Neue Medien, neue Inhalte
Lu Seegers
Das Radio in der Welt Fernempfang und Programm in der Weimarer Republik »Wir sind nicht mehr umfasst von uns’ren Wänden. Es schwebt der Raum – von vielem Licht erhellt. Es hebt uns Melodie mit ihren Geisterhänden und trägt uns mitten in das Herz der Welt.«1
Auf solch pathetische Weise beschrieb Ludwig Kapeller, Chefredakteur der renommierten Rundfunkzeitschrift »Der Funk«, im Jahr 1926 die Verheißung des Radios. Siegfried Kracauer hatte hingegen 1924 auf die »gefährliche Wirklichkeitsnähe« des neuen Mediums aufmerksam gemacht, das ein »Tummelplatz von Weltgeräuschen« zu werden drohe, weil es die Wirklichkeit nicht erschließe, sondern allenfalls »fotografiere«.2 In der Tat waren die Erwartungen an das Radio als zeit- und raumtranszendierendes Medium von Anfang an hoch. Das Radio sollte den Menschen die Teilhabe »an der weiten Welt« ermöglichen.3 Was aber unter »Welt« konkret verstanden wurde, blieb zumeist nebulös. War es die »Welt« anderer Kontinente, war es das europäische Ausland oder etwa nur der nächstgelegene Sender? Welche Vorstellungen vom Radiohören wurden in Bezug auf den Fernempfang in der Rundfunkpresse vermittelt? Welche Fernempfangsmöglichkeiten gab es in technischer Hinsicht? Gab es Kooperationen deutscher Rundfunksender mit ausländischen Stationen? Wie und in welchen Formaten wurde in Deutschland über das Ausland berichtet? Diese Fragen wurden bislang noch nicht systematisch untersucht. Der vorliegende Beitrag behandelt zum einen die technischen Voraussetzungen und Möglichkeiten, Sender aus anderen Ländern in Deutschland zu empfangen. 1
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Zit. nach: Adelheid von Saldern: Radio und Stadt in der Zwischenkriegszeit. Urbane Verankerung, mediale Regionalisierung, virtuelle Raumentgrenzung, in: Clemens Zimmermann (Hrsg.): Stadt und Medien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Städteforschung, Bd. 85), Köln/Weimar/Wien 2012, S. 97–130, hier: S. 97. Renate Schumacher: Radio als Medium und Faktor des aktuellen Geschehens, in: Joachim-Felix Leonhard (Hrsg.): Programmgeschichte des Hörfunks in der Weimarer Republik. Bd. 1, München 1997, S. 424–640, hier: S. 513. Corey Ross: Media and the Making of Modern Germany, Oxford 2010, S. 121.
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Lu Seegers
Zum anderen stellt er auf Grundlage der Sekundärliteratur länderübergreifende Kooperationen und Sendeformate sowie deren Inhalte vor. 4 Dabei wird die These entwickelt, dass ebenso wie der Fernempfang auch die Berichterstattung über Ereignisse im Ausland in der Weimarer Republik eher punktuell war und der regionale Bezug zumeist im Vordergrund stand.
Wellen-Reichweiten: Zu den technischen Bedingungen des Fernempfangs Mit dem von Ludwig Kapeller postulierten »Herz der Welt verbunden« waren bei weitem nicht alle Rundfunkhörer. Die ersten Sendeanlagen hatten nur eine Trägerleistung von durchschnittlich 0,25 Kilowatt und konnten damit nur im nahen Umkreis gehört werden. Radiosendungen konnten am besten über die Bodenwelle entlang der Erde übertragen werden. Die Bodenwelle, die einfache Detektoren, bestehend aus einer aus Draht gewickelten Spule als Schwingungskreis, einem Kristall, einer Antenne und einem Kopfhörer empfangen konnten, reichte je nach Wetterbedingungen aber nur zwischen fünf und 30 Kilometer weit.5 Deshalb kauften zunächst vor allem jene Personen ein Radio, die im engeren Umkreis der in den Großstädten liegenden Sendestationen wohnten.6 Zwischen 1926 und 1929 wurden die Pionieranlagen durch leistungsfähigere Nachfolger ersetzt. Mit durchschnittlich 1,5 kW Leistung brachten sie allerdings noch keine grundlegende Verbesserung der Empfangsbedingungen, auch wenn die Bodenwellen nun zwischen 50 und 70 km weit reichten.7 Hörer außerhalb dieser Bodenwellenkreise mussten Röhrengeräte kaufen, die Raumwellen empfangen konnten. Bis 1928/29 handelte es sich um batteriebetriebene Geräte, die freilich nur beim richtigen Zusammenspiel der Trockenbatterie für die Anodenspannung und den Akkumulatoren für die Röhrenheizung einwandfrei funktionierten. Erst die ab 1930 errichteten Großsenderanlagen, wie z. B. im badischen Mühlacker und im ostpreußischen Heilsberg mit Trägerleistungen bis 100 kW, brachten eine deutliche Verbesserung der Situation. Dadurch konnten etwa 70 Prozent der Bevölkerung Bodenwellen empfangen und auch
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Eine wichtige Grundlage dafür stellt die zweibändige »Programmgeschichte des Hörfunks in der Weimarer Republik« dar, die vor allem auf der Auswertung von zeitgenössischen Programmzeitschriften beruht. Joachim-Felix Leonhard: Programmgeschichte des Hörfunks in der Weimarer Republik, 2 Bde., München 1997. Konrad Dussel: Deutsche Rundfunkgeschichte, 3. überarb. Aufl. Konstanz 2010, S. 40. Von Saldern, Radio (wie Anm. 1), S. 99. Dussel, Rundfunkgeschichte (wie Anm. 5), S. 40.
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der Deutschlandsender war nun in allen Landesteilen zu hören.8 Die Zahl der Hörer wuchs: Während 1928 rund 2,2 Millionen Rundfunkteilnehmende registriert waren, belief sich die Zahl im Jahr 1932 bereits auf 4,2 Millionen.9 Der Rundfunk erreichte somit zwischen zehn und elf Millionen Menschen.10 Der Empfang auf dem Land wurde zum Teil sogar besser als in den Großstädten, wo Straßenbahnen und Lichtreklamen häufig elektrische Störungen verursachten.11 In den Ballungszentren behinderten zudem Motoren und elektrische Haushaltsgeräte wie Haartrockner, Heizkissen und Staubsauger das Hören von Radiosendungen.12 Gleichermaßen in Stadt und Land waren Radiohörende bei Gewittern betroffen, die sich durch heftiges Knattern und Prasseln im Empfänger bemerkbar machten.13 Im Mittelpunkt der technischen Artikel der Programmzeitschriften standen mit dem Bau der Großsenderanlagen die vielfältigen Empfangsprobleme, die sich aus der zunehmenden Zahl und Leistung der deutschen und der europäischen Sender ergaben. »Ich kann die Sender nicht trennen«, so und ähnlich lauteten etwa die Überschriften vieler Leseranfragen an die im März 1931 gegründete Berliner Rundfunkzeitung »Sieben Tage«.14 Insgesamt aber verbesserte sich die Empfangssituation, so dass selbst ein einfacher Detektor nunmehr eine Vielzahl von Sendern hörbar machen konnte. Allgemein kam es nun weniger auf die Röhrenzahl der Empfänger an als vielmehr auf die Zahl der Abstimmkreise, die die Trennschärfe zwischen den verschiedenen Sendern und die Klanggüte eines Geräts ausmachten. Zudem förderte der Einbau beleuchteter Skalen, die um 1931 die kleinen spionartigen Gucklöcher vorne am Gerät ablösten, das allgemeine Interesse am Fernempfang. Die größeren Apparate besaßen nun geeichte Senderskalen, die alle wichtigen
8 Florian Cebulla: Rundfunk und ländliche Gesellschaft 1924–1945 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 164), Göttingen 2004, S. 40. Der Sender hieß vormals »Deutsche Welle«. Die Bezeichnung »Deutschlandsender« hatte sich ab Ende 1926 mit der Inbetriebnahme der Berliner Sendeanlage eingebürgert. 9 Carsten Lenk: Die Erscheinung des Rundfunks. Einführung und Nutzung eines neuen Mediums 1923–1932 (Konzeption Empirische Literaturwissenschaft, Bd. 20) Opladen 1997, S. 105. 10 Karl Christian Führer: Auf dem Weg zur »Massenkultur«? Kino und Rundfunk in der Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift 262 (1996), S. 739–781, hier: S. 767. 11 Cebulla, Rundfunk (wie Anm. 8), S. 40 und 55. 12 Lenk, Erscheinung (wie Anm. 9) S. 105. 13 Lu Seegers: Hör zu! Eduard Rhein und die Rundfunkprogrammzeitschriften (1931–1965), (Veröffentlichungen des Deutschen Rundfunkarchivs, Bd. 34), 2. Aufl. Potsdam 2003, S. 244. 14 Ebd., S. 246.
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Stationen Europas mit Namen und Wellenlänge verzeichneten.15 Auf diese Weise hob die Radioindustrie das Prinzip des individuellen Wählen-Könnens besonders hervor. Die Programmzeitschriften verstärkten diesen Effekt, indem sie die Programme ausländischer Sender in eigenen Sendertabellen präsentierten.16 Der »allabendliche Wellenbummel«, der den Hörern in rasanter Weise das Ausland in die Wohnstube brachte, avancierte zum zentralen Verkaufsargument. In der Rundfunkzeitschrift »Sieben Tage« wurde das Idealbild des »selbstbewussten Flaneurs« im »Wellen-All« gezeichnet. Besonders eindrucksvoll tat dies der technische Redakteur der Zeitschrift, Eduard Rhein:17 »Machtvoll fluten die Wellen von mehr als hundert Rundfunk-Sendern über Europa, eine beglückende Vielheit von Worten und Klängen. Man sitzt am Empfänger, dreht am Knopf der großen Abstimm-Skala, und geisterhaft tauchen immer neue Stimmen auf. Über ganz Europa singt es und klingt es, daß das trunkene Ohr es kaum zu fassen vermag. Eine Oper aus Rom? Ein Walzer aus Wien? Zigeunermusik aus Budapest? Ein paar schmachtende Tangos aus Barcelona? Jazzmusik aus London oder Paris? Ein Beethoven-Konzert aus Köln, ein lustiger Abend aus Berlin? Sie brauchen nur zu wählen. Sie haben die Welt in ihren Räumen. Als wären über Nacht alle Sender Europas herangerückt.«18 Damit dieses Vergnügen aber nicht nur ein Versprechen am luxuriösen Fernempfänger blieb, musste technisches Grundlagenwissen vermittelt werden. In erheblichem Maße hing die Qualität des Empfangs – besonders bei einfachen Detektor- oder Röhrengeräten – von der Wahl der Antenne und ihrer ordnungsgemäßen Erdung ab. Eduard Rhein gab daher in den »Sieben Tagen« immer wieder Anleitungen zur perfekten Antenneninstallation. Die technische Berichterstattung trug dazu bei, Phänomene wie »Senderjagd« und »Wellenbummel« als Leitbilder des unbegrenzten Hörgenusses zu verfestigen. Dabei
15 Lenk, Erscheinung (wie Anm. 9), S. 234. 16 So fanden sich die Sender des Auslands in der Rundfunkzeitschrift »Sieben Tage« nach ihrer geografischen Lage geordnet. Besonders gut zu empfangende Stationen wurden durch Fettdruck kenntlich gemacht. Auf diese Weise wurde die potentielle Auswahl aus einer Vielzahl von Sendern als ein selbstverständlicher Bestandteil des Alltagslebens dargestellt. Siehe Seegers, Hör zu! (wie Anm. 13), S. 97. 17 o. V.: »Das Mehrfach-Programm kommt! Für die Zukunft des Rundfunks sind Sie gesichert«, in: Sieben Tage 1 (1931), Nr. 14, S. 1. 18 Den Artikel schrieb Eduard Rhein unter seinem Pseudonym Klaus Hellborn. Klaus Hellborn [Eduard Rhein]: Ach, ich höre ja nur den Ortssender! Weshalb verzichten wenn’s nicht nötig ist?, in: Sieben Tage 1 (1931), Nr. 33, S. 1.
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waren die Adressaten des postulierten Fernempfangs vor allem Männer, die ihre Familien je nach technischem Wissen an der akustischen Kulisse Europas teilhaben lassen konnten.19
Übertragungen aus dem Ausland – Programmkooperationen Obgleich der Fernempfang ein mehr oder weniger unsicheres Unterfangen blieb, gab es schon frühzeitig Kooperationen zwischen deutschen und ausländischen Sendern. Von Beginn an wurde vor allem der Austausch von Kulturprogrammen angestrebt, zumal es im Bereich der Musik keine sprachlichen Barrieren gab. Zugleich war der zwischenstaatliche Austausch aber auch heikel. So konnten im sich politisch gedemütigt fühlenden Deutschland einerseits trotzige Ressentiments gegen das Ausland aufbrechen. Andererseits aber bot der Rundfunk mit seinen grenzüberschreitenden Reichweiten auch gänzlich neue Kommunikationsmöglichkeiten, etwa wenn die Stuttgarter Welle im Mai 1930 mit dem Sender Toulouse anlässlich der Südatlantiküberquerung des Zeppelins kooperierte. Dabei kam es zu einem Zwiegespräch mit dem französischen Reporter, das der expressionistische Schriftsteller Felix Stiemer in der Programmzeitschrift »Deutscher Rundfunk« als erstes internationales Gespräch zwischen europäischen Rundfunksendern beschrieb. Die Sendung, in deren Verlauf sich auch noch Barcelona einschaltete, wurde von den Sendern Frankfurt, Hamburg, Königsberg und Köln übernommen.20 Bei den Kooperationen mit ausländischen Sendern spielte jedoch die Musik die wohl wichtigste Rolle. Sie bot keinen politischen Zündstoff, galt als nationenverbindend und war zugleich ein Aushängeschild der Deutschen. Koordinierender Vorreiter war der Weltrundfunkverein in Genf. Er etablierte 1926 »Nationale Abende«, bei denen jeder europäische Sender ein repräsentatives Programm mit Musik des eigenen Landes zusammenstellen sollte. Auf einen norwegischen Abend am 9. Juni 1926 folgten in größerem Abstand ein französischer, deutscher, englischer, tschechoslowakischer und österreichischer Abend. 1928 gab es einen schwedischen, belgischen, italienischen, holländischen, polnischen sowie einen ungarischen und einen Schweizer Abend.21 Dabei blie-
19 Dazu Seegers, Hör zu! (wie Anm. 13), S. 247. 20 Schumacher, Radio (wie Anm. 2), S. 557. 21 Ludwig Stoffels: Kunst und Technik, in: Joachim-Felix Leonhard (Hrsg.): Programmgeschichte des Hörfunks in der Weimarer Republik. Bd. 2, München 1997, S. 682–724, hier: S. 698.
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ben Irritationen nicht aus. So übergingen etwa der schlesische und der ostpreußische Sender den polnischen Abend im Juni 1928 vermutlich aufgrund der schwierigen deutsch-polnischen Rundfunkbeziehungen.22 Abgesehen davon stellten die nationalen Abende keinen wirklichen Programmaustausch dar. Technisch war Letzterer vor allem ab 1927 möglich, als vermehrt Fernkabel in Deutschland verlegt wurden und zwischenstaatliche Programmkooperationen deutscher Sender mit europäischen Anrainerstaaten wie Österreich, Polen und der Tschechoslowakischen Republik etabliert wurden.23 So kooperierte etwa der Sender München mit der österreichischen Radio Verkehrs AG, die anlässlich des Beethoven-Jahres 1927 mehrere Konzerte übertrug. Enge Kontakte gab es auch zwischen der Süddeutschen Rundfunk AG (SÜRAG) in Stuttgart und den Sendern Freiburg und Basel aufgrund des gemeinsamen alemannischen Kulturkreises. Im März 1928 tauschten zudem erstmals Köln, Brüssel und London Musik aus und begründeten damit eine vielbeachtete Zusammenarbeit.24 So wurde etwa am 3. Januar 1930 ein Klassischer Abend vom westdeutschen, belgischen und englischen Rundfunk gemeinsam bestritten und von den meisten deutschen Sendegesellschaften übernommen.25 Zuvor hatte es bereits am 1. September 1929 ein Konzert des Völkerbundes mit Musikern aus sechs verschiedenen Nationen gegeben. Die dabei verwendete Methode des Ferndirigierens unter der Leitung von Erich Fischer in Zürich, bei der der Dirigent in die einzelnen Sendehäuser per Film projiziert wurde, führte allerdings nicht zu der gewünschten musikalischen Qualität.26 Schließlich gelang auch eine Kooperation mit der Siegermacht Frankreich: Der Sender Königswusterhausen übertrug am 5. Februar 1930 ein Konzert aus Paris.27 Überhaupt brachte das Jahr 1930 – trotz der Weltwirtschaftskrise – einen spürbaren Aufschwung im internationalen Austausch. Deutsche Sender übernahmen 52 musikalische Veranstaltungen, meist aus Österreich, Italien und Ungarn, und gaben 59 Sendungen ab, darunter die gekürzte Fassung des Lindbergh-Flugs von Brecht,
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Ebd., S. 702. Ebd., S. 703. Ebd., S. 704. Ebd., S. 705. Ebd., S. 706. Zur Technik des Ferndirigierens siehe Jana Weißenfeld: Von sichtbaren Schöpfungsakten und archivierten Gesten. Bewegte Dirigentenbilder im Konzertfilm, in: Arne Stollberg/Jana Weißenfeld/Florian Henri Besthorn (Hrsg.): Musikalische Gesten–verkörperte Musik (Resonanzen. Baseler Publikationen zur älteren und neueren Musik, Bd. 3), Basel 2015, S. 385–418, hier: S. 403. 27 Stoffels, Kunst (wie Anm. 21), S. 704.
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Hindemith und Weill, die auch in Belgien und England ausgestrahlt wurde.28 In diesem Jahr wurde zudem die Einrichtung offizieller Europäischer Konzerte beschlossen, die die kooperierenden Länder im Wechsel übernahmen.29 In Deutschland beteiligten sich vorrangig der Deutschlandsender, aber auch etwa die Nordische und die Mitteldeutsche Rundfunk AG (NORAG und MIRAG) daran. 1931 stand Deutschland im Mittelpunkt, als an der Übertragung von Wagners »Tristan und Isolde« aus Bayreuth etwa 200 Sender in Europa, Nordafrika und Amerika über die neue Kurzwellentechnik teilnahmen.30 Die Kooperationen im kulturellen Bereich waren zu dieser Zeit also durchaus vielseitig.
Auslandsberichterstattung im deutschen Rundfunk Programmverantwortliche und Rundfunkkritiker feierten die technischen Möglichkeiten des Rundfunks, in Kommunikation mit dem Ausland zu treten, als Mittel zur Völkerverständigung.31 Wenn man danach fragt, welche Themen aus dem Ausland in die deutschen Rundfunksender Eingang fanden, ergibt sich ein etwas anderes Bild. Dabei fallen mehrere Aspekte ins Auge. Zum einen zeigte sich der Weimarer Rundfunk tatsächlich engagiert bei der Übertragung internationaler Ereignisse. So wurden etwa zahlreiche Sitzungen des Völkerbundes, in den Deutschland 1926 aufgenommen wurde, in voller Länge übertragen. Ab 1929 war der Chefredakteur der Drahtloser Dienst AG, Joseph Räuscher, selbst vor Ort. Er gab Inhaltsangaben der Reden der Politiker und erstellte kleine Reportagen aus dem Sitzungssaal.32 Die nationale und die internationale Ebene berührten sich, als die Verleihung des Nobelpreises an Thomas Mann am 10. Dezember 1929 aus Stockholm übertragen wurde. Sprecher war der bekannte Hörspielregisseur und Rundfunkreporter von der Berliner Funkstunde, Alfred Braun, dem die Kritik bescheinigte, in ganz ungezwungener Weise ein Bild von der Atmosphäre gezeichnet zu haben.33 In der Regel standen jedoch deutsche Angelegenheiten im Ausland im Mittelpunkt, wobei die Anlässe auch und gerade zu Anfang eher zufällig aus-
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Ebd., S. 706. Ebd., S. 707. Ebd., S. 709. Schumacher, Radio (wie Anm. 2), S. 556. Ebd., S. 554. Ebd., S. 556.
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gewählt erschienen. So berichtete etwa der Frankfurter Sender im September 1924 über die 88. Versammlung der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte in Innsbruck, und die MIRAG dokumentierte im selben Monat die deutsche Beteiligung an einer internationalen Pfadfindertagung in Kopenhagen.34 Von mehreren Sendern übertragen wurde die Überführung des Zeppelins von Friedrichshafen ins US-amerikanische Lakehurst am 12. Oktober 1924 in Form von Lageberichten. Dieses »Wunderwerk deutscher Technik« reflektierte die Ambivalenz des deutschen Nationalbewusstseins nach dem verlorenen Krieg. Der Zeppelin stand für deutsche Technik, zugleich war er als Teil der Reparationszahlungen aber auch Signum des in weiten Kreisen der Bevölkerung ungeliebten Versailler Vertrags.35 Ebenfalls deutschen Interessen verpflichtet, aber weitaus weniger politisch konnotiert, waren Übertragungen internationaler Sportwettkämpfe. Die Sechstagerennen in Berlin waren ein jährliches Highlight.36 Ein außergewöhnliches Ereignis war der Boxweltmeisterschaftskampf von Max Schmeling gegen den Basken Paolini Uzcudum in New York am 28. Juni 1929, der allerdings wegen einer Rechteauseinandersetzung nicht direkt übertragen werden konnte. Der Streit um die Übertragungsrechte hatte schon im Jahr 1928 die Ausstrahlung der Olympischen Sommerspiele unmöglich gemacht. Daraufhin hatte z. B. die Westdeutsche Rundfunk AG (WERAG) ihren Reporter Bernhard Ernst als normalen Besucher nach Amsterdam geschickt, um täglich Berichte zu übermitteln.37 Darüber hinaus war Amerika ein regelmäßiges, wenngleich nicht besonders bedeutendes Thema im Weimarer Rundfunk. Die Sendereihe »Amerika« wurde 1927/28 von mindestens vier Sendegesellschaften aufgenommen und präsentierte amerikanische Literatur und Musik. In der Frankfurter Radiostation brachte der Literat Ernst Glaeser im Januar 1929 mit William Grant Still den wohl ersten schwarzen Sinfoniker zu Gehör.38 Amerikanische Gäste traten indessen im Weimarer Rundfunk nur selten auf, stellten dann aber eine Sensation dar, wie z. B. die Utica Jubilee Singers im März 1929.39 Außerdem 34 35 36 37
Ebd., S. 479. Ebd., S. 471. Ebd., S. 454. Ebd., S. 464–465. Zur Radioarbeit von Bernhard Ernst siehe Hans-Ulrich Wagner: Rund um das Mikrophon. Bernhard Ernst, in: Klaus Katz (Hrsg.): Am Puls der Zeit. 50 Jahre WDR. Bd. 1: Die Vorläufer 1924–1955, Köln 2006, S. 61. 38 Ludwig Stoffels: Rundfunk und die Kultur der Gegenwart, in: Joachim-Felix Leonhard (Hrsg.): Programmgeschichte des Hörfunks in der Weimarer Republik. Bd. 2, S. 958–995, hier: S. 954. 39 Ebd., S. 948.
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reizte Amerika zu medienspezifischen Experimenten. So beinhaltete das Hörspiel »Song« von der Schlesischen Funkstunde Breslau beispielsweise Musik aus Harlem. Friedrich Bischoff – von Haus aus Schriftsteller – präsentierte darin als jüngster deutscher Rundfunkintendant gemeinsam mit dem Musikschriftsteller Edmund Nick in dem Sender Texte von Brecht, Kästner und Tucholsky, die mit Schlagwörtern wie Tempo, Maschinenzeit und Jazz spielten. 40 Der Jazz polarisierte von Beginn an im Rundfunk. Zwar betrachtete die SÜRAG ihn als innovative Musikform, und der Frankfurter Sender unterhielt zumindest bis zum Jahr 1929 sogar eine eigene Rundfunk-Jazzband. 41 Doch es gab auch energische Gegenstimmen, wie etwa von dem anfangs bereits zitierten Ludwig Kapeller. Er betrachtete den Jazz im Jahr 1926 als negative Verkörperung der Zeitverhältnisse, als »Melodie-Groteske, musikalische Karikatur, Stumpfsinn und instrumentierter Witz: die veroperte Großstadt, die orchestrierte Gegenwart in ihren Gegensätzen.«42 Ab 1930 spielte der Rundfunk vielfach nur noch in den späten Abendstunden Jazz. 43
Die »Welt« im Sendeformat Ab 1928 gab es Versuche in der Sparte Zeitgeschehen, kontinuierlicher über das Ausland zu berichten. Zudem richteten die Sender eigene Reihen zur Auslandsberichterstattung ein, und es gab rudimentäre Ansätze zu einem Korrespondentennetz. Die Berichterstatter waren allerdings nicht bei den Sendern fest angestellte Personen, sondern in der Regel Wissenschaftler, die neben ihrer sonstigen Publikationstätigkeit für den Rundfunk tätig waren. Der Berliner Linksintellektuelle und Nationalökonom Prof. Dr. Alfons Goldschmidt lieferte zum Beispiel für die NORAG ab 1928 in lockerer Folge Berichte aus den
40 Ebd., S. 955. Zur beruflichen Biografie und zur Rundfunkarbeit von Friedrich Bischoff siehe Nina Heidrich: Rundfunk in der Weimarer Republik. Regionale und nationale Konzepte, Bielefeld 2018, S. 83–92. 41 Stoffels, Rundfunk (wie Anm. 38), S. 959. 42 Ludwig Kapeller: Jazz-Gedanken, in: Funk 4 (1926), Nr. 8, S. 57. Anders als der Kinofilm, der in kulturkonservativen Kreisen wenig Kritik erfuhr, war die Ablehnung des Jazz während der Weimarer Republik in diesen Kreisen einmütig, während progressive Befürworter in diesem Musikstil emanzipative und befreiende Momente erblickten. Dazu Philipp Gassert: Amerika im Dritten Reich. Ideologie, Propaganda und Volksmeinung 1933 bis 1945 (Transatlantische Historische Studien, Bd. 7), Stuttgart 1997, S. 66. 43 So etwa bei der WERAG unter dem Titel »Meister des Jazz«. Vgl. Katz, Am Puls der Zeit (wie Anm. 37), Bd. 1, S. 77.
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USA, der Karibik und Südamerika, in denen es um den Alltag der dort lebenden Menschen ging. Während die NORAG Goldschmidt gewähren ließ, solange er politische Themen aussparte, forderte der Überwachungsausschuss der Berliner Funkstunde, für den der Wissenschaftler ebenfalls tätig war, regelmäßig dessen Manuskripte an. Schließlich wurde hier ein für Mai 1932 vorgesehener Beitrag unter dem Titel »Erlebnisse mit braunen Menschen Amerikas« verboten. 44 Von Beginn an deutlich politisch konservativer als die Berichte von Alfons Goldschmidt gestaltete sich der Weltpolitische Monatsbericht der SÜRAG, der bereits ab 1925 ausgestrahlt wurde. Karl Haushofer, Chefkommentator der Stuttgarter Sendegesellschaft, kritisierte hier beispielsweise scharf die Unterzeichnung der Locarno-Verträge. 45 Besonders in der Rundfunkpresse gelobt wurde die Sendereihe »Zeitberichte« des Südwest Rundfunks Frankfurt (SWR), die vermutlich am 30. Mai 1929 begann und zeitweilig von der Berliner Funkstunde übernommen wurde. 46 Ziel des Formats sollte es sein, »für das Schicksal anderer Völker das so dringend notwendige Interesse zu wecken« und eine Grundlage für eine »objektive Beurteilung der großen politischen Ereignisse im In- und Ausland zu schaffen«. 47 Den »Zeitberichten« unterlag ein ebenso dokumentarisches wie aktuelles Prinzip, ging es doch darum, Originalreden herausragender ausländischer Politiker etwa bei Parlamentssitzungen zu übersetzen und von Schauspielern vortragen zu lassen. Die Rundfunkpresse lobte vor allem die Authentizität des Geschehens: Durch die lebendige Stimme des Sprechers könne der Rhythmus der Rede wesentlich besser nachvollzogen werden als etwa in einem Zeitungsbericht. Trotzdem unterlagen die Zeitberichte der Zensur – insbesondere bei der Berliner Funkstunde, wo Erich Scholz, Vertreter des Reichsinnenministeriums im Überwachungsausschuss des Senders, regelmäßig Manuskripte anforderte. 48 Auch die SÜRAG, die sich mit dem SWR in einer Programmgemeinschaft befand, stand der Sendereihe skeptisch gegenüber. So wurde zum Beispiel ein Manuskript über den Parteikongress
44 Schumacher, Radio (wie Anm. 2), S. 558. Schumacher nennt dazu keine weitere Begründung. 45 Ebd., S. 517. Zu den geostrategischen Vorstellungen von Karl Haushofer, die eine hohe Affinität zum Nationalsozialismus aufwiesen, siehe Heike Wolter: »Volk ohne Raum«– Lebensraumvorstellungen im geopolitischen, literarischen und politischen Diskurs der Weimarer Republik. Eine Untersuchung auf der Basis von Fallstudien zu Leben und Werk Karl Haushofers, Hans Grimms und Adolf Hitlers (Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 7), Münster 2003. 46 Schumacher, Radio (wie Anm. 2), S. 550 f. 47 Ebd., S. 553. 48 Ebd., S. 551.
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der KPdSU in Moskau am 8. Dezember 1930 auf Veranlassung der Stuttgarter Sendeleitung vom Überwachungsausschuss verboten. 49 Größere Bekanntheit erreichte die Sendereihe »Worüber man in Amerika spricht« ab September 1931. Sie war das Resultat einer Vereinbarung der Reichsrundfunkgesellschaft (RRG) mit der National Broadcasting Corporation (NBC). Der Journalist Kurt G. Sell übermittelte jeden zweiten Freitag Kurzvorträge aus Washington, die der Deutschlandsender um 20 Uhr ausstrahlte und die sukzessive von weiteren Sendern übernommen wurden.50 Ebenfalls ab September 1931 strahlte der Sender Köln die Sendereihe »Die Welt auf Schallplatte« aus. Der Berliner Journalist Hellmut H. Hellmut ließ dazu seine Reportagen des New Yorker Stadtlebens auf Wachsplatte aufzeichnen.51 Insgesamt erweiterten die neuen Sendeformate den Horizont der Hörer, auch wenn sie in ihrer inhaltlichen Berichterstattung zu politischen und gesellschaftlichen Fragen über das Ausland eher punktuell und zufällig blieben.
Regionalisierung statt Internationalisierung Adelheid von Saldern hat argumentiert, dass der Rundfunk der Weimarer Republik insgesamt weniger zur Herausbildung einer nationalen einheitlichen Kultur beitrug als vielmehr dazu, die älteren Regionalkulturen zu konservieren, auch wenn dies in einem gewissen Spannungsverhältnis zu der gegen Ende der Weimarer Republik forcierten Nationalisierung des Rundfunks stand.52 Die Regionalisierung schien sowohl technisch als auch kulturell und gesellschaftlich die längste Zeit leitbildgebend gewesen zu sein. Was waren die Gründe dafür? Von 1924 an erfuhr die föderale Gliederung des Rundfunks eine deutliche Differenzierung in die Region hinein. So genannte Nebensender wurden zusätzlich zu den Hauptsendern eingerichtet, die eigene Sendefrequenzen besaßen und somit auch eigene Programme ausstrahlen konnten. Zudem lieferten sie den Hauptsendern Programme zu und konnten so regionalen Beiträgen, die überdies als preislich günstiger galten, Gehör verschaffen. Dabei bestritten auch kleine und ökonomisch schwächere Hauptsender wie z. B. die Schlesische Funkstunde in Breslau ihr Programm zu 90 Prozent aus Eigenproduktionen.53
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Ebd., S. 552. Ebd., S. 562–563. Ebd., S. 564. Von Saldern, Radio (wie Anm. 1), S. 106; vgl. auch Führer, Weg (wie Anm. 10), S. 778. Ebd.
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Bei der Einrichtung des Nebensenders in Gleiwitz waren vor allem politische Gründe ausschlaggebend, wie Nina Heidrich jüngst herausgearbeitet hat. Denn es ging besonders in den Grenzregionen darum, deutsche Minderheiten im Ausland mit eigenen Rundfunkprogrammen zu versorgen.54 Lediglich die zur Programmgemeinschaft zusammengeschlossenen Gesellschaften in Frankfurt (SWR) und Stuttgart (SÜRAG) gestalteten Ende der 1920er Jahre ungefähr ein Viertel ihrer Sendezeit mit Übernahmen von jeweils anderen Sendern.55 Zwar wurden die Regionalprogramme wegen finanzieller Belastungen ab 1927 zurückgeschraubt. Doch das änderte nichts an der regionalen Ausrichtung der Hauptsender. Hinzu kam, dass der Deutschlandsender vielfach herausragende Sendungen der Regionalgesellschaften übernahm. Das Rundfunkprogramm besaß daher eine stark regionale Prägung mit Heimatabenden, Volksmusik und mundartlichen Sendungen, die auch und gerade ländliche Milieus ansprechen sollten.56 Das traf auch und gerade auf die NORAG mit Sitz in Hamburg zu, die über ein Sendegebiet verfügte, das von der holländischen Grenze bis nach Stettin reichte. Intendant Hans Bodenstedt und sein Stellvertreter, Kurt Stapelfeldt, hatten die Absicht, den Sender zum »Träger und Erhalter der Heimatkultur« zu machen.57 Dies zeigte sich in einer Vielzahl niederdeutscher Sendungen, die auf den Erhalt traditionsreicher Regionalkulturen setzten. Zugleich ging es durchaus darum, die Regionalkultur im transnationalen Raum zu konturieren. Besonders populär wurde ab 1929 das »Hamburger Hafenkonzert«.58 Seinen besonderen Reiz bezog es aus dem neuen Format der Live-Sendung. Am 29. Juni 1929 wurde die Sendung erstmals vom Dampfschiff »Antonio Delfino« im Hamburger Hafen ausgestrahlt. Das Erfolgsrezept bestand in einer Mischung aus Wortbeiträgen von Kurt Esmarch, der während der Sendung Gespräche mit Personen aus der Welt der Schifffahrt führte, aber auch eigene Anekdoten und Erlebnisse schilderte, und aus Unterhaltungsmusik mit maritimem Einschlag.59
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Heidrich, Rundfunk (wie Anm. 40), S. 93 und S. 201. Führer, Weg (wie Anm. 10), S. 778. Ebd., S. 780. So der programmatische Titel einer Schrift von Kurt Stapelfeldt: Der Rundfunk als Träger und Erhalter der Heimatkultur, in: Reichs-Rundfunk-Gesellschaft (Hrsg.): RundfunkJahrbuch, Berlin 1929, zitiert nach: Karl Christian Führer: Medienmetropole Hamburg. Mediale Öffentlichkeiten 1930–1960 (Forum Zeitgeschichte, Bd. 20), Hamburg 2008, S. 31. 58 Führer, Medienmetropole (wie Anm. 57), S. 32. 59 Dazu Lars Amenda: Hafenkonzert. Geräusche und Gesellschaft in Hamburg im 20. Jahrhundert, in: Zeithistorische Forschungen 8 (2011), S. 198–216, hier: S. 209 f.
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Über den Deutschen Kurzwellensender wurde das »Hafenkonzert« in alle Welt ausgestrahlt – und von vielen Hamburger Seeleuten auf ihren Fahrten als »Brücke zur Heimat« gesehen, wie Esmarch retrospektiv betonte.60 Die Regionalkultur sollte hier also zum einen in Hamburg und Umgebung, aber eben auch weltweit als emotionaler Fix- und Ankerpunkt wirken. Im Übrigen nutzte die NORAG die Metropole Hamburg immer wieder als attraktives Motiv für zahlreiche Berichte, doch wurde Hamburg dabei immer wieder als altehrwürdige und konfliktlose Überseestadt gezeichnet.61 Ansonsten konzentrierte sich die NORAG vor allem nach Beginn der Weltwirtschaftskrise insbesondere auf die ländlichen Regionen. Dabei wurden, wie Adelheid von Saldern festgestellt hat, die Heimatsendungen – auch in anderen Rundfunkanstalten – schon vor 1933 mit essentialistischem Volkstumsdenken und völkischer Ideologie durchsetzt.
Fazit Die Teilhabe an der »Welt« war eines der zentralen Versprechen des Radios in der Weimarer Republik – sowohl von den Programmverantwortlichen, als auch von der Geräteindustrie und der flankierenden Rundfunkpresse. Es zeigte sich, dass die Möglichkeiten, die Welt außerhalb Deutschlands zu empfangen, vielfältig, aber eher punktuell und zufällig waren. So war der Fernempfang rein technisch in den 1920er Jahren vom jeweiligen Standort in der Nähe einer Senderanlage und von der Güte des verwendeten Geräts abhängig. Eine Verbesserung der Reichweiten wurde erst mit der Einrichtung von Großsenderanlagen ab 1930 erreicht. Nicht zuletzt durch die neuartigen Skalen der Geräteindustrie, die alle wichtigen Sender verzeichneten, avancierte der »Wellenbummel« in ganz Europa zu einem zentralen Verkaufsargument sowohl in den Städten als auch auf dem Land. Allerdings blieb das »Flanieren« im Äther abhängig von Gerät und Witterungsverhältnissen. Auch dürfte es allein schon wegen mangelnder Sprachkompetenzen eher oberflächlich gewesen sein. Ähnliches galt für die Repräsentationen der »Welt« außerhalb Deutschlands in den Rundfunkprogrammen. Auch wenn die Völkerverständigung erklärtes Ziel war und insbesondere Musik- und Sportübertragungen sich großer Beliebtheit
60 Ebd., S. 211. 61 Adelheid von Saldern: Rundfunkpolitik, Nationalidee und Volkskultur (1926–1932), in: Inge Marszolek/Adelheid von Saldern (Hrsg.): Radiozeiten. Herrschaft, Alltag und Gesellschaft (1924–1960), (Veröffentlichungen des Deutschen Rundfunkarchivs, Bd. 25), Potsdam 1999, S. 59–82, hier: S. 82.
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erfreuten: Die Auslandsberichterstattung blieb – und hier bestätigen herausragende Ausnahmen die Regel – ebenfalls punktuell und zumeist auf deutsche Leistungen im Ausland konzentriert. Hinzu kam, dass die Überwachungsausschüsse auch und gerade Sendungen über das Ausland kontrollierten. Insofern schien eher Siegfried Kracauers Diktum vom Radio als Tummelplatz der »Weltgeräusche« Wirklichkeit geworden zu sein. Vorherrschender Trend des Weimarer Rundfunks war auch und gerade seit der Weltwirtschaftskrise neben der Internationalisierung vor allem die Regionalisierung von Sendeinhalten. Allerdings wurden diese nicht nur in einen nationalen, sondern auch in einen transnationalen Kontext gestellt, wie das Beispiel »Hamburger Hafenkonzert« zeigt. Die damit einhergehende Präsenz von Heimatkunst, Volkskultur und Mundart bot ein Sprungbrett für eine nationalsozialistische Programmpolitik, der es nicht zuletzt auch darum ging, das Ausland zu beeinflussen.62
62 Frank Bösch: Medien im Nationalsozialismus. Transnationale Perspektiven, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 62 (2011), H. 9/10, S. 517–529, hier: S. 524 f.
Wolfgang Struck
Globus-Kino Claire Golls Traum vom Kinematographen
Die Welt, das ist eine Kugel von 30 Zentimetern Durchmesser in den Händen einer jungen Frau. Wie der Geograph in der berühmten Atlas-Allegorie, die Gerardus Mercators »Atlas« vorangestellt ist, hält sie sich den Globus vor die Augen, nicht jedoch, um ihn wissenschaftlich zu vermessen, sondern um ihn in rasende Bewegung zu versetzen, Kontinente und Ozeane an sich vorbeirauschen zu lassen, bis alles ineinander verschwimmt. Dieses Bild, diese Szene, steht am Beginn des Abenteuerfilms »Der Schrecken der Westküste«, entstanden 1923 bis 1925 unter der Regie von Hans Schomburgk, Joseph Stein und Carl-Heinz Boese. Die Handlung ist einfach: Ein Mann bricht aus dem Alltagsleben eines Büroangestellten aus, flieht nach Afrika, »in die Kolonien«, wie es in einem Zwischentitel ohne weitere Spezifikation heißt, gerät auf die schiefe Bahn, plündert und terrorisiert schließlich als Anführer einer Räuberbande die Plantagen und Faktoreien seines ehemaligen Arbeitgebers. Eine Frau, die Schwester seiner Verlobten, reist ihm hinterher, um ihn in Ehe und bürgerliches Leben zurückzuführen. Bis das gelungen ist, gilt es allerlei Abenteuer zu bestehen; unter anderem gerät die Frau in einen Krieg verfeindeter »Stämme« und muss sich für einige Zeit in einem »Eingeborenen«-Dorf verstecken und dort der amourösen Nachstellungen eines »Häuptlingssohnes« erwehren.1 »Der Schrecken der Westküste« ist ein typisches Produkt des populären Kinos der frühen Weimarer Republik, in dessen raumverschlingender »Lust an exotischen Schauplätzen« Siegfried Kracauer den »Tagtraum eines Gefangenen« ausgemacht hat, dessen »unterdrücktes Expansionsverlangen« sich 1
»Der Schrecken der Westküste«, Westphalia Film-AG, 1925, 6 Akte, 35 mm; Regie: Josef Stein, Carl-Heinz Boese; Aufnahmen in Liberia: Kamera/Regie: Hans Schomburgk. Kopie Gosfilmofond, Moskau. Die Zitate stammen von Zwischentiteln dieser Kopie. Zu Schomburgk vgl. Tobias Nagl: Die unheimliche Maschine. Rasse und Repräsentation im Weimarer Kino, München 2009; Wolfgang Fuhrmann: Imperial Projections. Screening the German Colonies, Oxford 2015; Gerlinde Waz: Auf der Suche nach dem letzten Paradies. Der Afrikaforscher und Regisseur Hans Schomburgk, in: Jörg Schöning (Hrsg.): Triviale Tropen. Exotische Reise- und Abenteuerfilme aus Deutschland 1919–1939, München 1997, S. 95–110.
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(vorübergehend) phantasmagorisch ausagieren musste.2 Ungewöhnlich ist hier allenfalls, dass einige Episoden des Films tatsächlich in Afrika, in Liberia, aufgenommen worden sind. Schomburgk war eigentlich dort, um ethnographischdokumentarische Filme zu produzieren. Er hat aber zugleich, nach einem von ihm bereits vor dem Krieg in Togo praktizierten Verfahren, mit seiner Frau, der Schauspielerin Meg Gehrts, Außenaufnahmen für einen Spielfilm gedreht, der dann später in deutschen Studios vervollständigt werden sollte. Auf diese Weise agieren die Protagonisten der ethnographischen sowie Städte, Dörfer und Landschaften der dokumentarischen Filme nun als Statisten und Kulissen in einer Handlung, die an der politischen und kulturellen Spezifik des Drehortes – Liberia war zu diesem Zeitpunkt das einzige westafrikanische Land, das keine europäische Kolonie war – vollkommen desinteressiert ist. Der scheinbaren Authentizität der Aufnahmen vor Ort zum Trotz verwandelt sich das Land in eine stereotype Fremde, in der exotistisches und koloniales Begehren einander überlagern, in ein phantasiertes Kolonialreich, wie es die Deutschen im Vertrag von Versailles gerade eingebüßt hatten. So tut der Film genau das, was das Spiel mit dem Globus, von dem aus die Handlung ihren Lauf nimmt, auf den Punkt bringt: Die Welt schrumpft auf Zimmer- oder Leinwandformat, um vor den Augen der Betrachter vorbeizurasen. Das Kino ist einer der Orte, an dem sich das Verhältnis von Weimar und der Welt gut beobachten lässt. Produktion und Distribution von Filmen sind in hohem Maß von internationalen Verflechtungen ebenso wie von Bemühungen einer sowohl finanziellen als auch ästhetischen Abgrenzung geprägt. Das Kino ist aber auch, und das ist der Aspekt, auf den ich im Folgenden die Aufmerksamkeit richten möchte, einer der Orte, an dem jene von Kracauer beschworenen »Durchschnittsdeutschen« erfahren konnten, was und wie »die Welt« ist – nicht zuletzt in populären Durchschnittsfilmen wie »Der Schrecken der Westküste«. In dem retrospektiven Blick, den Kracauer aus dem amerikanischen Exil gegen Ende des Zweiten Weltkriegs auf den Film der Weimarer Republik richtete, machte er in dessen raumverschlingendem Exotismus vor allem ein Moment aggressiver Weltaneignung aus, ein Bindeglied zwischen dem »alten« Imperialismus des Kaiserreichs und dem »neuen« Expansionsstreben des Nationalsozialismus: eine Konstante im kollektiven Unbewussten des »Durchschnittsdeutschen«, das sich vorübergehend auf den Raum der Kultur verwiesen sah. Ich möchte im Folgenden an Kracauers Argumentation anknüpfen, 2
Siegfried Kracauer: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, Frankfurt a. M. 1979, S. 63 f.
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dass das populäre Kino aufgrund seiner marktgesteuerten Rückkoppelung von Produktion und Rezeption ein guter Indikator solcher kollektiven Bewusstseinslagen sein kann. Zugleich möchte ich seiner Retrospektion jedoch eine andere Perspektive entgegenstellen, die noch nicht vom Ende, sondern vom Beginn der Weimarer Republik geprägt ist; eine Perspektive, die gerade in dessen Kino einen Möglichkeitsraum für einen nicht nur politischen, sondern auch kulturellen Neubeginn nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und insbesondere eine Neubestimmung des Verhältnisses Deutschlands zur Welt ausmacht. Meine Zeugin für eine solche Perspektive ist die Schriftstellerin Claire Goll, 1890 als Klara Aischmann in Nürnberg geboren, gestorben 1977 in Paris, eine Grenzgängerin zwischen Kulturen und Sprachen sowohl in ihrem Leben als auch in ihrem Werk. Den Ersten Weltkrieg hatte sie in pazifistischen Künstlerkreisen in der Schweiz verbracht, hier waren auch ihre ersten literarischen Werke, pazifistisch inspirierte Gedichte, Erzählungen und Essays entstanden. Nach dem Krieg übersiedelte sie, nach kurzen Aufenthalten in München und Berlin, nach Paris, wo sie den Schriftsteller Yvan Goll heiratete. Anfang der 1920er Jahre entstanden hier, neben Modeberichten für deutsche und französische Zeitschriften, vor allem zwei programmatische Übersetzungsprojekte, die man als gezielte Versuche einer Neupositionierung deutscher Literatur im Kontext einer transnationalen Moderne lesen kann: 1921 erschien unter dem Titel »Die neue Welt« eine Anthologie »jüngster amerikanischer Lyrik«, die dem deutschen Publikum erstmals Autoren wie Edgar Lee Masters, Carl Sandburg oder Vachel Lindsey, aber auch »Negerdichtung« und »Indianische Dichtung« präsentierte und dabei »jenes Land, in dem sich Empörer und Abfall aus vielen Ländern zusammenfanden« als Vorbild einer weltoffenen Gemeinschaft empfahl.3 1922 erschien dann Golls Übersetzung von René Marans ein Jahr zuvor in Frankreich mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten »véritable roman nègre«: »Batuala. Ein echter Negerroman«, ein kolonialkritischer Text, der in einem durch die rassistische Diskussion um die »schwarze Schmach«, die Anwesenheit afrikanisch-französischer Besatzungstruppen, geprägten Deutschland keine geringe Provokation darstellte. 4 Ebenfalls 1922 erschien eine Gedicht-
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Claire Goll: Die neue Welt. Eine Anthologie jüngster amerikanischer Lyrik. Herausgegeben und übersetzt von Claire Goll, Berlin 1921, S. 7. René Maran: Batuala. Ein echter Negerroman. Einzig berechtigte deutsche Ausgabe von Claire Goll, Basel/Leipzig 1922. Zur Rezeption Marans vgl. Femi Ojo-Ade: René Maran. The Black Frenchman, Washington D. C. 1984; zu den französischen Kolonialtruppen im Rheinland siehe den Beitrag von Christian Koller in diesem Band.
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sammlung, die man nun nicht (nur) als Sprach-, sondern Mediengrenzen überschreitende Suche nach einem kosmopolitischen Erfahrungsraum verstehen kann: »Lyrische Films«.5 Am Anfang steht ein emphatisches Bekenntnis zur modernen Welt in einem Gedicht, das unter dem programmatischen Titel »Zwanzigstes Jahrhundert« die »Lyrischen Films«, genauer: deren ersten, »Globus-Kino« betitelten Teil, einleitet. Im »kosmische[n] Gefühl der Schnelligkeit« lässt es die von einem Technisch-Erhabenen affizierten Großstadtbewohner »die neue Landschaft der Stadt« erobern, den »Tanz der Turbinen«, den »öligen Atem der Maschine« nicht nur spüren, sondern mittanzen, mitatmen. »Propeller«, »Grammophon«, »Benzmotoren«, »Lichtreklame« und »Hochbahn« bilden ihre profanen, elektrifizierten oder motorisierten Götter; technische Medien und technische Dinge, die schließlich in dem Apparat aufgehen, der zugleich Technik ist und der technischen Welt die Bilder, nicht nur von sich selbst, gibt, sondern auch von dem, was diese Technik zu verdrängen scheint: »Die Hochbahn berauscht mehr Als ein gotischer Dom Wir beten in Kinos Die kurbelnde Schicksalsgöttin an« Es ist ein gefräßiger Apparat, der sich neben den neuen auch die alten Götter einverleibt und auf paradoxe Weise eine Art Paralleluniversum zu der durch zunehmend dichter werdende Verkehrs- und Kommunikationsnetze erschlossenen, vermessenen und homogenisierten Welt erzeugt. Kaum etwas kann diesen Apparat in seiner Gefräßigkeit, seiner, um noch einmal Kracauers Formel aufzugreifen, raumverschlingenden Lust besser charakterisieren als ein Plakat der Firma Pathé frère: »Tout le monde y passe« heißt es dort, und zu sehen ist ein endloser Zug von Menschen aller Völker, die an einer Kamera vorbeimarschieren, vorbeitanzen oder flanieren.6 Pathé war der erste international produzierende und distribuierende Großkonzern der Filmindustrie. 1899 gegründet, beschäftigte er 15 Jahre später, zum Ausbruch des Weltkriegs, im weltweit größten Studiobetrieb seiner Zeit bei Paris 5000 Mitarbeiter. Dazu kamen Dependancen rund um den Globus. Sie lieferten auch dem ab 1909 5 6
Claire Goll: Lyrische Films, Basel/Leipzig 1922. Alle Zitate im Folgenden nach dieser Ausgabe. Éditions du Centre Pompidou (Hrsg): Pathé. Premier empire du cinéma, Paris 1994, S. 359.
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produzierten »Pathé journal« zu, der ersten Wochenschau der Filmgeschichte, die bald weltweit vertrieben wurde, in Deutschland als »Pathé-Woche«. Der vollmundig erhobene Anspruch, der Welt die Welt darzustellen, ist also nicht so ganz unberechtigt. Die ganze Welt zieht hier vorbei. »Pathé-Woche« heißt auch das zweite Gedicht der »Lyrischen Films«, das nicht nur durch seine Länge von 156 Versen eine ungewöhnliche Position innerhalb der Sammlung wie auch der Kinematographen-Literatur der Moderne überhaupt einnimmt. Eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren liest das Kino, und insbesondere ein Kino, das sich seiner Ursprünge auf dem Jahrmarkt, in den Varietés und Vorstadtkneipen bewusst ist und seinen Weg in die Unterhaltungspaläste der Metropolen durchaus nicht gradlinig und auch gar nicht allzu bereitwillig verfolgte, als Vorlage für einen Befreiungsschlag gegen akademische Kunst, psychologischen Realismus und überkommene gesellschaftliche Normen. Gedichte wie Jacob van Hoddis’ »Kinematograph« (1913) oder Yvan Golls »Films« (1914), Romane wie Hanns Heinz Ewers »Der Zauberlehrling« (1917) oder Arnold Höllriegels furiose »Films der Prinzessin Fantoche« (1913/14), Hybridformen wie etwa die Texte in Kurt Pinthus’ »Kinobuch« (1913/14) oder »Die Chaplinade« (1920), wiederum von Yvan Goll, erkundeten, erschufen, ja erträumten ein solches Kino als avantgardistische Geste. Golls »Pathé-Woche« jedoch geht darüber hinaus, indem sie diese auf die Überwindung der Vergangenheit zielende Geste zugleich selbst historisiert. »Pathé-Woche« ist angelegt als eine Geschichte des Kinos, von seinen Anfängen bis in die frühen 1920er Jahre. Nicht nur für einen lyrischen Text war das zu diesem Zeitpunkt ein ungewöhnliches Unterfangen: Bis zu den ersten historisierenden Betrachtungen zum Forschungsgegenstand »Kino« sollte es noch einige Jahrzehnte dauern, in nennenswertem Maße sogar bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber nicht nur ob überhaupt, sondern auch wie hier Filmgeschichte geschrieben wird und welche, ist bemerkenswert: eine apokryphe Geschichte, gespiegelt im Bewusstseinsstrom einer Kinogängerin, die statt der relativ früh kanonisierten Kunstfilme wie »Der Student von Prag« oder »Das Cabinet des Dr. Caligari« vorwiegend jene Filme sieht, die vielen der Gebildeten unter ihren Zeitgenossen eher peinlich gewesen wären und die erst in jüngerer Zeit ein gewisses filmhistorisches Interesse auf sich gezogen haben.7 Ein populäres Kino ohne Kunstanspruch, nicht selten politisch unkorrekt, geprägt von krudem Rassismus, einem etwas infantilen Humor und einer ebenso sadistisch wie masochistisch geprägten Zerstörungswut, von exotistischer Weltflucht und 7
Paolo Cherchi Usai (Hrsg.): Prima di Caligari. Cinema Tedesco, 1895–1920, Pordenone 1990; Schöning, Triviale Tropen (wie Anm. 1).
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imperialen (All-)Machts-Träumen, von Regression wie von einer emphatischen Hinwendung zur Moderne, gerade auch in ihren destruktiven Zügen. »In Sizilien eine ganze Stadt Hängt wie ein Balkon ins Meer. Sonne, gelber Dolch der Eifersucht, Apachen zeichnen die Gesichter der Liebesmädchen, Sirokko bellt, Wüste im Maul, Aegypten ist gestorben, Die Tempel der Sonnengottheit geplündert Nur die Säulen drohen noch, Rasend drehen sie sich um sich selbst. Wieder schäumt Sirokko durchs Kino: In Afrika, An den ›Großen Seen‹ stampfen die Wilden Zur mbi’la, Klapper und Bambuspfeife Im schwarzen Burnus der Trauer Um ihren Toten. Muscheln und Schneckenschalen klirren, Die Nägelschnarre rasselt, Bronzen stehn die Leiber im Zenith. Kleine Schwarze säugen an Kamelstuten, Zwergpapageien kreischen bunt… (Hinter mir flüstert ein Mädchen: ›Entflieh mit mir nach Afrika!‹)« Das geht noch eine ganze Weile so weiter, 156 Verse lang, die in atemlosem Parcours die Welt, »tout le monde«, vorbeiziehen und mit Erinnerungen der Zuschauerin und ihren Beobachtungen im Kinosaal überlagern lassen, bis zur Coda: »Im Kino In fünf Kontinenten zugleich Ist meine Heimat« Man kann das lesen im Stil eines surrealistischen Traumprotokolls; allerdings ist es ein Traum, in den Welt- und Kinogeschichte gleichsam wie Tagesreste hineinragen. Zunächst ist darin trotz aller Verschiebungen, Verstellungen und Verdichtungen durchaus eine Programmfolge erkennbar, wie sie charakte-
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ristisch war für das frühe, auf Vielfalt, grelle Kontraste und schroffe, überraschende Fügungen angelegte Kino der Attraktionen.8 Eines der beliebtesten Genres dieses Kinos war, mit einer Bezeichnung Tom Gunnings, der »view«: eine Einstellung oder eine Folge von Einstellungen, in der die Kamera wie ein menschlicher Beobachter (ein Auge) auf eine Landschaft, eine Stadt, ein Gebäude, eine Fabrik blickt und sich darin bewegt. Keine Geschichte wird hier erzählt und auch kein eigener filmischer Raum erzeugt, sondern der reale Raum wird beobachtend erkundet. Menschen, die in den Blick kommen, können ihn erwidern, können interagieren, aber der/die/das Blickende bleibt selbst unsichtbar. Eben das ermöglicht es dem Zuschauer, sich an die Stelle der Kamera zu setzen, und es hat den Effekt, dass der Blick selber zum Thema des Films wird: the »view mimes the act of looking and observing«9. Das Prekäre daran ist nach Gunning der verdinglichende Effekt solcher Blicke. Die betrachteten Dinge werden zu konsumierbaren Waren, sie werden aufbereitet, ein voyeuristisches Begehren zu befriedigen: »The view of the tourist is recorded here, placing natural or cultural sites on display, but also miming the act of visual appropriation, the natural and cultural consumed as sights.«10 Das Wortspiel mit »site« und »sight« markiert den Umschlagpunkt, an dem ein Raum in seiner Vielfalt und materiellen Konkretheit überführt wird in die Wahrnehmung eines einzelnen Sinnes. Im Prinzip könnte man das beschreiben als Reduktion des dreidimensionalen Raums auf ein zweidimensionales Bild; es geht aber sehr viel grundsätzlicher darum, dass hierbei Dimensionen verloren gehen. Diese Reduktion erzeugt etwas, das dann vom Ort ablösbar und konsumierbar wird, das als Ware zirkulieren kann. Gunnings Touristen-Metapher impliziert, dass eine solche Zirkulation nicht erst dann einsetzt, wenn die »site« zur Photographie oder zum Bewegtbild geworden ist (also zu etwas, das tatsächlich materiell ablösbar von seinem Urbild ist), sondern bereits, wenn sie ein Begehren eines zahlenden Kunden befriedigt. Eben ein solches Begehren – nach einer Transgression – artikuliert sich in Golls »Pathé-Woche«, als sich die Aufmerksamkeit zum ersten Mal von der Leinwand in den Kinosaal verlagert (»Entflieh mit mir nach Afrika!«). Aber schon vor dieser Aufforderung gilt die Aufmerksamkeit 8 Tom Gunning: The Cinema of Attractions. Early Film, Its Spectator and the Avant-Garde [1986], in: Thomas Elsaesser (Hrsg.): Early Cinema. Space, Frame, Narrative, London 1990, S. 56–62; vgl. auch Kai Nowak: Projektionen der Moral. Filmskandale in der Weimarer Republik, Göttingen 2015. 9 Tom Gunning: Before Documentary. Early Nonfiction Films and the ›View‹ Aesthetic, in: Hertogs Daan/Nico De Klerk (Hrsg.): Uncharted Territory. Essays on Early Nonfiction Film, Amsterdam 1997, S. 9–24, hier: S. 15. 10 Ebd., Hervorhebung im Original.
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ja weniger den einzelnen Bildern als dem, was sich dazwischen ansiedelt: den Transgressionen, die ständig die Grenzen zwischen den einzelnen Ansichten verwischen. Auch in den Bildern, die das Gedicht erzeugt, geschieht das bereits: die Stadt, die zwischen Land und Meer »hängt«, der »Sirokko«, der Wind mit der »Wüste im Maul«, der Afrika mit Sizilien verbindet, zugleich aber lebende und unbelebte Objekte (Maul, Wind) – so wie es auch der »view« selber tut, der ja im Unklaren lässt, ob hier ein Apparat (die Kamera) beobachtet oder ein Subjekt (der oder die Reisende). Mit dem Sprung nach Afrika in den darauffolgenden Zeilen wird dann klar, dass der »view« nie reine Beobachtung sein kann. Die Apachen etwa, die sich überraschenderweise zwischen Sizilien und Ägypten wiederfinden, kann man verstehen als Hinweis auf die Heterogenität der Programmfolge, die einen »view« an den anderen reiht. Sie können aber auch im Gegenteil auf die Homogenität einer Phantasieproduktion hinweisen, für die man stellvertretend Karl May (herbei-) zitieren könnte; ganz so, wie es Goll selbst tut in der Einleitung zu »Die neue Welt«. In Mays erster Afrika-Erzählung, »Die Gum«, lässt er zum Beispiel den »Westman« Old Shatterhand beim Anblick der nordafrikanischen Küste seine Abenteuer unter den Apachen erinnern.11 Eben diese Phantasiewelt ist es dann auch, die Golls Kinogängerin während eines offenbar ethnographischen Films das Begehren nach »bronzenen Leibern« und die Sehnsucht nach einem Refugium des wahreren Lebens und der wahreren Liebe aufkommen lässt: »Entflieh mit mir nach Afrika!« Gerade da, wo der Film sich einen wissenschaftlichen Anspruch verleiht, wird deutlich, dass zugleich eine Subjekt-Objekt-Relation und eine ebenso kulturell wie rassistisch formatierte Distanz konstruiert wird. Es geht um ein »Anders-machen«, das dann dieses Andere zugleich zum Objekt des Begehrens und des Abscheus werden lässt, auf das dann das koloniale wie das erotische Begehren projiziert werden kann.12 Der »view« also ist nicht einfach Beobachtung, involviert ist hier Phantasie ebenso wie Technik, und zwar filmische und literarische: Das alles trifft zusammen in den »bunt kreischenden« Zwergpapageien. Auf filmische Technik verweisen sie, indem man sie sich tatsächlich farbig vorstellt dank einer Schablonen-Kolorierung, bei der nachträglich auf das ursprünglich schwarzweiße Material Farbe aufgetragen wird – eine Technik, die ein Markenzeichen der Firma Pathé war. Dieser Trick
11 Karl May: Die Gum, in: Hermann Wiedenroth/Hans Wollschläger (Hrsg.): Orangen und Datteln. Reiseerzählungen von Karl May (Karl Mays Hauptwerke, 32), Zürich 1992. 12 Zum Konzept des »Othering« vgl. Johannes Fabian: Time and the Other. How Anthropology Makes Its Object, New York 1983.
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wird dann literarisch überboten durch die rhetorische Figur der Synästhesie, das bunte Kreischen, die akustische und optische Daten ineinanderfließen lässt. Noch deutlicher tritt die Konvergenz von Phantasie und Technik hervor, wenn die zweite signifikante Spielart des Kinos der Attraktionen ins Spiel kommt: die »Sensation«. Bei Goll ist das der Fall nach einer der markantesten Passagen, die vom Kino-Saal in die kindliche Erinnerungswelt führt, dann wieder ins technische Medium und mit diesem in die katastrophische Moderne: »Und nun ist man in der Türkei, Rasende Derwische tanzen … Einmal: Kind … Panoptikum, Sah ich einen Derwisch; Ich trug ein Waschkleid, Meine roten Locken … Sind Flammen geworden. Es brennt, es brennt in Chikago, Riesenbrand in New York: Aus dem 29. Stockwerk des Liberty Tower Springen die Tippmamsells. (Das Publikum hält begeistert den Atem an.)« Diese Reverie verdeckt den Übergang zwischen (mindestens) zwei Filmen, ermöglicht damit zugleich eine unmögliche Verbindung und kreiert so eine zutiefst heterogene, zerrissene Welt. Eben davon erzählten auch jene Katastrophenfilme, für die das frühe Kino eine unübersehbare Faszination zeigte. Schon um 1900 hatte es die intime Verbindung zwischen der Kata strophe und dem filmischen Trick entdeckt, dabei eine unverhohlene Lust an der Destruktion des menschlichen Körpers gezeigt, der es in sadistischen und masochistischen Phantasien breiten Raum gab. Auf diese Weise radikalisierte das frühe Kino die Zurichtung des Menschen im und durch den Apparat und konterkarierte sie dabei auch. Als Symptom einer apparativ-gesellschaftlichen Dysfunktion und zugleich als deren mögliche Therapie hat Walter Benjamin die doppelte Funktion des Katastrophen-Kinos in seinem Kunstwerk-Aufsatz eindringlich beschrieben: »In die alte heraklitische Wahrheit – die Wachenden haben ihre Welt gemeinsam, die Schlafenden jeder eine für sich – hat der Film eine Bresche geschlagen. Und zwar viel weniger mit Darstellungen der Traumwelt als mit der Schöpfung von Figuren des Kollektivtraums wie der erdumkreisenden
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Micky-Maus. Wenn man sich davon Rechenschaft gibt, welche gefährlichen Spannungen die Technisierung mit ihren Folgen in den großen Massen erzeugt hat (…) so wird man zu der Erkenntnis kommen, daß diese selbe Technisierung gegen solche Massenpsychosen sich die Möglichkeit psychischer Impfung durch gewisse Filme geschaffen hat, in denen eine forcierte Entwicklung sadistischer Phantasien oder masochistischer Wahnvorstellungen deren natürliches uns gefährliches Reifen in den Massen verhindern kann. Den vorzeitigen und heilsamen Ausbruch derartiger Massenpsychosen stellt das kollektive Gelächter dar. Die amerikanischen Groteskfilme und die Filme Disneys bewirken eine therapeutische Sprengung des Unbewußten.«13 Dem Groteskfilm kommt demnach die erlösende Funktion zu, den Menschen mit einer in Aufruhr versetzen Dingwelt zu versöhnen und ein »Gleichgewicht zwischen dem Menschen und der Apparatur« herzustellen, indem er »auf der einen Seite die Einsicht in die Zwangsläufigkeiten vermehrt, von denen unser Dasein regiert wird«, aber andererseits und vor allem dazu dient, »eines ungeheueren und ungeahnten Spielraums uns zu versichern. Unsere Kneipen und Großstadtstraßen, unsere Büros und möblierten Zimmer, unsere Bahnhöfe und Fabriken schienen uns hoffnungslos einzuschließen. Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt, so daß wir nun zwischen ihren weitverstreuten Trümmern gelassen abenteuerliche Reisen unternehmen.«14 Solche Reisen unternimmt auch die Kinogängerin in Golls »Pathé-Woche«, in einer immer wieder Eros und Tod ineinander überblendenden Trivialphantasie. Nicht nur zwischen den Filmen lösen sich dabei die Sinnzusammenhänge auf zugunsten assoziativer Verknüpfungen, die sich erst in der Rezeption ergeben. Einer Rezeption allerdings, die sich hinreichend auf Stereotype verlassen kann (»man weint im Waschraum«), um nicht völlig kontingent zu werden, einer Rezeption aber auch, die den Spielraum für persönliche Erinnerung (etwa an Derwisch und Panoptikum) zu öffnen vermag, die die Reverie aber auch wieder an das Leinwandgeschehen zurückzubinden vermag, etwa wenn die roten Locken zu den aus dem Wolkenkratzer schlagenden Flammen werden. 13 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders.: Abhandlungen Teilband 2 (Gesammelte Schriften, 1), Frankfurt a. M. 1974, S. 462. 14 Ebd., S. 460 f.
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Gerade in der Abstrusität der Präsentation findet und nutzt das Lyrische Ich die Chance, sich selbst im Gezeigten wiederzufinden oder sich selbst hineinzuimaginieren. Aber auch innerhalb der einzelnen Filme sind die Momente der Auflösung, die Katastrophen- und Zerstörungsphantasien, auf paradoxe Weise verbunden mit einer Hoffnung auf Erlösung von einer übermächtigen Dingwelt. In seiner Lust an der Destruktion des Körpers reflektierte das frühe Kino die Funktionen, die auch spätere Medientheorien dem Film – wie der Moderne insgesamt – zuschreiben sollten. Indem es ihr in sadistischen und masochistischen Phantasien breiten Raum bot, radikalisierte und konterkarierte es die Zurichtung des Menschen zum Symbol des Mediums. Auch Goll suchte, ein Jahrzehnt vor Benjamin, in ihrer »Pathé-Woche« nach dem Dynamit, mit dem die vom Kaiserreich hinterlassene Bühne für einen Neuanfang leerzusprengen wäre. Sie fand es im frühen europäischen Film ebenso wie in den aktuellen Entwicklungen in Amerika. Aber, und darin liegt das eigentlich Faszinierende ihrer Kino-Vision, sie machte auch deutlich, dass dieses Kino nicht isoliert gesehen werden kann von den Phantomen, Gespenstern, Untoten, die die Bühne noch besiedelten. Denn während die amerikanischen Filme das Nachkriegsdeutschland nur zögerlich erreichten, schien das Kino der Attraktionen in Deutschland schon vor dem Krieg seinen Zenit überschritten zu haben. Nicht zuletzt das »Pathé-Journal« ist Ausdruck dieses Niedergangs. Zwar steigerte es noch einmal den welterschöpfenden Anspruch des Kinematographen, aber zugleich verlieh es ihm eine festere Struktur. Es war nicht mehr dem Zufall oder dem Genius einzelner Kinobetreiber überlassen, wie sich die Folge der Kontraste gestaltete, sondern es wurde in Paris für die ganze Welt vorgeplant. Vor allem aber degradierte die Wochenschau diese Folge zum Vorprogramm, das auf einen Hauptfilm zulief, der den dominierenden Höhepunkt bildete. Diese Haupt- bzw. »Feature«-Filme tauchten wie die Wochenschauen etwa ab 1909 auf, gewannen schnell an Länge und setzten zusehends die kohärente Form einer Narration auch im Kino durch. In Golls »Pathé-Woche« ist das etwa in der Mitte des Textes, nach 80 Versen der Fall: »Liebesdrama in fünf Akten: In Tokio das letzte lebende Liebespaar, Sessue Hayakawa Wickle in deinen Lotoskimono Die Blume Tsuru. Blautaft ihr Haar, Die Augenbrauen aus Tusche, Und darunter zwei schräge schwarze Blitze. Teemädchen Tsuru, du weißt nur die Liebe,
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Groß ist die Frau, die nichts weiß Von der Erde als Liebe! Pfauen und Kirschbäume wandeln Hinter euch her. Elfenbeintempel öffnen sich: Tanz der weißen Elefanten Im fünften Akt. Buddha lächelt über ihr Glück, Buddha lächelt über das Leid, Wenn die kleinen Chinesenmänner Seit tausend Jahren auf den Beinen sitzen Und sticken und sticken und sticken: Bunte Gärten für fremde Frauen, Und zur Nacht Opium, Opium, Vergessen dies vorletzte Dasein! Unter Bäumen, an denen Nachtigallen wachsen, Macht Li-Hung Hara-Kiri.« Ein Liebesdrama in fünf Akten: das ist eine noch nicht ganz »abendfüllende« Länge, könnte also ein Film gewesen sein, wie er sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg im Anschluss an die »Pathé-Woche« fand. Auch, dass die sich anschließende »Inhaltsangabe« einem Film zu gelten scheint, der weder in seiner Topographie noch in seiner Narration besonders kohärent wirkt – wie haben sich die kleinen Chinesenmänner ins japanische Liebesmelodram verirrt, woher kommen die weißen Elefanten? – muss dem nicht entgegenstehen. Anders als der Kunstfilm blieb das populäre Kino auch in seinen Langfilmen noch den Prinzipien von Varietät und Kontrast verpflichtet. Geo- oder ethnographische Korrektheit blieb dabei zweitrangig. Verwirrender allerdings ist eine Fülle von Details, die wiederum gleichsam wie Tagesreste in diesen kinematographischen Traum hineinragen, Tagesreste allerdings, die selber der Kinogeschichte entstammen: Sessue Hayakawa und Tsuru Aoki waren ein japanisches Schauspielerpaar, das seit 1914 in Hollywood Filme gemacht hatte und damit schnell zum Inbegriff des Exotismus im amerikanischen Kino geworden war. Dabei waren sie keineswegs darauf festgeschrieben, Japaner zu verkörpern. Hayakawa spielte mehrfach auch Chinesen, beide waren vor allem aber auch für ihre an keine ethnischen Stereotypen gebundenen actionhaltigen Auftritte berühmt. Dem deutschen Publikum blieb das allerdings vorerst verborgen. Mit dem Ausbruch des Weltkriegs verschwanden die Filme aus nun zu Kriegsgegnern gewordenen Ländern aus den deutschen Kinos. An die Stelle der »Pathé-Woche«
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trat nun die nationale »Messter-Woche«, und um Opium und Hara-Kiri zu sehen, mussten die Deutschen auf Filme zurückgreifen wie »Das Geheimnis der Opiumhöhle«, bereits 1911 von Viggo Larsen inszeniert, oder Harry Piels »Harakiri« von 1913. Ansonsten blieb nur das patriotische Spektakel der »Kriegsfestspiele«, mit denen Goll in der »Pathé-Woche« eine Wendung von der Kino- in die Weltgeschichte vollzog: »Die Kostüme sind von der Firma Krupp.« Da vor dem Krieg weit mehr Filme im- als exportiert worden waren, erschien die kriegsbedingte Isolation für die deutschen Produzenten, die nun den größten europäischen Filmmarkt nahezu exklusiv bespielen konnten, zunächst als ein Glücksfall. So expandierte die deutsche Filmwirtschaft erheblich, musste aber nach dem Krieg erfahren, dass sie international kaum konkurrenzfähig war, da sie eine Reihe technischer und ästhetischer Innovationen, die während des Krieges vor allem das amerikanische und französische Kino stark verändert hatten, schlicht verpasst hatte. Daher waren – mit Ausnahme des expressionistischen Kunstfilms, der erfolgreich eine Nische besetzen konnte – deutsche Filme international kaum zu vermarkten, und auch in Deutschland selbst konnten sie sich nur schwer gegen die amerikanische Konkurrenz behaupten. Dem Nachkriegskino, in dem vor allem der Produzent Joe May mit einer Reihe von monumentalen Großproduktionen in Deutschland Erfolge feiern konnte, international jedoch scheiterte, widmet Goll in der »Pathé-Woche« nur eine knappe Anmerkung: »Abenteuerfilm/In 10 Episoden:/1. Die verpfändete Leiche«. Diese Verse spielen auf Mays aufwendigste Produktion an, »Die Herrin der Welt«, ein Abenteuerfilm mit exotischen Motiven und Schauplätzen, der Ende 1919 in acht abendfüllenden Episoden in die Kinos kam.15 Bereits die Dreharbeiten im Sommer 1919 wurden von Presseberichten begleitet, die sich mit Superlativen überboten. Sechs Millionen Mark Herstellungskosten, 20.000 Meter Film, 30.000 Statisten, mit Mia May einer der ersten Stars des
15 1. Die Freundin des gelben Mannes, 2. Die Geschichte der Maud Gregaards, 3. Der Rabbi von Kuan-Fu, 4. König Makombe (R.: Uwe Jens Krafft/Künstl. Oberl.: Joe May), 5. Ophir, die Stadt der Vergangenheit (R.: Uwe Jens Krafft/Künstl. Oberl.: Joe May), 6. Die Frau mit den Milliarden (R.: Uwe Jens Krafft/Künstl. Oberl.: Joe May), 7. Die Wohltäterin der Menschheit (R.: Karl Gerhardt/Künstl. Oberl.: Joe May), 8. Die Rache der Maud Fergusson. Vgl. zur Entstehungsgeschichte Claudia Lenssen: Rachedurst und Reisefieber. »Die Herrin der Welt« – ein Genrefilm, in: Hans Michael Bock/Claudia Lenssen: Joe May. Regisseur und Produzent, München 1991, S. 31–44; Christian Rogowski: From Ernst Lubitsch to Joe May. Challenging Kracauer’s Demonology with Weimar Popular Film, in: Randall Halle/Margaret McCarthy (Hrsg.): Light Motives. German Popular Cinema in Perspective, Detroit 2003.
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deutschen Kinos als Hauptdarstellerin, dazu ein eigens erworbenes, »viele hundert Morgen großes Terrain zwischen Woltersdorf, Kalkberge und Rüdersdorf […], mit Gebirge und See, mit Hügeln und Flachland.« Um »den afrikanischen Kral, das Negerdorf, den Baalstempel, den Krokodilsteich, den Tempelberg, das Sklavenrad und viele andere Monumentalbauten« herum: »hat der Architekt Jacoby-Boy vier Erdteile errichtet, unter denen als erstes die Chinesen-Stadt und Ophir ins Auge fallen. In der Chinesenstadt wohnen 72 Chinesen und Chinesinnen, die aus Skandinavien, Norwegen und der Schweiz importiert wurden und in den Baracken, die hinter einem Stacheldraht gelegen sind, wohnen Neger aller Stämme, in die Hunderte, die auch den afrikanischen Kral bevölkern, der mit seinen Strohhütten und seinen Umfriedungen aus Laubwerk aus der Landschaft emportaucht.«16 Von einer bis dahin beispiellosen Marketing-Kampagne begleitet, wurde mit der Premiere des ersten Teils, »Die Freundin des gelben Mannes«, am 5. Dezember 1919 zugleich das neueste Kino der UFA, der Tauentzienpalast in Berlin eröffnet. Im Wochenrhythmus folgten bis Ende Januar 1920 die weiteren Teile, so dass in Großstädten oft mehrere Teile gleichzeitig in verschiedenen Kinos zu sehen waren. Dieser forcierten Modernität des Produktionsapparats stand jedoch ein sehr konventioneller Handlungsentwurf gegenüber, und so erschien Mays Produktion zugleich als Bestandsaufnahme und als produktionstechnisch und ökonomisch ambitionierter, inhaltlich und formal aber eher zurückhaltender Neuansatz. Gleich mit einem ganzen Spektrum fremder, exotischer Welten, und das nicht nur auf der Leinwand, konfrontierte allerdings »Die Herrin der Welt« das deutsche Nachkriegspublikum. »Der Tauentzienpalast war am Tage der Premiere in ein Blumenmeer verwandelt, in dem die pitoresken [sic] Kleckse buntgekleideter Chinesen als Programm- und Zettelverteiler Aufsehen erregten. […] Nach der Premiere des ersten Teils vereinte ein kleiner Imbiß einige Gäste Joe Mays zu einer kleinen Feier, bei der sämtliche Beteiligten, sogar die chinesischen Darsteller, anwesend waren.«17 Wenn hier der filmisch exponierte Raum gleichsam in die Realität der Rezeptionssituation verlängert wird, dann scheint sich dem Publikum wenigs16 Illustrierte Filmwoche, 7/39 (1919), S. 394. 17 Ebd., 7/51–52 (1919), S. 539.
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tens andeutungsweise die Erfahrung eines »Eintauchens« in eine fremde Welt zu vermitteln, von der die Handlung des Films vorgibt zu erzählen. Zugleich aber löst sich diese Welt, die in der Narration ständig neue Bedrohungen produziert, auf in jene »pitoresken Kleckse«, zu denen die zettelverteilenden Chinesen verschwimmen. Ihre Anwesenheit, weit davon entfernt, das Beobachtungsdispositiv des Kinos zu zerbrechen, schafft keinen Raum interkultureller Erfahrung, sondern hebt gerade den Spielcharakter des Leinwandgeschehens hervor. Der Raum, den die Anwesenheit der chinesischen Darsteller füllt und den die darübergelegte Filmhandlung beschreibt, ist die Bühne für die Inszenierung ambivalenter Phantasien von Selbstverlust und Allmacht. Das verweist einerseits auf den historischen Kontext, andererseits auf die Bedingungen des Genres: »Die Herrin der Welt« zeugt von den Schwierigkeiten, die die deutsche Populärkultur nach dem Ersten Weltkrieg damit hatte, ihr Verhältnis zu einer fremden Welt zu bestimmen, die zugleich näher und ferner gerückt war: näher, da die Begegnung nicht mehr unter dem Diktat eines imperialen Herrschaftsanspruchs stand, ferner, weil diese neue Offenheit nicht nur als Chance, sondern zugleich – und in erster Linie – als Gefährdung erfahren oder besser: modelliert wurde. Der »Herrin der Welt« ging es natürlich nicht darum, ein realistisches Bild fremder Kontinente zu vermitteln, sondern vielmehr um die Konstruktion eines Raums, in dem ein Abenteuer stattfinden kann. Im gleichen Genre-Raum entstanden ebenfalls 1919 zwei Filme, die noch einmal auf Golls japanisch-chinesisches Liebesdrama zurückverwiesen: »Harakiri«, ein früher Fritz-Lang-Film, nach Motiven von »Madame Butterfly«, in dem die japanische Protagonistin von der deutschen Schauspielerin Lil Dagover gespielt wurde. Letztere war häufig in solch exotischen Rollen zu sehen, etwa als Inka-Priesterin in einem weiteren Fritz-Lang-Film, dem Abenteuer-Serial »Die Spinnen«, in dem ihrer Figur genau wie der Heldin in »Harakiri« die Liebe zu einem Europäer zum Verhängnis wird. Ebenso dieser Gattung zuordnen lässt sich »Opium« von Robert Reinert, ein Vehikel für schwül-erotische Transgressionsphantasien, das aber zugleich recht präzise eine Art postkolonialen Phantomschmerz ausagiert, und damit nicht nur filmsondern auch welthistorisch in die Nachkriegsphase überleitet und so an Golls Text selbst heranführt. Ein deutscher Arzt folgt darin seinem Begehren zu einer fremden Frau und legt sich in China mit anderen Europäern sowie mit einer Bande chinesischer Opium-Händler an. Da ihn kein machtvolles Imperium (mehr) zu schützen bereit ist, gelingt es seinen Widersachern, ihn zu ruinieren und opiumsüchtig zu machen. Zwar kann er nach Deutschland entkommen, aber in der Sucht wirkt das Begehren, das ihn in die Fremde getrieben hatte, nach, ja, es eröffnet dieser Fremde einen gefährlichen Spielraum. Denn die
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Wolfgang Struck
Sucht bringt den chinesischen Widersacher auf die Spur des Arztes, eröffnet ihm den Zugang zu seinem Refugium und ermöglicht ihm eine perfide Rache. Die Assoziation an das deutsche Kolonial-Abenteuer in Tsingtau liegt hier sicher nicht fern. Auf den ausgeträumten imperialen Traum folgt eine Art postkolonialer Katzenjammer – ein stereotypes Plot-Element im deutschen Nachkriegskino. Dieser angedeuteten Narration allerdings folgt »Pathé-Woche« nicht. Was hier präsentiert wird, sind gerade nicht mehr Handlungselemente und Motive eines Films, den man an einem Abend hätte sehen können, sondern es sind Genre-Versatzstücke. Angesprochen ist damit ein Typus, ein Stereotyp. Wir haben also den einzelnen Kinoabend, wie er bis etwa 1910 ausgesehen haben könnte, verlassen und befinden uns in der Filmgeschichte. Damit ändert sich auch die Funktion des Lyrischen Ich: Es ist nicht mehr der Bewusstseinsstrom eines Kinoabends, in dessen Programm der Wahnsinn der verrückten Topographie bereits vorgegeben ist, sondern es ist ein Raum der Assoziationen, der eklektizistischen, willkürlich-unwillkürlichen Verknüpfungen heterogener Materialien, der diese Verrücktheit wieder herstellt, gegen eine Filmindustrie, die sich gerade darum bemüht, ihren Produkten Kohärenz zu verleihen. Dieser Übergang vom Einzelfilm zur Filmgeschichte öffnet den Bewusstseinsstrom auf ein Archiv der Filme ebenso wie der kollektiven Phantasien. »Pathé-Woche« zeichnet diesen Strom auf wie in einer ecriture automatique, in der Filmgeschichte zu einer Geschichte der Sehnsüchte, der Phantasien, Ängste, Wünsche und Hoffnungen wird, insbesondere jener, die als Erbe des Kaiserreichs in die junge Weimarer Republik hineinragen. Die Offenheit, mit der sich Goll ihrem Material überlässt, hat oft etwas (Selbst-) Entlarvendes. Aber gerade darin liegt auch die Möglichkeit nicht nur des Erkennens, sondern auch des Überwindens, des spielerischen Zerpflückens bedrohlicher Situationen. Es geht darum, auch im Blick auf das deutsche Kino eine Lesart zu entwickeln, die Spuren einer Utopie zu erkennen vermag. Allzu groß schienen die Chancen allerdings nicht zu sein, die ihm in der »Pathé-Woche« dabei eingeräumt werden. Nachdem die zehn Episoden des »Abenteuerfilms« überstanden sind, gönnt das Gedicht dem Publikum »Fünf Minuten Pause mit Selters und Zuckerstangen«, um dann, am vorläufigen Ende der Kinogeschichte, einen über Frankreich vermittelten englisch-amerikanischen Heiligen das deutsche Kino wie sein Publikum erlösen zu lassen: Nachdem die Actionfilme eines Douglas Fairbanks die Welt in wohlige Angstlust versetzt und die transkulturellen Melodramen von Tsuru Aoki und Sessue Hayakawa sie zu Tränen gerührt haben, ist es »St. Charlot« (Chaplin), der ihr »das Lachen,/Das internationale,/Das erlösende Lachen« bringen wird.«
Martin Rempe
Verflochtene Provinzialisierung Jazz und Neue Musik
Die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts ist voller »Kings«, auch wenn manche bekannter sind als andere. Als Paul Whiteman, der vielgepriesene »King of Jazz«, im Juni 1926 nach Berlin kam und drei Konzerte im Großen Schauspielhaus gab, die in der deutschen Hauptstadt als eine bis dahin nicht gekannte musikalische Sensation gefeiert wurden, traf er auch auf seinen amerikanischen Landsmann Michael Danzi. Dieser war damals schon seit über einem Jahr in Deutschland und hatte sich als Musiker in der Unterhaltungsbranche einen Namen gemacht. Whiteman entdeckte Danzi im Luna-Palast und umgarnte ihn, in seiner Band einzusteigen; für einen Deutschen spiele er richtig gut. Danzi fand das gar nicht lustig. Er ließ Whiteman wissen, dass er aus New York komme und dass er in Berlin der »King of the Banjo« sei, »busy as a busy bee.«1 In der Tat legen Danzis langatmige Memoiren detailliert Rechenschaft ab über jedes noch so kleine Engagement seiner Zeit in Deutschland, wo er mit Unterbrechungen bis 1939 blieb. Einen besonderen und zugleich aussagekräftigen Gig hatte Danzi allerdings im Herbst 1926, als er in Berlin unter Franz Lehár dessen Operettenwelterfolg »Die lustige Witwe« auf Schallplatte einspielte. Es handelte sich insofern um ein musikalisches Experiment, als Danzi auf seinem Banjo das Pizzicato der gleichnamigen Polka von den Violinen übernehmen sollte, um dem Stück mit härterem Staccato noch mehr Schärfe zu verleihen. Lehár gefielen Danzis instrumentale Spielfertigkeiten ebenso gut wie sich dieser im Sinfonieorchester wohl fühlte. Der »King of the Banjo« aus der Neuen Welt wähnte sich demnach in Deutschland nicht so sehr auf einer bestimmten musikalischen Mission, sondern freute sich vielmehr über jedweden Anlass, sein Können zu zeigen und gutes Geld zu verdienen, wie er selbst immer wieder betonte.2
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Michael Danzi: American Musician in Germany 1924–1939. Memoirs of the Jazz, Entertainment, and Movie World of Berlin during the Weimar Republic and the Nazi Era – and in the United States as Told to Rainer E. Lotz, Schmitten 1986, S. 23; vgl. zum Hype um Whiteman im Detail Jonathan O. Wipplinger: The Jazz Republic: Music, Race, and American Culture in Weimar Germany, Ann Arbor 2017, S. 88–98. Vgl. Danzi, American Musician (wie Anm. 1), S. 25.
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Neben den amerikanischen Jazz- und Banjokönigen wurde zudem im Lauf der 1920er Jahre mit Edith Lorand eine gebürtige Ungarin zur Walzerkönigin gekrönt. Deutsche Musikkönige hat die Weimarer Republik dagegen trotz allem goldenen Anstrich nicht hervorgebracht. Solche Krönungen waren freilich von jeher eher Sache der leichten Muse, doch auch im ernsten Sujet konnte der strenge Theodor W. Adorno im Rückblick auf die 1920er Jahre wenig Meisterhaftes entdecken. Er verortete die »heroischen Zeiten der neuen Kunst« vielmehr in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs und charakterisierte die Neue Musik der Republikzeit schroff als »Phänomene der Rückbildung, der Neutralisierung, des Kirchhoffriedens.« Selbst beim hoch verehrten Arnold Schönberg beobachtete er ein Ordnungsbedürfnis, unter dem die nach dem Krieg komponierten Werke gelitten hätten, kurz: die 1920er Jahre seien musikästhetisch betrachtet alles andere als eine Blütezeit gewesen.3 Ausgehend von diesen Momentaufnahmen möchte der folgende Aufsatz erörtern, wie provinziell die Musik der Weimarer Republik war und wie provinziell sich das deutsche Musikleben jener Zeit gestaltete. Diese zwei Fragen sind eng aufeinander bezogen, ohne jedoch identisch zu sein; letztere richtet den Blick nach innen, erstere nach außen. Provinziell meint hier frei von ästhetischen Bewertungen Gewachsenes und Gewöhnliches, das weder äußere Impulse aufnimmt noch überregionale oder internationale Strahlkraft zu entfalten vermag. Provinzielle Musik bzw. provinzielles Musikleben stehen damit im Gegensatz zu musikalischer Weltgeltung bzw. einem international geprägten Musikleben. 4 Das vorwiegend am Jazz und der sogenannten Neuen Musik entwickelte Argument ist ein dialektisches: Ich werde aufzeigen, dass die zunehmende Internationalisierung des deutschen Musiklebens in den 1920er Jahren maßgeblich dazu beitrug, dass Musik aus Deutschland provinzieller wurde und nicht mehr an die hohe Reputation anknüpfen konnte, die sie global betrachtet noch im langen 19. Jahrhundert besessen hatte. Musik und Musikleben der 3
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Vgl. Theodor W. Adorno: Jene zwanziger Jahre, in: ders.: Kulturkritik und Gesellschaft (Gesammelte Schriften, 10/2), Frankfurt a. M. 1997, S. 499–506, hier: S. 499; vgl. auch die Kritik an Adornos Sicht bei Giselher Schubert: Zur Einschätzung und Deutung des musikalischen Fortschrittsdenkens in der Musikkultur der Weimarer Republik, in: ders./ Wolfgang Rathert (Hrsg.): Musikkultur in der Weimarer Republik, Mainz 2001, S. 54–65. Vgl. dazu auch Jürgen Osterhammel: »Welteroberndes Künstlertum«. Weltsemantik und Globalisierung im Zeitalter Richard Wagners und Werner von Siemens, in: Arne Stollberg/Ivana Rentsch/Anselm Gerhard (Hrsg.): Gefühlskraftwerke für Patrioten? Wagner und das Musiktheater zwischen Nationalismus und Globalisierung, Würzburg 2015, S. 17–35, hier: S. 22–24.
Verflochtene Provinzialisierung
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Weimarer Republik unterlagen daher einer Dynamik, die sich als verflochtene Provinzialisierung adäquat beschreiben lässt. Sicherlich hat es so etwas wie »die Musik« der Weimarer Republik nie gegeben. Denn ganz abgesehen von der Pluralität der verschiedenen Musikrichtungen halten sich ästhetische Entwicklungen auch nur bedingt an politische Zäsuren. Schon Peter Gay hat in seiner »Republik der Außenseiter« darauf hingewiesen, dass viele kulturelle Ausdrucksformen, die mit der Weimarer Republik assoziiert werden, ihren Anfang im späten Kaiserreich genommen hatten. Dies gilt ebenso für das Musikleben, auch wenn Gay sich dafür am allerwenigsten interessierte.5 Umgekehrt heißt dies keineswegs, dass in den berühmten Goldenen 20er Jahren nichts Neues entstanden wäre. Für eine ausgewogene Beurteilung der Provinzialität bzw. Globalität des deutschen Musiklebens zur Weimarer Zeit scheint es daher hilfreich zu sein, sich zunächst die musikalische Vielschichtigkeit und Gleichzeitigkeit von neuer und älterer Musik in Erinnerung zu rufen.6 Gerade weil neue ästhetische Entwicklungen im Mittelpunkt stehen werden, ist es zudem notwendig, daran zu erinnern, dass die 1920er Jahre sozialgeschichtlich betrachtet so golden nicht waren, wie sie im Nachhinein häufig dargestellt wurden. Die Weimarforschung hat darauf in letzter Zeit verstärkt hingewiesen und herausgearbeitet, dass dieses Bild am ehesten noch in den großen Metropolen seine Berechtigung hat, aber selbst dort nur ein Teil der Bevölkerung am bunten Kulturleben teilhatte.7 Schließlich ist die Weimarer Zeit vielleicht die letzte Phase in der Geschichte des deutschen Musiklebens, in der die sogenannte ernste und Unterhaltungsmusik noch ziemlich eng verwoben waren und teils sogar gegenseitige Anleihen machten. Daher ist es notwendig, beide Sphären zu thematisieren, einschließlich all jener musikalischen Graubereiche, die sich aus diesen ästhetischen Transfers ergaben. Meines Erachtens könnten gerade Historiker viel häufiger solche genreübergreifenden Perspektiven einnehmen, weil sie an keinerlei äs-
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Vgl. Peter Gay: Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918–1933, Frankfurt a. M. 1987, insbes. S. 19–23. Dies gilt natürlich nicht nur für die Zeit der Weimarer Republik, sondern für das 20. Jahrhundert insgesamt. Konzeptionell anregend dazu Howard S. Becker: Art Worlds, Berkeley/Los Angeles 1982. Vgl. Karl Christian Führer: High Brow and Low Brow Culture, in: Anthony McElligott (Hrsg.): Weimar Germany, Oxford 2009, S. 260–281; John A. Williams: Foreword, in: ders. (Hrsg.): Weimar Culture Revisited, Basingstoke 2011, S. 9–24.
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thetisches Apriori ihrer Disziplin gebunden sind.8 Dementsprechend kommen neben dem Jazz und der sogenannten Neuen Musik auch solche Grenzüberschreitungen zur Sprache. Sie werden eingerahmt von einleitenden Gedanken zu den musikalischen Folgen des Ersten Weltkriegs und abschließenden Überlegungen zu den langfristigen Konsequenzen der verflochtenen Provinzialisierung, die das deutsche Musikleben über die Weimarer Republik hinaus prägen sollte.
Musikalische Abschottung: zu den Folgen des Ersten Weltkriegs In vieler Hinsicht stellten nicht so sehr der Untergang des Kaiserreichs und der Übergang zur Republik, sondern der Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine Zäsur im deutschen Musikleben dar. Der Krieg hatte internationale Kontakte zwischen Komponisten abbrechen lassen. Der altehrwürdige Allgemeine Deutsche Musikverein, bedeutendster Zusammenschluss deutscher Komponisten und in Friedenszeiten auch ein Hort vieler internationaler Kollegen, schloss kurz nach Ausbruch des Krieges Komponisten aus »Feindstaaten« aus, darunter auch das Ehrenmitglied Camille Saint-Saëns. Dasselbe tat der Allgemeine Deutsche Musikerverband, der größte Interessenverband ausübender Musiker, der gleichfalls eine bemerkenswert internationale Mitgliederstruktur aufwies.9 Und auch die deutsche Musikwissenschaft wandte sich von ihren ausländischen Kollegen ab. Die 1899 gegründete Internationale Musikgesellschaft fiel in sich zusammen, nachdem die deutschen Vertreter und der als Geschäftsstelle agierende Leipziger Verlag Breitkopf & Härtel geschlossen ihren Austritt erklärten. Die Gesellschaft, so der deutsche Musikwissenschaftler Alfred Einstein, sei ohnehin stets fest in deutschen Händen gewesen, und die Kollegen aus anderen
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Vgl. Sven Oliver Müller/Martin Rempe: Vergemeinschaftung, Pluralisierung, Fragmentierung. Kommunikationsprozesse im Musikleben des 20. Jahrhunderts, in: Sven Oliver Müller/Jürgen Osterhammel/Martin Rempe (Hrsg.): Kommunikation im Musikleben. Harmonien und Dissonanzen im 20. Jahrhundert, Göttingen 2015, S. 9–25. Doch auch Musikwissenschaftler fordern inzwischen eine derartige Erweiterung, vgl. etwa Frank Hentschel: Unfeine Unterschiede. Musikkulturen und Musikwissenschaft, in: Michael Calella/Nikolaus Urbanek (Hrsg.): Historische Musikwissenschaft: Grundlagen und Perspektiven, Stuttgart/Weimar 2013, S. 255–266. Vgl. Irina Lucke-Kaminiarz: Die Tonkünstlerversammlungen des ADMV – ein internationales Forum zeitgenössischer Musik?, in: Detlef Altenburg/Harriet Oelers (Hrsg.): Liszt und Europa, Laaber 2008, S. 63–75, hier: S. 70; Bekanntmachung des Präsidiums, in: Deutsche Musikerzeitung (DMZ), Nr. 33 (15. August 1914), S. 675.
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Ländern hätten nur gestört.10 Der Staat trug schließlich seinen Teil zu weiterer Abschottung bei: Selbst berühmte Solisten wie der polnische Geiger Bronislaw Huberman oder der schottische Pianist Frederic Lamond wurden in Ruhleben interniert. Teils wütete sogar eine musikalische Sprachpolizei und ersetzte etwa ein »Fantasie-Impromptu« durch die »Fantasie aus dem Stegreif«.11 Mit Ausbruch des Krieges im August 1914 wurde außerdem ein Tanzverbot verhängt, das zwar nur leidlich durchgehalten wurde, jedenfalls aber die weitere Ausbreitung des Tangos vorübergehend bremste. Der Tango hatte erst ein Jahr zuvor den Weg von Paris nach Deutschland gefunden.12 Ungeachtet des Tanzverbots fiel das Musikleben an der Heimatfront aber insgesamt gesehen keineswegs in sich zusammen. Sieht man von den ersten Monaten nach Kriegsausbruch ab, so erlitt das musikkulturelle Angebot nur wenige Einbußen. Programmatisch fanden freilich gewisse Verengungen statt. Einiges, wenn auch nicht das gesamte Repertoire von Komponisten aus dem verfeindeten Ausland, wurde nicht mehr gespielt. Beethoven und Wagner, neu komponierte patriotische Gesänge, vaterländische Märsche und jede Menge Operetten dominierten nun das Programm.13 Auch nach Ende des Krieges blieb das derart abgeschottete Musikleben zunächst auf sich selbst angewiesen. Erst nach der wirtschaftlichen Stabilisierung und Einführung der Rentenmark 1923/24 sollte sich dies wesentlich ändern. Das Land öffnete sich wieder für Kapital und Waren, für Menschen und Ideen. Dies machte sich alsbald auch im Musikleben bemerkbar. Ganz zurecht sind die 1920er Jahre als »Jazz Age« bezeichnet worden. Keine andere Musik – bzw. kein anderer musikalischer Sammelbegriff, denn was Jazz war, wusste letztlich noch niemand so genau –
10 Vgl. Christiane Sibille: Harmony Must Dominate the World. Internationale Organisationen und Musik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Bern 2016, S. 83–85. 11 Vgl. Stefan Hanheide: »Dem Ernste der Zeit anpassen«. Zur Politisierung des deutschen Musiklebens am Beginn des Ersten Weltkrieges, in: ders./Claudia Glunz/Dietrich Helms/ Thomas F. Schneider (Hrsg.): Musik bezieht Stellung. Funktionalisierungen der Musik im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2013, S. 265–276, hier: S. 272. 12 Vgl. Peter Wicke: Von Mozart zu Madonna. Eine Kulturgeschichte der Popmusik, Frankfurt a. M. 2001, S. 114 f.; zur Aneignung des Tangos vgl. auch Kerstin Lange: Tango in Paris und Berlin. Eine transnationale Geschichte der Metropolenkultur um 1900, Göttingen 2014. 13 Vgl. Stefan Hanheide: Reflections of War Sounds in German Concert Halls, in: German Historical Institute London Bulletin 37 (2015), S. 22–42; Oliver Hebestreit: Art. »Musiktheater«, in: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz: Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn/München/Wien/Zürich 2009, S. 995–997.
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war in jener Zeit präsenter, aber auch umstrittener im Unterhaltungsbusiness und in der Öffentlichkeit.14
Jazz Age Der Jazz schickte sich an, die österreichische Dominanz, die sich seit der Jahrhundertwende im Unterhaltungsbereich sowohl ästhetisch als auch personell in Deutschland aufgebaut hatte, aufzubrechen. Klaus Nathaus hat gezeigt, dass österreichische Musiktitel in Deutschland bis in die 1920er Jahre hinein überproportional hohe Tantiemen generierten und zugleich auffällig viele Kapellmeister aus den Gefilden der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie die Berliner Salonmusikszene bespielten. Weil diese auch das Repertoire bestimmten, kann man mit Nathaus durchaus von einer »Austrianisierung« des deutschen Musiklebens sprechen, die der Amerikanisierung voranging.15 Dieser Hinweis ist umso wichtiger, weil er dem oftmals suggerierten Eindruck entgegenwirkt, als hätte sich plötzlich das gesamte musikalische Unterhaltungsangebot nach einer einzigen Neuerung ausgerichtet.16 Der Erfolg der bereits erwähnten Walzerkönigin Edith Lorand etwa steht beispielhaft für die ungebrochene Popularität europäischer Salonorchestertradition. Lorand lebte die gesamten 1920er Jahre in Berlin und wurde mit ihren ungezählten Schallplattenaufnahmen reich und berühmt. Als weibliche Kapellmeisterin eines Herrenorchesters stellte sie freilich ansonsten eine absolute Ausnahmeerscheinung dar.17 Besonders plastisch wird die Chronologie internationaler musikalischer Moden der 1920er Jahre an den verschiedenen Künstlernamen des russischen Geigers und Kapellenleiters Lew Goltzman. Kurz nach seiner Ankunft in Berlin 1919 erhielt er bei Odeon einen Plattenvertrag, infolgedessen
14 Vgl. Heribert Schröder: Tanz- und Unterhaltungsmusik in Deutschland 1918–1933, Bonn 1990. 15 Vgl. Klaus Nathaus: Popular Music in Germany, 1900–1930: A Case of Americanisation? Uncovering a European Trajectory of Music Production into the Twentieth Century, in: European Review of History – Revue européenne d’histoire 20 (2013), S. 755–776. 16 Jüngstes Beispiel ist die lesenswerte Studie von Wipplinger, Jazz Republic (wie Anm. 1). 17 Vgl. Carolin Stahrenberg: Edith Lorand, in: Susanne Rode-Breymann/Carolin Stahrenberg (Hrsg.): »… mein Wunsch ist, Spuren zu hinterlassen …«. Rezeptions- und Berufsgeschichte von Geigerinnen, Großburgwedel 2011, S. 118–135; vgl. auch die Filmaufnahme der britischen Pathé aus dem Jahr 1931, in der Lorand ihr Herrenorchester dirigiert: Edith Lorand: An der schönen blauen Donau, online verfügbar: https://www. youtube.com/watch?v=zy_kDTvKu3Y (zuletzt abgerufen am: 6. März 2019).
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er mit dem ungarisch anmutenden Namen Dajos Béla Berühmtheit erlangte. Seit Mitte des Jahrzehnts spielten er und sein Ensemble dagegen immer häufiger auch als Clive-Williams-Orchestra Platten ein.18 Die fortwährende Präsenz von Strauss’schen Walzern, Polkas und sonstiger leichter Musik, die damals auch noch manche Stücke von heute ausschließlich der sogenannten Kunstmusik zugeordneten Komponisten wie Wolfgang Amadeus Mozart, Felix Mendelssohn-Bartholdy oder sogar Richard Wagner umfasste, bildeten demnach den Referenzrahmen, in dem sich der Jazz ausbreitete. In der Frühphase wurde Jazz vor allem als Tanzmusik, mitunter auch als eigenständiger Tanz verstanden. Nach der wirtschaftlichen Stabilisierung 1923/24 kamen dann Noten und Schallplatten auf den deutschen Musikalienmarkt, und wenig später gastierten auch die ersten Jazzbands aus den USA in Berlin und anderswo. Insbesondere weiße Bands wie jene eingangs erwähnte von Paul Whiteman, die als Orchester auftraten und ihre Musik »Symphonic Jazz« nannten, halfen dabei, den Jazz von seinem Radau-Image zu befreien.19 Doch auch schwarze Ensembles machten offensichtlich Konzessionen an ihr deutsches Publikum. Der Posaunist Herb Flemming, der bei der Tour von Sam Woodings Orchestra im Frühling 1925 dabei war, erzählte etwa in seinen Erinnerungen, dass die Deutschen keine Ahnung von Jazz gehabt hätten, aber von den Beethoven- und Tschaikowsky-Arrangements der Band ganz begeistert gewesen seien.20 Diese Art ästhetischen Eklektizismus betrieben erst recht deutsche Jazzbands. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sie immer wieder als »nicht authentisch« und bestenfalls »mittelmäßig« beschrieben worden sind.21 Man muss diese Zuschreibungen ästhetischer Puristen nicht teilen, und es gab ohne Zweifel ganz hervorragende Musiker, die auch Jazz spielten, wie
18 Vgl. Matthias Pasdzierny: Art. »Dajos Béla«, in: Claudia Maurer-Zeck/Peter Petersen: Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, Hamburg 2008, online verfügbar: https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00003100 (zuletzt abgerufen am: 6. März 2019). 19 Vgl. Michael H. Kater: Gewagtes Spiel. Jazz im Nationalsozialismus. Aus dem Amerikanischen von Bernd Rullkötter, Köln 1995, S. 21–63; Schröder, Tanz- und Unterhaltungsmusik (wie Anm. 14). 20 Vgl. Egino Biagoni: Herb Flemming. A Jazz Pioneer Around the World, Alphen Han de Rijn 1977, S. 35. 21 Vgl. z. B. Kater, Gewagtes Spiel (wie Anm. 19).
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etwa Stefan Weintraub und seine Weintraub Syncopators.22 Allerdings ist es zutreffend, dass diese neue Generation deutscher »Unterhaltungsmusiker« avant la lettre international nicht mehr den Ton vorgaben, sondern sich nun selbst Trends von außen anschlossen. Und damit provinzialisierte sich auch ein Stück weit ihr Aktionsradius. Die Weintraubs waren neben dem Gesangsensemble der Comedian Harmonists eine der wenigen deutschen Formationen, die international gefragt waren. Die Jazzband wurde sogar in die USA eingeladen, spielen durfte sie dort aber letztlich nicht, weil die Musikergewerkschaft ihr Veto einlegte.23 In der Republik beliebte Bandleader wie Bernard Etté, Marek Weber, Eric Borchard oder Mitja Nikisch, Sohn des Dirigenten Arthur, sind dagegen heute nicht nur weitgehend vergessen, sie waren damals eben auch nur deutschlandweit bekannt. Wenn sie wie Etté oder Borchard in die USA reisten, dann nicht, weil sie selbst als Musiker gefragt waren, sondern weil sie sich auf die Suche nach ebensolchen machten.24 In musikalischer Hinsicht wurde die Weimarer Republik also ein Aufnahmeland. Ein Einwanderungsland für Musiker wurde Deutschland aber trotz eigens anberaumter Rekrutierungsreisen wie jene von Etté oder Borchard nur bedingt. Zwar nahmen Beschwerden der organisierten Musikerschaft gegen die sogenannte Ausländerei deutlich zu. Genaue Zahlen gibt es allerdings für die 1920er Jahre keine, auch weil viele deutsche Musiker sich internationale, insbesondere englisch klingende Namen gaben, um im »Jazz Age« im Geschäft zu bleiben. Die wenigen vorhandenen Daten deuten jedenfalls eher auf weit verbreitete Xenophobie im Berufsfeld und auf ein erhöhtes Tourneeaufkommen internationaler Gruppen hin als auf eine substanzielle Einwanderungswelle. Es war nämlich rein rechtlich betrachtet leichter für Musiker, nach Deutschland einzureisen und dort aufzutreten als in andere europäische Länder; die wenigsten ließen sich aber dauerhaft nieder. In der Berufszählung vom Juni 1933 stellten nach wie vor Musiker aus der früheren K.-u.-K.-Monarchie die
22 Vgl. Horst Bergmeier: The Weintraub Story Part 1, in: Doctor Jazz Magazine (1979), S. 27–32; Albrecht Dümling: Die Weintraubs Syncopators. Zum 25. Todestag von Stefan Weintraub am 10. September 2006, in: Jazzzeitung (2006), H. 9, S. 22 f. 23 Vgl. Martin Rempe: Jenseits der Globalisierung. Musikermobilität und Musikaustausch im 20. Jahrhundert, in: Boris Barth/Stefanie Gänger/Niels P. Petersson (Hrsg.): Globalgeschichten. Bestandsaufnahme und Perspektiven, Frankfurt a. M. 2014, S. 205–228, hier: S. 209 f.; Eberhard Fechner: Die Comedian Harmonists. Sechs Lebensläufe, München 2003, S. 199–202. 24 Vgl. Horst H. Lange: Jazz in Deutschland. Die deutsche Jazz-Chronik 1900–1960, Berlin 1966, S. 16, S. 26 und S. 41 f.
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größte Gruppe bei einem insgesamt relativ geringen Anteil an ausländischen Musikern und Sängern von knapp vier Prozent.25 Die Aneignung des Jazz in Deutschland ist erst kürzlich wieder neu untersucht und als (positives) auditives Schockerlebnis gedeutet worden. Als vollkommen neuartige Musik habe der Jazz die Widersprüchlichkeiten der Moderne zwischen Bedrohung und Verheißung auf klanglichem Wege zugänglich und erfahrbar gemacht.26 Eine andere rezente Studie interpretiert die Jazzrezeption zusammen mit der Popularität anderer Genres der Unterhaltungsmusik als Ausweis eines urbanen Kosmopolitismus, der sich vor allem in Berlin manifestiert habe.27 Unterhalb solcher Orientierung bietenden Rahmendeutungen lassen sich die Wahrnehmungen und Reaktionen auf den Jazz grob in drei unterschiedliche Haltungen ausdifferenzieren, die zugleich sukzessive den Weimarer Jazzdiskurs der 1920er Jahre prägten: die nach neuen Klängen verlangenden tanzwütigen Massen; die jazzaffinen Zuhörer, die im neuen Genre großes Potential für die Weiterentwicklung einer gehobenen Unterhaltungsmusik sahen; und schließlich die Jazzgegner, die gegen Ende der Dekade immer lauter wurden. Nach dem Ende des Krieges und der Aufhebung des Tanzverbots gab es großen Nachholbedarf auf den Parkettböden der Republik. Woher die neuen Klänge und Tanzformen kamen, schien dem Publikum eher zweitranging, auch wenn Veranstalter und Notenverlage diese als internationale Trends anpriesen und vermarkteten. Wichtiger blieb die körperliche Befreiungserfahrung, die mit Foxtrott, Shimmy und Jazztanz verbunden wurde.28 Eine bewusstere Wahrnehmung des Jazz als ein musikalisches Genre fremden Ursprungs setzte erst mit der verstärkten Gastspieltätigkeit amerikanischer Bands in der Mitte des Jahrzehnts ein, was in ästhetischer Hinsicht wohl nicht zufällig mit dem Vormarsch des symphonischen Jazz koinzidierte.29 Schon dem Namen nach stand dieser der klassischen Musiktradition viel näher und bediente ein Publikum, das nach frischer, gehobener Unterhaltungsmusik verlangte. Diesem Zuhörerkreis korrespondierte eine Bewegung unter deutschen Unterhaltungsmusikern, den Jazz analog zur klassischen Musik zu einer Kunstmusik aufzuwerten. Dies 25 Vgl. im Detail: Martin Rempe: Kunst, Spiel, Arbeit. Musikerleben in Deutschland, 1850 bis 1960, Göttingen 2020, S. 241. 26 Vgl. Wipplinger, Jazz Republic (wie Anm. 1), S. 67–82. 27 Vgl. Daniel Morat: Populärmusik, in: ders./Paul Nolte/Tobias Becker/Anne Gnausch/ Kerstin Lange/Johanna Niedbalski: Weltstadtvergnügen. Berlin 1880–1930, Göttingen 2016, S. 109–152, hier: S. 143–152. 28 Vgl. Schröder, Tanz- und Unterhaltungsmusik (wie Anm. 14), S. 255–265. 29 Vgl. Morat, Populärmusik (wie Anm. 27), S. 148 f.
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spiegelte sich etwa in Werbeannoncen wider, die Jazzorchester als Ausweis für »hochstehende deutsche Jazzkultur« anpriesen, oder auch in der kurzzeitigen Einrichtung einer Jazzklasse am Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt.30 Die größte Rolle spielte die transnationale Dimension des Jazz dagegen in dessen strikter Ablehnung. In allen drei Varianten der Jazzkritik nahm sie eine prominente Rolle ein: Nationalistisch gewendet, fürchteten Kritiker eine Überfremdung deutscher Musik. Rassistisch grundiert, geißelte man die »Negermusik-Invasion«, schimpfte auf »Niggersongs« und sah die Gesellschaft durch die vermeintlich primitiven, aufreizenden und erotisierenden Rhythmen bedroht. Antikommunistisch schließlich schlossen die Jazzgegner mühelos an die breitere Debatte über Kulturbolschewismus an, weil sie glaubten, dass in der grundsätzlich gleichberechtigen Jazzformation eine Art »Kapellenkommunismus« verwirklicht werde.31 Die Reflexion über die musikalische Verflechtung des deutschen Musiklebens mit der weiteren Welt erhielt so im Verlauf der Republik zunehmend negative Konnotationen – obwohl das Ausmaß ästhetischer Einflussnahme als auch personeller Durchdringung insgesamt betrachtet überschaubar blieb. Mit der Beobachtung eines »Kapellenkommunismus« lagen die Jazzgegner allerdings nicht ganz falsch, denn mit dem Jazz zog nicht nur ein neuer Musikstil, sondern tatsächlich eine neue Form des Musizierens ein. Auch wohlwollende Kritiker brachten diese Entwicklung mit dem Zeitgeist in Verbindung. Keiner hat das besser auf den Punkt gebracht als der Mannheimer Musikschriftsteller Karl Laux in einer Besprechung eines Auftritts der Weintraub Syncopators. Laux sah in den neuen musikalischen Idiomen des Jazz »eine gewisse Respektlosigkeit gegen verstaubte Gesetze« am Werk, die die Weintraubs längst verinnerlicht hätten. Sie verkörperten einen »Prototyp des neuen Musikers«, der sich nicht mehr einem Dirigenten fügen würde, sondern vollkommen frei sei: »Wenn es ihm einfällt, bläst er die Noten zum Teufel und macht sich selbst einen Vers auf das Leben,« so Laux begeistert über das Wechselspiel von Chorus und solistischer Improvisation, bei der reihum jeder einmal drankam. Für ihn vertonte Jazz schlicht den »Triumph der Demokratie«.32 Natürlich beschrieb der Musikkritiker hier einen Idealtypus, von dem viele Jazzbands, und nicht nur
30 Vgl. Schröder, Tanz- und Unterhaltungsmusik (wie Anm. 14), S. 307. Zur Jazzklasse vgl. Peter Cahn: Das Hoch’sche Konservatorium in Frankfurt am Main (1878–1978), Frankfurt a. M. 1979. 31 Vgl. Eckhard John: Musikbolschewismus. Die Politisierung der Musik in Deutschland, 1918–1938, Stuttgart 1994, S. 290–295. 32 Karl Laux: Hochschule des Jazz. Die Weintraubs, in: Neue Badische Landeszeitung, o. D., entnommen aus: Archiv der Künste, Weintraub-Syncopators-Archiv, Nr. 1.
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deutsche, weit entfernt waren. Dass sich im Jazz aber ein emanzipatorischer Impuls der beteiligten Musiker ausdrückte, steht außer Frage. Solch ein Impuls äußerte sich gleichfalls auf dem Feld der ernsten Musik, wo Dirigenten bis dato eine unangefochtene Machtstellung gegenüber Orchestermusikern innehatten und im wahrsten Sinne des Wortes den Ton angaben.33 Erstmals brachen die Musiker des Leipziger Sinfonieorchesters aus diesem Unterordnungsverhältnis aus und gaben im Frühjahr 1928 ein Sinfoniekonzert mit einem anspruchsvollen Beethoven-Programm ganz ohne Dirigenten. Führungslose Vorstellungen klassischer Musik stellten ein absolutes Novum in der neueren Geschichte des deutschen Musiklebens dar. Auch in diesem Fall kam der Anstoß von außen, passenderweise von der anderen Seite der Systemkonkurrenz: Erfunden hatte diese Form des Musizierens einige Jahre zuvor das Moskauer Persimfans Orchester. Explizit diente es den Leipzigern als Vorbild, nachdem ihnen der russische Pianist Samuel Feinberg anlässlich eines Gastspiels in der Messestadt davon berichtet hatte.34 Freilich blieb dieses Experiment eine Episode; es kam lediglich zu einer einzigen Wiederholung, obwohl die Kritiken überwiegend positiv ausfielen.35 Dennoch ist es von gewisser Bedeutung, weil es einmal mehr zeigt, dass das Weimarer Musikleben neben der Amerikanisierung auch für Trends aus anderen Regionen, insbesondere aus Ost- und Südosteuropa, offen und aufnahmebereit war. Zudem verweist es darauf, dass auch Vertreter der Kunstmusik sich mit dem Zeitgeist auseinandersetzten.
Innere Provinzialisierung: Neue Musik Das galt nicht zuletzt für das musikalische Schaffen der ernsten Komponisten. Paul Hindemiths schmucklose Selbstbeschreibung aus den frühen 1920er Jahren illustriert, in welch breitem klanglichen Spektrum er sich bewegte: 33 Klassisch zu diesem Hierarchieverhältnis Elias Canetti: Masse und Macht, Hamburg 1960, S. 453–456; vgl. auch Wolfgang Hattinger: Der Dirigent. Mythos, Macht, Merkwürdigkeiten, Kassel 2013, S. 152 f. 34 Vgl. zu Feinberg die Erinnerungen des damaligen Dirigenten des Leipziger Orchesters, Alfred Szendrei: Im türkisenblauen Garten. Der Weg des Kapellmeisters A. S. von Leipzig in die Emigration, erzählt von ihm selbst, Leipzig/Frankfurt a. M. 2014, S. 129 f. Außerdem Eckard John: Orchester ohne Dirigent. Vor 75 Jahren: Premiere des Moskauer »Persimfans«, in: Neue Zeitschrift für Musik (1997), Nr. 2 (März/April), S. 40–43. 35 Vgl. etwa Alfred Heuß: Ein Beethoven-Orchesterkonzert ohne Dirigent, in: Zeitschrift für Musik (Juni 1928), S. 334–336.
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»Ich bin 1895 zu Hanau geboren. Seit meinem 12. Jahre Musikstudium. Habe als Geiger, Bratscher, Klavierspieler oder Schlagzeuger folgende musikalische Gebiete ausgiebig ›beackert‹: Kammermusik aller Art, Kino, Kaffeehaus, Tanzmusik, Operette, Jazz-Band, Militärmusik. Seit 1916 bin ich Konzertmeister der Frankfurter Oper.«36 Mehr als jeder andere deutsche Komponist prägte Hindemith den musikalischen Neuanfang der Zwischenkriegszeit, und im Gegensatz zu seinem österreichischen Kollegen Arnold Schönberg war er alles andere als ein Ideologe. Über seine eigenen Werke sagte er einmal, dass »meine Sachen für die Leute mit Ohren wirklich leicht zu erfassen sind.«37 An keinem Komponisten lassen sich die wichtigsten Richtungen der Weimarer Kunstmusik – Expressionismus und Neue Sachlichkeit, Gebrauchsmusik und das Experimentieren mit den Neuen Medien – besser vereinigen.38 Damit stand er im Gegensatz zu und teilweise in offener Konfrontation mit dem Musikestablishment um Komponisten wie Hans Pfitzner, Richard Strauss und dem Musikjournalisten Alfred Heuss, die zwar ihrerseits eigene Ideen der musikalischen Erneuerung verfolgten, sich mit ihrem ästhetischen und politischen Konservatismus jedoch selbst ein Stück weit ins Abseits stellten.39 Hindemith ließ sich dagegen auch von den neuen musikalischen Idiomen aus Übersee inspirieren, zum Beispiel in seiner Suite 1922, dessen zweiter Satz mit »Ragtime« überschrieben war. Sogar an der Verballhornung klassischer Werke, wie sie im Unterhaltungsbetrieb gang und gäbe waren, beteiligte er sich mit seiner »Ouvertüre zum fliegenden Holländer, wie sie eine schlechte Kurkapelle morgens um 7 am Brunnen vom Blatt spielt«. 40
36 Paul Hindemith: Paul Hindemith, in: ders.: Aufsätze, Vorträge, Reden, Zürich/Mainz 1994, S. 7 f. 37 Ebd. 38 Vgl. zu diesen Richtungen Jost Hermand/Frank Trommler: Die Kultur der Weimarer Republik, München 1978, S. 299–352. Speziell zu Hindemiths Experimenten mit Rundfunk und Film Susanne Schaal-Gotthardt: »Immer neues ans Licht bringen«. Paul Hindemith und die (neuen) Medien, in: Marion Saxer (Hrsg.): Spiel (mit) der Maschine. Musikalische Medienpraxis der Frühzeit von Phonographie, Selbstspielklavier, Film und Radio, Bielefeld 2016, S. 297–316. 39 Vgl. zu diesen konservativen Erneuerungsversuchen zuletzt mit einer differenzierten Analyse Nicholas Attfield: Challenging the Modern: Conservative Revolution in German Music 1918–33, Oxford 2017. 40 Vgl. Alex Ross: The Rest is Noise. Das 20. Jahrhundert hören, 2. Aufl. München/Zürich 2009, S. 207–209.
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Dabei war Hindemith bekanntlich nicht der einzige Komponist ernster Musik, der mit Ragtime und Jazz flirtete. Eine der populärsten Opern und zugleich Beispiel einer »Zeitoper«, einer neuen, kurzlebigen Gattung der Weimarer Republik, wurde »Jonny spielt auf« des Österreichers Ernst Krenek. Geboren 1900, war der junge Komponist mit 20 Jahren zum Studium nach Berlin gekommen und arbeitete als Assistent an der Kasseler Oper, als es im Frühjahr 1927 zum unverhofften Premierenerfolg in Leipzig kam. Die Figur des Jonny ist ein dem Leben zugewandter afroamerikanischer Jazzgeiger auf Europatournee, der es neben diversen Liebschaften auch auf die wertvolle Violine des Virtuosen Daniello abgesehen hat. Eine der begehrten Frauen ist die Sängerin Anita, die mit dem weltfremden Kunstmusikkomponisten Max liiert ist, quasi Jonnys Gegenfigur. Eingekleidet in solch eine Liebes- und Diebesgeschichte stellt die Oper die Frage nach der Zukunft der Kunstmusik zwischen Traditionsbesinnung, Abkapselung von der Welt und einer Öffnung gegenüber den Unterhaltungsbedürfnissen der Massen, die nicht zuletzt musikalisch diskutiert wird: Tonale, allerdings oftmals durch Dissonanz und Chromatik geprägte Passagen wechseln sich mit jazzartigen Abschnitten ab. 41 Im Beatunterlegten Schlusschor, in dem Jonny mit der gestohlenen Geige auf einem Globus thront, hat Krenek eine Art Provinzialisierung Europas explizit gemacht: »Die Stunde schlägt der alten Zeit, die neue Zeit bricht jetzt an. Versäumt den Anschluss nicht, die Überfahrt beginnt ins unbekannte Land der Freiheit. Die Überfahrt beginnt! So spielt uns Jonny auf zum Tanz. Es kommt die neue Welt übers Meer gefahren mit Glanz und erbt das alte Europa durch den Tanz!«42 Die Uraufführung wurde zur Sensation. Noch in derselben Spielzeit kam es zu weiteren 25 Aufführungen an drei verschiedenen Opernbühnen, und in der Folgesaison 1927/28 wurde Jonny rekordverdächtige 421 Mal an 45 deutschsprachigen Bühnen dargeboten. Mutmaßlich gilt Jonny damit als »mit Abstand erfolgreichste Oper der Weimarer Republik«43 – und zugleich als eines der wenigen deutschsprachigen Bühnenwerke der 1920er Jahre, die international
41 Vgl. Eva Diettrich: Auf den Spuren zu Jonnys Erfolg, in: Otto Kolleritsch (Hrsg.): Ernst Krenek, Wien 1982, S. 119–124. 42 Ernst Krenek: Jonny spielt auf. Oper in zwei Teilen op. 45 (1925). Textbuch, Wien 1926, S. 51. 43 Dorothea Redepenning: Jonny spielt auf. Die trügerische Lebenslust der Weimarer Republik, in: Heidelberger Jahrbücher 54 (2010 [2012]), S. 181–203, hier: S. 181.
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rezipiert wurden. So kam es zu Inszenierungen in Paris und an verschiedenen Opernhäusern in Osteuropa sowie in Finnland. 1929 kehrte die Jazzoper quasi heim und hatte an der New Yorker Metropolitan Opera Premiere. An der Wiener Staatsoper erlebte sie ihre Erstaufführung sogar am Sylvesterabend des Jahres 1927, der traditionell seit Jahrzehnten der Fledermaus von Johann Strauss vorbehalten gewesen war. 44 Seine breite Rezeption verdankt das Stück nicht zuletzt der eingängigen Musik im Graubereich zwischen E- und U-Musik. Die Universal-Edition, der Musikverlag, der die Rechte an der Jazzoper hielt, wusste daraus Kapital zu schlagen, indem er in Rücksprache mit Krenek einzelne Nummern aus der Oper für Salonorchester arrangieren ließ und in der renommierten VindobonaCollection verbreitete. Dazu zählte auch der Schlusschor, der als »Tanzschlager« auf den Markt kommen sollte. 45 Vom breiten Erfolg auf nationaler wie internationaler Ebene am meisten überrascht schien Krenek selbst. In seinen Erinnerungen, die er nach seiner Emigration in die USA im Laufe der 1940er und 1950er Jahre niederschrieb, inszenierte sich der Komponist als Opfer, dessen Stück falsch verstanden worden sei; unter den Folgen des flüchtigen Ruhms habe er noch immer zu leiden. 46 »Die Zwiespältigkeit der Welt wird entscheidungslos gestaltet«, hielt Krenek bereits 1930 als tragische Kernaussage seines Jonnys fest, ein Zwiespalt, der Krenek selbst in seinen Erinnerungen noch umtrieb. 47 Er akzentuierte damit die Unentschiedenheit zwischen einem positiven Umgang mit der immer stärker durch die USA geprägten Moderne oder ihrer Ablehnung, während der übergroße Teil des Publikums und der Kritiker die Jazzoper als positives Bekenntnis betrachteten. Mit dem »unbekannten Land der Freiheit«, in das Krenek den Komponisten Max am Ende fahren lässt, meinte er demnach weniger das real existierende Amerika (das er zu diesem Zeitpunkt auch noch gar nicht kannte) als vielmehr ein romantisiertes Wunschbild davon. 48
44 Vgl. Ernst Krenek: Im Atem der Zeit. Erinnerungen an die Moderne, Wien 2012, S. 787– 789, S. 805–813 und S. 867–870. 45 Vgl. Brief an Krenek, 2. März 1927, in: Claudia Maurer-Zenck (Hrsg.): Ernst Krenek – Briefwechsel mit der Universal-Edition (1921–1941) Bd. 1, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 267 f. 46 Vgl. Krenek, Im Atem der Zeit (wie Anm. 44), S. 765 f. und S. 789 f. 47 Ernst Krenek: Von Jonny zu Orest (1930), in: ders.: Zur Sprache gebracht. Essays über Musik, München 1958, S. 76–78, hier: S. 77. Zu den autobiographischen Zügen im Jonny vgl. auch Ross, The Rest is Noise (wie Anm. 40), S. 212. 48 Vgl. Diettrich, Auf den Spuren (wie Anm. 41), S. 120.
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Ein zweites sehr erfolgreiches Werk des neuen Genres Zeitoper (so man es dazuzählen möchte), 49 das gleichfalls einige Jazzbezüge aufwies, war die heute noch häufig gespielte Dreigroschenoper. Bertolt Brecht und Kurt Weill gelang mit diesem Geniestreich, was viele jener Zeit wollten, aber nur ganz wenige schafften: Kunst fürs Volk zu machen, die dem Volk auch wirklich gefiel. Die Bezugnahme auf den Jazz ergab sich bei der Dreigroschenoper bereits aus der Besetzung, die vom klassischen Sinfonieorchester abwich und stattdessen eine kleine Gruppe aus sieben Musikern vorschrieb, welche insgesamt bis zu 23 Instrumente bedienen mussten. So waren schon die Weintraub Syncopators berühmt geworden, die nach eigenen Angaben zu siebt etwa 45 Instrumente bespielten.50 Das Stück war nicht nur in Deutschland enorm populär, sondern fand rasch auch den Weg auf europäische Bühnen sowie an den Broadway in New York, wo es allerdings zunächst durchfiel. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnte dort 1954 eine Neuinszenierung mit Lotte Lenya, der Witwe des vier Jahre zuvor verstorbenen Weill, in der Rolle der Seeräuberbraut Jenny große Aufmerksamkeit erregen und hielt sich mehrere Jahre im Programm.51 Umgekehrt behaupteten deutsche Bühnen ihren guten internationalen Ruf als zentrale Aufführungsorte für neue Werke. Unter den Erst- und Uraufführungen der drei Berliner Opernhäuser in den Jahren 1924 bis 1932 fanden sich neben Neuheiten Hindemiths, Kreneks, Schönbergs und Weills gleich mehrere Kompositionen von Igor Strawinsky und Darius Milhaud sowie Opern von Béla Bartók, Feruccio Busoni, Jacques Ibert, Jaromir Weinberger, Leosˇ Janácˇek und Alexandre Tansman.52 Die Spielpläne der deutschen Musiktheater blieben damit allerdings wie bereits vor dem Krieg einer rein europäischen Tradition verhaftet – mit einer Ausnahme: In Frankfurt kam George Antheils Oper »Transatlantic« 1930 zur Uraufführung. Gleichfalls eine Zeitoper mit starken Jazzanleihen, brachte es das Werk des Amerikaners allerdings nur auf sechs Spielabende, ehe es in der Versenkung verschwand und erst an der Wende zum 21. Jahrhundert wieder ausgegraben wurde. In seinen Erinnerungen von 1945 rühmte sich Antheil dennoch dafür, als einer der ersten
49 Vgl. zur Debatte um die Klassifizierung Wolfgang Jansen: Auf der Suche nach Zukunft: Zur Situation der Operette in den ausgehenden Zwanziger Jahren, in: Nils Grosch (Hrsg.): Aspekte des modernen Musiktheaters in der Weimarer Republik, Münster 2004, S. 27–72, hier: S. 58 f. 50 Vgl. Hermand/Trommler, Kultur (wie Anm. 38), S. 319–321. 51 Vgl. Lotte Lenya: Eine Autobiographie in Bildern, Köln 1999, S. 129–132. 52 Vgl. die Aufstellung bei Martin Thrun: Neue Musik im deutschen Musikleben bis 1933, Bonn 1995, S. 567–569.
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amerikanischen Komponisten eine Oper an einem deutschen Opernhaus zur Aufführung gebracht zu haben.53 Einen ähnlichen Reinfall erlebte im selben Jahr am selben Haus Arnold Schönbergs nach eigener Aussage »heitere« Oper »Von heute auf morgen«. Das Werk, das zumindest vom Libretto her Zeitopern à la »Jonny spielt auf« am nächsten kam, spiegelte Schönbergs maximales Entgegenkommen an den Zeitgeist wider, stand er doch prinzipiell an der Spitze derjenigen Fraktion innerhalb der Komponistenzunft, die den Flirt mit dem Jazz als unerträgliche Anbiederung an den Geschmack der Massen kritisierten. Dementsprechend hatte Schönberg »Von heute auf morgen« durchwegs mit den Mitteln der Zwölftontechnik komponiert, was ihn jedoch nicht von seinem festen Glauben an einen echten Kassenschlager abbringen konnte. Die Zuversicht ging sogar so weit, dass er die Oper unter Einsatz erheblicher eigener Mittel im Selbstverlag herausbrachte.54 Schönbergs Wirken mit der Globalität bzw. Provinzialität des Weimarer Musiklebens ins rechte Verhältnis zu setzen, fällt nicht leicht. Erstens setzte er mit seiner »Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen« einen echten Kontrapunkt zur Jazzmode und der oft nicht eben anspruchsvollen Gebrauchsmusik der Kollegen. Atonale Kompositionen gab es natürlich schon länger, gerade auch von Schönberg. Mit seiner Zwölftontechnik entwarf er nun aber eine neue musikalische Ordnung, in der das Anarchische am Atonalen in ein komplexes Regelwerk überführt wurde, das zugleich der künstlerischen Gestaltungskraft genügend Raum ließ. 1921 ließ Schönberg gegenüber seinen Schülern den berühmt-berüchtigten Satz fallen, wonach er mit seiner neuen Methode die Vorherrschaft der deutschen Musik für die kommenden 100 Jahre gesichert habe. Er stellte sich damit bewusst in die Tradition von Bach, Beethoven und Brahms und dem historisch gewachsenen Topos der Musik als einer besonders aus dem deutschen Kulturraum hervorgebrachten und dort gepflegten Kunstform.55 Rückblickend hat die »Erfindung« der Dodekaphonie allerdings im Laufe des 20. Jahrhunderts vielen Komponisten aus der ganzen Welt als Anstoß und Inspiration gedient. Der amerikanische Musikkritiker Alex Ross schreibt in diesem Zusammenhang
53 Vgl. George Antheil: Bad Boy of Music. Autobiographie, Hamburg 2000, S. 260–265. 54 Vgl. Manuel Gervink: Arnold Schönberg und seine Zeit, Laaber 2000, S. 276 f. 55 Alexander L. Ringer: Arnold Schönberg. Das Leben im Werk, Stuttgart/Weimar 2002, S. 197 f.; Gervink, Schönberg (wie Anm. 54), S. 261.
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von einer Art »kompositorischer Globalisierung«, die das Komponieren mit zwölf Tönen nach 1945 zu einer »Lingua franca der Kunstmusik« werden ließ.56 Verharrt man dagegen zweitens bei einer engeren Wirkungsgeschichte in der Republikzeit und blickt auf das Publikum, so stieß Schönbergs Musik auf eher geringe Resonanz. Freilich war er in den 1920er Jahren europaweit bekannt. Seine Werke wurden in den großen europäischen Hauptstädten wie Paris, London oder auch Prag aufgeführt. Und als er 1933 in die USA emigrierte, wurde Schönberg zu Ehren eine ganze Konzertstafette mit seinen Werken veranstaltet. Viele darunter erklangen allerdings auf der anderen Seite des Atlantiks zum ersten Mal. Der pompöse Empfang in New York hatte weitaus mehr mit politischer Symbolik als mit echter musikalischer Wertschätzung zu tun.57 Dass nicht allzu viele Menschen mit seiner Musik etwas anfangen konnten, war Schönberg auch vom alten Kontinent schon gewohnt. Mindestens genauso bekannt wie sein überheblicher Spruch von der Sicherung der musikalischen Vorherrschaft ist wohl Schönbergs Essay über sein Publikum aus dem Jahr 1930: »Aufgefordert, über mein Publikum etwas zu sagen, müßte ich bekennen: ich glaube, ich habe keines.«58 Natürlich war auch das deutlich übertrieben, wie Schönberg im Verlauf des Aufsatzes klarstellt. Aber eine Musik, die sich bewusst ins Abseits setzte, fand national wie international lediglich in leicht überschaubaren Avantgardezirkeln Anklang. Drittens darf schließlich nicht vergessen werden, dass die von Schönberg begründete Neue Wiener Schule nicht zufällig so und nicht etwa Berliner Schule getauft wurde. Anders gewendet: Der Österreicher Schönberg galt vielen Zeitgenossen keineswegs als ein Repräsentant »deutscher« Musik, ungeachtet seiner eigenen Überzeugungen, die Vorherrschaft ebenjener gesichert zu haben. Auch wirkte Schönberg erst seit 1925 wieder in Berlin als Hochschullehrer für Komposition. Der ungeliebten Stadt kehrte er zudem oft und teils für mehrere Monate den Rücken, ehe er im Frühjahr 1933 endgültig floh.59 Gemeinsam mit Krenek steht Schönberg daher genau genommen – und parallel zum Bereich der populären Musik – für eine bedeutende österreichische Präsenz im Musikleben der Weimarer Republik. Sie selbst fühlten sich allerdings weiterhin 56 Ross, The Rest is Noise (wie Anm. 40), S. 224. 57 Vgl. Gervink, Schönberg (wie Anm. 54), S. 34–43; zur Rezeption in den USA: Ringer, Schönberg (wie Anm. 55), S. 241–251. 58 Arnold Schönberg: Mein Publikum, in: Der Querschnitt 10 (1930), April, S. 222–224. 59 Der Name wurde im Laufe der 1920er Jahre immer geläufiger. Davor war überwiegend einfach von der Schönberg-Schule die Rede, zu der neben ihm vor allem Anton von Webern und Alban Berg gezählt werden; vgl. zur Begriffsgeschichte Thrun, Neue Musik (wie Anm. 52), S. 85–92.
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einer kulturnational konzipierten »deutschen« Musiktradition zugehörig und wurden vom weiteren Ausland auch so wahrgenommen. Verfolgt man dessen ungeachtet die Differenzierung zwischen deutschen und österreichischen Komponisten weiter, so wirft dies schließlich die Frage nach der eigentlichen Weimarer Kunstmusik und ihrer internationalen Ausstrahlung auf. Diese blieb überschaubar, was im Rahmen der 1922 neu gegründeten Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) deutlich zutage trat. Die IGNM hatte ihren Sitz in London eingerichtet, zählte neben zahlreichen europäischen Ländern auch Argentinien, Brasilien, Australien und die USA zu ihren Mitgliedern und veranstaltete einmal im Jahr in einer europäischen Metropole ein internationales Musikfest, um die Zirkulation neuer Werke unter den Mitgliedsländern zu fördern. Eine international besetzte Jury hatte im Vorfeld solcher Feste aus Vorschlägen der national gegliederten Sektionen auszuwählen.60 Eine offizielle Verständigung darüber, was als zeitgenössische Musik zu gelten habe, fand nicht statt. Der britische Musikwissenschaftler und erste Präsident der neuen Gesellschaft, Edward Dent, bemerkte dazu 1923 lediglich, dass es um die »bahnbrechenden Tendenzen in der Musik« gehe, und diese von Land zu Land sehr unterschiedlich ausfallen könnten.61 Wenig überraschend dominierten deutsche Komponisten neben österreichischen, französischen und tschechischen die Jury und damit auch die Festprogramme. Und trotzdem lässt sich an dieser Art internationalem Kompositionswettbewerb, bei dem die deutschen Vertreter im Übrigen durch staatliche Zuschüsse kräftig unterstützt wurden, deren gradueller Bedeutungsverlust ablesen. Während auf den Festen das Schaffen der Neuen Wiener Schule regelmäßig gewürdigt wurde, kamen aus der deutschen Sektion außer Hindemith und Weill überwiegend Komponisten ins Programm, die damals keinen internationalen Ruf genossen und heute weitgehend vergessen sind. Der Vorschlagspolitik der deutschen Sektion fehlte »jedweder Wagemut«, schreibt der Musikwissenschaftler Martin Thrun, auch weil die Verantwortlichen ihre Entscheidungen weitgehend an den Darbietungen der nationalen Musikfeste von Donaueschingen bzw. Baden-Baden ausrichteten, anstatt neue Wege zu gehen.62 Folgerichtig scheiterten die deutschen Komponisten Ende der 1920er Jahre bei der internationalen Jury mit dem Ansinnen, ein Sonderkonzert mit Gebrauchsmusik zu veranstalten. Schul- und Hausmusik, mechanische Musik, Radio-, Film- und Unterhaltungsmusik, die allesamt zur Gebrauchsmusik zähl60 Vgl. zur Gründung: Sibille, Internationale Organisationen (wie Anm. 10), S. 189–192. 61 Zit. nach Thrun, Neue Musik (wie Anm. 52), S. 424 f. 62 Ebd., S. 445.
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ten, seien eine »interne deutsche Aufgabe«, hieß es als Begründung. Diese Ablehnung sollte sich zwei Jahre später wiederholen – ein Affront für die deutschen Tonsetzer, zugleich jedoch ein Indiz dafür, dass ihr Ruf angekratzt war und sie sich international nicht mehr einfach auf ihr Erbe berufen konnten.63 An den Debatten rund um die IGNM spiegelt sich so eine Tendenz zur nationalen Codierung und Provinzialisierung zeitgenössischer deutscher Musik wider, wie sie jedenfalls für die gemeinhin als universell verstandene Kunstmusik aus dem deutschen Sprachraum vor 1900 noch undenkbar gewesen wäre.64
Verflochtene Provinzialisierung Der Geiger Yehudi Menuhin hat in seinen Erinnerungen das Berlin der 1920er Jahre als »musikalische Hauptstadt der zivilisierten Welt« und Deutschland als ein »musikalisches Imperium« bezeichnet.65 Mit dem ersten Teil lag Menuhin sicherlich nicht ganz falsch: Das Musikleben der Weimarer Republik war noch internationaler, durchmischter und abwechslungsreicher geworden als vor dem Ersten Weltkrieg. Das lag zum einen an neuen musikalischen Moden wie dem Tango, dem Jazz oder auch der Rumba, die wesentlich zu Berlins goldenem Glanz der 20er Jahre beitrugen. Zum anderen (und von Menuhin in erster Linie gemeint) war dies auf eine ungemein dichte musikalische Infrastruktur aus Veranstaltern, Theatern und Orchestern zurückzuführen, die nicht nur in Berlin, sondern in der ganzen Republik in den 1920er Jahren weiter expandierte. Schließlich wies Deutschland ein im internationalen Vergleich recht lockeres Niederlassungs- und Aufenthaltsrecht auf, das Musikern aus dem Ausland die Einreise relativ einfach machte und gute Auftrittsmöglichkeiten bot. Das musikalische Imperium hingegen wurde ein Stück weit zurechtgestutzt bzw. provinzialisiert. Natürlich gilt dies nicht so sehr für die gewachsene Tradition der klassischen Musik des 19. Jahrhunderts und ihre Interpreten, die in diesem Aufsatz nicht thematisiert worden sind. Nach dem Ersten Weltkrieg gelangten Beethoven und Wagner ebenso rasch wieder auf die Spielpläne
63 Ebd., S. 446–448. 64 Vgl. zum Universalismus der deutschen Kunstmusik Celia Applegate/Pamela Potter: Germans as the »People of Music«. Genealogy of an Identity, in: dies. (Hrsg.): Music and German National Identity, Chicago 2002, S. 1–35; Sibille, Internationale Organisationen (wie Anm. 10), S. 193–198. 65 Yehudi Menuhin: Unvollendete Reise. Lebenserinnerungen, München/Zürich 1977, S. 105.
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europäischer und überseeischer Häuser, wie so manche deutschen Virtuosen, Dirigenten und Orchester international stark gefragt waren. Dagegen konnte die neu entstandene ernste Musik nicht annähernd an die »Universalität« der klassischen und romantischen Meister des 19. Jahrhunderts anknüpfen. Während die deutschen Komponisten im engeren Sinn weitgehend im eigenen Saft schmorten, erlebten die österreichischen Gäste Krenek und Schönberg ganz unterschiedliche Schicksale: Krenek hatte noch lange an seinem »Hitwunder« zu knabbern, das es nicht in den Kanon schaffte, wohingegen Schönbergs Werk erst viel später in ebendiesen aufgenommen wurde. Tatsächlich setzte mit dem Übergang zur Weimarer Republik eine musikalische Trendwende ein, auch und insbesondere im Bereich der Unterhaltungsmusik, wo sich der Mechanismus verflochtener Provinzialisierung noch klarer abzeichnete: Aus der Verarbeitung des Jazz, so wie er in der Regel von Kapellen in Deutschland angeeignet wurde, gingen kaum Impulse aus, die überregional für Aufmerksamkeit hätten sorgen können. Die Suche nach einer »guten«, hochwertigen Unterhaltungsmusik, die von konservativen Kräften gegen den Jazz in Stellung gebracht wurde und im Nationalsozialismus weiterging, stand dem genauso entgegen wie der musikalische Referenzrahmen und die Tatsache, dass viele deutsche Jazz-Musiker der ersten Stunde noch eine klassische Ausbildung durchlaufen hatten.66 Begünstigt wurde diese Trendwende durch die allgemeine internationale Lage nach dem Ersten Weltkrieg. Der musikalische Nationalismus, der sich innerhalb der IGNM äußerte, spiegelte das politische Klima der Zwischenkriegszeit gut wider. Das Musikleben bildete hier keine Ausnahme, ganz im Gegenteil. Infolge des verlorenen Weltkrieges hatte die internationale Reputation und Vernetzung Deutschlands auch auf anderen Feldern wie etwa der Wissenschaft massiv gelitten.67 Die um die Jahrhundertwende noch klar zu erkennende Dominanz deutscher Musik und Musiker in Ländern wie den USA oder England machte so lokalem Nachwuchs und neuen Einflüssen, etwa aus Frankreich, Platz.68 Angesichts der Dialektik verflochtener Provinzialisierung im Musikleben lässt sich die häufig aufgeworfene Frage, ob die Zwischenkriegszeit eine Phase der
66 Vgl. Rempe, Musikerleben, S. 221 (wie Anm. 25); Axel Jockwer: Unterhaltungsmusik im Dritten Reich, Konstanz 2005. 67 Vgl. Gerhard A. Ritter: Großforschung und Staat in Deutschland. Ein historischer Überblick, München 1992, S. 39–42. 68 Vgl. Jessica Gienow-Hecht: Sound Diplomacy. Music and Emotions in Transatlantic Relations, 1850–1920, Chicago/London 2009, S. 204–209.
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Globalisierung oder eine der De-Globalisierung darstellte, nicht eindeutig beantworten. Zu bedenken gilt es zudem, dass die beschriebenen Verflechtungen sich auf den europäischen und nordatlantischen Raum beschränkten. Von einem musikalischen Austausch mit dem Orient oder der Aneignung fernöstlicher, südasiatischer oder nordafrikanischer Musik lässt sich während der 1920er Jahre nicht annähernd Vergleichbares berichten, im Gegenteil: Das in erster Linie wissenschaftlich bedingte Interesse an Musik dieser Regionen ging im Vergleich zu den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg sogar noch einmal zurück.69 In einer Perspektive der longue durée lässt sich die mit dem Übergang zu Weimar einsetzende verflochtene Provinzialisierung des Musiklebens bis in die Bundesrepublik weiterverfolgen. So isolierte sich das Musikleben nach der »Machtergreifung« des nationalsozialistischen Regimes zusehends durch dessen Musik- und Rassenpolitik, die ungezählte Musiker der ernsten wie leichten Muse ins Exil trieb oder noch schlimmere Schicksale erleiden ließ und deutsche zeitgenössische Komponisten auf der internationalen Bühne ein Stück weit ins Abseits stellte.70 Zugleich hinterließ der nationalsozialistische Feldzug gegen den Jazz, so hemdsärmelig, lückenhaft und letztlich erfolglos er auch geführt wurde, tiefe Spuren in der weiteren Entwicklung der deutschen Unterhaltungsmusik nach 1945.71 Der Krieg bildete schließlich, je länger er dauerte, ein Einfallstor für Aushilfen aus dem Ausland in die »Kulturorchester«, wie die Aushängeschilder des deutschen Musiklebens seit 1938 amtlich hießen, um diese spielfähig zu halten.72 Personell entflochten sich die Orchesterzusammensetzungen relativ schnell wieder nach Ende des Krieges. Psychologisch dagegen setzte sich der internationale Bedeutungsverlust auch im Bereich der ernsten Musik fest, wie aus
69 Vgl. Susanne Ziegler: Die Wachszylinder des Berliner Phonogramm-Archivs, Berlin 2006, S. 23–26; zum Austausch im Bereich der klassischen Musik Jürgen Osterhammel: Globale Horizonte europäischer Kunstmusik, 1860–1930, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), S. 86–132, hier: S. 122 f. 70 Vgl. etwa Dorothy Lamb Crawford: A Windfall of Musicians: Hitler’s Émigrés and Exiles in Southern California, New Haven London 2009. Die deutsche Sektion der IGNM wurde 1934 aufgelöst, vgl. dazu und zu den Konsequenzen: Sibille, Internationale Organisationen (wie Anm. 10), S. 199–206. 71 Vgl. zusammenfassend Heiko Hasenbein: Unerwünscht – toleriert – instrumentalisiert. Jazz und Swing im Nationalsozialismus, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 10/4 (1995), S. 38–52; grundlegend Bernd Polster (Hrsg.): »Swing Heil«. Jazz im Nationalsozialismus, Berlin 1989. 72 Vgl. Rempe: Musikerleben, S. 290 f. (wie Anm. 25).
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der Denkschrift mit dem alarmierenden Titel »Schwindende Geltung der deutschen Musikkultur« hervorgeht, die die Deutsche Orchestervereinigung 1962 bundesweit zirkulieren ließ. Ein Beitrag darin warf gar explizit die Frage auf, ob Deutschland angesichts der Omnipräsenz auswärtiger Künstler »musikalisches Kolonialgebiet« geworden sei.73 So übertrieben sich diese Befürchtungen auch erweisen sollten, spiegeln sie dennoch gewisse Nachwehen eines transnational bedingten Transformationsprozesses im deutschen Musikleben wider, der in den 1920er Jahren begann und die Vorherrschaft deutscher Musik und Musiker, so es sie je gegeben hatte, beendete.
73 O. V.: Deutschland – musikalisches Kolonialgebiet? In: Schwindende Geltung der deutschen Musikkultur. Eine Denkschrift der Deutschen Orchestervereinigung und des Deutschen Komponistenverbandes zur Situation des musikalischen Bildungswesens und der Musikpflege in Deutschland, Juni 1962, S. 29.
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Weltbummler ohne Kolumbus-Trieb Kosmopolitismus, Antikolonialismus und Zivilisationskritik bei Arnold Höllriegel und Richard Katz
I. »Wer hat die Titel von Richard Katz’ ersten Welterfolgen nicht noch im Ohr? ›Ein Bummel um die Welt‹! ›Heitere Tage mit braunen Menschen‹!« Was der Klappentext von »Das Beste von Richard Katz«1 zu dessen 80. Geburtstag intonierte, dürfte auch 1968 schon nicht mehr selbstverständlich gewesen sein. Heute, so legt es zumindest eine private Umfrage unter Freunden und Kollegen nahe, sind Katz und seine Bestseller von damals gänzlich vergessen. Erich Maria Remarques Geleitwort klingt da wiederum sehr vollmundig: »Du hast die stagnierende Reiseliteratur revolutioniert, indem Du müde Klischees durch funkelnde Brillanz des gesunden Menschenverstandes zu neuem Leben erweckt hast; Du hast uns dadurch die Exotik der Tropen hautnahe in unsere Zimmer gebracht; Du hast uns Bücher voll weiser und nachdenklicher Menschlichkeit geschenkt […].«2 Und tatsächlich: Richard Katz hat in Zeiten der Weimarer Republik mit den Berichten von seinen unablässigen Weltreisen Bestseller veröffentlicht. Im Stil an das klassische Feuilleton erinnernd, nimmt er darin zwar den für seine Zeit typisch eurozentristischen Blickwinkel ein. Die Einordnung des Exotischen in den Alltagshorizont der Daheimgebliebenen war vermutlich Voraussetzung für seinen Erfolg. Trotzdem sind seine Werke von kosmopolitischer Toleranz, grundständiger Humanität und verständnisvoller Liberalität geprägt. Ähnlich trifft dies auf Richard A. Bermann zu, der unter dem Pseudonym Arnold Höllriegel ebenfalls Reiseberichte aus aller Welt schrieb, dazu Romane, 1 2
Das Beste von Richard Katz. Eine Auswahl aus seinen Werken. Mit einem Geleitwort von Erich Maria Remarque, Zürich/Stuttgart/Wien 1968. Ebd. [S. 7].
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die direkt oder indirekt auf seinen Reiserfahrungen fußten. »Das Urwaldschiff«3 oder »Die Derwischtrommel«4 zum Beispiel feierten sowohl in Deutschland, als auch international große Erfolge, so dass sie, ebenso wie seine Filmromane, nach 1945 neu aufgelegt wurden.5 Höllriegel blieb zwar durch die cineastische Aufmerksamkeit auf seine Bücher über Hollywood6 und Charlie Chaplin7 etwas bekannter, aber als Reiseschriftsteller ist auch dieser Starautor der Wiener und Berliner Presse heute so gut wie vergessen. Immerhin wurde ihm 1995 eine Ausstellung im Deutschen Exilarchiv gewidmet; seitdem erschienen immer mal wieder Sammlungen seiner Feuilletons und Reportagen.8 Durch Michael Ondaatjes literarischen Welterfolg »The English Patient«9 und die darauf basierende Verfilmung Anthony Minghellas aus dem Jahr 1996 über die Wüstenexpedition 1933 rückte auch deren Teilnehmer Richard A. Bermann wieder näher in den Fokus der Öffentlichkeit: Im Jahr 2003 erlebten seine Memoiren zur Entdeckungsreise der Oase Zarzura eine Neuauflage.10
3 Richard A. Bermann: Das Urwaldschiff. Ein Buch vom Amazonenstrom, Berlin 1927. 4 Arnold Höllriegel: Die Derwischtrommel. Das Leben des erwarteten Mahdi, Berlin 1932. Eine Neuauflage ist 2018 in Berlin erschienen. 5 Arnold Höllriegel: Die Filme der Prinzessin Fantoche (1913), Berlin 2003; Ders.: Bimini (1923), Siegen 2008. 6 Arnold Höllriegel: Hollywood Bilderbuch, Leipzig/Wien 1927. 7 Arnold Höllriegel: Charlie Chaplin – Lichter der Großstadt, Leipzig/Wien 1931. 8 Zu der Ausstellung des Deutschen Exilarchivs vgl. Richard A. Bermann alias Arnold Höllriegel. Österreicher – Demokrat – Weltbürger. Eine Ausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933–1945, München/New Providence/London/Paris 1995. Weitere Veröffentlichungen seitdem sind z. B. Arnold Höllriegel: In 80 Zeilen durch die Welt. Vom Neopathetischen Cabaret bis nach Hollywood, Berlin 1998; Richard A. Bermann: Hollywood – Wien und zurück. Feuilletons und Reportagen, Wien 1999. Darunter auch eine Sammlung seiner bisher unveröffentlichten Beiträge über die USA: Arnold Höllriegel: Amerika-Bilderbuch, Göttingen 2012. 9 New York 1992; dt. Der englische Patient, München 1993. 10 Richard A. Bermann: Zarzura. Die Oase der kleinen Vögel. Die Geschichte einer Expedition in die libysche Wüste. Mit dem Originaltagebuch »Saharafahrt« des Autors, München 2003.
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II. »Expeditionsfilme und Reisebücher erfreuen sich heute einer großen Beliebtheit«, schrieb Siegfried Kracauer 1932 in der »Frankfurter Zeitung« und nannte dafür zwei Gründe: Dies sei zum einen die fortschreitende Technisierung und neue Verbindungsmöglichkeiten durch Flugzeug und Radio. Zum anderen zeuge diese Popularität von dem Bedürfnis nach Realitätsflucht, von dem Versuch, die »eigene Wirklichkeit durch die Ferne zu überblenden«.11 Schon 1925 hatte sich Kracauer an gleicher Stelle über die zeitgenössische Lust am Reisen Gedanken gemacht und die Entwicklung des Verkehrs bzw. die Auswirkungen der Nachkriegszeit als zu kurzschlüssige Erklärungen abgelehnt. Für ihn gewann die Reisesucht eine »theologische Bedeutung«. Er deutete sie als Kompensationsfigur für die durch Mechanisierung und Rationalisierung des Lebens verlorene Möglichkeit, die »Doppelexistenz« zwischen Diesseitsbefangenheit und Jenseitsbedürftigkeit synchron zu leben, dadurch, dass man »räumlich und zeitlich ausschweift«. Kracauers weitere Charakterisierung der Situation, etwa, dass der Endzweck der modernen Reise nicht ein Ziel, »sondern ein neuer Ort schlechthin« sei, mithin eine »Vergleichgültigung des Reiseziels« entstehe und durch »Auto, Film und Aeroplan« Exotisches relativiert werde,12 indiziert nicht nur die Herkunft seiner Kategorien von Georg Simmel, sondern einen Blick auf das Reisen und die Reiseliteratur sub specie urbanitatis.13 Diese Perspektive aus der Metropole macht Kracauers Beitrag zur avanciertesten Deutung des Phänomens, von der aus der historisch distanziertere Blick eine komplexere Gemengelage der Interessen, Bewusstseinsformen und Wahrnehmungshorizonte unterscheiden muss. So zutreffend Kracauers Dia gnose der Faszination an der Technisierung des Reisens ist, so wenig kann man sich allerdings dabei beruhigen, in der Überblendung der eigenen Wirklichkeit mit Ferne nur Flucht sehen zu wollen. Gerade in der Weimarer Republik sind Reisen – die in die vor kurzem noch kriegsgegnerischen Nachbarländer, wie Kracauers eigene Reiseberichte aus Frankreich u. a. erweisen, die in die USA 11 Siegfried Kracauer: Reisen, nüchtern, in: Frankfurter Zeitung (10. Juli 1932), zitiert nach: ders.: Werke, Bd. 5.4.: Essays, Feuilletons, Rezensionen 1932–1965, Berlin 2011, S. 155–157, hier S. 155 f. 12 Ders.: Die Reise und der Tanz, in: Frankfurter Zeitung (15. März 1925), zitiert nach: ders.: Werke, Bd. 5.2.: Essays, Feuilletons, Rezensionen 1924–1927, Berlin 2011, S. 214–223, hier S. 220, S. 218 und S. 215. 13 Vgl. dazu auch Anke Gleber: Die Erfahrungen der Moderne in der Stadt. Reiseliteratur der Weimarer Republik, in: Peter J. Brenner (Hrsg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt a. M. 1989, S. 463–489.
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und in die Sowjetunion ohnehin – immer auch implizit oder explizit Folien, auf denen sich die heimischen Verhältnisse konturieren und messen lassen müssen. Besonders prägnant lässt sich das beispielsweise an den zahlreichen Korres pondenten- und Reisendenberichten aus den Ländern Europas, der Sowjetunion und den USA in der »Weltbühne« belegen, die derart, wie Anna Antonello schreibt, zur »Bühne der Welt« wurde.14 Dass sie durch eine großstädtisch-technisierte Wahrnehmungswelt geprägt sind, erweisen schon die Selbststilisierungen á la mode im Titel von Reisebüchern. So kokettierte der »rasende Reporter« Egon Erwin Kisch in seinem Titel »Hetzjagd durch die Zeit« (1926) mit dem gefühlt steigenden Tempo der Zeit. Bisweilen lag der Fokus auf Verkehrsmitteln, wie etwa bei Arnold Noldens »Auf Schiffen, Schienen, Pneus …« (1930) oder Gerhard Venzmers »Autoreise durch Frankreich« (1932). Erich Grisar, meist mit der Bahn unterwegs, verwies im Titel auf seine modernen Mediengeräte: »Mit Kamera und Schreibmaschine durch Europa« (1932). Und wenn nicht im Titel, so führten die Autoren oft im Vorwort oder Abspann die Marken ihrer Fahrzeuge oder Kameras auf. Am prägnantesten tat dies wohl Armin T. Wegner, der in einer Nachbemerkung zu »Am Kreuzweg der Welten« (1930) auflistete: »Die Reise vom Kaspischen Meer zum Nil wurde im Auftrage des Volksverbandes der Bücherfreunde im Winter und Frühjahr 1928/29 ausgeführt. In Persien bediente sich der Verfasser eines Flugzeuges der deutschen Junkerswerke. Den Rest des Weges durch Palästina und die Wüste Sinai hat er auf einem von den deutschen Ardiewerken in Nürnberg hergestellten und von ihm selbst gesteuerten Motorrade mit Beiwagen zurückgelegt; Tiberiassee, Jordan und Totes Meer wurden in einem Wanderzweier der Klepperfaltbootwerke in Rosenheim in Bayern durchquert. Für die photographischen Aufnahmen verwandte der Verfasser eine Leicakamera der deutschen Firma Leitz in Wetzlar.«15 Dies alles bestätigt überdeutlich den Befund, dass die modernen Verkehrsmittel wie auch die Medien der Dokumentation bis in die Metaphorik zu Gegenständen der Reiseliteratur selbst wurden und das Faszinosum dieser Reiseschilderungen, für Autoren und Leser gleichermaßen, sogar ausmachten. 14 Anna Antonello: »Die Weltbühne« als Bühne der Welt. Politik und Literatur im Spiegel einer deutschen Zeitschrift (1918–1933), Berlin 2017. 15 Armin T. Wegner: Am Kreuzweg der Welten, Berlin 1930, S. 382, Hervorhebung im Original.
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Ernst Jünger spitzte das noch einmal zu: »Es gibt keine Region mehr, die nicht durch Straßen und Schienen, durch Kabel und Funkwege, durch Flugund Schiffahrtslinien in Fesseln geschlagen ist. Es fällt immer schwerer, zu entscheiden, in welchem Lande, ja, in welchem Erdteil die Bilder entstanden sind, die die photographische Linse festgehalten hat.«16 Und er verwies ebenfalls darauf, dass die Berichte zunehmend obligatorisch von Fotoreproduktionen begleitet wurden. Es wäre dennoch einseitig, darin allein das Charakteristische der Reiseliteratur in der Weimarer Republik sehen zu wollen. Walter Benjamin, der zunächst den Befund teilte, dass die Technisierung der Welt auch die Reiseliteratur auf eine ungute Weise affiziert habe, sah gleichwohl die Möglichkeit, den allfälligen Routinen zu entgehen: »Es ist eine sonderbare Marotte, daß die Reiseschriftsteller sich auf das Schema der ›Erfüllung‹ festgelegt haben, jedem Lande den Dunst, den die Ferne darum gewoben hat, jedem Stande die Gunst, die die Phantasie des Müßiggängers ihm leiht, erhalten zu wollen. Die Einebnung des Erdballs durch Industrie und Technik hat so große Fortschritte gemacht, daß von rechtswegen die Desillusionierung den schwarzen Hintergrund der Schilderung machen müßte, von dem dann das wirklich sonderbare Inkommensurable der nächsten Nähe – der Menschen im Verkehr mit ihresgleichen, mit dem Lande – um so schärfer sich abheben könnte. Man muß zugeben, daß in Deutschland die Reportagen, insofern man sie als eine Art umgewandter Reisebeschreibung ansieht, das gleiche zum Ausdruck bringen. Es ist nichts als eine Sache von Zeit und Studium, so die nächste Nähe auch des Entfernteren gegenständlich zu machen. Dazu hat dann freilich die Disziplin zu treten, welche es dem Autor verbietet, Effekte aus der ersten Begegnung zu schlagen, der, wenn sie nicht als Impression verwertet, sondern als Samenkorn dem Schoß des Gewohnten eingesenkt wird, später der wunderbare Baum entwachsen kann, dessen Früchte das Aroma der ›nächsten Nähe‹ haben.«17 Zweifellos ist das ein Plädoyer für die spezifische Form seiner eigenen »Denkbilder«, wie er sie etwa über Moskau schrieb. Zugleich aber lenkte er den Blick darauf, dass die Technisierung des Reisens in einer zunehmend als technisiert erfahrenen Welt nicht nur die Faszination an dieser Entwicklung an 16 Ernst Jünger: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932), Stuttgart 1981, S. 222 f. 17 Walter Benjamin: Spanien 1932, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6: Fragmente gemischten Inhalts und autobiographische Schriften, Frankfurt a. M. 1985, S. 453 f.
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sich, sondern auch ein weites Spektrum unterschiedlicher Interessen, Ziele und Formen hervorbrachte. Zunächst einmal erweiterte sich schon die soziale Zusammensetzung der Autorenschaft. Neben die zumeist konventionell am Bildungserlebnis orientierten Schriften aus dem akademischen Milieu traten nun Reiseberichte von Arbeitern, Gewerkschaftern oder Ingenieuren, die unter dem Gesichtspunkt beruflicher, organisatorischer oder wirtschaftlicher Spezifika verfasst wurden. Mit der steigenden Zahl alleinreisender Frauen rückten vermeintlich geschlechtsspezifische Wahrnehmungsmuster in die Aufmerksamkeit. Zu Amateur-, Bildungs- oder Informationsreisenden gesellte sich eine neue Variante der klassischen Abenteuerreisenden, nämlich die des Rekordreisenden, deren Veröffentlichungen durch die Besonderheiten des Reisetempos, der Verkehrsmittel oder absolvierten Gefahrengrade bestimmt waren. Während der klassische Bericht von Forschungsreisen zugunsten von Expeditions- und Naturfilmen eher abzunehmen schien, machte sich im Bereich der Professionsreisen eine zunehmende Spezialisierung bemerkbar: So gab es nun zwischen Reisejournalisten, Auslandskorrespondenten und reisenden Dichtern, vor allem aus der Expressionisten-Generation, auch Dichter, Schriftsteller oder Kritiker, die gelegentlich auch einmal ein Reisebuch schrieben. Reisefeuilletons gerieten so sehr in Mode, dass wiederum im Feuilleton darüber gespottet oder sich ernsthaft gesorgt wurde. So machte sich Kurt Tucholsky schon 1922 qua karikierte Mondänitätsfloskeln über den »Talmikram dieser modernen Reisejungens« lustig.18 1925 schrieb Arnold Hahn entschieden ungehaltener: »Wer rettet unseren ehrwürdigen alten Planeten vor der gänzlichen Ver feuilletonisierung? Wenn das Tempo und die Intensität der buchförmigen und zeitungsspaltenförmigen Reiseschilderungen so weitergeht, werden bald alle Länder und Landschaften dieser Erde in Fetzen zerschildert sein. Das Reisen, früher ein Abenteuer, hat heute seinen Seltenheitswert durchaus eingebüßt. Gewiß in vieler Hinsicht ein Fortschritt. Aber mit einem bittern Beigeschmack. Denn das mit allem Komfort organisierte Abenteuer beginnt ganz und gar Sache des Spießers zu werden.«19
18 Kurt Tucholsky: Rezept des Feuilletonisten (1922). Zitiert nach Hildegard Kernmayer/ Erhard Schütz (Hrsg.): Die Eleganz des Feuilletons. Literarische Kleinode, Berlin 2017, S. 58. 19 Arnold Hahn: Reise-Feuilletons (1925). Zitiert nach Kernmayer/Schütz, Eleganz (wie Anm. 18), S. 63.
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Einhergehend mit der unübersehbar scheinenden Vielfalt der Reiseziele änderten sich die Formen des Schreibens. Zwar gab es weiterhin den Reise- als Lebensbericht,20 die klassische Bildungsreise,21 das Reisetagebuch,22 traditionelle Forschungsberichte oder Romaneskes.23 Aber es wurde nicht nur die Ausstattung mit Fotografien geradezu obligatorisch, sondern die Reportage als Form der Sozialdokumentaristik oder sensationalistische Unterhaltung avancierte zum Kernbereich der Reiseliteratur. Das gilt im einen Extrem für die Anlehnung an den Reportageroman und seine Anonymisierung bzw. Objektivierung des Helden – besonders prägnant wird das bei Alfons Paquet, dessen »Städte, Landschaften und ewige Bewegung« (1927) im Untertitel als ein »Ein Roman ohne Helden« bezeichnet wird und der vorab erklärt, dies sei »kein Buch zufälliger Beschreibung. Problem und Entwicklung sind da, aber statt der Menschen treten Städte hervor als Träger der Schicksale, und es weht hier die Luft einer Generation, eines bewußten Zeitraumes. […] Der einzelne Mensch ist nirgends mehr Mittelpunkt. Er ist überall auf den fließenden Bändern der Bewegung, und als Schauplatz aller Abenteuer genügt ein Herz.«24 Auf der anderen Seite standen Autoren, die als Ich-Erzähler ihre Subjektivität ins Zentrum stellten. Doch selbst letztere boten allermeist zeitgenössische »Orientierungsfahrten«.25
III. Zu all den sozial-, wirtschafts- und geopolitisch motivierten Reisebüchern scheinen die auf das Exotische fokussierten Weltreiseberichte in diametralem Gegensatz zu stehen. Sie könnte man am ehesten unter Kracauer’schen Eskapismusverdacht stellen. Doch für Arnold Höllriegel und Richard Katz galt das nicht. Man kann ihre Werke vielmehr als implizite Antworten auf die handfesten,
20 Rudolf Stratz: Reisen und Reifen. Der Lebenserinnerungen zweiter Teil, Berlin 1926. 21 Bruder Willram [d. i. Prof. Anton Müller]: Heliotrop. Skizzen und Bilder aus Italien, 4. Aufl. Innsbruck 1922. 22 Hanns Johst: Consuela. Aus dem Tagebuch einer Spitzbergenfahrt, München 1925. 23 Wilhelm Schmidtbonn: Mein Freund Dei. Geschichte einer unterbrochenen Weltreise, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1928. 24 Alfons Paquet: Städte, Landschaften und ewige Bewegung. Ein Roman ohne Helden, Hamburg 1927, S. 8. 25 So der Titel einer jüngsten, sehr guten Revision der Reiseliteratur über die USA und die Sowjetunion von Simon Huber: Orientierungsfahrten. Sowjetunion- und USA-Berichte der Weimarer Republik, Bielefeld 2014.
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politischen Orientierungsunternehmungen der Europa-, USA- und Sowjetunion-Reisen lesen. So suchten Höllriegel und Katz nicht wie ihre Zeitgenossen A. E. Johann, Colin Ross oder Sven Hedin nach geopolitischen Ressourcen oder tektonischen Verschiebungen der Weltlage – seien diese nun angst- oder hoffnungsvoll. Vielmehr begegneten sie den vom Kolonialismus gezeichneten Teilen der Welt mit Neugier und Vertrauen auf die Möglichkeit einer Vielfalt koexistierender Lebensweisen – eine Haltung, die von grundlegender Menschlichkeit zeugt. Das ist durchaus kein sentimentaler Humanitätsromantizismus und schloss das Bewusstsein um die Situationen endemischer Gewalt und selbsterzeugten Elends sowie die Folgen und Wirkungen von Kolonialismus, der Expansion technisierter Zivilisation und des Tourismus, an dem sie ja selbst teilhatten, nicht aus. Arnold Höllriegel, inzwischen aus politischen Gründen vom »Berliner Tageblatt« entlassen – seine Bücher wurden allesamt auf den Index des auszusondernden Schrifttums gesetzt – bekam das, zwar anonym, aber immerhin durchaus deutlich am 27. April 1933, zu seinem 50. Geburtstag, von einem ehemaligen Arbeitgeber attestiert: er sei »Betrachter und Begutachter der problematischen Dinge und Menschen dieser Welt, für die er alle ein brüderliches Herz im Busen trägt.«26 Richard Katz setzte im Vorwort zu »Ein Bummel um die Welt« eine Szene in Neuseeland, bei den »Antipoden«, voran, in der ihm ein »Kollege« erklärt, ein Buch müsse einen »Gesichtspunkt« haben, um sich dann gewissermaßen als Antipoden zu dieser Position zu inszenieren: »Ich hatte allerhand Vorurteile, welche die Reise korrigiert hat. Aber, beim besten Willen: ich habe keinen Gesichtspunkt, keinen wissenschaftlichen und keinen moralischen. Mein Urteil über fremde Völker hat sich gewandelt. Ein Mensch ohne Gesichtspunkt ist so wandelbar!«27 Gerade Höllriegel und Katz lassen immer wieder erkennen, dass es eben nicht nur die technikfaszinierten Reisen gibt, sondern auch solche, die explizit nach technikfreien und -fernen Räumen suchen und auf anderen Erfahrungsmöglichkeiten insistieren, ohne wiederum die Technisierung der Welt wie des Reisens zu ignorieren. Ihnen geht es darum, einen Gegenpol zu finden – und der heißt: Entschleunigung. Exemplarisch findet man das bei Richard Katz. Der Titel seines ersten, höchst erfolgreichen Reisebuchs von 1927 codiert es gleich mehrfach: »Ein Bummel 26 Anon.: Arnold Höllriegel, in: Berliner Tageblatt (27. April 1933), S. 3 f. 27 Richard Katz: Ein Bummel um die Welt. Zwei Jahre Weltreise auf Kamel und Schiene, Schiff und Auto, Berlin 1927, S. 9.
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um die Welt«. Nicht nur spielt das auf Mark Twain an, sondern suggeriert zugleich auch den metropolitanen Flaneursgestus und erklärt sich damit explizit gegen die mit der Technisierung verbundene Beschleunigung wie ihre Fetischisierung in der zeitgenössischen Reiseliteratur, also zum Beispiel gegen den »rasenden Reporter« und gegen Egon Erwin Kischs »Hetzjagd durch die Zeit«. Im Buch selbst steht unter der Überschrift »Knapper Rat für weite Reise« als Erstes: »Nur langsame Reisen lohnen. Die Reisezeit verhält sich zum Reiseziel wie der Genuß zur Enttäuschung.« Und weiter hinten: »Gründlich sehen ist besser als viel sehen.«28 In dem Band »Ernte« beschwört er 1932 noch einmal: »Einziges Mittel, Anschluß an die Fremde zu gewinnen, ist: langsam reisen, ganz langsam, noch langsamer! Sich optisch und geistig akklimatisieren!«29 Höllriegel bekommt diese Entschleunigung in einem Geburtstagsartikel attestiert: »Er ist kein rasender, sondern ein rastender, ein verweilender Reporter. […] Er weiß, wie rasend schnell sich die Welt und die Zeit dreht, aber er weiß auch, daß, wer langsam durch beide hindurchfährt, auch zu ihrem und seinem Ziel kommt.«30
IV. Biographie und Werk von Höllriegel und Katz weisen vielerlei Parallelen auf. Arnold Höllriegel wurde 1883 in Wien als Richard Arnold Bermann geboren. Er war, wie der fünf Jahre jüngere, in Prag geborene Richard Katz, jüdischer Herkunft. Bermann studierte in Wien Romanistik, Katz Jura in Prag. Beide arbeiteten noch vor dem Ersten Weltkrieg für die Berliner Presse, Bermann zunächst beim nationalistischen Scherl-Konzern. Zudem schrieb er unter dem Pseudonym Höllriegel für Mosses liberales »Berliner Tageblatt«, dessen fester Mitarbeiter er später wurde. Während des Ersten Weltkriegs nach Wien zurückgekehrt und im Kriegspressequartier arbeitend, war er ab 1923 vorwiegend als Reiseschriftsteller unterwegs. Katz schrieb vor dem Krieg für das »Prager Tagblatt« und leitete gleichzeitig das Prager Büro der zu Ullstein gehörenden »Vossischen Zeitung«. Nach dem Krieg leitete er das »Leipziger Tagblatt« und die Leipziger Verlagsdruckerei, bis er 1925 auf Weltreise ging. Nach der Rückkehr 1927 war er Prokurist für Ullstein, gründete 1927 die legendär erfolgreiche Illustrierte »Grüne Post« und war weiterhin für Ullstein als Reiseschriftsteller 28 Ebd., S. 81 f. 29 Richard Katz: Ernte. Des Bummels um die Welt zweite Folge, Berlin 1932, S. 272. 30 Anon., Höllriegel (wie Anm. 26).
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unterwegs. 1933 emigrierte er in die Schweiz. Als er dort als Deutscher keine Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung bekommen hatte, wanderte er nach Brasilien aus, wo er schließlich auch die Staatsbürgerschaft annahm. 1956 kehrte er in die Schweiz, in sein Haus im Tessin zurück, wo er 1968 starb. Höllriegel ging 1933 zunächst nach Wien zurück, flüchtete 1938 in die Tschechoslowakei und von dort im August mithilfe der American Guild for German Cultural Freedom, für die er seit 1933 gearbeitet hatte, in die USA, wo er 1939 in Saratoga Springs einem Herzinfarkt erlag. Beider Texte sind durchweg kosmopolitisch-pazifistisch und antikolonialistisch geprägt, wobei Bermann-Höllriegel unter anderem durch seine Begeisterung für Rundfunk und Film technikaffiner, Katz technikskeptischer und zivilisationskritischer eingestellt war. Bermanns erste Reise hatte ihn 1923 nach Palästina geführt, worüber er zusammen mit Arthur Rundt ein Buch veröffentlichte.31 Nach Reisen durch Österreich, durch das Reich und an die Riviera unternahm er 1924 eine Amazonas-Reise, die wegen eines Militärputsches in Brasilien abgebrochen werden musste. Als Ersatz zum geplanten Reisebuch für den Volksverband der Bücherfreunde veröffentlichte er 1927, gespeist aus seinen wenigen Erfahrungen mit dem Urwald, einen erfolgreichen Roman, »Das Urwaldschiff«. Währenddessen war er 1925 über Kanada nach Polynesien und Neuseeland gereist,32 1926 nach Kalifornien, Trinidad und zu den »westindischen Negerinseln«.33 Er blieb ein knappes halbes Jahr in Hollywood, von wo aus er Reise-, aber auch Filmfeuilletons an den »Tag« in Wien, das »Berliner Tageblatt« und das »Prager Tagblatt« schickte und außerdem das »Hollywood Bilderbuch« verfasste.34 Ein weiteres Buch über Chaplins »Lichter der Großstadt« erschien 1931.35 Ein drittes Bilderbuch ist aus unerfindlichen Gründen, obwohl bereits fertig zusammengestellt, damals nicht mehr, sondern erst viel später postum erschienen.36 Von 1929 bis 1931 reiste Höllriegel nach England, dann nach Ägypten, Senegal, Kamerun, Sierra Leone, Kapverden und Marokko, anschließend nach Kanada und 1932 nach Brasilien. Zwischendrin hatte er noch eine Serie Lokalfeuilletons für das »Berliner Tageblatt« ge31 Artur Rundt/Richard A. Bermann: Palästina. Ein Reisebuch, Leipzig/Wien/Zürich 1923. 32 Das Buch dazu: Arnold Höllriegel: Tausend und eine Insel. Ein Reisebuch aus Polynesien und Neuseeland, Berlin 1927. 33 Arnold Höllriegel: Goetz, in: Der Tag (1. August 1926), zitiert nach Bermann alias Höllriegel (wie Anm. 8), S. 198. 34 Höllriegel, Hollywood Bilderbuch (wie Anm. 6). 35 Arnold Höllriegel: Lichter der Großstadt. Der Film vom Strolch Charlie, dem Millionär und dem blinden Mädchen, Berlin/Wien 1931. 36 Höllriegel, Amerika-Bilderbuch (wie Anm. 8).
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schrieben. 1931 erschien, basierend auf Studien und eigenen Reiseerfahrungen, sein Roman »Die Derwischtrommel. Das Leben des erwarteten Mahdi«. Eine englische Ausgabe kam, mit einem Vorwort von Winston Churchill, parallel heraus.37 Über seine Reisen bis 1932 hatte er zwar regelmäßig Berichte im »Berliner Tageblatt« veröffentlicht, aber kein Buch mehr geschrieben. Anfang 1933 stieß er dann zur Almásy-Penderel-Clayton-Expedition in die libysche Wüste, u. a. auf der Suche nach der legendären Oase Zarzura, an deren Entdeckung er tatsächlich einen wesentlichen Anteil hatte. Richard Katz begann seine Reiseroute 1925 in Spanien, von wo aus er nach Ägypten und in den Sudan reiste, dann nach Indien und Java, Australien, Polynesien, Neuseeland, Japan, die USA und Kuba. Darüber hatte er in den Blättern des Ullstein-Konzerns berichtet. Die Zusammenstellung im Jahr 1927 zum Buch »Ein Bummel um die Welt«38 erzielte bis 1933 eine Auflage von über 100.000 Exemplaren. Nach dem Südseebuch »Heitere Tage mit braunen Menschen«39 folgte 1929 eines über den fernen Osten, 40 1930 eines über Südamerika41 und 1932 eine Nachlese zum ersten Buch: »Ernte. Des Bummels um die Welt zweite Folge«42 sowie gleichzeitig eine fünfbändige Sammelausgabe unter dem Titel »Die weite, weite Welt«. 43Anders als Höllriegel veröffentlichte Katz nach 1933 und bis zuletzt zahlreiche Reise-, aber auch Tierbücher und Anderes. 44 Hervorzuheben ist hier der Essay-Band von 1934, »Drei Gesichter Luzifers«, eine zivilisationskritische Philippika gegen »Lärm, Maschine, Geschäft«, 45 die unter dem Eindruck der politischen Entwicklung das steigert und bündelt, was sich zuvor in seinen Reiseberichten immer wieder in kleinen Portionen eingestreut fand.
37 Richard A. Bermann: The Mahdi of Allah. The Story of the Derwish Mohammed Ahmed. With an Introduction by The Rt. Hon. Winston Churchill, London 1931. 38 Richard Katz: Ein Bummel um die Welt. Zwei Jahre Weltreise auf Kamel und Schiene, Schiff und Auto, 2., erweiterte Aufl. Berlin 1931. 39 Ders.: Heitere Tage mit braunen Menschen. Ein Südseebuch, Berlin 1928. 40 Ders.: Funkelnder Ferner Osten. Erlebtes China-Korea-Japan, Berlin 1929. 41 Ders. Schnaps, Kokain und Lamas. Kreuz und quer durch wirres Südamerika, Berlin 1930. 42 Katz, Ernte (wie Anm. 29). 43 Richard Katz: Die weite, weite Welt, 5. Bde., Berlin 1932. 44 Eine Liste aller Veröffentlichungen bis 1960 findet sich in: 50 Jahre Eugen Rentsch Verlag 1910–1960, Erlenbach (Zürich)/Stuttgart 1960, S. 95. 45 Richard Katz: Drei Gesichter Luzifers. Lärm, Maschine, Geschäft, Erlenbach (Zürich)/ Leipzig 1934.
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V. Wiewohl ihre Reiseziele sich weithin deckten, auch darin, wohin sie nicht gereist sind, nämlich in die Sowjetunion, 46 überschnitten sich ihre Reisen zeitlich kaum – bis auf den Aufenthalt in Neuseeland. Hier dürften sich der demonstrativ sportive Richard Katz und der kurzsichtige, mit einem ersichtlichen Embonpoint versehene Arnold Höllriegel, der auf einigen Fotos eher wie Peter Lorres Mr. Moto wirkt, als Vertreter der beiden konkurrierenden liberalen Zeitungskonzerne Berlins begegnet sein. Möglicherweise ist gar Höllriegel jener »Kollege«, der Katz den oben zitierten Rat der unbedingten Gesichtspunktsuche gab – wiewohl eine solche Position nur sehr bedingt zu Höllriegel passt. Denn zwar ist seinen Texten anzumerken, dass er sich stärker zuvor sachkundig machte und mit Reiseführern präparierte, während Katz demonstrativ die unvorbereitete Erfahrung betonte. Dennoch war auch Höllriegel jegliche Voreingenommenheit und Festlegung nicht minder zuwider als seinem Kollegen. So ähneln sich ihre einschlägigen Selbsterklärungen – jenseits der jeweiligen Kontexte und stilistischen Differenzen – doch weithin sehr. Das Werk beider ist von selbstreflexiven, selbsterklärenden Überlegungen durchzogen – bei Höllriegel vornehmlich in Feuilletonbeiträgen, bei Katz immer wieder eingestreut in seine Bücher. Gemein ist ihnen dabei die Abgrenzung von Karl-May-Exotik, vom Baedeker- und vor allem vom amerikanischem Tourismus. Katz erklärte den »Reiseschriftsteller als Kunsthandwerker zwischen Dichter und Baedeker«, dessen Ziel es sei, »die künstlerische Form des einen mit der Nützlichkeit des andern zu füllen.«47 Gleichzeitig ironisierte er sein Metier: »Die Sonne scheint, die See ist blau, der Mensch ist gut – das ist nirgendwo tabu und deshalb das tägliche Brot so vieler Reiseberichte.«48 Höllriegel: »Glauben Sie mir, die Wirklichkeit, in der man am Ende einer Reise glücklich ankommt, ist niemals romantisch oder exotisch; sie ist so – wirklich.« Und wenn er in Westindien oder Fidschi sei, erfahre er sich als das »bedauernswerte Opfer meiner nun einmal exotisch verseuchten Phantasie«. 49 Katz: »Offenbar lächelt das Ausland mit demselben wohlwollenden Mitleid
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Für Katz ist sie eine der zentralen »Provinzen Luzifers«. Vgl. ebd., S. 62 ff. Katz, Ernte (wie Anm. 29), S. 275. Ebd., S. 274. Höllriegel, Goetz (wie Anm. 33), S. 5, zitiert nach Bermann alias Höllriegel (wie Anm. 8), S. 198.
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über uns, das wir daheim an ausländische Touristen wenden. […] So geht es dem Autor in der Fremde. Nicht heldisch Karl-May-isch.«50 Beide setzen sich gegen den kommerziellen Reisebetrieb ab, wobei Höllriegel sich durchaus als Teil des allgemeinen Tourismus wahrnahm und sich etwa bespöttelte: »Seßhafter Stubenhocker! beschimpfe ich mich. Feiger Philister! Stumpfer Spießer, der nicht zu reisen versteht. Hier kehrst du um? Heute abend? An der Schwelle des wirklichen Afrika, nach einem einzigen kurzen Blick? In einem Salonwagenzug? Zu Hotels? – Große, goldene Abenteuer, von denen ich so oft kindisch träumte, sehe ich mit dieser Sonne für immer versinken!«51 Zugleich inszenierte er sich als kritisch distanzierter Beobachter, etwa als Passagier eines Transatlantikdampfers: »Es erscheinen so viele Reisebücher, aber das hat noch niemand geschrieben, die besondere Psychologie des Promenadendecks und des Rauchsalons, die seelische Krankheit von Menschen, die den ganzen Tag beieinander sein müssen«.52 Katz hingegen, der auf seinen Routen durchaus am allgemeinen Reisegeschehen, zumal per Schiff, teilnahm, setzte sich vor allem von den amerikanischen Touristen ab. So zählte er solche auf, die während der Schiffsfahrt durch die Südsee starben, Amerikaner, die nach dem Berufsleben und weit jenseits der Fünfzig nun endlich auf große Fahrt gingen, darunter ausführlich auch die Geschichte eines abgearbeiteten Millionärs, dem als Morphinist die Reise zur Genesung empfohlen worden war, der sich dann aber mit mitgebrachtem Chloroform umbringt.53 Besonders sarkastisch wurde er in der seitenlangen Schilderung des US-Tourismus auf Hawaii, der nur im Auto und vom Auto aus stattfinde.54 Der Inbegriff des amerikanischen Tourismus war ihm die KodakKamera: »Einzig der Kodak, diese spezifisch amerikanische Erfindung, die das Subtile auf einfache Schwarz-Weiß-Kontraste reduziert, kann dem Amerikaner ein indisches Bauwerk genügend vereinfachen. Deshalb knacken stets Kodaks, wenn amerikanische Touristen in der Nähe sind.«55 Und: »Mit mehreren hundert verwackelten Kodak-Bildern und einem ebenso verwackelten Kopf kommen sie wieder nach Hause.«56 Nun hatte Katz freilich selbst fotografiert. 50 Katz, Ernte (wie Anm. 29), S. 272. 51 Arnold Höllriegel: Der Anfang von Afrika, in: Berliner Tageblatt (31. März 1929, 1. Beiblatt), zitiert nach Bermann alias Höllriegel (wie Anm. 8), S. 235. 52 Arnold Höllriegel: Aorongi, in: Der Tag (15. November 1924), S. 3 f., zitiert nach Bermann alias Höllriegel (wie Anm. 8), S. 187. 53 Katz, Bummel (wie Anm. 27), S. 55 ff. 54 Ebd., S. 187 ff. 55 Ebd., S. 49. 56 Ebd., S. 55.
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In seinen Büchern wurden die Texte stets auch durch Bildtafeln begleitet. Seine Fotografien waren mehrheitlich Menschenbilder, gelegentlich auch Naturaufnahmen, aber nie Schnappschüsse, sondern gaben den Abgebildeten stets Gelegenheit, sich angemessen zu positionieren und selbst ins Bild zu setzen. Arnold Höllriegel hat nicht fotografiert: »Auf meinen Reisen photographiere ich niemals – weil ich zu ungeschickt bin, um eine Kamera geradehalten zu können.« Das schrieb er aus Anlass der Begleitung seiner Afrika-Reise 1930 durch den Fotografen Hans Casparius, der dann auch im Jahr darauf an der Reise durch Kanada und Alaska teilnahm: »Desto mehr liebe ich es, einen wirklichen Photographen zum Reisekameraden zu haben; seine Anwesenheit zwingt mich zum Sehen, wo ich, mir selbst überlassen, vielleicht nur horchen oder bedenken würde. […] Am Ende kann es zweifelhaft sein, ob der schreibende Beschreiber, der instinktiv mehr aufs Allgemeine achten möchte, oder der Photographierende recht hat, für den nur einzelne Bilder existieren, diese aber in solcher Schärfe und Klarheit.« 57 Diese Bemerkung kann man zugleich im Zusammenhang jener Bekundungen sehen, die beide – mit unterschiedlichen Akzentuierungen – für die Notwendigkeit des unbefangenen Blicks, die Offenheit für Überraschungen und Vielfalt, vor allem für eine Aufmerksamkeit aufs Einzelne abgeben. So sprach Katz von »Mosaik-Steinchen meiner Erlebnisse«58; er nehme, schrieb er, lieber »sachliche Unrichtigkeiten« in Kauf, als »vorschnelle Werturteile« zu fällen.59 Sein Bild für den Vorrang des Details: »Sieht jemand, der im Hundert-Kilometer-Tempo fährt, eine Wiese, ja sieht er auch nur eine einzige Dotterblume der Wiese? Und gar erst die Welt! Wiederum: Wer bei der Wiese haltmacht und bei der Dotterblume, wer langsam reist und viel verweilt, kann der die Welt sehen? Die ganze Welt? Erwarten Sie deshalb nicht, in diesem Buch ein Bild der Welt zu finden. Reisen, mögen sie auch langsam sein und vieljährig, können nur Punkte der Welt schildern, einzelne wenige Punkte der gewaltigen Strecken salziger Wellen und glücklicher Inseln, sandiger Wüsten und wimmelnder Dschungel.«60
57 Arnold Höllriegel: Kamera in Afrika, in: Ton und Bild. Illustrierte Beilage des Berliner Tageblatts (1930), Nr. 18, zitiert nach Bermann alias Höllriegel (wie Anm. 8), S. 249. 58 Katz, Bummel (wie Anm. 27), S. 10. 59 Katz, Ernte (wie Anm. 29), S. 273. 60 Ebd., S. 5.
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Höllriegel hingegen griff zum klassischen Topos Wald/Bäume: »Ich gestehe, ich bin der Mann, der vor lauter Bäumen den Wald nicht gesehen hat. Ich liebe Bäume, ich bete Bäume an. Und ich mag die Reiseschriftsteller nicht, die vor lauter Wald nie einen Baum sehen.«61 Beide betonten die Offenheit fürs Fremde jenseits von Exotismus als Motivation des Reisens. So Höllriegel: »Deswegen aber reise ich: Überall ist Gewöhnlichkeit, Geschäft und Betrieb. Dann findet man zufällig eine Formel, einen Blick, eine Gelegenheit – und siehe da, es ist nicht wahr, die Welt ist ein buntes Märchen […].«62 Katz verstärkte dies zum Plädoyer, kulturelle Pluralität zu zelebrieren: »Es ist wirklich besser, wir lassen Vergleiche zwischen Völkern, die sich nicht vergleichen lassen. Es ist besser, wir freuen uns der japanischen Höflichkeit, mag sie auch uns Fremden gegenüber ›nicht ehrlich‹ gemeint sein. Die Polizei ›kontrolliert‹ mich – schön; hat sie das in Indien nicht getan? Hier macht sie es wenigstens unauffällig. Was heißt überhaupt ›ehrlich‹ und ›Lüge‹? Manche farbigen Völker haben kein Wort dafür und keinen Begriff. Was uns ›Lüge‹ ist, gilt dem Polynesier als verdienstliche Schlauheit, dem Japaner als Höflichkeit. Trotzdem stiehlt kaum ein Polynesier, und auch in Japan ist die Zahl der Eigentumsverbrechen niedriger als in irgendeinem ›weißen‹ Lande.«63 Im Vorwort zu »Ein Bummel um die Welt« kombinierte er das mit der Betonung der Niederschrift des unmittelbaren Eindrucks, der Abhängigkeit, wie er in »Ernte« schrieb, vom Wechsel der »Stimmung«,64 mit der erfahrenen und erlernten Toleranz: »Verachtung der Farbigen – Kinderkrankheit des Globetrotters –, sie mag auch im Buche unter dem Datum vermerkt sein, an dem ich sie noch spürte; Liebe zum Farbigen, Demut vor seiner Weisheit, sie mag auch im Buche dort keimen, wo sie in mir zu keimen begann, bis ich sie heimkehrend als wertvollste Frucht meiner Reise fühlte.«65 Beide verbanden das wiederum mit dosiert eingesetzter, aber expliziter Kritik an Hegemonialisie-
61 Arnold Höllriegel: Abgesang, in: ders., Amerika-Bilderbuch (wie Anm. 8), zitiert nach Bermann alias Höllriegel (wie Anm. 8), S. 223. 62 Arnold Höllriegel: Erlebnis im Basar, in: Der Tag (19. April 1923), S. 3, zitiert nach Bermann alias Höllriegel (wie Anm. 8), S. 156. 63 Katz, Bummel (wie Anm. 27), S. 207 f. 64 Ders., Ernte (wie Anm. 29), S. 6. 65 Ders., Bummel (wie Anm. 27), S. 10, Hervorhebung im Original.
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rung, Ausbeutung und Kommerzialisierung, Umerziehung und Unterdrückung. Höllriegel ironisierte die ihm zugedachte Rolle des stellvertretenden Exotikers, wenn er schrieb: »Ich fühle mich nachgerade als eine öffentliche Institution: der Mann, der dazu angestellt ist, um von romantischen, aber bequemen Seelen beneidet zu werden. Es ist der höchste Komfort – für sie. Und es ist ein wenig grotesk, als Ballon über der Welt zu schweben, den alle Leute mit ihren sehnsüchtigen Seufzern füllen […]«.66 Er sah im Exotismus den illusorischen Wunsch nach Regression, wenn er etwa angesichts von Pitcairn die Verlockung zu einem »vorzeitige[n] Verschmelzen mit einer lieblichen Vegetation« und den Wunsch ironisierte, »den vorwitzig geraubten Apfel wieder ganz still an den Baum der Erkenntnis zu hängen«.67
VI. Höllriegel sah die zunehmende Durchdringung der Welt mit technischer Zivilisation als bedauerlich, aber letztlich auch unausweichlich an, ebenso wie die Kommerzialisierung, Ausbeutung und Zerstörung der Umwelt. Anders als bei Katz ging das bei ihm nicht in allgemeine Kultur- oder Zivilisationskritik über. Katz betrachtete »Kino, Radio, Charleston« als Symbole für ein »[s]chattenhaftes, naturfremdes Leben« des Westens, »künstlich, nicht künstlerisch.«68 Höllriegel hingegen war sowohl von Rundfunk als auch Film begeistert, auch wenn seine Filmromane sich kritisch mit der Illusionsmaschinerie auseinandersetzten. Hollywood hingegen faszinierte ihn außerordentlich. Zugleich aber sah er in der kalifornischen Industrialisierung von Orangen- und Obstanbau das vermeintliche Paradies als monoton, »seelenlos«, »geometrisch bebaut, rationell«.69 Später wird er im Tagebuch seiner Saharafahrt schreiben: »Also, wenn wir unsere höchst geheime Oase betreten, dürfen wir hoffen, dort bereits eine Reklame für Shell-Benzin vorzufinden. Merkwürdig, daß mich diese Nachricht gar nicht ärgert, höchstens amüsiert. Es scheint, der Kolumbus-Trieb war in mir von Anfang an ziemlich gering.«70 Indes konnte er auch zu unmissverständlicher Schärfe greifen, 66 Höllriegel, Goetz (wie Anm. 33), S. 5. Zitiert nach Bermann alias Höllriegel (wie Anm. 8), S. 198. 67 Höllriegel, Tausend (wie Anm. 36), S. 146 f. 68 Katz, Drei Gesichter (wie Anm. 45), S. 285. 69 Arnold Höllriegel: Die Reise nach Kalifornien. Kalendernotizen des Weltbummlers, in: Der Tag (21.11.1926), S. 5, zitiert nach Bermann alias Höllriegel (wie Anm. 8), S. 199. 70 Arnold Höllriegel: Tagebuch von der Saharafahrt. Typoskript 1933 im Nachlass, S. 2 f., zitiert nach Bermann alias Höllriegel (wie Anm. 8), S. 278.
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so wenn er darlegte, wie im Amazonasgebiet die ohnehin schon von den großen Gummibaronen ausgebeuteten Gummizapfer angesichts der internationalen Trends zu einschlägigen Plantagen arbeitslos wurden, dafür nun aber der Urwald abgeholzt werde. »Die Axt in der Hand des halbnackten Caboclo scheint eine lächerlich schwache Waffe gegen diese Überfülle des Pflanzenwachstums. Dennoch glaube ich, daß sie siegen wird, daß unser zivilisierter Betrieb schließlich auch noch diese Wälder kleinkriegen wird, zerhacken, verheizen, zu all dem Papier vermanschen, das wir so nötig haben.« Sein Nachsatz dazu klang nicht sehr optimistisch: »Noch aber ist der Wald am Amazonas stärker als der Mensch.«71 Eine ebenso dezidierte Meinung hatte Höllriegel zum Kolonialismus. So findet sich in jener Passage, in der er die Zusammenarbeit von Autor und Fotograf reflektiert, eine das schlagende Detail bezeichnende Episode: »In Viktoria (Kamerun) habe ich meinen Reisegefährten schlechterdings von einem Landungssteg nicht fortkriegen können, von dem aus irgendein Engländer kleine Münzen einer Menge von Negerjungen zuwarf. So merkwürdig das Schauspiel war, das die grinsenden und gierigen Gesichter der Schwarzen boten, bekenne ich jetzt und hier, nach einer Weile etwas ungeduldig geworden zu sein. Mit Unrecht. Wieviel Bände über Kolonialpolitik müßte man schreiben, um das klarzumachen, was da durch ein bißchen Knipsen an einer Kamera verdeutlicht worden ist? Daß sich das Antlitz einer ganzen Rasse verzerren läßt, wenn das großmächtige Europa seine Kupfermünzen, seine Pennys ausstreut?«72 Lakonisch spottete er über ein französisches Lesebuch für Volksschulen in den Kolonien: In dem »steht alles drin, was so ein Negerjunge im französischen Kolonialreich erfahren soll, und es steht alles nicht drin, was er nicht erfahren soll.«73 Auch Richard Katz nahm sich in der Südsee den französischen Kolonialismus vor: »Die Kinder lernen die Marseillaise, andauernd gibt es französische Siegesfeste zu feiern, und emsig achtet die Hafenbehörde darauf, daß auch auf dem kleinsten Kutter die Trikolore am Mast flattert.« Ansonsten aber, so Katz, lasse man die »Braunen verludern«, die Produktivität sinke drastisch, die Chinesen verdrängten »Braune« wie »Weiße« aus den Geschäften: »So sieht es aus, wenn ein weißes Volk ein farbiges ›zu sich erheben‹ will.«74
71 Arnold Höllriegel: Zwischen den Urwald-Inseln, in: Berliner Tageblatt (30. Juli 1932), S. 1, Beiblatt, zitiert nach Bermann alias Höllriegel (wie Anm. 8), S. 262. 72 Höllriegel, Kamera (wie Anm. 57), S. 249. 73 Arnold Höllriegel: Zwei kleine Negerlein, in: Berliner Tageblatt (9. März 1930), 1. Beiblatt, zitiert nach Bermann alias Höllriegel (wie Anm. 8), S. 250. 74 Katz, Ernte (wie Anm. 29), S. 193.
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Die antikoloniale Kritik von Katz richtete sich indes besonders vehement gegen England, so sehr, dass man dahinter durchaus einen antibritischen Affekt vermuten konnte. Der Leserschaft von Ullstein dürfte das durchaus nicht fremd gewesen sein. England, so schrieb er, mache bequemerweise für alle die Volksaufstände in seinen Kolonien die Kommunisten verantwortlich: »Englands Propaganda schreibt Rußlands Volkskommissaren eine umfassende Diabolik zu. Und es ist doch nur eine Ausrede! […] Wer ohne vorgefaßte Meinung durch die Welt reist, beobachtet vielmehr, daß nun die Früchte reifen, welche die Kolonialmächte selbst gesät haben […].«75 Ein besonders prägnantes Beispiel für das »perfide Albion« begegnete ihm in Palästina. Katz stellte ausführlich den Konflikt zwischen Arabern und Juden in ihren Argumenten dar, um dann die Engländer für den Konflikt schuldig zu sprechen: »Zwischen beiden, über beiden, steht schiedsrichtend die christliche Macht Englands. Sie hat den Juden während des Krieges Palästina versprochen, wie sie den Italienern Smyrna versprochen hat und den Japanern Schantung. Auf ein Versprechen mehr oder weniger kam es ihr damals nicht an. Jetzt aber sitzt England in der Zwickmühle zwischen den jüdischen Einwanderern, die sich auf Balfours Manifest berufen, und den Arabern, die auf ihr Hausrecht pochen.«76 Über Australien urteilt er besonders harsch: »Gäbe es Gesetze über die Völker wie über ihre Einzelbürger: das australische Volk müßte entmündigt werden. Der kleinste malaiische Bauer, der sein sorgfältig berieseltes Reisfeld mit dem Holzpfluge ackert, tut mehr für die Weltwirtschaft als der australische Großfarmer, der seine Schafherden verdursten läßt und nur darauf achtet, daß seine Polo-Ponys Wasser bekommen.«77 Da nimmt es nicht Wunder, dass er nach eigener Aussage in Australien antibritischer Propaganda und der Spionage geziehen wurde.78 Auch in Ägypten sah er die Engländer als vorerst letzte Macht der Ausbeutung: »Ach, dieses Volk hat immer gefront und geschuftet und gedarbt für andere. Nur die Herren wechselten, nie das System.« Doch nicht nur die Engländer seien heute die Ausbeuter, schrieb er Richtung heimisches Publikum, auch die Deutschen hätten ihren indirekten Anteil durch die Exporte, »die 75 76 77 78
Ebd., S. 179. Ebd., S. 67. Katz, Bummel (wie Anm. 27), S. 102. Ders., Ernte (wie Anm. 29), S. 205 und S. 274.
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auf der ägyptischen Einfuhrliste an vierter Stelle stehen«.79 Immer mal wieder gingen seine Mahnungen gen Heimat: »Wer sich mit seinem Deutschtum im Ausland brüstet, ist ebenso schädlich wie der, der es verleugnet. (Die letztere Sorte ist häufiger.)« 80 Seine Kritik an den USA wurde geradezu höhnisch, etwa wenn es um den Einfluss auf Hawaii – von ihm noch »Hawai« geschrieben – ging. Hier fielen Kritik des Angloamerikanischen mit Zivilisations- und Tourismuskritik zusammen: »1898 kamen amerikanische Kreuzer, die viel schwieriger abzulehnen waren als die Holzschiffchen Gaetanos oder Cooks, und annektierten den Archipel, in dem Missionare schon einige Vorarbeit geleistet hatten.« Blitzschnell »lagen ein paar niedlich zivilisierte Inselchen da, mit Zuckerfabriken, AnanasPlantagen und illustrierten Tageszeitungen, mit Touristenverkehr […]. – Die Braunen taten das Klügste, was sich unter diesen Umständen tun ließ: sie begannen auszusterben. Worauf die neuen Herren gelbe Arbeiter heranholten und mit verdoppeltem Eifer weiter zivilisierten. Aus dem fruchtbaren roten Lavaboden wuchsen Trockendocks, Forts und Flugfelder im selben raschen Tempo, in dem die Grashütten der Eingeborenen verfielen. Was sollen auch Grashütten, wenn sechsstöckige Bureauhauser rentieren?« Vor allem der Autoverkehr erschien ihm als perverser Höhepunkt amerikanischer Zivilisation: »Aber alle diese Erfolge einer flinken Zivilisation« seien »minder augenfällig als die geänderte Fortbewegung. […] Ein Amerikaner geht nicht, er fährt. Wenn es wahr ist, daß überflüssige Organe verkümmern, werden die Amerikaner in Bälde ohne Beine geboren werden.« Und dann holte er zu einer regelrechten Philippika aus, die die Zubetonierung der Landschaft mit ungeheuer breiten Straßen ohne Bürgersteige sowie die übersteigerte Motorisierung geißelte. Dieser für Katz eher atypische, auch ungewöhnlich lange Wutausbruch endet: »Der Tourist, der sich um die Insel fahren läßt, ist so beschäftigt mit der Lektüre der Straße, daß ihm wenig Zeit bleibt, die Landschaft zu bewundern […]. Ueberwältigender noch ist die Aussicht auf die Autokette, die zu beiden Seiten den Berg hinankriecht.«81 In den USA selbst sah er naturgemäß die Motorisierung ebenfalls kritisch, die »Jagd nach dem Dollar«, die allfällige Kommerzialisierung wie die Obsession mit »Service« ebenso. Nahezu gleichzeitig war der amerikanische Service für 79 Ebd., S. 121 f. 80 Katz, Bummel (wie Anm. 27), S. 82. 81 Ebd., S. 188 f.
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den niederländischen Historiker Johan Huizinga eine der bemerkenswerten Entdeckungen, in der er »den Inbegriff einer neuen Sozialethik« erkannte: »Der alte, zutiefst ethische Dienstbegriff des Mittelalters […] wird zu neuem Leben erweckt« und durchdringe die »kommerzielle Ethik«.82 Wo zehn Jahre später die beiden Sowjetrussen Ilja Ilf und Jewgeni Petrow notierten: »Auf unserer Reise hatten wir fast täglich in dieser oder jener Form Service in Anspruch genommen und ihn sehr schätzen gelernt, obwohl er sich manchmal nur in winzigen Kleinigkeiten zeigte«,83 da sah Katz nur, was Sinclair Lewis schon 1922 in seinem Roman »Babbitt« karikiert hatte: die reklamehafte Aufwertung banaler Geschäftsinteressen zum Dienst an der Allgemeinheit.84 In den Schlachthöfen von Chicago, damals ein Must-see für alle USA-Reisenden,85 nahm er vor allem die Folgen des automatisierten Kommerzialismus wahr: »Vorwärts, vorwärts, hier knistern Banknoten, gib mir deine Seele, sei Maschine, Automat, vorwärts, vorwärts […]. Nicht ungestraft ist man Automat. Der Golem rast, wenn ihn die Arbeit entläßt…«86 Schon hier zeichnete sich gebündelt als zivilisatorischer Graus für ihn ab, was er 1934 als die drei Gesichter Luzifers titulieren wird: »Lärm, Maschine, Geschäft«.87 Besonders heftig wurde seine Zivilisationskritik, wenn es – wie am Beispiel Hawaiis zu sehen – um die zivilisatorische Ummodelung indigener Völker ging. Sarkastisch schrieb er: »Wahrhaftig, ich stehe nicht mehr weit von der ruchlosen Frage: Wäre es nicht gescheiter, Europa durch die Malaien kolonisieren zu lassen als die Malaien durch uns Europäer? Dabei will ich die Vorteile westlicher Kultur für diese braunen und schönen (wenn auch o-beinigen) Naturkinder nicht unterschätzen. Unser miserabler Kattundruck hat sich gegen ihre sanftfarbigen Batiktücher recht gut durchgesetzt; unser robustes Kino verdrängt ihre feinen Schattenspiele; auch versorgen wir sie andauernd mit Missionaren und Whisky; vor allem aber bemühen wir uns, sie mit den Segnungen
82 Johan Huizinga: Amerika. Mensch und Masse in Amerika. Amerika – Leben und Denken. Amerika-Tagebuch, München 2011, S. 248. 83 Ilja Ilf/Jewgeni Petrow: Das eingeschossige Amerika (1937), Frankfurt a. M. 2011, S. 502. 84 Katz, Bummel (wie Anm. 27), S. 252 ff. 85 Vgl. dazu etwa Erhard Schütz: Restlos, rastlos – Chicagos Schlachthöfe im Sinn. Chicagos Fleischindustrie und das mediale Handwerk ihrer Besucher, in: Knut Hickethier/Katja Schumann (Hrsg.): Die schönen und die nützlichen Künste. Literatur, Technik und Medien seit der Aufklärung, München 2007, S. 291–300. 86 Katz, Bummel (wie Anm. 27), S. 273. 87 Ders., Drei Gesichter (wie Anm. 45).
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intensiver Arbeit vertraut zu machen, mit den Reizen eines regelmäßigen, von Telephonen unterstützten Bureaulebens.«88
VII. Katz war gewiss gefeit gegenüber jedweder Form von Illusion der Rückkehr zur Natur oder eines status quo ante; er machte sich seitenlang über einen »Naturmenschen« lustig, der ihn auf Tahiti zum Vegetarismus und zum Nacktsein überreden will. So jemand hole sich »meist einen Rheumatismus« und ende »als Ansichtskartenhändler« – oder wie in diesem Falle – als Verfasser von Traktaten: »Manuskripte scheinen dem Naturzustand zu entsprechen; alle Naturmenschen haben welche bei sich.«89 Doch blieb er selbst einer gewissen Romantisierung der »braunen Menschen« verhaftet. Dass »Ernte« als Titelvignette eine barbusige Südseeschönheit eingeprägt ist, mag verlegerischem Kalkül geschuldet sein. Etwas seltsamer waren seine Obsessionen mit dem vormaligen Kannibalismus der von ihm Besuchten. So zeigte zum Beispiel eine Fotografie zwei junge Maori-Frauen, und die Bildunterschrift dazu lautete: »Der Großpapa fraß noch Menschen. Die Enkelinnen führen Touristen durchs Geyser-Gebiet Neuseelands.«90 Interessant war dazu auch sein Urteil in der folgenden Passage: »Der Kea ist ein Gourmet. Bevor die Weißen mit ihren Schafen ins Land gekommen waren, hatte der Kea vegetarisch gelebt, aber die Zivilisation hat ihn ebenso verdorben, wie die Maoris, die umgekehrterweise vorher Kannibalen gewesen waren und sich jetzt auf die minder genießbaren Traktätchen einer neuen Gesundbeter-Sekte stürzen. Ach, die Zivilisation verdirbt so vieles!«91 Und wenn er in »Ernte« mahnte, wolle man noch ein »ein Stückchen Südsee-Zauber einfangen«, müsse man »sich beeilen. Sehr beeilen! Missionare und Kaufleute, Beamte und Touristen sind gleichermaßen am Werk, den letzten Goldschimmer der Romantik auszuradieren«, dann konnte er zur Illustration der Bemerkung nicht entraten: »Schon spielen die Fidschier Tennis (die Fidschier, die gesottene Missionare aßen!)«.92
88 89 90 91 92
Ders., Bummel (wie Anm. 27), S. 87. Ebd., S. 134. Ebd., Bildtafel gegenüber von S. 168. Ebd., S. 173. Katz, Ernte (wie Anm. 29), S. 169.
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In der indigenen Bevölkerung gebe es noch »selbstlose Freundschaft« und »Menschenliebe« – und das trotz kolonialer Ausbeutung. Das »braune Hafengesindel« zum Beispiel von Port Said oder Algier dürfe man dabei nicht als Maßstab nehmen: »Sie sind Ausnahmen, die Verlorenen. Doppelt erbärmlich, weil sie das Ursprüngliche und Wertvollste ihrer Rasse verloren haben: Menschenliebe. Daß sie es aber gerade an den Plätzen verlieren, die uns Weißen zunächst liegen, sollte uns weniger zu ihrer Verachtung führen als zu einer peinlichen Selbsterkenntnis. Je näher zum Weißen, um so egoistischer wird der Farbige, umso geldgieriger. Je weiter weg von uns, um so freundlicher bewahrt er sein Wesen.«93 Was er hier zum Lob der Indigenen aufbot, veranlasst ihn in »Ernte«, spürbar schwermütig, zu seiner Prognose: »Noch gibt es Inseln, die kein Gendarm entweiht und keine Phosphat-Kompanie, noch gibt es weiche, müde Abende, die keine Schiffssirene schändet und kein Kodak, Abende an grünen Lagunen, in denen die Feuerfunken goldener Fische sprühen – fern Kanoes am weiß schäumenden Korallenriff – Kokospalmen am Uferrand – umdschungelte Vulkane – und lächelndes braunes Volk gibt es noch, das aus Rohrhütten grüßt: ›Jorana! Komm, Fremder, und iß mit uns!‹ – Noch gibt es den Frieden der Güte und des sanften Vergessens. Noch …«94 Eine seiner weiteren Lehren lautete: »Moral ist geographisch bedingt. (Wie Rasse.) […] ›Moralisch‹ heißt im Grunde: ortsüblich. […] Wer unsere Sitten in anderen Breitengraden predigt, stiftet betrüblichen Schaden. Denn Einehe und europäisch ›sittliche‹ Kleidung sind für den Farbigen ebenso gefährlich wie es für uns Promiscuität wäre oder Nacktheit im Dezember.«95 Gleichwohl ging auch er klandestin von einer Hierarchie der Rassen aus, wenn er besorgt zu den Spannungen zwischen den USA und Japan notierte: »Es ist die große – vielleicht die größte – Schicksalsfrage der Menschheit, ob diese beiden stärksten und klügsten Rassen ihr gemeinsames Meer mit Freundschaft überbrücken können.«96 Selbst das spätestens seit dem Romantitel von Hans Grimm populistisch propagierte Thema »Volk ohne Raum« fand bei Katz Platz – freilich auf seine moderate Weise dezent entschärft. Dieses Werk Grimms war zwar 1926 er93 94 95 96
Ders., Bummel (wie Anm. 27), S. 249 f. Ders., Ernte (wie Anm. 29), S. 169. Ders., Bummel (wie Anm. 27), S. 284. Ebd., S. 220.
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schienen, als Richard Katz noch unterwegs war, doch eine Passage in seinem 1927 erschienenen »Ein Bummel um die Welt« legte nahe, dass er auf dessen Thesen antwortete, die ja schon zuvor völkisch virulent und mit Grimms Roman in der Presse in der Diskussion waren: »Die Tropen als Heimat für Europäer? Geschwätz! Als ihr Friedhof. […] Die weiße Rasse braucht leere Länder mit Winter.« Stattdessen, beklagte er, »erhitzte sich Frankreich gestern um Marokko und Syrien; Italien strebt heute nach Abessinien und Kleinasien, und Deutschland wird sich morgen um Kenya und Neu-Guinea ereifern … Mit England als Schiedsrichter … Und den Vereinigten Staaten von Europa als belächelter Utopie …«97 Angesichts der amerikanischen Weiten hatte er geseufzt, »wieviel Platz die Leute hier haben! Wie weite Möglichkeiten der Entwicklung! Fernes Deutschland, wenn du die hättest! Nur die Hälfte davon …«98 Bei alledem stand aber am Ende und über allem seine Wahrheitsemphase: »Wie kann man die ›Wahrheit‹ schreiben, da sie doch etwas Abstraktes ist, das sich in jedem Gehirne anders spiegelt? – Wohl wahr; doch sollten wir nicht wenigstens bestrebt sein, uns ihr asymptotisch zu nähern?«99 War bei Katz das emphatische Plädoyer für Akzeptanz kultureller Vielfalt und den Erhalt der Lebensweise der »Braunen« von einer gewissen Romantisierung grundiert, so war Höllriegels Appell in dieser Hinsicht nüchterner, pragmatischer orientiert. Er wandte sich nach einem Bericht über die Zustände der Plantagenwirtschaft direkt ans heimische Publikum. Die Deutschen hätten durch den Verlust der Kolonien »keine politische Verantwortlichkeit mehr für den farbigen Menschen, sie müßten gerade deswegen sehr um ihn bemüht sein. […] Denn dies ist das Jahrhundert, in dem die farbigen Menschen erwachen.«100
VIII. Der Weg in Deutschland und Österreich ging freilich in genau die andere Richtung, als die beiden Kosmopoliten ihn wiesen, ging eher auf Chauvinismus, Nationalismus und Rassismus zu. Das erfuhr Höllriegel noch intensiver als Katz. Seine Teilnahme an der Expedition in die libysche Wüste wurde Anfang 1933
97 Ebd, S. 284. 98 Katz, Ernte (wie Anm. 29), S. 255. 99 Ders., Bummel (wie Anm. 27), S. 286. 100 Arnold Höllriegel: Deutsche Pflanzer in Kamerun, in: Berliner Tageblatt (23. März 1930), S. 1, Beiblatt, zitiert nach Bermann alias Höllriegel (wie Anm. 8), S. 250.
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Höhepunkt und drastischer Endpunkt seiner Reisen zugleich. Im Typoskript über seine Erlebnisse, dessen Publikation zu Lebzeiten durch die drastischen politischen Entwicklungen nicht mehr möglich war, schlug sich das in trotziger Verbitterung nieder. Zum einen resümierte Höllriegel noch einmal den Impetus seiner Reisen: »Von neuem stelle ich mir die Frage: was also suche ich in der Libyschen Wüste? […]: wahrscheinlich will ich (wie im Krieg) mich vor mir selbst und vor gewissen Menschen bestätigen. Und wäre es nur, um sehr nachträglich alle meine früheren Reisen zu legitimieren, die durch die Bank bequeme Luxusreisen gewesen sind und mich doch in den Ruf eines großen Weltreisenden gebracht haben. Diesen Ruhm (dessen sämtliche Früchte ich unterdessen verloren habe), muß ich nun bezahlen. Ich gehe und zahle. Schulden habe ich immer gezahlt wie ein Philister.«101 Noch 1925 hatte er sich enthusiastisch als Republikaner geäußert: »Nicht die Republik, oder was so heißt, erzieht den republikanischen Menschen, sondern der republikanische Mensch, der vor unseren Augen entsteht, wird die Republik bauen, das große kollektive Heim, in dem, hoffen wir, dennoch jeder seinen verschlossenen individuellen Winkel haben wird.«102 Zum anderen notierte er unterwegs, während sein Schiff Kreta passierte, angesichts des Ergebnisses der Reichstagswahlen vom 5. März 1933: »Beim Tee erfahren wir durch ein Funktelegramm, daß Hitler und Hugenberg sich (mit welchen Mitteln!) eine Mehrheit im deutschen Reichstag erzwungen haben. Ich hatte nicht daran gezweifelt. Hier endet, durch eigene Schuld, die deutsche Republik, die mich einmal begeistert hat; hier endet die Welt, in der ich gelebt habe, die einzige, die ich mir vorstellen kann. Das Ungewisse, in das ich hineinfahre, ist klarer als das Formlose, das ich hinter mir lasse: ich gehe in die Wüste und werde, freiwillig, ungeheure Ereignisse nicht miterleben.«103
101 Höllriegel, Saharafahrt (wie Anm. 70), S. 278. 102 Arnold Höllriegel: Der republikanische Mensch, in: Der Morgen (18. Mai 1925), S. 5 f., hier: S. 6, zitiert nach Bermann alias Höllriegel (wie Anm. 8), S. 182. 103 Höllriegel, Saharafahrt (wie Anm. 70), S. 278.
Verflechtungsarbeit
Isabella Löhr
Deutschland im Völkerbund Im Februar 1932 reiste eine hochrangige Delegation des Völkerbunds unter Vorsitz des Briten Lord Victor Bulwer-Lytton nach China. Sie hatte den Auftrag, den sogenannten Zwischenfall von Mukden zu untersuchen, bei dem im September 1931 die japanische Kwantung-Armee einen Sprengstoffanschlag auf einen Gleisabschnitt der Südmandschurischen Eisenbahn fingiert und dies zum Anlass genommen hatte, die Mandschurei zu besetzen, eine Region, die aufgrund ihrer Rohstoffvorkommen und der geopolitischen Bedeutung spätestens seit dem chinesisch-japanischen Krieg 1894/1895 zum Inbegriff des Kräftemessens zwischen Russland, Japan und China um die imperiale Vorherrschaft in Ostasien geworden war. Obwohl es internationalen Widerspruch gegen die japanische Besetzung hagelte, unter anderem in Form der nach dem US-amerikanischen Außenminister benannten Stimson-Doktrin, und sich in China eine anti-japanische Boykottbewegung formierte, die zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der japanischen Armee führte, setzte die Kwantung-Armee ihren Vormarsch fort. Seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte der Krieg um die Mandschurei mit der Ausrufung des neuen Staates Mandschukuo Anfang März 1932, der formal unabhängig war, faktisch aber unter japanischer Kontrolle stand. Der japanische Einmarsch löste einen medialen Propagandakrieg aus, in dem die Kuomintang-Regierung unter Chiang Kai-shek der Weltöffentlichkeit die Verletzung ihrer territorialen Integrität durch den japanischen Imperialismus erklärte, während die japanische Regierung den Beweis zu führen versuchte, der neue Staat entspringe einer lokal verankerten Nationalbewegung und brächte Ordnung in eine von warlords und zerfallenen staatlichen Strukturen geprägten Region.1 Parallel zur medialen Auseinandersetzung um die Deutungshoheit kam die Streitschlichtungsmaschinerie des Völkerbunds in Gang, dessen Sat-
1
Zur medialen Kampagne, die die Besetzung der Mandschurei auf beiden Seiten begleitete, siehe die von einer Projektgruppe am Exzellenzcluster »Asia and Europe in a Global Context« der Universität Heidelberg vorgenommene globalgeschichtliche Film- und Medienanalyse der Lytton-Kommission: Global Politics on Screen. A Japanese Film on the Lytton Commission in 1923, online verfügbar: https://kjc-sv013.kjc.uni-heidelberg. de/gpos/ (zuletzt abgerufen am: 24. Februar 2020).
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zung das Prinzip der nationalen Souveränität festschrieb und die nötigen Mittel bereitstellte, um Territorialkonflikte zwischen Mitgliedern friedlich beizulegen. Artikel 10 garantierte die Unantastbarkeit territorialer und politischer Integrität, und die Artikel 11 bis 17 regelten das Verfahren zur Streitschlichtung zwischen Mitgliedsstaaten.2 In den 1920er Jahren schien das Prinzip der kollektiven Sicherheit durch Internationalisierung von Konflikten noch aufzugehen. Die japanische Aggression gegen China bedeutete für den Völkerbund dagegen eine Zerreißprobe, die im sprichwörtlichen Auszug Japans aus dem Völkerbund im Dezember 1932 endete, dem kurze Zeit danach der Austritt des späteren Bündnispartners Deutschland folgte.3 Im Vergleich zu früheren Territorialkonflikten lag die Brisanz in diesem Fall in der japanischen Doppelrolle als Aggressor und als ständiges Mitglied des Völkerbundsrats, der Instanz, die laut Satzung in allen Fragen der kollektiven Sicherheit das letzte Wort behielt. 4 Der sogenannten Lytton-Kommission kam deswegen eine Schlüsselrolle zu. Nachdem China den Rat des Völkerbunds angerufen hatte, sollte die Kommission in seinem Auftrag die Situation vor Ort untersuchen und Material sammeln, auf dessen Grundlage Rat und Generalversammlung entschieden, ob es sich beim japanischen Einmarsch um eine imperiale Unterwerfung der Mandschurei handelte oder nicht. Die Kommission bestand neben ihrem Vorsitzenden Lord Lytton aus vier weiteren Mitgliedern, darunter Heinrich Schnee, der im Dezember 1931 als ausgewiesener Kolonialexperte für die Weimarer Republik in die Kommission berufen wurde.5 In der Literatur wird die japanische Besetzung der Mandschurei zumeist als Wendepunkt beschrieben, der das Scheitern der neuen Weltordnung von 1919 sichtbar machte und den Weg zum Zweiten Weltkrieg im Pazifik wies, der 1937 mit dem chinesisch-japanischen Krieg ausbrach. In dieser Lesart erwies sich die Besetzung der Mandschurei als Sargnagel für den Völkerbund, den
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The Covenant of the League of Nations (including Amendments adopted to December, 1924), in: The Avalon Project. Documents in Law, History and Diplomacy, online verfügbar: http://avalon.law.yale.edu/20th_century/leagcov.asp#art11 (zuletzt abgerufen am: 24. Februar 2020). Zur Einordnung der Mandschurei-Krise in die japanische Imperialpolitik in Ostasien siehe Reinhard Zöllner: Geschichte Japans von 1800 bis zur Gegenwart, Paderborn 2013, S. 330–377. The Covenant of the League of Nations (wie Anm. 2). Zu den Umständen der Berufung siehe Bernd Martin: Die Untersuchungskommission des Völkerbundes zur Mandschurei-Krise. Der deutsche Anteil, in: Mechthild Leutner (Hrsg.): Politik, Wirtschaft, Kultur. Studien zu den deutsch-chinesischen Beziehungen, Münster 1996, S. 171–174.
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kurze Zeit später mit dem deutschen Austritt im Oktober 1933, dem Scheitern der Abrüstungskonferenz 1934 und der italienischen Annexion Abessiniens 1935 weitere Schläge ereilten. Spätestens 1939 musste der Völkerbund eingestehen, dass das von Woodrow Wilson 1917 verkündete Programm einer auf öffentlicher Legitimation basierenden Politik sich nicht hatte durchsetzen können.6 Ähnlich argumentieren die wenigen Studien, die es zur deutschen Beteiligung an der Lytton-Kommission gibt. Auch hier überwiegt eine außenpolitische Perspektive, in deren Augen der Konflikt in der Mandschurei der auf Revisionismus angelegten Außenpolitik Heinrich Brünings in die Hände spielte. Denn die Bestellung eines deutschen Kommissionsmitglieds, die in einem latenten außenpolitischen Kurswechsel von einer pro-chinesischen zu einer pro-japanischen Politik eingebettet war, ebnete den Weg für die lang ersehnte Wiederanerkennung als Großmacht, die mit der ein Jahr später auf der Abrüstungskonferenz im Dezember 1932 ausgesprochenen militärischen Gleichberechtigung Deutschlands formal besiegelt wurde.7 Die zeitliche Pa rallele zwischen diesen beiden Entwicklungen – die Anerkennung der späten Weimarer Republik als Großmacht und die sicherheitspolitische Lähmung des Völkerbunds – hat die bisherige Forschung zur Weimarer Republik dazu motiviert, die Bedeutung des Völkerbunds für die Weimarer Außenpolitik herunterzuspielen. Dieses Manöver, den Völkerbund als überwindbaren Stolperstein zu interpretieren, hat nicht zuletzt mit den Verträgen von Locarno zu tun. Sie gelten zwar als Anfang der sogenannten »goldenen Ära« der Organisation, weil sie parallel zur europäischen Friedenssicherung der Weimarer Republik den Weg in diese wiesen. Aber sie werden als solche selten dem Völkerbund zugeschlagen, was mit der Art und Weise ihrer Entstehung zu tun hat, die sich nämlich in klassischer Gipfelmanier vor den Toren des Völkerbundes abspielte.8 Für die Zeit danach liegt die Aufmerksamkeit primär auf dem soziopolitischen Einschnitt, den die Weltwirtschaftskrise bedeutete, der Reparationspolitik und
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Zu Wilson siehe jüngst Manfred Berg: Woodrow Wilson. Amerika und die Neuordnung der Welt. Eine Biographie, München 2017. Die deutsche Beteiligung an der Kommission wird in der Literatur angesichts des nur ein Jahr später folgenden Austritts des nationalsozialistischen Deutschlands aus dem Völkerbund selten thematisiert. Die Standardwerke von Gottfried Niedhart oder Peter Krüger erwähnen die Kommission gar nicht. Einen ausführlichen Überblick gibt: Martin, Mandschurei-Krise (wie Anm. 5). Das sahen auch die Zeitgenossen so: William E. Rappard: Germany at Geneva, in: Foreign Affairs 4 (1925), S. 541; Peter Krüger: Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1993, S. 295–301; Gottfried Niedhart: Die Außenpolitik der Weimarer Republik, München 2013, S. 23–24.
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dem Ende der Verständigungspolitik von Locarno, das sich im Wunsch nach militärischer Gleichberechtigung und einem sich zusehends verschlechternden Verhältnis zwischen Völkerbund und Weimarer Republik ausdrückte. Nun ließe sich einwenden, dass die Weimarer Republik nur sieben Jahre Mitglied im Völkerbund war, ein Zeitraum, der nicht hatte ausreichen können, um das Verhältnis zwischen beiden so zu konsolidieren, dass die politische Vision einer demokratisierten und liberalen Weltpolitik, die im Völkerbund institutionalisiert worden war, Politik und Gesellschaft der Weimarer Republik hätte nachhaltig prägen können – sieht man von der negativen Mobilisierungskraft ab, die der Völkerbund aufgrund seiner Verankerung im Versailler Vertrag von Beginn an auf die öffentliche Meinung und die politische Landschaft der Weimarer Republik ausübte.9 Dann ist aber die Präsenz Heinrich Schnees in der Lytton-Kommission ausgesprochen erklärungsbedürftig und wirft Fragen auf, die sich mit Verweis auf die durchweg kritische bis ablehnende Haltung der politischen und gesellschaftlichen Eliten der Weimarer Republik gegenüber dem Völkerbund nicht beantworten lassen. Dies gilt umso mehr, wenn wir uns die Person Heinrich Schnee anschauen. Schnee hatte sich in der Weimarer Republik als Vorreiter kolonialer Revisionsforderungen einen Namen gemacht und gilt als Urheber des Begriffs der kolonialen Schuldlüge, der das revisionistische Vokabular und damit die politische Kultur der Weimarer Republik prägte. In diesem Sinne lehnte Schnee einen Beitritt Deutschlands zum Völkerbund prinzipiell ab oder, wenn überhaupt, machte ihn von der Rückgabe der deutschen Kolonialgebiete abhängig, eine Position, die er ab 1930 als Präsident der Deutschen Kolonialgesellschaft, dem Dachverband aller Kolonialvereinigungen, in modifizierter Form weiter vertrat.10 Wie passt Schnees revisionistischer Kurs, seine Propaganda gegen die im Völkerbund institutionalisierten Ordnungsvorstellungen mit seinem neutralen und moderaten Auftreten in der Lytton-Kommission zusammen? Warum sollte Schnee, der sich als prominenter Kritiker des Völkerbunds einen Namen gemacht hatte und offen seine Ablehnung einer internationalen Verständigungspolitik kundtat, zu einem Zeitpunkt, den Gottfried Niedhart als »Re-Nationalisierung« und Peter Krüger als »Untergang 9 Detlev J. K. Peukert: Die Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1987, S. 52. 10 Politisch war Schnee der Weimarer Republik von Beginn an entfremdet. Er gehörte dem rechten Flügel der Deutschen Volkspartei an, die er von 1924 bis 1932 im Reichstag vertrat, bevor er 1932 Mitglied der NSDAP wurde. Zu Schnees Rolle in der Weimarer Republik vgl. Dirk van Laak: Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005, S. 107–110. Zu Schnees Kolonialkarriere Katharina Abermeth: Heinrich Schnee. Karriereweg und Erfahrungswelt eines deutschen Kolonialbeamten, Kiel 2017.
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der Weimarer Außenpolitik« beschreiben,11 einer internationalen Kommission beitreten, die exemplarisch für den Geist der internationalen Verständigung und Mediation von Konflikten stand, die der Völkerbund verkörperte? Handelt es sich hier um eine kuriose Episode oder um ein systematisches Moment, das uns einlädt, das Verhältnis von Weimarer Republik und Völkerbund grundsätzlich neu zu denken? Es wäre zu kurz gegriffen, den Völkerbund als groß angelegtes, aber folgenloses Experiment einer Weltregierung vorzustellen, dessen Lichter vorschnell erloschen, um dem »Triumph des Bösen« Platz machten, wie Zara Steiner es mit den dramatisch gewählten Titeln ihrer zwei Monographien zur internationalen Geschichte der Zwischenkriegszeit suggeriert.12 Solche literarisch einprägsamen, historiographisch aber fragwürdigen Zuspitzungen verdecken mehr, als sie erklären. Der Umstand, dass der Völkerbund sein vorrangiges Ziel – kollektive Friedenssicherung und Vermeidung eines zweiten großen Kriegs – nicht erreichte, bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass er spurlos an der Art und Weise vorbeigegangen wäre, wie globale Politikprozesse in der Zwischenkriegszeit gestaltet wurden. Wäre er das, hätte der Ultranationalist Heinrich Schnee sich keiner Kommission des Völkerbunds zur Verfügung gestellt, deren Aufgabe es war, die imperiale Aggression des späteren Bündnispartners Hitlers wenn nicht zu verurteilen, dann zumindest zu zähmen. Die in Steiners Metaphern anklingende Vorstellung, der Völkerbund sei 1919 vom Himmel gefallen und genauso spurlos wieder verschwunden, funktioniert nur, wenn wir die inzwischen zahlreichen Forschungen zum Internationalismus des 19. Jahrhunderts beiseitelassen und damit den Völkerbund historisch de-kontextualisieren bzw. Entwicklungen langer Dauer ihre Bedeutung absprechen – eine Operation, die Historikerinnen und Historikern nicht besonders gut ansteht. Um zu verstehen, welche Rolle der Völkerbund für die Weimarer Republik spielte und wie wir ihre Geschichte aus der Perspektive des Völkerbunds in ein anderes Licht rücken können, wird in diesem Beitrag zunächst der methodisch-theoretische Hintergrund ausgeleuchtet, der sich hinter den bisweilen unversöhnlichen Auseinandersetzungen um die Handlungsfähigkeit, Wirkmächtigkeit und historische Bedeutung des Völkerbunds verbirgt. Die folgenden Abschnitte unterfüttern diese Überlegungen mit zwei empirischen Beispielen, die beide die Frage nach den Formen von Staatlichkeit und 11 Krüger, Außenpolitik (wie Anm. 8), S. 507; Niedhart, Außenpolitik (wie Anm. 8), S. 34. 12 Zara Steiner: The Lights that Failed. European International History, 1919–1933, Oxford 2007; dies.: The Triumph of the Dark. European International History, 1933–1939, Oxford 2011.
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Souveränität in der Zwischenkriegszeit einer kritischen Lektüre unterziehen. Anhand der Wirkungsweise völkerrechtlicher Expertennetzwerke und der Vereinnahmung internationalistischer Praktiken für die Neuformulierung kolonialer Herrschaft zeigen beide Beispiele, wie der Völkerbund eine Transformation der diplomatischen Instrumente bewirkte, die es für Staaten wie das Deutsche Reich unmöglich machten, sich außerhalb dieser neuen Verhandlungsmuster und -verfahren zu stellen.
Neue Internationalismen und die historiographische Transformation des Politischen Die Wende zu globalen und transnationalen Ansätzen in der Geschichtswissenschaft hat die Historiographie zum Völkerbund tiefgreifend umgepflügt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erschien eine Reihe von Publikationen zum Völkerbund, zumeist geschrieben von internationalen Beamten, die bis 1946 im Dienst des Völkerbunds gestanden hatten und von denen einige ihre Karriere in den frühen Vereinten Nationen fortsetzten. Die meisten dieser Bücher waren maßvolle Versuche, die Leistungen der Kommissionen und Sektionen des internationalen Sekretariats zu rechtfertigen. Sieht man von Memoiren oder Autobiographien ab, sollten diese Studien den Übergang vom Völkerbund in die Vereinten Nationen ebnen, indem sie Themen, Strukturelemente und Verfahren sichtbar machten und so versuchten, sie in die neue Weltorganisation zu transferieren.13 In der Nachkriegszeit spielte diese Literatur allerdings keine Rolle, was einer generellen Absetzbewegung vom Völkerbund geschuldet war: Historiker, Sozialwissenschaftler und Zeitgenossen klassifizierten den Völkerbund als eine gescheiterte Organisation, die in sicherheitspolitischen Fragen ein Papiertiger geblieben sei und ihren universalen Anspruch verfehlt habe. Entsprechend wurde der Völkerbund in der Forschung weitgehend marginalisiert. 13 Heute noch lesenswert sind Francis P. Walters: A History of the League of Nations, London 1952 und Egon Ranshofen-Wertheimer: The International Secretariat. A Great Experiment in International Administration, Washington D. C. 1945; für den Transfer von Themen in die neuen Vereinten Nationen vgl. Klaus Eugen Knorr/Alexander Loveday (Hrsg.): Raw Material Problems and Policies, Geneva 1946; zur personellen Kontinuität zwischen Völkerbund und Vereinten Nationen siehe Madeleine Herren/ Isabella Löhr: Being International in Times of War. Arthur Sweetser and the Shifting of the League of Nations to the United Nations, in: European Review of History 25 (2018), H. 3, S. 535–552; Sandrine Kott (Hrsg.): International Organisations during the Second World War, Themenheft des Journal of Modern European History 12 (2014), H. 3.
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Die dazugehörige Betonung des Jahres 1945 als Stunde Null hatte politische Gründe. Das Wegwischen aller Anklänge an den Völkerbund sollte den neuen Vereinten Nationen Legitimität und Glaubwürdigkeit verschaffen, was über mehrere Jahrzehnte auch gut funktionierte.14 Mit dem Ende des Kalten Krieges und den ethnischen Konflikten im früheren Jugoslawien rückte der Völkerbund wieder auf die Agenda von Historikern und das aus naheliegenden Gründen. Eine der Kernaufgaben des Völkerbunds war es, Gewalt zwischen ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten in den ehemaligen Gebieten des Osmanischen, des Russischen und des Habsburger Reiches zu verhindern und eine Balance zwischen Selbstbestimmung und territorialer Souveränität zu finden – Konflikte, die im Zuge der Ost-WestKonfrontation eingefroren schienen und die in den 1990er Jahren mit aller Wucht wieder ausbrachen. Parallel dazu rief die verstärkte Beteiligung von NGOs und zivilgesellschaftlichen Gruppen innerhalb der UN – das prominenteste Beispiel ist der Umweltgipfel 1992 in Rio de Janeiro – die Erinnerung daran wach, dass für viele Probleme, die die internationale Gemeinschaft in den 1990er Jahren beschäftigten, bereits in der Zwischenkriegszeit Lösungen gesucht worden waren, in deren Fußstapfen politische und gesellschaftliche Akteure sich heute noch bewegen. Diese zeithistorischen Entwicklungen trafen auf eine neue Generation von Historikern, die sich anstelle einer erinnerungspolitischen Sicht auf den Völkerbund verstärkt transnationale und globale Fragestellungen auf die Fahnen schrieben und deren Problemaufrisse in den Archiven des Völkerbunds dankbares Forschungsmaterial fanden.15 Der Zuspruch, den globalgeschichtliche Zugänge in den letzten Jahren erfuhren, begünstigte die historiographische Renaissance des Völkerbunds aus zwei Gründen. Der erste Grund hat mit der methodischen Skepsis zu tun, mit 14 Zur Kritik dieser These vgl. das Konzept sortie de guerre, das den Prozess des Übergangs und der strukturellen Neuausrichtung von Gesellschaften am Ende eines Krieges betont: Cosima Flateau (Hrsg.): Les sorties de guerre. Reconstructions nationales et recompositions territoriales, Themenheft der Zeitschrift Les Cahiers Sirice 17 (2016), H. 3. 15 Zum Beispiel Iris Borowy: Coming to Terms with World Health. The League of Nations Health Organisation 1921–1946, Frankfurt a. M. 2009; Patricia Clavin: Securing the World Economy. The Reinvention of the League of Nations, 1920–1946, Oxford 2013; Isabella Löhr: Die Globalisierung geistiger Eigentumsrechte. Neue Strukturen internationaler Zusammenarbeit, 1886–1952, Göttingen 2010; Johan Schot/Vincent Lagendijk: Technocratic Internationalism in the Interwar Years. Building Europe on Motorways and Electricity Networks, in: Journal of Modern European History 6 (2008), S. 196–217; Claudena Skran: Refugees in Interwar Europe. The Emergence of a Regime, Oxford 1995; Anna-Katharina Wöbse: Weltnaturschutz. Umweltdiplomatie in Völkerbund und den Vereinten Nationen, Frankfurt a. M. 2011.
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der dieses Forschungsfeld die Analyse globaler Wirkungszusammenhänge betrachtet. Das inzwischen zum Mantra gewordene Postulat, der Nationalstaat als primärer Beobachtungsrahmen könne die Wirklichkeit der historischen Akteure in der Moderne nicht hinreichend erfassen und schreibe spezifisch europäischen Perspektiven auf die Geschichte eine hegemoniale Position zu, hat zu einer beeindruckenden Pluralisierung der Forschungsgegenstände geführt, angefangen von regionalen Zugängen über die Analyse transregionaler Verbindungen bis zur Vervielfältigung des historischen Personals. Dahinter steht die Einsicht, dass das Schmieden globaler Verbindungen kein exklusives Privileg sozio-politischer Eliten war, sondern dass die Zunahme und Verdichtung grenzübergreifender Verbindungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts historische Akteure aus allen sozialen Gruppen ermächtigte, globale Verbindungen in ihrer täglichen Praxis herzustellen und zwar auf eine Art und Weise, die auf das Denken und Handeln der Beteiligten und auf lokale Konstellationen zurückwirkte. Methodisch und politisch ist dabei das emanzipatorische Potential von Bedeutung, das dieser Zugang Plantagenarbeitern, Migranten, zivilgesellschaftlichen Akteuren, bürgerlichen Experten oder Staatenlosen zugesteht. Mit diesem Problemaufriss gewinnen sie nämlich Gestaltungs- und Handlungsfähigkeit gegenüber dem herkömmlichen politischen und diplomatischen Personal und werden so zu Akteuren im globalen Geschehen.16 Legen wir also den Fokus auf die Schnittstelle zwischen globalen Verbindungen und alltäglichem Handeln, drängt sich die Frage nach der strukturellen Verfestigung solcher Interaktionsmuster auf, für die sich, und hier kommen wir zum zweiten Punkt, die Geschichte internationaler Organisationen zu einem idealen Untersuchungsgegenstand entwickelt hat. Der große historiographische Zuspruch, den diese Organisationen in den letzten Jahren erlebt haben, verdankte sich soziologischen und politikwissenschaftlichen Ansätzen, die eine Antwort auf die Frage zu geben versuchten, wie sich das Wirken eines nicht diplomatisch legitimierten Personals in bzw. im Umfeld von internationalen Organisationen sinnvollerweise beschreiben lässt und wie wir seinen Einfluss auf die Institutionen sowie auf die in diesen verankerten Politikfelder erklären 16 Jürgen Osterhammel: Globalisierungen, in: ders.: Die Flughöhe der Adler. Historische Essays zur globalen Gegenwart, München 2017, S. 22; Roland Wenzlhuemer: Globalgeschichte schreiben. Eine Einführung in 6 Episoden, München 2017, S. 20; Ulrike Freitag/Achim von Oppen: Introduction: Translocality. An Approach to Connection and Transfer in Area Studies, in: dies. (Hrsg.): Translocality. The Study of Globalization Processes from a Southern Perspective, Leiden 2010, S. 1–21; Peter Linebaugh/Markus Rediker: The Many-Headed Hydra. Sailors, Slaves, Commoners, and the Hidden History of the Revolutionary Atlantic, Boston 2000.
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können. Hier sind es strukturationstheoretische Ansätze, die diese Akteure aus der zweiten in die erste Reihe holen. Sie begreifen ihr Handeln im eigenen Interesse als konstitutiv für die Herstellung grenzübergreifender Strukturen, auch wenn die Entstehung neuer Formen der Interaktion sich zwangsläufig an bestehenden Agenden und Handlungsformen orientieren. Dies weiterführend, haben Global Governance-Modelle das Denken von internationalen Organisationen als komplexe Netzwerke und Schnittstellen von verschiedenen räumlichen Handlungsebenen möglich gemacht. Diese bieten nichtstaatlichen oder gesellschaftlichen Gruppen die Möglichkeit zur politischen Partizipation über transnationale Netzwerkbildung mit dem Ergebnis, dass sie aus dem Windschatten staatlicher Politik heraustreten und so das außenpolitische Handlungsmonopol von Staaten schrittweise aufweichen.17 Diese Theoriemodelle sind in der Geschichtswissenschaft auf einen fruchtbaren Boden gefallen. Jacques Revel hat die Metapher vom jeux d’échelles geprägt, dem Spiel auf verschiedenen räumlichen Handlungsebenen, die zur Grundlage für zahlreiche Studien wurde, die sich mit der Entstehung und Institutionalisierung transnationaler Netzwerke von Experten und Aktivisten befassen.18 Diese Studien haben empirisch überzeugend gezeigt, dass und wie transnationale Initiativen die Nationalstaaten in ein komplexes Geflecht grenzüberschreitender Interaktionen und Interdependenzen einbanden.19 Für unseren Kontext ist es wichtig, die Vergesellschaftung des Politischen, wie man diesen Prozess in Anlehnung an die Rede von der Verwissenschaftlichung des Sozialen beschreiben könnte,20 nicht als einen machtfreien Prozess zu denken, der ohne staatliches Kalkül auskäme, der staatliche Handlungskompetenz herabspielte und an dessen Ende Historiker hilflos vor der Aufgabe stünden, Krieg und staatliche Gewalt gegenüber eigenen Staatsangehörigen zu erklären. 17 Einführend Arie M. Kacowicz: Global Governance. International Order and World Order, in: David Levi-Faur (Hrsg.): The Oxford Handbook of Governance, Oxford 2012, S. 686–698; Michael Zürn: Global Governance as Multi-Level Governance, in: Henrik Enderlein/Sonja Wälti/Michael Zürn (Hrsg.): Handbook on Multi-Level Governance, Cheltenham 2010, S. 80–99. 18 Jacques Revel: Jeux d’échelles. La micro-analyse à l’expérience, Paris 1996. 19 Zum Beispiel Wolfram Kaiser/Johan Schot: Making Europe. Experts, Cartels, and International Organizations, Basingstoke 2014; Davide Rodogno/Bernhard Struck/Jakob Vogel (Hrsg.): Shaping the Transnational Sphere. Experts, Networks and Issues from the 1840s to the 1930s, New York 2015; Philip Wagner: Stadtplanung für die Welt? Internationales Expertenwissen 1900–1960, Göttingen 2016. 20 Lutz Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193.
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Denn das Pendant zur Zunahme international relevanter Themen und den dazugehörigen Handlungsspielräumen für gesellschaftliche Akteure bildet die Ausdifferenzierung des Repertoires, das staatlichen Akteuren für die Steuerung von Globalisierungsprozessen zur Verfügung stand – wie das Schaffen neuer Asymmetrien über internationale Abkommen oder Optionen zur Einmischung in fremdstaatliche Souveränität bzw. territoriale Integrität.21 Diese Komplementarität von globalen Verbindungen und nationalem Eigeninteresse haben Historiker in den letzten Jahren im Begriff des Internationalismus kondensiert. Mit dem Wissen, dass die meisten Zeitgenossen Internationalismus als komplementäre Strategie zur nationalen Politik auffassten, treten Nationalismus und Internationalismus hier nicht als Gegensätze auf, sondern als zwei eng miteinander verwobene Arten und Weisen der historischen Akteure, über Modernität, Politik und Gesellschaft nachzudenken, die nur um den Preis eines unausgewogenen Geschichtsbildes voneinander getrennt werden können. Für unseren Zusammenhang ist dabei der vielfach in der Forschung hervorgehobene Hinweis von Bedeutung, dass Internationalismus in seiner bürgerlich-liberalen Spielart, wie sie im Völkerbund überwog, durch das gleiche Denken in Kategorien von zivilisatorischer Differenz und rassischer Ungleichheit geprägt war wie es Nationalismus und Imperialismus eigen war.22 Diese Überlegungen haben Forschungen über Faschismus angeregt, sich auf die Spur einer faschistischen Variante von Internationalismus zu machen und die Beziehungen zwischen den Achsenmächten vor diesem Hintergrund neu zu interpretieren. In dieser Perspektive erscheinen das internationale Engagement Heinrich Schnees oder die japanische Politik in der Mandschurei als staatlich
21 Einführend: Isabella Löhr/Roland Wenzlhuemer (Hrsg.): The Nation State and Beyond. Governing Globalization Processes in the 19th and 20th Centuries, Berlin 2013; in diesem Zusammenhang sind Instrumente zur Protektion aufschlussreich wie das Minderheitenschutzsystem des Völkerbunds oder das Prinzip der Responsiblity to Protect: Carole Fink: Defender of Minorities. Germany in the League of Nations, 1926–1933, in: Central European History 5 (1972), S. 330–357; Mark Mazower: Minorities and the League of Nations in Interwar Europe, in: Daedalus 126 (1997), S. 47–61; Anne Orford: International Authority and the Responsibility to Protect, Cambridge 2011. Zur imperial motivierten Aushöhlung staatlicher Souveränität durch Völkerrecht vgl. Isabella Löhr/ Andrea Rehling: Global Commons im 20. Jahrhundert. Entwürfe für eine globale Welt, München 2014. 22 Einführend: Glenda Sluga/Patricia Clavin (Hrsg.): Internationalisms. A Twentieth Century History, Cambridge 2017; Daniel Laqua (Hrsg.): Internationalism Reconfigured. Transnational Ideas and Movements between the World Wars, London 2011.
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initiierte Versuche, Global Governance-Modelle für die eigenen imperialen Ziele zu vereinnahmen.23 Diese methodischen und konzeptionellen Überlegungen sind an etablierten Feldern wie der Diplomatiegeschichte nicht spurlos vorbeigegangen. Die sogenannte new diplomatic history, die sich vor allem im englischsprachigen Raum in Handbüchern und Sammelbänden manifestiert hat, beruht auf der Annahme, dass staatliches Handeln fest in grenzübergreifende Handlungszusammenhänge eingebunden ist.24 Der Begriff Diplomatie ist nicht mehr nur außenpolitischem Handeln vorbehalten. Vielmehr hat eine weite Definition Einzug gehalten, die das Informations- und Handlungsmonopol von Außenministerien anzweifelt und stattdessen auf die vielschichtigen Abhängigkeiten des diplomatischen Personals von gesellschaftlichen, semistaatlichen und globalen Akteuren, Institutionen und Handlungsstrukturen verweist. Diese analytische Neufassung von Diplomatie bewegt sich mit der Betonung der Durchlässigkeit staatlicher Souveränität in den Spuren globalgeschichtlicher Ansätze und bildet mit ihrer Anwendung auf den definitorischen Kern dessen, was wir unter Diplomatie verstehen, das Äquivalent zu den obigen Überlegungen. Aber auch hier geht es nicht darum, der territorialen Organisation von Gemeinschaft ihre Bedeutung für die Formierung moderner Gesellschaften abzusprechen. Es geht vielmehr darum, die historiographische Hegemonie bestimmter räumlicher Ordnungsmuster aufzulösen.25 Diese analytische Neufassung von Diplomatie hat tiefgreifende Konsequenzen für das, was wir unter internationaler Geschichte verstehen. Der Übergang von der Analyse personenzentrierter politischer Eliten zur Beschäftigung mit der strukturellen Bedeutung von grenzübergreifenden Institutionen und Hand23 Arnd Bauerkämper/Grzegorz Rossolinski-Liebe (Hrsg.): Fascism without Borders. Transnational Connections and Cooperation between Movements and Regimes in Europe from 1918 to 1945, New York Oxford 2017; Liang Pan: National Internationalism in Japan and China, in: Sluga/Clavin, Internationalisms (wie Anm. 22), S. 170–190. 24 Andrew F. Cooper/Jorge Heine/Ramesh Takur (Hrsg.): The Oxford Handbook of Modern Diplomacy, Oxford 2013; Arthur Eyffinger: Diplomacy, in: Bardo Fassbender/Anne Peters (Hrsg.): The Oxford Handbook of the History of International Law, Oxford 2012, S. 813–839; Iver B. Neumann/Halvard Leira (Hrsg.): International Diplomacy. Volume II: The Pluralization of Diplomacy – Changing Actors, Developing Arenas and New Issues, Los Angeles 2013. 25 Einen begriffsgeschichtlichen Überblick gibt Johannes Paulmann: Diplomatie, in: Jost Dülffer/Wilfried Loth (Hrsg.): Dimensionen internationaler Geschichte, München 2012, S. 47–64. Eine historiographische Einordnung findet sich bei Madeleine Herren: Diplomatie im Fokus der Globalgeschichte, in: Neue politische Literatur 61 (2016), S. 413–438.
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lungszusammenhängen lenkt die Aufmerksamkeit auf die Grenzen von Außenministerien und Regierungen und fragt, welche Folgen die Vervielfältigung von Handlungsspielräumen und -optionen von vormals als peripher eingestuften Akteuren für unser Geschichtsbild hat. So markiert dieser Ansatz die vormals scharfe Trennlinie zwischen Staat und Gesellschaft, Außen- und Innenpolitik als eine normative Vorgabe und lädt dazu ein, die Aktivitäten von gesellschaftlichen oder semi-staatlichen Gruppen oder Individuen als Ausgangspunkt für Aussagen über staatlichen Wandel zu nutzen. Terminologisch fängt der Begriff der network diplomacy diese epistemische Rekonfiguration der internationalen Geschichte ein. Der Begriff erfasst beides, die Bedeutung grenzübergreifender Akteure, Interessen oder epistemic communities für die Formierung und Entwicklung globaler Politikfelder und die Wahrnehmung von Diplomaten bzw. von offiziellen außenpolitischen Akteuren als Bestandteil grenzübergreifender Handlungsstrukturen.26 Diese Verschiebung der analytischen Schwerpunkte der Diplomatiegeschichte zu einer globalen Geschichte der Diplomatie hat im deutschsprachigen Raum im Begriff der internationalen Geschichte ein Pendant, den prominente Vertreter der Disziplin wie Jost Dülffer und Wilfried Loth bereits Anfang der 2000er Jahre ins Spiel brachten. Sie betonen, dass eine zeitgemäße internationale Geschichte immer auch die »Vernetzung« zwischen »Staaten, Nationen und Gesellschaften« und die »wechselseitige Beeinflussung, Verflechtung, Integration und den Einfluss von Akteuren und Strukturen jenseits der staatlichen Ebene« thematisieren muss.27 Das Narrativ einer von nationalen Rivalitäten und Großmachtpolitik gezeichneten Zwischenkriegszeit mit einem hilflosen und in den 1930er Jahren sehenden Auges machtloser werdenden Völkerbund hat sich in den letzten Jahren als ideales Experimentierfeld angeboten, um eine solche kritische, globalhistorische Kontextualisierung zu versuchen.28 Allerdings haben diese
26 Stephan Mergenthaler: Managing Global Challenges. The European Union, China, and EU Network Diplomacy, Wiesbaden 2015; Thomas Risse-Kappen (Hrsg.): Bringing Transnational Actors Back in. Non-State Actors, Domestic Structures and International Institutions, Cambridge 1995; Margarete E. Keck, Kathryn Sikkink (Hrsg.): Activists beyond Borders. Advocacy Networks in International Politics, Ithaca 1998. 27 Wilfried Loth/Jürgen Osterhammel (Hrsg.): Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Aussichten, München 2000, S. XI bzw. Dülffer/Loth, Dimensionen (wie Anm. 24), S. 2. 28 Susan Pedersen: Back to the League of Nations, in: American Historical Review 112 (2007), S. 1091–1117; Isabella Löhr: Völkerbund, in: Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) Mainz (Hrsg.): Europäische Geschichte Online (EGO), online verfügbar: http://www.ieg-ego.eu/loehri-2015-de (zuletzt abgerufen am: 24. Februar 2020).
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Überlegungen in der Weimar-Forschung bisher kein Gehör gefunden. Die Standardwerke zur Weimarer Republik folgen der klassischen Zweiteilung von Außen- und Innenpolitik mit einem methodischen Schwerpunkt auf staatspolitischer Räson, außenpolitischem Handeln und kabinettdiplomatischen Winkelzügen.29 Dasselbe gilt für die zwei einschlägigen Studien von Joachim Wintzer und Martin Kimmich, die sich explizit mit dem Verhältnis zwischen Völkerbund und Weimarer Republik auseinandersetzen.30 Entsprechend konventionell sind die Themen, an denen sich diese Studien ausrichten: Kriegsschuld und Versailler Vertrag, die Anerkennung Deutschlands als gleichberechtigte Großmacht, Revisionsforderungen mit Blick auf die deutsche Ostgrenze und Reparationszahlungen. Der Völkerbund nimmt in diesen Erzählungen durchaus eine prominente Rolle ein, markierte er doch den permanenten Stein des Anstoßes, der die Lösung außenpolitischer Fragen im Bezug auf den Minderheitenschutz, die internationale Verwaltung des Saarlandes oder der Freien Stadt Danzig erschwerte. Das Verhältnis von Weimarer Republik und Völkerbund wird in dieser Perspektive zumeist in drei Stadien unterteilt: Ablehnung und außenpolitische Krise, schrittweise Annäherung und Beitritt sowie Entfremdung ab ungefähr 1928/1929 im Kontext der Abrüstungskonferenz und der härteren Gangart der deutschen Außenpolitik unter Julius Curtius hinsichtlich der Anerkennung Deutschlands als militärisch gleichberechtigter Großmacht und der Rückgabe der Kolonien.31 Auch wenn diese Studien präzise Analysen des strategischen Kalküls der außenpolitischen
29 Die Enzyklopädie deutscher Geschichte kennt einen Band zu Politik und Gesellschaft der Weimarer Republik von Andreas Wirsching und einen zur Außenpolitik von Gottfried Niedhart. Der entsprechende Band in den Oldenbourg Grundrissen von Eberhard Kolb integriert beide Themenbereiche zumindest in einem Band, nimmt aber auch eine für die Forschung typische Separierung von Außen- und Innenpolitik vor und thematisiert den Völkerbund nur am Rand: Eberhard Kolb/Dirk Schumann: Die Weimarer Republik, 8. Aufl. München 2013; Niedhart, Außenpolitik (wie Anm. 8); Andreas Wirsching: Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft, München 2008. 30 Martin Kimmich: Germany and the League of Nations, Chicago 1976; ders.: Germany and the League of Nations, in: The United Nations Library, The Graduate Institute of International Studies (Hrsg.): The League of Nations on Retrospect. Proceedings of the Symposium organized by The United Nations Library and the Graduate Institute of International Relations, Geneva, 6.–9. November 1980, Berlin 1983, S. 118–127; Wintzer folgt alleine schon durch die zeitliche Beschränkung seines Untersuchungszeitraumes diesem Interpretationsschema: Joachim Wintzer: Deutschland und der Völkerbund 1918–1926, Paderborn 2006. 31 Dieser Dreiteilung folgt auch die ansonsten sehr instruktiv und weitsichtig argumentierende Studie von Krüger, Außenpolitik (wie Anm. 8).
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Akteure, ihrer Handlungsspielräume und der innenpolitischen Konzessionen liefern, die besonders Stresemanns Völkerbundpolitik sind, bleiben sie einer staatszentrierten Perspektive verhaftet, die kontrastiv argumentiert und methodisch national bleibt.32 Um das Ende der Weimarer Republik wissend, definieren sie Revisionismus, internationale Anerkennung und territoriale Integrität als Schlüsselthemen und beschränken sich darauf, die Intensität zu vermessen, mit der der Völkerbund die nationalistische Wende hemmte oder beschleunigte. Die meisten Themen, die die Forschungen zum Völkerbund in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren prägten, spielen dagegen keine Rolle.33
Expertise und Netzwerke: Walther Schücking und die Transnationalisierung des Völkerrechts Wie sehr die Wahrnehmung eines Antagonismus’ zwischen Völkerbund und Weimarer Republik an eine dogmatische Sicht auf den Gegenstand gekoppelt ist, zeigt das Beispiel des Völkerrechts, das oft im gleichen Atemzug genannt wird, wenn vom Scheitern der internationalen Ordnung der Zwischenkriegszeit die Rede ist. Der Begriff des Scheiterns bezieht sich hier auf die bis heute andauernden Schwierigkeiten, staatliche Souveränität in Form einer internationalen Gerichts- oder Schiedsgerichtsbarkeit mit verpflichtendem Charakter
32 Das Schlagwort methodischer Nationalismus hat sich zu einem Schlüsselthema in dieser Diskussion entwickelt. Der einseitige Zuschnitt der Weimar-Forschung hat zumeist mit der Wahl der Quellen zu tun, bei denen Material aus dem Auswärtigen Amt, Parlamentsprotokolle und gedruckte Dokumente des Völkerbunds überwiegen. Diese Quellen fangen zwar Beschlussfassungen und Diskussionen von Regierungen und Parlamenten sowie von Rat und Generalversammlung des Völkerbunds ein, bekommen aber die nicht- oder semi-staatlichen Akteure und Netzwerke gar nicht erst in den Blick. Zu den problematischen Implikationen einer an nationalen Analysekategorien geschulten Quellenauswahl vgl. Sebastian Conrad/Shalini Randeria/Regina Römhild (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, 2. erweiterte Aufl. Frankfurt a. M. 2013. 33 Eine Ausnahme bilden Studien, die sich mit den Plänen einer europäischen Wirtschaftsordnung beschäftigen, die in den meisten Fällen als Rahmen für eine europäische Friedenssicherung gedacht war. Hier spielen die Möglichkeiten des Völkerbunds zur Angleichung nationaler Wirtschaftspolitiken eine Rolle, wenngleich der Blick auf das Scheitern dieser Pläne überwiegt: Nathan Marcus: Austrian Reconstruction and the Collapse of Global Finance, 1921–1931, Cambridge, Mass. 2018; Matthias Schulz: Deutschland, der Völkerbund und die Frage einer europäischen Wirtschaftsordnung 1925–1933, Hamburg 1997.
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zu binden. Obwohl 1922 in Den Haag der Ständige Internationale Gerichtshof eingerichtet wurde, der das Versprechen der Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 auf friedliche Regelung internationaler Konflikte erfüllen sollte,34 gilt die Zwischenkriegszeit in der Literatur als eine Phase, in der das Völkerrecht sichtbar an Boden verlor. Das wird zumeist mit der geringen Bedeutung des Gerichtshofs bei den territorialen Annexionen in den 1930er Jahren begründet und mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, bei denen völkerrechtliche Argumentationen wirkungslos blieben.35 Paradigmatisch für die Ablehnung völkerrechtlicher Ordnungsvorstellungen in der Weimarer Republik steht der 1875 in Münster geborene Völkerrechtler und Pazifist Walther Schücking. In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird Schücking für sein unbedingtes Eintreten für einen völkerrechtlich begründeten Pazifismus erinnert, den er vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg konsequent propagierte.36 Bekannt sind seine Arbeiten zu den Haager Friedenskonferenzen, seine völkerrechtlichen Entwürfe für eine internationale Organisation, sein gemeinsam mit Hans Wehberg 1921 geschriebener Kommentar zur Satzung des Völkerbunds (der bis heute eine gute Einführung in den Völkerbund bietet) und sein Plädoyer für die Aufhebung der Trennung von Kriegs- und Friedensrecht.37 Das visionäre Potential seines rechtlichen Denkens, das in heutigen Diskussionen um einen global constitutionalism widerhallt, und sein politisches Eintreten für seine Konzepte machten Schücking zu einem wichtigen Völkerrechtler des 20. Jahrhunderts. Allerdings gilt er trotz seines internationalen Rufs, der ihm zumindest bis Mitte der 1920er Jahre auch innerhalb der Weimarer Republik politischen Einfluss verschaffte, als randständige Figur. In der Historiographie zu Schücking spiegelt sich der 34 Manley O. Hudson: The Permanent Court of International Justice 1920–1942, New York 1943. 35 Exemplarisch siehe: Stephen Wertheim: The League of Nations: A Retreat from International Law?, in: Journal of Global History 7 (2012), S. 210–232. 36 Mónica García-Salmones: Walther Schücking and the Pacifist Traditions of International Law, in: The European Journal of International Law 22 (2011), S. 755–782; einen sehr guten Überblick zu Schückings Biographie und Werk geben Detlev Acker: Walther Schücking (1875–1935), Münster 1970 und Frank Bodendiek: Walther Schückings Konzeption der internationalen Ordnung. Dogmatische Strukturen und ideengeschichtliche Bedeutung, Berlin 2001. 37 Walther Schücking: Die Organisation der Welt, Tübingen 1908; ders.: Der Staatenverband der Haager Konferenzen, München 1912; ders./Hans Wehberg: Die Satzung des Völkerbunds. Kommentiert, Berlin 1921; eine vollständige Auflistung seines umfangreichen Schrifttums erschien posthum in der Friedens-Warte: Bibliographie der Schriften Walther Schückings, in: Die Friedens-Warte 35 (1935), S. 254–268.
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für die Weimar-Forschung typische Dualismus zwischen nationalen und internationalen Positionen. Auf der einen Seite fehlt in keinem biographischen Abriss die Aufzählung seines breiten internationalen Engagements in der organisierten Friedensbewegung, im Carnegie Endowment for International Peace, zunächst als ad hoc und dann als ordentlicher Richter am Ständigen Internationalen Gerichtshof, als Mitglied des Kuratoriums der Haager Akademie für Völkerrecht, im Kodifikationskomitee des Völkerbunds, als gewähltes Mitglied des Institut de Droit International oder als langjähriger Vorsitzender der deutschen Gruppe in der Interparlamentarischen Union. Auf der anderen Seite wird diese lange Liste seiner internationalen Kontakte in ihrer Bedeutung nicht systematisch reflektiert. Stattdessen findet sich eine weit verbreitete Darstellung seines professionellen Werdegangs, die Schücking primär als deutschen Juristen sieht, der im deutschsprachigen Kontext wenig Wirkung erzielte, weil er mit seinem legalistischen Kurs und seinem Eintreten für die Stärkung internationaler Handlungsstrukturen zwar moralisch wirkte, aber in einem politischen Umfeld, das auf die Revision der Versailler Ordnung schielte, keine politischen Mehrheiten organisieren konnte.38 Schücking befürwortete die Ergebnisse der Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907, deren Ergebnisse sich in der Haager Landkriegsordnung und im 1900 eingerichteten Ständigen Schiedsgerichtshof materialisierten. Da dessen optionaler Charakter und seine fehlenden Entscheidungsbefugnisse Schücking aber nicht weit genug gingen, setzte er sich öffentlich für die Einführung einer obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit ein, der alle Staaten der Welt unterworfen sein sollten.39 Diese legalistische Position teilte er mit US-amerikanischen Juristen, die sich ab 1910 unter Führung von Elihu Root im Carnegie Endowment for International Peace zusammengefunden hatten und die, wie Schücking, in einer obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit den unverhandelbaren Kern einer neuen internationalen Ordnung sahen. 40 Schücking schwebte ein internationaler Staatenbund vor, den er ab 1918 Völkerbund nannte, und der die Regelung internationaler Konflikte ausnahmslos dem Völkerrecht in Form einer gerichtsförmigen Schlichtung überantworten 38 James Brown Scott: Walther Schücking. In memoriam, in: Die Friedens-Warte 35 (1935), S. 180–181; Christian J. Tams: Re-Introducing Walther Schücking, in: The European Journal of International Law 22 (2011), S. 725–739. 39 Ebd., S. 729. 40 Christoph Mauch: Pazifismus als politische Kultur. Die organisierte Friedensbewegung in den USA und Deutschland in vergleichender Perspektive, 1900–1917, in: Ragnhild Fiebig von Hase/Jürgen Heideking (Hrsg.): Zwei Wege in die Moderne. Aspekte der deutsch-amerikanischen Beziehungen 1900–1918, Trier 1998, S. 261–292.
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sollte. 41 Während des Ersten Weltkriegs arbeitete er diese Ideen aus, unter anderem als Mitglied der Zentralorganisation für einen dauernden Frieden, die 1915 einen umstrittenen Friedensversuch unternahm, indem sie Vertreter der Mittelmächte, der Alliierten und der neutralen Staaten nach Den Haag zu einer Konferenz einlud. 42 Während Schücking in dieser Zeit wegen seiner pazifistischen Haltung im Deutschen Reich der Zensur unterworfen war, bewirkte sein Engagement, seine erfolglose Kandidatur für die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei vor 1914 sowie sein rechtspolitisches Eintreten für eine wie auch immer geartete internationale Organisation, dass sein Stern 1918 rasant stieg. 43 Er wurde Mitglied der deutschen Delegation für die Versailler Friedensverhandlungen und arbeitete im Auftrag der neuen Regierung gemeinsam mit Walter Simons und Friedrich Gauss einen alternativen Entwurf für eine internationale Staatenorganisation aus. Dieser Entwurf, der auf Versatzstücke eines Konzeptes zurückgriff, an dem Schücking bereits ein Jahr zuvor für die Deutsche Gesellschaft für Völkerrecht mitgearbeitet hatte, fand bei den Versailler Friedensverhandlungen allerdings keine Resonanz. Das lag vor allem an der kompromisslosen legalistischen Haltung des Entwurfs, der ein Weltparlament, verpflichtende Streitschlichtung bzw. Mediation und kein selbstverständliches Recht auf Krieg vorsah. Trotz der prominenten Rolle, die das Völkerrecht während der Verhandlungen spielte, hatte Schückings Eintreten für eine Weltregierung keine Chance auf Umsetzung. 44 Ab 1918 trat Schücking in der Weimarer Republik für eine internationale Verständigungspolitik ein. Er war Gründungsmitglied der Deutschen Liga für Völkerbund, gehörte 1919 für die Deutsche Demokratische Partei (DDP) der 41 Walther Schücking: Der Weltfriedensbund und die Wiedergeburt des Völkerrechts, Leipzig 1917; ders.: Der Bund der Völker. Studien und Vorträge zum organisatorischen Pazifismus, Leipzig 1918; zu den verschiedenen zeitgenössischen Entwürfen für die Gründung einer Weltorganisation vgl. Glenda Sluga: Internationalism in the Age of Nationalism, Philadelphia 2013, S. 37–39. 42 Acker, Schücking (wie Anm. 36), S. 66–101. 43 Zur bisweilen heiklen politischen Situation von Schücking vor 1918 eine zeitgenössische Einschätzung: Walther Schücking in Marburg. Von einem alten Marburger Studenten, in: Die Friedens-Warte 35 (1935), S. 193–195. 44 Martti Koskenniemi: The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law, 1870–1960, Cambridge 2002, S. 220; zum Scheitern vergleichbarer Pläne der USamerikanischen Legalisten im Umfeld des Carnegie Endowment siehe Mark Mazower: Governing the World. The History of an Idea, 1915 to Present, New York 2013, S. 119– 122 und S. 135–136; zur Bedeutung des Völkerrechts während der Pariser Friedensverhandlungen siehe Marcus Payk: Frieden durch Recht? Der Aufstieg des modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg, Berlin 2018.
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verfassunggebenden Nationalversammlung von Weimar an und saß für sie bis 1928 im Reichstag. 45 Wenige Jahre nachdem Schücking die Leitung des Instituts für internationales Recht an der Universität Kiel übernommen hatte, wurde er 1930 Richter am Ständigen Internationalen Gerichtshof in Den Haag, dem er in den 1920er Jahren bereits in mehreren Verfahren gedient hatte. Der 1922 eingerichtete Gerichtshof, der seine Existenz Artikel 14 der Satzung des Völkerbunds verdankte, bot Schücking einen wirkungsvollen Hebel, um seine Vorstellungen einer völkerrechtlich grundierten internationalen Ordnung zu formulieren. Der Gerichtshof stand fest in der Tradition der Haager Friedenskonferenzen und der dortigen Versuche, die friedliche Regelung internationaler Konflikte auf der Grundlage einer fakultativen oder obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit durchzusetzen. In den Augen vieler Beobachter vergab Schücking allerdings diese Möglichkeit. War er bei den Pariser Friedens verhandlungen bereits innerhalb der deutschen Delegation mit der Art und Weise angeeckt, mit der er an der internationalen Gerichtsbarkeit als einziger politischer Lösung für einen dauerhaften Frieden festhielt, galt dies umso mehr für seine richterliche Tätigkeit in Den Haag. 46 Angesichts der politischen Spannungen im Völkerbund, die während seiner Amtszeit noch zunahmen, blieben seine Stellungnahmen oft doktrinär, weil sie, unbedingt an der Souveränität von Staaten festhaltend, um eine lex ferenda kreisten, also um ein zukünftiges Recht, und keine Rücksicht auf den Umstand nahmen, dass eine solche internationale Architektur in den 1930er Jahren nicht realisierbar war. 47 Als er 1935 in Den Haag starb, sahen viele Nachrufe in Schückings persönlicher Integrität sein eigentliches politisches Vermächtnis, für die seine Weigerung gegenüber den Nationalsozialisten exemplarisch stand, die ihn nach der Machtübernahme – und nachdem sie ihn 1933 von seiner Professur in Kiel entlassen hatten – auf-
45 Zum Prozess der Verfassungsgebung siehe Peukert, Weimarer Republik (wie Anm. 9), S. 46–52. 46 Acker, Schücking (wie Anm. 36), S. 118 f. 47 Interessant ist Koskenniemis Hinweis, dass Schücking die politische Parteinahme seiner Stellungnahmen als solche nicht wahrnahm, genau diese aber seinen Richterkollegen vorwarf: Koskenniemi, Gentle Civilizer (wie Anm. 44), S. 221 f. Eine rechtshistorische Einschätzung von Schückings richterlichen Stellungnahmen gibt Ole Spiermann: Professor Walther Schücking at the Permanent Court of International Justice, in: The European Journal of International Law 22 (2011), S. 783–799. Zur lex ferenda siehe Jost Delbrück: Law’s Frontier–Walther Schücking and the Quest for the Lex Ferenda, in: The European Journal of International Law 22 (2011), S. 801–808.
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gefordert hatten, seinen Richterposten zu räumen, was Schücking mit Verweis auf die politische Unabhängigkeit des Gerichtshofs abgelehnt hatte. 48 Diese Lesart von Schückings Biographie hat ihre Tücken, angefangen mit dem Topos des tragischen Helden über eine durchweg geistes- und dogmengeschichtliche Auseinandersetzung mit seiner Person, die primär über seine Schriften und seine richterlichen Stellungnahmen eingefangen wird, 49 bis zu einem handfesten methodologischen Nationalismus, der die lauten Stimmen in der Weimarer Republik gegen den Völkerbund und eine internationale Verständigungspolitik als Blaupause nimmt, um Schückings Bekenntnis zum Völkerrecht als Abweichung von der Regel zu interpretieren.50 Eine solche Sicht reproduziert zwar vertraute, dennoch wenig hilfreiche Schwarz-Weiß-Bilder von einer um nationale Eigeninteressen kreisenden Weimarer Republik und einer kosmopolitischen, weitgehend wirkungslosen und dem politischen Geschehen entfremdeten internationalistischen Elite. Wenn Schücking aber exemplarisch steht für einen Personenkreis, der in der Zwischenkriegszeit sichtbar an Einfluss verlor, wie können wir dann den Einzug nichtstaatlicher Entitäten und Personen in das Völkerrecht erklären, wie er mit den Petitionsverfahren stattfand, die das Minderheitenschutzsystem und das Mandatssystem des Völkerbunds vorsahen? Und wie können wir den sukzessiven Übergang von Gruppen- zu Individualrechten erklären? Dieser Übergang deutete sich in der Zwischenkriegszeit mit dem Nansen-Pass erstmals an, brach sich 1948 mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und mit dem Übereinkommen über die Rechtsstellung von Staatenlosen 1954 Bahn und erweiterte das bis
48 Tams, Re-Introducing (wie Anm. 38), S. 730–732. Wie tief dieses Vermächtnis in die politischen Kontroversen eingeschrieben war, die die zeitgleiche Formierung des Völkerrechts als wissenschaftlicher Disziplin prägten, und warum Schücking deshalb exemplarisch für »mainsteam international law« steht, erläutert García-Salmones, Pacifist Traditions (wie Anm. 36), S. 761; Ole Spiermann schätzt Schücking trotz dieser Weigerung als einen »national lawyer« ein, der als Richter in Den Haag nationale Souveränität zugunsten Deutschlands verteidigte: Spiermann, Professor Walther Schücking (wie Anm. 47), S. 799. 49 Das gilt für Bodendiek, Schückings (wie Anm. 36) und für die Beiträge im 2011 erschienenen Schwerpunkt zu Walther Schücking der Zeitschrift The European Journal of International Law. 50 Tams, Re-Introducing (wie Anm. 38), S. 733; James Brown Scott sprach deswegen von Schücking als »martyr in his own country [but] a model to the outside world«, vgl. James Brown Scott: In Memoriam. Walther Schücking: January 6 1875–August 25 1935, in: The American Journal of International Law 31 (1937), S. 107.
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dahin um staatliche Souveränität kreisende Völkerrecht um die internationale Rechtsfähigkeit von natürlichen und juristischen Personen.51 Drehen wir die Perspektive um und rücken die Netzwerke, Institutionen und Gremien ins Zentrum, in denen Schücking aktiv war und aus denen heraus sich der Kreis der Juristen rekrutierte, die in der direkten Nachkriegszeit die genannten völkerrechtlichen Innovationen vorbereiteten, ergibt sich ein anderes Bild. Darin erscheint Schücking nicht mehr als gescheiterte Heldenfigur im Haager Exil, sondern als Teil einer grenzübergreifenden law community, die sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg formiert hatte und die sich nach 1919 in den Gremien oder im Umkreis des Völkerbunds erneut sammelte, wo sie das Völkerrecht und die internationale Rechtsentwicklung nachhaltig prägte. Sichtbar wurde dieses Netzwerk anlässlich von Schückings Tod im August 1935. Das offizielle Begräbnis, das die niederländische Regierung für Schücking ausrichtete, war zu einem Zeitpunkt, als der Gerichtshof nur noch selten angerufen wurde, primär ein symbolischer Akt zur Stärkung des Gerichts durch den gastgebenden Staat und die ihn politisch legitimierende Organisation.52 Aufschlussreicher ist deswegen die zu Schückings Tod erschienene Ausgabe der »Friedens-Warte«, die Schücking lange Jahre gemeinsam mit Hans Wehberg herausgegeben hatte. Die Liste von Autoren, die Schückings Person und Werk mal mehr, mal weniger kritisch ehrten, liest sich als Who’s Who des Völkerrechts der Zeit: Victor Henri Rutgers, Charles de Visscher, Nicolas Politis, James Brown Scott, Georges Scelle, Rafael Erich, Gilbert Gidel, Max Huber, Jean Spiropoulos, Christian Lous Lange, Johann-Heinrich Graf von Bernstorff, Paul Guggenheim, Åke Hammarskjöld, der Bruder des späteren UN-Generalsekretärs, oder Ludwig Quidde vertraten ein Ensemble von Institutionen, das von der Friedensbewegung bis zum Kuratorium der Haager Akademie für Völkerrecht und damit von der politischen Praxis bis zur völkerrechtlichen Wissensproduktion reichte.53 Hinter den Namen der Kondulierenden verbarg sich das gesamte Spektrum der Institutionen und Akteure, die in der Zwischenkriegszeit die Sprache, Interaktionsformen und die Themen und damit, um mit Michel Foucault zu sprechen, die Dispositive vorgaben, in denen sich völkerrechtliches Denken und völkerrechtliche Praxis entfalteten.
51 Natasha Wheatley: New Subjects in International Law and Order, in: Sluga/Clavin, Internationalisms (wie Anm. 22), S. 265–285. 52 Die Trauerfeier für Walther Schücking im Haag, in: Die Friedens-Warte 35 (1935), S. 234–239. 53 Die Friedens-Warte 35 (1935).
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Dazu gehörte in erster Linie das Institut de Droit International. 1910 wurde Schücking zunächst assoziiertes, 1921 gewähltes Mitglied des Instituts, das 1873 in Gent unter anderem von Johann Bluntschli gegründet worden war.54 Anders als es sein Name vermuten lässt, bildete das Institut nie eine feste organisatorische Struktur in Form eines Sekretariats mit einer Anschrift oder einem Archiv aus. Bis heute materialisiert sich das Institut in Form von zweijährlichen Konferenzen, auf denen die völkerrechtlichen Entwicklungen der Zeit wissenschaftlich begleitet und konkrete Vorschläge für die Kodifikation bestimmter Rechtsgebiete ausgearbeitet werden mit dem Ziel, die Interaktion zwischen Staaten und Gesellschaften auf ein festes Rechtsfundament zu stellen. Das Institut formierte sich von Beginn an als privater Zusammenschluss von Völkerrechtsexperten. Auf der einen Seite sollte die Arbeit des Instituts das Völkerrecht mit einer wissenschaftlichen Grundlage versehen und tatsächlich trug die Produktion von völkerrechtlichem Wissen maßgeblich zur Akademisierung des Völkerrechts als wissenschaftlicher Disziplin bei. Auf der anderen Seite funktionierte das Institut als eine Art institutionalisiertes Netzwerk europäischer und nordamerikanischer Völkerrechtler. Gemeinsam mit dem zweiten einflussreichen Zusammenschluss von Völkerrechtlern, der International Law Association, zentralisierte es die Interpretationshoheit über zeitgenössische Entwicklungen im Völkerrecht und nahm über die Beratung bzw. Mitarbeit in anderen völkerrechtlich relevanten Organen bisweilen erheblichen Einfluss auf dessen Entwicklung. Praktisch lief das über öffentliche und anschließend publizierte Resolutionen und Beschlüsse, die auf den regelmäßigen Konferenzen gefasst wurden. Mit diesen Resolutionen gab das Institut bis 1945 die Themen, die Sprache und Parameter für den Ausbau des Völkerrechts vor – unter anderen bereitete es so den Haager Abkommen von 1899 und 1907 und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte den Weg.55 Vor diesem Hintergrund war Schückings frühe Berufung zum ordentlichen Mitglied bemerkenswerter. Zu einem Zeitpunkt, als die Mitglieder des Völkerbunds Deutschland den Beitritt verweigerten und deutsche Wissenschaftler von internationalen
54 Hierzu und für das Folgende vgl. Peter Macalister-Smith: Institut de Droit International, in: Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Februar 2011, online verfügbar: http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law9780199231690-e947?rskey=eTYsWw&result=1&prd=EPIL (zuletzt abgerufen am: 25. Februar 2020). 55 Ebd.; Paul De Visscher: La contribution de l’Institut de droit international à la protection des droits de l’homme, in: Le droit international au service de la paix, de la justice et du développement. Mélanges Michel Virally, Paris 1991, S. 215–224.
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Veranstaltungen noch ausgeschlossen waren,56 bedeutete Schückings Berufung die Wiedereingliederung der deutschen Völkerrechtswissenschaft in die internationale Diskussion und damit die Möglichkeit, die internationale Rechtsentwicklung aktiv mitzugestalten.57 Am Institut de Droit International traf Schücking auf Kollegen, die er bereits aus der Vorkriegszeit kannte. Das galt zum Beispiel für die Vertreter des Carnegie Endowment for International Peace, das seit 1913 vom Institut de Droit International beraten wurde und mit dem Schücking bereits vor 1914 zu tun gehabt hatte. Der liberal-pazifistische Vorkriegsinternationalismus, dem sich Schücking in seiner Euphorie für das Haager Vertragswerk von 1899 und 1907 angeschlossen hatte, trug anglo-amerikanische Züge. Das galt besonders für die sogenannten Legalisten, zu denen Schücking zählte, die strikt auf eine Schiedsgerichtsbarkeit anstelle politischer Streitschlichtung setzten. Die Verfechter legalistischer Ansätze versammelten sich ab 1895 auf den Lake Mohonk Conferences on International Arbitration, aus deren Umfeld heraus Andrew Carnegie 1910 das Endowment ins Leben rief.58 Schücking gehörte der 1913 vom Endowment eingesetzten International Commission to Inquire into the Causes and Conduct of the Balkan War an.59 Mit dieser Kommission, die Berichten über Gewalt gegen die Zivilbevölkerung und einen völkerrechtswidrigen Umgang mit Kriegsgefangenen und Verwundeten während der Balkankriege von 1912/1913 nachgehen sollte, betrat das Endowment Neuland. Erstmals sollte eine private, international zusammengesetzte Kommission unter großem Medienrummel das Verhalten von Staaten auf der Grundlage der Haager
56 Zur schrittweisen Wiederaufnahme internationaler Wissenschaftsbeziehungen vgl. Brigitte Schröder-Gudehus: Deutsche Wissenschaft und internationale Zusammenarbeit, 1914–1928. Ein Beitrag zum Studium kultureller Beziehungen in politischen Krisenzeiten, Genf 1966. 57 Von 1925 bis 1927 war Schücking zudem Vizepräsident des Instituts: Bodendiek, Schückings (wie Anm. 36), S. 72 f. Zu Schücking im Institut de Droit International siehe Charles de Visscher: Walther Schücking. L’homme et son oeuvre, in: die Friedens-Warte 35 (1935), S. 176–179. 58 Zur Verankerung des Carnegie Endowment in der amerikanischen Friedensbewegung Helke Rausch: Internationales Recht und Verständigungs-Internationalismus unter Druck. Politische Profile der Carnegie Men im Umfeld des Balkanberichts von 1914, in: Comparativ 24 (2014), S. 29–35. 59 Dieses Engagement wird in den biographischen Studien von Bodendiek und Acker nur am Rand erwähnt. Interessant ist dagegen der Hinweis von Acker, dass Schücking 1912 mithilfe des Endowment ein völkerrechtliches Seminar an der Universität Marburg aufbauen wollte. Er scheiterte aber am Widerstand seiner Kollegen und an fehlenden Finanzmitteln: Acker, Schücking (wie Anm. 36), S. 48.
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Landkriegsordnung untersuchen und Verstöße gegen das internationale Recht öffentlich dokumentieren.60 Schücking reiste nach Serbien, wo er Material sammeln sollte, brach seine Reise aber vorzeitig wegen handfester Auseinandersetzungen mit den serbischen Behörden ab. Trotz dieses Zwischenfalls und obwohl in dem Bericht die Grenzen der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit und der Haager Landkriegsordnung angesichts ethnischer Säuberungen während der beiden Balkankriege anerkannt werden mussten, zeigt diese Episode Schückings feste Verankerung in einem »transatlantischen Netzwerk gleichgesinnter Juristen, Diplomaten und Publizisten«,61 das sich über eine gemeinsame liberal-legalistische Weltsicht konstituierte, die mit dem Endowment über ein politisch einflussreiches Sprachrohr verfügte. Das erklärt nicht zuletzt, warum das Endowment 1918, als die Friedensverhandlungen im vollen Gang waren und um die Form einer neuen internationalen Organisation gerungen wurde, eine englische Übersetzung von Schückings Buch zu den Haager Konferenzen publizierte, in dem er den »Haager Staatenbund« als erste internationale Organisation mit judikativer Funktion interpretierte.62 Nach 1919 konzentrierten Schücking und das Endowment einen großen Teil ihrer Expertise auf den Völkerbund als die Institution, die die je eigene Vision einer internationalen Friedensordnung Realität werden lassen sollte. Anfang der 1920er Jahre geriet diese Vision allerdings in eine Krise, nachdem die Satzung des Völkerbunds eine internationale Ordnung entworfen hatte, die auf politische und soziale Zusammenarbeit setzte, während Gerichte und Schiedsverfahren eine untergeordnete Rolle spielten.63 Bei Schücking kam noch eine tiefe Enttäuschung über die mit dem Völkerbund verknüpften alliierten Sanktionsmaßnahmen gegen die neue Republik hinzu, die bei ihm trotz seines Bekenntnisses zum Völkerbund Protest und Widerspruch auslösten.64 Schücking und das Endowment reagierten auf diesen, in ihren Augen un-
60 Dietmar Müller/Stefan Troebst (Hrsg.): Der »Carnegie Report on the Causes and Conduct of the Balkan Wars 1912/13«. Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte im Völkerrecht und in der Historiographie, Themenheft der Zeitschrift Comparativ 24 (2014), H. 6. 61 Dietmar Müller: Die Balkankriege und der Carnegie-Bericht. Historiographie und völkerrechtliche Bedeutung, in: Comparativ 24 (2014), S. 18. 62 Walther Schücking: The International Union of the Hague Conferences, Oxford 1918; Tams, Re-Introducing (wie Anm. 38), S. 731. 63 Martin Dubin: The Carnegie Endowment for International Peace and the Advocacy of a League of Nations, 1914–1918, in: Proceedings of the American Philosophical Society 123 (1979), S. 344–368. 64 Acker, Schücking (wie Anm. 36), S. 161–166; Walther Schücking: Annehmen oder Ablehnen? Rede in der Fraktion der Demokratischen Partei zu Weimar am 19. Juni 1919.
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günstigen Verlauf der Pariser Friedensverhandlungen unterschiedlich. Wich Schücking seinem Ideal einer legalistischen Weltordnung trotzdem nicht von der Seite, passte das Endowment sich dem Kurs des Völkerbunds unter seinem neuen Präsidenten Nicholas Butler ab 1925 an und entwarf Förderinstrumente, die auf die politischen und sozio-kulturellen Verhandlungsmechanismen der neuen Ordnung zugeschnitten waren.65 Trotzdem teilten Schücking und James Brown Scott, Leiter der International Law Division des Endowment und ein prominenter Völkerrechtler, weiterhin eine Rechtsauffassung. Beide verfolgten einen naturrechtlichen Zugang und hielten am Konzept einer internationalen Gerichtsbarkeit bzw. Schiedsgerichtsbarkeit als zentralem Pfeiler der internationalen Ordnung fest.66 Ein Hebel, diese Rechtsauffassung zu popularisieren, bildete die völkerrechtliche Lehre, die James Brown Scott und Schücking als ordentliche Professoren für Völkerrecht an den Universitäten pflegten. Um aber auch Angehörigen der auswärtigen Dienste oder Praktiker mit den neuesten Entwicklungen des Völkerrechts vertraut zu machen, stiftete das Endowment 1913 in Kooperation mit dem Institut de Droit International und der International Law Association die Mittel für die Gründung der Akademie für Völkerrecht in Den Haag, die ihren Betrieb wegen des Ersten Weltkriegs allerdings erst 1923 aufnahm.67 Im selben Jahr erhielt Schücking den Ruf in das Kuratorium der Akademie, das über die Vergabe der Dozenturen entschied – eine Aufgabe, die er mit einigen der 1935 Kondulierenden teilte. Mit dieser Position vergrößerte Schücking seinen Einfluss auf die disziplinäre und inhaltliche Entwicklung des Völkerrechts einmal mehr. Das hatte mit dem guten Ruf dieser Sommerkurse zu tun, der auf einer exklusiven Auswahl von Dozenten und Kursteilnehmern beruhte. Bereits nach kurzer Zeit hatte die Akademie sich zu einer impulsgebenden Instanz mit politischer Prägekraft entwickelt. Die Themen und völkerrechtlichen Paradigmen,
65 Katharina Rietzler: Fortunes of a Profession. American Foundations and International Law, 1910–1939, in: Global Society 28 (2014), S. 13; Isabella Löhr: »The International Law of the Future«. The Carnegie Endowment and the Sovereign Limits of International Jurisdiction, 1910–1960s, in: Dietmar Müller/Stefan Troebst (Hrsg.): The Carnegie Report on the Causes and Conduct of the Balkan Wars of 1912/13. Philanthropy, Conflict Management and International Law, Wien 2020. 66 Scott, In Memoriam (wie Anm. 50), S. 107–110; Rietzler, Fortunes (wie Anm. 65), S. 11 und S. 15–16. 67 Clemens Feinäugle: Hague Academy of International Law, in: Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Oktober 2010, online verfügbar: http://opil.ouplaw. com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-e1416?rskey=l9Zd sK&result=1&prd=EPIL (zuletzt abgerufen am: 25. Februar 2020).
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die in den Kursen behandelt wurden, stammten entweder aus der Praxis des internationalen Gerichtshofs oder standen in einem direkten Zusammenhang mit den rechtspolitischen Themen, die in den verschiedenen Gremien des Völkerbunds diskutiert wurden. Das Lehrpersonal und die Kuratoriumsmitglieder der Akademie rekrutierten sich aus völkerrechtlichen Netzwerken, die in die Vorkriegszeit zurückreichten und die an den institutionellen Schnittstellen zwischen den verschiedenen völkerrechtlich relevanten Organisationen sichtbar wurden. Diese Kooperationsbeziehungen entfalteten sich nicht entlang nationaler Zugehörigkeit, sondern ihnen war das politische Bekenntnis zum liberalen Internationalismus eigen, der in der Haager Akademie, dem Institut de Droit International, dem Carnegie Endowment, dem Ständigen Internationalen Gerichtshof und im Völkerbund seinen institutionellen Niederschlag gefunden hatte. Innerhalb des Völkerbunds war es das Committee of Experts for the Progressive Codification of International Law, das sogenannte Kodifikationskomitee des Völkerbunds, in dem die Bemühungen zu einer völkerrechtlichen Grundierung der neuen Ordnung zusammenliefen. Der Rat des Völkerbunds berief Schücking Ende 1924 und damit knapp zwei Jahre vor dem deutschen Beitritt gemeinsam mit 16 anderen Völkerrechtlern in dieses Komitee – darunter ein US-amerikanischer Völkerrechtler und damit ein weiterer Repräsentant eines Nicht-Mitgliedsstaates des Völkerbunds.68 Um diese Nominierungspraxis zu verstehen, hilft ein Blick auf die Aufgaben des Kodifikationskomitees. Es war als ständiges Organ vorgesehen und sollte eine Liste mit Themengebieten erstellen, die mithilfe von internationalen Abkommen harmonisiert werden sollten. Alleine dieser Auftrag zeigt, wie fruchtlos der Versuch wäre, eine trennscharfe Unterscheidung zwischen Mitgliedsstaaten und Nicht-Mitgliedern des Völkerbunds aufrechtzuerhalten. Erstens übersähe dies die konstitutive Funktion, die transnationale Expertennetzwerke seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bei allen gesellschaftlichen und politischen Versuchen spielten, grenzüberschreitende Interaktionen und Abhängigkeiten in kalkulierbare Bahnen zu lenken. Zweitens würde ein solcher Ansatz die qualitative Verdichtung von Beziehungen zwischen Individuen, Gruppen und Gesellschaften in demselben Zeitraum herunterspielen
68 Acker gibt den interessanten Hinweis, dass das Kodifikationskomitee als Reaktion auf die Kodifikationsbemühungen der Panamerikanischen Union eingesetzt wurde, denen der Völkerbund nicht hinterhereilen wollte: Acker, Schücking (wie Anm. 36), S. 190 f.
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und damit den Grad der Interdependenz zwischen zwar national verfassten, aber global agierenden Gesellschaften unterschätzen.69 Schückings Berufung in dieses Komitee passte ideal zu seinem Rechtsverständnis, das eine Totalkodifikation des Völkerrechts anpeilte. Allerdings folgte für ihn bald Ernüchterung, weil seine Kollegen seine Vision von der Zukunft des Völkerrechts reserviert aufnahmen. Angesichts der politischen Rahmenbedingungen präferierten sie eine schrittweise Kodifikation der Rechtsgebiete, bei denen ein solches Prozedere sinnvoll und machbar erschien. Die ersten drei Rechtsgebiete, auf denen sich das Komitee ausprobierte, waren die Küstenmeere – ein Thema, über das Schücking promoviert hatte –, das Thema Staatsangehörigkeit und die Haftbarkeit von Staaten.70 Auf der League of Nations Conference for the Codification of International Law 1930 dienten diese drei Themen als eine Art Prüfstein, mit dem das Komitee die Möglichkeiten und Grenzen der Kodifikation des Völkerrechts ausloten wollte.71 Obwohl Schücking mit den gedrosselten Ambitionen des Komitees nicht einverstanden war, brachte er sich in die Vorbereitung der Konferenz als Mitglied des sogenannten Fünfer-Komitees ein, für das er die Berichterstattung über die internationale Handhabung der Küstenmeere übernahm.72 In der rechtshistorischen Literatur wird die Konferenz gemeinhin als Fehlschlag interpretiert. Sieht man von einigen Instrumenten zum Umgang mit Staatenlosigkeit ab, gelangten die drei auf dem Tisch liegenden Themenkomplexe nicht zur Konventionsreife. Die Konferenz hinterließ bei Schücking eine tiefe Enttäuschung über den beschränkten politischen Handlungsspielraum des Kodifikationskomitees, das nach 1931 auch nicht weiter in Erscheinung trat. Das Komitee hinterließ dennoch ein langfristig wirksames Erbe, das der Arbeit der International Law Commission der Vereinten Nationen den Weg wies. Nachdem die Konferenz von 1930 inhaltlich weitgehend folgenlos geblieben war, konzentrierte sich das Komitee nämlich
69 Die neueren Forschungen zum Verhältnis von USA und Völkerbund haben dieses Argument anhand einer dichten Empirie stark gemacht, die die anhaltende und prägende Rolle der USA betonen: Ludovic Tournès: Les États-Unis et la Société des Nations (1914–1946), Bern 2015; Herren/Löhr, Being International (wie Anm. 13). 70 Walther Schücking: Das Küstenmeer im internationalen Rechte (im Völkerrechte, wie im internationalen Privat- und Strafrechte). Eine von der Juristischen Facultät der Universität Göttingen gekrönte Preisschrift, Göttingen 1897. 71 Part 3: The First Conference for the Codification of International Law, in: The American Journal of International Law 41 (1947), H. 4, Supplement: Official Documents, S. 66–93. 72 Bodendiek, Schückings (wie Anm. 36), S. 258 f.; Walther Schücking: Der Kodifikationsversuch betreffend die Rechtsverhältnisse des Küstenmeeres und die Gründe seines Scheiterns, Breslau 1931.
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auf die Erarbeitung von Verfahrensregeln für die Kodifikation des Völkerrechts, die schließlich in die Statuten der International Law Commission einflossen. Sah es auf der einen Seite vor, die Mitsprachemöglichkeiten für Staaten in den verschiedenen Entwurfsstadien einer Konvention auszubauen, legte es genau diese Vorbereitungen in die Hände von Rechtsexperten, die zu diesem Zweck mit nationalen und internationalen wissenschaftlichen Einrichtungen kooperieren sollten.73 Mit der Aufwertung fachlicher Expertise, die internationale Kodifikationsprozesse professionalisieren sollte, griff das Kodifikationskomitee eine Tendenz auf, die sich bereits seit dem späten 19. Jahrhundert in diversen Rechtsfeldern Bahn gebrochen hatte und die der Auslöser dafür gewesen war, dass staatliche Souveränität zunehmend durch den sukzessiven Einzug nichtstaatlicher Akteure und Interessen gerahmt wurde.74 Als Schücking 1930 an den Ständigen Internationalen Gerichtshof berufen wurde, traf er dort auf Kollegen, mit denen ihn in den meisten Fällen bereits eine jahrzehntelange Zusammenarbeit im Institut de Droit International, im Kontext des Carnegie Endowment, in der Akademie für Völkerrecht, im Kodifikationskomitee, in der Interparlamentarischen Union und in verschiedenen anderen völkerrechtlichen oder pazifistischen Organisationen verband. Matti Koskenniemi spricht in seinem Referenzbuch zur Geschichte des Völkerrechts von den 1920er Jahren als dem Ende eines »German internationalism« im Völkerrecht, mit dem er die tiefe Enttäuschung der meisten Vertreter der Disziplin angesichts der engen Bindung der neuen Weltordnung an die als ungerecht empfundenen Bestimmungen des Friedensvertrags beschreibt, was langfristig zu einer primär strategischen Haltung gegenüber dem Völkerbund und einer Schmittschen Besinnung auf die eigene imperiale Agenda geführt habe.75 Die Feststellung, dass nur eine pazifistische Fraktion ein ungebrochenes Verhältnis zum Völkerbund behalten habe, übersieht, dass Völkerrechtler wie Schücking keineswegs isoliert dastanden, sondern Teil eines transatlantischen Netzwerkes waren, dessen politisches Zentrum der Völkerbund bildete. Dieses Netzwerk war durch und durch heterogen, es pendelte zwischen konservativen und progressiven Positionen, argumentierte für einen streng legalisti-
73 Appendix 10: General Recommendations with a View to the Progressive Codification of International Law, in: The American Journal of International Law 41 (1947), H. 4, Supplement: Official Documents, S. 108 f. 74 Milos Vec: Recht und Normierung in der Industriellen Revolution. Neue Strukturen der Normsetzung im Völkerrecht, staatlicher Gesetzgebung und gesellschaftlicher Selbstnormierung, Frankfurt a. M. 2006. 75 Koskenniemi, Gentle Civilizer (wie Anm. 44), S. 236–238.
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schen oder einen politischen Kurs und vertrat das gesamte Spektrum von rechtssoziologischen bis zu naturrechtlichen Ansätzen.76 Jenseits dieser Frage nach Geschlossenheit und Konfliktpotenzial verband die Theoretiker und Praktiker des Völkerrechts allerdings eine gemeinsame Sprache, ein Set von Werten, Erfahrungen und Leitvorstellungen. Diese speisten sich aus der vor 1919 gefassten und nach 1933 weiter wirkenden Überzeugung, dass Frieden und internationale Kooperation nur erreichbar seien, wenn staatliche Handlungsfähigkeit durch die Einbindung in internationale Institutionen und Mechanismen gestärkt würde – auch wenn der liberale Internationalismus mit einer zivilisierungsmissionarischen, mit Kategorien von Rassen operierenden Weltsicht nicht frei von Ungleichheiten und Machtasymmetrien war.77 Für unsere Frage nach dem Verhältnis von Weimarer Republik und Völkerbund spielt es daher keine Rolle, dass Schückings Versuche nicht ausreichten, seine Vision eines völkerrechtlichen Internationalismus an die neuen politischen Gegebenheiten anzupassen. Ausschlaggebend ist vielmehr, dass die politische Handlungsfähigkeit der professionellen Netzwerke, in denen Schücking sich bewegte, die Idee einer normativen Zuweisung völkerrechtlicher Kompetenzen unterliefen. Solche grenzübergreifenden Beziehungsmuster, die Deutschland unwiderruflich einschlossen, werden allerdings nur sichtbar, wenn wir uns außerhalb der für die Weimarer Republik einschlägigen historiographischen Ordnungsmuster bewegen.
Imperial internationalism: Die Weimarer Republik in der Mandatskommission Die Mandatskommission des Völkerbunds führte den Zeitgenossen anschaulich die zweifelhafte Wirkung vor Augen, die formale Gleichberechtigung als Großmacht auf die rechtliche Definition von Souveränität und Staatlichkeit haben konnte. Das Mandatssystem war 1919 eingeführt worden, um die Kolonien, die der Versailler Friedensvertrag Deutschland aberkannt hatte, unter eine neue Aufsicht zu stellen. Die Frage aber, wie genau diese Aufsicht beschaffen sein sollte und wie bzw. ob diese sogenannte Treuhänderschaft sich von kolonialer Herrschaft unterschied, entwickelte sich im Verlauf der 1920er Jahre zur Gretchen-Frage. Am Ende des Jahrzehnts hatte die Arbeit der Mandatskommission 76 Zur fachlichen Ausrichtung US-amerikanischer Völkerrechtler vgl. Hatsue Shinohara: US International Lawyers in the Interwar Years. A Forgotten Crusade, Cambridge 2012. 77 Sluga/Clavin, Internationalism (wie Anm. 22), S. 3.
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die Konsequenzen sichtbar gemacht, die der Einzug internationaler Gremien mit Aufsichtsfunktionen für die Handlungs- und Entscheidungsspielräume von Nationalstaaten hatte. Dabei kam den deutschen Vertretern in der Mandatskommission eine entscheidende Rolle zu. Ging es im vorangehenden Beispiel darum, welche Konsequenzen die Beteiligung nichtstaatlicher Akteure bei der Ausarbeitung völkerrechtlicher Grundlagen für unseren historiographischen Blick hat, dreht sich dieses Fallbeispiel um das Kalkül, mit dem deutsche Regierungsvertreter die Verhandlung delikater politischer Fragen in der verhältnismäßig öffentlichen Atmosphäre in Genf nutzten, um die Souveränitätsansprüche der Mandatsmächte anzugreifen und einem Staatsverständnis den Weg zu ebnen, das seine mehrfachen Abhängigkeiten von internationalen Instanzen, Öffentlichkeit und lokalen Bevölkerungen unterstrich. Für unseren Zusammenhang ist die zivilisierungsmissionarische Rhetorik von Bedeutung, die dem Mandatssystem zugrunde lag. Das neue Moment dieses Systems war die Idee der Treuhänderschaft, die vermeintlich höher zivilisierte Gesellschaften über Gesellschaften ausüben sollten, denen eine vollberechtigte Teilhabe als souveräne Staaten noch nicht zugetraut wurde, denen aber attestiert wurde, dass sie sich in einer soziokulturellen Aufwärtsspirale befänden. Den Mandatsmächten fiel die Aufgabe zu, diesen auf Fortschritt und nationale Autonomie ausgelegten Entwicklungspfad treuhänderisch zu begleiten und anzuleiten.78 Die Mandatskommission operierte mit einem moralischen Anspruch und einer politischen Sprache von Zivilisierungsmission und Entwicklung, die Kolonialismus zumindest rhetorisch als rückwärtsgewandt und nicht mehr zeitgemäß kritisierte. Beides wurde zu einem sensiblen Gradmesser für das Vorgehen der Mandatsmächte. Allerdings erkannten sie nur schrittweise die Auswirkungen, die dieses Vorgehen auf ihre eigenen kolonialen Herrschaftsansprüche und -praktiken hatte. Die koloniale Überformung dieses Konzepts, das den Übergang deutscher und osmanischer Herrschaft in britische, französische, belgische, australische, japanische, neuseeländische und südafrikanische Mandatsverwaltungen markierte, lag dabei für die Zeitgenossen offen zutage. Das unterstreicht einmal mehr die imperiale Denkweise, die den
78 Ausführlich zum Mandatssystem siehe Antony Anghie: Imperialism, Sovereignty, and the Making of International Law, Cambridge 2005; Michael D. Callahan: A Sacred Trust. The League of Nations and Africa, 1929–1946, Brighton 2004; Susan Pedersen: The Guardians. The League of Nations and the Crisis of Empire, Oxford 2015.
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liberalen Internationalismus prägte, aus dessen Geist heraus Woodrow Wilson das Mandatssystem 1918 erstmals skizziert hatte.79 Zwei Forderungen von deutscher Seite während der Verhandlungen in Locarno über den Beitritt zum Völkerbund waren der ständige Sitz im Rat und die Aufnahme der Weimarer Republik in die Mandatskommission des Völkerbunds. Der Verlust der deutschen Kolonien 1919 hatte die junge Republik schwer belastet. Die Alliierten hatten die Enteignung der deutschen Kolonialgebiete mit dem Völkermord an den Herero und Nama 1904 in Deutsch-Südwestafrika begründet, der als Beleg für ein brutales, unzivilisiertes Vorgehen galt und Deutschland als Kolonialmacht diskreditiert hatte.80 Die Gewährung eines deutschen Sitzes in der Mandatskommission schien vor diesem Hintergrund zunächst ein symbolischer Akt, der wie eine Rehabilitierung wirkte, weil der Weimarer Republik nun die Fähigkeit zu einer »verantwortungsvollen« Aufsicht über die eigenen ehemaligen Kolonien zugestanden wurde. Trotzdem gilt die Mandatskommission gemeinhin als eine Art Trostpflaster für den definitiven Verlust des Kolonialreichs, der spätestens mit Locarno besiegelt worden war – ein Umstand, der der kolonialen Lobby bis 1933 allerdings weit weniger in die Hände spielte, als sie es erhofft hatte.81 Da die Rückforderung der Kolonien nach Locarno Ende der 1920er Jahre eine zwar laute, aber unrealistische Forderung war, hat die deutschsprachige Forschungsliteratur ihr Augenmerk auf die verbliebenen Revisionsforderungen wie die sukzessive Reduktion der Reparationen, die Räumung des Rheinlands, die Pläne für eine Deutsch-Österreichische Zollunion und eine immer revisionistischer werdende Außenpolitik unter Brüning gerichtet. Der Mandatspolitik wird angesichts dieser um territoriale Integrität und deutsche »Kerninteressen« kreisenden Themen in der Regel keine Beachtung geschenkt.82
79 Address of the President of the United States, delivered at a Joint Session of the Two Houses of Congress (Wilson’s 14 Points), 8. Januar 1918, in: Franz Knipping (Hrsg.): Das System der Vereinten Nationen und seine Vorläufer. Bd. II: Vorläufer der Vereinten Nationen: 19. Jahrhundert und Völkerbundszeit, Bern 1996, S. 362 und S. 364. 80 Dirk van Laak verweist darauf, dass sich die deutschen Herrschaftsmethoden in den Kolonien nicht grundsätzlich von denen anderer Kolonialmächte unterschieden. Deswegen wäre es bei der Enteignung des deutschen Kolonialreichs 1919 auch darum gegangen, einen »lästigen Konkurrenten loszuwerden«: siehe van Laak, Über alles (wie Anm. 10), S. 107. 81 Der koloniale Revisionismus hatte bei den Zeitgenossen bereits wenige Jahre nach Kriegsende zunehmend an Bedeutung verloren: ebd., S. 109 f. 82 Die Mandatskommission kommt in keinem Standardwerk zur Weimarer Republik zur Sprache, selbst nicht in der thematisch einschlägigen Studie von Martin Kimmich.
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In der englischsprachigen aus der Imperienforschung kommenden Literatur sieht die Lage dagegen anders aus. Hier hat die Mandatspolitik des Völkerbunds eine Renaissance erlebt, die eng mit der Frage nach den Anfängen der Dekolonialisierung verknüpft ist.83 Angesichts des 1945 zügig einsetzenden Zerfalls insbesondere der britischen und französischen Kolonialreiche sieht Susan Pedersen in der Mandatskommission einen wichtigen Baustein, der zur Destabilisierung der Kolonialreiche in der Zwischenkriegszeit beitrug. Aufgrund der politisch und rechtlich offenen Frage, was Treuhandschaft konkret bedeute und in welchem Verhältnis Kolonialreiche und Mandatsgebiete stünden, hatte die Mandatskommission von Beginn an mit Fragen von Souveränität und Hoheitsrechten zu tun, die bis zur deutschen Erweiterung der Kommission 1926 in der Diskussion allerdings weitgehend unangetastet blieben. Wie sensibel diese Themen dennoch für die Mandatsmächte wogen, offenbarte sich 1926, als Austen Chamberlain, der britische Außenminister, die Mandatskommission in einer Sitzung des Rats öffentlich rüffelte, weil sie eine Tendenz aufweise, den Mandatsmächten ihre Herrschaft zu entziehen und sich selbst zu übertragen.84 Vor diesem Hintergrund, so Pedersen, wirke die Vergabe eines Sitzes in der Mandatskommission an einen deutschen Vertreter wie das Zünglein an der Waage, das der Mandatskommission die argumentative Stärke verlieh, die sie benötigte, um koloniale Vereinnahmungen der Mandatsgebiete abzuwehren. Die Präsenz der deutschen Vertreter, so ihr Argument, verschob die Demarkationslinien dessen, was als treuhänderisches Fehlverhalten der Mandatsmächte angemahnt werden konnte, mit massiven Auswirkungen auf die tatsächliche Aufsicht, die die Mandatskommission über die Treuhänder ausübte.85 Das Mandatssystem brachte die treuhänderischen Mächte zügig in Bedrängnis. Auf der einen Seite entwickelte sich das Petitionswesen, das dem Mandatssystem zugrunde lag, zu einem Fallstrick. Es erlaubte lokalen Bevölkerungsgruppen, sich bei Ungleichbehandlung oder wahrgenommenen Missständen, für die mit den Mandatsverwaltungen keine Lösungen gefunden werden konnten, direkt an die Genfer Kommission zu wenden und dort um Intervention zu bitten. Auf der anderen Seite hatte die Mandatskommission immer öfter mit einer anderen zentralen Forderung aus Wilsons 14-Punkte-
83 Taina Tuori: From League of Nations Mandates to Decolonization. A History of the Language of Rights in International Law, Helsinki 2016; Jan C. Jansen/Jürgen Osterhammel: Dekolonisation. Das Ende der Imperien, München 2013, S. 28–32. 84 Pedersen, The Guardians (wie Anm. 78), S. 212. 85 Hierzu und im Folgenden ebd., S. 195–286.
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Programm zu kämpfen, nämlich der Idee einer public oder open diplomacy, die politische Entscheidungen öffentlich treffen und öffentlich rechtfertigen sollte.86 Die Kommission geriet damit zunehmend gegenüber einem in Genf stationierten internationalen Pressekorps in Rechtfertigungsnot und sah sich gezwungen, ihren eigenen treuhänderischen Maßgaben zumindest auf dem Papier treu zu bleiben.87 Dieser Druck zur öffentlichen Rechtfertigung und die Ausstattung der lokalen Bevölkerungen mit Handlungsmacht gegenüber den Mandatsmächten hatte Ende der 1920er Jahre eine folgenreiche Konsequenz. Zwischen 1925 und 1931 wehrte die Mandatskommission drei Versuche der Mandatsmächte ab, Mandatsgebiete dem eigenen Kolonialreich einzuverleiben. Das war erstens ein Vorstoß Belgiens von 1925, sein Mandatsgebiet mit der Kolonialverwaltung für den Kongo zu vereinen. Dem folgte kurze Zeit später ein Streit um die südafrikanische Treuhandschaft, nachdem die südafrikanische Regierung Souveränitätsrechte in Südwestafrika ausgeübt hatte, indem sie die britische Staatsbürgerschaft vergab und die Häfen und Eisenbahnen im Mandatsgebiet der eigenen Kontrolle unterstellte. Schließlich versuchte die britische Mandatsmacht ab 1927, Tanganyika mit ihren Kolonien Uganda und Kenia in einem ostafrikanischen Dominion zu vereinen. Nach minutiösen Auseinandersetzungen innerhalb der Mandatskommission über die rechtliche Bedeutung von Souveränität und Treuhandschaft, an deren Ende alle drei Initiativen abgeschmettert wurden, mussten die Mandatsmächte Anfang der 1930er Jahre öffentlich eingestehen, dass sie keine Souveränität über die Mandatsgebiete ausübten. Damit warf die Mandatspolitik des Völkerbunds die grundsätzliche Frage nach den Parametern imperialer Herrschaft und territorialer Souveränität auf, ohne allerdings eine Antwort geben zu können, wo und bei wem die Souveränität in den Mandatsgebieten denn nun läge.88 Für unsere Frage, inwieweit sich mit dem Völkerbund eine internationale Ordnung etablierte, die sich qualitativ von der Art und Weise unterschied, wie Verhandlungs- und Konfliktlösungsmechanismen in der Vorkriegszeit gestaltet 86 Ebd., S. 362. 87 Eine relativierende Einschätzung der politischen Wirksamkeit des Petitionssystems geben Susan Pedersen: The Meaning of the Mandates System. An Argument, in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 560–582; Natasha Wheatley: The Mandate System as a Style of Reasoning: International Jurisdiction and the Parceling of Imperial Sovereignty in Petitions from Palestine, in: Cyrus Schayegh/Andrew Arsan (Hrsg.): The Routledge Handbook of the History of the Middle East Mandates, London 2015, S. 106–122. 88 Das Problem diskutierten bereits zeitgenössische Völkerrechtler wie zum Beispiel Quincy Wright: Mandates Under the League of Nations, Chicago 1930; Pedersen, The Guardians (wie Anm. 78), S. 204–232.
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waren, ist dieses Dilemma von großer Bedeutung. Susan Pedersen argumentiert, dass alle Großmächte die Chancen, die in diesem Rechtfertigungsmechanismus schlummerten, erstmals nach dem zweitätigen Bombardement von Damaskus durch französische Truppen 1925 und der darauf folgenden Entrüstung in den internationalen Medien erkannten.89 Das galt besonders für Stresemann und das Auswärtige Amt. Stresemann ging es bei der Einforderung eines Sitzes in der Mandatskommission um die Anerkennung des Deutschen Reiches als Großmacht. Aufrüstung, Befreiung von Reparationen und territoriale Integrität waren wichtige Säulen dieser Anerkennung, bedurften in seinen Augen aber einer Ergänzung um die Wiederanerkennung als imperialer Macht. Da Stresemann und seinen Ministerialbeamten allerdings klar war, dass diese Forderung nicht realisierbar war und sie deswegen eine primär nach innen gerichtete Forderung blieb, ergriff er stattdessen die politischen Möglichkeiten, die der Paradigmenwechsel ihm bot, den das Mandatssystem für den europäischen Imperialismus bedeutete – nämlich ein indirekter Zugriff auf die vormaligen Kolonien inklusive Sanktionsmöglichkeiten der imperialen Wettbewerber. Mark Mazower hat für diese Form der Herrschaftsausübung den Begriff des imperial internationalism geprägt. Den Begriff situiert Mazower im Kontext teleologischer oder normativer Interpretationsansätze, die in der sukzessiven Entstehung verschiedener Formen von global, international oder world governance eine positive Entwicklung in Richtung mehr Frieden und Gerechtigkeit sehen. Dagegen setzt er eine Perspektive, die die Gleichzeitigkeit imperialer Herrschaft und internationalistischer Regierungsformen betont und beide in einen engen Zusammenhang setzt. Internationalismus wird hier als Herrschaftsform interpretiert, die im Kontext des Völkerbunds auf den Erhalt der Kolonialreiche setzte. Der Völkerbund, so Mazower, habe mit seiner Wende zu einer Politik von Zivilisierungsmission, Entwicklungsversprechen und der Aussicht auf nationale Selbstbestimmung zwar eine Transformation der Sprache und Formen eingeleitet. Jedoch schlug sich dies nur bedingt auf die kolonialen Praktiken durch, die klar an Kategorien von Über- und Unterlegenheit, Rasse und einer trennscharfen Unterscheidung von Großmächten und kleinen Staaten festhielt.90
89 Ebd., S. 168; zu diesem Konflikt siehe Michael Provence: French Mandate Counterinsurgency and the Repression of the Great Syrian Revolution, in: Schayegh/Arsan, Routledge Handbook (wie Anm. 87), S. 136–151. 90 Mark Mazower: No Enchanted Palace. The End of Empire and the Ideological Origins of the United Nations, Princeton 2008, S. 28–65.
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Bei genauem Hinsehen zeigt sich schnell, dass die Weimarer Republik ebenfalls die Sprache, den Habitus, die politische Praxis und damit das Repertoire des imperial internationalism beherrschte und gezielt für die eigene Rehabilitierung auf internationalem Parkett zu nutzen wusste. Der deutsche Sitz in der Mandatskommission war vor diesem Hintergrund weit mehr als nur ein symbolisches Zugeständnis. Das Auswärtige Amt setzte die Mandatskommission strategisch ein. Einerseits sollte die eigene Position in den ehemaligen Kolonien über eine Teilhabe an allen Initiativen des Völkerbunds gewährleistet werden, die mit der Wirtschaft und den sozialen Lebensbedingungen vor Ort zu tun hatten. Andererseits hatte das Auswärtige Amt die weitreichenden Möglichkeiten erkannt, die diese Form des imperial internationalism bot, um die ehemaligen kolonialen Wettbewerber an eine kurze Leine zu nehmen. Mit dem deutschen Sitz verschob sich das Kräfteverhältnis innerhalb der Kommission zu Ungunsten der verbliebenen Kolonialmächte Großbritannien, Belgien und Frankreich, die in Legitimationsnot gerieten vor den »have-nots«.91 Der deutsche Vertreter in der Kommission sollte erstens strikt auf die Einhaltung des vom Völkerbund vorgegebenen Prinzips der offenen Tür achten und so deutschen Handelsinteressen den wirtschaftlichen Zugriff auf die ehemaligen Kolonien garantieren. Zweitens sollte er durch das Bestehen auf dem treuhänderischen Normenkatalog die imperiale Souveränität der Mandatsmacht vor Ort so weit wie möglich begrenzen und jede Anbindung der Mandate an die jeweiligen Kolonialgebiete verhindern. Dieser Kurswechsel von Revision zu Kontrolle hatte auch mit handfesten ökonomischen Entwicklungen zu tun. Zum einen hatten deutsche Pflanzer und Händler im britischen Teil Kameruns bis 1925 die Bewirtschaftungsrechte für beinahe alle Plantagen wiedererhalten, die sie 1919 verloren hatten. Damit war ein großer Teil der deutschen Wirtschaftsinteressen zumindest im Hinblick auf Kamerun bedient worden; vergleichbare Regelungen waren für Tanganyika in Vorbereitung.92 Zum anderen schien ein deutsches Mitglied der Mandatskommission wünschenswert, um die Beteiligung deutscher Firmen in anderen Mandatsgebieten sicherzustellen. In seiner Sorge um einen politisch blockierten Freihandel schielte das
91 Pedersen, The Guardians (wie Anm. 78), S. 202. Im Jahr 1927 bestand die Mandatskommission aus je einem Vertreter aus Deutschland, der Schweiz, Spanien, Portugal, Japan, Frankreich, Belgien, Großbritannien, den Niederlanden und Italien. 92 Ebd., S. 197. Ausführlich dazu Caroline Authaler: Deutsche Plantagen in British-Kamerun, Internationale Normen und lokale Realitäten 1925 bis 1940, Köln 2018.
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Auswärtige Amt vor allem auf die Alleingänge der Anglo-Persian Oil Company im Irak, der britisches Mandatsgebiet war.93 Hier deutete sich ein Richtungswechsel an, der von politischer Herrschaft und Souveränität über ein klar umrissenes Territorium zu einer Diplomatie wies, die sich im hohen Maß internationalisiert hatte. Imperial internationalism bedeutete, dass die Weimarer Akteure angesichts der vielen Instrumente, die staatliche Souveränität in ein komplexes Geflecht von globalen Interessen und Interdependenzen einbanden, auf ökonomische Durchdringung sowie moralische und völkerrechtliche Definitionshoheit setzen konnten. Exemplarisch dafür stehen die beiden deutschen Vertreter in der Mandatskommission – Ludwig Kastl von September 1927 bis Mai 1930 und Julius Ruppel von Juli 1930 bis Oktober 1933.94 Beide waren vor 1919 in der Kolonialverwaltung auf der mittleren Ebene als Wirtschaftsexperten tätig gewesen. Aber, wie Sean Andrew Wempe argumentiert, bei beiden führte die Auseinandersetzung mit und die Arbeit im Völkerbund zu einer Transformation der Art und Weise, wie sie nationale Interessen artikulierten. Beide distanzierten sich von Beginn an von kolonialen Revisionsforderungen, die sie als nicht realisierbar einstuften, und suchten stattdessen nach neuen Formen, imperiale Herrschaftsausübung für sich zu reklamieren. Diese neuen Formen gaben die zwei zentralen Grundsätze der Mandatspolitik vor – die für die Mandatsgebiete festgelegte Freihandelsdoktrin und die völkerrechtliche Norm, dass die Treuhänder keine Souveränität über die Mandate ausübten. Beide nutzten diese Grundsätze als Hebel, um die Mandatsgebiete für deutsche Wirtschaftsinteressen zu öffnen, die Mandatsmächte über kritische Fragen zu sanktionieren und um die Integrität der treuhänderischen Maßnahmen und damit die zivilisierende Kompetenz der Mandatsmächte in Zweifel zu ziehen. Für unseren Zusammenhang ist dabei von Bedeutung, dass es Kastl, Ruppel und dem Auswärtigen Amt durchaus auf die Infragestellung des Status quo der Pariser Ordnung ankam – aber es ging um eine Revision der Mandatsverhältnisse unter den gegebenen Bedingungen und mit den Mitteln, die der Völkerbund bereitstellte.
93 Sean Andrew Wempe: From Unfit Imperialists to Fellow Civilizers. German Colonial Officials as Imperial Experts in the League of Nations, 1919–1933, in: German History 34 (2016), S. 33 f.; Timothy Mitchell legt in seiner Studie überzeugend dar, wie tief imperiale Praktiken mit der Art und Weise verknüpft waren, wie im Nahen Osten Öl gefördert wurde: Timothy Mitchell: Carbon Democracy. Political Power in the Age of Oil, London 2011. 94 Ausführlich zu Kastl und Ruppel vgl. Wempe, Unfit Imperialists (wie Anm. 93).
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Fazit Als Heinrich Schnee im Februar 1932 in die Mandschurei reiste, fand er sich in guter Begleitung. Mit Ausnahme des italienischen Kommissionsmitglieds Graf Aldrovandi-Marescotti hatten die drei anderen Mitreisenden der LyttonKommission entweder eine Vergangenheit als Kolonialbeamte oder als Befehlshaber von Kolonialtruppen und verfügten über einen reichen Erfahrungsschatz, sobald es darum ging, das gesamte Repertoire kolonialer Herrschafts- und Verwaltungspraxis einem kritischen Blick zu unterziehen. Schnees Teilnahme an dieser Kommission war keine Gefälligkeit an den späteren japanischen Bündnispartner und genauso wenig ein Akt diplomatischer Verlegenheit angesichts der Stimmen im Rat des Völkerbunds, die sich ein deutsches Mitglied in der Kommission wünschten. Schnee trat in der Kommission vielmehr als Vertreter einer wiedererstarkten Großmacht auf, die mit dem Völkerbund über ein mächtiges Instrument verfügte, die Sprache und den Handlungsrahmen für vermeintlich »angemessenes« imperiales Verhalten mit zu definieren. Genau diese Doppelbödigkeit einer auf internationale Verständigung und Zivilisierung ausgelegten Sprache und einem imperialen Großmachtanspruch, die zuvor schon die Arbeit der Mandatskommission charakterisiert hatte, prägte auch Schnee und die anderen Mitglieder der Lytton-Kommission. Die glimpfliche Einschätzung, mit der die japanische Besetzung der Mandschurei in dem Bericht wegkam, spiegelte, wie wenig Nationalismus, kolonialer Revisionismus und die Zustimmung zu internationalen Schlichtungsmechanismen sich in den Augen der Zeitgenossen ausschlossen. Sie bildeten im Gegenteil zwei Seiten derselben Medaille, die in der Stärkung nationaler Agenden durch deren Integration in die Sprache, Normen und Praktiken internationaler Ordnungsmechanismen bestand. Sobald wir die strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen der Politik der Weimarer Republik und dem Internationalismus hervorheben, der sich im Völkerbund ausformulierte, bedeutet dies im Umkehrschluss nicht, dass die sich Anfang der 1930er Jahre verschärfende revisionistische Agenda der Weimarer Republik klein- oder weggeredet wird. Es geht vielmehr darum, zu zeigen, wie tief die globalgeschichtliche Frage nach der qualitativen, weil transformativen Dimension grenzübergreifender Beziehungen zwischen Staaten und Gesellschaften ein Kernthema der internationalen Geschichte berührt, nämlich das Thema der Souveränität und Autonomie von Staaten. Der Völkerbund stand paradigmatisch für einen grundsätzlichen Wandel der internationalen Ordnung. Dieser hatte bereits vor dem Ersten Weltkrieg eingesetzt und erreichte mit dem Völkerbund eine neue Qualität, der sich auch die Außenpolitik der
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Weimarer Republik nicht entziehen konnte. Wie die institutionelle Konsolidierung des Völkerrechts und die Mandatspolitik des Völkerbunds gezeigt haben, geriet staatliche Handlungsfähigkeit ab 1919 in eine Dynamik der Internationalisierung, die sie grundsätzlich veränderte. Carolin Liebisch hat dieses Argument jüngst anhand des späten Osmanischen Reichs weitergeführt. Sie argumentiert, dass sich die Überblendung nationaler Agenden und internationalistischer Praktiken nach 1919 im diplomatischen Werkzeugkasten fest etablierte. Sie zeigt, wie jungtürkische Vertreter der osmanischen Regierung zwischen 1919 und 1923 Internationalismus als Option nutzten, um die international diskreditierte und von den Pariser Friedensverhandlungen ausgeschlossene Regierung in Istanbul wieder ins Gespräch zu bringen. Dabei nutzten sie eine Sprache, die nationalistische Anklänge vermied, indem sie die eigenen nationalen Interessen in universale Prinzipien kleidete, internationale Vergemeinschaftung pries und sich mit allen »Kolonialisierten«, so die Selbstwahrnehmung, solidarisierte.95 In diesem Sinn übersieht eine auf das Thema Revisionismus konzentrierte Lesart des Verhältnisses von Weimarer Republik und Völkerbund, die sich primär an außen- und innenpolitischen Forderungen orientiert, wie sie die Weimarer Zeitgenossen artikulierten, diese fundamentale Verschiebung diplomatischer Legitimations- und Rechtfertigungsmechanismen. Auch wenn der Austritt des dann nationalsozialistischen Deutschlands exemplarisch für die fehlende Verankerung dieser Verschiebungen in den politischen Mentalitäten der Zeitgenossen steht, blieb diese Entwicklung keine Eintagsfliege. Das weite Spektrum von völkerrechtlichem Pazifismus, der einflussreichen Position von Expertennetzwerken, der Aufwertung von Öffentlichkeit und dem offensichtlichen Wert, den selbst hart gesottene Imperialisten wie Schnee grenzübergreifender Kooperation und internationalisierten Legitimationsstrategien zusprachen, verweist auf die neuen Wege, die der Völkerbund einschlug, und die mit den Vereinten Nationen eine Fortsetzung unter dekolonialen Vorzeichen fanden.
95 Carolin Liebisch: Defending Turkey on Global Stages. The Young Turk Reş it Saffet’s Internationalist Strategy in 1919, in: New Global Studies 10 (2016), S. 217–251.
Ingrid Sharp
Die internationale Frauenbewegung und die Weimarer Republik – neue Handlungsspielräume?
Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war in allen Ländern bitter. Der sogenannte Sieg durch Frankreich, Großbritannien und die USA machte weder die Toten wieder lebendig, noch baute er die verwüsteten Landschaften, die Dörfer, Höfe und Städte Nordfrankreichs und Belgiens wieder auf. In Deutschland und in den anderen besiegten Ländern war die Lage besonders schwierig: Die Hungerblockade dauerte bis zum Abschluss des Friedensvertrags weiter an, Kriegsgefangene blieben weiterhin ihrer Heimat entzogen und Reisen waren für Zivilisten ebenso anstrengend wie kompliziert. Auch viele der deutschen und österreichischen Frauen waren durch ihre Kriegsentbehrungen körperlich und geistig geschwächt. Als sich die Frauen der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) nach vier Jahren in Zürich wiedersahen, waren sie wegen des abgemagerten Zustands der deutsch-österreichischen Delegierten geradezu schockiert.1 Obwohl die internationalen Frauenorganisationen aus taktischen Gründen nach außen hin gern den Eindruck eines problemlosen Zusammenfindens propagierten, galten all die Bedingungen, die eine internationale Zusammenarbeit zwischen feindlichen Ländern erschwerten, auch für Frauen, und insbesondere für Frauen in den besiegten Ländern.2
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Gertrud Bussey/Margaret Tims: Pioneers for Peace. Women’s International League for Peace and Freedom, 1915–1965, 2. Aufl. Oxford 1980, S. 30 f.; Annika Wilmers: Pazifismus in der internationalen Frauenbewegung (1914–1920). Handlungsspielräume, politische Konzeptionen und gesellschaftliche Auseinandersetzungen, Essen 2008, S. 188 f. Internationalismus in der Frauenbewegung während der Nachkriegszeit in Bulgarien, Deutschland und Ungarn wird ausführlicher behandelt in Ingrid Sharp/Judit Acsady/ Nikolai Vukov: Internationalism, Pacifism, Transnationalism. Women’s Movements and the Building of a sustainable peace in the Post-War World, in: Ingrid Sharp/Matthew Stibbe (Hrsg.): Women Activists between War and Peace. Europe 1918–1923, London/ New York 2017, S. 77–122.
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Internationale Begegnungen während des Krieges Im Jahr 1914 hatte es außer der Sozialistischen Fraueninternationale (SIW) zwei weitere internationale Frauenorganisationen gegeben: den Frauenweltbund (International Council of Women, ICW, gegründet 1899) und den Weltbund für Frauenstimmrecht (International Women’s Suffrage Alliance, IWSA, gegründet 1904). 1918 waren es dann vier: Nach hitzigen Diskussionen auf dem internationalen Frauenkongress in Den Haag wurde die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit, die IFFF, im Jahr 1915 gegründet.3 Während des Krieges hatte sich die Frauenbewegung überwiegend nach innen gerichtet. Ihre Untergruppierungen hatten nationalpatriotische Kriegsarbeit in den eigenen Ländern geleistet und Mitglieder sich oft zu feindseligen Äußerungen über die Schwestern in feindlichen Ländern verleiten lassen, teils um angesichts der Angriffe von nationalistischer Seite ihre patriotische Gesinnung zu beweisen. In Frankreich machten Mitglieder der national orientierten »Conseil National des femmes françaises« (CNFF) Deutschland eindeutig für den Krieg verantwortlich und gingen konsequent gegen mögliche Pazifistinnen in den eigenen Reihen vor. 4 Die Vorstände des ICW und der IWSA sprachen sich gegen internationale Treffen zur Kriegszeit aus. 1915 distanzierten sich sowohl deutsche als auch französische Zweige der ICW (Bund Deutscher Frauenvereine, BDF, und CNFF) sowie der IWSA (»Deutscher Verband für Frauenstimmrecht« und die »Union française pour le suffrage des femmes«, UFSF) grundsätzlich vom Haager Frauenkongress. Für die Französinnen war die Teilnahme deutscher Frauen an der Veranstaltung maßgebend für ihre Absage – sie unterschieden nicht zwischen den national gesinnten Frauen des BDF und den Pazifistinnen, sondern brachten der gesamten deutschen Frauenbewegung sowie allen Deutschen extremes Misstrauen entgegen.5 Auch nach Kriegsende dauerten diese bitteren Empfindungen an, besonders zwischen Frankreich, Belgien und Deutschland. Die Französinnen der CNFF klagten zum Beispiel die deutschen Frauen an, untätig zugesehen zu haben, 3
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Zum Kongress in Den Haag siehe Wilmers, Pazifismus (wie Anm. 1); Ann Wiltsher: Most Dangerous Women. Feminist Peace Campaigners of the Great War, London 1985; Jane Addams/Emily Balch/Alice Hamilton (Hrsg.): Women at The Hague. The International Congress of Women and Its Results, Neuauflage [1915] Amherst/New York 2003. Wilmers, Pazifismus (wie Anm. 1), S. 169 f. behandelt die Berichterstattung über Pazifistinnen in »La Française«, Organ des CNFF. Vgl. Jane Misme: Le Rôle international des Femmes pendant la guerre, in: La Revue (1. September 1915), S. 442–462, insb. S. 446 f.
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als Frauen und Mädchen in Belgien und in den besetzten Gebieten Nordfrankreichs von deutschen Besatzungstruppen misshandelt und nach Deutschland verschleppt wurden.6 Die CNFF lehnte die Bitte des BDF ab, gegen die Hungerblockade einzutreten, von der Frauen und Kinder besonders betroffen waren. Die Absage, am 30. November 1918 in »La Française« veröffentlicht, machte klar, dass dies als Strafe für ihre Haltung während des Krieges zu verstehen war.7 Im Mai 1919 trafen sich in Zürich Frauen der IFFF zum ersten Mal seit Kriegsende. Obgleich Frauen der alliierten Nationen während der Friedensverhandlungen in Paris anwesend waren,8 blieben Vertreterinnen der besiegten Nationen ausgeschlossen. Das Züricher Treffen bot Gelegenheit, Vorstellungen eines dauerhaften Friedens auszuarbeiten und die Friedensbedingungen des Versailler Vertrags zu kommentieren.9 Belgische Frauen blieben dem Kongress fern, weil die Organisation als pro-deutsch galt und der Züricher Kongress als »Verliererforum« angesehen wurde. Es dauerte bis 1923, bis in Belgien ein Zweig der IFFF gegründet wurde.10 Auch wenn einzelne Mitglieder der Frauengruppen selbst bereit gewesen wären, den deutschen Schwestern die Hände zu reichen, wäre dies angesichts der Gefühlslage in der heimatlichen Bevölkerung kaum möglich gewesen, ohne dort Sympathien einzubüßen.11 Unter diesen Umständen ist die etwas theatralische Geste von zwei führenden Frauen auf dem Kongress gut zu verstehen. Die deutsche Lida Gustava Heymann überreichte der Französin Jeanne Mélin einen Rosenstrauß mit den Worten:
6 Annika Wilmers: Zwischen den Fronten: Friedensdiskurse in der internationalen Frauenfriedensbewegung 1914–1919, in: Jennifer Davy/Karin Hagemann/Ute Kätzel (Hrsg.): Frieden – Gewalt – Geschlecht. Friedens- und Konfliktforschung als Geschlechterforschung, Essen 2005, S. 123–143, hier: S. 129 f. 7 Siehe Wilmers, Pazifismus (wie Anm. 1), S. 188 f. 8 Leila J. Rupp: Worlds of Women. The Making of an International Women’s Movement, Princeton/Chichester 1997, S. 212. 9 Siehe hierzu Erika Kuhlmann: Reconstructing Patriarchy after the Great War. Women, Gender, and Postwar Reconciliation between Nations, New York 2008; dies.: The Womens International League for Peace and Freedom and Reconciliation after the Great War, in: Alison Fell/Ingrid Sharp (Hrsg.): The Women’s Movement in Wartime. International Perspectives 1914–1919, London/New York 2007, S. 227–243. 10 Wilmers, Zwischen den Fronten (wie Anm. 6), S. 129 f.; Wilmers, Pazifismus (wie Anm. 1), S. 187. 11 Ebd., S. 201 ff.
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»›Vergessen wir alles, was unsere Völker trennt, schauen wir nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft, arbeiten wir Frauen für ehrliche Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland.‹ […] Jeanne Melin nahm ihn, tief bewegt schaute sie mich an, legte ihre Hände in die meinen, vor innerer Erregung unfähig zu sprechen, aber ihre Haltung … sprach deutlicher als Worte es vermocht hätten. …In den Augen vieler war diese deutsch-französische Verschwisterung in Zürich 1919 Vaterlandsverrat.«12 Wenn in der IFFF, einer Organisation, die sich von Anfang an als international verstanden hatte und in der Seite an Seite mit Frauen der kriegführenden Länder gearbeitet wurde, eine Zusammenarbeit nach Ende des Krieges mit solchen Schwierigkeiten verbunden war, wie sollten erst recht die national gesinnten Frauen des Frauenweltbundes und des Weltbundes für Frauenstimmrecht je zueinander finden und ein produktives Arbeitsklima wiederherstellen? Im Dezember 1920 versicherte die Präsidentin des ICW, Lady Aberdeen, dem ersten Kongress nach dem Krieg, dass die Organisation den Weltkrieg als eine »ungebrochene Familie« überlebt habe.13 Sie war zuversichtlich, dass Frauen schon als »eine neue und durchaus positive Macht« in die Weltpolitik eingetreten seien. Jedoch scheint hier eher Wunschdenken als Tatsachenwissen aus Lady Aberdeen gesprochen zu haben: Die Wiederherstellung der internationalen Zusammenarbeit war auch für die Frauenorganisationen ein sehr steiniger Weg. Ein Beispiel, das die Schwierigkeiten und Hindernisse dieser Zusammenarbeit verdeutlicht, ist der Fall Dr. Gertrud Bäumer (1873–1954). Die promovierte Pädagogin Bäumer war von 1910 bis 1919 Vorsitzende des BDF, der wichtigsten Dachorganisation der deutschen Frauenbewegung mit etwa 500.000 Frauen in 46 verschiedenen Untergruppierungen. Während des Krieges hatte sie den Nationalen Frauendienst geleitet, der zusammen mit dem Roten Kreuz sämtliche Frauenaktivitäten koordinierte. Ferner veröffentlichte sie ihre patriotische »Heimatchronik« wöchentlich in der evangelischen Zeitschrift »Die Hilfe«, auch schrieb sie regelmäßig für die »Frau«, die von ihr herausgegebenen Monatsschrift des BDF. Nach dem Krieg wurde sie als Abgeordnete und sogar als stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) in die Nationalversammlung gewählt. 1926 war sie Mitglied in Deutschlands
12 Lida Gustava Heymann: Erlebtes, Erschautes, Deutsche Frauen kämpfen für Frieden und Freiheit 1850–1940, Frankfurt a. M. 1992, S. 225. 13 ICW Report 1920, zitiert nach: ICW: Women in a changing World. The dynamic story of the International Council of Women since 1888, London 1966, S. 44.
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erster Delegation für den Völkerbund sowie in Ministerialbeiräten im Bildungswesen.14 Während des Krieges gab sie sich in ihren Schriften national gesinnt und patriotisch und äußerte sich gegenüber dem internationalen Frauenkongress in Den Haag sehr ablehnend. Für sie war er »oberflächlich, unzeitgemäß und unmöglich« und »ein Kongress von beliebig zusammengewürfelten Einzelpersonen«, weit entfernt von den wahren Einstellungen der deutschen Frauenbewegung.15 So erteilte sie der holländischen Kongressorganisatorin Aletta Jacobs auf deren Einladung eine Absage: »[E]s ist uns selbstverständlich, dass während eines nationalen Existenzkampfes wir Frauen zu unserem Volke gehören und nur zu ihm.«16 Im April 1919 hatte Bäumer einen persönlichen Brief von der ehemaligen Vorsitzenden des Frauenweltbundes, May Wright Sewall, erhalten, in dem diese klarzustellen versuchte, »for our ICW there has been no war […]. All of our councils are allied; each equally with all the others.«17 Für Bäumer jedoch war der Krieg zu diesem Zeitpunkt längst nicht vorbei, und sie war alles andere als bereit, internationale Beziehungen wiederaufzunehmen. Im November 1918 hatte der BDF die Bereitschaft deutscher Frauen erklärt, sich »für einen Verteidigungskampf bis zum Äußersten einzusetzen«, falls die Friedensbedingungen gegen die deutsche Ehre verstoßen sollten.18 Im Dezember 1918 beschrieb Bäumer den Waffenstillstand als »Paragraph für Paragraph Ausdruck des einfachen Vernichtungswillens«, der »das Gewaltprinzip in denkbar unverhüllter Brutalität« verkörpere.19 Sie sah den Krieg als eine große Probe, die das deutsche Volk gemeinsam erfolgreich zu bestehen hatte und die zu würdevollem Widerstand verpflichtete:
14 Angelika Schaser: Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft, Köln 2000, S. 214. 15 Siehe Ingrid Sharp: »A foolish dream of sisterhood«. Anti-Pacifist Debates in the German Women’s Movement 1914–1919, in: Christa Hämmerle/Oswald Überegger/Brigitta Bader-Zaar (Hrsg.): Gender and the First World War, Basingstoke 2014, S. 195–213. 16 Brief an Aletta Jacobs, 4. April 1915. 17 Irene Stoehr: Gedämpfte Euphorie. Internationale Frauenkontakte und Friedensaktivitäten der deutschen Frauenbewegung in der Weimarer Republik, in: Susanne Elpers/ Anne-Rose Meyer (Hrsg.): Zwischenkriegszeit. Frauenleben 1918–1939, Berlin 2004, S. 33–58, hier: S. 45. 18 Gertrud Bäumer: Rechtsfrieden?, in: Die Frau 26 (1918), Nr. 2, S. 37–40, hier: S. 38. 19 Dies.: Zwischen den Zeiten, in: Die Frau 26 (1918), Nr. 3, S. 69–72, hier: S. 70.
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»Millionen deutscher Seelen haben einen geistigen Schützengrabenkampf bestanden in diesen Wochen – haben in bitteren Stunden immer von neuem ihre Selbstachtung zurückgewonnen unter dem Trommelfeuer der Demütigungen. Aber dieses Trommelfeuer hat uns einen Dienst geleistet: es hat uns ganz sicher gemacht, dass wir eher das Liebste daran setzen, als unter dem Druck von Friedensbedingungen weiter leben können, die unsere nationale Ehre antasten, die uns der Würde berauben.«20 Ihre ablehnende Einstellung zum Internationalismus war von einer andauernden Kriegsmentalität geprägt, und sie hielt lange an einer national orientierten Sinnstiftung des verlorenen Krieges fest, die eine deutsche Schuld ausschloss: »[D]as festzuhalten, ist ein Gebot der Selbstachtung und eine Pflicht gegen die Toten. Den Weltfrevel dieses Krieges dürfen wir uns nicht zum deutschen Frevel stempeln lassen.«21 Im Februar 1919 hatte sie ihre erste Rede in der Nationalversammlung mit einem Dank an die Soldaten begonnen: »Dieser Dank umfasst jedes Stück Pflichterfüllung, jeden Funken von Mut und Selbstverleugnung und jeden tapferen Tod.« Sie bejahte den »andere[n] Sinn des Krieges, nämlich der Idealismus, der bereit ist, das Leben einzusetzen für etwas, das größer ist als die eigene Person.«22 Die »Frauen des Auslands« hatte sie gewarnt, dass die Erneuerungsarbeit der jungen Bürgerinnen Deutschlands »in Blut und Gewalt ersticken« würden, wenn jene sich nicht für die Aufhebung der Hungerblockade und die Rückgabe deutscher Kriegsgefangener einsetzten.23 Im Dezember 1920 traf sich dann der Weltbund zum ersten Mal seit Kriegsausbruch – aber ohne deutsche Frauen.24 Auch das erste Treffen des Weltbundes für Frauenstimmrecht in Genf hatte im Juni desselben Jahres ohne deutsche Delegierte stattgefunden. Wie Bäumer ihren Standpunkt zu rechtfertigen suchte, zeigt ihre Skepsis gegenüber der internationalen Gemeinschaft deutlich: »Nun sollte der alte Bund wieder geschlossen werden. Wir sind indessen durch Ströme von Blut gegangen, durch Meere von Schmerzen und Sünde. Wer das ganz erlebt hat, dem ist die Wiedererweckung einer so ohn-
20 Bäumer, Rechtsfrieden (wie Anm. 18), S. 39. 21 Bäumer, Zwischen den Zeiten (wie Anm. 19), S. 70. 22 Dies.: Rede zum sozialen Teil des Regierungsprogramms, in: Die Frau 26 (1918), Nr. 7, S. 197–205, hier: S. 197. 23 Ebd. 24 Rupp, Worlds of Women, (wie Anm. 8), S. 26.
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mächtigen und wesenslosen Organisation, wie die alte es war, innerlich unmöglich.«25 Ferner sei es nicht Aufgabe des BDF, »anderen Leuten angenehme Situationen zu schaffen, sondern wir haben unserer Überzeugung Ausdruck zu geben. […] Wir können es nicht ändern, wenn wir dadurch freundliche Illusionen stören müssen.«26 Für Bäumer verlangten die neuen Umstände – jetzt, da die Frauen durch Erlangen des Stimmrechtes auch politisch Verantwortung übernahmen – »anderes als die freundlichen aber nicht sehr tiefen und standfesten Gefühle, die man einander beteuerte.«27 Sie weigerte sich konsequent, an internationalen Treffen teilzunehmen, bis geklärt war, wie die deutschen Frauenvereine sich zum Friedensvertrag positionieren würden. »Wer eine Erneuerung der Völkerbeziehungen im Geist aller tatsächlichen inneren und äußeren Solidaritäten der Völker will, kann nicht an dem UnRecht, dem Un-Sinn von Versailles vorüber. Bleibt es bestehen, dann ist es ein ewiges Hemmnis irgendeines Neuen, das kommen soll.«28 Interessant ist hier erstens das angebliche Interesse der deutschen Regierung, deutsche Vertreterinnen bei diesen ersten internationalen Tagungen dabeizuhaben, um eventuell Einfluss auf alliierte Frauen in deutscher Sache auszuüben, und zweitens der vermeintliche Druck der internationalen Organisationen auf deutsche Frauen, am Kongress teilzunehmen und damit die Frauensolidarität der »ungebrochenen Familie« wiederherzustellen – beides Behauptungen, die Bäumer in ihren Lebenserinnerungen aufstellt.29 War dies ein Versuch, ihrem politischen Engagement nachträglich mehr Bedeutung zu verleihen? Jedenfalls deutet es darauf hin, dass der Widerwille eher vonseiten Bäumers kam: Ihr zutiefst gekränktes Nationalgefühl stand der Wiederherstellung internationaler Beziehungen deutlich im Wege. Erst als der Weltbund sich bereit zeigte, die Bedingungen des Versailler Vertrags öffentlich zu verurteilen, wurde eine Zusammenarbeit wieder denkbar.
25 Gertrud Bäumer: Prinzipienfragen des Frauenweltbundes, in: Die Frau 28 (1920), Nr. 1, S. 1–4, hier: S. 2. 26 Lizzie van Dorp: Eindrücke von dem Internationalen Frauenkongress zu Kristiania, in: Die Frau 28 (1920), Nr. 1, S. 18–21, hier: S. 21. 27 Ebd. 28 Bäumer, Prinzipienfragen (wie Anm. 25), S. 3. 29 Dies.: Lebensweg durch eine Zeitenwende, Tübingen 1933, S. 435.
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1922 war Bäumer endlich bereit, an einem Vortreffen des Frauenweltbunds teilzunehmen. Hier wurde sie trotz ihrer Befürchtungen, Vorurteilen ausgesetzt zu sein, ausgesprochen taktvoll und freundlich aufgenommen. Die deutsche Sprache wurde weiterhin als Kongresssprache beibehalten, und Bäumer fühlte sich sogar »ganz in der alten Weise willkommen«.30 Besonders mit den französischen Frauen fand sie in ihrem gemeinsamen Leiden Verbindendes. Wie sie es ausdrückte: »Wir nur können ermessen, was zwischen uns steht (und uns vielleicht, eben darum, in einem tiefen Sinne, verbindet).«31
Mitarbeit im Völkerbund 1926 wurde Deutschland in den Völkerbund aufgenommen, und Bäumer war Mitglied der ersten deutschen Delegation.32 Durch ihre Mitarbeit in internationalen Gruppen im Völkerbund überwand sie ihre anfängliche Skepsis: Noch im Jahr 1918 hatte Bäumer »kein Vertrauen […] zu einem Völkerbund, der begründet ist auf der zertretenen deutschen Ehre«.33 Später kam sie zur Einsicht, dass das Bündnis durchaus als Basis einer internationalen Zusammenarbeit dienen könne, die auf einer positiven »moralische[n] Kraft« basiere.34 1927 erklärte sie sogar, dass die internationale Frauenarbeit durch den Völkerbund verwandelt worden sei.35 In der Abrüstungsfrage betrachtete sie die ungleiche Behandlung der Mitgliedsstaaten als wesentlichen Makel,36 glaubte aber trotzdem, dass der Völkerbund die Möglichkeit einer rationalen Zusammenarbeit der Nationen bot.37 Sie blieb davon überzeugt, dass der Völkerbund vor allem ein Forum für die Vertretung von nationalen Interessen war, und hatte eine durchaus pragmatische Vorstellung seiner Grenzen und Möglichkeiten: »Es ist keine Frage, dass durch die Existenz des Völkerbundes die Weisheit in der Erfassung solcher Zusammenhänge zugenommen hat, die ganz nüchterne Einsicht, die in der Weltwirtschaftskonferenz zum Ausdruck kam – die 30 31 32 33 34 35
Ebd., S. 436. Ebd. Bäumer, Lebensweg (wie Anm. 29), S. 409–413. Dies., Rechtsfrieden (wie Anm. 18), S. 38. Dies.: Der Völkerbund, in: Die Frau 34 (1926), S. 1–6, hier: S. 4. Dies.: Überlegungen zur internationalen Frauenarbeit, in: Die Frau 25 (1927), S. 586– 591, hier: S. 590. Siehe auch Rupp, Worlds of Women (wie Anm. 8), S. 210–217. 36 Gertrud Bäumer: Bilanz des Völkerbundes, in: Die Frau 36 (1928), S. 68. 37 Ebd., S. 69.
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Bejahung des Internationalismus gerade in der richtigen Erkenntnis der nationalen Interessen.« 38 Nach Artikel 7 der Satzung standen alle Positionen im Völkerbund auch Frauen offen, und so bot er tatsächlich eine völlig neue Möglichkeit für weibliche Partizipation: Frauen aus besiegten Ländern sowie Frauen ohne Stimmrecht in ihren Heimatländern konnten durch ihre Mitgliedschaft in internationalen Organisationen aktiv an der Weltpolitik teilhaben. Alle drei Organisationen waren in Genf präsent, und die IFFF hatte sogar ihren Hauptsitz dort.39 Da trotz Satzung der Frauenanteil in offiziellen Gremien äußerst gering war, war ihre Möglichkeit zur Teilnahme an Lobbying und Interessenvertretung jedoch begrenzt. Die Themen von besonderem Interesse waren u. a. Frauen- und Mädchenhandel, die Nationalität von verheirateten Frauen und Gewalt gegen Frauen – Kriegsgewalt sowie auch häusliche. Besonders die IFFF ließ sich jedoch nicht auf sogenannte Frauenthemen begrenzen und mischte sich auch anderweitig ein. Es war die Leistung der Frauenorganisationen, einerseits sogenannte Frauenthemen überhaupt zum Gegenstand internationaler Politik zu machen und andererseits, dass Frauen auf das Parkett der Weltpolitik traten – zu einer Zeit, in der eine weibliche Beteiligung in der Nationalpolitik noch umstritten war.
Öffentliche Rede in Frankreich, 1926 Vielleicht noch wichtiger als die offizielle Anerkennung Deutschlands durch seine Wiederaufnahme in den Bund der Nationen war für Bäumer ihr erster öffentlicher Auftritt vor einem französischen Publikum von mehr als 3.500 Zuhörerinnen in Paris im Juli 1926. Im Rahmen des Weltkongresses des internationalen Frauenstimmrechtsverbands war sie eingeladen worden, eine Rede über ihre Erfahrungen als Frau in der Politik zu halten: Als Abgeordnete, 38 Ebd., S. 67–69. 39 Zu Frauen und Völkerbund siehe Irmtraud Remme: Die internationalen Beziehungen der deutschen Frauenbewegung vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis 1935, Diss., Freie Universität Berlin 1955; Carol Miller: Lobbying the League. Women’s Organizations and the League of Nations, Diss., University of Oxford 1992; dies.: Geneva – the Key to Equality. Inter-War Feminism and the League of Nations, in: Women’s History Review 3 (1994), Nr. 2, S. 219–245; Susan Pedersen: Back to the League of Nations. Review Essay, in: American History Review 112 (2007), Nr. 4, S. 1091–1117; Rupp, Worlds of Women (wie Anm. 8), S. 217–222.
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Ministerialrätin und internationale Politikerin im Völkerbund war sie eine Seltenheit, vor allem, da französische Frauen noch nicht das Stimmrecht besaßen. Auf Französisch redend, sprach Bäumer von der Liebe, der »Tendresse«, die Soldaten füreinander, selbst für feindliche Soldaten, empfanden. Sie selbst, erklärte sie, empfand das Gleiche für die Frauen in den feindlichen Ländern, die in den Kriegsjahren genau wie die deutschen Frauen gelitten und Vieles geopfert hätten. Diese Gefühle der Liebe und Achtung, meinte sie, müssten in die Friedenszeiten überführt werden: »Man muss daraus ein Ideal entstehen lassen: das Ideal der Wiederaufrichtung des Lebens der Völker im Geiste des Vertrauens. Und ich mache mir sein Bekenntnis zu Eigen, dass diese Ideale wert sind, dass man dafür lebt, und sogar, dass man dafür stirbt.«40 Diese Rede, die Bäumer später als eine »Gratwanderung« beschrieb, löste »Stürme der Zustimmung« aus, und eine französische Delegierte »antwortete sogleich und in tiefster Erregung: ›Sagen Sie unseren deutschen Schwestern, dass dies das wahre Gesicht Frankreichs ist‹«, worauf eine spontane öffentliche Umarmung der beiden Frauen folgte. 41 Bäumer zog aus diesem Erlebnis den Schluss, dass eine solche tiefe Einfühlung mit Menschen anderer Nationen »der heißesten Vaterlandsliebe nicht widerspricht, sondern ganz im Gegenteil mit ihr unlöslich zusammenhängt.«42
Kongress des Weltbunds für Frauenstimmrecht, Berlin 1929 1929 wurde die Tagung des Weltbunds für Frauenstimmrecht aus Anlass seines 25-jährigen Jubiläums in Berlin abgehalten. Sie kann als Höhepunkt der erfolgreichen internationalen Integration deutscher Frauen angesehen werden. Ein Jahr nach dem Briand-Kellogg-Pakt fand die Tagung ein positives Echo in der deutschen Presse und wurde von der Regierung stark unterstützt. Höhepunkt der Feierlichkeiten war eine öffentliche Friedenskundgebung, die die Friedensbestrebungen der Frauenvereine unterstreichen sollte. Bäumers Rede beschrieb ihr persönliches Streben, ihre Liebe zum Vaterland mit ihren internationalen Pflichten zu verbinden, als »de[n] große[n] Entscheidungskampf« 40 Bäumer, Lebensweg (wie Anm. 29), S. 440. 41 Ebd., S. 441. 42 Ebd., S. 440.
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ihres Lebens. 43 Für sie war der Frieden nur als politisches Ziel möglich und nur unter der Bedingung, dass »wir das eigene Lebensrecht der Völker gegenseitig achten, auch da, wo es uns im Wege ist – und dass ihre menschheitliche Verbundenheit trotz aller gewaltigen Spannungen mehr und mehr als eine entscheidende Realität erkannt wird, nicht als ein blasser Traum gilt.«44
Hindernisse auf dem Weg zur internationalen Zusammenarbeit Zu den Problemen der internationalen Integration kamen auch innere Barrieren, die auf Bäumers Weg zum Internationalismus überwunden werden mussten. Internationale Verständigung unter den ungerechten Friedensbedingungen und der Schmach der Kriegsschuldlüge galt für rechtsstehende Parteien als Landesverrat. Bäumer wurde daher besonders stark von nationalistischen Frauen innerhalb Deutschlands als »undeutsch« angegriffen. 45 Nachdem sie 1927 ihre einfühlsamen Betrachtungen über einen Besuch auf einem französischen Soldatenfriedhof in der »Frau« veröffentlicht hatte, wurde ihr in einem offenen Brief vorgeworfen, sie beschmutze die Erinnerung an die gefallenen deutschen »Helden«, und sie empöre alle Frauen, die ihr teuerstes Gut durch französische Hände verloren haben: »Wer gibt Ihnen, Gertrud Bäumer, das Recht, in diesem Ton vor aller Welt zu verleugnen und herabzuwürdigen, was, mit dem Gottesglauben und der Zukunft unserer Kinder, unser höchstes Frauenheiligtum ist, das Gedenken an unsere Gefallenen? Woher nehmen Sie den kalten Mut, Ihren Schwestern, die die Kraft zum Tragen ihrer Kriegswunden aus dem Glauben an
43 Gertrud Bäumer: Ansprache bei der Friedenskundgebung des Weltbundes für Frauenstimmrecht, Berlin 1929, in: Die Frau 37 (1929), S. 681–683, hier: S. 681 f. 44 Ebd., S. 681. 45 Siehe dazu Raffael Scheck: Mothers of the Nation. Right-wing Women in Weimar Germany, Oxford 2004; Christiane Streubel: Radikale Nationalistinnen. Agitation und Programmatik rechter Frauen in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M./New York 2006; dies.: Raps across the Knuckles. The Extension of War Culture by radical Nationalist Women Journalists in post-1918 Germany, in: Ingrid Sharp/Matthew Stibbe (Hrsg.): Aftermaths of War. Women’s Movements and Female Activists 1918–1923, Leiden 2011, S. 69–88.
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den heiligen Sinn des Todes fürs Vaterland schöpfen, diesen Glauben mit solchen Worten zu bemakeln?«46 In dem Artikel hatte Bäumer ihr Mitleid mit den toten Feinden beschrieben und sie mit den Gefallenen des eigenen Landes verglichen. Noch schlimmer: Sie hatte den Heldentod der Soldaten beider Länder als sinnlos verurteilt und damit den Sinn des Krieges überhaupt in Frage gestellt. 47 Das Beispiel Bäumers zeigt, dass Frauen der besiegten Nationen trotz der geschildeterten Schwierigkeiten durch ihre Mitgliedschaft in den internationalen Frauenorganisationen etwas Spielraum auf internationaler Ebene gewannen. Rückblickend erkannte Bäumer, dass die internationalen Frauenverbände »fast die einzigen internationalen Verbände gewesen [seien], die damals die Kriegspolitik gegen Deutschland nicht in den Frieden weitergeführt haben«. 48 In »Worlds of Women« von Leila Rupp erfahren wir, dass deutsche Frauen zwischen 1920 und 1934 in allen drei Organisationen durchgehend in den Vorstand gewählt wurden. Nach 1934 verschwanden deutsche Frauen zwar aus dem Vorstand des Weltbundes, aber nicht aus den anderen zwei Frauenvereinigungen. Dabei dürfen wir jedoch nicht vergessen, dass es andere Organisationen gab, aus denen deutsche und österreichische Frauen lange ausgeschlossen blieben, und dass deutsche Frauen durch die krisenhaften wirtschaftlichen und politischen Bedingungen im Heimatland in ihrer internationalen Arbeit stark beeinträchtigt waren. 49 Die rasende Inflation der Nachkriegszeit machte die Reisekosten für Tagungen und sogar die Korrespondenz mit dem Ausland unerschwinglich. Dazu kam noch lange nach Kriegsende das Risiko, in fremden Städten als Deutsche erkannt und angepöbelt zu werden, wie es 1924 in Washington noch der Fall war. 1923 hatte eine geplante Tagung der Frauenstimmrechtsbund von Paris nach Rom verlegt werden müssen, weil für die Sicherheit deutscher Delegierter in der französischen Hauptstadt nicht garantiert werden konnte.50 46 Gertrud Bäumer: Parteifanatismus über Gräber, in: Die Frau 35 (1927), S. 666–672, hier: S. 666. 47 Ebd., S. 666 f. 48 Bäumer, Lebensweg (wie Anm. 29), S. 435, Hervorhebung im Original. 49 Siehe hierzu: Christine von Oerzen: Science, Gender and Internationalism. Women’s Academic Networks, 1917–1955, Basingstoke 2014, S. 58; Kimberly Jensen: War, Transnationalism and Medical Women’s Activism. The Medical Women’s International Association and the Women’s Foundation for Health in the Aftermath of the First World War, in: Women’s History Review 26 (2017), Nr. 2, S. 213–228. 50 Rupp, Worlds of Women (wie Anm. 8), S. 115 f.
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Emotionen Prägend für die internationale Zusammenarbeit der Frauen und die Überwindung der Ressentiments waren ein äußerst gefühlsbeladener Diskurs sowie öffentliche, versöhnende Gesten. Die internationalen Frauen waren nicht naiv, und das Gebot, den Frauen der feindlichen Länder »Liebe« zu zeigen, sollten wir weniger als Gefühlsduselei und vielmehr als bewusste Strategie zur Überwindung der Bitterkeit ansehen, die sonst zu erneuten Konflikten hätte führen können. Die Liebe, die von Mitgliedern der internationalen Gruppen verlangt wurde, war nicht unbedingt mit Gefühlen verbunden, sondern bezog sich auf eine Art miteinander umzugehen, die möglichst konfliktvermeidend wirkte und bewusst Aggressionen abbaute. Die vorsichtig inszenierten Feierlichkeiten der IFFF sollten also die Probleme nicht vertuschen, sondern überwinden. Indem sie Verbindendes statt Trennendes betonten, waren diese Gesten ein sehr wichtiger Aspekt der Versöhnung, wobei ständig vor Augen gehalten werden musste, dass erstens Frauen Opfer eines Männerkrieges gewesen waren, auf dessen Durchführung Frauen keinen Einfluss hatten, und zweitens, dass der wirkliche Feind nicht die Soldaten – erst recht nicht ihre Frauen und Mütter – waren, sondern der Krieg, den es gemeinsam zu bekämpfen galt. Sie setzten bewusst Rituale der Versöhnung und einen Diskurs des gemeinsamen Opfertums ein, um trotz gewaltiger nationaler und persönlicher Ressentiments eine enge Gemeinschaft aufzubauen.51
Friedensversuche Besonders die IFFF und der Weltbund für Frauenstimmrecht machten sich durch Lobbying und Kongresse auf internationaler Ebene für den Frieden stark. Angesichts der neuen Waffen und Kriegsstrategien, die im Ersten Weltkrieg gegen die zivile Bevölkerung angewendet worden waren, engagierten sich Frauen besonders intensiv für die allgemeine Abrüstung. Sie setzten sich gegen Giftgas und die Entwicklung anderer chemischer Waffen ein. Insbesondere war der Gedanke an einen Luftkrieg in Kombination mit chemischen Waffen ein Albtraum für Frauen, weil dadurch wehrlose Zivilistinnen in die Schusslinie gebracht wurden.
51 Ebd., S. 118; Bussey/Tims, Pioneers for Peace (wie Anm. 1), S. 30; Wiltshier, Most dangerous Women (wie Anm. 3), S. 210 f.
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In den 1930er Jahren war das Ziel ihrer Hoffnungen die internationale Abrüstungskonferenz, in der sogar vier Frauen als Delegierte mit vertreten waren. Eine zu diesem Anlass formulierte Frauenpetition wurde weltweit von mehr als acht Millionen Frauen unterschrieben. Nach dem Scheitern dieser Abrüstungskonferenz war Bäumer – wie viele andere auch – völlig desillusioniert. Innenpolitische Entwicklungen und die wachsende Stärke rechtsextremer Frauenorganisationen in Deutschland erschwerten erneut das Mitwirken deutscher Frauen an internationaler Zusammenarbeit, obwohl einzelne im Exil weiterhin aktiv blieben. 1933 befanden sich die führenden Funktionärinnen des IFFF, Lida Gustava Heymann und Anita Augspurg, in der Schweiz. Da sie sich ganz oben auf der Liste »staatsfeindlicher Elemente« wussten, verzichteten sie auf sämtliche zurückgelassene Papiere, auf Hof und Besitz. Sie blieben dort bis zu ihrer beider Tod, der Heymann im Juli 1943 und Augspurg im Dezember 1943 ereilte. Gertrud Bäumer blieb in Deutschland und musste zum zweiten Mal in ihrem Leben einen Weltkrieg erleben. Sie passte sich äußerlich dem neuen Regime an, fungierte weiterhin als Redakteurin der Zeitschrift »Die Frau« bis zu deren Einstellung im Jahr 1944. Diese (Fehl-)Entscheidung führte zu einer äußerst umstrittenen und schwierigen Rehabilitation auf nationaler und internationaler Ebene nach 1945.52
52 Siehe dazu Schaser, Lange und Bäumer (wie Anm. 14), S. 344–348; Bäumer selbst verteidigt ihre Position in Gertrud Bäumer: In eigener Sache (März 1947), in: dies.: Des Lebens wie der Liebe Band, Tübingen 1956, S. 339–344.
Maren Möhring
Die »Welt in einem Haus« Der Berliner Unterhaltungs- und Gastronomiekomplex »Haus Vaterland« in der Weimarer Republik
Die kommerzielle Vergnügungsindustrie gilt als ein Signum der Moderne. Zum großstädtischen Flair gehörte seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in jedem Falle eine vielseitige Unterhaltungskultur. Nicht nur entstand die moderne Massenkultur in den Städten; sie prägte diese auch maßgeblich. Bis zur Durchsetzung des Kinos gehörten massenkulturelle Unterhaltungsformate wie Panoramen, Völkerschauen oder Don-Kosakenchöre auf Tournee zu den oft einzigen Optionen, »fremde Welten« zu erfahren.1 Die moderne Massenkultur schuf einen neuartigen Zugang zu dem, was als »Welt« imaginiert, inszeniert und erlebt wurde. Mit der Vergnügungskultur entstanden eigens zum Zwecke des Erlebens der Welt geschaffene Räume, die im Folgenden im Fokus stehen sollen. Auch wenn Massenkultur zunächst stark von den städtischen Unterschichten geprägt war, adressierte sie prinzipiell doch alle sozialen Schichten und war in diesem Sinne keine Klassenkultur mehr.2 Massenkultur beförderte die kulturelle Partizipation immer größerer Teile der Gesellschaft und hatte in diesem Sinne durchaus eine inkludierende Funktion. Gleichzeitig fanden, insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg, vielfältige soziale Differenzierungen im Unterhaltungsangebot statt, das sich zusehends nach Genres und Veranstaltungsorten aufspaltete. Dennoch war die Massenkultur sozial nicht eindeutig kodierbar, und sie ließ sich auch national nicht umstandslos einhegen. Sie war – betrachtet man die Unternehmerseite, die auftretenden Artist/innen, aber auch das Servicepersonal – transnational und transregional breit vernetzt. Die Herausbildung grenzüberschreitender Unterhaltungsmärkte, welche die Großstädte
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Für einen Einblick in das massenkulturelle Angebot jenseits der Metropolen siehe Nora Bischoff: Die Modernisierung der Provinz – die Stadt Kassel zwischen Varieté und Tonfilmtheater (1900–1930), in: Jens Flemming/Dietfried Krause-Vilmar (Hrsg.): Kassel in der Moderne, Marburg 2013, S. 648–678, hier: S. 648 f. Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970, 4. Aufl. Frankfurt a. M. 2007.
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Maren Möhring
verschiedener Länder und Erdteile über transnationale und transregionale Tourneerouten verbanden, führte zur Etablierung einer zunehmend kosmopolitischen Metropolenkultur, an der auch Minderheiten und Neuankömmlinge teilhaben konnten. Jüdische und migrantische Unternehmer/innen und Künstler/innen sowie Servicepersonal, das Minderheiten angehörte oder aus dem Ausland stammte, bildeten einen integralen Bestandteil dieser neuen Unterhaltungsindustrien. Nicht zuletzt diese beiden Faktoren, i. e. der soziale und nationale Grenzen überschreitende Charakter der modernen Vergnügungskultur, machten sie zu einem stark umkämpften, um Legitimität ringenden Feld, das massiver Kritik von verschiedener Seite ausgesetzt und mit moralischen, aber auch nationalistischen und rassistischen Anfeindungen konfrontiert war. Der Erste Weltkrieg markierte einen entscheidenden Einschnitt in der Geschichte der modernen Massenkultur. Das Kapital ausländischer Investoren stand unter Zwangsverwaltung, so dass diverse Betreibergesellschaften nicht mehr handlungsfähig waren3 und die Räumlichkeiten oft anderen Nutzungszwecken zugeführt wurden. Zudem brachen etablierte Tournee-Routen ab, die auch nach Kriegsende nur partiell wiederaufgenommen wurden – nicht zuletzt auch, weil Krieg und Inflation die ökonomischen Ressourcen vieler Kulturunternehmer zunichtemachten. Trotzdem entwickelte sich spätestens ab Mitte der 1920er Jahre ein lebhaftes Kulturleben, allen voran in Berlin. 4 Auch wenn mit dem Ersten Weltkrieg Breite und Intensität der Kontakte zum Ausland abnahmen, blieben Internationalität und Weltläufigkeit ein Muss auf dem Vergnügungssektor – zumindest bis 1933. Das 1928 eröffnete »Haus Vaterland« in Berlin, »Deutschlands größter Vergnügungspalast«5, ist ein beredtes Beispiel für die Ambivalenzen von Öffnung und Schließung in einer durch den Ersten Weltkrieg dramatisch veränderten Welt.
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Für den Lunapark in Berlin-Halensee zeigt das Johanna Niedbalski: Vergnügungsparks, in: Daniel Morat/Tobias Becker/Kerstin Lange/Johanna Niedbalski/Anne Gnausch/Paul Nolte (Hrsg.): Weltstadtvergnügen. Berlin 1880–1930, Göttingen 2016, S. 153–144, hier: S. 175. Zudem wurde der zweite Geschäftsführer der Luna-Park GmbH, der Engländer Robert Forbes, in Spandau inhaftiert (vgl. ebd.). Zur nur kurzzeitigen Unterbrechung der dynamischen Entwicklung auf dem Tanzsektor siehe Kerstin Lange: Tanzvergnügen, in: Morat et al., Weltstadtvergnügen (wie Anm. 3), S. 74–108, hier: S. 92. Anzeige Haus Vaterland, abgedruckt in: Baedekers Berlin. Kleine Ausgabe, Leipzig 1933, S. 10.
Die »Welt in einem Haus«
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Zwischen Nationalisierung und Internationalisierung – vom »Café Piccadilly« zum »Haus Vaterland« Der Gebäudekomplex am Potsdamer Platz, in dem sich ab 1928 das »Haus Vaterland« befinden sollte, war 1911/12 von Franz Heinrich Schwechten als markanter Kuppelrundbau entworfen worden und beherbergte zunächst – neben einem Bierlokal und einem Lichtspieltheater – das »Café Piccadilly«, das sich über zwei Stockwerke erstreckte und Platz für 2.500 Gäste bot.6 Es war seinerzeit das »pompöseste Café Berlins«, das »in Marmor und Mosaiken« erstrahlte und »von Lichtfülle durchflutet« war.7 50.000 Glühbirnen beleuchteten den Saal, der von vier Kapellen in Sechsstunden-Schichten, also rund um die Uhr, bespielt wurde.8 Im Ersten Weltkrieg erfolgte die Umbenennung des Cafés in »Vaterland«, schien der Name »Piccadilly« angesichts des Krieges gegen Großbritannien doch nicht mehr annehmbar.9 Auch in der Weimarer Republik blieb das »Café Vaterland« ein »Wahrzeichen« und »das größte und modernste in Berlin«.10 Nachdem der Gebäudekomplex nach dem Ersten Weltkrieg zunächst in die Hände der UFA übergegangen war, die hier bereits seit längerem Büroräume besessen hatte, wurde er alsbald von der Filmgesellschaft abgestoßen und 1927 an die »Bank für Grundbesitz und Handel« verkauft. Die neue Eigentümerin wollte ein lukratives Unterhaltungsetablissement errichten und engagierte dafür den international bekannten Wein- und Lebensmittelhändler Kempinski, dessen Name für bezahlbaren Luxus stand.11 Das Engagement Kempinskis ist im Kontext der Konzentrationsprozesse zu betrachten,
6 Manfred A. Pahlmann: Haus Vaterland. Köthener Straße 1–5, Ecke Stresemannstraße o. Nr. (vormals Königgrätzer Straße 15/16) in: Helmut Engel/Stefi Jersch-Wenzel/Wilhelm Treue (Hrsg.): Tiergarten (Geschichtslandschaft Berlin – Orte und Ereignisse, Bd. 2), Berlin 1989, S. 198–206, hier: S. 200. 7 Berlin für Kenner. Ein Bärenführer bei Tag und Nacht durch die dt. Reichshauptstadt (Großstadtführer für Kenner; Bd. 1), Berlin [1913], S. 60. 8 Michael Sontheimer: Haus Vaterland, in: Kursbuch 89 (1987), S. 63–76, hier: S. 63. 9 Vgl. Peter Lummel: Erlebnisgastronomie um 1900. Das »Haus Vaterland« in Berlin, in: Herbert May/Andrea Schilz (Hrsg.): Gasthäuser. Geschichte und Kultur (Arbeit und Leben auf dem Lande; Bd. 9), Petersberg 2004, S. 193–206, hier: S. 196. 10 O. V.: »In einer kleinen Konditorei …«, in: Berolina. Das Magazin der Kempinski-Betriebe, H. 7 (Mai 1930), o. S. 11 Bericht der Deutschen Revisions- und Treuhand-Aktiengesellschaft Berlin über die bei der o. H. G. M. Kempinski & Co., Berlin, vorgenommene Prüfung des Jahresabschlusses zum 30. Juni 1934, BArch Berlin, R 8135/1686, Bl. 45; Lummel, Erlebnisgastronomie (wie Anm. 9), S. 196f; Pahlmann, Haus Vaterland (wie Anm. 6), S. 201.
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die in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre das Gaststätten- und Hotelgewerbe erfassten und unter anderem auch zu kartellartigen Absprachen führten.12 Unter Leitung des Architekten Carl Stahl-Urach (1879–1933) wurde der Gebäudekomplex in eine sich über vier Etagen erstreckende Großgaststätte verwandelt und erhielt den Namen »Haus Vaterland – Betrieb Kempinski«. Kempinski übernahm exklusiv die Belieferung der im Komplex befindlichen Gaststätten mit Lebensmitteln und Getränken.13 Keine der neuen massenkulturellen Attraktionen kam ohne den Verkauf von Speisen und Getränken aus; Essen und Trinken stell(t)en eine zentrale, aber bisher erst in Ansätzen erforschte Dimension moderner (Vergnügungs-)Kultur dar. Während sich die historische Forschung intensiv mit den Folgen der Industrialisierung für die Ernährung14 und hier vor allem auch mit der Gemeinschaftsverpflegung in Kantinen befasst hat,15 harren zahlreiche Aspekte des außerhäuslichen Nahrungskonsums und insbesondere die Geschichte kommerzieller Verpflegungsstätten noch der Aufarbeitung. Das »Haus Vaterland« bot ein weitläufiges Ensemble aus verschiedenen und aufwändig ausgestatteten Gasträumen (Abb. 1), die »Stimmung und Landeskolorit berühmter und beliebter Gegenden« aufzurufen suchten. Das geschah »durch Einrichtung und Ausstattung, durch landesübliche Bedienung, Getränke und Speisen, durch wirkungsvolle Panoramen, Beleuchtungseffekte usw.«, wie es in der Deutschen Bauzeitung vom Mai 1929 hieß.16 Ausgestattet mit der seinerzeit wohl größten Gasküchenanlage Europas, die im Dachgeschoss untergebracht und mit Paternosteraufzügen mit den vier weiteren Büffetküchen verbunden war, versorgte das »Haus Vaterland« bis zu eine Million Gäste pro Jahr.17
12 Z. B. mit der Aschinger AG; vgl. Elfi Pracht: M. Kempinski & Co., Berlin 1994, S. 65 und S. 70. 13 Lummel, Erlebnisgastronomie (wie Anm. 9), S. 196 und S. 193. 14 Vgl. Hans Jürgen Teuteberg/Günter Wiegelmann: Der Wandel der Nahrungsgewohnheiten unter dem Einfluß der Industrialisierung, Göttingen 1972; Hans Jürgen Teuteberg (Hrsg.): Die Revolution am Esstisch. Neue Studien zur Nahrungskultur im 19./20. Jahrhundert (Studien zur Geschichte des Alltags; Bd. 23), Stuttgart 2004. 15 Jakob Tanner: Fabrikmahlzeit. Ernährungswissenschaft, Industriearbeit und Volksernährung in der Schweiz, 1890–1950, Zürich 1999; Ulrike Thoms: Anstaltskost im Rationalisierungsprozeß. Die Ernährung in Krankenhäusern und Gefängnissen im 18. und 19. Jahrhundert (Medizin, Gesellschaft und Geschichte: Beiheft; Bd. 23), Stuttgart 2005; Alice Autumn Weinreb: Matters of Taste. The Politics of Food and Hunger in Divided Germany 1945–1971, Diss. Univ. of Michigan 2009. 16 Einleitender Passus der Schriftleitung zum Aufsatz von A. Wedemeyer: Haus Vaterland – Eine Grossgaststätte in Berlin, in: Deutsche Bauzeitung Nr. 38 (11. Mai 1929), S. 337–344, hier: S. 337. 17 Ebd., S. 341; Pahlmann, Haus Vaterland (wie Anm. 6), S. 203.
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Abb. 1: Aufriss des »Haus Vaterland« aus der Werbebroschüre zur Eröffnung 1928. (Faksimile-Nachdruck, Braunschweig: Archiv Verlag, 1987, o. S.)
In den einzelnen Gasträumen sowie auf der Großbühne im Palmensaal, der auch als Tanzsaal fungierte, fanden Aufführungen aller Art statt – wechselnde Varieté- und Akrobatikdarbietungen, Musik- und Gesangsvorstellungen sowie Pantomimen. Das »Haus Vaterland« konkurrierte in dieser Hinsicht mit den etablierten Varietébühnen im »Wintergarten« am Bahnhof Friedrichstraße18 oder der »Scala« in der Martin-Luther-Straße. Alleinstellungsmerkmal des »Hauses Vaterland« war die außergewöhnlich große Zahl an jeweils »landestypisch« gestalteten Gasträumen. Konzipiert war der Besuch im »Haus Vaterland« als »eine Weltreise«: Man nahm »Kurs durchs Mittelmeer, was bedeutete, daß man erst einmal in Spanien an Land ging, auf den Fässern einer richtigen Bodega hockte und trefflichen Jerez trank.« Nachdem man in der Osteria »sizilianischen Rebensaft« gekostet hatte, umgab den Gast plötzlich
18 »Das größte und eleganteste Variété Berlins. Die Deckenbeleuchtung zieht sich als Sternenhimmel über den ganze Raum hin […] In den Logen auf den Terrassen mondaines [sic] Leben. Es darf geraucht werden.« (Berlin für Kenner, wie Anm. 7, S. 81).
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»die Stille eines maurischen Palastes. Zahllose schlanke Säulen trugen die Bogen voll edlen Filigranwerkes. Am Horizont das Goldene Horn, Konstantinopel mit seinen Moscheen und Minaretten. Türkische Wasserpfeifen auf türkischen Tischen. Und original-türkischer Kaffee aus kupfernen Kännchen. Und den original-türkischen Raki servierten Diener, die auf dem Kopf einen Fez trugen. Und wem es noch nicht orientalisch genug war, der brauchte nur ein klein wenig zu warten, dann tanzten für ihn auch die schönen Frauen des Orients.«19 Bei den Tänzerinnen handelte es sich meist um die »Vaterland-Girls«, eine Gruppe von fest angestellten Revuetänzerinnen, die in wechselnden Kostümen orientalische Bauchtänze oder spanische Serenaden zum Besten gaben oder als Wiener »Wäschermädl-Ballett« im »Grinzing« auftraten. Speisen und Getränke wurden zusammen mit den Revuetänzerinnen »serviert«, wie es das hauseigene Magazin »Berolina. Das Magazin für frohe Leute« auf den Punkt brachte.20 Das »Haus Vaterland« versprach, den Gästen eine »Symphonie des Lebens« zu bieten, welche »die Nationen aller Erdteile« umfasse und damit die »Welt in einem Haus« zusammenführe.21 In den verschiedenen Gasträumen sollten die Besucher an touristisch attraktive Orte – denn nur solche fanden Aufnahme in die hier inszenierte »Welt« – »versetzt« werden.22 Während der Name »Haus Vaterland« nationale Beschränkung suggerierte, basierte das 19 So Hans Erman in seinen Erinnerungen: Hans Erman: Bei Kempinski. Aus der Chronik einer Weltstadt, Berlin 1956, S. 204. Ganz ähnlich in der Gestaltung war auch das benachbarte »Moka Efti« an der Friedrichstraße, Ecke Leipziger Straße, und auch der Lunapark am Halensee wartete mit einem »Orientalischen Café« auf, das von Mohamed Soliman (1878–1929) betrieben wurde, der um 1900 mit einer Artistengruppe aus Ägypten nach Deutschland gekommen war und zunächst ein Stummfilmkino in Rummelsburg betrieb, bevor er Direktor und Besitzer des berühmten »Passage-Panopticums« in Berlin wurde (vgl. Aischa Ahmed: »Die Sichtbarkeit ist eine Falle«. Arabische Präsenzen, Völkerschauen und die Frage der gesellschaftlich Anderen in Deutschland (1896/1927), in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 37 (2009), S. 81–102, hier: S. 88 f. 20 »Und das Schöne ist, daß sie [die «Vaterland-Girls»] uns so ganz nebenbei im Palmensaal, gewissermaßen zum Dessert, serviert werden. Während wir bei schwedischen Früchten mit eisgekühlter flüssiger Sahne oder Pücklereis dem ach so beliebten Saisonklatsch frönen, stampfen sechzehn schlanke, seidenbestrumpfte Mädchenbeine rhythmische Melodien in unser Ohr.« (o. V.: »Neue Revuen im Haus Vaterland«, in: Berolina, H. 10 (Oktober 1930), S. 5–7, hier: S. 7) 21 Vgl. Werbebroschüre zur Eröffnung des »Haus Vaterland« von 1928, Faksimile-Nachdruck, Braunschweig 1987, o. S. 22 Emilian Klinsky: Cafe – Reklame – Wirklichkeit, in: Berolina, H. 11 (November 1930), S. 19–21, hier: S. 21.
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Geschäftsmodell letztlich darauf, eine bestimmte Vorstellung von der weiten Welt, nämlich eine romantische, angenehm zu konsumierende Version, zu inszenieren und zu diesem Zwecke Sexualisierung, Exotik wie Nostalgie als kommerziell nutzbare Mittel einzusetzen.23 Vergangene oder in Berlin fern anmutende ländliche Idyllen deutscher Regionen standen neben orientalisierenden oder »südliche Lebensart« beschwörenden Arrangements. Besonders beliebt und geräumig waren das Weinrestaurant »Rheinterrasse« mit seinem die Loreley zeigenden Panorama sowie die bayerische »Löwenbräu«-Gaststätte mit Blick auf Eibsee und Zugspitze. Außer der bereits erwähnten Bodega, der Osteria24 und dem türkischen Café (Abb. 2) bot das »Haus Vaterland« auch eine »Wildwest-Bar«, ab 1931 eine japanische Teestube und ab 1932 eine Feuerland-Bar.25
Abb. 2: Türkisches Café im »Haus Vaterland« (eigene Sammlung).
23 Das verheimlichte auch der zur Eröffnung des »Haus Vaterland« erstellte Werbeprospekt nicht, dass es allein um die »Welt in ihrer romantischen Schönheit« ging (Werbebroschüre zur Eröffnung, wie Anm. 21, o. S.). 24 Die italienische Osteria ging aus der ungarischen »Czardas«-Bar hervor. 25 Siehe die Anzeigen »Kennen Sie schon unsere neuen Räume?« und »Neu! Die Feuerland-Bar, eine neue, originelle Bar gegenüber dem Palmensaal«, in: Berolina, H. 16 (Mai/ Juni 1931), S. 18 und H. 26 (Mai 1932), S. 17.
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Spezialitäten aus verschiedenen Ländern und Regionen anzubieten, war keineswegs neu. Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts hatte es in Berlin, aber auch in Hamburg oder München, Gaststätten sowohl mit Speisen und Getränken aus anderen deutschen Regionen oder anderen Ländern gegeben. Neben mecklenburgischer, badischer und schwäbischer Küche (und den dazugehörigen Weinen) boten insbesondere die über ganz Berlin verteilten »Aschingers Bierquellen« neben Wurst, Erbsensuppe und Gratisbrötchen auch bayerisches Bier.26 Bei den Restaurants mit ausländischer Küche in Berlin handelte es sich vor dem Ersten Weltkrieg neben der beliebten Wiener Küche vor allem um italienische Gaststätten. Der Berlinführer »Berlin für Kenner« von 1913 führte bereits vier Lokale mit italienischer Küche auf, die von Italienern geführt wurden und italienisches Personal beschäftigten, so dass eigens vermerkt wurde: »Die Kellner sprechen hier wie in den folgenden ital. Restaurants selbstverständlich auch deutsch.«27 Während der Weimarer Republik hatte sich das Angebot nochmals deutlich erweitert. Nun konnte man im »Tientsin« oder im »TsienHan«, beide in der Kantstraße, auch chinesisch essen,28 im »Medwjed« in der Bayreuther Straße russische Kost zu sich nehmen, und die japanische Küche war ebenfalls vertreten, wie eine Reportage über »Das Menü der Weltstadt« von 1927 deutlich macht.29 Doch auch die Idee, an einem einzigen Ort diverse unterschiedliche Küchen anzubieten, war nicht gänzlich neu. Vielmehr war genau das eine der Attraktionen,
26 Der Berlin-Baedeker von 1933 führt an bayerischen Bierrestaurants neben Aschinger noch den »Münchner Löwenbräu« (Unter den Linden), »Franziskaner« (beim Bahnhof Friedrichstraße), das »Pschorrhaus« und den »Spatenbräu« (u. a.) an der Friedrichstraße auf (Baedekers Berlin, wie Anm. 5, S. 3). Zu Aschinger siehe Keith R. Allen: Hungrige Metropole. Essen, Wohlfahrt und Kommerz in Berlin, Hamburg 2002. 27 Namentlich das »Unione Cooperativa di Milano« in der Taubenstraße, »Al Bersagliere« in der Dorotheenstraße, »Bartolini« in der Königin-Augusta-Straße sowie »Dalbelli« in der Bülowstraße (Berlin für Kenner, wie Anm. 7, S. 62). 28 Dort verkehrten viele chinesische Studenten, die während der Weimarer Republik in beträchtlicher Zahl an den Berliner Universitäten zu finden waren (vgl. Dagmar Yü-Dembski: China in Berlin 1918–1933. Von chinesischem Alltag und deutscher Chinabegeisterung, in: Kuo Heng-yü (Hrsg.): Berlin und China. Dreihundert Jahre wechselvolle Beziehungen, Berlin 1987, S. 117–130). Zur Geschichte der chinesischen Gastronomie in Deutschland, die vor ihrer flächendeckenden Verbreitung seit den 1960er Jahren vor allem in Hamburg als Hafenstadt überaus prominent war, siehe Lars Amenda: Fremde – Hafen – Stadt. Chinesische Migration und ihre Wahrnehmung in Hamburg 1897–1972, München/Hamburg 2006. 29 Münchner Illustrierte Presse Nr. 35 (1927), S. 1046.
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die viele Besucher seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in die Welt- und Kolonialausstellungen lockte. Die Präsentation neuer technischer Errungenschaften der einzelnen Nationen wurde auf diesen Ausstellungen immer flankiert von einem vielfältigen, nationale und regionale Spezialitäten aufgreifenden Angebot an Speisen und Getränken.30 Große Vergnügungsetablissements wie das »Haus Vaterland« lassen sich in gewisser Weise als Verstetigung dieser Unterhaltungselemente der großen Ausstellungen verstehen. Sie setzten damit aber auch eine Tradition fort, in Tanzstätten »Kostümkapelle[n] wie Tegernseer, Zigeuner usw.« auftreten zu lassen.31 Auch die Südsee erfreute sich als Sehnsuchtsort großer Beliebtheit, wie der berühmte »Fidjisong« von Friedrich Hollaender aus dem Jahre 1930 deutlich macht, der auch zum Repertoire im »Haus Vaterland« gehörte: »Ich laß’ mir meinen Körper schwarz bepinseln, schwarz bepinseln. Und fahre nach den Fidschi-Inseln, nach den Fidschi-Inseln. Dort ist noch alles paradiesisch neu. Ach, wie ich mich freu! Ach, wie ich mich freu! Ich trage nur ein Feigenblatt mit Muscheln, Muscheln, Muscheln! Und gehe mit ’ner Fidschipuppe kuscheln, kuscheln, kuscheln. Von Bambus richte ich mir eine Klitsche ein. Ich bin ein Fritsche, will ein Fidsche sein!«32 Die Filmemacherin Hito Steyerl, die 1998 in ihrem Film »Die leere Mitte« die Geschichte des Potsdamer Platzes in Berlin rekonstruiert und in diesem Zusammenhang auch das »Haus Vaterland« und seine Angestellten thematisiert,33 hat angemerkt, dass dieses Lied insofern »erfreulich und erstaunlich« sei, als »selten so unverblümt ausgedrückt« werde, worum es »auf der narzißtisch30 Zur Bedeutung des Essens auf diesen Ausstellungen siehe Van Troi Tran: Manger et boire aux Expositions universelles, Paris 1889, 1900, Tours 2012; Maren Möhring: Kulinarische Reisen vor Ort. Frühe Erlebnisgastronomie auf Kolonial- und Weltausstellungen, in: Historische Anthropologie 25/1 (2017), S. 49–74. 31 So bereits vor dem Ersten Weltkrieg im »Clou«, »ein[em] Riesenlokal, eine[r] ehemalige[n] Markthalle«, in Berlin üblich, wo nachmittags bis 19 Uhr eine Militärkapelle und abends dann besagte Kostümkapellen auftraten (Berlin für Kenner, wie Anm. 7, S. 80). Im »Café Skandinavia« in der Friedrichstraße, das am Tage »typisches Fremdenlokal, namentlich mit Skandinaviern und Russen als Gästen« war, spielte regelmäßig eine »Rumänenkapelle« und es wurden unter den »internationalen Getränken« vor allem »sehr viel Schwedenpunsche« verabreicht (ebd., S. 183). 32 Foxtrott aus dem Film »Einbrecher« (D 1930), Interpret: Willi Fritsch. 33 »Die leere Mitte«, HFF München, 1998, 62 min, 16 mm; Buch/Regie/Schnitt: Hito Steyerl, Kamera: Meike Birck/Boris Schafgans; zum Film siehe auch Christina Gerhardt: Transnational Germany – Hito Steyerl’s Film Die leere Mitte and Two Hundred Years of Border Crossings, in: Women in German Yearbook 23 (2007), S. 205–223.
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identifikatorischen Seite des rassistischen Verhältnisses geht, nämlich um die Erfüllung all der Wünsche, an die der monochrome Deutsche meist nur in Verkleidung zu denken wagt.«34 Hier artikulierte sich ein Begehren nach einem anderen Leben, das, wie auch heute noch, gerne auf ein Anderswo projiziert wird. Dem Anderen wird – darauf hat der Philosoph Slavoj Zˇizˇek hingewiesen – ein größeres Genießen zugeschrieben.35 Die vermeintliche Lebensweise der Anderen spielte eine so bedeutsame Rolle, weil das imaginierte Südsee-Leben oder, breiter gefasst, das angebliche südländische Laissez-faire sich als Gegenkonzept zum deutschen Arbeitsalltag hervorragend eignete.36 Was man vom süd- oder auch außereuropäischen Anderen wollte, war dessen unterstellte Fähigkeit zu einem genussvollen und unbeschwerten Leben – ein Versprechen, das die Vergnügungsindustrie dankbar aufgriff. Das »Haus Vaterland« also präsentierte sich im Hinblick auf Einrichtung, Speisen und Getränke sowie die musikalischen und tänzerischen Darbietungen als weltläufig und international. Die moderne Vergnügungskultur aber bot nicht nur Speisen aus aller Welt, sondern basierte zunehmend auch auf der Arbeitskraft von Menschen aus aller Welt.
Grenzüberschreitende Bewegungen: Arbeitsmigration und Tourismus Die Vergnügungsindustrie inklusive ihrer gastgewerblichen Seite war spätestens seit der Jahrhundertwende stark von länderübergreifenden Konsortien und Investitionen sowie internationalen Handels- und Tourneenetzwerken geprägt. Im Hinblick auf die Transnationalität der Unternehmen lassen sich allerdings deutliche Unterschiede feststellen. So waren die aus dem Gaststättengewerbe stammenden Akteure wie Kempinski oder Aschinger stärker lokal verankert, während die Entwicklung und Verbreitung der Hauptattraktion der Vergnügungsparks, i. e. die Hochfahrgeschäfte, von Anfang an ein komplexer 34 Vgl. Hito Steyerl: Die unauslöschliche Farbe, in: karoshi # 4. Zeitschrift gegen die innere Sicherheit des Subjektes, online verfügbar: http://www.studienbibliothek.org/webarchiv/ karoshi/k4/2farbe.html (zuletzt abgerufen am: 7. Februar 2019). 35 Slavoj Zˇizˇek: Genieße deine Nation wie Dich selbst! Der Andere und das Böse – Vom Begehren des ethnischen »Dings«, in: Joseph Vogl (Hrsg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a. M. 1994, S. 133–164. 36 Für die Italienreisefilme der 1950er Jahre zeige ich das in: Maren Möhring: Working Girl Not Working. Liebe, Freizeit und Konsum in Italienfilmen der frühen Bundesrepublik, in: Sabine Biebl/Verena Mund/Heide Volkening (Hrsg.): Working Girls. Zur Ökonomie von Liebe und Arbeit, Berlin 2007, S. 249–274.
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transnationaler Prozess war.37 Während im Grunde alle Vergnügungsetablissements auf den Import ausländischer Lebensmittel und Getränke angewiesen waren und diesen mitunter auch eigens thematisierten, unterschieden sich die einzelnen Einrichtungen des Unterhaltungssektors hinsichtlich der Internationalität ihrer Angestellten teils beträchtlich.38 Im »Haus Vaterland« kam das Gros der Künstler aus dem deutschsprachigen Raum, der »Wintergarten« oder die »Scala« hingegen boten zahlreiche internationale Varieté-Stars auf.39 Doch auch im »Haus Vaterland« traten regelmäßig ausländische Künstler auf, und es finden sich auch in der Geschäftsführung diverse transnationale Biographien oder Familiengeschichten. 40 (Arbeits-)Migration spielte für den Betrieb des »Hauses Vaterland« – wie für alle anderen großen Vergnügungsetablissements und generell im Gastronomiesektor – eine zentrale Rolle. Auf der Bühne, in den Gasträumen, in Küche und Keller, aber auch auf der Ebene der Geschäftsführung handelte es sich bei vielen der großen Institutionen der Berliner Vergnügungsindustrie um – temporär oder dauerhaft – nach Berlin Zugezogene. Berthold Kempinski (1843–1910) etwa, der 1864 in den zwei Jahre zuvor von seinem Bruder Moritz (1835–1910) in Breslau begründeten Weingroßhandel eingestiegen war, ging 1872 nach Berlin, um dort eine Weinhandlung in der Leipziger Straße zu eröffnen. 41 Die Firma M. Kempinski & Co. weitete während der Weimarer Republik ihre Geschäfte nicht nur innerhalb Berlins aus, sondern expandierte 1921 auch nach Amsterdam, 42 37 Vgl. Niedbalski, Vergnügungsparks (wie Anm. 3), S. 172. 38 Import und Geschichte des Kakaos respektive der Schokolade wurden im hauseigenen Magazin des »Haus Vaterland« aufgegriffen und die Schokoladenfabrik der Firma Kempinski mit ihrem »erlesen[en] Konfekt« als höchste Entwicklungsstufe dieser Geschichte präsentiert (Max Brenner: Das braune Wunder, in: Berolina, H. 11 (November 1930), S. 6–9, hier: S. 9). In »Das Gesicht der Flasche« wiederum wurden Würzburger, Liebfrauenmilch, Chianti und Tokayer vorgestellt, in: Berolina, H. 34 (Februar 1934), S. 2. 39 Pahlmann, Haus Vaterland (wie Anm. 6), S. 204. 40 In der Osteria etwa trat der italienische Tenor Marchetto auf. Siehe o. V.: »Das bietet das Haus Vaterland«, in: Berolina, H. 7 (Mai 1930), o. S. 41 Vgl. Bericht der Deutschen Revisions- und Treuhand-Aktiengesellschaft Berlin (wie Anm. 11), Bl. 2; auch die Betriebsgründung in Breslau war bereits das Ergebnis einer Migrationsbewegung gen Westen gewesen. Die Brüder Kempinski hatten ihren Geburtsort Raschkow in Posen im Zuge der seit 1848 verstärkten jüdischen Binnenwanderung nach Schlesien verlassen (vgl. Pracht, Kempinski, wie Anm. 12, S. 16). 42 Vgl. Jochen Kleining: M. Kempinski & Co. Die »Arisierung« eines Berliner Traditionsunternehmens, Hamburg 2008, S. 42; vom Amsterdamer Kempinski-Betrieb aus organisierte eine kleine Gruppe von Kellnern, die mit dem ehemaligen »Zentralverband der Hotel-, Restaurant- und Caféangestellten«, einem der kleineren Verbände innerhalb des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, verbunden waren, die Distribution
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bevor sie 1933 – nach Ende der Prohibition und vermutlich auch aufgrund der nationalsozialistischen Machtergreifung – ihre Vertretung in New York (wieder) aufnahm. 43 Doch auch unter den Musikern oder den Kellnern gab es viele, die oder deren Eltern nationale Grenzen überschritten, um in Berlin ein Auskommen zu finden. In der Wildwest-Bar etwa traten Jazzformationen wie »The Black Band« unter Leitung von Willy Allen (1909–1969) auf. Dieser war 1909 als Wilhelm Panzer in Berlin geboren worden und der Sohn eines Banjo-Spielers aus dem heutigen Nordsomalia, der über London nach Berlin gekommen war und dort die deutsche Musikerin Emmi Panzer kennengelernt hatte, die als Unterhaltungskünstlerin arbeitete. Willy Allen war also Berliner »mit Migrationshintergrund«. Von einer weiteren in der »Wildwest-Bar« tätigen Künstlerin, Hester Harvey (1896–1976) (Abb. 3), wissen wir, dass sie 1896 in Südafrika geboren wurde und seit den frühen 1920er Jahren in Berlin als Schauspielerin und Sängerin arbeitete. 44 Zudem Abb. 3: Fotografie von Hester Harvey aus der traten in der »Wildwest-Bar« auch Werbebroschüre zur Eröffnung 1928 des Jazz-Größen wie Sidney Béchet »Haus Vaterland« 1928 (Faksimile-Nachdruck, Braunschweig: Archiv Verlag, 1987, o. S.). (1897–1959) auf. 45
der verbotenen »Gastwirtsgehilfen-Zeitung« im Reich (vgl. Willy Buschak: Kellner im Widerstand, in: Bochumer Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit 8 (1987), S. 165–174, hier: S. 166). 43 Vgl. Bericht der Deutschen Revisions- und Treuhand-Aktiengesellschaft Berlin (wie Anm. 11), Bl. 49; o. V.: »Kempinski auch in den U.S.A.«, in: Berolina, H. 48 (April 1934), S. 12. 44 Seine und einige andere Biographien wurden im Rahmen eines Projekts der Alice Salomon Hochschule Berlin mit dem Titel »Verwobene Geschichte*n« jüngst aufgearbeitet, soweit möglich. Online verfügbar: http://www.verwobenegeschichten.de/ (zuletzt abgerufen am: 7. Februar 2019). 45 Im Programm vom November 1930 wird er als Saxophon-Virtuose angekündigt. Vgl. o. V.: »Das bietet das Haus Vaterland«, in: Berolina, H. 11 (November 1930). Zur wachsenden Internationalisierung des Musiklebens nach dem Ersten Weltkrieg vgl. auch den Beitrag von Martin Rempe in diesem Band.
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Während die großen Kolonialmetropolen Paris und London durch eine längere und weit intensivere Kolonialmigration geprägt waren, blieb die Zahl der Migranten aus den (ehemals) deutschen Kolonien in Berlin und erst recht an anderen Orten Deutschlands sehr beschränkt. Einer von diesen (post-) kolonialen Migranten war Bayume Mohamed Husen (1904–1944), der aus der ehemaligen deutschen Kolonie »Deutsch-Ost-Afrika« stammte, im Ersten Weltkrieg auf Seiten der deutschen »Schutztruppen« gekämpft hatte und 1929 nach Berlin reiste, um seinen ausstehenden Sold einzufordern. 46 Er blieb in Berlin und arbeitete von 1930 bis 1935 im »Haus Vaterland«, wo er in der Wildwest-Bar kellnerte, aber auch im Türkischen Café einsprang, um dort mit weiteren Kollegen in »landestypischer« Verkleidung für das entsprechende Ambiente zu sorgen. 47 Dass es sich oft um die Verkörperung einer bestimmten Nationalität oder Ethnizität (hier: »dunkelhäutige Araber«) durch Menschen aus ganz anderen Regionen handelte, war im »Haus Vaterland« und generell bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein üblich. 48 In der zeitgenössischen Presse war denn auch entsprechend zu lesen, dass in den Berliner Mokka-Stuben der türkische Kaffee zwar mit Fez serviert werde, aber oft von jemandem aus »Berlin NO [Nordost]«. 49 Diese Form der Performanz von Ethnizität, die sich als ethnic drag beschreiben lässt, tat der Wirkmächtigkeit der Aufführung scheinbar keinen Abbruch.50 Husens Beispiel macht deutlich, wie sehr die Geschichte eines Ortes wie des »Hauses Vaterland« mit der transnationalen und sogar transkontinentalen Migration von Arbeitskräften verbunden war. Trotz des Verlusts der deutschen Kolonien mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg bestanden weiterhin Kontakte in die ehemaligen Überseegebiete – und Verbindungen und Verbindlichkeiten, wie Husens Lebensgeschichte zeigt.51
46 Zudem beantragte er zweimal das Frontkämpferabzeichen (vgl. Marianne BechhausGerst: Schwarze Deutsche, Afrikanerinnen und Afrikaner im NS-Staat, in: dies./Reinhard Klein-Arendt (Hrsg.): Afrikanerinnen in Deutschland und Schwarze Deutsche – Geschichte und Gegenwart, Münster 2003, S. 187–196, hier: S. 190). 47 Husen arbeitete nicht nur im »Haus Vaterland«, sondern in den Jahren 1931 bis 1940 auch als Lektor für Kiswahili am Seminar für Orientalische Sprachen; vgl. Marianne Bechhaus-Gerst: Kiswahili-speaking Africans in Germany before 1945, in: Afrikanistische Arbeitspapiere 55 (1998), S. 155–172, hier: S. 159. 48 Werbebroschüre zur Eröffnung (wie Anm. 21), o. S. 49 Münchner Illustrierte Presse Nr. 35 (1927), S. 1046. 50 Katrin Sieg: Ethnic Drag. Performing Race, Nation, Sexuality in West Germany, Ann Arbor 2002. 51 Vgl. dazu auch den Beitrag von Birthe Kundrus in diesem Band.
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Doch nicht nur Migranten waren mobil und prägten die moderne Metro polenkultur. Auch die Gäste in den Berliner Lokalen waren oft von weither oder aber aus der Provinz angereist, um am Berliner (Nacht-)Leben teilzunehmen. Zwar stellten auch Berliner Angestellte einen beträchtlichen Teil der Gäste. Diese Klientel suchte – so die Interpretation von Susanne Suhr, die 1930 eine soziologische Studie über weibliche Angestellte veröffentlichte – nach einer »8- oder jetzt oft schon wieder 9stündige[n] Arbeitszeit im rationalisierten und entpersönlichten Betrieb« abends Zerstreuung; »auch bei sonst Anspruchsvolleren« werde nach monotoner Arbeit der »Hunger nach leichter Kost als Betäubungsmittel« geweckt.52 Während den weiblichen Angestellten noch Verständnis entgegengebracht wurde, ließen zeitgenössische Beobachter an anderen Teilen der Kundschaft kein gutes Haar. So erinnert sich die Schauspielerin und Schriftstellerin Inge von Wangenheim (1912–1993) mit Abscheu an die »aus der Provinz zureisenden Herren, die voller Lüsternheit nach Amüsement aus dem Potsdamer und Anhalter Bahnhof herausquollen«, um sich »der Pappmaché-Exotik von Übersee«, der »Heurigenrührseligkeit« oder dem »verjazzte[n] Trapperschweiß« im »Haus Vaterland« zu ergeben.53 Tatsächlich bildeten Berlin-Reisende aus der Umgebung oder anderen Teilen Deutschlands, aber durchaus auch aus dem Ausland, eine wichtige Zielgruppe.54 Die vom »Haus Vaterland« annoncierte Reise um die Welt zog in besonderem Maße Berlin-Touristen an, welche die Weltstadt besuchen und hier »die Welt« kennenlernen wollten. Der Fremdenverkehr war für Gastronomieunternehmen wie Kempinski ein entscheidender Faktor.55 Nicht zuletzt aus diesem Grund engagierte sich das Unternehmen auch auf diesem Sektor: »Kempinski-Reisen« 52 Susanne Suhr: Die weiblichen Angestellten. Arbeits- und Lebensverhältnisse – eine Umfrage des Zentralverbandes der Angestellten, Berlin 1930, S. 64 f. Schärfer kritisierte Siegfried Kracauer das »Haus Vaterland« und verwandte Einrichtungen als »Pläsierkasernen« (Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neusten Deutschland [1929], in: ders.: Schriften I, Frankfurt a. M 1978, S. 205–304, hier: S. 285). 53 Inge von Wangenheim: Mein Haus Vaterland. Erinnerungen einer jungen Frau, 4. Aufl. Halle/Leipzig 1962, S. 301. 54 Unter den nicht aus Berlin stammenden Besuchern des Lunaparks in Berlin hätten diejenigen »aus der deutschsprachigen Provinz« dominiert (Niedbalski, Vergnügungsparks, wie Anm. 3, S. 180). Ähnliches ist für das »Haus Vaterland« anzunehmen. 55 Zu schaffen machte den Unternehmen in den 1920er Jahren insbesondere die Devisenund Zollpolitik der Regierung, die sich negativ auf den Tourismus auswirkte (vgl. Pracht, Kempinski, wie Anm. 12, S. 65). Mehr Berlin-Touristen bedeuteten höhere Einnahmen für das »Haus Vaterland«: War seit der Weltwirtschaftskrise ein ständiger Rückgang der Gesamteinnahmen der Kempinski-Betriebe zu verzeichnen gewesen, so brachte das Jahr 1934 eine Absatzsteigerung, die »vor allem auf den Fremdenbesuch der grossen Berliner
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entwickelte zusammen mit dem Mitteleuropäischen Reisebüro preiswerte Angebote für Berlin-Reisen, die einen Besuch im »Haus Vaterland« einschlossen.56 Die kulinarische und musikalische Reise um die Welt in den Räumlichkeiten des »Hauses Vaterland« verband sich also mit der tatsächlichen Mobilität eines großen Teils der Kundschaft. Dass der kosmopolitische Charakter der großen Vergnügungsetablissements auch mit den teils von weither angereisten Gästen zusammenhing, wird oft vergessen.57
»Eindeutschung« und »Arisierung« des »Hauses Vaterland« Gegen Ende der Weimarer Republik verschärfte sich zum einen die ökonomische Situation. Zwar blieben die Besucherzahlen im »Haus Vaterland« auch während der Weltwirtschaftskrise hoch; der Pro-Kopf-Verbrauch aber sank deutlich.58 Wie jeder Gastronomiebetrieb war das »Haus Vaterland« ein extrem konjunkturanfälliges Unternehmen. Zum anderen verschärfte sich auch das politische Klima. Die neuen Entwicklungen betrafen ebenfalls den Vergnügungssektor und insbesondere die in ihm tätigen ausländischen, nicht-weißen und jüdischen Beschäftigten. Bereits 1932 waren die in der »Wildwest-Bar« im »Haus Vaterland« tätigen Schwarzen Musiker mit einem Berufsverbot konfrontiert, dem sogenannten Farbigen-Erlass. Im Jahre 1930 hatte sich im Thüringer Landtag eine rechte Koalitionsregierung unter Beteiligung der NSDAP gebildet, die unter maßgeblichem Einfluss von Wilhelm Frick, dem späteren Reichsminister des Innern, im April einen Erlass »wider die Negerkultur für deutsches Volkstum« verabschiedete.59 1932 wurde von der Regierung Papen dann im ganzen Land ein Arbeitsverbot für schwarze
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Ausstellungen zurückzuführen sein dürfte«, in: Bericht der Deutschen Revisions- und Treuhand-Aktiengesellschaft Berlin (wie Anm. 11), Bl. 9 und Bl. 47. Vgl. Pracht, Kempinski (wie Anm. 12), S. 70 f. Das betont auch Niedbalski, Vergnügungsparks (wie Anm. 3), S. 180. Vgl. Pracht, Kempinski (wie Anm. 12), S. 78; Kleining, Kempinski (wie Anm. 42), S. 44. Hatten die Kempinski-Betriebe 1928/29 Speisen im Wert von 11.557 Millionen Reichsmark umsetzen können, waren es 1930/31 nur noch 10.710, 1932/33 nur noch 8.290 und 1933/34 gar nur noch 7.432 Millionen Reichsmark. Der Umsatz beim Wein sank von 8.259 Millionen Reichsmark 1928/29 auf 7.446 1930/31 und lag 1932/33 nur noch bei 5.214 Millionen Reichsmark. Vgl. Bericht der Deutschen Revisions- und TreuhandAktiengesellschaft Berlin (wie Anm. 11), Bl. 8. Erlass IV C II/771, Nr. 53 »Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum«, 5. April 1930. In: Amtsblatt des Thüringischen Ministeriums für Volksbildung, Weimar 9 (1930) Nr. 6/1930, 22. April 1930, S. 40 f.
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Musiker erlassen, aufgrund dessen auch Louis Armstrong seinen Auftritt in Berlin absagen musste.60 Rassistisch und antisemitisch motivierte Ausgrenzungen haben auch im Vergnügungssektor eine längere Geschichte. So empörte sich im Jahre 1911 ein Autor der »Staatsbürgerlichen Zeitung« über »das Zuströmen österreichischer Kellner, meistens Tschechen, die sich bei uns als ›Wiener‹ aufspielen«. Sie wären vor allem in den »sogenannten Wiener Cafés« tätig, »die beinahe ausschließlich im Besitze von österreichischen Juden« seien.61 Am Ende der Weimarer Republik nahmen diese Ausgrenzungen eine neue Dimension an. Zudem schien Internationalität nicht mehr für alle Vergnügungsbetriebe die unhinterfragte Maxime zu sein; 1932 wurde für das Restaurant »Zum Heidelberger« im Central Hotel an der Friedrichstraße ein Konzept entwickelt, das sich am »Haus Vaterland« orientierte, aber auf »deutsch-heimatliche Gaststätten« setzte.62 Die Eröffnung fand im Herbst 1933 als »Haus der deutschen Heimat« statt – passend zum politischen Wechsel. In der Schwarzwaldstube und dem Bayerischen Bierhof, im »Hansaraum« und der Ostfriesischen Fischerstube wurden deutsche regionale Spezialitäten serviert; die Inszenierung kultureller Differenz beschränkte sich mithin auf »die kulturelle Eigenart der deutschen Gaue«.63 Die Förderung der deutschen Regionalküchen wurde nach 1933 noch durch die Propagierung einer »Nationalküche eigener Artung« und die Hetze gegen die »leidige Ausländerei im deutschen Gaststättengewerbe« ergänzt.64 Die Konkurrenz durch neue Gaststättenkomplexe wog für das »Haus Vaterland« umso schwerer, als die Firma Kempinski aufgrund ihrer jüdischen Inhaber ab 1933 mit zahlreichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Die an den einzelnen Kempinski-Betrieben angebrachten Schilder »Juden unerwünscht« trafen das Unternehmen (wie auch andere jüdische Geschäfte und Gewerbe) hart; 60 Maase, Grenzenloses Vergnügen (wie Anm. 2), S. 176. 61 Anders als in Österreich, wo man nicht »die Eingeborenen« zurücksetze und stattdessen »Fremde« anstelle, würden in Deutschland »die Ausländer mit offenen Armen« empfangen, und keine Fremdenpolizei kümmere sich darum, »ob die eigenen Landeskinder von der tschechischen Konkurrenz ruiniert und erdrückt« würden (»Kellner-Elend«, in: Staatsbürgerliche Zeitung vom 5. August 1911). 62 Mündlicher Bericht des Vorstandsmitglieds der Hotelbetriebs AG Dr. Schick (Protokoll) in der Aufsichtsratssitzung am 15. September 1932, zit. nach Pracht, Kempinski (wie Anm. 12), S. 76. 63 Veranstaltungsplan für Berlin vom 19.–26. Mai 1935, zit. nach Pracht, Kempinski (wie Anm. 12), S. 76; siehe auch Lummel, Erlebnisgastronomie (wie Anm. 9), S. 203. 64 Friedrich Hussong: Der Tisch der Jahrhunderte, Berlin 1937; siehe auch Maren Möhring: Fremdes Essen. Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland, München 2012, S. 60 ff.
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die bei Kempinski im Vergleich zu anderen Betrieben im Gastgewerbe und Lebensmittelhandel weit höheren Umsatzrückgänge legen einen Zusammenhang mit den Boykottaufrufen nahe.65 Anfang Juli 1937 schließlich erfolgte die »Arisierung«66; Kempinski unterstand fortan der Leitung der Aschinger AG. Dieses Berliner Gastronomieunternehmen, das seit 1892 für große Portionen zu niedrigen Preisen stand, nach der Jahrhundertwende aber auch in prestigeträchtige Restaurants und Hotels zu investieren begonnen hatte, war wegen der Weltwirtschaftskrise auf der Suche nach einer besseren Auslastung der firmeneigenen Produktionsbetriebe.67 Das »Haus Vaterland« versprach eine hohe und sichere Abnahme; mit der Übernahme sanierte sich die Aschinger AG.68 Seit einer im März 1941 erlassenen Verordnung durfte der »jüdische« Name Kempinski nicht mehr verwendet werden; seitdem firmierte die Gesellschaft als »F. W. Borchardt, Weinhaus und Handels G.m.b.H.«.69 Die meisten der als jüdisch klassifizierten Kempinski-Gesellschafter waren zu diesem Zeitpunkt bereits im Ausland, in London oder New York.70 Allein Walter Unger lebte noch in Berlin. Ihm gelang die Auswanderung nicht mehr; im Januar 1943 wurde er nach Theresienstadt deportiert, bevor er im Oktober 1944 nach Auschwitz gebracht und dort ermordet wurde.71 Nach einem kurzfristigen Rückgang der Einnahmen bei Kriegsausbruch erzielte das »Haus Vaterland« während des Krieges hohe Gewinne. Gerade im Krieg war und blieb der Unterhaltungssektor sehr wichtig; nach 1940 erlebte
65 Vgl. Kleining, Kempinski (wie Anm. 42), S. 47. Beim »Haus Vaterland« betrug der Umsatzrückgang zwischen 1932 und 1934 15,5 %; vgl. Pracht, Kempinski (wie Anm. 12), S. 93, untere Tabelle. 66 Vgl. Brief von Werner Steinke an den Reichskommissar für die Behandlung feindlichen Vermögens, Dr. Ernst, Berlin, 5. März 1940, BArch Berlin, R 87/1685, Bl. 6. 67 Zu den Produktionsstätten gehörten unter anderem eine Großschlachterei sowie eine Wurst- und Brotfabrik mit sehr großen Kapazitäten; vgl. Pracht, Kempinski (wie Anm. 12), S. 66. 68 Ebd., S. 103. 69 Bei F. W. Borchardt handelte es sich um ein alteingesessenes und renommiertes Weinlokal in der Französischen Straße, in dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch der Kronprinz nach dem Theater zu speisen pflegte; vgl. Berlin für Kenner (wie Anm. 7), S. 67. 70 Kommerzienrat Richard Unger, Hans Kempinski, Frida Sara Unger, geb. Kempinski, und Elisabeth Warschauer (Kohsen), geb. Unger, waren nach London emigriert; Friedrich Wolfgang Unger-Kempinski war 1937 nach New York gegangen (vgl. Brief von Werner Steinke an den Reichskommissar für die Behandlung feindlichen Vermögens, Dr. Ernst, Berlin, 5. März 1940, BArch Berlin, R 87/1685, Bl. 6). 71 Vgl. Pracht, Kempinski (wie Anm. 12), S. 134.
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die Gastronomie eine Hochkonjunktur.72 Zwar wurden im »Haus Vaterland« mit Kriegsbeginn 1939 das französische Bistro und die Wildwest-Bar geschlossen; »Rheinterrasse« und »Löwenbräu« aber blieben in Betrieb. Das »Haus Vaterland« diente außerdem der Truppenbetreuung. Nachdem die oberen Stockwerke durch alliierte Bombenangriffe zerstört worden waren, wurden in den unteren Etagen Teile des Unterhaltungsprogramms für die Soldaten weitergeführt.73 Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg sorgten also zum einen für eine Reduzierung und Provinzialisierung des Unterhaltungsangebots. Zum anderen mussten diejenigen Angestellten im »Haus Vaterland« (und anderen Einrichtungen), deren Zugehörigkeit zur sogenannten Volksgemeinschaft angezweifelt wurde, erleben, dass nicht nur ihre Inszenierungen kultureller Differenz weniger gefragt waren, sondern dass sie aus rassenideologischen Gründen aus ihren Berufen verdrängt, sogar verfolgt und ermordet wurden. Bayume Mohamed Husen wurde 1933 sein Pass und damit sein (vermutlicher) Status als ehemaliger deutscher »Schutzgebietsangehöriger« entzogen.74 Einer seiner Kollegen im »Haus Vaterland«, der sich darüber beschwert hatte, mit Schwarzen zusammen arbeiten zu müssen, beschuldigte ihn des Diebstahls, woraufhin er im Dezember 1935 seine Stelle im »Haus Vaterland« verlor. Husen setzte sich gegen diese Entlassung zur Wehr und schaltete schließlich sogar einen Rechtsanwalt ein, war aber letztlich erfolglos.75 Daraufhin trat er 72 Maase, Grenzenloses Vergnügen (wie Anm. 2), S. 215; Pracht, Kempinski (wie Anm. 12), S. 117. Im »Haus Vaterland« stieg der Umsatz von September 1939 bis September 1940 um 215,4 % (vgl. BArch Berlin, R 8136/3136). 73 Sontheimer, Haus Vaterland (wie Anm. 8), S. 67. Anfang 1943 brannten das »Haus Vaterland« und das ehemalige Kempinski-Weinhaus in der Leipziger Straße völlig aus, während die Aschinger-Zentrale »schnell wieder funktionstüchtig« war (Vermerk, betr. Aschinger AG/F. W. Borchardt GmbH, Berlin, 12. Januar 1944, BArch Berlin, R 8136/3136). Nach dem Krieg diente das nun im sowjetischen Sektor gelegene »Haus Vaterland« kurzzeitig als »Volksgaststätte und Wärmehalle«, brannte am 17. Juni 1953 aus und wurde schließlich 1976, nachdem es in den Besitz des Westberliner Senats übergegangen war, abgerissen; vgl. Sontheimer, Haus Vaterland wie Anm. 8), S. 69 f. und S. 72 f. 74 Nach 1918 hatten Migranten aus den ehemaligen deutschen Kolonien diesen Status erhalten (vgl. Katharina Oguntoye: Eine afro-deutsche Geschichte. Zur Lebenssituation von Afrikanern und Afro-Deutschen in Deutschland von 1884 bis 1950, Berlin 1997, S. 23). Nach der Machtübernahme Hitlers erhielten schwarze Deutsche und ihre Ehefrauen Fremdenpässe und galten als Angehörige derjenigen Mandatsmächte, welche die ehemals deutschen Kolonien übernommen hatten (vgl. Bechhaus-Gerst, Schwarze Deutsche (wie Anm. 46), S. 188f). 75 Vgl. Bechhaus-Gerst, Kiswahili-speaking Africans (wie Anm. 47), S. 165.
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in Völkerschauen auf, unter anderem in der Deutschen Afrika-Schau, und wirkte in mehreren Kolonialfilmen mit.76 Während der Dreharbeiten zum Film »Carl Peters«77 wurde Husen abermals denunziert, dieses Mal aufgrund einer außerehelichen Affäre mit einer weißen deutschen Frau, mit der er ein Kind hatte. Angeklagt wegen »Rassenschande« wurde er 1941 inhaftiert und schließlich in das Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht, wo er im November 1944 starb.78
Fazit Die Geschichte der modernen Vergnügungskultur stellt ein prägnantes Beispiel für einen sich zunehmend globalisierenden Wirtschaftssektor dar, der auf der transnationalen Migration von Arbeitskräften, aber auch auf der Expansion des Tourismus und der transnationalen Zirkulation von Unterhaltungsformaten basierte. Die Inszenierung kultureller Differenz spielte hier, und spielt bis heute, eine zentrale Rolle. Dabei führte die transnationale Vernetzung auf der Produktionsseite zur Entstehung global gängiger Formate – wenn auch mit jeweils lokalem Zuschnitt. Für die Konsumentenseite bot die kommerzielle Massenkultur mit ihren Inszenierungen der Welt eine Möglichkeit, Vorstellungen von Globalität zu entwickeln – Vorstellungen, in die bestimmte kulturelle Differenzen (und mit diesen auch bestimmte Machtverhältnisse) fest eingeschrieben waren. Massenkulturelle Erlebnisräume ermöglichten es ihren Besuchern, sich selbst in der Welt zu situieren. Die Geschichte dieser Vorstellungswelten sollte neben strukturgeschichtlichen Zugängen bei der Analyse von Transnationalisierungs- und Globalisierungsprozessen eine größere Rolle spielen. Wenn also das Berlin der 1920er als »eine riesige Zirkulationsmaschine«
76 Vgl. Susann Lewerenz: Die Deutsche Afrika-Schau (1935–1940). Rassismus, Kolonialrevisionismus und postkoloniale Auseinandersetzungen im nationalsozialistischen Deutschland, Frankfurt a. M. 2006. 77 Siehe das von Bayume Mohamed Husen ausgefüllte Angebotsschreiben der BavariaFilmkunst GmbH aus dem Jahre 1940, in dem Husen sich für die Rolle »eines Häuptlings und Berater[s] für die Suaheli-Sprache« in dem Film »Carl Peters« verpflichtet, BArch Berlin, R 109/I-2358. 78 Vgl. Bechhaus-Gerst, Kiswahili-speaking Africans (wie Anm. 47), S. 165.
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beschrieben wird, dann gilt das nicht nur für soziale, sondern auch nationale Grenzen, die überschritten wurden.79 Das »Haus Vaterland« und verwandte Orte sind erkenntnisfördernd gerade aufgrund ihrer Ambivalenz von Öffnung und Schließung – als Orte nämlich, an denen exotistische, oft rassistische und sexistische Stereotype bedient wurden, an denen aber auch die Relativität des Eigenen und die Möglichkeiten eines ganz anderen Seins aufschienen. Dadurch lassen sich zum einen die historisch bedingten Begrenzungen des Sicht- und Sagbaren aufzeigen; zum anderen aber haben diese neuen Orte des Vergnügens auch Möglichkeitsräume eröffnet, in denen neue Praktiken und Weltsichten erprobt werden konnten.80 Die kommerzielle Vergnügungskultur stellte – zumindest bevor Radio und Fernsehen zunehmend ortsunabhängige Unterhaltungsangebote offerierten – konkrete, neuartige Erlebnisräume zur Verfügung, die nicht nur die Augen, sondern auch das Gehör, den Geruch und den Geschmack ansprachen und neue körperliche Sensationen ermöglichten. Die Möglichkeit der Öffnung gegenüber etwas Neuem ist also nicht allein als Metapher zu verstehen, sondern bezog den Körper und seine Wahrnehmungsfähigkeiten mit ein.
79 Helmut Lethen: Chicago und Moskau – Berlins moderne Kultur der 20er Jahre zwischen Inflation und Wirtschaftskrise, in: Jochen Boberg/Tilman Fichter/Eckhard Gillen (Hrsg.): Die Metropole – Industriekultur in Berlin im 20. Jahrhundert, München 1986, S. 190–213, hier S. 192. 80 Für die Massenkultur und den Tourismus im Besonderen betont das Michael Makropoulos: Theorie der Massenkultur, München 2008. Andernorts werden ähnliche Phänomene als »innere Urbanisierung« qua Unterhaltungskultur diskutiert, zu der das Erlernen von Toleranz gegenüber Menschenmassen unterschiedlicher sozialer und regionaler Herkunft gehörte; vgl. Morat et al., Weltstadtvergnügen (wie Anm. 3).
Jan-Otmar Hesse
Die globale Verflechtung der Weimarer Wirtschaft De-Globalisierung oder Formwandel?
»Was die Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten.« Kurt Tucholsky verspottete mit dieser Bemerkung im September 1931 eine ganze akademische Disziplin. Die Nationalökonomie stellte er in seinem bekannten Artikel in der »Frankfurter Zeitung« so dar, als baue sie auf Tautologien und Binsenwahrheiten auf, während sie zur Überwindung der Wirtschaftskrise letztlich nichts beitrage.1 Aus Sicht der wirtschaftshistorischen Forschung zur Weimarer Republik trifft Tucholskys Bemerkung über die Weltwirtschaft aber eben gerade nicht zu. Es seien eben jene fehlende weltwirtschaftliche Verflechtung und die »De-Globalisierung« gewesen, die die wirtschaftliche Lage des Landes verschärft haben. Der Erste Weltkrieg habe nicht nur zu Gebietsverlusten und direkten wirtschaftlichen Einschränkungen geführt, sondern traditionelle Handelsbeziehungen unterbrochen und die internationale Konkurrenzfähigkeit der Weimarer Wirtschaft erheblich verringert.2 Schon John Maynard Keynes hatte die entschädigungslose Enteignung von Vermögenswerten deutscher Unternehmen im Ausland sowie die Beschlagnahme der deutschen Handelsflotte als eine gravierende »wirtschaftliche Folge des Friedens« von Versailles kritisiert, die es dem Deutschen Reich erschwerte, die Reparationslasten zu tragen.3 Überhaupt habe der Erste Weltkrieg, so die herrschende Meinung in der wirtschaftshistorischen Literatur, die »erste Welle der Globalisierung« gestoppt und zu einer »De-Globalisierung« geführt, die insbesondere die europäischen Länder getroffen habe und neben Großbritannien sehr schwer auch die Weimarer Republik. 4 1 2 3 4
Kurt Tucholsky: Kurzer Abriß der Nationalökonomie, in: Sabina Becker (Hrsg.): Kurt Tucholsky, Gesamtausgabe, Bd. 14: Texte 1931, Reinbek 1998, S. 395–398. Heike Knortz: Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik. Eine Einführung in Ökonomie und Gesellschaft der ersten deutschen Demokratie, Stuttgart 2010, S. 26 f. John Maynard Keynes: Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages. Übersetzt von M. J. Bonn und C. Brinkmann, München/Leipzig 1920. Gerd Hardach (Der Erste Weltkrieg, 1914–1918, Frankfurt a. M. 1973, S. 266) spricht in seiner immer noch klassischen Studie treffender von einer »Dezentralisierung der Weltwirtschaft«. Aus der neueren anglo-amerikanischen Literatur siehe insbes.: Jeffrey
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Jan-Otmar Hesse
Der wirtschaftsstatistische Befund für diese Sichtweise scheint eindeutig: Wie im nächsten Abschnitt knapp zu referieren sein wird, erreichte der deutsche Außenhandel in der Zwischenkriegszeit nie wieder die große Bedeutung, die er im Jahr 1913 hatte. Die makroökonomischen Indikatoren für die Handelsintegration waren rückläufig, die Zollpolitik der Weimarer Regierungen war protektionistisch, die Devisenknappheit groß. Diesem allgemeinen Befund stehen allerdings die vielfältigen Initiativen der Weimarer Wirtschaft gegenüber, selbst unter den deutlich schwierigeren Verhältnissen nach dem Ersten Weltkrieg rasch wieder international wettbewerbsfähig zu werden und auch das Auslandsengagement unmittelbar wiederaufzunehmen. Die globalen Wirtschaftsbeziehungen in der Zwischenkriegszeit zeichnen sich mithin zu allererst durch ihre Widersprüchlichkeit aus, so die in der jüngsten wirtschaftshistorischen Forschung sich allmählich durchsetzende Meinung.5 Von diesem Befund ausgehend wird im Folgenden die Meinung vertreten, dass die Rede von einer ökonomischen De-Globalisierung der Widersprüchlichkeit und den gegenläufigen Tendenzen in der Organisation der Weltwirtschaft nach dem Ersten Weltkrieg nicht gerecht wird. Nimmt man zu dem reichhaltigen Material der Außenhandelsstatistiken die unternehmenshistorischen Forschungen hinzu, so lässt sich an vielen Beispielen zeigen, dass die ökonomische Globalisierung aufgrund der politischen Rahmenbedingungen wohl letztlich einen Formwandel erfuhr. Der zunehmende handelspolitische Protektionismus und die tiefgreifenden kriegsbedingten Veränderungen der nationalen Produktionsregime brachten die Unternehmen dazu, weltwirtschaftliche Integration über andere Kanäle als über den Außenhandel zu betreiben.6 Dieses Argument wird im Folgenden auf zwei Ebenen untermauert:
5
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Frieden: Global Capitalism. Its Fall and Rise in the 20th century, New York 2006, S. 129–134 und Ronald Findlay/Kevin O’Rourke: Power and Plenty. Trade, War, and the World Economy in the Second Millennium, 6. Aufl. Princeton 2009, S. 429–472; Robert Boyce: The Great Interwar Crisis and the Collapse of Globalization, New York 2009. Chris Wrigley: The War and the International Economy, in: Chris Wrigley (Hrsg.): The First World War and the International Economy, Cheltenham 2001, S. 1–34; Findlay/O’Rourke, Power (wie Anm. 4), S. 443–455; Adam Tooze: Deluge. The Great War and the Remaking of Global Order, 1916–1931, London 2015, S. 519; Boris Barth: Europa nach dem Großen Krieg. Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit, 1918–1938, Frankfurt a. M. 2016, insbes. S. 108. Der Begriff des Formwandels wurde jüngst verwendet von: Andrew Smith/Simon Mollan/Kevin D. Tennent: Introduction, in: dies. (Hrsg.): The Impact of the First World War on International Business, New York 2017, S. 1–21, hier: S. 8; siehe mit ähnlicher Stoßrichtung auch Geoffrey Jones: Multinationals and Global Capitalism: From the Nineteenth to the Twenty-First Century, New York 2005; Christof Dejung/Niels P.
Die globale Verflechtung der Weimarer Wirtschaft
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Nach dem anschließenden Referat der außenwirtschaftlichen Befunde soll zunächst eine sehr kurze technische Auseinandersetzung mit den Regeln der Außenhandelsstatistik erfolgen, die wichtige Aspekte der globalen Verflechtung der Wirtschaft gar nicht erfassen kann und deshalb nicht als alleiniger Beleg für die Diagnose von De-Globalisierungsprozessen verwendet werden sollte. Globale wirtschaftliche Verflechtungsprozesse resultieren nie ausschließlich aus dem Austausch zwischen Nationalstaaten, sondern finden auf der Ebene der Unternehmen statt, welche über globale Wertschöpfungsketten miteinander verbunden sind. Deshalb muss eine Untersuchung der globalen Verflechtung der Weimarer Wirtschaft auch bei den Unternehmen ansetzen, was im zweiten Abschnitt exemplarisch erfolgt. Hierbei stehen der Bankensektor, die eisenverarbeitende Industrie und die Teerfarbenindustrie im Mittelpunkt. Die einzelnen Fallstudien deuten darauf hin, dass die globale Verflechtung der Weimarer Wirtschaft in den 1920er Jahren durchaus beachtlich gewesen ist, sich aber nicht in der Außenhandelsstatistik niederschlug, weil die Konventionen einer nationalstaatlich orientierten Wirtschaftsstatistik nur eine bestimmte Form der internationalen Kooperation berücksichtigen.
Statistische Dokumentation der De-Globalisierung der deutschen Wirtschaft Bei nüchterner Betrachtung der Daten ist kaum zu bestreiten, dass der Erste Weltkrieg den globalen Handel empfindlich gestört hat und dass hierdurch auch die wirtschaftlichen Erholungstendenzen in der Zwischenkriegszeit belastet wurden. Am besten lässt sich dies durch die Quantifizierung der globalen Handelsvolumina im Vergleich mit der globalen Produktion illustrieren: Während die weltweite industrielle Produktion im Durchschnitt der Jahre 1926 bis 1930 gegenüber dem letzten Vorkriegsjahr um 41 % und die Weltbevölkerung um 11 % gewachsen war, stieg der globale Handel nur um 23 % (Rohstoffe) bzw. um 13 % (Fertigwaren) an.7 Zu diesem schon klassischen Befund zählt auch, dass die Entwicklung insbesondere Europa betraf, während in anderen Teilen der Welt, vor allem in den USA, der Außenhandel mit dem Wachstum der Produktion durchaus Schritt hielt. Diese Gesamtsituation spiegelte sich in
7
Petersson: Introduction, in: dies. (Hrsg.): The Foundations of Worldwide Economic Integration. Power, Institutions and Global Markets, 1850–1930, Cambridge 2013, S. 1–17. Verena Schröter: Die deutsche Industrie auf dem Weltmarkt 1929–1933, Frankfurt a. M. 1984, S. 516.
350
Jan-Otmar Hesse
der Weimarer Wirtschaft, in der die Produktion in den meisten Sektoren im Verlauf der 1920er Jahre wieder an das Vorkriegsniveau herangeführt und zum großen Teil sogar überschritten werden konnte, nicht aber der Export. Nur bei wenigen Warengruppen – Metallwaren und Maschinenbau sowie chemischen Fertigprodukten – überstieg das Exportvolumen kurz vor der Weltwirtschaftskrise das Vorkriegsniveau, während im Durchschnitt aller Gütergruppen dieses Niveau nicht wieder erreicht werden konnte. Der Export von Nahrungsmitteln entsprach 1928/29 sogar nur der Hälfte des Exportvolumens von 1913.8 Tabelle 1: Exportvolumina des Deutschen Reiches 1924–1933 in Prozent der Wert von 19139 Darunter:
Darunter:
Jahr
Nahrungsmittel
Roh stoffe
Halb waren
Eisen und Halbzeug
Fertig waren
Ma schinen
Chemieprodukte
1924
36,2
26,6
35,1
24,0
62,8
60,5
45,1
1925
42,0
63,9
59,6
51,4
74,1
78,4
68,7
1926
42,2
80,6
83,1
80,9
79,2
86,4
79,2
1927
31,0
76,0
77,5
66,1
86,4
91,2
86,8
1928
45,2
79,6
88,1
74,2
94,1
110,1
97,4
1929
55,6
90,3
101,2
86,2
106,7
129,6
108,9
1930
52,0
86,0
86,7
68,1
103,1
134,4
95,9
1931
45,7
79,6
75,5
61,3
92,5
117,7
86,8
1932
25,7
58,9
52,3
36,0
61,2
77,4
67,3
1933
24,7
58,8
47,4
32,7
55,2
59,6
61,2
8
9
Dietmar Petzina/Werner Abelshauser: Zum Problem der relativen Stagnation der deutschen Wirtschaft in den zwanziger Jahren, in: Hans Mommsen/Dietmar Petzina/Bernd Weisbrod (Hrsg.): Industrielles System und Politische Entwicklung in der Weimarer Republik. Bd. 1, 2. Aufl. Düsseldorf 1977, S. 57–76, hier: S. 72. Die Indices der Exportvolumina wurden 1965 von der Forschergruppe um Walter G. Hoffmann berechnet, indem die Exportwerte durch die Exportpreise dividiert wurden. Die Berechnung hat zahlreiche Probleme: Zum einen wird keine Korrektur des Gebietsstandes gegenüber der Vorkriegszeit vorgenommen. Zum anderen basieren die Außenhandelswerte vor 1928 auf nicht genauer spezifizierten Schätzungen von Sachverständigen; Walter G. Hoffmann: Das Wachstum der Deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1965, Tabelle 129, S. 531 und Tabelle 130, S. 534 sowie die Erläuterungen auf S. 532 und auf S. 535.
Die globale Verflechtung der Weimarer Wirtschaft
351
Nun lässt sich aus der vergleichenden Betrachtung der Produktions- und Handelsvolumina aber nicht zwangsläufig auf eine umfassende ökonomische De-Globalisierung schließen, zumal der globale Handel im Volumen ja gewachsen, die Weltwirtschaft also letztlich gegenüber der Vorkriegszeit »größer« geworden war. Das schnellere Wachstum der Produktion verweist letztlich darauf, dass durch den Ersten Weltkrieg die ökonomische Übermacht Großbritanniens und Europas zurückgedrängt worden war und in anderen Weltregionen – Südamerika, Japan – eigenständige Industrialisierungsprozesse in Gang gekommen waren. Um die Verflechtung der deutschen mit der globalen Wirtschaft unter den veränderten Strukturbedingungen der Weltwirtschaft zu erfassen, sind daher relative Maßstäbe wie die Exportquote zu bevorzugen. Dieser Maßstab setzt die Einnahmen, die durch die Warenausfuhr erzielt werden, in ein Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt. Der Wert des Exportweltmeisters Bundesrepublik Deutschland liegt heute bei 38 %. Vor dem Ersten Weltkrieg lag die Exportquote des Deutschen Reiches bei 15 %, was ungefähr dem westeuropäischen Durchschnittsniveau entsprach. In der Zwischenkriegszeit sank sie deutlich ab und lag 1950 nur noch bei 4,4 % für die Bundesrepublik bzw. bei 8,7 % für Westeuropa, um danach schnell, insbesondere in der sogenannten zweiten Globalisierungswelle, wieder anzusteigen.10 Freilich sind die in diesem Zusammenhang der Einfachheit halber häufig genutzten Daten für das Jahr 1950 alles andere als glücklich. Bei Betrachtung der Exportquote in der Weimarer Republik lässt sich eine De-Globalisierung jedenfalls nicht bestätigen: 1928 lag die Exportquote bei knapp 15 % und damit auf dem Niveau des Jahres 1910.11 Insbesondere während der relativen Stabilisierung der Weimarer Wirtschaft nach der Währungsreform hatte sich die Exportwirtschaft sehr gut entwickelt. Die Exporte erreichten am Vorabend der Weltwirtschaftskrise in vielen Gütergruppen wieder das Niveau der Vorkriegszeit. Bei Fertigwaren hatte die deutsche Exportwirtschaft mit 22,5 % den Weltmarktanteil der Vorkriegszeit wieder erreicht. Hierbei half eine günstige Entwicklung der Terms of Trade während der 1920er Jahre: Die deutsche Exportwirtschaft profitierte davon, dass auf
10 Angus Maddison: The World Economy. A Millennial Perspective, Paris 2006, S. 127; für Deutschland: Markus Lampe/Nikolaus Wolf: Binnenhandel und Außenhandel, in: Thomas Rahlf (Hrsg.): Deutschland in Daten. Zeitreihen zur Historischen Statistik, Bonn 2015, S. 276–291, hier: S. 281. 11 Ebd.; einige Werte der älteren Literatur weichen allerdings hiervon ab, z. B. Ausfuhr in % des Volkseinkommens nach jeweiligem Gebietsstand 22,1 % (1913) und 16,3 % (1928): Petzina/Abelshauser, Stagnation (wie Anm. 8), S. 57–76, hier: S. 71.
352
Jan-Otmar Hesse
dem Weltmarkt die Preise der im Deutschen Reich hergestellten Exportgüter anstiegen, während die Preise der Importgüter, die zu deren Herstellung benötigt wurden, stagnierten oder sogar sanken.12 Pro Kopf der Bevölkerung des verkleinerten Deutschen Reiches lag schon 1925 der Wert der deutschen Exporte über dem des Jahres 1910.13 Vor allem im Vergleich zu den wichtigsten europäischen Konkurrenten zeigte der deutsche Außenhandel bis zur Weltwirtschaftskrise mithin eine geradezu erstaunliche Rekonvaleszenz. Tabelle 2: Weltmarktanteil der deutschen Fertigwarenausfuhr 1925–1935 im Vergleich (in Prozent)14 Jahr
Deutschland
Großbritannien
Frankreich
USA
1913
22,9
26,7
11,3
10,8
1925
14,8
25,3
13,0
15,1
1926
16,3
23,3
11,6
16,4
1927
16,5
22,7
11,4
16,4
1928
17,3
21,8
10,5
17,2
1929
18,6
20,6
9,8
18,3
1930
19,8
19,4
10,2
15,4
1931
22,5
17,1
10,5
13,3
1932
21,6
19,4
10,6
11,1
1933
20,2
20,8
10,8
10,3
1934
17,7
20,5
10,3
11,8
1935
18,5
20,9
8,5
13,2
Das außenwirtschaftliche Problem der Weimarer Wirtschaft war letztlich nicht der Export, sondern der traditionell große Einfuhrbedarf. Er führte in den meisten Jahren zu einer negativen Handelsbilanz, so dass das Land ständig ausländische Währung (Devisen) brauchte, um die inländische Konsum- und Investitionsnachfrage zu befriedigen. Weil der Devisenbedarf durch Kapitalimporte gedeckt wurde, war die Weimarer Wirtschaft anfällig gegenüber den
12 Schröter, Industrie (wie Anm. 7), S. 519; Wolfram Fischer: Die Weimarer Republik unter den weltwirtschaftlichen Bedingungen der Zwischenkriegszeit, in: Hans Mommsen/ Dietmar Petzina/Bernd Weisbrod (Hrsg.): Industrielles System und Politische Entwicklung in der Weimarer Republik. Bd. 1, 2. Aufl. Düsseldorf 1977, S. 26–54. 13 Lampe/Wolf, Binnenhandel (wie Anm. 10), S. 282. 14 Schröter, Industrie (wie Anm. 7), S. 519.
Die globale Verflechtung der Weimarer Wirtschaft
353
Konjunkturen des internationalen Finanzmarktes und geriet daher Anfang der 1930er Jahre in eine schwere Krise. Die neuere wirtschaftswissenschaftliche Literatur nutzt noch einen weiteren Maßstab, um die Außenhandelsverflechtung einer Volkswirtschaft zu dokumentieren: Unter dem Begriff Offenheitsgrad werden Exporte und Importe addiert und ins Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt gesetzt. Nach diesem Maßstab büßte insbesondere Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg an weltwirtschaftlicher Offenheit ein. Der Offenheitsgrad sank hier von 30 % auf 20 % zum Beginn der Weltwirtschaftskrise und dann weiter auf etwas mehr als 10 % zu Beginn des Zweiten Weltkrieges. Für die anderen europäischen Länder war der Rückgang bis zur Weltwirtschaftskrise insgesamt moderater, was aber an dem niedrigeren Ausgangsniveau lag.15 Den größten De-Globalisierungsschub aber – das wird auch aus diesen Daten sehr deutlich sichtbar – erfuhr die Weltwirtschaft gar nicht durch den Ersten Weltkrieg, sondern erst durch die Weltwirtschaftskrise. Sowohl der Offenheitsgrad als auch die Exportquoten letztlich aller Welthandelsländer gingen danach sehr deutlich, in einigen Fällen dramatisch, zurück, und die Länder verfielen dem Protektionismus, der vorher erst in Ansätzen erkennbar war und auch in der Weimarer Republik erst während der Weltwirtschaftskrise die Oberhand gewann.16 Weil sowohl der Maßstab der Exportquoten als auch der Offenheitsgrad insofern problematisch sind, als ihre Höhe vor allem von der Größe des Binnenmarktes abhängig ist und damit die Bedeutung vor allen für diejenigen historischen Perioden schwer einzuschätzen ist, in denen es viele territoriale Neuordnungen gab, haben Ökonomen und Wirtschaftshistoriker nach besseren Maßstäben gesucht. Ein wichtiger Maßstab in diesem Zusammenhang bezieht sich auf den Unterschied in den Preisen, die für vergleichsweise homogene Güter an unterschiedlichen Orten bezahlt werden müssen (Commodity Price Integration). Wenn der globale Handel effizient funktioniert und nicht beschränkt ist – so die dahinterstehende außenhandelstheoretische Vorstellung – so müssten für identische Güter nach Abzug von Transportkosten überall auf der Welt die gleichen Preise bezahlt werden. Für die Zwischenkriegszeit lässt sich zeigen, dass insbesondere in der Inflationsphase nach dem Ersten Weltkrieg
15 Robert C. Feenstra/Alan M. Taylor: International Economics, 2. Aufl. New York 2011, S. 12. 16 Dirk Stegmann: Deutsche Zoll- und Handelspolitik 1924/25–1929 unter besonderer Berücksichtigung agrarischer und industrieller Interessen, in: Hans Mommsen/Dietmar Petzina/Bernd Weisbrod (Hrsg.): Industrielles System und Politische Entwicklung in der Weimarer Republik. Bd. 2, 2. Aufl. Düsseldorf 1977, S. 499–513.
354
Jan-Otmar Hesse
und dann wieder in den 1930er Jahren die Preisdifferenzen für viele Güter zunahmen. Am Ende der 1920er Jahre lag das Niveau der Marktpreisintegration aber kaum unter jenem der letzten Vorkriegsjahre. Auch nach diesem Maßstab ging der größere Desintegrationsimpuls von der Weltwirtschaftskrise aus und nicht vom Ersten Weltkrieg.17 Allerdings beziehen sich die von dem Team um Kevin O’Rourke erhobenen Daten im Wesentlichen auf die englischen Handelsbeziehungen, während vergleichbare Studien zu deutschen Handelsplätzen bislang nicht durchgeführt wurden.18 Problematisch ist auch, dass mit diesem Maßstab nur homogene Massengüter (Nahrungsmittel und Rohstoffe) betrachtet werden können, nicht aber die für die Weimarer Wirtschaft viel bedeutsameren Fertigwaren. Ein wichtiges Argument für die De-Globalisierungsthese stellen schließlich die konkreten handelspolitischen Maßnahmen der großen Welthandelsländer dar. Die Handelspolitik zeigte bereits in den 1920er Jahren protektionistische Tendenzen. Der handelsgewichtete Durchschnittszollsatz der Weimarer Republik lag mit 15 % im internationalen Vergleich 1925 hoch, wenn auch nur drei Prozentpunkte über dem Wert von 1913.19 Spitzenreiter in dieser Rangliste waren aber die USA, die bekanntlich schon vor dem Ersten Weltkrieg eine zutiefst protektionistische Außenhandelspolitik pflegten und diese nach der inländischen Wirtschaftskrise des Jahres 1921 noch ausbauten. Der handelsgewichtete Durchschnittszollsatz der USA betrug im Jahr 1925 26 %. Bezogen nur auf die zollpflichtigen Waren stieg der Wert in den USA bis 1932 auf 59 % an.20 Man kann daher gar nicht oft genug darauf hinweisen, dass die USA – Gallionsfigur des Freihandels nach dem Zweiten Weltkrieg – schon vor dem 17 Findlay/O’Rourke, Power (wie Anm. 4), S. 464. 18 Findlay/O’Rourke, Power (wie Anm. 4), stellen einige wenige Daten für Berlin in einem Online-Appendix zu dem folgenden Artikel zur Verfügung, die sich allerdings nur auf die Jahre 1927–1929 und 1930–1932 beziehen: William Hynes/David S. Jacks/Kevin O’Rourke: Commodity Market Disintegration in the Interwar Period, in: European Review of Economic History 16 (2012), S. 119–143. Ich danke Markus Lampe (Wien) für diesen Hinweis. 19 Zahlen nach: Douglas A. Irwin: The GATT’s Contribution to Economic Recovery in Post-War Western Europe, in: Barry Eichengreen (Hrsg.): Europe’s Post-War Recovery, Cambridge 1995, S. 127–150. Den »handelsgewichteten Durchschnittszollsatz« erhält man, wenn die gesamten Zolleinnahmen durch die Summe der Importwerte geteilt werden. 20 Chad P. Bown/Douglas A. Irwin: The GATT’s Starting Point: Tarif Levels Circa 1947, NBER Working Paper 21782, Dezember 2015, S. 8. – Hier auch Ausführungen zu den unterschiedlichen Maßstäben zur Messung von Zollschranken. Bei Berücksichtigung der zollfreien Waren betrug der handelsgewichtete Durchschnittszoll der USA 1932 ca. 40 %.
Die globale Verflechtung der Weimarer Wirtschaft
355
Ersten Weltkrieg eine zutiefst protektionistische Wirtschaftspolitik mit hohen Zollsätzen und prohibitiven Handelsbeschränkungen eingeleitet hatten. Die USA aber zum alleinigen Verursacher des Zusammenbruchs des Welthandels in der Weltwirtschaftskrise zu machen, wäre gleichwohl verfehlt. Denn zum einen stellte der Smoot-Hawley-Tarif von 1930 gegenüber dem Protektionismus der 1920er Jahre keine sehr gravierende Erhöhung der Zollmauern dar. Die Zollsätze verschärften sich vor allem durch den Preisverfall. Zum anderen lässt sich zeigen, dass sich die Abwärtsbewegung erst mit der Währungskrise des Jahres 1931 beschleunigte, der Protektionismus der Handelsländer also eine Reaktion auf das Währungsdumping und nicht auf die amerikanische Handelspolitik gewesen ist.21 Selbst überzeugte Freihandelsnationen aber, wie Großbritannien und die Niederlande, hatten ihre Zollpolitik nach dem Ersten Weltkrieg verschärft, wenn auch auf sehr niedrigem Niveau. In Großbritannien erfolgte die Umkehr zu einer protektionistischen Außenhandelspolitik mit dem Imperial Preference Tarif auf der Ottawa-Konferenz des Commonwealth 1932, die letztlich einen britischen Handels- und Währungsblock schuf.22 In der Weimarer Republik fiel die zollpolitische Wende moderater aus. Zunächst war nach der Wiedergewinnung der außenwirtschaftlichen Souveränität 1925 ein Zolltarif erlassen worden, der noch unter dem Satz des protektionistischen Bülow-Tarifes von 1902 fixiert wurde. In der Wirtschafts- und Regierungskrise der Jahre nach 1928 setzten sich dann protektionistische Positionen immer mehr durch. Mit der Einführung der Devisenbewirtschaftung im Juli 1931 kam ein währungspolitisches Instrument hinzu, das spätestens seit 1932 in protektionistischer Weise eingesetzt wurde.23 Wenn man alle statistisch auf einer Makroebene messbaren Daten zusammennimmt, so ergibt sich hinsichtlich der globalen Verflechtung der Weimarer Wirtschaft ein vergleichsweise eindeutiges Bild, das in der älteren Lite-
21 Barry Eichengreen/Douglas A. Irwin: Trade blocs, currency blocs and the reorientation of world trade in the 1930s, in: Journal of International Economics 38(1995), S. 1–24; Douglas A. Irwin: Clashing Over Commerce. A History of US Trade Policy, Chicago/ London 2017, S. 439–441. 22 Alan de Bromhead/Alan Fernihough/Markus Lampe/Kevin O’Rourke: When Britain Turned Inward: The Impact of Interwar British Protection, in: American Economic Review 109 (2019), Nr. 2. 23 Jürgen Bellers: Außenwirtschaftspolitik und politisches System. Historisch-komparatistische Studien zur Weimarer Republik und zur Bundesrepublik Deutschland im Vergleich mit anderen Industrie- und Entwicklungsländern, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 241–245; Stegmann, Handelspolitik (wie Anm. 16), S. 499–513.
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ratur auch schon einmal sehr deutlich herausgearbeitet worden ist:24 Danach hat es nach dem Ersten Weltkrieg keine drastische, aber immerhin tendenzielle weltwirtschaftliche Desintegration gegeben, in der der Agrarprotektionismus der europäischen Industrieländer eine wichtige Triebkraft darstellte. Weltwirtschaftlich betrachtet stellte diese Veränderung keineswegs einen Zusammenbruch des Handels dar, sondern höchstens eine Verlagerung der Handelsströme weg von Europa, eine »weltwirtschaftliche Dezentralisierung« (Gerd Hardach). Diese Verlagerung traf zuallererst und am stärksten Großbritannien, dann aber auch die anderen europäischen Mächte und hiermit auch die Weimarer Republik. In anderen Teilen der Welt, beispielsweise in Südamerika und in Asien, waren die 1920er Jahre dagegen eine regelrechte Blütezeit des Welthandels.25 Auch strukturell glich das Welthandelssystem der 1920er Jahre eher dem Vorkriegssystem, als dem Regime, das in der Weltwirtschaftskrise errichtet wurde: Jenes basierte auf multilateralen Handelsbeziehungen nach dem Prinzip der Meistbegünstigung und verband die Rohstoffexportländer der Peripherie mit den Fertigwarenexporteuren in Europa, dieses basierte auf bilateralen Handelsverträgen und ökonomischer Blockbildung.26 Erst mit der Weltwirtschaftskrise verdichteten sich die Tendenzen einer Desintegration zu einer tatsächlichen De-Globalisierung, welche in unterschiedlichen Weltregionen und für unterschiedliche Währungsräume durchaus unterschiedliche Qualität hatte, aber im Ergebnis den allseits diagnostizierten Tiefpunkt der weltwirtschaftlichen Verflechtung herbeiführte, der bis in die 1950er Jahre andauerte.27 Für die Bewertung der weltwirtschaftlichen Verflechtung der Weimarer Wirtschaft heißt dieser Befund zum einen, dass diese nach dem Ersten Weltkrieg mit größeren Schwierigkeiten zu kämpfen hatte und daher insgesamt unter ungünstigen Rahmenbedingungen erfolgen musste. Zum anderen konnte die weltwirtschaftliche Verflechtung nur noch zum Teil über den Weg des konventionellen Außenhandels erfolgen und die international operierenden Unternehmen mussten nach anderen Formen suchen. Dieses Moment des Formwandels der globalen Verflechtung soll – nach einem kurzen methodenkritischen Zwischenschritt – im dritten Abschnitt beschrieben werden. 24 Vgl. hierzu die hervorragende Arbeit von Verena Schröter (Industrie, wie Anm. 7), insbes. S. 32. 25 Siehe pars pro toto: Victor Bulmer-Thomas: The Economic History of Latin America Since Independence, New York 1995, S. 155–193; Rudolf Hartmann: Geschichte des modernen Japan. Von Meiji bis Heisei, Berlin 1996, S. 122–165. 26 Schröter, Industrie (wie Anm. 7), S. 39. 27 Barry Eichengreen/Douglas A. Irwin: The Slide to Protectionism in the Great Depression. Who Succumbed and Why?, in: The Journal of Economic History 70 (2010), S. 871–897.
Die globale Verflechtung der Weimarer Wirtschaft
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Die nationalstaatliche Logik der Außenhandelsstatistik und Global Value Chains Es ist längst bekannt und vielfach kritisch diskutiert worden, dass die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung und mit ihr auch die Außenhandels- bzw. Zahlungsbilanzstatistik ein äußerst problematisches statistisches Instrument ist. Historisch ist sie überhaupt erst aus dem Bedürfnis der vielfältigen Entschädigungszahlungen und Schuldverpflichtungen nach dem Ersten Weltkrieg entstanden. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, erhielt das national accounting eine zuverlässige, international standardisierte Gestalt.28 Für die konkrete Frage nach der internationalen Verflechtung der Weimarer Wirtschaft hat die Zahlungsbilanzstatistik daher Schwächen: Ganz grundsätzlich sind territoriale Verschiebungen wie nach dem Ersten Weltkrieg ein Problem für das national accounting, führen sie doch dazu, dass zuvor nationale Handelsbeziehungen nun als Außenhandel gezählt bzw. häufiger: geschätzt werden. Für viele Fragen kann dieses Problem der territorialen Varianz durch die Bildung von Durchschnittswerten pro Kopf der Bevölkerung umgangen werden. Für den Außenhandel ist das aber nicht so einfach und ein Maßstab wie »Exporte pro Kopf« kann höchstens eine Behelfsgröße sein. Ein weiteres Problem besteht darin, dass in der Zahlungsbilanzstatistik Zahlungsströme und keine Warenströme erfasst werden. Wenn aber die Weltmarktpreise beispielsweise für deutsche Exportwaren im Vergleich mit den im Inland verkauften Waren sinken, so schlägt sich das in der Zahlungsbilanzstatistik als ein Exportrückgang nieder (sinkende Exportquote), obwohl sich an der physischen Weltmarktverflechtung unter Umständen gar nichts ändert, sondern nur die Gewinne und die Löhne in der Exportindustrie sinken. Sofern wir Weltmarktverflechtung als einen materiellen Prozess begreifen wollen, der persönlichen Austausch und physischen Warenverkehr beinhaltet, wird dieser durch die Zahlungsbilanzstatistik, die nur die durch Preisbewegungen gefilterten monetären Transaktionen erfasst, also unvollständig abgebildet. Schwankungen des Außenwerts der Währungen beeinflussen übrigens diesen Zusammenhang in ähnlicher Weise: Als der Außenwert der Reichsmark in der Weltwirtschaftskrise durch die Abwertung des Pfund-Sterling im September 1931 um 30 % anstieg, wurden die deutschen Produkte im Sterling- Raum um denselben Wert teurer und die Exportunternehmen mussten ihre Verkaufspreise theoretisch um den gleichen Wert senken, um konkurrenzfähig 28 Daniel Speich Chassé: Die Erfindung des Bruttosozialprodukts. Globale Ungleichheit in der Wissensgeschichte der Ökonomie, Göttingen 2013, S. 80–112.
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zu bleiben und den gleichen Warenabsatz zu erreichen. Das war gewissermaßen der währungspolitische Hintergrund von Brünings »Deflationspolitik«. Umgekehrt bescherte der Währungsverfall in den Inflationsjahren nach dem Ersten Weltkrieg der deutschen Wirtschaft einen Export- und inländischen Investitionsboom.29 Ein dritter Problemkomplex ist indirekt mit dieser Thematik verbunden: Zahlungsbilanzstatistiken sind nur dann kompatibel, wenn es sich um Marktwirtschaften handelt, denn nur dann können wir eine Preisbildung unterstellen, die nicht durch Machtpolitik bestimmt wird. Wäre das der Fall, könnten also für bestimmte Güter im Außenhandel sehr hohe politische Preise erzielt werden, so würden die Exporte dieser Güter gegenüber dem tatsächlichen Warenfluss als zu hoch erscheinen. Dieses Problem tritt vor allem im Handel mit staatssozialistischen Ländern auf. Weil es sich dabei häufig um reine Kompensationsgeschäfte handelt, also um reinen Warentausch ohne Einschaltung von Geld, stellen die für die Außenhandelsstatistik ausschlaggebenden Zollanmeldungen sogar nur fiktive Preise dar. Für die Weimarer Republik betraf diese Problematik zunächst nur den Handel mit der Sowjetunion, die allerdings im Verlauf der Weltwirtschaftskrise kurzzeitig der zweitwichtigste Handelspartner der Weimarer Republik war.30 Nach der Einführung der Devisenbewirtschaftung im Sommer 1931 wurden aber letztlich mit allen südosteuropäischen Handelspartnern Kompensationsgeschäfte durchgeführt, in denen die Preise für jede einzelne Transaktion ausgehandelt wurden. Die tatsächliche Handelsverflechtung mit diesen Gebieten ist auf der Grundlage der Außenhandelsstatistik kaum mehr adäquat zu erfassen und sämtliche Daten
29 Zu den Inflationsjahren siehe: Carl-Ludwig Holtfrerich: Aus dem Alltag des Reichswirtschaftsministeriums während der Großen Inflation 1919–1923/24, in: ders. (Hrsg.): Das Reichswirtschaftsministerium der Weimarer Republik und seine Vorläufer, Berlin/ Boston 2016, S. 237 f.; zur Deflationspolitik siehe: Harold James: Das Reichswirtschaftsministerium und die Außenwirtschaftspolitik: »Wir deutschen Pleitokraten, wir sitzen und beraten«, in: Carl-Ludwig Holtfrerich (Hrsg.): Das Reichswirtschaftsministerium der Weimarer Republik und seine Vorläufer, Berlin/Boston 2016, S. 569–571; zur Diskussion um Brünings »Handlungsspielräume« siehe auch die Zusammenfassung von Roman Köster: Keine Zwangslagen? Anmerkungen zu einer neuen Debatte über die deutsche Wirtschaftspolitik in der Großen Depression, in: Vierteljahrsschrift für Zeitgeschichte 63 (2015), S. 241–257. 30 Schröter, Industrie (wie Anm. 7), S. 66. – Mit 11 % Anteil an allen Exporten zweitgrößter Handelspartner nach den Niederlanden. Siehe auch: Oleg Kashirskikh: Die deutschsowjetischen Handelsbeziehungen in den Jahren 1925–1932. Deutschlands Rolle im außenwirtschaftlichen Integrationsbestreben der Sowjetunion, Frankfurt a. M. 2006.
Die globale Verflechtung der Weimarer Wirtschaft
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über Exportquoten und Offenheitsgrade sind schon aus diesem Grund für die Zeit nach 1931 problembehaftet. Dies gilt auch für die Ausländischen Direktinvestitionen (Foreign Direct Investment, FDI) in diesen Gebieten. Von Ausländischen Direktinvestitionen spricht man immer dann, wenn aus dem Inland Geldkapital ins Ausland transferiert wird, mit dem Ziel dort eine stimmrechtsrelevante Unternehmensbeteiligung zu erwerben. Nach der heute gängigen Definition trifft das immer dann zu, wenn ein inländisches Unternehmen mehr als 10 % am Kapital eines ausländischen Unternehmens erwirbt.31 Oberflächlich betrachtet sind FDI ein gutes Maß für die globale Verflechtung der Wirtschaft eines Landes, verweisen sie doch auf direkte Kapitalbeteiligungen im Ausland. Aber zum einem ist in diese Art der Transaktion wiederum das Währungsproblem eingeflochten. Deutsche Kapitalbeteiligungen in Südosteuropa wurden nach der Einführung der Devisenbewirtschaftung beispielsweise mit einem offiziellen Umtauschkurs in der Kapitalverkehrsstatistik erfasst, während der Gegenwert in einem freien Devisenmarkt ggf. viel höher gewesen wäre. Deshalb ist die in den 1980er Jahren von dem britischen Ökonomen John Dunning in die Welt gesetzte und seitdem vielfach abgeschriebene Zahl, nach der die deutschen FDI 1938 nur noch 350 Millionen Dollar betragen hätten, gerade einmal 1,3 % aller ausländischen Direktinvestitionen weltweit, während die deutschen Unternehmen 1914 fast über den fünffachen Wert verfügt hätten (10,5 % aller FDI), mit äußerster Vorsicht zu genießen. Zwar klingt die auf eine Schätzung des Völkerbunds zurückgehende Zahl auf den ersten Blick plausibel, denn die deutschen Unternehmen hatten ihren Auslandsbesitz nach dem Ersten Weltkrieg ja weitgehend verloren. Schon Dunnings Umrechnung der deutschen FDI in Dollar birgt – wie oben erläutert – für das Jahr 1938 aber ein erhebliches Fehlerpotential.32 Darüber hinaus berichtet die jüngere unternehmenshistorische Forschung von vielen Fällen, in denen Unternehmen noch vor der Währungsstabilisierung ihr Auslandsengagement wieder ausgedehnt haben. Schätzungen zufolge müssen die deutschen FDI daher in den 1920er Jahren um ein Vielfaches höher gewesen
31 International Monetary Fund: Balance of Payments Manual, 1993, S. 86. 32 John H. Dunning: Changes in the Level and Structure of International Production: The Last One-Hundred Years, in: Mark Casson (Hrsg.): The Growth of International Business, London 1982, S. 84–139, hier: S. 87. Charles Feinstein/K. Watson: Private International Capital Flows in Europe in the Interwar Period, in: Charles H. Feinstein (Hrsg.): Banking, Currency and Finance in Europe Between the Wars, Oxford 1995, gehen für das Jahr 1938 von 700 Millionen Dollar aus.
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sein.33 Dabei waren ausländische Direktinvestition nur eine von vielen Möglichkeiten der globalen Verflechtung deutscher Unternehmen. Eine Beteiligung beispielsweise eines deutschen Kaufmanns in Südamerika oder Südosteuropa kann auch vollkommen ohne internationalen Kapitaltransfer mit Hilfe des ausländischen Finanzmarktes erfolgen. In diesem Fall gibt es keine ausländische Direktinvestition, aber eine vergleichbare »globale Verflechtung« der deutschen Wirtschaft. Vor allem wissen wir aber aus vielen Einzelbeispielen, dass deutsche Unternehmen sich häufig über »Strohmänner« im Ausland engagierten oder ihr Kapital über ausländische Töchter von deutschen Großbanken transferierten, was beides in der Kapitalverkehrsstatistik nicht als FDI erscheinen würde. Die Außenhandelstheorie hat zwischenzeitlich aufwändige Verfahren entwickelt, um diese Schwierigkeiten der Zahlungsbilanzstatistik in den Griff zu bekommen und zu genaueren Aussagen über die wirtschaftliche Verflechtung zu kommen.34 Eine Möglichkeit, die mit geringer ökonometrischer Methodenkenntnis auskommt und daher der nicht formalistischen Wirtschaftsgeschichte näherliegt, besteht darin, auf der Ebene der Unternehmen zu forschen. Die Unternehmen werden dabei als Bestandteile globaler Wertschöpfungsketten betrachtet und es wird konkret untersucht, welche Schwierigkeiten einzelnen Unternehmen die Abkopplung von internationalen Rohstoff- oder Absatzmärkten bereitete und auf welche Weise sie versuchten, diese Schwierigkeiten zu bewältigen. Wurde versucht, Absatz- und Rohstoffmärkte außerhalb der klassischen Handelspartner Großbritannien und den USA stärker zu erschließen, was gesamtwirtschaftlich einer Verlagerung von Handelsströmen entspräche? Oder wurde versucht, durch Kooperationsverträge oder gar den Kauf von Tochterunternehmen im Ausland, die Produktion zu verlagern, was sich in der Außenhandelsstatistik nicht niederschlagen würde, gleichsam eine »unsichtbare Globalisierung« darstellt? Die Untersuchung von globalen Wertschöpfungsketten schließt an jüngere sozialwissenschaftliche Untersuchungen der Globalisierung an. Wertschöpfungsketten werden heuristisch als diejenigen linear gedachten Produktionsprozesse interpretiert, welche einem im Inland hergestellten oder vertriebenen Endprodukt vorgelagert sind. Idealtypisch wird von dem in den
33 Youssef Cassis (Metropolen des Kapitals. Die Geschichte der internationalen Finanzzentren 1780–2005, Hamburg 2007, S. 255) berichtet, dass 1922 allein die FDI der deutschen Großbanken in Amsterdam 2 bis 6 Milliarden Goldmark betragen hätten (das wären ungefähr 476 Millionen bis 1,43 Milliarden Dollar). 34 Nikolaus Wolf: Was Germany Ever United? Evidence from Intra- and International Trade, 1885–1933, in: The Journal of Economic History 69 (2009), S. 846–881.
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USA verkauften iPhone oder einem in Florida verkauften T-Shirt ausgegangen und sämtliche an der Herstellung international beteiligten Produktionsschritte zurückverfolgt.35 Betrachtet man nun die deutschen Unternehmen der Weimarer Republik, die ihre Produkte an in- oder ausländische Konsumenten verkaufen, nicht als autonome Produktionseinheiten, sondern als Akteure innerhalb von globalen Wertschöpfungsketten, dann ergeben sich zahlreiche Modifikationen gegenüber der klassischen, auf den Nationalstaat bezogenen Versuchsanordnung in der Wirtschaftsgeschichte: 1. Wird die globale Verflechtung einer lokalen Wirtschaft nicht mehr als der Austausch zwischen strikt begrenzten Nationalstaaten gedacht, wie es das national accounting und die Außenhandelsforschung vorgibt, sondern als lokaler Produktionsabschnitt, von dem ausgehend viele lose Enden mehr oder weniger weit ins Ausland reichen. 2. Entfällt die Fokussierung auf den Rohstoff- und materiellen Güterhandel. Globale Wertschöpfungsketten sind immer eine Kombination von materiellem Gütertransfer und dem Transfer von Dienstleistungen, wobei Transportund internationale Finanzdienstleistungen eine wichtige Komponente waren. 3. Verlagert sich die Frage von der handelspolitischen Errichtung von Grenzen und Beschränkungen zur Frage nach der Rolle deutscher Akteure in den Wertschöpfungsketten der internationalen Arbeitsteilung. Die Verteilung der Profite, die innerhalb einer Global Value Chain erwirtschaftet werden, die an ihr beteiligten Akteure und damit die Frage nach der Macht und dem Einfluss von einzelnen Akteuren stehen letztlich im Mittelpunkt der diesbezüglichen Forschung.36 Ob und wenn ja in welcher Weise hier nationale Zuschreibungen und Identitäten eine Rolle gespielt haben und wie sich das gegenüber der Vorkriegszeit geändert hat, wäre überhaupt erst noch zu untersuchen. Mit dieser dreifachen Akzentverschiebung stößt die Untersuchung von globalen Wertschöpfungsketten die Tür zu einem neuen Forschungsansatz in der Wirt-
35 Pietra Rivoli: Reisebericht eines T-Shirts. Ein Alltagsprodukt erklärt die Weltwirtschaft, 3. Aufl. Berlin 2011; Gary G. Hamilton/Gary Gereffi: Global Commodity Chains, Market Makers, and the Rise of Demand-Responsive Economies, in: Jennifer Bair (Hrsg.): Frontiers of Commodity Chain Research, Stanford 2009, S. 136–161. 36 Jennifer Bair: The Corporation and the Global Value Chain, in: Grietje Baars/Andre Spicer (Hrsg.): The Corporation. A Critical, Multidisciplinary Handbook, Cambridge 2016, S. 326–335; Jennifer Bair: Global Commodity Chains. Genealogy and Review, in: dies. (Hrsg.): Frontiers of Commodity Chain Research, Stanford 2009, S. 1–35; Gary Gereffi/John Humphrey/Timothy Sturgeon: The Governance of Global Value Chains, in: Review of International Political Economy 12 (2005), S. 78–104.
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schafts- und Unternehmensgeschichte auf.37 Im Folgenden kann das Programm freilich nicht ausgeführt, sondern höchstens sein Potential auf der Grundlage von einigen Beispielen aus der Sekundärliteratur angedeutet werden.
Die Verflechtungsarbeit der deutschen Unternehmen Die Schwierigkeiten, die deutsche Unternehmen hatten, wenn sie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges am Welthandel teilnehmen und letztlich zu einem Teil einer integrierten modernen Weltwirtschaft werden wollten, sind kaum zu überschätzen. Viele Unternehmen hatten zunächst einen vollständigen Kapitalverlust erlitten, als ihnen ihre ausländischen Produktionsstätten, Liegenschaften und vor allem auch Patent- und Markenrechte entzogen worden waren. In den USA beispielsweise, vor dem Ersten Weltkrieg ein wichtiger Markt für die deutschen Unternehmen, waren unter der Regelung des 1917 erlassenen Trading with the Enemy Act mehr als 6.000 Patente und Markenrechte deutscher Unternehmen enteignet und bis zur Weltwirtschaftskrise aus unterschiedlichen Gründen auch nicht zurückgegeben worden. Bei manchen Unternehmen, beispielsweise bei Bayer, dauerte es letztlich bis in die 1990er Jahre, bis die Markenrechte zurückerworben werden konnten.38 Eine vergleichbare Regelung gab es in Großbritannien schon seit Kriegsbeginn.39 Die deutsche Handelsflotte war nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages vollständig enteignet worden. Schiffe, die während des Krieges in ausländischen Häfen festgesetzt worden waren, wechselten jetzt als Reparationsleistung den Besitzer. In Deutschland befindliche Schiffe, Binnenschiffe und ein Teil der Neuproduktion mussten zu einem Stichtag an die alliierte Schifffahrtskommission abgegeben
37 Jan-Otmar Hesse/Patrick Neveling: Global Value Chains, in: Teresa da Silva Lopes/ Christina Lubinski/Heidi Tworek: Routledge Companion to Makers of Modern Global Business, London/New York 2019, S. 279–293. Jan-Otmar Hesse: »Global Value Chains« und die vertikale Struktur des Kapitalismus. Überlegungen im Anschluss an Karl Marx und Eugen Böhm-Bawerk, in: ders., Christian Kleinschmdit/Roman Köster/Tim Schanetzky (Hrsg): Moderner Kapitalismus. Wirtschafts- und Unternehmenshistorische Beiträge, Tübingen 2019, S. 13–30. 38 Geoffrey Jones/Christina Lubinski: Managing Political Risk in Global Business: Beiersdorf 1914–1990, in: Enterprise and Society 13 (2012), S. 85–119; Corinna Ludwig: Amerikanische Herausforderungen. Deutsche Großunternehmen in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg, Frankfurt a. M. 2016, S. 225–227. 39 Panikos Panayi: Enemy in Our Midst. Germans in Britain during the First World War, New York/Oxford 1991, S. 132–149.
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werden. 40 Außerdem war ein Teil der Produktionsleistungen des Kohlebergbaus und auch der Chemieindustrie als Reparationsleistung direkt an die Siegermächte abzuliefern. 41 Besitzungen in allen Kolonialgebieten sowie auch in den Abtretungsgebieten (Elsass-Lothringen und Schlesien) gingen in die Hände der Siegermächte bzw. der Mandatsmächte über. Die Reichsregierung zahlte den Eigentümern hierfür wie auch für den Verlust an Handelsschiffen und die Inanspruchnahme von Produktionsleistungen zu Reparationszwecken zwar Entschädigungen. Die Zeit aber, diese Entschädigungen sinnvoll zu investieren, bevor die Hyperinflation sie auffraß, war in einigen Fällen denkbar knapp. Zu diesen Eigentumsverlusten kamen die handelspolitischen Diskriminierungen des Versailler Vertrages noch hinzu: So musste das Deutsche Reich den Siegermächten die einseitige Meistbegünstigung einräumen, also ihnen alle Konzessionen gewähren, die man Dritten gegenüber gewährte, ohne von den Siegermächten seinerseits Zugeständnisse erwarten zu können. In vielen Ländern war es Deutschen verboten, Eigentum zu erwerben, so dass Direktinvestitionen dort nur über »Strohmänner« abgewickelt werden konnten, was sie für den statistischen Blick der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ebenfalls unsichtbar macht. Viele dieser Bestimmungen wurden im Verlauf der 1920er Jahre gelockert. 1925 erhielt das Deutsche Reich die handelspolitische Souveränität zurück. Auch erwiesen sich einige der Bestimmungen des Versailler Vertrages mittelfristig als gar nicht so fatal, wie die deutsche Wirtschaft das anfangs annahm. So führte beispielsweise die Enteignung der Handelsflotte zu einer Schiffsbaukonjunktur in den Werften an Nord- und Ostsee, und die Reparationsleistungen sicherten den deutschen Exporteuren in einigen Fällen den Zugang zu ausländischen Märkten, der andernfalls versperrt gewesen wäre. 42 Gleichwohl waren die Rahmenbedingungen für die globale Verflechtung natürlich schwierig. Für die zeitgenössische Kommentierung der Rückkehr in die Weltwirtschaft lag die Messlatte zudem fast unerreichbar hoch, hatten doch die deutschen Chemie- und Elektroriesen diese Weltwirtschaft vor dem Ersten Weltkrieg faktisch vollkommen beherrscht.
40 Hartmut Rübner: Konzentration und Krise der deutschen Schifffahrt. Maritime Wirtschaft und Politik im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, Bremen 2005, S. 68–74. 41 Dieter Ziegler: Kriegswirtschaft, Kriegsfolgenbewältigung, Kriegsvorbereitung. Der deutsche Bergbau im dauernden Ausnahmezustand (1914–1945), in: ders. (Hrsg.): Geschichte des deutschen Bergbaus, Bd. 4: Rohstoffgewinnung im Strukturwandel. Der deutsche Bergbau im 20. Jahrhundert, Münster 2013, S. 49. 42 Schröter, Industrie (wie Anm. 7), S. 246.
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Der Finanzplatz Amsterdam und die deutschen Auslandsbanken Die Weltmarktverflechtung der deutschen Industrie war vor dem Ersten Weltkrieg durch das Bankensystem des Kaiserreiches unmittelbar unterstützt worden. Die starke Verbindung von Banken und Industrieunternehmen, die den deutschen Hochkapitalismus auszeichnete und durch eine intensive personelle Querverflechtung über die Aufsichtsräte gekennzeichnet war, hatte nicht zuletzt zur Gründung von zahlreichen Auslandsfilialen der deutschen Großbanken geführt. Gut bekannt sind beispielsweise die Abteilungen der Deutschen Bank in Shanghai und Istanbul, über welche die Finanzierung der Bagdad-Bahn abgewickelt wurde. 43 Danat-Bank und Dresdner Bank hatten gemeinsam die Deutsch-Südamerikanische Bank in Berlin gegründet, die mit sieben Filialen in Südamerika insbesondere Rohstoffexporte von dort nach Deutschland finanzierte. 44 Lediglich die vierte Berliner Großbank, die Commerz- und Privatbank, engagierte sich vor dem Ersten Weltkrieg nicht auf ausländischen Märkten (abgesehen von einer kleinen Filiale in London), weil die inländische Industriefinanzierung ihre Ressourcen hinreichend banden. Die Commerzbank begann ihre internationale Expansion überhaupt erst nach dem Ersten Weltkrieg. Während der Inflationsjahre transferierten viele Banken ihr eigenes Kapital und das ihrer Kunden ins Ausland, um es gegenüber der inländischen Geldentwertung in Sicherheit zu bringen. Die Dresdner Bank und die Danat-Bank bedienten sich hierzu ihrer Südamerika-Tochter. Als eigentlicher Magnet für das »Fluchtkapital« deutscher Banken und Kapitalanleger entwickelte sich aber Amsterdam, das vor dem Ersten Weltkrieg nicht als internationaler Bankenplatz in Erscheinung getreten war und überhaupt erst durch das deutsche Auslandsgeschäft nach 1920 aufstieg. 45 Zwischen 1919 und 1926 wurden hier gut 50 Banken von deutschen Privat- und Großbanken neu gegründet, vereinzelt auch von Industriellen, beispielsweise von Fritz Thyssen. Das Geschäft mit dem »Fluchtkapital« florierte bis 1924. Danach hatten sich die Auslandsinstitute der deutschen Banken so fest etabliert, dass sie sehr lukrativ weiter betrieben wurden. Am Bankhaus »Hugo Kaufmann & Co.« war die Berliner Commerzbank vermutlich seit 1921 mehrheitlich beteiligt. Über die Amsterdamer Tochter wickelte das deutsche Bankhaus Devisengeschäfte und
43 Werner Plumpe: Die Deutsche Bank in Ostasien, in: Historische Gesellschaft der Deutschen Bank (Hrsg.): Die Deutsche Bank in Ostasien, München/Zürich 2004, S. 23–90. 44 Johannes Bähr: Zwischen zwei Kontinenten. Hundert Jahre Dresdner Bank Lateinamerika, vormals Deutsch-Südamerikanische Bank, Frankfurt a. M. 2007, S. 33. 45 Cassis, Metropolen (wie Anm. 33), S. 258–265.
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Aktienspekulationsgeschäfte ab. Außerdem wurden auf diesem Wege Auslandsanleihen von deutschen Unternehmen platziert, beispielsweise die Beteiligung an einer Dollaranleihe für die Deutsche Reichsbahn und den Ruhrverband 1929. 46 Zwar wäre die Beteiligung der Commerzbank an »Hugo Kaufmann & Co.« in der Zahlungsbilanzstatistik des Deutschen Reiches als ausländische Direktinvestition erfasst worden. Für die Kapitaleinlagen deutscher Investoren bei der formal niederländischen Bank gilt das aber schon nicht mehr. Und ob die Finanztransfers während der chaotischen Nachkriegsjahre und während der Ruhrbesetzung überhaupt statistisch erfasst worden sind, lässt sich nicht vollständig aufklären. Verschiedene Hinweise von einzelnen Auslandsgeschäften deutscher Unternehmen – beispielsweise die über Ferrostaal abgewickelten Projekte der Gutehoffnungshütte oder die Nedinsco, eine 1921 zur Fortsetzung der Rüstungsgeschäfte vom Unternehmen Carl Zeiss in den Niederlanden gegründete Handelsgesellschaft 47 – legen jedenfalls den Schluss nahe, dass sich deutsche Großunternehmen auf ein solides Polster von ausländischen Kapitalanlagen stützen konnten, die während der Inflationsjahre bei den niederländischen und sonstigen ausländischen Töchtern der Berliner Großbanken in Sicherheit gebracht und in der Stabilisierungsphase planvoll investiert worden sind. Die Wertschöpfungskette der Finanzdienstleistungen der deutschen Großbanken bestand vor dem Ersten Weltkrieg überwiegend in einer Befriedigung der Investitionsnachfrage der deutschen Großindustrie und des Handels durch den inländischen Kapitalmarkt, wobei die Investitionsnachfrage zum Teil auch ausländische Projekte betraf. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden ausländische Projekte deutscher Unternehmen überwiegend durch den ausländischen Kapitalmarkt finanziert, wozu die deutschen Großbanken ins Ausland expandierten. Ein Teil der Wertschöpfung des Finanzgewerbes verlagerte sich damit ins Ausland. Die Vermögensanlage von Privatanlegern im Ausland, das »Fluchtkapital«, stellte eine krisenbedingte neue Wertschöpfungskette dar, die durch die gleichen Institutionen bedient werden konnte. Die Ausführungen
46 Christoph Kreutzmüller: Händler und Handlungsgehilfen. Der Finanzplatz Amsterdam und die deutschen Großbanken (1918–1945), Wiesbaden 2005, S. 78. 47 Christian Marx: Paul Reusch und die Gutehoffnungshütte. Leitung eines deutschen Großunternehmens, Göttingen 2013, S. 172; Johannes Bähr: Selbstbehauptung, Anpassung und Wandel. Die Carl-Zeiss-Stiftung und die Stiftungsbetriebe im »Dritten Reich«, in: Werner Plumpe (Hrsg.): Eine Vision, zwei Unternehmen. 125 Jahre CarlZeiss-Stiftung, München 2014, S. 168.
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eines eifrigen Mitarbeiters des Berliner Hauptsitzes der Commerz- und Privatbank brachte das 1923 wortreich zum Ausdruck: »Nichts ist doch internationaler als das Kapital. Es kennt keine Grenzen und ist beständig im Fluss. […] Eine Grossbank aber darf m. E. nicht warten, bis die Wellen, die solche Strömungen hervorrufen, das Schiff erreichen, und dann das Steuer umstellen. Eine Grossbank muss allen solchen wichtigen Strömungen, ganz gleich, wo sie einsetzen, nachgehen bis zum Entstehungspunkt; ja mehr als das: Sie muss so eingestellt sein, dass sie aus sich selbst heraus sofort Kenntnis davon bekommt, dass sie quasi fühlt, wenn irgendwo – und wäre es auch noch so weit draussen – eine solche wichtige Strömung im Entstehen begriffen ist.«48 Dabei war der Hinweis auf die Gewinnmöglichkeiten im Ausland mit allerlei Bemerkungen über die ›falschen Vorstellungen‹, angereichert, die »wir Durchschnittseuropäer uns durch den jahrelangen Anblick der üblichen Landkarten von der Welt machen.« Wie genau sich durch diese Entwicklungen die Wertschöpfung der Banken veränderte und im welchem Verhältnis Auslands- und Inlandswertschöpfung standen, ist bislang nicht untersucht worden. Auch sind die konkreten institutionellen Ausgestaltungen dieser globalen Expansion der Wertschöpfungsketten im Finanzgewerbe, bei denen ausländische Tochterunternehmen, aber auch Kooperationspartner, »Strohmänner« und Tarnfirmen zum Einsatz kamen, bislang nur in Einzelfällen untersucht worden. Ein sehr ungewöhnliches und mithin nicht repräsentatives Beispiel der Veränderung von globalen Wertschöpfungsketten im Dienstleistungssektor ist von Johannes Bähr in der Geschichte der Münchener Rückversicherungsgesellschaft beschrieben worden. Als eines der wenigen deutschen Unternehmen hatte diese erreicht, dass ihr 1923 für den Verlust eines Tochterunternehmens in den USA eine hohe Entschädigung von einer Million US-Dollar gezahlt wurde. Natürlich wurde die Entschädigung während der Inflationszeit in Dollar ausgezahlt und die Münchener Rückversicherung unterließ es, das Geld in die chronisch an Wert verlierende Mark zu transferieren. Stattdessen wurden die Dollarreserven in der Schweiz hinterlegt, indem man die Union Rückversicherungs-Gesellschaft in Zürich gründete. Ein großer Teil des Auslandsgeschäftes der Münchener Rückversicherung nach dem Ersten Weltkrieg war 48 Lehn, Anhang zu einem Schreiben an Direktor Konrad Klinge, 24.11.1923. Historisches Archiv der Commerzbank (Frankfurt), HAC-1/489. Ich danke Dr. Detlef Krause, dem Leiter des Archivs, für den Hinweis auf diese Quelle.
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in den folgenden Jahren nur möglich, weil die Versicherungsverträge mit dem Schweizerischen Dollarfond gesichert werden konnten. 49
Die eisenverarbeitende Industrie Die Eisen- und Stahlerzeugung im Deutschen Kaiserreich basierte traditionell auf einer prekären Erzversorgung. Die Erzvorkommen im Siegerland, Aachener Raum und im Saargebiet deckten den ständig wachsenden Bedarf der Ruhrindustrie nicht, so dass Erze über den Rhein eingeführt wurden. Im Deutschen Kaiserreich kamen die Erzvorkommen in Lothringen hinzu, die allerdings mit einem geringen Eisengehalt minderwertig waren, so dass ein besonderes Verhüttungsverfahren (Thomas-Verfahren) angewendet wurde. Trotz der Minette-Erze aus Lothringen war die deutsche Eisen- und Stahlindustrie zu 38 % von Eisenerzimporten abhängig, die vor dem Ersten Weltkrieg zu gut einem Drittel aus Spanien stammten. Mit dem Wegfall der lothringischen Erzgruben verschärfte sich die Importabhängigkeit der deutschen Eisenindustrie und das Importvolumen stieg auch im Verhältnis zu den vor dem Krieg den deutschen Import dominierenden Textilrohstoffen stark an.50 War wegen der schleppenden Konjunktur in den ersten Nachkriegsjahren und der Erschließung von kleineren bislang nicht lukrativen inländischen Lagerstätten sowie der Umstellung der Produktion auf die verstärkte Verwendung von Schrott der Erzimport zunächst noch begrenzt worden, so überstieg er 1927 wieder das Vorkriegsniveau.51 Fast 80 % des inländischen Bedarfs an Eisenerz musste 1927/29 importiert werden.52 Die Importabhängigkeit der Roheisenproduktion belastete auch die weiterverarbeitenden Betriebe der Stahlindustrie, insbesondere als die Vorkriegsproduktion im Verlauf der 1920er Jahre überschritten wurde. Zwar konnte
49 Johannes Bähr/Christopher Kopper: Munich Re. Die Geschichte der Münchener Rück, 1880–1980, Berlin 2015, S. 120–124. 50 Robert Jasper: Die regionalen Strukturwandlungen des deutschen Außenhandels von 1880–1938, Diss. FU Berlin 1996, S. 39 und S. 98–101. 51 Hoffmann, Wachstum (wie Anm. 9), S. 543; – die Mitteldeutschen Stahlwerke waren ein wichtiger Baustein des Flick-Imperiums; Kim Christian Priemel: Flick. Eine Konzerngeschichte vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik, Göttingen 2007; vgl. auch ähnliche Maßnahmen zur »Rohstoffsicherung« in der GHH: Marx, Reusch (wie Anm. 47), S. 134. 52 Ausschuss zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft (Hrsg.): Der deutsche Außenhandel unter Einwirkung weltwirtschaftlicher Strukturwandlungen, 20. Bd., erster Halbband, Berlin 1932, S. 337.
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die Eisen- und Stahlindustrie ihren ungebrochenen politischen Einfluss dazu benutzen, im ersten Zollgesetz der Weimarer Republik 1925 einen Einfuhrschutz zu erhalten. Einen größeren Beitrag erhofften sich die Unternehmen aber von der besseren Organisation der inländischen Produktion durch Absprachen zwischen den unterschiedlichen Verarbeitungsstufen. Schon vor dem Ersten Weltkrieg zeichnete sich die deutsche Eisen- und Stahlindustrie durch einen hohen Kartellierungsgrad aus. Der 1904 gegründete Stahlwerksverband oder das seit den 1890er Jahren nachweisbare Roheisenkartell waren klassische Absatzkartelle, die den Absatzmarkt für bestimmte Gütergruppen zwischen den größten Produzenten aufteilten, was zum Teil auch Exporte einschloss. Die klassischen Kartelle der Vorkriegszeit bezogen sich aber auf horizontale Absprachen, betrieben also eine Aufteilung des Marktes auf jeweils einer Produktionsstufe. Nach dem Ersten Weltkrieg kamen vertikale Absprachen, also zwischen unterschiedlichen Verarbeitungsstufen hinzu. Der Stahlwerksverband entwickelte sich in den 1920er Jahren zu einer mächtigen Interessenorganisation, die letztlich 1926 in der Syndikatsgründung der Vereinigten Stahlwerke mündete, in dem sich einige große Stahlproduzenten in Form einer gemeinsamen Absatzorganisation zusammenschlossen, um die Marktpreise für Stahl zu kontrollieren.53 Das belastete freilich die weiterverarbeitenden Unternehmen im Inland und damit letztlich wiederum den Fertigwarenexport. Die weiterverarbeitende Industrie war in einem eigenen Interessenverband zusammengeschlossen, der Arbeitsgemeinschaft der Eisen verarbeitenden Industrie (AVI). Einige Unternehmen waren sowohl Stahlproduzenten als auch Weiterverarbeiter und in beiden Vereinigungen Mitglied. Im Sommer 1925 kam es daher zum Interessenausgleich zwischen Stahlwerksverband und Weiterverarbeitern im Rahmen des AVI-Abkommens: Die Stahlproduzenten sicherten den AVI-Mitgliedern zu, sie für die Differenz zwischen den überhöhten inländischen Stahlpreisen und den Weltmarktpreisen zu kompensieren. Auf diese Weise konnten die weiterverarbeitenden Unternehmen mit konkurrenzfähigen Weltmarktpreisen für den Ankauf von Stahl kalkulieren, ohne die durch die Zölle überhöhten inländischen Marktpreise, die Dritten in Rechnung gestellt wurden, zu stören.54 Letztlich ging es im AVI-Abkommen darum, einen möglichst großen Abschnitt der Wertschöpfungskette der Stahlverarbeitung im Inland zu halten, obwohl die inländische Rohstoffbasis sich verschlechtert und die ausländische Konkurrenz hinsichtlich der Produktivität 53 Alfred Reckendrees: Das »Stahltrust«-Projekt. Die Gründung der Vereinigte Stahlwerke AG und ihre Unternehmensentwicklung 1926–1933/34, München 2000, S. 71. 54 Ebd., S. 130–135.
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aufgeholt hatte. Mit der internationalen Rohstahlgemeinschaft vom Herbst 1926, in der die deutsche, französische, belgische und luxemburgische Stahlindustrie eine Marktaufteilung in Kontinentaleuropa vereinbarten, wurde unter maßgeblicher Führung von Fritz Thyssen dieses Prinzip der Industrieorganisation auf die internationale Ebene ausgedehnt.55 Dadurch dass sich die deutsche Eisen- und Stahlindustrie durch die innenpolitische Durchsetzung eines Schutzzolls gegenüber den Stahlimporten erwehren konnte, zugleich aber für die weiterverarbeitende exportorientierte Industrie durch Kompensationszahlungen den Auslandsabsatz sicherte, konnte insbesondere die am Ende der Wertschöpfungskette agierende Fertigwarenindustrie sehr erfolgreich auf den Weltmärkten agieren. Hierzu gehörte auch die Gutehoffnungshütte (GHH). Das im Besitz der Haniel-Familie befindliche Unternehmen war schon am Ende des 19. Jahrhunderts zu einem global player aufgestiegen. Seit 1909 begann Paul Reusch, aus der einstigen Stahlhütte ein umfassend vertikal integriertes Unternehmenskonglomerat zu formen, das vom Steinkohlenbergbau, über die Eisenverhüttung und Stahlproduktion, der Walzstahl- und Drahtherstellung bis hin zur Veredelung faktisch sämtliche Stufen der Stahlwertschöpfungskette einbezog. Auf dieser Grundlage erreichte das Stammhaus in Oberhausen im Verlauf der 1920er Jahre beachtliche Exportquoten, im Jahr 1929 beispielsweise 37 %, wobei ein Teil der Exporte eben von eigenen ausländischen Tochterunternehmen aufgenommen wurde. Die Übernahme von zwei niederländischen Speditionsunternehmen, der Goederentransport Maatschappij Roll in Dordrecht und der Ferrostaal in Den Haag, bildete eine wichtige organisatorische Grundlage für die Exporterfolge der GHH. Die Ferrostaal war 1920 zunächst von Commerzbank und Metallgesellschaft gegründet worden, um deutsches Militärgut im Ausland zu vermarkten. Nach dem Einstieg der GHH diente es als wichtigste ausländische Handelsgesellschaft für deren Fertigwaren im Ausland und erhielt auch rasch die Exklusivvermarktung der MAN-Produkte.56
55 Ebd., vgl. auch: Jacques Bariéty: Das Zustandekommen der Internationalen Rohstahlgemeinschaft (1926) als Alternative zum mißlungenen »Schwerindustriellen Projekt« des Versailler Vertrages, in: Hans Mommsen/Dietmar Petzina/Bernd Weisbrod (Hrsg.): Industrielles System und Politische Entwicklung in der Weimarer Republik, Bd. 2, 2. Aufl. Düsseldorf 1977, S. 552–568. 56 Johannes Bähr: GHH und M. A. N. in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit (1920–1960), in: ders./Ralf Banken/Thomas Flemming (Hrsg.): Die MAN. Eine deutsche Industriegeschichte, München 2008, S. 231–371, insbes. S. 237–254.
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Noch im Ersten Weltkrieg hatte die GHH den Einstieg in den Schiffsbau begonnen, mit der Beteiligung an der Deutschen Werft in Hamburg, gemeinsam mit der HAPAG. Das Ziel war, den Absatzmarkt für die eigenen Stahlprodukte selbst zu erschließen und in der Nachkriegszeit unter Ausnutzung der Inflationszeit stark auszubauen. Hinzu kam der Einstieg in den Maschinen- und Anlagenbau durch den Erwerb einer Vielzahl von verarbeitenden Unternehmen in faktisch ganz Deutschland, am wichtigsten sicherlich die Übernahme der Aktienmehrheit an der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg. Paul Reusch habe »höhere Gewinnmargen in den nachgelagerten Produktionsstufen« erwartet und »seine Profitstrategie deshalb an einem vertikalen Unternehmensmodell« orientiert, so Christian Marx in seiner Unternehmensgeschichte.57 Unternehmenshistoriker sind heute skeptisch, ob Reuschs Strategie der vertikalen Integration auch ökonomisch erfolgreich war. Letztlich hat er wohl die Dynamik überschätzt, die in wichtigen Industriezweigen nach dem Kriegsende entstehen würde. Das Engagement im Schiffsbau erfüllte jedenfalls die Erwartungen nicht. Zwar platzierten die großen deutschen Reedereien nach der Zusicherung von Entschädigungen diverse Großaufträge auch bei der Deutschen Werft. An die Marktanteile der Vorkriegszeit konnten die Reeder aber nicht wieder anknüpfen. Hatten Norddeutscher Lloyd und HAPAG 1913 noch 32 % des transatlantischen Personenverkehrs von europäischen Häfen aus übernehmen können, kamen sie 1922 nur noch auf knapp 5 %. Fuhren 1913 noch 12,2 % der Schiffe, die amerikanische Häfen anliefen, unter deutscher Flagge, waren es 1929 nur noch 4,7 %.58 Der Auslandsabsatz der Fertigwaren der eisenverarbeitenden Industrie sowie des Maschinenbaus lief dagegen wesentlich besser. Hier flossen 1928 jeweils um 30 % des Produktionswertes in den Export.59 Betrachtet man diese Fertigwaren als Endpunkte einer globalen Wertschöpfungskette der Eisenverarbeitung, so stellte die stärkere Organisation und Kartellierung der inländischen Verarbeitungsstufe die angemessene Reaktion auf die größere Abhängigkeit von Erzimporten dar.
57 Marx, Reusch (wie Anm. 47), S. 172. 58 Rübner, Schiffahrt (wie Anm. 40), S. 158 und S. 225. 59 Schröter, Industrie (wie Anm. 7), S. 100. Nach Daten der Enquete, Außenhandel.
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Die Teerfarbenindustrie Die deutsche Teerfarbenindustrie gehörte vor dem Ersten Weltkrieg ebenfalls zu den Prunkstücken der deutschen Exportindustrie. Aufgrund eines sehr günstigen inländischen Patentrechtes, das die Prozesse, aber nicht die Endprodukte patentierte, war ein inländischer Wettbewerb um das effizienteste Produktionsverfahren entstanden, der die deutschen Farbstoffe konkurrenzlos günstig auf den Weltmarkt warf, den die deutschen Großunternehmen zu 90 % beherrschten. Dabei konnten sie sich auf einen schier grenzenlosen Zufluss des Grundstoffes der Farbenproduktion stützen, der als übelriechendes und höchst umweltschädliches Abfallprodukt der Steinkohleverkokung entstand. Die Bayer AG in Leverkusen und die Badische Anilin- und Soda-Fabrik in Ludwigshafen, kurz BASF, verwandelten ein Abfallprodukt der deutschen Steinkohlewirtschaft auf dem Weltmarkt buchstäblich zu Gold und versorgten hiermit große Teile der Textilindustrie in England und den USA.60 Der Erste Weltkrieg setzte dieser Dominanz ein Ende. Die Farbstoffproduktion im Inland wurde zurückgefahren. Die Sprengstoffproduktion ging nun vor. Weil die Industrie zugleich die ausbleibenden Lieferungen des Chilesalpeters zu ersetzen hatte, wurden die Forschungsabteilungen mit der Suche nach einer Syntheselösung gebunden. Zugleich übernahmen ausländische Konkurrenten große Teile des transatlantischen Geschäfts der deutschen Chemieunternehmen, spätestens als 1917 in den USA die Anlagen und Patente der deutschen Unternehmen enteignet worden waren. Der deutsche Anteil auf einem auch insgesamt durch den Aufbau nationaler Produktion erheblich geschrumpften Weltfarbstoffmarkt sank auf nur noch 56 % Ende der 1920er Jahre.61 Nicht zuletzt um Einfuhrzölle zu umgehen, hatte die Bayer AG schon im späten 19. Jahrhundert eigene Produktionsstätten in den USA aufgebaut, während man ursprünglich lediglich Zwischenprodukte exportieren wollte. Die USA stellten zu Beginn des Ersten Weltkrieges für das Unternehmen bereits einen wichtigen Absatzmarkt dar, auf dem Farbstoffe und Pharmazeutika (Aspirin) zusammen 18,4 % zum Konzernumsatz beitrugen.62 Der Verlust der Patentrechte im Rahmen des Trading with the Enemy Act 1917 und, für Bayer besonders
60 Siehe hierzu die knappe Schilderung der Chemieindustrie bei Werner Plumpe: Carl Duisberg 1861–1935. Anatomie eines Industriellen, München 2016, S. 18–21 und die dort verwendete Literatur. 61 Patrick Kleedehn: Die Rückkehr auf den Weltmarkt. Die Internationalisierung der Bayer AG nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Jahr 1961, Stuttgart 2007, S. 61–67. 62 Ebd., S. 260.
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schmerzlich, der Übergang des wichtigsten Patents für Aspirin an den größten Konkurrenten führte dazu, dass das Unternehmen nach dem Krieg mit der Gründung von Niederlassungen im Ausland äußerst zurückhaltend war. Trotzdem wurden auch in den USA später wieder Unternehmensanteile erworben und die IG Farben waren 1939 Marktführer auf dem amerikanischen Farbenmarkt, wobei der größte inländische Konkurrent, DuPont, dem Unternehmen nun dicht auf den Fersen war.63 Ein Grund für die erstaunliche Beharrungskraft der deutschen Chemieindustrie in den USA dürfte die wissenschaftliche Überlegenheit der deutschen Chemiker gewesen sein, die dazu führte, dass selbst nach der Übernahme von Patenten und Produktionseinrichtungen durch amerikanische Konkurrenten während des Ersten Weltkrieges sich deutsche Unternehmen wieder bedeutsame Marktanteile erarbeiten konnten. Mario Daniels berichtet in diesem Zusammenhang über einen ganz anderen Aspekt der weltwirtschaftlichen Verflechtung in den 1920er Jahren: Die Industriespionage des amerikanischen Chemiegiganten DuPont im Bayerwerk 1920 und die gut geplante Abwerbung von Industriechemikern, die mit attraktiven Konditionen und Gehältern über die Schweiz aus Leverkusen in die USA gelockt wurden. Die Farbwerke Hoechst AG versuchte solche Aktionen 1922 mit einem Entwurf zu einem »Gesetz gegen wirtschaftlichen Landesverrat« zu unterbinden, der tatsächlich im Reichstag diskutiert wurde.64 Ein Formwandel der globalen Verflechtung fand aber auch in der Chemieindustrie statt. Die deutschen Chemieunternehmen suchten – wenn sie mit der rechtlichen Durchsetzung von Entschädigung oder Rückgewinnung ihrer Auslandspatente nicht erfolgreich waren – sehr rasch den Weg der Einigung mit den neuen Konkurrenten und gingen daher insbesondere auf den wichtigen Exportmärkten eine Vielzahl von Absprachen über Markt- und Interessenaufteilungen ein. Daneben konzentrierten sie sich auf die Erschließung neuer Märkte, wobei China und Japan jetzt größere Bedeutung erhielten. Die IG Farben-Industrie, der 1925 errichtete Kartellzusammenschluss der deutschen Chemieindustrie, der auf ähnliche Weise wie in der Stahlindustrie dazu errichtet worden war, einen großen Teil der Wertschöpfungskette in der Teerfarbenindustrie im Inland zu halten, bezog 1929 noch immer die Hälfte seines Umsatzes aus dem Exportgeschäft, unterhielt 268 ausländische Produktionsbetriebe und weitere 458 ausländische
63 Ebd., S. 266. 64 Mario Daniels: »Wirtschaftlicher Landesverrat« im »Wirtschaftskampf gegen Deutschland«. Die deutsche Chemieindustrie und die Bekämpfung ausländischer Industriespionage in den 1920er Jahren, in: Historische Zeitschrift 299 (2014), S. 352–383.
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Vertriebsniederlassungen.65 Von einer De-Globalisierung kann man also nur insofern sprechen, als an die wahrhaft atemberaubenden Weltmarkterfolge der Bayer AG oder der BASF vor dem Ersten Weltkrieg nicht angeknüpft werden konnte. Die deutschen Chemieunternehmen hatten in den 1920er Jahren neue internationale Konkurrenz erhalten und erwehrten sich dieser durch inländische Kartellierung und ausländische Marktabsprachen, die es in dieser Form vor dem Ersten Weltkrieg nicht gegeben hatte. Wie sich im Detail die Praxis der globalen Verflechtung änderte, zeigt sich noch besser am Beispiel eines anderen Unternehmens, des Hamburger Konsumgüterherstellers Beiersdorf. Das Unternehmen war vor dem Ersten Weltkrieg als wichtiger Exporteur von Pflegemitteln, also Cremes und Salben und insbesondere einer medizinischen Zahncreme, aufgetreten, wobei die USA der wichtigste Auslandsmarkt gewesen waren. Die im Ersten Weltkrieg enteigneten Vermögenswerte von Beiersdorf summierten sich allein in den USA auf ca. 700 Millionen Dollar. Nach der Erfahrung des Verlustes von ausländischem Vermögen krempelte die Firma das Auslandsgeschäft in den 1920er Jahren organisatorisch vollständig um. Die Tochterunternehmen in der Schweiz und in den Niederlanden wurden als selbständige, formal von der Hamburger Muttergesellschaft vollkommen unabhängige Unternehmen eingetragen, die von Treuhändern verwaltet wurden. Die holländische Firma erwarb auch die enteigneten britischen Markenrechte. Das Unternehmen war also formal überhaupt kein deutsches mehr. In den USA wurde von einem früheren Mitarbeiter, der die amerikanische Staatsbürgerschaft besaß, eine neue Firma gegründet. Auch das amerikanische Auslandsgeschäft war also formal vollständig unabhängig von der deutschen Mutter, aber dennoch im Besitz der Markenrechte für das wichtigste Produkt des Unternehmens in den 1920er Jahren, Nivea. Schon 1924 wurden 24 % des Umsatzes des Gesamtunternehmens wieder im Ausland erzielt. Das alles passierte aber nicht über Export aus Deutschland, ja nicht einmal durch den Kauf von ausländischen Unternehmen oder irgendeinem Kapitaltransfer von Deutschland ins Ausland, sondern im Rahmen einer kompliziert verschachtelten Struktur verschiedener ausländischer und vollständig unabhängiger Firmen und Kapitalgesellschaften, die sich gegenseitig finanzierten und Gewinne in ausländischer Währung erwirtschafteten, welche dann über die Schweiz der Eigentümerfamilie zuflossen.66 65 Kleedehn, Weltmarkt (wie Anm. 61), S. 68. 66 Jones/Lubinski, Beiersdorf (wie Anm. 38), S. 85–96; siehe jüngst auch: Alfred Reckendrees: Beiersdorf. Die Geschichte des Unternehmens hinter den Marken Nivea, Tesa, Hansaplast & Co, München 2018.
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Die Globalisierung der Weimarer Wirtschaft In der wirtschaftshistorischen Forschung hat sich im Rahmen der Debatten über die Globalisierung der Wirtschaft der Konsens herausgebildet, dass die rasche globale Verflechtung der Wirtschaft, die mit der Freihandelsbewegung und den Cobden-Chevalier-Verträgen der 1860er Jahre begonnen und durch das Dampfschiff einen Schub erhalten hatte, durch den Ersten Weltkrieg empfindlich unterbrochen worden ist. Die Rede war von einer ökonomischen De-Globalisierung, die freilich häufig von ihrem Tiefpunkt im Zweiten Weltkrieg aus diagnostiziert wurde. War in der älteren Literatur zum Ersten Weltkrieg noch vorsichtiger von einer »Dezentralisierung der Weltwirtschaft« die Rede gewesen, weil sich die 1920er Jahre in einigen Ländern, insbesondere in Lateinamerika durchaus auch als wahrhafter Exportboom darstellten, so wurde seit den 1990er Jahren die Existenz eines Interwar Slump insbesondere durch die Heranziehung der Zahlungsbilanzstatistik mit immer besseren Daten untermauert. Erst in jüngerer Zeit entstehen wieder Zweifel an einer solchen Sichtweise, insbesondere wenn der Zeitraum zwischen Kriegsende und Weltwirtschaftskrise etwas feinmaschiger untersucht wird. Zumindest sei, so die Forschung, die Widersprüchlichkeit der Entwicklung zu konstatieren. Bei einzelnen Indikatoren und auf einzelnen Argumentationsebenen ließen sich aber auch Zeichen erkennen, die für eine Weiterführung der Globalisierung nach dem Ersten Weltkrieg sprechen. Für die globale Verflechtung der Weimarer Wirtschaft lassen sich beispielsweise einige Industriezweige ausmachen, die selbst nach statistischen Maßstäben ihre Exporterfolge der Vorkriegszeit noch übertrafen. Vor allem aber lässt sich erkennen, dass die deutsche Wirtschaft einen Formwandel durchlaufen musste, wenn sie die vor dem Krieg begonnene Globalisierung unter den Rahmenbedingungen der Zwischenkriegszeit fortsetzen wollte. Dabei war der Formwandel zunächst notgedrungen unter den Bedingungen der Auflagen des Versailler Vertrages und der Geldentwertung entstanden und lässt sich kaum als zielstrebige langfristige Unternehmensstrategie interpretieren, schon weil ihr ökonomischer Erfolg in den meisten Fällen noch unklar ist. Drei Aspekte dieses Formwandels können aus den präsentierten Unternehmensbeispielen jedenfalls als Hypothesen herausdestilliert werden: 1. Die Unternehmen waren in der unmittelbaren Nachkriegszeit gezwungen, ihre Auslandsgeschäfte über vollständig getarnte ausländische Tochterunternehmen durchzuführen, weil in vielen Ländern deutsche Unternehmen noch nicht zugelassen oder bürokratisch diskriminiert wurden. Die Schweiz und die Niederlande fungierten für dieses cloaking als internationale Scharniere der deutschen
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Industrie.67 2. Mit der Währungsstabilisierung 1924 kamen die Exporterfolge der deutschen Exportindustrien schnell wieder zurück, wenn auch die dominante Stellung der Vorkriegszeit in einer veränderten Umwelt selten erreicht werden konnte. Die starke inländische Kartellierung war dabei ein unmittelbarer Reflex auf die erstarkte Weltmarktkonkurrenz. Die deutschen Unternehmen versuchten über eine umfassende vertikale Integration verschiedener Produktionsstufen einen größtmöglichen Anteil der globalen Wertschöpfungskette inländisch zu organisieren. Dies lässt sich durchaus als Formwandel der Globalisierung diskutieren, der mit anderen Vorzeichen auch für britische, amerikanische und niederländische Unternehmen konstatiert wurde. In diesen Ländern verschwand die Free Standing Company (der Aufbau einer Auslandsfirma mit inländischem Kapital) und multinationale Unternehmen traten an ihre Stelle – ein Weg, der den deutschen Unternehmen nach dem Krieg viele Jahre lang versperrt war.68 3. Die deutschen Unternehmen flankierten ihre Auslandsstrategien mit umfangreichen Absprachen mit den ausländischen Konkurrenten, die meinem Eindruck nach gegenüber der Vorkriegszeit an Bedeutung zugenommen hatten und das auch deshalb, weil durch den Bedeutungsgewinn der kleinen Staaten (und die Entstehung neuer Staaten) nun viel mehr Interessen zu koordinieren waren. Die Internationale Rohstahlgemeinschaft (IRG) des Jahres 1926 steht für diese Entwicklung genauso wie die diversen Schifffahrtskonferenzen, mit denen die einzelnen Handels- und Passagierrouten unter den Konkurrenten fein säuberlich aufgeteilt wurden. Das internationale Röhrenkartell, das 1926 unter der Leitung der Vereinigten Stahlwerke gegründet wurde, machte faktisch dasselbe für den globalen Absatz von Stahlröhren.69 Die zunehmende Kartellierung der Weltwirtschaft haben Harm Schröter und Peter Fäßler vor längerem bereits betont.70 67 Insofern ist die Arbeit von Eva-Maria Roelevink äußerst bescheiden, wenn sie die Kohleexporte des RWKS in den Niederlanden als reines Geschäft mit dem Nachbarn charakterisiert; Eva-Maria Roelevink: Organisierte Intransparenz. Das Kohlesyndikat und der Niederländische Markt 1915–1932, München 2015. 68 Smith/Mollan/Tennent, Introduction (wie Anm. 6), S. 1–21, die sich unter anderem auf Mira Wilkins berufen. 69 Frank J. Nellißen: Das Mannesmann-Engagement in Brasilien von 1892–1995. Evolutionspfade internationaler Unternehmenstätigkeit aus wirtschaftshistorischer Sicht, München 1997, S. 70. 70 Harm G. Schröter: Kartellierung und Dekartellierung 1890–1990, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 81 (1994), S. 457–493; Peter E. Fäßler: Internationale Kartelle während der Deglobalisierung 1918–1939, in: Rolf Walter (Hrsg.): Globalisierung in der Geschichte. Erträge der 23. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 18. bis 21. März 2009 in Kiel, Stuttgart 2011, S. 233–251.
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Ob es sich hierbei um einen Formwandel der Globalisierung handeln könnte, wurde indes noch nicht systematisch untersucht, vielleicht auch deshalb, weil die Globalisierung einseitig als ein Prozess der zunehmenden Ausdehnung von »freien Märkten« interpretiert wird, die jenseits von Nationalstaaten existieren. Erst in jüngster Zeit wies der Ökonom Dani Rodrik dagegen darauf hin, dass Globalisierung ein paradoxer Prozess ist, in dem eine Vertiefung der globalen Arbeitsteilung mit einer Ausweitung der transnationalen Kooperation einhergeht, welche von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren durchgeführt wird.71 Diese Sichtweise erscheint aber schon deshalb für die Zwischenkriegszeit angemessen, weil bereits den zeitgenössischen Beobachtern aufgefallen war, dass in einigen Regionen internationale Absprachen zwischen Geschäftsvertretern die diplomatische Kommunikation zwischen Staaten ersetzten. Nach Meinung von Stephen Gross entstand aus einer Mischung von wirtschaftlicher Dominanz und kultureller Hegemonie gerade nach dem Ersten Weltkrieg im südosteuropäischen Raum gar ein deutsches informal empire, das die Herrschaftspläne der Nationalsozialisten klandestin vorbereitete.72 Wenn unter Globalisierung allein die verstärkte gegenseitige ökonomische Verflechtung von Nationalstaaten verstanden wird, wie es in der älteren, auf Zahlungsbilanzstatistiken beruhenden wirtschaftshistorischen Literatur zumeist erscheint, dann wird die tatsächliche weltwirtschaftliche Verflechtung der Weimarer Republik nach dem Ersten Weltkrieg kaum zu erfassen sein. In diesem Artikel wurde daher vorgeschlagen, nicht die nationalstaatliche Logik, sondern die Logik globaler Wertschöpfungsketten zugrunde zu legen. Dabei wird davon ausgegangen, dass eine Zunahme der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung globale Wohlstandseffekte zur Folge hat. Diese Arbeitsteilung lässt sich aber durch ganz unterschiedliche Formen erreichen und der Gütertausch über Märkte ist nur eine dieser Formen. Multinationale Unternehmen oder internationale Kartellabsprachen stellen weitere und ganz andere Formen der globalen Arbeitsteilung dar. Wie das im Einzelnen funktioniert, konnte im Rahmen dieses Beitrages auf der Grundlage von Einzelfunden aus der Sekundärliteratur nur angedeutet werden, und es soll auch gar nicht der Anspruch erhoben werden, hier bereits den Nachweis für diese Hypothese geliefert
71 Dani Rodrik: The Globalization Paradox. Why Global Markets, States, and Democracy Can’t Coexist, Oxford 2011. 72 Stephen G. Gross: Export Empire. German Soft Power in Southeastern Europe 1890– 1945, Cambridge 2015, S. 13 f. – Allerdings ist die Empirie für dieses Argument vergleichsweise schwach, weil sich das Buch letztlich nur mit der Leipziger Industriemesse beschäftigt.
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zu haben. Wenn ihr aber Plausibilität zugesprochen würde, dann bestünde ein Vorteil des vorgeschlagenen Vorgehens nicht zuletzt darin, dass sich hierdurch wesentlich einfacher Verknüpfungen mit der jüngeren sozial- und kulturhistorischen Literatur herstellen ließen. Es könnten so auch diejeningen Aspekte des Formwandels der Globalisierung einbezogen werden, die hier leider nicht weiter berücksichtigt werden konnten: So ließen beispielsweise die diversen internationalen Engagements der deutschen Großunternehmen eine Gruppe von globalen Wirtschaftsexperten entstehen, die – das zeigen ausgewählte Biographien73 – die deutsche Wirtschaftselite bis weit in die Bundesrepublik prägte. Wie diese Akteure ausgewählt und geschult wurden und nach welchen Regeln sie agierten, ist überhaupt noch nicht systematisch untersucht worden. Auch die Zusammenarbeit von deutschen und ausländischen Beschäftigten in den deutschen und ausländischen Unternehmensteilen ist höchstens in Einzelfällen bekannt geworden, wenn sich ein Mitarbeiter der Deutsch-Südamerikanischen Bank beispielsweise darüber wundert, dass in Brasilien auf ein ausgewogenes Verhältnis der Beschäftigten geachtet wurde, während in Argentinien die Bank gewissermaßen einen exterritorialen, rein deutschsprachigen Geschäftsstil kultivierte.74 Am Beispiel von Ford und General Motors ließe sich die Thematik unter umgekehrten Vorzeichen betrachten. Deutsche Unternehmen in den ehemaligen Kolonialgebieten, die von englischen oder französischen Mandatsmächten und deren Unternehmen übernommen wurden, und ihre Beziehungen zu Deutschland stellten ein weiteres Forschungsfeld dar. Die lange wissenschaftliche Konzentration auf den Nachweis der ökonomischen DeGlobalisierung führte die deutsche wirtschaftshistorische Forschung offenbar dazu, die vielfältigen Formen der globalen Verflechtung der Weimarer Wirtschaft zu vernachlässigen. Die Untersuchung von Global Value Chains bietet dagegen eine Gelegenheit, die Vielfältigkeit dieser Verflechtungen jenseits der Logik des national accounting und der nationalstaatlichen Handelspolitik wieder einzufangen.
73 Zum Beispiel der Bankmanager und spätere Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht: Christopher Kopper: Hjalmar Schacht. Aufstieg und Fall von Hitlers mächtigem Bankier, München 2010. 74 Bähr, Deutsch-Südamerikanische Bank (wie Anm. 44), S. 42.
Verzeichnis der Abkürzungen
ADMV AEG AG ANC AVI BArch BASF BDF Calif. CNFF CUP D. i. A. DDP DEFA DKG DMZ EGO FDI FLN GATT
Allgemeiner Deutscher Musikverein Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft Aktiengesellschaft African National Congress Arbeitsgemeinschaft der Eisen verarbeitenden Industrie Bundesarchiv Badische Anilin- & Soda-Fabrik Bund Deutscher Frauenvereine Californien Conseil national des femmes françaises (Turkish) Committee of Union and Progress Deutschtum im Ausland Deutsche Demokratische Partei Deutsche Film AG Deutsche Kolonialgesellschaft Deutsche Musikerzeitung Europäische Geschichte online Foreign Direct Investment (Ausländische Direktinvestitionen) Front de Libération Nationale General Agreement on Tariffs and Trade (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen) GB Großer Brockhaus GHH Gutehoffnungshütte HAC Historisches Archiv der Commerzbank (Frankfurt a. M.) HAPAG Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft HFF Hochschule für Fernsehen und Film, München HGA Handwörterbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums Hrsg. Herausgeber ICW International Council of Women IEG Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz IFFF Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit Ifo Institut für Wirtschaftsforschung, München IG Farben Interessengemeinschaft Farbenindustrie AG IGNM Internationale Gesellschaft für Neue Musik
Verzeichnis der Abkürzungen
ILO IRG IWSA KORAG KPD KPdSU MAN Mass. MIRAG ML MNU NBC NBER NC NGO N.J. NORAG NSDAP o.H.G. PDF RAF RFM RGASPI RRG RWKS SDS SFB/TRR SIW SPD StAHH SÜRAG SWR UFA UN UFSF VDA WDR WERAG WBG
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International Labour Organization Internationale Rohstahlgemeinschaft International Women’s Suffrage Alliance Koloniale Reichsarbeitsgemeinschaft Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei der Sowjetunion Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg Massachusetts Mitteldeutsche Rundfunk AG Meyers Lexikon Multinationale Unternehmen National Broadcasting Corporation National Bureau of Economic Research North Carolina Non-Governmental Organization (Nicht-Regierungsorganisation) New Jersey Nordische Rundfunk AG Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei offene Handelsgesellschaft Portable Document Format Rote Armee Fraktion Reichsfinanzministerium Russisches Staatsarchiv für sozio-politische Geschichte Reichsrundfunkgesellschaft Rheinisch-Westfälisches Kohlen-Syndikat Sozialistischer Deutscher Studentenbund Sonderforschungsbereich Transregio Sozialistische Fraueninternationale Sozialdemokratische Partei Deutschlands Staatsarchiv Hamburg Süddeutsche Rundfunk AG Südwest Rundfunk Frankfurt Universum Film AG United Nations (Vereinte Nationen) Union française pour le suffrage des femmes Verein für das Deutschtum im Ausland Westdeutscher Rundfunk Westdeutsche Rundfunk AG Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Personenverzeichnis Weimar und die Welt
Abendroth, Wolfgang 75, 85 Aberdeen, Lady Ishbel Maria 316 Acker, Detlev 296 Adenauer, Konrad 81 Adorno, Theodor W. 19, 228 Ahmad Fuad I. 12, 111 Aischmann, Klara siehe Goll, Claire Aldrovandi-Marescotti, Luigi 310 Amin al-Husseini, Mohammed 54, 78, 81 Abd al-Karim, Mohammed 107 f. Allen, Willy 338 Antheil, George 241 Antonello, Anna 252 Aoki, Tsuru 221 f., 226 Armstrong, Louis 342 Arnot, Robin Page 75 Auerswald, Annemarie von 190, 192 f. Augspurg, Anita 326 Authaler, Caroline 101, 104 Bach, Johann Sebastian 242 Bähr, Johannes 366 Balfour, Arthur James 266 Barakatullah, Mohamed 60 Barth, Boris 40 Bartók, Béla 241 Bäumer, Getrud 316–324, 326 Béchet, Sidney 338 Beethoven, Ludwig van 200, 202, 231, 233, 237, 242, 245 Béla, Dajos 233 Bell, Johannes 93, 95 Benjamin, Walter 219, 221, 253
Berg, Alban 243 Bermann, Richard Arnold siehe Höllriegel, Arnold Bernhardi, Friedrich von 59 Bernstorff, Johann-Heinrich Graf von 294 Beveridge, Ray 114 Bischoff, Friedrich 205 Bluntschli, Johann 295 Bodendiek, Frank 296 Bodenstadt, Hans 208 Boese, Carl-Heinz 112, 211 Boehm, Max Hildebert 173 Bonn, Moritz Julius 14 Borchard, Eric 234 Bose, Subhash Chandra 54, 78 f. Brahms, Johannes 242 Brandt, Willy 80 Brauburger, Jan 63 Braun, Alfred 203 Brecht, Bertolt 202, 205, 241 Brockdorff-Rantzau, Ulrich Graf von 96 Brückner, Edmund 100 Brüning, Heinrich 277, 358 Bulwer-Lytton, Victor 275 f. Burgdörfer, Friedrich 146, 149, 151 Busoni, Feruccio 241 Butler, Nicholas 298 Carius, Wolfgang 156 Carnegie, Andrew 296 Casparius, Hans 262 Cassis, Youssef 360
Personenverzeichnis Weimar und die Welt
Castro, Fidel 82 Chakrabarty, Dipesh 11 Chamberlain, Austen 305 Chaplin, Charlie 226, 250, 258 Chattopadhyaya, Aghorenath 57 Chattopadhyaya, Virendranath gen. »Chatto« 53 f., 56–59, 62–64, 69–79, 85, 87 f. Chattopadhyaya, Suhasini 72 Chiang Kai-shek 76, 275 Churchill, Winston 259 Conrad, Sebastian 9 Cook, James 267 Curtius, Julius 287 Dagover, Lil 225 Daniels, Mario 372 Danzi, Michael 227 Davis, Angela 83 Dayal, Har 60 f. Dedinger, Beatrice 37 Dejung, Christof 36 f. Dent, Edward 244 Dernburg, Bernhard 93 Dibobe, Quane Martin 93–95, 106 Dinkel, Jürgen 14, 105 Diesel, Eugen 134 Dietrich, Anne 188 Distler, Heinrich 116 Dmowski, Roman 174 Dominik, Hans 82, 134, 149, 151, 153 Dülffer, Jost 286 Dunning, John 359 Dutschke, Rudi 81 Ebert, Friedrich 12 Einstein, Albert 54, 73, 76, 85 Einstein, Alfred 230 Engels, Friedrich 77
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Enzensberger, Hans Magnus 81 Erich, Rafael 294 Erman, Hans 332 Ernst, Bernhard 204 Esmarch, Kurt 208 f. Etté, Bernard 234 Ewers, Hanns Heinz 90, 215 Fairbanks, Douglas 226 Fanon, Frantz 80, 82 Fäßler, Peter 11, 36 f., 375 Feinberg, Samuel 237 Fischer, Erich 202 Flemming, Herb 233 Foucault, Michel 294 Freyer, Paul Herbert 128 Frick, Wilhelm 341 Fritsch, Willi 335 Frobenius, Leo 18, 110 Gaetano, Juan 267 Gauss, Friedrich 291 Gay, Peter 229 Gedat, Gustav Adolf 134 Gehrts, Meg 212 Gidel, Gilbert 294 Giordano, Ralph 82 Glaeser, Ernst 204 Goldschmidt, Alfons 72, 205 f. Goll, Claire 211, 213, 215, 217–221, 223, 225 f. Goll, Yvan 213, 215 Goltzman, Lew 232 Gorki, Maxim 54 Grimm, Hans 109, 146, 270 f. Grisar, Erich 252 Gross, Babette 75 Gross, Stephen 376 Grothe, Hugo 162, 169, 180
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Personenverzeichnis Weimar und die Welt
Gründer, Horst 89 f. Guevara, Ernesto »Che« 82 Guggenheim, Paul 294 Guillemarre-Acet, Dorothée 187 Gunning, Tom 217 Haas, Walter de 102 Hadj, Messali 73 Hagenbeck, John 112 Hahn, Arnold 254 Hahnemann, Andy 20, 59 Hammarskjöld, Åke 294 Hardach, Gerd 356 Hartig, Rolf 97 f., 106 Harvey, Hester 338 Hatta, Mohammed 54, 57, 75 f. Hauser, Heinrich 154–156 Haushofer, Karl 111, 134, 136–138, 140 f., 156 f., 206 Hayakawa, Sessue 221 f., 226 Hedin, Sven 256 Heidrich, Nina 208 Hein-Kircher, Heidi 16 Hellborn, Klaus, 200 Hellmut, Hellmut H. 207 Hertzog, Barry 98 Hesse, Jan-Otmar 10, 70, 96 Heuss, Alfred 238 Heymann, Lida Gustava 315, 326 Hiden, John 169 Hiery, Hermann 89 f. Hindenburg, Paul von 71, 121 Hindemith, Paul 203, 237–239, 241, 244 Hitler, Adolf 117, 119, 193, 272, 279, 344 Hoddis, Jacob von 215 Hoffmann, Martin D. 89 Hoffmann, Walter G. 350
Hollaender, Friedrich 335 Höllriegel, Arnold 17, 215, 249 f., 255–265, 271 f. Ho Chi Minh 57, 67 f., 82 Honecker, Erich 83 Huber, Max 294 Huberman, Bronislaw 231 Hugenberg, Alfred 272 Hughes, Thomas P. 15 Hughes, Charles E. 12 Huizinga, Johan 268 Husen, Bayume Mohamed 339, 344 f. Ibert, Jacques 241 Ihrig, Stefan 187 f., 193 Ilf, Ilja 268 Jacobs, Aletta 317 Jacoby-Boy, Martin 224 Jaeger, Fritz 111 James, Harold 25 Janácˇek, Leosˇ 241 Jantschke, Werner 75 Johann, A.(lfred) E.(rnst) 137, 154, 156, 256 Joss, David 93 Jünger, Ernst 253 Kapeller, Ludwig 197 f., 205 Kastl, Ludwig 309 Kästner, Erich 205 Katz, Richard 17, 249, 255–271 Kemal, Mustafa 184, 186–188, 190 f., 193 Kempinski, Berthold 337 Kempinski, Hans 343 Kempinski, Moritz 337 Kenyatta, Jomo 54, 75 Keynes, John Maynard 347
Personenverzeichnis Weimar und die Welt
Kienemann, Christoph 160 Kimmich, Martin 287, 304 Kirow, Sergei M. 77 Kirwan, John 156 Kisch, Egon Erwin 252, 257 Klötzel, Cheskel Zwi 92 Klute, Fritz 111 Kolb, Eberhard 287 Koller, Christian 14, 67, 213 Koskenniemis, Matti 292, 301 Köster, Adolf 115 Köstlin, Konrad 175 Kracauer, Siegfried 197, 210–212, 251, 255, 340 Kreimeier, Klaus 141 Krenek, Ernst 239–241, 243, 246 Krishnavarma, Shyamji 59 Krüger, Peter 12, 277 f. Kundrus, Birthe 14, 65, 109, 339 Kunkel, Sönke 84 Laba, Agnes 174 Laffert, Karl August von 135 Laak, Dirk van 37, 304 Lamond, Frederic 231 Lang, Fritz 225 Lang, Joseph 117 f. Lange, Christian Lous 294 Larsen, Viggo 223, 226 Lautensach, Hermann 138 Laux, Karl 236 Lawrence, T.(homas) E.(dward) 188 Leers, Johann von 81 Lehár, Franz 227 Lenin, Wladimir Iljitsch 64, 77 Lenya, Lotta 241 Leonhard, Joachim-Felix 198 Lettow-Vorbeck, Paul von 95, 108 Lewis, Sinclair 268
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Leinemann, Freya 21 Liau, Hansin 72 Liebisch, Carolin 311 Liebknecht, Karl 59 Lilienthal, Erich 118 Liljeblad, Martin 114 Lindbergh, Charles 202 Lindhagen, Carl 75 Lindsay, Vachel 213 Lingelbach, Gabriele 11 Lissner, Ivar 134 f. Löhr, Isabella 15, 66, 111 Lorand, Edith 228, 232 Lorre, Peter 260 Loth, Wilfried 286 Ludendorff, Erich 121 Ludwig, Emil 190 f. Luxemburg, Rosa 59 Mangold-Will, Sabine 16, 63, 187 Mann, Thomas 203 Mao Zedong 82 Maran, René 213 Martin, Camille 102 f. Marx, Christian 370 Marx, Karl 77 Masters, Edgar Lee 213 Maull, Otto 138 May, Joe 71, 223 f. May, Karl 218, 260 f. May, Mia 223 Mazower, Mark 307 Mélin, Jeanne 315 f. Mendelssohn-Bartholdy, Felix 233 Menuhin, Yehudi 245 Mercator, Gerardus 211 Mertens, Wilhelm 62 Metzler, Gabriele 45 Meyer, Christoph 84
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Personenverzeichnis Weimar und die Welt
Mikusch, Dagobert von 188, 191 Milhaud, Darius 241 Minghella, Anthony 250 Möhring, Maren 19 Moeller van den Bruck, Arthur 20 Morel, Edmund Dene 114 Mozart, Wolfgang Amadeus 233 Munumé, Edimo Wilhelm 68, 75 f. Münzenberg, Willi 53, 73–75 Murphy, Thomas D. 138 Naidu, Sarojini 57, 86 Nambiar, A.C. Narayanan 71 Nathaus, Klaus 232 Nehru, Jawaharlal 58, 72–76, 79, 87 Nick, Edmund 205 Niedhart, Gottfried 277 f., 287 Nikisch, Arthur 234 Nikisch, Mitja 234 Nirumand, Bahman 81 Nguyen Ai Quoc siehe Ho Chi Minh Nkrumah, Kwame 80 Nolden, Arnold 252 Noste, Helene 93 O’Rourke, Kevin 354 Obst, Erich 111, 138 Oltmer, Jochen 28 Ondaatje, Michael 250 Oppenheim, Max von 62 Osterhammel, Jürgen 9 Paasche, Hans 59 Padel, Wilhelm 189 Padmore, George 75 Pahl, Walther 134–136 Pahlavi, Mohammad Reza 82 Panzer, Emmi 338 Panzer, Wilhelm 338
Papen, Franz von 341 Paquet, Alfons 255 Pedersen, Susan 305, 307 Petrow, Jewgeni 268 Peukert, Detlev 18 Pfister, Ulrich 25 Pfitzner, Hans 238 Picht, Heinrich F. 99, 101 Piel, Harry 223 Pinthus, Kurt 215 Plaggenborg, Stefan 187 Poley, Jared 90 Politis, Nicolas 294 Prebisch, Raúl 80 Quidde, Ludwig 15, 294 Quinn, Freddy 127 f. Quoc, Nguyen Ai siehe Ho Chi Minh Raab, Heinrich 146, 149, 151 Rathenau, Walther 59 Räuscher, Joseph 203 Reinecke, Christiane 30 Reinert, Robert 225 Remarque, Erich Maria 249 Rempe, Martin 19, 71, 338 Reusch, Paul 369 f. Revel, Jacques 283 Rhein, Eduard 200 Rida, Rashid 66 Rivera, Diego 54 Rodrik, Dani 376 Rolland, Romain 73 Root, Elihu 290 Ross, Alex 242 Ross, Colin 18, 134, 151–156, 256 Roy, M.(anabendra) N.(ath) 64 Rüdt von Collenberg, Heinrich 71 Ruhe, Ludwig 112
Personenverzeichnis Weimar und die Welt
Rundt, Arthur 258 Rupp, Leila 324 Ruppel, Julius 309 Rutgers, Victor Henri 294 Saïd, Edward 185 Saint-Saëns, Camille 230 Saldern, Adelheid von 44, 207, 209 Salewski, Michael 13 Sandburg, Carl 213 Sandino, Augusto 75 Scelle, Georges 294 Schacht, Hjalmar 14 Schmeling, Max 204 Schmitt, Carl 134, 301 Schmitz(-Kairo), Paul 134 Schnee, Heinrich 276, 278 f., 284, 310 Scholz, Erich 206 Schomburgk, Hans 112, 211 f. Schönberg, Arnold 228, 238, 241– 243, 246 Schröter, Harm 375 Schröter, Verena 356 Schücking, Walther 15, 288–302 Schütz, Erhard 17 Schwechten, Franz Heinrich 329 Schwerin, Hans Bogislav Graf von 96–98 Scott, James Brown 294, 298 Seegers, Lu 18 Seelemann, Franz 58 Seipel, Ignaz 12 Seitz, Theodor 96 Sell, Kurt G. 207 Sharp, Ingrid 17 Sharifu, Mdachi Bin 106 Simmel, Georg 251 Simons, Walter 291 Sinclair, Upton 54
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Smedley, Agnes 86 Smuts, Jan Christiaan 98 Sörgel, Herman 111 Soliman, Mohamed 332 Spengler, Oswald 134, 136 f., 157 Spilhaus, Carl 96 Spiropoulos, Jean 294 Stahl-Urach, Carl 330 Stalin, Josef 77 Stapelfeldt, Kurt 208 f. Stein, Joseph 211 Steiner, Zara 279 Steyerl, Hito 335 Stiemer, Felix 201 Still, William Grant 204 Stimson, Henry Lewis 275 Stinnes, Clärenore 19 Stöcker, Helene 73 Strauss, Johann 233, 240 Strauss, Richard 238 Strawinsky, Igor 241 Stresemann, Gustav 288, 307 Stricker, Wilhelm 167 Struck, Wolfgang 17, 71, 103, 112 Suhr, Susanne 340 Sultan Al-Atrash 72 Tagore, Rabindranath 71 Tansman, Alexandre 241 Thorbecke, Franz 111 Thrun, Martin 244 Thyssen, Fritz 364, 369 Tschaikowsky, Peter 233 Tucholsky, Kurt 205, 254, 347 Twain, Mark 257 Ulbricht, Walter 83 Ulmanis, Karlis 174 Unger, Frida Sara 343
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Personenverzeichnis Weimar und die Welt
Unger, Richard 343 Unger, Walter 343 Unger-Kempinski, Friedrich Wolfgang 343 Uzcudum, Paolini 204 Venzmer, Gerhard 252 Visscher, Charles de 294 Wagner, Richard 203, 231, 233, 245 Wala, Michael 33, 44 Walter, Albert 70 Wangenheim, Inge von 340 Warschauer, Elisabeth 343 Weber, Marek 234 Webern, Anton von 243 Wegner, Armin Theophil 252 Wehberg, Hans 15, 289, 294 Weill, Kurt 203, 241, 244
Weinberger, Jaromir 241 Weintraub, Stefan 234 Wempe, Sean Andrew 309 Wendt, Ernst 112 Westphal, Fred 125 Whiteman, Paul 227, 233 Wildenthal, Lora 106 Wilson, Woodrow 175, 277, 304 f. Wintzer, Joachim 287 Wirsching, Andreas 287 Wissman, Hermann von 82, 108 Wittfogel, Karl August 75 Wooding, Sam 233 Wright Sewall, May 317 Zeiss, Carl 365 Zimmermann, Arthur 62 Zischka, Anton 134 f., 155 f. ˇizˇek, Slavoj 336 Z
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Christoph Cornelißen, Professor für Neueste Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt. Forschungsschwerpunkte: Geschichte, Methoden und Theorien der Geschichtsschreibung, Erinnerungskultur, Geschichte Europas im 19. und 20. Jahrhundert. Veröffentlichungen u. a.: Das »Innere Kabinett«. Die höhere Beamtenschaft und der Aufbau des Wohlfahrtstaates in Großbritannien 1893–1919, Husum 1996. Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert (= Schriften des Bundesarchivs, 58), Düsseldorf 2001. Marxism and Social Protest Movements, Cham 2019 (hrsg. zusammen mit Stefan Berger). Italia e Germania. Storiografie in Dialogo, Bologna 2019 (hrsg. zusammen mit Gabriele D’Ottavio). Stadt und Krieg im 20. Jahrhundert, Essen 2019 (hrsg. zusammen mit Martin Pekár und Václav Petrbok). Geschichte Europas im 20. Jahrhundert (= Neue Fischer Weltgeschichte, 7), Frankfurt a. M. (erscheint 2020). Jürgen Dinkel, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts an der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des Eigentums und des Erbens seit dem 19. Jahrhundert, Globalgeschichte/transnationale Geschichte, Geschichte der Kolonisation und der Dekolonisierung. Veröffentlichungen u. a.: »Dritte Welt« – Geschichte und Semantiken, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 6.10.2014. Die Bewegung Bündnisfreier Staaten. Genese, Organisation und Politik (1927–1992), Berlin 2015. The Non-Aligned Movement. Genesis, Organization and Politics (1927–1992), Leiden/Boston 2019. Erbpraktiken und Vermögensungleichheit – oder: Was kann die historische Analyse von Erbfällen und Erbpraktiken zu einer Vermögens- und Gesellschaftsgeschichte im 20. und 21. Jahrhundert beitragen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Nr. 11/12 (2019), S. 661–677. Nord/Süd. Perspektiven auf eine globale Konstellation, Berlin (erscheint 2020), (hrsg. zusammen mit Steffen Fiebrig und Frank Reichherzer).
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Andy Hahnemann, seit 2015 Lektor für SF/Fantasy im S. Fischer Verlag, promovierte nach einem Studium der Neueren deutschen Literatur, Geschichte und Philosophie zum Zusammenhang zwischen Geopolitik und populärwissenschaftlicher Literatur in der Weimarer Republik. Veröffentlichungen u. a.: Sachbuch und populäres Wissen im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. u. a. 2008 (hrsg. zusammen mit David Oels). Faszination. Zur historischen Konjunktur und heuristischen Tragweite eines Begriffs, Frankfurt a. M. 2009 (hrsg. zusammen mit Björn Weyand). Texturen des Globalen. Geopolitik und populäre Literatur in der Zwischenkriegszeit 1918–1939. Heidelberg 2010. Heidi Hein-Kircher, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Leiterin der Abteilung Wissenschaftsforum am Herder Institut Marburg sowie Privatdozentin an der Philipps-Universität Marburg. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Minderheiten Ostmitteleuropas, Stadtgeschichte im östlichen Europa, nationale und regionale Identitäten im östlichen Europa, Sicherheits- und Konfliktgeschichte im östlichen Europa, autoritäre Regime in Ostmitteleuropa und Frauen- und Familienbilder im östlichen Europa. Veröffentlichungen u. a.: Der Pilsudski-Kult und seine Bedeutung für den polnischen Staat 1926–1939 (Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung, 9), Marburg 2002. Migration and Landscape Tranformation. Changes in Central and Eastern Europa in the 19th and 20th Century, München 2016 (hrsg. zusammen mit Martin Zückert). Double transformations. Nation formation and democratization in interwar East Central Europe, in: Nationalities Papers 46 (2018), H. 5, S. 745–758 (zusammen mit Steffen Kailitz). Lembergs »polnischen Charakter« sichern. Kommunalpolitik in einer multiethnischen Stadt der Habsburgermonarchie 1861/62–1914, Stuttgart 2020. Jan-Otmar Hesse, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Bayreuth. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der ökonomischen Globalisierung, Unternehmensgeschichte, Geschichte der Wirtschaftswissenschaft. Neuere Veröffentlichungen: Wirtschaft als Wissenschaft. Die Volkswirtschaftslehre in der frühen Bundesrepublik, Frankfurt a. M. u. a. 2010. Die Große Depression. Die Weltwirtschaftskrise 1929–1939, Frankfurt a. M. u. a. 2014 (zusammen mit Roman Köster und Werner Plumpe). Wirtschaftsgeschichte. Entstehung und Wandel der modernen Wirtschaft (= Historische Einführungen, 15), 2. Aufl. Frankfurt a. M. u. a. 2019 (zusammen mit Sebastian Teupe).
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Christian Koller, Direktor des Schweizerischen Sozialarchivs und Titularprofessor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich. Veröffentlichungen u. a.: »Von Wilden aller Rassen niedergemetzelt«. Die Diskussion um die Verwendung von Kolonialtruppen in Europa zwischen Rassismus, Kolonial- und Militärpolitik (1914–1930), Stuttgart 2001. Fremdherrschaft. Ein politischer Kampfbegriff im Zeitalter des Nationalismus, Frankfurt a. M./New York 2005. Streikkultur. Performanzen und Diskurse des Arbeitskampfes im schweizerischösterreichischen Vergleich (1860–1950), Wien u. a. 2009. Die Fremdenlegion. Kolonialismus, Söldnertum, Gewalt, 1831–1962, München u. a. 2013. Goal! A Cultural and Social History of Modern Football, Washington, D. C. 2015 (zusammen mit Fabian Brandle). Birthe Kundrus, Professorin für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte mit Schwerpunkt Sozialgeschichte an der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des Nationalsozialismus, Geschichte der Gewalt, Postcolonial Studies. Veröffentlichungen u. a.: Kriegerfrauen. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, 32), Hamburg 1995. Moderne Imperialisten. Das Kaiserreich im Spiegel seiner Kolonien, Köln u. a. 2003. »Phantasiereiche«. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt a. M./New York 2003. Waffen – Wissen – Wandel. Anpassung und Lernen in transkulturellen Erstkonflikten, Hamburg 2012 (hrsg. zusammen mit Dierk Walter). »Dieser Krieg ist der große Rassenkrieg«. Krieg und Holocaust in Europa, München 2018. Dirk van Laak, Professor für die Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts an der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Literatur und der Geschichtsschreibung, deutsche, europäische und Globalgeschichte, Intellektuellen- und Infrastrukturgeschichte. Veröffentlichungen u. a.: Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, 2. Aufl. Berlin 2002. Weiße Elefanten. Anspruch und Scheitern technischer Großprojekte im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999. Imperiale Infrastruktur. Deutsche Planungen für eine Erschließung Afrikas 1880 bis 1960, Paderborn 2004. Europeans Globalizing. Mapping, Exploiting, Exchanging, London/New York 2016 (zusammen mit Maria Paula Diogo). Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft – Geschichte und Zukunft der Infrastruktur, Frankfurt a. M. 2018.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Gabriele Lingelbach, Professorin für Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts an der Universität Kiel. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Migrationsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts im globalen Kontext, Geschichte der wirtschaftlichen Globalisierung, Europäische Kolonialgeschichte, Disability History. Veröffentlichungen u. a.: Klio macht Karriere. Die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft in Frankreich und den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2003. Geschichte studieren. Eine praxisorientierte Einführung für Historiker von der Immatrikulation bis zum Berufseinstieg, Wiesbaden 2005 (zusammen mit Harriet Rudolph). Spenden und Sammeln. Der westdeutsche Spendenmarkt bis in die frühen 1980er Jahre, Göttingen 2009. Isabella Löhr, Leiterin der Nachwuchsgruppe »Die wissenschaftliche Produktion von Wissen über Migration« am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück. Forschungsschwerpunkte: Europäische und Globalgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Geschichte des Völkerrechts und internationaler Organisationen, Migrationsgeschichte. Veröffentlichungen u. a.: Die Globalisierung geistiger Eigentumsrechte. Neue Strukturen internationaler Zusammenarbeit, 1886–1952, Göttingen 2010. The Nation State and Beyond. Governing Globalization Processes in the 19th and Early 20th Centuries, Heidelberg 2013 (hrsg. zusammen mit Roland Wenzl huemer). Lives Beyond Borders. A Social History, 1880–1950. Themenheft von Comparativ 23 (2013), 6 (zusammen mit Madeleine Herren). Global Commons im 20. Jahrhundert. Entwürfe für eine globale Welt, Berlin/Boston 2014 (hrsg. zusammen mit Andrea Rehling). Bessere Welten. Kosmopolitismus in den Geschichtswissenschaften, Frankfurt a. M. 2017 (hrsg. zusammen mit Bernhard Gißibl). Sabine Mangold-Will, apl. Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Bergischen Universität Wuppertal und Akademische Oberrätin am Historischen Institut der Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftsgeschichte, Geschichte der Orientrezeption, Deutsch-Türkische Beziehungen, Jüdischer Orientalismus, Weimarer Republik transnational. Veröffentlichungen u. a.: Eine »weltbürgerliche Wissenschaft« – Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004. Begrenzte Freundschaft. Deutschland und die Türkei 1918–1933, Göttingen 2013. Wilhelm II. Archäologie und Politik um 1900, Stuttgart 2017 (hrsg. zusammen mit Thorsten Beigel).
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Maren Möhring, Professorin für Vergleichende Kultur- und Gesellschaftsgeschichte des modernen Europa an der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Konsumgeschichte, Postcolonial Studies, Geschlechter- und Körpergeschichte, Mediengeschichte. Veröffentlichungen u. a.: Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890–1930), Köln u. a. 2004. Fremdes Essen. Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland, München 2012. Europäische Geschlechtergeschichten, Stuttgart 2018 (hrsg. zusammen mit Maria Bühner). Imaginationen, Berlin/Boston 2019 (zusammen mit Gabriele Pisarz-Ramirez und Ute Wardenga). Martin Rempe, Privatdozent, DFG -Heisenberg-Stelle am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Konstanz. Forschungsschwerpunkte: deutsche, europäische und afrikanische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Sozialgeschichte der Musik, Geschichte des Kolonialismus. Veröffentlichungen u. a.: Mapping Agency. Comparing Regionalisms in Africa, Aldershot 2013 (hrsg. zusammen mit Ulrike Lorenz). Kommunikation im Musikleben. Harmonien und Dissonanzen im 20. Jahrhundert, Göttingen 2015 (hrsg. zusammen mit Sven Oliver Müller und Jürgen Osterhammel). Entwicklung im Konflikt. Die EWG und der Senegal 1957–1975, Köln 2012. Kunst, Spiel, Arbeit. Musikerleben in Deutschland, 1850 bis 1960, Göttingen 2020. Erhard Schütz, Univ. Prof. a. D. für Neuere Deutsche Literatur mit Schwerpunkt 18. bis 21. Jahrhundert an der Humboldt-Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des Feuilletonromans, der Literatur in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, Sachbuchforschung, die Verschränkung von Literatur und Journalismus. Veröffentlichungen u. a.: Alfred Andersch, München 1980. Romane der Weimarer Republik, München 1986. Mythos Reichsautobahn. Bau und Inszenierung der »Straßen des Führers« 1933–1941, Berlin 1996 (zusammen mit Eckhard Gruber). Die Eleganz des Feuilletons. Literarische Kleinode, Berlin 2017 (hrsg. zusammen mit Hildegard Kernmayer). Mediendiktatur Nationalsozialismus, Heidelberg 2019.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Lu Seegers, Privatdozentin für Deutsche Geschichte an der Universität Hamburg und Geschäftsführerin des Schaumburger Landschaft e. V. Forschungsschwerpunkte: Stadtgeschichte, Mediengeschichte, Geschlechtergeschichte, Erfahrungsgeschichte und Oral History, Erinnerungskulturen im 20. Jahrhundert. Veröffentlichungen u. a.: Hör zu! Eduard Rhein und die Rundfunkprogrammzeitschriften (1931–1965), Potsdam 2001. Medien und Imagepolitik im 20. Jahrhundert. Deutschland – Europa – USA, Frankfurt a. M./New York (hrsg. zusammen mit Daniela Münkel). »Vati blieb im Krieg«. Vaterlosigkeit als generationelle Erfahrung im 20. Jahrhunderts – Deutschland und Polen, Göttingen 2013. Hot Stuff. Gender, Popkultur und Generationalität in Westund Osteuropa nach 1945, Göttingen 2015. Ingrid Sharp, Professorin für Deutsche Kulturgeschichte und Geschlechtergeschichte an der University of Leeds. Forschungsschwerpunkte: Geschlechtergeschichte, Weimarer Republik, Deutsche Revolution 1918/19, Erster Weltkrieg, Frauenbewegungen, Friedensgeschichte. Veröffentlichungen u. a. The Women’s Movement in Wartime. International Perspectives 1914–1919, London 2007 (hrsg. zusammen mit Alison S. Fell). Aftermaths of War. Women’s Movements and Female Activists, 1918–1923, Leiden 2011 (hrsg. zusammen mit Matthew Stibbe). Women Activists between War and Peace. Europe 1918–1923, London 2017 (hrsg. zusammen mit Matthew Stibbe). A Cultural History of Peace in the Age of Empire. Band 5: 1815–1920, London 2020. Wolfgang Struck, Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Forschungsschwerpunkte: deutsche Literatur des 17. bis 20. Jahrhunderts, Film- und Fernsehgeschichte, Verhältnis von Dokumentation und Fiktion, Literatur und Wissen, Repräsentationen des »Fremden«. Veröffentlichungen u. a.: Konfigurationen der Vergangenheit. Deutsche Geschichtsdramen im Zeitalter der Restauration (= Studien zur deutschen Literatur, 143), Tübingen 1997. Körpereinsatz – Das Kino der Kathryn Bigelow, Marburg 1999 (zusammen mit Welf Kienast). Die Eroberung der Phantasie. Kolonialismus, Literatur und Film zwischen deutschem Kaiserreich und Weimarer Republik, Göttingen 2010. Literarische Entdeckungsreisen. Vorfahren – Nachfahrten – Revisionen, Köln u. a. 2012 (hrsg. zusammen mit Hansjörg Bay). Aus der Welt gefallen. Die Geographie der Verschollenen, Paderborn 2019 (zusammen mit Kristina Kuhn).