Wege zur Kultur: Barrieren und Barrierefreiheit in Kultur- und Bildungseinrichtungen 9783412214807, 9783412207847


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Wege zur Kultur: Barrieren und Barrierefreiheit in Kultur- und Bildungseinrichtungen
 9783412214807, 9783412207847

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Wege zur Kultur

Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden herausgegeben von Gisela Staupe Band 9

Wege zur Kultur Barrieren und Barrierefreiheit in Kultur- und Bildungseinrichtungen Für die Stiftung Deutsches Hygiene-Museum und die Klassik Stiftung Weimar herausgegeben von Anja Tervooren und Jürgen Weber

2012 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Tastmodell zum musealen Objekt „Schlafender Hermaphrodit“ in der Dauerausstellung des Deutschen Hygiene-Museums. Verkleinerte Nachbildung nach einem Gipsabguss aus der Sammlung von Anton Raphael Mengs in Dresden, das Original aus Bronze (1653) von Matteo Bonarelli de Lucca im Museo Nacional del Prado, Madrid. Leihgabe: Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden Foto: Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Fotograf: Stefan Daberkow

© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: Drukkerij Wilco, NL-Amersfoort Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-412-20784-7

Inhalt

Gisela Staupe Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Anja Tervooren, Jürgen Weber Einleitung: Barrieren wahrnehmen, verstehen und abbauen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Konzepte und Geschichte von Barrieren und Barrierefreiheit Elsbeth Bösl Behinderung, Technik und gebaute Umwelt. Zur Geschichte des Barriereabbaus in der Bundesrepublik Deutschland seit dem Ende der 1960er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . 29 Anne Waldschmidt Normalität – Macht – Barrierefreiheit. Zur Ambivalenz der Normalisierung . . . . . . 52 Felix Welti Rechtliche Voraussetzungen von Barrierefreiheit in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Michael Wunder Behindert sein oder behindert werden? Zu Fragen von Ethik und Behinderung . . . . 85 Markus Dederich Ästhetische und ethische Grenzen der Barrierefreiheit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Ruth von Bernuth Bettler, Monster und Zeichen Gottes. Behinderung in der Frühen Neuzeit . . . . . . . 116 Petra Fuchs „Behinderung“ in Deutschland. Aspekte der Kultur und Geschichte des Umgangs mit physischer, psychischer und mentaler Differenz .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Petra Lutz Die Wirksamkeit öffentlicher Bilder im Privaten. Angehörige von Opfern der NS-„Euthanasie“ und rassenhygienische Propaganda .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

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Inhalt

Barrierefreiheit in der Praxis Siegfried Saerberg Sensorische Räume und museale Regimes. Von visueller Dominanz zu sensorischer Diversität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Folker Metzger Barrierefreiheit und kulturelle Bildung in Museen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Vera Franke Barrierefrei ins Museum .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Ursula Wallbrecher Nicht „nur“ rollstuhlgerecht … Barrierefreiheit planen und umsetzen. Ein Erfahrungsbericht aus dem Landesmuseum Mainz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Helmut Vogel, Martina Bergmann, Knut Weinmeister Barrierefreiheit für gehörlose Menschen in Museen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Uta George Historisch-politische Bildung in der Gedenkstätte Hadamar mit und für Menschen mit Lernschwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Christine-Dorothea Sauer, Jana Viehweger, Karen Gröning Gemeinsam kommen wir voran. Kooperationsprojekte zur Barrierefreiheit in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Birgit Drolshagen Studieren ohne Barrieren. Der Weg zu „Hochschulen und Bibliotheken für Alle“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Jan Eric Hellbusch Grundlagen und Beispiele für ein barrierefreies Webdesign .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Patrick S. Föhl Kommunikation und Planung. Zentrale Aspekte eines Projektmanagements zur barrierefreien Gestaltung von Museen und Bibliotheken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Jan Hoffmann Zielvereinbarungen nach dem Behindertengleichstellungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Sachregister .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Autorinnen und Autoren .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

Vorwort

Das Deutsche Hygiene-Museum Dresden versteht sich als „Museum vom Menschen“, das in seinen Ausstellungen und Veranstaltungen gesellschaftlich relevante Aspekte menschlichen Seins thematisiert und diskutiert. Seine Ausstellungen wollen ein möglichst breites Publikum erreichen. Aus diesem Grund ist „Barrierefreiheit“ ein Thema, das uns schon seit vielen Jahren begleitet. Besonders seit der großen Sonderausstellung „Der [im-]perfekte Mensch. Vom Recht auf Unvollkommenheit“, die wir sozusagen als Milleniumsausstellung im Jahr 2000 präsentiert haben, wurde das Thema „Barrierefreiheit“ in vielerlei Hinsicht programmatisch für unser Haus. In dieser Ausstellung stand nicht nur inhaltlich die Frage im Mittelpunkt „Wie geht unsere Gesellschaft mit behinderten Menschen um?“, sondern sie musste auch – was bei diesem Thema für uns selbstverständlich erschien – durch ihre Gestaltung für Menschen mit Behinderungen zugänglich sein. Das allerdings hatte in der Praxis weit mehr Konsequenzen als erwartet, und so wurde „Der [im-]perfekte Mensch“ Anlass und Ausgangspunkt, uns mit einem Thema zu befassen, für das es im deutschsprachigen Raum weit weniger Anknüpfungspunkte gab als beispielsweise in Großbritannien und den USA. Auf das gewonnene praktische Wissen konnten wir seitdem mehrfach zurückgreifen: Nach dem großen Erfolg der Ausstellung „Der [im-]perfekte Mensch“ im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden mit 170.000 Besucherinnen und Besuchern wurde die Ausstellung 2002 im Martin-Gropius-Bau in Berlin in veränderter Form nochmals gezeigt. Dies gab uns die Möglichkeit, unsere Erfahrungen mit der barrierefreien Gestaltung auszuwerten und einzelne Elemente in Berlin bereits in einer überarbeiteten, weiterentwickelten Form zu zeigen. Darüber hinaus waren wir für ein noch größeres Unterfangen gerüstet: Die Generalsanierung des Deutschen Hygiene-Museums im Sinne einer barrierefreien Zugänglichkeit. Was bedeutet nun aber Barrierefreiheit im Museum? Die Erschließung von Museen und Ausstellungen für rollstuhlfahrende, gehörlose und schwerhörige, sehbehinderte und blinde Menschen und Menschen mit Lernschwierigkeiten bedeutet einerseits, sich mit etlichen technischen Details zu befassen, es heißt aber vor allem, mit zusätzlichen und sehr ungewohnten Perspektiven in die entsprechenden Planungsprozesse einzutreten. Es bedeutet, Kontakte mit Experten mit Behinderungen auszubauen, also mit potentiellen Besuchern ins Gespräch zu kommen, und es bedeutet, neue Anforderungen an Gestaltung wie Inhalte zu stellen. Aber nicht nur die Vorarbeiten, auch die Ausstellungen ändern sich. Uns scheint: Sie werden besser. Viele Elemente der barrierefreien Gestaltung erreichen weit mehr Besucher als die ursprünglich gemeinte Zielgruppe – eine übersichtliche Ausstellungs-

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Gisela Staupe

gestaltung oder gut lesbare Texte zum Beispiel; oder auch Sitzbänke, nicht nur für Gehbehinderte, sondern auch für Ermüdete; Rampen und Aufzüge, nicht nur für Benutzter und Benutzerinnen von Rollstühlen, sondern auch für Kinderwagen; tastbare Objekte, nicht nur für Blinde, sondern auch für Kinder. Der Anspruch, Museen besucher- und serviceorientiert zu gestalten, wird hier plötzlich sehr konkret und zeigt, wie unrealistisch einerseits, aber wie fest verankert andererseits die Orientierung an einem fiktiven „Normalbesucher“ in Normhöhe und ohne jedes Gebrechen, dafür mit viel Ausstellungserfahrung, ist. So bietet das Nachdenken über und das Umsetzen von Barrierefreiheit eine Möglichkeit, die Angebote für die bereits vorhandenen Besucher zu verbessern – aber natürlich werden, wie intendiert, auch neue Besuchergruppen angesprochen. Die Erfahrung zeigt: Sie werden nicht nur angesprochen, sie kommen auch. Das Interesse an kulturellen Angeboten ist groß, nur haben viele dieser potentiellen Besucher oft die Erfahrung gemacht, dass das entsprechende Angebot fehlt. Nicht alles ist immer zu realisieren. Es gibt bauliche, organisatorische und nicht zuletzt natürlich finanzielle Grenzen. Große Museen können (manchmal) anders arbeiten als kleine, in Dauerausstellungen ist anderes möglich als in Sonderausstellungen, für die Präsentation von Kunst wird man andere Antworten suchen als für eine MitmachAusstellung. Das bedeutet auch, dass Barrierefreiheit an die jeweiligen Gegebenheiten und die jeweilige Gestaltung angepasst werden muss, also immer wieder anders aussieht. Ein unschätzbarer Vorteil ist es, wenn man sich noch vor der materiellen Umsetzung, also z.B. vor der Anfertigung von Ausstellungsbauten, mit dem Thema Barrierefreiheit auseinandersetzen kann. Durchgangsbreiten oder Wegeführung können dann noch problemlos angepasst werden. Manchmal sind es, um bei dem Beispiel der Durchgangsbreite zu bleiben, nur ein paar Zentimeter, die hier schon deutliche Verbesserungen schaffen können. Bestehendes anzupassen, fällt meist beträchtlich schwerer. Dennoch lohnt es sich auch hier immer, mögliche Alternativen im Sinne der Barrierefreiheit durchzuspielen und gegebenenfalls auch Teillösungen und Kompromisse nicht direkt von der Hand zu weisen. Nicht selten können schon kleine Veränderungen Wirkungen erzielen und sei es auch nur die notwendige Sensibilisierung dafür, bei kommenden Projekten frühzeitig zu handeln. Einen Überblick über das Spektrum der Möglichkeiten werden uns die Beiträge dieses Bandes aufzeigen. In diesem Buch sind viele wichtige Beiträge von Autorinnen und Autoren versammelt, die aus sehr unterschiedlichen Perspektiven das Thema „Barrieren und Barrierefreiheit in Kultur- und Bildungseinrichtungen“ verhandeln. Die Beiträge wurden teilweise auf der Tagung „Die Wege zur Kultur – Barrierefreiheit in Bibliotheken und Museen. Kulturwissenschaftliche Aspekte des Umgangs mit Behinderung“ präsentiert, die die Konferenz Nationaler Kultureinrichtungen im Oktober 2009 gemeinsam mit der Klassik Stiftung Weimar und dem Deutschen Hygiene-Museum in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar veranstaltet hat. Ich möchte an dieser Stelle der Konferenz Nationaler Kultureinrichtungen und der Klassik Stiftung Weimar für die

Vorwort

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Durchführung dieser Tagung ganz herzlich danken, ebenso wie den Tagungsleitern Petra Lutz und Jürgen Weber. Die Tagung wurde gefördert durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages sowie durch die Gesellschaft Anna Amalia Bibliothek e.V. Auch danke ich allen Autorinnen und Autoren, die sich zur Mitwirkung an diesem Band bereit erklärt haben, und schließlich gilt mein besonderer Dank Anja Tervooren und Jürgen Weber für ihre sorgfältige und kluge Herausgeberarbeit. Ich wünsche diesem Buch viele Leserinnen und Leser. Gisela Staupe

Anja Tervooren, Jürgen Weber

Einleitung: Barrieren wahrnehmen, verstehen und abbauen

„Barrierefreiheit“ ist neben „Inklusion“ zum zentralen Begriff in der öffentlichen Debatte um die Gleichstellung behinderter Menschen in Deutschland geworden. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006 verbietet Diskriminierung aufgrund von Behinderung, und die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die 2008 von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet wurde, zeigt auf, wie Gesellschaften beschaffen sein sollen, die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit und ohne Behinderungen verwirklichen.1 Beide Dokumente sind zum einen Ergebnis und Ausdruck gesellschaftlicher und kultureller Veränderungen, zum anderen gehen sie diesen voraus. Bereits der Versuch, sich einem Zustand der Barrierefreiheit zumindest anzunähern, führt auf allen Gebieten der Gesellschaft zu tiefgreifenden und nachhaltigen Veränderungen. Obwohl spätestens seit den 1970er Jahren ein Umdenken bezüglich der Teilhabe behinderter Menschen am privaten und öffentlichen Leben eingesetzt hat, bestehen bis heute zahllose materielle und kulturelle Barrieren, welche die Teilhabe daran erschweren oder sogar ausschließen. Wenn auch die Notwendigkeit zum Abbau von Barrieren mittlerweile gesetzlich verankert ist, müssen Barrieren aber, bevor sie abgebaut werden können, wahrgenommen und verstanden werden. Kultur- und Bildungseinrichtungen tragen eine besondere Verantwortung für diesen Prozess und haben die Aufgabe, vielfältige Wege zur Kultur zu eröffnen. Wenn sie diese Verantwortung nicht wahrnehmen und es ihnen nicht gelingt, barrierefreie Zugänge zu Kultur- und Bildungsangeboten und zu den Sammlungen vor Ort zu ermöglichen, erfüllen sie ihren Auftrag nicht. Aktuell stehen wir vor einer Situation, in welcher die deutschen Institutionen gegenüber dem Ausland durch einen erheblichen Nachholbedarf charakterisiert sind. Der vorliegende interdisziplinäre Sammelband geht diesem Nachholbedarf sowohl auf der theoretischen als auch auf der praktischen Ebene nach. Er interpretiert das Themenfeld der Barrieren und der Barrierefreiheit als Ausdruck des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Verhältnis von Normalität und Behinderung, und zwar in der Perspektive historisch, kultur- und sozialwissenschaftlich arbeitender Disziplinen und 1 Zentrale Dokumente und aktuelle Informationen zum Themenfeld „Barrierefreiheit“ sind über die Portale des Bundeskompetenzzentrums Barrierefreiheit e.V., , und des Deutschen Instituts für Menschenrechte, , zugänglich. – Alle Internetadressen, die in den Beiträgen dieses Sammelbandes aufgeführt sind, wurden am 8. Juni 2011 überprüft.

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Anja Tervooren, Jürgen Weber

aktueller ethischer und rechtlicher Diskurse. Daran anschließend wird Experten- und Erfahrungswissen darüber präsentiert, wie die Forderung nach Barrierefreiheit im Kontext von Kultur- und Bildungseinrichtungen praktisch umgesetzt werden kann. Um die Perspektiven, die in diesem Band verfolgt werden, näher zu umreißen und zu situieren, skizzieren wir im Folgenden die soziokulturellen Voraussetzungen des Umgangs mit Behinderung heute, zeigen die Herausforderungen an Kultur- und Bildungseinrichtungen auf und stellen abschließend die Konzeption des Bandes und die Fragestellungen und Themen der einzelnen Beiträge vor.

Auf dem Weg zur Barrierefreiheit: Skizze eines gesellschaftlichen Wandels im Umgang mit Behinderung In der Bundesrepublik Deutschland wurden seit Beginn der 1970er Jahre politische Aktionen durchgeführt, die auf Barrieren im Stadtbild, vor allem in öffentlichen Verkehrsmitteln aufmerksam machten.2 Initialzündung für diese politischen Verlautbarungen sind die internationalen Behindertenbewegungen, die sich bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, verstärkt jedoch seit den 1960er Jahren – beeinflusst von den Bürgerrechtsbewegungen und anderen emanzipatorischen Bewegungen in den USA – konstituiert haben. Gebündelt wurden diese Anfänge einer sozialen Bewegung in Aktionen zum Internationalen Jahr der Behinderten 1981. Eine der spektakulärsten Verlautbarungen war der „Krückenschlag“ Franz Christophs während der Eröffnungsveranstaltung. Christoph schlug den damaligen Bundespräsidenten Carl Carstens mit seiner Krücke und stellte damit nicht nur die Sicht des „dankbaren Krüppels“ in Frage, sondern zog gleichzeitig das Bild der „edlen Helfenden“ in Mitleidenschaft. Sichtweisen von Behinderung, so zeigte diese politische Performance sehr deutlich, formen nicht allein das Leben derjenigen, die mit einer Behinderung leben, sondern auch das Leben all jener, die sich als nicht-behindert definieren.3 In den 1970er und 1980er Jahren formierte sich in der Bundesrepublik Deutschland auch eine Bewegung von Eltern behinderter Kinder, welche die Integration ihrer Kinder in allgemeine Erziehungs- und Bildungseinrichtungen forderten. Sie setzten Veränderungen im Bildungswesen von „unten“ nach „oben“ durch: Eltern, die ihre Kinder in Kindergärten oder Kindertagesstätten und später in Grund- und weiterführende Schu-

2 Vgl. zu diesen Aktionen Ernst Klee: Behindert. Über die Enteignung von Körper und Bewusstsein. Ein kritisches Handbuch, Frankfurt/M.: Fischer, 1980. 3 Vgl. zu einer ausführlichen Darstellung der Geschichte der Behindertenbewegung in der Bundesrepublik Deutschland Swantje Köbsell: Gegen Aussonderung – für Selbstvertretung: zur Geschichte der Behindertenbewegung in Deutschland, .

Einleitung

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len geben wollten, stießen auf Barrieren, von denen sie einige im Laufe von Jahren in mühevoller politischer und konzeptioneller Arbeit abbauen konnten.4 Vertreterinnen und Vertreter der Behindertenbewegung, die selbst meistens mit körperlichen Beeinträchtigungen lebten und sich als „Krüppelbewegung“ verstanden, trugen das Thema der Selbstbestimmung in den 1980er Jahren in die gesellschaftliche und wissenschaftliche Auseinandersetzung hinein und arbeiteten den Prozess des Behindertwerdens vor allem soziologisch und politikwissenschaftlich auf.5 In dieser Zeit wird das soziale Modell von Behinderung entwickelt, welche das vorherrschende individuelle und durch das Konzept der Rehabilitation geprägte medizinische Modell ablöste. War es zuvor die Behinderung, der die Verursachung von Problemen zugeschrieben wurde, welche durch medizinische, therapeutische oder pädagogische Behandlung zumindest in Teilen ausgeglichen werden sollten, rückte jetzt die Gesellschaft und die durch sie hervorgebrachten und auf Dauer gestellten Barrieren in den Blick. Behinderte Menschen werden unter dem Vorzeichen der Benachteiligung gesehen, und es wird aufgezeigt, wie diese von gleichberechtigter Teilhabe ausgeschlossen werden.6 Unter den politischen Bedingungen der DDR konnte sich eine der westdeutschen „Krüppelbewegung“ vergleichbare Gruppierung zwar nicht artikulieren, doch entwickelte sich eine Bewegung im Rahmen einer sich allmählich verstärkenden politischen Opposition und ihrer Diskussionsforen.7 So erkämpften sich behinderte Menschen Freiräume und erprobten zum Beispiel Formen selbstbestimmten kollektiven Wohnens im Kontext kirchlicher Träger.8 Rückblickend hat die Dynamik des Wiedervereinigungsprozesses beider deutscher Staaten dazu beigetragen, dass die Forderungen und Konzepte der Behindertenbewegungen ab den 1990er Jahren zum einen auf der gesetzlichen Ebene und zum anderen auf der Ebene kultureller Produktionen tief4 Vgl. dazu Irmtraut Schnell: Geschichte schulischer Integration. Gemeinsames Lernen von SchülerInnen mit und ohne Behinderung in der BRD seit 1970, Weinheim [u.a.]: Juventa, 2003. 5 Vgl. Gusti Steiner: Hand- und Fußbuch für Behinderte, Frankfurt/M.: Fischer, 1988; Udo Sierck: Das Risiko nichtbehinderte Eltern zu bekommen. München: AG-SPAK-Publ., 1989; Theresia Degener, Swantje Köbsell (Hg.): „Hauptsache, es ist gesund?“ Weibliche Selbstbestimmung unter humangenetischer Kontrolle, Hamburg: Konkret-Literatur-Verlag, 1992. 6 Vgl. zu den sich ablösenden Modellen von Behinderung, die jeweils eine andere Vorstellung des Verhältnisses von Subjekt und Gesellschaft voraussetzen, Anne Waldschmidt: Disability Studies: Individuelles, soziales und/oder kulturelles Modell von Behinderung?, in: Psychologie & Gesellschaftskritik 29, 2005, Nr. 113, S. 9–31. 7 Es wird auch von der Gründung einer Behindertenbewegung in der DDR gesprochen und diese in der Wendezeit zwischen Herbst 1989 und Sommer 1990 situiert. Abgeschlossen wurde diese Entwicklung mit der Gründung eines Behindertenverbandes im Frühjahr 1990. Vgl. zu Menschen mit Behinderung und ihren Organisationen in der DDR auch Willi Finck: Zwischen Licht und Schatten – Kriegsblinde in der DDR. Geschichtliches zur politischen, organisatorischen und sozialen Lage Kriegs- und Wehrdienstblinder in Ostdeutschland (1945–2004), Rostock: Ingo Koch Verlag, 2005; Carol Poore: Disability in twentieth-century German culture, Ann Arbor: The University of Michigan Press, 2007. Die Forschungen zum Umgang mit behinderten Menschen in der DDR und zu ihrer politischen Selbstorganisation stehen jedoch noch ganz am Anfang. 8 Matthias Vernaldi: Wohngemeinschaft Hartroda, in: Michael Hofmann (Hg.): Aufbruch im Warteland. Ostdeutsche Soziale Bewegungen im Wandel, Bamberg: Palette 1991, S. 36–46.

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gehende Veränderungen bewirkt haben. So wurde 1994 der Artikel 3,3 Absatz 2 des Grundgesetzes um das Verbot der Benachteiligung aufgrund einer Behinderung ergänzt und ab 1999 Antidiskriminierungsgesetze, bezogen auf Behinderung, auf Länderebene verabschiedet. Zwar gab es schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts im Umfeld von Psychiatrien und Behinderteneinrichtungen Sammlungen und Ausstellungen von Kunst behinderter Menschen9, doch werden diese erst seit den 1990er Jahren verstärkt selbst als Produzentinnen und Produzenten von Kultur aufgefasst. Theater- und Tanzgruppen, deren Ensemble sich ganz oder vorrangig aus Menschen mit Behinderung zusammensetzen, erhalten mehr öffentliche Aufmerksamkeit sowie finanzielle Förderung und werden nicht mehr allein im Kontext von Rehabilitation, sondern in dem von Kunstproduktion wahrgenommen. So titelte etwa das Kunstmagazin art 2003 mit den „Wilden Welten“ der Künstlergruppe „Schlumper“ und sprach von „spontaner, origineller Malerei“, welche die Grenzen zwischen „geistig behindert“ und „normal“ verwische. Heute betreiben die Schlumper eine gut gehende Galerie im Hamburger Karolinenviertel und führen aktuell eine Kampagne für ein festes Museum für Kunst behinderter Menschen durch, in dem sie ihre Arbeiten in einer Dauerausstellung zeigen können. Im Jahr 2000 lancierte dann auch die größte deutsche Behindertenhilfsorganisation, damals noch unter dem Namen „Aktion Sorgenkind“, eine Imagekampagne und signalisierte, dass sie vom Gedanken der Fürsorge Abschied nehme, um den Paradigmenwechsel zum Menschenrechtsdiskurs in der allgemeinen Behindertenpolitik nicht zu verpassen, und nannte sich „Aktion Mensch“.10 Auch im wissenschaftlichen Diskurs kündigte sich ein Wandel in der Bearbeitung des Themas „Behinderung“ an. In den 1990er Jahren hatte sich in den USA bereits eine kulturwissenschaftliche Betrachtungsweise von Behinderung durchgesetzt, in welcher der Schwerpunkt der Analyse weniger auf dem Herausarbeiten von Benachteiligungen behinderter Menschen als auf der historisch und kulturell sich wandelnden Konstruktion von Behinderung als Kategorie lag.11 Disability Studies, so wie sie sich seit 2000 in der deutschsprachigen Forschungslandschaft etablierten, fordern zu einem 9 Eine der bekanntesten ist die Sammlung Prinzhorn, die der Arzt und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn 1919–1922 auf der Grundlage der in diagnostischer Absicht zusammengestellten Lehrsammlung der Psychiatrischen Klinik Heidelberg aufgebaut hat. Die Sammlung wird seitdem in wechselnden Kontexten und mittlerweile in einem eigenen Museum am Universitätsklinikum Heidelberg gezeigt. Dazu z.B.: Thomas Fuchs, Inge Jádi, Bettina Brand-Claussen, Christoph Mundt (Hg.): Wahn, Welt, Bild. Die Sammlung Prinzhorn. Beiträge zur Museumseröffnung, Berlin [u.a.]: Springer, 2002. 10 Vgl. zum Wandel der visuellen Repräsentationen von Behinderung und der Rolle von Organisationen der Behindertenhilfe in diesem Prozess Anja Tervooren: Bildung im Blick. In: Ulrike Mietzner, Heinz-Elmar Tenorth, Nicole Welter (Hg.): Pädagogische Anthropologie – Mechanismus einer Praxis (= Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 52), Weinheim [u.a.]: Beltz, 2007, S. 172–185. 11 Vgl. dazu: David T. Mitchell, Sharon S. Snyder: Introduction: Disability Studies and the Double Bind of Representation. In: Dies. (Eds.): The Body and Physical Difference. Discourses of Disability, Ann Arbor: The University of Michigan Press, 1997, S. 1–31. Durch eine Zunahme des internationalen wissenschaftlichen Austauschs und die Konferenzen, welche die Ausstellung „Der [im-]perfekte Mensch“ – veranstaltet und kuratiert vom Deutschen Hygiene-Museum Dresden und der Aktion

Einleitung

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Perspektivenwechsel auf. Sie rücken die Relation zwischen Behinderung und ihrem vermeintlichen Gegenteil, der Nicht-Behinderung, in den Mittelpunkt. Das Ziel ist es dabei nicht allein, die jeweiligen Mechanismen zu beschreiben, welche beide kulturelle Kategorien produzieren; aufgezeigt werden sollen auch die Strategien der Macht, die Nicht-Behinderung als Norm und Behinderung als „Abweichung“ konstituieren.12

Herausforderungen an Kultur- und Bildungsinstitutionen Die Bestimmungen, die das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen von 2002 erstmals und in verbindlicher Weise dem Begriff „Barrierefreiheit“ gibt, benennen zum einen deren Ziele. Barrierefreiheit wird dabei für alle „gestalteten Lebensbereiche“, insbesondere öffentliche Gebäude und Areale, Kultur-, Bildungs- und Forschungseinrichtungen, Behörden und Verwaltungen gefordert. Solche Lebensbereiche sind dann barrierefrei, „wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind“.13 Die Bestimmungen bezeichnen zum anderen aber auch die Bedingungen, welche zur Ausgrenzung von Menschen beitragen, nämlich solche Umweltbedingungen, baulichen Voraussetzungen, Apparaturen und Informationstechnologien, die sich im Gebrauch als physische oder kommunikative Barrieren herausstellen. Konzept und Anspruch, die seit 2002 mit dem Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen und weiteren gesetzlichen Regelungen und Ausführungsbestimmungen verbunden sind, sind umfassend. Der Gesetzgeber hat das Gesetz daher mit Vorkehrungen für dessen Durchsetzung flankiert, etwa der Möglichkeit der Verbandsklage oder dem Abschluss von Zielvereinbarungen, deren Ergebnisse Behindertenverbände und Unternehmen in einem Zielvereinbarungsregister der Bundesregierung veröffentlichen. Damit ist – zumindest auf der Ebene gesetzlicher Reglementierungen – ein

Mensch e.V. – begleiteten, wurde diese Betrachtungsweise auch zunehmend im deutschsprachigen Raum bekannt. 12 Vgl. zu frühen Ausarbeitungen Anne Waldschmidt (Hg.): Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies, Kassel: bifos, 2003; Anja Tervooren: Disability Studies, in: Petra Lutz, Thomas Macho, Gisela Staupe, Heike Zirden (Hg.): Der [Im-]perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung, Köln [u.a.]: Böhlau, 2003, S. 416–417; Jan Weisser, Cornelia Renggli (Hg.): Disability Studies. Ein Lesebuch, Luzern: SZH/CSPS Edition 2004. Zu einer systematischeren und breiter aufgestellten Veröffentlichung, die einen Überblick über die aktuelle Situation im deutschsprachigen Raum gibt, Anne Waldschmidt, Werner Schneider (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielefeld: transcript 2007. 13 Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen (Behindertengleichstellungsgesetz, BGG), , hier §4: „Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind.“

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hohes Maß an Transparenz und Verbindlichkeit für den Abbau und die Vermeidung von Barrieren vorgesehen. Anders als bei der Idee von „accessibility“ in der englischsprachigen Welt, die ein Erreichen der Gleichstellung umreißt, lässt sich in Deutschland die Vorstellung eines graduellen Abbaus von Barrieren ausmachen, so dass in der Fachliteratur auch zwischen „barrierearm“ und „barrierefrei“ unterschieden wird.14 Mittel, mit denen Barrieren überwunden oder vermieden werden, etwa Rampen und Hubbühnen, automatische Türen, einfach und übersichtlich gestaltete Webseiten, gut lesbare Formulare oder Tastmodelle, mögen auf den ersten Blick so erscheinen, als ließen sie sich ohne größere Probleme durchsetzen. Ihre Wirkung auf die Umwelt, den Alltag und die alltäglichen Verrichtungen wird aber offenbar als so gravierend empfunden, dass die Modifikationen, die sie nach sich ziehen, der tradierten Auffassung von Funktionalität und Design oft zuwiderläuft und aus verschiedenen Gründen ausgeblendet oder als nicht umsetzbar abgewiesen werden. Angesichts der berechtigten Forderungen einer sensibilisierten und kritischer gewordenen Öffentlichkeit ist damit im Kultur- und Bildungsbereich eine Situation gegeben, die sich vor allem durch Unsicherheiten in der Bestimmung der geeigneten Mittel und Prioritäten zur Herstellung von Barrierefreiheit auszeichnet. Auch stellt sich häufig die Frage, wie die Ziele sowohl institutionsintern als auch den Zuwendungsgebern gegenüber vermittelt werden können. Trotz der klaren gesetzlichen Voraussetzungen kann sich heute niemand darauf verlassen, dass Barrierefreiheit ohne Weiteres in öffentlichen Einrichtungen umgesetzt wird und in der Zusammenarbeit mit Bauherren, Nutzern, Planern und Architekten optimale Lösungen gefunden und die verfügbaren Fördermittel auch genutzt werden. In Deutschland existiert noch keine Tradition und Kultur des barrierefreien Planens und Bauens und der Konzeption und Entwicklung barrierefreier Angebote für Bibliotheks- und Museumsbesucher.15 Was den Vertreterinnen und Vertretern der Institutionen oft noch fehlt, ist Expertenwissen zur Umsetzung barrierefrei gestalteter Bereiche; das betrifft die baulichen Voraussetzungen, aber auch die Kommunikation und Informationstechnologie. Geschichte, Stand und Perspektiven von Barrierefreiheit in deutschen Kultur- und Bildungseinrichtungen standen daher im Mittelpunkt einer Tagung, die unter dem Titel „Die Wege zur Kultur – Barrierefreiheit in Bibliotheken und Museen. Kulturwissenschaftliche Aspekte des Umgangs mit Behinderung“ vom 1. bis 3. Oktober 2009 in der 14 Vgl. Susanne Edinger, Helmut Lerch, Christine Lentze: Barrierearm – Realisierung eines neuen Begriffs. Kompendium kostengünstiger Maßnahmen zur Reduzierung und Vermeidung von Barrieren im Wohnungsbestand (= Bauforschung für die Praxis, Bd. 81), Stuttgart: Fraunhofer IRB Verlag, 2007. 15 Für den Museumsbereich liegen bereits instruktive Veröffentlichungen zur Konzeption barrierefreier Angebote vor, etwa Patrick S. Föhl, Stefanie Erdrich, Hartmut John, Karin Maaß (Hg.): Das barrierefreie Museum. Theorie und Praxis einer besseren Zugänglichkeit. Ein Handbuch, Bielefeld: transcript, 2007. Einen Überblick über die Anforderungen an die Barrierefreiheit in Bibliotheken gibt Jürgen Weber: Barrierefreiheit, in: Petra Hauke, Klaus Ulrich Werner (Hg.): Bibliotheken bauen und ausstatten, Bad Honnef: Bock + Herchen, 2009, S. 310–321.

Einleitung

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Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar stattgefunden hat. Veranstalter waren die Konferenz Nationaler Kultureinrichtungen gemeinsam mit dem Deutschen HygieneMuseum Dresden und der Klassik Stiftung Weimar.16 Auf der Tagung wurden einige Beispiele für weitgehend barrierefrei gestaltete Museen in Mainz, Berlin, Dresden und für Bibliotheken in Dortmund, Berlin und Weimar vorgestellt. Aus deren Erfahrungen und Praxis sollten Anregungen für die Umsetzung barrierefreier Projekte an anderen Orten gewonnen werden. Einer der beiden Schwerpunkte der Tagung lag auf der Darstellung und Diskussion von anwendungsbezogenem Expertenwissen über rechtliche Rahmenbedingungen, Ausstellungstechnik, Informationstechnologie, Bauplanung und Denkmalpflege, Museumspädagogik, Planung und Kommunikation barrierefreier Projekte. Im Rahmen des zweiten Schwerpunktes wurden die historischen und kulturellen Hintergründe erörtert, deren Kenntnis zum Verständnis und auch zur Umsetzung von Barrierefreiheit notwendig ist. 120 Teilnehmende aus dem gesamten Bundesgebiet und Österreich besuchten die Veranstaltung. Teilgenommen haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus fast allen Sparten der Kultur- und Bildungseinrichtungen, aus Bibliotheken, Museen, Archiven, Gedenkstätten, Universitäten, aber auch aus Schulen und öffentlichen Verwaltungen und Architektinnen und Architekten sowie Sachverständige für barrierefreies Bauen. Der Sammelband bündelt eine Vielzahl der Tagungsbeiträge, die um vertiefende Darstellungen und um Themen, die im Tagungsrahmen nicht bearbeitet werden konnten, erweitert worden sind.

Barrieren und Barrierefreiheit in Kultur- und Bildungseinrichtungen: Perspektiven des Bandes Um den Prozess des Abbaus von Barrieren organisieren, durchführen und begleiten zu können, sind zwei Formen von Wissen vonnöten. Auf der einen Seite ist eine Bandbreite von Wissen über gesetzliche Rahmenbedingungen, über bauliche Normen und Standards, über Formen des Diversity Managements in der Personalentwicklung und über Präsentationsweisen von Kultur und Wissen gefordert. Um Barrierefreiheit aber auch weiterentwickeln zu können, ist auf der anderen Seite ein Wissen um die komplexen Entstehungsbedingungen und Repräsentationen der Kategorie Behinderung und deren Wandlungsprozesse notwendig. Der Art und Weise, wie sich Wahrnehmungen von Normalität und von behinderten Menschen formen, welche Geschichten von Behinderung erzählt werden und wie die Exklusion, jedoch auch Bemühungen der Inklusion in allen Lebensbereichen gestaltet wurden und werden, widmet der Sammelband besondere Aufmerksamkeit. Damit spannt er einen Bogen zwischen Theorie und 16 Die Tagung wurde durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages sowie durch die Gesellschaft Anna Amalia Bibliothek e.V. gefördert.

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Praxis, zwischen der wissenschaftlichen Forschung zum Thema Behinderung sowie ihrer Weiterentwicklung und ihrer Anwendung im Rahmen von Planungs- und Konzeptionsprozessen in Kultur- und Bildungseinrichtungen. Mit der Wahl der zentralen Begriffe „Barrieren“ und „Barrierefreiheit“ stellen wir die Konstitution des Normalen und weniger die der Kategorie Behinderung in den Mittelpunkt. Das, was als „normal“ gilt, ist häufig das Unmarkierte und wird als solches gar nicht wahrgenommen. In einem Band zum Thema „Barrieren und Barrierefreiheit“ soll der Blick weniger auf die Kategorie „Behinderung“, als auf die Vorstellungen, in deren Rahmen sich Normalität erst konstituiert, gelenkt werden, damit das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem verstehbar wird. Behinderung ebenso wie Normalität wird auf mehreren Ebenen hervorgebracht: Auf der Ebene gesellschaftlicher Strukturen, die zu Barrieren führen, ebenso wie auf der Ebene kultureller Repräsentationen, die Vorstellungen von Normalität und Behinderung erst möglich machen, und vor allem auf der Ebene alltäglicher Praktiken. Im Rahmen des ersten, theoretisch ausgerichteten Teils, in dem Konzepte und Geschichte von Barrieren und Barrierefreiheit im Mittelpunkt stehen, lassen wir den Band mit drei Beiträgen beginnen, in welchen das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem, spezifischer definiert von Barrieren und Barrierefreiheit, reflektiert wird. Dieses Verhältnis wird zunächst auf einer historischen, dann auf einer systematischen Ebene und zuletzt im Rahmen der aktuellen gesetzlichen Bedingungen beleuchtet. Der Band wird von Elsbeth Bösl mit dem Beitrag Behinderung, Technik und gebaute Umwelt. Zur Geschichte des Barriereabbaus in der Bundesrepublik Deutschland seit dem Ende der 1960er Jahre eröffnet, in welchem sie die ersten Thematisierungen der gebauten Umwelt innerhalb der bundesrepublikanischen Behindertenpolitik der sechziger und siebziger Jahre verfolgt und aufzeigt, wie daraus unter dem Primat der Rehabilitation ein neues behindertenpolitisches Aufgabenfeld eigenen Ranges entstand. Dieses befindet sich an einer Schnittstelle zwischen der traditionellen Sozial(leistungs)politik und einer Politik der Gleichstellung. Die Jahre seit 1980, insbesondere aber die neunziger Jahre, kennzeichnet die Entstehung des an Inklusionsziel und Gleichstellungsauftrag orientierten Leitbildes „Barrierefreiheit“. Das Feld wird von Prozessen der Institutionalisierung und Professionalisierung, Differenzierung und Ökonomisierung geprägt. Dabei macht die Autorin deutlich, dass barrierefreies Bauen und Gestalten Bestandteile eines soziokulturellen Konstitutionsprozesses sind, in dem Behinderung als Differenzierungskategorie sozialer Ordnung entsteht. Anne Waldschmidt bearbeitet in ihrem Beitrag Normalität – Macht – Barrierefreiheit. Zur Ambivalenz der Normalisierung die Fragen: Ist die Normalität der Barrierefreiheit tatsächlich machbar? Warum eigentlich wird – zumindest in Deutschland – seit über fünfzig Jahren über den Abbau von Barrieren diskutiert, dies aber nur halbherzig umgesetzt? Die Autorin erkundet die Normalität als eine für unsere Gesellschaft und Kultur zentrale Kategorie und arbeitet den Unterschied zwischen Normalität und Normativität heraus. Anschließend wird auf der Basis des Internetforums „1000 Fragen zur Bioethik“ ein Einblick in das massenmedial vermittelte Alltagswissen über Normalität gegeben.

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Sie fokussiert auf das ambivalente Verhältnis von Normierung und Normalisierung und auf den Zusammenhang von Macht und Normalität und diskutiert abschließend die Frage, ob Barrierefreiheit normal werden kann. Felix Welti zeigt unter dem Titel Rechtliche Voraussetzungen von Barrierefreiheit in Deutschland die aktuellen rechtlichen Grundlagen auf, durch welche Barrierefreiheit auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene gesetzlich verankert ist. Er definiert die Begriffe „Behinderung“ und „Barrierefreiheit“ im juristischen Kontext und stellt detailliert vor, wie eine Konkretisierung in unterschiedlichen Formen des einfachen Rechts gestaltet ist, also zum Beispiel öffentliche Träger und Verwaltungen zur Beseitigung der Benachteiligung von behinderten Menschen verpflichtet sind. Abschließend widmet Welti sich den Möglichkeiten der Rechtsdurchsetzung, da eine große Diskrepanz zwischen gesetzlicher Norm und deren Umsetzung bestehe, und nennt neben der parlamentarischen Kontrolle oder der Kontrolle durch Aufsichtsbehörden oder Selbstverwaltungen unter anderem die Möglichkeit von Verbands- oder Individualklagen. Der Umgang mit Barrierefreiheit wird aber nur zu einem Teil auf der rechtlichen Ebene entschieden. Die Kluft zwischen den gesetzlichen Möglichkeiten und ihren fehlenden Umsetzungen verweist auf ethische und letztendlich auch ästhetische Vorstellungen, welche die Grundlagen eines gesellschaftlichen Umgangs mit Behinderung bilden und mit denen sich die nächsten beiden Beiträge beschäftigen. Praktizierte Selbstbestimmung und Inklusion sieht Michael Wunder, wie er in seinem Beitrag Behindert sein oder behindert werden? Zu Fragen von Ethik und Behinderung darlegt, als Voraussetzung von Barrierefreiheit an. Letztere stelle insofern einen kulturellen Wert dar, als sie der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung durch Einlösung von Grundrechten diene. Die Bringschuld liege bei der Gesellschaft und nicht mehr in der Anpassungs- oder der Verzichtsleistung des einzelnen Menschen mit Behinderung. Der Autor geht der Frage nach, was diese gesellschaftliche Verantwortung zur Herstellung von Barrierefreiheit ethisch begründet. Eine zentrale Rolle spielt für ihn dabei das Selbstbestimmungsrecht, wie es sich derzeit in der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen von 2006 ausdrückt. Ausgehend von Intentionen der Independent-Living-Bewegung in den USA und Deutschland erläutert er Entwicklung und Argumentationspotential der Konzepte der Care-Ethik und der Inklusion und prüft, was beide zur Begründung und Durchsetzung von Barrierefreiheit beitragen. Markus Dederich geht unter dem Titel Ästhetische und ethische Grenzen der Barrierefreiheit weniger dem, was Barrierefreiheit möglich, und mehr dem, was sie unmöglich macht, nach. Anfänglich konstatiert er, dass Barrierefreiheit in der Bundesrepublik nur in Ansätzen verwirklicht sei, und entwickelt die These, dass dies in der Ästhetik, der gesellschaftlich geformten spezifischen Wahrnehmung von Körpern, von Eigenem und Anderem und letztlich in Körpernormen begründet sei. Nachdem er den Begriff der Barriere definiert und das soziale Modell von Behinderungen eingeführt hat, zeigt er, dass letzteres den Bereich der Ästhetik nicht berührt und von daher zentrale Bereiche von Diskriminierung nicht zu erklären vermag. Im Weiteren widmet er sich dem international bekannten Zugänglichkeitssymbol, das eine Person im Rollstuhl zeigt und

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weitgehende Barrierefreiheit symbolisiert. Dieses stehe einerseits für Unabhängigkeit, markiere aber diejenigen, um die es geht, stets auch als problematisch wahrgenommene Andere. In einem letzten Schritt spricht er das Problem einer allgemeinen Verteilungsgerechtigkeit an und wirft die Frage auf, was passiert, wenn individuelle Passungen zwischen Umwelt und Person nicht hergestellt werden können. Die Art und Weise, wie sich ein Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt betrachtet sieht, hat viel mit der gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Situation zu tun, in der dieser lebt. Behinderung ist also eine kulturelle Konstruktion, die sich historisch wandelt. Darüber hinaus basiert die Unterscheidung zwischen Normalität und Behinderung auf einem Einschnitt, der auf bestimmten historischen Voraussetzungen beruht. Die folgenden drei Beiträge widmen sich dieser verschieden ausgestalteten Unterscheidung. In Bettler, Monster und Zeichen Gottes. Behinderung in der frühen Neuzeit arbeitet Ruth von Bernuth heraus, dass sich die Kategorie und auch der heutige Begriff „Behinderung“ erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts herausgebildet haben. Sie zeigt am Beispiel erstens des städtischen Raums, zweitens der höfischen Kunst- und Wunderkammern und drittens der häufig didaktischen Darstellungen im sich etablierenden Medium „Buch“ in Spätmittelalter und Früher Neuzeit die Begriffs- und Bedeutungsvielfalt dessen auf, was heute als „Behinderung“ gelten könnte. Zentral sei, dass in allen untersuchten Bereichen eine breite Palette von Phänomenen – sei es Armut, Menschen, die in anderen Erdteilen lebten, oder solche, die besonders groß oder klein waren – als besonders angesehen und häufig, allerdings nicht immer, bestaunt wurden. Petra Fuchs geht in „Behinderung“ in Deutschland. Aspekte der Kultur und Geschichte des Umgangs mit physischer, psychischer und mentaler Differenz ebenfalls den historischen Wurzeln nach, die den gesellschaftlichen Umgang mit dem Konstrukt „Behinderung“ in Deutschland bis heute bestimmen, und untersucht vor allem das 20. Jahrhundert. Sie stellt dabei die sprachpolitische Dimension der Entstehung, Konnotation und Nutzung des Begriffsfeldes „Behinderung“ in den Vordergrund. Ausgehend vom wilhelminischen Zeitalter, in welchem sich das Fürsorgeparadigma etablierte, über die ersten Formen der Selbstorganisation behinderter Menschen in der Weimarer Republik beschäftigt sie sich mit der Abkehr vom gerade erst durchgesetzten Fürsorgeparadigma während der NS-Zeit. Für einen Teil behinderter Menschen war diese Zeit mit dem Angebot zur Teilhabe über Arbeit verknüpft, die in der Benennung „Körperbehinderte“ kulminierte, welche erst im Nationalsozialismus eingeführt worden sei. Die Fortsetzung dieser Begriffstradition nach 1945 skizziert sie abschließend. Petra Lutz arbeitet in ihrem Beitrag Die Wirksamkeit öffentlicher Bilder im Privaten. Angehörige von Opfern der NS-„Euthanasie“ und rassenhygienische Propaganda einen Ausschnitt nationalsozialistischer Politik auf und entwickelt die These, dass zur Erfolgsgeschichte der „Erbgesundheitspolitik“ ihre Bilder gehörten. Diese popularisierten die Rassekonzepte unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen und begleiteten deren politische Implementierung. Ab 1933 sei eine beispiellose Bild-Inflation zu konstatieren und Darstellungen von „Minderwertigkeit“ verbreiteten sich ebenso umfassend

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im öffentlichen Raum wie Familienstammbäume. Dabei wurden nicht nur einzelne biopolitische Maßnahmen wie die Zwangssterilisationen propagiert, sondern auch über die Definition, wer dazugehörte und wer nicht, über Inklusion und Exklusion die „Volksgemeinschaft“ geformt. Wie weit und wie nachhaltig diese Bilder den Blick ihres Publikums auf kranke und behinderte Menschen bestimmten, wird im Beitrag anhand der Äußerungen von Angehörigen ermordeter Anstaltspatienten untersucht. Diese hatten neben den öffentlichen, rassenhygienischen Bildern auch ihren eigenen Blick auf Anstaltspatienten – auf Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Bruder oder Schwester. Außerdem waren sie herausgefordert, sich zu der Frage zu positionieren, ob sie die kategoriale Unterscheidung der NS-„Volksgemeinschaft“ zwischen „erbkrank“ und gesund, zwischen „Volksgenossen“ und „Minderwertigen“ nachvollzogen. Obwohl man vermuten könnte, dass ihre persönlichen Beziehungen zu den Betroffenen die Wirkungen der propagandistischen Bilder begrenzten, zeigen viele Äußerungen von Angehörigen deren Wirksamkeit. Im zweiten Teil des Sammelbandes werden unter dem Titel Barrierefreiheit in der Praxis konzeptionelle Vorschläge zur Annäherung an Barrierefreiheit in unterschiedlichen Kultur- und Bildungseinrichtungen gemacht und best-practice-Beispiele aus einzelnen Institutionen vorgestellt. In den ersten fünf Beiträgen steht die Institution des Museums, d.h. die Sammlungen, die Organisations-, Ausstellungs- und Vermittlungsformen ebenso wie die Personal- und Baupolitik, im Mittelpunkt. Siegfried Saerberg stellt in Sensorische Räume und museale Regimes. Von visueller Dominanz zu sensorischer Diversität die These auf, dass museales Handeln als organisierter und institutionell fundierter Zusammenhang von Sammeln, Bewahren, Vermitteln, Zeigen und Inszenieren traditionell visuell dominiert ist. Andere sensorische Felder – vor allem das Tasten – sind aus diesem Handeln ausgeschlossen. Diese Konstellation von Machtverhältnissen begreift er als „sensorisches Regime der Visualität im musealen Handlungskontext“. Darauf aufbauend stellt der Autor und Künstler drei seiner Ausstellungsprojekte vor, in denen jeweils ein alternativer Entwurf multisensorischen musealen Handelns entwickelt worden ist: eines zum Hören, eines zum Riechen und Schmecken und ein drittes zur Wahrnehmung im Dunkeln. Abschließend fordert Saerberg Nicht-Visualität für alle Museumsbesucher. Folker Metzger beschäftigt sich in seinem Beitrag Barrierefreiheit und kulturelle Bildung in Museen mit dem in kulturpolitischen Debatten und museumspädagogischen Konzepten prominenten und programmatisch gebrauchten Begriff der kulturellen Bildung und geht der Frage nach, welche Bedeutung Barrierefreiheit in diesem Zusammenhang zugewiesen wird. Er wertet eine Reihe von Dokumenten aus, die den Begriff der kulturellen Bildung bzw. „arts education“ programmatisch in Anspruch nehmen. Er kommt zu dem überraschenden Ergebnis, dass ein Bezug auf Barrierefreiheit oder auf Menschen mit Behinderung, wenn überhaupt, nur am Rande, etwa im Zusammenhang mit Vermittlungsangeboten für Senioren, gegeben ist, sonst aber ausgeblendet wird, es also so scheint, als kommen die Konzepte kultureller Bildung ohne Bezug auf Menschen mit Behinderung aus. Ohne die Entwicklung differenzierter barriere-

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freier Zugänge könne kulturelle Bildung aber den Anspruch allgemeiner Teilhabe nicht gewährleisten, und deshalb schlägt er vor, die Förderung deutscher Museen stärker als bislang an der Umsetzung von Barrierefreiheit auszurichten. Vera Franke zeigt in ihrem Beitrag Barrierefrei ins Museum auf, wie Konzeption und Umsetzung barrierefreier Ausstellungen aus der Sicht des Mitglieds eines Gestaltungsbüros beschaffen sein sollten. Dabei orientiert sie sich an den Inhalten und Empfehlungen des Leitfadens „Barrierefrei Konzipieren und Gestalten“, der 2008 vom Deutschen Technikmuseums Berlin im Rahmen des Projekts „Ein Museum für alle“ herausgegeben wurde. Am Beispiel der Ausstellung „Sechs Richtige! Louis Braille und die Blindenschrift“, die seit 2010 im Deutschen Blindenmuseum Berlin zu sehen ist, werden Details und Ausführung von Vitrinen und interaktiven Elementen beschrieben und Vor- und Nachteile von Audioguides und Hands-on-Modellen abgewogen. Am Beispiel des Deutschen Technikmuseums stellt sie Struktur und Elemente einer Infothek vor, die Besucherinnen und Besuchern als zentrale Anlaufstelle und barrierefreier Informationsbereich dient. Für die Planung und Realisierung von barrierefreien Angeboten empfiehlt sie die Zusammenarbeit mit Behindertenverbänden. Ursula Wallbrecher beschreibt in ihrem Beitrag Nicht „nur“ rollstuhlgerecht ... Barrierefreiheit planen und umsetzen. Ein Erfahrungsbericht aus dem Landesmuseum Mainz, wie im Zuge der Sanierung und Umbaus eines denkmalgeschützten Gebäudes Barrierefreiheit mit Hilfe von Expertinnen und Experten konzipiert und umfassend umgesetzt wurde. Ziel war es, durch den vielfältigen und professionellen Einsatz barrierefreier Techniken eine größtmögliche Selbstständigkeit der Besucherinnen und Besucher zu gewährleisten. Dabei legt sie auch dar, welche Konflikte auftraten und welche Kompromisse eingegangen werden mussten, um die barrierefreie Gestaltung mit kunstästhetischen Ansprüchen und den denkmalpflegerischen Anforderungen in Einklang zu bringen. Helmut Vogel, Martina Bergmann und Knut Weinmeister gehen unter dem Titel Barrierefreiheit für gehörlose Menschen in Museen zunächst auf die aktuelle Debatte um eine Gehörlosenkultur und die Autonomie der Gebärdensprache ein. Im Rahmen eines sprachlich-kulturellen Modells von Gehörlosigkeit wird die Nichtbeachtung von Gebärdensprache als das zentrale Moment von Diskriminierung aufgefasst. Kultur- und Bildungseinrichtungen müssten deshalb – so ihre grundlegende Forderung – die Möglichkeit eröffnen, dass sich gehörlose Menschen handelnd in Konzeption und Durchführung von museumspädagogischen Angeboten einbringen können. In einem zweiten Schritt werden die Konzeption von Führungen von Gehörlosen für Gehörlose in der Hamburger Kunsthalle vorgestellt und drittens als Alternative dazu Videoguides in Gebärdensprache präsentiert. Die Forderung nach inklusiver kultureller Bildung, wie sie in unterschiedlichen Facetten für die Museen und ihre Arbeit formuliert worden sind, muss ebenso für alle Institutionen der Bildung erhoben werden. Diesen obliegt die Aufgabe, der sie in den nächsten Jahren mit höchster Dringlichkeit nachzugehen haben, Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen eine volle Teilhabe an allen Bildungsangeboten zu ermöglichen.

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Uta George skizziert in ihrem Beitrag Historisch-politische Bildung in der Gedenkstätte Hadamar mit und für Menschen mit Lernschwierigkeiten den Prozess, in dem im Rahmen der Gedenkstättenarbeit ein inklusives Bildungsangebot partizipativ entwickelt wurde. Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten, die ein Teil der Opfergruppe im Nationalsozialismus waren, der in dieser Gedenkstätte gedacht wird, keine Adressaten der politischen Bildungsarbeit in dieser Institution waren. In den folgenden Jahren wurde deshalb in Zusammenarbeit mit der Selbstvertretungsorganisation „Mensch zuerst“ – Netzwerk People First Deutschland e.V. ein Angebot für diese Zielgruppe entwickelt. George wertet in einem zweiten Teil Interviews aus, die sie mit Besucherinnen und Besuchern mit Lernschwierigkeiten durchgeführt hat. Sie kann zeigen, dass diese großes Interesse an dem Angebot politischer Bildung und seinen thematischen Schwerpunkten haben und sie zu Unrecht in der politischen Bildungsarbeit außen vor gelassen werden. Christine-Dorothea Sauer, Jana Viehweger und Karen Gröning stellen in ihrem Beitrag Gemeinsam kommen wir voran. Kooperationsprojekte zur Barrierefreiheit in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin ihre langjährigen Erfahrungen in der konzeptionellen und praktischen Arbeit mit Barrierefreiheit vor. Dreh- und Angelpunkt für die Initiierung, Planung und Praxis war die Zusammenarbeit mit den Behindertenverbänden und Selbsthilfegruppen. Die Autorinnen berichten über Projekte, die in Kooperation mit dem Allgemeinen Blinden- und Sehbehinderten Verein Berlin e.V., dem Gehörlosenverband Berlin e.V. und Einrichtungen für gehörlose Kinder und Jugendliche entstanden sind. Konzipiert wurden Projekte für Menschen mit Sehbehinderungen, etwa PCund Internetkurse, die als Teil eines Multimediazentrums mit Hilfe von Lernsoftware und Online-Kursen zum Selbstlernen angeboten werden. Abschließend werden die Aktivitäten der Kinder- und Jugendbibliothek beschrieben, etwa die Veranstaltungsreihe „LeseZeichen – Kinderliteratur mit den Augen hören“, die Eltern ermutigen soll, mit ihren gehörlosen Kindern Bücher in Gebärdensprache zu lesen. „Eine Hochschule für Alle“ ist laut Birgit Drolshagen – wie sie in Studieren ohne Barrieren. Der Weg zu „Hochschulen und Bibliotheken für Alle“ definiert – eine Institution, welche die gesamte Studierendenschaft gleichberechtigt am Studium teilhaben lässt. Sie konstatiert, dass das deutsche Hochschulsystem diese Forderung nach Inklusion bislang nicht erfülle. Die Autorin zeigt, dass es jedoch eine Reihe von Hochschulen gibt, die spezifische Angebote für behinderte und chronisch kranke Studierende erarbeitet haben, welche der Heterogenität und Vielfalt der Lernenden entsprechen, etwa Studienassistenzen und Tutorien, in denen die studienrelevante Software in Kombination mit behindertenspezifischer PC-Technik erlernt wird. Am Beispiel des „Dortmunder Arbeitsansatzes“ erläutert sie, wie Konzept und Praxis eines inklusiven Hochschul- und Bibliothekssystems entwickelt und schrittweise auf andere Hochschuleinrichtungen übertragen werden können. In allen Kultur- und Bildungsinstitutionen und in den Bildungsprozessen Einzelner oder denen von Gruppen ist der Zugang zu Information und die Einbindung in Kommunikation eine der zentralen Grundlagen, ohne die Bildung heute nicht mehr gelin-

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gen kann. Barrierefreien Zugang zu Information und Kommunikation zu ermöglichen, ist also eine Querschnittsaufgabe, der sich die drei abschließenden Beiträge widmen. Jan Eric Hellbusch präsentiert in Grundlagen und Beispiele für ein barrierefreies Webdesign die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.0, also die aktuellen Empfehlungen des World Wide Web Consortiums (W3C). Diese geben vor, wie Webinhalte barrierefrei gestaltet werden können. Die WCAG 2.0 richten sich an Designerinnen und Entwickler von Webseiten und enthalten insbesondere Vorgaben für die barrierefreie Nutzerführung und die Verbesserung der Verständlichkeit. Das Spektrum der Richtlinien reicht von technischen Aspekten und konzeptionellen Fragen über redaktionelle Aufgaben bis zu gestalterischen Vorgaben. Noch fehle es an Werkzeugen, die eine umfassende und unabhängige Qualitätsprüfung der Barrierefreiheit auf breiter Basis erlauben. Mit den Techniken der WCAG 2.0 werde jedoch die erforderliche Grundlage geschaffen, Barrierefreiheit wirksam umzusetzen und zu bewerten. Eine realistische Einschätzung der Barrierefreiheit sei allerdings oft nur durch Beteiligung externer Experten möglich. Patrick S. Föhl legt in dem Beitrag Kommunikation und Planung. Zentrale Aspekte eines Projektmanagements zur barrierefreien Gestaltung von Museen und Bibliotheken dar, dass die Herstellung von Barrierefreiheit für Einrichtungen eine nachhaltige Veränderung darstellt und auch deren Bild in der Öffentlichkeit spürbar beeinflusst. Die Ausrichtung einer Institution auf Barrierefreiheit ist daher eine umfassende Aufgabe, die in organisatorischen, inhaltlichen, finanziellen, aber auch kommunikativen Belangen hohe Anforderungen stellt. Angesprochen sind praktisch alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, besonders aber die Leitungsebene, die den Prozess einleiten und steuern muss. Der Autor stellt zentrale Aspekte eines Projektmanagements, das zur barrierefreien Gestaltung von Museen und Bibliotheken führen soll, vor und konzentriert sich dabei auf die Faktoren der Planung und internen Kommunikation, die als eine typische Querschnittsaufgabe auf der Leitungsebene vorbereitet und in der Einrichtung vermittelt werden muss. Jan Hoffmann legt in seinem Beitrag Zielvereinbarungen nach dem Behindertengleichstellungsgesetz dar, dass diese Vereinbarungen ein wirksames Instrument sind, um mit anerkannten Verbänden behinderter Menschen und mit privaten Unternehmen oder Unternehmensverbänden in eigener Verantwortung darüber zu verhandeln, wie und in welchem Zeitraum Barrierefreiheit vor Ort konkret verwirklicht wird. Solche Vereinbarungen werden im sogenannten Zielvereinbarungsregister, das beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales geführt wird, dokumentiert. In diesem Zusammenhang wird auf den 2008 gegründeten Verein „Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit e.V.“ hingewiesen, der mit dem vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales geförderten Projekt „Förderung des Abschlusses von Zielvereinbarungen“ zu einer wichtigen Informations- und Beratungsstelle für alle Fragen der Barrierefreiheit geworden ist.

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Ausblicke: Inklusive Kulturen und inklusive Bildung Die US-amerikanische Kulturanthropologin Nora Ellen Groce berichtet in ihrer Studie „Jeder sprach hier Gebärdensprache“ von der Insel Martha’s Vineyard, auf der bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein die meisten Einwohner und Einwohnerinnen zweisprachig waren: Sie sprachen Englisch und gebärdeten eine Sprache, die später neben der französischen Gebärdensprache zur Grundlage der American Sign Language werden sollte. Eine gehörlose Person wurde auf dieser Insel nicht als behindert, sogar nicht einmal als anders betrachtet.17 Diese Kultur habe sich aufgrund bestimmter historischer und geographischer Bedingungen herausgebildet: Im 17. Jahrhundert wanderten zahlreiche Familien aus der englischen Grafschaft Kent, von denen ein überdurchschnittlich großer Anteil gehörlos war, auf die Insel ein, und in den folgenden Jahrhunderten heirateten die Einwohner und Einwohnerinnen der Insel untereinander. Da die Gehörlosigkeit offenbar vererbt wurde, gehörten zu den meisten Familien gehörlose Verwandte und alle rechneten damit, gehörlose Kinder zu bekommen. Zeitweilig war eine oder einer von 155 Einwohnern und Einwohnerinnen von Martha’s Vineyard gehörlos, in einem der Dörfer sogar einer von vieren, wohingegen in der restlichen US-amerikanischen Bevölkerung das Verhältnis in etwa 1:1000 betrug. In dieser historisch und geographisch besonderen Situation spielte der selbstverständliche Gebrauch der Gebärdensprache durch die Einwohner der Insel eine entscheidende Rolle: Gehörlosigkeit wurde nicht nur nicht zu einem besonderen Merkmal einer Person, sie beeinflusste, so interpretiert es die Anthropologin, nicht einmal den sozialen Austausch. Gehörlosigkeit oder andere Höreinschränkungen erwiesen sich auf der Insel also weder als Behinderung noch als spezielles Merkmal. Bezogen auf den Hörsinn wurde demnach keine Trennung von Allgemeinem und Besonderem vorgenommen. Differenzen in der akustischen Wahrnehmung behinderten nicht und führten auch nicht zu sozialen Nachteilen. Diese Kultur kann aus heutiger Sicht als inklusive Kultur verstanden werden. Wenn Barrieren in Kultur- und Bildungseinrichtungen abgebaut werden sollen, muss dies auch auf allen Ebenen geschehen: auf der institutionellen und der materiellen (allerdings auch virtuellen) Ebene, der organisatorischen und der konzeptionellen, was wiederum Auswirkungen auf der personellen Ebene nach sich zieht oder voraussetzt, um nur einige zu nennen. Das betrifft also keineswegs nur die Zugänglichkeit der Kultur- und Bildungsinstitutionen für die Nutzerinnen und Nutzer, sondern schließt Fragen dazu ein, welche Ausstellungen zum Beispiel gezeigt, welche Medien erworben oder welche Gegenstände gesammelt und gepflegt werden, letztlich, welche Vorstellungen von Kultur und Bildung als explizites und implizites Wissen vermittelt und auch welche Geschichten von Normalität und Behinderung erzählt werden. Darüber hinaus 17 Vgl. Groce, Nora Ellen: Everyone here spoke sign language: hereditary deafness on Martha’s Vineyard, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1985.

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ist stets die Frage bedeutsam, wer dies eigentlich tut und welche Position diese Person in dem Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem einnimmt. Gefragt werden muss also immer wieder, wer vermittelt wem was? Der Sammelband soll zur Orientierung im Kontext der vielfältigen Aspekte der Barrierefreiheit beitragen, wenn er dabei auch niemals vollständig sein kann.

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Behinderung, Technik und gebaute Umwelt. Zur Geschichte des Barriereabbaus in der Bundesrepublik Deutschland seit dem Ende der 1960er Jahre

Technik, Design, Gestaltung, materielle und virtuelle Räume sind an der Konstitution von Kategorien beteiligt, die der soziokulturellen Differenzierung dienen. Behinderung ist keine individuelle Eigenschaft, sondern eine dieser Kategorien. Sie wird innerhalb des Gesellschaftssystems, in wissenschaftlichen und politischen Diskursen, in Bürokratie und Institutionen und insbesondere auch in der Alltagswelt hergestellt – stets in Abhängigkeit zur Kategorie „Normalität“. Menschen werden diesen Kategorien auf der Basis bestimmter körperlicher, psychischer oder mentaler Merkmale zugeordnet. Die Beeinträchtigungen, Benachteiligungen und Ausgrenzungen, die häufig mit der Zuschreibung „Behinderung“ verknüpft sind, sind demnach sowohl Folgen von verschiedensten materiellen Barrieren als auch Produkte von kulturellen Werten und Erwartungen an Menschen.1 Auf das wechselseitige Verhältnis von Technik und Behinderung weisen sowohl die Technikgeschichte und -soziologie als auch die Disability Studies hin.2 Im Folgenden geht es darum, dieses Verhältnis zu historisieren und am Beispiel des Barriereabbaus diskursive und materielle Konstruktionen von Behinderung zu analysieren. Dabei fällt über die Unterscheidungskategorie Behinderung der Blick auf das, was gesellschaftlich als „normal“ gilt. Zunächst werden die „Entdeckung“ von Alltagshindernissen innerhalb der bundesrepublikanischen Behindertenpolitik und die Anfänge des Hindernisabbaus in den sechziger und siebziger Jahren untersucht. In einem weiteren Schritt erfolgt ein Überblick über die wesentlichen Charakteristika der historischen Entwicklung seit 1 Siehe zur Konstruiertheit von Behinderung grundlegend Markus Dederich: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies, Bielefeld: transcript, 2007, sowie aus historischer Perspektive Paul K. Longmore, Lauri Umansky: Disability History: From the Margins to the Mainstream, in: Paul K. Longmore, Lauri Umansky (Eds.): The New Disability History: American Perspectives, New York [u.a.]: New York University Press, 2001, S. 1–29. 2 Vgl. zur techniksoziologischen Sicht auf Behinderung z.B. Rob Imrie: Disability and the City. International Perspectives, London: Paul Chapman, 1996; Michael Schillmeier: Dis/abling Practice: Rethinking Disability, in: Human Affairs 17, 2007, H. 2, S. 195–208; Deborah Lupton, Wendy Seymour: Technology, Selfhood and Physical Disability, in: Social Science and Medicine 50, 2000, H. 12, S. 1851–1862; Katherine Ott: The Sum of its Parts. An Introduction to Modern Histories of Prosthetics, in: Katherine Ott, David Serlin, Stephen Mihm (Eds.): Artificial Parts, Practical Lives. Modern Histories of Prosthetics, New York [u.a.]: New York University Press, 2002, S. 1–42.

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1980: Institutionalisierung und Professionalisierung, Bildung eines Marktes und Entstehung des Leitbildes Barrierefreiheit.3

1.  Die „Entdeckung“ von Alltagshindernissen und die Anfänge des Hindernisabbaus in der Behindertenpolitik der Bundesrepublik in den sechziger und siebziger Jahren In Politik und Expertenschaft der frühen Bundesrepublik dominierte ein aus dem medizinischen Fachdiskurs des 19. Jahrhunderts gespeistes Denkmodell, das Behinderung zum funktionalen Defizit und zur unhintergehbaren „Schädigung“ erklärte. Physische, sinnliche oder geistige Einschränkungen mussten, so das dominante Denkmuster, die betroffenen Menschen zwangsläufig von den als „normal“ und alltäglich empfundenen Tätigkeiten, Lebens- und Mobilitätsformen der Mehrheitsgesellschaft ausschließen und an „normalen“ Umweltbedingungen scheitern lassen. Dies schien somit unvermeidlich zu sozialen Schwierigkeiten zu führen.4 Bereits seit dem 19. Jahrhundert geboten jedoch die bürgerliche Sozialethik und Sozialstaatstradition, „Schädigungen“ und die in ihnen erkannten Probleme mit den Mitteln des entstehenden Sozialstaats und der privaten Wohltätigkeit zum Nutzen von Individuum und Gesellschaft zu beheben. Die Bundesrepublik knüpfte dann ab 1949 mit ihrer Behindertenpolitik zunächst ideell und institutionell an diese traditionellen Pfade an. Staat und private Wohltätigkeit richteten ihre Problemlösungsstrategien darauf aus, Menschen zu therapieren, zu rehabilitieren oder zu erziehen, bis sie den funktionalen Normalitätserwartungen weitgehend entsprachen – insbesondere, was ihre Leistungsfähigkeit und Produktivität anging. Diese Version einer Normalisierung, ja sogar Normierung, fand überwiegend am Körper statt. Rehabilitationsmedizin, Prothetik, Hilfsmitteltechnik, Sozialleistungen und berufliche Rehabilitationsmaßnahmen – als „Hilfen“ konzipiert – sollten Menschen in die Lage versetzen, ihre zum sozialen Problem erhobenen Behinderungen zu überwinden. Die bundesrepublikanische Behindertenpolitik folgte demnach einer Traditionslinie, die selbst das nationalsozialistische Regime nur teilweise durchbrochen hatte. Gerade in der nationalsozialistischen Behindertenpolitik waren rassenideologisch motivierte Verbrechen an behinderten Menschen und Politiken des Nutzbarmachens eng ver-

3 Der Beitrag geht aus einem 2009 von der Fritz-Thyssen-Stiftung geförderten Forschungsprojekt der Verfasserin am Fachgebiet Technikgeschichte der TU München zu Diskurs und Materialität der barrierefreien Umweltgestaltung seit den 1960er Jahren hervor. Da dieses Projekt auf die BRD ausgerichtet war, konzentriert sich auch der vorliegende Beitrag auf die bundesrepublikanische Entwicklung bis 1990 und die gesamtdeutsche Entwicklung nach 1990. 4 Vgl. zu einer Herleitung dieses Erklärungsmodells aus dem historischen Quellenmaterial Elsbeth Bösl: Politiken der Normalisierung. Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld: transcript, 2009, S. 35–42.

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zahnt gewesen, hatten Utilitätsdenken und die Bedeutung der Erwerbsfähigkeit für das Schicksal des Einzelnen sogar noch zugenommen.5 Nach der Gründung der Bundesrepublik war Behindertenpolitik vor allem wieder Sozialleistungspolitik. Kam die gebaute Umwelt in den Diskussionen der Expertenschaft und Politik zur Sprache, ging es ausschließlich um die Frage, ob und inwieweit sie die berufliche Rehabilitation und Erwerbstätigkeit behinderter Menschen beeinträchtigte.6 Noch teilten auch die Interessenvertretungen behinderter Menschen diese Sichtweise. Zu diesem Zeitpunkt hatten vor allem die etablierten Klientelvertretungen, der Reichsbund der Körperbeschädigten, Sozialrentner und Hinterbliebenen e.V. (Reichsbund) und der Verband der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschlands e.V. (VdK) Zugang zum behindertenpolitischen Politiknetzwerk und zum Diskurs.7 Beide Verbände nahmen im Lauf der sechziger Jahre die Probleme behinderter Menschen mit der gebauten Umwelt als Thema in ihre advokatorische Arbeit auf. Wesentliche Impulse erhielten sie aus dem angelsächsischen Raum und auf internationalen Foren, wie sie etwa das International Committee on Technical Aids, Architecture and Transportation (ICTA), eine Arbeitsgruppe der International Society for the Rehabilitation of the Disabled (ISRD), bildete. Derart munitioniert, waren die Verbände sowohl bei den Bundesministerien als auch auf regionaler und kommunaler Ebene aktiv. So wurde beispielsweise der Münchner Kreisverband des VdK 1967 mit einem Problem- und Forderungskatalog bei der Stadtverwaltung vorstellig, der als typisch für die Verbandsposition im gesamten Bundesgebiet gelten darf: Mit Blick auf die Rehabilitation von Menschen mit Gehbehinderungen und insbesondere Rollstuhlnutzern regte der Verband an, die Einstiege in Bussen und Trambahnen zugänglich zu gestalten, Parkmöglichkeiten an den Endhaltestellen der öffentlichen Verkehrsmittel zu reservieren, Bordsteinkanten an Fußgängerübergängen abzuschrägen, Zugangsrampen, Aufzüge und Toiletten für Rollstuhlnutzer in öffentlichen Gebäuden einzubauen sowie rutschfreie Bodenbeläge zu verlegen.8 Zwar blieb der unmittelbare praktische Erfolg dieses Vorstoßes in München aus, jedoch trug der Verband dazu bei, in der Stadtverwaltung das Bewusstsein für die neue behindertenpo5 Vgl. zur Dialektik von Vernichtung und Nutzbarmachung, Ausschluss und Integration Hans-Walter Schmuhl: Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871–2002. Zwischen Fürsorge, Hoheit und Markt, Nürnberg: Bundesanstalt für Arbeit, 2003, S. 260–261; Petra Fuchs: „Körperbehinderte“ zwischen Selbstaufgabe und Emanzipation. Selbsthilfe – Integration und Aussonderung, Neuwied [u.a.]: Luchterhand, 2001, S. 232–234. 6 Vgl. z.B. Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (BAVAV), Ergebnisprotokoll über die 7. Sitzung des beratenden Ausschusses am 5.4.1957, Bundesarchiv (BArch) B 119 2971; Denkschrift der Deutschen Vereinigung für die Rehabilitation Behinderter e.V. (DeVg) über bauliche Maßnahmen für körperbehinderte Studenten an Hochschulen und Wohnheimen, in: Die Rehabilitation 3, 1964, H. 2, S. 49–52. 7 Wilfried Rudloff: Überlegungen zur Geschichte der bundesdeutschen Behindertenpolitik, in: Zeitschrift für Sozialreform 49, 2003, H. 6, S. 863–886, hier S. 865; Bösl (Anm. 4), S. 61–62; heute Sozialverband Deutschland e.V. und Sozialverband VdK Deutschland e.V. 8 VdK Kreisverband München, Resolution, 1.7.1967, Stadtarchiv München (StadtAM) Direktorium/ Verwaltungsamt, Abgabe (Abg.) v. 10.12.1980, Abgabeverzeichnis (Abg.VZ) 3/16, 141 64–4/10–12.

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litische Aufgabe des Hindernisabbaus reifen zu lassen. Dieser war zudem nicht mehr mit den klassischen Mitteln der kommunalen oder staatlichen Sozialleistungspolitik, sondern auf stadtplanerischen und baulichen Wegen zu begegnen. Auf Bundesebene profitierte die Thematisierung davon, dass sich auch ein höchst einflussreicher, bundesweit in der Behindertenpolitik agierender Professions- und Expertenverband, die Deutsche Vereinigung für Rehabilitation Behinderter e.V. (DeVg), systematisch an das hindernisfreie Bauen und Gestalten heranwagte. Die DeVg verstand sich zwar selbst vor allem als „Plattform des interdisziplinären Erfahrungstauschtausches“, war aber eine eminent politische Akteurin mit sehr gutem Zugang zur Ministerialebene.9 Sie integrierte das Thema „Hindernisabbau“ in ihre Arbeitstagungen und Kongresse, legte Positionspapiere vor und publizierte konkrete Handreichungen. So entstand beispielsweise unter Mitwirkung des Bundesministeriums für Städtebau und Wohnungswesen 1964/65 eine DeVg-Richtlinie zur Sanitärausstattung von Wohnungen für Rollstuhlnutzerinnen und -nutzer. Impulse an den politischen und ministeriellen Raum sandte beispielsweise auch die hochkarätig besetzte Fachtagung „Die Wohnung des Körperbehinderten“ vom Oktober 1968.10 Im Einzelfall ließ sich die DeVg von Menschen, die selbst mit Behinderungen lebten, beraten. Allerdings gehörten diese meist auch den Rehabilitationsprofessionen an und verfügten insofern bereits über Status und Glaubwürdigkeit von Experten.

1.1  „Bauliche und technische Hindernisse“: Sprache, Zielsetzung und Instrumentarium Bezeichnet wurde das neu entstehende Aufgabengebiet von Bürokratien, Parlament, Politik und Expertenschaft ebenso wie von den Interessenvertretungen behinderter Menschen gemeinhin als Abbau oder Beseitigung „baulicher und technischer Hindernisse“.11 Dieser Begriff rückte die Merkmale der Umwelt in den Mittelpunkt. Derartige Objektivierungen des technischen Denkens sind typisch für die Zeitphase. 9 Zitat in Kurt-Alphons Jochheim: Ist Chancengleichheit machbar? Perspektiven des 25. Kongresses. Einführung, in: Kurt-Alphons Jochheim, Marlis Moleski-Müller, Valentin Siebrecht (Hg.): Wege zur Chancengleichheit der Behinderten. Bericht über den 25. Kongress der DeVg e.V. in Bad Wiessee, 10.–12.10.1973, Heidelberg: Selbstverlag, 1974, S. 2f. Die DeVg wurde 1909 als Deutsche Vereinigung für Krüppelfürsorge e.V. gegründet. 10 Vgl. als Beispiele DeVg, 1. Seminar: Die Wohnung des Körperbehinderten am 2.10.1968, BArch B 189 9466; Verband von Fachhändlervereinigungen des sanitären Installations-, Wasser- und Wasserleitungsbedarfs e.V. in Zusammenarbeit mit der DeVg (Hg.): Die Behindertenwohnung 2. Ratschläge für Sanitär-Ausstattungen, Bonn: Selbstverlag, 1965. 11 Vgl. als Beispiele der für die Analyse der Sprachregeln herangezogenen Quellen: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA), Protokoll über die 1. Sitzung des interministeriellen Ausschusses zur Beseitigung baulicher und technischer Hindernisse für Behinderte am 12.10.1970, 4.11.1970, BArch B 157 2558; Bauliche und technische Hindernisse für Behinderte beseitigen, in: Bundesarbeitsblatt (BArbl.) 22, 1971, H. 12, S. 744; Beseitigung baulicher und technischer Hindernisse, in: VdK-

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Auf dem Wege transnationaler Wissenstransfers wurde der Begriff aus dem Amerikanischen entlehnt und insbesondere von den Interessenvertretungen über internationale Konferenzen, aber auch durch Studienreisen von Expertenteams nach Deutschland getragen. In den USA war bereits seit den 1950er Jahren von „architectural and technical barriers“ die Rede: Dem Barrier-Free-Movement und insbesondere den Organisationen von Kriegsbeschädigten, die über erhebliches moralisches Kapital verfügten, war es gelungen, die gebaute Umwelt als signifikanten Teil des sozialen Problems „Behinderung“ auszuweisen. Als sich in den sechziger und siebziger Jahren auch in der Bundesrepublik die Überlegung durchsetzte, dass hier ein bisher unbeachtetes behindertenpolitisches Problem vorlag, das sich zudem nicht auf dem hergebrachten Weg der Sozialleistungspolitik lösen ließ, in der der Bund zumindest über gesetzgeberische und die Interessen organisierende Kompetenzen verfügte, konzentrierten sich die Bundesministerien darauf, Bau- und Gestaltungsempfehlungen zu formulieren, Mindestanforderungen festzulegen und die Verabschiedung entsprechender DIN-Norm voranzutreiben. Darüber hinausgehende Eingriffskompetenzen fehlten den Bundesministerien. Gerade die Formulierung von DIN-Normen galt in dieser von Technikoptimismus und Planungsdenken geprägten Phase ohnehin als beste Strategie, um hindernisfreie Umwelten zu schaffen. Normiert werden sollten, anders als in der Rehabilitation, aber eben nicht menschliche Körper, sondern gebaute Räume. Diese Einschätzung teilten sowohl die Expertenschaft, als auch die Interessenvertretungen behinderter Menschen und die ersten auf lokaler Ebene agierenden Betroffeneninitiativen. Auf den Normsetzungsprozess selbst konnten Letztere allerdings keinen Einfluss nehmen. Die Empfehlungen und auch die sukzessive publizierten DIN-Normen waren jedoch ohne rechtliche Bindungskraft, so lange sie nicht in geltendes Länderrecht, beispielsweise Bauordnungen, integriert wurden. Um also DIN-Normen und Planungsempfehlungen als Instrumente für ihr behindertenpolitisches Kernziel – die Förderung der Rehabilitation auf dem Weg des Hindernisabbaus – nutzen zu können, mussten die Bundesministerien laufend werbend bei Ländern, Kommunen, Landkreisen und Behörden, öffentlichen und privaten Bauträgern und -finanzierern vorstellig werden. In diesem Sinne legte beispielsweise 1969 der Bundesminister für Städtebau und Wohnungswesen Lauritz Lauritzen (SPD) den übrigen Bundesressorts, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden seine Planungsempfehlungen für Sozialwohnungen ans Herz.12 Es ging ihm, wie er an Bundesarbeitsminister Hans Katzer (CDU) schrieb, darum, „dass die Körperbehinderten in vollem Umfange am kulturellen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Das setzt voraus, dass durch bauliche und

Informationsdienst, 28.1.1971; Verhandlungen des Deutschen Bundestags, Stenografische Berichte, (StenBerBT), 6. Wahlperiode, Bonn, 1970, 64. Sitzung v. 16.9.1970, S. 353A-C. 12 Bundesministerium für Städtebau und Wohnungswesen (BMSt), Planungsempfehlungen für Wohnungen für Schwerbehinderte, 1969, BArch B 134 23141.

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technische Maßnahmen, insbesondere auch bei öffentlichen Einrichtungen, das Leben unserer behinderten Mitbürger erleichtert wird.“13

1.2  Hindernisabbau unter den Bedingungen der sozialliberalen Koalition Mit hoch gesteckten Zielen trat die sozialliberale Koalition, die 1969 die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD ablöste, an die Behindertenpolitik heran.14 Rehabilitation geriet einerseits zur Gesellschaftspolitik, die dem Umbau der Gesellschaft dienen sollte, andererseits zur Aufgabe, an der sich die demokratische und „moderne“ Gesellschaft zu beweisen hatte: „Die Qualität des Lebens für die Behinderten in unserer Gesellschaft ist ein Spiegel der Qualität der Gesellschaft,“ erklärte Arbeitsminister Walter Arendt (SPD) auf einem Kongress der DeVg 1973.15 Der Begriff der „Chancengleichheit“ sollte ins Sozialleistungsrecht eingehen, die Schlagworte „Demokratisierung“ und „Lebensqualität“ sollten die Behindertenpolitik in Konzeption und Umsetzung prägen.16 Behindertenpolitik sollte nicht mehr nur am Individuum, sondern gezielt an der Gesellschaft und ihren Bedingungen ansetzen.17 Die bisher primär auf medizinische Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit und Integration in den Arbeitsmarkt beschränkte Rehabilitation genügte diesem Anspruch nicht mehr. Der Abbau von Hindernissen der gebauten Umwelt bzw. „Abbau bzw. Vermeidung architektonischer Barrieren“ oder „architektonischer Hindernisse“, wie die Sprachregelung nun überwiegend lautete, wurde jetzt als eigenständiges Aufgabengebiet betrachtet. Walter Arendt ließ in einem interministeriellen Ausschuss auf Referentenebene Vertreter und Vertreterinnen der Bundesressorts für Arbeit und Sozialordnung, für Jugend, Familie und Gesundheit, für Städtebau und Wohnungswesen sowie für Verkehr und für Post- und Fernmeldewesen zusammenkommen, um die Problematik des privaten Wohnens und des öffentlichen Raums zu behandeln.18 Unter der Federführung des Bundesbauministeriums und unter Mitarbeit der kommunalen Spitzenverbände, der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte, der Bundesarbeits13 BMSt Lauritz Lauritzen an BMA Hans Katzer, 19.3.1969, BArch B 157 2556. 14 Vgl. z.B. Regierungserklärung des Bundeskanzlers Willy Brandt v. 28.10.1969, in: StenBerBT, 6. WP, 5. Sitzung v. 28.10.1969, S. 29D; Aktionsprogramm der Bundesregierung zur Förderung der Rehabilitation der Behinderten, in: Sozialpolitische Informationen 4, 1970, S. 1–4. 15 Walter Arendt: Wege zur Chancengleichheit der Behinderten, in: Jochheim, Moleski-Müller, Siebrecht (Anm. 9), hier S. 20. 16 Vgl. z.B. BMSt an Präsidenten des Deutschen Bundestags, 15.3.1972, BArch B 157 18324; Karl Ravens: Mehr Rücksicht auf Behinderte, in: SPD-Pressedienst, 18.6.1974, S. 1–2, hier S. 2. 17 Vgl. z.B. Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR), 5. Mitgliederversammlung, Referat des parlamentarischen Staatssekretärs Heinz Westphal/BMJFG: Aktuelle Fragen der Rehabilitation Behinderter, 4.12.1973, BArch B 189 9461; BMSt, Pressereferat, Pressemitteilung: Hans-Jochen Vogel: Barrieren für Behinderte beseitigen, 3.4.1973, BArch B 157 2558. 18 Vgl. BMA, Protokoll über die erste Sitzung des interministeriellen Ausschusses zur Beseitigung baulicher und technischer Hindernisse für Behinderte am 12.10.1970, 4.11.1970, BArch B 157 2558.

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gemeinschaft für Rehabilitation und verschiedener Behindertenverbände entstand bis 1973 der „Katalog der Schwerpunkte bei der Beseitigung baulicher und technischer Hindernisse“.19 Dieser trug den Charakter einer Empfehlung der Bundesregierung. Er stellte umfangreiche und konkrete Forderungen an die Gestaltung von Nah- und Fernverkehrsmitteln, Straßen und Plätzen sowie öffentlich zugänglichen Gebäuden. Abschnitte beschäftigten sich mit dem Wohnungsbau für Rollstuhlnutzer und -nutzerinnen, blinde Menschen und Personen mit Sehbehinderungen. Den wichtigsten Bezugsrahmen bildeten Schwellen, Kanten, Steigungen und Treppen. Hindernisfreiheit versprachen entsprechende Schlüsseltechnologien wie Rampen, Bordsteinabsenkungen und Personenaufzüge. Das Kompendium fand unter Architekturbüros, Hochschul- und Forschungsinstituten und Baugenossenschaften Resonanz. Es hatte aber mit Ausnahme der Baumaßnahmen des Bundes und der Bundesverwaltungen keinen rechtlich fixierten Umsetzungsbereich. Seinen Höhenpunkt erreichte das behindertenpolitische Normierungsprojekt in der Verabschiedung der DIN-Normen 18024 und 18025. Bereits 1968 war Bundesminister Lauritzen an den Deutschen Normenausschuss (DNA) mit dem Vorschlag herangetreten, eine Baunorm für Wohnungen für behinderte Menschen zu erarbeiten. Der Adressatenkreis sollte Rollstuhlnutzer und blinde Menschen umfassen. Ein Arbeitsauschuss des DNA unter der Leitung von Albert Prömmel, einem Ingenieur und Mitarbeiter Lauritzens, trat zusammen. Als Vorlagen dienten ihm einerseits Vorarbeiten von DeVg, Reichsbund, VdK und anderen Verbänden, andererseits ausländische Muster wie etwa die 1963 verabschiedete Schweizer Baunorm SNV 521500.20 Herangezogen wurde z.B. auch das Buch „Designing for the Disabled“ des britischen Architekten Selwyn Goldsmith, das unter den Experten Deutschlands, der USA und Großbritanniens zu den einflussreichsten Arbeiten zählte.21 Im Januar 1972 erschien, nach einem umfangreichen Einspruchsverfahren, der erste, „Wohnungen für Rollstuhlbenutzer“ betitelte Teil der DIN 18025 „Wohnungen für Schwerbehinderte, Planungsgrundlagen“. Er enthielt unter anderem Bemessungsgrößen für Stell- und Wohnflächen, Ausstattungen von Küchen und Sanitärräumen sowie von Abmessungen von Türen und Zugängen, die Rollstuhlnutzerinnen und -nutzern Bewegungsfreiheit und Selbstständigkeit ermöglichen sollten. Der zweite Teil „Woh-

19 Katalog der Schwerpunkte bei der Beseitigung baulicher und technischer Hindernisse, März 1973, BArch B 157 2558. 20 Fachnormenausschuss Bauwesen (FNBau) im Deutschen Normenausschuss (DNA), Bericht über die Sitzung des Arbeitsausschusses Wohnungen für Schwerbehinderte am 29.10.1968, 20.12.1968, BArch B 149 99975; Bauen für Gehbehinderte, in: Schweizerische Bauzeitung 86, 1968, H. 16, S. 277. 21 Zur deutschen Rezeption von Goldsmith z.B. Herbert Kuldschun, Erich Rossmann: Planen und Bauen für Behinderte. Grundlagen für die Gestaltung einer hindernisfreien baulichen Umwelt, Stuttgart: DVA, 1974, S. 8; Axel Stemshorn: Vorwort, in: Axel Stemshorn (Hg.): Bauen für Behinderte und Betagte. Wohnungsplanung, Gebäudeplanung, Umweltgestaltung, DIN-Normen, Kommentare, Medizinische Aspekte, Sozialpsychologie, Statistik, Finanzierung, Stuttgart: Koch, 1974, S. 6–7, hier S. 7.

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nungen für Blinde und wesentlich Sehbehinderte“ folgte im Juli 1974.22 Indessen hatten auch die Arbeiten an einer Baunorm für den öffentlichen Bereich begonnen. Noch gezielter als bisher holte der Arbeitsausschuss hierfür Daten und Know-how aus dem Ausland ein, darunter Leitfäden aus Schweden und den USA,23 denn es erwies sich als unerwartet kompliziert, Gestaltungsgrundlagen für die ganze Varianzbreite öffentlicher Räume zu formulieren. Zudem wuchs der Adressatenkreis, wie der Titel der Norm „Bauliche Maßnahmen für Behinderte und alte Menschen“ zeigt. Nicht nach „Behinderungsformen“, sondern nach Raumtypen sollte die neue Norm gegliedert werden. Die dabei zu Tage tretenden Vereinbarkeitsprobleme zeigten sich den Experten am deutlichsten an der Frage der Bordsteinabsenkung. Dies geht aus dem Einspruchsverfahren gegen den Normentwurf hervor. Wer primär an die Mobilität von Rollstuhlnutzern und -nutzerinnen dachte, befürwortete die Absenkung der Bordsteine an Straßenübergängen auf Fahrbahnniveau. Hingegen erschien dies im Hinblick auf die Orientierungssicherheit von blinden Menschen mit Langstöcken als unzumutbares Risiko. Stadtbauämter und Behörden wiederum, die letztlich für die Umsetzung der Norm zuständig sein würden, hielten eine Absenkung unter sechs bis acht Zentimeter wegen des Wasserlaufs am Bordstein und der Gefahr, dass dieser von Autos überfahren würde, für unmöglich.24 Am Beispiel dieser Kontroverse wird deutlich: Eine von Randsteinen gesäumte Straße stellt nicht per se ein Hindernis dar. Hindernisse sind vielmehr situativ und heterogen. Nur in einer spezifischen Relation, hier der Alltagspraxis eines Menschen, der sich mithilfe eines Rollstuhls oder Rollators fortbewegt, einen Kinderwagen schiebt oder einen Koffer zieht, kann beispielsweise aus einem Bordstein ein Hindernis werden. Als sie im November 1974 erschien, beinhaltete DIN 18024 „Bauliche Maßnahmen für Behinderte und alte Menschen im öffentlichen Bereich, Planungsgrundlagen Blatt 1: Straßen und Plätze“25 einen Kompromiss: Bordsteine sollten an Übergängen auf drei Zentimeter abgeflacht werden. Diese Lösung wurde in den folgenden Jahrzehnten nicht nur zu einem festen Wissensbestandteil des Barriereabbaus, sondern auch zu einem immer wieder wiederholten Diskursmoment: Wann immer Sachkundige aus Politik, Bürokratie, Interessenvereinigungen und Wissenschaft auf die Geschichte des Barriereabbaus zurückblicken und dabei auf die Heterogenität von Hindernissen und 22 DIN 18025 Wohnungen für Schwerbehinderte. Planungsgrundlagen Bl. 1: Wohnungen für Rollstuhlbenutzer, Januar 1972 bzw. Bl. 2: Wohnungen für Blinde und wesentlich Sehbehinderte, Juli 1974. Das geplante Bl. 3: Wohnungen für Hörgeschädigte wurde nicht verwirklicht. 23 Maßgeblich war z.B. Rehabilitation Services Administration, Department of Health, Education, and Welfare (Ed.): Design for All Americans. A Report of the National Commission on Architectural Barriers to Rehabilitation of the Handicapped, Washington: Selbstverlag, 1967. 24 Vgl. FNBau im DNA, Zusammenstellung der Einsprüche zum Normentwurf DIN 18024 Blatt 1, Dezember 1972, BArch B 149 99975; FNBau im DNA, Bericht über die Sitzung des Arbeitsausschusses Schwerbehindertenwohnungen, Unterausschuss Bauliche Maßnahmen für Schwerbehinderte im öffentlichen Bereich DIN 18024 Bl. 1 am 8.11.1973. 25 DIN 18024 Bauliche Maßnahmen für Behinderte und alte Menschen im öffentlichen Bereich. Planungsgrundlagen Bl. 1: Straßen, Plätze und Wege, November 1974.

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den Gegensatz von Nutzerinteressen zu sprechen kommen, führen sie paradigmatisch die Bordsteinabsenkung an. Auch der Entstehungsprozess des zweiten Normblatts, das sich mit öffentlich zugänglichen Gebäuden befasste und im April 1976 erschien26, war kontroversenreich. Hier zeigte sich vor allem, dass die Beteiligten zwar einen Ausgleich zwischen den Interessen von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen anstrebten, dabei aber nur einen kleinen Kreis von Menschen überhaupt in Betracht zogen. Die Gestaltungsdaten der Normen orientiert sich folglich an gehbehinderten sowie blinden bzw. sehbehinderten Menschen. Hingegen fanden Umwelthindernisse, denen gehörlose Menschen oder Menschen mit Lernschwierigkeiten begegnete, keine Beachtung. Zudem wurde das „eigentliche“ Problem weiterhin in den „nicht normalen“ Körpern behinderter Menschen verortet, obwohl zu diesem Zeitpunkt in den behindertenpolitischen Diskussionen von Wissenschaft, Politik, Verwaltung und Interessenvereinigungen – von der Bundesebene bis hinunter auf die kommunale Ebene – immer häufiger die Überlegung anzutreffen war, dass Umweltbedingungen und materielle Hindernisse Menschen nicht nur beeinträchtigten, sondern auch ursächlich an der Entstehung von Behinderungen beteiligt waren.27 Zumindest schienen nun eine Umgestaltung und „Humanisierung“ der Umwelt nötig, um das „Problem Behinderung“ zu lösen.28 Zeittypisch für die Debatten der siebziger Jahre war die Anrufung eines Nutzerkollektivs: Befürworter der „humanen“ oder „menschengerechten“ Umweltgestaltung argumentierten, es gehe ihnen keineswegs nur um behinderte Menschen, sondern auch um alte Menschen, Personen mit Gepäck oder Frauen (!) mit Kinderwagen, ja sogar um die ganze Gesellschaft.29 Sie ließen erste Kritik an dem anklingen, was als „normal“ galt. Alltägliche urbane Mobilitäts- und Flexibilitätsanforderungen, die gesellschaftlich als „normal“ empfunden wurden, wurden nun dafür kritisiert, dass sie nur auf eine begrenzte Gruppe von Menschen hin ausgerichtet seien. So klagte ein engagierter Architekt: „Mobilität, d.h. die Fähigkeit, zu jeder Zeit möglichst weite Wege in möglichst kurzer Zeit zurückzulegen, ist ein Vorrecht der Gesunden, finanziell gut Gestellten und der Altersgruppen zwischen 18 und 65 Jahren; die übrigen haben an diesen Privilegien nicht teil. Hier zeigt sich in extremer Weise die einseitige Orientierung der

26 DIN 18024 Bauliche Maßnahmen für Behinderte und alte Menschen im öffentlichen Bereich. Planungsgrundlagen Bl. 2: Öffentlich zugängliche Gebäude, April 1976. 27 Vgl. zu diesem graduellen Wandel des Denkens Bösl (Anm. 4), S. 78–84, 320–336. 28 Siehe BMSt an Präsidenten des Deutschen Bundestags, 15.3.1972, BArch B 157 18324; Ansprache des Bundespräsidenten Walter Scheel zum 16. Welttag der Behinderten, 23.3.1975, in: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung, 26.3.1975, S. 393. 29 Vgl. z.B. Deutscher Städtetag (DST), Hinweise im Behindertenwesen, 21.3.1979, StadtAM Direktorium, Abg. v. 28.11.1989, Abg.VZ 3/23 165 64–4/11; H.H. Lindemeyer: Mütter mit kleinen Kindern quälen sich wie Behinderte, in: Rundschau am Sonntag, 6.12.1970; Bernd Abele: Behinderte können nicht Bus fahren, in: Münchner Merkur (MM), 11.3.1975; FNBau im DNA, Bericht über die Sitzung des Arbeitsausschusses Wohnungen für Schwerbehinderte, Unterausschuss Bauliche Maßnahmen für Behinderte und alte Menschen im öffentlichen Bereich Bl. 2 am 17.3.1972, BArch B 149 99975.

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„Beseitigt architektonische Hindernisse!“ Broschüre des Reichsbundes e.V., 1970. Bundesarchiv, B 149/16.670.

bisherigen Städtebaupolitik zugunsten der Erwerbspersonen unter Vernachlässigung aller anderen Gruppen […].“30 Hier bestand eine gedankliche Verbindung zwischen den Politiken des Hindernisabbaus und der so genannten Stadtkritik, einer kritischen Strömung der sechziger und siebziger Jahre, deren Vertreterinnen und Vertreter die Bauweisen und Funktionsstrukturen „moderner“ Städte für soziale Probleme verantwortlich machten. Die Situation von Menschen mit Behinderungen wurde nicht immer ausdrücklich, wohl aber implizit angesprochen, wenn, wie etwa in der populären Münchener Ausstellung „Profitopolis oder Der Mensch braucht eine andere Stadt“ von 1971 die Rede davon war, dass die Stadt von einer Rücksichtslosigkeit gegenüber sozial Schwachen

30 Rolf Nill: Umgebung, Standort, Verkehr, in: Stemshorn (Anm. 21), S. 81–86, hier S. 81.

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und einer Missachtung der Bürger gekennzeichnet sei.31 Auf die ideelle und (bild) sprachliche Nähe von Stadtkritik und Hindernisabbau verweist exemplarisch auch die Titel- und Bildgestaltung einer an Architekten und Stadtplaner gerichteten Broschüre des Reichsbundes von 1970. Unter der Überschrift „Beseitigt architektonische Hindernisse“ sind ein Mann im Rollstuhl und ein Mann mit Oberschenkelamputation und Krücken vor einer sich auftürmenden, undurchdringlichen Masse an Treppen, Hochhäusern, Straßen, Über- und Unterführungen zu erkennen. Darunter ist zu lesen, dass die Fotomontage „das apokalyptische Bild einer modernen Großstadt“ demonstriere: „Sie kennzeichnet den architektonischen Ausdruck menschlicher Genialität, die aber immer solange unvollkommen bleiben wird, wie sie behinderten Menschen unüberwindliche Schranken setzt“.

1.3  Akteure, Adressaten und Idealklienten Der Reichsbund, aber auch die anderen etablierten Großverbände verloren zu diesem Zeitpunkt bereits allmählich ihr Vertretungsmonopol. Behinderte Menschen begannen in neuen, oft lokalen Gruppierungen, selbst für sich zu sprechen und sich politisch zu engagieren. Ein neuer behindertenpolitischer Akteur entstand: Die anwachsende Selbsthilfe- und Emanzipationsbewegung erlangte langsam, aber stetig Zugang zu den politischen Auseinandersetzungen. Ein großer Teil dieser Gruppierungen, wie beispielsweise die Clubs Behinderter und ihrer Freunde e.V., widmete sich engagiert dem Abbau von Alltagshindernissen. Örtliche Selbsthilfegruppen suchten, unterstützt durch zunehmend geschickt geschlossene Kooperationen mit den Lokalmedien, aktiv den Dialog mit den Kommunalverwaltungen und arbeiteten so am Hindernisabbau „von unten“.32 In diesen Initiativen traten Menschen mit Behinderungen ausdrücklich als Experten und Expertinnen ihrer selbst auf, wenngleich nichtbehinderte Menschen und „Praktiker“ aus den Rehabilitationsberufen in diesen Organisationen unterschiedlich dominant waren. In Erscheinung traten in diesen Gruppen zunächst hauptsächlich Menschen mit körperlichen, vor allem Gehbehinderungen. Insbesondere die Clubs Behinderter und ihrer Freunde e.V. sprachen zum größten Teil für Rollstuhlnutzerinnen und -nutzer. Die starke Repräsentation dieser Gruppe in den Interessenvertretungen korrespondierte nicht nur mit der Konstruktion eines Adressatenideals in den Diskussionen um den Hindernisabbau, sondern war mit dieser auch 31 Neue Sammlung, Staatliches Museum für angewandte Kunst (Hg.): Profitopolis. Oder: Der Mensch braucht eine andere Stadt. Eine Ausstellung über den miserablen Zustand unserer Städte und über die Notwendigkeit, diese Zustände zu ändern, damit der Mensch wieder menschenwürdig in seiner Stadt leben kann. Katalog der Ausstellung in der Neuen Sammlung München, 29.11.1971–13.2.1972, München, 1971, v.a. S. 15, 29, 45. 32 Vgl. z.B. Bundesarbeitsgemeinschaft der Clubs Behinderter und ihrer Freunde e.V. (BAG cbf ), 3. Arbeitstagung v. 21.–23.4.1972, BArch B 189 9447; Club Behinderter und ihrer Freunde e.V. München an das Sozialreferat/Kommission für die Probleme Behinderter: 14.12.1975, Aktion „Anfänge einer behindertengerechten Stadt“, StadtAM Ratssitzungsprotokolle 749/29.

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ursächlich verbunden. Stärker als die Behindertenpolitik insgesamt, deren Perspektive zu diesem Zeitpunkt um körperliche, seelische und intellektuelle Beeinträchtigungen unterschiedlicher Art und Ursache erweitert wurde, war der Hindernisabbau bis in die achtziger Jahre vom Rollstuhl her gedacht. So stimmte beispielsweise der Architekt Axel Stemshorn das 1974 erschienene, viel zitierte und erste umfassende Buch über technische Anforderungen und Planungsgrundlagen „Bauen für Behinderte und Betagte“ explizit „auf den Rollstuhlbenutzer als Modellfall ab […]“, weil er annahm, dass dessen „Anforderungen […] die weitreichendsten Auswirkungen auf die Umweltgestaltung“ hatten.33 Auch in der zur Kennzeichnung hindernisfreier Räume gewählten Symbolik spiegelte sich wider, dass der Rollstuhlnutzer zu einer Art Idealtyp avanciert war. Ein Rollstuhl ist sowohl ein effizientes Hilfsmittel, das einen hohen Funktionalitätsgewinn ermöglicht, als auch Symbol und unübersehbares Zeichen. Da der Rollstuhl als technisches Objekt kulturell eindeutig mit Krankheit und Verletzung, Passivität und Abhängigkeit verknüpft war, ließ er seine Nutzerinnen und Nutzer unmittelbar als „Behinderte“ auftreten.34 Der Rollstuhl wies zudem die kulturelle Anschlussfähigkeit auf, die ein Symbol benötigte, das auf hindernisfreie Gestaltungen hinweisen sollte. Seit dem Ende der 1960er Jahre wurde auf internationalen Foren des Hindernisabbaus bereits diskutiert, dass ein solches Zeichen nötig war, um behinderten Menschen Orientierung zu verschaffen. Auf dem Weltkongress der International Society for the Rehabilitation of the Disabled 1969 stellte das Committee on Technical Aids, Architecture and Transportation ein in einem aufwändigen Rechercheprozess ausgewähltes Symbol vor, das einen stilisierten weißen Rollstuhlfahrer auf blauem Grund zeigte. Es sollte international verwendet werden, um „behindertengerechte“ – nicht: rollstuhlgerechte – Zugänge, Sanitäranlagen und Pkw-Stellplätze zu kennzeichnen. Mit Unterstützung des Gemeinsamen Ausschusses des Europarats für die Rehabilitation von Behinderten wurde es als „internationales Symbol, das auf den Standort von besonderen Einrichtungen für Behinderte hinweist,“ seit 1971 auch in der Bundesrepublik bekannt gemacht und später in der DIN 18024 fixiert.35 Das Symbol fand weltweite Verbreitung. In der Praxis trägt es dazu bei, dass Räume und Gestaltungen nicht einfach nur als hindernis- oder barrierefrei erkannt, sondern als etwas Spezielles „für Behinderte“ interpretiert werden. Eine derartig gekennzeichnete Toilette beispielsweise ist unmittelbar mit Behinderung und allen mit ihr kulturell verknüpften Bewertungen verbunden. Somit sind nicht nur die Hindernisse selbst, sondern auch die explizit als hindernisfrei gekennzeichneten 33 Stemshorn (Anm. 21), S. 7. 34 Nick Watson, Brian Woods: No Wheelchairs beyond this Point: A Historical Examination of Wheelchair Access in the Twentieth Century, in: Social Policy&Society 4, 2005, H. 1, S. 97–105, hier S. 97f. 35 DeVg, an die Mitglieder, November 1969, betr. Internationales Symbol zur Kennzeichnung von privaten und öffentlichen Gebäuden, die für Behinderte leicht zugänglich sind, BArch B 149 12172; Entschließung AP 72 2 über den Gebrauch eines internationalen Symbols, das auf besondere Einrichtungen für die Behinderten hinweist, in: BArbl. 25, 1974, H. 2, S. 45; Europarat setzt sich für Behinderte ein, in: Sozialer Fortschritt 24, 1975, H. 3, S. 58–59, hier S. 58.

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Räume oder Gestaltungen an der Konstruktion und Aufführung von Behinderung beteiligt. Nicht nur der Nichtzugang zu bestimmten Räumen, sondern gerade auch die Zuweisung bestimmter Sonderräume oder Sondernutzungen tragen zur Wahrnehmung von „Andersheit“ bei.36

2.  Charakteristika der Entwicklung seit den 1980er Jahren 2.1  Begriffswandel, Institutionalisierung, Professionalisierung Um 1980 hatte sich die Gestaltung der gebauten Umwelt als behindertenpolitisches Thema eigenen Ranges etabliert – der Umsetzungsprozess jedoch kam gerade erst in Gang. Die folgende Phase weist mehrere Charakteristika auf: Bemerkbar machten sich einerseits eine zunehmende Institutionalisierung und Professionalisierung, andererseits wuchs der Adressatenkreis und das Feld wurde diversifiziert. Zudem entstand ein Markt für hindernisfreie Designs. In der Behindertenpolitik insgesamt verschoben sich in dieser Phase die Ausgangsmotivationen und Zielsetzungen allmählich von einer an Rehabilitation und Integration, zu einer an Gleichstellungsziel und Inklusion orientierten Perspektive. Integration, gedacht als Eingliederung von Menschen, die der Gesellschaft bisher vermeintlich nicht angehört hatten, blieb in den achtziger Jahren zwar noch Schlagwort und war als Konzept eng mit der Rehabilitation verknüpft, ging nun aber über die Zielbereiche des Erwerbslebens und des Arbeitsmarkts hinaus. Zu den zur Verfügung stehenden Integrationsinstrumenten wurde die „behindertengerechte“ Gestaltung der Umwelt nun wie selbstverständlich hinzugezählt – zumindest in der Theorie. Die nun typischen Begriffe „behindertengerecht“ und „Planen und Bauen für Behinderte“ spiegelten die Vorstellung wider, dass Sondermaßnahmen geschaffen werden mussten, um einer auch weiterhin als nicht „normal“ empfundenen Gruppe von Menschen gerecht zu werden. Gezielt sollte dazu zwar die Umwelt verändert werden, das eigentliche Problem wurde aber noch immer in der „Andersheit“ des Einzelnen verortet. Im Lauf der neunziger Jahre löste das Konzept „Barrierefreiheit“37 diese Sichtweise allmählich ab. Begriff und Idee wurden aus dem Amerikanischen entlehnt. Die neue Lesart in der deutschen Behindertenpolitik lautete: Bestimmte Formen und Gestaltungsweisen der gebauten Umwelt und Kommunikation schränken verschiedene Gruppen von Men36 Vgl. auch Rob Imrie, Marion Kumar: Focusing on Disability and Access in the Built Environment, in: Disability and Society 13, 1998, H. 3, S. 357–374. 37 Vgl. zu Barrierefreiheit z.B. Große Anfrage der Fraktion der SPD: Reisemöglichkeiten für behinderte Menschen, 5.11.1992, BT-Drs. 12/3649; Torsten Schüler, Karl-Dieter Röbenack, Hagen Sein: Barrierefreies Bauen. Soziologische und medizinische Hintergründe, technische Lösungsmöglichkeiten sowie gesellschaftliche Verantwortung, Weimar: Bauhaus Universität, 1997; Erstmalig: ein Haus ganz ohne Barrieren, in: MM, 6.5.1992; Barrierefrei wohnen, in: MM, 24.6.1992; Bauen ohne Barrieren, in: Süddeutsche Zeitung, 17.9.1992.

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schen, darunter Menschen mit Behinderungen, in ihrer Selbständigkeit, gesellschaftlichen Teilhabe, Mobilität, Kommunikation sowie weiteren Lebensvollzügen ein. Diese Einschränkungen sollen identifiziert und abgeschafft werden. Wesentliche Impulse waren in den USA von der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung ausgegangen, die sich in den späteren 1980er Jahren auch in Deutschland etablierte. Nach 1990 fand die Bewegung mit ihrem Einsatz für die autonome Gestaltung von Leben und Wohnen bei weitgehender Unabhängigkeit von fremder (menschlicher) Hilfe besonders in den neuen Bundesländern Zulauf, wo sich Strukturen der Interessenvertretung und Selbstbestimmung behinderter Menschen gerade erst zu festigen begannen.38 Barrierefreie Technologien und Designs wurden in Ost und West als Garanten von Unabhängigkeit verstanden, zumeist allerdings ohne zu thematisieren, dass sie ein neues Angewiesensein auf die Funktionsfähigkeit von Technologien implizieren und Behinderung tendenziell weiterhin individualisieren, statt sie zu vergemeinschaften.39 In der gesamten Behindertenpolitik kämpften weiter erstarkende und immer besser organisierte Interessenorganisationen dafür, das traditionell dominierende Fürsorgeund Rehabilitationsprinzip durch das Prinzip der Menschen- und Bürgerrechte und der Gleichstellung zu ersetzen. Propagiert wurde ein Normalisierungsverständnis, demzufolge die Lebens-, Wohn- und Konsumformen in der Gesellschaft so zu verändern sind, dass sie Menschen mit und ohne Behinderungen gleichermaßen teilen können, anstatt behinderte Menschen an die funktionalen Normalitätserwartungen der Mehrheitsgesellschaft anzupassen. Im Kontext ihrer Organisationen traten behinderte Menschen nun nicht nur als Nutzerinnen und Nutzer von barrierefreien Lösungen in Erscheinung, sondern auch als Sachverständige, Entwickelnde, Herstellende, Gutachtende und Testpersonen. Insbesondere auf der lokalen Ebene gewannen behinderte Menschen als neuer Expertentyp Zugang zu und Einfluss auf die Konzeptions- und Entscheidungsinstanzen. Diese durchliefen ihrerseits einen Prozess der Institutionalisierung und Ausdifferenzierung. So entstanden beispielsweise bei Bund und Ländern dauerhaft arbeitende Facharbeitskreise sowie interministerielle und kommunale Arbeitskreise. Darunter waren der bereits 1973 gegründete Münchner Arbeitskreis für die Probleme Behinderter und seine 1978 errichtete Projektgruppe, der Beraterkreis für behindertengerechtes Planen und Bauen. Die Aufgaben und Kompetenzen gerade der kommunalen Gremien unterschieden sich sehr. Im Münchner Fall, der hier beispielhaft herangezogen wird, 38 Vereinigung Integrationsförderung e.V. (Hg.): Behindert ist, wer Hilfe braucht. Integration – ein praktisches Problem, München: Selbstverlag, 1981, S. 12; Dieter Mattner: Behinderte Menschen in der Gesellschaft. Zwischen Ausgrenzung und Integration, Stuttgart [u.a.]: Kohlhammer, 2000, S. 91. 39 Für ein ambivalentes Verständnis von Unabhängigkeit plädieren z.B. Sally French: What’s So Great About Independence?, in: John Swain, Vic Finkelstein, Sally French, Michael Oliver (Eds.): Disabling Barriers – Enabling Environments, London [u.a.]: Sage, 1993, S. 44–48; Annette Lichtenauer: Selbstbestimmung. Ein ambivalenter Begriff der Moderne, in: Erich Otto Graf, Cornelia Renggli, Jan Weisser (Hg.): Die Welt als Barriere. Deutschsprachige Beiträge zu den Disability Studies, Bern [u.a.]: Edition Soziothek, 2006, S. 157–163, hier S. 159.

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entstand eine Schaltstelle, die Anregungen der Interessenvertretungen entgegennahm, städtische Dienststellen beriet, Vorschläge für die „behindertengerechte“ Gestaltung des öffentlichen Raums verbreitete sowie das Anliegen vor dem Stadtrat vertrat. Zwar wirkte der Beraterkreis lediglich beratend, verfügte nicht über Sanktionsmittel und wurde in der Praxis gelegentlich zur „baupraktische[n] Gutachterstelle“ ohne eigene Entscheidungsbefugnis degradiert,40 dennoch etablierte er sich im Laufe der Jahre als agiles Gremium, das eine enge Zusammenarbeit zwischen Stadt, Bauträgern, Experten und Interessenvertretungen behinderter Menschen verwirklichte. Vergleichbare Institutionalisierungen lassen sich auf Expertenseite aufzeigen, beispielsweise in Form von Beratungsstellen bei den Architektenkammern, deren Mitarbeiter nun sowohl Einzelfallberatungen für Architekten, Bauherren und Geldgeber durchführten als auch mit breiterer Wirkung advokatorisch auftraten. Zu den Aktivitäten etwa der Beratungsstelle bei der Bayerischen Architektenkammer gehörten die Veröffentlichung von Planungshandbüchern, Normkommentaren und Checklisten sowie die Forschungsdokumentation und die Realisierung von Fach- und Publikumsausstellungen.41 Auf eine fortschreitende Professionalisierung weist der Eingang des Themas Barrierefreiheit in die akademische Lehre einzelner Hochschulen ebenso hin wie die von Architektenkammern angebotenen formalisierten Zusatzqualifizierungen seit den 1990er Jahren. Zudem zeichnet sich eine zunehmende Selbstbeobachtung und theoretische Selbstreflexion ab. Zwei Strömungen lassen sich im wissenschaftlichen Diskurs ausmachen. Einerseits existieren architektonische oder rehabilitationswissenschaftliche Untersuchungen, die – oft im öffentlichen Auftrag – an der bestmöglichen technischen Lösung eines Barriereproblems oder am materiellen Einfluss des Barriereabbaus auf den Rehabilitationsprozess interessiert, oft aber wenig theoretisch fundiert oder reflektiert sind.42 Andererseits sind seit den 1990er Jahren immer mehr Studien entstanden, die zu klären versuchen, was Behinderung, Hindernis und Barrierefreiheit aus sozialwissenschaftlicher oder sozialgeografischer Sicht verbindet.43 40 LH München, Sozialreferat, Beraterkreis für Behindertengerechtes Bauen, Beschlussvorlage und Beschluss des Ausschusses für Jugend, Familie und Soziales v. 2.5.1985, StadtAM Ratssitzungsprotokolle 758/35. 41 Vgl. z.B. Lothar Marx: Barrierefreies Bauen im staatlichen Hochbau. Dokumentation ausgewählter Beispiele, Aachen: LB, 2000; Interview mit Oliver Heiss, Bayerische Architektenkammer, 7.5.2009. 42 Vgl. z.B. BMGes: Verbesserung der visuellen Information im öffentlichen Raum. Handbuch für Planer und Praktiker zur bürgerfreundlichen und behindertengerechten Gestaltung des Kontrasts, der Helligkeit, der Farbe und der Form von optischen Zeichen und Markierungen in Verkehrsräumen und in Gebäuden, Bad Homburg: Fach-Media-Service-Verl.-Ges., 1996; Dittmar Machule, Cornelia Vogel, Jens Usadel, Theo Wehner, Bernd Rust: Experimentierhaltestelle U-Borweg. Schlussbericht. Optimierung behindertenfreundlicher Gestaltungselemente für Neu- und Umbaumaßnahmen in Schnellbahnhaltestellen und deren Umfeld sowie Aufstellung und Fortschreibung von Empfehlungen und Richtlinien, Hamburg, 1995. 43 Vgl. als Beispiele Imrie (Anm. 2); Schillmeier (Anm. 2); Harlan Hahn: Disability and Urban environment: A Perspective on Los Angeles, in: Environment and Planning D: Society and Space 4, 1986, H. 3, S. 273–288; Reginald G. Golledge: Geography and the Disabled: A Survey with Special Refer-

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Was sagt eine Gesellschaft über sich selbst aus, wenn sie Barrieren errichtet oder abbaut, fragen vor allem Forscherinnen und Forscher, die sich den Disability Studies zuordnen. Welche Rolle spielen materielle Hindernisse bei der Entstehung von Behinderungen? Von der materialistischen Warte eines sozialen Erklärungsmodells aus verstand etwa Michael Oliver, ein Protagonist der ersten Stunde der britischen Disability Studies, bauliche Barrieren als Manifestation, Teil und Folge der behindernden Politiken und Haltungen einer kapitalistisch verfassten Industriegesellschaft und als eine Form der sozialen und materiellen Benachteiligung, die Behinderung ausmacht. Technologien können nach diesem Verständnis auf paradoxe Weise Teil dessen sein, was verwehrt wird, oder aber ein Mittel, um der Benachteiligung entgegen zu wirken.44 Charakteristisch für diesen Zugang zu Behinderung ist ein eher statischer Blick auf das Verhältnis von Behinderung, Raum und Technik und die Tendenz, Geschichten des „Scheiterns“ zu schreiben. Technische Objekte oder Raumgestaltungen erscheinen aus dieser Sicht bereits als Teil und Ausdruck sozialer Beziehungen, werden aber hauptsächlich materiell bzw. funktional betrachtet. Über den Symbolgehalt einer barrierefreien Gestaltung wird weniger nachgedacht. Im eher kulturalistisch ausgerichteten Zweig der Disability Studies spielen materielle Barrieren erst seit Kurzem eine Rolle. So haben sich beispielsweise die australischen Soziologinnen Deborah Lupton und Wendy Seymour der Frage angenommen, wie Körper mit Behinderungen soziokulturell – und damit auch räumlich-technisch – konstruiert und mit Bedeutung versehen werden. Sie gehen davon aus, dass Technologien soziale Beziehungen hervorbringen und gleichzeitig von ihnen geprägt werden: „The use of technologies is not a purely individualized activity: It always takes place in a sociocultural context that both shapes the meanings of technological artefacts and places limits on the extent to which such meanings can be transformed by users.“45

2.2  Diversifizierung und ökonomische Denkweise Bandbreite und Zahl barrierefrei gestalteter Technologien und Räume sind seit den achtziger Jahren merklich gewachsen. Der erkennbaren technologischen Diversifizierung ging eine Ausweitung der Adressaten- und Nutzerkreise voraus. Zuerst avancierten die Orientierungs- und Kommunikationsbarrieren von blinden und sehbehinderten Menschen zu einem neuen Kernthema. Taktile Warn- und Leitsysteme, akustische Lichtsignalanlagen und später auch Tastmodelle wurden – auf lokaler Ebene oft im

ence to Vision Impaired and Blind Populations, in: Transactions of the Institute of British Geographers, New Series 18, 1993, H. 1, S. 63–85; Liz Johnson, Eileen Moxon: In Whose Service? Technology, Care and Disabled People: The Case for a Disability Politics Perspective, in: Disability&Society 13, 1998, H. 2, S. 251–253. 44 Vgl. Michael Oliver: The Politics of Disablement, New York: St Martin’s Press, 1990, S. 29, 126–127. 45 Lupton/Seymour (Anm. 2), S. 1852.

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Schulterschluss mit Interessenvertretungen von Seniorinnen und Senioren – als Hilfen zur Integration wahrgenommen und schrittweise implementiert.46 Auch gehörlose und hörbehinderte Menschen machten in den neunziger Jahren zunehmend wirksamer auf Alltagshindernisse aufmerksam. Exemplarisch lässt sich dies am Münchner Netz des öffentlichen Nahverkehrs zeigen: Waren dort ab circa 1974 zunächst Personenaufzüge installiert worden, um Zugangsbarrieren für Menschen mit Gehbehinderungen zu reduzieren, folgten etwa ein Jahrzehnt später die ersten taktilen Warn- und Leitstreifen, zuletzt auf Anregung der örtlichen Interessenvertretungen gehörloser Menschen nun auch erweiterte visuelle Informationssysteme wie Sichttafeln, Lichtsignale bei sich schließenden Türen etc.47 Auf immer mehr und immer vielfältigere Lebensvollzüge, Technologien, öffentliche und nicht öffentliche Räume fiel der Blick von Expertenschaft, Verwaltung und Politik, zuletzt auch auf den virtuellen Raum des Internet.48 Zu den „Neuentdeckungen“ gehörten auch Tourismus, Natur- und Kulturerlebnis. Bereits in den siebziger Jahren waren die Freizeitaktivitäten diskutiert worden, allerdings nur unter dem Gesichtspunkt, mit gezielten Angeboten an behinderte Menschen ein neues Teilgebiet der Therapie und Rehabilitation zu schaffen und mithin dem behindertenpolitischen Integrationsziel gerecht zu werden.49 Im Folgejahrzehnt stand hingegen die Frage im Mittelpunkt, ob Urlaubsgäste behinderte Mitreisende als störend empfinden würden – ausgelöst hatte dies die öffentliche Debatte um das so genannte Frankfurter Urteil von 1980.50 46 Aus der medialen Berichterstattung vgl. z.B. Karin Friedrich: Zu viele Barrieren für Behinderte, in: SZ, 19.8.1977; Sehbehinderten helfen, in: Münchener Stadtanzeiger, 8.6.1979; Baustellen – oft Fallgruben für Blinde, in: SZ, 14.10.1983; Gasteig: Lesehilfe für Sehschwache, in: MM, 26.6.1984; BraillePlatten auf Straßen sollen Blinden helfen, in: SZ, 16.12.1987; CSU-Stadtrat fordert Profilboden für Blinde in U-Bahnhöfen, in: SZ, 5.1.1988; U-Bahn für Blinde sicherer, in: MM, 31.1.1997. Vgl. auch Experteninterview mit Patrizia Formisano und Christian Seuß im Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund am 6.5.2009. 47 Vgl. Gehörlosenverband München und Umland e.V.: Bauen ohne Barrieren – Für Gehörlose 1996, LH München, Sozialreferat, Hilfen im Alter und bei Behinderung, Beraterkreis für Barrierefreies Bauen, Handakten von Frau Neumann-Latour; Sozialreferat, Sitzung des Städtischen Beraterkreises für Behindertengerechtes Planen und Bauen am 18.3.1997, LH München, Sozialreferat, Hilfen im Alter und bei Behinderung, Beraterkreis für Barrierefreies Bauen, Handakten von Frau NeumannLatour. 48 Eine der ersten barrierefreien Webseiten beispielsweise richtete die Aktion Mensch e.V. 2001 unter der Adresse ein, um auf die Anforderungen der Web Accessibility hinzuweisen. Barrierefrei sind Web-Angebote, wenn sie unabhängig von körperlichen oder technischen Möglichkeiten uneingeschränkt genutzt werden können. Siehe auch Jan Eric Hellbusch: Barrierefreies Webdesign. Alle WAI-Richtlinien, Osnabrück: Know-Ware, 2009. 49 Vgl. z.B. Katharina Focke: Freizeit und Rehabilitation, in: Walter Weiß, Kurt-Alphons Jochheim, Marlis Moleski-Müller (Hg.): Freizeitaspekte bei der gesellschaftlichen Integration Behinderter. Bericht über den 26. Kongress der DeVg e.V. in Wildbad, 22.–24.10.1975, Heidelberg: Selbstverlag, 1976, S. 8–16. 50 Das Frankfurter Landgericht hatte einer Urlauberin die Rückerstattung ihrer Reisekosten gewährt, weil sie sich von einer Gruppe von behinderten Jugendlichen gestört gefühlt hatte. Das Urteil löste Protest unter den Interessenvereinigungen aus. Vgl. Ernst Klee: Den Anblick ersparen, in: Die Zeit,

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„Behindertengerechte“ Freizeitangebote, die in diesen beiden Kontexten entstanden, waren folglich häufig ausgrenzend. Dies zeigt, um beim Münchner Fallbeispiel zu bleiben, der 1988 von der Stadtgartendirektion errichtete „behindertengerechte“, mithin an der Rollstuhlnutzung orientierte Badesteg am Feldmochinger See. Steg, rutschfester Belag und Rampe waren funktional und entsprachen vom Gesichtspunkt des „behindertengerechten“ Bauens her ganz dem Stand und den Kenntnissen der Zeit. Sie wurden jedoch wie auch der dazugehörige Strandabschnitt mit einem Sichtschutz vom übrigen Strand getrennt. Stadtgartendirektion und Wasserwacht teilten auf Schildern und über die Lokalpresse mit, dass dieser Platz Menschen mit Behinderungen vorbehalten sei und Nichtbehinderte sich dort nicht aufhalten dürften.51 Je mehr sich seit den neunziger Jahren die Inklusions- und Selbstbestimmungsperspektive durchsetzte, desto häufiger wichen derlei ausgrenzende Maßnahmen – zumindest in der Theorie – dem Ziel, die gesamte touristische und kulturelle Servicekette barrierefrei zugänglich zu machen und damit die Möglichkeit einer selbst gewählten Freizeitgestaltung nach individuellem Wunsch zu schaffen. Hierfür setzten sich die Interessenvertretungen behinderter Menschen ebenso ein wie, auf deren Intervention hin, auch einzelne Bund- und Länderinitiativen. Einfluss auf diese Thematisierung hatten nicht zuletzt auch mehrere auf Anstoß des Bundestags hin publizierte Forschungsstudien, die auf die Notwendigkeit und Machbarkeit solcher Angebote hinwiesen.52 Zudem entstand in mehreren europäischen Ländern die vernetzte Kampagne „Tourismus für alle“. Sie zeugt von einer neuen ökonomischen Sichtweise. Maßgeblich beeinflusst war diese vom so genannten Barker-Report des English Tourist Board von 1989. Dieser hatte der englischen Tourismusbranche die Markpotentiale aufgezeigt, die von Angeboten zu erwarten waren, die unabhängig von Alter, Behinderung, finanzieller oder familiärer Situation angenommen werden konnten.53 Weitere empirische

2.5.1980; Ein böses Urteil und die Folgen, in: Die Zeit, 1.5.1981; Frankfurter Urteil: So brutal ist das „Behindertenurteil“, in: MM, 17.7.1981. Dies nahm die Deutsche Reiseanalyse des Studienkreises für Tourismus zum Anlass für eine eigene Studie, vgl. Wolfhart Koeppen, Brigitte Gayler (Hg.): Reisen mit Behinderten, Starnberg: Studienkreis für Tourismus, 1982. 51 Vgl. Erster behindertengerechter Badeplatz eröffnet. Mit dem Rollstuhl ins kühle Naß, in: Münchner Stadtanzeiger Nord, 12.8.1988; Einsteighilfen für behinderte Badegäste, in: SZ, 31.7.1988; Hier können jetzt auch die Rollstuhlfahrer baden, in: AZ, 28.7.1988; Badeplatz nur für Behinderte, in: tz, 28.7.1988; Ein Badeplatz speziell für die Behinderten, in: MM, 27.7.1988; Feldmochinger See. Eigener Badestrand für Behinderte, in: BILD, 27.7.1988. 52 Vgl. Antrag der Fraktion der SPD: Reisen und Behinderte v. 19.6.1990, BT-Drs. 11/7425; Große Anfrage der Fraktion der SPD: Reisemöglichkeiten für behinderte Menschen, 5.11.1992, BT-Drs. 12/364; Eberhard Gugg, Gisela Hank-Haase: Tourismus für behinderte Menschen. Angebotsplanung, Angebotsumsetzung und Öffentlichkeitsarbeit, Frankfurt/M.: Gastgewerbliche Schriftenreihe des DEHOGA Bd. 83, 22002; Heiner Treinen, Dieter Kreuz, Sabine Wengg (Hg. im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit): Reisen für behinderte Menschen. Endbericht, Baden-Baden [u.a.]: Nomos, 1999. 53 Vgl. The English Tourist Board/Holiday Care Service (Hg): Tourism for All – A Report of the Working Party chaired by Mary Barker, London: English Tourist Board, 1990.

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Daten lieferte die Europäische Union 1996 in dem Handbuch „Reiseziel Europa für Behinderte. Ein Handbuch für Tourismusfachleute“.54 Im Kontext dieser Neuorientierung – Inklusion als Ziel, Selbstbestimmung als Methode und Ökonomisierung als Denkweise – gründeten 1999 acht Behindertenverbände mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für Gesundheit die Nationale Koordinierungsstelle Tourismus für Alle e.V. (NATKO). Ziel dieses Informations- und Koordinierungsgremiums ist es, in Zusammenarbeit mit den Tourismus- und Verkehrsverbänden und der Politik die Freizeit- und Reiseoptionen und -bedingungen vor allem von behinderten und älteren Menschen zu verbessern. Diese werden dabei nicht mehr vorrangig als Empfänger von Hilfen oder Rehabilitanden betrachtet, sondern explizit als Kunden und Konsumenten respektiert, die bewusste Auswahlentscheidungen treffen.55 Barrierefreie Technologien und Dienstleistungen gelten nun als wachsender Markt mit einer quantitativ bedeutenden Kundschaft, die – so ein typisches Argument – infolge des demografischen Wandels anwachsen und sich nicht mit rückwärtsgerichteten Angeboten abspeisen lassen wird, die noch die Konnotation des Hilfsbedürftigen tragen.56 Entsprechende empirische und zitierfähige Daten sowie ein konkretes Handlungsprogramm lieferte den deutschen Stakeholdern beispielsweise ein 2002 vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (BMWA) beauftragtes Team aus Münsteraner Wissenschaftlern und kommerziellen Beratungsbüros in Zusammenarbeit mit der NATKO und Behindertenverbänden. Mithilfe einer Simulationsrechnung kündigte die Studie „Ökonomische Impulse eines barrierefreien Tourismus für Alle“ u.a. 54 Europäische Kommission, Generaldirektion XXIII (Hg.): Reiseziel Europa für Behinderte. Ein Handbuch für Tourismusfachleute, Brüssel: Amt für Amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, 1996, S. 9. 55 Zur Konstruktion des behinderten Konsumenten auch ADAC (Hg.): Barrierefreier Tourismus für alle. Eine Planungshilfe für Tourismus-Praktiker zur erfolgreichen Entwicklung barrierefreier Angebote, München: ADAC, 2003, S. 14; Oliver Wittke: Editorial, in: Ministerium für Bauen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen/Referat für Presse und Öffentlichkeitsarbeit (Hg.): Bauen. Wohnen. Leben. Barrierefrei. Du bist das Maß aller Dinge, Düsseldorf: Gemeinnützige Werkstätten Neuss, 2008, S. 3; Michael Vesper: Vorwort des Ministers für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen, in: Marx (Anm. 41), S. 5. 56 Vgl. Statistisches Bundesamt: Bevölkerung Deutschlands bis 2050. 11. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Wiesbaden: Selbstverlag, 2003, S. 22–23, 40-42; ältere Ausgabe zitiert z.B. in Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (BMWA) (Hg.): Ökonomische Impulse eines barrierefreien Tourismus für alle. Eine Untersuchung im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit. Kurzfassung der Untersuchungsergebnisse, Münster [u.a.]: BMWA, 2003, S. 38; Holger Stolarz: Barrierefreiheit in einer Gesellschaft im demografischen Wandel, in: Landschaftsverband Rheinland/ Umweltamt (Hg.), S. 22–27, hier S. 22; Bertelsmann Stiftung/Kuratorium deutsche Altershilfe (Hg.): Neue Wohnkonzepte für das Alter und praktische Erfahrungen bei der Umsetzung – eine Bestandsanalyse, Köln: KDA, 2003; Universal Design im globalen demografischen Wandel. Ein Forschungsprojekt des universal design e.V. und des Lehrstuhls für Industrial Design der Technischen Universität München, München, 2007, , S. 12–13, 71; Oliver Gassmann, Marcus Matthias Keupp: Die Babyboomer verändern den „Silver Market“, in: io new management 2005, Nr. 9, .

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zusätzliche Nettoumsätze von jährlich bis zu knapp zwei Milliarden Euro und 16.000 bis 50.000 neue Vollzeitarbeitsplätze an, sofern konsequent in den barrierefreien Tourismus investiert wird: „Eine Investition in einen barrierefreien Tourismus für Alle ist in diesem Verständnis eine lohnende Investition in die Zukunft und ein Beitrag zur Zukunftssicherung.“57 Während Kosten-Nutzen-Argumente im Barriereabbau früher versuchten, behindertenpolitische Erfolge volks- und versicherungswirtschaftlich bzw. sozialstaatlich zu quantifizieren,58 wurden nun Marktpotentiale und Wettbewerbsvorteile angeführt.59 Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) ließ 2003 in ihrem Vorwort zu dem an die Tourismusbranche gerichteten Planungshandbuch des ADAC „Barrierefreier Tourismus für Alle“ wissen, dass sich hier ein „wichtiges Marksegment“ öffne.60 Sie zitierte die Autoren der BMWA-Studie, die eine universale Gruppe von Nutzenden und Profitierenden anführen: „So ist bekannt, dass eine barrierefrei zugängliche Umwelt für rund 10 Prozent der Bevölkerung zwingend erforderlich, für etwa 30–40 Prozent notwendig und für 100 Prozent komfortabel ist“.61 Verbunden mit dem Hinweis auf die besondere Nachhaltigkeit barrierefreier Gestaltungen dürfte dieser Satz inzwischen eines der meistzitierten Argumente zum Barriereabbau der 2000er Jahre sein. Kaum eine seither erschienene Publikation kommt aus, ohne ihn zu zitieren. Dies steht in institutioneller Hinsicht im Kontext einer insgesamt spürbaren zunehmenden Vermarktlichung des Barriereabbaus. Bereits seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wachsen weltweit ein Markt für eine zunehmende Fülle und Bandbreite barrierefreier Technologien und ein neuer Dienstleistungssektor heran, auf denen spezialisierte Hersteller, Beratungs- und Planungsbüros agieren. Die Etablierung von Prüfsiegeln (wie z.B. DIN CERTCO barrierefrei), Designpreisen sowie kommerziellen Fachmessen verweisen ebenfalls auf eine neue Designkultur und ein neues Marktverständnis.

57 BMWA (Anm. 56), S. 32–33, 37, Zitat S. 44. 58 Valentin Siebrecht, Reinhard Wohlleben: Wege der Chancengleichheit der Behinderten. Bericht über den Rehabilitationskongress 1973 in Bad Wiessee. Teil 1, in: Arbeit, Beruf und Arbeitslosenhilfe – Das Arbeitsamt 25, 1974, H. 2, S. 41–44, hier S. 42; A. Rander: Sozialökonomische Aspekte der Rehabilitation, in: Die Rehabilitation 14, 1975, H. 1, S. 42–50, hier S. 42, S. 49. 59 Steffen Puhl: Betriebswirtschaftliche Nutzenbewertung der Barrierefreiheit von Web-Präsenzen, Aachen: Shaker, 2008, S. 117; Rüdiger Leidner: Ergebnis dieser Tagung im Kontext europäischer Ansätze zum barrierefreien Natur- und Kulturtourismus, in: Landschaftsverband Rheinland/Umweltamt (Anm. 56), S. 173–176, hier S. 175. 60 Ulla Schmidt: Vorwort, in: ADAC (Anm. 55), S. 3. 61 BMWA (Anm. 56), S. 3; siehe auch Anita Zeimetz, Peter Neumann: Vorteile einer barrierefreien Umwelt für Alle, in: Dies. (Hg.): Attraktiv und barrierefrei – Städte planen und gestalten für Alle, Münster: Arbeitsgemeinschaft Angewandte Geografie, 2000, S. 87–91.

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2.3  Das Leitbild der Barrierefreiheit zwischen Rehabilitation und Gleichstellung Mit dem empirisch abgesicherten Verweis auf Marktpotentiale ist den Befürwortern des Barriereabbaus nun ein neues Argument an die Hand gegeben. Ein weiteres stellt der gesetzlich verbriefte Gleichstellungsauftrag dar. Am Beginn des 21. Jahrhunderts hat Barrierefreiheit immer mehr die Züge eines Leitbilds angenommen, im Sinne eines Orientierungsrahmens für die Gegenwart und einer leitenden Vorstellung darüber, wie die Zukunft aussehen soll. Dabei kommt es nicht in erster Linie auf die Umsetzung im Einzelfall an, sondern auf die prospektive Wirkung: Schon als rein theoretisches Konzept hat das Leitbild „Barrierefreiheit“ Einfluss. Es steuert die Wahrnehmung von Behinderung und hilft, einen Handlungsspielraum abzustecken – insbesondere seit der gesetzlichen Konkretisierung im Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes vom Mai 2002. Dieses Gesetz gibt Rahmenbedingungen vor, die vor Benachteiligungen und Diskriminierungen durch Bundesdienststellen schützen sollen. Ein Kernanliegen ist eine umfassend verstandene Barrierefreiheit. So ist unter § 4 zu lesen: „Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind.“62 Die Bundesländer haben auf der Basis ihrer Landesgleichstellungsgesetze vergleichbare Regelungen getroffen. Für den privatrechtlichen Bereich wurden Zielvereinbarungen vorgesehen, die den Status von behinderten Menschen als Kunden und Kundinnen verbessern sollen, wo die Marktbedingungen nicht von selbst dafür sorgen, dass Barrierefreiheit hergestellt wird. Erstmals 2005 nutzten fünf Interessenverbände dieses bislang wenig angenommene Instrument und vereinbarten mit dem Deutschen Hotelund Gaststättenverband (DEHOGA) und dem Hotelverband Deutschland (IHA) die „Mindeststandards für die Kategorisierung barrierefreier Hotels und Gastronomiebetriebe in Deutschland“.63 Ein zivilrechtliches Antidiskriminierungsgesetz war dennoch nötig, um Menschen vor Diskriminierungen im privatrechtlichen Bereich zu schützen. Es trat als Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz schließlich am 18. August 2006 in Kraft.64 Auf diese neue gesetzliche Grundlage können sich die Stakeholder in der Praxis berufen. Barrierefreiheit bildet inzwischen ein verbindendes Element zwischen der traditionellen, in den „Hilfen für Behinderte“ kondensierten, am Imperativ der Rehabilitation und Integration orientierten Sozialleistungspolitik und dem jüngeren Zugang der Gleichstellungspolitik, die Behinderung nicht mehr primär unter dem Gesichtpunkt 62 § 4, Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen v. 27.4.2002, BGBl. I 2002, S. 1467. 63 . 64 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz v. 14.8.2006, BGBl. I 2006, S. 1897; Carol Poore: Disability in Twentieth-Century German Culture, Ann Arbor: University of Michigan Press, 2007, S. 288.

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der sozialen Sicherung, sondern vom Gleichheitsgrundsatz her betrachtet. Aus dem Gleichstellungs- und Gleichbehandlungsprimat wird Barrierefreiheit jedoch nicht nur abgeleitet. Umgekehrt wird von ihr vielmehr auch erwartet, Gleichstellung und Gleichheit zu fördern.65

3. Schlussbetrachtung Anders als in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts geht es heute weniger darum, mithilfe des Barriereabbaus Behinderung, sondern vielmehr das „Behindert-Werden“ zu überwinden. Behinderung passiert auch in einer von vielen Barrieren bereits befreiten Umwelt, aber weniger im Zuge eines Nicht-Teilhaben-Könnens als vielmehr im Sinne einer Teilhabe als jemand Besonderes. Zudem haben Technologien des Barriereabbaus eine ambivalente Wirkung. Einerseits können sie individuelle Handlungs- und Bewegungsspielräume erweitern und Selbstbestimmung fördern. Andererseits bringen sie auch Einengungen und Abgrenzungen hervor, wenn sich Menschen fortan nur in speziellen, für sie vorgesehenen und entsprechend gestalteten Räumen und auf die von anderen für sie vorgesehene Weise bewegen oder bestimmte Dinge nur auf eine bestimmte Weise tun können. Explizit behindertengerechte oder barrierefreie Räume oder Gestaltungen auszuweisen, ist Teil des Benennungsprozesses, in dem Behinderung soziokulturell hervorgebracht wird. „Andersheiten“, Abhängigkeiten und sozialer Anpassungsdruck werden einerseits reduziert, andererseits neu geschaffen.66 Hinzu kommt, dass auch die Politiken des Barriereabbaus der Gegenwart trotz ihrer Orientierung am Gleichstellungsparadigma und Inklusionsziel noch immer Momente eines älteren Zugangs in sich tragen: Barriereabbau ist weiterhin auch mit Rehabilitation und funktionaler Anpassung verknüpft und die als „Hilfen“ konzeptionalisierten Techniken reproduzieren mithin tendenziell die Vorstellung, Behinderung sei ein individuelles Problem, das mit technischer Hilfe gelöst werden könne und müsse. Behindertengerechtes oder barrierefreies Bauen und Gestalten lassen sich als Versuch interpretieren, Diversitätsfolgen zu kompensieren, die als sozial problematisch empfunden werden. Auch diese Kompensation ist ein Teil des Entstehungsprozesses der sozialen Differenzierungskategorie Behinderung. Wie schon in ihren Anfängen wird Barriereabbau als gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Aufgabe betrachtet. Anders als früher stellt sich Barrierefreiheit heute jedoch zunehmend als Vision und dynamischer Prozess dar, der, nicht zuletzt aufgrund der Heterogenität und Situativität

65 Vgl. zu dieser Denkweise z.B. Andreas Starke, Rupert Grimm: Vorwort, in: Arbeitskreis der Behindertenkoordinatoren und -koordinatorinnen und Behindertenbeauftragen in Nordrhein-Westfalen: Planen und Bauen für Alle! Barrierefrei. Checkliste für barrierefreies Bauen, Bamberg: Selbstverlag, 2008, S. 1. 66 Vgl. zu dieser Ambivalenz Imrie/Kumar (Anm. 36), S. 357–358; Lupton/Seymour (Anm. 2), S. 1853.

Behinderung, Technik und gebaute Umwelt

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dessen, was wir als Behinderungen und Barrieren wahrnehmen und definieren, nie abgeschlossen sein wird. Gegenwärtig finden dabei die Konzepte „Universal Design“ und „Design für Alle“ viel Zuspruch. Sie tendieren dazu, universell allen Menschen zugängliche und von allen nutzbare Produkte und Gestaltungen zum Ideal zu erheben. Die gedankliche Verbindung von Räumen, Design oder Gestaltungen zu Behinderung, Alter und anderen Strukturierungskriterien der Gesellschaft soll gänzlich entfallen. Diskriminierungen und Stigmatisierungen, die von verwehrtem Zugang und der Inanspruchnahme oder Nutzung besonderer Dienstleistungen, Räume und Produkte ausgehen, scheinen so vermieden werden zu können. „Universal Design is the design of products and environments to be usable by all people, to the greatest extent possible, without the need for adaptation or specialized design,“67 erklärt beispielsweise das Center for Universal Design der North Carolina State University in Raleigh, wo 1997 das zentrale Papier des „Universal Design“ amerikanischer Prägung, „The Principles of Universal Design“,68 entstand. An die Stelle vieler Speziallösungen sollen eine Universaltechnologie oder ein Universaldesign rücken, um den als diskriminierend empfundenen Dualismus von barrierefreien und „normalen“ Produkten zu beseitigen. Die gedankliche Grundlage dieses vor allem unter dem Begriff „Design für Alle“69 auch in Europa verbreiteten Konzepts ist die Vorstellung, dass funktionale Ungleichheiten gleichbedeutend mit Diskriminierung sind. Homogenität hingegen hebe Diskriminierung auf und schaffe Inklusion. Negative Folgen von Diversität sollen durch eine Homogenisierungsstrategie kompensiert werden. Diversität könnte dann irrelevant werden. Eine alternative Strategie des Diversity Managements wäre allerdings, nicht Differenz abzuschaffen, sondern vielmehr Benachteiligung. Im Zuge des Barriereabbaus könnte die gesellschaftliche Akzeptanz von Pluralität – der Zugänge, Nutzungen und Aneignungsmöglichkeiten – sogar gestärkt werden. Nicht „Andersheit“ ist das Problem, sondern Diskriminierung.

67 . 68 Vgl. Center for Universal Design: Studies to Further the Development of Universal Design. Final Report to the National Institute of Disability and Rehabilitation Research, Raleigh: Selbstverlag, 1997. 69 Vgl. z.B. Europäisches Institut Design für Alle in Deutschland (EDAD): European Concept für Accessibility. ECA für Verwaltungen, Berlin: EDAD, 2008; EIDD Design for all Europe: Die EIDDDeklaration von Stockholm, Stockholm, 2004, ; Oliver Herwig: Universal Design: Lösungen für einen barrierefreien Alltag, Basel [u.a.]: Birkhäuser, 2008.

Anne Waldschmidt

Normalität – Macht – Barrierefreiheit. Zur Ambivalenz der Normalisierung

„Bin ich noch normal?“ Das ist die bange Frage, die sich der Einzelne zuweilen stellt. Mit Slogans wie „Sind Sie etwa normal?“ oder „Wer ist schon normal?“ wurde vor einigen Jahren für die Gleichstellung behinderter Menschen geworben. Einerseits sind häufig Outfit, Musikgeschmack oder Wohnungseinrichtung, kurz, der individuelle Habitus von dem Wunsch nach Anpassung bestimmt: Bloß nicht auffallen, heißt die Devise. Andererseits gibt es auch das Bedürfnis, gerade nicht normal zu sein, herauszufallen aus der langweiligen Masse. Auch im Falle von Behinderung, einem Phänomen, das üblicherweise als Gegenpol zur Normalität gedacht wird, ist etwas in Bewegung geraten: Noch bis in die 1970er Jahre handelte es sich bei dem „Dispositiv der Behinderung“1 – dem Ensemble diskursiver, operativer und subjektiver Praktiken, die den sozialen Tatbestand konstituieren – um eine vorwiegend ausgrenzende, die Anstaltsverwahrung und Segregation fördernde Struktur. In den letzten Jahrzehnten jedoch haben sich vermehrt Politiken, Handlungsfelder und Diskurse herausgebildet, die darauf abzielen, behinderte Menschen und ihre Familien „in die Mitte“ der Gesellschaft zu holen, ihre Ausgrenzung von vornherein zu vermeiden. Wird es im Zuge der UN-Menschenrechtskonvention für behinderte Menschen, im Kontext von Inklusionsbewegung und rechtlicher Gleichstellung vielleicht irgendwann „ganz normal“ sein, mit einer Behinderung zu leben? Könnte in diesem Zusammenhang auch Barrierefreiheit normal werden, nämlich jene Praxis, die darauf abzielt, öffentliche Räume und Gebäude, Einrichtungen und Massenmedien so zu gestalten, dass sie für jeden Menschen unabhängig von Beeinträchtigung zugänglich werden?2 Und was würde sich in der Gesellschaft und für den Einzelnen verändern, wenn Barrierefreiheit normal würde? 1 Vgl. Anne Waldschmidt: Ist Behindertsein normal? Behinderung als flexibelnormalistisches Dispositiv, in: Günther Cloerkes (Hg.): Wie man behindert wird. Texte zur Konstruktion einer sozialen Rolle und zur Lebenssituation betroffener Menschen, Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2003, S. 83–101. 2 In diesem Aufsatz beziehe ich mich bei dem Begriff „Barrierefreiheit“ auf das geltende Behindertengleichstellungsgesetz, dessen Paragraph 4 wie folgt lautet: „Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere ge-

Normalität – Macht – Barrierefreiheit

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Diese Fragen sind auch für die Disability Studies zentral, jenem wissenschaftlichen Diskurs, der Behinderung als soziale Konstruktion konzeptionalisiert. Mit dem so genannten sozialen Modell3 von Behinderung haben die Disability Studies seit Anfang der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts zunächst im angelsächsischen Sprachraum eine neue Heuristik entwickelt. Kerngedanke ist, dass die Ebene der Beeinträchtigung (engl.: impairment) von derjenigen der Behinderung (engl.: disability) zu trennen ist. Dem sozialen Behinderungsmodell zufolge entsteht Behinderung (disability) durch systematische Ausgrenzung und ist nicht einfach das Ergebnis medizinischer Pathologie. Menschen werden durch das soziale System behindert, das ihnen eine marginalisierte Position zuweist und Barrieren gegen ihre Partizipation errichtet. Aus dieser Perspektive ist es folgerichtig, die Normalisierung der Barrierefreiheit anzustreben. Ziel ist eine Gesellschaft, die Zugang, Teilhabe und Inklusion für alle Menschen gewährleistet und somit Beeinträchtigungen zwar nicht ungeschehen macht, jedoch ihre Folgewirkungen so abmildern kann, dass im Endeffekt Behinderung als disability nicht mehr existiert. Behinderung als soziale Randposition würde sich verflüchtigen in einer Gesellschaft, die voll zugänglich wäre, für jede und jeden zu jeder Zeit und an jedem Ort – das ist die Utopie, die in dem Konzept der accessibility, wie Barrierefreiheit im Englischen heißt, enthalten ist. An dieser Stelle setzen die Vertreter und Vertreterinnen der Disability Studies ein, die mit einem Modell von Behinderung arbeiten, das kulturwissenschaftlich orientiert ist und somit neben den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auch kulturelle Dimensionen berücksichtigt.4 Aus dieser Perspektive wird postuliert, dass Behinderung nicht nur als eine gesellschaftliche Benachteiligung, sondern auch als eine „Form der Problematisierung“5 zu denken ist. Dieser Ansatz stellt nicht nur Behinderung, sondern auch „Nicht-Behinderung“ (sprich: Normalität, Gesundheit, Funktionsfähigkeit etc.) in Frage; die beiden Pole erweisen sich als höchst kontingente, im Grunde arbiträre Kategorien, die eben gerade nicht trennscharf sind. Entsprechend benutzen die am kulturellen Behinderungsmodell orientierten Arbeiten „Behinderung“6 als Erkenntnis leitende und generierende Kategorie, deren Untersuchung kulturelle Praktiken und gesellschaftliche Strukturen zum Vorschein bringt, die sonst unerkannt geblieben wären. Wie

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staltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind.“ Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Ratgeber für Menschen mit Behinderung, Bonn: BMAS, 2008, S. 371f. Vgl. Mark Priestley: Worum geht es bei den Disability Studies. Eine britische Sichtweise, in: Anne Waldschmidt (Hg.): Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies, Kassel: Bifos, 2003, S. 23–35. Vgl. Anne Waldschmidt: Disability Studies: Individuelles, soziales und/oder kulturelles Modell von Behinderung?, in: Psychologie & Gesellschaftskritik 29, 2005, H. 1, S. 9–31. Vgl. Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit, Bd. 2, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1989, S. 22–35. Die Anführungszeichen haben Bedeutung; sie zeigen nämlich an, dass die Ontologie von „Behinderung“ in Frage gestellt wird; hierzu auch Foucault 1989 (Anm. 5), S. 9.

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entsteht „Normalität“ als positiv bewertete Kontrastfolie zu „Behinderung“? Wer sind eigentlich „wir Normalen“?7 Und bezogen auf unseren Zusammenhang: Ist die Normalität der Barrierefreiheit in einer Gesellschaft tatsächlich machbar, in der Standardisierung, Leistung und Konkurrenz von zentraler Bedeutung sind? Welche Konsequenzen, vielleicht auch unbeabsichtigten Nebenwirkungen hätte die konsequente Umsetzung? Und warum eigentlich wird – zumindest in Deutschland – seit mindestens fünfzig Jahren8 über Barrierefreiheit diskutiert, sie aber immer noch nur halbherzig umgesetzt? Ausgehend von diesen Fragen werde ich im Folgenden mein Augenmerk nicht auf Behinderung richten und auch nicht das Für und Wider von Barrierefreiheit beleuchten; vielmehr trete ich einen Schritt zurück und begebe mich auf Erkundungstour im Feld des Normalen; dabei stelle ich überall, wo es passend erscheint, Bezüge auf Barrierefreiheit her. Nach begriffsklärenden Ausführungen wird zunächst ein Einblick in die Empirie des Alltagswissens über Normalität auf der Basis des Internetforums „1000 Fragen zur Bioethik“ geboten. Nach einem Exkurs zur Normalitätsdebatte in den Disability Studies folgen theoretische Überlegungen, die vornehmlich auf die Ansätze des französischen Philosophen Michel Foucault und des deutschen Literaturwissenschaftlers Jürgen Link zurück greifen und auf den Zusammenhang von Macht und Normalität fokussieren. Abschließend wird die Frage diskutiert, ob Barrierefreiheit normal werden kann.

1.  Normalität: Geschichte und Facetten eines vieldeutigen Begriffs So inflationär die Verwendung des Normalitätsbegriffs ist, so unscharf erweist sich seine Bedeutung. Die Begriffsgeschichte9 zeigt eine enge Verwandtschaft zwischen Norm und Normalität. Das lateinische Substantiv „norma“, dessen Bedeutung in etymologischen Lexika mit „Winkelmaß, Richtschnur, Regel, Vorschrift“ angegeben wird, bildet die Wurzel einer weit verzweigten, internationalen Wortfamilie, die im deutschen Sprachraum im Mittelalter mit dem Substantiv „Norm“ ihren Anfang nahm. Das Adjektiv „normal“ wurde demgegenüber erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts gebräuchlich, das Verb „normalisieren“ fand schließlich Anfang des 20. Jahrhunderts Eingang in die deutsche Sprache. Der französische Medizinphilosoph Georges Canguilhem10 hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich in Frankreich zeitgleich mit der Reform des Erziehungs- und Gesundheitswesens die Normalitätssemantik im Gefolge der Revolution ausbreitete. 7 Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 121996. 8 Vgl. Elsbeth Bösl: Politiken der Normalisierung. Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld: transcript, 2009, S. 320-336. 9 Vgl. Anne Waldschmidt: Normalität, in: Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann, Thomas Lemke (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2004, S. 190–196. 10 Vgl. Georges Canguilhem: Das Normale und das Pathologische, München: Hanser, 1974.

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Hintergrund war die aufklärerische Forderung nach Rationalisierung aller Lebensbereiche. Mit der Industrialisierung gewann im 19. und 20. Jahrhundert der Aspekt von Normierung im Sinne einheitlicher Vorgaben für Werkstoffe und Produkte an Bedeutung. „Norm“ bezieht sich hier nicht auf ein anzustrebendes Ideal oder den statistischen Durchschnitt, sondern auf einen einzuhaltenden Standard. So ermöglichen etwa Papierformate nach der Deutschen Industrie-Norm (DIN) A 4 ein reibungsloses Funktionieren der verschiedenen Kopierer und Drucker. Auch zum barrierefreien Bauen und Gestalten, für das Internet und den öffentlichen Nah- und Fernverkehr gibt es eine Vielzahl von Verordnungen, Richtlinien und Normen, die Zugänglichkeit zum Standard erheben. Aber merkwürdigerweise hat dies nicht dazu geführt, dass – ähnlich wie die genormten Papiergrößen – Barrierefreiheit zur selbstverständlichen Normalität geworden wäre. Mit der Kategorie der Normalität muss es also noch etwas anderes auf sich haben; sie kann nicht auf die Standardisierung reduziert werden. Häufig wird Normalität auch mit Homöostase gleichgesetzt. Letztere gilt als harmonischer Gleichgewichtszustand oder – wie es Henning Ritter11 in seinem Artikel für das Historische Wörterbuch der Philosophie formuliert hat – als etwas, das „sich weder nach rechts noch nach links neigt, sich also in der richtigen Mitte hält“. Außerdem wird Normalität oft mit gewohnheitsmäßigem Handeln verglichen, mit den Routinen und Regelmäßigkeiten einer fraglos geltenden Welt, kurz, mit dem Alltag.12 In diesem Sinne ist das Normale das Typische und Übliche, etwas, das habituell vorhanden ist oder sich ereignet. Und nicht zuletzt gilt das Normale als das Durchschnittliche: Normal ist das, was die Mehrheit, die so genannte „Mitte“ denkt, sagt und tut.13 Normal ist der „Durchschnittsmensch“, l‘homme moyen, dessen physische Eigenschaften, z.B. Gewicht, Größe etc. der Mathematiker Adolphe Quételet schon im 19. Jahrhundert statistisch berechnet hat. Dieses Verständnis von Normalität findet seinen Ausdruck in faktischen und fiktiven Normalverteilungskurven, statistischen Mittelwerten, in Rankings und Leistungsvergleichen, die uns mittlerweile auf Schritt und Tritt begegnen. Letztlich treffen in der Rede vom Normalen zwei Bedeutungsebenen aufeinander: Wertung und Beschreibung, Präskription und Deskription. Zum einen wird Normalität mit sozialen, technischen und statistischen Normen gleichgesetzt und als Ausdruck normativer Ordnung verstanden. In diesem Sinne meint sie Regelgerechtheit, kurz „Normativität“.14 Zum anderen wird Normalität als Regelmäßigkeit gedacht, im Sinne von Gleichgewicht und statistischer Verteilung. Mit anderen Worten, sowohl Soll-Werte als auch Ist-Werte gehen in den Normalitätsbegriff mit ein. Kompliziert wird 11 Henning Ritter: Stichwort „Normal, Normalität“, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1984, S. 906–928, hier S. 922. 12 Vgl. Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M.: Fischer, 172000. 13 Vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 32006. 14 Vgl. Link (Anm. 13), S. 33ff.

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das Verhältnis zwischen Sein und Sollen dadurch, dass auch das statistische Mittel zu einer Norm zweiter Ordnung werden kann. Wird beispielsweise in den Massenmedien publiziert, dass der Durchschnittsdeutsche 1,6 mal pro Woche Sex hat, fühlen sich automatisch alle diejenigen „nicht normal“, deren eigene Frequenz vom nationalen Durchschnitt signifikant abweicht.

2.  Wer oder was ist normal? Das Alltagswissen Erkunden wir auf dieser Folie das Alltagswissen über Normalität. Finden sich im alltagsweltlichen Sprechen die erwähnten Dimensionen Rationalisierung und Standardisierung, Gleichgewichtszustand, Alltäglichkeit und Durchschnitt? Welche Bedeutung hat die wertende Normativität im Verhältnis zur deskriptiv-statistischen Normalität? Als empirisches Material nutze ich ein Massenmedium und die dort versammelten Äußerungen. Bei der von Oktober 2002 bis Dezember 2009 existierenden Internetplattform „www.1000fragen.de“ handelte es sich um ein von der Aktion Mensch installiertes Diskursprojekt. Unter dem Titel „1000 Fragen zur Bioethik“ forderte es die Bevölkerung dazu auf, sich aktiv in die gesellschaftliche Debatte um die Lebenswissenschaften einzumischen. Im Ergebnis sind über 100.000 weitgehend ungefilterte Äußerungen entstanden, deren quantitative und qualitative Analyse einen Zugang zu dem „Wissen der Leute“15 bietet. Bemerkenswert für unseren Zusammenhang ist, dass in dieser Internetplattform, die eigentlich einen anderen thematischen Schwerpunkt, nämlich „Bioethik“ hatte, die Begriffe Normalität und Behinderung auffällig präsent waren. Im Folgenden werden jene Äußerungen näher betrachtet, die die Normalitätsfrage problematisieren.16 An dieser Stelle herrscht in dem Onlineforum offensichtliche Begriffsverwirrung und das Terrain gleicht einer unübersichtlichen Landschaft. Auffällig häufig trifft man in verschiedenen Variationen auf die rhetorische Frage „Wer oder was ist normal?“. Als Standardformel eingesetzt bringt sie die allgemeine Ratlosigkeit auf den Punkt und liefert zugleich die passende Lösung, nämlich ein Fragenstellen, das sich selbst als Antwort genügt: „Aber wer ist schon normal? Was ist normal? Wo fängt Normalität an und wo hört sie auf?“ (Thread 7997)17 15 Vgl. Anne Waldschmidt, Anne Klein, Miguel Tamayo Korte: Das Wissen der Leute. Bioethik, Alltag und Macht im Internet. Unter Mitarbeit von Sibel Dalman-Eken, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2009. 16 Diese Reduktion ist notwendig, um den Rahmen dieses Beitrags nicht zu sprengen, auch wenn es zu berücksichtigen gilt, dass Normalität und Behinderung als Schattenbegriffe nicht getrennt voneinander zu denken sind. Auch die Methodik kann nicht näher erläutert werden; vgl. zur kompletten Fallstudie Waldschmidt/Klein/Korte (Anm. 15), S. 277–299. 17 Die kursiv gesetzten Originalzitate (mit „Thread“ bzw. „P“ und laufender Nummerierung gekennzeichnet) entstammen dem analysierten Datenkorpus der Onlineplattform . Die Texte werden originalgetreu wiedergegeben; Rechtschreibfehler etc. sind deshalb nicht korrigiert.

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Die zahlreichen Bemühungen, Normalität zu definieren, lassen sich nur mit Mühe systematisieren: Es finden sich teils kritische, teils affirmative Bezüge auf die Idealnorm („Eizelle […], die 80 Jahre als normaler (lies: idealer) Mensch durch das Leben geht, ohne Behinderung, ohne kriminellen Neigungen, ohne soziale Inkompetenzen usw.“, Thread 649), auf subjektive Normalitäten („jeder, denke ich, empfindet sich als normal“, Thread 9233), auf natürliche Normalitäten („normale Naturerscheinung“, Thread 56) sowie auf kulturell und historisch spezifische Normalitäten („Vielleicht gelten die „normal“ gezeugten/ geborenen Kinder als von Gott begnadet. Das gab es ja schon mal: Julius Cäsar war Epileptiker. Damals galt das als göttliche Gabe, heute ist es eine Behinderung“, Thread 6035). Das technische Genormte lässt sich ebenso herausfiltern wie die Gleichsetzung von Normalität und sozialen Normen bzw. Gesundheit. Auch die Verbindung von Nützlichkeit und Normalität klingt an, zumeist allerdings kritisch gewendet, in Form von Klagen über die Macht von Wirtschaft und Medien. An anderer Stelle wird in Sprachspielen Unerwartetes geboten. So wird Normalität als gleichbedeutend für Trend verstanden: „Normal ist ein Synonym für trendy. Sollten die Behinderten in Mode kommen, werden die normal“ (Thread 3164). Außerdem wird „normal“ im Sinne von „vorurteilsfrei“ (Thread 3500) oder kommunikationsfähig benutzt (P43-169). Es gibt auch Äußerungen, in denen Normalität grundsätzlich in Frage gestellt wird: „Normalität als Schwerstbehinderung. Scheitern als Chance“ (Thread 8887). Den Kontrapunkt setzt diese Fundstelle: „Normalität ist doch lediglich eine Übereinkunft von Spießern.“ (P57-10) Auffallend ist zudem, dass immer wieder auf die Mehrheit und die statistische Normalität Bezug genommen wird. Einen Einblick in das Argumentationsmuster liefert diese Äußerung: „Das Problem ist, dass das Wort „normal“ von fast allen Menschen missverstanden wird. Sie denken, „normal“ bezeichne etwas allgemein Bekanntes, was man öfters antrifft (so z. B. auch körperlich oder geistig eingeschränkte Menschen), dem ist aber nicht so. Normal ist nur ein Begriff zur Erkennung einer klaren Mehrheit einer großen Gruppierung (so kann man z. B. nicht Schwarze oder Weiße als normal bzw. nicht-normal bezeichnen, da sie ungefähr gleichermaßen oft in der Gruppe „Mensch“ auftreten). Wenn man z. B. 20 Pilze hat, und 19 davon sind Champignons und 1 ist ein Fliegenpilz, dann ist dieser Fliegenpilz nicht normal, auch wenn er in einer Gruppe von 19 Fliegenpilzen und 1 Champignon wieder normal wäre. Ich hoffe, Sie missverstehen mich nicht und denken mal darüber nach, wie missbräuchlich manche Wörter benutzt werden und wie so oft Streit und Diskussionen entstehen können.“ (Thread 253) Hat Jürgen Link18 also Recht, wenn er in seiner Studie „Versuch über den Normalismus“ eine Wirkmächtigkeit der statistischen Normalität in der „verdateten“ Gesellschaft, ihre Relevanz für das spätmoderne Gesellschaftssystem behauptet? Folgt man seiner Normalitätstheorie, würde es sich bei der Mehrheits- bzw. Durchschnittsnormalität um eine Konzeption handeln, die im Vergleich zur hergebrachten Normativität, dem Komplex sozialer, juristischer und ethischer (Verhaltens-)Regeln dominiert. In unserer Untersuchung der Onlineplattform „1000 Fragen zur Bioethik“ sollte diese 18 Vgl. Link (Anm. 13), S. 323–329.

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These empirisch überprüft werden. Zu diesem Zweck wurden auf der Basis von Wortschatzanalysen zwei unterschiedliche Begriffsfelder gebildet. Das Begriffsfeld „Normativität“ bestand aus den Stichworten: Norm, Normen, *normativ*,19 Normativität, Vorgabe, Ethik, *ethisch*, *soll*, *muss*, müssen, *richtig*, *falsch*, *verbindlich*, *bewerten*, Bewertung, *normiert*, Normierung, *normieren*, Gesetz, *Zwang*, *zwingen*, *gezwungen*, *positiv*, *negativ*, *schlecht*, *gut*, *Regel*, *regelwidrig*, *regelgerecht*, *Sanktion*, Moral, *moralisch*. Das Begriffsfeld „statistische Normalität“ umfasste die Stichworte: *Statistik*, *statistisch*, *%*, *Prozent*, *Häufigkeit*, *Mehrheit*, *mehrheitlich*, *häufig*, *Durchschnitt*, *durchschnittlich*, *überdurchschnitt*, *unterdurchschnitt*, *normal*, *Normalität*, *normalisier*, *Normalverteilung*, *Normalisierung*, *Standard*, *Gauss*, *Gauß*, *Kurve*, *üblich*, *am meisten*, *Abweichung*, *typisch*, Überzahl, Unterzahl, *die meisten*. Diese beiden Begriffsfelder wurden im analysierten Material systematisch ausgezählt.20 Die Ergebnisse sind insofern interessant, als sie die Vorannahmen der Link‘schen Normalismustheorie nicht bestätigen: Deutlich häufiger wird auf verbindlich geltende Normen und Bewertungen Bezug genommen als auf das Konzept der statistischen Normalität. Folglich nimmt zumindest im Alltagswissen die Normativität eine weitaus bedeutendere Rolle ein als die Durchschnittlichkeit. Dennoch sollte das Zählergebnis nicht verabsolutiert werden. Einiges deutet darauf hin, dass in gesellschaftlichen Diskursen die Norm(alität) längst in Bewegung geraten ist: Unterzieht man nämlich das Material des Internetforums einer qualitativ-inhaltlichen Kategorisierung, findet man neben den bereits erwähnten häufigen Versuchen, Normalität subjektivistisch zu bestimmen, in einer beträchtlichen Anzahl von Fundstellen folgende typische Argumentation: „Normal, dieses Wort allein mag ich schon nicht, für mich gibt es nur individuelle Menschen, nicht „die Normalen“, jeder entwickelt sich, wie er das möchte, mit seinen Möglichkeiten, das gilt für Menschen mit und ohne Einschränkungen, obwohl ich glaube, wir alle haben unsere eigenen Einschränkungen, am meisten schränken wir uns, glaube ich, selber ein“ (P43174). Die Kraft des Normativen scheint am Schwinden zu sein oder wird zumindest in Frage gestellt; Normalität und Abweichung werden als relative und relationale Begriffe angesehen und kritisch-distanziert betrachtet.

3.  Die Normalitätsdebatte der Disability Studies Zwar findet man „Norm“, „Normalität“ und „Normalisierung“ in fast allen Texten, die den Disability Studies zuzuordnen sind. Dennoch hat der Diskurs bislang noch nicht zu theoretischer Klarheit gefunden. In seiner einflussreichen Studie „Enforcing

19 Das Zeichen *..* zeigt an, dass die auszuzählende Zeichenfolge nicht einem ganzen Wort entspricht und auch die Groß-/Kleinschreibung hier unbeachtet bleibt. 20 Waldschmidt/Klein/Korte (Anm. 15), S. 288.

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Normalcy“21 hebt etwa der nordamerikanische Literaturwissenschaftler Lennard Davis die Bedeutung statistischer Normalität für die moderne, industrialisierte Gesellschaft hervor. Er erläutert die Bemühungen zur Konstruktion des Durchschnittsmenschen und geht auf die Gauss‘sche Glockenkurve22 als „symbol of the tyranny of the norm“23 ein. Im Unterschied zu Jürgen Link, der auf die Differenzierung von Normalität und Normativität großen Wert legt, kommt aber Davis nicht auf den Gedanken, die Herstellung von Durchschnittlichkeit von der Norm als imperativische Verhaltenserwartung zu unterscheiden. Vielmehr betont er auch in einem anderen Aufsatz den gesellschaftlichen Hintergrund: „What I have tried to show here is that the very term that permeates our contemporary life – the normal – is a configuration that arises in a particular historical moment. It is part of a notion of progress, of industrialization, and of ideological consolidation of the power of the bourgeoisie. The implications of the hegemony of normalcy are profound and extend into the very heart of cultural production.“24 Mit dem Verweis auf Hegemonie, somit auf ein Herrschaftskonzept, legt Davis den Akzent auf die disziplinierenden und kontrollierenden Aspekte von Normalität. Auch Rosemarie Garland-Thomson, nordamerikanische Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, trägt zu der engen Betrachtung von Normalität als Zwang bei, wenn sie etwa in ihrer Studie „Extraordinary Bodies“ der behinderten Figur diejenige des Normalen, den „normate“ gegenüber stellt. „This neologism names the veiled subject position of cultural self, the figure outlined by the array of deviant others whose marked bodies shore up the normate`s boundaries. [...] Normate [.] is the constructed identity of those who, by way of the bodily configurations and cultural capital they assume, can step into a position of authority and wield the power it grants them.“25 In dieser Textstelle wird außerdem eine klare Hierarchie zwischen „behindert“ und „normal“ postuliert. Halten wir fest: Aus Sicht der Disability Studies sind es vor allem normierende und nicht so sehr normalisierende Blicke, welche die Gesellschaft auf behinderte Menschen richtet. Im Grunde entgeht sowohl Garland-Thomson als auch Davis die Tendenz der Normalitätslandschaften zur Flexibilisierung, die sich insbesondere im ausgehenden 20. Jahrhunderts entfaltet hat. Dagegen hat sie sich in den alltagsweltlichen Äußerungen des Internetforums „1000 Fragen zur Bioethik“ bereits angedeutet: Während bis in die 1960er Jahre hinein die Grenzen zwischen Konformität und Devianz einigermaßen klar gezogen waren und beispielsweise Homosexualität und Prostitution als illegal, Scheidung und uneheliche Geburt als anstößig, körperliche und 21 Vgl. Lennard J. Davis: Enforcing Normalcy. Disability, Deafness and the Body, London [u.a.]: Verso, 1995. 22 Bei der Gauss’schen Glockenkurve handelt es sich um die nach dem deutschen Mathematiker Carl Friedrich Gauss (1777–1855) benannte Visualisierung der statistischen Normalverteilung. 23 Davis 1995 (Anm. 21), S. 13. 24 Lennard J. Davis: Constructing Normalcy. The Bell Curve, the Novel and the Invention of the Disabled Body in the Nineteenth Century, in: Lennard J. Davis (Ed.): The Disability Studies Reader, New York [u.a.]: Routledge, 22006, S. 3–16, hier S. 15. 25 Rosemarie Garland-Thomson: Extraordinary Bodies. Figuring Physical Disability in American Culture and Literature, New York: Columbia University Press, 1997, S. 8.

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geistige Behinderungen als Makel galten, sind uns heute die Kriterien der Normsetzung eher zum Problem geworden. Normalität ist nicht mehr Effekt a priori gesetzter Vorschriften, sondern ein a posteriori konstituierter Tatbestand, Ergebnis massenhaften Verhaltens oder Wollens und seiner statistischen Erhebung. Die Normalitätsproduktion funktioniert über Rückkopplungsschleifen; das durch Datensammlung und -auswertung gewonnene Wissen wirkt wieder auf das Verhalten zurück. Wenn aus demografischen Gründen irgendwann eine bedeutende Anzahl an Bürgern und Bürgerinnen Gehhilfen und folglich abgeflachte Bordsteinkanten braucht, könnten sich endlich auch die Rollstuhlfahrer und Rollstuhlfahrerinnen als normal empfinden. Mittels massenhaftem Verhalten wäre es also möglich, Barrierefreiheit als alltägliche Praxis zu etablieren. Warum bloß – so hält man staunend inne – ist dies bislang noch nicht geschehen?

4.  Normalität und Macht Könnte es sein, dass spezifische Normalitäten nicht so einfach durchgesetzt werden können, dass es neben dem doing normality, der Performanz des Normalen auch ein making normality, eine normalisierende Struktur gibt, somit die Herstellung von Normalität immer auch ein Machtgeschehen beinhaltet? Während ihrer Protestphase zu Beginn der achtziger Jahre hatte die deutsche Behindertenbewegung ganz im Sinne der internationalen Disability Studies genau auf diesen Punkt aufmerksam gemacht: Man wollte „lieber lebendig als normal“26 sein und kritisierte die „Anforderung und den Zwang, ‚normal‘ sein zu müssen“.27 Doch seither ist es ruhig geworden; was die Normalitätsfrage betrifft, ist für den heutigen Diskurs der Behindertenbewegung eher ein beredtes Schweigen kennzeichnend. Dabei ist man, wenn man die Verbindung von Normalität und Macht thematisiert, durchaus in guter Gesellschaft. Schließlich hat bereits Michel Foucault28 herausgearbeitet, dass Entfaltung und Funktionieren der Moderne mit minutiösen Normierungstechniken verknüpft sind. Die maßgebliche Disziplinartechnik, die normierende Sanktion hat er so beschrieben: „Sie führt [.] fünf verschiedene Operationen durch: sie bezieht die einzelnen Taten, Leistungen und Verhaltensweisen auf eine Gesamtheit, die sowohl Vergleichsfeld wie auch Differenzierungsraum und zu befolgende Regel ist. Die Individuen werden untereinander und im Hinblick auf diese Gesamtregel differenziert, wobei diese sich als Mindestmaß, als Durchschnitt oder als optimaler Annäherungswert darstellen kann. Die Fähigkeiten, das Niveau, die ‚Natur‘ der Individuen werden quan26 Udo Sierck, Nati Radtke: „Lieber lebendig als normal!“, in: Michael Wunder, Udo Sierck (Hg.): Sie nennen es Fürsorge. Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand, Berlin: Verlagsgesellschaft Gesundheit, 1982, S. 149–150. 27 Christian Mürner, Udo Sierck: Krüppelzeitung. Brisanz der Behindertenbewegung, Neu-Ulm: AG Spak, 2009, S. 103. 28 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1989, S. 221–229.

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tifiziert und in Werten hierarchisiert. Hand in Hand mit dieser ‚wertenden‘ Messung geht der Zwang zur Einhaltung einer Konformität. Als Unterschied zu allen übrigen Unterschieden wird schließlich die äußere Grenze gegenüber dem Anormalen gezogen [...]. Das lückenlose Strafsystem, das alle Punkte und alle Augenblicke der Disziplinaranstalten erfaßt und kontrolliert, wirkt vergleichend, differenzierend, hierarchisierend, homogenisierend, ausschließend. Es wirkt normend, normierend, normalisierend.“29 Bezieht man diese Textpassage auf Behinderung, wird man feststellen, dass in der gesellschaftlichen Praxis die genannten fünf Verfahren der Disziplinarmacht am Werke sind. Zum einen werden Individuen, um sie als behindert etikettieren zu können, laufend mit anderen verglichen, z.B. in Intelligenztests und medizinischer Diagnostik; auch werden sie differenziert, nämlich als unterschiedlich – leistungs- und erwerbsgemindert, förder-, hilfs- und pflegebedürftig – eingestuft; des Weiteren werden sie – z.B. nach dem sozialrechtlich festgelegten „Grad der Behinderung“ oder den „Stufen der Pflegebedürftigkeit“ – in eine hierarchisierende Rangordnung eingegliedert; außerdem teilt man sie in homogene Gruppen – die Gruppe der Lernbehinderten, Hörgeschädigten, Mehrfachbehinderten etc.30 – ein; nicht zuletzt werden sie in Sonderschulen, Wohnheimen und Behindertenwerkstätten exkludierenden Strategien unterworfen. Mit Foucault gerät somit in den Blick, dass ein ganzes Arsenal an Rehabilitationstechniken dafür sorgt, Menschen, die als behindert gelten, an eine „nichtbehinderte“ Ordnung ein- und anzupassen. Allerdings: Die Normierung stellt nur die eine Seite der Medaille dar, und bei der Normalität handelt es sich nicht ausschließlich um einen repressiven Zwangsapparat; es gibt gleichzeitig auch ein Begehren der Subjekte nach Normalität, den Wunsch, ein „ganz normales“ Leben führen zu können, gerade auch im Falle von Behinderung. Wie das eben benutzte, längere Zitat dokumentiert, hat Foucault selbst nicht trennscharf zwischen normierenden und normalisierenden Strategien unterschieden. An anderer Stelle hat er etwas genauer formuliert: „Noch allgemeiner läßt sich sagen, daß das Element, das vom Disziplinären zum Regulatorischen verläuft […], daß dieses Element, das vom einen zum anderen zirkuliert, die ‚Norm‘ ist. […] Die Normalisierungsgesellschaft ist eine Gesellschaft, in der sich entsprechend einer orthogonalen31 Verknüpfung die Norm der Disziplin und die Norm der Regulierung miteinander verbinden.“32

29 Foucault 1989 (Anm. 28), S. 236; diese drei Ausdrücke stammen von dem Übersetzer Walter Seitter, der mit ihnen den französischen Begriff „normalise“ wiedergegeben hat; dazu auch Link (Anm. 13), S. 117. 30 Die Praxis der Homogenisierung wird übrigens auch nicht dadurch aufgehoben, dass man für die Gruppen neue Begrifflichkeiten einführt: Beispielsweise hießen am Anfang des 20. Jahrhunderts die Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten noch „Hilfsschüler“; bis vor kurzen wurden sie als „Lernbehinderte“ bezeichnet. Heute nennt man diese Gruppe eher Schülerinnen und Schüler „im Förderschwerpunkt Lernen“. 31 Dieser Begriff meint „rechtwinklig“. 32 Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–1976), Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1999, S. 293.

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Die „Norm der Disziplin“ und die „Norm der Regulierung“ – das sind Foucault zufolge offensichtlich zwei verschiedene Dinge, auch wenn in der ersten Textpassage diese Differenz nicht erwähnt wird; im zweiten Zitat wird sie zwar eingeführt, jedoch ebenfalls nicht expliziert. Um die beiden Normbegriffe eindeutiger zu trennen und für analytische Zwecke nutzen zu können, ist es sinnvoll, mit der Normalitätstheorie von Jürgen Link33 auf einen Ansatz zurückzugreifen, dem es ebenfalls darum geht, die Macht von Normalität in der spätmodernen Gesellschaft zu verstehen, und zwar als eine Macht, die eben gerade nicht nur repressiv, d.h. normativ, sondern auch produktiv, nämlich normalisierend wirkt. In der gebotenen Kürze lässt sich das Konzept des sogenannten „Normalismus“ so zusammenfassen: Zum einen geht Link davon aus, dass die vergleichende Beschreibung der Menschen, ihres Verhaltens und ihrer Merkmale, die mit Hilfe der Statistik vorgenommen wird, den Dreh- und Angelpunkt der heutigen Normalisierungsgesellschaft bildet. In Foucaults Worten: Nicht die Norm der Disziplin, sondern die Norm der Regulierung stellt die zentrale Machttechnik dar. Die auf die statistische Normalität rekurrierenden Normalisierungstrategien üben keinen Zwang im engeren Sinne aus. Sie halten die Menschen „lediglich“ dazu an, ihr Verhalten danach auszurichten, was die Mehrheit fordert; auf diese subtile Weise wirken sie disziplinierend. Zum anderen hat Link34 herausgearbeitet, dass es in der Gegenwartsgesellschaft zwei „normalistische Strategien“ gibt, die sich ergänzen, aber auch miteinander konfligieren: Der „Protonormalismus“ als die historisch ältere Strategie geht von eindeutigen Diskontinuitäten zwischen dem Normalen und dem Pathologischen aus. Er tendiert zur Bildung von stabilen Gleichgewichten und besteht aus Verfahren zur Komprimierung der Normalitätszonen. Ihm geht es darum, das Spektrum der Normalität (wieder) zu reduzieren oder zumindest die Toleranzbereiche entscheidend zu verringern. Zu diesem Zweck werden eindeutige Korrelationen zwischen Normalität bzw. Anormalität und fest umrissenen, vermeintlich natürlichen Merkmalen, z.B. Körper, Herkunft und Abstammung, hergestellt. Stigma-Grenzen werden aufgebaut und festgelegt; die Pole werden deutlich markiert. Grenzüberschreitungen sollen verhindert, Positionen in dem einen oder anderen Feld stabilisiert und verstetigt werden. Dagegen geht es der zweiten Strategie, dem „flexiblen Normalismus“ um eine Expandierung der Normalitätszonen und um Fließgleichgewichte zwischen Normalität und Abweichung. Der flexible Normalismus beruht auf der Annahme, dass es keine qualitative Grenze zwischen dem Normalen und dem Unnormalen gibt, sondern nur ein Kontinuum, auf dem sich prinzipiell verschiebbare Punkte befinden. Folglich kann die Normalitätsgrenze nur semantisch-symbolisch markiert werden. Im Ergebnis entstehen dynamische Verteilungen, die veränderbar sind und den Individuen Statuswechsel von „normal“ zu „anormal“ und umgekehrt von „anormal“ zu „normal“ ermöglichen. Die Trennlinie zwischen

33 Vgl. Link (Anm. 13). 34 Vgl. Link (Anm. 13), S. 51–59.

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dem Normalen und dem Unnormalen ist nicht nur durchlässig, sondern auch unscharf, nur gültig für bestimmte Lebensbereiche und befristete Zeiträume. In der Gegenwartsgesellschaft wird von dem Einzelnen zwar immer noch erwartet, sich Normen anzupassen, deren Einhaltung Institutionen und Organisationen wie Justiz, Polizei, Medizin oder Sozialarbeit kontrollieren. Zusätzlich allerdings sind wir mehr und mehr konfrontiert mit Managementtechniken und Selbsttechnologien35, die auf der suggestiven Kraft der flexiblen Normalisierung basieren. Die so verstandene Normalität umfasst ein Netz von Diskursen, operativen Verfahren und Identitätspolitiken; sie vertraut auf die Masse, den Vergleich mit den Bezugsgruppen und die quantitative Ermittlung des Mittelmaßes. Normalistische Verfahren steuern indirekt: Sie zeigen den Individuen ihre aktuelle Position auf den Normalverteilungskurven – und überlassen es ihnen dann, selbst daraus Konsequenzen zu ziehen.

5.  Kann Barrierefreiheit normal werden? Schaut man sich das Beispiel Behinderung36 genauer an, so kann man tatsächlich die Wirkmächtigkeit regulierender Normen und flexibel-normalistischer Strategien erkennen. Wo es in „Behindertenarbeit“ und Rehabilitationssystem bis in die 1980er Jahre hinein um Betreuung und Fürsorge ging, werden heute gesellschaftliche Teilhabe und die Angleichung der Lebensbedingungen angestrebt. Es ist weithin akzeptiert, dass geistig behinderte Menschen, die früher in großen Anstalten ausgegrenzt wurden, Wohnungen in der Gemeinde beziehen; für Menschen mit umfänglichen Assistenzbedarfen werden persönliche Budgets und ambulante Unterstützungsangebote bereitgestellt. Auch ist Behinderung mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz und der UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen als Diskriminierungstatbestand und Menschenrechtsfrage anerkannt. Kurz, in den letzten Jahrzehnten ist das Feld der Behinderung – wenn auch nicht an seinen Polen, so doch zumindest in den Übergangsbereichen – dynamischer und durchlässiger geworden. Indes, von einer eindeutigen Tendenz zur flexiblen Normalisierung kann nicht gesprochen werden. Weiterhin lassen sich nämlich in der Behindertenpolitik protonormalistische Beharrungstendenzen ausmachen. Sie sind beispielsweise dort am Werk, wo die Isolierung und Anstaltsverwahrung von psychisch kranken Menschen propagiert oder Intelligenz als genetisch bedingt angesehen wird. Nicht nur auf der Ebene von Einstellungen, auch institutionell sind weiter exkludierende Praktiken zu finden. Im Pflegesystem verhindern minutiöse Zeitvorgaben, Begutachtungskriterien und knappe Kassen oft genug das selbstbestimmte Leben mit persönlicher Assistenz außerhalb von 35 Dieser Begriff meint Praktiken, die der Einzelne anwendet, um sein Verhältnis zu sich selbst und zu seinem Körper zu gestalten; Michel Foucault: Technologien des Selbst, in: Luther H. Martin, Huck Gutman, Patrick H. Hutton (Hg.): Technologien des Selbst, Frankfurt/M.: Fischer, 1993, S. 24–62. 36 Anne Waldschmidt: Flexible Normalisierung oder stabile Ausgrenzung: Veränderungen im Verhältnis Behinderung und Normalität, in: Soziale Probleme 9, 1998, H. 1/2, S. 3–25.

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stationären Einrichtungen. Das in Deutschland fest etablierte Sonderschulwesen verweist auf Ausgrenzungsmechanismen, gegen die sich das Konzept einer Schule für alle Kinder (noch?) nicht durchsetzen kann. Diese Liste ließe sich leicht fortsetzen, doch schauen wir uns das Beispiel Barrierefreiheit genauer an. Zunächst muss man sich vergegenwärtigen, dass sich Architektur, Design und Kommunikationswesen am Durchschnitt orientieren: „Lernziel von Designern und Architekten ist es, Gebäude, Umgebungen und Produkte für ‚durchschnittliche‘ Menschen zu entwickeln, und der ‚durchschnittliche‘ Mensch ist natürlich immer nichtbehindert. Die Verkörperung des Durchschnitts in der gebauten Umwelt schließt nicht nur abweichende Körper aus, sondern schreibt in diese Umgebung den unbedingten Wunsch nach Erhaltung des nichtbehinderten Körpers ein. […] Der Durchschnitt schließt als Maßstab alle menschlichen Variationen aus, und von diesen lässt sich wiederum der behinderte Körper am leichtesten ausschließen.“37 Was der nordamerikanische Kulturwissenschaftler Tobin Siebers hier beschreibt, ist die bereits erwähnte Ambivalenz der durchschnittlichen Normalität: L‘homme moyen regiert, eigentlich ein demokratisches Prinzip, denn die Daten, die die Grundlage der Standardisierung darstellen, werden deskriptiv-empirisch gewonnen und sind an der Mehrheit, der Masse und ihrem gemeinsamen Nenner ausgerichtet. Gleichzeitig tendiert jedoch das statistische Mittel dazu, zu einer Norm zweiter Ordnung zu werden und somit autokratisch zu wirken: Es richtet sich gegen diejenigen, die der Durchschnittlichkeit nicht genügen. Und dennoch: Gegen die einseitige Fixierung am Durchschnittsmenschen hat sich in den letzten Jahrzehnten das Konzept der Barrierefreiheit durchaus erfolgreich etablieren können. Auch wenn noch viel zu tun bleibt, der Abbau von Hindernissen lässt Menschen mit Behinderungen im gesellschaftlichen Miteinander stärker sichtbar werden. Insofern ist diese Praxis als Ausdruck flexibler Normalisierung zu verstehen, schließlich geht es darum, die Umwelt so zu gestalten, dass behinderte Menschen nicht mehr auf segregierte Räume angewiesen sind, sondern ihr Recht auf gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe problemlos wahrnehmen können. Im Endeffekt werden Umgebungen zugänglich und Handlungsmöglichkeiten erweitert, kurz: Grenzen verschoben. Statt in einer „Behinderteneinrichtung“ wohnen, arbeiten, leben zu müssen und auf „Behindertenhilfe“ angewiesen zu sein, ermöglicht es die Beseitigung baulich-technischer und kommunikativer Barrieren, eine private Wohnung zu beziehen, Bus, Bahn und das Internet zu benutzen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, Arztpraxen, Geschäfte, Kinos, Wahllokale etc. zu besuchen – alles Tätigkeiten, die für einen Großteil der behinderten Menschen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein wenn überhaupt, dann nur im Ausnahmefall möglich waren. Schließlich überlagern und durchdringen sich Lebensbereiche, die zuvor klar getrennt waren – das Nichtnormale dringt in das Normale und umgekehrt. 37 Tobin Siebers: Zerbrochene Schönheit. Essays über Kunst, Ästhetik und Behinderung, Bielefeld: transcript, 2009, S. 33–34.

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Wird jedoch widerstandslos hingenommen, dass sich Sphären vermischen und Grenzen durchlässiger werden? Wie reagieren die „Normalen“ auf die vermehrte Konfrontation mit den „Behinderten“? Jürgen Link hat auf folgende für den Normalismus kennzeichnende Dynamik aufmerksam gemacht: Wenn die Gefahr besteht, dass das „Gummiband“ reißt, das die beiden Pole miteinander verbindet, wenn befürchtet werden muss, dass das gesamte Normalfeld auseinander bricht, dann erfolgt der „Umschlag in den Protonormalismus: Einziehen […], Festklopfen, Verdicken der Normalitätsgrenze zu einer neuerlichen Stigma-Grenze“. 38 Nicht nur ästhetische Vorstellungen, worauf Siebers abhebt, konfligieren mit der Präsenz behinderter, d.h. als „unschön“ wahrgenommener Körper, auch der Normalisierungsdruck erzeugt Abwehrmechanismen. Die Sorge, aus den Normalitätszonen herauszufallen, die Angst davor, selbst in eine Randposition zu geraten, aus der ein Entkommen nicht mehr möglich ist, diese „Denormalisierungsangst“39 treibt in der heutigen Normalisierungsgesellschaft viele Subjekte um. In den verschiedensten Reaktionen kommt sie zum Vorschein und sie richtet sich nicht allein gegen behinderte Menschen. Wenn Betteln und Herumlungern verboten, Drogenabhängige und Obdachlose in städtische Randzonen verdrängt und der öffentliche Raum „sauber“ gehalten werden sollen, wenn Proteste gegen behinderte Wohnungsnachbarn oder Urlaubsgäste zu Gerichtsverfahren führen und Parkplätze oder Zugänge für Gehbehinderte vollgestellt oder vermüllt werden, dann ist dies ein Ausdruck von Abwehr und Widerstand. Bezogen auf die bauliche Umwelt bringt Tobin Siebers den Sachverhalt so auf den Punkt: „Die Architektur ist ‚hysterisch‘ in ihrem Bestreben, Zeichen von Behinderung abzuwehren – wenn nämlich jeder Anstrengung, ein Gebäude zugänglich zu machen, eine andere Anstrengung auf den Fuß folgt, ebendiese Zugänglichkeit zu verhindern oder ihre sichtbaren Zeichen am Gebäude zu verdecken. Das Ergebnis ist ein Nullsummenspiel zu Gunsten von Phobie, Hemmung und Diskriminierung.“ 40 Man kann es mit Siebers das „politische Unbewusste“41 nennen oder Denormalisierungsangst im Anschluss an die Normalismustheorie von Link. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie auf einen wichtigen Punkt aufmerksam machen: Der Abbau von Barrieren für behinderte Menschen ist keine rein technisch-bauliche Frage und kann nicht einfach pragmatistisch umgesetzt werden. Vielmehr stellt das Konzept der Barrierefreiheit ganz grundsätzlich eine Gesellschaft in Frage, die „kranke und behinderte Körper – offensichtlich – als Bedrohung [ansieht]“42 und beharrlich einer Kultur der Barrieren huldigt, nämlich jener der Differenzierung und Abgrenzung, sei es mittels Treppen, Formen und Funktionen in Design und Architektur, sei es mittels Kategorisierung, Testverfahren und Begutachtung in anderen Lebensbereichen. Letztendlich geht es um Grenzziehungen, um die Unterscheidung zwischen dem, was als normal, und 38 39 40 41 42

Link (Anm. 13), S. 356. Link (Anm. 13), S. 257. Siebers (Anm. 37), S. 35. Siebers (Anm. 37), S. 38. Siebers (Anm. 37), S. 31.

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dem, was als abweichend zu gelten hat, und auch der Abbau von behinderungsspezifischen Hindernissen im Zeichen flexibler Normalisierung wird darauf nicht verzichten können. Unbestreitbar wird Barrierefreiheit dazu beitragen, für behinderte Menschen im Alltag noch mehr Normalität zu schaffen. Jedoch ist und bleibt sie ein Politikum und Machtfragen sind immer auch mit ihr verbunden. Die Herstellung von Zugänglichkeit verschiebt Grenzen – und wird höchstwahrscheinlich neue errichten. Sie macht den Umgang mit Beeinträchtigungen einfacher – aber hebt diese nicht vollends auf. Sie bleibt ein wichtiges Ziel, nicht nur für die Behindertenpolitik, sondern für das Leitprinzip einer inklusiven Gesellschaft – und steht doch in fortwährendem Widerstreit mit hartnäckigen Exklusionsmechanismen.

Felix Welti

Rechtliche Voraussetzungen von Barrierefreiheit in Deutschland

Barrierefreiheit für behinderte Menschen ist ein gesellschaftliches Anliegen, das vielfach auch rechtlich verankert ist. Gesetzgebung hat in den letzten Jahrzehnten Barrierefreiheit definiert und allgemeine und besondere Regelungen geschaffen. Barrierefreiheit ist danach vielfach vorgeschrieben, zusätzlicher Aufwand ist jedoch nötig oder zumindest legitimiert.

1.  Rechtliche Grundlagen 1.1 Verfassungsrecht Die Verantwortung des Staates, behinderte Menschen in die Gesellschaft einzubeziehen, gründet zuerst auf dem Staatsprinzip des sozialen Rechtsstaats, das nach dem Grundgesetz für Bund1 und Länder2 gewährleistet ist und im Rahmen der Europäischen Integration nicht aufgegeben werden darf.3 Der soziale Rechtsstaat achtet und schützt die Menschenwürde und die Grundrechte jedes Menschen. 4 Er ist daher insbesondere verpflichtet, das Minimum jedes Menschen auch an sozialer und kultureller Teilhabe zu gewährleisten5, darüber hinaus soziale Sicherung zu organisieren6 und bei der Gestaltung des öffentlichen Rechts und des Privatrechts die Interessen aller zu berücksichtigen. 7 Damit begrenzt das Prinzip des sozialen Rechtsstaats ein nur formelles Rechtsstaatsverständnis, das die Verwirklichung der Freiheiten der Einzelnen diesen selbst überlässt. Der soziale Rechtsstaat steht vielmehr in der Verantwortung, alle Bürgerinnen und Bürger zum tatsächlichen Gebrauch ihrer Grundrechte und Freiheiten zu befähigen. Weiterhin begrenzt das Prinzip des sozialen Rechtsstaats eine nur nach 1 2 3 4 5

Art. 20 Abs. 1 GG. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG. Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG. Art. 1 Abs. 1 und 3 GG. Verdeutlicht insbesondere durch die Entscheidung zum SGB II: BVerfG v. 9.2.2010, BVerfGE 125, 175. 6 BVerfG v. 18. Juni 1975, BVerfGE 40, 121, 133f. 7 Vgl. BVerfG v. 19.10.1993, BVerfGE 89, 214; BVerfG v. 7.2.1990, BVerfGE 81, 242; Hermann Heller: Staatslehre, Leiden: Sijthoff, 1934, S. 121f.

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dem Mehrheitsprinzip verstandene Demokratie und gebietet Rücksicht auf die rechtlichen und sozialen Belange von Minderheiten. Eine allein nach dem Leitbild und den Interessen einer nichtbehinderten Mehrheit gestaltete Gesellschaft wäre damit nicht vereinbar. Gleichwohl überlässt das Verfassungsprinzip des sozialen und demokratischen Rechtsstaats die Konkretisierung – also nicht das Ob, sondern das Wie – einer behinderte Menschen einbeziehenden Rechtsordnung und Politik weitgehend der demokratischen Gestaltung durch den einfachen Gesetzgeber in Bund und Ländern. Verdeutlicht und präzisiert wird der Auftrag des sozialen Rechtsstaats für behinderte Menschen durch spezifisches Verfassungsrecht. Nachdem zunächst der am Runden Tisch der DDR diskutierte Verfassungsentwurf 8 Gleichheits- und Schutzrechte für behinderte Menschen vorgesehen hatte, fand das Thema Eingang in die Verfassungen der neuen Bundesländer Brandenburg, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.9 Auf Grund der nach der deutschen Einheit eingesetzten Verfassungskommission wurde 1994 der Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz aufgenommen. Auch die Länder Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und das Saarland10 haben Gleichheits- und Schutzrechte für behinderte Menschen in unterschiedlicher Ausprägung in ihre Verfassungen geschrieben. Das Benachteiligungsverbot wegen einer Behinderung ist bislang nur in wenigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) angewandt und konturiert worden. In einer Entscheidung zur gesonderten Schulpflicht in Sonderschulen hat das Gericht grundsätzlich ausgeführt: „Eine Benachteiligung kann auch bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt gegeben sein, wenn diese nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Fördermaßnahme hinlänglich kompensiert wird.“ 11 Damit hat das Bundesverfassungsgericht verdeutlicht, dass Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz sich nicht in formaler Rechtsgleichheit behinderter und nichtbehinderter Menschen12 erschöpfen kann, sondern eine sozialstaatliche Komponente hat. Förderung kann geboten sein, steht jedoch als Prinzip unter dem Vorbehalt des Möglichen und der Abwägung mit anderen Zielen. 13 Somit ist das Benachteiligungsverbot für weite Teile der Staatstätigkeit Verfahrensgebot: Die Wirkungen von Gesetzgebung und 8 Blätter für deutsche und internationale Politik 1990, 731ff. 9 Art. 11 Verfassung von Berlin; Art. 26 Abs. 1, 29 Abs. 3, 45 Abs. 1 und 3, 48 Abs. 4 Verfassung des Landes Brandenburg; Art. 17a Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern; Art. 7 Verfassung des Freistaates Sachsen; Art. 38 Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt; Art. 2 Abs. 4 Verfassung des Freistaats Thüringen. 10 Art. 2a Verfassung des Landes Baden-Württemberg; Art. 118a Verfassung des Freistaates Bayern; Art. 2 Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen; Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Niedersächsische Verfassung; Art. 64 Verfassung für Rheinland-Pfalz; Art. 12 Abs. 4 Verfassung des Saarlandes. 11 BVerfG v. 8. Oktober 1997, BVerfGE 96, 288, 303. 12 Dazu BVerfG v. 19. Januar 1999, BVerfGE 99, 341. 13 BVerfG v. 18.7.1972, BVerfGE 33, 303, 330f.; vgl. Felix Welti: Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005, S. 535ff.

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Politik auf behinderte Menschen sind zu beachten. Das BVerfG weist mit seinen Ausführungen voraus auf das Konzept der angemessenen Vorkehrungen, die hier noch als „hinlängliche Förderung“ bezeichnet werden. Dem liegen letztlich ältere gleichheitsrechtliche Erkenntnisse zu Grunde: Eine nur formelle Gleichbehandlung kann eine verbotene Ungleichbehandlung sein, wenn sie auf ungleiche Vorbedingungen stößt. Dies spiegelt sich in der ständigen Formel des Bundesverfassungsgerichts, der Gleichheitssatz gebiete Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln.14 Wie das BVerfG bereits im Kontext des Mietrechts festgestellt hat, kann eine barrierefreie Gestaltung auch im Rahmen eines privaten Rechtsverhältnisses geboten sein.15 Der Staat wird insoweit durch das Benachteiligungsverbot gebunden, das Zivilrecht entsprechend zu gestalten, sei es durch Schaffung entsprechender Rechtsnormen, sei es durch die Auslegung geltenden Rechts durch Verwaltung und Gerichte.

1.2  Europäisches Recht Auch im Europäischen Recht ist die Gleichstellung behinderter Menschen verankert worden. Durch den Vertrag von Amsterdam wurde die Gemeinschaft 1997 ermächtigt, rechtliche Maßnahmen gegen die Diskriminierung wegen einer Behinderung zu unternehmen (Art. 13 EG-Vertrag, jetzt Art. 19 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU). Von dieser Ermächtigung machte sie durch die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie für Beschäftigung und Beruf (RL 2000/78/EG)16 Gebrauch, in der das Prinzip angemessener Vorkehrungen in Art. 5 als Verpflichtung der Arbeitgeber behinderter Beschäftigter positiviert wurde. In der Charta der Grundrechte der Europäischen Union wurden Nichtdiskriminierung wegen einer Behinderung (Art. 21) sowie der Anspruch von Menschen mit Behinderung auf Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer Eigenständigkeit, ihrer sozialen und beruflichen Eingliederung und ihrer Teilnahme am Leben der Gemeinschaft (Art. 26) verankert. In der Fassung der Europäischen Verträge durch den Vertrag von Lissabon ist die Charta als verbindlicher Teil des Primärrechts in Bezug genommen. Weiterhin ist die Bekämpfung von Diskriminierungen aus Gründen einer Behinderung als Querschnittsaufgabe der Union ausgewiesen und hervorgehoben worden (Art. 10 Vertrag über die Arbeitsweise der EU). Daher werden auch sektorale Regelungskompetenzen für verschiedene Bereiche des Binnenmarktes, für transeuropäische Verkehrswege17

14 Zuletzt BVerfG v. 12.10.2010, ZFSH/SGB 2010, 727. 15 BVerfG v. 28.3.2000, NJW 2000, 2658. 16 Richtlinie 2000/78/EG des Rates v. 27. November 2000 zur Verwirklichung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung von Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (Abl. Nr. L 303 S. 16). 17 VO (EG) Nr. 1107/2006 über die Rechte von behinderten Flugreisenden und Flugreisenden mit eingeschränkter Mobilität.

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und Kommunikationsnetze, im Vergaberecht18 sowie in der Förderpolitik19 verstärkt genutzt, um dieses Ziel zu erreichen. Sie enthalten zum Teil klare Vorgaben im Hinblick auf Barrierefreiheit.

1.3 Behindertenrechtskonvention Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (BRK)20 konkretisiert die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 194821 sowie die Pakte der Vereinten Nationen über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966. Diese sind seit 1973 in Deutschland geltendes Recht.22 Damit wird deutlich, dass soziale Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland kein politisches Desiderat, sondern Teil der Rechtsordnung sind, wenn sie auch bislang keinen erheblichen Niederschlag in der Rechtsprechung gefunden haben. Das Bundesverfassungsgericht hat für die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) entschieden, dass die in Deutschland im Rang einfachen Bundesrechts geltenden Menschenrechtsübereinkommen auch bei der Auslegung und Anwendung des deutschen Rechts einschließlich des Verfassungsrechts zu beachten sind. 23 Die Behindertenrechtskonvention wurde aus der Erkenntnis heraus erarbeitet, dass die universellen Menschenrechte einer Bekräftigung und Konkretisierung für benachteiligte und verletzbare Gruppen bedürfen und steht damit in einer Linie mit der Frauenrechtskonvention24, der Kinderrechtskonvention25 und der – für Deutschland bislang nicht ratifizierten – Wanderarbeitnehmerkonvention. An der Erarbeitung der BRK waren die Organisationen behinderter Menschen auf globaler Ebene beteiligt. Nach Beschluss durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen wurde sie bereits von zahlreichen Staaten ratifiziert. Für die Bundesrepublik Deutschland haben Bundestag und Bundesrat zugestimmt, so dass die BRK am 26.3.2009 als einfaches Bundesgesetz in Kraft

18 Art. 23 Abs. 1 RL 2004/18 EG über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge. 19 Art. 16 VO (EG) Nr. 1083/2006 mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds. 20 Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) v. 13.12.2006 (BGBl. II 2008, 1419). 21 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, verkündet von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948. 22 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) v. 19. Dezember 1966 (BGBl. II 1973, 1534); Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR) v. 19. Dezember 1966 (BGBl. II 1973, 1570). 23 BVerfG v. 14. Oktober 2004, Az. 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111, 307; BVerfG v. 5.4.2005, NJW 2005, 1765. 24 Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) v. 18. Dezember 1979 (BGBl. II 1985, 647). 25 Übereinkommen über die Rechte des Kindes (CRC) v. 20. November 1989 (BGBl. II 1992, 121).

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getreten ist.26 Die Bundesregierung hat hierzu eine Denkschrift veröffentlicht27, aus der hervorgeht, dass die Bundesregierung zum Zeitpunkt der Beratung und Ratifizierung keinen Änderungsbedarf für das deutsche Recht gesehen hat. Dies kann als Anhaltspunkt dafür gesehen werden, dass das geltende Recht im Lichte der BRK auszulegen ist. Die Einschätzung der Bundesregierung kann sich aber auch auf Grund neuerer Erkenntnisse zumindest für die Zukunft als falsch herausstellen. Die Behindertenrechtskonvention gilt als Bundesgesetz, hat jedoch auch für die Länder und Kommunen im Bereich ihrer Gesetzgebung und Selbstverwaltungsrechte Bedeutung. Die BRK selbst gilt ohne Einschränkung in allen Teilen eines Bundesstaates. Weder international durch die Bundesregierung noch innerstaatlich im Rahmen des Ratifikationsprozesses sind hiergegen Vorbehalte eingelegt worden. Die Behindertenrechtskonvention ist – entgegen einzelnen Gerichtsentscheidungen28 – also auch bei der Anwendung und Auslegung des Rechts der deutschen Länder zu beachten, da diese durch den Grundsatz der Bundestreue verpflichtet sind, den Bund bei seinen völkerrechtlich eingegangenen Pflichten zu unterstützen. 29 Auch die Europäische Union hat mittlerweile die BRK ratifiziert, was auf die Auslegung und Anwendung europäischen Rechts und deutschen Rechts wirkt. Für die Barrierefreiheit ist insbesondere von Bedeutung, dass die Zugänglichkeit in Art. 3 f BRK als ein Grundprinzip ausgewiesen ist. Die Verpflichtung der Vertragsstaaten zur Zugänglichkeit (in der englischen Fassung: accessibility, französisch: accessibilité) wird dabei in Art. 9 Abs. 1 Satz 1 BRK umfassend definiert als Pflicht, geeignete Maßnahmen zu treffen mit dem Ziel, für Menschen mit Behinderungen den gleichberechtigten Zugang zur physischen Umwelt, zu Transportmitteln, Information und Kommunikation, einschließlich Informations- und Kommunikationstechnologien und -systemen sowie zu anderen Einrichtungen und Diensten, die der Öffentlichkeit in städtischen und ländlichen Gebieten bereitgestellt werden, zu gewährleisten. Diese Verpflichtung wird in Art. 9 BRK sowie in anderen spezifischen Artikeln der Behindertenrechtskonvention näher konkretisiert. Dabei zeigt sich, dass der Ansatz der vollen und wirksamen Teilhabe (englisch und französisch: participation) an der Gesellschaft und der Einbeziehung (englisch: inclusion, französisch: intégration) in die Gesellschaft (Art. 3 c BRK) zu einem erheblichen Teil durch die Zugänglichkeit operationalisiert wird. Dies gründet sich auf die Erkenntnis, wie wichtig es ist, dass Menschen mit Behinderungen vollen Zugang zur physischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Umwelt, zu Gesundheit und Bildung sowie zu Information und Kommunikation haben, damit sie alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll genießen können 26 27 28 29

BGBl. II 2008, S. 1420. BT-Drucks. 16/10808, S. 45ff. OVG Lüneburg v. 16.9.2010, Az. 2 ME 278/10; VGH Hessen v. 12.11.2009, NVwZ-RR 2010, S. 602. Dazu Eibe Riedel, Michael Arend: Im Zweifel Inklusion. Zuweisung an eine Förderschule nach Inkrafttreten der Behindertenrechtskonvention, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 29, 2010, H. 21, S. 1346; Markus Krajewski: Ein Menschenrecht auf integrativen Schulunterricht, in: JuristenZeitung 65, 2010, H. 3, S. 120.

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(Begründungserwägung V), und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern (Begründungserwägung E).

2. Konkretisierung Wie gezeigt, kann das Prinzip der Barrierefreiheit und Zugänglichkeit aus den allgemeinen Grundlagen des Verfassungsrechts, des Europarechts und der Menschenrechte abgeleitet werden. Damit kann entsprechende Staatstätigkeit legitimiert und eingefordert werden. Es bedarf jedoch einer Konkretisierung im einfachen Recht, um die Verantwortlichkeiten für Barrierefreiheit zu regeln und öffentliche Ressourcen bereitzustellen.

2.1  Rechtsquellen im einfachen Recht Wichtigste allgemeine Rechtsquelle für Pflichten zur Barrierefreiheit in der Bundesrepublik Deutschland sind die Behindertengleichstellungsgesetze (BGG). Mittlerweile bestehen im Bund (seit 1.5.2002) sowie in allen Ländern solche Gesetze, in denen insbesondere die Begriffe „Behinderung“ und „Barrierefreiheit“ definiert sind, Träger der öffentlichen Verwaltung zur Barrierefreiheit verpflichtet werden und Regelungen insbesondere für die Bereiche der Verwaltungsdokumente, des Gebrauchs von Kommunikationshilfen und der barrierefreien Informationstechnik enthalten sind, welche durch Verordnungen weiter konkretisiert werden.30 Weiterhin werden die Klagerechte 30 Behindertengleichstellungsgesetz v. 27.4.2002 (BGBl. I, S. 1468). Niedersächsisches Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen v. 25.11.2007 (Nds. GVBl. S. 661); Gesetz über die Gleichberechtigung von Menschen mit und ohne Behinderung, Art. 1 des Gesetzes zu Art. 11 der Verfassung von Berlin (Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne Behinderung) v. 17.5.1999 (GVBl. 179); Gesetz zur Gleichstellung behinderter und nichtbehinderter Menschen in Sachsen-Anhalt v. 20.11.2001 (GVBl. 457); Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen des Landes Schleswig-Holstein und zur Änderung anderer Rechtsvorschriften v. 16.12.2002 (GVBl. 264); Landesgesetz Rheinland-Pfalz zur Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderungen v. 16.12.2002 (GVBl. 481); Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen und zur Änderung anderer Gesetze des Landes Brandenburg v. 20.3.2003 (GVBl. 42); Bayerisches Gesetz zur Gleichstellung, Integration und Teilhabe von Menschen mit Behinderung und zur Änderung anderer Gesetze v. 9.7.2003 (GVBl. 419); Gesetz Nr. 1541 zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen im Saarland v. 26.11.2003 (Abl. 2987); Gesetz des Landes NordrheinWestfalen zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung (Behindertengleichstellungsgesetz NRW) v. 16.12.2003 (GVoBl. 766); Bremisches Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung und zur Änderung anderer Gesetze v. 18.12.2003 (GBl. 413); Gesetz zur Verbesserung der Integration von Menschen mit Behinderungen im Freistaat Sachsen v. 28.5.2004 (GVoBl. 197); Hessisches Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen und zur Änderung an-

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der Verbände behinderter Menschen, der Schluss von Zielvereinbarungen sowie die Institutionalisierung von Behindertenbeauftragten geregelt. Mit den Behindertengleichstellungsgesetzen von Bund und Ländern31 wurde eine Vielzahl weiterer Gesetze des öffentlichen Rechts geändert, so das Wahlrecht, das allgemeine Verwaltungsverfahrensrecht, die Gerichtsordnungen, das allgemeine Sozialrecht, die Straßen- und Wegegesetze, das Personenbeförderungs- und Nahverkehrsrecht, das Bauordnungsrecht32, das Gaststättenrecht, das Schulrecht und das Hochschulrecht. Die Regelungen in den Ländern unterscheiden sich. In einzelnen Bereichen – etwa dem Gaststättenrecht und dem Hochschulrecht – hat es durch die Reform der bundesstaatlichen Ordnung Kompetenzverschiebungen zu den Ländern gegeben, die dort zu weiterer Gesetzgebung Anlass gegeben haben. Die Umsetzung des Prinzips der Barrierefreiheit in das Privatrecht und außerhalb des öffentlichen Sektors ist bislang nur punktuell vorgenommen worden. Art. 9 Abs. 2 b Behindertenrechtskonvention verpflichtet aber die Vertragsstaaten ausdrücklich zu geeigneten Maßnahmen, um sicherzustellen, dass private Rechtsträger, die Einrichtungen und Dienste, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen oder für sie bereitgestellt werden, anbieten, alle Aspekte der Zugänglichkeit berücksichtigen. Damit wird für den Geltungsbereich des Zugänglichkeitsprinzips nicht auf den staatlich-hoheitlichen Sektor abgestellt, sondern auf eine auch privat vorgenommene Widmung zum öffentlichen Gebrauch33 und für einen unbestimmten Personenkreis. Öffentlich-rechtliche Normen der Bauaufsicht oder der Aufsicht über Betreiber von Verkehrsunternehmen schaffen einen Rahmen auch für private Entscheidungen. Mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) von 200634 ist die Benachteiligung wegen einer Behinderung im Zivilrecht verboten worden. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz dient zum Teil – ebenso wie das im Sozialgesetzbuch IX 2001 und 2004 neu gefasste Schwerbehindertenrecht – der Umsetzung der Europäischen Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie für Beschäftigung und Beruf, erfasst aber darüber

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derer Gesetze v. 20.12.2004 (GVBl. 492); Hamburgisches Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen v. 21.3.2005 (GVBl. 75); Baden-Württembergisches Landesgesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen v. 3.5.2005 (GBl. 2005, 327); Thüringer Gesetz zur Gleichstellung und Verbesserung der Integration von Menschen mit Behinderungen v. 16.12.2005 (GVBl. 383); Gesetz zur Gleichstellung, gleichberechtigten Teilhabe und Integration von Menschen mit Behinderungen Mecklenburg-Vorpommern v. 10.7.2006 (GVOBl. 539). Umfassende Textsammlung mit Erläuterungen bei Horst Frehe, Felix Welti: Behindertengleichstellungsrecht, Baden-Baden: Nomos, 2010. § 55 BauONRW; § 42 Abs. 1 BWBauO; Art. 51 Abs. 1 BayBauO; § 51 Abs. 1 BerlBauO; § 45 Abs. 2 und 3 BbgBauO; § 53 Abs. 1 BremLBO; § 52 Abs. 1 HmbBauO; § 73 Abs. 1 HessBO; § 52 Abs. 1 MVLBauO; § 48 Abs. 1 NdsBauO; § 51 Abs. 1 RhPfLBauO; § 54 Abs. 1 SLBauO; § 53 Abs. 1 SächsBauO; § 57 Abs. 1 BauO LSA; § 59 Abs. 1 SHLBauO; § 53 Abs. 2 ThürBauO; dazu Hans-Joachim Steinbrück: Barrierefreiheit von Wohn- und öffentlich zugänglichen Gebäuden – Regelungsgehalt, Wirkung und Durchsetzung baurechtlicher Bestimmungen, in: Behindertenrecht 48, 2009, H. 6, S. 157–165. Zum Bauordnungsrecht: OVG Sachsen-Anhalt v. 16.12.2010, Az. 2 L 246/09. Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz v. 14. August 2006 (BGBl. I, S. 1897).

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hinaus auch andere Bereiche des Zivilrechts. Fraglich und bislang in Rechtsprechung und Literatur noch nicht hinreichend diskutiert worden ist die Frage, inwieweit aus dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, aus zivilrechtlichen Generalklauseln im Lichte des Verfassungsrechts und aus der Behindertenrechtskonvention ein Recht auf Zugänglichkeit gegenüber Anbietern von Waren und Dienstleistungen abgeleitet werden kann. Die bisherigen Regelungen im Bauordnungsrecht – die im Wesentlichen Neubauten erfassen – sowie im Wohnraummietrecht – wo Umbauten vom Vermieter zwar ermöglicht, nicht jedoch finanziert werden müssen (§ 554a Bürgerliches Gesetzbuch) – lassen keine klare Linie des Gesetzgebers zur Lastenverteilung bei der Herstellung von Barrierefreiheit erkennen.

2.2  Begriff der Behinderung Nach § 3 Behindertengleichstellungsgesetz sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Dieser Behinderungsbegriff ist in den Landesgesetzen ganz oder fast wortgleich enthalten und gilt nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch IX auch im Sozialrecht. Er berücksichtigt die internationale Diskussion, die zur International Classification of Disability, Functioning and Health (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) geführt hat.35 Danach ist Behinderung das Ergebnis einer Wechselwirkung aus Funktions- und Aktivitätsstörungen mit behindernden persönlichen und gesellschaftlichen Kontextfaktoren, zu denen wesentlich auch Barrieren der Zugänglichkeit gehören. Ein entsprechendes Verständnis von Behinderung liegt auch der Behindertenrechtskonvention zu Grunde. Die Begrenzung der Definition auf eine gesundheitliche Normabweichung, die länger als sechs Monate dauert, ist aus der ICF nicht zu begründen. Sie hat ihren Sinn im schwerbehindertenrechtlichen Kontext, in dem es um Statusrechte geht, nicht jedoch bei Rechtsvorschriften zur Barrierefreiheit, die regelmäßig nicht auf konkrete behinderte Menschen, sondern auf die Zugänglichkeit für eine unbestimmte Vielzahl behinderter Menschen zugeschnitten sind. Dabei kann es keine Rolle spielen, ob z.B. eine Mobilitätseinschränkung auf eine dauerhafte Lähmung oder auf einen wieder verheilenden Beinbruch zurückzuführen ist. Der Behinderungsbegriff in § 3 BGG ist gleichwohl umfassend. Er erfasst Teilhabestörungen, die aus körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen folgen. Er ist nicht begrenzt auf in irgendeinem Verfahren festgestellte Behinderungen. Damit 35 BT-Drucks. 14/5074, S. 98; zum Zusammenhang zwischen der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) der WHO und dem SGB IX auch Wolfgang Seger, Hans-Martin Schian, Bernd Steinke, Wolfgang Heipertz, Michael Schuntermann: Gesundheits-, sozial-, gesellschafts- und organisationspolitische Auswirkungen der Anwendung der ICF auf eine integrierte Rehabilitation, in: Das Gesundheitswesen 66, 2004, H. 6, S. 393–399.

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zeigt er auch auf, dass der komplementäre Begriff der Barrierefreiheit umfassend zu verstehen ist.

2.3  Begriff der Barrierefreiheit Barrierefreiheit ist in § 4 Behindertengleichstellungsgesetz definiert: „Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind.“ Diese Definition ist so oder ähnlich in den Behindertengleichstellungsgesetzen der Länder erhalten. 36 Sie macht deutlich, dass sich Barrierefreiheit nicht allein auf bauliche Barrieren für mobilitätsbehinderte Menschen bezieht, sondern umfassend jede Art von Barrieren für behinderte Menschen, unabhängig von den der Behinderung zu Grunde liegenden Funktions- und Gesundheitseinschränkungen erfasst. Der Anwendungsbereich umfasst alle gestalteten Lebensbereiche und ist damit jedenfalls in einem entwickelten Industrie-, Agrar- und Kulturland wie der Bundesrepublik Deutschland sehr umfassend, da kaum noch Lebensbereiche nicht gestaltet sind. Selbst Naturräume wie Nationalparks oder zugängliche Naturdenkmäler gehen in ihrer Gestaltung auf menschliche Entscheidungen zurück. Schranken findet die Barrierefreiheit in diesen Fällen eher darin, dass sie nicht weiter gehen muss als die allgemein übliche Nutzbarkeit. In Art. 9 Abs. 1 Satz 2 Behindertenrechtskonvention werden – nicht abschließend – hervorgehoben Gebäude, Straßen, Transportmittel sowie andere Einrichtungen in Gebäuden und im Freien, einschließlich Schulen, Wohnhäusern, medizinischer Einrichtungen und Arbeitsstätten, Informations-, Kommunikations- und andere Dienste, einschließlich elektronischer Dienste und Notdienste. Barrierefreiheit ist als strukturelle Anforderung formuliert, die eine Zugänglichkeit und Nutzbarkeit ohne fremde Hilfe ermöglichen soll. Der Rückgriff auf personale Hilfen kann zwar im Einzelfall richtig und geboten sein, entspricht aber nicht der Barrierefreiheit, sondern ist eine personenbezogene angemessene Vorkehrung im Einzelfall. Es genügt gegen die Forderung nach Barrierefreiheit nicht, geltend zu machen, dass eine öffentliche Einrichtung bislang noch nicht von behinderten Menschen betreten worden sei, um sich aus dem Anwendungsbereich der Norm zu retten. Dies hat 2004 der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg im Fall eines Fitnessstudios entschieden.37 Wäre es anders, ließen sich mit bisherigen Zugangsproblemen stets Neue recht36 § 2 Abs. 3 LBGG SH; § 2 Abs. 3 RhPfLGGBehM; § 4 BbgBGG; Art. 4 BayBGG; § 3 SächsIntegrG; § 3 Abs. 3 SBGG; § 4 BremBGG; § 3 Abs. 1 HessBGG; § 4 HmbGGbM; § 3 LBGGBW; § 5 ThürGlG; § 6 LBGGMV; § 2 Abs. 3 NBGG; § 4a LGBG Berlin; § 4 BGG NRW; § 5 BGG LSA. 37 VGH Baden-Württemberg, NVwZ-RR 2005, 795.

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fertigen. Auch die Bereitstellung gesonderter Räume, die für behinderte Menschen zugänglich sind, kann nach einem Urteil des Oberverwaltungsgericht Niedersachsen unzureichend sein.38 Die Anforderungen an Barrierefreiheit werden durch die Behindertenrechtskonvention, insbesondere Art. 9 BRK, weiter konkretisiert. Art. 9 Behindertenrechtskonvention zeigt auf, dass Zugänglichkeit durch ein Bündel von Maßnahmen erreicht wird, das aus Barrierefreiheit und personenbezogenen angemessenen Vorkehrungen besteht. Personenbezogene angemessene Vorkehrungen sind insbesondere menschliche und tierische Hilfe sowie Mittelspersonen, unter anderem Personen zum Führen und Vorlesen sowie professionelle Gebärdensprachdolmetscher (Art. 9 Abs. 2 e BRK). Voraussetzungen der Zugänglichkeit werden geschaffen durch Schulungen zu Fragen der Zugänglichkeit (Art. 9 Abs. 2 c BRK) sowie die Gestaltung, die Entwicklung, die Herstellung und den Vertrieb zugänglicher Informations- und Kommunikationstechnologien (Art. 9 Abs. 2 h BRK).

2.4  Bindung im öffentlichen Recht Das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes bindet die Dienststellen und sonstigen Einrichtungen des Bundes einschließlich der bundesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts daran, im Rahmen ihres Aufgabenbereichs die Benachteiligung von behinderten Menschen zu beseitigen und zu verhindern sowie die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft möglich zu machen und eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen sowie sie nicht zu benachteiligen (§ 7 Abs. 1 BGG) und zivile Neubauten sowie große zivile Um- oder Erweiterungsbauten entsprechend den allgemein anerkannten Regeln der Technik barrierefrei zu gestalten (§ 8 Abs. 1 BGG). Die Landesgesetze binden jeweils unmittelbar die Dienststellen und sonstigen Einrichtungen des Landes. Der Grad der Bindung ist jedoch unterschiedlich bei den Trägern der mittelbaren Staatsverwaltung. So sind in Bayern und Hessen die Gemeinden und Gemeindeverbände39, der Bayerische und der Hessische Rundfunk sowie in Niedersachsen die Sparkassen40 ausgenommen. In Hessen trifft die Gemeinden und Gemeindeverbände stattdessen eine Prüfungspflicht.41 Während der Grad der Bindung an das Benachteiligungsverbot dadurch kaum verändert wird, da das Benachteiligungsverbot für alle Träger der öffentlichen Gewalt ohnehin gilt, erscheint eine gelockerte Bindung der Gemeinden und Gemeindeverbände an die Barrierefreiheit bedenklich. Sie kann allenfalls in den Bereichen reiner Selbstverwaltungsaufgaben akzeptiert werden, während für die Wahrnehmung von 38 39 40 41

OVG Niedersachsen, BauR 2006, 1285 zu einem Gebäude mit mehreren Arztpraxen. Art. 9 Abs. 1 BayBGG; § 9 Abs. 1 HessBGG. § 2 Abs. 1 Satz 2 NBGG. § 9 Abs. 2 HessBGG.

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Staatsaufgaben die Barrierefreiheitsgebote umfassend gelten müssen. Da auch in Bayern und Hessen die Verwaltungen der Kreise, Städte und Gemeinden in erheblichem Maße Staatsaufgaben erfüllen, sei es als Meldebehörden, Ordnungsbehörden, Schulämter und Schulträger, Träger der Sozialhilfe, Kinder- oder Jugendhilfe müssen für alle kommunalen Gebäude, die diesen Aufgaben dienen, die landesgesetzlichen Standards der Barrierefreiheit uneingeschränkt gelten. Für Sozialleistungsträger ist die Barrierefreiheit der Dienstgebäude sowie der Räume, in denen Sozialleistungen erbracht werden, auch ein Gebot des allgemeinen Sozialrechts (§ 17 Abs. 1 Nr. 4 Sozialgesetzbuch I). Damit sind die Träger der Sozialversicherung und die in den Ländern zu Trägern der Sozialhilfe, Kinder- und Jugendhilfe bestimmten Gemeindeverbände und Gemeinde gebunden. Somit sind die Sozialleistungsträger – anders als andere Träger der öffentlichen Verwaltung – auch zur Barrierefreiheit im Baubestand verpflichtet. Sie sind weiterhin verpflichtet, in ihrem Vertragsrecht mit Leistungserbringern wie Vertragsärzten, Krankenhäusern, Diensten und Einrichtungen der Rehabilitation, Pflegeeinrichtungen oder Kindertagesstätten Barrierefreiheit zu vereinbaren und durchzusetzen. Die Gebote der Barrierefreiheit für die öffentliche Verwaltung im Behindertengleichstellungsrecht sind Regeln, die einzuhalten sind. Insbesondere im Planungsrecht sind sie Prinzipien, die mit anderen Prinzipien abzuwägen sind. Dabei haben sie wegen ihrer verfassungsrechtlichen und völkerrechtlichen Fundierung erhebliches Gewicht. Regeln zur Barrierefreiheit können mit anderen Regeln kollidieren, etwa aus dem Denkmalschutz, Naturschutz oder Brandschutz oder mit der Kunstfreiheit.42 In vielen Fällen wird aber vorschnell eine solche Kollision angenommen, während bei hinreichender Prüfung Lösungen zu finden wären. Liegt tatsächlich eine Kollision vor, ist diese nach dem Grundsatz des schonenden Ausgleichs aufzulösen.

2.5  Bindung im Zivilrecht Eine Verpflichtung zur Barrierefreiheit in zivilrechtlichen Rechtsverhältnissen ist nur in einigen Fällen gesetzlich angeordnet. Hier sind § 554a Bürgerliches Gesetzbuch für das Wohnraummietrecht43 und § 3 Abs. 2 Satz 2 Arbeitsstättenverordnung zu nennen. In anderen zivilrechtlichen Rechtsverhältnissen kann sich Barrierefreiheit als Nebenpflicht ergeben, insbesondere wenn Waren und Dienste öffentlich angeboten werden oder Dauerschuldverhältnisse mit behinderten Menschen eingegangen werden. Dabei verbietet es das Allgemeine Gleichstellungsgesetz ein Dauerschuldverhältnis mit einem behinderten Menschen zu verweigern, nur weil dieser behindert ist. Im Einzelnen sind die Auswirkungen von Allgemeinem Gleichbehandlungsgesetz und

42 Dazu VG Berlin v. 30.4.2003, NJW 2003, S. 2927. 43 LG Hamburg v. 29.4.2004, ZMR 2004, S. 914.

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Behindertenrechtskonvention auf die zivilrechtlichen Pflichten in Rechtsprechung und Wissenschaft noch nicht hinreichend aufgearbeitet worden. Eine weitere Möglichkeit der Bindung im Zivilrecht sind Zielvereinbarungen, die zwischen Verbänden behinderter Menschen und Unternehmen oder Unternehmensverbänden geschlossen werden.44 Sie können Mindestbedingungen darüber enthalten, wie gestaltete Lebensbereiche im Sinne der Barrierefreiheit zu verändern sind, um dem Anspruch behinderter Menschen auf Zugang und Nutzung zu genügen. In den Zielvereinbarungen sind Regelungen über den Geltungsbereich zu treffen. Vertragsstrafen können vereinbart werden. Zielvereinbarungen und laufende Verhandlungen werden in einem Zielvereinbarungsregister beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales publiziert. Bislang sind nur wenige Zielvereinbarungen geschlossen worden, was darauf hindeutet, dass die Verbände behinderter Menschen nicht über die nötige Verhandlungsmacht verfügen, um das Konzept mit Leben zu erfüllen.

2.6  Konkretisierung durch Rechtsverordnungen Um den richtigen Inhalt der Regelungen zur Barrierefreiheit erkennen zu können, können detaillierte Regelungen erforderlich sein. Die Behindertengleichstellungsgesetze ermächtigen daher die Regierungen zu Rechtsverordnungen. Hiervon wurde im Bund Gebrauch gemacht durch die Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV)45, die Kommunikationshilfenverordnung (KHV), die Verordnung über barrierefreie Dokumente in der Bundesverwaltung (VBD)46 sowie für das gerichtliche Verfahren durch die Zugänglichmachungsverordnung (ZMV)47. Die Länder haben für diese Bereiche zum Teil eigene Verordnungen erlassen, zum Teil nehmen sie auf die Rechtsverordnungen des Bundes Bezug.

2.7  Konkretisierung durch technische Regelungen Die Regelungen im BGG nehmen zum Teil ausdrücklich Bezug auf den allgemein anerkannten Stand der Technik. Auch dort, wo dieser Terminus nicht verwendet wird, können technische und fachliche Normen in der Rechtsordnung rezipiert werden, um unbestimmte Rechtsbegriffe wie Barrierefreiheit z.B. für das Ordnungsrecht oder das 44 § 5 BGG; vgl. auch Hoffmann in diesem Band. 45 Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik nach dem Behindertengleichstellungsgesetz (BITV) v. 17. Juli 2002 (BGBl. I, 2654). 46 Verordnung zur Zugänglichmachung von Dokumenten für blinde und sehbehinderte Menschen im Verwaltungsverfahren nach dem Behindertengleichstellungsgesetz (VBD) v. 17. Juli 2002 (BGBl. I, 2652). 47 Verordnung zur barrierefreien Zugänglichmachung von Dokumenten für blinde und sehbehinderte Personen im gerichtlichen Verfahren (ZMV) v. 26.2.2007 (BGBl I, 215).

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Haftungsrecht näher zu konkretisieren.48 Hier sind die Regelwerke zu nennen, die vom Deutschen Institut für Normung (DIN) erarbeitet werden. Zu ihnen gehört auch die DIN 18040 (Barrierefreies Bauen). Allerdings können technische und fachliche Normen nicht uneingeschränkt und ungeprüft als Konkretisierung rechtlicher Normen angesehen werden, sondern nur wenn sie mit diesen in Umfang und Ziel übereinstimmen. Zudem kann es erforderlich sein, im Einzelfall von ihnen abzuweichen.

2.8  Konkretisierung durch Zielvereinbarungen Auch zwischen Verbänden behinderter Menschen und Unternehmen oder Unternehmensverbänden abgeschlossene Zielvereinbarungen können den Stand der Barrierefreiheit insoweit konkretisieren, als sie für ihren Geltungsbereich einen Hinweis auf die richtige Konkretisierung des Grundsatzes geben können. Aufsichtsbehörden oder Gerichte könnten vermuten, dass eine Zielvereinbarung, der ein Verband behinderter Menschen zustimmt, das Gebot der Barrierefreiheit richtig konkretisiert. Eine eigene behördliche oder gerichtliche Beurteilung, die hiervon abweicht, ist jedenfalls außerhalb des unmittelbaren Geltungsbereichs der Zielvereinbarung möglich. Ein Verzicht auf gesetzliche Konkretisierung kann – wie im Eisenbahnplanungsrecht deutlich geworden ist – zu Lasten des Anliegens der Barrierefreiheit gehen.49

3. Rechtsdurchsetzung Angesichts der großen Diskrepanz zwischen Norm und Wirklichkeit ist zu fragen, welche Möglichkeiten behinderte Menschen und ihre Verbände haben, um Verstöße gegen die Normen zur Barrierefreiheit geltend zu machen und welche Gremien zur Kontrolle berufen sind.

3.1  Parlamentarische Kontrolle Die Parlamente in Bund und Ländern sind allgemein oder auf Petitionen hin berufen, auf die Umsetzung gesetzlicher Normen durch die Regierung und die ihr unterstehende Verwaltung hinzuwirken. Behinderte Menschen und ihre Verbände können das in Art. 17 Grundgesetz und den Landesverfassungen verankerte Petitionsrecht nutzen, um auf mögliche Missstände hinzuweisen. Die Parlamente stehen zugleich als Haushaltsgesetzgeber in der Verantwortung, Regierung und Verwaltung die nötigen Mittel 48 Zur Bedeutung technischer Normen (DIN) in anderen Rechtsgebieten: BVerwG v. 29.7.2010, NVwZ 2010, S. 1567; BVerwG v. 30.9.1996, DÖV 1997, S. 303; BGH v. 7.7.2010, NJW 2010, S. 3088. 49 BVerwG v. 5.4.2006, BVerwGE 125, 370.

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für die Herstellung von Barrierefreiheit zur Verfügung zu stellen und die Zweckbindung von beispielsweise für Bauvorhaben bestimmten Mitteln hinreichend klarzustellen.

3.2 Aufsichtsbehörden Für die Körperschaften, Anstalten und Stiftungen öffentlichen Rechts bestehen Aufsichtsbehörden, die darauf achten, dass diese nur im Rahmen des geltenden Rechts einschließlich der Behindertengleichstellungsgesetze tätig werden. Für die Sozialversicherungsträger sind dies das Bundesversicherungsamt oder die obersten Sozialbehörden der Länder. Für die Gemeinden und die Gemeindeverbände ist es die landesrechtlich meist bei den Innenministerien angesiedelte Kommunalaufsicht.

3.3 Selbstverwaltung Innerhalb von Körperschaften öffentlichen Rechts wie Gemeinden und Gemeindeverbänden, Sozialversicherungsträgern oder Universitäten bestehen Selbstverwaltungsorgane, die den rechtlichen Rahmen eigenständig ausfüllen. Sie sind auch den gesetzlichen Zielen der Barrierefreiheit verpflichtet und haben bei der Kontrolle der Verwaltungstätigkeit sowie der Aufstellung der Haushalte darauf zu achten, dass diese eingehalten werden. Die Selbstverwaltungsorgane können – oder müssen auf Grund gesetzlicher Vorgaben – dazu Verbände behinderter Menschen in ihrem Wirkungskreis konsultieren oder zu diesem Zweck Beiräte einsetzen bzw. Beauftragte berufen.

3.4  Konsultation der Verbände; Beauftragte und Beiräte Barrierefreiheit und Zugänglichkeit können auch von einer routinierten und sachkundigen Verwaltung besser erkannt und beurteilt werden, wenn behinderte Menschen mit ihrer Alltagserfahrung und Expertise in eigener Sache beteiligt werden. Die Vertragsstaaten der Behindertenrechtskonvention haben sich in Art. 4 Abs. 3 Behindertenrechtskonvention verpflichtet, bei der Ausarbeitung und Umsetzung von Rechtsvorschriften zur Durchführung der BRK und bei anderen Entscheidungsprozessen, die behinderte Menschen betreffen, mit diesen über die sie vertretenden Organisationen enge Konsultationen zu führen und sie einzubeziehen. Die Bundesgleichstellungsgesetze des Bundes und der Länder regeln die Tätigkeit von Beauftragten oder Beiräten auf der jeweiligen Ebene. Sie haben die Aufgabe, bei den jeweiligen Regierungen ressortübergreifend darauf zu achten, dass die Verantwortung des Staates, für gleichwertige Lebensbedingungen behinderter Menschen zu sorgen, erfüllt wird. Bei ihnen sind zumeist auch individuelle Beschwerden möglich. Sie

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erfüllen kommunikative Aufgaben zwischen den Verbänden behinderter Menschen und den jeweiligen Regierungen und können somit auch die Konsultationen im Sinne der Behindertenrechtskonvention organisieren. Für die Aufstellung der Nahverkehrspläne ist eine Konsultationspflicht gesetzlich festgeschrieben.50 Aber auch ohne institutionelle Beauftragte und Beiräte können und müssen Regierungen, Behörden, Körperschaften und Anstalten behinderte Menschen konsultieren, wenn sie den Regelungen zur Barrierefreiheit effektiv genügen wollen. Insoweit könnte zum Beispiel eine unterbliebene Beteiligung der Verbände behinderter Menschen bei der Bauleitplanung51 als Abwägungsmangel gelten.

3.5  Evaluation und Berichterstattung Um zu beurteilen, ob und wieweit die gesetzlichen Pflichten eingehalten werden, bedarf es der Evaluation und transparenten Berichterstattung über den erreichten Stand von Barrierefreiheit und Zugänglichkeit. Die Bundesregierung ist nach § 66 Sozialgesetzbuch IX verpflichtet, die gesetzgebenden Körperschaften über die Lage behinderter Frauen und Männer sowie die Entwicklung ihrer Teilhabe einschließlich der nach dem BGG getroffenen Maßnahmen und die Gleichstellung behinderter Menschen abzugeben und zu möglichen weiteren Maßnahmen der Gleichstellung zu äußern. Bislang ist diese Berichtspflicht in Bezug auf Barrierefreiheit nur unzureichend erfüllt worden. Nach Art. 31 Behindertenrechtskonvention sind die Vertragsstaaten verpflichtet, geeignete Informationen, einschließlich statistischer Angaben und Forschungsdaten zu sammeln, die ihnen ermöglichen, politische Konzepte zur Durchführung der BRK auszuarbeiten und umzusetzen. Die gesammelten Informationen sollen dazu verwendet werden, die Umsetzung der Verpflichtungen aus der BRK zu beurteilen und die Hindernisse behinderter Menschen bei der Ausübung ihrer Rechte zu ermitteln und anzugehen. Die Vertragsstaaten übernehmen dabei die Verantwortung für die Verbreitung der Statistiken und sorgen dafür, dass sie behinderten Menschen und anderen zugänglich sind. Die Umsetzung der Pflichten zur Barrierefreiheit wird auch Evaluation und Berichterstattung auf der Ebene der Länder und Kommunen erfordern, die möglichst nach einheitlichen Kriterien vorgenommen wird.

3.6 Verbandsklagen Mit den Behindertengleichstellungsgesetzen sind im Bund und in den Ländern – außer in Thüringen – eigene Klagerechte der Verbände behinderter Menschen eingeführt 50 § 8 Abs. 3 Satz 4 PBefG. 51 § 1 Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 BauGB.

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worden, die sich gegen die Verletzung von Pflichten zur Barrierefreiheit wenden können.52 Grund dafür ist, dass sich bei Verstößen gegen diese Pflicht oft keine individuell klageberechtigten Personen finden lassen, gleichwohl ein öffentliches Interesse daran besteht, dass diese Verstöße beseitigt werden. Die Verbandsklage setzt eine Anerkennung des klagenden Verbandes durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales voraus. In den Ländern wird zum Teil auf dieses Anerkennungsverfahren Bezug genommen, teilweise werden eigene Kriterien aufgestellt. Die verbandsklagefähigen Rechte sind in den Gesetzen aufgezählt, wobei die Verpflichtung der öffentlichen Verwaltung zur Barrierefreiheit stets dazu gehört. Es hat bislang nur wenige Verbandsklagen gegeben, die zudem nicht erfolgreich waren. Allerdings hat wohl in einigen Fällen die Drohung mit einer Verbandsklage bereits das erwünschte Ergebnis erreichen können. Insgesamt ist aber festzustellen, dass die klageberechtigten Verbände auch nach knapp zehn Jahren noch nicht die nötige Sachkenntnis und Routine für den Umgang mit diesem von ihnen zuvor eingeforderten Instrument haben erreichen können.

3.7 Individualklagen Individuelle Klagen auf Herstellung von Barrierefreiheit setzen voraus, dass eine individuelle Beschwer- und Klagebefugnis besteht.53 Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren wären hierfür noch Kriterien zu entwickeln, die sich an der bisherigen Rechtsdogmatik orientieren. So sind im Bauordnungsrecht, Bauplanungsrecht und Straßen- und Wegerecht Kriterien der individuellen Betroffenheit zu entwickeln, die zum Beispiel behinderten Menschen, die im Nahbereich öffentlicher Einrichtungen wohnen, einen Nutzerschutz mit daraus folgender Klagebefugnis vermitteln.54 Die barrierefreie Zugänglichkeit von Verwaltungsgebäuden und Verwaltungsverfahren, öffentlichen Diensten und Internetangeboten der Verwaltung müsste jeweils für diejenigen Bürgerinnen und Bürger klagefähig sein, die dem entsprechenden Hoheitsträger unterstehen. Im zivilrechtlichen Kontext könnte die Frage der Barrierefreiheit auch bei Klagen auf der Grundlage des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes thematisiert werden, wenn Verträge mit behinderten Menschen über Waren und Dienstleistungen auf Grund mangelnder Barrierefreiheit nicht zustande kommen oder nicht vollzogen werden können, obwohl der Vertragspartner zur Barrierefreiheit zum Beispiel seiner 52 Art. 16 BayBGG; § 15 BerlLGBG; § 10 BbgBGG; § 12 BremBGG; § 10 RhPfLGGBehM; § 9 Abs. 2 SächsIntegrG; § 17 Abs. 1 BGStG LSA; § 3 SHLBGG; § 17 HessBGG; § 12 HmbGGbM; § 12 LBGGBW; § 20 ThürGlG; § 15 LBGGMV; § 13 NBGG; Steinbrück (Anm. 32) S. 157, 161ff.; Sabine Schlacke: Verbandsklagerechte im Behindertenrecht, in: Beiträge zum Recht der sozialen Dienste und Einrichtungen, 2003, H. 52, S. 60ff. 53 VGH Baden-Württemberg v. 24.3.2010, ESVGH 60, 225; VG Aachen v. 19.5.2009, Az. 2 K 1903/08. 54 Uwe Jürgens: Barriere- und diskriminierungsfreier Zugang zu öffentlichen Gaststätten, Frankfurt/M.: Peter Lang, 2008, S. 141ff.

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Geschäfts- oder Veranstaltungsräume oder eines Mietobjekts verpflichtet war. Führt mangelnde Barrierefreiheit zu Schäden, könnte das Thema auch in Haftungsprozessen angesprochen werden. Auch hier liegt bislang keine einschlägige Rechtsprechung vor. Im arbeitsgerichtlichen Verfahren könnte die mangelnde Barrierefreiheit von Arbeitsstätten in Kündigungsschutzverfahren thematisiert werden, wenn eine Weiterbeschäftigung nur unter barrierefreien Umständen möglich erschiene. Insbesondere in diesem Kontext kann die Einhaltung arbeitsschutzrechtlicher Verpflichtungen weitreichende Folgen haben. Im Übrigen ist hier schon im Vorfeld das Wächteramt der Sicherheitsbeauftragten, der Berufsgenossenschaften, des Betriebs- oder Personalrats und der Schwerbehindertenvertretung zu aktivieren, auch um barrierefreie Arbeitsstätten als Teil des Gesundheitsschutzes durchzusetzen.55 Auf verfassungsrechtlicher Ebene könnten unzureichende gesetzliche Grundlagen der Barrierefreiheit als Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot angesehen werden und zum Beispiel im abstrakten Normenkontrollverfahren des Bundesverfassungsgerichts oder der Landesverfassungsgerichte überprüft werden. Da das Kernproblem aber weniger die gesetzlichen Grundlagen als vielmehr deren Vollzugsdefizite zu sein scheinen und auch in den Fällen, in denen Barrierefreiheit nicht ausdrücklich als gesetzliches Ziel genannt ist, eine verfassungskonforme Anwendung des Rechts in Betracht kommt, sind verfassungsgerichtliche Verfahren wohl nicht das vorrangige Forum für rechtliche Auseinandersetzungen auf diesem Gebiet.

3.8  Durchführung und Überwachung der Behindertenrechtskonvention Die Vertragsstaaten der Behindertenrechtskonvention haben sich verpflichtet, innerstaatlich Anlaufstellen für die Durchführung der Konvention zu schaffen (Art. 31 Abs. 1 Behindertenrechtskonvention). Hier ist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales benannt worden. Weiterhin ist auch ein unabhängiger Mechanismus zur Beobachtung geschaffen worden (Art. 31 Abs. 2 BRK). Diese Monitoring-Stelle ist beim Deutschen Institut für Menschenrechte angesiedelt worden. Die Vereinten Nationen haben einen Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen bei der Hohen Kommission für Menschenrechte in Genf eingerichtet (Art. 34 BRK). Die Bundesrepublik Deutschland wird diesem Ausschuss im Abstand von zwei Jahren berichten (Art. 35 BRK), erstmals 2011.

3.9  Internationale Überwachung Nach dem von der Bundesrepublik Deutschland ohne Vorbehalte ratifizierten Fakultativprotokoll zur Behindertenrechtskonvention können Einzelpersonen und Perso55 LAG Hamburg v. 17.8.2007, AiB 2008, S. 101.

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nengruppen Mitteilungen an den Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen richten, wenn sie behaupten, Opfer einer Verletzung des Übereinkommens durch den betreffenden Vertragsstaat zu sein. Voraussetzung ist, dass die innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft worden sind, es sei denn, dass das Verfahren unangemessen lange dauert. Der Ausschuss kann den Vertragsstaat in dem Verfahren auffordern, Stellung zu beziehen und weitere Untersuchungen veranlassen. Die Ergebnisse werden dem Vertragsstaat mitgeteilt. Unmittelbare Sanktionen oder Rechtswirkungen sind mit dem Verfahren nicht verbunden. Es ist aber zu vermuten, dass die Bundesrepublik Deutschland sich anstrengen würde, dass keine Menschenrechtsverletzungen durch den Ausschuss festgestellt werden.

4. Schluss Die Zugänglichkeit öffentlicher Verwaltungen, Dienste und Einrichtungen ist eine Voraussetzung dafür, dass behinderte Menschen gleichberechtigt mit anderen an der Gesellschaft, am Arbeitsleben, an Bildung, Kultur und Wirtschaftsleben teilhaben und von ihren Grund- und Menschenrechten Gebrauch machen können. Die barrierefreie Gestaltung und Planung sind eine wesentliche Voraussetzung der Zugänglichkeit, insbesondere, soweit diese nicht über teure, nicht immer erreichbare und im Fürsorgesystem verortete Assistenzleistungen erreicht werden soll. Es kommt teurer und ist weniger effektiv, wenn behinderte Menschen einen gesonderten Fahrdienst benötigen, weil sie öffentliche Verkehresmittel nicht benutzen können oder wenn sie eine Vorlesekraft brauchen, weil Internetseiten nicht auf sehbehinderte Menschen eingerichtet sind. Obwohl die Barrierefreiheit in der deutschen Rechtsordnung seit 2002 gesetzlich für weite Bereiche des öffentlichen Lebens verankert ist, steht die faktische Rezeption in großen Teilen der Verwaltung und der Wirtschaft noch aus. Auch die Verbände behinderter Menschen und andere sozialpolitisch relevante Organisationen – wie Sozialverbände, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände – scheinen die Relevanz des Themas noch nicht erkannt zu haben. Die demografische Entwicklung sorgt dafür, dass ein immer größerer Teil der Bevölkerung auf Barrierefreiheit angewiesen ist. Staat, Bildungswesen und Wirtschaft dürfen und können es sich nicht mehr leisten, schon durch ihre Gestaltung viele Bürgerinnen und Bürger auszuschließen. Das Recht hält die Instrumente vor, um die nötigen Entscheidungen zu treffen und Konflikte zu führen. Bund, Länder, Städte, Gemeinden, Kreise, Sozialversicherungsträger, Stiftungen und Anstalten sollten in Aktionsplänen den Weg zur Zugänglichkeit öffentlicher Dienste und Einrichtungen skizzieren und dabei die Verbände behinderter Menschen einbeziehen. Diese sollten konfliktbereit bleiben und notwendige Änderungen auch durch öffentlichen Druck und auf dem Klageweg einfordern.

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Behindert sein oder behindert werden? Zu Fragen von Ethik und Behinderung

Die gesellschaftliche Verantwortung zur Herstellung von Barrierefreiheit ergibt sich aus dem Wandel der Sichtweise von Behinderung und dem Wandel im Umgang mit Menschen mit Behinderung. Dieser Wandel wurde durch die Selbsthilfebewegungen der 1970er und 1980er Jahre eingeleitet und bildet sich derzeit am klarsten in der UNKonvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen von 2006 ab. Was aber begründet ethisch die Verantwortung zur Barrierefreiheit? Die Basis bildet das Selbstbestimmungsrecht. Barrierefreiheit begründet sich aus dem Selbstbestimmungsrecht der Menschen mit Behinderung. Die Verwirklichung von Selbstbestimmung ist bei Menschen mit Behinderung aber in vielfältiger Weise auch auf Schutz, „care“ und Verantwortung der Gesellschaft angewiesen; daher werden die spezifischen Beiträge der Care-Ethik und des Konzepts der Inklusion zur ethischen Begründung der gesellschaftlichen Verantwortung referiert.

1.  Der Ausgangspunkt Ende der 1960er Jahre hat sich, ausgehend von der Independent-Living-Bewegung in Kalifornien, ein gravierender Wandel im Verständnis von Behinderung und im Umgang mit Menschen mit Behinderung vollzogen. Dies betrifft sowohl die Definition und das Verständnis von Behinderung als auch die Anerkennung der Ansprüche und Rechte von Menschen mit Behinderung auf ein Leben mitten in der Gesellschaft. Der Ausgangspunkt dieses Wandels liegt in der Selbsthilfebewegung der Menschen mit Behinderung, die sich gegen die Etikettierung als Kranke und die abhängig machende und entwürdigende Behandlung als Almosenempfänger wehrten. Von hier führen die Linien in die Debatten um Gleichbehandlung, Teilhabe, Selbstbestimmung und Inklusion. Die Entwicklung zu einem offenen und positiv unterstützenden Umgang mit Behinderung und mit Menschen mit Behinderung als gleichberechtigten Mitbürgern kann aber keinesfalls als abgeschlossen angesehen werden. Im Gegenteil: Es herrscht ein eklatanter Widerspruch zwischen den mittlerweile anerkannten rechtlichen Ansprüchen von Menschen mit Behinderung auf Teilhabe und Inklusion und ihrer gesellschaftlichen Umsetzung. Damit kommt der sozialethischen Debatte eine besondere Bedeutung zu.

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Wesentlichen Einfluss auf die frühe Debatte um den Begriff von Behinderung als Krankheit oder als Variante des Lebens und den Anspruch von Menschen mit Behinderung auf gesellschaftliche Teilhabe hatten die Selbsthilfebewegungen der Menschen mit Behinderung selbst, insbesondere die Independent-Living-Bewegung in den USA. Sie entstand Ende der 1960er Jahre an der Berkeley Universität in Kalifornien, wo sich körperlich schwerbehinderte Studierende zusammenschlossen und eine Konzeption für autonomes Wohnen behinderter Menschen in der Gemeinde entwickelten. Ihre Zielvorstellung war es, selbstbestimmte persönliche Assistenz als Voraussetzung der Alltagsbewältigung und der gesellschaftlichen Teilhabe zu organisieren oder, anders ausgedrückt, ein Leben, wie andere Menschen auch, mitten in der Gemeinde und der Gemeinschaft möglich zu machen. Wesentliche Elemente des Konzeptes waren von Anfang an die Unabhängigkeit von Institutionen, von Familienangehörigen, aber auch von unzureichenden öffentlichen Dienstleistungen. Heute gibt es in den USA ein dichtes und anerkanntes Netz von Zentren der Independent-Living-Gruppen, in denen überwiegend körper- und sinnesbehinderte Menschen in eigener Verantwortung ihre Angelegenheiten selbst organisieren und sich untereinander beraten. Besonders erfolgreich ist dabei das Konzept des Peer Counseling, d.h. Behinderte beraten Behinderte, bei dem Erfahrungen und Wissen, das in eigener Betroffenheit erworben wurde, an gleich Betroffene weitergegeben wird.1 Mit dieser Konzeption ist die Überzeugung verbunden, dass die Betroffenen die besten Experten in eigener Sache sind. Die Independent-Living-Bewegung in den USA versteht sich als Teil des Empowerment-Ansatzes im Sinne einer selbst organisierten kollektiven Aktion zur Verbesserung der Situation von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft. Von der Independent-Living-Bewegung gingen wirkungsvolle Aktionen und Aktivitäten gegen die Institutionalisierung von Menschen mit Behinderung in großen Heimen und Anstalten aus, vor allem gegen paternalistische und übergriffigfürsorgliche Handlungskonzepte und für die Normalisierung der Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung. Zeitgleich mit der Ausbreitung der Independent-Living-Bewegung in den USA entwickelte sich in Deutschland in der langsam anlaufenden kritischen öffentlichen Auseinandersetzung mit der Situation vieler Menschen mit Behinderungen in Anstalten und Großeinrichtungen der „Club der Behinderten und ihrer Freunde 1968“, kurz „Club 68“, in dem Behinderte und Nicht-Behinderte zusammenarbeiteten und das Ziel der Emanzipation von Menschen mit Behinderung verfolgten. Ende der 1970er Jahre entstand in Abgrenzung dazu die sich als sehr viel radikaler definierende „Krüppelbewegung“ als ein Zusammenschluss selbst organisierter regionaler Gruppen von Menschen mit Behinderung gegen Diskriminierung, Benachteiligung und Unterbringung in Pflegeheimen, Anstalten und Psychiatrien. Die Auseinandersetzung mit den 1 Vgl. Marsha Saxton: Peer Counseling, in: Nancy M. Crewe, Irving Kenneth Zola (Ed.): Independent living for physically disabled people, San Francisco, Calif.: Jossey-Bass, 1983, S. 175–193; Udo Sierck: Autonom Leben – Erfahrungen meiner Reise in die USA, in: Behindertenpädagogik 27, 1988, H. 3, S. 304–308.

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verschiedenen Möglichkeiten selbstbestimmten Lebens auch schwerstbehinderter Menschen führte dazu, dass sich eine Fülle neuer regionaler Gruppen formierte, die heute unter dem Dach der Interessenvertretung „Selbstbestimmt Leben“ (ISL) zusammengeschlossen sind.2 Zentrales Anliegen auch der deutschen Selbstbestimmt-Leben-Bewegung ist, dass der Einzelne Wahl- und Kontrollmöglichkeiten bezüglich seiner eigenen Lebensführung hat, einschließlich der Wahl der Wohnform, des Wohnorts, der Tagesgestaltung sowie der Auswahl und der Kontrolle über den Einsatz der jeweiligen Assistenten. Der Mensch mit Behinderung als der Arbeitgeber seiner Assistenten ist das wohl radikalste Gegenmodell zur Pflegeeinrichtung, in welcher der Mensch mit Behinderung meist das schwächste Glied in der Kette ist. Assistenzgenossenschaften im oben skizzierten Sinne gibt es bisher allerdings erst an wenigen Orten.3 Die Diskrepanz zwischen den Zielen der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung und der gesellschaftlichen Realität, in der der überwiegende Teil der Menschen mit Behinderung lebt, ist immer noch gravierend. Gleichwohl ist der gedankliche Einfluss auf die öffentliche Diskussion, den Wandel im Verständnis von Behinderung und die Anerkennung der Ansprüche von Menschen mit Behinderung, mitten in der Gesellschaft unabhängig und selbstbestimmt zu leben, dank der unüberhörbaren und unübersehbaren Aktivitäten der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung in Deutschland seit den 1980er Jahren äußerst groß.

2.  Der Wandel des Begriffs der Behinderung Der Wandel im Verständnis von Behinderung lässt sich besonders gut am Wandel der Definition von Behinderung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verdeutlichen. In der Definition von 1980 wird Behinderung als körperliche, geistige und seelische Beeinträchtigung definiert, deren Ursachen in der Person selbst liegen. Die Person braucht deshalb Heilung und Pflege, um – zugespitzt ausgedrückt – gesund zu werden, sich zu verbessern oder ihr Verhalten so zu ändern, dass sie angepasst leben kann. Das damalige Klassifikationssystem für Behinderung trägt den Titel „International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps, ICIDH“, wobei „Impairment“ als Schädigung und Verminderung von Körperfunktionen aufgefasst wird, „Disability“ als

2 Gusti Steiner: Selbstbestimmung und Assistenz, in: Gemeinsam leben – Zeitschrift für integrative Erziehung 1999, H. 3, S. 104–110, . 3 Die erste Assistenzgenossenschaft, bei der sich Menschen mit Behinderung zu einer Genossenschaft zusammenschlossen und Assistenten einstellten, die den Genossenschaftsmitgliedern in allen alltäglichen Dingen persönliche Assistenz geben, hat sich 1991 in Bremen gegründet. 1998 hatte sie nach eigenen Angaben 70 Mitglieder, davon 51 Assistenznehmer, und 226 Assistenten. Weitere Assistenzgenossenschaften existieren in Hamburg und in Wien.

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schädigungsbedingte Einschränkung und „Handicap“ als Benachteiligung auf Grund einer Schädigung.4 Als Folgen dieses alten Verständnisses von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit lassen sich zwei Punkte hervorheben: Zum einen waren die Medizin, die Pflege, die Pädagogik, die Sozialarbeit und die Psychologie aufgerufen, die Anpassung der Betroffenen im Sinne einer Defizitbehebung zu verbessern. Zum anderen hatten die Menschen mit Behinderung die Aufgabe, ja geradezu die Verpflichtung, sich mit diesen Hilfestellungen auch tatsächlich zu verändern, zu verbessern, sich anzupassen und ihre Defizite zu überwinden. Zusammengefasst kann man dieses alte Verständnis von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit als medizinische Sichtweise bezeichnen. Der Einzelne wird als Träger von Eigenschaften aufgefasst, die ursächlich für seine Pflege- und Hilfebedürftigkeit sind. Behinderung, Einschränkung, Anderssein wird zur Krankheit erklärt und oft mit Leiden gleichgesetzt. Dienstleistungen der Hilfe und der Pflege werden zu Behandlungen von Defekten und Defiziten, die zu beseitigen oder zumindest zu kompensieren sind. Rehabilitationsziele sind demnach in einem jeweils engen Zeitraster erfolgs- und leistungsorientiert und erzeugen bei den Rehabilitanden ebenso wie den Beschäftigten der behandelnden Einrichtung Erfolgsdruck. Die Disziplinen der Sozialarbeit, Pädagogik, Psychologie und Pflege hatten zu jener Zeit diese Sichtweise von der Medizin weitgehend übernommen, weshalb man diese Phase auch als die der Medizinisierung des Umgangs mit Behinderung bezeichnen kann. Auch die Rolle der Helfenden ist bei dieser Sichtweise von Hilfe- und Pflegeabhängigkeit klassisch strukturiert. Es ist das Bild der Fürsorge, der vollständigen Verantwortungsübernahme für den leidenden Hilfe- und Pflegeabhängigen, die entweder aus religiöser Überzeugung oder auch aus humanitärer Gesinnung geschieht. Damit wird in beiden Fällen eine Hilfe von oben nach unten, kaum eine auf gleicher Augenhöhe impliziert. Diese Art der Hilfe ist zwar in vielen Fällen nicht fern von Liebe und Zuwendung, aber fern der Anerkennung des jeweils Anderen als selbstständigen Menschen, der abweichend von der Norm ist und auch bleiben kann und der sich selbst meist nicht als leidend versteht, sondern Anerkennung und Unterstützung will, um sein Leben selbst zu führen. 2001 vollzieht die WHO vor dem Hintergrund der weltweit erstarkten Selbsthilfebewegungen von Menschen mit Behinderung einen radikalen Perspektivenwechsel, dem das neue Selbstverständnis vieler Betroffener zugrunde liegt. Behinderung wird jetzt als biologisches, psychisches und soziales Phänomen aufgefasst, dabei werden aber die Kontext gebundenen Umweltfaktoren und gesellschaftlichen Bedingungen viel stärker als im Vorgängermodell betont und die Ausprägung der Behinderung als wesentlich durch die gesellschaftlichen Bedingungen verursacht verstanden. Das seit 2001 international gültige Klassifikationssystem hat ganz im Sinne dieses Grundver4 Vgl. hierzu Barbara Fornefeld: Einführung in die Geistigbehindertenpädagogik. Mit 5 Tabellen und 59 Übungsaufgaben, München [u.a.]: Reinhardt, 22002.

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ständnisses den Titel „ICF“ für „International Classification of Functioning, Disability and Health“.5 Diese Begrifflichkeit steht für den Wandel von einem medizinischen zu einem biopsychosozialen Modell, weil es nicht mehr um eine individuelle Defizitbetrachtung geht, sondern um Handlungsmöglichkeiten und Gesundheit, die biologisch, psychisch und sozial bedingt verstanden und erfasst werden. Kritiker sagen jedoch, dass das medizinische Denken damit noch nicht ausreichend überwunden wurde, weil das Modell immer noch stärker von einer Krankheitsfolgenbewertung ausgehe und nicht deutlich zwischen Schädigung als individuellem Merkmal und Behinderung als Folge von Aktivitätsbeeinträchtigung durch gesellschaftliche Benachteiligung unterscheide. Dennoch wird die Definition der WHO von 2001 als Wende verstanden: Der Blick richtet sich nicht mehr darauf, dass ein Mensch behindert ist, sondern dass er behindert wird. Das, worunter Menschen mit Behinderung ihren eigenen Angaben nach in erster Linie leiden, sind nicht ihre körperlichen, sinnesbedingten, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen. Vielmehr sei es die Erfahrung, dass sie aufgrund dieser Merkmale abgelehnt, nicht ernst genommen, unter Druck gesetzt würden, sich entmündigenden und herabwürdigenden Hilfe- und Pflegeprozeduren zu unterwerfen oder sich möglichst rasch zu verändern oder anzupassen hätten. So werde es ihnen schwer gemacht wird, ein normales Leben unter anderen Menschen zu führen. Beispiele für gesellschaftlich verursachte und deshalb auch gesellschaftlich zu verändernde Schwierigkeiten sind: mobil zu sein und an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, auch wenn man körperlich behindert ist; Texte zu verstehen, auch wenn sie schwierige Dinge betreffen, auch wenn man lern- oder geistig behindert ist; Informationen zu verstehen, die entweder nur gesprochen sind oder nur über ein Bild vermittelt werden, auch wenn man sinnesbehindert ist. Die Folgen des radikalen Sichtweisenwechsels von 1980 auf 2001 lassen sich so zusammenfassen: Nicht mehr die Heilung, die Besserung und die Anpassung des Individuums stehen im Vordergrund des Umgangs mit Menschen mit Behinderung, sondern Ziel ist es, eigene Aktivitäten und gesellschaftlicher Teilhabe aller durch die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu ermöglichen. Nicht mehr der Einzelne ist alleine für seine Teilhabe an der Gesellschaft verantwortlich, sondern die Gesellschaft steht in der Verantwortung, die materiellen, gesetzlichen und auch moralischen Ressourcen für diese Teilhabe zur Verfügung zu stellen.

5 Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI, Köln), World Health Organization (WHO, Genf ) (Hg.): ICF – Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, unveränd. Nachdr. Köln: DIMDI, 2010 (12002), .

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3.  Barrierefreiheit als Folge des Sichtweisenwechsels Barrierefreiheit ist ein gutes Beispiel für die soziale Sichtweise von Behinderung und die daraus erwachsende gesellschaftliche Verantwortung. Barrierefreiheit ermöglicht eigene Aktivitäten und gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Für den Abbau von Barrieren – unabhängig davon, ob es sich um den gleichberechtigten Zugang zur physischen Umwelt (Transportmittel, Gebäude) oder zur virtuellen Umwelt (Informationssysteme, Kommunikation) handelt – sind gesellschaftliche Gruppen oder staatliche Stellen verantwortlich. Barrierefreiheit ist aber auch deshalb ein treffendes Beispiel, weil sie so einfach zu verstehen und doch so schwierig durchzusetzen ist. Menschen, die gehbehindert sind oder einen Rollstuhl nutzen, sind seit jeher Opfer nicht nur hoher Bordsteinkanten, sondern aller möglichen Orte, die nur über Treppen erreichbar sind. Die bisherige Sichtweise von Behinderung besagt, dass alle Menschen, die diese Treppen oder Bordsteinkanten nicht überwinden können, eben andere Wege nutzen, das Museum über den Hinter- oder Nebeneingang betreten, sich Begleiter suchen oder auf andere Ziele oder andere Verkehrsmittel ausweichen müssen. Wären – so legt es die neue Sichtweise nahe – alle Örtlichkeiten barrierefrei, ihre Zugänglichkeit ohne Diskriminierung möglich und Personen mit körperlichen Einschränkungen nicht mehr vom öffentlichen Leben ausgeschlossen, bliebe ihnen die permanente Demütigung durch Verweise auf Hintereingänge oder Behindertenfahrdienste erspart. Ein wichtiges Argument für die Befürworter der Barrierefreiheit ist auch: keiner anderen Person würde damit geschadet, im Gegenteil, die Barrierefreiheit würde allen Personen, z.B. solchen, die aufgrund einer Krankheit oder eines Unfalls vorübergehend eingeschränkt sind oder die an diesem Tag eine schlechte Form haben, zugute kommen. Dieser Nutzaspekt lässt sich durchaus verallgemeinern: Wenn alle Filme schriftliche Untertitel haben, können alle Menschen mit Höreinschränkungen unabhängig von weiterer Hilfe teilhaben, aber auch für hörende Menschen bietet dieser Weg die Möglichkeit, das Gehörte zu überprüfen. Wenn alle optischen Signale mit akustischen Signalen übersetzt werden, können nicht nur Menschen mit Sehbehinderung am Verkehr teilnehmen, sondern es erhöht sich auch die Sicherheit für alle anderen Menschen durch Doppelsignale. Wenn alle Texte – vornehmlich Texte und Formulare von Behörden – zweisprachig (Normalsprache und Leichte Sprache) gestaltet werden, werden nicht nur Menschen mit Lernschwierigkeiten profitieren, sondern alle, denen z.B. das Verstehen bestimmter öffentlicher Verlautbarungen schwerfällt. Dennoch gibt es sicher Einwände. Nicht alles lässt sich barrierefrei gestalten oder kommunizieren. Darüber hinaus wird es den Einwand der Finanzierbarkeit geben. Barrierefreiheit ist meist aufwändig und damit immer eine Frage der Ressourcenallokation und der ethischen Abwägung. Wer alle U-Bahnhöfe mit Aufzügen ausbauen will, muss begründen, warum dies möglicherweise Priorität vor anderen Aufgaben haben soll.

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Was also begründet die gesellschaftliche Verantwortung zur Barrierefreiheit ethisch? Ihre Deklamation durch das heutige Verständnis von „behindert werden“ statt „behindert sein“ reicht dazu nicht aus. Was könnte bei einer ethischen Abwägung, warum diese Verantwortung wahrgenommen werden soll, den Ausschlag vor anderen Aufgaben geben? Sind es utilitaristische Begründungen, dass Barrierefreiheit letztlich auch vielen anderen Bürgern dient? Was wäre dann aber, wenn dies nicht der Fall ist, wie beispielsweise bei manchen Maßnahmen der Barrierefreiheit für Blinde (Brailleschrift können nur wenige lesen)? Oder könnten kontraktualistische Begründungen greifen? Eine solche könnte sein: Die Regierung hat die UN-Konvention und damit auch die Verpflichtung zur Barrierefreiheit unterschrieben, jetzt müssen alle öffentlichen und privaten Stellen diesen Auflagen – auch ohne innere Überzeugung in der Sache, wohl aber aus rechtsstaatlicher Überzeugung – nachkommen. Oder könnten der Wahrnehmung der Verantwortung zur Gewährleistung der Barrierefreiheit weiter reichende grundrechtliche, gesellschaftliche und humanistische Einsichten zu Grunde liegen?

4.  Die UN-Konvention von 2006 als Schlüssel Die UN-Generalversammlung hat im Dezember 2006 die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verabschiedet, und 2008 hat der Deutsche Bundestag die Behindertenrechtskonvention ohne Vorbehalt ratifiziert.6 Mit der Ratifizierung gehen die Regelungen der Konvention in nationales Recht über, d.h. deutsche Gesetze müssen nun der Konvention angepasst werden. Im Folgenden sollen nicht die rechtlichen Regelungen einzeln aufgeführt, sondern die rechtsethischen Grundsätze und damit die sozialethischen Implikationen der neuen Rechtsstatuten näher betrachtet werden. Die UN-Konvention markiert den endgültigen Wechsel vom medizinischen Modell zu einem sozialen Modell von Behinderung. Sie stellt den betroffenen Menschen mit seinem Willen und seinen Wünschen in den Mittelpunkt und macht sein Wohl zum Maßstab aller Unterstützung für ein selbstbestimmtes Leben unter Berücksichtigung der individuellen Fähigkeiten und Eigenschaften des Einzelnen. Die Konvention fordert grundsätzlich die Abkehr vom stellvertretenden Handeln und eine Hinwendung zu einer Unterstützung bei der Ausübung der eigenen Rechts- und Handlungsfähigkeit.7 Damit steht sie praktisch für den Wandel von ersetzenden Hilfen, bei denen der

6 Deutscher Bundestag: Gesetzentwurf der Bundesregierung. Bundestags-Drucksache 16/10808. Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Köln: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft, 2008. 7 In der englischen Originalversion der Konvention wird hierfür stets der Begriff „support“ (Unterstützung) verwendet, der an die Stelle aller Formen der auf „substitute“ (Ersetzung) aufbauenden Hilfen treten soll.

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Helfende für den Hilfebedürften eine Aufgabe übernimmt und ausführt, zur Eigenaktivität fördernder und anbahnender Assistenz. Im Artikel 3 der Konvention werden acht Grundsätze benannt, von denen die ersten vier und der achte sozialethische Prinzipien sind: (1) Respekt vor der Würde und individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen (2) Nicht-Diskriminierung (3) Inklusion im Sinne eines vorbehaltlosen Einbezogenseins in die Gesellschaft und Partizipation im Sinne einer effektiven Teilhabe an der Gesellschaft (4) Achtung vor der Differenz und Akzeptanz von Menschen mit Behinderungen als Teil der menschlichen Verschiedenheit und Humanität (5) Chancengleichheit (6) Barrierefreiheit (7) Gleichheit zwischen Männern und Frauen (8) Respekt vor den sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern mit Behinderungen und Achtung ihres Rechts auf Wahrung ihrer Identität Im Artikel 1 der Konvention wird als Hauptziel angegeben, „den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderung zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und durch Achtung der Ihnen innewohnenden Würde zu fördern.“ Die Konvention folgt damit dem Rechtsgedanken, der auch den UN-Konventionen zu den Frauenrechten und den Kinderrechten zugrunde liegt. Diese Konventionen enthalten gerade keine Sonderrechte für diese Gruppen, sondern berücksichtigen ihre besonderen Schwierigkeiten, an den Menschenrechten zu partizipieren. Insofern ist auch die Behindertenrechtskonvention keine Konvention der Sonderrechte für Menschen mit Behinderung. Sie konkretisiert und präzisiert vielmehr den sich aus der unverwirkbaren Menschenwürdegarantie ergebenden Menschenrechtsschutz für die Gruppe der Menschen mit Behinderung, weil sie in besonderer Weise Schwierigkeiten beim Zugang zu diesen Grundrechten haben und Gefährdungen ausgesetzt sind. Rechtsphilosophisch betrachtet ist dabei hervorzuheben, dass die Konvention die Freiheitsrechte auf Selbstbestimmung und die Sozialrechte auf Schutz vor Ausgrenzung und Diskriminierung in gleicher Weise als Menschenrechte formuliert. Sie zieht damit die Lehren aus den Deklamationen der reinen Freiheitsrechte, von denen Menschen, die schwach, abhängig oder weit weg von den gesellschaftlichen Ressourcen sind oder für die gesellschaftliche Barrieren bestehen, nicht profitieren können, weil ihnen die sozialen Schutzgarantien für die Erreichbarkeit der Freiheitsrechte fehlen. Die Konvention folgt damit dem Gedanken, dass die Menschenwürde erst wirksam wird, wenn die individualethisch begründeten Freiheitsrechte („autonomyrights“) auf Selbstbestimmung, auf Persönlichkeitsentfaltung, auf Individualität und auf Meinungsfreiheit verbunden werden mit sozialethisch begründeten Schutzrech-

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ten („care-rights“).8 Diese umfassen Inklusion im Sinne der Sicherung der leiblichen und sozialen Bedingungen eines Lebens mitten in der Gesellschaft, mit dem Anspruch auf angemessene Behandlung von Krankheit und angemessenen Umgang bei Hilfebedürftigkeit. Für die ethische Diskussion stehen damit zwei Begriffe im Mittelpunkt: Selbstbestimmung und Inklusion, deren Thematisierung weit über den Umgang mit Menschen mit Behinderung hinausreicht und das Selbstverständnis der Gesellschaft betrifft.

5.  Selbstbestimmung als zentrale Kategorie der Freiheit Die UN-Konvention eröffnet ein neues Verständnis von Selbstbestimmung, dem eine generelle Bedeutung zukommt. Der Begriff der Selbstbestimmung – im Sinne von „ich bestimme selbst, was dem Selbst obliegt, was es konstituiert, was es überblickt, was es bestimmen kann“ in Abgrenzung zur „Hinein-Entscheidung Anderer in diesen Selbstbereich“ und zu Fremdbestimmung – ist ein äußerst voraussetzungsreicher Begriff. Selbstbestimmung kann in der klassischen Trias gefasst werden: anders können, Gründe haben und die eigene Urheberschaft anerkennen.9 Psychologisch heißt dies, dass selbstbestimmte Entscheidungen kognitive Kompetenzen zur Voraussetzung haben, wie z.B. das Verstehen wesentlicher Informationen, das Beurteilen dieser Informationen im Lichte eigener Werte, das Entwerfen eines bestimmtes Ergebnisses und das Antizipieren seiner Anwendung. Das Selbstbestimmungskonzept in diesem Sinne wirft somit die Frage der „unteren Grenze“ auf, unterhalb derer es keine Möglichkeit zur Selbstbestimmung gibt. Hierunter könnten leichtfertig Menschen gezählt werden, die keine oder nachlassende oder eingeschränkte Fähigkeiten der Informationsverarbeitung, der Beurteilung und der Entscheidung haben. Betroffen von dieser Frage sind nicht nur Menschen mit Behinderung, sondern auch Menschen mit chronischen Erkrankungen, Menschen mit psychischen Erkrankungen und Menschen mit Demenz. Die UN-Konvention besagt, dass das Recht auf Selbstbestimmung in diesen Fällen erst wirksam werden kann, wenn gleichwertige, sozialethisch begründete Schutzrechte auf „care“, auf Sorge, auf Unterstützung und Begleitung eingelöst werden. Menschen mit Behinderung – so die Botschaft der Konvention – können unterstützende, schützende und hinführende Hilfen im Sinne von „care“ benötigen, um ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen. Ersetzende Hilfen verhindern dagegen 8 Zum Verständnis von „autonomy rights“ und „care rights“ siehe: Hugo Tristram Engelhardt: National health care systems. Conflicting visions, in: Hans-Martin Sass, Robert U. Massey (Eds.): Health care systems: moral conflicts in European and American public policy. Dordrecht [u.a.]: Kluwer Acad. Publ., 1988, S. 3–15. 9 Vgl. Lara Huber: Patientenautonomie als nicht idealisierte „natürliche Autonomie“, in: Ethik Med 18, 2006, Nr. 2, S. 133–147; Hendrik Walter: Neurophilosophie der Willensfreiheit. Von libertarischen Illusionen zum Konzept natürlicher Autonomie, Paderborn: Mentis, 21999.

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Selbstbestimmungsmöglichkeiten. Damit ist eine für die Praxis äußerst wichtige Graduierung der Selbstbestimmung mitgedacht – von voller Selbstbestimmung über assistierte Selbstbestimmung bis zur Teilselbstbestimmung und zur Mitwirkung. Das Recht auf Selbstbestimmung als oberste Maxime des Handelns wird aber auch unter den Bedingungen schwerer Erkrankung oder Einschränkung nicht relativiert. Der damit in den Mittelpunkt tretende Begriff „care“ hat seinen größeren Bezugsrahmen in der Care-Ethik.

6.  Care-Ethik als Bezugsrahmen Der englische Begriff „care“ lässt sich im Deutschen nicht mit einem Wort übersetzen. Er umfasst Bedeutungen wie „sich sorgen um“, aber auch „sorgen für“, so dass der Begriff meistens mit den Verben „sorgen“, „pflegen“, „sich kümmern“ und „achtsam sein“ übersetzt werden kann. Der deutsche Begriff der Sorge bzw. der Fürsorge transportiert noch stärker ambivalente Bedeutungen. Diese reichen von Überwachung, Bevormundung und Kontrolle bis hin zu Schutz, Förderung, Achtsamkeit und Unterstützung. Vor diesem Hintergrund neigen viele Debattenteilnehmer dazu, in der deutschen Debatte den englischen Begriff „care“ zu verwenden. Ein Beispiel hierfür ist Palliative Care für den gesamten Bereich der palliativen ärztlichen, pflegerischen und psychosozialen Versorgung. Gleichwohl könnte es sich zur Vermeidung zunehmender Anglizismen wahrscheinlich lohnen, den deutschen Begriff „Sorge“ wieder einzuführen. In der US-amerikanischen Ethikdebatte wird der Begriff „care“ als „menschliche Bezogenheit aufeinander“ und „Angewiesenheit des Menschen auf den anderen“ und auf dessen achtsame Zuwendung verstanden. Die auf diesem Verständnis aufbauende Care-Ethik stellt die Beziehungen der Menschen untereinander, die Fürsorge, die Verantwortung und die Aufmerksamkeit für den jeweils anderen in den Mittelpunkt und verbindet die Sorge um den Anderen mit der Sorge um das Selbst. Sie ist aus der feministisch beeinflussten Kritik daran entstanden, dass die Bereiche der Sorge, der Fürsorge und der Einsicht in die gegenseitige Verwiesenheit und Angewiesenheit des Menschen den Bereichen des Privaten, des Gefühls und der Religion zugeordnet werden, für die in der gesellschaftlichen Rollenaufteilung die Frauen zuständig sind. Die Verletzlichkeit wird als spezifische Eigenschaft des Menschen gesehen und der Mensch mit Behinderung als ein Mensch, der sich selbst und allen anderen diese Verletzlichkeit deutlich vor Augen führt. In der Care-Ethik wird ein Menschenbild vertreten, wie es auch der UN-Konvention zugrunde liegt, das auf der Menschenwürde aufbaut, die neben den Freiheitsrechten auch die Schutzrechte und damit die allgemeine Verpflichtung zur Übernahme von „care“ durch alle einschließt.10 10 Vgl. z.B. Elisabeth Conradi: Kosmopolitische Zivilgesellschaft. Wandel zur Weltgesellschaft durch gelingendes Handeln, Frankfurt/M.: Campus, 2011; Joan C. Tronto: Moral boundaries. A political argument for an ethic of care, New York [u.a.]: Routledge, repr. 2009.

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Der zentrale Begriff der Care-Ethik ist der Begriff der Achtsamkeit. Achtsamkeit wird als Grundhaltung definiert, die dazu befähigt, die Verbundenheit aller Menschen miteinander zu erkennen, einen an deren Bedürfnissen orientierten Kontakt aufzunehmen und eine sorgende Aktivität gerade bei Ungleichheit der Kommunikationspartner zu gewährleisten. Die Asymmetrie der Sorge-Beziehung gebietet, die jeweilige Besonderheit des Anderen im Blick zu behalten und selbst dabei zu lernen und das eigene Leben besser zu verstehen. Achtsamkeit mit dem Anderen kann nur auf der Achtsamkeit mit sich selbst aufbauen. Das Konzept der Achtsamkeit setzt die Einsicht voraus, dass Menschen füreinander von unermesslicher Bedeutung sind: der Andere für mich, ich für den Anderen. „Don’t turn away from someone in need“, wird von der Psychologin Carol Gilligan als Kernaussage des Care-Konzepts bezeichnet.11 Gemeint ist Zuwenden statt Wegsehen, nicht nur um des Anderen willen, sondern auch um meiner selbst willen. Es geht um ein Sich-Einlassen auf den Anderen, darum, in Beziehung zu gehen, Beziehung zu knüpfen, zu pflegen, zu festigen. Der Mensch wird als stark, autonom und selbstbestimmt, aber gleichzeitig auch als verletzlich, schwach und auf Sorge, Hilfe und Unterstützung angewiesen gesehen. Dabei wird die Verletzlichkeit als spezifische Eigenschaft des Menschen anerkannt und der Mensch mit Behinderung als ein Mensch, der sich selbst und allen anderen die generelle Verletzlichkeit durch sein spezifisches So-Sein in deutlicher Form vor Augen führt. Achtsame Zuwendung hat seine ethische Begründung in dieser Angewiesenheit des Menschen auf andere Menschen. Sie macht eben nicht zur Voraussetzung, dass jemand bereits selbstbestimmt leben oder selbstbestimmt den Weg dazu festlegen kann. Umgekehrt: es wird davon ausgegangen, dass erst achtsame Zuwendung und Unterstützung selbstbestimmte Handlungen ermöglichen. An dieser Stelle schließt auch der Begriff der Inklusion im Sinne einer Zugehörigkeit zu einer vielgestaltigen Gesellschaft an. Inklusion kann nur gelingen, wenn neben der Selbstbestimmungsfähigkeit auch die Angewiesenheit des Menschen anerkannt wird und die Überwindung von Isolation, Einsamkeit und Unaufmerksamkeit, von Gleichgültigkeit und vom Wegsehen durch achtsame Zuwendung zum jeweils Anderen gelingt. Die Care-Ethik geht davon aus, dass die Erfüllung von Sorgeverpflichtungen prinzipiell voraussetzungsfrei und ungebunden an Gegenleistungen ist. Inklusion – im Sinne von Zugehörigkeit – ist auf „care“ im Sinne einer achtsamen Zuwendung angewiesen.

11 Carol Gilligan, Janie Ward, Jill McLean Taylor (Eds.): Mapping the moral domain. A contribution of women’s thinking to psychological theory and education Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press, 1988.

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7.  Inklusion als zentrale Kategorie der sozialräumlichen Sorge Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen von 2006 sowie die reformorientierte Diskussion in der Behindertenhilfe im Allgemeinen verwenden heute den Begriff der Inklusion in Absetzung zum Begriff der Integration. Da auch in der Diskussion um die Barrierefreiheit meist der Begriff der Integration gebraucht und Barrierefreiheit als ein Instrument der Integration aufgefasst wird, ist ein Blick auf die zugrunde liegenden Modelle, aber auch auf bestimmte historische Erfahrungen notwendig. Unter Integration im Bereich der Menschen mit Behinderung ist das aktive Einbeziehen von Menschen mit Behinderung in gesellschaftliche Prozesse (z.B. in der Bildung, im Freizeitbereich oder im Arbeitsleben) zu verstehen, d.h. Maßnahmen, die Menschen, die bisher nicht integriert waren und nicht teilgenommen haben oder teilnehmen konnten, in Angebote und Maßnahmen einzubeziehen. Integrativ sind somit Institutionen, Maßnahmen oder Angebote, die in gleicher Weise von Menschen mit und ohne Behinderung genutzt werden. Direkt zusammenhängend mit dem Begriff der Integration ist der Begriff der Normalisierung, deren Ziel es ist, Menschen mit Behinderung normale (im Sinne des gesellschaftlichen Durchschnitts), Wohn-, Arbeits- und Bildungsbedingungen zu schaffen. Als Kritik am Integrationsbegriff können folgende Aspekte benannt werden: (a) Integration heißt, in die Gesellschaft hereinholen, wobei Gesellschaft immer die herrschende Gesellschaft ist, die Durchschnittsnorm, anders gesagt, die „Leitkultur“. Der Integrationsbegriff enthält damit unausgesprochene normative Voraussetzungen, beispielsweise die, dass die Menschen, die integriert werden sollen, dies auch wollen und sich an die gesellschaftlichen Bedingungen anpassen müssen. Diese Voraussetzung setzt – so die mittlerweile vielfältig vorgetragene Kritik – einen Assimilationsdruck in Gang. Das Anderssein von Menschen mit Behinderung würde nicht bejaht, die Vielfalt nicht angestrebt, sondern vielmehr die Anpassung und die Überwindung des Andersseins.12 (b) Der Integrationsbegriff und die darauf aufbauende Praxis produziert meist eine Abstufung in der Weise, dass Menschen mit höherem Unterstützungsbedarf seltener integriert werden als Menschen mit niedrigem Unterstützungsbedarf. In der englischsprachigen Literatur wird dies als „readiness model“13 bezeichnet, da mit den wachsenden Fähigkeiten eines Menschen mit Behinderung auch seine Integrationsmöglichkeiten steigen, oder umgekehrt ausgedrückt: ein Mensch mit Behinderung ist erst durch den Erwerb bestimmter Fähigkeiten für den Integrationsprozess qualifiziert. 12 Andreas Hinz: Von der Integration zur Inklusion – terminologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung?, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 53, 2002, H. 9, S. 354–361. 13 Peter Mittler: Working towards inclusive education: social contexts, London: Fulton, 2000; zur kritischen Bewertung vgl. auch: Ines Boban, Andreas Hinz: Qualitätsentwicklung des gemeinsamen Unterrichts durch den „Index für Inklusion“, in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft 26, 2003, H. 4/5, S. 34–45.

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(c) Der Integrationsbegriff schafft gedanklich zwei Gruppen: die integrierenden, „normalen“ Menschen oder Bürger und die zu integrierenden, „nicht normalen“ Anderen. Damit wird eine Polarisierung von bereits Dazugehörenden und noch nicht Dazugehörenden vorangetrieben, womit das Problem, das die Integration eigentlich lösen will, noch vertieft wird. Trotz dieser Einwände muss die historische Bedeutung des Konzepts der Integration und des damit eng zusammenhängenden Konzepts der Normalisierung im Blick bleiben. In der historischen Phase der Separierung, Isolierung und Verwahrung von Menschen mit Behinderung oder psychischen Erkrankungen in großen Anstalten und Sonderinstitutionen kamen der Integration und dem Normalisierungsprinzip in Deutschland ein nicht zu überschätzender reformerischer Wert zu, weil damit Prozesse in Gang gesetzt werden konnten und können, die Inklusion überhaupt erst ermöglichen. So gesehen kann eine Kritik am Integrationskonzept dessen historische Berechtigung keinesfalls in Abrede stellen; sie verweist vielmehr auf Grenzen und Implikationen dieses Konzepts und stellt die Frage, wie diese positiv zu überwinden sind. Dem Konzept der Inklusion liegt der Gedanke der vorbehaltlosen und nicht weiter an Bedingungen geknüpften Einbezogenheit und Zugehörigkeit aller in der Gesellschaft zugrunde. Das Ziel ist die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen, ungeachtet ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe, ihrer Leistung, ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder ihrer Behinderung. Der Inklusionsbegriff geht gedanklich von der Gemeinschaft aller in einer Region oder einem lokalen Ort aus, die allerdings innerlich differenziert und vielgliedrig ist. In der Folge wird immer von Heterogenität, von „diversity“, von Vielfalt der Zusammensetzung in Wohnquartieren oder in Schulklassen oder in Arbeitsstätten ausgegangen, nicht von zwei oder mehreren verschiedenen Gruppen, beispielsweise den Behinderten und den Nicht-Behinderten, den Migranten und Nicht-Migranten. Die Annahme der Heterogenität und Vielfalt erlaubt auch einen Blick auf andere differente Merkmale und ihre Verteilung, beispielsweise die Religionszugehörigkeit, die ethnische Zugehörigkeit, das soziale Milieu, die Geschlechtsrolle, die politische Überzeugung oder die sexuelle Orientierung. Der Inklusionsansatz kann historisch an Adornos „Miteinander des Verschiedenen“ aus dessen Reflexionen zu Auschwitz anknüpfen und dessen Warnung, dass in der Betonung der Gleichheit der Menschen (außer der vor dem Gesetz) ein unterschwelliger Totalitätsgedanke mitschwingt. Der ethische Appell, dass sich Auschwitz nicht wiederholen darf, bedeutete für Adorno, die Verschiedenheit der Menschen zu akzeptieren und zu lernen, mit Verschiedenheit produktiv umzugehen.14 Ganz in diesem Sinne geht der Inklusionsansatz davon aus, dass jedes Mitglied der Gesellschaft seinen Beitrag zur Gemeinschaft leistet und für das Ganze wichtig ist. Aussagen, wie z.B. „Wir brauchen den jeweils Anderen.“ oder „Die Gemeinschaft wäre ohne die jeweils Anderen arm.“, drücken den Anspruch des Inklusionsansatzes aus. 14 Theodor W. Adorno: Minimalia Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1969.

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Inklusive Maßnahmen haben ihr Ziel in der Entwicklung von Gemeinschaften, Strukturen oder Systemen, die Vielfalt anerkennen. Inklusive Strukturen sichern dieses Selbstverständnis organisatorisch ab, indem sie z.B. „eine Schule für alle“, „ein Museum für alle“ oder „einen Arbeitsmarkt für alle“ anstreben. Die Förderung von Inklusion darf deshalb Einzelmaßnahmen natürlich nicht aufgeben, muss sich aber gleichzeitig stets auf die Förderung von Strukturen und Systemen beziehen. Eine inklusive Gesellschaft überwindet die Besonderung bestimmter Klientelgruppen, auch ihre Spaltung in mehr oder weniger geförderte Gruppen. Inklusion ist keine Frage der Behindertenpolitik mehr, sondern eine Frage des Umgangs mit der Unterschiedlichkeit der Menschen schlechthin. Eine spezielle Inklusion von Menschen mit Behinderung ist deshalb an sich widersinnig, und das Konzept der Inklusion wendet sich gegen jegliche gruppenbezogene Kategorisierung. In Großbritannien wird in diesem Zusammenhang auch der Begriff der „special educational needs“ als diskriminierend abgelehnt und durch den Begriff des „learning supports“15 ersetzt. Manche Autoren sprechen auch von der Gefahr der „Sonderpädagogisierung der Inklusion“16, wenn diese einsinnig mit der Inklusion von Menschen mit Behinderung gleichgesetzt und damit der Aspekt der Zugehörigkeit aller zur Gemeinschaft vernachlässigt wird.

8. Schlussbemerkung Die Exklusion von Menschen mit Behinderung durch Barrieren verletzt ihre Grundrechte auf Selbstbestimmung und auf Schutz vor Ausgrenzung und Diskriminierung. Die Verantwortung zur Verhinderung der Exklusion und für die Herstellung von Barrierefreiheit erklärt sich aus der Unteilbarkeit von Grundrechten. Werden diese bei Menschen mit Behinderung durch Exklusion vernachlässigt oder relativiert, betrifft dies auch andere von Marginalisierung bedrohte Teile der Gesellschaft, beispielsweise alte Menschen oder Menschen mit Kinderwagen, die Mühe haben, Treppen zu überwinden, oder Menschen, denen es schwer fällt, nur sprachlich vermittelte Botschaften zu verstehen. Sozialethisch erklärt die Care Ethik die gesellschaftliche Verpflichtung zum Schutz vor Exklusion – und damit auch zur Herstellung von Barrierefreiheit – aus der immer vorhandenen Angewiesenheit des Menschen auf den Menschen, aus der gegenseitigen Verwiesenheit des Menschen und dem daraus sich ergebenden Gebot der achtsamen voraussetzungsfreien Care-Zuwendung zum Anderen um dessentwillen und um meiner selbst willen. Das Konzept der Inklusion als Leitbild für verantwortliches Handeln bietet dabei folgende Vorzüge: Es überwindet den Lobbyismus eines Klientelhandelns. Es richtet 15 Mittler (Anm. 13), S. 8. 16 Ines Boban, Andreas Hinz: Inklusive Werte in allen Lebensbereichen realisieren, in: Gemeinsam leben – Zeitschrift für Inklusion 17, 2009, H. 2, S. 92–99.

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nicht mehr den Blick auf die Zugehörigkeit zu einer Klientengruppe und den daraus erwachsenden speziellen Förderbedarf zur Gewährleistung der gesellschaftlichen Teilhabe, sondern – unabhängig von einer Gruppenzugehörigkeit – auf den jeweiligen Menschen und darauf, was dieser braucht und wie das umgebende System insgesamt zu stärken ist, um alle Personen, die zur vollen Teilhabe Unterstützung brauchen, vor Exklusion zu bewahren. Für das Konzept der Barrierefreiheit heißt dies, dass es stets aus den unterschiedlichen Perspektiven verschiedener Nutzergruppen gedacht werden sollte und stets alle Dimensionen (motorische, sensuale und kognitive) zu berücksichtigen hat. Das Konzept der Inklusion stärkt einen grundrechtlich begründeten Anspruch auf Unterstützung für jeden, der zur Teilhabesicherung einer Unterstützung bedarf. Zur Hilfe für den Einzelnen, z.B. durch Finanzierung eines Assistenten, tritt als neue Form auch die Systemunterstützung hinzu. Diese besteht in einer Veränderung der räumlichen Umwelt und der Unterstützungsangebote selbst, die die Angewiesenheit auf einen persönlichen Assistenten minimieren sollen. Für das Konzept der Barrierefreiheit heißt dies, dass die Hilfemittel selbst keinen exkludierenden Charakter haben oder auf neue Art abhängig machen dürfen. Denn Rampen, die eine Begleitperson erforderlich machen, können ebenso inklusionshemmend sein wie komplizierte Kommunikationshilfen, die hohe kognitive oder technische Fähigkeiten voraussetzen. Das Konzept der Inklusion richtet schließlich seinen Blick auf den jeweiligen Sozialraum, den gesellschaftlichen Raum, in dem verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen und diversen Unterstützungsbedarfen unter jeweils spezifischen Bedingungen zusammenleben.17 Die Unterstützungsbedarfe sollen nicht mehr diagnostisch kategorial, sondern sozialraumbezogen festgestellt werden. Die Unterstützung soll primär im Sozialraum erbracht werden. Sozialräumliche Bezüge und Strukturen werden gestärkt, um beispielsweise für Menschen mit Behinderung die Lebensbedingungen so zu verbessern und zu verändern, dass sie ein gutes und teilhabendes Leben im normalen Wohnquartier führen können. Barrierefreiheit ist in vielerlei Hinsicht Voraussetzung für Selbstbestimmung und Inklusion und damit ein wichtiger Beitrag, Demokratie durch die verantwortungsvolle Sicherung von Grundrechten und die Einlösung von Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung zu verwirklichen. Andererseits ist Barrierefreiheit selbst ein kultureller Wert, da sie das Postulat der Inklusion, des Dazugehörens und der Teilhabe sichert, was für die gesamte Gesellschaft einen Nutzen hat, wenn auch dieser Nutzeffekt nicht der wesentliche Grund für die Verwirklichung der Barrierefreiheit sein sollte. Beispielhaft an der Forderung der Barrierefreiheit ist, dass die Bringschuld eindeutig bei der Gesellschaft liegt und nicht mehr in einer Anpassungs- oder Verzichtsleistung des einzelnen Menschen mit Behinderung. Zukunftsweisend ist, dass bei ihrer Durchsetzung – wie bei der Durchsetzung anderer Postulate der UN-Konvention (inklusive Schulerziehung, 17 Eine gute Einführung in das Konzept der Sozialraumorientierung geben Fabian Kessl, Christian Reutlinger: Sozialraum. Eine Einführung, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 22007.

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inklusives Wohnen, Arbeitsinklusion) – die Achtsamkeit im Umgang mit dem jeweils Anderen, das Selbstverständnis der Handelnden und das soziale Zusammenleben der Gesellschaft insgesamt verbessert werden.

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Ästhetische und ethische Grenzen der Barrierefreiheit

Während die Entwicklung von Ideen und Konzepten zur Barrierefreiheit in den vergangenen Jahren vorangetrieben werden konnte und zahlreiche innovative Projekte angestoßen wurden, gibt es bislang kaum Untersuchungen zu Hindernissen und Grenzen der Barrierefreiheit. Jedoch zeigt eine kritische Betrachtung der Thematik, dass es solche Hindernisse und Grenzen tatsächlich gibt. Die Herstellung „physischer“ Barrierefreiheit ebenso wie weitgehender Chancengleichheit, Teilhabe, Inklusion und Anerkennung behinderter Menschen – mit anderen Worten: die Beseitigung sozialer und gesellschaftlicher Barrieren – konnte in der Bundesrepublik Deutschland bis heute nur in Ansätzen verwirklicht werden. Es stellt sich daher die Frage nach möglichen Ursachen und Hintergründen. Nachfolgend soll der Versuch unternommen werden, diese in einer ersten Annäherung in Bezug auf ästhetische und ethische Aspekte auszuloten. Nach einer begrifflich-phänomenologischen Annäherung an den Terminus „Barriere“, der Skizzierung eines weitgefassten Barrierebegriffs und einer kurzen Diskussion des Zusammenhangs zwischen „Behinderung“ und „Barrieren“ werde ich auf drei Problembereiche hinweisen, die bislang in den Debatten kaum Beachtung gefunden haben. Zunächst werde ich in körpertheoretischer Perspektive ästhetische Grenzen der Barrierefreiheit skizzieren, um dann in einem zweiten Schritt auf einige Paradoxien der Barrierefreiheit hinweisen, die wiederum an Grenzen der Barrierefreiheit heranführen. Schließlich werden einige ethische Grenzen diskutiert, die sich etwa aus Erwägungen zur Verteilungsgerechtigkeit ergeben können. Dabei wird sich zeigen, dass Ästhetik und Ethik vor allem in den ersten beiden skizzierten Problembereichen eng miteinander verknüpft sind: Es geht jeweils um die Wahrnehmung von Behinderung und um Bewertungen, die mit dieser Wahrnehmung verknüpft sind. Der Begriff „Ästhetik“ wird hier im Sinn von „aisthesis“, also sinnlicher Wahrnehmung als spezifischer Erkenntnisform, verstanden. Ästhetische Urteile sind häufig auch Werturteile, die das Wahrgenommene in ein normatives Licht rücken, moralisch aufladen und sowohl in ethische Reflexionen als auch politische Entscheidungen und Handlungsstrategien einfließen können.

1.  Barrieren: Eine begrifflich-phänomenologische Annäherung Ziel der nachfolgenden Überlegungen ist eine phänomenologisch orientierte begriffliche Annäherung. Was bedeutet der Begriff „Barriere“? Das Herkunftswörterbuch

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gibt dazu folgende Auskunft: Barriere bedeutet „Schranke“, „Sperre“ oder „Schlagbaum“. Das Wort wurde Anfang des 18. Jahrhunderts vom französischen „barrière“ entlehnt, das von „barre“ (also „Stange“) abgeleitet ist. Eigentlich bedeutet „Barriere“ also „Gestänge“.1 Die wahrscheinlich gebräuchlichsten Synonyme für „Barriere“ sind „Hindernis“ und „Schranke“, aber auch „Sperre“ oder „Blockade“. Nachfolgend sollen die ersten beiden Begriffe kurz beleuchtet werden. Ein Hindernis ist erstens ein Gegenstand, der das physische Weiterkommen beoder verhindert. Zweitens bezeichnet es in einem figürlichen Sinn einen Sachverhalt, Kontext oder sozialen bzw. psychologischen Mechanismus, der etwas be- oder verhindert, z.B. einen Entwicklungs- oder Veränderungsprozess. Drittens ist ein Hindernis eine im Sport (z.B. beim Hürdenlauf oder beim Springreiten) durch Springen zu überwindende Konstruktion. Zum Begriff „Hindernis“ gibt es zahlreiche Komposita und Konnotationen, etwa „Drahthindernis“, „Durchgangshindernis“, „Engpass“, „Erschwernis“ oder „Hürde“. Eine Schranke ist eine Vorrichtung zur Absperrung oder, im übertragenen Sinn, eine (gedankliche oder soziale) Grenze für individuelles Verhalten, die nicht überschritten werden kann oder soll. Einige bedeutungsgleiche oder bedeutungsähnliche Worte sind „Schlagbaum“, „Straßensperre“, „Versperrung“, „Verwehrung“ oder „Wegsperre“. Auch der Begriff „Behinderung“ wird manchmal als Synonym für Barriere verwendet, etwa, wenn es um „Sichtbehinderungen“ oder „Verkehrsbehinderungen“ geht. Betrachtet man dieses weite Bedeutungsspektrum von „Barriere“, so fällt auf, dass es einerseits physisch und sinnlich erfahrbare materielle Hindernisse usw. umfasst, aber auch nicht unmittelbar sinnlich erfahrbare nicht-materielle Hindernisse. Im Kontext von „Behinderung“ und dem Ziel der Barrierefreiheit wird der Begriff „Barriere“ häufig im Sinne physischer oder funktionaler Hindernisse verwendet. In dieser Perspektive sind Barrieren Mobilitätsbehinderungen oder Zugangseinschränkungen. Etwas wird dann zu einer Barriere, wenn die Mobilität allgemein, der Zugang zu Gebäuden oder die Nutzung von Technologien als „normal“ angesehene Fähigkeiten oder Funktionsweisen des Individuums zur Voraussetzung hat, das Individuum diese Voraussetzung aber nicht erfüllt und somit keine „Passung“ zwischen dem Individuum und einem spezifischen Aspekt seiner Umwelt besteht. Somit sind nicht alle Hindernisse, Schranken usw. zwangsläufig Barrieren. Sie werden dann zur Barriere, wenn sie selektiv den Zugang zu oder die Nutzung von etwas für diejenigen Individuen erschweren oder verwehren, die (z.B. wegen einer Sinnesschädigung oder funktioneller Einschränkungen) aus dem „Normalitätsspektrum“ herausfallende psychische, kognitive oder körperliche Eigenschaften aufweisen. Unter „funktionalen Barrieren“ verstehe ich hier solche, die etwa den Gebrauch von technischen Geräten oder den Zugang zu Informationen erschweren. Solche „funktionalen Barrieren“ haben einerseits eindeutig einen physisch-materiellen Aspekt (indem 1 Duden: Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim [u.a.]: Dudenverlag, 1989, S. 64.

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sie z.B. den Zugang zu Gebäuden oder zum Internet erschweren oder vereiteln), sie haben aber auch einen nicht-physischen sozialen Aspekt: Gebäude (z.B. Bibliotheken) oder technische Systeme (z.B. das Internet) verfolgen bestimmte Zwecke, etwa die Bereitstellung von Information, Bildung oder Kommunikation. Auf diesen Aspekt bezogen wirken die „funktionalen Barrieren“ auf eher psychisch-kognitiver und sozialer Ebene, und zwar so, dass sie für bestimmte Personen etwas im Prinzip Mögliches verhindern und sich daher nachteilig auswirken bzw. eine ausschließende Wirkung entfalten. Um dies an einem Beispiel zu erläutern: Die Zugangsmöglichkeiten zu Computern z.B. für Personen mit Sehbehinderungen oder motorischen Einschränkungen ihrer Hände sind allein deshalb stark eingeschränkt, weil Bildschirm, Tastatur und Maus usw. für diejenigen konstruiert sind, die diese Einschränkungen nicht haben. Die Konstrukteure orientieren sich mit anderen Worten an „normalem“ Funktionieren der Nutzer. Wenn sich nun moderne Informationstechnologien weiterentwickeln, ohne dass auch die Zugangsmöglichkeiten zu ihnen erweitert werden, dann werden sich die Einschränkungen, die Menschen mit Behinderungen ohnehin vielfach erfahren, dramatisch verschärfen. Denn die Befähigung, Informationstechnologien wie den Computer sinnvoll zu nutzen, sind heute etwa in den Bereichen Bildung und Arbeitsmarkttauglichkeit unverzichtbar.2 Technologieentwicklung kann demnach sowohl exkludierende Effekte zeigen als auch durch den Abbau von Barrieren der Zugänglichkeit und Nutzerfreundlichkeit den Möglichkeitsraum von Individuen vergrößern und inklusive Wirkungen entfalten. Der nicht-materielle Aspekt von physischen Hindernissen ist dabei nicht minder wirkungsmächtig als der materielle Aspekt. Wird der Begriff „Barriere“ in einem weiten, auch figürlichen oder metaphorischen Sinn verwendet, kommen weitere Facetten und Wirkungsmechanismen der Herstellung von Zugänglichkeit bzw. deren Verhinderung in den Blick. Untersuchen wir die Gesellschaft auf Barrieren hin, dann wird ein breites Spektrum höchst unterschiedlicher Hindernisse bzw. Schranken sichtbar, die Menschen auf verschiedene Weise behindern, d.h. in ihren Möglichkeiten einschränken und im Vergleich mit anderen benachteiligen, ja sogar ausgrenzen können. Diese sind in der Regel nicht unmittelbar sinnlich wahrnehmbar, sondern nur durch Erfahrung, Reflexion und Analyse erkennbar. So gibt es zahlreiche Normen, Werte, Erwartungen, die sich auf als „normal“ gesetzte individuelle Verhaltensweisen, Fähigkeiten und Kompetenzen, Funktionsweisen usw. beziehen, z.B. physische oder geistige Leitungsfähigkeit. Diese Normen, Werte und Erwartungen können für diejenigen zu Barrieren werden, die ihnen nicht entsprechen. Auch negativ bewertete und zu Stigmatisierung führende körperliche Merkmale wie Aussehen, Physiognomie, Hautfarbe, körperlich-sinnliche Funktionsfähigkeit u.a. können, wie weiter unten noch herausgearbeitet werden soll, zu ernsthaften Hindernissen werden. Gleiches gilt für das Geschlecht oder Alter eines Individuums oder das Feh2 Allen Buchanan, Dan W. Brock, Norman Daniels, Daniel Wikler: From Chance to Choice. Genetics and Justice. Cambridge [u.a.]: Cambridge University Press, 72006, S. 298.

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len verbriefter Bildungsabschlüsse. Auf einer ganz anderen Ebene liegen Gesetze bzw. rechtliche Regelungen, die bestimmte Personen oder Gruppen entweder benachteiligen oder nicht auf relevante Besonderheiten eingehen. Auch Einschränkungen der Chancengleichheit und Partizipation etwa durch erschwerte Zugänge zu als wichtig für das Individuum erachteten Lebensbereichen, Institutionen oder gesellschaftlichen Teilsystemen können sich als erhebliche, für die Betroffenen nachteilige Barrieren auswirken. Auf einer gesellschaftlichen Ebene kann das moderne Postulat der individualisierten, eigenverantwortlichen und selbstständigen Lebensführung, deren Gelingen oder Misslingen dem Individuum zugeschrieben wird, zu einer Barriere werden. Wenn die Bewältigung gesellschaftlich produzierter Risiken weitgehend auf die Seite des Individuums verschoben wird, wird die Gesellschaft selbst zur Barriere. Schließlich sind ethisch-normative Barrieren zu erwähnen, mit denen sich Menschen im Falle der Verweigerung von Anerkennung bzw. sozialer Wertschätzung und Respekt konfrontiert sehen.

2.  Behinderung als individuelle Barriere oder Barrieren als Produzenten von Behinderung? Der vorangehende knappe Überblick über verschiedene Barriereformen verweist bereits auf einen wichtigen impliziten Zusammenhang zwischen Barrieren und Behinderungen. In einem ganz allgemeinen Sinn verstanden wirken sich Barrieren behindernd auf den individuellen physischen, psychischen und sozialen Möglichkeitsraum aus: Sie begrenzen die Mobilität, die Freiheit, die Entwicklung von persönlichen Potentialen, die Selbstbestimmung u.a.m. Dieser Zusammenhang soll nun eingehender expliziert werden. Nach dem traditionellen Verständnis von „Behinderung“ sind individuelle, medizinisch beschreibbare Schädigungen bzw. Dysfunktionen die Ursache von Behinderung. Benachteiligung, Entrechtung, Stigmatisierung oder Ausgrenzung sind lediglich mögliche Folgen der Schädigung, nicht jedoch Ursachen einer Behinderung. Im Lichte des individualtheoretischen oder medizinischen Modells von Behinderung wären Schädigungen der individuellen physischen bzw. funktionalen Konstitution die grundlegende Barriere. Unter anderem auf diesen Sachverhalt verweist Linton zufolge der Begriff „disability“.3 „Disability“, so Linton, ist die Negation von „ability“, die sich ihrerseits auf verschiedene erwartete bzw. „normale“ Dispositionen, Fähigkeiten oder Kompetenzen des Individuums beziehen lässt: auf die körperliche Struktur und Funktion, den Bewegungs- und Stützapparat, die Sinnesorgane bzw. die Sinnesmodalitäten, die Sprache, das ganze Feld der sozialen Interaktion, die Beherrschung von Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben oder Rechnen, die Wahrnehmung und das Erleben, das soziale Ver3 Vgl. Simi Linton: Claiming Disability. Knowledge and Identity, New York [u.a.]: New York University Press, 1998.

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halten, Prozesse des Lernens, Verarbeitens, Erinnerns oder des Reproduzierens von Information.4 Ein Minimum an Fähigkeiten („ability“) ist demnach die Bedingung der Möglichkeit zu sozialer und gesellschaftlicher Teilhabe und Anerkennung. Behinderung hingegen heißt, dass – um eine Formulierung von Weisser aufzunehmen – etwas entgegen einer vorgängigen Erwartung „nicht geht“.5 Unter den Bedingungen einer „disability“ werden die Zugangs- und Anerkennungschancen folglich deutlich beschnitten bzw. reduziert. Wenn jemand in seinem Leben auf Hindernisse stößt und diese nicht überwinden kann, dann wird dieses Misslingen im Rahmen des individualtheoretischen Modells dem Individuum als Nichtkönnen oder Unfähigkeit zugeschrieben. Demnach sind „die Fähigkeiten oder Merkmale einer Person durch ihre Behinderung determiniert“6. Das Präfix „dis“ in „disability“ zeigt eine Negation an: Das Grundcharakteristikum einer Behinderung ist das Fehlen oder die Abwesenheit von etwas. Der Terminus „disability“ ist folglich eine negative Unterscheidung, die für die Betroffenen einen für sie negativen Unterschied macht. Einer der durch sie produzierten Unterschiede ist der von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit. Ein anderer auf diese Weise hergestellter Unterschied betrifft die Zugangsmöglichkeiten zu sozialen Räumen, Institutionen, Technologien oder verschiedenen materiellen und nichtmateriellen Gütern. Die bedeutungsgeladene und wertende Unterscheidung ist somit aufs engste mit gesellschaftlichen Praktiken der Verteilung von Gütern und Privilegien sowie der Gewährung bzw. Vorenthaltung von Anerkennung gekoppelt. Sowohl einige Vertreter der Heil- und Sonderpädagogik sowie die Disability Studies haben die individualtheoretische Sicht der Dinge in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend in Frage gestellt. Mehr und mehr hat sich die Auffassung durchgesetzt, Behinderung als gesellschaftliches Konstrukt zu begreifen: Erst durch gesellschaftliche Strukturen, Rahmenbedingungen usw. werden individuelle Schädigungen bzw. Beeinträchtigungen zu Behinderungen.7 Es ist vor allem das in Großbritannien entwickelte „soziale Modell“ von Behinderung, das einen expliziten Zusammenhang zum Thema Barrieren herstellt. Deshalb werde ich mich nachfolgend auf dieses Modell konzentrieren. Das soziale Modell von Behinderung versteht sich in seiner radikalen Kritik als theoretische Alternative zum medizinischen und sozialkaritativen Verständnis von Behinderung, das diese als individuelle Pathologie und Gegenstand der Fürsorge modellierte. Im Licht dieses Modells ist Behinderung das „Resultat einer sozialen Übereinkunft [...], die Einschränkungen in den Aktivitäten Behinderter durch die Errichtung 4 Vgl. Markus Dederich: Behinderung, Norm, Differenz – Die Perspektive der Disability Studies, in: Fabian Kessel, Melanie Plößer (Hg.): Differenz, Normalisierung, Andersheit. Soziale Arbeit als Arbeit mit den Anderen, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2010, S. 170–184. 5 Jan Weisser: Wie macht man Disability Studies?, in: Behindert(e) in Familie, Schule und Gesellschaft 28, 2005, H. 5, S. 22–31, hier S. 24. 6 Linton (Anm. 3), S. 10. 7 Vgl. Markus Dederich: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies, Bielefeld: transcript, 2007.

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sozialer Barrieren bewirkt“.8 Der Sachverhalt einer Behinderung liegt dann vor, wenn „Strukturen und Praktiken dahingehend wirken, dass sie Personen mit einer Schädigung durch Einschränkungen ihrer Aktivität benachteiligen und ausschließen“.9 Demnach ist Behinderung eine Form „sozialer Unterdrückung“.10 Den Vertreterinnen und Vertretern dieses Modells geht es im Kern darum, „die Autorität professioneller und vor allem nichtbehinderter Fachleute in Frage zu stellen, den Einfluss der Wohltätigkeitsveranstaltungen und karitativen Organisationen, die nicht von behinderten Menschen geführt werden, einzudämmen, jeder Form von Gönnerhaftigkeit entgegenzutreten, integrierte Lebensformen zu fördern, die Bürgerrechte neu zu bestimmen und all die Hindernisse zu beseitigen, die behinderte Menschen als solche diskriminieren“.11 Behinderung entsteht dann, wenn individuelle Eigenschaften bzw. Merkmale und Umweltbedingungen (im engeren oder weiteren Sinn) nicht zusammenpassen. Das Gelingen der Entstehung solcher Passungsverhältnisse ist maßgeblich von der (im oben skizzierten weiten Sinn verstandenen) Barrierefreiheit der Umwelt abhängig. Weil Barrieren Behinderung produzieren, ist Barrierefreiheit tatsächlich eine zentrale Forderung der Vertreterinnen und Vertreter des sozialen Modells. Die Beseitigung von Barrieren wäre dann weitgehend deckungsgleich mit der Überwindung dessen, was Menschen behindert.

3.  Kulturelle Barrieren: Das Beispiel Ästhetik Weiter oben wurde festgestellt, dass es im Rahmen eines weiten Verständnisses höchst unterschiedliche Formen und Typen von Barrieren gibt. Hierunter fallen auch tief in unserer Kultur verankerte Vorstellungen vom menschlichen Körper: von seinem Bau, seiner Funktionalität, seiner sexuellen Ausstrahlung, seiner Ästhetik. Diesen letztgenannten Punkt will ich nachfolgend etwas näher erläutern, denn er hilft besser zu verstehen, warum sich trotz aller Forderungen nach Barrierefreiheit Barrieren so hartnäckig halten. Ich greife hierbei auf eine These von Tobin Siebers zurück.12 Sie besagt, dass bei allen Bemühungen um die Gestaltung einer barrierefreien Umwelt etwa im Bereich des Bauens ästhetische Fragen eine zentrale Rolle spielen. Siebers zeigt auf, dass Bestrebungen zur Erreichung von Barrierefreiheit durch häufig unbewusst bleibende 8 Carol Thomas: Theorien der Behinderung. Schlüsselkonzepte, Themen und Personen, in: Jan Weisser, Cornelia Renggli (Hg.): Disability Studies. Ein Lesebuch, Luzern: Edition SZH/CSP, 2004, S. 31–56, hier S. 33. 9 Thomas (Anm. 8), S. 33. 10 Thomas (Anm. 8), S. 41. 11 Tom Shakespeare: Betrachtungen zu den britischen Disability Studies, in: Petra Lutz, Thomas Macho, Gisela Staupe, Heike Zirden (Hg.): Der [im-]perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung, Köln: Böhlau, 2003, S. 426–434, hier S. 428. 12 Vgl. Tobin Siebers: Zerbrochene Schönheit. Essays über Kunst, Ästhetik und Behinderung, Bielefeld: transcript, 2009.

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Gegenbewegungen, durch „Widerstände und Abwehrmechanismen“13 konterkariert und untergraben werden. Siebers formuliert prägnant: „Die ästhetische Aversion gegen Behinderung reicht weit über den einzelnen behinderten Körper hinaus bis zur symbolischen Präsenz von Behinderung in der gebauten Umwelt […]“.14 Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, Vertrautheit und Fremdheit, die gemeinschaftsbildende Unterscheidung von „Wir“ und „die Anderen“, kulturelle Wertvorstellungen und deren Negation werden in hohem Maße über ästhetische Prozesse geschaffen.15 Hier zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen Ästhetik und Ethik: Ästhetische Phänomene werden mit Werten aufgeladen und so zur Grundlage moralisch unterfütterter oder explizit normativer Urteile über andere Menschen. Zugleich sind die sinnlichen Wahrnehmungen und damit gekoppelte Empfindungen wie Lust oder Abneigung, die Menschen in Anwesenheit anderer Menschen haben, eng mit politischen Haltungen verbunden. Häufig entscheiden sie mit über Akzeptanz oder Ablehnung von Individuen oder ganzen Gruppen. Dies hat Bauman anhand der Konstruktion „ordnungswidriger Elemente“ in der NS-Zeit, etwa Juden oder „Fremden“ im Allgemeinen, aufgezeigt.16 Wenn Individuen oder Gruppen wegen ihres Äußeren, ihres Verhaltens, ihrer Bräuche usw. als aus der vertrauten Ordnung herausfallend erlebt werden, wird ihnen häufig eine störende oder gar bedrohliche Qualität zugeschrieben. Dies kann so weit gehen, dass sie als „Schmutz“ wahrgenommen werden, dessen Existenz vielfältige Gegenbewegungen zur Reinhaltung und Hygiene des politischen und sozialen Körpers in Gang setzen. Das an körperlichen Eigenschaften ansetzende ästhetische Urteil schlägt in ein moralisch-politisches um. Die Wahrnehmung von Personen oder Gruppen als „Schmutz“ hat ihrerseits somit häufig ästhetische Urteile über deren Körper zur Grundlage, die mit negativen Empfindungen verbunden sind. Das Handeln von Frauen, Schwulen, Lesben, Menschen mit Behinderungen, Schwarzen oder anderen ethnischen Gruppen wird für krank erklärt, „ihr Erscheinungsbild für obszön oder ekelerregend, ihr Denken für verdorben, und ihr gesellschaftlicher Einfluss wird mit einem Krebsgeschwür verglichen, das den gesunden Körper der Gesellschaft angreift“.17 Solche ästhetischen Urteile bleiben häufig unbewusst, können aber trotzdem – oder vielleicht auch gerade deshalb – eine beträchtliche politische Wirkungsmacht entfalten. Sie führen nicht nur zu unterschiedlich getönten Aversionen gegen alles, was als anders und fremd empfunden wird. Sie prägen auch Vorstellungen von einem intakten, gesunden, prosperierenden Gemeinwesen. Der Widerwille der Menschen gegen „Verkrümmung und Hässlichkeit“18 und ihr Streben nach „Ordnung, Harmonie und Schönheit“19 gilt nicht nur für den physischen Körper 13 14 15 16 17 18 19

Siebers (Anm. 12), S. 18. Siebers (Anm. 12), S. 18. Vgl. Klaus E. Müller: Der Krüppel. München: Beck, 1996. Zygmunt Bauman: Unbehagen in der Postmoderne, Hamburg: Hamburger Edition, 1999. Siebers (Anm. 12), S. 20. Müller (Anm. 15), S. 48. Müller (Anm. 15), S. 48.

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des Menschen, sondern auch für den Staatskörper. Das wohl berühmteste historische Beispiel für diesen Zusammenhang ist das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommende eugenische, sozialdarwinistische und rassenhygienische Denken.20 In diesem Sinne befördert das politisch Unbewusste „die wechselseitige Identifikation bestimmter Erscheinungsformen, seien es organische, ästhetische oder architektonische, mit Idealbildern des Staatskörpers. Daher rührt die eingefleischte Aversion gegen jeden Körper, der das Bild der Gesellschaft, das sie sich von sich selbst macht, stört“.21 Behinderung zeigt sich in dieser Hinsicht als doppelte Irritation: Zum einen als ästhetische Störgröße, zum anderen als Infragestellung einer kohärenten und integren gesellschaftlichen Ordnung, einer Gesellschaft, die „ganz“ und „heil“ ist. Wenn nun behinderte Menschen in höherem Maße als bisher beginnen, öffentliche Räume zu nutzen und damit Behinderung zu einem allgemein sichtbaren bzw. erfahrbaren Phänomen machen, wird diese Ordnung in Frage gestellt. Einer der Gründe hierfür ist, dass die durch außerordentliche Körper ausgelösten Empfindungen nicht ästhetischer Art sind, sondern auch moralischer. Das Fremde, ästhetisch Irritierende oder gar Hässliche wird häufig auch als in moralischer Hinsicht zweifelhaft wahrgenommen. Pointiert schreibt Müller: „Schönheit wirkt anziehend und weckt Sympathien: sie entspricht der Vollendung des eigenweltlich Vertrauten. Beim Anblick von Hässlichem ist man geneigt, den Blick abzuwenden, wird irgendwie Unbehagen wach, weil wir zu glauben geneigt sind, dass die äußere Verzerrung nicht von ungefähr kommt, dass sie der Abdruck innerer „Unstimmigkeiten“, die mimische Projektion einer seelischen Entstellung ist. In allen Kulturen löst Hässlichkeit Argwohn, zumindest ungute Empfindungen aus“.22 Nach Auffassung der Disability-Studies-Theoretiker Mitchell und Snyder wird die physische Oberfläche des Menschen in fast allen Kulturen als ein Medium verstanden, „das die abstrakteren und schwer greifbaren Landschaften der Psychologie, Moralität und Spiritualität sichtbar macht“.23 Das Ideal makelloser Körper – gepaart mit dem unterschwelligen Bedürfnis nach zumindest normalen Körpern – korrespondiert mit dem Bedürfnis nach makellosen, auf jeden Fall nach geordneten, integren öffentlichen Räumen. Solche Räume sind immer auch gebaute und gestaltete Räume und als solche die sichtbare, äußere Gestalt der Gesellschaft und des Staates – öffentliche Räume sind insofern der physische, ästhetisch erfahrbare Körper von Gesellschaft und Staat. Daher die Analogie: eine Gesellschaft, die von idealen Körpern träumt und alltagspraktisch wie psychopolitisch an der Vision des normalen Körpers festhält, braucht auch reine öffentliche Räume. Symmetrie, Proportion, Ausgewogenheit, Maß, Klarheit der Linienführung, Eleganz, Kraft im Gegensatz zu Asymmetrie, Disproportion, Unausgewogenheit, Unmaß, Verworrenheit der 20 21 22 23

Vgl. Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001. Siebers (Anm. 12), S. 21. Müller (Anm. 15), S. 97. David T. Mitchell, Sharon L. Snyder: Introduction: Disability Studies and the Double Bind of Representation, in: David T. Mitchell, Sharon L. Snyder (Hg.): The Body and Physical Difference. Discourses of Disability, Ann Arbor: University of Michigan Press, 1997, S. 1–31, hier S. 13.

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Linienführung, Plumpheit, Schwächlichkeit – danach beurteilen wir Körper und öffentliche, gebaute und gestaltete Räume. Der Abscheu vor der Hässlichkeit entstellter oder abweichender Körper entspricht die Abscheu vor einem disharmonischen öffentlichen Raum, in dem sich die Gesellschaft und der Staat physisch und symbolisch repräsentieren. So verweisen Individualkörper und Staatskörper spiegelbildlich aufeinander. In beiden Bereichen werden Verstöße ästhetisch erfahrbar und zeigen sich als ästhetisches Problem. Ungesunde, hässliche, entstellte, versehrte Körper stören die angestrebte Ordnung – sie erscheinen als außerordentliche Körper, sie sind Fremd-Körper, das Andere der Ordnung. Sie symbolisieren Unordnung, Verfall, Auflösung, Zersetzung. Daher werden sie als Angriffe auf die uns vertrauten Maßstäbe erfahren, sie stellen Konventionen und Normalitätserwartungen in Frage und drohen diese außer Kraft zu setzen. Hier nun kommen die Barrieren ins Spiel: Barrieren haben offenbar eine stabilisierende Funktion und quasi hygienische Aufgaben, sie sollen die Ordnung bewahren und öffentliche Räume „sauber“ halten. Siebers bündelt diesen Gedanken wie folgt: „Der Schönheit, Ordnung und Sauberkeit der gebauten Umwelt kommt in entwickelten Gesellschaften ein hoher Stellenwert zu, weil sie die Sorge um unseren Körper, etwa seine Gesundheit, Ganzheit und Hygiene, auf diese künstlichen Körper übertragen. Nur eine genaue Analyse dieses starken symbolischen Bezugs wird erklären können, warum Vorurteile gegen behinderte Körper in der gebauten Umwelt so manifest bleiben […]“.24 Behinderung als ästhetisches Phänomen zu begreifen, eröffnet theoretisch somit die Möglichkeit, gesellschaftliche Homogenisierungsbedürfnisse und daran anknüpfende Exklusionsmechanismen (die das Nichthomogenisierbare an den Rand drängen oder ausscheiden), produktiv zu analysieren. Vor dem Hintergrund der vorab skizzierten Überlegungen liegt es nahe, die These zu formulieren, dass politisch korrekte Forderungen nach Teilhabe und Inklusion durch unbewusst bleibende Abwehrreaktionen unterminiert werden. Ästhetische Urteile über behinderte Menschen haben viele unterschiedliche Konsequenzen, von denen abschließend nur zwei genannt werden sollen. 1982 wurde in den Niederlanden eine Studie in geschützten Arbeitsbereichen durchgeführt, nach der ein Zusammenhang zwischen dem Grad der Behinderung, Arbeitstätigkeit und Sichtbarkeit der Behinderung besteht. Menschen mit einer sichtbaren Behinderung werden, so diese Studie, niveau- bzw. anspruchslosere Tätigkeiten zugeteilt als Menschen mit einer nicht sichtbaren Behinderung, unabhängig vom Grad der Behinderung. Der Studie zufolge besteht signifikant häufig ein geringerer korrelativer Zusammenhang zwischen Schweregrad der Behinderung und beruflicher Position als zwischen Sichtbarkeit der Behinderung und berufliche Position. 25 Die Sichtbarkeit einer Behinderung und damit ihre ästhetische Dimension hat noch eine weitere Konsequenz: Einer von Tröster zitierten Studie aus einem Wohn24 Siebers (Anm. 12), S. 31. 25 Vgl. Heinrich Tröster: Einstellungen und Verhalten gegenüber Behinderten. Konzepte, Ergebnisse und Perspektiven sozialpsychologischer Forschung, Bern [u.a.]: Huber, 1990.

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heim zufolge bevorzugt das Betreuungspersonal körperlich attraktive gegenüber den unattraktiven Heimbewohnern. Heimbewohner mit ästhetischer Beeinträchtigung ihres Äußeren wurden von ihren Betreuern benachteiligt: Sie erhielten ein geringeres Maß an sozialer Zuwendung und weniger Aufmerksamkeit als Heimbewohner, deren äußere Erscheinung nicht oder nur geringfügig beeinträchtigt war.26

4.  Zwischenruf: Paradoxien der Barrierefreiheit In diesem Abschnitt möchte ich mich einem etwas anders gelagerten, in einem weiteren Sinn aber auch ästhetischen Phänomen zuwenden. Es geht darum, wie im öffentlichen Raum (in Bahnhöfen, auf Plätzen und Straßen, in Kultureinrichtungen usw.) Symbole, die Barrierefreiheit anzeigen – also etwas allgemein sichtbar machen und dadurch auch herausstellen, betonen und als besonders kennzeichnen –, ihrerseits zu einer Barriere werden können. In einer nicht barrierefreien Welt müssen barrierefreie Räume, wo vorhanden, durch ein orientierendes System von Hinweisen und Zeichen kenntlich gemacht werden. Das heute bekannteste Zeichen dieser Art ist das international etablierte Zugänglichkeitssymbol ISA (International Symbol of Access). An diesem Zeichen, das zugleich Piktogramm, Symbol und Metapher ist, lassen sich einige paradoxe Effekte der Schaffung von Barrierefreiheit aufzeigen. Wie Ben-Moshe und Powell rekonstruieren, gibt es eine internationale Debatte über dieses Zeichen, seinen Nutzen, seine Symbolkraft und seine metaphorischen Implikationen.27 Obwohl es unbestreitbar die wichtige Funktion erfüllt, Zugänge zu unterschiedlichen öffentlichen Räumen aufzuzeigen und Mobilität zu gewährleisten, steht es zugleich auch explizit in der Kritik. Die wichtigste positive Funktion des Zeichens besteht darin, Behinderungen in der Umwelt zu reduzieren oder ganz zu beseitigen, ohne das Individuum zu ändern. Damit steht es in Übereinstimmung mit den zentralen Gedanken des sozialen Modells von Behinderung. Zugleich zeigt das Zeichen nicht nur Zugänge zu Einrichtungen und Gebäuden auf, sondern schärft auch das Bewusstsein für das Problem der Zugänglichkeit überhaupt. Dies aber geschieht u.a. um den Preis, eine Grenze zwischen „legitim“ und „nicht legitim“ behinderten Personen zu ziehen: zwischen denjenigen, für die besondere Angebote der Barrierefreiheit speziell gemacht sind und die als legitime Nutzer gelten und denen, für die dies nicht zutrifft.28 Hierbei übernimmt das Zeichen unterschiedliche Funktionen: Es repräsentiert Behinderung als Piktogramm, weist Orte als für behinderte Personen zugänglich aus und markiert Grenzen physischer Andersheit. 26 Tröster (Anm. 25), S. 39f. 27 Vgl. Liat Ben-Moshe, Justin J.W. Powell: Sign of our times? Revis(it)ing the International Symbol of Access, in: Disability and Society 22, 2007, H. 5, S. 489–505. 28 Vgl. Daniel D. Wilkens: Thoughts on the International Symbol of Access, 2004, .

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Diese verschiedenen Funktionen betreffen zum Beispiel ganz konkret die Frage, wer die legitimen Nutzer von Behindertenparkplätzen sind. Hierdurch trägt das Zeichen dazu bei, den Mythos physischer oder funktionaler Normalität aufrechtzuerhalten und dadurch die Kontextualität und Relationalität von Behinderung zu verdecken. In dieser Hinsicht stabilisiert es durch die Markierung eines Personenkreises als legitime Nutzer oder Adressaten die sozial konstruierte Entgegensetzung von Normalität und Abweichung. In der Debatte wird immer wieder hervorgehoben, dass das ISA eine als positiv erlebte Identität behinderter Menschen symbolisiert und einen Beitrag zur Herausbildung von Solidarität leisten kann. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass dem ISA nicht nur die manifeste Funktion der Verringerung von Nachteilen zukommt, sondern dass es auch die latente Funktion erfüllt, weitverbreitete Überzeugungen über individuelles Funktionieren in bestimmten Situationen und Normalität überhaupt aufrechtzuerhalten. Behindertengerecht gestaltete Zugänge zu Gebäuden oder entsprechend gekennzeichnete Behindertenparkplätze reduzieren demnach nicht nur Barrieren, sondern sie markieren ihre Nutzer auch als Individuen, die behindert sind und deshalb besonderer physischer Arrangements bedürfen. Insofern kann die Nutzung eines Behindertenparkplatzes buchstäblich zu einem Stigma werden. Ein weiterer kritikwürdiger Aspekt am ISA ist, dass in diesem Symbol ein spezifischer Aspekt für das Ganze steht und dies in doppelter Hinsicht. Zum einen wird der Rollstuhl zu einem Symbol für Behinderungen überhaupt, und dies trotz der zwischen verschiedenen Behinderungen bestehenden erheblichen Unterschiede und trotz der Tatsache, dass die meisten Behinderungen nur teilweise oder gar nicht mit Mobilitätseinschränkungen zu tun haben. Zum anderen wird das Individuum mit seiner Behinderung identifiziert, indem der die Behinderung symbolisierende Rollstuhl und die Person als Einheit dargestellt werden. Hierdurch wird, zumindest der Tendenz nach, die Behinderung zum Hauptmerkmal der betroffenen Person. Im besten Fall verwandelt die Verschmelzung von Rollstuhl und Körper die dargestellte Person in einen Cyborg, im schlimmsten Fall in eine Un- oder Nicht-Person.29 Genauso wie assistive Technologien eine individuelle Beeinträchtigung überhaupt erst sichtbar und dadurch zu einem Stigma im sozialen Raum machen können, unterstreicht ein Symbol wie das ISA die soziale Sichtbarkeit. Ben-Moshe und Powell fassen ihre Reflexion abschließend wie folgt zusammen: „This symbol subsumes diverse disabilities in a pictogram of a wheelchair user while simultaneously reinforcing a dichotomy of dis/ability that separates those who are deemed „normal“ (needing no access accommodations) from those who are not. Therefore, we have argued that the ISA represents disability as much as it shows the way to an accessible door through which to enter”.30 In einer gesellschaftlichen und sozialen Umwelt, die nicht nach den Prinzipien des „universal design“ gestaltet ist, 29 Ben-Moshe/Powell (Anm. 27), S. 498. 30 Ben-Moshe/Powell (Anm. 27), S. 503.

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kommt dem Zeichen eine ambivalente symbolische und metaphorische Funktion zu. Einerseits steht es für Befreiung, Unabhängigkeit und Barrierefreiheit, andererseits fungiert es als Markierung sozial unerwünschter bzw. als problematisch wahrgenommener Differenz.

5.  Ethische Probleme bei der Herstellung von Barrierefreiheit Waren die Überlegungen zu den moralisch eingefärbten ästhetischen Urteilen über das Auftauchen von Behinderungen im öffentlichen Raum auf die in der Regel unreflektierte, oftmals nicht einmal bewusste praktische Alltagsmoral bezogen, geht es in diesem Abschnitt um eine dezidiert ethische Fragestellung, die im Rahmen bewusster Reflexion und auf der Suche nach triftigen Argumenten in den Blick genommen wird. Das Moment des Ästhetischen tritt hier also zugunsten einer argumentativen, nach Geltungsgründen suchenden Abwägung in den Hintergrund. Barrierefreiheit ist ein zumindest implizit politisches Konzept, dessen Begründung auf individual- und sozialethischen Normen beruht. Ethisch gesehen ist Barrierefreiheit einerseits als Mittel zur Verwirklichung des Zwecks der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen zu verstehen. Andererseits ist sie einer „Moral der Inklusion“ verpflichtet. Barrierefreiheit im oben erläuterten weiten Sinn ist eines der Instrumente, Selbstbestimmung und Inklusion bzw. Teilhabe zu verwirklichen. Das Prinzip der Barrierefreiheit besagt mit anderen Worten, dass es für die Individuen ein hohes Gut darstellt, in einer barrierefreien Welt zu leben. Das Prinzip impliziert darüber hinaus, dass eine barrierefreie Gesellschaft eine bessere (anständigere, fairere, gerechtere) ist als eine Gesellschaft mit Barrieren. Allerdings wirft Barrierefreiheit auch als normatives Prinzip ein komplexes und nicht einfach zu lösendes Problem auf, das in diesem letzten Abschnitt in den Blick genommen werden soll. Die Verwirklichung von Barrierefreiheit setzt ein klares Konzept und einen möglichst eindeutigen und operationalisierbaren Begriff der Barriere voraus, sonst droht er (vor allem politisch und rechtlich) ohne Nutzen und greifbare Folgen zu bleiben. Nun erweist es sich, dass eine solche Spezifizierung und Operationalisierung keineswegs einfach ist. Je weiter das zugrunde liegende Verständnis von „Barrieren“ ist, desto schwieriger wird es sein, zu einer solchen (auch justiziablen) Spezifizierung und Operationalisierung zu kommen. Ist der Barrierebegriff jedoch zu eng gefasst, werden viele relevante Mechanismen der Behinderung von Individuen ausgeblendet. Tatsächlich erweist sich – so meine zentrale These dieses Abschnitts – umfängliche Barrierefreiheit als Ideal, das aus prinzipiellen und praktischen Gründen nicht vollumfänglich verwirklicht werden kann. Die wohl größte Schwierigkeit liegt in der Heterogenität individueller Schädigungen oder Beeinträchtigungen, durch die spezifische Umweltbedingungen zu Barrieren werden können. Da das Spektrum von Beeinträchtigungen sehr unterschiedliche Formen und Ausprägungsgrade umfasst, gibt es auch eine Vielfalt sehr unterschiedlicher Barrieren. Eine grobe Typisierung ist sicher-

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lich unproblematisch: Für Rollstuhlfahrer sind Stufen Barrieren, für Gehörlose ist es fehlende Gebärdensprache, für Blinde sind es fehlende Brailleschrift und fehlende taktile Orientierungsmarken im öffentlichen Raum. Weniger häufig genannte Beispiele für Barrieren könnten die folgenden sein: Menschen mit Sprachstörungen können stark verbalsprachlich strukturierte Interaktionssituationen als Barrieren erleben, während psychisch kranke oder stark autistische Menschen eine Großstadt mit ihren vielfältigen intensiven Reizen, ihrer Komplexität und den stets möglichen unvorhersehbaren Ereignissen als Barriere empfinden können. Bedenkt man die unterschiedlichen Ausprägungsgrade und sonstige Spezifika solcher Beeinträchtigungen, stellt sich die – politisch höchst unkorrekte – Frage, ob es ein legitimer Anspruch ist, für alle Beeinträchtigungsformen und -grade gleichermaßen Barrierefreiheit zu fordern. Oder gibt es (vor allem bei Ressourcenknappheit) auch Hierarchien bzw. Prioritäten von Ansprüchen auf Barrierefreiheit? Wo liegen dann die Grenzen zwischen legitimen und nichtlegitimen Ansprüchen, und wer legt diese Grenzen mit welcher Begründung fest? Spätestens an diesem Punkt werden schwierige normative Fragen aufgeworfen. Um die Problematik an einem einfachen Beispiel zu illustrieren: Es besteht zwar Konsens darüber, dass das Fehlen einfacher Sprache eine Barriere für Menschen mit Lernschwierigkeiten ist. Da aber auch hier nur auf jeden konkreten Einzelfall bezogen bestimmt werden kann, ob ein Text oder eine Information eine Barriere ist, lässt sich letztlich nicht objektiv festlegen, was „einfache Sprache“ ist. Je nach Ausprägungsgrad der individuellen Fähigkeiten und Schwierigkeiten wären nämlich auch unterschiedliche Vereinfachungsgrade der sprachlichen Information und alternative Symbolisierungsformen geboten. Welche Vereinfachungsgrade und alternativen Symbolisierungsformen aber sind im Sinne der Barrierefreiheit geboten und welche nicht? Sind wir ethisch dazu verpflichtet, auch hochkomplexe und abstrakte Sachverhalte sprachlich möglichst umfänglich zu vereinfachen? Sollten wir dazu nicht verpflichtet sein: Schließen wir dann nicht von vorne herein Menschen mit Lernschwierigkeiten von der Aneignung komplexer Sachverhalte aus? Diese Problematik ergibt sich auch aus dem zugrundegelegten relationalen Verständnis von Barrieren. Wenn Barrieren relational als unzureichende Individuum-UmweltPassung zu verstehen sind, kann immer nur mit Blick auf den Einzelfall bestimmt werden, welche Merkmale der Umwelt unter welchen Bedingungen für welche Personen zu Barrieren werden. Damit gibt es potentiell unendlich viele Barrieren, die sich im besten Fall grob typisieren ließen, sowie ebenso potentiell unendlich viele individualisierte Anforderungen an Barrierefreiheit. Das ethische Kernproblem lässt sich so umschreiben: Wenn eine solche maximierte individuelle Passung nicht herzustellen ist, stellt sich die Frage, bei welchen solcher fehlenden Passungen ein individuell legitimer Anspruch verletzt wird und bei welchen nicht. In welchen Konstellationen also besteht seitens der Gesellschaft eine Pflicht, Barrieren abzubauen bzw. Barrierefreiheit sicherzustellen? Welche Barrieren können, sollen und müssen abgebaut werden? Hieran anknüpfend stellen sich weitere Fragen: Wie ist es möglich, zwischen vermeidbaren und unvermeidbaren Barrieren sowie zwischen zumutbaren und unzumutbaren Barrie-

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ren zu unterscheiden? Wie kann man vermeidbare Barrieren in eine wertmäßige Rangordnung bringen, um zu einer Prioritätenliste ihres Abbaus zu kommen? Und welche Kriterien spielen hierbei eine Rolle (z.B. die Häufigkeit spezifischer Beeinträchtigungen oder die anfallenden Kosten)? Ein Versuch, eine solche ethische Evaluation von Barrieren durchzuführen und Prioritäten in der Verwirklichung von Barrierefreiheit herauszuarbeiten, könnte ein normalistisches Körperkonzept implizieren: Sie muss von einer statistisch erfassten körperlichen Normalität, d.h. von Häufigkeitsverteilungen und Durchschnittswerten ausgehen, die in der Sphäre des Rechtes ihrerseits mit Grenzwerten versehen werden müssen, um justiziabel zu sein. Statistisch gesehen sind leichte Abweichungen von der Norm (z.B. in Bezug auf die Intelligenz oder die Funktion des Gehörs) häufiger als schwerwiegende. Jedoch wirft sowohl das Kriterium des Schweregrads als auch dasjenige der Häufigkeit von Beeinträchtigungen das Problem auf, dass damit bestimmte Schweregrade oder seltene Beeinträchtigungsformen von der Barrierefreiheit ausgeschlossen werden. Es sind vor allem Fragen der Verteilungsgerechtigkeit, die hier angesprochen werden. In normativer Hinsicht heißt Gerechtigkeit, „dass der Maßstab bei der Verteilung von Lasten und Entschädigungen, wie immer er aussehen mag, nicht von vorneherein zugunsten bestimmter Personen oder Personengruppen entworfen und bei der Anwendung nicht zugunsten oder zuungunsten bestimmter Personen manipuliert wird“.31 Grenzen der Verpflichtung der Umsetzung von Barrierefreiheit würden somit bestimmte Personen ausschließen und wären in gerechtigkeitsethischer Hinsicht legitimationspflichtig. Auf der anderen Seite könnte man auf die hohen Kosten der Herstellung von Barrierefreiheit für seltene oder sehr spezifische Beeinträchtigungen hinweisen. Sofern diese Kosten aufgebracht werden sollten, zugleich aber dadurch (aufgrund knapper finanzieller Ressourcen) andere, ebenfalls ethisch signifikante Projekte zurückstehen müssten, wäre die Herstellung von Barrierefreiheit in diesem Fall ihrerseits legitimationsbedürftig. Zum Schluss soll noch auf einen etwas anders gelagerten Aspekt der bereits diskutierten Problematik hingewiesen werden, der in Zukunft zunehmend bedeutsam werden könnte. So könnte sich die Verwirklichung von Barrierefreiheit mit dem Zuwachs des Wissens über das Zusammenspiel von (genetischer) Anlage und Umwelt deutlich verkomplizieren. Buchanan u.a. stellen fest, dass die Zunahme des diesbezüglichen Wissens viel deutlicher zeigen wird, welche Arten von Umwelten für welche Menschen am besten sind und welche schädlich.32 Die Autoren zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen der gegenwärtigen genetischen Forschung und dem Postulat der Barrierefreiheit (hier in einem weiten, inklusionsorientierten Sinn verstanden) gibt. Der Zuwachs an Wissen über genetisch bedingte Unterschiede zwischen Menschen kann nach Überzeugung der Autoren gesellschaftliche Solidarität auch unterminieren und somit die Verwirklichung einer Moral der Inklusion vor neue Herausfor31 Robert Spaemann: Moralische Grundbegriffe, München: Beck, 1994, S. 51. 32 Buchanan/Brock/Daniels/Wikler (Anm. 2).

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derungen stellen. Zu deren größten zählen die Autoren die folgende: Wie groß ist die Verpflichtung der Gesellschaft, genügend Ressourcen für die Vielfalt und heterogenen Bedürfnisse (genotypischer) Minderheiten bereitzustellen, damit sie keine (illegitimen) Einschränkungen ihrer Möglichkeiten dadurch erfahren müssen, dass sie in einer sozialen Umwelt leben, die von anderen für andere konstruiert worden ist?33 Das bedeutet aber auch: Gegenüber der „Mehrheitsgesellschaft“ kann die Verwirklichung von sehr spezifizierten Formen der Barrierefreiheit für „Minderheiten“ zu einem beträchtlichen Aufwand an Ressourcen und in der Folge zu Ungerechtigkeiten führen. Die Herstellung von Barrierefreiheit kann zwar als eine Art legitimer Nachteilsausgleich verstanden werden. Jedoch kann es bei der Umsetzung zu Verteilungsund Gerechtigkeitsproblemen kommen, und zwar dann, wenn der Aufwand für diese Nachteilsausgleiche Ressourcen bindet, die die nichtbehinderte Mehrheitsgesellschaft gerne für andere, als ebenfalls hochrangig eingestufte Zwecke einsetzen würde. Im Hintergrund dieser Problematik steht die Spannung zwischen einer „Moral der Inklusion“ auf der einen Seite und den legitimen Interessen der Mehrheitsgesellschaft auf der anderen. Wie ist es möglich, diesbezüglich eine Balance zu finden? Auch diese Fragen müssen in Zukunft im Kontext der Forderung nach Barrierefreiheit eingehender diskutiert werden.

33 Buchanan/Brock/Daniels/Wikler (Anm. 2), S. 301.

Ruth von Bernuth

Bettler, Monster und Zeichen Gottes. Behinderung in der Frühen Neuzeit

Mit dem Entstehen der disability studies in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts begann die kulturwissenschaftliche Analyse von „Behinderung“ auch innerhalb der historischen Wissenschaften. Doch obgleich es als notwendig angesehen wurde, eine „Geschichte der Behinderung“1 zu schreiben, mangelt es bis heute an Untersuchungen in diesem Feld. Nicht nur die Quellenlage gestaltet sich schwierig, sondern es lässt sich auch keine lineare Geschichte der Behinderung schreiben, da sie sich nicht als teleologische Entwicklung beispielsweise im Sinne eines zunehmenden Fortschrittes in der Versorgung Behinderter oder umgekehrt in Form einer in der Euthanasie mündenden Institutionalisierung darstellen lässt. Die mit einer historisch ausgerichteten Untersuchung einhergehenden Schwierigkeiten sind bereits an der Begriffsgeschichte ablesbar. Behinderung stellt, so Anne Waldschmidt und Werner Schneider, eine „unspezifische Sammelkategorie“2 dar. Ist die Bezeichnung damit bereits in der Moderne ungenau, so ist sie angewandt für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit anachronistisch. In mittelhochdeutschen Wörterbüchern gibt es weder unter dem Begriff „Behinderung“ noch unter einem etymologisch verwandten Wort oder einer anderen vergleichbaren Sammelbezeichnung einen Eintrag. Noch in dem von Jacob und Wilhelm Grimm begründeten Deutschen Wörterbuch, dessen erster Band 1854 erschien, wird unter Behinderung3 nur auf ein äußerliches Hindernis und auf impedimentum verwiesen.4 In der lateinischen Bedeutung des Wortes handelt es sich um etwas, das einen hindert, schneller voran zu kommen. In keinem Fall wird jedoch damit der sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seiner heuti1 Siehe dazu Anne Waldschmidt: Soziales Problem oder kulturelle Differenz? Zur Geschichte von „Behinderung“ aus der Sicht der „Disability Studies“, in: traverse. Zeitschrift für Geschichte – Revue d’histoire 13, 2006, H. 3, S. 31–46. 2 Anne Waldschmidt, Werner Schneider: Disability Studies und Soziologie der Behinderung. Kultursoziologische Grenzgänge – eine Einführung, in: Anne Waldschmidt, Werner Schneider (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielefeld: transcript, 2007, S. 9–28, hier S. 10. 3 Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 1, Nachdruck der Erstausgabe (Leipzig: Hirzel, 1854), München: Deutscher Taschenbuch-Verlag, 1999, Sp. 1341, im Folgenden: DWb. 4 Ruth von Bernuth: wer jm guotz thett dem rödet er vbel. Natürliche Narren im Gebetbuch des Matthäus Schwarz, in: Cordula Nolte (Hg.): Homo debilis. Behinderte – Kranke – Versehrte in der Gesellschaft des Mittelalters, Korb: Didymos, 2009, S. 411–430, hier S. 409.

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gen Bedeutung herausbildende Begriff der Behinderung beschrieben. Das Grimmsche Wörterbuch kennt andererseits eine Vielzahl von Bezeichnungen, die verkörperte Differenzen5 beschreiben wie zum Beispiel die Adjektive „blind“6, „lahm“7, „taub“8 oder Substantive wie „Krüppel“9 und „Narr“10. Diese Begriffe sind schon im Mittelhochdeutschen vorhanden, das vielfältige Beschreibungen für Behinderungen kennt, zu denen Worte wie blint, lam, toub, tôre oder narre gehören. Im Frühneuhochdeutschen werden weitere Begriffe wie Wundergeburt, Missgeburt und monstrum hinzugefügt. Mit diesen unterschiedlichen Bezeichnungen gehen auch sehr verschiedene Zuschreibungen und Deutungen einher. Um die nebeneinanderher existierende Begriffs- und Deutungsvielfalt in Spätmittelalter und Früher Neuzeit aufzuzeigen, sollen im Folgenden exemplarisch anhand des städtischen und des höfischen Raumes sowie anhand von frühneuzeitlichen Drucken verschiedene Repräsentationsformen von Behinderung dargestellt werden. Dabei wird die Vielfalt der Bezeichnungen herausgearbeitet, um die daran geknüpften verschiedenen, sich teilweise überlappenden, zum Teil aber auch voneinander unterscheidenden Funktionen von Behinderung in der Frühen Neuzeit aufzuzeigen.

1.  Städtischer Raum: Nürnberger Bettelordnung (1478) Auf frühneuzeitlichen Darstellungen wie beispielsweise Pieter Bruegels 1559 entstandenem Bild Kampf zwischen Karneval und Fasten sind Bettler dargestellt, die ostentativ ihre Bein- und Armstümpfe zeigen. Das verweist auf das Betteln als eine Form des Broterwerbs, dem auch behinderte Menschen in der Frühen Neuzeit nachgingen. Die Bettelordnungen der verschiedenen Städte reflektieren diese Praxis, weshalb sie eine aufschlussreiche Quelle darstellen, um noch einmal genauer zu untersuchen, wie in diesen Rechtstexten Behinderungen beschrieben werden und mit welchen Bewertungen sie verbunden sind. Im 15. und 16. Jahrhundert wandelte sich die Armenfürsorge und führte auch zu einem Einstellungswandel gegenüber Bettlern, der sich unter anderem in den neu entstehenden Bettelordnungen widerspiegelt. In diesen Ordnungen wird genau vorgeschrieben, wer zu welchen Zeiten berechtigt war, zu betteln.11 Jeder Bett5 Zur Definition von „verkörperter Differenz“ siehe Waldschmidt (Anm. 1), S. 32. Dieser Terminus knüpft an „die in den disability studies gebräuchliche Bezeichnung embodied difference an. Als unspezifischer Sammelbegriff bezeichnet sie die vielfältigen körperlichen, mentalen und psychischen Auffälligkeiten, denen gemeinsam ist, dass sie immer nur mittels des Körpers ausgedrückt und wahrgenommen werden können.“ 6 DWb, Bd. 2, Sp. 119–124. 7 DWb, Bd. 12, Sp. 72f. 8 DWb, Bd. 21, Sp. 162–165. 9 DWb, Bd. 11, Sp. 2473–2475. 10 DWb, Bd. 13, Sp. 354–364. 11 Zur Armenfürsorge siehe Ernst Schubert: Duldung, Diskriminierung und Verfolgung gesellschaftlicher Randgruppen im ausgehenden Mittelalter, in: Sigrid Schmitt, Michael Matheus (Hg.): Krimina-

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ler musste dazu mit einem besonderen Bettelzeichen ausgewiesen sein. In Nürnberg wurde 1370 eine der ersten deutschsprachigen Bettelordnungen erlassen, 1478 folgte eine zweite. An verschiedenen Stellen dieser Ordnungen werden die Körper der Bettler kontrolliert und reglementiert, um „falsche“ Bettler erkennbar zu machen. So soll beispielsweise 1478 jeder Bettler, bevor er das Bettelzeichen erhält, vor dem Nürnberger Rat eine Erklärung darüber abgeben, in was stands, wesenns und vermüglichkeit des leibs12 er sei, wieviel Kinder er habe und ob er verheiratet oder ledig sei. Hier werden neben sozialen Faktoren der Zustand und die vermüglichkeit, d.h. die Fähigkeiten, des Körpers sehr allgemein genannt und erst an anderer Stelle unterscheidet der Text genauer, wer an welchen Tagen betteln darf. Anerkannte verkörperte Differenzen, die ein uneingeschränktes Betteln erlauben, werden allein hier – und das auch nur in der Negation – mit „verkrüppelt“, „lahm“ und „blind“ bezeichnet. Denjenigen also, die nit krüppel, lam oder plint sind, ist es nicht erlaubt, an Werktagen an der pettelstat zu sitzen, sondern sie sollen stattdessen arbeiten.13 Die sich hier entfaltende Unterscheidung zwischen denen, die ungebrechlich und damit arbeitsfähig sind, und denen, die keine Arbeit ausführen können, spiegelt die seit dem Spätmittelalter für verschiedene religiöse und politische Zwecke instrumentalisierte Debatte über den „starken“ Bettler wider, den man zu diskriminieren suchte.14 Konnte der Bettler seine Bedürftigkeit nachweisen – sei es durch soziale Notlagen wie eine große Kinderzahl oder sei es durch eine Behinderung –, wurde ihm das Betteln weiter erlaubt. Die Nürnberger Bettelordnung von 1478 kennt daher keine Sammelkategorie, wie es das moderne Wort „Behinderung“ darstellt, vielmehr differenziert sie die Bettler hauptsächlich durch die mehrfach im Text genannte Arbeitsfähigkeit. Jedoch gibt es an einer Stelle im Text eine Einschränkung, die sich auf das Zurschaustellen von veränderten Körpern bezieht. Ausgehend von der im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit geläufigen Vorstellung, dass durch das Sehen bestimmte einprägende Prozesse beim Betrachter ausgelöst werden, wird die Gefahr benannt, der Anblick von außergewöhnlichen und erschreckenden Dingen könne einen solchen Eindruck bei einer Schwangeren hinterlassen, dass das ungeborene Kind später Ähnlichkeiten mit dem betrachteten Objekt aufweisen würde.15 Daher verbietet die Nürnberger Bettelordnung von 1478 jedem fremden und jedem einheimischen Bettler, der einen offenbaren erbermlichen scha-

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lität und Gesellschaft im Spätmittelalter und Neuzeit, Stuttgart: Steiner, 2005, S. 47–69; Wolfgang von Hippel: Armut, Unterschichten, Randgruppen in der Frühen Neuzeit, München: Oldenbourg, 1995; Franz Irsigler: Mitleid und seine Grenzen. Zum Umgang der mittelalterlichen Gesellschaft mit armen und kranken Menschen, in: Cordula Nolte (Hg.): Homo debilis. Behinderte – Kranke – Versehrte in der Gesellschaft des Mittelalters. Korb: Didymos-Verlag, 2009, S. 165–181. Joseph Baader (Hg.): Nürnberger Polizeiordnungen aus dem XIII. bis XV. Jahrhundert, Stuttgart: Literarischer Verein, 1861, S. 317. Baader (Anm. 12), S. 317. Baader (Anm. 12), S. 317; vgl. auch Schubert (Anm. 11). Jean-Claude Schmitt: L‘imagination efficace, in: Klaus Krüger, Alessandro Nova (Hg.): Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit, Mainz: Philipp von Zabern, 2000, S. 13–20, hier S. 14f.

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den an seinem leibe oder glidern16 hat, ihn zu zeigen. Vielmehr solle der Schaden, davon die swangern frawen durch gesicht schaden empfahen mochten,17 verdeckt werden, und bei Verstoß wird die Ausweisung aus der Stadt für ein Jahr angedroht. Diese Praxis spiegelt sich nicht in Bruegels Bild wider, das jedoch nicht als eine historische Quelle über das Betteln missverstanden werden darf. Vielmehr ist seine Darstellung eng in die Glaubensstreitigkeiten der Frühen Neuzeit eingebunden, das sich auch in der Figur des bettelnden Mannes mit den fehlenden Gliedmaßen zeigt, der in der Nähe der Kirche sitzend den Umgang der katholischen Seite mit Armut illustriert. Um den Bettler herum liegen nur wenige Geldstücke, die damit die nichtausgeübte Praxis der Nächstenliebe der katholischen Kirche kritisiert, die noch durch weitere Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung verstärkt wird, die trotz des Fastens sich mit Essen vergnügen. Die Behinderung symbolisiert in Bruegels Bild die Armut auf besondere Weise, denn mit ihr kann kaum besser dargestellt werden, wie sehr der Bettler von der christlichen Nächstenliebe seiner Umgebung abhängig ist.

2.  Höfische Kunst- und Wunderkammern München und Ambras Kunst- und Wunderkammern stellen einen Raum dar, wo Abbildungen von behinderten Menschen in der Frühen Neuzeit ausgestellt wurden und dabei repräsentative Funktionen übernahmen. Fürstliche Herrscher begannen sich am Ausgang des Mittelalters zunehmend für alles Wunderbare zu interessieren, was im 16. und 17. Jahrhundert dazu führte, dass viele europäische Höfe unterschiedliche Sammlungen aufbauten. Die ideale Kunstkammer, die – so Samuel Quiccheberg in seiner 1565 erschienenen grundlegenden Schrift Inscriptiones vel tituli theatri amplissimi – ein Weisheitstheater sein sollte, inszenierte in einem theatrum mundi den Fürsten als den Mittelpunkt der Welt, um den seltene exotische und ungewöhnliche Dinge, wie besondere Perlen, Steine, aber auch Automaten, Uhren und chinesisches Porzellan sowie Tiere wie Krokodile, Walfischknochen oder Straußeneier und Menschen, seien sie lebend oder gemalt, gruppiert wurden.18 Zu den bekanntesten Sammlungen der Zeit gehört die im Tiroler Schloss Ambras, die Erzherzog Ferdinand von Österreich 1563 errichten ließ.19 Die hier gesammelten Gegenstände und Bilder wurden erworben oder kamen als Auftragsarbeiten, Kopien oder Geschenke in die Sammlung. Die Ambraser Sammlung stand – nicht zuletzt bedingt durch enge verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Erzherzog Ferdinand und Albrecht V. – im engen Austausch mit der Münchner Kunstkammer. Wunderbare Gegenstände und ihre Abbildungen wurden verschenkt oder ausgetauscht und zirkulierten so zwischen den europäischen Höfen der Frühen Neuzeit. 16 Baader (Anm. 12), S. 318. 17 Baader (Anm. 12), S. 318. 18 Ruth von Bernuth: Wunder, Spott und Prophetie. Natürliche Narrheit in den ,Historien von Claus Narren‘, Tübingen: Niemeyer, 2009, S. 48f. 19 Elisabeth Scheicher: Die Kunstkammer, Innsbruck: Kunsthistorisches Museum, 1977.

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Innerhalb der Kunst- und Wunderkammer ging es nicht im Sinne eines naturkundlichen Museums darum, die Wunder nach ihrer Herkunft zu exemplifizieren und zu klassifizieren. Vielmehr stellten sie eine Ansammlung „im Sinne eines Depots für ökonomisches und spirituelles Kapital“20 dar. Die ausgestellten Wunder sollten Neugierde, Staunen und letztlich Bewunderung beim Betrachter erregen. Grundsätzlich ist zunächst einmal von einer prinzipiellen Einteilung der Wunder auszugehen, die zwischen einem miraculum und einem mirabilium trennt. Gestützt auf griechische und arabische Quellen wurden Wunder abhängig von der ihnen zugeschriebenen Ursache ihrer Entstehung unterschieden. So unterliegt das mirabilium der allgemeinen göttlichen Ordnung und wird nur dadurch wunderbar, dass es selten ist. Es handelt sich also hier um Erscheinungen, die „dennoch allein auf sekundäre Ursachen zurückgingen und nicht die Aufhebung der üblichen göttlichen Vorsehung verlangten“.21 Unter die mirabilia werden demnach alle wunderbaren Spezies gefasst, die als „ein dauerhafter und regelmäßiger (wenn auch seltener oder exotischer) Teil der physischen Welt“22 galten. Zu den Wundern wurden ebenso Menschen gezählt, und diese waren, wie es auch die 1493 gedruckte Schedelsche Weltchronik zeigt, in den mittelalterlichen Karten am Rande der Welt angesiedelt. Zu ihnen gehören zum Beispiel die hundeköpfigen Kynokephaloi, die kleinwüchsigen Pygmäen oder die einäugigen Zyklopen, die auf antike Vorbilder zurückgingen. Diese Vorstellungen fanden Eingang in naturphilosophischen Enzyklopädien von mittelalterlichen Theologen, wie dem von Thomas von Cantimpré verfassten Liber de natura rerum aus dem 13. Jahrhundert, das wiederum Einfluss auf Werke in der Volkssprache nahm. Vermittelt wurden die Ideen aber auch über die Reiseliteratur, zu denen die Reisen von John Mandeville zählen. Dieses Buch, welches eines der bekanntesten Werke dieser Gattung darstellt, nennt eine Vielzahl von Wundervölkern, die auf weit entfernten Inseln leben und die sich im Aussehen oder in ihrem sozialen Zusammenleben von der europäischen Norm unterscheiden. Die Literatur spiegelt nicht nur das Wissen der Zeit wider, sondern beeinflusste wiederum auch die Sammlungstätigkeit der im 16. Jahrhundert entstehenden Kunst- und Wunderkammern an verschiedenen Höfen. So wird in der Reisebeschreibung beispielsweise ein behaartes Volk genannt, die sind gehär vber allen iren lib als die wilden katzen/ vnd gand uf den henden vnd vff den füssen vnd syn gar behende zu klimen vf bäum oder muren.23 Als nun der besonders im ganzen Gesicht behaarte Petrus Gonsalvus, der um 1550 auf Teneriffa geboren wurde, noch im Kindesalter an den Hof Heinrich II. von Frankreich gelangte, war ihm die Aufmerksamkeit 20 Lorraine Daston, Katharine Park: Wunder und die Ordnung der Natur 1150–1750, Berlin: Eichborn, 2002, S. 85. 21 Daston/Park (Anm. 20), S. 142. 22 Daston/Park (Anm. 20), S. 57. 23 John Mandeville: Von der erfarün[g] des strengen Ritter[s] johannes von montauille. Aus dem Französischen und Lateinischen übersetzt und bearbeitet von Otto von Diemeringen, Straßburg: Bartholomäus Kistler, 1499, Bl. 42r.

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an allen europäischen Höfen sicher.24 Mit ihm glaubte man nun, den Beweis eines solchen existierenden Wundervolkes mit einem besonderen Haarwuchs gefunden zu haben, wie es in den Reisen von John Mandeville und anderen beschrieben worden war. Petrus Gonsalvus wurde dem niederländischen Statthalter Alessandro Farnese geschenkt und diente schließlich dessen Sohn auf Parma. Petrus Gonsalvus und später auch seine Kinder, die ebenso eine in der medizinischen Terminologie genannte Hypertrichosis universalis congenita hatten und daher starken Haarwuchs besonders im Gesicht aufwiesen, wurden nicht nur an den Höfen bestaunt und bewundert, sondern ebenso vielfach porträtiert. Eines der Bildnisse gelangte in die Kunst- und Wunderkammer von Schloss Ambras, wo es zusammen mit den Bildnissen des ersten Sammlers Erzherzog Ferdinand II., seiner Familie sowie anderen europäischer Fürsten gehängt wurde. Die unmittelbare Nähe zu der fürstlichen Familie belegt, welchen außerordentlichen Stellenwert die Wundermenschen einnahmen, die in ihrer Einzigartigkeit die Einmaligkeit des Herrschers untermalten. Weitere Porträts zeigten andere außergewöhnliche Menschen wie den Riesen Bartlmä Bona und den Zwerg Thomele, bei denen davon auszugehen ist, dass sie nur im Bild so zusammen porträtiert wurden. Während Thomele als Hofzwerg Erzherzog Ferdinand diente, ist ein Aufenthalt eines 2,40 Meter großen Menschen nicht auf Schloss Ambras nachweisbar, sondern nur bei einem Turnier in Wien 1560.25 Im Schloss Ambras gab es jedoch nicht nur die Porträts in der Kunst- und Wunderkammer und den bereits genannten Thomele, der lebend als Hofzwerg diente, sondern es ist auch davon auszugehen, dass sich am Hof ebenso eine größere Anzahl von Narren aufhielten, deren Porträts leider bis auf eines nicht überliefert sind. Ambras ist nicht die einzige Kunst- und Wunderkammer, in der Porträts von Wundermenschen ausgestellt wurden, und auch Petrus Gonsalvus und seine Familie waren nicht die einzigen Haarmenschen, die durch Europa reisten und deren Bilder an den verschiedenen Höfen ausgestellt wurden. So befanden sich in der Münchner Kunstkammer verschiedene Bilder von Zwergen, Riesen, Narren, Haarmenschen und dabei vorwiegend bärtigen Frauen, die teilweise später in die Ambraser Sammlung gelangten oder für sie kopiert wurden.26 Zu ihnen gehört ein Porträt, das lange Zeit als Prinzessin Helena von Bayern geführt, inzwischen aber als Helena Antonia aus Lüttich 24 Roberto Zapperi: Ein Haarmensch auf einem Gemälde von Agostino Carracci, in: Michael Hagner (Hg.): Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten, Göttingen: Wallstein, 1995, S. 45–55; Roberto Zapperi: Der wilde Mann von Teneriffa. Die wundersame Geschichte von des Pedro Gonzales und seiner Kinder, München: Beck, 2004. 25 Die Sammlung in Ambras ist in den disability studies verschiedentlich diskutiert worden. Dazu Ruth von Bernuth: From Marvels of Nature to Inmates of Asylums. Imaginations of Natural Folly, in: Disability Studies Quartely 26, 2006, H. 2; Margot Rauch: „Alles was seltsam ist“ – das Bildnis eines behinderten Mannes als Sammlungsobjekt, in: Petra Flieger, Volker Schönwiese (Hg.): Das Bildnis eines behinderten Mannes. Bildkultur der Behinderung vom 16. bis ins 21. Jahrhundert, Neu-Ulm: AG SPAK Bücher, 2007, S. 119–136. 26 Zu den Bildern von Haarmenschen siehe Zapperi 2004 (Anm. 24), S. 66–68. Zur Münchner Kunstkammer: Peter Diemer: Wenig ergiebig für die Alte Pinakothek? Die Gemälde der Kunstkammer, in:

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Abbildung 1 Bildnis der Helena Antonia Galeckha aus Lüttich. Öl auf Leinwand, Graz (?) 1595. © Bayerisches Nationalmuseum München, Inv.-Nr. R 1718, Foto: Karl-Michael Vetters.

identifiziert wurde.27 Das Missverständnis kam wohl durch ihre kostbare Kleidung und die Aufschrift Helena, ex familia ser(enissi)mae ducissae Bavariaem A(nn)o 1595 ad vivum et naturaliter depicta et delineata28 zustande. Die um 1591 geborene Helena wurde Willibald Sauerländer (Hg.): Die Münchner Kunstkammer, Bd. 3: Aufsätze und Anhänge, München: Beck, 2008, S. 125–224, hier S. 189–194. 27 Johann Baptist Fickler: Das Inventar der Münchner herzoglichen Kunstkammer von 1598. Editionsband. Transkription der Inventarhandschrift cgm 2133. Hg. von Peter Diemer. München: Beck, 2004. Zu den weiblichen Haarmenschen Nr. 2870–2873, 2880; Riesen Nr. 423, 2732; Zwerge Nr. 361, 2732, 2912, 3229–3306. Zu Helena Antonia siehe Ingrid Roitner: Helena Antonia aus Lüttich. Eine virgo barbata am Hof der Erzherzogin Maria in Graz (= 1608), in: Ilse Korotin (Hg.): 10 Jahre „Frauen sichtbar machen.“ biografiA – datenbank und lexikon österreichischer frauen, Wien: Institut für Wissenschaft und Kunst, 2008, S. 41–49. 28 Willibald Sauerländer, Dorothea Diemer (Hg.): Die Münchner Kunstkammer. Bd. 2: Katalog Teil 2, München: Beck, 2008, S. 856f. Die lateinische Inschrift besagt, dass es sich hier um Helena aus dem Hofstaat der Herzogin von Bayern handelt, die nach dem lebenden Modell naturgemäß gemalt wurde.

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von ihren Eltern dem späteren Erzbischof von Köln, Herzog Ernst von Bayern, in Obhut gegeben, der sie an seine Schwester Erzherzogin Maria von Innerösterreich weiterschenkte, die wiederum das bärtige Mädchen eine Zeit lang zusammen mit ihrer Tochter Margarete aufziehen ließ.29 Maria war es vermutlich auch, die ihrem Bruder Wilhelm V. von Bayern das Bild zukommen ließ. Helena wurde hier zur familia im Sinne der mittelalterlichen Bedeutung des Wortes gezählt, wonach neben den leiblichen Verwandten auch andere zum Haushalt Personen wie Diener gehörten. Ihre aufwendige Kleidung verdeutlicht, wie hoch solche menschlichen Wunder gehalten wurden. In den Kunst- und Wunderkammern waren andere Wundermenschen auf den Porträts ebenfalls kostbar gekleidet, wie es das Bild einer Närrin aus der Ambraser Sammlung zeigt. Ein ähnliches Bild befand sich vermutlich in München.30 Narren gehörten jedoch einer anderen Gruppe von Wundern an. Bei ihnen handelt es sich um „einen unmittelbaren Eingriff Gottes in die Natur als kurzfristig-punktuelle Außerkraftsetzung der Naturgesetze“.31 Einzelwesen, die zu dieser Art Wunder zählten, waren eine „einzigartige, übernatürliche und schnell vergängliche Schöpfung [...], die unmittelbar vom Willen Gottes abhing“.32 Den an europäischen Höfen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit lebenden natürlichen Narren wurden oft prophetische Fähigkeiten nachgesagt.33 Sowohl in der Münchner wie in der Ambraser Sammlung lassen sich Porträts von natürlichen Narren nachweisen, die in Johann Baptist Ficklers 1598 angelegten Inventarliste meist als einfeltig bezeichnet werden.34 Die Porträtgalerie in Ambras umfasste weitere außergewöhnlichen Wundermenschen, zu denen das unter dem modernen Titel bekannte Bildnis eines behinderten Mannes gehört.35 Der Körper dieses Mannes wurde jedoch nicht immer offen gezeigt, denn die Inventarverzeichnisse sprechen beispielsweise 1788 davon, dass der nackte Leib des Mannes mit einem roten Papier bedeckt gewesen sei. Bei den Wundern, sei es nun ein miraculum oder ein mirabilium, die an den frühneuzeitlichen Höfen als Bild oder auch als lebende Menschen gesammelt wurden, war der Vielfältigkeit dessen, was als verkörperte Differenz angesehen wurde, keine Grenzen gesetzt. Das seltene Vorkommen, die exotische Erscheinung sowie die Einmaligkeit waren ausschlaggebend für Aufnahme in eine solche Sammlung. Kunst- und Wunderkammern vereinigten jedoch sehr viel mehr als nur seltene oder außergewöhnliche Menschen und deren Abbildungen. Auch Tiere gehörten dazu wie beispielsweise in 29 Roitner (Anm. 27), S. 42. 30 Fickler (Anm. 27), S. 223, Nr. 3375: Ein einfeltigen Weibsbildts Conterfeht. 31 Marina Münkler, Werner Röcke: Der ordo-Gedanke und die Hermeneutik der Fremde im Mittelalter: Die Auseinandersetzung mit den monströsen Völkern des Erdrandes, in: Herfried Münkler (Hg.): Die Herausforderung durch das Fremde. Berlin: Akademie Verlag, 1998, S. 701–766, hier S. 729. 32 Daston/Park (Anm. 20), S. 57. 33 Zur Einordnung der natürlichen Narren siehe Bernuth (Anm. 18). 34 Fickler (Anm. 27), Nr. 2935–2937, 2968, 3374–3381. 35 Samuel Quiccheberg: Inscriptiones vel titvli theatri amplissimi. München: Adam Berg, 1565, Bl. Dijv.

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München eine Katze, der ein cleiners Käzl auß dem bauch gewachsen36 war. Damit stellen in der Ambraser und in der Münchner Sammlung Menschen mit einer Behinderung nur einen kleinen Teil dieser Ausstellungen dar. Auch die räumliche Anordnung der verschiedenen menschlichen Wunder zeigt, dass sie als Teile einer größeren Wunderwelt gedacht waren, ohne jedoch eine eigene Gruppe für sich zu bilden. Analog zu dem Fehlen einer Sammelkategorie, unter der die verkörperten Differenzen subsumiert werden konnten, waren auch die Bilder verstreut in der Sammlung gehängt. Lediglich einige Bilder einer ähnlichen Gruppe, wie zum Beispiel die der Haarmenschen, wurden in räumlicher Nähe gezeigt. Dagegen hängen die natürlichen Narren weit verteilt, und auch ihre Bezeichnungen werden nicht einheitlich gehandhabt. Neben den einfältigen Narren gibt es auch den Begriff Halbnarr37 oder ungestallter Narr.38 Somit lassen sich behinderte Menschen und ihre Abbildungen in den Kunst- und Wunderkammern der Frühen Neuzeit weder durch ihre Aufstellung noch durch ihre Beschreibung in eine eigene Kategorie einordnen. Sie gehören vielmehr in die breit angelegte Kategorie der Wunder, die nicht nur Menschen, sondern auch Tiere und künstlich hergestellte oder aus fernen Gegenden stammenden Gegenständen zusammenfasst. Kunst- und Wunderkammern verdeutlichen das Interesse an allem Wunderbaren und an allen Wundern, zu denen auch unterschiedliche verkörperte Differenzen gehören, die hier ausgestellt, bestaunt und bewundert werden sollten. Der Maler Georg Hoefnagel, der 1577 die Münchner Kunstkammer besuchte, vermerkte auf seinen Kopien von Pietrus Gonzalvus und seiner Familie Zitate aus Augustinus’ Civitate dei, die sich darauf beziehen, dass der Mensch in allen seinen verschiedenen Gestalten als das größte Wunder anzusehen sei.39 Doch ob die Wunderkammern in der Frühen Neuzeit ausschließlich mit Emotionen wie Staunen und Verwunderung betrachtet wurden, ist fraglich, schreibt doch der französischer Besucher Charles Patin über die Ambraser Sammlung im 17. Jahrhundert, dass er sich die Riesen und Zwerge nie ohne ein Ekelgefühl habe anschauen können: je n‘ay jamais pû voir sans une espece d‘horreur.40 In jedem Fall werden die beim Besucher ausgelösten Emotionen in die Herrschaftsrepräsentation eingebunden, und damit werden auch die hier ausgestellten verkörperten Differenzen als Demonstration von Macht und Stärke funktionalisiert.

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Fickler (Anm. 27), S. 163, Nr. 2115. Fickler (Anm. 27), S. 207, Nr. 2961. Fickler (Anm. 27), S. 223, Nr. 3381. Georg Hoefnagel: „Omni miraculo quod fit per hominem maius miraculum est homo“, in: Diemer (Anm. 26), S. 194. Siehe dazu Aurelius Augustinus: Der Gottesstaat. De civitate dei. Paderborn [u.a.]: Schöningh, 1979, X, 12. 40 Charles Patin: Relations historiques et curieuses de Voyages en Allemagne, Angleterre, Hollande, Boheme, Suisse, etc., Lyon: Claude Muguet, 1674, S. 68.

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3.  Zwischen Wissen und Didaxe: Behinderung im Buch Nicht immer ganz vollständig zu trennen von den höfischen Kunst- und Wundersammlungen sind die in der Frühen Neuzeit entstehenden privaten Sammlungen von Gelehrten und wohlhabenden Bürgern. So besaß Ulisse Aldrovandi, Professor der Naturgeschichte an der Universität Bologna, eine im Jahr 1595 ca. 11.000 Objekte umfassende Sammlung, die zu einer der Attraktionen gehörte, die man besuchte, wenn man sich in der italienischen Stadt aufhielt. Von der Sammlung von Olaus Wormius in Dänemark, über die der Regensburger Großeisenhändler und Gewerkenfamilie Dimpfel in Ulm bis zu der von Conrad Gesner in Zürich reichte die Sammelwut im 16. Jahrhundert, die sich zu einem eigenen europäischen Wirtschaftszweig entwickelte. Analog zu den fürstlichen Kunst- und Wunderkammern wurde alles gesammelt, was als Wunder galt – sei es, weil es von fern kam und daher selten war oder sei es, weil es ein einmaliges, nichtwiederholbares Phänomen darstellte. Die Wunder sollten in den Sammlungen jedoch nicht nur bestaunt, sondern auch beobachtet, genau beschrieben und – vor allem publiziert werden. Der Buchdruck stellte ein geeignetes Medium dar, das nicht nur von Gelehrten im naturphilosophischen Diskurs genutzt wurde, sondern der vor allem der massenhaften Verbreitung von Einblattdrucken diente. Die Drucke bildeten die Wunder oft nicht nur ab, sondern sie deuteten sie auch und zogen daraus moralische Anweisungen für den Leser. Als Vertreter einer solchen Gruppe von akademischen Gelehrten und Ärzten, die sich für alles Wunderbare interessierten und darüber schrieben, kann Theophrast Bombast von Hohenheim, genannt Paracelsus gelten. In seiner vermutlich zwischen 1529 und 1532 geschriebenen Abhandlung über die natürlichen Narren denkt Paracelsus auch über die Ursachen von Behinderungen nach. Die Ursache aller verkörperter Differenz sieht er letztlich in dem Sündenfall. Als die Menschen aus dem Paradies vertrieben wurden und in die Welt kamen, hätten sie alles erdenkliche Leid an sich erfahren, da mit der Vertreibung auch die Ebenbildlichkeit mit Gott zerstört worden sei: aber do sie heraus kamen in die welt, do war nichts als ein alein greinen und zannen, und was er hett und warzu er beschaffen war, das ward im [dem Menschen, RvB] genomen und entsetzt der volkomenen biltnis gottes; do nam sich der ursprung der mördern, der kriegern, der dieben. dan sie wurden zerbrechlich in aller irer frombkeit, redlikeit, keuscheit, zuchten und geschlachtnus. do warden hurer, do warden spiler, do warden reuber, do warden krumb kinder, do blint, do ghörlos, do stummen, do lamen, do sich fürchten, do narren, do monstren, do mißgewechs und der gleichen, die also für und für bis ins end der welt nicht zergênt.41

In dieser detaillierten Auflistung findet sich ebenfalls kein Oberbegriff für Behinderung, vielmehr benennt Paracelsus neben religiösen, ethischen, sozialen und politischen Schwierigkeiten, mit denen die Menschen seit dem Sündenfall zu kämpfen haben, 41 Paracelsus: De generatione stultorum, in: Karl Sudhoff (Hg.): Medizinische naturwissenschaftliche und philosophische Schriften, München [u.a.]: Oldenbourg, 1933, S. 73–94, hier S. 77.

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auch verschiedene Behinderungen. Zwei neue Bezeichnungen, die vor dem Ende des 15. Jahrhunderts kaum eine Rolle gespielt haben und die jedoch prägend für das 16. Jahrhundert sind, entstanden in diesem Kontext: monstren und mißgewechs, die in der zeitgenössischen Literatur ebenfalls als Wundergeburten bezeichnet wurden. Gemeinsam war dieser heterogenen Gruppe, die aus Menschen, Tieren und aus Mischwesen bestand, nur der Zeitpunkt ihres Auftretens, denn ihnen allen war eigen, dass ihre körperliche Differenz sofort nach der Geburt augenscheinlich wurde. Seit dem 15. Jahrhundert wurden solche Wundergeburten zunehmend öffentlich vorgeführt; das Wissen über sie verbreitete sich insbesondere über Einblattdrucke und Flugschriften. Neben Paracelsus haben auch andere Ärzte sich mit den Wundergeburten ausführlich beschäftigt, zu denen der bis 1558 in Zürich wirkende Arzt Jakob Ruf gehört.42 Er besaß zwar keine eigene Sammlung von wunderbaren Gegenständen, jedoch hat er in seinem 1554 gedruckten Trostbüchlein, einem der ersten volkssprachlichen Anleitungen für Hebammen, einen eigenen Abschnitt über die sogenannten wundergeburten aufgenommen. Diese werden, so Jakob Ruf, auch monstra genannt, da sie sowohl zeigen wie mahnen sollen, weil sie wider den gemeinen bruch der natur,43 d.h. wider die allgemeinen Regeln der Natur, sind. Diese Erklärung entspricht der Definition des außergewöhnlichen Wunders, das in der Tradition der Prodigienliteratur stand, die das Erscheinen eines monströsen Wunderwesens als ein von Gott geschicktes Vorzeichen verstand, das auf kommendes Unheil hinwies. Im dritten Kapitel seines fünften Buches zählt Jakob Ruf bekannte Beispiele von Wundergeburten auf. Dazu gehören Kinder mit zu vielen und zu wenigen Gliedmaßen – sogenannte siamesische Zwillinge – und eine Vielzahl an zeitgenössischen weit verbreiteten Darstellungen von anderen Wundergeburten, die außergewöhnlich waren und oft Merkmale der Wundervölker am eigenen Leibe trugen. Jakob Ruf gibt hier durch den Buchdruck weit verbreitete Wundergeburten wieder und berichtet aber auch aus eigener Anschauung. Dabei geht er zunächst beschreibend vor, wobei er immer wieder über die verschiedenen Möglichkeiten spekuliert, wie eine solche Wundergeburt entstehen kann. Neben den schon in Konrad von Megenbergs Buch der Natur diskutierten Deutungen, dass die Kraft des männlichen Samens zu stark oder zu schwach gewesen sei, spielen auch erschreckende Bilder, welche die Mutter während ihrer Schwangerschaft gesehen haben könnte, eine Rolle. Zusätzlich zu diesen naturwissenschaftlich-medizinischen Erklärungen zieht Jakob Ruf aber ebenso die eines Mirakels heran, das die Ursache einer solchen Wundergeburt in einem einmaligen göttlichen Eingriff sieht, damit die Menschen des ewigen Gottes wunderwerck erlernen44 und auch seine straaff vnd gerecht vrteil erkennen/ vnd die zu vnserer besserung vfnemmen.45 Rufs Verfahren, verschiedene medizinische und religiöse Deutungen mit42 Zu Rufs Biographie: Hildegard Elisabeth Keller (Hg.): Mit der Arbeit seiner Hände. Leben und Werk des Zürcher Stadtchirurgen und Theatermachers Jakob Ruf (1505–1558), Zürich: NZZ libro, 2008. 43 Jakob Ruf: Ein schön lustig Trostbüchle von den empfengknussen vnd geburten der menschen, Zürich: Christoph Froschauer, 1554, Bl. LXXIIr. 44 Ruf (Anm. 43), Bl. LXXVIv. 45 Ruf (Anm. 43), Bl. LXXVIv.

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Abbildung 2 Das Monstrum von Krakau aus Jakob Rufs Trostbüchlein. – Ein schön lustig Trostbüchle von den empfengknussen und geburten der menschen unnd jren vilfaltigen zufälen und verhindernussen / mit vil und mancherley bewärter stucken unnd artznyen, ouch schönen figuren dazu dienstlich, zu trost allen gebärenden frouwen und eigentlichem bericht der hebammen / Erst njiwlich zusamen geläsen durch Jacob Rueff, burger und Steinschnyder der loblichen Statt Zürych. Zürich: Froschouer, 1554, Bl. 72r. © Kantonsbibliothek St. Gallen Vadiana, Signatur: VL 1521, Foto: NZZ-Libro – Buchverlag Neue Züricher Zeitung.

einander zu vermischen, ist typisch für die Erklärungen von Wundergeburten in der Frühen Neuzeit. Im Gegensatz zu anderen Sammlungen mit Wundergeburten seiner Zeit hält er sich jedoch mit Warnungen zurück.46 Jakob Rufs Buch wurde nicht nur weit bis in das 17. Jahrhundert hinein in der Hebammenausbildung eingesetzt, sondern diente auch als Quelle für die zahlreichen Sammlungen von Wundergeburten, wie beispielsweise der des französischen Arztes Ambroise Paré, aber auch der weniger bekannten des protestantischen Pfarrers Christoph Irenäus, auf dessen Werk hier abschließend eingegangen werden soll.47

46 Dazu Jennifer Spinks: Jakob Rueff ‘s 1554 Trostbüchle: A Zurich physician Explains and Interprets Monstrous Births, in: Intellectual History Review 18, 2008, S. 41–59. 47 Zur Rezeption siehe Hildegard Elisabeth Keller: Zürcher Geburtshilfewissen in Europa. Zur Rezeptionsgeschichte des Trostbüchleins, in: Hildegard Elisabeth Keller (Hg.): Die Anfänge der Menschwerdung. Perspektiven zur Medien-, Medizin- und Theatergeschichte des 16. Jahrhunderts, Zürich: NZZ libro, 2008, S. 232–267.

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Der um 1522 geborene Christoph Irenäus studierte in Wittenberg unter anderem bei Philipp Melanchthon, wirkte als Diakon und Prediger in Aschersleben, später in Eisleben und ging 1568 als fürstlich-sächsischer Hofprediger nach Weimar. 1571 wurde er Superintendent in Neustadt an der Orla, musste aber aufgrund seiner Sympathie mit Flacius Illyricus das ernestinische Sachsen verlassen und floh nach Österreich, wo sich seit 1595 seine Spur verlor. Seine zahlreichen Schriften befassen sich vorwiegend mit innerprotestantischen Glaubensstreitigkeiten, zu denen letztlich auch sein Werk De monstris, dessen lateinischen Titel er im Untertitel frei übersetzt mit Von seltzamen Wundergeburten, zählt. In der Forschung zur religiös-didaktischen Literatur im Umfeld der protestantischen Glaubensauseinandersetzungen und zu den Wundergeburten wird Christoph Irenäus nur am Rande erwähnt. Sein Buch wird meist nur in Ausschnitten zitiert. Es hat den Anschein, als ob man sich hier dem recht scharfen Urteil von Rudolf Schenda anschließt, der annimmt, Irenäus habe „zur wiss[enschaftlichen] Entwicklung von Menschenkenntnis, Teratologie oder Wetterkunde wenig beigetragen, wohl aber hat er die Tradierung antiker und frühneuzeitlicher Erzählstoffe gefördert.“48 Doch auch wenn Irenäus’ Schrift in vielen Punkten den traditionellen Vorstellungen verhaftet bleibt, lohnt sich doch meines Erachtens ein genauerer Blick auf sein Werk, zumal es in der älteren Forschung als Vorläufer der Teratologie und damit letztlich der Eugenik galt. In der neueren Forschung wird es daher oft verkürzt wahrgenommen, denn für Irenäus sei die Tatsache wesentlich gewesen, „daß sämtliche Mißgeburten, gleich ob Mensch oder Tier und aus welcher Ursache, immer ,Straffen der Sünden’“49 seien. Dabei muss jedoch grundlegend zwischen einer Strafe Gottes, die durch eine solche Wundergeburt die Menschen warnen sollte, und der Wundergeburt selbst unterschieden werden, der keine moralischen Verfehlungen angelastet wurden. Um Irenäus’ Ansatz ganz zu verstehen, ist es notwendig, noch einmal auf seinen Begriff der Wundergeburt einzugehen, die er folgendermaßen definiert: ...sondern auch von etlichen Weibern solche Kinder auff die Welt kommen/ so da Leiblich vnd Geistlich gantz vngestalt/ vngewöhnliche/ verrückte/ hessliche vnd scheussliche Glieder/ oder andere schreckliche mahlzeichen mit auss Mutterleib auff die Welt bringen vnd tragen/ vnd andern natürlichen Kindern nicht allerding gleich sind/ welche man Monstra oder Wundergeburten zunennen pfleget.50

Der letzte Zusatz ist entscheidend, denn hier deutet Irenäus bereits auf die Relativität des Begriffes hin, bei dem er auf die geläufige Bezeichnung von Wundergeburten verweist, die er, wie er später ausführt, so nicht teilt. Jegliche physische Differenz gilt hier zunächst also als ein Wunder, mit dem zugleich ein ekelerregender Anblick verbunden ist. Irenäus’ bis heute am meisten zitierter zweiter Teil seines Buches De monstris stellt eine Erzelung etlich hundert Wundergeburt dar, die zeitlich geordnet ist. In diesem Kapitel 48 Rudolf Schenda: Christoph Irenaeus, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 7, Berlin [u.a.]: de Gruyter, 1993, Sp. 270-273. 49 Michaela Schwegler: Die Darstellung von Wundertieren auf frühneuzeitlichen Einblattdrucken, in: Fabula 43, 2002, H. 3/4, S. 227–250, hier S. 246. 50 Irenäus: De monstris. Von seltzamen Wundergeburten, Oberursel: Henricus, 1584, Bl. M2v.

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erfolgt eine kurze Aufzählung von verschiedenen Wundergeburten, die anderen Enzyklopädien der Frühen Neuzeit ähnelt. Zu Irenäus’ Beispielen gehören aber nicht nur die Fälle, die unter die von ihm selbst gegebene Definition einer Wundergeburt und damit einer außergewöhnlichen Erscheinung zu rechnen sind, wie siamesische Zwillinge, Tier-Mensch-Wesen, Pygmäen und Riesen, sondern ebenso auch besondere Geburten, wie die verschiedener Frauen, die mehrere hundert Kinder in einem Jahr teilweise als Zwillinge, teilweise hintereinander geboren haben. Irenäus schildert die Ereignisse sehr knapp, wie beispielsweise im Fall des so genannten Krakauer Monstrums, das bereits bei Jakob Ruf erwähnt wurde: Jm Jar Christi 1547. den 25. Januarij/ ist zu Cracaw am Tag S. Pauli bekehrung/ ein wunder seltzam Kind auff die Welt geboren/ welches runde vnd Fewrige Augen/ vnd eine lange Nasen auff der Brust gehabt/ an statt der Brüst sind zwey Affenheupter gestanden. Vnter dem Nabel sind zwey Augen/ heller als Katzen Augen gestanden/ An Elenbogen vnd Knien hat es Hundsköpff gehabt/ An Ahrmen/ Henden vnd Füssen/ ist es einem Affen gleich gewesen/ allein das es lengere Finger gehabt/ Auffin Rücken ist es rau vnd Schwartzherig gewesen wie ein Hund/ vnter dem Rücken ist ein langer schwantz herfür gangen/ vbers Heupt mit einem Zacken/ wie man die Scorpion mahlet/ Es hat dey stunde gelebet/ vnd gesagt/ Wachet/ ewer Gott ist für der Thür.51

Die von Christoph Irenäus in einem folgenden Teil nachgereichte Bedeutung zeigt den Prozess auf, in den er den Leser seines Buches einbeziehen möchte, denn eine solche Wundergeburt ist selbst ein scheusslich/ hesslich/ schrecklich Bilde/ je lenger mans ansihet/ je schrecklicher es scheinet.52 Der Autor ruft nur mit kurzen Worten die Wundergeburten in Erinnerung und geht davon aus, dass dieses ausreicht, um ein Ekelgefühl beim Leser hervorzurufen. Ekel gilt als einer der stärksten Empfindungen, die man gegenüber Menschen und Gegenständen haben kann und geht mit körperlichen Reaktionen einher. Der von Sigmund Freud als entscheidend für die Entwicklung des Menschen angesehene und eng mit dem Schamgefühl verbundene Ekel ist ambivalent, denn in ihm vereinen sich sowohl Abwehr wie Anziehung dem ekelauslösenden Objekt gegenüber.53 Irenäus braucht diese Bilder für sein didaktisches Programm, denn weils die hohe Göttliche Maiestet selbst zugericht vnd fürgelegt hat/ so sollen billich alle Menschen/ so offt sie dran gedencken/ sich darüber entsetzen/ vnd Gottes Gedancken/ Fürnemen/ vnd seinen Willen dabey spüren.54 Mit den durch die in allen Einzelheiten geschilderten Wundergeburten sollen beim Leser Emotionen ausgelöst werden. Damit bereitet er sein Publikum auf einen weiteren Prozess vor, denn nach den Aufzählungen der Wundergeburten im zweiten Kapitel kommt das dritte, das ausführt, welches das aller grewlichste Monstrum

51 Irenäus (Anm. 50), Bl. J 4v. 52 Irenäus (Anm. 50), Bl. d 4v. 53 Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2002. 54 Irenäus (Anm. 50), Bl. d 4v.

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sei. Hier verweist er den Leser zunächst einmal auf seine eigene, seine menschliche Sichtweise: Bissher sind grewliche Monstra erzehlet worden. Wenn nun etwa ein Monstrum/ wunderseltzam/ Hessliche vnd abschewliche Geburt von Menschen oder Viehe geboren wird/ so ist es in der Menschen Augen gleich ein eckel/ Grewel vnd schewsal.55 Dem menschlichen Blick wird der göttliche gegenübergestellt, der in den Menschen selbst nur ekelerregende Geschöpfe erblicken kann: Wer bedenckt aber auss Gottes Wort/ vnd führet mit ernst zu Gemüte/ was der Mensch/ ob er gleich seine Natürlich disposition aller Glieder hat/ für Gott für ein abschewlich vnd grewlich Monstrum sey. Denn wenn man den Menschen/ vnd einen jeden Menschen/ wie derselbige nach dem Fahl/ ohn den H. Geist vnd Glauben/ vor der widergeburt Theologice oder Geistlich betrachtet/ vnd denselbigen nach vnd auss Gottes Wort/ mit Geistlichen Augen ansihet/ wie in nemlich die Schrifft abconterfeyet/ oder wie in die Propheten/ Christum vnd die Apostel beschrieben/ so ist derselbige für Gottes Angesicht vnd Gericht/ nach anklage vnd aussage des Gesetzes/ das aller hesslichste Monstrum/ Grewel vnd Schewsal/ Dergleichen in tota rerum natura, aussgenomen die Teuffel/ nicht zu finden.56

Damit sind „normale“ Menschen und Wundergeburten auf eine Ebene gestellt. Der Leser soll sich verdeutlichen, dass das, was er bei den Wundergeburten als schrecklich und anders empfindet, vor Gott keinen Unterschied macht. Vielmehr ist der Mensch in Gottes Augen selbst das allerhässlichste Monster. Die Wundergeburten sind damit von jeglicher Beurteilung ausgenommen, sie werden nur benutzt, um Emotionen beim Leser auszulösen, der sich am Ende vor sich selbst ekeln soll. Irenäus folgt hier Augustinus, den er auf Latein mit deutscher Übersetzung zitiert. Dem Kirchenvater zufolge können die Menschen eigentlich nicht recht beurteilen, was ein Wunder sei, da sie nicht die göttliche Weitsicht besäßen. Nach der Auffassung von Augustinus hat die gesamte Welt Teil an Gottes Schöpfung: „Derselbe Grund für solch monströse Mißgeburten bei uns Menschen rechtfertigt auch gewisse Abnormitäten bei ganzen Völkern. Gott ist nämlich der Schöpfer aller, er weiß, wo und wann etwas hervorgebracht werden sollte oder soll, und er allein kennt die Schönheit des Alls, dessen Teile in Ähnlichkeit und Verschiedenheit zum Ganzen verwoben sind. Wer aber die Gesamtheit nicht zu überblicken vermag, wird durch scheinbare Mißgestalt eines Teiles verletzt, bei dem er die Übereinstimmung vermißt, weil er sich seiner Beziehung zum Ganzen nicht bewußt wird.“57

Der Mensch kann, so Augustinus, die Mannigfaltigkeit der göttlichen Schöpfung nicht überblicken und deren Ordnung nicht erkennen. Er unterliegt daher einem Fehlurteil, wenn er etwas als schön oder hässlich wahrnimmt.58 55 56 57 58

Irenäus (Anm. 50), Bl. V 2r. Irenäus (Anm. 50), Bl. V 2r-v. Augustinus (Anm. 39), XVI, 8, S 116f. Daston/Park (Anm. 20), S. 46.

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Irenäus bleibt jedoch nicht nur bei diesen Erklärungen stehen. Vielmehr legt er in die Wundergeburten eine moralisierende Bedeutung hinein und folgt damit den aus der Antike stammenden, besonders aber im 16. Jahrhundert verbreiteten Auslegungsverfahren. Damit bindet er die Wundergeburten in sein Programm ein, das in ihnen Warnzeichen in den inner- und außerprotestantischen Glaubensstreitigkeiten sieht. Er polemisiert nicht nur gegen Papst und Katholiken, sondern auch gegen radikale Reformatoren. Die beim Leser zunächst durch die Beschreibung von Wundergeburten aufgerufenen Emotionen funktionalisiert er so für einen religiös-didaktischen Diskurs, bei dem am Ende letztlich kein Unterschied mehr zwischen Menschen mit und ohne körperliche Differenzen besteht.

4. Ausblick Die vielfältigen Bedeutungen, die Behinderungen in der Frühen Neuzeit zugeschrieben werden, spiegeln sich allein schon in den unterschiedlichen Begriffen wider, die verwendet wurden, um sie zu benennen. Neben bis heute geläufigen Beschreibungen, die bestimmte Einschränkungen wie Blindheit oder Taubheit bezeichnen, wurden auch andere Kategorien, wie beispielsweise Wunder und Wundergeburten, verwendet, unter denen zum Teil auch physische Differenzen subsumiert wurden und die jedoch nicht alle zwangsläufig in dem modernen Sammelbegriff „Behinderung“ enthalten sind. Spuren von behinderten Menschen lassen sich in allen Bereichen des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Lebens finden. Behinderung war kein Randphänomen, sondern sie reichte von der Straße bis in die fürstlichen Häuser hinein. Ebenso vielfältig sind die mit ihr verbundenen politischen und religiösen Deutungen und Auslegungen, die jedoch immer an Emotionen, sei es Ekel, sei es Verwunderung oder Staunen, gekoppelt sind. Die im Zuge der disability history entstandenen Forschungsergebnisse bedürfen gerade für den Zeitraum des Mittelalters und der Frühen Neuzeit weiterer Untersuchungen, da hier neben der bisher noch nicht vollständig aufgearbeiteten Begriffsvielfalt weite Bereiche des sozialen, kulturellen und vor allem religiösen Lebens bisher nicht oder nur unvollständig auf die Funktion und Bedeutung von Behinderung hin erforscht worden sind. Neben der ideengeschichtlichen Auseinandersetzung fehlt vor allem auch die Aufarbeitung von historischen Quellen sowohl in mikro- wie makrohistorischen Studien. So sind, um nur ein Beispiel zu nennen, die Kunst- und Wunderkammern bisher nur ansatzweise untersucht worden. Wo kamen beispielsweise die Porträts der Haarmenschen, Narren, klein- und großwüchsigen Menschen in der Münchner Kunstkammer her und wie bestimmt sich ihr Verhältnis zu den am Hof lebenden Wundermenschen? In welchem Austausch stand die Sammlung mit anderen europäischen Höfen und bürgerlichen Naturalienkabinetten und wie ließen sich diese Netzwerke des Wissens beschreiben? Wie veränderte sich die Sammlung im Laufe der Zeit?

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Das so gewonnene vielschichtige Bild würde es möglicherweise erlauben, auch Entwicklungen in der Moderne zu verstehen, denn an kaum einer anderen Figur als der des behinderten Menschen lässt sich die Bedeutung der longue durée, der Geschichte der langen Dauer ablesen, die Einstellungen, Urteile, Vorurteile und Gefühle bis heute formt.

Petra Fuchs

„Behinderung“ in Deutschland. Aspekte der Kultur und Geschichte des Umgangs mit physischer, psychischer und mentaler Differenz

Die Haltung im wiedervereinigten Deutschland gegenüber dem Konzept „Behinderung“ ist noch immer wesentlich von Mechanismen der Abgrenzung, Entwertung und des Ausschlusses beeinflusst. Exklusion in ihren vielfältigen Erscheinungsformen trifft dabei nicht nur Menschen mit „Behinderungen“, sie ist vielmehr grundlegender Bestandteil einer politisch, sozial und kulturell geübten Praxis gegenüber Gruppen von Individuen, die aufgrund bestimmter Merkmale wie Geschlecht, soziale und ethnische Herkunft, sexuelle Orientierung, Alter, physische, psychische und mentale Differenz als „anders“ und/oder gesellschaftlich randständig wahrgenommen werden. Nur vordergründig, so meine These, liegen die Probleme im Umgang mit „Behinderung“ auf der räumlich-architektonischen Ebene. Wesentlich und dieser Dimension innewohnend ist das Denken, ist die Wahrnehmung dieses Konstrukts, sind die damit verknüpften Befindlichkeiten, die mentalen und emotionalen Barrieren in der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Der vorliegende Beitrag unternimmt den Versuch, den Mechanismen der Exklusion auf den Grund zu gehen und die spezifische Qualität des Umgangs mit und die Haltung gegenüber „Behinderung“ in Deutschland mit dem Blick auf historische Entwicklungslinien im 19. und 20. Jahrhundert zu analysieren. Dabei bildet die Etablierung des Begriffes „Behinderung“ als übergreifende Kategorie zur Bezeichnung unterschiedlich beeinträchtigter Personen den roten Faden der Erzählung. Der Beitrag gliedert sich in vier historisch aufeinander folgende Zeitabschnitte. Für das Wilhelminische Deutschland werde ich zunächst skizzieren, wie Caritas und Medizin „den Krüppel“ als Objekt ärztlich-fürsorgerischer Bemühungen entdeckten und trotz teilweise konkurrierender Haltungen gleichermaßen an der Etablierung des Fürsorgeparadigmas beteiligt waren. Dabei soll auch gezeigt werden, in welcher Weise der Diskurs um die geeignete Bezeichnung der Klientel instrumentalisiert wurde, um die eigene Disziplin gegenüber Öffentlichkeit und Staat zu behaupten. Da die medizinisch-klinische Wahrnehmung von physischer, psychischer und mentaler Differenz von ihren Anfängen her eng verknüpft ist mit dem psychologisch-pädagogischen Blick auf beeinträchtigte Kinder, Jugendliche und Erwachsene, soll im zweiten Abschnitt der Anteil der „Krüppelpsychologie“ und „Krüppelpädagogik“ an der

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Petra Fuchs

individualisierenden und sonderanthropologischen Praxis des professionellen Umgangs mit „Behinderung“ herausgearbeitet werden. Neben dem verobjektivierenden Blick von Medizin und Sonderpädagogik wird jedoch die Perspektive beeinträchtigter Frauen und Männer einbezogen, die in der Weimarer Republik mit dem emanzipatorischen Anspruch auf Gleichstellung der „krüppelpsychologischen“ Position vehement widersprachen. Am Beispiel des zeitgenössischen Sterilisationsdiskurses möchte ich zugleich die Ambivalenz im Umgang mit „Behinderung“ auf Seiten physisch beeinträchtigter Frauen und Männer verdeutlichen, die zur Abgrenzung insbesondere gegenüber mental und psychisch differenten Menschen führte. Der dritte Abschnitt widmet sich dem Paradigmenwechsel, der sich im Zeitraum der nationalsozialistischen Diktatur durch die Abkehr von der Praxis der „fürsorglichen Belagerung“ der Zwanzigerjahre vollzog. Im Vordergrund steht dabei die Frage, in welcher Weise seh-, sprach-, hör- und körper-„behinderte“ Frauen und Männer auf das Angebot der „relativen“ Eingliederung in die Volksgemeinschaft seitens des NS-Staates reagierten. Mit Bezug auf die Auseinandersetzung um die Begriffe „Krüppel“ und „Körperbehinderter“ wendet sich der vierte Abschnitt der Kontinuität im sprachlichen Umgang mit „Behinderung“ nach 1945 zu. Abschließend diskutiere ich die Nachwirkungen der Geschichte für die Wahrnehmung und den Umgang mit „Behinderung“ in der heutigen deutschen Kultur und Gesellschaft.

1.  Deutschland in der Wilhelminischen Zeit: Die Etablierung des Fürsorgeparadigmas im Kontext von Caritas und Medizin Die Geschichte des Umgangs mit „Behinderung“ ist wesentlich von der Entstehung der Fürsorge und dem Zugriff unterschiedlicher Disziplinen und ihrer jeweiligen Vertreter auf das „behinderte“ Kind geprägt. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts reklamierten Theologen, Mediziner (Orthopäden, Psychiater, Neurologen), (Sonder-)Pädagogen und Psychologen aus zum Teil sich überschneidenden, zum Teil gegensätzlichen Motiven heraus einen Anspruch auf die sehr differenzierte Gruppe beeinträchtigter Menschen. Bis zu diesem Zeitpunkt existierte die übergreifende Kategorie „Behinderte“ zur Bezeichnung physisch, psychisch und mental differenter Personen noch nicht. Vielmehr waren mit Bezug auf die jeweilige Form der Schädigung oder Erkrankung eine ganze Reihe von häufig abwertenden Begriffen wie „Krüppel“, „Lahme“, „Invalide“, „Gebrechliche“, „Blinde“, „Taubstumme“, „Vollsinnige“, „Blöde“, „Idioten“, „Schwachsinnige“, „Irre“, „Geisteskranke“, „Gemütskranke“, „Epileptiker“, „Epileptische“, „Fallsüchtige“ gebräuchlich.1 Die Vokabel „Krüppel“, aus der sich der heute übliche Sammelbegriff „Behinderter“ 1 Hans-Walter Schmuhl: Exklusion und Inklusion durch Sprache – Zur Geschichte des Begriffs Behinderung. Eine Veröffentlichung des Instituts Mensch, Ethik und Wissenschaft (= IMEW Expertise, Bd. 11), Berlin: IMEW, 2010, S. 11.

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ableitet, wurde zwar seit dem 11. Jahrhundert für „alle jene Personen benutzt […], die einen äußerlich sichtbaren Körperschaden hatten“;2 doch erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts setzte sie sich als umgangssprachliche Wendung durch,3 die extrem negativ besetzt und im Zusammenhang mit der entstehenden modernen arbeitsteiligen Industriegesellschaft eng mit der Vorstellung von Armut und Elend verknüpft war. Vor dem Hintergrund der „Krüppelnot“ als Teil der sozialen Frage hatten zunächst die Innere Mission und die Diakonie damit begonnen, das Feld der Versorgung, Beschulung und handwerklichen Berufsausbildung (körper-)„behinderter“ Kinder und Jugendlicher sowie der Pflege der nicht (mehr) arbeitsfähigen Erwachsenen zu besetzen. Mit dem Konzept des „Vollkrüppelheims“, das eine Einheit von orthopädischer Klinik, Beschulung und beruflicher Ausbildung vorsah, entwickelte die konfessionelle „Krüppelpflege“ ein allgemeingültiges Modell zur interdisziplinären Versorgung und Ausbildung von (körper-)„behinderten“ Kindern und Erwachsenen, an dem die sich erst um die Jahrhundertwende herausbildende orthopädische „Krüppelfürsorge“ schließlich anknüpfte.4

1.1  „Der Krüppel ist ein […] in dem Gebrauch seines Rumpfes oder seiner Gliedmaßen behinderter Kranker“5 Erheblichen Anteil an einer revidierten Sicht auf physisch differente Menschen hatte die von dem Berliner Kinderarzt, Chirurgen und Orthopäden Konrad Biesalski (1868–1930)6 im Jahre 1906 durchgeführte erste „Staatliche Erhebung über das jugendliche Krüppeltum in Deutschland“.7 Nach den Ergebnissen dieser ersten reichsweiten Statistik ergab 2 Luise Merkens: Fürsorge und Erziehung bei Körperbehinderten: Eine historische Grundlegung zur Körperbehindertenpädagogik bis 1920, Berlin: Marhold, 1981, S. 2. Zur Entstehungsgeschichte des Begriffes „Krüppel“ bis zu seinen etymologischen Ursprüngen siehe auch Otto Perl: Krüppeltum und Gesellschaft im Wandel der Zeit, mit einem Vorwort v. Dr. Hermann Rassow, Gotha: Klotz, 1926; Klaus-Dieter Thomann: Der „Krüppel“: Entstehen und Verschwinden eines Kampfbegriffs, in: Medizinhistorisches Journal, Sonderdruck 27, 1992, S. 221–271; Klaus-Dieter Thomann: Das behinderte Kind: „Krüppelfürsorge“ und Orthopädie in Deutschland 1886–1920 (= Forschungen zur neueren Medizin- und Biologiegeschichte, Bd. 5), Stuttgart [u.a.]: Fischer, 1995. 3 Zu diesem Zeitpunkt wurde der Begriff weder von der bürgerlichen Umgangssprache noch von der medizinischen Fachsprache aufgegriffen. Schmuhl (Anm. 1), S. 3. 4 Dazu im Detail Petra Fuchs: Krüppelfürsorge in Brandenburg, in: Wolfgang Hofmann, Kristina Hübener, Paul Meusinger (Hg.): Fürsorge in Brandenburg. Entwicklungen – Kontinuitäten – Umbrüche (= Schriftenreihe zur Medizin-Geschichte, Bd. 15), Berlin: be.bra wissenschaft verlag, 2007, S. 117–136. 5 Konrad Biesalski: Was ist ein Krüppel?, in: Zeitschrift für Krüppelfürsorge 1, 1908, S. 11–17, hier S. 14. 6 Biesalski hatte sein Medizinstudium in Halle 1894 mit einer Promotion abgeschlossen. Im Anschluss daran übernahm er die Leitung der orthopädischen Abteilung und Röntgenstation des Urbankrankenhauses in Berlin. Er erwarb sich große Verdienste auf dem Gebiet der orthopädischen Technik (Apparate und Prothesenbau) und gilt als der Vater der Körperbehindertenfürsorge. 7 Konrad Biesalski (Hg.): Umfang und Art des jugendlichen Krüppeltums und der Krüppelfürsorge in Deutschland nach der durch die Bundesregierungen erhobenen amtlichen Zählung, Hamburg [u.a.]: Voss, 1909.

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sich eine Zahl von knapp 100.000 „körperbehinderten“ Kindern unter 15 Jahren aus den unteren Bevölkerungsschichten,8 von denen rund 50.000 als „heimbedürftig“ eingestuft wurden. Mit der Zählung machte Biesalski auf die „Krüppelnot“ als Massenproblem mit gravierenden sozialen und ökonomischen Folgen aufmerksam und belegte eindrucksvoll die Notwendigkeit einer „neue[n] Form von Krüppelfürsorge“,9 die nach dem Willen der Orthopäden unter ärztlicher Hegemonie stehen sollte. Durch medizinische Behandlung sei das „Krüppeltum“ in höchstem Maße heilbar und daher könnten „aus Krüppelkindern in der Mehrzahl erwerbsfähige Menschen gemacht werden.“10 Biesalskis Initiative war deutlich ökonomisch geprägt und zielte primär auf eine Entlastung der Armenpflege ab.11 „Krüppelfürsorge“ definierte er als „Dienst am Individuum, gesehen durch das Interesse der Allgemeinheit“12, eine Sichtweise, der das Motto „Vom Almosenempfänger zum Steuerzahler“13 entsprach. Entscheidend für die Durchsetzung des medizinischen Primats im Rahmen dieser als modern verstandenen „Krüppelfürsorge“ war die Definition „körperbehinderter“ Menschen als Kranke, die Biesalski 1908 offiziell einführte und mit der er die medizinisch-klinische Perspektive in der Wahrnehmung und im Umgang mit „behinderten“ Personen begründete.14 In der Konkurrenz von konfessioneller „Krüppelpflege“ und medizinisch-orthopädischer „Krüppelfürsorge“ spielte die Auseinandersetzung um die Bezeichnung der Klientel eine zentrale Rolle. Anfänglich hatten Orthopäden das Wort „Krüppel“ vermieden, um ihre meist wohlhabende Patientenschaft nicht abzuschrecken, die sich nicht mit dem abwertenden Begriff bezeichnet wissen wollte. Mit Blick auf die negativen Auswirkungen der Vokabel „Krüppel“ für den Ausbau der modernen, explizit auf die unteren sozialen Schichten ausgerichteten „Krüppelfürsorge“ bemühten sich 8 Biesalski (Anm. 7), S. 16. Die Gesamtzahl körperlich beeinträchtigter Menschen in Deutschland bezifferte sich nach den Ergebnissen der Statistik auf ca. 500.000, das entsprach etwa einem Prozent der Gesamtbevölkerung. Dazu Udo Sierck: Arbeit ist die beste Medizin: Zur Geschichte der Rehabilitationspolitik, Hamburg: Konkret, 1992, S. 16. 9 Die Formulierung stammt von dem Würzburger Chirurgen und Orthopäden Albert Hoffa (1859– 1907), der vehement eine ärztlich dominierte „Krüppelfürsorge“ in Abgrenzung zu den bereits seit zwanzig Jahren bestehenden konfessionellen Institutionen propagierte. Biesalski hatte Hoffa im Rahmen seiner medizinischen Ausbildung kennen gelernt und engagierte sich mit ihm gemeinsam für die orthopädische „Krüppelfürsorge“. Dazu im Detail Philipp Osten: Die Modellanstalt, Über den Aufbau einer „modernen Krüppelfürsorge“, Frankfurt/M.: Mabuse, 2004, S. 50ff. 10 Krüppel-Heil- und Fürsorge-Verein für Berlin-Brandenburg (Hg.): Fünfzehn Jahre Krüppelfürsorge im Oscar-Helene-Heim: Eine Denkschrift, Berlin: E. Litfass, 1922, S. 38. 11 Thomann 1995 (Anm. 2), S. 125. 12 Biesalski (Anm. 7), S. 11. 13 Biesalski (Anm. 7), S. 12. 14 Konrad Biesalski: Leitfaden der Krüppelfürsorge, Leipzig: Voss, 1911, S. 14. In Berlin-Zehlendorf hatte der Arzt 1908 die „Berlin-Brandenburgische Krüppelheil- und Erziehungsanstalt“ mit acht Plätzen eingerichtet, eine Vorläufereinrichtung des im April 1914 gegründeten „Oscar-Helene-Heims für Heilung und Erziehung gebrechlicher Kinder“, das sich mit Beginn des Ersten Weltkrieges zur Modellanstalt für die „moderne Krüppelfürsorge“ entwickeln und im In- und Ausland einen hervorragenden Ruf genießen sollte. Dazu Petra Fuchs: „Körperbehinderte“ zwischen Emanzipation und Selbstaufgabe, Berlin: Luchterhand, 2001; Osten (Anm. 9).

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deren Vertreter – darunter auch Biesalski – in zunehmendem Maße um die Einführung weniger negativ belegter Begrifflichkeiten. In Absprache mit dem Deutschen Sprachverein wurden 1912 die Bezeichnungen „Gebrechlicher“, „Knochen- und Gliederkranker“, „orthopädisch Kranker“, „Gelähmter“, „Brestling“ und „Hilfling“ als Ersatz für den diskriminierenden Begriff „Krüppel“ vorgeschlagen.15 Der Einsatz um eine veränderte Sprachregelung blieb jedoch folgenlos, da insbesondere die konfessionelle „Krüppelfürsorge“ in propagandistischer Absicht am Begriff „Krüppel“ eben gerade wegen seines abschätzigen Charakters festhielt, um ihn im Sinne eines „sorgfältig gewählte[n] Kampfbegriff[s]“16 zu nutzen. Unterstützung fanden die Theologen von einer anderen Seite, denn auch der engste Mitarbeiter Biesalskis, der Volksschullehrer und spätere „Krüppelpädagoge“ Hans Würtz (1875–1958),17 der eine „Gemeinschaft der Krüppel“ in Absonderung von der „Gesamtgesellschaft“ propagierte, wendete sich gegen die Einwände der Orthopäden.18 Er verwies auf die Germanen, die „dem Krüppel“ schon eine besondere Geschicklichkeit attestiert, ihn also positiv gesehen hätten.19

1.2  „Kriegskrüppel“, „Kriegsbeschädigter“, „Schwerbeschädigter“, „Friedenskrüppel“ – Sprachpolitik im Kontext des Ersten Weltkriegs Vehementer Widerstand gegen die diskriminierende Sprachpraxis kam mit Beginn des Ersten Weltkrieges von Seiten der kriegsverletzten Soldaten, für die sich auf Betreiben der Militärführung schon 1915 eine neue Sprachregelung durchsetzte.20 Die Bezeichnung „Kriegskrüppel“ wurde – durchaus gegen Widerstände – abgeschafft und durch die Begriffe „Kriegsversehrter“, „Kriegsinvalider“ und „Kriegsbeschädigter“ ersetzt.21 Auch der Ausdruck „körperlich Behinderter“ wurde insbesondere unter den Vertretern der medizinischen „Krüppelfürsorge“ als sachlich-beschreibende und nicht wertende Bezeichnung in dieser Zeit diskutiert. Sie sollte auf der sprachlichen Ebene verdeutlichen, dass lediglich eine Beeinträchtigung der körperlichen Bewegungsfähigkeit vorlag, während die intellektuellen Fähigkeiten und seelischen Qualitäten in keiner 15 Merkens (Anm. 2), S. 2. Analog dazu sprach man von der „Gebrechlichenfürsorge“, „Orthopädischen Heil- und Erziehungsanstalten“, „Orthopädischer Klinik“ oder von „Versorgungsheimen für Gelähmte“ statt von „Krüppelheimen“ bzw. „Krüppelanstalten“. 16 Thomann 1992 (Anm. 2), S. 228. 17 Zur Biographie von Hans Würtz und zur Auseinandersetzung mit seinem Werk vgl. Oliver Musenberg: Der Körperbehindertenpädagoge Hans Würtz (1875–1958). Eine kritische Würdigung des psychologischen und pädagogischen Konzeptes vor dem Hintergrund seiner Biographie (= Sonderpädagogik in Forschung und Praxis, Bd. 2), Hamburg: Kovac, 2002. 18 Osten (Anm. 9), S. 317. 19 Diskussionsbeitrag. Erziehungsinspektor Würtz, in: Zeitschrift für Krüppelfürsorge 5, 1912, S. 221. 20 Petra Fuchs: „Behinderung“ ist ohne „Nichtbehinderung“ nicht denkbar. Überlegungen zu einer komplexen Forschungsperspektive, Vortrag im Rahmen des Friedrichshainer Kolloquiums „Disability forschen und studieren?“ des Instituts Mensch, Ethik und Wissenschaft in Berlin am 23. Juni 2009, Internet-Publikation, . 21 Thomann 1992 (Anm. 2), S. 254.

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Weise eingeschränkt waren.22 Mit der am 9. Januar 1919 erlassenen „Verordnung über die Behandlung Schwerbeschädigter“ etablierte sich schließlich ein neuer Begriff: der „Schwerbeschädigte“. Die Bezeichnung bezog sich auf „Kriegsbeschädigte“ mit einer Erwerbsminderung um mindestens fünfzig Prozent und auf die ihnen gleichgestellten Unfall- und Arbeitsverletzten. Vor dem Hintergrund des Krieges und seiner Folgen für Hunderttausende von vormals „unversehrten“ Männern kam es zu einer Verschiebung in der Wahrnehmung von und im Umgang mit „Behinderung“. Eine zahlenmäßig große und sozial anerkannte Teilgruppe der Gesellschaft, die vormals zu den „Gesunden“ gezählt hatte, reklamierte in diesem Zusammenhang erfolgreich einen nicht diskriminierenden Sprachgebrauch. Während sich die Abkehr von der „verletzenden Bezeichnung“, wie es 1916 Eugen Jacoby, Direktor eines Reservelazaretts in Bayreuth formulierte, für die verwundet aus dem Krieg zurückgekehrten „Helden“ und die im Arbeitsprozess zu Schaden gekommenen Menschen durchsetzte, erlebte sie für die sog. Friedenskrüppel – die seit Geburt oder von Kindheit an physisch beeinträchtigten Personen – nach Kriegsende eine Renaissance.23 Vor allem mit dem Blick auf die Gruppe der „Krüppelkinder“ nämlich hielten nunmehr auch führende Vertreter der „Krüppelfürsorge“ gegen die Einwände von „Betroffenen“ und im Unterschied zu einem in der Bevölkerung erkennbaren Einstellungswandel an der diskriminierenden Bezeichnung fest.24 Mit Blick auf die propagandistischen Erfolge, die Biesalski im Laufe des Ersten Weltkrieges mit der sozialen Wiedereingliederung der verletzten Soldaten im Rahmen der von ihm begründeten „Kriegskrüppelfürsorge“ erzielt hatte, plädierte nun auch er für die Beibehaltung des Terminus. Zwar hatte sich die Orthopädie im Laufe des Krieges zu einem medizinischen Spezialfach entwickelt, sie blieb aber in ihrer Bedeutung weit hinter der Wahrnehmung der „Krüppelfürsorge“ als nationaler Aufgabe zurück. Um die Forderung nach staatlicher Unterstützung und gesetzlicher Regelung dieses Fürsorgezweiges im Kontext der schwierigen ökonomischen Bedingungen nach 1918 durchzusetzen, hielten dessen führende Vertreter erfolgreich an der Bezeichnung fest. Mit der gesetzlichen Fundierung der staatlichen Fürsorge für physisch differente Kinder, Jugendliche und Erwachsene im „Preussischen Gesetz betreffend die öffentliche Krüppelfürsorge“ vom 6. Mai 1920 fand der Begriff „Krüppel“ schließlich Eingang in die medizinische und juristische Fachsprache.25 Mit Beginn der Weimarer Republik hatte sich aus dem Schimpfwort ein sozialpolitischer Terminus im Rahmen der freien öffentlichen Wohlfahrtspflege und der staatlichen Sozialpolitik entwickelt.26 Im Kontext des von Caritas und Medizin etablierten Fürsorgeparadigmas im Umgang mit „Behinderung“ erschienen die „Betroffenen“ als Objekte des professionellen, humani22 Thomann 1995 (Anm. 2), S. 293. 23 Thomann 1995 (Anm. 2), S. 266. 24 Thomann 1995 (Anm. 2), S. 293ff. 25 Preußisches Gesetz, betr. die öffentliche Krüppelfürsorge. Vom 6. Mai 1920 – Gesetzsammlung, S. 280. Sonderdruck aus „Volkswohlfahrt“ Nr. 9, Berlin, 1921. 26 Schmuhl (Anm. 2), S. 4.

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tären, gesundheits- und sozialpolitischen Handelns, denen erst durch die entsprechenden fachlichen Interventionen und Hilfestellungen ein Leben in der Gesellschaft der „Gesunden“ erschlossen werden musste.

2.  Weimarer Republik: „Behinderung“ im Konfliktfeld von sonderanthropologischer Theorie und emanzipatorischer Praxis Diese Sicht erfuhr mit Beginn der Weimarer Republik eine Veränderung durch die Aktivitäten von vier Männern und einer Frau, die am 10. März 1919 in Berlin den „Bund zur Förderung der Selbsthilfe der körperlich Behinderten“ gründeten. Schon die Namensgebung der Interessenvertretung verweist auf einen Einschnitt in der Geschichte des Umgangs mit „Behinderung“. Hatten sich jene, deren Beeinträchtigungen seit der Geburt oder von Kindheit an bestanden, bis zum Ende des Ersten Weltkriegs am Diskurs um die Begrifflichkeiten nicht beteiligt, so begannen sich im Zuge der Demokratisierung der Gesellschaft nun auch „Krüppel“ für einen veränderten Sprachgebrauch einzusetzen und den Begriff „Körperbehinderter“ bzw. „körperlich Behinderter“ zu etablieren.27 Der als Bundesvereinigung organisierte „Selbsthilfebund der Körperbehinderten“28 mit der Reichsgeschäftsstelle in Berlin strebte die Anerkennung physisch differenter Menschen als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft an und setzte sich für umfassende staatliche Unterstützungs- und Fördermaßnahmen wie medizinische Behandlung, schulische und berufliche Bildung ein.29 Die reichsweit rund 6.000 Mitglieder verstanden sich als Subjekte der Fürsorge und hielten ihre Mitarbeit auf einem „der kompliziertesten Gebiete der Wohlfahrtspflege“30 für unverzichtbar. In diesem Sinne suchten sie die Kooperation mit der karitativen und orthopädischen „Krüppelfürsorge“ und beteiligten sich aktiv u.a. an den Vorarbeiten zum „Preußischen Krüppelfürsorgegesetz“. Die Schaffung von geeigneten Arbeitsplätzen, die sich an den Kräften des einzelnen orientierte, zählte zu den Hauptaktivitäten des Selbsthilfebundes. Mit Erfolg etablierte er eine Reihe eigener Wirtschaftsbetriebe in Berlin, Dresden, Braunschweig und Liegnitz und schuf damit Arbeits- und Ausbildungsplätze insbesondere auch für „Schwerstverkrüppelte“.31

27 28 29 30

Thomann 1992 (Anm. 2), S. 256. Diese Benennung erfolgte ab 1924. Zur Entwicklungsgeschichte des Selbsthilfebundes vgl. Fuchs 2001 (Anm. 14). Archiv der Martha-Stiftung, Diakonisches Werk Hamburg, Hilde Wulff: Die Stellung des Krüppelkindes in den öffentlichen Volksschulen Berlins. Bearbeitet nach den Erhebungen des Landesjugendamtes Berlin [1930/31], Typoskript, 18 Seiten, S. 1. 31 Friedrich Malikowski: Die Bedeutung des Selbsthilfebundes für die Krüppelhilfe, in: Jugend und Volkswohl. Hamburgische Blätter für Wohlfahrtspflege und Jugendhilfe 4, 1929, H. 10/11, S. 185–187, hier S. 186.

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Petra Fuchs

Selbsthilfebund der Körperbehinderten, Reichsgeschäftsstelle Berlin, Vervielfältigungsbüro (1922–1924). Privatarchiv Petra Fuchs.

2.1  „Der Krüppel ist gemeinschaftskrank“ oder mangelnder Gemeinschaftssinn der Gesellschaft Einen weiteren Schwerpunkt der inhaltlichen Arbeit des Selbsthilfebundes stellten pädagogische Fragen dar. Schon zu diesem frühen historischen Zeitpunkt entwickelte der Bund Konzepte zur gemeinsamen Erziehung und Beschulung von „körperbehinderten“ und „gesunden“ Kindern. Mit dem Postulat „Das Krüppelkind gehört nach Möglichkeit in die Gemeinschaft der Gesunden“32 wendete sich die Volksschullehrerin und Mitbegründerin des Selbsthilfebundes Marie Gruhl (1881–1929) explizit gegen die von der „Krüppelfürsorge“ vertretene Auffassung, „jedes schulfähige Krüppelkind gehört an sich in eine besondere Krüppelschule, in der es unter Berücksichtigung der verschiedenen Gebrechen nach bestimmten Methoden auf Grund der besonderen Krüppelseelenkunde unterrichtet wird.“33 Gruhls Einwand stand der von Hans Würtz begründeten Disziplin der „Krüppelpsychologie“ und „Krüppelpädagogik“ entgegen, die als theoretische Basis des gesellschaftlichen Umgangs mit „behinderten“ Kindern und Jugendlichen in das „Preußische Krüppelfürsorgegesetz“ aufgenommen worden war.34 32 Marie Gruhl: Einteilung der Krüppelkinder, in: Nachrichtendienst 3, 1922, S. 11–13, hier S. 12, und in: Zeitschrift für Krüppelfürsorge 15, 1922, S. 77–79. 33 Hans Würtz: Das Seelenleben des Krüppels, Leipzig: Voß, 1921, S. 6. 34 Werner Brill: Pädagogik im Spannungsfeld von Eugenik und Euthanasie: Die „Euthanasie“-Diskussion in der Weimarer Republik und zu Beginn der neunziger Jahre: Ein Beitrag zur Faschismusforschung und zur Historiographie der Behindertenpädagogik, St. Ingbert: Röhrig, 1994, S. 281; Carol Poore: Der Krüppel in der Orthopädie der Weimarer Zeit: Medizinische Konzepte als Wegbereiter der Euthanasie, in: Argument, Sonderband 113, 1984, S. 67–78, hier S. 68; Sierck (Anm. 8), S. 17;

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Komplementär zur medizinisch-orthopädischen Perspektive hatte der Reformpädagoge und Sozialdemokrat zwischen 1911 und 1920 die psychologisch-pädagogische Ausrichtung der orthopädischen „Krüppelfürsorge“ ausgestaltet und die medizinische Definition „Körperbehinderter“ als Kranker um eine psychologisch-pädagogische erweitert: Der „Krüppel“ sei „gemeinschaftskrank“, definierte Würtz, „die Möglichkeiten unbefangenen Gemeinschaftsbewusstseins sind in dem Krüppel bedroht oder ganz verschüttet.“35 Die Aufgabe der entstehenden Sonderpädagogik bestand demnach darin, die „seelischen Sondereigenschaften“ „körperbehinderter“ Kinder und Jugendlicher im Sinne tiefgreifender sozialer und charakterlicher Defizite auszugleichen und sie in Absonderung von der Gesellschaft, nämlich in Anstalten und diesen angegliederten Heimschulen, „gemeinschaftsfähig zu machen. Das ist der Sinn der Krüppelpädagogik.“36 Der Lehrer ging von der Existenz einer besonders beschaffenen und im Gegensatz zum „Gesunden“ stehenden „Krüppelseele“ aus und unterstellte Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen ein von Natur aus gegebenes „Mindervermögen“, während er den „Gesunden“ ein „Mehrkönnen“ zuschrieb. „Krüppel“ litten, so eine weitere Grundannahme, unter dem Zwang, sich ständig mit den „Gesunden“ zu vergleichen, wodurch das „typische Krüppeltum“ entstehe: „verstärkte Selbstfühligkeit, Benachteiligungs- und Beeinträchtigungsempfindungen, erhöhte Empfindlichkeit, Reizbarkeit, Neid, Mißtrauen, Starrheit und Härte der Selbstbehauptung sowie übersteigertes Selbstgefühl.“37 Würtz sah also die physische Beeinträchtigung als eine Einheit aus körperlicher Schädigung und seelischer Deformation und schlussfolgerte: „Der Mensch im Körperbehinderten ist nur seelisch und geistig zu heilen, zu ‚entkrüppeln’.“38 Die Aktivistinnen und Aktivisten der Selbsthilfebundes versuchten vergeblich, diese Sicht zu konterkarieren. So deutete Friedrich Malikowski (1878–1945), Gründungsmitglied und einer der exponiertesten Vertreter des Bundes, das Ausscheiden der „Krüppelkinder“ aus der öffentlichen Volksschule als Zeichen fehlenden Gemeinschaftssinns dieser Institution und fragte: „Wäre es nicht eine Farce auf die Leben bildende Gemeinschaftsschule, wenn sie so wenig Gemeinschaftssinn entwickelte, daß sie gezwungen wäre, die Buckligen und Lahmen, ja sogar die Häßlichen auszuscheiden?“39 Im Unterschied zu Würtz sahen die Mitglieder des Selbsthilfebundes keine monokausale Verknüpfung zwischen physischer Beeinträchtigung und charakterlichen Mängeln und wendeten sich gegen die Stigmatisierung durch die Zuschreibung sozialer und morali-

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Thomann 1995 (Anm. 2), S. 206; Eva Brinkschulte (Hg.): Tradition mit Zukunft. 85 Jahre Orthopädie Zentrum Berlin Oscar-Helene-Heim, Berlin: Verlag für Wissenschafts- und Regionalgeschichte Engel, 1999, S. 32. Würtz (Anm. 33), S. 4. Würtz (Anm. 33). Würtz (Anm. 33). Hans Würtz: Zerbrecht die Krücken: Krüppel-Probleme der Menschheit: Schicksalsstiefkinder aller Zeiten und Völker in Wort und Bild, Leipzig: Voss, 1932, S. 3f. Friedrich Malikowski: Krüppelpsychologie und Krüppelpädagogik, in: Nachrichtendienst 3, 1922, S. 4.

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scher Minderwertigkeit. „Körperbehinderung“ sei vielmehr „eine Lebensform wie jede andere“, fasste die jüdische Pädagogin Irma Dresdner die Ergebnisse ihrer Befragung zum Einfluss der „Körperbehinderung“ auf die seelische Entwicklung zusammen.40 Aufgrund der gesellschaftlichen Machtverhältnisse vermochte es die Selbsthilfebewegung jedoch nicht, einen Paradigmenwechsel im Umgang mit „Behinderung“ durchzusetzen. Die medizinisch-klinische Perspektive und ihr Äquivalent, die sonderanthropologisch begründete Erziehung „körperbehinderter“ Menschen, die auf Assimilation, also auf Anerkennung der vermeintlichen Überlegenheit „gesunder“ Menschen beruhte,41 bildete den Ausgangspunkt der fürsorglich begründeten Ausgrenzung (körper-)„behinderter“ Menschen im Zeitraum der Weimarer Republik.

2.2  „Erblich minderwertige, geistig und seelisch Kranke“ oder „geistig gesunde, seelisch normale Körperbehinderte“ – Stellung „behinderter“ Menschen zum Sterilisationsdiskurs der Zwanzigerjahre Hinsichtlich des Umgangs mit „Behinderung“ war die Weimarer Republik von einer bemerkenswerten Ambivalenz und der Gleichzeitigkeit gegensätzlicher und polarisierender Haltungen und Entwicklungen gekennzeichnet. Einerseits gab es intensive Bemühungen um weitestgehende Unterstützung „behinderter“ Menschen in staatlicher Verantwortung; gleichzeitig repräsentieren die Zwanzigerjahre die Hochzeit der entwertenden Wahrnehmung von Menschen mit „Behinderungen“, die im Kontext des rassenhygienischen Diskurses in Überlegungen zur Sterilisation und physischen Vernichtung gipfelte. Vor dem Hintergrund der ökonomischen Entwicklung hatte sich ein breiter gesellschaftlicher Konsens in der Frage der Einsparung sozialer Kosten durch eugenische Maßnahmen herausgebildet, die auf „Menschen mit erbbedingten körperlichen oder geistigen Schäden“ angewendet werden sollten.42 Während die Vertreter der „Krüppelfürsorge“ „die Förderung der eugenischen Fragen, insbesondere die bevölkerungspolitische und eugenische Neuorientierung der staatlichen Wohlfahrtspflege“ befürworteten, protestierten die verschiedenen Interessenvertretungen „behinderter“ Menschen zunächst öffentlich gegen die Ausrichtung der staatlichen Wohlfahrtspflege nach bevölkerungspolitischen und eugenischen Gesichtspunkten. Gleichzeitig aber stimmte der aus dem Selbsthilfebund hervorgegangene „Reichsbund der Körperbehinderten“ (1931–1945)43 „den berechtigten Bestre-

40 Irma Dresdner: Über Körperbehinderung und seelische Entwicklung. Separatausdruck der Zeitschrift für angewandte Psychologie 44, 1933, S. 399–437, hier S. 403. 41 Peter Gstettner: Die Eroberung des Kindes durch die Wissenschaft: Aus der Geschichte der Disziplinierung, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1981. 42 Der Körperbehinderte 2, 1932, S. 20. 43 Zur Geschichte des Reichsbundes vgl. Fuchs 2001 (Anm. 14).

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bungen der Eugenik auf Gesundung und Ertüchtigung des Volkes“44 im Grundsatz zu. Das Bündnis forderte die strikte Unterscheidung zwischen „den geistig und seelisch Kranken, also den hauptsächlich mit minderwertigen Erbanlagen Behafteten und den geistig gesunden, seelisch normalen Körperbehinderten.“45 Mit diesem Selbstverständnis, nach dem Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen aufgrund intellektueller Eignung und dem Kriterium der (eingeschränkten) Arbeitsfähigkeit nicht den „Ballastexistenzen“46 zuzurechnen waren, grenzten sie sich von geistig und mehrfach „behinderten“ sowie von psychisch kranken Menschen ab. Eine grundlegende Auseinandersetzung mit der öffentlichen Diskussion rassenhygienischer und eugenischer Fragen führte der Reichsbund nicht. Wie alle anderen bestehenden Lobbyverbände „behinderter“ Menschen in der Weimarer Republik – der Reichsdeutsche Blindenverband e.V., der Reichsbund der Deutschen Schwerhörigen und der Reichsverband der Gehörlosen Deutschlands (Regede) e.V. – bezog sich auch der Reichsbund der Körperbehinderten mit seinen Protesten und Gegenmaßnahmen ausschließlich auf den eigenen Kreis.47 Jede auf die Schädigung bezogene Gruppierung setzte sich unabhängig von den anderen gegen die Anwendung eugenischer Maßnahmen zur Wehr, zu einer Solidarisierung der einzelnen Verbände kam es nicht. Letztlich existierte nur eine einzige fundierte und konsequent kritische Stellungnahme gegen die Sterilisation und die „Euthanasie“, deren Urheber der Akademiker und Vorsitzende des Reichsdeutschen Blindenverbandes Rudolf Kraemer (1885–1945) war. 48 Kraemers Kritik basierte auf einem ethisch 44 Friedrich Malikowski: Die 12. Arbeitstagung der Deutschen Vereinigung für Krüppelfürsorge, in: Der Körperbehinderte 2, 1932, S. 50-52, hier S. 52. 45 Malikowski (Anm. 44). 46 Der Begriff geht auf den Juristen Karl Binding und den Psychiater Alfred Erich Hoche zurück, deren Veröffentlichung „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“ aus dem Jahre 1920 die seit Ende des 19. Jahrhunderts geführte Diskussion um die medizinische Erlösung unheilbar Kranker und unerträglich Leidender auf den Punkt brachte. Als „Ballastexistenzen“ bezeichneten die Autoren die in den Anstalten untergebrachten und als unheilbar geisteskrank angesehenen Menschen mit psychischen Erkrankungen und geistigen „Behinderungen“. Diese „geistig völlig Toten“ verursachten hohe gesellschaftliche Kosten und seien zu keiner produktiven Leistung fähig, ihr Lebensrecht sei daher eingeschränkt, so die Argumentation. Die Schrift von Binding und Hoche spielte eine entscheidende Rolle für die Rechtfertigung der Krankentötungen im Nationalsozialismus. 47 Zu den Organisationen der Blinden vgl. Gabriel Richter: Blindheit und Eugenik – Zwischen Widerstand und Integration, in: Blinde unterm Hakenkreuz. Erkennen, Trauern, Begegnen, Seminar im November 1989 in Berlin-Wannsee und Materialien zum Thema. Zus. gest. v. Martin Jaedicke, Wolfgang Schmidt-Block (= Marburger Schriftenreihe zur Rehabilitation Blinder und Sehbehinderter, Bd. 8), Marburg: 1991, S. 16–31, hier S. 23. 48 Rudolf Kraemer: Kritik der Eugenik. Vom Standpunkt des Betroffenen, hg. vom Reichsdeutschen Blindenverband, Berlin 1933. Zur Biographie und Würdigung seines Lebenswerkes vgl. Christhard Schrenk: Rudolf Kraemer: Ein Leben für die Blinden (1885–1945). Doktor der Rechtswissenschaften, Wegbereiter der Blindenselbsthilfe, Kritiker des Nationalsozialismus, Heilbronn: Stadtarchiv, 2002 sowie Gisela Bock: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus: Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1986, S. 279f.; Brill (Anm. 34), S. 286–290; Richter (Anm. 47), S. 24–26.

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begründeten Menschenbild, das die menschliche Würde und die Unverletzlichkeit der Person in den Mittelpunkt stellte. Insbesondere den Begriff der „eugenischen Minderwertigkeit“ stellte er radikal in Frage, dieser sei „nicht etwa naturwissenschaftlich begründet und abgegrenzt, sondern stellt ein Werturteil dar.“49 Mit seiner ebenso polemischen wie differenzierten und entlarvenden Kritik des rassenhygienischen Diskurses bezog Kraemer sich darüber hinaus nicht auf die Blinden allein, sondern er bedachte alle als „minderwertig“ diffamierten sozialen Gruppen, „die Geisteskranken, die Blödsinnigen, die Epileptiker, die Gewohnheitsverbrecher, die schweren Psychopathen, die Blinden, die Tauben, die Krüppel, die Kränklinge und die Schwächlinge.“50 Weitaus weniger differenziert äußerte sich dagegen z.B. Otto Perl, Initiator und Mitbegründer des Selbsthilfebundes der Körperbehinderten, der 1926 wie selbstverständlich den „körperlichen Vollmenschen“ dem kranken „Krüppel“ gegenüberstellte.51

3.  Paradigmenwechsel im Nationalsozialismus: Gleichmachung statt Gleichstellung Unter den Bedingungen des nationalsozialistischen Staates verschärfte sich die Tendenz zur Abgrenzung von „geistig behinderten“ und psychisch kranken Personen seitens der gleichgeschalteten Verbände beeinträchtigter Menschen. Die Aktivitäten des Reichsbundes der Körperbehinderten zielten primär darauf ab, physisch differente Menschen vom „Makel der Minderwertigkeit“ zu befreien und sie unter dem Aspekt von Leistungsfähigkeit und „Erbgesundheit“ als „vollwertige“, d.h. als „erbgesunde, körperbehinderte Volksgenossen“ zu behaupten.52 Diese Strategie beinhaltete jedoch zugleich die Abgrenzung und radikale Entwertung „geistig Unnormaler“ und/oder „erbkranker, minderwertiger Krüppel“. In diesem Sinne setzte sich die einzige offiziell anerkannte Vertretung von Menschen mit körperlichen „Behinderungen“ im „Dritten Reich“ für die Anwendung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses ein, „weil nur dadurch die Herausstellung aller rassisch wertvollen Körperbehinderten möglich ist.“53 Auch Perl sprach sich in diesem Zusammenhang für eine „selektive Krüppelfürsorge“ aus, „die die geistig vollwertigen von den geistesschwachen und pervers veranlagten Gebrechlichen trennt.“54 Diese Formulierung ist vor dem Hintergrund der Selektionen im Rahmen des nationalsozialistischen Krankenmordes beson49 Kraemer (Anm. 48), S. 33. 50 Kraemer (Anm. 48). 51 Perl (Anm. 2), S. 39. Wieder veröffentlicht, in: Hans-Günther Heiden, Gerhard Simon, Udo Wilken: Otto Perl und die Entwicklung von Selbstbestimmung und Selbstkontrolle in der KörperbehindertenSelbsthilfe-Bewegung, Krautheim: Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderte, 1993. 52 Wilhelm im Spring: Gedanken über die Fortentwicklung des Reichsbundes der Körperbehinderten, in: Der Körperbehinderte 4, 1934, S. 34. 53 im Spring (Anm. 52). 54 Otto Perl: Auswählende Krüppelfürsorge, in: Ethik 13, 1936, S. 247–249, hier S. 249.

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ders brisant. Der von Hitler auf den Beginn des Krieges am 1. September 1939 zurückdatierte Krankenmord, dem mehr als 300.000 Kinder, Frauen und Männer zum Opfer fielen,55 betraf in erster Linie psychisch kranke und „geistig behinderte“ Anstalts- und Heiminsassen.56 Jenseits der Zuschreibung als „lebensunwertes Leben“ räumte der NS-Staat Menschen mit Beeinträchtigungen jedoch auch Möglichkeiten der Partizipation ein. Voraussetzung war der erklärte Verzicht auf Fürsorgeleistungen und der Nachweis von Leistungsfähigkeit und „Erbgesundheit“. Es sei die „vornehmste Aufgabe der Behinderten“, formulierte Julius zur Nedden,57 Parteigenosse und Leiter der Sozialabteilung des Reichsbundes, „möglichst unabhängig von fremder Hilfe in die Volksgemeinschaft hineinzuwachsen. Die Selbsthilfebestrebungen der Körperbehinderten und ihr Bestreben, möglichst frei von jeder Versorgung zu werden, und statt dessen ebenso wie jeder übrige Volksgenosse von ihrer Hände Arbeit zu leben, ist als das Gesunde im Leben der Körperbehinderten anzusprechen.“58 Unter der Prämisse der „Überwindung der Behinderung“ ersetzte der NS-Staat die in den Zwanzigerjahren erhobene Forderung nach Gleichstellung durch eine Praxis der Gleichmachung: Unter strikter Selbstverleugnung durch die Missachtung der vorhandenen Einschränkungen und durch permanente einseitige Anpassungsleistungen war es „erbgesunden“, „geistig normalen“ und „produktiven“ Menschen mit „Behinderungen“ möglich, sich als „relativ vollwertige Erwerbstätige“ 59 in die NS-Volksgemeinschaft einzufügen. Die Interessenvertretungen von seh-, sprach-, hör- und körper-„behinderten“ Frauen und Männern reagierten zustimmend auf das Angebot des NS-Staates und suchten gezielt den Anschluss an das Regime; nur einige wenige leisteten Widerstand und unterstützten aktiv politisch und rassisch Verfolgte.60 55 Heinz Faulstich: Die Zahl der „Euthanasie“-Opfer, in: Andreas Frewer, Clemens Eickhoff, (Hg.): „Euthanasie“ und die aktuelle Sterbehilfe-Debatte. Die historischen Hintergründe medizinischer Ethik, Frankfurt/M. [u.a.]: Campus-Verlag, 2000, S. 218–234. 56 Petra Fuchs, Maike Rotzoll, Ulrich Müller, Paul Richter, Gerrit Hohendorf (Hg.): „Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst“. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“, Göttingen: Wallstein, ²2008. 57 Lebensdaten unbekannt. 58 Julius zur Nedden: Schwerbeschädigtengesetz und Versorgungsausgleich, in: Der Körperbehinderte 6, 1936, H.1, S. 6–7, hier S. 7. 59 Der Körperbehinderte 8, 1938, S. 3. 60 Die Sozialpädagogin Hilde Wulff (1898–1972), Mitglied des Selbsthilfebundes und des Reichsbundes bis 1934, unterstützte in ihren Heimen für physisch beeinträchtigte Kinder in Berlin und Hamburg auch politisch und rassisch Verfolgte; u.a. bereitete sie jüdische Kinder mit und ohne „Behinderungen“ auf ihre Ausreise nach Palästina vor. Vgl. Petra Fuchs: Hilde Wulff (1898–1972): Leben im Paradies der Geradheit, Münster [u.a.]: Lit, 2003. Die fehlende kritische Distanz im Rückblick auf das eigene Handeln im Kontext der NS-Diktatur ist im Einzelfall bemerkenswert, etwa wenn Zeitzeugen mit Stolz auf eine Karriere als „Soldaten in den besonderen Funktionen als Jagdflieger und Mitglieder der Waffen-Schutzstaffel (Waffen-SS)“ zurückblicken und betonen, „man war ungeheuer tolerant gegenüber Sprachbehinderten.“ Inge K. Krämer-Kilic, Hendrik Hauschild: „Du stotterst ja!“ Sprachbehindertenpädagogik im Nationalsozialismus, eine exemplarische Betrachtung der Hamburger Verhältnisse, Münster [u.a.]: Lit 2000, S. 92.

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3.1  Ein neuer „Typus des Behinderten“ – geistig rege, erbgesund, rassisch wertvoll, leistungsfähig In dem Bestreben, mit dem geistig regen, „erbgesunden“, rassisch wertvollen und leistungsfähigen „Behinderten“ einen neuen „Typus“ zu etablieren, welcher der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zugerechnet wurde, betrieb der Bund ab 1933 die Neudefinition des Begriffes „Behinderung“, dem Selbstverständnis nach ein „Ehrenname“, unter den „nur geistig rege Menschen“ subsumiert werden sollten.61 „In einem Satz gesagt“, definierte der zum fünfköpfigen „Führerrat“ gehörende Hellmut Neubert62, „sind die Körperbehinderten die geistig regen, von Geburt oder im jugendlichen Alter, durch Krankheit oder außerberufliche Verletzungen zu Schaden gekommenen Menschen beiderlei Geschlechts, die durch Leistungen die Behinderung überwinden und rassisch wertvolles Erbgut darstellen.“63 Der Begriff „Körperbehinderter“ dürfe „nicht in eine Beziehung zu dem Wort ‚minderwertig’ gebracht werden. Der Reichsbund der Körperbehinderten hat nun die hohe Aufgabe, die Ehrenrettung der erbgesunden, geistig regen Körperbehinderten zu betreiben, zumal von allen Körperbehinderten nur ein verschwindend kleiner Teil unter das Sterilisationsgesetz fällt.“64 Entsprechend plädierte der Reichsbund für die Berücksichtigung rassenhygienischer, ökonomischer, utilitaristischer und sozialer Gesichtspunkte, um in auslesender Absicht zwischen dem negativ belegten Begriff „Krüppel“ und der positiv besetzten Bezeichnung „Körperbehinderter“ zu unterscheiden. Gleichzeitig lieferte das Bündnis die als erbkrank geltenden, physisch und psychisch eingeschränkten Menschen dem Zugriff des NS-Staates aus, um die „Vollwertigkeit“ der als „erbgesund und „geistig normal“ deklarierten zu belegen. Auf diese Weise beteiligten sich „behinderte“ Menschen aktiv und aus eigener Initiative an der Hierarchisierung und Ausgrenzung derjenigen, die dem Kriterium der geistigen und „erblichen Gesundheit“ nicht entsprachen. Die Konstruktion „des Anderen“ verschob sich in diesem Zusammenhang immer mehr in Richtung „Krüppel“, „Körperbehinderte“ dagegen rückten als „relativ Vollwertige“ in die Nähe des „nichtbehinderten“ Volksgenossen, letzteres eine Wortschöpfung, die etwa ab 1935 das Wort die bis dahin gültige Vokabel „Gesunder“ oder „Unbehinderter“ zur Kennzeichnung von Menschen ohne Schädigungen oder Beeinträchtigungen ablöste.65 Es ist der Zeitraum der nationalsozialistischen Diktatur, in dem sich mit den Bezeichnungen „Behinderung“ und „Nichtbehinderung“ eine scheinbar nichtwertende Begrifflichkeit etablierte, derer wir uns auch heute noch – in Unkenntnis des histori61 Hellmut Neubert: An Deutschlands körperbehinderte Jugend, in: Unsere HJ [Hitlerjugend]. Amtliches Organ der Reichsführung der Körperbehinderten HJ. Beilage der Zeitschrift Der Körperbehinderte 1, 1935, H.1, S. 1. 62 Lebensdaten unbekannt. 63 Neubert (Anm. 61), S. 1. 64 Der Körperbehinderte 5, 1935, S. 2. 65 Der Körperbehinderte 5, 1935, S. 50; Der Körperbehinderte 6, 1936, S. 1.

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schen Kontextes – weitgehend bedienen.66 „Jedenfalls setzt sich im rehabilitationswissenschaftlichen Sprachgebrauch ab 1940 […] und dann endgültig nach dem Zweiten Weltkrieg immer mehr der Begriff ‚Körperbehinderter’ durch“, heißt es dazu übereinstimmend aus medizinhistorischer und sonderpädagogischer Perspektive.67 Während im Zeitraum von 1900 bis zum Ende der Weimarer Republik entscheidende Vorarbeiten für die systematische, fürsorglich begründete räumliche und sonderanthropologisch fundierte Ausgrenzung (körper-)„behinderter“ Menschen geleistet wurden, war es das Konzept der NS-Volksgemeinschaft, das die strikte Unterscheidung von „behinderten“ und „nichtbehinderten“ Personen vorantrieb und eine Kultur unterschiedlich gewerteten „Lebens“ in hermetisch geschlossenen, abgetrennten sozialen Gemeinschaften praktizierte. Im Unterschied zur bis 1938 zumindest theoretisch bestehenden Möglichkeit für beeinträchtigte Mädchen und Jungen, Frauen und Männer, individuell zwischen einer Schul- und Berufsausbildung in einem „Krüppelheim“ oder aber in der öffentlichen Schule und im Rahmen von allen zugänglichen Lehrberufen zu wählen, schrieb das Reichsschulpflichtgesetz den Besuch von Sonderschulen für „geistig und körperlich behinderte Kinder“ als zwingend vor.68 Mit der Herauslösung „behinderter“ Kinder aus der öffentlichen Schule und den Berufsausbildungsbereichen, analog zur bildungspolitischen Aussonderungspraxis also, wurde erstmals der Begriff „geistig behindert“ in die Gesetzessprache aufgenommen.69 Gerade diese Kinder aber, deren neue Benennung dem älteren Wortfeld „schwachsinnig“, „geistesschwach“, „imbezill“ entsprach, wurden unter dem heilpädagogischen Terminus der „Bildungsunfähigkeit“ im Rahmen der NS-„Euthanasie“ zwischen 1939 und 1945 selektiert und vernichtet.70 66 Osten (Anm. 9), S. 319; Thomann 1992 (Anm. 2), S. 221–271. 67 Udo Wilken: Körperbehindertenpädagogik, in: Svetluse Solarová (Hg.): Geschichte der Sonderpädagogik, Stuttgart [u.a]: 1983, S. 212–259, hier S. 214. 68 Gesetz über die Schulpflicht im Deutschen Reich (Reichsschulpflichtgesetz) vom 6. Juli 1938. Reichsges. Bl. Teil 1, 1938, 102–233, S. 799. 69 Schmuhl (Anm. 1), S. 8. 70 Seit Anfang des 19. Jahrhunderts wurden schulaltrige Kinder in verstärktem Maße der Kategorie „bildungsfähig“ bzw. „bildungsunfähig“ zugeordnet, um sie der sogenannten Normal- oder Hilfsschule zuzuführen. Gabriele Geiger: Schwachsinnigenfürsorge und Hilfe für das geistig behinderte Kind: eine Analyse der „Zeitschrift für das Idiotenwesen“ (1880–1934), Freiburg i. Br.: Schulz, 1977, S. 121. Der Klassifizierung nach dem Grad der „Bildungsfähigkeit“ lag ein Menschenbild zugrunde, das „schwer geistig behinderten“ Menschen das Vorhandensein von Menschlichkeit absprach. Unter dem Einfluss der internationalen rassenhygienischen und eugenischen Diskussion zählte insbesondere diese Gruppe bereits in den 1920er Jahren zu den rassisch „Minderwertigen“, denen ein Lebensrecht abgesprochen wurde. Im Kontext des NS-Krankenmordes nahm der Umgang mit entsprechend klassifizierten Kindern und Jugendlichen eine tödliche Dimension an; vgl. Petra Fuchs: Zur Selektion von Kindern und Jugendlichen nach dem Kriterium der „Bildungsunfähigkeit“, in: Maike Rotzoll, Gerrit Hohendorf, Petra Fuchs, Paul Richter, Christoph Mundt, Wolfgang U. Eckart (Hg.): Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion „T 4“ und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn [u.a.]: Schöningh, 2010, S. 287–296; Esther Lehnert: Die Beteiligung von Fürsorgerinnen an der Bildung und Umsetzung der Kategorie „minderwertig“ im Nationalsozialismus. Öffentliche Fürsorgerinnen in Berlin und Hamburg im Spannungsfeld von Auslese und „Ausmerze“, Frankfurt/M.: Mabuse, 2003, S. 300f.

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4.  Nach 1945: Kontinuität des Begriffes „Körperbehinderter“ Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges knüpfte die primär auf Kinder und Jugendliche gerichtete „Krüppelfürsorge“ an die Tradition und den Sprachgebrauch vor 1933 an. Der 1947 neu gegründete Dachverband behielt seinen ursprünglichen Namen „Deutsche Vereinigung für Krüppelfürsorge“ bei, 1954 erfolgte mit der Benennung als „Deutsche Vereinigung zur Bekämpfung des Krüppeltums“ ein Rückfall in die Zeit vor 1940.71 Erst nach der Verabschiedung des Schwerbeschädigtengesetzes im Jahre 195772 kam es zu einer erneuten Umbenennung in „Deutsche Vereinigung zur Förderung der Körperbehindertenfürsorge e.V.“ und 1962 in „Deutsche Vereinigung für die Rehabilitation Behinderter e.V.“.73 Im Kontext des 1950 vorgelegten Entwurfes eines „Fürsorgegesetzes für Körperbehinderte“, welches das Preußische Krüppelfürsorgegesetz aus der Weimarer Zeit ablösen sollte, kam es unter den Orthopäden erneut zu einer heftigen sprachpolitischen Auseinandersetzung um die Begrifflichkeiten. So präferierte der Direktor der Kölner Universitätsklinik für Orthopädie, Matthias Hackenbroch (1894–1979), die Vokabel „Krüppel“, da ihm „Körperbehinderter“ als ein zu „verwaschenes unkonturiertes Wort“ erschien.74 Im Unterschied zu dieser Expertenmeinung wandte sich Eugen Glombig, Vertreter des wieder gegründeten Reichsbundes der Körperbehinderten und späterer SPD-Bundestagsabgeordneter, gegen die Beibehaltung des Terminus „Krüppel“, wobei er sich, wie seine Vorgänger in den Zwanziger- und Dreißigerjahren, deutlich gegenüber Menschen mit „geistigen Behinderungen“ und psychischen Erkrankungen abgrenzte. „Das Wort Krüppel – darüber kann nichts hinwegtäuschen – ist im Laufe der Zeit zu einer Diffamierung für die Körperbehinderten geworden. […] Es ist eine altbekannte Tatsache, dass die Volksmeinung geneigt ist, auch jeden, der geistig minderwertig, geistesschwach oder geisteskrank ist, als Krüppel zu bezeichnen.“75 Eine kritische Sicht auf die rassenhygienische und leistungsbezogene Konnotation der Vokabel „Körperbehinderter“ in der Zeit des Nationalsozialismus blieb auf beiden Seiten aus, und zwar auf Seiten der Mediziner und Sonderpädagogen, die erheblichen Anteil an der Durchsetzung dieses Begriffes hatten und an den Maßnahmen zur Ausgrenzung, zur Umsetzung der NS-Zwangssterilisation und zur physischen Vernichtung „behinderter“ Kinder, Jugendlicher und Erwachsener beteiligt waren, ebenso wie auf Seiten der „Behinderten“.

71 Im Zuge der Gleichschaltung wurden 1933 die Deutsche Vereinigung für Krüppelfürsorge und die Deutsche Orthopädische Gesellschaft zur „Reichsarbeitsgemeinschaft zur Bekämpfung des Krüppeltums“ zusammengefasst. Fuchs (Anm. 14), S. 138. 72 Gesetz über die Fürsorge für Körperbehinderte und von einer Körperbehinderung bedrohte Personen, Bundesgesetzblatt (BGBl.) I, 1957, S. 147. 73 Thomann 1992 (Anm. 3), S. 266f., 270. 74 Zit. nach Schmuhl (Anm. 1), S. 12. 75 Zit. nach Schmuhl (Anm. 1), S. 12.

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5.  Resümee und Ausblick Die Bewertung und Hierarchisierung der unterschiedlichen „Behinderungsgruppen“, an der beeinträchtigte Frauen und Männer zum Teil selbst mitgewirkt hatten, blieb nach 1945 erhalten und trennt auf der informellen Ebene bis heute weitgehend die Kriegs-, Arbeits- und Unfallverletzten von denjenigen, deren Beeinträchtigungen andere Ursachen haben. Auch wenn sich im Kontext der bundesrepublikanischen „Emanzipatorischen Krüppel- und Behindertenbewegung“ der Siebziger- und Achtzigerjahre erstmals Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen breit solidarisiert haben, genießen physisch differente Personen in unserer heutigen Gesellschaft ein höheres Ansehen als Menschen mit psychischen oder mentalen Einschränkungen. Innerhalb dieser großen Blöcke existieren weitere Abstufungen, die an die Sichtbarkeit und Ästhetik von Beeinträchtigungen ebenso gebunden sind wie z.B. an das Kriterium der Leistungsfähigkeit und eine Reihe weiterer Merkmale. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Vokabel „Krüppel“ im Zuge der zweiten Emanzipationsbewegung „behinderter“ Menschen eine Renaissance erlebte und das (Schimpf-)Wort positiv umgedeutet wurde: Die Benutzung der Vokabel sollte auf die gesellschaftlichen Verhältnisse verweisen, denen Menschen mit „Behinderungen“ unterworfen waren und die als menschenrechtsverletzend angesehen wurden.76 Im Unterschied zum Ausdruck „schwul“ ist das Wort „Krüppel“ jedoch nicht in den positiven Sprachgebrauch breiterer Teile der Gesellschaft übergegangen, ein Indiz dafür, dass die Wahrnehmung von „Behinderung“ nach wie vor nicht unbelastet ist. Der individualisierende und defizitäre Blick ist noch immer der bestimmende; dies gilt insbesondere für die Medizin wie für die Sonderpädagogik, die sich in Orientierung an den unterschiedlichen Schädigungen seit 1945 mannigfaltig ausdifferenziert hat und weit davon entfernt ist, sich als Disziplin aufzulösen. Im Unterschied zur Mehrzahl der anderen europäischen Staaten genießt die Sonderschule in Deutschland weiterhin hohe Anerkennung und weite Verbreitung, integrative oder gar inkludierende Ansätze bilden in diesem Feld nach wie vor die Ausnahme. Die seit 2009 rechtsverbindliche UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die einen theoretischen Paradigmenwechsel für die Wahrnehmung und Deutung von „Behinderung“ sowie für den gesellschaftlichen Umgang mit physischer, psychischer und mentaler Differenz darstellt, sieht zwar explizit ein „integratives Bildungssystem“ vor und lasst zunächst hoffen, dass die Sonderbeschulung auf längere Sicht endlich abgeschafft wird.77 Allerdings zeigt ein Blick auf die politische Praxis der Umsetzung gerade für Deutschland eine beschämende Bilanz, was nur als weiterer Beleg für das Beharrungsvermögen in Sachen Exklusion zu deuten ist.78

76 Susanne von Daniels, Theresia Degener, Andreas Jürgens (Hg.): Krüppel-Tribunal. Menschenrechtsverletzungen im Sozialstaat, Köln: Pahl-Rugenstein, 1983. 77 UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, § 24. 78 kobinet-nachrichten 25.03.2011: 2 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention: Bilanz ist beschämend, .

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Der Topos von der „Überwindung der Behinderung“ wirkt in zweifacher Weise nach, einmal durch die sonderanthropologische Sicht auf „den Krüppel“, nach der dieser an seiner körperlichen und seelischen „Krüppelhaftigkeit“ leidet und diese in tagtäglicher Anstrengung auszugleichen hat. Soziale Anerkennung und individuelle Wertschätzung wird in der Regel nur jenen „Behinderten“ zuteil, die herausragende Leistungen erbringen, etwa indem sie mit „eisernem Willen“ sozial und kulturell vorgegebene Barrieren überwinden, so z.B. durch das erfolgreiche Beharren auf das Erlernen eines Berufes, der angeblich für „Behinderte“ nicht geeignet ist. Zum anderen ist im Zusammenwirken mit der defizitären Wahrnehmung der Leistungsgedanke durchaus virulent: Die (potentielle) Produktivität „behinderter“ Menschen gilt auch heute noch als Beleg ihres Wertes. Hatte der Reichsbund in den 1930er Jahren postuliert: „Der Körperbehinderte ist ein Mensch der Leistung“79, so warb die Bundesagentur für Arbeit in den 1990er Jahren mit dem Slogan „Behinderte überzeugen durch Leistung“, und 2010 heißt es „Motiviert, leistungsbereit…und schwerbehindert.“80 Soziale Integration ist vor diesem Hintergrund noch immer eine einseitige Anstrengung, eine Anpassungsleistung, die primär von den Trägerinnen und Trägern des Merkmals „Behinderung“ zu erbringen ist. Nicht zuletzt wirkt die historisch begründete tiefgreifende Stigmatisierung von psychisch und mental beeinträchtigten Menschen fort, die zwischen 1939 und 1945 ermordet wurden. Auf Seiten der Angehörigen der Opfer des euphemistisch als „Euthanasie“ bezeichneten NS-Krankenmordes hat die tiefe Beschämung dazu geführt, dass die meisten über das erlittene Unrecht bis heute schweigen. Die nach wie vor randständige und stigmatisierte Position psychisch kranker und „geistig behinderter“ Menschen in unserer Gesellschaft ist eine der wesentlichen Ursachen dafür, dass diese sozialen Gruppen aus dem kollektiven Gedächtnis weitgehend ausgeschlossen und in der deutschen Gedenk- und Erinnerungskultur noch immer marginalisiert werden. Die deutsche Kultur nach 1989 tut sich schwer damit, in der Vielfalt und Verschiedenheit ihrer Mitglieder Potentiale zu entdecken und zur Entfaltung kommen zu lassen. „Ich lebe nun mal in einer ungeselligen Gesellschaft“, resümiert der „Euthanasie“-Überlebende Paul Brune in diesem Zusammenhang in seiner Filmbiographie aus dem Jahre 2003.81 Anfang der Vierzigerjahre als „erblich minderwertiges“ Kind und im Laufe seines Aufenthaltes in der Psychiatrie als „asozialer Psychopath“ klassifiziert, konnte er erst nach jahrzehntelangem zähen Kampf eine offizielle Entschuldigung des Landschaftsverbandes Westfa79 Julius zur Nedden: Lebensregeln für Körperbehinderte und Unbehinderte, in: Der Körperbehinderte 5, 1935, S. 79. 80 Bundesagentur für Arbeit: Presse Info 011/2010 vom 26.03.2010. Taxiunternehmen wird mit Hilfe der Arbeitsagentur eine arbeitslose Schwerbehinderte einstellen, . 81 Westfälisches Landesmedienzentrum, Landschaftsverband Westfalen-Lippe: „Lebensunwert“: Paul Brune, NS-Psychiatrie und ihre Folgen. Ein Film von Robert Krieg, Monika Nolte. DVD-Video mit Begleith., Münster: Landschaftsverband Westfalen-Lippe, 2005.

„Behinderung“ in Deutschland

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len-Lippe für das während der nationalsozialistischen Diktatur erlittene Unrecht, das sein Leben bis heute nachhaltig prägt, erwirken. Der Umgang mit den Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation – psychisch kranke, „geistig behinderte“ sowie „rassisch“ und sozial unerwünschte Kinder, Frauen und Männer – ist symptomatisch für die Haltung der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft gegenüber dem Konzept „Behinderung“. Will die Bundesrepublik den durch die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit „Behinderungen“ geforderten Paradigmenwechsel von einer Politik der Fürsorge zu einer Politik der Menschenrechte vollziehen und Inklusion erreichen, dann muss sie zunächst ihre „Ungeselligkeit“ überwinden.

Petra Lutz

Die Wirksamkeit öffentlicher Bilder im Privaten. Angehörige von Opfern der NS-„Euthanasie“ und rassenhygienische Propaganda

1.  Die Bilder der Rassenhygiene Für die nationalsozialistische Rassenpolitik waren Bilder konstitutiv. Über Bilder wurde definiert, wer zur NS-„Volksgemeinschaft“ gehörte und wer nicht. Aus Bildern ließ sich ableiten, wie die Beziehungen zwischen Inkludierten und Exkludierten zu gestalten waren. Das gilt ebenso für die rassenhygienische „Erbgesundheitspolitik“. Auch heute erscheinen überall dort, wo die Geschichte der Erbgesundheits- und Rassenpolitik thematisiert wird, oft Bilder; nicht selten sind es immer wieder die gleichen. Sie dienen als Belegstücke für einen propagandistischen Überfall auf das Bewusstsein der „Volksgemeinschaft“. Und tatsächlich kann man aus der umfassenden Durchsetzung der rassenhygienischen Politik den Schluss ziehen, dass diese Bilder wirkten. Aber worin lag ihre Wirkmacht? Welche Argumentationen legten sie nahe? Wie wurden sie rezipiert? Auf welche Weise setzten sie traditionelle Vorstellungen über die Beziehungen zwischen Menschen außer Kraft? Und wie konnten sie der Konfrontation mit der Realität dort standhalten, wo ihre Rezipienten persönlichen Kontakt zu den in denunziatorischer Weise Dargestellten hatten, etwa zu Anstaltspatienten? Verfestigen sie bereits vorhandene Vorstellungen oder schufen sie neue? Diesen Fragen soll im Folgenden über eine Verknüpfung zweier unterschiedlicher Felder nachgegangen werden, in denen sich die NS-Politik gegen kranke und behinderte Menschen manifestierte. Zuerst werden einige Elemente rassenhygienischer Ausstellungen des Deutschen Hygiene-Museums betrachtet und analysiert. Dann wird an Stellungnahmen von Angehörigen ermordeter Anstaltspatienten untersucht, inwieweit die propagierten Vorstellungen von „ganz normalen“ Männern und Frauen reproduziert wurden.

2.  Die öffentlichen Bilder Es gab in der Ausstellung „Blut und Rasse“, die das Deutsche Hygiene-Museum ab 1935 durch das Deutsche Reich wandern ließ, Tafeln, die nur einzelne Sätze präsen-

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tierten, als habe sie soeben ein Lehrer weiß auf schwarz angeschrieben. Dort konnte zum Beispiel gelesen werden: „Nicht nur gute und hervorragende Eigenschaften, sondern auch Krankheiten und Gebrechen sind erblich.“1 Auch in der aufwendigeren Wanderausstellung „Ewiges Volk“ von 1937 spielten einfache und knappe Aussagen eine tragende Rolle. Dort wurde etwa konstatiert: „Wie in der Natur fruchtbarere Pflanzen andere überwuchern und verdrängen können, so vermag auch die verschiedenartige Fruchtbarkeit der Völker das Bild eines Erdteils zu verwandeln.“2 Die wissenschaftlichen Disziplinen, die den Begriff der Rasse in ihr Zentrum stellten und während des Nationalsozialismus zu „politische[n] Leitwissenschaften“ wurden,3 definierten die „Volksgemeinschaft“. Wo es um Krankheiten ging, um Behinderungen, um Anstalten, um Schwache, bestimmten in den Jahren 1933 und 1945 (und teilweise auch schon vorher) rassenhygienische Perspektiven den öffentlichen wissenschaftlichen und politischen Diskurs. Demzufolge gab es gute und schlechte Eigenschaften, wobei psychische Krankheiten und Behinderungen zu den schlechten gehörten. Deren Ursachen verortete man im „Erbmaterial“. Es lag in der Logik dieser Betrachtungsweise, dass davon nie nur einzelne betroffen sein konnten, sondern immer Familien bzw. „Sippen“ – und am Ende das Schicksal der „Volksgemeinschaft“ in ihrem Kampf um Ressourcen. Solche Botschaften waren 1933 nicht neu, und sie verschwanden 1945 nicht schlagartig, aber nur zwischen 1933 und 1945 hatten die ihnen zugrunde liegenden Konzepte die exklusive Deutungsmacht. Wer damals im Deutschen Reich lebte, konnte sich ihnen kaum entziehen. Sie wurden in der Schule verbreitet, in den Zeitungen, im Rundfunk, in Vorträgen – und nicht zuletzt über die Ausstellungen und über die anderen Medien des Deutschen Hygiene-Museums. Dieses spielte mit seinen Medien der Gesundheitsaufklärung und Wissenschaftspopularisierung national eine herausragende Rolle und genoss auch international hohe Reputation. In Vor-Fernseh-Zeiten hatten sich große Ausstellungen zu einem probaten und gängigen Medium für Informationen und Botschaften, die den Blick auf den menschlichen Körper betrafen, entwickelt. Das Deutsche Hygiene-Museum stellte sich 1933 vorbehaltlos in den Dienst der rassenhygienischen Propaganda und erreichte allein mit seinen Sonderausstellungen von

1 Wanderausstellung „Blut und Rasse“, Fotodokumentation, Bild 53, um 1936, Deutsches HygieneMuseum, Sammlung. 2 Wanderausstellung „Ewiges Volk“, Fotodokumentation, Bild 175, Deutsches Hygiene-Museum, Sammlung. 3 Hans-Walter Schmuhl: Rasse, Rassenforschung, Rassenpolitik. Annäherung an das Thema, in: HansWalter Schmuhl (Hg.): Rassenforschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten vor und nach 1933, Göttingen: Wallstein, 2003, S. 7f., siehe auch S. 28 zur Unschärfe des wissenschaftlichen Konzepts „Rasse“ sowie zu seiner von Anfang an mit Politik verflochtenen und an ein breites Publikum gerichteten Dimension; Volker Roelcke: Die psychiatrische Genetik an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie unter Ernst Rüdin. Zum Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Rasse-Begriff vor und nach 1933, in: Schmuhl, S. 38–67, hier S. 49ff.

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1933 bis 1945 10,5 Millionen Besucher im In- und Ausland.4 Hinzu kamen eine ständige Ausstellung in Dresden, Gastauftritte bei großen Berliner Ausstellungen, der Verleih von Exponaten und der weltweite Verkauf von Lehrmitteln, wie etwa der Lichtbildreihe 65a „Bevölkerungspolitik und Rassenhygiene“. Das Deutsche Hygiene-Museum war also ein Massenmedium. Die Ausstellungen hatten unterschiedliche Formate und richteten sich an unterschiedliche Publikumssegmente. Auch wurde gerade an Elementen, die sich mit Rassenhygiene befassten, immer weiter gearbeitet. Mit „Volk und Rasse“ stellte das Museum 1934 „erstmalig seine gewaltigen Möglichkeiten der Ausstellungstechnik in den Dienst dieser [rassenpolitischen] Aufklärungsarbeiten“.5 „Blut und Rasse“, laut Katalog „unter Leitung des rassenpolitischen Amtes der NSDAP von den Werkstätten des Deutschen Hygiene-Museums, Dresden, zusammengestellt“6, war die kleinste Ausstellung. Sie tourte zwischen 1935 bis 1938 vor allem durch ländliche Gebiete, brachte die rassenhygienische Botschaft in die abgelegensten Ecken des Deutschen Reiches und konnte wegen ihres geringen Umfangs auch in Turnhallen, Gemeindesälen oder Parteidienststellen gezeigt werden. Im Jahresbericht des Deutschen Hygiene-Museums wurde das Ziel der Ausstellung erläutert: „Sie führt in das Gebiet der Erb- und Rassenpflege ein und stellt die Verantwortung in den Vordergrund, die der Einzelne seinem Volke gegenüber besitzt.“7 1933 wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verabschiedet, auf dessen Grundlage etwa 400.000 Menschen zwangssterilisiert wurden.8 Von Beginn an wurde es umfassend propagandistisch begleitet. Im Deutschen Hygiene-Museum konnte man dabei auf Schautafeln und Exponate aus früheren Jahren zurückgreifen. Schon auf der ersten „Internationalen Hygiene-Ausstellung“ in Dresden (1911) hatte es eine rassenhygienische Abteilung gegeben, und in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts spielte die rassenhygienische „Aufklärung“ der Bevölkerung bereits eine wichtige Rolle. Sie war selbstverständlicher Teil großer populärer Ausstellungen, etwa der gigantischen Gesundheitsmesse Gesolei (Gesundheit, soziale Fürsorge und Leibesübungen), die 1926 in Düsseldorf auf 400.000 Quadratmetern für rund acht Millionen Besuchern gezeigt wurde.9 Aber mit der nationalsozialistischen Machtüber4 Deutsches Hygiene-Museum: Im Dienst der Nation. 10 Jahre Ausstellungen des Deutschen HygieneMuseums 1933–1943, Dresden 1943; Kaspar Nürnberg, Michaela Scheffler: Abschlussbericht zu „Fotografien zur Dokumentation der Wanderausstellungen des Deutschen Hygiene-Museums in der Zeit des Nationalsozialismus“, unveröff. Manuskript, Dresden 2006, S. 4. 5 Hermann Vellguth: Vorrede, in: „Volk und Rasse“, Ausstellungsführer, Dresden: Deutscher Verlag für Volkswohlfahrt, 1934, S. 3. 6 Zit. nach Nürnberg/Scheffler (Anm. 4), S. 9. 7 Zit. nach Nürnberg/Scheffler (Anm. 4), S. 10. 8 Gisela Bock: Nationalsozialistische Sterilisationspolitik, in: Klaus-Dietmar Henke (Hg.): Tödliche Medizin im Nationalsozialismus. Von der Rassenhygiene zum Massenmord (= Schriften des Deutschen Hygiene-Museums, Bd. 7), Köln [u.a.]: Böhlau, 2008, S. 85–100, hier S. 86. 9 Angela Stercken: Die Gesolei als Schaubild des Körpers. Sektionen, Überblick, in: Hans Körner, Angela Stercken (Hg.): Kunst, Sport und Körper. 1926–2002 GeSoLei, Stuttgart: Hatje Cantz, 2002, S. 99–123, hier S. 99f.; zum Thema Rassenhygiene auf der Gesolei siehe Silke Fehlemann, Wolfgang Woelk: Der „Wiedergesundungsprozess des deutschen Menschen.“ Zum Verhältnis von Gesundheit, Hygiene und Gesellschaft auf der Düsseldorfer Gesolei, in: Körner/Stercken, S. 186–192.

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nahme begann eine beispiellose Propagandawelle. Jedes Dorf sollte erreicht werden: über die Schulen, mit Büchern, Artikeln, öffentlichen Vorträgen, Lichtbildreihen, Plakaten, Filmen, Ausstellungen, Ausstellungsbussen. Und so entstanden in den Jahren nach 1933 immer weitere und umfassendere Ausstellungen, die mit neuen, aufwendiger vorbereiteten und entwickelten, anschaulichen dreidimensionalen Exponaten arbeiteten, wie die Wanderausstellung „Ewiges Volk“, die am 30. Oktober 1937 auf rund 2000 Quadratmetern in den „Ausstellungshallen am Zoo“ in Berlin eröffnet und bis Kriegsbeginn in 14 deutschen Großstädten gezeigt wurde.10 Hier sollte zum Beispiel eine Ausstellungswand unter dem Titel „Überwucherungsgefahr durch Erbkranke“ mit sechs Dioramen illustrieren, dass die „hohen Kinderzahlen erbkranker und die Kinderarmut gesunder deutscher Familien“ drohten, „Deutschland den Weg in die Zukunft zu verschließen.“11 Als Kooperationsprojekt mit dem Hauptamt für Volksgesundheit der NSDAP diente die „Reichswanderschau“ zur Propagierung der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik in allen ihren Ausformungen. Der Hauptstellenleiter der Reichsleitung im Hauptamt für Volksgesundheit, Theodor Pakheiser, der seit Ende 1936 auch wissenschaftlicher Leiter des Deutschen Hygiene-Museums war, erklärte in einem Interview mit dem „Völkischen Beobachter“ vom 31. Oktober 1937, es komme bei dieser Schau „nicht auf Wissensvermehrung, sondern auf Gesundheitspropaganda“ an.12 Vielleicht hatte die eher geringe Publikumsresonanz13 damit zu tun, dass dieser Ansatz zu offensichtlich erkennbar war, vielleicht war der Grund aber auch schlicht der, dass die Botschaften zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt waren. Die Zukunft des Deutschen Reichs werde sich „erbbiologisch“ entscheiden und sei von biologischer „Degeneration“ bedroht. Die Bedeutung des Einzelnen leite sich aus seiner Bedeutung für die „Volksgemeinschaft“ ab, und nach den Grundsätzen der „Erbbiologie“ gerate er ohnehin nicht individuell in den Blick, sondern stets „im Kontext der Erfassung und Bewertung der Familienmitglieder“14 – all diese Grundsätze erfuhr die „Volksgemeinschaft“ in den dreißiger Jahren permanent und auf den unterschiedlichsten Wegen. Dieses „Wissen“ dominierte also den öffentlichen Raum. Nachkriegsschilderungen von Menschen aus „erblich belasteten“ Familien zeigen, dass es kaum möglich war, sich diesen Bildern und Sentenzen zu entziehen. Gerade ihre Schilderungen legen nahe, dass die Betrachter die entsprechenden Tafeln und Bilder nach 1933 nicht nur deswegen intensiver in den Blick nahmen, weil es immer mehr davon gab, sondern auch, weil nun Gesetze, Verordnungen und Maßnahmen hinter diesen standen. Die Bilder und die Umsetzung der rassenhygienischen Politik durch Zwangssterilisationen,

10 Zit. nach Nürnberg/Scheffler (Anm. 4), S. 10. 11 Wanderausstellung „Ewiges Volk“, Fotodokumentation, 1937/1939, Bild 143, Deutsches HygieneMuseum, Sammlung. 12 Zit. nach Nürnberg/Scheffler (Anm. 4), S. 10. 13 Zit. nach Nürnberg/Scheffler (Anm. 4), S. 10. 14 Gabriele Czarnowski: Das kontrollierte Paar. Ehe- und Sexualpolitik im Nationalsozialismus (= Ergebnisse der Frauenforschung, Bd. 24), Weinheim: Deutscher Studien Verlag, 1991, S. 159.

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den Entzug von Ressourcen und schließlich durch die Ermordung von Patienten waren unauflösbar miteinander verwoben.

3.  Die Adressaten der Bilder Den Ausstellungen, Tafeln und Lichtbildreihen war gemeinsam, dass sie sich an ein Gegenüber richteten, dessen Status als vollwertiger „Volksgenosse“ vorausgesetzt wurde. Alle anderen waren Objekt, nicht Subjekt der Kommunikation. Ein Beispiel ist die vielfach reproduzierte Ausstellungstafel des Reichsnährstandes „Hier trägst du mit“, deren Motiv ab 1940 auch in dem Schulbuch „Biologie für höhere Schulen“ abgebildet wurde.15 Ein athletischer junger Mann trägt schwer an zwei als behindert karikierten Menschen, was wie folgt erläutert wird: „Ein Erbkranker kostet bis zur Erreichung des 60. Lebensjahrs im Durchschnitt 50.000 RM.“16 Mit einem weiteren weit verbreiteten Motiv warb 1938 das Rassenpolitische Amt der NSDAP um neue Leser seines Monatsheftes „Neues Volk“: Ein Pfleger steht hinter einem offenbar geistig behinderten Mann, die Aufschrift: „60.000 RM kostet dieser Erbkranke die Volksgemeinschaft auf Lebenszeit. Volksgenosse das ist auch Dein Geld.“17 Auch dort, wo nicht explizit ein „erbgesundes“ Du angesprochen wurde, war dieses doch immer gemeint. Etwa wenn eine Tafel der Wanderausstellung „Ewiges Volk“ unter dem Titel „Auch ein Stammbaum“ die angeblich für eine 21-köpfige „erbkranke“ Familie aufgewandten öffentlichen Gelder dem Bild eines ländlichen Anwesens und der Aussage gegenüber stellte: „Dafür hätte man 5 erbgesunde Familien in neuen Erbhöfen ansiedeln können!“18 Auch die Adressaten der Frage „Was wäre richtiger – die Beschaffung von menschenwürdigen Wohnungen für den deutschen Arbeiter oder Prachtbauten für Erbkranke?“, gestellt auf einer Tafel der Ausstellung „Blut und Rasse“,19 waren wohl kaum in erster Linie die „Erbkranken“ in ihren „Prachtbauten“, sondern diejenigen, die auf bessere Wohnungen hoffen durften und die sich, wo sie selbst ins Bild rückten, ausgesprochen kraftvoll dargestellt sahen. Diese Blickrichtung war nicht nur in den aufwendig für Ausstellungen oder Plakate komponierten Bildern zu finden, auch die Zeitungen wiederholten sie. So berichtete der Düsseldorfer Stadtanzeiger vom 24. März 1934 mit einem Foto über die erste Sitzung des für die Entscheidung über Zwangssterilisationen zuständigen „Erbgesund15 Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Deutsche Behindertenhilfe – Aktion Mensch e.V. (Hg.): Der [im-]perfekte Mensch. Vom Recht auf Unvollkommenheit. Begleitbuch zur Ausstellung, OstfildernRuit: Hatje Cantz, 2001, S. 190; Jüdisches Museum Berlin (Hg.): Tödliche Medizin. Rassenwahn im Nationalsozialismus, Göttingen: Wallstein, 2009, S. 12. 16 Jüdisches Museum Berlin (Anm. 15), S. 12. 17 Jüdisches Museum Berlin (Anm. 15), S. 37. 18 Wanderausstellung „Ewiges Volk“, Fotodokumentation, 1937–1939, Bild 147, Deutsches HygieneMuseum, Sammlung. 19 Wanderausstellung „Blut und Rasse“, Fotodokumentation, um 1936, Bild 48, Deutsches HygieneMuseum, Sammlung.

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heitsgerichtes“. Der Blick des Fotografen richtete sich auf Richter und Beisitzer, die Bildunterschrift vermerkte, dass der Vorsitzende „die Beisitzer an ihre verantwortungsvolle Aufgabe ermahnt“ habe.20 Die Menschen, über deren Zwangssterilisation verhandelt wurde, und ihre Familien sind nicht im Bild.

4. Bildabgleich Inwiefern ein solches, exklusives „Du“ geeignet war, diejenigen zu mobilisieren, die sich zur rassistischen „Volksgemeinschaft“ zählen konnten, hat Michael Wildt am Beispiel der Verfolgung und Vernichtung der Juden gezeigt.21 Die Exklusion von Minderheiten konnte offenbar die Mehrheit enger zusammenschließen. Aber auf dem Feld der Rassenhygiene waren die Grenzverläufe nicht immer in der erwünschten Klarheit und Unverrückbarkeit zu haben, ließen sich „Innen“ und „Außen“ nicht in abschließender Eindeutigkeit und Verlässlichkeit markieren. Angesichts der immer gegebenen Möglichkeit, dass ein Familienmitglied erkrankte oder eine Krankheit als „Erbkrankheit“ identifiziert wurde, konnte sich die Seite, der man zugerechnet wurde, jederzeit ändern. Dass dies großen Teilen der Bevölkerung bewusst war und es durchaus realistische Einschätzungen über die faktische Unbegrenzbarkeit rassenhygienischer Politik gab, dafür gibt es etliche Hinweise.22 Die Betrachter der rassenhygienischen Bilder bezogen diese nicht zuletzt auf sich selbst. Das war gewollt, denn die – im weitesten Sinne – auf persönliche Gesundheitsführung und Vorsorge abzielenden „Aufklärungs“-Medien sollten schließlich ihre Betrachter zu Verhaltensänderungen oder zumindest Verhaltensüberprüfungen bringen. Dies setzte voraus, dass sie das Gesehene mit ihrem eigenen Leben und ihren eigenen Beziehungen in Verbindung brachten. Entsprechend wurde daher die Ausstellung „Ewiges Volk“ auf ihren letzten Stationen um die Sondergruppe „Erkenne Dich selbst“ ergänzt, die erstmals im Herbst 1938 bei der Reichsausstellung „Gesundes Leben – Frohes Schaffen“ in Berlin zum Einsatz gekommen war. Während dem „Erkenne Dich selbst“ auf Gebieten wie Ernährung oder Geschlechtskrankheiten reale Taten folgen konnten (theoretisch zumindest), war dies im Bereich der „Erbgesundheit“ nicht der Fall. Hier ging es um Diagnosen ohne Therapiemöglichkeiten, um den Wert, der den einzelnen und ihren Familien für die „Volksgemeinschaft“ zugeschrieben wurde. Und so war für die vielen Stammbäume, die den öffentlichen Raum eroberten – von den Darstellungen der Mendelschen Erbregeln bis zu Beispielen „degenerierter Sippen“ – entscheidend, dass jeder sie in ein Spannungsverhältnis zum eigenen Stammbaum stellen konnte. 20 Jüdisches Museum Berlin (Anm. 15), S. 38. 21 Michael Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg: Hamburger Edition, 2007. 22 Ein Beispiel ist der Rückgang von Beantragungen von Ehestandsdarlehen, dazu Czarnowski (Anm. 14), S. 229, 131, 134.

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Vor den Ausstellungstafeln konnte jeder sozusagen sein eigener „Erbbiologe“ werden und das Schicksal der kommenden Generationen in die Hand nehmen. So wurde in der Ausstellung „Blut und Rasse“ auf einer Tafel nicht nur zur Erforschung des eigenen Stammbaums aufgefordert, sondern dieser Auftrag bezog sich auch auf den Stammbaum sehr Nahestehender: „Wer heiratet, muss nicht nur seinen Ehegatten, sondern auch dessen Familie kennen.“23 Die Ausstellung argumentierte mit einem Appell an die Verantwortung gegenüber den noch zu zeugenden Kindern: keine Gattenwahl ohne eine Entscheidung über die Zukunft, über das Schicksal kommender Generationen. Und so verfügte eine weitere Ausstellungstafel: „Dein Erbgut hast Du von Deinen Ahnen. Das Erbgut deiner Kinder wird bestimmt durch dein eigenes und das deines Ehegatten.“24 Diese Botschaft kam an, was eine Tafel aus einer späteren Ausstellung, deren Macher also möglicherweise bereits auf Publikumsreaktionen reagierten, zeigt. In diesem Fall beherrscht ein gemaltes Bild die Ausstellungstafel. Es zeigt ein Paar, die Frau sitzend, der Mann hinter ihr stehend. Beide betrachten einen Stammbaum, den der Mann der Frau offenbar erläutert. Die Überschrift lautet: „Die Beachtung der Erbgesetze soll nicht dazu verleiten, nun übereifrig nur nach krankhaften Erbanlagen in der Sippe zu forschen. Denke vor allem auch an Deine wertvollen Erbanlagen, die es wert sind, in Deinen Kindern weiterzuleben.“25 Nicht nur die Einzelnen konnten ihre Stammbäume zu denjenigen in Beziehung setzen, die exemplarisch in der Öffentlichkeit präsentiert und bewertet wurden. Dies taten auch diejenigen, die real existierende Stammbäume (vorwiegend solche von „erblich belasteten“ Familien) auf die Karteikarten der „erbbiologischen Erfassung“ notierten, die sie abfragten, wenn jemand ein Ehestandsdarlehen beantragte, wenn jemand eine Siedlerstelle bekommen sollte, wenn eine Frau einen SS-Mann heiraten wollte etc.26 Jede und jeder war Teil eines Stammbaums, und die Frage, ob man einer „förderungswürdigen“ oder einer „minderwertigen“ Familie angehörte, konnte für die persönlichen Lebenschancen entscheidend sein – für gesellschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten ebenso wie für Eheschließung und Familiengründung. Wie groß die Not der von solchen Erhebungen Betroffenen einerseits und die öffentliche Akzeptanz der Bilder „erbbiologischer Belastung“ andererseits war, darauf verweist nicht zuletzt die von unterschiedlichen Seiten immer wieder neu formulierte Forderung, die „erbbiologischen Ermittlungen“ bei Pfarrämtern, Polizeibehörden oder Bürgermeisterämtern „streng vertraulich“ durchzuführen, da „keinerlei Nachteile für 23 Wanderausstellung „Blut und Rasse“, Fotodokumentation, um 1936, Bild 11, Deutsches HygieneMuseum, Sammlung. 24 Wanderausstellung „Blut und Rasse“, Fotodokumentation, um 1936; Bild 10, Deutsches HygieneMuseum, Sammlung. 25 Wanderausstellung „Ewiges Volk, Fotodokumentation, 1937–1939; Bild 150, Deutsches HygieneMuseum, Sammlung. 26 Zur „erbbiologischen Erfassung“ siehe Karl-Heinz Roth: Erbbiologische Bestandsaufnahme, in: KarlHeinz Roth (Hg.): Erfassung zur Vernichtung. Von der Sozialhygiene zum „Gesetz über Sterbehilfe“, Berlin: Mabuse, 1984.

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die Angehörigen daraus erwachsen“ sollten.27 Schon die „Ermittlungen“ also – von denen zunächst vor allem die Angehörigen von Menschen betroffen waren, die etwa als Anstaltsinsassen besonders im Fokus der „erbbiologischen Erfassung“ standen –, führten zu Unruhe. Die Aufnahme der „Ermittlungen“, nicht erst die Anwendung ihrer Ergebnisse konnte belastende, auch beängstigende Folgen für die Angehörigen haben. Karl-Heinz Roth geht sogar für die allgemeine Bevölkerung von einer „kollektive[n] Verängstigung“ durch die „erbbiologische“ Erfassung aus.28 Auf Ängste und Vorbehalte gegenüber solchen Erhebungen verwiesen seinerzeit gerade Mediziner, denen an ihrer reibungslosen, erfolgreichen und umfassenden Durchführung lag.29 Die Zahl der Anträge auf Ehestandsdarlehen, deren Bewilligung an eine rassenhygienische Überprüfung der „Eheeignung“ gekoppelt war, ging ab 1934 deutlich zurück, nachdem ihr selektiver Charakter bekannt wurde. Der Zusammenhang dieses Antragsrückgangs mit der Furcht, zwangssterilisiert zu werden, wurde bereits in der zeitgenössischen Literatur hergestellt.30

5.  Exklusion durch Bilder Die rassenhygienischen Bilder hatten für die Angehörigen von Anstaltspatienten oder Zwangssterilisierten Folgen, die über gesetzliche Maßnahmen wie nicht gewährte Ehestandsdarlehen oder die Verweigerung von Ehetauglichkeitszeugnissen – und damit die Verhinderung von Eheschließungen31 – noch weit hinausgingen. Denn der Erfolg der Bilder zeigt sich vielleicht weniger in den Regelungen und Praktiken des offiziellen Medizinalsystems – obwohl auch dieses „Volksgenossen“ brauchte, die es umsetzten –

27 Vgl. Landes-Heil- und Pflegeanstalt Gießen an Bürgermeisterei Offenbach-Bürgel, 19.6.1935, Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen (LWV-Archiv), Bestand 11, Patientenakte (PA) Lina K. Siehe auch einen entsprechenden Vordruck in: LWV-Archiv, Bestand Goddelau, Patientenakte (PA) Heinrich F. 28 Roth (Anm. 26), S. 92. 29 Dazu die Anmerkung des Kieler Stadtmedizinalrats Dr. Klose im Diskussionsprotokoll vom 8. Februar 1937, zit. bei Roth (Anm. 26), S. 76. 30 Czarnowski (Anm. 14), S. 229, 131, 134. 31 Das „Ehetauglichkeitszeugnis“ bildete nach § 2 des „Gesetzes zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes“ vom 18.10.1935 („Ehegesundheitsgesetz“) die Voraussetzung der Heiratserlaubnis. Einer der Ausschlussgründe war das Bestehen von „Erbkrankheiten“ nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Der Paragraph trat allerdings nie in Kraft. Nur bei „begründetem Zweifel“ des Standesbeamten an der „Ehetauglichkeit“ konnte eine solche Bescheinigung angefordert werden. Siehe auch „Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes vom 18.10.1935“, in: Arthur Gütt, Herbert Linden, Franz Maßfeller: Blutschutz- und Ehegesundheitsgesetz. Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre und Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes nebst Durchführungsverordnungen sowie einschlägigen Bestimmungen, München: Lehmann, 1936, S. 36f.; vgl. Czarnowski (Anm. 14), S. 175–182; Christian Ganssmüller: Die Erbgesundheitspolitik des Dritten Reiches. Planung, Durchführung und Durchsetzung, Köln [u.a.]: Böhlau, 1987, S. 140f.

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als in der Akzeptanz der rassenhygienischen Kriterien außerhalb der maßgeblichen Institutionen. Der Bruder eines im Rahmen der NS-„Euthanasie“-Aktion Ermordeten erinnerte sich in den 1980er Jahren in einem Interview: „[…] daß ich doch noch einen Bruder in der Heilanstalt hatte, das hatte ich als Kind schon gehört, wie die auf dem Schulhof gesagt haben: Dien Broder is inne Klapsmööl.“ Die Ermordung wurde zur Erleichterung: „Mein Bruder war tot, und nun war die Sache für mich abgeschlossen, ich war nun erlöst […] aber nun fiel mir das doch vom Herzen, daß ich nun nicht mehr als erblich vorbelastet galt, daß ich nicht mehr die Töne aus der Schule hörte, das hat einen doch so deprimiert […].“

Was blieb, war die Furcht, dennoch weiterhin auch selbst als untauglich zu gelten, unabänderlich Teil einer „minderwertigen“ Familie zu sein: „Und dann war da diese Sache, die ich bei uns in der Kompanie gelesen hatte, das waren 10 Heiratsparagraphen, noch mit schwarzweißrot umrandet […], also da sagten sie drauf, wie man eine Ehe einzugehen hatte ... und der Paragraph 9, der sagte: Heirate nie einen Guten aus einer schwachen Familie.“32

Tatsächlich sind Fälle belegt, in denen Ehen infolge verweigerter Ehestandsdarlehen nicht zustande kamen, weil der Partner, dem seine „Erbgesundheit“ bescheinigt worden war, das Interesse verlor. Der Kieler Stadtmedizinalrat Klose und der dortige Stadtarzt Dr. Büsing schilderten 1934 den Fall einer Frau, die sich bei der Begutachtung ihrer „Eheeignung“ „bestrebte, einen außerordentlich günstigen Eindruck zu machen, da ihre Heirat nach ihrer Aussage bei Ablehnung zu scheitern drohte.“33 In den Korrespondenzen von Heil- und Pflegeanstalten finden sich Anfragen, in denen Heiratswillige selbst ermittelten, etwa die des Postboten Johannes F. vom 20. März 1941 an die württembergische Heilanstalt Zwiefalten.34 Es ging um Agatha F., deren Mutter im Rahmen der „Euthanasie-Aktion“ ermordet worden war und mit der Johannes F. bereits „längere Zeit ein Liebesverhältnis“ hatte und nun eine Kriegstrauung plante – allerdings hatte er noch Sorgen: „Die Agatha ist ein kerngesundes Mädchen, nur möchte ich aber noch wissen, ob nach Ihrem Gutachten keine Erbkrankheit vorliegt, u. ob ich deßwegen kein bedenken haben darf.“35 Man kann annehmen, dass weit mehr Ehen aus ähnlichen Gründen nicht geschlossen wurden, als aktenkundig wurde. Die 1921 geborene Tochter eines in Hadamar ermordeten Kaufmanns, bei dem „Schizophrenie“ diagnostiziert

32 Aus einem Gespräch zwischen Peter Delius und Herrn K., zit. nach Peter Delius: Das Ende von Strecknitz. Die Lübecker Heilanstalt und ihre Auflösung 1941, Kiel: Neuer Malik Verlag, 1988, S. 156f. 33 Zit. nach Czarnowski (Anm. 14), S. 191. Durch genaue „Ermittlungen“ konnte verhindert werden, dass die Frau sich ein Ehestandsdarlehen „erschlich“. 34 Registratur des Zentrums für Psychiatrie Zwiefalten (RZfP Zwiefalten). 35 Die erhoffte „baldige Nachricht“ blieb allerdings aus, da für solche Anfragen das Gesundheitsamt Tuttlingen zuständig war; Heilanstalt Zwiefalten an Johannes F., 31.3.1941, RZfP Zwiefalten.

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worden war, schrieb auf die Frage nach Konsequenzen der Erkrankung ihres Vaters und seiner Ermordung für ihr weiteres Leben: „Ich habe wegen der Familiengeschichte nicht geheiratet (ebenso meine Schwester). Dreimal war es ganz deutlich. Die Männer sprachen vom Heiraten, ich habe von meinem Vater und seiner Krankheit erzählt, alle drei zogen sich zurück. Ich habe später nichts mehr gesagt, bin aber Gesprächen über Heirat aus dem Weg gegangen.“36

Auch in Situationen, die weniger entscheidend waren als die Wahl des Ehepartners, konnten die Bilder ihre Wirkung entfalten. Allein der Anstaltsaufenthalt eines Verwandten konnte Folgen für den Status innerhalb der „Volksgemeinschaft“ haben. So fürchtete etwa der Sohn des in der NS-„Euthanasie“-Anstalt Hadamar ermordeten Max M. Nachteile für das spätere Leben seiner Söhne, die auch durch deren Einsatz in der Hitlerjugend nicht mehr gut gemacht werden könnten,37 und dies obwohl Max M. mit der Diagnose „Hirnadernverkalkung“ auch nach damaliger Auffassung nicht als „erbbiologisch belastet“ galt. Solche Feinheiten der Diagnostik wurden außerhalb des Medizinalsystems kaum wahrgenommen. Der Anstaltsaufenthalt an sich begründete bereits einen Teil des Stigmas. Die Kategorien „asozial“, „minderwertig“, „erbkrank“, „geisteskrank“ oder eben der Tatbestand eines Anstaltsaufenthaltes waren so, wie sie in der Öffentlichkeit verhandelt und verstanden wurden, nicht deutlich voneinander abgegrenzt, wie ja auch die Insignien, mit denen die entsprechenden Menschen auf propagandistischen Bildern dargestellt wurden, sich glichen. Diese fehlende Trennschärfe widersprach vielleicht der rassenhygienischen Erbbiologie gar nicht grundsätzlich, da ja all diese Kategorien als unterschiedliche Ausformungen biologischer „Degeneration“ betrachtet wurden. Anstaltsaufenthalte, die diese Gruppen betrafen, wurden somit zum Indiz „erbbiologischer Minderwertigkeit“.38 Entsprechend argumentierten Angehörige, die genau dieses Stigma befürchteten. Die Schwester eines wegen „Alkoholismus“ in der Heil- und Pflegeanstalt Herzberge internierten Malers wandte sich mit dieser Begründung 1940 an das zuständige Fürsorgeamt Kreuzberg, um dort die Entlassung zu erwirken: „Tun Sie mir den Gefallen […] auch im Interesse seiner Tochter […], hat doch das Mädchen schon von Kind auf unter den seelischen Zuständen gelitten, so bitte ich Sie, sie deshalb zu verschonen, nicht dass es heist[!]: ,ihr Vater ist in der Anstalt‘ schon der Nachkommen wegen. Hat sie doch ein geordnetes Leben.“39

36 Schreiben Frau B. an Verf., 29.9.1997. 37 Karl M. an Landesheilanstalt Hadamar, 5.12.1943, LWV-Archiv, Bestand 12, PA 2527. 38 Zur Offenheit der Rassebegriffe in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit vgl. Roelcke (Anm. 3) und Schmuhl (Anm. 3). 39 Gertrud A. an Fürsorgeamt Kreuzberg, 26.9.1940, LWV-Archiv, Bestand 12, PA 1749.

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6. Bildkonflikte Angehörige von vermeintlich „erbkranken“ Anstaltsinsassen waren selbst von Verfolgung bedroht. Von besonderem Interesse für die Wirksamkeit der rassenhygienischen Bilder sind sie aber nicht nur deswegen, sondern aus zwei weiteren Gründen: Anders als weite Teile der allgemeinen Bevölkerung kannten sie nicht nur die öffentlichen Bilder, sondern sie hatten (sofern sie noch in Beziehung zu dem oder der Betreffenden standen) daneben noch ihre eigene Perspektive auf das kranke oder behinderte Familienmitglied, auf Mutter oder Vater, Tochter oder Sohn, Schwester oder Bruder. Darüber hinaus waren sie immer wieder herausgefordert, sich zu der Frage zu positionieren, ob sie die kategoriale Unterscheidung der NS-„Volksgemeinschaft“ zwischen „erbkrank“ und gesund, zwischen „Volksgenossen“ und „Minderwertigen“ nachvollzogen – vor 1945 gegenüber den Anstalten und anderen Institutionen des nationalsozialistischen Medizinalsystems, nach dem Krieg vor bundesdeutschen Gerichten. Dass die eigene Verfolgung nicht ausschloss, dass man auf weitere Verfolgte, die unter anderen Kategorisierungen zusammengefasst worden waren, mit den Kategorien und Bildern der „Volksgemeinschaft“ blickte, hat Gisela Bock schon 1986 in ihrer Untersuchung über Zwangssterilisationen gezeigt: „Kranke“ wehrten sich gegen ihre „Gleichsetzung mit ,Verbrechern‘, körperlich Behinderte gegen die mit ,Geisteskranken‘, Gesunde gegen die mit ,Kranken‘, Zigeuner gegen die mit ,Asozialen‘, ,Asoziale‘ gegen die mit ,Kranken‘, Juden gegen die mit ,Asozialen‘ oder ,Kranken‘.“40 Dieses Abgrenzungsbedürfnis konnten auch Menschen gegeneinander entwickeln, die derselben Kategorie zugerechnet wurden: In Krankenakten der NS-Zeit ist nicht selten dokumentiert, wie Patienten, die als „geisteskrank“ in Anstalten eingewiesen wurden, vehement gegen ihre Vergemeinschaftung mit „Geisteskranken“ protestierten.41 Was aber war die Position der Familien von Anstaltspatienten, die ermordet worden waren? Kann man überhaupt voraussetzen, dass diese sich offen zu Fragen der Rassenhygiene äußerten? Schließlich konnte es bis 1945 im Interesse der Familien liegen, die „Qualität“ ihres Stammbaums zu verteidigen, sich etwa gegen die Zwangssterilisation von Familienmitgliedern zu wehren und das Vorliegen einer „Erbkrankheit“ in der Familie zu bestreiten (was nicht heißt, dass dies alle bestritten hätten), wohingegen von ihnen in Anbetracht der Machtverhältnisse kaum eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Konzept der Rasse zu erwarten war. So ist es zunächst wenig erstaunlich, dass sich in den zeitgenössischen Äußerungen, die überliefert sind – vor allem Briefe, die manche Angehörige während des Krieges an Anstalten, also an Vertreter des öffentlichen, nationalsozialistischen Gesundheitswesens (aber auch an 40 Gisela Bock: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1986. 41 So heißt es in der Weinsberger Krankengeschichte des Walter A., zwei Tage nach seiner Aufnahme: „Pat. äussert bei jeder Visite grosse Furcht vor den anderen Kranken, er gehöre nicht hierher […].“ Noch zwei Tage später: „Pat. jammert immer, dass er unter Geisteskranken sein müsse, er habe grosse Angst vor ihnen.“ Staatsarchiv Ludwigsburg, F 234 II, PA 37, Krankengeschichte vom 12. und 14. Februar 1941.

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Personal kirchlicher Anstalten) richteten – wenig Kritik an dessen rassenhygienischer Ausrichtung findet.42 Viele Angehörige reproduzierten in diesen Briefen jedoch rassenhygienische Vorstellungen und Kategorien in einer Weise, die es eher unwahrscheinlich erscheinen lässt, dass dies taktisch motiviert war. Und selbst wenn sie rassenhygienische Positionierungen mit innerem Vorbehalt formuliert haben sollten, waren solche Formulierungen doch geeignet, das Gesamtsystem zu festigen, da der Vorbehalt für die Zeitgenossen ebenso wenig erkennbar war wie für heutige Leser. Oft sind solche Vorbehalte ohnehin unwahrscheinlich, etwa wenn Briefe, die direkt an Patienten gerichtet wurden, Äußerungen enthalten, die ganz selbstverständlich von einer unterschiedlichen Bedeutung unterschiedlicher Menschen für die „Volksgemeinschaft“ ausgehen. So schrieb Maria B. ihrem Neffen Otto H., als sie ihm nach langer Zeit einmal wieder ein Päckchen schicken wollte: „Sende Dir einen kleinen Gruß, laß es Dir gut schmecken. Du darfst nicht denken wir hätten Dich vergessen, es ist eben so, zuerst kommen immer die Soldaten.“43 Otto H. war zu dieser Zeit bereits in der Tötungsanstalt Grafeneck ermordet worden. Entscheidend ist aber etwas anderes: Ein großer Teil der Angehörigen, die sich äußerten, wies die Diagnosen „Geisteskrankheit“, „Erbkrankheit“ oder den Eindruck der „Minderwertigkeit“ für den je Betroffenen entschieden zurück, ohne die entsprechenden Kategorien und Vorstellungen grundsätzlich in Zweifel zu ziehen, und bestätigte letztere gerade damit. Denn jede Rückweisung im Einzelfall enthielt implizit oder auch explizit die Festlegung, dass es diejenigen, die auf den Bildern der Rassenhygiene dargestellt wurden, tatsächlich gab. So wurden diese Bilder durch den Widerspruch im Einzelfall gerade nicht angezweifelt, sondern bestätigt. Moniert wurde lediglich, dass jemand in die falsche Kategorie geraten war und infolgedessen unangemessen behandelt wurde. Mit solchen Argumenten wurde in etlichen Einzelfällen gegen sämtliche Bereiche der nationalsozialistischen Politik gegen kranke und behinderte Menschen protestiert: gegen Zwangssterilisationen, Anstaltsunterbringung, Mangelernährung und auch gegen Patientenmorde – und damit wurde implizit nahe gelegt, dass diese Politik dort richtig sein könnte, wo sie die vermeintlich Richtigen traf. So argumentierten Angehörige mit der „Erbgesundheit“ der Familie gegen die Anstaltsunterbringung von Patienten: „Wir haben jahrelang unter den größten Entbehrungen gelebt, um meine Schwester dem Leben zurückzugewinnen, da nach den angestellten Nachforschungen seither niemals derartige Erkrankungen in der Familie, weder väterlicher- noch mütterlicherseits vorgekommen sind.

42 Für eine eingehendere Auseinandersetzung mit den verfügbaren Quellen siehe Petra Lutz: Herz und Vernunft. Angehörige von „Euthanasie“-Opfern im Schriftwechsel mit den Anstalten, in: Heiner Fangerau, Karen Nolte (Hg.): „Moderne“ Anstaltspsychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert – Legitimation und Kritik (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beih. 26), Stuttgart: Steiner, 2006, S. 143–168. 43 Martha und Karl B. an Otto H., 1.11.1940, Archiv des Zentrums für Psychiatrie Weissenau.

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Sie können sich wohl vorstellen, was es da für uns bedeutet, daß die Kranke nun doch in einer Heil- und Pflegeanstalt untergebracht ist.“44

Andere Angehörige führten das erfolgreiche Leben, welches Patienten vor ihrer Erkrankung geführt hatten, dafür ins Feld, dass deren Ermordung Folge einer Fehlentscheidung war. So etwa Therese B. aus Hamburg, deren Sohn Alfred 1943 in der hessischen Tötungsanstalt Hadamar ermordet worden war. In ihrem Brief an die Anstalt bezog sie sich fast offen auf die Tötungen. Ihre detaillierten Informationen über den Ablauf der „Verlegungen“ in Tötungsanstalten lassen darauf schließen, dass sie wusste, dass sie über die Ermordung ihres Sohnes korrespondierte: „Mein Sohn Alfred war vor seiner Krankheit, die er ja auch erst durch die Folgen des Krieges bekam, ein sehr fleißiger und strebsamer junger Mann. Man hätte mit ihm noch Geduld haben sollen.“45

Wenn Angehörige sich mit rassenhygienischen Argumenten für einzelne Patienten einsetzten, muss das nicht zwangsläufig bedeuten, dass die Schreibenden der Meinung waren, es gebe tatsächlich eine Gruppe „erblich Minderwertiger“, für welche die nationalsozialistische Politik adäquat sei. Aber die Empfänger der Schreiben in den Tötungsanstalten und in der Berliner Zentrale konnten aus diesen zumindest herauslesen, dass der jeweils formulierte Protest nicht auf Grundsätzliches zielte. Und gelegentlich wurde die Unterscheidung zwischen vermeintlich zu Recht und vermeintlich fälschlicherweise betroffenen Familien auch noch deutlicher zum Ausdruck gebracht, etwa von Hermann F., der sich, nachdem sein Sohn nach Hadamar „verlegt“ und dort ermordet worden war, beschwerte: „Ich kann mich nicht damit abfinden. Mir kommt es vor, als wenn mein Kind behandelt worden wäre wie erblich belastet oder wie das Kind eines Trinkers. Ich verwahre mich dagegen. Im Privatleben unbescholten. Als Soldat, einberufen 1914/18 von Anfang bis Ende mit Auszeichnungen, verwundet, Führung gut und unbestraft. Seit 1. Sept. 1939 stehe ich ebenfalls wieder für Volk und Führer unter Waffen. Heil Hitler! Hermann F., U[ntero]ff[i]z[ier].“46

Diesen scheinbaren Widerspruch zwischen Protest im Einzelfall und Billigung oder gar Zustimmung im Allgemeinen konstatierten auch Studien, die die Durchführung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ behandeln. Auch hier wurde immer wieder eine entschiedene Abwehr im Einzelfall festgestellt, die gerade auf die Akzeptanz des Prinzips verweist.47 Die grundsätzliche Unterscheidung zwischen „minderwertigen Erbkranken“ und „Erbgesunden“ wurde nicht als nationalsozialistische bzw. rassistische Kategorisierung verstanden, sondern als objektive Grenze. Davon zeugen auch Nachkriegs-Aussagen 44 45 46 47

Marianne K. an die Wittenauer Heilstätten, 19.10.1938, LWV-Archiv, Bestand 12, PA 1981. Therese B. an die Landesheilanstalt Hadamar, 9.10.1943, LWV-Archiv, Bestand 12, PA 2772. Hermann F. an Landesheilanstalt Hadamar, 7.3.1943, LWV-Archiv, Bestand 12, PA 2636. So bei Bock (Anm. 40), S. 340, 352.

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von Angehörigen in „Euthanasie“-Prozessen. Dies ist wichtig, da man für diese Aussagen ausschließen kann, dass sich Angehörige genötigt fühlten, rassenhygienisch zu argumentieren. Die ersten Prozesse gegen das Personal von Tötungsanstalten wurden in den vierziger Jahren, die letzten in den achtziger Jahren geführt.48 In Vorbereitung und im Rahmen dieser Prozesse wurden Angehörige als Zeugen vernommen. Dabei handelte es sich vor allem um besonders engagierte Angehörige, die mit den ermordeten, oder auch mit geretteten Patienten in Kontakt gestanden hatten, was keineswegs für alle Angehörigen galt. Einige hatten sich von selbst an die Gerichte oder an die Polizei gewandt, die Adressen anderer waren über Patientenakten recherchiert worden, weitere wurden von Angeklagten oder von anderen Zeugen benannt. Aussagen von Angehörigen finden sich in allen Akten großer „Euthanasie“-Prozesse. Sie wurden aber bislang nicht umfassend gesichtet. Da sich der Ablauf der „Euthanasie“-Aktionen, die Anstaltsstruktur und auch die Reaktionen von Bevölkerung und Angehörigen regional unterschieden, ist die Aussagensammlung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg (ZSL) besonders interessant. Dort sind Aussagen (nicht nur von Angehörigen) gesammelt, die im Laufe ganz unterschiedlicher Verfahren entstanden. Bereits eine kursorische Sichtung führt zu dem überraschenden Befund, dass häufig ein Thema breit ausgeführt wird, das aus heutiger Sicht für die Aufklärung oder Bewertung dieser Verbrechen keinerlei Rolle spielt, nämlich der Nachweis, dass der oder die Ermordete und entsprechend auch die eigene Familie nicht „erbkrank“ war. Wenn viele Angehörigen diesen Punkt hervorhoben, muss das nicht heißen, dass sie in Kategorien von „Rasse“ und erblich bedingter „Minderwertigkeit“ dachten, aber es legt nahe, dass sie von einem qualitativen Unterschied zwischen erblichen und erworbenen Krankheiten oder Behinderungen ausgingen, der entweder für die Bewertung der verhandelten Verbrechen oder für die der aussagenden Familien von Bedeutung war. Diese Nachkriegsaussagen basierten damit auf rassenhygienischen Vorstellungen und/oder auf der Annahme, dass solche Vorstellungen bei den Gerichten eine Rolle spielten. Taktische Anpassungen an die Begrifflichkeiten eines nationalsozialistischen Medizinalsystems dürften jedenfalls keine Rolle mehr gespielt haben. Es war die Mehrzahl der Angehörigen, die, nach dem Krieg zur Ermordung der Patienten befragt, implizit oder auch explizit auf die „Erbgesundheit“ der Familie verwies und hervorhob, dass die Krankheit erworben war,49 die Betroffenen also „von Geburt aus vollkommen 48 Zu den „Euthanasie“-Prozessen siehe Willy Dreßen: Mord, Totschlag, Verbotsirrtum. Zum Wandel der bundesrepublikanischen Rechtssprechung in NS-„Euthanasie“-Prozessen, in: Matthias Hamann, Andreas Heinz (Hg.): Halbierte Vernunft und totale Medizin. Zu Grundlagen, Realgeschichte und Fortwirkungen der Psychiatrie im Nationalsozialismus (= Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 13), Berlin [u.a.]: Verl. der Buchläden Schwarze Risse, Berlin/Rote Straße, Göttingen, 1997, S. 179–198. 49 Im Folgenden werden Angehörigenaussagen aus der alphabetisch geordneten Sammlung der ZSL zitiert, die aus unterschiedlichen Regionen stammen. Ausgewählt wurden Aussagen der Angehörigen, deren Namen mit dem Buchstaben B beginnen.

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gesund“50 oder „kerngesund“ waren, erst „infolge der vielen Sorgen“ geistig erkrankten51 oder eine Mutter vor dem kranken Kind „eine völlig normale Tochter geboren“ habe, die inzwischen verheiratet sei „und nun selbst ein 6 Jahre altes völlig normales Kind“ habe.52 Aus den Aussagen von Angehörigen im württembergischen Grafeneck-Prozess ergibt sich ein ähnliches Bild, obwohl es in dieser Gegend viele katholische und protestantische Anstalten gab und die Ermordung von Patienten und Patientinnen hier zu besonderer Unruhe geführt hatte. Diese wird in der Forschungsliteratur nicht zuletzt auf die traditionelle konfessionelle Bindung der Angehörigen zurückgeführt. Am Wunsch, die „Erbgesundheit“ der eigenen Familie nachzuweisen, änderte dies offenbar nichts. Zwei Aussagen seien exemplarisch zitiert: „Meine am 23. Februar 1916 geborene Tochter Lilli A. ist im Alter von etwa 1 1/2 Jahren aus dem Kinderwagen gefallen und hat sich am Kopf verletzt. […] Ausser meiner Tochter habe ich noch 2 Söhne, von denen einer gefallen ist. Die Kinder waren durchaus normal, auch die Enkelkinder sind körperlich und geistig gesund. Weder in der Familie meiner Frau noch in meiner Familie haben sich Geisteskrankheiten gezeigt.“53 „Meine am 12.2.1930 geborene Tochter Sybille ist von Geburt an geistig und körperlich zurückgeblieben. Es handelt sich um keine Erbkrankheit.“54

Man könnte angesichts der Verlässlichkeit, mit der solche Angaben auftauchen, unterstellen, die Gerichte hätten ihrerseits nach dem Bestehen „erblicher Belastungen“ gefragt. Aber auch Angehörige, die sich unaufgefordert schriftlich an die Gerichte wandten, hoben oft die „Erbgesundheit“ der Familie hervor. Infolge Arbeitsüberlastung sei ihre Mutter erkrankt, schrieb Elke D. aus Göppingen an das Tübinger Landgericht und betonte: „Das eine möchte ich besonders bemerken: Wir Geschwister sind alle gesund u. stellt ein jedes seinen Mann im Leben.“55 Manchmal erstreckte sich der Nachweis einer erworbenen Krankheit über einen guten Teil des Vernehmungsprotokolls.56 50 51 52 53 54 55 56

Aussage Wilhelm B., 29.12.1947, ZSL, Aussagensammlung „Euthanasie“. Aussage Marga B., 29.12.1947, ZSL, Aussagensammlung „Euthanasie“. Aussage Martha B., 16.12.1963, ZSL, Aussagensammlung „Euthanasie“. Zeugenaussage Wilhelm A., 8.6.1948, Staatsarchiv Sigmaringen (StAS) Wü 29/3, Nr. 1756, Fi 1. (StAS) Wü 29/3, Nr. 1756, Fi 1. Undatiertes Schreiben mit Eingangsstempel vom 12.2.1949, (StAS) Wü 29/3, Nr. 1753, Fi 6. „Soviel mir noch in Erinnerung ist, hat mein Bruder Georg im Jahre 1930 geheiratet. Ich kann mit Bestimmtheit sagen, daß er bis zu diesem Zeitpunkt und auch noch später ein völlig normaler und gesunder Mensch war. Um mehr Geld zu verdienen, ging mein Bruder zur BASF in Ludwigshafen. Dort arbeitete er in einer chemischen Abteilung[,] in welcher Giftstoffe verarbeitet oder produziert wurden. Jeweils vor Arbeitsantritt mußte mein Bruder sein Gesicht mit einer Schutzschicht einreiben und zusätzlich noch eine Gesichtsmaske tragen. Trotzdem zog sich mein Bruder eine Drüsenkrankheit zu, im Verlauf derer sein Hals überaus stark anschwoll. Infolge der Krankheit konnte mein Bruder vermutlich seinen ehelichten Pflichten nicht mehr vollauf genügen, sodaß sich seine Frau in dieser Hinsicht anderen Männern widmete. Dies war für mein[en] Bruder ein großer Schlag, zumal er

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7.  Die Wirksamkeit der Bilder Die Angehörigen der ermordeten Anstaltspatienten argumentierten vor wie nach 1945 nicht gegen die Bedeutung von Erbfaktoren oder gegen die Exklusion „erbkranker Sippen“ aus der „Volksgemeinschaft“, sondern gegen die Einbeziehung der eigenen Familie in diese Kategorie. Sie lehnten nicht erst die Diagnose „Erbkrankheit“ ab, sondern oft schon die Feststellung, dass ein Patient „geisteskrank“ sei. Entsprechend konnten selbst Familien von Patienten, die schon eine lange Anstaltsgeschichte hatten, noch entsetzt auf den Begriff „geistesgestört“ reagieren.57 Die Frage nach der Stichhaltigkeit einer Diagnose war möglicherweise oft berechtigt, noch mehr gilt dies für die Frage der „Erblichkeit“. Aber sie wurde häufig in einer Weise gestellt, die erkennen lässt, wie weit die öffentlichen Bilder der Rassenhygiene als Realität akzeptiert wurden. Die Schwierigkeiten entstanden, wenn die Bilder, welche die popularisierte NS-Wissenschaft von „minderwertigen“ Anstaltsinsassen wie von ihren „Sippen“ zeichnete, auf die Realität der eigenen Familie trafen. Hier konnten sich die privaten und die öffentlichen Bilder als unvereinbar erweisen. Und die öffentlichen Bilder wurden durch ihre Rückweisung im Einzelfall gerade nicht in Frage gestellt, sondern verfestigt. Vor 1945 könnte der Grund für die Abwehr von Diagnosen in Ängsten vor rassenhygienisch motivierten Folgen für die Familie gelegen haben. Aber die Aussagen in den „Euthanasie“-Prozessen, Nachkriegskorrespondenzen in Patientenakten und selbst noch Gespräche mit Angehörigen von „Euthanasie“-Opfern in den neunziger Jahren zeigen, dass Medizin und Sozialpolitik der NS-Zeit nicht nur vielen Wissenschaftlern, Politikern und Verwaltungsmitarbeitern als „ideologiefreie Räume“ galten,58 sondern auch vielen Angehörigen ermordeter Patienten. Und diese rezipierten sie, wie große Teile der Bevölkerung, vermutlich in erster Linie in Form ihrer populären Bilder.

sehr an seiner Frau und den Kindern hing. In der Folgezeit kam es wiederholt zu Streitigkeiten und bedingt dadurch zu einem Auseinanderleben. Mein Bruder verfiel immer mehr in einen apathischen Zustand, war nervlich überreizt, sodaß mein Vater ihn bei sich aufnahm.“ Aussage der Maria B., 26.5.1961, ZSL, Aussagensammlung „Euthanasie“. 57 Magdalene S. an die Heil- und Pflegeanstalt Emmendingen, undatiert (um April 1937), LWV-Archiv, Bestand 12, PA 2406. 58 Vgl. Katja Neppert: Warum sind die NS-Zwangssterilisierten nicht entschädigt worden. Argumentationen der fünfziger und sechziger Jahre, in: Hamann/Heinz (Anm. 48), S. 199–226.

Siegfried Saerberg

Sensorische Räume und museale Regimes. Von visueller Dominanz zu sensorischer Diversität

1.  Sensorische Regimes im Museum und im Alltag In ihrer thematischen und sinnlichen Vielfalt bergen Museumssammlungen einen für die Wissenschaften und die gesamte Gesellschaft höchst wertvollen Wissensschatz, der bisher in seinen lesbaren Eigenschaften einseitig interpretiert und präsentiert wurde, und zwar sowohl durch die interpretierenden Sammler, Wissenschaftler und Kuratoren selbst als auch in der Präsentation für das Publikum. Ganz allgemein sind dadurch erstens Sammlungen an einigen Punkten unterbestimmt, da viele ihrer sinnlichen Qualitäten vernachlässigt sind, zweitens wird das breite Publikum der partiellen – etwa taktilen – Wahrnehmungsberaubung ausgesetzt1 und drittens ein spezielles Publikum benachteiligt.2 Auch die Wissenschaftlichkeit leidet hierunter, da ihr Gegenstand inadäquat aufgefasst wird, die Gesamtgesellschaft leidet, da sie in den Möglichkeiten der Selbstreflexion eingeschränkt wird und bestimmte (behinderte) Gruppen der Gesellschaft diskriminiert werden. Das Ineinandergreifen jener drei Punkte wird hier am Beispiel blinder Museumsbesucher veranschaulicht und im Sinne der Disability Studies3 als Konstruktion sensorischer Normalität und Ausschließung sensorischer Andersartigkeit interpretiert. Theoretisch haben wir es mit der Selbsteinschränkung des Forschungs- und Erkenntnishorizontes und praktisch mit einem Habitus der Distanzierung von bestimmten, sinnlichen Qualitäten des Lebens zu tun. Solche Distanznahme trennt das wissenschaftlich zugerichtete und museal ausgestellte Objekt vom sozialen Ursprungsobjekt, welches inmitten seines sozialen Handlungskontextes mit unendlicher Bedeutungsund Gebrauchsvielfalt belegt war, und konstituiert es erst als museales Ding. Es sollen zunächst fünf Momente der Distanznahme in musealem Handeln als organisierter und

1 Viktor Kittlausz, Winfried Pauleit (Hg.): Kunst – Museum – Kontexte. Perspektiven der Kunst- und Kulturvermittlung, Bielefeld: transcript, 2006. 2 Patrick Föhl, Stefanie Erdrich, Hartmut John, Karin Maaß (Hg.): Das barrierefreie Museum. Theorie und Praxis einer besseren Zugänglichkeit. Ein Handbuch, Bielefeld: transcript, 2007. 3 Anne Waldschmidt, Werner Schneider (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung, Bielefeld: transcript, 2007.

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institutionell fundierter Zusammenhang von Sammeln, Bewahren, Vermitteln, Zeigen und Inszenieren4 benannt werden. Die erste Distanznahme ist kognitiv-visuell. Das Sehen wird als der intellektuellste der Sinne „angesehen“. Schon die Begriffsgeschichte legt eine Verwandtschaft von Visualität und Erkenntnis nahe: Das Licht des Geistes, die „Aufklärung“, die platonische Ideenlehre, in der die höchste Idee des Wahren, Guten und Schönen mit der Sonne verglichen wird. Der vom Kirchenvater Augustinus aus dem Manichäismus mitgebrachte stark polarisierende Dualismus von Licht und Dunkelheit ist hier weiterhin zu nennen.5 Dieses kognitiv-visuelle Regime setzt sich im musealen Handeln fort. Dem betrachtenden Blick wird dasjenige präsentiert, was der analysierende Blick des Wissenschaftlers entdeckt hat.6 Die Trennung von Subjekt und Objekt ist für diesen am distanziert visuellen Wissenserwerb orientierten Museumskontext maßgeblich.7 Museales Handeln wird durch ein weitreichendes Set von Körper- und Kulturtechniken bestimmt: die distanzierte Beobachtungshaltung, das augenblickhafte Erfassen einer Gestalt, das Huschen von Fluchtpunkt zu Fluchtpunkt und die Vordergründigkeit der Betrachtung von Oberflächen. Hinzu gesellt sich noch die visuell geprägte Materialität in der visuellen Präsentation von Sammlungen und Exponaten. Sie reicht vom Großen hin zum Kleinen: von der Architektur der Museumsgebäude mit großen Fensterfronten für Tageslicht8 und der auf den Fluss diesen Tageslichts und den elektrischen Lichtstrom sensiblen Anlage über die durch Besucher begehbaren Gänge durch einen Ausstellungsraum bis zur Erfindung von durchsichtig verglasten Schaukästen, computerverbundenen Bildschirmsystemen und einstellbaren und fokussierenden Beleuchtungssystemen jeder Art.9 Exponate sind mit Schrifttafeln versehen, auf denen das lebendig bewegte Wort in Tinten-Materialität verwandelt wurde. Weitere visuelle Darstellungsartefakte kommen hinzu: Fotographien, Landkarten, Diagramme, Skizzen, Schemata, Längs- und Querschnittszeichnungen, Dioramen. Im naiven Glauben an die scheinbare Naturhaftigkeit seiner selbst erzeugten Bilder, die für wahr gehalten werden, betrügt sich das Sehen jedoch um die Fülle zugänglicher Wirklichkeit. Überschätzt, verloren im Wust seiner Bilder, sieht das Auge oft, ohne 4 Vgl. Svetlana Alpers: The Museum as a Way of Seeing, in: Ivan Karp, Steven Lavine (Eds.): Exhibiting cultures. The Poetics and Politics of Museum Display, Washington: Smithsonian Institution Press, 1991, S. 25–32. 5 Dazu Moshe Barasch: Blindness. The history of a mental image in western thought, New York [u.a.]: Routledge, 2001. 6 Vgl. Hal Foster: Vision and Visuality, Seattle: Bay Press, 1988. 7 Kevin Hetherington hat gezeigt, dass traditionelles museales Handeln stark visuell geprägt ist; siehe Kevin Hetherington: The Unsightly: Touching the Parthenon Frieze, in: Theory, Culture & Society 19, 2002, H. 5–6, S. 187–205. 8 Vgl. zur Geschichte der Glasarchitektur Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München: Hanser, 1977, S. 44–51. 9 Vgl. zur Geschichte des elektrischen Lichts Wolfgang Schivelbusch: Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Fischer, 1986.

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doch eigentlich zu begreifen. Will man nun die Gesamtheit menschlichen Lebens und alltäglicher Erlebniswelt in den Fokus musealen Handelns rücken, so ist eine Erweiterung dieses Handlungskonzeptes auf Akustisches, Taktiles und Olfaktorisches nötig.10 Eine Fokussierung auf nicht-visuelle materiale Eigenschaften von Sammlungen und Exponaten sowie die sie aneignenden Körper- und Kulturtechniken könnte zum einen der Entdeckung bisher völlig „übersehener“ Beschreibungs-, Klassifikations- und Interpretationskriterien dienen. So ließe sich eine Skulpturensammlung kunsthistorisch anders beschreiben, wenn sie zusätzlich zu den vorherrschenden visuellen Interpretationskriterien auch nach haptisch-taktilen Kategorien klassifiziert, geordnet und interpretiert würde.11 Auch visuell gestützte Qualitätskriterien wie etwa das der Proportion in der Renaissance oder auch der verzerrten Proportion im Manierismus könnten durch andere, erst zu findende Beschreibungskriterien komplettiert werden. Diese Distanznahme auf kognitiv-visueller Ebene führt auf leiblich-sensorischer Ebene zweitens dazu, dass der distanzierte dekontextualisierte Blick leibliche Herangehensweisen an Welt und deren Repräsentation und Präsentation im musealen Kontext ausschließt. Dies wird besonders sinnfällig im Bereich des Ertastens, das sowohl in Bezug auf die Präsentation und Inszenierung für die Besucher als auch bei der Sammlung und deren Klassifikation ausgeschlossen ist: Berühren verboten. Constance Classen und David Howes haben die historische Entwicklung des Tastverbotes nachgezeichnet.12 Während im achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert das Anfassen und Emporheben von Exponaten zu deren musealer Betrachtung durch die Besucher noch eine allgemeine Gepflogenheit war, veränderte sich dies innerhalb des neunzehnten Jahrhunderts. Mit der Demokratisierung und Öffnung der Museen für breite Publikumsschichten war der enge Kontakt zwischen Exponaten und Besuchern verpönt, da Arbeiter und Kleinbürger als ungebildet und schmutzig etikettiert wurden, also eine klassenspezifische Distinktion in Bezug auf das Tasten vorlag. Fiona Candlin hat gezeigt, dass das Betasten inzwischen professionsspezifisch geregelt ist: lediglich Konservatoren und Kuratoren ist bis heute das Betasten der Exponate erlaubt.13 Dieses Monopol wird mit der Theorie chemischer Verunreinigung gerechtfertigt, die jenes Privileg naturalisiert und festschreibt. Exponate sollen für kommende 10 Als Kontrastfolie hierzu u.a. Norman Bryson, Michael Holly, Keith Moxey: Visual theory. Painting and interpretation, Cambridge: Polity Press, 1991; Teresa Brennan, Martin Jay: Vision in context, New York [u.a.]: Routledge, 1996. 11 Zu Versuchen über ägyptisches Kunsthandwerk schon Alois Riegl: Spätrömische Kunstindustrie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1992; zu Werken blinder Künstler Volkmar Mühleis: Kunst im Sehverlust. Phänomenologische Untersuchungen, München: Wilhelm Fink, 2005. 12 Constance Classen: Touch in the museum, in: Constance Classen (Eds.): The Book of Touch, Oxford [u.a.]: Berg, 2005, S. 275–286; Constance Classen, David Howes: The museum as sensescape: Western sensibilities and indigenous artifacts, in: Elizabeth Edwards, Chris Gosden, Ruth Phillips (Eds): Sensible Objects, Oxford [u.a.]: Berg, 2006, S. 199–222. 13 Fiona Candlin: Don’t touch! Hands off! Art, blindness and the conservation of expertise, in: Body and Society 10, 2004, H. 1, S. 71–90; Fiona Candlin: The Dubious Inheritance of Touch: Art History and Museum Access, in: Journal of Visual Culture 5, 2006, H. 2, S. 137–154.

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Generationen erhalten werden und werden daher auf einem historischen Moment ihrer materiellen Entwicklung eingefroren, der zum immanenten und wesentlichen Seinsmoment dieser Werke hypostasiert wird. Wie anders ist dagegen etwa der von James Clifford berichtete Umgang mit ZuniGötterstatuen, die nach ihrer Repatriierung ihrem durch die rituellen Vorschriften der Ethnie vorgegebenen traditionellen „Lebenszyklus“ überlassen werden und auf einer Mesa verrotten.14 Oder im von Fiona Candlin angeführten Beispiel der ChurchillBronze im britischen Unterhaus, die vom neuen Member of Parliament vor der ersten Rede rituell berührt wird, wodurch sich über die Jahre eine eigene Patina herausgebildet hat, die zum Charakter dieser Bronzestatue gehört. Würde diese dann dereinst zum Menschheitserbe erklärt, so würde sie wohl eingefroren und auf einem lediglich historischen Punkt ihrer Entwicklung fixiert werden. Hier wird sehr sinnfällig, warum der kognitiv-sensorische Stil musealen Handelns als sensorisches Regime zu verstehen ist: Einige sensorische Felder werden zugelassen, andere aber verboten. Und dies ist keineswegs politisch unschuldig, da alle sozialen Gruppen und Kulturen mit einer ranggemäßen Einordnung in eine durch Sensorialität konstruierte Machthierarchie rechnen müssen. An der Spitze steht der visuell distanzierte, weiße, erwachsene und nichtbehinderte Blick des schauenden modernen Westeuropäers. Die dritte Distanzierung ist zeitlich. Die Bezeichnungen „kunsthistorisches“, „sozialhistorisches“ bzw. „naturhistorisches“ Museum geben bereits den ersten Hinweis auf die Beziehung zwischen Museum und Leben: Erstere vermitteln Fernes oder Vergangenes in die Gegenwart der Besucher, die nicht nur im Museumsraum zugegen sind, sondern die auch gewissermaßen ihre Daseinsweise mit in die Ausstellung hineingebracht haben. Auch das Wort „Ausstellung“ vermag einen Hinweis zu geben: Herkömmlich werden Dinge, Relikte oder Modelle exponiert, also „hingestellt“ – da stehen sie, und können nicht mehr weg. Sie können sich nicht bewegen, sind also in diesem eingeschränkten Sinne „tot“. Sie sind für die Besucher durch ihre Gestalt, Größe, Farbgebung, Menge oder inneren Verhältnisse sichtbar und müssen so zu ihnen sprechen. Leben verleiht diesem Ausgestellten erst die Inszenierung, die wiederum am Dasein des Besuchers und dessen hieraus entspringenden Ausdeutungen des Gezeigten ansetzt: So steht ein Ammonit nicht nur für sich selbst, sondern er verweist darauf, was er vor Aberhundertmillionen Jahren einmal gewesen ist, was in der Zwischenzeit mit ihm geschehen ist und ihn zu dem machte, was er nun ist, wie sich das Heute auf diesem Zeitberg erhebt, und was vielleicht einmal aus der eigenen Besucherhülle in einem vergleichbaren Zeitablauf geworden sein mag. Auch kann man im Museum Bestandteile aus Theater und Film verwenden, was in mehr oder weniger vollendeter Art geschieht: Eine Arbeiterküche des anhebenden zwanzigsten Jahrhunderts könnte mit einer Schauspielertruppe besetzt sein, welche die Bewohner jener Zeit so real wie möglich spielt. Die Besucher könnten als echte Gäste aus jener Zeit in das Schauspiel 14 James Clifford: Routes. Travel and Translation in the Late Twentieth Century, Cambridge, Mass. [u.a.]: Harvard University Press, 1997, S. 212.

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einbezogen sein. Aber wo liegen die Fundamente jener sinnlichen Inszenierungen? Sind sie an ein Ad-hoc-Gefühl eines Showbusiness angelehnt oder in der Sinnesformierung der dargestellten Zeit begründet? Somit greifen auch die auf Erlebnis konzentrierten Inszenierungen von Museen oft zu kurz, wenn sie nur auf die möglichst angenehme oder sensationsheischende Präsentation für den heutigen Besucher aus sind. Es käme aber auf eine wissenschaftliche Erforschung gerade jener nicht-visuellen Objekteigenschaften an, die auch für den historischen Menschen von tatsächlicher Erlebnisqualität waren. Die materialen Eigenschaften der Objekte sind rückgebunden an die Erfahrung dieser Objekte durch die sie benutzenden und gebrauchenden Subjekte.15 Die vierte Distanzierung ist räumlich und bezieht sich auf geographisch entfernte Kulturen. Somit können auch von einer fremden Kultur einmal erlebte Objekte, die nunmehr Exponate sind, nur dann adäquat deutend erfasst und vermittelt werden, wenn deren sensuelle Sinndimension erkannt ist. Lesbarkeit bezieht sich also auch auf die Verbindung zwischen Sammlung und Kultur, über die die entsprechende Sammlung etwas aussagen soll. Vor dem Hintergrund sensorisch-anthropologischer Studien über den sensuellen Umgang mit Artefakten in Papua Neuguinea und über die japanische Teezeremonie als multisensorielles Ereignis wird eine nicht bloß visuelle Museumspraktik plausibel. Die Wertigkeit eines Kanus liegt in seiner Leichtigkeit, oder der Ruhm bestimmter Muschelhalsketten und Armbänder ergibt sich aus ihrem Klang mehr noch als aus ihrem Anblick.16 Die Sukzession verschiedener sensorisch zu erlebender Handlungen, Kommunikationen und Artefakte, wie etwa ritueller Reinigungen, körperlicher Gesten, der Prozession durch verschiedene Räume, Ofen, Kanne, Tassen, Gebäck, verschieden duftender und schmeckender Teesorten und zeremonieller Danksagungen innerhalb der klassischen japanischen Teezeremonie fordert, das intersensorische Erleben einzubeziehen, will man die gezeigte Kultur im Sinne einer Kulturhermeneutik angemessen nachvollziehen.17 Die fünfte Distanznahme ist soziopolitisch. Was kognitiv, sensorisch, zeitlich und räumlich-kulturell different war, wird im traditionellen musealen Handeln als zeitloses und unumstrittenes Menschheitserbe im idealtypischen Raum des „white cube“ visuell konserviert und präsentiert. Die Historizität dieser zutiefst bürgerlichen Präsentation wird dadurch verschleiert. Auch wird verschleiert, dass Herrschaftsverhältnisse zwi15 Christopher Tilley, Patricia Spyer, Mike Rowlands (Eds.): Handbook of material culture, Thousand Oaks: Sage, 2006; David Howes (Ed.): The Varieties of Sensory Experience: A Sourcebook in the Anthropology of the Senses, Toronto [u. a.]: University of Toronto Press, 1991. 16 Der Klang eines Namens reist schneller und weiter als der Anblick eines Menschen, wie man dort sagt. Vgl. Nancy Munn: The Fame of Gawa, Cambridge [u.a.]: Cambridge University Press, 1986. David Howes: Sensual Relations: Engaging the Senses in Culture and Social Theory, Ann Arbor: University of Michigan Press, 2003. 17 Dorinne Kondo: The tea ceremony, in: David Howes (Eds.): Empire of the Senses, Oxford [u.a.]: Berg, 2005, S. 192–211.

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schen herrschenden Gruppen und deren Kultur auf der einen und Beherrschten auf der anderen Seite vorliegen. Aber in Museen sind dem entgegen sehr differente Gruppen mit ebenso differenten Interessen und Verstehenshorizonten beteiligt. Es beginnt mit Praktiken der Kuratoren und ihren theoretischen Legitimationsstrategien. Sie dürfen die Exponate berühren, andere Gruppen nicht. Auch die Museumsöffentlichkeit ist historisch-kulturell geprägt und wird weiterhin ebenso geprägt, denn es herrscht die Kultur des visuellen Betrachtens. Schließlich ist da der Kontext, aus dem heraus Exponate angeeignet wurden: In wissenschaftliche Deutungssysteme überführte Naturräume, ihrer unmittelbaren Interessen und Konflikte enthobene Sozialräume (Arbeit, Institutionen), koloniale Machtstrukturen und historische Zeitunterschiede. Konflikte innerhalb dieser Kontexte werden verschwiegen und ein einheitliches, unumstrittenes, scheinbar wissenschaftlich legitimiertes Wissen suggeriert. Kurz, Museen sind Kontaktzonen. Um Machtasymmetrien – also Herrschaftsverhältnisse zwischen Herrschern und Beherrschten und deren Kulturen – zwischen zentralen kapitalistisch fundierten westlichen Mächten und benachteiligten lokalen, dezentralen kolonialisierten Gruppen am Rande der Machtgefüge zu beschreiben, bestimmt Mary Louise Pratt „contact zone“ als „the space in which peoples geographically and historically separated come into contact with each other and establish ongoing relations, usually involving conditions of coercion, radical inequality, and intractable conflict.”18 James Clifford hat diesen Begriff auf den musealen Handlungsraum übertragen. Werden Ausstellungen über vom westlichen Kulturmuster differente Sinnwelten konzipiert und präsentiert, so steht das Gesamt des Prozesses musealen Handelns in einem Aushandlungs- und Austauschprozess zwischen der ausstellenden und der ausgestellten Kultur. Dieser Prozess ist historischen, politischen und moralischen Argumentationen unterworfen, da er mit zumeist sehr starken Machtasymmetrien zurechtkommen muss.19 Solche aushandelnden Interaktionen öffnen ein Handlungsfeld, in dem durch die Mobilisierung von moralischen Öffentlichkeiten Machtasymmetrien modifiziert werden können. Zusammenfassend soll festgehalten werden, dass museales Handeln nicht allein ästhetischen oder wissenschaftlichen Kriterien folgt, sondern von sozio-ästhetischen, sozio-politischen und sozio-kulturellen Voraussetzungen definiert wird. Lesbarkeit ist eine Eigenschaft, die genau das Verhältnis zwischen Sammlung und Leser – und das meint zuerst auch den interpretierend-ordnend klassifizierenden Sammler als ersten Leser selbst – anspricht: Der erste Leser kann nur erfahren, was ihm vermittels wissenschaftlicher Kategorien und deren inhaltlicher Prägung – also dem Achten auf vorselektierte sensorische Felder etwa – zugänglich ist. Werden Sammlungen vor allem auf 18 Mary Louise Pratt: Imperial Eyes. Travel and Transculturation, London [u.a.]: Routledge, 1992, S. 6–7. 19 Für eine Anwendung des Begriffes „contact zone“ im Anschluss an Clifford: Bernadette Lynch: The Amenable object. Working with diaspora communities through a psychoanalysis of touch, in: Helen Chaterjee: Touch in Museums. Policy and Practice in Object Handling, Oxford [u.a.]: Berg, 2008, S. 261–274.

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Grund optischer Kriterien zusammengestellt, restauriert und vermittelt, verschwinden die nicht-visuellen Schriftzüge der Objekte sowohl aus der Interpretation als auch aus der Wahrnehmung. Dies schlägt sich dann auch auf Präsentation und Inszenierung für den zweiten Leser nieder. Grundlage der eine Sammlung konstituierenden Interpretation sind dann vor allem Messbares, Textbares und Sichtbares.20 Die übrigen Dimensionen solcher Exponate verschwimmen.21 Demgegenüber ist die Brechung jenes sensorisch und kognitiv distanznehmenden Generierens, Sedimentierens und Präsentierens als Teil einer umfassenden Wissenshermeneutik im musealen Kontext zu fordern. Ich habe wiederholt auf den Leser als ein Alltagswesen angespielt. Als solches steht er hinter dem rein ästhetischen oder wissensgenerierenden Subjekt der Ausstellungsbetrachtung. Er tritt aber auch als produzierendes und agierendes Subjekt auf. In kommunikativen sozialen Handlungen, die an soziohistorische und kulturelle Körper- und Kulturtechniken gebunden sind, konstituiert er Wahrnehmungen und mit ihnen die in einer Ausstellung gezeigten kulturellen Artefakte. Wie aber lässt sich dieses Subjekt näher beschreiben? Denn das sinnliche Alltagssubjekt wird ja gerade beim Wegfallen dominanter visueller Körpertechniken musealen Handelns – bis zur kreativen Entfaltung, institutionellen Verfestigung und inkorporierenden Sozialisierung neuer sensorisch alternativer musealer Handlungsentwürfe – zum Ausgangspunkt sensorisch musealer Erfahrung. Phänomenologisch inspirierte Sozial- und Kulturwissenschaftler haben die Eigenheit menschlicher Raumkonstitution, Sensorialität und Leiblichkeit als eine Einheit beschrieben. Ich stütze mich hier auf die prägnanten Ausführungen von Alfred Schütz22, die ich weiterführe.23 Leiblichkeit: Ausgangspunkt phänomenologischer Analysen leiblich-sensorieller Weltgewinnung ist stets der leiblich-subjektive Erfahrungsbereich des handelnden Individuums. Von ihm aus wird die Welt konstituiert. Dies geschieht in Unmittelbarkeit und Gegenwart.24 An sie knüpfen alle erlebten und im subjektiven Wissenshaushalt sedimentierten Erfahrungen an, die nur durch ihr Verbundensein mit unmittelbarer Gegenwart Eingang in die subjektive Erfahrung gewinnen. Räumlichkeit: Raum wird nach einem basalen Orientierungsschema geordnet: links, rechts, vorne, hinten, oben und unten strukturieren Raum, dabei unterscheiden sich die Einzelsinne in ihrer Fokussierung auf bestimmte Punkte. Sehen ist eher frontal fokussierend, Hören eher rund herum, sphäral. 20 Bernhard Waldenfels: Der Stachel des Fremden, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 31998, S. 225–242, Kap.: Der herausgeforderte Blick. Zur Orts- und Zeitbestimmung des Museums. 21 Howes (Anm. 15). 22 Alfred Schütz, Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, Bd. 1, Neuwied: Luchterhand, 1975, S. 54–60; Alfred Schütz: Das Problem der Relevanz, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1985, S. 211f.; Alfred Schütz: Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, Den Haag: Nijhoff, 1971, S. 257. 23 Eine sehr ähnliche Beschreibung räumlich-sensorieller Praktiken liefert Christopher Tilley: The Materiality of Stone. Explorations in Landscape Phenomenology, Oxford [u.a.]: Berg, 2004. 24 Michel de Certeau spricht von Gegenwart, Diskontinuität und Phatik räumlichen Handelns, das sich neben etwa kartographierten und architektonisch materialisierten Raumsystemen etabliert und diese allererst lebbar macht; vgl. Michel de Certeau: Die Kunst des Handelns, Berlin: Merve, 1988.

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Distanz und Nähe: Vom Zentrum eigenleiblicher Erfahrung aus wird die Welt in Zonen von Distanz und Nähe aufgeteilt. Allerdings dominiert im Alltag nicht eine Einstellung der Distanz, denn immer kann Entferntes, das gesehen oder gehört wurde, in die Nahzone des manipulativen Eingreifens gebracht werden. Bewegung: Räumlich-sensorisch-leibliche Wahrnehmung ist in Bewegung. Das Aktualitätsfeld („hier“ und „jetzt“) und das Potentialitätsfeld („dort“ und „dann“) gehen ständig ineinander über. Vergangene Erfahrungen gehen in aktuelles Raumgewinnen ein, als Erinnerungen an Erlebnisse eines bestimmten Ortes zu einer anderen Zeit.25 Sensorielle Leiberfahrung ist eingebunden in das Einwirken des erfahrenden Subjekts in seine Umwelt. Stillstand gibt es hier streng genommen nicht. Augenbewegungen, Kopfdrehungen, um besser hinzuhören, und der Rhythmus des Atmens halten das leibliche Subjekt in Bewegung. Multisensorialität: Wahrnehmung ist multisensorisch, indem ein sehr komplexes Ineinander von sensorischen Spezialisierungen zeitlich und räumlich Eigen- und Weltwahrnehmung miteinander abgleicht. Fernsinne (Sehen, Hören, Riechen) und Nahsinne (Riechen, Tasten, Schmecken) wechseln sich ab und sind aufeinander eingestimmt. Kein Sinnesfeld ist ausgeschlossen. Ich suche nunmehr nach Heterotopien26, Orten also, an denen nach Michel Foucault Regimes zu finden sind, die vom herrschenden Diskurs abweichen und in denen sich leiblich-multisensorische Erfahrung abspielt.27

2. Heterotopien Ziel dieser Suche ist es also, das sensorische Potential der Sammlungen zu „heben“. Ergänzend zum überkommenen Präsentationsschwerpunkt von Sammlungen und einzelnen Exponaten, der mit einer visuellen Handhabung einhergeht, möchte ich hier die Möglichkeit eines auf anderen Wahrnehmungsmodalitäten aufbauenden musealen Handelns im Sammeln, Bewahren, Vermitteln und Zeigen besprechen. In diesem Zusammenhang kann interessant sein, wie Museumsbesucher sich Exponaten nähern, diese rezipieren und interpretieren, die für sie entweder nicht sichtbar sind oder deren 25 Ähnlich auch: Tim Ingold: The Perception of the Environment. Essays in Livelihood, Dwelling and Skill, London [u.a.]: Routledge, 2000. 26 Michel Foucault: Die Heterotopien – Der heterotopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2006. 27 Eine Anmerkung möchte ich noch zu meiner Sprache in diesen nun folgenden Heterotopien vorausschicken: Sie mutet gelegentlich ein wenig poetisch an. Mir ist bewusst, dass dies im Sozialraum der Wissenschaft gewisse Abwehrmechanismen hervorruft, die eben dem distanzgenerierenden Stil jenes sozialen Unternehmens geschuldet sind. Ich möchte weiterhin gestehen, dass es mir selbst damit anfänglich ähnlich ergangen ist, ich mich jedoch darüber hinweggesetzt habe, da meine Wortwahl nicht einen Reflexion ausschließenden Stil heraufbeschwören, sondern eben gerade konträr durch jene Wortwahl die Reflexion wieder auf einen neuen Gegenstand richten und auf eine im Feld der Wissenschaft unübliche Weise voranbringen will.

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Fokus auf einem nicht visuellen Sinn liegt. Denn hier können deren nicht-visuelle Materialeigenschaften und deren Wahrnehmbarkeit, interaktive Einbettung und kommunikative Ausdeutung exemplarisch erforscht werden.

2.1  Heterotopie I: Hören im musealen Kontext Für das Ruhrmuseum Essen habe ich – die besondere Aufmerksamkeitsstruktur meiner blinden Sinneskonstitution nutzend – in den Jahren 1999 und 2000 eine umfangreiche Ton- und Geräuschsammlung im Ruhrgebiet vorgenommen.28 Natürlich bedeutet die Konzentration auf die Spannung von Alltag und Klang keine Besonderheit für blinde Kunst. Die Aufmerksamkeitsgenerierung und gestaltende Hörbarmachung alltäglicher Geräusche trat im 20. Jahrhundert nach und nach in den Fokus der Kunst: von den futuristischen Manifesten von Marinetti und Russolo („L’Arte dei Rumori“), über Cages „4’33“ über die musique amerite eines Pierre Schaeffer, das World-Soundscape-Project des kanadischen Komponisten Maurice Murray Schafer bis hin zum Boom akustischer Installationen der letzten Jahre.29 Die Hörbarmachung des Unerhörten war allen gemeinsam.30 Dabei rückten sowohl Zivilisationsgeräusche als auch Naturgeräusche und selbst der Klang der Stille wie bei „4’33“ ins Zentrum der Erhörung. Während etwa einige experimentelle Innenrauminstallationen des schwedischen Künstlers Henrik Håkansson wie z.B. „frog for eternal sonic trance“ Natur- mit Zivilisationsgeräuschen konfrontierten31, so schließen die Arbeiten im Ruhrmuseum eher an seine beinahe wissenschaftlich beobachtende Arbeit „tomorrow and tonight“ im Baseler Kunstmuseum an. Feinste Geräusche in einer Mischung aus Natur und Zivilisation werden quasi phonographisch32 aufgesucht und abgelauscht, wobei allerdings nicht der Schein entstehen soll, dass es sich hier um eine bloße naturalistische Kopie der Realität handele, denn jede Erhörung ist durch ihre Aufmerksamkeitssetzung, ihre Selektion und

28 Vgl. Siegfried Saerberg: Klangraum Ruhrgebiet, in: Stottrop, Ulrike (Hg.): Unten und Oben: die Naturkultur des Ruhrgebiets. Ausstellungskatalog Ruhrlandmuseum Essen, Bottrop [u.a.]: Pomp, 2000, S. 41–50; Siegfried Saerberg: Eine Phänomenologie des Hörens und Riechens von der Natur in der IndustrieKultur, in: Tauschbörse. Mitteilungen der Fachgruppe Naturwissenschaftlicher Museen im DMB 22, 2004, S. 29–34. 29 Vgl. Klaus Schöning: riverrun: von der menschlichen Stimme, dem Universum der Klänge und Geräusche inmitten der Stille. Klangreise in das Studio Akustische Kunst des WDR, CD mit Beiheft, Mainz: Wergo, 1999. 30 Thomas von Taschitzki: Unerhörte Geräusche, in: Andrea Edel, Christina Kubisch (Hg.): Austausch: Über die Grenzen des Wahrnehmbaren hinaus. 10 audiovisuelle Arbeiten für die Fruchthalle Kaiserslautern von Studierenden der Klasse Prof. Christina Kubisch an der HBKsaar. Ausstellungskatalog, Kaiserslautern: Referat Kultur der Stadt Kaiserslautern, 2006. 31 von Taschitzki (Anm. 30). 32 Dziga Vertov sprach schon in den zwanziger Jahren vom Fotographieren der Klänge; vgl. von Taschitzki (Anm. 30).

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Form gebende Präsentation eine Gestaltung, zumal wenn sie sich schon in der Konzeption ihres Gegenstandes auf die quasi-kompositorische Macht von NaturKultur33 bezieht. Ohne Vorgaben bin ich an das akustische Ereignis Ruhrgebiet herangegangen – alles, was donnerte, dröhnte, tönte, trippelte, trappelte, trabte, trommelte, trompetete, heulte, hustete, hupte, muhte, meckerte, miaute, sprudelte, sprach, schäumte, schabte, summte, sang, schnalzte, schnatterte, schnupperte, schnaubte, schniefte, schritt, schrillte, schrie, schmirgelte, schmatzte, schmorte, schlackerte, schluckte, schlug, schwelte, gackerte, gähnte, grunzte, gluckerte, gluckste, blubberte, blökte, blies, brummte, brabbelte, brodelte, brutzelte, brüllte, bellte, bimmelte, quakte, quiekte, quietschte, kochte, kaute, klang, klingelte, knisterte, knirschte, knackte, knatterte, knabberte, knusperte, klapperte, kreischte, krähte, krächzte, krachte, kratzte, lärmte, lief, rief, räsonierte, raunte, räusperte, rutschte, ratschte, ritschte, raschelte, rauschte, rieselte, zerplatzte, röhrte, zwitscherte, flatterte, flüsterte, fauchte, vibrierte, wieherte, winselte, wehte, polterte, pochte, pfiff, sich auf die mannigfaltigsten Weisen entleerte und entlud – eine Aberzahl von hörbaren Ereignissen und Zuständen – geriet in den Fokus meines Interesses. Erstaunlich war, dass sich keines dieser Geräusche aus der akustischen Erscheinungsweise von NaturKultur im Ruhrgebiet aussondern ließ. So entstand eine ausführliche Sammlung von Gesprächen und Stimmen, Landschaftsklängen, Tierstimmen, Maschinen-, Fabrik- und Verkehrsgeräuschen, um hier nur einige Kategorien zu nennen. An dieser Stelle möchte ich drei Erscheinungsformen unterscheiden: erstens die akustische Präsentation von Sammlungen und Exponaten, die auf die kommunikative Dimension der Rede zurückgeht, zweitens den hörend wachsamen Austausch mit der Umwelt und drittens das horchende Konzentrieren auf die Rufe aus dem Unsichtbaren. (1) Gespräche mit ehemaligen Bergarbeitern erkunden deren in Begriffen niedergelegte Welt, in denen es bestimmte Werkzeuge, Positionen, Arbeitsabläufe, Krankheiten, Vorfälle oder Gesteinsformationen gibt. Sie nennen Namen, die demjenigen, der sich noch nicht mit Bergbau beschäftigt hat, zunächst unvertraut sind. Diese dialektgetönten Erzählungen aus einer historischen Periode der Sozialgeschichte veranschaulichen das kulturell spezifische Benennen der Welt und ihrer Relevanzen als eine Dialektik des Auslegens und Verstehen-Wollens eines Daseins, das nie zur Gänze definiert ist und sich immer um seinen Sinn dreht. Es ist ein Benennen der Welt, die hierdurch die eigene Welt wird, auch wenn sie durch Einbrüche von stärkeren sozialen Mächten erschüttert wird. Auslegung aus eigenem Munde beschwört einen selbstverständlichen und wohl umgrenzten Alltag, der aber nicht unangefochten ist. Die Möglichkeit des Scheiterns ist vorhanden und lässt umgekehrt das Gelingen umso gelungener erscheinen. (2) Gerade in diesem selbstverständlichen Alltag gibt es doch auch Enklaven von Wachsamkeit und Innehalten auf Anderes hin. Ein Bergmann berichtet in stockender, 33 Damit ist sowohl die Natur gemeint, wie sie sich in hoch kultivierten Regionen wie etwa Industrie-, Agrar- und Stadtlandschaften mit, gegen und vorbei an menschlichen Kultivierungen entwickelt, als auch der kulturelle Umgang mit ihr.

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nach Worten suchender Sprache über ein Erlebnis aus den 1960ern, nachdem er „mollig warm“ auf dem „Liegenden“ eingeschlafen war „mit wunderbar harter Unterlage im Rücken“ und nach dem Erwachen sich alleine im Stollen wiederfindet: „Es ist eine absolute Stille, es ist eine absolute Dunkelheit. … Man hört nur hier mal Knack, man hört ein ganz merkwürdiges Rumoren im Gebirge. … Was sich auch irgendwie verliert als wenn da ein Strudel ganz fein irgendwo hin verläuft. … Man spürt vielmehr, als dass man es hört, eine Spannung, die dann plötzlich sich in Geräuschen äußert. Das ist irgendwie unheimlich. Man merkt, dass da Kräfte wirken, die man so mit den normalen Sinnen noch nicht wahrnimmt.“34 Im Horchen auf den Alltag überschreitende Möglichkeiten wird das Geheimnisvolle einer in Unsichtbarkeit verborgenen und schweigenden Macht bemerkbar, einer Tiefe, in die sich menschliches Leben vorgewagt hat. (3) Gespräche und Erlebnisse sind eingebettet in Geräusche, die sie beschreiben und verarbeiten. Viele Geräusche der Sozialgeschichte sind bereits untergegangen: So sind zum Beispiel Maschinen und ihre Geräusche vom technischen Fortschritt überholt worden und ständig kommen neue hinzu. Lokal fixierte Maschinen sind in Werkshallen zur von außen heute kaum noch vernehmlichen Arbeit verdammt, sich fortbewegende Maschinen dröhnen noch wenig gehemmt in Flugzeugen, Kraftwagen, Motorrädern und Schiffen durch die Landschaften der Industriekultur. Hinzu gekommen sind weiterhin die Neuerungen der HiFi-Branche, die elektronisch die NaturKultur beschallen. Menschlicher Lebensraum ist also ein vieltönend Ding, dessen Effekte auf seine Bewohner zwischen Klangteppich und Lärmhölle hin und her schwanken. Naturgeräusche wie Wind, Wasser, Erderschütterungen, Feuersbrünste, Stimmen und Bewegungsgeräusche der Lebewesen mischen sich immer noch in die technische Welt ein. „Wald“ beispielsweise hat einen anderen Grundklang als „Feld“, „Fluss“, „Bach“, „Heide“ oder gar „Dorf “, „Stadt“ oder „Autobahn“. Auf dem Gelände hinter einer stillgelegten Kokerei stehend ist ein leichter Wind hörbar, der mit dem hochgewachsenen, ungemähten Gras spielt, es leicht und sanft an einem dicken Rohr reibt, das früher zum Transport von Gasen diente. Die Sonne scheint wärmend auf dieses Rohr; es dehnt sich aus, und gelegentlich gibt es ein in ihm selbst räsonierendes Puffen und Knacken von sich. Darüber schreit ein Mäusebussard, Amseln und Finken und andere Vögel zwitschern dazwischen. In der Zwischenzeit sind bestimmt drei Züge, aus verschiedenen Richtungen kommend, vorübergerauscht. Währenddessen ertönen Verkehrslärm und Flugzeuge. Dann wieder fährt ein alter VW-Käfer vorbei, der zu einem Filmteam gehört, das hier gerade einen nostalgischen Streifen über Kohle und Stahl dreht. Ein paar starke Windstöße bringen eine alte Coladose ins Rollen, dann ein Schuss – das war wohl hoffentlich nur das Filmteam, wohl ein kommerzieller Sender? Auch lässt sich die Weite ganz bestimmter Landschaften als ein tiefer Unterton hören, ein brummähnlicher Ton, der sich beispielsweise über weite Flächen des freien Wassers ausbreitet, sich Anleihen bei Fabrik- und Schifflauten holt, die er dann über das freie Feld Wasser hin modelliert. Und über dieser Weite, sich halb in sie verlierend, halb sie 34 Saerberg (Anm. 28).

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kontrapunktisch leicht verschnörkelnd, sind Feldlerchen oder Möwen hörbar. Dazu das Wehen des Windes, der freier als in Wäldern, hier mit anderen Lufttieren spielt, mit den Drachen, die an Schnüren hier den Erholung suchenden Ruhrgebietsbewohner erfreuen. Wer durch einen Park, eine stillgelegte Industriefläche spaziert, der ist immer mitten im Geräusch seiner Schritte, die knirschend, kratzend, knackend oder auch mal sanft auf Gras gleitend das Substrat aus Kohlerückständen, Schutt und Renaturierung zum Klang bringen. Und an diesem wandernden Inmitten-Sein in einer rauschenden Landschaft der industriell überformten NaturKultur partizipieren alle, die gehend oder mit Auto oder Fahrrad fahrend Erholung suchen. Ob sie nun wollen oder nicht, denn schweben können sie noch nicht, und so bewegen sie sich im Eingebettet-Sein des Hörens in seine Um-Welt und treten damit in Gegensatz zur fixierenden Vergegenständlichung ihres Sehens. Der Begriff des Grundklanges ist wichtig: Grundklang breitet sich um den Hörer herum aus, welcher inmitten dieses Klanges ist. Hören vermag sich mitten in seiner Umgebung aufzuhalten, da es offen in alle Richtungen hinausreicht, nicht, wie das Sehen, sich auf eine Front konzentriert, der es sich entgegensetzt. So ist das Hören ein Wächter, der auf das Gleich-Bleiben eines Klangmusters lauscht. Aufgeschreckt nur von sehr abrupten Veränderungen in diesem Muster, die als Signallaute wirken. Diese erste Heterotopie hat innerhalb eines institutionell etablierten Museums eine alternative Konzeption musealen Handelns aufgezeigt. Sie hat gezeigt, dass ein anderer, im Vergleich zum Visuellen auf anderer Raumnutzung beruhender Handlungsentwurf Regie führend wird: im dunklen Stollen ist der Raum verschwimmend, unbegrenzter und enger zugleich, und das sphärische In-Mitten-Sein von klanglicher Umwelt wirkt nicht frontal entgegen setzend wie im fokussierenden Blick, sondern rundum einhüllend. Das stark emotional geprägte Mündliche der Sprache ist einmal definierend in der Dialekt gebundenen Weltbenennung und ein anderes Mal, nach Neuem schweifend, beim Erinnern im tastenden Suchen nach Worten. Somit sind andere Themensetzungen durch ein anderes sensorisches Regime erzeugbar.

2.2  Heterotopie II: Das Riechen und Schmecken Geschmack und Geruch wirken subtil, wie Marcel Proust35 eindrucksvoll erzählt hat: „Als seine Großmutter ihm einst eine Tasse Lindenblütentee anbot und eines dieser kleinen Gebäcke, die Madeleine genannt werden, und er eines davon in die Flüssigkeit eintunkte, da erhob sich mit Geruch und Geschmack in ihm die ganze Erinnerung an eine besondere Lebensphase, die Zeit in Combray.“ Während visuelle Erinnerungen durch ihre alltägliche Wiederholung abgenutzt sind, überrumpelt der Geruch den Erinnernden mit einer hohen emotionalen Betroffenheit. Das Olfaktorische ist einerseits hochgradig individuell – es packt als erinnerter Duft eben diesen einen erinnernd Ergriffenen und ist andererseits wie ein sich ausbreitender Geruch das Ganze eines 35 Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2000.

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Lebenszusammenhangs einschließend – kulturelle Identität stiftend. Der Geruch einer Zeit des Lebens, der eigentümlich das ganze Leben im Raum und mit anderen einschließt und dennoch auf diese eine Weise nur noch dem erinnernden Individuum zugänglich ist. In der von Ulrike Stottrop kuratierten Ausstellung „Unten und Oben“ wurde versucht, dem Duft des Ruhrgebietes auf die Spur zu kommen und ihn zu dokumentieren.36 Nach einem Aufruf in der lokalen Presse trafen zahlreiche Briefe ein, in denen sich Menschen wie Proust von Geruchs- und Geschmackserinnerungen den Weg in die eigene Vergangenheit weisen ließen. Einige ausführliche Interviews schlossen sich diesen Briefen an. Aus beidem wurde in der Ausstellung zitiert. Weiterhin wurden Kleidungsstücke, an denen noch der Arbeitsgeruch hing, und direkte Duftproben von Industriegerüchen in kleinen Röhrchen präsentiert. Auch hier war das Faszinierende, dass Erinnerung oft an ganz unbedeutenden, kleinen Dingen hing, die tatsächlich oft etwas mit Ess- und Trinkbarem zu tun hatten. Zwar ließen sich keine kleinen Madeleines finden, aber doch Weihnachtsplätzchen oder der Duft eines Jahrmarkts mit seinen Süßigkeiten, auch der Duft von blühenden Linden, und, wenn auch eher als bloße Handlung denn als Sinnentaumel, das Eintunken. Der ehedem ruhrgebietstypische Geruch von Industrieabgasen und Kohleöfen im Winter war zwar auch wiederauffindbar, aber eine größere Kraft hatten damit verbundene, kleinere Dinge, wie zum Beispiel der Geruch und der Geschmack von über dem Kohleofen gerösteten Kartoffelstückchen, den so genannten „Katöschchen“ oder der Geruch des eigenen Kohlenkellers und die Prozedere des Kohleneinlagerns. Es scheint tatsächlich so zu sein, dass die Erinnerung an solchen individuellen Kleinigkeiten ansetzt, um dann von dort her den Lebenszusammenhang langsam zu entrollen und dann zu den typischen Gerüchen zu kommen. Und dann erscheint auch der Geruch von Industrie und Schloten als eingebrannte Duftmarke eines Lebens in einer soziokulturellen regionalen Identität. Ein Geruch verbindet alle die, die sich in ihm aufhalten. Der Geruch der gemeinsamen Arbeit im Bergwerk oder in der Fabrik. Der typische Geruch der Mahlzeiten, die durch ökonomische und soziale Voraussetzungen geprägt sind: Reiche Leute riechen anders als arme Leute, da der Duft ersterer sich den Zwängen der Arbeit zu entheben vermag. So ordnet Geruch also auch in die soziale Hierarchie ein. Diese Verbindung zwischen soziokultureller Identität und Geruch ist in der gegenwärtigen Erinnerung wesentlich leichter zu fassen als in der vergangenen Gegenwart: So wie das allzu Nahe nicht mehr riechbar ist, die Gewöhnung verdeckt es. Wenn ein Geruch verschwindet, wird seine Identität stiftende Bedeutung vielleicht erst in der Erinnerung entdeckbar. Diese zweite Heterotopie hat innerhalb eines institutionell etablierten Museums eine alternative Konzeption musealen Handelns veranschaulicht. Sie hat gezeigt, dass ein anderer Handlungsentwurf maßgeblich wird. Im Vergleich zum visuellen, zur Objektivierung neigenden Handlungsentwurf, kann das stark emotional geprägte Erin36 Saerberg (Anm. 28).

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nern thematisch werden. Somit sind andere Themensetzungen durch ein anderes sensorisches Regime erzeugbar.

2.3  Heterotopie III: Dunkle Kunst SINNENFINSTERNIS ist ein Ausstellungsprojekt im Dunkeln, das bisher vier Realisierungen durch den Verein Blinde & Kunst e.V. fand: 1995 in Bergisch-Gladbach,37 1996 unter Kuratierung von Nina Zimmer und Siegfried Saerberg in Hamburg,38 1997 in Köln39 und 2007 parallel zur documenta in Kassel.40 Die Ausstellung ist primär von Blinden für Sehende gemacht (Sonderpädagogik einmal verkehrt herum), blinde und sehende Künstler stellen gemeinsam aus, Blinde sind als Ausstellungsbetreuer anwesend und blinde Besucher sind natürlich sehr herzlich willkommen. Der Autor war bei allen Ausstellungen als Kokurator und Ausstellungsbegleiter ständig teilnehmend zugegen. Die unten gemachten Beobachtungen beziehen sich auf die Beobachtung sehender Besucher und ihres Rezeptionsverhaltens. Die Konzeption von SINNENFINSTERNIS fokussiert auf das Ineinandergreifen von Produktion und Rezeption von Kunst und Welterfahrung überhaupt: Zum Wesen des Kunstwerkes gehört unverzichtbar die Art und Weise, in der es wahrgenommen wird. Diese Wahrnehmung ist bestimmten Gesetzen und Gewohnheiten unterworfen, die zum Teil auf alltäglichen Orientierungsmustern fußen und deren künstlerische Gestaltung vor allem in Gegenwartskunst wiederum Thema der Kunst ist. Hat das Auge im Konzert der Sinne keine Stimme, so ist die Komposition der Sinnenmusik eine grundverschiedene: Sie ist in den Kategorien von Raum, Zeit, Bewegung und kognitivem Stil langsamer, näher, einzigartiger und offener. Erst ohne Beteiligung des Auges ist diese andere Wahrnehmung erfahrbar und gestaltbar. Sind die Sinne in Finsternis gehüllt, so finden sie Raum und Zeit, sich zu entfalten: In SINNENFINSTERNIS sollen, entgegen den in anderen Ausstellungen üblichen Praktiken, Kunstwerke betastet, berochen, angehört werden. Auf diese Weise zeigt die Ausstellung ein unsichtbares Gesicht der Welt. Finsternis stiftet in diesem Kontext Sinn. Die Aura des Kunstwerkes erscheint dunkel verschleiert, strömt durch den dunklen Raum und zieht ihn mit in ihren Bann. Diese Grundkonstellation zeitigte immense Wirkungen auf Seiten der Produzenten und der Rezipienten: Während der langen Workshoptreffen, bei denen über das Konzept und über geeignete Exponate gesprochen wurde, war zu beobachten, wie schwer es den Beteiligten immer wieder fiel, sich auf das Medium der Dunkelheit als Präsentationsfläche und Wahrnehmungs-Subjekt-Objekt ein- und umzustellen. Allen Vorstel37 In Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis der Künstler Bergisch-Gladbach in deren Räumlichkeiten. 38 Im inzwischen niedergerissenen Kaifu-Artcenter; vgl. SINNENFINSTERNIS, Katalog zu einer Ausstellung in Hamburg, Eigenverlag, 1996. 39 In der Kölner Zentralbibliothek am Neumarkt. 40 In der alternativen Station 15, vgl. .

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lungen und Konzepten zum Trotz begann das Design der Ausstellung erst in dem „Augenblick“ feste Gestalt anzunehmen, als das Licht aus dem Raum verbannt war. Darüber hinaus war dies eine nicht zu unterschätzende Aufgabe, denn man musste die sehr unterschiedliche Intensität des Lichtes, sowohl an Sonnen- und Regentagen als auch zu den verschiedenen Tageszeiten, bedenken und austesten. Wenn die Verdunkelung beispielsweise in einer Regenperiode vorgenommen wurde, musste sie, als die Sonne zurückkehrte, wieder nachgebessert werden. Mit einer solchen Entwicklung einher ging auch die Zunahme des Wärmegrades, welcher einen wesentlichen Einfluss auf die Wahrnehmung der Ausstellungsatmosphäre und der Exponate hatte. Nahe den abgedunkelten Fenstern eröffneten sich nun besondere Wärmeflächen, die sich der betastenden Hand ganz neu und unerwartet präsentierten. Eine von uns gar nicht beabsichtigte künstlerische Aussage mischte sich da ein. Überhaupt zeigte es sich, dass die Hand als Rezeptionsorgan recht umwelt- und körperabhängig ist, denn es macht einen großen Unterschied, ob sie stark durchblutet, warm und feucht, oder kalt und steif ist. Natürlich ändern auch die Exponate ihre Temperatur und damit verändert sich auch ihre Wirkung: Steinskulpturen sprechen z.B. die Hand stärker an, wenn sie kühl sind, Holzexponate, wenn sie etwas wärmer sind etc. Die Dialektik von Sinnenfinsternis lässt sich phänomenologisch41 für den sensorisch-kognitiven Rezeptionsprozess wie folgt beschreiben: (1) Zunächst einmal ist der erste Eindruck der sehenden Besucher die Finsternis sinnlicher unmittelbarer Wahrnehmung in der Dunkelheit. Die aus ihrer Verbindung mit dem Sehen gerissenen einzelnen Sinne sind verloren in der Brandung des Dunkels, bei der Neuorientierung von Leib und Geist verlassen. Es ist ein Kulturschock, in dem sehende Besucher tatsächlich nichts mehr sehen. Nichts sehen heißt in diesem ersten Augenblick, nichts mehr von der Welt wahrnehmen. Finsternis ist hier negativ, Verschlungenheit. Die wechselseitige Beziehung von Orientierungsschema und Bezugssystem ist zu Beginn suspendiert. Die Anpassung an die Dunkelheit dauert so lange, bis der Verlust der Positionierung des eigenleiblichen Ichs in Raum und Zeit hingenommen, verarbeitet und somit auch überwunden wird. Routineförmige und normalerweise erfolgreiche Muster der Orientierung sind obsolet, und man muss „sich einfach trauen“, d.h. gewissermaßen neu anfangen. Interessanterweise haben Kinder schneller als Erwachsene einen eigenen modus vivendi gefunden. Weil sie vielleicht näher zu den kleinen Freiheiten explorativer Raumerkundung und noch ferner zur sozialen Leibesdisziplin sind, fällt es ihnen leichter, ihre Fähigkeiten von der Bindung an das Sehen zu lösen und sozusagen auf eigene Füße zu stellen. Eine kleine Gruppe von Jungen hatte so zum Beispiel zur dritten dunklen Erkundung ihren Fußball zwecks weiterer Elaborierung ihres Ballgefühles mitgebracht, was allerdings beim „Aufsichtspersonal“ wenig Gegenliebe fand, da die Fragilität einiger Exponate hier zum Ausschlusskriterium jener musealen Innovation wurde. 41 Saerberg (Anm. 28).

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(2) Der zweite Sinn von Sinnenfinsternis ist wertneutral beschreibend. Er meint, wie eine sinnliche Gesamtheit einschließlich der kognitiven Synthesen multisensorisch im Dunkeln komponiert wird, wie also dunkel wahrgenommen wird. Er beschreibt einen Prozess: von der Unangemessenheit der am sehenden Alltag sozialisierten und inkorporierten sensorischen Strategien zu einer allmählichen Umgewöhnung und Entfaltung sensorischen Eigensinns der Dunkelheit. Beginnend mit dem Wagnis der ersten Bewegungen, eine Wand suchen, sich daran entlang tasten, wird der Raum erschlossen. Zu Anfang dominiert das Tasten. Ihrer Rolle im Hellen gemäß, sind die Tastbewegungen zunächst nach Ziel, Zeit und Art dem Medium unangemessen. Sie sind nicht geeignet, einen Gegenstand zu entdecken, da sie zu schnell und zu heftig sind. Die vom Blicken und den Augenbewegungen her gewohnten Synthesen in Nanosekunden heller Welt- und Kunstwahrnehmung mögen den Tastenden hier in die Irre leiten. Eine Anpassung an die neue Situation der Dunkelheit findet auf Hinweis oder nach langer Gewöhnung statt. Erst dann wird das Tasten umfassend und gründlich, so dass von einem Be-Greifen gesprochen werden kann. Hier endlich findet die Nähe des Tastens zum Gegenstand, der nicht mehr überflogen oder überhuscht wird, sondern der eine Anschmiegung erfährt. Zugleich mit der Verringerung des Aktionstempos wird der Umgang behutsamer. Die Wirksamkeit bestimmter tastender Gesten muss allererst entdeckt werden. Sie werden mit beiden Händen ausgeführt und erfahren in der Koordination der beiden Hände und in einer bestimmten Kurve, einem Rhythmus, den Gegenstand kinästhetisch. Das Fortbewegungstempo ist anfangs ebenfalls eher zu schnell: Exponate werden oft nur an einer Stelle betastet, das Material bestimmt und dann links liegen gelassen. Auch die in der ästhetischen Betrachtung wesentlichen Momente der material- und dinghaften Gestalt- und Formerkennung sind im Dunklen verändert. Das Gleiche trifft für die holistische Aussage über das Kunstwerk zu: Worum geht es hier? Es fällt auf, dass die Materialwahrnehmung der Gestaltwahrnehmung gegenüber priorisiert ist und dass bei Fragen nach der Gestalt häufig eine Anknüpfung an Alltagsgegenstände gesucht wird. So befragt man exemplarisch die Ronde von Ansgar Nierhoff (mit Druckluft aufgeblasene Metallronde, unten an ein Holzbrett angebracht) mit den Worten: „Ist das ein Pendel?“ Dies ist verständlich, denn Gestaltwahrnehmung ist sehr komplex, da sie eine Integration von kinästhetischen Tastbewegungen, haptischen Tasteindrücken, Gedächtnisleistungen und räumlichen Bezugspunkten benötigt. Insgesamt bestimmt sich der Erfahrungsstil, der nach und nach hervortritt, durch ein langsames, vorsichtiges sich Annähern an Dinge und Menschen und ein Erwachen des horchend spürenden Aufnehmens der Atmosphäre. (3) Endlich vollzieht sich die Aufhellung sinnlicher Perzeption im Dunkeln. Im Kontrast hierzu stellen viele sehende Besucher dann eine relative Finsternis der alltäglichen, hellwachen Welt- und Kunstwahrnehmung fest. Nach dem schockartigen Verlust der ersten und der prozesshaften Rekonstruktion in der zweiten Stufe folgt hier eine Art neuer Wiederentdeckung wahrnehmungsmäßiger Fähigkeiten, die zwar immer vor-

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handen, aber im alltäglichen Lauf der aufs Visuelle fokussierten sinnlichen Erfahrung routinemäßig verschüttet waren. Die sensoriell empfundene Verbindung zum Raum und den Exponaten in ihm wird enger und intensiver: Die Fähigkeit, Untergründiges, Atmosphäre und Aura in die Wahrnehmungswelt aufzunehmen, wird wieder erweckt, die Fülle ästhetischen Erfahrens entspringt von Neuem: Das Untergründige bildet am Boden, der mit den tastenden Füßen rezipiert wird, ein Fundament. Unbeachtet ist es im alltäglichen Erleben immer da, bemerkt nur, wenn das Alltagsbewusstsein seine Aufmerksamkeit hervorgerufen etwa durch kleine Krisenerfahrungen wie Stolpern auf es richtet. Atmosphäre spannt sich sphärisch über und umhüllend um den Kunstrezipienten – liegt nicht frontal vor einem möglichen Betrachter.42 Sie stimmt sich ein in Geräusch, die eigene gehende Bewegung und den Rhythmus der tastenden Hände. Für die Aura heißt dies, dass sie weniger als im traditionellen Verständnis am Exponat haftet, sich vielmehr von diesem löst und sich zwischen es und das wahrnehmende Subjekt schiebt, beide umfassend. Diese dritte Heterotopie hat außerhalb des etablierten Museumsbetriebs eine alternative Konzeption musealen Handelns hervorgebracht. Sie hat gezeigt, dass ein anderer, im Vergleich zum Visuellen weniger distanzierter, viel stärker auf subjektive Elemente rezeptiven Erlebens konzentrierter, zeitlich stark intensivierter und auf engerer Raumnutzung beruhender Handlungsentwurf Regie führend wird. Die Nähe zum Material im Tasten, zum Raum im Bewegen und das Spüren von Präsenz von Aura und Atmosphäre können thematisch werden. Somit sind andere Themensetzungen durch ein anderes sensorisches Regime erzeugbar.

3.  Blinde Kunst unter dem Regime der Visualität Nachdem ich bisher Möglichkeiten sensorischer Vielfalt im musealen Handeln beschrieben habe, möchte ich nun blinde Kunst und blindes Publikum als zwei Seiten blinder Kultur und Identitätspolitik im Sinne einer soziopolitischen und kulturellen Herausforderung der visuellen Dominanz zu positionieren versuchen. Wie kann blinde Kunst als Teil blinder Kultur aus sich heraus sehende Dominanz aufdecken, herausfordern und überwinden? Ich möchte hier einige blinde Künstler vorstellen, deren Arbeiten sich in einem Kontinuum zwischen dem Taktilen, dem Haptischen und dem Visuellen bewegen. Taktil eigensinnig wendet sich der sehbehinderte Künstler José Grania Moreira fast gänzlich vom Visuellen ab. Moreira macht kaum visuelle Angebote und die künstlerische Spannung liegt bei ihm im Tasten selbst, in der Nähe. Er präferiert die Form und die Taktilität der Linienführung vor dem Material und dessen Oberflächenbeschaffen-

42 Vgl. hierzu auch Ingold (Anm. 25).

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heiten.43 Daher erstellt er vornehmlich gerundete Formen und glatte Oberflächen, bei denen der Akzent auf der manuell tastenden Bewegung liegt, die im Ideal unirritiert und ununterbrochen sein soll.44 Mehrdeutiger arbeitet der spät erblindete Bildhauer Rudolf Petersen, der stärker visuelle Momente in seine Skulpturen einbezieht. In der Arbeit „Der Lesende“ aus einem zwanzigteiligen Werkzyklus „konkret-abstrakt“ ist von Petersen die figürliche Halb-Skulptur in aller am Optischen orientierten Detailvielfalt ausgeführt, während die von ihm als abstrakt bezeichnete Referenz-Plastik um einen Blindenschrift lesenden Finger kreist.45 In dieser abstrakten Modellierung liegt eine wesentlich stärkere Ausgestaltung haptischer Momente vor, die stärker auf die Materialdimension des behutsam polierten Specksteins achtet. Subversiv ins Sichtbare hinein schmuggelt Tastbares der erblindete Bildhauer und Keramiker Flavio Titolo. Eine Überkreuzung von Taktilem und Visuellem findet sich in seinen Skulpturen.46 Die visuell-taktilen Spuren seiner tastenden Materialerkundung, wie tastbare Markierungen, welche den Stein für ihn leichter bearbeitbar gemacht haben, sind – Relikten gleich – noch sichtbar. Im Sichtbaren selbst wird Tasten anschaulich und umgekehrt, denn Tasten und Sehen geben sich zumindest zum Teil wechselseitig mit.47 Konfrontativ gegen Visualität arbeitet der blinde Photograph Evgen Bav.ciar, welcher als Blinder Visualität mit ihren eigenen Waffen herausfordert und m.E. auch schlägt. Er fotographiert nicht die sichtbare Wirklichkeit, sondern er belichtet das Unsichtbare. Er fotographiert, angelockt von Geräuschen und Berührungen, indem er die Kamera in deren Richtung hält. Sehende beschreiben ihm, was auf den Kontaktabzügen erscheint. Erst dadurch entsteht das Bild. Eine Provokation: Ein Blinder lehrt Sehenden das Sehen. Den Gedanken Volkmar Mühleis folgend: Der Blinde wird von Visualität eingekreist, was ihm aber die Möglichkeit eröffnet, visuelle Selbstverständlichkeiten zu reflektieren. Der blinde Fotograph verdeutlicht blinde Positionen im Sehen. Bav.ciar sagt etwa zur Rolle eines Fernsehmoderatoren: „Als Blinder bin ich sozusagen ein Profi für’s

43 Vgl. Mühleis (Anm. 11). 44 Wie Löwenfeld und Münz bereits in ihrer klassischen Studie über das künstlerische Gestalten blinder Kinder herausgefunden haben, schöpft die Formgebung Blinder in ihrer haptischen Kunst vor allem und zunächst aus dem kinästhetischen Körperschema; siehe Viktor Löwenfeld, Ludwig Münz: Plastische Arbeiten Blinder, Brünn: Rohrer, 1934. 45 SINNENFINSTERNIS (Anm. 38). 46 Blinde und sehende Kunst finden auch von der anderen Seite her Überkreuzungen: Es existieren im Rahmen der sehenden Kunst Hinwendungen zu Taktilen, wie z.B. Taststudien und Tastmodelle sowie eine Kategoriebildung haptischer Ästhetik seit den zwanziger Jahren am Bauhaus durch Itten und Moholy-Nagy: Johannes Itten: Mein Vorkurs am Bauhaus – Gestaltungs- und Formenlehre, Ravensburg: Otto Maier, 1963; László Moholy-Nagy: von material zu architektur, Faksimile-Nachdruck der Ausgabe von 1929, Berlin: Mann, 2001. 47 Mühleis (Anm. 11).

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Fernsehen. Ich kann von anderen gesehen werden und selbst nicht sehen.“48 Der blinde Künstler beleuchtet das Sichtbare aus der Unsichtbarkeit: Er kommuniziert mit Sehenden über seine Fotografien und entdeckt dabei die bereits sichtbar gewordenen und erst sichtbar werdenden Gedanken, Träume und Imaginationen Sehender. Immer wieder stellt sich dabei die Frage nach dem Wesen des Bildes.49 Bav.ciar zingelt Visualität vom taktilen Erfassen im Akt des blinden Fotographierens ein. Visualität selbst erscheint dadurch nicht in der unmittelbaren Erfahrung durch den Künstler, sondern in der durch Gespräch und Text vermittelten Rezeption. So thematisiert er Sichtbarkeit aus einer konzeptionellen Position vom Begriff her und macht Sehen dennoch sensorisch zugänglich. Zum Gedanken einer blinden Kunst schreibt Mühleis resümierend: „Das Interesse an ihm hat mit der Aufmerksamkeit für das Kunstschaffen Blinder zugenommen. Dieses ist zunächst als Teil ihrer Sozialgeschichte aufzufassen: Es bedarf eines langen Werdeganges, dass Blinde über den visuellen Diskurs der Kunst Zugang zu ihr finden, sich dieses Feldes gesellschaftlich vergewissern, um davon ausgehend die Bildhauerei (oder die Installationskunst etwa) in Richtung haptischer Differenzen weiterzuentwickeln.“50 Bindet man blinde Kunst und Kultur zurück an die sich entfaltende Sozialgeschichte von Blindheit, so ergeben sich strukturelle Ähnlichkeiten zum Begriff der Kontaktzone: „A contact perspective views all culture-collecting strategies as responses to particular histories of dominance, hierarchy, resistance, and mobilization.”51 Da blinde Kultur nicht nur Kunstschaffende, sondern ebenso Kunstrezepierende umfasst, bedeutet die konkrete Entdeckung Blinder als Publikum für Museen und deren Einbeziehung in museales Handeln in allen seinen Stufen die Erkenntnis, dass museales Handeln bisher visuell dominiert und eigene sensorische Strategien unterdrückt wurden. Widerstand hiergegen und Mobilisierung eigener Interessen im politischen Raum ist weiterhin zu fordern. Daher heißt Barrierefreiheit auch nicht lediglich die Öffnung der Schranken, sondern die Umgestaltung des wissensvermittelnden Innenraumes. Bisher sind die Maßnahmen zur Herstellung von Barrierefreiheit vor allem patriarchalisch: Nicht behinderte Kuratoren und Museumspädagogen versuchen mehr schlecht als recht, für Behinderte Barrieren zu reduzieren. Dagegen ist (1) die Ausstellung von blinder Kunst, (2) die Heranziehung blinder Künstler, (3) die Anstellung blinder Kuratoren zumindest für bestimmte Ausstellungsprojekte und (4) die Implementierung blinder Interessengruppen in die Gestaltung der Ausstellungen zu fordern.52 Dann wird Barrierefreiheit in der aushandelnden und interaktiven Kontaktzone zwischen sehenden und blinden Protagonisten innerhalb des Feldes musealen Handelns prozessual erarbeitet,

48 49 50 51 52

Mühleis (Anm. 11), S. 219. Mühleis (Anm. 11), S. 229. Mühleis (Anm. 11), S. 188. Clifford (Anm. 14), S. 213. Siehe für ein ähnliches Beispiel etwa Africa 95 im Bereich des Kontaktes zwischen westlichen und nicht-westlichen Kulturen bei Clifford (Anm. 14), S. 202.

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wodurch ein Ausweg aus benachteiligender und partiell exkludierender Herrschaft gefunden werden kann. In diesen Prozessen werden sich auch Vorstellungen von einer reinen und isolierten Blindenwelt, gepaart mit einer puristischen Vorstellung von deren Authentizität, auflösen. Solche Vorstellungen wären ein Primitivismus analog zu den Ideen von reinen Naturvölkern oder wildem Denken. Blindheit ist vielmehr eine hybride Identität, wie wir sie schon bei Bav.ciar und Titulo entdeckt haben. Im Falle von Blindheit ist hybride Authentizität allerdings keine Wiederentdeckung, sondern immer schon ein Fakt einer benachteiligten Gruppe, die kein eigenes Land hatte, das kolonialisiert wurde, sondern das erst aus der Kolonialisierung geboren werden muss und wird. Und zwar als ein hybrides, das Sehende und Blinde gleichermaßen umfasst. Da Blindsein und Sehendsein sich überschneiden, somit also kein reiner Primitivismus blinden Seins besteht, ist zu fordern, dass das nicht visuelle museale Handeln auch Sehenden und allen anderen Gruppen, die am musealen Handeln beteiligt sind, zu Gute kommen muss. Inklusion Blinder darf keine Exklusion Sehender oder Anderer bedeuten: Non-Visualität für alle.

Folker Metzger

Barrierefreiheit und kulturelle Bildung in Museen

In der deutschsprachigen Museumspädagogik wurde das Thema der Barrierefreiheit in den letzten 15 Jahren umfassend und unter den Aspekten physischer, geistiger und sozialer Zugänglichkeit reflektiert. Die neue Sensibilität dem Thema gegenüber hat seit Ende der 1990er Jahre zu mehr Vermittlungsangeboten für Menschen mit Behinderungen in Museen geführt.1 Ungeachtet dieser positiven Entwicklung ist eine umfassende barrierefreie Gestaltung von Ausstellungen noch alles andere als selbstverständlich. Dabei sollte gerade die barrierefreie Präsentation von Sammlungen im Vordergrund der Vermittlungsarbeit stehen, da erst durch sie die Inklusion von Menschen mit Behinderung in die Bildungsarbeit gelingen kann. Zwar haben die Konzeption und der Aufbau barrierefreier Museen außerhalb des Bundesverbandes Museumspädagogik in den deutschen Museumsverbänden noch wenig Aufmerksamkeit gefunden, doch findet zeitgleich eine auch international geprägte Diskussion über kulturelle Bildung statt, die mit hoher politischer Aufmerksamkeit bedacht wird. Die in diesem Zusammenhang publizierten Grundsatzpapiere und Diskussionsbeiträge der wichtigsten internationalen Verbände und des Deutschen Bundestages sowie eine nationale Infrastrukturerhebung werden im Folgenden auf ihre Stellungnahmen zur Barrierefreiheit in der kulturellen Bildung und in der Vermittlungsarbeit von Museen hin analysiert. Überraschend ist, dass in den Stellungnahmen und in der Erhebung selten oder gar nicht auf Menschen mit Behinderung bzw. auf Barrierefreiheit eingegangen wird.

1.  Barrierefreiheit und kulturelle Bildung Barrierefreiheit wird in der deutschen Museumslandschaft vor allem als eine Frage der körperlichen, der sozialen und der kognitiven Zugänglichkeit von Ausstellungen und Ausstellungsgebäuden verstanden. Der Anspruch uneingeschränkter Zugänglichkeit soll durch eine spezifische Museums- und Ausstellungsarchitektur, besondere 1 Vgl. Themenheft Barriere-Frei – Teilhabe von Menschen mit Behinderung im/am Museum, in: Standbein-Spielbein. Museumspädagogik aktuell, Nr. 59, 2001; Patrick S. Föhl, Stefanie Erdrich, Hartmut John, Karin Maaß (Hg.): Das barrierefreie Museum. Theorie und Praxis einer besseren Zugänglichkeit. Ein Handbuch, Bielefeld: transcript, 2007.

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Vermittlungsprogramme, freien oder ermäßigten Eintritt sowie durch den Einsatz von Medienguides realisiert werden. Eine herausgehobene Bedeutung kommt dabei der barrierefreien Gestaltung von Ausstellungen zu. Vielfach wird darauf hingewiesen, dass vor allem diese Maßnahme vielfältigere Zugänge zu Ausstellungsinhalten ermöglicht. Zudem profitieren bekanntermaßen alle Besucher von der Schaffung barrierefreier Zugänge. Kinder etwa können alle Objekte sehen, wenn diese so inszeniert werden, dass sie auch von Rollstuhlfahrern betrachtet werden können. Ältere Menschen können Ausstellungstexte besser lesen, wenn diese auch für Sehbehinderte gestaltet sind. Die barrierefreie Einrichtung von Ausstellungen sollte also eigentlich selbstverständlich sein. Tatsächlich aber wird dieser Anspruch bisher nur in wenigen großen Museen in Deutschland umfassend umgesetzt. Noch immer gelten seit vielen Jahren unverändert vor allem das Deutsche Hygiene-Museum Dresden, das Landesmuseum Mainz und das Deutsche Technikmuseum Berlin in dieser Hinsicht als Vorbilder.2 Die herausgehobene Position dieser Häuser deutet darauf hin, dass umfassend barrierefrei gestaltete Ausstellungen weiterhin eine Ausnahme bilden. Es muss also nicht nur nach Möglichkeiten gesucht werden, die Umsetzung von Barrierefreiheit in Museen als obligatorischen Teil ihres Aufgabenspektrums zu etablieren. Es sollte darüber hinaus nach Wegen gesucht werden, wie dem Thema nicht nur in den Museen selbst, sondern auch bei den Entscheidungsträgern in der Politik und bei der an Kultur und Bildung interessierten Öffentlichkeit Aufmerksamkeit verschafft werden kann. Im Gegensatz hierzu hat das Konzept der kulturellen Bildung seit einigen Jahren national und international hohe politische Aufmerksamkeit erlangt. Unter dem Stichwort „arts education“ lässt es sich in vielfältigen kulturpolitischen Stellungnahmen und Untersuchungen finden. Wegen der politischen Wirkungsmächtigkeit des Begriffs der kulturellen Bildung sollen die in diesem Zusammenhang entstandenen Grundsatzpapiere auf das Thema einer barrierefreien Vermittlung von Kunst und Kultur allgemein und besonders in Museen hin untersucht werden. So kann geklärt werden, ob sich die Anforderungen an kulturelle Bildung mit den Prämissen einer barrierefreien Vermittlung decken und inwieweit explizit auf die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung eingegangen wird. Der Begriff der kulturellen Bildung wird – wie der Begriff der Bildung überhaupt – in der gegenwärtigen Debatte eher unscharf und unbestimmt verwendet. Zum einen ist eine adäquate Übersetzung in andere Sprachen nur schwer möglich, was in der internationalen Diskussion zu einigen Schwierigkeiten führt.3 Zum anderen aber ist der Begriff „Bildung“ selbst schwierig und in einer anwendungs- und praxisbezogenen

2 Das Deutsche Technikmuseum soll 2011 mit dem Signet „Berlin Barrierefrei“ ausgezeichnet werden, . 3 Vgl. Max Fuchs: Der UNESCO-Leitfaden zur kulturellen Bildung. Annäherungen und Überlegungen, in: Deutsche UNESCO-Kommission e.V. (Hg.): Kulturelle Bildung für Alle. Von Lissabon 2006 nach Seoul 2010, Bonn 2008, S. 13, .

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Diskussion nur begrenzt tragfähig. Ihm ist vor allem die Dimension der Selbstbildung eigen, was die Operationalisierbarkeit von Bildung zu einem Problem werden lässt. Bei der Beantwortung der Frage, welches erzieherische Handeln überhaupt sinnvoll ist, wird der Bildungsbegriff regelmäßig durch einen sehr viel schlichteren und auf Umsetzbarkeit abhebenden Begriff des Lernens ersetzt.4 Gleichwohl bleiben der Bildungsbegriff und damit auch der Begriff der kulturellen Bildung vor allem in den politischen Debatten weiter wirksam. Unter Bildung wird weithin alles verhandelt, was mit Lernen, Erziehung und Ausbildung zu tun hat. Zudem ist der Bildungsbegriff höchst positiv besetzt: Die in jeder Hinsicht unhintergehbare Bedeutung von Bildung und ihre elementare Funktion für das private wie für das öffentliche und politische Leben wird niemand ernstlich bestreiten wollen. Wie bedeutend der Begriff der kulturellen Bildung ist und wie sehr er in die Debatten Einzug gehalten hat, zeigt sich – und das ist an dieser Stelle nur eine erste Einschätzung – an der in den letzten Jahren vorgenommenen Neuausrichtung vieler großer Stiftungen, die dem Begriff der (kulturellen) Bildung häufig eine prominente Rolle in ihren Programmen und Satzungen zuweisen. Ein Trend zur Bildung ist ebenfalls im öffentlichen Bereich zu beobachten, wie etwa an der Ausrichtung zuständiger Bundesministerien und dem Aufbau museumspädagogischer Abteilungen sichtbar wird.

2.  Kulturelle Bildung ohne Menschen mit Behinderung? Für die folgende vergleichende Untersuchung wurden aktuelle, einschlägige Stellungnahmen, Analysen und Diskussionsbeiträge ausgewählt: UNESCO Leitfaden zur kulturellen Bildung (Roadmap) von 2010, Beiträge des International Council of Museums (ICOM), Enquete Bericht des Deutschen Bundestages Kultur in Deutschland 5 und die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierte Infrastrukturerhebung zu Bildungsangeboten in klassischen Kultureinrichtungen des Zentrums für Kulturforschung6. Die dort entwickelten Positionen bilden häufig die Grundlage der Debatten auf kulturpolitischen Tagungen und Veranstaltungen, etwa beim Arbeitskreis Kunst und Kultur des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen, bei der Stiftung Mercator, der Stiftung Schloss Genshagen oder beim Deutschen Kulturrat. Auf diesem Wege gewinnen die Positionen Einfluss auf kulturpolitische Entscheidungen.7 4

Vgl. Niklas Luhmann, Karl Eberhard Schorr: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 21999, S. 73ff.; Reinhart Koselleck: Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung, in: Reinhart Koselleck (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil II: Bildungsgüter und Bildungswissen, Stuttgart: Klett-Cotta, 1990, S. 22ff. 5 Schlussbericht der Enquete-Kommission Kultur in Deutschland, Bundesdrucksache 16/7000, 2007, . 6 Susanne Keuchel, Benjamin Weil: Lernorte oder Kulturtempel. Infrastrukturerhebung: Bildungsangebote in klassischen Kultureinrichtungen, Köln: ARCult Media, 2010. 7 .

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2.1 UNESCO Roadmap for Arts Education Der von der UNESCO entwickelte Leitfaden für kulturelle Bildung, der in Lissabon 2006 vorbereitet und in Seoul 2010 beschlossen wurde, bezieht sich nur indirekt auf Menschen mit Behinderung.8 Einzig in der Broschüre der Deutschen UNESCO Kommission e.V., in der die Roadmap for Arts Education von Lissabon 2006 dargestellt und kommentiert ist, wird mit einem Hinweis auf die Menschenrechte verdeutlicht, dass es den Verantwortlichen auch um eine Einbeziehung von Menschen mit Behinderung geht.9 Die Grundlage der folgenden Analyse bildet die online abrufbare Roadmap, die in der zweiten UNESCO Konferenz zur kulturellen Bildung in Seoul 2010 mit dem Titel Agenda: Goals for the Development of Arts Education beschlossen wurde und zehn Seiten umfasst.10 Der kulturellen Bildung wird darin eine umfassende Bedeutung zugesprochen. Sie soll der Persönlichkeitsbildung dienen, aber auch die Bildungsinstitutionen selbst verbessern und die gesellschaftliche Entwicklung befördern.11 Aus diesen Gründen müsse die kulturelle Bildung möglichst viele Menschen in allen Lebensphasen erreichen: „Establish systems of lifelong and intergenerational learning in, about and through arts education. Action Items: Ensure learners from all social backgrounds have lifelong access to arts education in a wide range of community and institutional settings. Ensure opportunities for arts education experiences among different age groups. Facilitate intergenerational learning in order to safeguard knowledge of traditional arts and foster intergenerational understanding.”12 Gefordert wird das lebenslange Lernen in Institutionen für alle Menschen unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund. Dass diese Forderung aber nur zu gewährleisten ist, wenn die Zugänge zu diesen Angeboten barrierefrei sind, wird nicht weiter thematisiert. Dabei legen es insbesondere die Anforderungen des lebenslangen und intergenerationellen Lernens nahe, auf die unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedingungen des Lernens und der kulturellen Bildung einzugehen. Auch im letzten Statement „Foster the capacity to respond to major global challenges, from peace to sustainability through arts education“ wird nicht explizit auf eine dringend notwendige Schaffung verschiedener Zugänge zur Kultur eingegangen, sondern lediglich auf die Notwendigkeit einer multikulturellen Praxis in der Kulturvermittlung verwiesen.

8 Seoul Agenda: Goals for the Development of Arts Education, 2010, . 9 Vgl. Kulturelle Bildung für Alle, S. 17 (Anm. 3). 10 Vgl. Seoul Agenda 2010 (Anm. 8). 11 Vgl. dazu vor allem die Ausführungen im Kapitel Establish systems of lifelong and intergenerational learning in, about and through arts education. Eine kritische Stellungnahme dazu von Max Fuchs in: UNESCO Leitfaden 2008 (Anm. 3), S. 8–15; Seoul Agenda 2010 (Anm. 8). 12 Seoul Agenda 2010 (Anm. 8).

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Die Forderung, allen Menschen unter den Anforderungen eines lebenslangen und interkulturellen Lernens einen Zugang zur kulturellen Bildung zu verschaffen, könnten Museen besonders gut verwirklichen, da sie systematisch und nahezu flächendeckend kulturelle Bildung für alle Altersgruppen anbieten können. Dieses Potenzial spiegelt sich in den Stellungnahmen der einzelnen Sektionen der Konferenz, die im dreißigseitigen Final Report ebenfalls online zur Verfügung stehen. Es wird allerdings nicht dezidiert in die endgültige Stellungnahme aufgenommen: „In a session on life-long learning and arts education, presenters focused on arts learning in and with the collections of museums. Arts learning in all possible areas was seen as a human right that should be protected and expanded as a means of enabling people to understand and handle present and future challenges.“13 In den nach Regionen aufgeteilten ICOM Arbeitsgruppen wurde nur von der Sektion Asia and the Pacific ausdrücklich auf Menschen mit Behinderung hingewiesen: „Discussion also revolved around the importance of arts education for disabled people and other vulnerable or marginalized sections of society.“14 Zwar ist die Roadmap eine für die Bildungsdebatte zentrale internationale Stellungnahme, die auf der Grundlage der allgemeinen Menschenrechte und der UN-Behindertenrechtskonvention ausgearbeitet ist, doch gleichwohl werden die spezifischen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung in ihr nicht berücksichtigt, und es wird nicht auf Bildung für Menschen mit Behinderung eingegangen.15 Mit der Entwicklung differenzierter barrierefreier Zugänge ist ein großes Potenzial für die Rezeption von Kunst und Kultur verbunden und daher ist die Vernachlässigung dieses Themas an so prominenter Stelle problematisch. Die geforderte Entwicklung der Gesellschaft in Auseinandersetzung mit aktuellen Herausforderungen der Gegenwart kann nur dann befördert werden, wenn Partizipation gesichert ist und nicht weite Teile der Gesellschaft von kultureller Bildung ausgeschlossen bleiben.

2.2  International Council of Museums (ICOM) Der Weltverband der Museen (ICOM) ist das offizielle und damit auch wichtigste internationale Forum für Museen. Die regelmäßig auch online erscheinende Zeitschrift ICOM News vermittelt einen guten Eindruck von den Funktionen, die Museen im Hinblick auf die Besucher zugeschrieben werden. Aktuelle Debatten entzündeten sich vor allem an den von ICOM entwickelten und allgemein anerkannten Definitionen dessen, was ein Museum sei. Daneben lassen sich auch aus dem Papier zur ICOM-Strategie, 13 United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization: Final Report by Professor Larry O’Farrell, Closing Session of The Second World Conference on Arts Education Seoul, 28 May 2010, . 14 United Nations Educational (Anm. 13). 15 Vgl. Valentin Aichele: Behinderung und Menschenrechte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 23, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2010, S. 13–19.

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zur Profilierung des internationalen Museumstages und aus der Übersicht der Tagungsthemen Anhaltspunkte für das Selbstverständnis der Museen gewinnen. Im Unterschied zur Roadmap der UNESCO macht ICOM kulturelle Bildung nicht zum zentralen Thema, sondern konzentriert sich zuvorderst auf die zunehmende Bedeutung des Museums für gesellschaftliche Entwicklung, so z.B. für einen besseren und bewussteren Umgang mit Minderheiten. Damit verbunden ist zwar der Anspruch, dass sich Museen für alle gesellschaftlichen Gruppen öffnen müssen; wie dies jedoch für unterschiedliche Besuchergruppen, etwa Menschen mit Behinderung, zu leisten ist, wird kaum erörtert. Gleichwohl aber wird einer Zusammenarbeit mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen in der Ausarbeitung von Museums- und Vermittlungskonzepten eine große Bedeutung beigemessen: „Museum professionals must be constantly building bridges over difference, reinforcing ties and developing their work. By working together, museum professionals and different social groups may learn together how to develop alternative actions that favour intercultural harmony and tolerance.“16 Ein konsequentes, aber wohl nur singuläres Beispiel partizipativer Ansätze für Menschen mit Behinderung in Museen ist das Projekt Rethinking Disability Representation in Museums and Galleries (RDR) des Research Centre for Museums and Galleries (RCMG) der School of Museum Studies der Universität Leicester. Die Ausstellungen zum Projektthema wurden in Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderung entwickelt.17 Das Projekt der Universität Leicester verdeutlicht die weitreichenden kulturpolitischen Aufgaben der Museen, wie sie von ICOM eingefordert, jedoch nur selten von Museen realisiert werden. Unter dem Anspruch, verschiedene gesellschaftliche Gruppen aktiv in ihre Arbeit einzubeziehen, verstehen Museen sich heute nicht mehr nur in traditioneller Weise als Orte des Sammelns, Bewahrens und Vermittelns, sondern als Orte umfassender und übergreifender Kommunikation. Die aktuelle, 2007 überarbeitete Definition des Museumsbegriffs spiegelt dies jedoch noch nicht adäquat wieder: „A museum is a nonprofit, permanent institution in the service of society and its development, open to the public, which acquires, conserves, researches, communicates and exhibits the tangible and intangible heritage of humanity and its environment for the purposes of education, study and enjoyment.”18 Kritisiert wird an dieser Museumsdefinition, dass das Verhältnis der Museen zur Gesellschaft ungeklärt bleibe.19 Gefordert wird zudem eine für alle Menschen verständliche Museumsdefinition und nicht eine, die einzig dem Professionalisierungsverständnis seiner Mitarbeiter dient. Eine neue, erweiterte Definition sollte daher nicht mehr nur das Sammeln und Bewahren in den Mittelpunkt stellen, 16 Tereza Scheiner: Contributing to a better world, in: ICOM News. Newsletter of the International Council of Museums 62 (2009), H. 2, S. 5. 17 Vgl. Rethinking Disability Representation in Museums and Gallerys, 2008, . 18 Vgl. . 19 Bernice L. Murphy: The Definition of Museum. From Specialist Reference to Social Recognition and Service, in ICOM News. Newsletter of the International Council of Museums 57 (2004), H. 2, S. 3.

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sondern darüber hinaus auch den Dialog mit der Gesellschaft berücksichtigen. Ansätze dafür finden sich im zehnseitigen Strategiepapier ICOM: Our Global Vision – Strategic Plan 2008–2010: „ICOM recognizes museums responsibility to society through their engagement with public issues of social change“.20 ICOM will also u.a. das Museum als einen gesellschaftlich und sozial relevanten öffentlichen Ort auch für gesellschaftspolitische Diskussionen etablieren. Entgegen der traditionellen Museumsdefinition betont ICOM Deutschland schon heute die gesellschaftliche Relevanz von Museen, jedoch markiert der Verband dies nicht als Zielstellung, sondern stellt es als eine bestehende Realität dar. Die zunehmende Ausrichtung der Museumsarbeit auf den Besucher und dessen soziale Situation spiegelt sich auch in der Profilierung des internationalen Museumstages, der 2010 unter dem Motto „Museums for Social Harmony“ bzw. in der von den deutschsprachigen Ländern gewählten Übersetzung „Museen für ein gesellschaftliches Miteinander“ stattfand.21 Wie die Darstellungen suggerieren, reicht es bereits aus, die kulturelle Vielfalt der Museen und ihrer Sammlungen zu präsentieren, um den hier formulierten Anspruch einzulösen.22 Das Motto dieses internationalen Museumstages war zugleich das Thema der alle drei Jahre stattfindenden ICOM-Generalkonferenz im November 2010 in Shanghai. Angesichts der kulturpolitischen Situation in China wird deutlich, dass die sich andeutende Neuausrichtung international kaum konsensfähig und eine schlichte Vereinheitlichung der Idee des Museums über alle nationalen Differenzen hinweg auch nicht wünschenswert sind. Den Begriff „social harmony“ im Sinne einer allgemeinen Leitidee zu verwenden, erweist sich als höchst problematisch: Nicht nur weil Kunst und Kultur hier die Funktion zugewiesen bekommen, Gegensätze zu überwinden und Differenzen zu überbrücken, sondern auch weil Kulturkonflikte und politische Konflikte durch den übergreifenden Harmonisierungsanspruch negiert werden.23

20 ICOM: Our Global Vision. Strategic Plan 2008–2010, . 21 Vgl. . 22 Johanna Westphal: 33. Internationaler Museumstag. Museen für ein gesellschaftliches Miteinander, in: ICOM Deutschland Mitteilungen 2010, S. 4. 23 Eine Instrumentalisierung von Kultur für ideologische Zwecke zeigt sich deutlich in der offiziellen Stellungnahme von An Laishun, Mitglied im Organizing Committee Working Group on the Theme of the 22nd ICOM General Conference: „Social harmony is multi-tiered: it encompasses harmony between all ethnic groups and cultures (between the dominant culture and subcultures and between the cultures of different social classes); harmony in the sense of respect for a country or a culture; harmony between different religions; and harmony between man and nature.” Examining Social Harmony, in: ICOM News. Newsletter of the International Council of Museums 62 (2009), H. 2, S. 4, . Problematisch ist der Begriff „Harmonie“ vor allem, weil er von den chinesischen Machthabern gegen die Menschenrechte in Stellung gebracht wird; vgl. Heiner Roetz: Alle sind gleich. Nur die Chinesen nicht, in: Süddeutsche Zeitung, 17. Dezember 2010, S. 12.

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Explizite Bezugnahmen auf das Thema der Barrierefreiheit sind weder in den grundlegenden Stellungnahmen von ICOM noch auf den Webseiten des Verbandes zu finden.24 Der Verband suggeriert stets, dass bereits die Präsentation verschiedenartiger Sammlungen ein entscheidender Beitrag zur kulturellen Bildung sei. Die Aufgabe der Vermittlung und der Heranführung des Besuchers wird an die Museumspädagogik und ihre personalen Vermittlungsprogramme delegiert. Ausstellungskonzeptionen selbst müssen demzufolge nicht weiter hinterfragt werden. Dabei muss insbesondere das Thema der Barrierefreiheit und der Zugänglichkeit für verschiedene Besuchergruppen bereits in der Konzeption von Ausstellungen angemessen berücksichtigt werden. Immerhin gibt es seitens des bedeutendsten nationalen Museumsverbandes, des Deutschen Museumsbundes e.V., erste Schritte, das Thema Barrierefreiheit in Museen besser zu positionieren. Die Teilnahme von Mitarbeitern an regelmäßigen Workshops der Arbeitsgruppe Barrierefreie Museen des Bundesverbandes Museumspädagogik e.V. ist ein erster Schritt. Zudem wurde auf der Jahrestagung des Deutschen Museumsbundes 2011 in Magdeburg ein von der AG Barrierefreiheit der Berliner Museen entwickelter Leitfaden präsentiert, der in Kürze auch publiziert wird.

2.3  Infrastrukturerhebung zu Bildungsangeboten in klassischen Kultureinrichtungen Die Infrastrukturerhebung Bildungsangebote in klassischen Kultureinrichtungen25 des Zentrums für Kulturforschung von 2010 untersucht personale Vermittlungsangebote in klassischen Kultureinrichtungen, wie z.B. Museen, Orchestern, Theatern sowie Mehrspartenhäusern und Bibliotheken. Eine umfassende quantitative Analyse hat bisher nicht vorgelegen, so dass den Ergebnissen dieser Untersuchung in der kulturpolitischen Debatte eine wichtige Rolle zukommt, die sich durchaus auch auf die Verteilung von Mitteln auswirken könnte. Keine Berücksichtigung findet hier die Bewertung der Vermittlungsleistungen durch eine spezifische Ausstellungsdidaktik, beispielsweise durch Installationen zum Anfassen und Ausprobieren, Medienstationen in Ausstellungen oder spezifische Audioguides. Diese Maßnahmen sind jedoch für einen barrierefreien Zugang in Museen besonders wichtig. Die Erhebung bezieht sich auf Kinder und Jugendliche, Vorschulkinder, Senioren und Migranten. Ohne weitere Erklärung werden Menschen mit Behinderung nicht als eigens zu untersuchende Gruppe bedacht. Damit wird auch nicht nachgeprüft, ob und wie dieser heterogenen Gruppe Zugänge zu klassischen Kultureinrichtungen ermöglicht werden. Begründet wird die vorgenommene Festlegung auf die genannten 24 Nach Abschluss dieses Manuskriptes erscheint in ICOM News 64 (2011), H. 2 ein Special Report über „Accessibility“, in dem auch auf die Barrierefreiheit in Museen eingegangen wird. Daraus geht jedoch nicht hervor, ob der Verband sich das Thema programmatisch zu eigen machen wird. 25 Vgl. Keuchel/Weil (Anm. 6).

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Besuchergruppen zum einen durch den gesellschaftlichen und demografischen Wandel, wie er sich eben in einer zunehmenden Zahl älterer Menschen und Menschen mit Migrationshintergrund zeigt. Zum anderen wird ein Schwerpunkt auf die frühkindliche Bildung gelegt, die mittlerweile in ihrer hohen Bedeutung anerkannt wird.26 Problematisch erscheint es, die Untersuchung von Bildungsangeboten in klassischen Kultureinrichtungen überhaupt auf die Gliederung verschiedener Zielgruppen zu gründen, gilt es doch Menschen verschiedener Generationen und Herkünfte sowie sozialer und kultureller Hintergründe im Rahmen des Besuchs einer Kultureinrichtung zusammenzuführen. Bildungsangeboten, die verschiedene Gruppen zusammenführen, sollte in einer solchen Untersuchung ein besonderer Stellenwert beigemessen werden. Barrierefreiheit wird einzig im Kapitel zu den Senioren thematisiert, in dem für diese eine körperliche und geistige Zugänglichkeit eingefordert wird.27 Immerhin wird darauf verwiesen, dass Museen weit umfangreicher als andere Kulturinstitutionen Angebote für Menschen mit Behinderung anbieten.28

2.4  Enquete Bericht des Deutschen Bundestages Kultur in Deutschland Der Bericht der Enquete-Kommission Kultur in Deutschland verweist zu Beginn auf zwei bedeutende kulturpolitische Debatten der letzten 30 Jahre und die daraus erwachsenen, bis heute gültigen Forderungen an kulturelle Bildung und an die Bewertung von Kulturangeboten. Zum einen war es vor 30 Jahren noch nicht selbstverständlich, Kulturangebote allgemein zugänglich zu machen, zum anderen werden erst in jüngster Zeit partizipative Ansätze in der Kulturvermittlung praktiziert. Beides bildet überhaupt erst die Voraussetzung dafür, dass Kunst und Kultur nicht nur die Lebensqualität des Einzelnen verbessert, sondern auch gesellschaftliche Herausforderungen mit Unterstützung durch Kultureinrichtungen bewältigt werden.29 Umso erstaunlicher ist es daher, dass in dem umfangreichen, auch online verfügbaren Dokument Menschen mit Behinderung nur beiläufig erwähnt werden. Zwar wird Partizipation durch eine auf die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen ausgerichtete Kulturpolitik angestrebt, aber die Notwendigkeit verschiedener Zugänge wird nur am Rande erwähnt.30 Menschen mit Behinderung werden ausdrücklich nur im Kontext von Musikunterricht erwähnt.31 Im Kapitel Kulturelle Bildung und im Unterkapitel Handlungsempfehlungen im Bereich der Erwachsenenbildung wird nur an einer Stelle und beiläufig von barrierefreier Bildung gesprochen.32 Ähnlich verhält es sich in der Publikation des Deutschen 26 27 28 29 30 31 32

Vgl. Keuchel/Weil (Anm. 6), S. 5. Vgl. Keuchel/Weil (Anm. 6), S. 125. Vgl. Keuchel/Weil (Anm. 6), S. 66. Vgl. Schlussbericht der Enquete-Kommission Kultur in Deutschland (Anm. 5), S. 8, 49, 379. Vgl. Schlussbericht der Enquete-Kommission Kultur in Deutschland (Anm. 5), S. 49. Vgl. Schlussbericht der Enquete-Kommission Kultur in Deutschland (Anm. 5), S. 389. Vgl. Schlussbericht der Enquete-Kommission Kultur in Deutschland (Anm. 5), S. 404.

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Kulturrats, des Spitzenverbandes der nationalen Kulturverbände, Kulturelle Bildung – Aufgaben im Wandel.33 Auch hier finden sich keine Hinweise auf Barrierefreiheit oder Menschen mit Behinderung.

3. Resümee Die Durchsicht der wichtigsten nationalen und internationalen kulturpolitischen Stellungnahmen sowie der Infrastrukturerhebung zur kulturellen Bildung zeigt, dass die Aufgabe einer barrierefreien Vermittlung so gut wie nicht benannt und schon gar nicht eingefordert wird, auch nicht im einfachen Sinne einer allgemeinen Notwendigkeit verschiedener Zugänge zu Kunst und Kultur. Menschen mit Behinderung werden im Kontext kultureller Bildung nur dann erwähnt, wenn sich ihre Ansprüche und Bedürfnisse mit denen älterer Menschen decken. Woran dies liegen mag, ist schwer zu ergründen. Beispielsweise geht keiner der vorgestellten Texte von pädagogischen Fragestellungen aus, die den Prozess der Aneignung von Kunst und Kultur thematisieren könnten. Damit wird die für eine barrierefreie Vermittlung von Kunst und Kultur entscheidende Voraussetzung weder diskutiert noch reflektiert und in der Folge auch die Frage nach barrierefreien Ausstellungen an keiner Stelle aufgeworfen. In der Roadmap wird eine Verbesserung kultureller Bildung vor allem in der Vermittlung der Künste in den Schulen gesucht. Deswegen wird eine verbesserte Lehrerbildung angestrebt, zudem sollen Künstler in den Schulunterricht einbezogen werden.34 Eine Verbesserung kultureller Bildung durch das Engagement von Künstlern in den Schulen und in Kultureinrichtungen hat jedoch nicht zwangsläufig zur Folge, dass verschiedene Zugänge zu Kunst und Kultur entwickelt werden. Nur diese schaffen aber die Voraussetzung für eine Inklusion von Menschen mit Behinderung in der kulturellen Bildung, etwa in Museen. Eine weitere Ursache für die Marginalisierung von Menschen mit Behinderung in der kulturellen Bildung liegt in der Binnengliederung nach Zielgruppen, wie sie in der oben angeführten Infrastrukturerhebung vorgenommenen wurde. Wenn die quantitativ größten Gruppen, also Kinder, Jugendliche, Senioren oder Migranten, als Ausgangspunkt für die Erstellung von Programmen kultureller Bildung genommen werden, bleiben Menschen mit Behinderung außen vor. Der Lösungsweg für eine barrierefreie kulturelle Bildung in Museen kann auch aus diesen Gründen nicht allein in einer nach Zielgruppen differenzierenden Ausrichtung der Museumsarbeit gesucht werden. Strikt an definierten Gruppen orientierte Angebote können umgekehrt eben auch zur Separierung dieser Gruppen führen. Kulturelle Bildung sollte daher so realisiert werden, dass sie einerseits von den sehr unterschiedlichen Voraussetzungen aller Menschen ausgeht, andererseits aber dafür 33 Deutscher Kulturrat. Kristin Bäßler, Max Fuchs, Gabriele Schulz, Olaf Zimmermann (Hg.): Kulturelle Bildung. Aufgaben im Wandel, Berlin: Deutscher Kulturrat e.V., 2009, . 34 Kulturelle Bildung für Alle (Anm. 3), S. 81ff.

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sorgt, dass möglichst oft verschiedene Gruppen gemeinsam an Programmen kultureller Bildung teilnehmen können. Gerade in der kulturellen Bildung in Museen mit barrierefrei gestalteten Ausstellungen ist eine Orientierung an verschiedenen Zielgruppen denkbar, bei der zugleich ein Austausch zwischen den Teilnehmern verschiedener Besuchergruppen möglich ist. Will man die konzeptionelle Arbeit und die Umsetzung von Barrierefreiheit in Museen in Deutschland fördern, müssen auch die Förderkriterien für Museen verändert werden. Schon heute müssen Museen in England und den Niederlanden ihren Zuwendungsgebern nachweisen, ob und inwieweit es ihnen gelingt, gerade die Besuchergruppen zu gewinnen, die bisher aus unterschiedlichsten Gründen seltener ein Museum aufgesucht haben.35 Die jährlichen Zuwendungen für Museen und vor allem Sondermittel für Ausstellungen sollten daran gebunden werden, inwieweit noch zu definierende Standards für barrierefreie Museen – von der Museums- über die Ausstellungsarchitektur bis hin zu den Vermittlungsangeboten – beachtet und eingehalten werden.

35 Vgl. Léontine Meijer-van Mensch: Inspiring Learning for All als eine mögliche nachhaltige Zukunft für Museen in den Niederlanden, in: Standbein-Spielbein. Museumspädagogik aktuell 87, 2010, S. 18– 19.

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Ausstellungen für alle Menschen gleichermaßen gut zugänglich zu gestalten, ist ein ambitioniertes Ziel. Es geht um den Barrierenabbau für unterschiedliche Zielgruppen, für die sich bislang viele museale Räume kaum erschließen ließen: Menschen mit Einschränkungen in den Sinnesfunktionen Hören oder Sehen, Menschen aus einem anderen Kulturkontext, Menschen mit Lernschwierigkeiten sowie Menschen mit körperlichen Einschränkungen oder die einen Rollstuhl nutzen – die Liste der zu berücksichtigenden Bedürfnisse ist lang. Gestaltern und Kuratoren, die erstmalig mit dem Thema konfrontiert werden, kann es Angst und Bange werden, wenn Sie diesem Anspruch gerecht werden wollen, zumal sich die Zielgruppen in ihren Anforderungen häufig widersprechen. Darüber hinaus kann die Berücksichtigung aller Bedürfnisse zu dem Ergebnis führen, Inhalte auf so vielen Kommunikationskanälen anbieten zu wollen, dass sich der Aufwand in der Umsetzung, der Platzbedarf für die Inhalte und auch die Kosten erhöhen. Das soll jedoch niemanden davon abhalten, sich mit der Thematik der Barrierefreiheit in Ausstellungen zu beschäftigen und so zu dem Ergebnis zu kommen, dass auch mit Teillösungen beachtliche Erfolge erzielt werden können. Dieser Beitrag geht zurück auf die Erfahrungen des Gestaltungsbüros Franke | Steinert GbR in drei Projekten in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Technikmuseum und dem Deutschen Blindenmuseum in Berlin. Bei zwei dieser Ausstellungen war es zunächst das Ziel, Angebote für die Zielgruppe der blinden und sehbehinderten Menschen zu entwickeln. Außerdem hatten wir die Möglichkeit, an einem Leitfaden mitzuarbeiten, der sich dem Thema der Barrierefreiheit in Ausstellungen widmet und vom Deutschen Technikmuseum Berlin herausgegeben wird. In diesem Kontext haben wir erfahren, dass es für Gestalter nicht leicht ist, entsprechendes Fachwissen zu erlangen. Die Situation in der akademischen Ausbildung ist auch heute noch unzureichend. Das Thema der Barrierefreiheit hat bislang selten einen festen Platz in den Lehrplänen der Bachelor- und Masterstudiengänge, Studiengängen für kuratorische Praxis, für Museumskunde, für Ausstellungsdesign oder Szenografie.1 Mittlerweile werden Tagungen und Symposien zu den Themen Universal Design und „Design für alle“ veranstaltet2, 1 Positive Beispiele finden sich in Studiengängen für Informationstechnologie, u.a. in Middlesex und in Linz. 2 Organisationen, die mit dieser Thematik befasst sind, sind u.a. International Association for Universal Design (IAUD) in Japan, das Netzwerk EIDD – Design for All Europe und Universal Design e.V.

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es werden auf Fachmessen vereinzelt praktikable Lösungen vorgestellt, Institutionen veranstalten interne Workshops zum Erfahrungsaustausch und zur Fortbildung. Der Großteil der Forschung und der präsentierten Lösungen bezieht sich jedoch auf die Bereiche Produktentwicklung, Architektur sowie auf Mediengestaltung und Medieninterfaces. Speziell für die Gestaltung von Ausstellungen gibt es noch wenige Publikationen.3 Es gibt jedoch einige Ausstellungen, für die neue und wegweisende Lösungen entwickelt wurden.

1.  Der Leitfaden „Barrierefrei Konzipieren und Gestalten“ Der Leitfaden ist eine Handreichung des Deutschen Technikmuseums Berlin4 und wird seit 2008 an interne und freie Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Museums ausgegeben. Die kleine Publikation ist Teil des vierteiligen Projektes „Ein Museum für Alle“5, für das wir als Gestaltungsbüro vom Deutschen Technikmuseum Berlin beauftragt wurden. Der Leitfaden formuliert wichtige Grundsätze von der Konzeption über die Gestaltung und Orientierung bis zur Vermittlung von Ausstellungen, ist praxisorientiert und reich bebildert. Eine Übersicht der Maße und Werte zur Raum- und Textgestaltung findet sich hier ebenso wie ein umfangreicher Anhang mit weiterführenden Kontakten. Der Leitfaden formuliert folgende Mindestanforderungen an barrierefreie Ausstellungen: „1. Die Ausstellung spricht in ihrer Gesamtheit mehrere Sinne an. 2. Zentrale Ausstellungsinhalte, Objekte und Vermittlungsmittel sind immer je über mindestens zwei der drei Sinne, den Seh-, Hör- und Tastsinn, erfahrbar und mit dem Rollstuhl zugänglich und einsehbar. 3. Es gibt zumindest eine Rundgangsmöglichkeit durch die Ausstellung, die inhaltlich und gestalterisch barrierefrei ist. 4. Texte sind kurz und sowohl nach inhaltlichen als auch gestalterischen Kriterien leicht zu lesen. 5. Die Ausstellung bietet Möglichkeiten der Interaktion an, die unterschiedliche Sinne ansprechen. 6. Angebote für Kinder (speziell geeignete Objekte, Hands-on, Texte, didaktische Stationen etc.) sind in die Ausstellung integriert und deutlich gekennzeichnet. 7. Technik, die von den Besuchern und Besucherinnen genutzt werden soll (beispielsweise Audioguides, Bedienknöpfe, Hands-on-Angebote) berücksichtigt die Ansprüche eines ‚universellen Designs‘. 8. Die Ausstellungsgestaltung berücksichtigt Kriterien der Barrierefreiheit insbesondere in Bezug auf Textgestaltung, Farb- und Beleuchtungskonzept, Sichthöhen und Bewegungsfreiheit. 9. Im Begleitprogramm gibt es Angebote, 3 Ein gutes Beispiel ist das Handbuch Patrick S. Föhl, Stefanie Erdrich, Hartmut John, Karin Maaß (Hg.): Das barrierefreie Museum. Theorie und Praxis einer besseren Zugänglichkeit. Ein Handbuch, Bielefeld: transcript, 2007. 4 Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin: Barrierefrei Konzipieren und Gestalten. Leitfaden für Ausstellungen im Deutschen Technikmuseum Berlin, 2008. 5 Das Projekt „Ein Museum für Alle“ wurde am Deutschen Technik Museum Berlin von 2006–2010 von Anna Döpfner konzipiert und unter der Mitarbeit von Svenja Gaube realisiert, unterstützt mit Mitteln des Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE).

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die (auch) für Menschen mit Behinderungen geeignet sind. Diese Angebote werden in Informationsmaterialien als barrierefrei gekennzeichnet. Die Kommunikationsarbeit richtet sich gezielt auch an Menschen mit Behinderungen. 10. Die Kolleginnen und Kollegen in den Ausstellungen und im Servicebereich sind auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Gäste vorbereitet und stellen sich darauf ein.“6

2.  Empfehlungen und Herangehensweisen Die Empfehlungen zur Ausstellungskonzeption beschäftigen sich mit der zielgruppenorientierten Zugänglichkeit und Abfolge der präsentierten Inhalte. Blinde Menschen brauchen eine klare Streckenführung, die keine komplexen Routen enthalten sollte. Menschen im Rollstuhl brauchen gute Durchfahrtswege. In jedem thematischen Block sollte es spezielle Angebote geben, seien es Tastmodelle, Reliefs, Repliken, Möglichkeiten zum Sitzen oder zum Hören. Bei großen Ausstellungen oder bei Museumsneugestaltungen ist auch die Integration eines eigenen Rundgangs mit speziellen Angeboten möglich, d.h. ein eigens gekennzeichneter Weg führt durch die Ausstellung direkt zu den barrierefreien Angeboten, ggf. mit einer reduzierten Auswahl an Exponaten und Inhalten. Schon bei den ersten Grundrissplanungen sollten diese Möglichkeiten bedacht und berücksichtigt werden. Weitere Themen sind die Textgestaltung, die Texthierarchie und die Frage, welche Sprachen in Texten und Medien integriert werden können: deutsch, englisch, Brailleschrift, Leichte Sprache und Gebärdensprache. Alle Sprachen zu bedienen, ist nicht unmöglich, muss aber im Hinblick auf die Grenzen der Gestaltungsmöglichkeiten sorgfältig geprüft werden. Welche Inhalte werden als Ausstellungstexte vermittelt und in den relevanten Sprachen und Schriftarten angeboten? Welche Inhalte gibt es nur auf zusätzlichem Informationsmaterial? So können z.B. Wandtexte im Ausstellungsraum in deutscher und englischer Sprache und zusätzlich auf Texttafeln in Brailleschrift angebracht werden. Welche Inhalte eigenen sich gut für die Präsentation mit Hilfe eines Audioguides und sind unter Umständen nur über diesen abrufbar? Welche zusätzlichen Gestaltungsmöglichkeiten bieten die Präsentation auf der Webseite und das Begleitprogramm? Der Einsatz von Audioguides bietet vielseitige Möglichkeiten, hat jedoch auch Grenzen der Bedienbarkeit. Eine Historikerin aus Japan verlangt nach ausführlichen Informationen in ihrer Sprache, ein blinder Besucher hingegen möchte sich neben den Informationen zur Ausstellung im Raum orientieren können und zu den Exponaten oder Repliken geführt werden, die er dann auch anfassen darf. Geräte mit TouchScreen-Oberfläche bieten zwar eine Vielzahl von Darstellungsmöglichkeiten, können von blinden Menschen aber praktisch nicht bedient werden.

6 Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin (Anm. 4), S. 6f.

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Ein weiteres zentrales Thema ist das Anfassen und Ertasten von Objekten im Museum. Das war so lange ein Tabu, bis für jüngere Besucher Hands-on-Modelle eingeführt wurden. Auch blinde Menschen können solche modifizierten Modelle nutzen. Für die Orientierung im Raum sind Übersichtpläne und Tastmodelle wertvoll. Solche Pläne, ansprechend gestaltet und gut auffindbar platziert, sind für alle Besucher eine Bereicherung und helfen einzuschätzen, wie man sich am besten in der Ausstellung bewegt und für welche Inhalte man sich interessiert. Die Wegeführung mit Hilfe eines Audioguides kann den Übersichtsplan ergänzen.

3.  Die Ausstellung „Sechs Richtige! Louis Braille und die Blindenschrift“ Die Ausstellung „Sechs Richtige!“ wurde initiiert vom Deutschen Blindenmuseum in Berlin-Steglitz anlässlich des 200. Geburtstages von Louis Braille, dem Erfinder der Punktschrift für blinde Menschen.7 „Sechs Richtige!“ handelt von der Erfindung und der Verbreitung der Punktschrift vom 18. Jahrhundert bis heute. Exponate sind Bücher, Schreibhilfen und Schreibmaschinen sowie historische und aktuelle Lern- und Hilfsmittel für blinde Menschen. Die Ausstellung auf einer Fläche von 100 Quadratmetern bietet einen hohen Grad an Barrierefreiheit insbesondere für blinde und sehbehinderte Menschen und vielfältige Interaktionsmöglichkeiten. Das Ziel der Ausstellungsmacherinnen und -macher ist, dass blinden Menschen sämtliche Ausstellungsinhalte und Exponate zugänglich gemacht werden und sie sich möglichst ohne fremde Hilfe in der Ausstellung bewegen können. Von dem großen Angebot an haptischen Mitmachstationen profitieren alle Besucherinnen und Besucher. Die Ausstellung ist außerdem durch unterfahrbare, auf niedriger Ebene einsehbare Vitrinen und Tische problemlos für Menschen im Rollstuhl zugänglich. Für gehörlose Menschen gibt es leider kein spezielles Angebot an Führungen in Gebärdensprache. Auf der Webseite zur Ausstellung wird jedoch eine Übersetzung der Ausstellungstexte in Leichter Sprache angeboten. Elemente der Ausstellung: Die Ausstellung besteht aus fünf Wandtafeln mit Ausstellungstexten und Bildern, acht unterfahrbaren und von den Besuchern zu öffnenden Vitrinen, einem großen Wandbild mit Zeittafel, insgesamt drei Monitoren mit Filmbeiträgen, einem Interaktionstisch mit fünf Spielstationen, an dem etwa zehn Personen Platz finden, einem weiteren Spieltisch, an dem man mit Schwarzbrillen Mensch-ÄrgereDich-Nicht spielen kann, einem freistehenden Schaukasten, einer kleinen Punktschriftbibliothek mit aktuellen Zeitungen und einer Ausgabe aller Harry-Potter-Bände, vier

7 Die Beschreibung bezieht sich auf die Ausstellung, die vom 17. September 2009 bis 10. Januar 2010 in den Räumen des Museums für Kommunikation Berlin () gezeigt wurde. Danach wurde die Ausstellung vom Deutschen Blindenmuseum Berlin () übernommen. Kuratorin ist Friederike Beyer, Deutsches Blindenmuseum Berlin; Gestaltung und Produktion lag bei Franke | Steinert GbR, Berlin. Die Ausstellung ist u.a. mit Mitteln der Aktion Mensch gefördert worden.

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weiteren Tast- und Mitmachstationen sowie drei in Wände eingelassene Monitore mit Kopfhörern. Umsetzung der Barrierefreiheit für blinde Menschen: Nicht alle blinden Menschen beherrschen die Brailleschrift. Bei der Umsetzung der Barrierefreiheit ist daher immer ein zweites Angebot von Informationen in Brailleschrift und in Audioform notwendig. Das erste Informationsmedium für den Besuch der Ausstellung ist die barrierefreie Webseite, die in Zeitschriften, Foren und Newslettern beworben wurde. Möchten blinde Menschen die Ausstellung besuchen, finden sie auf der Webseite eine Wegbeschreibung für die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und die Gehstrecken zum Museum. Bei Bedarf können sie sich die zum Audioguide gehörenden Dateien herunter laden, um sie auf dem eigenen MP3-Player abzuspielen. Im Museum angelangt, wird ihnen am Infotresen der Audioguide angeboten, welcher sich auf leicht zu bedienenden iPod Shuffle befindet, die kein visuelles Display haben. Außerdem stehen die Ausstellungstexte vollständig als Punktschriftausgabe zur Verfügung. Bei Betreten des Ausstellungsraumes stoßen die Besucher zunächst auf einen in Punktschrift beschrifteten Tastplan, der eine Raumübersicht vermittelt. In Kombination mit dem Audioguide ist die Orientierung im Raum leicht möglich. Der Audioguide enthält alle Ausstellungstexte und gibt zudem präzise blindengerechte Anweisungen zur Orientierung im Raum. Die unterschiedlichen Informationen werden von einer männlichen und einer weiblichen Stimme gesprochen. So können Sehende einfach die Orientierungshinweise überspringen. Wichtig ist, dass auf dem Audioguide alle Informationen und nicht bloß Kurzfassungen geliefert werden. So werden auch alle Einträge auf der Zeitleiste vorgelesen. Eine gute Dateistruktur ermöglicht das Überspringen von Inhalten, ohne die Orientierung zu verlieren. Vitrinen: Am Infotresen wird blinden Menschen ein Schlüssel ausgehändigt, mit dem sie die Vitrinen öffnen dürfen, um Exponate zu betasten. Die Vitrinen haben verschiebbare Glastüren und ein gut aufzufindendes Schloss. Ein paar wenige empfindliche Exponate, die nicht angefasst werden sollten, stehen als Replikate zu Verfügung. Hierfür sind die Vitrinen mit Schubladen ausgestattet, in denen die Repliken und die Exponatlegenden als Punktschriftausdruck bereit liegen. Unserer Erfahrung nach sind blinde Menschen vorsichtig und richten weder Schaden noch Unordnung in der Vitrine an; dennoch müssen die Vitrinen regelmäßig kontrolliert werden. Die Vitrinen sind eine Sonderanfertigung, die für diese Ausstellung entworfen wurden. Interaktive Elemente: Neben den Vitrinen und Texten bietet die Ausstellung zahlreiche Mitmachangebote, wie z.B. ein übergroßes Punktschriftalphabet zum Abtasten, eine Tastbox mit haptischen Schriftproben, eine Punktschriftschreibmaschine zur freien Benutzung, einen Computer mit angeschlossener Braillezeile und einen Brettspieltisch mit Schwarzbrillen. Ein wichtiges Element der Ausstellung ist ein großer Tisch mit diversen Spiel-, Knobel- und Schreibangeboten: Wie viele Möglichkeiten können mit vier bzw. sechs Kugeln gelegt werden? Wie schreibt man Punktschrift auf einer Schreibtafel? Welcher meiner Finger ist am empfindlichsten? Wie gut ertastet man die Barbier- und die Brailleschrift im Vergleich? Diese Stationen sind nicht nur für blinde

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Abbildung 1 Blick in die Ausstellung „Sechs Richtige! Louis Braille und die Blindenschrift“ im Museum für Kommunikation Berlin. Foto: Franke | Steinert GbR, Berlin.

Abbildung 2 Die Vitrinen können von blinden Menschen zum Ertasten der Exponate geöffnet werden. In der Schublade finden sie den Vitrinentext in Punktschrift sowie zwei Replikate von Exponaten in der Vitrine, die nicht angefasst werden dürfen. Foto: Franke | Steinert GbR, Berlin.

Abbildung 3 Der Mitmachtisch stellt Angebote bereit, die das Verständnis vertiefen: Wie viele Kombinationen können aus sechs Kugeln (Punkten) gelegt werden? Wie schreibt man Brailleschrift? Foto: Franke | Steinert GbR, Berlin.

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Menschen attraktiv, sondern werden durch alle Altersgruppen hinweg von allen Besuchern sehr gut angenommen. Das Rahmenprogramm zur Ausstellung beinhaltet altersgruppenspezifische Mitmachangebote sowie sonntägliche Ausstellungsführungen durch blinde Mitarbeiter. Die Ausstellung um die sechs Punkte zieht inzwischen weite Kreise. Viele blinde und sehbehinderte Menschen, denen normalerweise wenige museale Angebote zur Verfügung stehen, reisten aus weiten Teilen Deutschlands an, um die Ausstellung zu besuchen. Reisegruppen hinterließen überschwängliche Einträge im Gästebuch. An Barrierefreiheit interessierte Fachbesucher, Ausstellungsmacher und Architekten auch aus dem Ausland besichtigten diese in ihren Details innovative Form des Ausstellens. Die Verweildauer in der Ausstellung war hoch, vermutlich weil zahlreiche Sitzmöglichkeiten genutzt und die integrierten Mitmachstationen ein integratives Vermittlungsangebot möglich machten. Insbesondere Schulklassen haben die Ausstellungsangebote und Veranstaltungen genutzt. Barrierefreie Angebote erschließen nicht nur neue Zielgruppen, sondern bieten auch ein erweitertes Ausstellungserlebnis für alle.

4.  Infothek im Deutschen Technikmuseum Berlin als barrierefreier Informationsbereich Unter dem Arbeitstitel „Ein Museum für Alle“ legte die Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin8 ein dreijähriges Projekt zur Verbesserung der Barrierefreiheit im Museum auf. In diesem Kontext entstand 2006 die Ausstellung „Fühlen, Hören, Sehen – 200 Jahre Blindenbildung in Berlin“, welche weitgehend barrierefrei für blinde und sehbehinderte Menschen gestaltet wurde und schon mit Vitrinen, die von Besuchern geöffnet werden konnten, ausgestattet war. Zu dem Projekt gehörten auch die Entwicklung des Leitfadens „Barrierefrei Konzipieren und Gestalten“ sowie die Gestaltung eines barrierefreien Internetauftritts und die Konzeption einer barrierefreien Infothek. Die Infothek ist die erste Anlaufstation der Ausstellungsbesucher, die hier allgemeine Informationen über das Museum und zur Orientierung im Haus und auf dem weitläufigen Gelände erhalten. Das Museumsgelände mit seinen 25.000 Quadratmetern stellt besondere Anforderungen an die Gestaltung von Orientierungshilfen. Struktur und Elemente der Infothek: Die Infothek gibt Auskunft zu Fragen der Besucher, wie z.B. „Was kann ich hier machen?“, „Welche Ausstellungen gibt es?“, „Wo finde ich die Ausstellungen?“, „Wie kann ich die Ausstellungen erkunden?“, „Wie kann ich Museumsobjekte verstehen?“. Die Infothek bietet damit fünf Elemente, die eine Einführung in das Museum mit seinen vielseitigen Angeboten geben. Bei dem ersten Element handelt es sich um Bild- und Textmotive in Leuchtkästen, die illustrieren, was im Museum erfahren und gemacht werden kann. Damit verbunden läuft eine Tonspur, die z.B. mit Worten wie „Lesen“, „Fachsimpeln“, „Ausruhen“ 8 .

Barrierefrei ins Museum

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Auskunft auf die Frage „Was kann ich hier machen?“ gibt. Die Sinne Sehen und Hören werden gleichermaßen angesprochen. Das zweite Element „Welche Ausstellungen gibt es?“ stellt die 14 Abteilungen des Museums vor. Auf einem langen, unterfahrbaren Tresen stehen Modelle von zentralen Museumsexponaten, wie z.B. ein Schiff, eine Lokomotive, ein Computer oder ein Koffer. Die zunächst aus Ton geformten Objekte wurden für den dauerhaften Einsatz nachgebildet. Die Modelle sind haptisch attraktiv und wirken weich und handgeformt, gleichwohl sind sie robust und hochwertig produziert. Die 14 Modelle ermöglichen blinden Menschen, eine Vorstellung über die Art der Exponate zu entwickeln, und geben einen Überblick über das umfangreiche Spektrum des Museums. Die Beschriftung der Objekte erfolgt in Deutsch, Englisch und in deutscher Brailleschrift. Auf Knopfdruck ertönt ein Geräusch, welches mit dem Exponat in Verbindung steht (z.B. Schiffshupe, Betriebsgeräusch einer Nähmaschine). Hier werden die Sinne Fühlen, Hören und Sehen angesprochen. Zum Thema „Wo finde ich die Ausstellungen?“ ist als drittes Element an der Wand hinter den Modellen ein aus verschiedenen Hölzern gefertigter Tastplan im Format 280 x 90 cm. Dieser Plan gibt einen Überblick über das gesamte Gelände. Die einzelnen Gebäudeteile unterscheiden sich durch die verschiedenen Holzsorten visuell und auch haptisch. Einzelne Teile haben unterschiedliche Höhen. Die Anzahl der Stockwerke ist durch seitlich eingefräste Rillen angedeutet. Die Beschriftungen in Deutsch, Englisch und in Brailleschrift stehen auf den Gebäudeteilen und in einer Legende unter dem Plan. In der Legende sind die Tastmodelle in der Form von Icons nachgebildet, um eine Zuordnung zwischen Exponaten und ihrem Ort und ihrer Lage im Gebäude zu ermöglichen. Anhand des Tastplanes können Besuchergruppen entscheiden, welche Route gelaufen werden soll, und er ermöglicht blinden Menschen, das komplexe Gelände tastend zu verstehen. Menschen im Rollstuhl können den Wandplan nur teilweise ertasten. In den Vorüberlegungen waren grundsätzliche Entscheidungen zu treffen, z.B. ob der Plan als Wandmontage oder als Tischfläche gestaltet werden soll und in welchem Maßstab und in welchen Proportionen er am besten zu erfassen ist. Hierfür haben wir von blinden Menschen 1:1-Modelle aus Pappe testen lassen und kamen zu dem Ergebnis, dass ein Plan die Spannweite ausgestreckter Arme zwar nicht übersteigen sollte, es in diesem Fall aber nicht anders möglich ist. Daher wurde in die Legende eine Miniatur des Plans aufgenommen, damit die Gesamtform des Gebäudes besser nachzuvollziehen ist. Das vierte Element gilt der Frage: „Wie kann ich die Ausstellungen erkunden?“ Ein Plan, der im gleichen Format wie der Tastplan gestaltet ist, schlägt drei nach Themen geordnete Wegeführungen vor: Technik und Mensch, Technik und Krieg, Technik und Natur. Auf allen drei Wegen sind weitere barrierefreie Angebote vorzufinden. Damit blinde Menschen sich ebenfalls diese Wege aneignen können, liegt die Information zur Mitnahme als Brailleschriftdruck und für Sehende als Flyer aus.

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Vera Franke

Abbildung 4 Blick auf die Infothek im Deutschen Technikmuseum Berlin. Die Tastmodelle im Vordergrund stehen für typische Exponate der einzelnen Abteilungen des Museums. Foto: Franke | Steinert GbR, Berlin.

Abbildung 5 Das Radio steht für die Abteilung Nachrichtentechnik. Auf Knopfdruck ertönt das Geräusch einer Frequenzsuche. Foto: Franke | Steinert GbR, Berlin.

Abbildung 6 Der Tastplan aus Holz ermöglicht blinden und sehenden Menschen, das Museumsgelände besser zu begreifen. Foto: Franke | Steinert GbR, Berlin.

Abbildung 7 In der Legende zum Tastplan tauchen die Gegenstände der Tastmodelle wieder auf und werden einzelnen Räumen im Gebäude zugeordnet. Foto: Franke | Steinert GbR, Berlin.

Barrierefrei ins Museum

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Das letzte Element geht auf die Frage ein, wie man sich mit den ausgestellten Objekten beschäftigen kann. Am Beispiel einer Nähmaschine und eines Computers werden – auch in Leichter Sprache – fünf Fragen zu jedem Objekt in schriftlicher oder akustischer Form gestellt. Die Infothek ist durch ihre exponierte Lage und einladende Gestaltung ein Anziehungspunkt. Vorbeilaufende Schulklassen bleiben förmlich mit ihren Händen an den Tastmodellen hängen. Aufmerksame Kinder interessieren sich sofort für die fremde Brailleschrift. Die Infothek ist für alle Besucher gleichermaßen attraktiv und trägt keinesfalls den Stempel „behindertengerecht gestaltet“. Sie macht auf die unterschiedlichen Bedürfnisse und Kommunikationsformen aufmerksam und bietet für alle einen Mehrwert durch die Ansprache verschiedener Sinne. Modelle oder Exponate zum Anfassen, funktionale Audioguides und Hörstationen, Angebote zum Ausruhen und zum Mitmachen, verständliche Texte, angemessene Schriftgrößen, deutliche Kontraste und vor allem die Ansprache mehrerer Sinne machen eine Ausstellung abwechslungsreich und ermöglichen allen Besuchern eine bessere Informationsaufnahme. Unabdingbar ist die Berücksichtigung der Barrierefreiheit bereits in der Konzeptionsphase der Ausstellung. In der Ausarbeitung von barrierefreien Angeboten empfehlen wir die Zusammenarbeit mit Behindertenverbänden, deren Mitglieder die Angebote im Vorhinein begutachten und testen können. Nicht nur bei den Kuratorinnen und Kuratoren, schon in der Lehre und Ausbildung, unter Ausstellungsmachern und in der Fachpresse müssen die Chancen von barrierefreiem Konzipieren, Planen und Gestalten stärker, als dies bislang geschieht, wahrgenommen werden.

Ursula Wallbrecher

Nicht „nur“ rollstuhlgerecht … Barrierefreiheit planen und umsetzen. Ein Erfahrungsbericht aus dem Landesmuseum Mainz

Das Landesmuseum Mainz gehört zu den ältesten Museen in Deutschland. Seine Sammlungen gehen auf eine napoleonische Schenkung von 1803 zurück. Diese Schenkung von 36 Gemälden an die Stadt Mainz führte zur Gründung der Städtischen Galerie, die im 20. Jahrhundert mit den Beständen der „Antiquitätenhalle“ zusammengeführt und im Gebäude des 1766/67 erbauten Kurfürstlichen Marstalls untergebracht wurde. Ein Flügel des U-förmigen, von drei Straßen umgebenen Gebäudekomplexes wurde erst in den 1970er Jahren angefügt. In diesen Gebäudeteilen wird die ständige Ausstellung gezeigt. Der U-förmige Komplex wird nach oben durch die ehemalige Reithalle des Kurfürsten abgeschlossen, in der künftig große Wechselausstellungen gezeigt werden. Im Innenhof stehen Skulpturen und Bäume. Er eignet sich hervorragend für Feste, und im Sommer kann man hier herrlich und, ohne vom Straßenlärm gestört zu werden, ein Café besuchen. Heute umfassen die Sammlungen des Landesmuseums Mainz eine Zeitspanne von der Vorgeschichte bis in die Gegenwart mit nahezu allen Kunstgattungen.1

1.  Angebote für mobilitätseingeschränkte Besucher Die Tatsache, dass sich die Abteilungen des Museums – vom Frühen Mittelalter über Renaissance, Barock, Biedermeier, Jugendstil bis hin zur Kunst der Moderne – auf mehrere Flügel aus verschiedenen Jahrhunderten verteilen, lässt bereits vermuten, dass ursprünglich Barrierefreiheit im baulichen Sinne nicht gegeben war. Tatsächlich hatte das Haus zwar von Anfang an einen stufenfreien Eingang, aber die verschiedenen Geschosshöhen der Gebäudeteile waren immer schon ein Grundproblem dieses Gebäudekomplexes. Vor wenigen Jahren wurde das sanierungsbedürftige Ensemble einem umfassenden Umbau unterzogen, der neben anderen Anforderungen erklärter1 Zu den Sammlungen des Museums und zu Sonderausstellungen sind Kataloge erschienen, die man im Museumsshop des Landesmuseums Mainz und über den Buchhandel beziehen kann .

Barrierefreiheit planen und umsetzen

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maßen auch ein Ziel hatte, welches das Land Rheinland-Pfalz sich besonders auf seine Fahnen geschrieben hat: die Barrierefreiheit. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde ein Sachverständiger für barrierefreies Bauen an der Planung und Ausführung der Baumaßnahmen beteiligt.2 Unter Beachtung der DIN-Norm für barrierefreies Bauen3 wurde in Zusammenarbeit von Architekten, Fachingenieuren und dem gesamten Museumsteam ein Konzept entworfen, dessen Ausführung schließlich ein Höchstmaß an Barrierefreiheit für mobilitätseingeschränkte Menschen zum Ergebnis hat. So vermitteln Rampen mit einem Steigungswinkel von höchstens sechs Prozent zwischen den baulich bedingten Geschossunterschieden. Wo der Platz für eine Rampe mit so geringer Steigung nicht ausreichte, wurde ein Treppenlift eingebaut, der mit einem Europa-Schlüssel4 zu bedienen ist. Die Etagen des Gebäudes werden durch Aufzüge erschlossen, die zum Teil mehrere große Straßenrollstühle aufnehmen können. Die Taster, die auf der für Rollstuhlnutzer erreichbaren Höhe angebracht sind, sind mit Brailleschrift versehen, und die einzelnen Etagen werden über eine Sprachausgabe angesagt. Die Türen im Haus sind kraftverstärkt, d.h. sie öffnen sich nach Betätigung eines Schalters automatisch. Es gibt zwei Behinderten-Toiletten, von denen eine mit einem höhenverstellbaren Toilettenbecken ausgerüstet ist. Alle Touchscreens sind von Rollstühlen unterfahrbar und lassen sich leicht auf die gewünschte Neigung einstellen. Auch die meisten Tischvitrinen und Hands-on-Modelle sind unterfahrbar. Darüber hinaus gibt es einen Leihrollstuhl sowie Klappstühle, die auch als Gehhilfen genutzt werden können; im Ausstellungsbereich sind Sitzbänke aufgestellt. Täglich lässt sich im Museumsbetrieb beobachten, dass diese Einrichtungen nicht nur für die Personengruppe der Behinderten von Interesse sind, sondern auch für alle anderen Besucher, besonders für Familien mit Kinderwagen oder Senioren. Mit den bereits erwähnten Hands-on-Modellen, also Elementen, bei denen ein „Begreifen“ nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht ist, hatte das Museum schon seit einigen Jahren gute Erfahrungen gemacht. Diese Objekte sollen auf spielerische Art und Weise Informationen vermitteln und werden nicht nur von blinden Besuchern genutzt. So gibt es in der Abteilung „Jugendstil“ mehrere Glasvasen, auf denen verschiedene Glastechniken ertastet werden können, und in der Abteilung „Spätes Mittelalter“ ein Modell der Werkbank eines Holzbildhauers, auf der eine spätmittelalterliche Madonnenskulptur mit dem Christuskind eingespannt ist, das angefasst werden darf.

2 Für wichtige Hinweise zu den Planungsgrundlagen und zur Bauausführung danke ich dem beteiligten Sachverständigen, Dipl.Ing. (FH) Heinrich Mockenhaupt, Klein-Winternheim. 3 DIN 18040-1, Barrierefreies Bauen – Planungsgrundlagen, Teil 1: Öffentlich zugängige Gebäude. Berlin: Beuth, 2010 [ersetzt DIN 18024–2:1996–11]. 4 Seit 1986 sind fast alle Behinderten-Toiletten an den Raststätten und Tankstellen der Autobahnen und viele öffentliche Toiletten in Städten, Gemeinden, Universitäten, Freizeitanlagen, Kaufhäusern und öffentlichen Gebäuden in Europa mit der „Euro-Behinderten-WC-Schließanlage“ ausgestattet, für die bei den meisten Städten und Gemeinden bei Nachweis einer Behinderung ein sog. EuropaSchlüssel erworben werden kann.

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Ursula Wallbrecher

2.  Angebote für blinde und sehbehinderte Besucher Blindenleitstreifen: Als der Umbau des Landesmuseums Mainz geplant wurde, gehörte zu diesem Plan auch die Umgestaltung der Eingangshalle. In diesem Zusammenhang wurde ein schmuckvoller Marmorfußboden verlegt, bestehend aus weißen, roten und dunkelgrauen Rauten, so dass ein Würfelmuster entstand. Die Beschreibung dieses Fußbodens ist deswegen wichtig, weil aufgrund seiner Prächtigkeit in Material und Muster sowohl dem Architekten als auch der Leitung des Hauses besonders daran gelegen war, den Eindruck dieses Bodens nicht zu verändern. Der Wunsch des Sachverständigen, blinden Menschen, die an der Kasse mit einem Audioguide für Blinde und Sehbehinderte ausgestattet werden sollten, den Weg zur Kasse durch einen vom Langstock ertastbaren Blindenleitstreifen zu ermöglichen, stieß zunächst auf Ablehnung. Nach zähen Verhandlungen wurde schließlich erlaubt, den Boden zu bearbeiten. Das äußerste Zugeständnis bestand dann darin, drei jeweils drei Millimeter breite, flache Nuten in Streifenform in den Marmorboden fräsen zu lassen. An der Stelle, an der sich der Besucher zur Kasse nach rechts zu wenden hat, sollte ein Aufmerksamkeitsfeld entstehen, in dem drei solche Einfräsungen die anderen kreuzten. Wir hatten zu der Zeit noch nicht die Erfahrung, die wir heute haben. Deswegen haben wir keine Bemusterung gefordert, die auch von Betroffenen hätte geprüft werden können. So hat sich das Ergebnis im Museumsbetrieb für blinde Besucher als nicht zufrieden stellend erwiesen. Mit dem Langstock lassen sich die schmalen und flachen Rillen nicht ertasten. Es muss also nachgebessert werden. Zusammen mit dem Landesbetrieb Liegenschafts- und Baubetreuung wird nun nach einer Alternative gesucht, die vor ihrer Ausführung durch blinde Experten mit verschiedenen Typen von Langstöcken überprüft werden soll. Da die beschriebenen Linien nicht kontrastreich genug sind, bieten sie auch sehbehinderten Menschen keine Orientierungshilfe zum Erreichen der Kasse. Aus diesem Grund ist geplant, unterhalb des Kassentresens ein stärkeres, blendfreies Licht einbauen zu lassen. Dieses Licht kann von Sehbehinderten wahrgenommen werden und dient als Führung zur Kasse. Audioguide-Führungen: Da die Angebote für behinderte Menschen im Landesmuseum Mainz nicht nur auf Projektbasis vorgehalten werden sollten, wurde für Blinde und Sehbehinderte eine Audioguide-Führung in Auftrag gegeben. Für diese Aufgabe wurde Hörfilm e.V. – Vereinigung deutscher Filmbeschreiber, ein Zusammenschluss professioneller sehender und blinder Filmbeschreiber, gewonnen, dessen Partner öffentlich-rechtliche Fernsehanstalten sind.5 Die Audiodeskriptionen wurden bereits im Entstehungsprozess von blinden und sehbehinderten Besuchern evaluiert. Folienbücher: Eine Projektgruppe, zu der neben Mitarbeiterinnen des Museums auch eine geburtsblinde, eine spät erblindete und eine sehbehinderte Teilnehmerin gehörten, hat ein Konzept für ein Reliefbuch, also ein Buch mit ertastbaren Relieffolien,

5 .

Barrierefreiheit planen und umsetzen

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erarbeitet, das von der Deutschen Blindenstudienanstalt e.V. (blista)6 realisiert wurde. Das Buch enthält Folien zur Fassade des Hauses und dem sich auf seinem Dach aufbäumenden goldenen Ross sowie einen ertastbaren Plan des Auftaktraumes des Museums und Texte in Braille- und Großschrift zu den Hands-on-Modellen, von denen es allein in diesem Raum fünf gibt. Im Laufe der Arbeit der Projektgruppe entstand der ehrgeizige Plan, auch Gemälde durch ertastbare Relieffolien für Blinde und Sehbehinderte zugänglich zu machen. Zusammen mit der blista wurde ein didaktisches Konzept entwickelt für ein Folienbuch zu dem Gemälde „Frauenkopf (1908)“ von Pablo Picasso und schließlich noch eines zu einem Gemälde der Renaissance: Lorenzo di Credi, Madonna mit dem Christuskind (Ende 15. Jahrhundert). Kontraste: Nicht in jedem Fall ist es gelungen, Kontrastreichtum und Schriftgröße der Objektbeschriftungen ausreichend auf die Bedürfnisse von Sehbehinderten hin auszurichten. Die kunstästhetischen Ansprüche eines Museums sind nicht immer leicht mit diesen Anforderungen zu verbinden: Wenn Objektbeschriftungen neben einem Kunstwerk zu groß geraten, können sie beispielsweise den sehenden Besucher vom Betrachten des Kunstwerks ablenken. Auf den Touchscreens, den Monitoren, auf denen Hintergrundinformationen abgerufen werden können, ist es aber möglich, die Schrift zweistufig zu vergrößern, und es lässt sich auf eine kontrastreiche Invers-Darstellung umschalten, bei der die Darstellung „umgekehrt“, also mit heller Schrift auf dunklem Grund erscheint. Der Wunsch, für Blinde und Sehbehinderte einen selbstbestimmten, das heißt einen Besuch des Museums ohne Begleitung zu ermöglichen, konnte leider nicht erfüllt werden. Dafür hätte ein Blindenleitsystem installiert werden müssen, das wiederum nach Meinung der Kunsthistoriker sehende Besucher vom Betrachten der Kunstwerke abgelenkt hätte. Aber es ist doch gelungen, mit der Akzeptanz von Blindenführhunden, der Schulung des Aufsichtspersonals und den Audiodeskriptionen eine größtmögliche Selbstständigkeit zu gewährleisten.

3.  Videoguides für gehörlose Besucher Ein Thema, dem man bislang im kulturellen Bereich und insbesondere in Museen wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat, ist die Wissensvermittlung an gehörlose Menschen. Die Vorstellung, ein gehörloser Mensch könne doch lesen, bedürfe also einer besonderen Informationsvermittlung nicht, stellt nicht in Rechnung, dass die Lautsprache – und die auf diese bezogene Schriftsprache – für Gehörlose in der Regel die Zweitsprache darstellt und als solche häufig Rezeptionshindernisse bietet. Diese Gruppe ist damit weitgehend von den Bildungs- und Informationsangeboten ausgeschlossen. Angebote und Führungen in Deutscher Gebärdensprache (DGS) können meist nicht realisiert werden, weil wohl nur in Ausnahmefällen ein Museumsmitarbeiter diese Sprache 6 .

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Ursula Wallbrecher

beherrscht. Um auch für gehörlose Besucher feste Angebote zu machen, wurden für das Landesmuseum Mainz auf Handhelds Videos in DGS produziert. Wie unsere Recherchen im Vorfeld bei Interessenverbänden Gehörloser gezeigt haben, wird ein solches Angebot von Betroffenen nur dann akzeptiert, wenn es auch von Betroffenen hergestellt ist. Mit der Firma Gebärdenwerk Hamburg7 fand sich ein Hersteller, bei dem diese Voraussetzung gegeben ist. Das Ergebnis sind fünf Handhelds, also kleine, in einer Hand tragbare Geräte, auf denen Videos in Fernsehqualität Führungen zu den Highlights des Hauses in DGS darbieten.8 Darüber hinaus ist geplant, alle Texte des Museums auch in Leichter Sprache anzubieten – ein Angebot, das sicherlich nicht nur für gehörlose Menschen von Interesse sein wird.

4. Erfahrungen Abschließend sollen einige Erfahrungen, welche die Mitarbeiter des Landesmuseums bei der Konzeption und Realisierung der barrierefreien Angebote gemacht haben, kurz zusammengefasst werden. Es ist wichtig, nie ohne Sachverständige und nie ohne Betroffene zu arbeiten. Das bedeutet auch, dass bei allen Angeboten, die man entwickeln will, nur Fachfirmen beauftragt werden sollten, die wiederum mit Betroffenen zusammenarbeiten. Die Ausführung von baulichen Veränderungen muss immer genau beobachtet werden, selbst wenn die Vorgaben bezüglich der Maße an Genauigkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Man sollte sich auch nie mit einem einfachen „Das ist nicht möglich“ zufrieden geben und sich nicht davon abschrecken lassen, dass vollständige Barrierefreiheit nicht erreicht werden kann. Manchmal ist es auch nötig, zwischen sich widersprechenden Interessen verschiedener Behindertengruppen zu vermitteln und Kompromisse zu suchen. So benötigen Rollstuhlfahrer für die „freie Fahrt“ möglichst glatte, ebene Flächen, während Blinde und Sehbehinderte eher an Bodenstrukturen interessiert sind, die vom Langstock erfasst werden können. Es sollte immer die Bereitschaft bestehen, Korrekturen vorzunehmen, wenn neue Erkenntnisse dies wünschenswert erscheinen lassen. Und schließlich: Alle Informationen zum Grad und zur Art der Barrierefreiheit sollten in allen Publikationsformen verbreitet werden, einerseits um am Besuch des Hauses Interessierten die für sie notwendigen Informationen zur Verfügung zu stellen, andererseits um die öffentliche Wahrnehmung der verschiedenen Aspekte der Barrierefreiheit zu fördern.

7 . 8 Beispiele: .

Barrierefreiheit planen und umsetzen

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Abbildung 1  Auf PDAs sind Videos in Deutscher Gebärdensprache mit einer Führung zu den Highlights des Hauses zu sehen. © Landesmuseum Mainz, Foto: Gebärdenwerk, Hamburg. Abbildung 3  Der Audioguide mit Audiodeskriptionen für Blinde und Sehbehinderte führt zu den begreifbaren Objekten, den sogenannten Hands-on-Modellen, die auch für alle anderen Besucher des Museums attraktiv sind. © Landesmuseum Mainz, Foto: Ursula Rudischer.

Abbildung 2  Nicht nur für Rollstuhlfahrer interessant: Alle Rampen im Landesmuseum Mainz haben höchstens sechs Prozent Steigung. © Landesmuseum Mainz, Foto: Ursula Rudischer.

Abbildung 4  Eines der drei Folienbücher des Landesmuseums Mainz. © Landesmuseum Mainz, Foto: Ursula Rudischer.

Abbildung 5  Die Touchscreens des Hauses sind unterfahrbar und können auf den gewünschten Neigungswinkel eingestellt werden. © Landesmuseum Mainz, Foto: Ursula Rudischer.

Helmut Vogel, Martina Bergmann, Knut Weinmeister

Barrierefreiheit für gehörlose Menschen in Museen

Gebärdensprache und die Gehörlosenkultur haben in den letzten zehn Jahren einen großen Zuwachs an Anerkennung erfahren. Sowohl die deutsche Gebärdensprache im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), Paragraph 6, als auch die Gebärdensprachen weltweit in der Behindertenrechtskonvention der UN, Artikel 2, sind offiziell anerkannt worden. Somit stehen die einzelnen Staaten vor der Aufgabe zu gewährleisten, dass die Würde gehörloser Menschen genauso wie die Würde anderer Menschen mit Behinderungen geachtet und ihre Rechte verwirklicht werden. Im Gleichstellungsgesetz des Bundes und in der Behindertenrechtskonvention der UN wird auch die Barrierefreiheit in Kultureinrichtungen gefordert und in diesem Sinne sind Bildungsangebote in Gebärdensprache für gehörlose Menschen ein unerlässlicher Beitrag für deren Zugänglichkeit. Gerade für gehörlose Menschen ist die Gebärdensprache der Schlüssel zur Teilhabe an und zur Inklusion in die Gesellschaft. Deshalb sollte die Gebärdensprache den gleichen Stellenwert in der museumspädagogischen Arbeit erhalten, wie er anderen Sprachen – z.B. Englisch, Französisch oder Italienisch – bereits selbstverständlich zugestanden wurde. In letzter Zeit wird Barrierefreiheit für Gehörlose bereits zunehmend geschaffen, indem Gebärdensprachdolmetscher und -dolmetscherinnen bei Museums- und Ausstellungsführungen eingesetzt werden. Doch damit alleine ist es nicht getan. Im Folgenden werden zwei weitergehende Vorschläge entwickelt und Wege aufgezeigt, wie Barrierefreiheit für Gehörlose in Museen gestaltet sein sollte. Wir hoffen, dass in Zukunft ein breites Spektrum von Zugänglichkeit entwickelt wird. Die Zusammenarbeit mit Museen ist dafür unerlässlich. Plädiert wird dafür, dass Führungen für Gehörlose in Museen und Ausstellungen im Sinne des sprachlich-kulturellen Modells, das im Folgenden erläutert wird, gestaltet sein sollten. In diesem Bereich liegen bereits Ansätze vor, die Martina Bergmann, die diese Führungen selbst konzipiert und durchführt, in einem zweiten Teil über Führungen für Gehörlose durch Gehörlose vertieft behandelt. Möchten Gehörlose die Ausstellungen unabhängig von den Führungen besuchen, sind Videoguides, die im dritten Teil vorgestellt werden, eine Alternative.

Barrierefreiheit für gehörlose Menschen

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1.  Gehörlosenkultur in neuerer Zeit Um neuere grundlegende Entwicklungen in Sachen Barrierefreiheit verstehen und deren Potentiale für die Zukunft wahrnehmen zu können, bedarf es eines Rückblicks in die Vergangenheit. Die Gebärdensprache wurde seit Ende des 19. Jahrhunderts bis hinein in das späte 20. Jahrhundert als eine minderwertige Sprache angesehen und daher insbesondere im Schulunterricht an den Gehörlosenschulen nicht verwendet. Erst seit 1960 sind Gebärdensprachen – zuerst von Sprachwissenschaftlern in den USA – als eigenständige Sprachen mit eigener Grammatik aufgefasst worden. Im Rahmen dieser Entwicklung erhöhte sich die Aufmerksamkeit für die mit der Gebärdensprache verbundene Kultur und Geschichte der Gehörlosen, die sich bereits jahrhundertelang entfaltet hatte. Gehörlose empfinden sich heute nicht mehr nur als ein Teil der Gruppe behinderter Menschen, vielmehr ist bei ihnen das Bewusstsein entstanden, einer kulturellen Minderheit mit einer eigenen Sprache anzugehören. In diesem Sinne macht der Absatz 4 im Artikel 30 in der Behindertenrechtskonvention der UN eine wichtige Aussage: „Menschen mit Behinderungen haben gleichberechtigt mit anderen Anspruch auf Anerkennung und Unterstützung ihrer spezifischen kulturellen und sprachlichen Identität, einschließlich der Gebärdensprachen und der Gehörlosenkultur.“ Aktuell wird Behinderung als eine soziale Konstruktion aufgefasst und die Beeinträchtigung des Hörens nicht als das entscheidende Problem angesehen, sondern vielmehr die Nichtbeachtung oder die Diskriminierung der Gebärdensprache. Sowohl die deutschen Begriffe „Taubheit“ bzw. „Gehörlosigkeit“ als auch der englische Begriff „Deafness“ sind zunächst vor allem medizinisch geprägt und verdecken daher die Existenz der Gebärdensprache und der Gehörlosenkultur. Als Gegensatz zum medizinischen Modell von Behinderung ist ein sprachlich-kulturelles Modell von Gehörlosigkeit – in Anlehnung an andere Minderheitssprachen – entwickelt worden. Dieses Modell fußt auf der Gebärdensprache, der Gehörlosenkultur, der Bilingualität und dem Gemeinschaftssinn gehörloser Bürger und, um dieses präziser zu umreißen, hat Paddy Ladd den Begriff „Deafhood“ (auf Deutsch: Taubsein) im Gegensatz zum Begriff „Deafness“ (auf Deutsch: Taubheit) vorgeschlagen, da mit diesem Begriff das sprachlich-kulturelle Modell verdeutlicht werden sollte.1 Durch diese Entwicklung, die sich seit den 1980er Jahren vollzieht, hat sich die neue Sichtweise von Gehörlosigkeit und gehörlosen Menschen zunehmend popularisiert, was sich unter anderem an den oben genannten Gesetzen ablesen lässt. So kann in neuester Zeit die Idee der Barrierefreiheit für die Gehörlosen vorangetrieben werden. Die bisherigen Barrieren in der Umwelt und in den Köpfen erfordern ein gemeinsames Vorgehen von gehörlosen Menschen und den Kultur- und Bildungsein1 Vgl. Paddy Ladd: Was ist Deafhood? Gehörlosenkultur im Aufbruch, Seedorf: Signum, 2008; siehe dazu auch Helmut Vogel: Taubsein. Vom Aufbruch einer Bewegung, in: Menschen – das Magazin 2010, H. 2, S. 52–55.

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Helmut Vogel, Martina Bergmann, Knut Weinmeister

richtungen. Gehörlose sollten bei der Realisierung neuer Projekte wie z.B. Ausstellungen bereits in der Planungs- und Durchführungsphase einbezogen werden. Auf diese Weise wird nicht nur gehörlosen Menschen die Möglichkeit eröffnet, sich selbst als handelnde Personen einzubringen; auch die Museen und nicht zuletzt die Gesellschaft können vom gemeinsamen Austausch profitieren. Der Sinn dieser Zusammenarbeit ist auch, dass die Museen auf diese Weise zum Bildungsort für alle werden können. Wir gehen davon aus, dass die Museen offen für Interaktion und Dialog mit den Gehörlosen sein werden, weil sie im Dialog mit der Gesellschaft stehen und stehen wollen.

2.  Führungen für Gehörlose durch Gehörlose Seit vielen Jahren existieren überall in Deutschland und Europa sowie außerhalb von Europa museumspädagogische Angebote für Menschen ohne Behinderung, die diese auf verschiedene Arten und Weisen an Ausstellungsobjekte heranführen und ihnen diese näher bringen: allgemeine Führungen, Führungen in Fremdsprachen, Malkurse in unterschiedlichsten Techniken, kreative Schreibkurse vor Bildern und vieles mehr. Das Angebot ist vielfältig, wie ein Blick in einen Prospekt z.B. der Hamburger Kunsthalle verrät. Angebote für gehörlose Menschen bestehen zwar, sind bislang jedoch noch selten und gehen häufig auch nur bedingt auf die Bedürfnisse gehörloser Ausstellungsbesucher und -besucherinnen ein. Viele Gehörlose träumen davon, an Museumsführungen in ihrer deutschen Gebärdensprache teilnehmen zu können, also von gehörlosen Museumspädagogen und Museumspädagoginnen geführt zu werden. Aus diesem Grunde besuchen Gehörlose aus ganz Deutschland gerne Hamburger Museen, welche diesen Service anbieten. In allen anderen Städten bleiben gehörlose und schwerhörige Menschen im museumspädagogischen Alltag dagegen außen vor. Selbst wenn Museumsdienste bzw. museumspädagogische Abteilungen ihre Führungen für Gehörlose sowie Schwerhörige mit Unterstützung von Gebärdensprachdolmetscherinnen und -dolmetschern anbieten, werden diese Angebote von der Zielgruppe als zwiespältig wahrgenommen, doch die Hörbehinderten haben keine andere Wahl, als dies zu akzeptieren. Wahrscheinlich ist es für die Normalhörenden schwer vorstellbar, wie die Realität Gehörloser aussieht. Einerseits sind Gehörlose froh und „dankbar“, an einer Führung teilnehmen zu können, von den Erläuterungen in deutscher Gebärdensprache zu profitieren und so durch die Ausstellung geleitet zu werden. Andererseits beklagen sie, dass durch die Dolmetschsituation eine Distanz zwischen dem Besucher und dem Museumspädagogen besteht, die ein Gebärdensprachdolmetscher oft schwer aufheben kann. Dafür werden mehrere Gründe angeführt. Erstens ist die inhaltliche Vermittlung durch eine Dolmetscherin zeitlich verzögert, so dass spontanes und schnelles Nachfragen gehemmt wird, was ein Merkmal jeder Verdolmetschung ist. Zweitens ist es für eine zielgruppengerechte Vermittlung von Wissen wichtig, Kenntnisse über gehörlose Menschen und deren Kultur und Sprache zu besitzen. Durch diese gedolmetschte Situation und die fehlenden Kenntnisse der Führer und

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Führerinnen über Gehörlose sind Gehörlose also nicht so aktiv wie bei Führungen, die von Gehörlosen selbst erarbeitet und durchgeführt werden, und eine solche Konstellation mit einer Dolmetscherin oder einem Dolmetscher, so lässt sich zusammenfassen, ermöglicht keine symmetrische und direkte Kommunikation. Museumführungen für Gehörlose durch Gehörlose werden also aufgrund der direkten Kommunikation in Deutscher Gebärdensprache von der Zielgruppe als positiv bewertet. Die Interaktion zwischen gehörlosen Führern und Führerinnen und gehörlosen Besuchern ist effektiver und flüssiger. Die führende gehörlose Person bekommt sofort mit, wenn ein Besucher etwas nicht verstanden hat oder sonstiger Gesprächsbedarf entsteht. Sie kann ihre Ausführungen unterbrechen, das Problem, die Frage, die Bemerkung aufgreifen und alle können ohne Kommunikationsbarriere miteinander in ein Gespräch kommen. Dieser Aspekt ist es, den gehörlose Besucher immer wieder als besonders positiv hervorheben. Hinzu kommt, dass sich bei einer Führung durch eine Person aus der Gehörlosengemeinschaft auf der Ebene der Kommunikation das Gefühl einstellt, Gleiche unter Gleichen zu sein. Ein weiterer positiver Aspekt liegt darin, dass Gehörlose zielgruppenspezifische Erläuterungen bzw. Erklärungen anbieten können, z.B. Fachvokabular, für das es (noch) keine Gebärdenzeichen gibt oder das die gehörlosen Teilnehmer nicht kennen. Darüber hinaus ist eine gehörlose Person eher in der Lage, sich den Bedürfnissen der unterschiedlichen gehörlosen und gebärdensprachkompetenten Besuchergruppen anzupassen, deren Zusammensetzung vielfältig sein kann: gehörlose Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Senioren, Gehörlose mit zusätzlichen Sehbehinderungen oder Schwierigkeiten im Lernen, hörende Studenten der Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik, der Gebärdensprache und des Gebärdensprachdolmetschens und hörende Gebärdensprachnutzer. Dadurch ist der Stil, in dem die Ausstellungsführungen gehalten sind, jeweils auf die Besuchergruppen zugeschnitten und so ein unmittelbarer Kontakt und ein gleichberechtigter Dialog möglich. Das gleiche gilt für schwerhörige Besucher mit schwerhörigen Führern mit FM-Anlage, also einer kabellosen Verstärkeranlage für Hörgeräteträger mit Frequenzmodulation. In Hamburg begann die Veränderung damit, dass die Kunsthalle mich als eine gehörlose Person – zuerst als freie Mitarbeiterin, dann nach zwei Jahren Erfahrung fest angestellt beim Museumsdienst – eingebunden hat, und ich seitdem unmittelbar zwischen Museen und gehörlosen sowie schwerhörigen Klienten vermitteln kann. Von hörenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der museumspädagogischen Abteilungen in Deutschland wird die Tatsache, dass wir im Museumsdienst Hamburg im Jahr durchschnittlich 120 Veranstaltungen sowohl für Gehörlose als auch Schwerhörige und Ertaubte durchführen, häufig mit großem Erstaunen aufgenommen. Oft höre ich Klagen von anderen Museen, warum denn so wenig Gehörlose kämen, wenn die Museen doch Führungen mit Gebärdensprachdolmetschern anböten.2

2 Siehe auch Jenny Wallaschek: Barrierefreiheit im Museum: Die Zielgruppe der Gehörlosen, Leipzig: Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (FH), Diplomarbeit, 2008.

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Helmut Vogel, Martina Bergmann, Knut Weinmeister

Ich bekomme fast täglich direkte Anfragen und Wünsche von gehörlosen Personen per E-Mail, E-Fax, Bildtelefon und Webcam. Auf diese Weise können unkompliziert und barrierefrei Vorstellungen zu diversen Führungen besprochen/gebärdet und gebucht werden. Die Gruppengröße sollte bei sechs bis 20 Personen liegen, wobei tatsächlich meistens vier bis 14 Personen teilnehmen. Die Führungsdauer sollte nicht unter 90 Minuten liegen. Allerdings dauern aus meinen Erfahrungen heraus Führungen für Gehörlose länger, da sie Zeit brauchen, um zunächst die Erklärungen über die einzelnen Arbeiten aufzunehmen und sich diese erst im Anschluss anzusehen. Für die Öffentlichkeitsarbeit wäre eine Einführung zu den Dauersammlungen und Ausstellungen mit Gebärdensprachfilmen im Internet auf der Homepage des jeweiligen Museums und/oder museumspädagogischen Dienstes sinnvoll. Die gebärdende Person sollte selbst gehörlos sein, da nur so authentische Gebärdensprache zur Anwendung kommen kann. Alle Erfahrungen weisen darauf hin, dass es empfehlenswert wäre, Gehörlose in museumspädagogischen Abteilungen einzustellen. Eine gehörlose, gebärdensprachkompetente Person als Vermittlerin zwischen Kultureinrichtung und gehörlosen sowie schwerhörigen Besucherinnen und Besuchern ist notwendig und im Sinne von Barrierefreiheit und Inklusion unverzichtbar. Wenn auch im Folgenden für die Einführung von Videoguides in Gebärdensprache plädiert wird, so muss ich doch aus meiner Erfahrung heraus sagen, dass diese alleine nicht eine völlig zufrieden stellende Lösung für gehörlose und schwerhörige Besucher darstellen. Sie sind nur eine Option neben Führungen in Gebärdensprache durch gehörlose Personen. Zum Schluss noch ein wichtiger Hinweis: Gehörlose und schwerhörige Museumsbesucher lieben genauso wie Hörende Foto-, Kunst- sowie angewandte Design- und Gewerbekunstausstellungen ebenso wie völkerkundliche, technische und industriegeschichtliche, aber auch sozialwissenschaftlich orientierte Ausstellungen. Einfach alles!

3.  Videoguides für gehörlose Menschen Die rasante technische Entwicklung im Bereich der mobilen Endgeräte, also tragbarer, mit Akku versehener „Taschencomputer“ wie PDA, Handhelds etc. sowie der damit verbundenen Software eröffnet Museen, Ausstellungen und den Anbietern anderer Formen von Führungen (Stadtführungen, Sightseeing usw.) die Möglichkeit, sich zielgruppengerecht auch für gehörlose Besucher und Besucherinnen zu öffnen: durch so genannte Videoguides. Äquivalent zu Audioguides beinhalten sie Informationen zum Museum bzw. der Ausstellung – nur eben in Gebärdensprache. Ein Videoguide ist ein (an der Museumskasse entleihbares) mobiles Endgerät, das bewegte Bilder in hoher Qualität darstellt. Durch die Verknüpfung mit entsprechender Software ermöglicht es ein solches Gerät, auf gehörlose Museumsbesucher und -besucherinnen und deren Bedürfnisse abgestimmte Inhalte in Form von GebärdensprachFilmen anzubieten. Diese machen Gehörlosen Informationen, die auf sie zugeschnitten

Barrierefreiheit für gehörlose Menschen

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sind, in ihrer eigenen, natürlichen und vollwertigen Sprache, der Gebärdensprache, ohne Einschränkung zugänglich. Bislang gibt es in ganz Deutschland jedoch erst wenige Beispiele für den Einsatz von Videoguides, so beim Landesmuseum Mainz, welches 2010 sein bereits seit 2007 bestehendes Angebot erweitert hat. In den bislang verfügbaren Videoguide-Führungen wurde dabei im Wesentlichen eine vorhandene oder zeitgleich implementierte Audioführung („Highlight-Führung“) in Gebärdensprache übersetzt und nun mit dem gleichen Inhalt für gehörlose Nutzerinnen und Nutzer angeboten. Videoguides eröffnen darüber hinaus die Möglichkeit, die verwendeten Inhalte genau auf die Belange der gehörlosen Nutzerinnen und Nutzer abzustimmen. Während in Audioguides in der Regel Führungen angeboten werden, welche ihren Fokus auf die Höhepunkte einer Ausstellung legen, ist es sinnvoll, den Inhalt von Videoguides eigenständig aus den im jeweiligen Museum vorhandenen schriftsprachlichen Informationen zusammenzustellen. Denn oft ist nicht bekannt, dass die Darstellung von Informationen in Schriftsprache für viele Gehörlose eine (zu) hohe Hürde für das Verstehen bildet. Die Ursachen sind vielfältig und liegen insbesondere in dem fehlenden Einsatz von Gebärdensprache in der Schulbildung gehörloser Kinder begründet. Dies hat zur Folge, dass, über Führungen in Lautsprache hinaus, auch Bildunterschriften, Kataloge und andere schriftsprachliche Informationen für einen großen Teil des Adressatenkreises nicht zugänglich sind. Bei der Auswahl der Endgeräte ist insbesondere darauf zu achten, dass der Bildschirm eine Displayauflösung von 320 x 240 Pixel nicht unterschreitet, um eine ausreichende Erkennbarkeit des Gebärdensprach-Darstellers zu gewährleisten. Des Weiteren sind guter Tragekomfort, geringes Gewicht und benutzerfreundliche, also einfache und intuitive Bedienbarkeit wichtige Elemente, die bei der Auswahl eines Endgerätes eine Rolle spielen sollten. Durch eine gut konzipierte Führung mit einer breit gefächerten Auswahl an Informationen in Gebärdensprache wird ein passendes Angebot für gehörlose Besucherinnen und Besucher geschaffen. Dazu gehört neben einer kulturell angemessenen Übersetzung ein Glossar, das im Rahmen der eigentlichen Informationen angeboten wird und in dem die wichtigsten Fachbegriffe des Ausstellungsthemas gebärdensprachlich erklärt werden. Für die Akzeptanz unter gehörlosen Nutzerinnen und Nutzern von Videoguides ist es sehr wichtig, dass auch die Darsteller in den Gebärdensprachfilmen native speaker der Gebärdensprache sind, wie das im vorangehenden Abschnitt für die Museumsführungen erläutert wurde. Dadurch ist auch hier eine gute Rollenidentifikation sowie darüber hinaus insbesondere eine kulturell stimmige Übersetzung der Inhalte in Gebärdensprache gewährleistet. Durch den Einsatz von Videoguides wird gehörlosen Interessierten ein zeitlich und persönlich unabhängiger Besuch von Ausstellungen und Museen ermöglicht – genauso, wie es Hörende ganz selbstverständlich gewohnt sind. Gehörlose Menschen erhalten somit einen selbstbestimmten und (barriere)freien Zugang zu kulturellen Einrichtungen. So entsteht ein Angebot, durch das Träger von Museen und Ausstellungen gehör-

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losen Besucherinnen und Besuchern ein Besuchserlebnis ermöglichen können, wie es für hörende Menschen gang und gäbe ist. Eine vollständige Barrierefreiheit würde freilich erst dann erreicht, wenn alle schriftsprachlichen und gesprochenen Texte, die in einem Museum vorzufinden sind, in Deutsche Gebärdensprache übersetzt und in Form von Gebärdensprachfilmen auf Monitoren und Videoguides zur Verfügung gestellt worden sind. Es ist nicht nur eine Frage der Kosten, sondern auch des Willens, eine solche Barrierefreiheit für gehörlose Menschen durchzusetzen.

Uta George

Historisch-politische Bildung in der Gedenkstätte Hadamar mit und für Menschen mit Lernschwierigkeiten

Gedenkstätten, die an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern, sind in der Vergangenheit selten als Bildungsorte für Menschen mit Lernschwierigkeiten1 in Erscheinung getreten. Der Verein zur Förderung der Gedenkstätte Hadamar e.V. und die Selbstvertretungsorganisation von Menschen mit Lernschwierigkeiten, Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland e.V., gingen ab 2003 neue Wege, um die Gedenkstätte Hadamar für diese bislang vergessene Zielgruppe zu öffnen. Im Folgenden wird die Entwicklung eines Angebotes historisch-politischer Bildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten in der Gedenkstätte Hadamar geschildert. Menschen mit Lernschwierigkeiten sind dabei Adressaten des Bildungsangebotes und gleichzeitig die Akteure der Entwicklung dieses an bundesdeutschen Gedenkstätten einmaligen Zugangs zu historisch-politischer Bildung. Im ersten Teil wird die Entwicklung des Bildungsangebotes an der Gedenkstätte Hadamar skizziert. Im zweiten Teil kommen die Teilnehmenden dieser Seminare durch Interviews selbst zu Wort. Sie äußern sich über Empathie für die Opfer, zur so genannten Lebensrecht-Debatte und zur Bedeutung politischer Bildung. Der geschilderte Ansatz zeigt, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten zu Unrecht in der historisch-politischen Bildung vergessen werden. Sie haben großes Interesse daran, wenn die Angebote angemessen und an ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten orientiert sind. Menschen mit Lernschwierigkeiten gelten der politischen Bildung nicht als bevorzugte Zielgruppe, zu wenig scheinen sie für kognitiv orientierte Darstellungen, welche die politische Bildung dominieren, offen zu sein. Auch Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus vernachlässigen diese potentielle Besuchergruppe weitgehend. Dies manifestiert sich allerdings weniger in einem intendierten Ausschluss dieses Personenkreises als vielmehr durch einen faktischen Ausschluss: Fehlen angemessene, das heißt barrierefreie Angebote, so finden die Betroffenen keinen Zugang zu Bildungsofferten beziehungsweise den anbietenden Institutionen. Doch im Zuge des veränderten Paradigmas erscheint es inakzeptabel, Menschen mit Lernschwierigkeiten kategorisch in der historisch-politischen Bildung zu ignorieren. Gesellschaftliche Teilhabe beinhal1 Der Begriff „Menschen mit Lernschwierigkeiten“ wurde durch Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit geistigen Behinderungen geprägt. Sie wehren sich gegen eine „Behinderung des Geistes“ und favorisieren den offeneren Begriff der „Lernschwierigkeiten“. Ich übernehme diese Begrifflichkeit.

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tet auch die Reflexion über demokratische Strukturen und Einflussnahmemöglichkeiten sowie Kenntnisse über die Geschichte des Landes, in dem man lebt. Gedenkstätten können zur Geschichte des Nationalsozialismus ihren Teil beitragen.

1.  Die Gedenkstätte Hadamar In der ehemaligen Landesheilanstalt Hadamar wurden in den Jahren 1941 bis 1945 mehr als 15.000 Menschen ermordet. Sie hatten eine Behinderung, eine psychische Erkrankung oder galten als sozial unangepasst und wurden durch die Propaganda des NS-Regimes deshalb als „minderwertig“ und „lebensunwert“ diffamiert. 1941 töteten Ärzte, Schwestern und Pfleger mehr als 10.000 Menschen in der Hadamarer Gaskammer, von 1942 bis 1945 ließ das Personal weitere 4.500 Opfer verhungern oder vergiftete sie mit überdosierten Beruhigungsmitteln. Die Verwaltung deklarierte diese Morde gegenüber Angehörigen und der Bevölkerung als natürlichen Tod, zum Beispiel infolge einer Lungenentzündung, und als „Erlösung“ für die Opfer. Während die Getöteten 1941 in einem Krematorium in der Landesheilanstalt verbrannt wurden, verscharrten Totengräber die Leichen der Jahre 1942 bis 1945 in Massengräbern auf einem Friedhof hinter dem Anstaltsgebäude. Am 26. März 1945 befreite die US-Armee ca. 420 überlebende Patientinnen und Patienten. Die Landesheilanstalt wurde nicht geschlossen, das an den Morden beteiligte Personal in zwei Nachkriegsprozessen angeklagt.2 1953 erinnerte der damalige Träger des psychiatrischen Krankenhauses, der Bezirkskommunalverband Wiesbaden, mit einem Relief („1941-1945 – Zum Gedächtnis“) an die Morde und die Opfer. Der neue Träger, der Landeswohlfahrtsverband Hessen3, ließ 1964 den Friedhof mit den Massengräbern in eine Erinnerungslandschaft umgestalten. Die Gedenkstätte Hadamar eröffnete 1983 mit dem historischen Tötungskeller, der die ehemalige Gaskammer, die Standorte der Krematorien und den Seziertisch umfasst. Darüber hinaus gibt es seit 1991 die Dauerausstellung „Verlegt nach Hadamar“, Seminarräume und Büros im Parterre. Der Wiederaufbau im Jahr 2006 der ehemaligen Busgarage, in der von Januar bis August 1941 die Opfer in Bussen ankamen, komplettierte das Ensemble.4

2 Vgl. Matthias Meusch: Die strafrechtliche Verfolgung der Hadamarer „Euthanasie“-Morde, in: Uta George, Georg Lilienthal, Volker Roelcke, Peter Sandner, Christina Vanja (Hg.): Hadamar – Heilstätte – Tötungsanstalt – Therapiezentrum (= Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Quellen und Studien, Bd. 12), Marburg: Jonas, 2006, S. 305–326. 3 Der Landeswohlfahrtsverband Hessen ist der Rechtsnachfolger u.a. des Bezirkskommunalverbandes Wiesbaden und übernahm 1953 in dem neu entstandenen Bundesland Hessen die Trägerschaft für die kommunalen psychiatrischen Einrichtungen. Der Verband ist bis heute Träger der Gedenkstätte Hadamar, vgl. . 4 Dazu George/Lilienthal/Roelcke/Sandner/Vanja (Anm. 2).

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2.  Die Erinnerungsarbeit in Hadamar Die Gedenkstätte Hadamar bietet seit Beginn der pädagogischen Arbeit in den 1990er Jahren Führungen und Studientage für Besucherinnen und Besucher an. Die dreistündigen Führungen informieren über die Geschichte des Ortes und die Erinnerung an die Verbrechen nach 1945. Die Gruppen erhalten eine Einführung, sehen sich die historischen Örtlichkeiten an und haben die Möglichkeit, sich über das Erfahrene auszutauschen. Studientage bieten darüber hinaus eine inhaltliche Vertiefung, beispielsweise zu den Motiven der Täterinnen und Täter, zu aktuellen Entwicklungen in der Medizin und Biologie und kreative Zugänge zur Reflexion über das Gehörte an. Im Jahr 2009 hatte die Gedenkstätte mehr als 18.000 Besucherinnen und Besucher, wobei mehr als 85 Prozent die Gedenkstätte im Rahmen eines pädagogischen Angebots kennen lernten.5 Menschen mit Lernschwierigkeiten jedoch, ein Teil der damaligen Opfergruppe, haben die Erinnerungsarbeit zum Thema NS-„Euthanasie“-Verbrechen nicht mitgeprägt, denn sie galten noch lange Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg nicht als adäquate Gesprächspartner, die ihre eigene Geschichte thematisieren können. Daher wurde die Perspektive von Menschen, die heute mit einer ähnlichen Zuschreibung wie die Opfer von damals leben müssen, in Ausstellungen und Publikationen der NS-„Euthanasie“Gedenkstätten nicht berücksichtigt. Vielmehr wurden die Erinnerungskultur und die -orte weitgehend durch Menschen ohne Behinderungen geprägt.6 Ebenso wenig waren die pädagogischen Programme darauf ausgerichtet, diesen „Nachfahren“ der Opfer die Geschichte angemessen näher zu bringen.7 Der Verein zur Förderung der Gedenkstätte Hadamar e.V. fasste deshalb 2003 den Entschluss, in Zusammenarbeit mit der Selbstvertretungsorganisation „Mensch zuerst“ – Netzwerk People First Deutschland e.V. ein Konzept für die neue Zielgruppe zu entwickeln.8 Im Oktober 2003 fand die erste gemeinsame Tagung statt, auf der die Pädagoginnen des Fördervereins von den Teilnehmenden mit Lernschwierigkeiten wichtige Hinweise für die künftige Arbeit mit der neuen Zielgruppe erhielten. So mussten sich die Pädagoginnen selbst zunächst mit den eigenen Vorurteilen und Zuschreibungen 5 Vgl. Regine Gabriel, Uta George: Lernen aus der Geschichte? Die pädagogische Arbeit in der Gedenkstätte Hadamar, in: George/Lilienthal/Roelcke/Sandner/Vanja (Anm. 2), S. 443–458; Uta George: Gedenkstättenarbeit in Hadamar: Lernen aus der Geschichte, in: Maike Rotzoll, Gerrit Hohendorf, Petra Fuchs, Paul Richter, Christoph Mundt, Wolfgang U. Eckart (Hg.): Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion „T4“. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn [u.a.]: Schöningh, 2010, S. 384–390. 6 Als Ausnahme ist die Kooperation einiger NS-„Euthanasie“-Gedenkstätten, wie z.B. Hadamar und Bernburg, mit dem Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten in der Gründungsphase zu erwähnen. 7 Selbstverständlich handelt es sich nicht um Nachfahren im biologischen Sinn. Viele Teilnehmende unseres Angebotes haben sich aber als Ausdruck der Zugehörigkeit zur selben sozialen Gruppe so bezeichnet. 8 .

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intensiv auseinandersetzen.9 Auf fünf weiteren Tagungen wurde gemeinsam mit der Zielgruppe das Besuchskonzept weiterentwickelt. Wichtige Grundlage der Arbeit war der bei der zweiten Tagung erarbeitete Katalog in Leichter Sprache.10 Durch die Publikationen über die Gedenkstättenarbeit mit der neuen Zielgruppe in Fachzeitschriften wuchs das Interesse der Öffentlichkeit und von pädagogischen Kräften in Wohnheimen und Werkstätten an dem Ansatz. Seit 2004 nahmen viele Menschen mit Lernschwierigkeiten – meist als Gruppe eines Wohnheims oder einer Werkstatt für behinderte Menschen – das Bildungsangebot wahr. Die Gedenkstätte Hadamar, welche die Konzeptentwicklung engagiert unterstützte, ist bis heute die einzige mir bekannte Gedenkstätte, die sich explizit an diese Zielgruppe wendet.

3.  Erfahrungen in der pädagogischen Arbeit mit Menschen mit Lernschwierigkeiten in der Gedenkstätte Hadamar Unabdingbare Voraussetzung für die Tagungen und die daraus folgenden pädagogischen Angebote war der Gebrauch Leichter Sprache. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass Sätze nur eine Botschaft enthalten und ohne Fremdwörter auskommen sollten. Leichte deutsche Sprache wurde Ende der 1990er Jahre unter anderem von „Mensch zuerst“ entwickelt und richtet sich nach den Bedürfnissen von Menschen mit Lernschwierigkeiten. Auch in der politischen Bildungsarbeit mit Menschen mit Lernschwierigkeiten ist sie ein Schlüssel zur Begegnung auf Augenhöhe. Gleichermaßen wichtig ist ein zielgruppenorientierter Zugang, der die Bedürfnisse der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, wie eine inhaltliche Vertiefung oder eine längere Pause, berücksichtigt.11 Das Setting des neuen Angebotes – die gleichberechtigte Zusammenarbeit mit der Selbstvertretungsorganisation „Mensch zuerst“ – war eine große Herausforderung für 9 Uta George, Bettina Winter: Wir erobern uns unsere Geschichte. Menschen mit Behinderungen arbeiten in der Gedenkstätte Hadamar zum Thema NS-„Euthanasie“-Verbrechen, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 56, 2005, H. 2, S. 55–62. 10 Vgl. Uta George, Stefan Göthling (Hg.): „Was geschah in Hadamar in der Nazizeit?“ Ein Katalog in leichter Sprache (= Schriftenreihe Geschichte verstehen des Vereins zur Förderung der Gedenkstätte Hadamar e.V. und des Netzwerkes People First Deutschland e.V., H. 1), Kassel: Eigenverlag, ²2008; „Was geschah in Hadamar in der Nazizeit?“ Hörversion in leichter Sprache. Dauerausstellung der Gedenkstätte Hadamar. Redaktion: Uta George, Susanne Göbel, Verein zur Förderung der Gedenkstätte Hadamar e.V. und Netzwerk People First Deutschland e.V. 2005; Uta George, Bettina Winter: Geschichte verstehen. Menschen mit Lernschwierigkeiten arbeiten mit leichter Sprache in der Gedenkstätte Hadamar, in: Kursiv. Journal für politische Bildung 9, 2006, H. 1, S. 64–69. 11 Vgl. Uta George, Bettina Winter: „Wir entdecken unsere Geschichte.“ Menschen mit Lernschwierigkeiten als Akteurinnen und Akteure der Erinnerung, in: Politikferne und bildungsbenachteiligte Menschen als Zielgruppe politischer Bildung. Außerschulische Bildung. Materialien zur politischen Jugend- und Erwachsenenbildung 39, 2008, H. 3, S. 296–300; Uta George, Bettina Winter: „Wir entdecken unsere Geschichte“. Menschen mit Lernschwierigkeiten arbeiten in der Gedenkstätte Hadamar zu NS-„Euthanasie“-Verbrechen. Schilderungen aus fünf Jahren Praxiserfahrung, in: Lernen konkret 2009, H. 3, S. 19–27.

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die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Fördervereins der Gedenkstätte. Sie sahen sich mit den eigenen Vorurteilen und Vorannahmen konfrontiert und mussten ihre Verhaltensweisen ändern: Maxime war der gleichberechtigte Umgang miteinander. Die Unsicherheit in der neuen Rolle und die Unwissenheit über angemessene Verhaltensweisen auf Seite der Menschen ohne Behinderung konnten durch die klaren Informationen, die Mitglieder der neuen Zielgruppe selbst gaben, verändert werden. So äußerten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer deutlich, in welcher Form sie die Gedenkstätte kennen lernen wollten, hatten präzise Vorstellungen über die historischen Orte, die sie besuchen wollten, und kannten meistens ihre eigenen Grenzen bezüglich emotionaler Überforderung. Diese bei der ersten gemeinsamen Tagung gemachten Erfahrungen führten dazu, die künftigen Tagungen genau mit diesem Fokus zu konzipieren: das Vorwissen der Zielgruppe über die NS-„Euthanasie“-Verbrechen und was dieses Wissen für sie bedeutete, zu erfahren. In einem zweiten Schritt entstand deshalb ein Katalog der Dauerausstellung in Leichter Sprache, der nicht nur sprachlich den Erwartungen der Menschen mit Lernschwierigkeiten genügen konnte, sondern darüber hinaus ihre Perspektive auf die Verbrechen berücksichtigte.12 Menschen mit Lernschwierigkeiten aktiv einzubeziehen, war ein Schritt zur Öffnung der Gedenkstätte für die bislang unbeachtete Zielgruppe. Das Besuchskonzept wurde von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern auch bezüglich Themen geändert, die für das Team überraschend kamen: So hatten während der ersten Tagung die Teilnehmenden eine Gedenkzeremonie eingefordert, die das Team nicht vorgesehen hatte, beinhalten doch die meisten Führungen und Studientage in der Gedenkstätte keinen Gedenkmoment. Durch die massive Intervention der Teilnehmenden wurde dem Team13 klar, dass diese Zielgruppe offenbar andere Bedürfnisse als andere Zielgruppen hatte. Fortan wurde bei allen Studientagen mit Menschen mit Lernschwierigkeiten eine kleine Zeremonie, die partizipativ geplant wurde, eingebaut. Durch die dadurch erfolgende eindeutige Zuordnung der Verbrechen in der Vergangenheit und ein vertraut wirkendes Trauerritual bekam die Vermittlung des schwierigen Themas ein versöhnliches Moment. Das Angebot für Menschen mit Lernschwierigkeiten in der Gedenkstätte Hadamar ist – ebenso wie die Konzeptentwicklung – teilnehmerorientiert und diskursiv ausgerichtet. Zunächst wird vom Team ausgelotet, wie viel Wissen über den Nationalsozialismus und die NS-„Euthanasie“-Verbrechen bei den Teilnehmenden bereits vorhanden ist, und diese formulieren ihre eigenen Fragen, Erwartungen und Bedenken im Hinblick auf einen solchen Tag. Von Seiten des Teams wird ihnen zu Beginn der Veranstaltung eine Veränderung des Ablaufs zugesichert, wenn sie es wünschen, sei es ein langsameres Tempo, mehr Pausen oder eine andere inhaltliche Schwerpunktset12 George/Göthling (Anm. 10). 13 Das Team bestand aus fünf bis acht Personen, variierend je nach Tagung. Es war paritätisch besetzt von Mitgliedern von Mensch zuerst, d.h. Menschen mit Lernschwierigkeiten und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Fördervereins der Gedenkstätte mit vielen Erfahrungen in der Gedenkstättenarbeit.

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zung. Dieser partizipative Ansatz eröffnete einer bislang – im Kontext Gedenkstätte – ungehörten Zielgruppe, die Chance wahrgenommen zu werden und ein Besuchs- und Erinnerungskonzept mitzuentwickeln.

4.  Die Perspektive von Menschen mit Lernschwierigkeiten Zusätzlich zur Konzeptentwicklung erschien es ratsam, die Teilnehmenden des neuen Angebots nach ihren Einschätzungen und Einstellungen zu befragen. Menschen mit Lernschwierigkeiten galten in den 1970er Jahren noch als „unbefragbar“14, doch spätestens im Zuge des Paradigmenwechsels in der Arbeit mit behinderten Menschen traten sie zunehmend als Subjekte der Forschung in Erscheinung.15 Dennoch ist es bis heute die Ausnahme, Menschen mit Lernschwierigkeiten direkt zu wichtigen Themen in ihrem Leben zu befragen (im Sinne einer wissenschaftlichen Erhebung): Vielmehr wird weiterhin über sie geredet, nicht mit ihnen. Ziel der Befragungen war es, mehr über die Einstellungen und Erfahrungen der Teilnehmenden zu erfahren. Zum einen waren ihre Einschätzungen zum Thema NS„Euthanasie“-Verbrechen von Interesse, zum anderen ihr Wissen und ihre Sichtweise über aktuelle Tendenzen in der Medizin oder über die Erinnerungsarbeit an Gedenkorten. Die Ausgangsthese lautete, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten eine größere Nähe zu den Opfern empfinden als Menschen ohne Behinderungen und deshalb die NS-„Euthanasie“-Verbrechen als Teil ihrer eigenen Geschichte als soziale Gruppe begreifen. Dies – so führten wir die These weiter – müsste notwendigerweise ihre Sichtweise auf die NS-„Euthanasie“-Verbrechen und die Erinnerungsarbeit prägen.16

14 Gerd Laga: Methodologische und methodische Probleme bei der Befragung geistig Behinderter, in: Rolf G. Heinze, Peter Runde (Hg.): Lebensbedingungen Behinderter im Sozialstaat (= Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Forschung, Bd. 26), Opladen: Westdeutscher Verlag, 1982, S. 223–239, hier S. 228. 15 Vgl. Ursula Pixa-Kettner, Stefanie Bargfrede, Ingrid Blanken: „Dann waren sie sauer auf mich, daß ich das Kind haben wollte …“ Eine Untersuchung zur Lebenssituation geistigbehinderter Menschen mit Kindern in der BRD (= Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit, Bd. 75), BadenBaden: Nomos, 1996; Elisabeth Engelmeyer: Die Bedeutung der People-First-Gruppen. Ergebnisse qualitativ-empirischer Analysen, in: Adrian Kniel, Matthias Windisch (Hg.): Selbstvertretung und Lebensqualität von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Untersuchungsergebnisse zur Bedeutung der People-First-Gruppen in Deutschland aus der Sicht ihrer Mitglieder und für ihre Lebensqualität. Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung an der Universität Kassel zu dem Modellprojekt „Selbstorganisation und Selbstvertretung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen – Wir vertreten uns selbst!“, Kassel, 2002 (unveröffentlichter Bericht). 16 Die folgenden Interviews führte die Autorin im Rahmen ihrer Dissertation durch: Uta George: Kollektive Erinnerung bei Menschen mit geistiger Behinderung. Das kulturelle Gedächtnis des nationalsozialistischen Behinderten- und Krankenmordes in Hadamar. Eine erinnerungssoziologische Studie, Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 2008.

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4.1  Empathie für die Opfer Nach mehr als zwanzig Jahren Erfahrung mit der historisch-politischen Bildung in der Gedenkstätte Hadamar lassen sich bei den Besucherinnen und Besuchern bestimmte Verhaltensmuster erkennen. Menschen ohne Behinderungen verspüren beispielsweise häufig eine Distanz zu den Opfern der NS-„Euthanasie“-Verbrechen. Offenkundig sind Stigmatisierungen und Zuschreibungen bezüglich der Themen Behinderung oder Krankheit in der nicht-behinderten Gesellschaft weiterhin so sehr verbreitet, dass viele sich nicht mit den Opfern identifizieren können oder wollen. Menschen mit Lernschwierigkeiten hingegen drückten in den Interviews ihre große Empathie mit den Opfern aus. So berichtet Herr Köffler17: „[A]n die Gräber kann ich mich sehr gut äh sehr gut erinnern und das fand ich natürlich ganz ganz schlimm, und natürlich waren da auch noch äh ein Massengrab von 5.000 Menschen […] hat mich auch sehr mitgenommen […]“18 Bei einer anderen Interviewten, Frau Schulze, ist sogar Identifikation spürbar: „Das warn ja auch Menschen, so wie mir, mit äh Behinderung. Und ich denk halt immer, sind genauso Menschen wie mir auch, aber mir sin, mir ham Gott sei Dank damals net, noch net gelebt und da wärn mir heute auch noch wärn mir heute noch äh auch tot.“19 Sie positioniert sich als Mensch mit Lernschwierigkeiten und erkennt, dass ihr Leben damals ebenfalls in Gefahr gewesen wäre. Sie überträgt ihre Erkenntnisse auf die heutige Zeit und verleiht ihnen einen Appellcharakter, als sie ihren Kolleginnen und Kollegen aus der Werkstatt von Hadamar erzählt: „[U]nd ich sag, ihr könnt froh sein, dass ihr damals net glebt habt und dann hätt euch der Hitler auch vergast.“20 Es wird sehr deutlich, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten eine andere Perspektive als Menschen ohne Behinderungen einnehmen. Für sie ist es nicht undenkbar, sich mit Opfern mit Behinderungen zu identifizieren, denn für sie sind Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht „die anderen“. Besucherinnen und Besucher mit Lernschwierigkeiten haben sich während der Tagungen und Studientagen auch non-verbal zu den Aspekten von Empathie und Identifikation mit den Opfern geäußert: Die erst 2006 wieder aufgebaute ehemalige historische Busgarage (1941 Ankunftsort der Opfer in der Landesheilanstalt Hadamar) wurde von Seiten der Gedenkstättenmitarbeiterinnen und -mitarbeiter häufig fotografiert, stets von außen, so dass sie als Ganzes gut erkennbar war. Während eines dreitägigen Workshops mit Menschen mit Lernschwierigkeiten bestand eine Aufgabe darin, einen Ort in der Gedenkstätte zu fotografieren, der die Person besonders beeindruckt hatte. Die Garage wurde häufig als Motiv gewählt. Zur Verblüffung des Teams wählten allerdings viele Teilnehmenden die Perspektive von innen, das heißt die Blickrichtung der Opfer bei der Ankunft an diesem Ort. Dies war erneut eine andere Perspektive, nämlich nicht eine sachliche, objektive, sondern ein Blickwinkel, der vermutlich 17 18 19 20

Die Namen aller Interviewpartnerinnen und -partner wurden anonymisiert. Interview Hr. Köffler, Fr. Schulze, Zeilen 46 und 52. Interview Hr. Köffler, Fr. Schulze, Zeilen 39–42. Interview Hr. Köffler, Fr. Schulze, Zeilen 132f.

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auf hohe Empathie mit dem Schicksal der Opfer schließen lässt. Es ist hier von einer Ergänzung der bislang in NS-„Euthanasie“-Gedenkstätten vorherrschenden Perspektive zu sprechen.

4.2  Die Lebensrecht-Debatte Menschen ohne Behinderung sind – so wurde in der Arbeit mit Gruppen, zumeist Schülerinnen und Schüler sowie junge Erwachsene immer wieder deutlich – in großer Zahl mit pränataldiagnostischen Eingriffen einverstanden. Diese Position wird mit einem vermeintlich sorgenfreieren Leben der betreffenden Eltern begründet, „Leid“ soll vermieden werden, aber auch zusätzliche Kosten, die auf die Gesellschaft im Falle der Geburt eines (geistig)behinderten Kindes zukämen. Nach meiner Beobachtung hat sich diese Haltung in den vergangenen 15 Jahren in einen weitgehenden gesellschaftlichen Konsens verwandelt. Viele Schülerinnen und Schüler, die die Gedenkstätte Hadamar besuchen, einigen sich schnell darauf, dass Menschen mit Behinderungen besser erst gar nicht geboren würden. Wie ist es bei Menschen mit Lernschwierigkeiten? Herr Hemmelmann, ein ehemaliger Teilnehmer, äußert sich zu dem Thema: „Über diese, äh, pränatale, äh, Diagnostik oder wie man, äh, vorgeburtlichen, äh, Untersuchungen, die Fruchtwasseruntersuchungen, diese Abtreibungen [...] wie ja nun, ja eben halt, ähm, auf Frauen Druck ausgeübt wird, wenn’s dann, äh, doch feststeht, dass das Kind ne Behinderung hat. Dann gesagt wird, ach nee, ähm, wär schon besser, wenn sie’s abtreiben lässt.“21 An dieser Aussage wird deutlich, dass bei Menschen mit Lernschwierigkeiten Wissen über den medizinischen Fortschritt und die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik vorhanden ist. Auch wenn der Interviewte, Herr Hemmelmann, an sozialpolitischen Fragestellungen sehr interessiert ist und damit als ein sehr informierter Mensch gelten kann, so konnte doch bei allen Teilnehmenden an dem gedenkstättenpädagogischen Angebot ein Grundwissen über die pränataldiagnostischen Untersuchungen festgestellt werden. Diese medizinischen Entwicklungen werden von vielen Menschen mit Lernschwierigkeiten auf die eigene soziale Gruppe bezogen. „[...] ja aber ich denke halt eben, jedes Men, äh, jeder Mensch ist auf, äh, irgendeiner Weise, ob er behindert ist oder ob er normal ist oder ob er Lernschwierigkeiten hat, ja, äh, denk ich halt eben, dass er die gleiche Person ist, im Grunde genommen, ja. [...] es gibt natürlich Möglichkeiten, die dann gesagt werden, ähm, also die Kinder, wenn wenn die Eltern das rechtzeitig erfahren, sagen wir mal nach dem dritten Monat oder dem zweiten Monat, ja, äh, dass die sagen, nee also das bürd ich mir nicht auf dieses Leid, ja und, äh, Behinderte werden dann getötet. Das find ich jetzt ganz ganz schrecklich, weil ich denk, dies ist auch ein Lebewesen, nur eben anders, ja.“22 Herr Köffler schildert hier, neben einem faktischen 21 Interview Hr. Hemmelmann, Zeilen 204–208. 22 Interview Hr. Köffler, Fr. Schulze, Zeilen 191–194 und 199–203.

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Wissen über Pränataldiagnostik, eine große Empathie für Föten, die aufgrund von einer diagnostizierten Behinderung abgetrieben werden sollen. Er äußert zum anderen eine ganzheitliche Auffassung von Leben „dies ist auch ein Lebewesen, nur eben anders, ja“. Aus seiner eigenen Erfahrung heraus ist es für ihn nicht ungewöhnlich, dass Menschen unterschiedliche Fähigkeiten haben und trotzdem gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Er zieht auch keine Grenze zwischen Personengruppen, etwa so, dass Menschen mit einer bestimmten Behinderung noch ein lebenswertes Leben führen, während andere ein Leben führten, das eine reine Belastung für sie selbst und andere darstelle und formuliert damit eine zutiefst humanistische Einstellung. Die Argumentation der Interviewten zeigt hier, wie die eigene Lebenssituation die Einschätzung über gesellschaftliche Entwicklungen, wie den medizinischen Fortschritt, grundsätzlich prägt.

4.3  Politische Bildung In Studien zu Bildungsangeboten für Menschen mit Lernschwierigkeiten wird politische Bildung nur selten erwähnt.23 Die Entwicklung des Besuchsangebotes in Hadamar und die große Akzeptanz des Angebotes deuten allerdings auf ein großes Interesse auf Seiten der Betroffenen hin, für das offensichtlich zu wenig adäquate Angebote entwickelt werden. Häufig wird Menschen mit Lernschwierigkeiten leichtfertig ein Interesse am Lernen abgesprochen. Lernen ist aber oftmals ein sehr wichtiges Thema für Menschen mit Lernschwierigkeiten und wurde von uns deshalb einmal als zentraler Inhalt einer Tagung gewählt. „[I]ch hab so ne kleine Kassette und da hab ich das alles mal aufgenommen, was gesprochen worden is. Das hör ich mir dann immer abends mal an. [...] Ich mach’ auch bei allem mit, gell, wenn was irgendwas is, wo man was lernen kann, da mach ich mit dann auch mit, gelle, da kommt mer viel weiter, gell.“24 Die Teilnehmerin verstand den Besuch der Gedenkstätte Hadamar explizit als Lernangebot und stellte es in einen Zusammenhang mit ihrer eigenen Alphabetisierung. Andere Interviewte äußerten sich direkt zu dem Hadamarer Bildungsangebot: „Für mich war’s halt eben sehr, wie gesagt, erschütternd auf der einen Seite, aber auch sehr interessant, zu erleben [...] Man hört zwar soviel, über über Bücher, oder aber auch über Film Filme, ja, äh, wie mein Kampf, zum Beispiel, ja? Äh, äh, wo dann eben diese 23 Vgl. Günther Cloerkes: Soziologie der Behinderten. Eine Einführung, Heidelberg: Winter, 22001; Claudia Hoffmann, Wolfram Kulig, Georg Theunissen: Bildungsangebote für Erwachsene mit geistiger Behinderung an Volkshochschulen, in: Geistige Behinderung. Fachzeitschrift der Bundesvereinigung der Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V. 39, 2000, H. 4 S. 346–359. 24 Transkribierte Sequenz eines Filmes der Arbeitsgemeinschaft „Behinderung und Medien“: „’War der Hitler ein Drecksack.’ Ein Besuch der Gedenkstätte Hadamar, erstmals ausgestrahlt am 1. März 2007 in 3 Sat, Teilnehmerin FB, Zeilen 164–168. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind in dieser Filmsequenz mit Buchstaben abgekürzt, in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens.

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Nazizeit geschildert, aber man man kennt sich trotzdem nicht aus und ich find das sehr gut, dass sie diese Möglichkeit in Hadamar möglich ist, dass man da hin gehen kann und sich das mal genau informieren lässt und, äh, zeigen lässt, ja. Das ist wirklich also sehr sehr gut.“25 Herr Köffler formuliert hier zum einen, dass er (und andere) Vorwissen über das Thema NS-„Euthanasie“-Verbrechen mitbrachten. Allerdings gäbe es, so führt er aus, zu wenig Angebote, bei denen sich Menschen mit Lernschwierigkeiten über dieses Thema umfassender informieren könnten. Durch diese mangelnde Öffnung geht den Gedenkstätten und anderen Einrichtungen historisch-politischer Bildung nicht nur eine Zielgruppe verloren, sondern ein Teil der Bevölkerung wird faktisch auch von Bildungsangeboten und damit gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen. Ein anderer Interviewter spricht über den Aufklärungscharakter, den die Beschäftigung mit der Thematik NS-„Euthanasie“-Verbrechen haben könne: „Das ist ganz wichtig, weil, äh, Aufklärung ist ganz wichtig, weil so was darf nie wieder passieren, das ist ein Teil davon und dann ist noch ganz wichtig, dass man so ne Tagung für Menschen mit Lernschwierigkeiten macht, äh, weil es ja zum größten Teil die Menschen warn, die [...] in den, äh, Anstalten umgebracht worden sind, wo heute Gedenkstätten sind.“26 Eine der zentralen Zielsetzungen von Gedenkstätten, nämlich aufzuklären, wird hier von einem Menschen formuliert, der selbst Diskriminierungen ausgesetzt ist. Tatsächlich richtet sich sein Wunsch nach Aufklärung an Menschen ohne Behinderungen. Diese mögen eigene Vorurteile hinterfragen und gegebenenfalls ihr Verhalten ändern. Die Wichtigkeit des Ansatzes für Betroffene wird auch daran deutlich, dass ehemalige Teilnehmende in Werkstätten und Wohnheimen Werbung für das Hadamarer Angebot machen. Der Wunsch, die Gedenkstätte zu besuchen, wurde dann auch von den künftigen Besucherinnen und Besuchern selbst – nicht von der pädagogischen Leitung geäußert. Unter anderem daran wird deutlich, wie die Beschäftigung mit der Geschichte der NS-„Euthanasie“-Verbrechen zu Empowerment führt: ganz offensichtlich wird die Auseinandersetzungen mit diesem Teil des Nationalsozialismus nicht als erneute Machtlosigkeit oder Reviktimisierung erlebt. Voraussetzung dafür ist eine Begegnung zwischen Tätigen in der politischen Bildung und den Betroffenen auf Augenhöhe. Darüber hinaus muss die Zielsetzung für Gedenkstätten sein, die Aufklärung für ein Empowerment zu nutzen, sich selbst als Individuum mit Handlungsoptionen wahrzunehmen und Spielräume auszuprobieren.

5. Fazit Historisch-politische Bildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten – so zeigen die siebenjährigen Erfahrungen in der Gedenkstätte Hadamar – hat sowohl für die pädagogische Arbeit wie für alle Besucherinnen und Besucher positive Auswirkungen. Dabei 25 Interview Hr. Köffler, Fr. Schulze, Zeilen 400-401 und 403–407. 26 Interview Hr. Fechner, Zeilen 70-75.

Historisch-politische Bildung in der Gedenkstätte Hadamar

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profitieren die Angehörigen der neuen Zielgruppe besonders. Aber auch die Institution Gedenkstätte verändert sich positiv durch diese Öffnung: (1) Für den Erinnerungsort bedeutet es eine Vervollständigung des kulturellen Gedächtnisses, wenn die Perspektive von Menschen mit Lernschwierigkeiten auf die Verbrechen und die Erinnerung einfließt und das bisherige Bild ergänzt. Durch die Etablierung eines Bildungsangebotes für diese Zielgruppe gewinnt eine Gedenkstätte an Glaubwürdigkeit, da Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht erneut ausgeschlossen werden. (2) Die Anwesenheit von Besuchenden mit Lernschwierigkeiten ist auch für andere Besucherinnen und Besucher eine neue Erfahrung und erweitert somit ihren Horizont: Menschen mit Lernschwierigkeiten werden ebenso als Lernende oder sogar Gestaltende wahrgenommen, nicht nur als Beziehende von Hilfeleistungen.

Christine-Dorothea Sauer, Jana Viehweger, Karen Gröning

Gemeinsam kommen wir voran. Kooperationsprojekte zur Barrierefreiheit in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin

Die Stiftung Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB)1 ist eine Stiftung des öffentlichen Rechts. Sie versteht sich als großstädtischer Ort der Kommunikation und der Informationsvermittlung. In ihren Häusern in den Berliner Bezirken Mitte (Berliner Stadtbibliothek, Senatsbibliothek) und Kreuzberg (Amerika-Gedenkbibliothek) versammelt sie über 3,5 Millionen elektronische und gedruckte Medien. Den Kunden stehen Internet- und PC-Arbeitsplätze sowie Rechercheterminals zur Verfügung. Als Universalbibliothek bietet sie Fachbestände und Datenbanken zu den wissenschaftlichen Disziplinen und zur Belletristik sowie Literatur zu Reise- und Freizeitthemen und multimedial ausgestattete Bereiche für Kinder und Jugendliche. Jährlich kommen über 1,4 Millionen Kunden in die Häuser der ZLB, mehr als 4 Millionen Medien werden entliehen. Dem Stiftungsgesetz entsprechend erbringt sie Dienstleistungen für die öffentlichen Bibliotheken der Berliner Bezirke und ist der Sitz der Servicezentrale des Verbundes der Öffentlichen Bibliotheken Berlins (VÖBB). Die Webseite des Verbundes ist – als erstes Internetangebot einer Bibliothek überhaupt – im Januar 2009 von der Aktion Mensch e.V. und der Stiftung Digitale Chancen mit dem BIENE-Award2 in Silber ausgezeichnet worden. In den Häusern der ZLB haben professioneller Kundenservice und freie Zugänglichkeit zu allen Informationen Tradition. Mit Umbaumaßnahmen sind in den letzten Jahren die baulichen Voraussetzungen für die weitgehende Barrierefreiheit für mobilitätseingeschränkte Nutzerinnen und Nutzer beider Häuser geschaffen worden, und dies, obwohl die Gebäude, die aus Altbausubstanz aus mehreren Jahrhunderten bestehen, unter Denkmalschutz stehen.3 Als eine der letzten Maßnahmen wurden im Rahmen eines Projektes – mit Unterstützung des Europäischen Fonds für Regionale Entwick1 . 2 Seit 2003 prämieren die Aktion Mensch und die Stiftung Digitale Chancen die besten deutschsprachigen barrierefreien Angebote im Internet mit einer BIENE. BIENE steht für „Barrierefreies Internet eröffnet neue Einsichten“, aber auch für Kommunikation, gemeinsames Handeln und produktives Miteinander: . 3 .

Kooperationsprojekte zur Barrierefreiheit

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lung (EFRE) – im Haus Berliner Stadtbibliothek die wesentlichen Publikumsbereiche über einen barrierefreien Haupteingang und mit Hilfe eines Aufzuges neu erschlossen. In diesem Zusammenhang wurde ein „Nachhaltigkeitskonzept Barrierefreiheit in der ZLB“ erstellt. Es hat zum Ziel, für alle Menschen, ungeachtet einer Behinderung, den Zugang zu den Räumen, Sammlungen und Services sicherzustellen sowie die Vermittlung und Zugänglichkeit der Angebote der ZLB im Hinblick auf die Barrierefreiheit auch künftig weiterzuentwickeln. Die Bibliothek verfügt über langjährige, gute Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit verschiedenen Behindertenverbänden, wie z.B. mit dem Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin gegr. 1874 e.V. (ABSV)4, dem Gehörlosenverband Berlin e.V. sowie anderen Einrichtungen für gehörlose Kinder und Jugendliche.

1.  Angebote für Menschen mit Sehbehinderungen In den Häusern Amerika-Gedenkbibliothek und Berliner Stadtbibliothek sind frei zugängliche Computer mit dem für Menschen mit Sehbehinderungen entwickelten Programm „Zoomtext“ installiert. Mit Hilfe des Programms kann die Bildschirmoberfläche der Computer individuell eingestellt und so den unterschiedlichen Sehbehinderungen angepasst werden. An diesen Computern kann in den elektronischen Katalogen, im Internet und im Datenbankangebot der ZLB recherchiert und bestellt werden. Darüber hinaus wird unterstützend ein Sprachausgabe-Programm angeboten. Hilfestellung bei Fragen zur Recherche leisten die Mitarbeiterinnen an den Informationspulten. Auf ihren Internetseiten bietet die ZLB für blinde und sehbehinderte Kunden eine barrierefreie Text- und Druckversion mit browserunabhängigem Zugang, einer Textversion zum Drucken, an. Auf Initiative der ZLB konnte im Jahr 2003 der ABSV für eine dauerhafte Kooperation bei Aufbau und Nutzung der Arbeitsplätze gewonnen werden. Zwei seiner Mitglieder erklärten sich bereit, an der Erstellung, Abgrenzung und Erweiterung des Angebotes mitzuarbeiten und ihre Erfahrungen als Experten und unmittelbar Betroffene einzubringen, z.B. bei der Auswahl der Software, der Platzierung und Gestaltung der Arbeitsplätze sowie der Schulung der Mitarbeiter, etwa bei der Sensibilisierung gegenüber den Bedürfnissen sehbehinderter Nutzer. e-LernBar – PC- und Internetkurse für sehbehinderte Menschen: Die e-LernBar5 ist ein Multimediazentrum, in dem Lernsoftware und Online-Kurse zum Selbstlernen in der Freizeit angeboten werden. In ansprechendem Ambiente können Bibliothekskunden an 34 PC- und Internet-Lernplätzen verschiedene Programme nutzen und selbstständig neues Wissen in den Bereichen Fremd- und Programmiersprachen, PC-Anwendungen, Business und Wirtschaft erwerben. Die e-LernBar ist das erste multimediale 4 . 5 .

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Lernzentrum dieser Art in Deutschland, das auf PC-unterstütztes Lernen für ein breites Bibliothekspublikum spezialisiert ist. In Kooperation mit dem ABSV hat die ZLB ein spezielles Angebot für das Arbeiten mit dem PC für Menschen mit Sehbehinderungen entwickelt. Es soll auch Menschen, die trotz Korrektur mit optischen Gläsern kein normales Sehvermögen erreichen, die Möglichkeit geben, die von Bibliotheken angebotenen Medien und Informationen zu nutzen. Ziel ist es, die Medien- und Informationskompetenz sehbehinderter Menschen zu verbessern. An fünf Arbeitsplätzen in der e-LernBar ist ebenfalls das Programm „Zoomtext“ installiert. Die Lerninhalte werden analog der Bildschirmdarstellung in gut verständlicher Sprache über Lautsprecher oder Kopfhörer vorgelesen. An diesen Plätzen sind Großschrifttastaturen aufgestellt. In Kursen erhalten die Teilnehmer von Mitarbeiterinnen der ZLB Einführungen in den Umgang mit dem PC und erlernen das Arbeiten mit verschiedenen Softwareprogrammen, das Recherchieren im Internet, in Bibliothekskatalogen und anderen Datenbanken. Die angebotenen Schulungen qualifizieren sehbehinderte Menschen, die elektronischen Werkzeuge gezielt für die Nutzung des Internet im privaten und beruflichen Alltag zu nutzen. Die Kurse fördern die aktive Selbsthilfe, die neben der theoretischen Vermittlung mit praktischen Beispielen und Tipps unterstützt wird. Ein Erfahrungsaustausch innerhalb des Teilnehmerkreises ist ausdrücklich erwünscht und wird praktiziert, indem sich die Teilnehmer gegenseitig beim Umgang mit dem Computer helfen. Die Veranstaltungsreihe ist kostenfrei, doch ist eine Anmeldung erforderlich. Darüber hinaus bietet die e-LernBar den barrierefreien Computerführerschein „ECDL barrierefrei“ zum Selbststudium an. Dieses Selbstlernprogramm richtet sich an Menschen mit Sehbehinderung, Gehörlosigkeit, Lernschwächen und motorischen Schwächen. Gern wird von Sehbehinderten der Selbstlernkurs zum 10-Finger-Tastaturtraining genutzt. „Gemeinsam Lesen“ – Lesungen und Literaturgespräche mit sehbehinderten Erwachsenen: Diese Lesungen finden unter der Leitung einer Mitarbeiterin der ZLB regelmäßig seit 2004 etwa dreimal im Monat statt. Der Kreis setzt sich aus sehbehinderten und blinden Teilnehmern zusammen, deren gemeinsames Interesse die Auseinandersetzung mit deutschsprachiger Literatur ist. Die Lektüre wird gemeinsam von der Gruppe ausgewählt; so wurden z.B. Sigrid Damms „Das Leben des Friedrich Schiller“ und „Christiane und Goethe“ oder Kerstin Deckers „Heinrich Heine“ gelesen. Einmal im Jahr führt eine Reise den Lesekreis nach Weimar, wo gemeinsam Museen, Bibliotheken und Ausstellungen – häufig mit auf die Besucher und Besucherinnen zugeschnittenen Führungen – besichtigt werden.

2.  Angebote für gehörlose Kinder in der Kinder- und Jugendbibliothek Die Kinder- und Jugendbibliothek der ZLB6 ist ein Medien- und Informationszentrum, das mit seinem Medien- und Veranstaltungsangebot über Berlin hinaus wirkt. Als 6 .

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größte Kinder- und Jugendbibliothek Deutschlands verfügt sie mit einem Bestand von über 132.000 Medien über ein vielseitiges und aktuelles zielgruppenorientiertes Angebot, zu dem auch eine Sammlung von Kinder- und Jugendliteratur gehört, die bis in die 1950er Jahre zurückreicht. Die Kinder- und Jugendbibliothek kooperiert deutschlandweit mit Kultur- und Bildungsinstitutionen und initiiert Serviceleistungen und Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche von gesamtstädtischer Bedeutung. „LeseZeichen – Kinderliteratur mit den Augen hören“: 2005 kam der Vorsitzende des Gehörlosenverbandes Berlin e.V. (GVB)7 mit dem Vorschlag auf die Kinder- und Jugendbibliothek zu, in einer gemeinsamen Veranstaltung das neu erschienene Lesezeichen, ein Buchaccessoire mit Vorlesetipps für Gehörlose, einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Verband hatte das ursprünglich aus den USA von der Gallaudet Universität8 stammende Lesezeichen übersetzen lassen. Dieses soll die Eltern gehörloser Kinder ermutigen, ihren Kindern Bücher in Gebärdensprache vorzulesen. Die Veranstaltung war der Beginn einer dauerhaften Zusammenarbeit mit gehörlosen Mitgliedern des Vereins. 2006 wurde eine Veranstaltungsreihe unter dem Titel „LeseZeichen – Kinderliteratur mit den Augen hören“ initiiert, in der gehörlosen und hörgeschädigten Kindern und ihren Familien die Angebote der Bibliothek gezielt vermittelt werden. In der Gehörlosenkultur spielen Bücher und Bibliotheken nur eine untergeordnete Rolle. Das ist darin begründet, dass viele gehörlose Menschen Probleme beim Umgang mit der Schriftsprache haben. Eine der Ursachen liegt in der Geschichte der Bildung Gehörloser, die vom Bestreben gekennzeichnet war, Gehörlosen die deutsche Sprache als mündliche Sprache zu vermitteln, anstatt die Sprache der Gehörlosen, nämlich die Deutsche Gebärdensprache (DGS), zur visuellen Versprachlichung und zur Vermittlung von Inhalten einzusetzen. Die DGS, die seit 2002 bundesweit durch das Behindertengleichstellungsgesetz als eigenständige Sprache anerkannt ist, stellt eine Möglichkeit zur Überwindung der Sprachlosigkeit und eine Brücke zur hörend-sprechenden Umwelt dar. Sie steht deshalb auch im Mittelpunkt des Angebots der Bibliothek. Gehörlose Eltern, die selbst nicht lesen, haben noch größere Schwierigkeiten, ihren Kindern Bücher zu vermitteln, als hörende, aber nicht lesende Eltern. Hinzu kommt, dass es innerhalb der Zielgruppe wenige Familien gibt, die nur eine Sprache benutzen. Manche hörgeschädigte Kinder wachsen mit hörenden Geschwistern oder Eltern auf, andere sind hörende Kinder gehörloser Eltern, sogenannte CODA-Kinder (Children of Deaf Adults). CODA-Kinder wachsen in zwei Welten auf: In ihren Familien und den Gehörlosengemeinden benutzen sie die Gebärdensprache. Sie orientieren sich an sozialen und kulturellen Normen, die sich von denen der hörenden Welt sehr unterscheiden. Sie nehmen aber auch die Lautsprache ihres Umfelds auf und dienen oft als Dolmetscher ihrer Eltern. CODA-Kinder, die hörenden Erwachsenen und die Hörgeschädigten bilden keine homogene Besuchergruppe. Daher werden die Angebote 7 . 8 .

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der ZLB regelmäßig daraufhin überprüft, ob und inwieweit sie den Bedürfnissen der Zielgruppe angemessen sind. Vorlesen in Gebärdensprache, gemeinsames Lesen von Texten und Erklären sind für gehörlose und schwerhörige Kinder wichtiger als für hörende Kinder, die das Gesprochene auch beiläufig aufnehmen können. In Zusammenarbeit mit der Kinderbibliothek der ZLB, dem GVB und dem Berliner Elternverein Hörgeschädigter e.V.9 entwickelte die Kinder- und Jugendbibliothek die Veranstaltungsreihe „LeseZeichen – Kinderliteratur mit den Augen hören“. Sie findet seit März 2006 monatlich mit bis zu 40 Teilnehmern statt und war die erste Veranstaltung ihrer Art in der Bundesrepublik. Dadurch sollen Eltern und Kinder die Freude am Lesen entdecken und ermutigt werden, selbst vorzulesen, d.h. Bücher zu gebärden und sich über Kinderliteratur auszutauschen. Die Veranstaltung besteht aus drei Abschnitten: Im ersten Teil werden thematisch ausgewählte Bilderbücher „vorgetragen“. Dieser Begriff ist deshalb gewählt, weil es drei verschiedene Techniken der Vermittlung gibt: Erstens kann als textgetreueste Variante ein Buch vorgelesen und zeitgleich von einer Gebärdensprachdolmetscherin übersetzt werden. Zweitens kann ein Buch in DGS erzählt werden. Dafür muss der Vortragende sich intensiv mit dem Buch beschäftigt haben, da auch Gedanken, Fragen und Bildbeschreibungen gebärdet werden. Drittens kommen beide Versionen zum Einsatz: Der Gebärdende beginnt, und anschließend liest die Bibliothekarin den Text. Dies erlaubt Kindern oder Erwachsenen, die hören können, ihr Gebärdenverstehen zu überprüfen. Der zweite Teil der Veranstaltung zur Leseförderung ist für die Erwachsenen konzipiert; denn außer den Eltern finden auch Großeltern, Einzelfallhelferinnen, Lehrerinnen und andere den Weg in die Kinder- und Jugendbibliothek. Von der Bibliothekarin werden Tipps zur Literaturvermittlung und zur Buchauswahl gegeben und über Neuigkeiten, zum Beispiel über Kinder- und Jugendliteraturpreise und neue Medien in der Bibliothek informiert. Während dieses Veranstaltungsteils haben die Kinder die Möglichkeit, etwas zum Thema der Veranstaltung zu basteln. Dazu versammeln sich die hörgeschädigten und hörenden Kinder, oft Gruppen mit bis zu 20 Teilnehmern im Alter von vier bis acht Jahren, an einem großen Tisch mit Bastelangeboten, etwa zum Thema Zirkus eine Clowns-Karte oder zum Thema Märchen ein Drache. Das Basteln wird von Auszubildenden oder den Freiwilligen im Freiwilligen Sozialen Jahr Kultur10 vorbereitet und angeleitet. Der dritte Teil ist der praktischen Bibliotheksnutzung vorbehalten, der Auswahl, Beratung, Ausleihe und Rückgabe von Medien. Die zweistündige Veranstaltung wird von einer Gebärdensprachdolmetscherin begleitet. In der Veranstaltung haben auch die Kooperationspartner die Möglichkeit, die Besucher über Neuigkeiten zu informieren. Inhaltliche und organisatorische Planung sowie die Durchführung und Moderation der Veranstaltung sind Aufgabe der Bibliotheksmitarbeiter. Ein gehörloser Vertreter des Verbandes holt die ausgewählten Bücher ab und versendet anschließend Scans der 9 . 10 FSJ Kultur .

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Bilderbücher, um die Vorbereitung der aktiven Teilnehmer (Eltern, Lehrer usw.) zu ermöglichen. Manchmal bereiten auch Einzelfallhelfer mit den von ihnen betreuten Kindern die Vermittlung eines kurzen Bilderbuchs in Gebärdensprache vor.11 Zur Öffentlichkeitsarbeit gehört die Kooperation mit den Verbänden und Schulen, zum Beispiel mit der Ernst-Adolf-Eschke-Schule für Gehörlose12 und einer Gebärdensprachschule13. Mit Hilfe von Flyern, Hinweisen auf den Webseiten der Verbände, Newslettern sowie durch Pressearbeit und Beiträge in den Medien wird die Öffentlichkeit informiert, u.a. im Rahmen der Fernsehsendung „Sehen statt Hören“, dem Wochenmagazin für Hörgeschädigte, die vom Bayerischen Rundfunk produziert und in allen Dritten Programmen ausgestrahlt wird.14 Dadurch ist „LeseZeichen: Kinderliteratur mit den Augen hören“ inzwischen vielen bekannt und findet weitere Unterstützung. So konnte dank einer Spende des Lions Club Pariser Platz die Kinder- und Jugendbibliothek zu Theateraufführungen mit einer Gebärdensprachdolmetscherin während der Berliner Märchentage und zu einem „Wintermärchen in der mongolischen Jurte“ in Gebärdensprache einladen. Die ZLB bietet für die Bedürfnisse gehörloser Kinder und ihrer Bezugspersonen spezielle Medien an, die die deutsche Schriftsprache und die Gebärdensprache kombinieren. Hierzu gehören CD-ROMs und Bücher zum Erlernen der Gebärdensprache sowie Kombinationen von Buch und Gebärden-CD-ROM bzw. von Buch und Gebärden-Videos und -DVDs. Diese Medien fördern sowohl die Schriftsprach- als auch die Gebärdenkompetenzen. Außerdem werden vermehrt Bücher erworben, die gehörlose Kinder, Jugendliche oder Erwachsene in ihrem Alltag oder in Phantasiewelten zeigen und sie so ermutigen, bestärken und zum Lesen anregen. Eine Bibliographie auf der Homepage der ZLB verzeichnet diese Medien.15 Erste Erfolge zeigen sich auch im „normalen“ Bibliotheksalltag: Eltern, Einzelfallhelfer mit ihren betreuten Kindern sowie Gruppen der Ernst-Adolf-Eschke-Schule, einzelne Kindertagesstätten und die Witzleben-Schule für hörgeschädigte Kinder16 suchen mittlerweile selbstständig die Bibliothek auf.

3. Erfahrungen Nach den Erfahrungen der ZLB gehört zu den wichtigsten Voraussetzungen einer gelungenen, für alle Beteiligten erfolgreichen Umsetzung barrierefreier Angebote die enge Zusammenarbeit mit den Betroffenen insbesondere schon in der Planungs- und 11 . 12 . 13 . 14 . 15 . 16 .

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Vorbereitungsphase von Veranstaltungen. Mit ihren eigenen Netzwerken tragen die Verbände, Vereine und Selbsthilfegruppen zur Akzeptanz der Angebote bei und schaffen Kontakte zu neuen Kooperationspartnern. Abbildung 1 Ein Bilderbuch wird in Gebärdensprache übertragen: Gero Scholtz gebärdet eine Schildkröte. Foto: Karen Gröning.

Abbildung 2 e-LernBar – PC- und Internetkurs für sehbehinderte Menschen. Foto: Jana Viehweger.

Birgit Drolshagen

Studieren ohne Barrieren. Der Weg zu „Hochschulen und Bibliotheken für Alle“

Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie der Weg zu einer inklusiven Hochschule und somit zu einer „Hochschule für Alle“ aussehen kann. Ausgangspunkt ist das Modell einer „Hochschule für Alle“, vor deren Hintergrund das bestehende Hochschulsystem anhand ausgewählter Aspekte skizziert wird. Als modellhafter Weg zu einem inklusiven Hochschulsystem kann der an der Technischen Universität Dortmund (TU Dortmund) beschrittene Weg angesehen werden, durch dessen Einsatz es der Einrichtung möglich ist, sich dem Ziel einer „Hochschule für Alle“ kontinuierlich anzunähern. Ein inklusives Hochschul- und Bibliothekssystem kann durch die Übertragung dieses „Dortmunder Arbeitsansatzes“ auf andere Hochschulen und Bibliotheken schrittweise realisiert werden. Dies zeigt das Beispiel der Universitätsbibliothek Dortmund (UB Dortmund).

1.  Merkmale einer „Hochschule für Alle“ Das Charakteristikum einer „Hochschule für Alle“ ist, dass allen Studierenden trotz der Vielfalt an unterschiedlichen Bedingungen, die sie in ihr Studium einbringen, ein chancengleiches Studium ermöglicht wird. Bezogen auf die in diesem Beitrag besonders beachtete Bedingung einer Behinderung ist ein Studium dann chancengleich, wenn behinderte Studierende die Möglichkeit haben, selbstbestimmt und gleichberechtigt an allen Bereichen des Studienlebens teilzuhaben. Hierzu gehören gleichermaßen die aktive Teilnahme an Lehrveranstaltungen, das Arbeiten in der Bibliothek, aber auch das Essen in der Mensa oder die Beteiligung an studentischen Sportveranstaltungen und vieles mehr. An diesen Bereichen selbstbestimmt und gleichberechtigt teilhaben zu können, bedeutet in Anlehnung an Gusti Steiner, dass behinderte Studierende als Experten und Expertinnen für ihr eigenes Studium unabhängig von Art und Schwere ihres Unterstützungsbedarfs über ihre Studienangelegenheiten entscheiden und die für Studierende üblichen Rollen ohne Benachteiligungen wahrnehmen können.1

1 Gusti Steiner: Behinderte als Bürger. Strategien der Rückeroberung von Alltag, in: Marianne Hellmann, Eckhard Rohrmann (Hg.): Alltägliche Heilpädagogik und ästhetische Praxis, Heidelberg: Winter, 1996, S. 195–213, hier S. 205.

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Voraussetzung hierfür ist, dass die Bereiche, an denen behinderte Studierende selbstbestimmt teilhaben möchten, barrierefrei gestaltet sind. Diesen Zusammenhang zwischen Teilhabe und Barrierefreiheit berücksichtigen zahlreiche Gesetze. So definiert beispielsweise das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen im § 4: „Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind.“2 Die Anerkennung des Rechts auf barrierefreie Umweltbedingungen und gleichberechtigte Teilhabe ist Ausdruck eines Paradigmenwechsels in der Behindertenpolitik. Dass gleichberechtigte Teilhabe barrierefrei gestaltete Lebensbereiche voraussetzt, stellt unter anderem auch Elisabeth Wacker fest, wenn sie erklärt, dass Teilhabemöglichkeiten „durch vielfältige Neugestaltung der Umwelt sichergestellt werden, indem Hindernisse abgebaut werden, die Menschen mit Behinderung im Alltag begegnen […]“.3 Ausdrücklich nennt sie in diesem Zusammenhang auch den Bereich der Bildung, der im Sinne einer Umwelt für alle so gestaltet werden müsse, dass er allen Menschen eine selbstbestimmte Teilhabe ermögliche. Gleiches fordert die Mitgliederversammlung des Deutschen Studentenwerks, wenn sie in ihrem Eckpunktepapier Bund, Länder, Hochschulen und Studentenwerke auffordert, „gleichberechtigte Teilhabe an der Hochschule zu ermöglichen“.4 Eine der Teilhabe und Barrierefreiheit verpflichtete Hochschule verlangt nicht die Anpassung behinderter Studierender an vorgegebene Strukturen, sondern verlangt im Sinne von Inklusion die Schaffung eines alle Bedarfe berücksichtigenden Gesamtsystems Hochschule. Der Terminus der Inklusion kennzeichnet nach Andreas Hinz einen Paradigmenwechsel im Bereich der Bildungsmöglichkeiten behinderter Menschen.5 Er formuliert eine systemische Sichtweise und löst den Begriff der Integration

2 Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen (Behindertengleichstellungsgesetz – BGG) vom 27. April 2002 (BGBl. I, S. 1467, 1468), das zuletzt durch Artikel 12 des Gesetzes vom 19. Dezember 2007 (BGBl. I S. 3024) geändert worden ist, . 3 Elisabeth Wacker: Ungleiche Teilhabe – Behinderung und Rehabilitation, in: Renate Hinz, Renate Walthes (Hg.): Heterogenität in der Grundschule. Den pädagogischen Alltag erfolgreich bewältigen, Weinheim [u.a.]: Beltz, 2009, S. 101–113, hier S. 109 [Hervorhebung im Original]. 4 Deutsches Studentenwerk: „Für eine barrierefreie Hochschule“ – Eckpunkte und Maßnahmenkatalog zur Schaffung gleichberechtigter Teilhabemöglichkeiten für Studienbewerber/innen und Studierende mit Behinderung und chronischer Krankheit. Beschluss der 65. ordentlichen Mitgliederversammlung des Deutschen Studentenwerks (DSW) am 30.11./1.12.2004, Berlin, 2004, 18 S., . 5 Andreas Hinz: Von der Integration zur Inklusion – Terminologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung?, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 53, 2002, H. 9, S. 354–361.

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ab, der – zumindest in der praktischen Umsetzung6 – auf die Eingliederung Einzelner in ein unverändertes System und folglich auf die Anpassung Einzelner zielt. Somit ist eine inklusive Hochschule eine „Hochschule für Alle“, welche die Verschiedenheit aller Menschen anerkennt und die so gestaltet ist, dass sie für alle Studierenden mit ihren unterschiedlichen Kompetenzen – also auch für Studierende mit unterschiedlichen Behinderungen – gleichermaßen nutzbar ist. Ein inklusives Hochschulsystem „postuliert die Sichtweise einer heterogenen Studierendenschaft, die aus diversen Mehrheiten und Minderheiten besteht – unter ethnischen, sozialen, geschlechtsrollenspezifischen, behinderungsbezogenen, religiösen und anderen Gesichtspunkten. Das Konzept einer ‚inklusiven Hochschule‘ oder einer ‚Hochschule für alle‘, in der Heterogenität und Vielfalt geschätzt und als Stärken begriffen werden, sollte daher […] gestaltungs- und handlungsleitend sein.“7 Handlungsleitend für inklusive Hochschulen sind die Bedarfe und Bedürfnisse der Lernenden und nicht die des Systems Hochschule. Dies ist gegeben, „wenn Chancenungleichheiten beseitigt oder zumindest gemildert werden. Dies beendet nicht Verschiedenheit, sondern damit verbundene Ungerechtigkeiten“.8 Inklusive Hochschulen sind als Teil eines inklusiven Bildungssystems zu betrachten. Bezogen auf die Bedingung „Behinderung“ hat sich die Bundesrepublik Deutschland mit der Verabschiedung von Gleichstellungsgesetzen und insbesondere mit der 2009 in Kraft getretenen UN-Konvention über die Rechte für Menschen mit Behinderungen zum Aufbau eines inklusiven Bildungssystems verpflichtet.9 Insofern steht auch die Ratifizierung der UN-Konvention für einen Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik. So heißt es beispielsweise in § 24 Absatz 2 des für alle Unterzeichnerstaaten gültigen englischen Originaltextes10 im Hinblick auf Bildung: „(a) Persons with disabilities are not excluded from the general education system on the basis of disability [...]; 6 Alfred Sander: Konzepte einer Inklusiven Pädagogik, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 55, 2004, H. 5, S. 240–244. 7 Deutsches Studentenwerk (Anm. 4), S. 7; vgl. Hochschulrektorenkonferenz: „Eine Hochschule für Alle“. Empfehlung der 6. Mitgliederversammlung am 21.4.2009 zum Studium mit Behinderung/chronischer Krankheit, Bonn, 2009, 11 S., Anlage, . 8 Wacker (Anm. 3), S. 110. 9 Siehe Monika Schumann: Die „Behindertenrechtskonvention“ in Kraft! – Ein Meilenstein auf dem Weg zur inklusiven Bildung in Deutschland?!, in: Zeitschrift für Inklusion 2009, H. 2, . Vgl. Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (Hg.): Gutachten zum völkerrechtlichen Recht auf Bildung und seiner innerstaatlichen Umsetzung, vorgelegt von Ralf Poscher, Thomas Langer, Johannes Rux, Frankfurt/M.: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Hauptvorstand, 2008, 201 S., . Zu den Hochschulen vgl. Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen: Handlungsaufträge aus dem UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Fraktionsbeschluss 1. Dezember 2009, 11 S., . 10 Auf die Problematik der deutschen Übersetzung der UN-Konvention, in der „inclusion“ mit „Integration“ übersetzt wird, sowie auf die Kritik an Hinz soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden.

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(b) Persons with disabilities can access an inclusive, quality and free primary education and secondary education on an equal basis with others in the communities in which they live; [...].“11 Nach Forderungen der Hochschulrektorenkonferenz und des Deutschen Studentenwerks soll das Konzept einer „Hochschule für Alle“ umgesetzt werden.12 Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, ob und inwieweit diese in UN-Konvention und Gleichstellungsgesetzen verankerte Forderung in Deutschland bereits verwirklicht worden ist.

2.  Studieren mit Behinderung im Kontext von Teilhabe, Barrierefreiheit und Inklusion Auf die Schaffung nachteilsfreier Studienbedingungen zielen neben den Landeshochschulgesetzen auch die Vorgaben des Hochschulrahmengesetzes. In § 2 Absatz 4 wird der Auftrag der Hochschulen benannt, Benachteiligungen behinderter Studierender zu vermeiden: „Die Hochschulen wirken an der sozialen Förderung der Studierenden mit […]. Sie tragen dafür Sorge, dass behinderte Studierende in ihrem Studium nicht benachteiligt werden und die Angebote der Hochschule möglichst ohne fremde Hilfe in Anspruch nehmen können.“13 Konkretisiert wird dies in § 16, der zur Berücksichtigung der „besonderen Belange behinderter Studierender zur Wahrung ihrer Chancengleichheit“ in Prüfungsordnungen aufruft.14 Die anlässlich der 18. Sozialerhebung im Sommersemester 2006 an bundesdeutschen Hochschulen durchgeführte repräsentative Befragung deutscher und bildungsinländischer Studierender zeigt, dass der Anteil der Studierenden mit gesundheitlichen Schädigungen seit dem Jahre 2000 um nahezu 4 Prozent gestiegen ist und zum Erhebungszeitpunkt bei nahezu 19 Prozent liegt. In absoluten Zahlen bedeutet dies, dass knapp 327.000 Studierende gesundheitliche Schädigungen aufweisen. Mit dem Terminus „gesundheitliche Schädigung“ werden im Rahmen der Sozialerhebung Behinderungen und chronische Krankheiten bezeichnet.15 11 United Nations, Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights (Ed.): Convention on the Rights of Persons with Disabilities, New York, 2006, hier § 24 . 12 Siehe Anm. 7. 13 Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hg.): Hochschulrahmengesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 19. Januar 1999 (BGBl. I S. 18), zuletzt geändert durch Artikel 2 des Gesetzes vom 12. April 2007 (BGBl. I S. 506), keine amtliche Bekanntmachung, 19 S., hier § 2, . 14 Hochschulrahmengesetz (Anm. 13), hier: § 16, . 15 Bundesministerium für Forschung und Bildung (Hg.): Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden der Bundesrepublik Deutschland 2006. 18. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks durchgeführt durch HIS Hochschul-Informations-System. Ausgewählte Ergebnisse, Bonn/Berlin, 2007, 58 S., .

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Bei 44 Prozent der Studierenden mit gesundheitlichen Schädigungen haben die Behinderung oder chronische Krankheit schwache, mittelstarke oder starke Auswirkungen auf das Studium. Dies entspricht einem Anteil von 8 Prozent der gesamten Studierendenschaft und betrifft somit mehr als 140.000 Studierende. Die Gruppe der Studierenden mit starken Einschränkungen liegt bei 8 Prozent derer, die angeben, gesundheitliche Schädigungen zu haben. Dies sind 1,5 Prozent der Gesamtstudierendenschaft und somit mehr als 26.000 Studierende. Im Vergleich zur Sozialerhebung aus dem Jahre 2000 ist der Anteil der Studierenden, die sich im Studium schwach und mittel stark beeinträchtigt fühlen, deutlich angestiegen. Unverändert geblieben ist der Prozentsatz der stark beeinträchtigten Studierenden.16 Die hohe und weiter steigende Zahl an Studierenden, die sich im Studium beeinträchtigt fühlen, weist darauf hin, dass das deutsche Hochschulsystem nicht so gestaltet ist, dass Studierende mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen Bedingungen vorfinden, die an ihren aus der Behinderung resultierenden allgemeinen Bedarfen und individuellen Bedürfnissen orientiert sind. Dass die erlebten Beeinträchtigungen zumindest teilweise auf fehlende Unterstützungsangebote der Hochschulen zurückgehen, wird am Beispiel ausgewählter Unterstützungsbedarfe verdeutlicht.17 Im Studium erlebte Benachteiligungen können einen spezifischen Beratungsbedarf verursachen. Behinderungsspezifische Beratungsinhalte sind Themen, wie zum Beispiel die Beantragung von Nachteilsausgleichen bei der Zulassung zum Studium oder bei Prüfungen, Fragen der Planung eines der Behinderung oder chronischen Krankheit angemessenen Studienverlaufs oder der Finanzierung behinderungsbedingt erforderlicher personeller und technischer Hilfen. Diesem spezifischen Beratungsbedarf behinderter und chronisch kranker Studierender entsprechen nur wenige Hochschulen. Sie haben spezielle Beratungsdienste für behinderte und chronisch kranke Studierende eingerichtet, die über umfassendes Know-how verfügen.18 Einige andere Hochschulen bieten behinderungsspezifische Beratung im Rahmen der allgemeinen Studienberatung oder der Sozialberatung der Studentenwerke an. Noch weniger Hochschulen beachten den Bedarf behinderter Studierender, an der Hochschule auch wissenschaftlich arbeiten zu können. So gibt es kaum Hochschulen, die ähnlich den studentischen Computerpools, die in der Regel für die wissenschaft16 Deutsches Studentenwerk: Tipps und Informationen, 2008, H. 1, . 17 Einen umfassenden Überblick über die Situation behinderter und chronisch kranker Studieninteressierter und Studierender sowie über mögliche Nachteilsausgleiche gibt die Broschüre: Deutsches Studentenwerk, Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung (Hg.): Studium und Behinderung. Praktische Tipps und Informationen für Studieninteressierte und Studierende mit Behinderung/chronischer Krankheit, Berlin, 62005, 312 S., ; zu aktuellen Entwicklungen an einzelnen Hochschulen vgl. auch horus 71, 2009, H. 3, . 18 Deutsches Studentenwerk: Studieren mit Behinderungen: Beratung vor Ort, .

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liche Nutzung durch nichtbehinderte Studierende ausgelegt sind, Arbeitsräume oder -plätze für behinderte Studierende eingerichtet haben. Nur an wenigen Hochschulen stehen behinderten Studierenden zum wissenschaftlichen Arbeiten an der Hochschule PCs mit behinderungsspezifischer Peripherie (wie Braillezeilen, Vergrößerungssoftware, Spezialtastaturen oder Sprachausgaben und Spracheingaben) zur Verfügung.19 Dem Bedarf blinder und sehbehinderter Studierender nach für sie lesbarer adaptierter Studienliteratur oder -materialien in Großdruck, Blindenschrift oder als digitalisierte Texte deckt nur eine unwesentliche Zahl an Hochschulen oder -bibliotheken. Häufig ist dieses Angebot außerdem auf bestimmte Medienformen (wie Großdruck oder digitalisierte Texte) begrenzt.20 Diese wenigen Beispiele für häufig fehlende Unterstützungsangebote machen deutlich, dass die Mehrheit der Hochschulen keines der exemplarisch genannten Unterstützungsangebote für behinderte und chronisch kranke Studierende vorhält. Dies ist charakteristisch für den gesamten Bereich des Studiums mit Behinderung. Die wenigen Hochschulen, die Unterstützungsangebote aufgebaut haben, lassen zwei unterschiedliche Konzeptionen erkennen. Ein Teil der Hochschulen bietet Unterstützungsleistungen nur zu ausgewählten Studienbedarfen, wie zum Beispiel dem Bedarf an spezifischer Beratung. Diese Angebote richten sich in der Regel an die gesamte Zielgruppe behinderter und chronisch kranker Studierender. Demgegenüber sind Unterstützungsangebote anderer Hochschulen zwar bezogen auf das Spektrum an Unterstützungsangeboten umfassender angelegt, jedoch fokussieren diese Hochschulen ihre Angebote nur auf Studierende mit bestimmten Behinderungen und/oder auf ausgewählte Studienfächer. So bieten einzelne Hochschulen relativ umfassende Unterstützungsangebote für die Zielgruppe blinder und sehbehinderter Studierender des Studiengangs Informatik an. Der Ausbau einzelner Hochschulstandorte oder Studienfächer mit bedarfsgerechten Unterstützungsangeboten für Studierende mit bestimmten Behinderungen schafft zwar an einigen wenigen Hochschulen für den jeweiligen Personenkreis barrierefreie Nutzungsmöglichkeiten und somit chancengleiche Teilhabemöglichkeiten während des Studiums. Von einer inklusiven Hochschule, die im Sinne einer „Hochschule für Alle“ die Vielfalt aller anerkennt und diese als Stärke betrachtet, sind diese Hochschulen jedoch noch weit entfernt. Gleiches gilt für die Hochschulen, die zwar für die gesamte Zielgruppe der behinderten und chronisch kranken Studierenden einzelne Unterstützungsangebote, beispielsweise spezielle Beratungsmöglichkeiten, schaffen, der Vielfalt an Bedarfen jedoch nicht entsprechen. Dennoch darf an dieser Stelle keinesfalls übersehen werden, dass diese wenigen Hochschulen im Gegensatz zur überwiegenden Mehrheit – zumindest in einigen Bereichen – die Vielfalt ihrer Studierenden aner-

19 Deutsches Studentenwerk (Anm. 17), S. 54–62. 20 Technische Universität Dortmund, Universitätsbibliothek: Literatursuche und Umsetzungsdienst für Blinde und Sehbehinderte, .

Studieren ohne Barrieren

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kennen, ihren Auftrag zur Herstellung von Barrierefreiheit wahrnehmen und an der Umsetzung erster Schritte auf dem Weg zu inklusiven Hochschulen arbeiten. Ein umfassendes, den Bedarfen und Bedürfnissen aller Studierenden mit Behinderung oder chronischer Krankheit entsprechendes Angebot existiert bislang jedoch an keiner Hochschule. Bezogen auf das gesamte Hochschulsystem, konstatiert die 6. Mitgliederversammlung der Hochschulrektorenkonferenz daher im April 2009 zutreffend: „Gleichwohl muss man heute feststellen: Die besonderen Belange von Studierenden mit Behinderung/chronischer Krankheit werden in den Hochschulen häufig nicht ausreichend berücksichtigt.“21 Um hier Abhilfe zu schaffen, fordert sie mit Recht, das Konzept einer „Hochschule für Alle“ zu verwirklichen, das „die chancengleiche Teilhabe für alle Studierenden sichert“.22 Die Angebote des Dortmunder Zentrums Behinderung und Studium der Technischen Universität Dortmund und der dort entwickelte Arbeitsansatz sind ein prototypischer Weg, wie die schrittweise Annäherung an das Ziel einer „Hochschule für Alle“, bezogen auf das gesamte Hochschulsystem, gelingen kann.

3.  Das Dortmunder Zentrum Behinderung und Studium und der Dortmunder Arbeitsansatz Die Technische Universität Dortmund (TU Dortmund) nimmt mit ihrem Dortmunder Zentrum Behinderung und Studium (DoBuS) im Bereich Studieren mit Behinderung und chronischer Krankheit seit Jahren eine Vorreiterrolle ein. DoBuS ist eine Einrichtung der TU Dortmund, die an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften angesiedelt ist. DoBuS besteht aus einem Dienstleistungsbereich, bietet Tutoriate für behinderte Studierende sowie Unterstützungsangebote für Mitarbeitende. Zum Dienstleistungsbereich gehören der „Beratungsdienst behinderter und chronisch kranker Studierender“, der „Arbeitsraum und Hilfsmittelpool für behinderte Studierende“ und der „Umsetzungsdienst zur sehgeschädigtengerechten Adaption von Studienmaterialien“. In den Tutoriaten erhalten die Studierenden Gelegenheit, sich in Kleingruppen mit den studienrelevanten Auswirkungen ihrer Behinderung auseinanderzusetzen und Strategien zur Kompensation zu entwickeln und zu erproben. Zu den Unterstützungsangeboten für Mitarbeitende gehören Beratung, Information und Weiterbildung unter anderem zu den Themen Nachteilsausgleiche oder barrierefreie Hochschuldidaktik. Alle Unterstützungsangebote zeichnen sich durch langjährige und vielfältige Erfahrungen der DoBuS-Mitarbeitenden sowie durch ein etabliertes Konzept, den sogenannten Dortmunder Arbeitsansatz, aus. Die Arbeitsweise von DoBuS setzt auf zwei Ebenen an: (1) Eine Ebene bildet die aktuell bestehende individuelle Studiensituation. Behinderte Studierende werden bei 21 Hochschulrektorenkonferenz (Anm. 7), S. 2. 22 Hochschulrektorenkonferenz (Anm. 7), S. 3.

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der Realisierung ihres Studiums individuell unterstützt, um trotz behindernder Bedingungen und segregierender Infrastruktur eine Chance auf Verwirklichung und Abschluss des Studiums zu haben. (2) Die zweite Ebene bezieht sich auf das angestrebte Ziel der chancengleichen Teilhabe in einer inklusiven Hochschule. Die Umsetzung dieses Ziels erfordert, aussondernde Bedingungen mit dem damit einhergehenden Zwang zur individuellen Kompensation durch barrierefreie Angebote zu ersetzen. Auf diese Weise wird die Notwendigkeit zur Kompensation und zur individuellen Unterstützung auf das durch die Beeinträchtigung bedingte Maß reduziert. Beide Bereiche sind integrale Bestandteile des Dortmunder Arbeitsansatzes und der praktischen Arbeit von DoBuS. Der von DoBuS beschrittene Weg zur inklusiven Hochschule beginnt mit der Beratung und Unterstützung Einzelner bei der Realisierung ihres Studiums. Er umfasst die Sammlung, Systematisierung und Analyse der dabei erkannten Probleme und die Entwicklung individueller Lösungsmodelle, die den jeweiligen Studierenden einen erfolgreichen Umgang mit den erkannten Barrieren ermöglichen. Auf überindividueller, struktureller Ebene wird der Abbau der ermittelten Barrieren und Benachteiligungen vom Aufbau spezifischer Unterstützungsbausteine und von der Modifizierung bestehender behindernder Strukturen begleitet und unterstützt (siehe Abbildung). Beratung und Unterstützung

EinzelfallAkkomodation der Hochschule



Einzelner bei der Realisierung  ihres Studiums



 Sammlung, Systematisierung und Analyse der Probleme

Entwicklung von Lösungsmodellen



Aufbau spezifischer Bausteine







Modifizierung von Strukturen







Abbau von Barrieren und Benachteiligungen

 Verbesserte Strukturen

Der Dortmunder Arbeitsansatz23

23 Birgit Drolshagen, Ralph Klein, Birgit Rothenberg, Anja Tillmann: Eine Hochschule für alle. Das Pilotprojekt zur didaktisch-strukturellen Verbesserung der Studiensituation behinderter Studierender an der Universität Dortmund, Würzburg: edition bentheim, 2002, S. 18.

Studieren ohne Barrieren

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Beispiele für behinderungsspezifische Unterstützungsbausteine sind neben den drei oben genannten Dienstleistungseinrichtungen Tutoriate, in denen behinderte Studierende allgemeine oder behinderungsspezifische Schlüsselkompetenzen erwerben können. Hierzu gehören Assistenztutoriate, in denen sich Studierende mit Hilfebedarf mit dem Einsatz von Studienassistenz auseinandersetzen können, oder EDV-Tutoriate, in denen sie die Arbeit mit studienrelevanter Software in Verbindung mit behinderungsspezifischer PC-Peripherie erlernen. Modifizierung behindernder Strukturen meint, dass allgemeine Angebote oder Regelungen für Studierende durch manchmal nur geringfügige Änderungen auch für behinderte Studierende nachteilsfrei nutzbar werden. Hierzu gehören beispielsweise die Verlängerung von Ausleihfristen in der Hochschulbibliothek für diejenigen Studierenden, die aufgrund ihrer Behinderung mehr Zeit für die Lektüre benötigen, das Aufstellen von unterfahrbaren Tischen in der Mensa für rollstuhlfahrende Kunden und Kundinnen oder auch die Festschreibung von Nachteilsausgleichsregelungen bei Prüfungen oder Zulassungen. Der mit dem Dortmunder Arbeitsansatz beschrittene Weg ist am aktuellen, in der Beratung identifizierten Bedarf der behinderten und chronisch kranken Studierenden ausgerichtet, verfolgt den Grundsatz der Nutzerorientierung und führt aufgrund seines kontinuierlichen Fortschreitens zu einer stetigen Annäherung an das Ziel einer „Hochschule für Alle“. Um Missverständnissen vorzubeugen, muss an dieser Stelle betont werden: Die TU Dortmund ist noch nicht eine „Hochschule für Alle“. Sie ist jedoch auf dem Weg dorthin ein beträchtliches Stück vorangeschritten und hat die Chance, sich mit Hilfe des skizzierten Arbeitsansatzes diesem Ziel kontinuierlich weiter anzunähern. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, wie mit Hilfe des Dortmunder Arbeitsansatzes das in Dortmund und an einigen anderen Hochschulen aufgebaute Know-how zum Aufbau eines inklusiven Hochschulsystems beitragen kann.

4.  Der Weg zu „Hochschulen und Bibliotheken für Alle“ Entsprechend dem Dortmunder Arbeitsansatz ist es im Hinblick auf ein inklusives Hochschulsystem an allen Hochschulen erforderlich, nachfrageorientiert an der Entwicklung chancengleicher Studienbedingungen zu arbeiten und sich schrittweise dem Ziel einer „Hochschule für Alle“ anzunähern. Ein erster Schritt auf diesem Weg liegt in der Übertragung bereits entwickelter Unterstützungsbausteine und modifizierter Strukturen sowie des beschriebenen Arbeitsansatzes auf solche Hochschulen, an denen ein Bedarf an solcher Unterstützung identifiziert wird. Die eingangs erwähnten Empfehlungen der Hochschulrektorenkonferenz sehen Beratungs- und Qualifizierungsangebote für Hochschulen vor, die mit der Umsetzung der an eine „Hochschule für Alle“ gestellten Anforderungen bislang noch unerfahren sind. Diese Qualifizierungsangebote könnten im Sinne eines Kompetenztransfers auf Bundes- oder Landesebene von den Hochschulen angeboten werden, die bereits Kompetenzen im Abbau behindernder

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Strukturen erworben haben. Hierzu müssten erfahrene Hochschulen einerseits zentral an ihrem Hochschulstandort zu hochschulübergreifenden Themen eines Studiums mit Behinderung Schulungs- und Qualifizierungsangebote für Mitarbeitende interessierter Hochschulen anbieten. Andererseits müssten die erfahrenen Hochschulen weniger erfahrene Hochschulen immer dann anlassspezifisch beraten und unterstützen, wenn diese spezifische Unterstützung benötigen, die nicht Gegenstand der zentralen Schulungsangebote sein können. Ein derartiges Vorgehen stellt sicher, dass die an einigen Hochschulen vorhandenen Kompetenzen von möglichst vielen Hochschulen abgerufen werden können, ohne dass bei Bedarf auf flexible Begleitung und Unterstützung verzichtet werden muss. Parallel hierzu ist es an allen Hochschulen erforderlich, nachfrageorientiert und in Kooperation mit behinderten Studierenden fehlende Unterstützungsbausteine zu entwickeln oder Lösungen für Modifizierungen behindernder Hochschulstrukturen zu erarbeiten. Hingewiesen sei an dieser Stelle nur auf den mit dem Bologna-Prozess und der damit verbundenen Studienstrukturreform aufgetretenen Bedarf an nachteilsausgleichenden Modifikationen unter anderem im Bereich der Studienzulassung und des Studienverlaufs.24 Vergleichbar kann und sollte auch der Weg zu inklusiven Hochschulbibliotheken verlaufen. Inklusive Bibliotheken stellen einen barrierefreien „Zugang zur Information für Menschen mit Behinderungen“ sicher und ermöglichen somit gleichberechtigte Teilhabe.25 Um dies zu erreichen, müssen auch hier dem Bedarf entsprechend einerseits bereits bestehende behinderungsspezifische Unterstützungsbausteine und Modifizierungen auf andere Bibliotheken übertragen und andererseits Lösungen für bereits bestehende und zukünftige Herausforderungen entwickelt werden. Wie einzelne Unterstützungsbausteine und Modifikationen einer „Bibliothek für Alle“ aussehen können, zeigen beispielhaft die Angebote für blinde und sehbehinderte Leser und Leserinnen der Universitätsbibliothek Dortmund (UB Dortmund).26 Die Entwicklung weiterer Angebote beispielsweise für Bibliotheksnutzende mit Hörschädigungen oder Lese-Rechtschreib-Problemen steht noch aus. Die UB Dortmund hat dem Dortmunder Arbeitsansatz entsprechend spezifische Bausteine entwickelt und Modifizierungen vorgenommen. Sie bietet den „Service für Blinde und Sehbehinderte“27 an. DoBuS hat den Aufbau dieses Angebots in Kooperation mit der studentischen Selbsthilfe im Sinne eines Kompetenztransfers begleitet und unterstützt. 24 Birgit Drolshagen, Andrea Hellbusch: Chancengleichheit und Behinderung an deutschen Hochschulen. Herausforderung für die Zukunft. Vortrag gehalten auf der Fachtagung Behinderung und Studium – 30 Jahre Beratungsdienst behinderter und chronisch kranker Studierender und 5 Jahre Dortmunder Zentrum Behinderung und Studium an der TU Dortmund, 2008, . 25 Gabriele Schaller: Barrierefreier Zugang zu Bibliotheken für Blinde und Sehbehinderte, in: horus 66, 2004, H. 2, . 26 Einen Überblick über weitere Angebote anderer Bibliotheken gibt Schaller (Anm. 24). 27 Universitätsbibliothek Dortmund: Service für Blinde und Sehbehinderte, .

Studieren ohne Barrieren

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Literaturversorgung: Mit ihrem Umsetzungsdienst hat die UB Dortmund einen Baustein entwickelt, der im Rahmen vorgegebener Kapazitäten wissenschaftliche Bücher nach wissenschaftlichen Umsetzungskriterien sehgeschädigtengerecht wahlweise entweder in Großdruck oder als digitale Datei aufbereitet. Die digitalen Bücher können dann mittels Sprachausgabe, Braillezeile oder Vergrößerungssoftware am PC gelesen werden. Auftraggebende sind blinde und sehbehinderte Bibliotheksnutzende. In Verbindung mit dem von DoBuS betriebenen Umsetzungsdienst bieten die TU und UB Dortmund somit ein umfassendes Angebot im Bereich der Versorgung mit sehgeschädigtengerecht adaptierter Literatur. Literaturrecherche: Im Bereich der Literaturrecherche hat die UB Dortmund mit dem „Sehgeschädigtengerechten Katalog online“ (Sehkon) einen spezifischen Baustein entwickelt. Es handelt sich hierbei um ein Verzeichnis von wissenschaftlicher Literatur, die im deutschsprachigen Raum entliehen oder käuflich erworben werden kann. Der Sehkon ermöglicht sehgeschädigten Menschen das rasche Auffinden für sie lesbarer wissenschaftlicher Literatur. Mit der Einrichtung eines sehgeschädigtenspezifisch adaptierten PC-Arbeitsplatzes und der Entwicklung eines barrierefreien OPAC (Online Public Access Catalogue) hat die UB ihr Angebot für sehende Nutzende von den technischen Voraussetzungen her so modifiziert, dass auch blinde und sehbehinderte Leser und Leserinnen im Katalog recherchieren können. Das im Sommersemester 2009 erstmals erprobte Angebot von sehgeschädigtenspezifischen Schulungen, in denen die Studierenden unterschiedliche Rechercheverfahren kennen lernen, sichert einen chancengleichen Rechercheerfolg. Um die Qualität der Schulung sicherzustellen, wurde sie in Kooperation mit DoBuS durchgeführt. Auf diese Weise brachte die Bibliotheksmitarbeiterin ihr Wissen um die effiziente Nutzung des Katalogs und der DoBuS-Mitarbeiter sein Wissen um sehgeschädigtenspezifische Arbeitsweisen und die sehgeschädigtenspezifische Gestaltung von Lehrveranstaltungen in die Schulung ein. Als Alternative zur Kooperation hätte auch eine von DoBuS angebotene Weiterbildung der Bibliotheksmitarbeitenden in barrierefreier Didaktik vorausgehen können. Vor dem Hintergrund der eingangs dargestellten Kriterien einer „Hochschule für Alle“ einerseits sowie der dargestellten Situation an bundesdeutschen Hochschulen und der ausgewählten Praxisbeispiele andererseits lässt sich im Hinblick auf das Ziel des Aufbaus eines der Teilhabe und Barrierefreiheit verpflichteten, inklusiven Hochschul- und Bibliothekssystems zusammenfassend festhalten: Es gibt einige Hochschulen und Bibliotheken, die den Weg zu „Hochschulen oder Bibliotheken für Alle“ gehen, aber unterschiedlich weit fortgeschritten sind. Der Aufbau eines inklusiven Hochschul- oder Bibliothekssystems erfordert entsprechend dem dargestellten Kompetenztransfer die Übertragung der bereits entwickelten und erprobten Bausteine und der modifizierten Strukturen auf andere Hochschulen und Bibliotheken. Der Dortmunder Arbeitsansatz stellt eine geeignete Methode dar, um diesen Prozess am Bedarf und an den Bedürfnissen der behinderten und chronisch kranken Studierenden auszurichten.

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Birgit Drolshagen

Den Kriterien eines inklusiven Hochschul- oder Bibliothekssystems entspricht zurzeit noch keine Hochschule oder Bibliothek. Vielmehr müssen auch an den Hochschulen und Bibliotheken, die Angebote für behinderte und chronisch kranke Studierende aufgebaut haben, kontinuierlich weitere Unterstützungsbausteine und strukturelle Modifikationen entwickelt und implementiert werden. Inwieweit zukünftige hochschulpolitische Entscheidungen dem erkennbaren Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik und insbesondere der mit der Ratifizierung der UN-Konvention übernommenen Herausforderung, ein inklusives Bildungssystem zu schaffen, entsprechen, bleibt abzuwarten. Gleiches gilt für die Auswirkungen der Empfehlungen der Hochschulrektorenkonferenz auf die Bereitschaft der einzelnen Hochschulen, sich zu „Hochschulen für Alle“ zu entwickeln und die Vielfalt aller Studierenden anzuerkennen und Barrieren abzubauen, die die Selbstbestimmung und Teilhabe ihrer Studierenden verhindern. Die in den Empfehlungen der Hochschulrektorenkonferenz für das Jahr 2012 vorgeschlagene Evaluation zum Stand der Umsetzung der Empfehlungen zeigt, dass der Handlungsbedarf erkannt ist und die Absicht zur Weiterentwicklung besteht.

Jan Eric Hellbusch

Grundlagen und Beispiele für ein barrierefreies Webdesign

Barrierefreies Webdesign ist ein vielschichtiges Thema, das mit den Richtlinien für barrierefreie Webinhalte (WCAG) 2.0 aus dem Jahr 2008 eine solide Grundlage bekommen hat. Die Richtlinien sind eine technikneutrale Basis für Anbieter von Webseiten, die es allen Nutzern ermöglichen soll, auf Webseiten zuzugreifen und sie zu nutzen. Das Spektrum der Richtlinien reicht von technischen Aspekten und konzeptionellen Fragen über redaktionelle Aufgaben bis zu gestalterischen Vorgaben. Die Auseinandersetzung mit einem barrierefreien Web setzt außerdem voraus, dass außer den Richtlinien selbst auch die zugehörigen erläuternden Dokumente konsultiert werden.

1.  Grundlagen des barrierefreien Webdesigns Information gehört heute zu den wichtigsten Gütern. Speziell die Organisation elektronisch verfügbarer Informationen und der Zugriff darauf erfahren immer neue Entwicklungen, wozu der Computer und vor allem das Internet beitragen. Das Web wird zum wichtigsten Medium für Informationsbeschaffung und Kommunikation. Durch die zunehmende Nutzung des Internet geht man häufig davon aus, dass jeder Mensch Zugriff auf das Web hat. Das ist nach wie vor eine Fehleinschätzung. Angefangen bei Technikunerfahrenen und Nutzern, die die angebotene Sprache nicht beherrschen, über Menschen, die aufgrund einer Behinderung eingeschränkt sind, bis hin zu denjenigen mit situationsbedingten Problemen beim Surfen im Web – es gibt viele Gründe, das Internet nicht nutzen zu können. Die Barrierefreiheit von Webinhalten kann für viele, insbesondere für Menschen mit Behinderungen, die Zugänglichkeit und Nutzbarkeit fördern. Im Fokus der folgenden Ausführungen stehen die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.0. Diese Empfehlungen des World Wide Web Consortiums (W3C) vom 11. Dezember 2008 geben vor, wie Webinhalte barrierefrei gestaltet werden können.1 Die WCAG 2.0 richten sich an Designer und Entwickler von Webseiten. Sie wer1 Die Originalfassung der Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.0 findet sich beim World Wide Web Consortium: Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.0, 2008, . Die offizielle deutsche Übersetzung ist zu finden beim World Wide Web Consortium: Richtlinien für barrierefreie Webinhalte (WCAG) 2.0, 2009, .

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Jan Eric Hellbusch

den mit sehr detaillierten Erläuterungen ergänzt, die Techniken für die Aufbereitung von zugänglichen und nutzbaren Webinhalten bieten. Neben Anforderungen an die Basistechniken2 finden sich zahlreiche Vorgaben auch für Multimedia, Dynamik und andere Aspekte der Webgestaltung. Darüber hinaus wird auf die barrierefreie Nutzerführung und die Verbesserung der Verständlichkeit eingegangen. Die WCAG 2.0 sind zukunftsorientiert verfasst. Die einzelnen Richtlinien sind unabhängig von anderen Webstandards formuliert und können auf beliebige Inhalte angewandt werden, also auch die Webseiten und Kataloge der Bibliotheken und Museen.3 Die WCAG 2.0 sind zudem die Grundlage für zahlreiche weitere Normen und Richtlinien zum barrierefreien Webdesign weltweit, etwa die Novellierung der Barrierefreien Informationstechnik-Verordnung in Deutschland.4

1.1  MINERVA-Qualitätsprinzip „accessibility“ MINERVA (Ministerial Network for Valorising Activities in Digitisation) ist ein europäisches Projekt zur Koordination der Digitalisierung europäischer Kulturgüter. Mitglieder von MINERVA sind alle europäischen Staaten sowie Russland und Israel. Im Rahmen von MINERVA werden u.a. Handbücher, Leitlinien und Ratgeber veröffentlicht.5 Auf deutscher Ebene beteiligt sich EUBAM (Europäische Angelegenheiten für Bibliotheken, Archive, Museen und Denkmalpflege), ein Zusammenschluss von Vertretern der Kultusministerkonferenz (KMK), der Bundesministerien und Landesministerien, der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) sowie von Experten der Sparten Bibliothek, Archiv, Museum und Denkmalpflege. Im Rahmen von MINERVA wurde das Handbuch „Quality Principles for Cultural Websites“ veröffentlicht und dort auf zwei Seiten auf das Qualitätsprinzip „accessibi-

2 Es gibt zahlreiche Formate und Techniken, die im Web eingesetzt werden können. HTML (Hypertext Markup Language) und CSS (Cascading Style Sheets) stellen dabei die wichtigsten Webstandards dar und sind – bei korrektem Einsatz – die technische Voraussetzung für ein zugängliches Webdesign. 3 Die Anforderungen der WCAG 2.0 sind nicht an bestimmte Webseitenanbieter gerichtet, sondern beschreiben die Anforderungen an Webinhalten allgemein. Eine Beschreibung der Anforderungen im Kontext von Museen und Bibliotheken ist zu finden in Jan Eric Hellbusch: Umsetzung eines barrierefreien Webauftritts für Museen, in: Patrick S. Föhl, Stefanie Erdrich, Hartmut John, Karin Maaß (Hg.): Das barrierefreie Museum. Theorie und Praxis einer besseren Zugänglichkeit. Ein Handbuch, Bielefeld: transcript, 2007, S. 227–253. 4 Die BITV ist eine Verordnung zum Behindertengleichstellungsgesetz. In Deutschland bestehen darüber hinaus IT-Verordnungen für die meisten Bundesländer. Obwohl sie technisch nur geringfügig voneinander abweichen, unterscheiden sie sich im Anwendungsbereich. Vgl. Barrierefrei Informieren und Kommunizieren, BITV, . 5 Eine Liste der Publikationen ist zu finden bei MINERVA: Publications, .

Barrierefreies Webdesign

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lity“ eingegangen.6 Die selektive Auswahl der Richtlinien gibt jedoch nur einen kleinen Teil der Kriterien der WCAG 2.0 wieder. Zwar kann das Handbuch als Orientierung für Entscheider dienen, aber für die Praxis muss auf die WCAG 2.0 zurückgegriffen werden.

1.2  Relevanz der Webstandards Webstandards des W3C7 dienen in erster Linie der Kompatibilität: Webinhalte sollen auf möglichst vielen Endgeräten auf gleiche Weise dargestellt und bedient werden können. Darüber hinaus ist die Aufwärtskompatibilität ein Grundprinzip in allen Webstandards: Eine heute erstellte Seite soll in künftigen Browsern mindestens so gut funktionieren wie in den heute gebräuchlichen. Grundsätzlich wird die Barrierefreiheit in allen Webstandards berücksichtigt. Browser, Redaktionssysteme und diverse andere Anwendungen sowie die Webentwickler müssen die vorhandenen Möglichkeiten jedoch auch ausschöpfen. Trotz der korrekten Verwendung von Webstandards kann die Barrierefreiheit nicht immer erreicht werden. Die Gründe dafür können sehr unterschiedlich sein. So enthalten z.B. Bild- und Multimediaformate rein visuelle und/oder akustische Inhalte, die eine Textalternative für blinde bzw. gehörlose Nutzer erfordern. Dynamisch (etwa mit JavaScript oder Flash) erzeugte Inhalte können bei eingeschränktem Sehvermögen und in linearen Ausgabemedien8 wie Sprachausgaben schwierig zu erfassen bzw. zu nutzen sein. Kompatibilitätsprobleme zwischen Hilfsmitteln behinderter Nutzer9 und Plug-Ins oder Formaten machen einen barrierefreien Einsatz der weiteren Formate problematisch. Nicht alle im Web verwendeten Formate sind Teil der Webstandards. Generell liegt die Kompatibilität von Hilfsmitteln behinderter Nutzer mit Plug-Ins für Browser bzw. Anwendungen hinter den Möglichkeiten eines HTML-Dokuments. Hauptsächlich geht es dabei um Anwendungen, die zur Anzeige und zum Bedienen ursprünglich proprietärer Formate wie Java, Flash oder PDF erforderlich sind. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass solche Formate durch kommerzielle Unternehmen verbreitet,

6 Eine Übersicht über die MINERVA-Anforderungen an barrierefreie Webinhalte wird geboten in Jan Eric Hellbusch: Barrierefreie Webauftritte der Museen – Eine Einführung, in: Föhl/Erdrich/John/ Maaß (Hg.) (Anm. 3), S. 205–226, hier S. 213f. 7 Eine Übersicht aller Webstandards und Entwürfe zukünftiger Webstandards ist zu finden beim World Wide Web Consortium: All Standards and Drafts, . 8 Vor allem in Hilfsmittel blinder Nutzer werden Inhalte sequentiell ausgegeben; die zweidimensionale Anordnung am Bildschirm ist meist nicht nachvollziehbar. Die sequentielle Ausgabe ist eine lineare Darstellung von Bildschirminhalten. Eine Einführung in diese Thematik bietet Eva Papst: Die andere Art zu surfen [2006], . 9 Im Prinzip kann jede zusätzliche Software zur Darstellung von Inhalten zu Kompatibilitätsproblemen führen. Das können Screenreader oder Vergrößerungssysteme, aber auch Spracheingaben und softwarebasierte Tastaturschnittstellen sein.

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Jan Eric Hellbusch

die Zugänglichkeit von Benutzerschnittstellen und der Formate aber erst nachträglich berücksichtigt wurden. Viele Barrieren entstehen aber bei der Webgestaltung selbst, indem die Webstandards nicht beachtet werden. Wenn eine Webseite mit der Tastatur nicht bedient werden kann, liegt dies meist an der Programmierung; wenn etwas am Bildschirm nicht gelesen werden kann, ist das Kontrastverhältnis zu gering oder die Schriftgröße zu klein; und wenn etwas nicht verstanden wird, liegt oft eine nicht durchdachte Nutzerführung oder eine unverständliche Wortwahl vor.

1.3  Webstandards zur Barrierefreiheit Weil technische Spezifikationen wie HTML die Barrierefreiheit nicht „out of the box“ garantieren, gibt es zusätzliche Webstandards des W3C zur Erstellung und Aufbereitung von Webinhalten in einer möglichst zugänglichen Form. Diese Richtlinien bilden ein Trio: Web Content Accessibility Guidelines 2.0, Authoring Tool Accessibility Guidelines 1.0 und User Agent Accessibility Guidelines 1.0. In den WCAG 2.0 werden in zwölf Richtlinien Anforderungen für die Erstellung barrierefreier Webinhalte formuliert. Sie bestehen aus einem normativen Teil sowie sehr umfangreichen, nicht-normativen Zusatzdokumenten, in denen Erläuterungen, Techniken, Testmöglichkeiten und weiterführende Informationen geboten werden. Diese ineinander greifenden Dokumente fördern das Verständnis der einzelnen Richtlinien und liefern konkrete Handlungsanweisungen für deren Umsetzung. Bei zunehmender Verbreitung von Web 2.0 bzw. des „Mitmach“-Web werden auch die Authoring Tool Accessible Guidelines (ATAG) immer wichtiger. Die ATAG betreffen ein weites Spektrum von Werkzeugen. Die Anforderungen spannen einen Bogen von Text-Editoren und HTML-Konvertierungsprogrammen über Redaktionssysteme bis hin zu Bildeditoren. In den ATAG wird auch erklärt, wie die Werkzeuge selbst barrierefrei gestaltet werden können. Die ATAG werden zurzeit in der Version 2.0 überarbeitet.10 Die dritte Empfehlung des W3C in diesem Zusammenhang, die User Agent Accessibility Guidelines (UAAG), ist vor allem an Browser- und andere Software-Hersteller gerichtet. In dieser Empfehlung wird u.a. beschrieben, wie die Aufbereitung von Webinhalten für die verschiedenen Zugangsformen, sei es die Bedienung mit der Tastatur oder der Zugang mit Hilfsmitteln wie Screenreadern, zu erfolgen hat. Die UAAG werden ebenfalls in der Version 2.0 überarbeitet.11 10 Die Web Accessibility Initiative des W3C nimmt an, dass die ATAG 2.0 im Laufe von 2011 verabschiedet wird. Vgl. World Wide Web Consortium: Authoring Tool Accessibility Guidelines (ATAG) Overview, . 11 Die Web Accessibility Initiative des W3C nimmt an, dass die UAAG 2.0 im Laufe von 2011 verabschiedet wird. Vgl. World Wide Web Consortium: User Agent Accessibility Guidelines (UAAG) Overview, .

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Barrierefreies Webdesign

1.4  Vorstellung der Richtlinien für barrierefreie Webinhalte 2.0 Die WCAG 2.0 sind sehr umfangreich. Die Informationen sind pyramidenartig aufgebaut und umfassen vier Ebenen: 1. Prinzipien, 2. Richtlinien, 3. Erfolgskriterien und 4. Techniken. Die ersten drei Ebenen sind normativ und stellen das Fundament der Richtlinien dar. Die vierte Ebene hingegen umfasst ergänzende Dokumente, die nicht normativ sind. Auf der ersten Ebene der WCAG 2.0 gibt es vier Prinzipien: „wahrnehmbar“, „bedienbar“, „verständlich“ und „robust“ (siehe Tabelle 1). Die Prinzipien sind unabhängig von einer bestimmten Technik formuliert. Dies soll sicherstellen, dass alle eingesetzten Techniken im Web, aktuelle wie zukünftige, barrierefrei umgesetzt werden können. Prinzip

Wortlaut

Prinzip 1 Wahrnehmbar

Informationen und Bestandteile der Benutzerschnittstelle müssen den Benutzern so präsentiert werden, dass diese sie wahrnehmen können. Bestandteile der Benutzerschnittstelle und Navigation müssen bedienbar sein. Informationen und Bedienung der Benutzerschnittstelle müssen verständlich sein. Inhalte müssen robust genug sein, damit sie zuverlässig von einer großen Auswahl an Benutzeragenten einschließlich assistierender Techniken interpretiert werden können.

Prinzip 2 Bedienbar Prinzip 3 Verständlich Prinzip 4 Robust

Tabelle 1  Prinzipien der WCAG 2.0, .

Den vier Prinzipien sind zwölf Richtlinien (Ebene 2) zugeordnet, welche die Grundregeln für die Erstellung barrierefreier Webinhalte bilden (siehe Tabelle 2). Die Richtlinien geben Ziele und Rahmenbedingungen vor und sind als solche nicht überprüfbar. Richtlinie

Wortlaut

1.1 Textalternativen

Stellen Sie Textalternativen für alle Nicht-Text-Inhalte zur Verfügung, so dass diese in andere vom Benutzer benötigte Formen geändert werden können, wie zum Beispiel Großschrift, Braille, Symbole oder einfachere Sprache. Stellen Sie Alternativen für zeitbasierte Medien zur Verfügung. Erstellen Sie Inhalte, die auf verschiedene Arten dargestellt werden können (z.B. einfacheres Layout), ohne dass Informationen oder Struktur verloren gehen.

1.2 Zeitbasierte Medien 1.3 Anpassbar

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Jan Eric Hellbusch

Richtlinie

Wortlaut

1.4 Unterscheidbar

Machen Sie es Benutzern leichter, Inhalt zu sehen und zu hören einschließlich der Trennung von Vorder- und Hintergrund. Sorgen Sie dafür, dass alle Funktionalitäten per Tastatur zugänglich sind. Geben Sie den Benutzern ausreichend Zeit, Inhalte zu lesen und zu benutzen. Gestalten Sie Inhalte nicht auf Arten, von denen bekannt ist, dass sie zu Anfällen („seizures“) führen. Stellen Sie Mittel zur Verfügung, um Benutzer dabei zu unterstützen zu navigieren, Inhalte zu finden und zu bestimmen, wo sie sich befinden. Machen Sie Inhalt lesbar und verständlich.

2.1 Per Tastatur zugänglich 2.2 Ausreichend Zeit 2.3 Anfälle 2.4 Navigierbar

3.1 Lesbar 3.2 Vorhersehbar

Sorgen Sie dafür, dass Webseiten vorhersehbar aussehen und funktionieren. 3.3 Hilfestellung bei der Eingabe Helfen Sie den Benutzern dabei, Fehler zu vermeiden und zu korrigieren. 4.1 Kompatibel Maximieren Sie die Kompatibilität mit aktuellen und zukünftigen Benutzeragenten, einschließlich assistierender Techniken. Tabelle 2  Richtlinien der WCAG 2.0, .

Die zwölf Richtlinien aus Tabelle 2 werden weiter unterteilt in 61 Erfolgskriterien (Ebene 3), und erst diese Erfolgskriterien bieten konkrete Handlungsanweisungen für eine barrierefreie Umsetzung. Die Erfolgskriterien sind vielseitig einsetzbar, u.a. als Grundlage für das Testen der Barrierefreiheit. Sie werden wiederum drei verschiedenen Konformitätsstufen zugeordnet: Konformitätsstufe A (25 Erfolgskriterien) mit den wichtigsten Anforderungen, Konformitätsstufe AA (13 Erfolgskriterien) mit weiteren Anforderungen, Konformitätsstufe AAA (23 Erfolgskriterien) mit weiteren Empfehlungen. Schließlich werden auf der vierten Ebene hunderte Techniken geboten, die sowohl Mindestanforderungen für die drei Konformitätsstufen A, AA und AAA als auch weitergehende Anforderungen beschreiben. In den Erläuterungen zu den Erfolgskriterien wird dann auf mögliche Techniken hingewiesen, um das konkrete Erfolgskriterium zu erfüllen. Für manche Erfolgskriterien können alternative Techniken eingesetzt werden, etwa das Anbieten eines Glossars oder die Berücksichtigung von Erläuterungen im Text, um Fremdwörter und Abkürzungen verständlich zu machen. In anderen Situationen werden unterschiedliche Techniken referenziert, je nach Situation: Grafiken etwa können informativ oder dekorativ eingesetzt werden. Darüber hinaus werden 74 Techniken aufgelistet, die als Barrieren gelten und deswegen zu vermeiden sind, z.B. das Öffnen neuer Fenster, die vom Nutzer nicht explizit gewünscht wurden.

Barrierefreies Webdesign

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2.  Folgen und Beispiele Barrierefreiheit betrifft fast alle Aspekte des Webdesigns. Ob etwas zugänglich und nutzbar ist, lässt sich dabei nur im praktischen Test und im Kontext der Inhalte, des technischen Aufbaus der einzelnen Seiten und der Nutzerführung beurteilen. Dies wird im Folgenden an einigen wichtigen Themen dargestellt und an Beispielen erläutert.

2.1  HTML und CSS HTML ist eine Auszeichnungssprache und wird von jedem professionellen Webentwickler beherrscht. Ein standardkonformes HTML-Grundgerüst erleichtert Software wie Browsern und Hilfsmitteln behinderter Nutzer die korrekte Aufbereitung einer Webseite. Bei der Barrierefreiheit geht es vor allem um ein strukturiertes und linearisierbares HTML-Grundgerüst. Erst wenn ein Dokument mit einer Auszeichnungssprache semantisch aufbereitet wird, lassen sich weitere Prinzipien von Webstandards, etwa die Trennung von Inhalt und Layout, effizient umsetzen. Abbildung 1 Wenn nur die Strukturebene einer Seite betrachtet wird, muss sie wie in diesem Beispiel des Deutschen Technikmuseums Berlin gut nachvollziehbar sein.

Eine weitere Voraussetzung für Barrierefreiheit ist die Berücksichtigung der Prinzipien des „Progressive Enhancement“, d.h. Inhalte müssen immer genutzt werden können, auch wenn ergänzende Techniken, wie Bilder oder JavaScript, im Browser des Nutzers nicht unterstützt werden oder abgeschaltet sind. „Progressive Enhancement“ besagt, dass HTML stets die Grundtechnik für alle Informationen und Funktionen ist und alle weiteren Techniken, seien es CSS oder JavaScript, aber auch der Einsatz von Grafiken und anderen Objekten als optional zu betrachten sind.

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2.2  Der richtige Einsatz verschiedener Formate Für die Erstellung barrierefreier Webinhalte ist der korrekte Einsatz von Webstandards Grundlage, aber nicht Garantie. Manche Webstandards werden noch nicht ausreichend von allen Browsern oder Hilfsmitteln unterstützt; das gilt z.B. für das SVGFormat. Im Web gibt es unzählige Formate, die mehr oder weniger barrierefrei eingesetzt werden können. Multimedia kann beispielsweise Barrierefreiheit fördern und zugleich verhindern. Es kommt dabei immer auf den richtigen Einsatz an. MultimediaInhalte benötigen Audiodeskriptionen, Untertitel und ggf. weitere Textalternativen, z.B. Transkriptionen. Auch können clientseitige Skripte zur Barrierefreiheit beitragen oder aber Barrieren aufbauen; JavaScript fördert die Barrierefreiheit, wenn es richtig und als Ergänzungstechnik eingesetzt wird. Die Möglichkeit barrierefreie Flash-Inhalte zu erstellen, hat in den letzten Jahren zumindest auf Windows-Systemen große Fortschritte gemacht. Auch PDF ist nicht immer das angemessene Format. Wenn PDF eingesetzt wird, dann ist tagged PDF zu verwenden, das mit derselben Sorgfalt wie die Barrierefreiheit in HTML-Dokumenten umgesetzt werden muss.

2.3  Störfaktoren vermeiden Die Fähigkeit der Nutzer, Inhalte zu lesen und zu bedienen, darf keinesfalls beeinträchtigt werden, wenn die Seite barrierefrei sein soll. In der Praxis werden Seiten oft „im Wesentlichen barrierefrei“ oder „barrierearm“ umgesetzt, aber manchmal sind genau die Aspekte, die nicht barrierefrei umgesetzt werden, so problematisch, dass der gesamte Webauftritt nicht genutzt werden kann. Ein Beispiel dafür ist, wenn zu einem grafischen CAPTCHA12 keine geeigneten Alternativen berücksichtigt werden. Die Mindestanforderung für CAPTCHAs ist die Bereitstellung einer Alternative; Abbildung 2 besser ist aber der Verzicht auf solche Das Ziel eines CAPTCHAs ist es, Roboter auszuTests. schließen, aber Nutzer werden ebenso ausgeschlossen. 12 Bei Anmeldungsprozessen werden oft verzerrte zufällige Buchstabenfolgen visuell oder akustisch angeboten, die als CAPTCHA bezeichnet werden. CAPTCHA steht für „Completely Automated Public Turing test to tell Computers and Humans Apart“ und ist eine verbreitete Methode, um den Zugang zu bestimmten Bereichen eines Webauftritts nur durch Menschen und nicht etwa durch Roboter zu erlauben. Ein Turing-Test beschreibt jegliche Testmethode, die Menschen von Computern unterscheiden soll und wurde nach Alan Turing benannt. Zu der barrierefreien Gestaltung von CAPTCHAs vgl. Oliver Nadig: CAPTCHA‘s müssen stets auch hörbar dargeboten werden, .

Barrierefreies Webdesign

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Vor allem gestalterische Inhalte dürfen die Nutzbarkeit einer Seite nicht blockieren. Der Nutzer darf beispielsweise durch Gestaltungselemente nicht vom Inhalt abgelenkt werden. Blinkende und sich bewegende Inhalte müssen vom Nutzer in einen statischen Zustand versetzt werden können. Audio-Inhalte sollen nicht automatisch abgespielt werden. Bei einigen dieser Ablenkungen gibt es Techniken, die die Zugänglichkeit und Nutzbarkeit dem Grunde nach erlauben, bei anderen hingegen nicht. Es gilt, den Einsatz solcher Gestaltungselemente sorgfältig abzuwägen und ggf. darauf zu verzichten.

2.4 Nutzerführung Erfolgreiche und barrierefreie Webangebote gehen Hand in Hand mit einer schlüssigen und verständlichen Nutzerführung. Dabei geht es sowohl um das Navigieren innerhalb des Gesamtangebots als auch um das Navigieren innerhalb einer einzelnen Seite. Navigationskonzepte dienen der Organisation der Inhalte eines Webangebots. Dabei gilt es, dem Nutzer einen nachvollziehbaren und schlüssigen Zugang zu den einzelnen Inhalten zu bieten. Seitenübergreifende Navigationsmechanismen sind umso leichter zu bedienen, je konsistenter sie sind. Da viele Wege zum Ziel führen können, empfiehlt sich außerdem der Einsatz von Inhaltsverzeichnissen, Glossaren, sog. Brotkrümelpfaden, die die Position einer Einzelseite innerhalb der Hierarchie eines gesamten Webauftritts darstellen, und Suchfunktionen. Essenziell für ein erfolgreiches Navigationskonzept sind Linktexte, die den Nutzer über Linkziele informieren. Das Ziel oder der Zweck eines Links sollte eindeutig aus dem Linktext hervorgehen, mindestens aber über den Kontext identifizierbar sein. Eine besondere Rolle innerhalb einzelner Seiten spielt die strukturelle Navigation und damit das Navigieren über die Strukturmerkmale der Seite. ÜberschrifAbbildung 3 ten helfen bei der strukturellen NavigaDie Linktexte sind zwar im Kontext zu tion innerhalb einzelner Seiten. Davon verstehen, doch handelt es sich nicht um profitieren Tastaturnutzer. Sprunglinks unterscheidbare Linktexte.

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und unsichtbare Inhaltsverzeichnisse fördern das Navigieren über Einzelseiten, sollten jedoch mit Bedacht eingesetzt werden.

2.5  Alternative Versionen Das umstrittenste Thema aus dem Bereich des barrierefreien Webdesigns ist die sog. Textversion. Mit einer alternativen Version eines Webangebots, die (im Gegensatz zum Original) barrierefrei gestaltet wird, kann die Zugänglichkeit ermöglicht werden. Alternative Versionen können für das Erreichen einer bestimmten Konformitätsstufe der WCAG 2.0 eingesetzt werden, wenn Einzelseiten oder einzelne Inhalte besonders aufbereitet werden müssen. Sie sind jedoch stets ein Behelf und nur für wenige Szenarien zulässig, wie z.B. HTML-Alternativen für Dokumente in einem nicht barrierefreien Format. Textversionen waren und sind keine zulässigen alternativen Versionen für andere HTML-Seiten. Verständlichkeitsfördernde Alternativen mit zusätzlichem Inhalt sind ausdrücklich erwünscht. Dies gilt beispielsweise für Übersetzungen in Leichte Sprache, Audioversionen vorhandener Texte oder Datentabellen als Ergänzung zu Diagrammen und Charts. Auch können Style-Switcher in Einzelsituationen nützliche Features darstellen und weitergehende Anforderungen der Barrierefreiheit sicherstellen, aber es ist zu beachten, dass ein Style-Switcher nur dann akzeptabel ist, wenn dadurch keine weiteren Probleme der Nutzbarkeit auftreten. Abbildung 4 Ein Style-Switcher kann die Barrierefreiheit fördern, muss aber wie in diesem Beispiel kontrastreich gestaltet sein.

2.6  Verständliche Inhalte Verschiedene Verständlichkeitsmodelle und -theorien kommen in Einzelfragen zu unterschiedlichen Ergebnissen.13 Erkenntnisse der Verständlichkeitsforschung können in den Kontext der Anforderungen der WCAG 2.0 gesetzt werden, allerdings setzt die WCAG 2.0 stets die technische Überprüfbarkeit voraus. Einige der Ergebnisse der 13 Eine Einführung in die Verständlichkeitsforschung bietet doctima GMBH: Verständlichkeitstheorie, . Der Schwerpunkt dort liegt auf dem Verständlichkeitskonzept von Norbert Groeben.

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Verständlichkeitsforschung zur Lesbarkeit, zur Leserlichkeit, zur Textorganisation und zum Sprachniveau finden sich in der WCAG 2.0 wieder. Textverstehen ist ein aktiver Prozess und eine Interaktion zwischen Text und Leser. Texte sind für unterschiedliche Leser unterschiedlich leicht verstehbar. Dies hat sowohl mit den Interessen und dem Vorwissen des Lesers zu tun als auch mit dessen individuellen Fähigkeiten. Aufgrund der unterschiedlichen Voraussetzungen können Texte nicht für alle Leser gleichermaßen verständlich gemacht werden. Dennoch können Voraussetzungen geschaffen werden, die zur Textverständlichkeit beitragen und die Zugänglichkeit der Inhalte auf der Verständlichkeitsebene fördern. Hierzu zählen redaktionelle Aspekte wie die Verwendung geläufiger Begriffe oder kurzer Sätze und gestalterische Maßnahmen wie das Vermeiden von Blocksatz und die Berücksichtigung von relativen Schriftgrößen und größeren Zeilenabständen. Auch die Verwendung von Zwischenüberschriften gehört zu den Anforderungen der Verständlichkeit.

2.7 Redaktionsbilder Bilder illustrieren und dekorieren und sind ein wichtiges Mittel, Inhalte verständlicher anzubieten und damit zugänglicher zu machen. Grundsätzlich benötigen alle Bilder einen knappen Alternativtext, der den Inhalt der Grafik beschreibt. Es gibt dabei Ausnahmen, etwa wenn Bilder rein dekorativ sind oder wenn sie verlinkt sind, und einige Bilder benötigen längere Beschreibungen. Bilduntertitel sind dabei keine Alternativtexte, weil sie meist nur das Bild ergänzen. Neben diesem schwierigen Aspekt der Alternativtexte spielen weitere Kriterien eine Rolle, wie die Berücksichtigung ausreichender Kontrastverhältnisse.

2.8  Technische Zugänglichkeit Barrierefreiheit betrifft viele Details. Gerade in redaktionellen Inhalten muss z.B. dafür gesorgt werden, dass das strukturierende HTML für Überschriften oder Listen richtig eingesetzt wird. Datentabellen sind mit HTML-Strukturelementen auszuzeichnen, und in komplexen Datentabellen sind die Zellen eindeutig den Spalten- und Zeilenüberschriften zuzuweisen. Darüber hinaus sind

Abbildung 5 Ohne Alternativtext, der die Inhalte des Bildes beschreibt, bietet der Bilduntertitel nur wenige Informationen. Screenshot: Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, Frankfurt/M.

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Sprachwechsel in Dokumenten auszuzeichnen, und Abkürzungen sind zur Förderung der Verständlichkeit aufzulösen.

Abbildung 6 Mit Werkzeugen wie der Web Accessibility Toolbar können Datentabellen auf Barrierefreiheit überprüft werden.

2.9 Layout-Techniken HTML-Seiten müssen standardkonform aufgebaut werden. HTML bietet drei grundlegende Layouttechniken: Cascading Style Sheets (CSS), Layout-Tabellen und Frames. Diese Möglichkeiten lassen sich beliebig miteinander kombinieren und mit weiteren Techniken verbinden. Standardkonformität setzt u.a. die Trennung von Inhalt und Layout voraus, d.h. alle Aspekte von Layout und Formatierung sind über CSS vorzunehmen; damit wird die Darstellung von Webseiten auf diversen Endgeräten erst möglich. Tabellen und Frames eignen sich für eine barrierefreie Webgestaltung nicht, weil sie die visuelle Anordnung am Bildschirm vorgeben. Bevor ein CSS-Design umgesetzt werden kann, muss die Linearisierbarkeit und Strukturierung der Inhalte in HTML vorgenommen werden.

2.10 Formulare In der vielfältigen Interaktion zwischen Nutzer und Webseite spielen Formulare eine zentrale Rolle. Die standardisierten Steuerelemente eines Formulars bieten grundsätzlich zwar eine Zugänglichkeit, müssen aber durch Beschriftungen, Strukturen und eine korrekte Reihenfolge nutzbar gemacht werden. Beispielsweise sollten Beschriftungen von Eingabefeldern immer vor dem Eingabefeld stehen und insbesondere explizit mit

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den Steuerelementen verknüpft werden. Darüber hinaus sollten Fehlermeldungen so positioniert werden, dass sie für alle Nutzer leicht auffindbar und verständlich sind.

2.11 Geräteunabhängigkeit Die Bedienung des Browsers mit der Tastatur ist ein oft vernachlässigter Aspekt der Zugänglichkeit. Wenn durch Links oder Formulare mit der Tabulatorentaste navigiert (statt mit dem Mausrädchen gescrollt) wird, dann muss die Tabulatorenreihenfolge stimmig sein. Daneben müssen Tastaturnutzer stets erkennen können, wo der Tastaturfokus gerade ist, denn im Gegensatz zu Mausnutzern verfügen sie über keine weiteren optischen Kennzeichnungen. Der Einsatz von JavaScript-Bibliotheken kann auch zu Problemen mit der Nutzbarkeit auf Tastaturbasis führen. Wegen des dynamischen Charakters von JavaScript werden Inhalte oft nicht in der logischen Tabulatorenreihenfolge in einer HTML-Seite integriert. Insbesondere geht es um die Erhaltung von Rolle, Status und Wert: Es sind die mit HTML standardisierten Elemente einzusetzen und emulierte Links und Steuerelemente zu vermeiden, z.B. Schieberegler und komplexe Anwendungen. Es ist auf vielen Ebenen dafür zu sorgen, dass die Tastatursteuerung gewährleistet wird.

2.12  Flexible Darstellung Webseiten sollten auf beliebigen Endgeräten so darstellbar sein, dass die Inhalte leserlich sind. Damit hoch auflösende Bildschirme, kleine Displays mobiler Endgeräte sowie benutzerdefinierte Schriftgrößen berücksichtigt werden können, müssen relative Maßeinheiten eingesetzt werden. Insbesondere soll die Schrift mindestens auf das Zweifache der Ausgangsgröße im Browser vergrößert werden können, dabei muss sowohl die Vergrößerung der Schrift selbst als auch die Vergrößerung von Schrift im Rahmen einer Layoutvergrößerung (Seitenzoom) berücksichtigt werden. Bei einer Schriftvergrößerung sollte sich das Layout so anpassen, dass horizontales Scrollen vermieden wird.

2.13  Kontraste und Farben Die Leserlichkeit und Wahrnehmbarkeit von Texten sowie anderen Inhalten hängen eng zusammen mit der Berücksichtigung eines ausreichenden Kontrastverhältnisses zwischen Vordergrund- und Hintergrundfarben. Farbschemata gehören zu den größten Konfliktpotenzialen der Barrierefreiheit. Damit Inhalte für möglichst viele Nutzer leserlich sind, dürfen die Grenzwerte der Kontrastverhältnisse zwischen Vordergrundinformationen und Hintergrundfarben nicht unterschritten werden. Menschen mit

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Sehbehinderungen haben oft Schwierigkeiten, Texte zu lesen, wenn die verwendeten Farben keine optimalen Kontrastverhältnisse aufweisen.

Abbildung 7 Kontrastverhältnisse können gemessen werden und zeigen wie in diesem Beispiel des Deutschen HygieneMuseums Dresden ein fast ausreichendes Kontrastverhältnis zwischen Vordergrund- und Hintergrundfarbe.

Auf der technischen Ebene geht es bei Farben und Kontrastverhältnissen auch um benutzerdefinierte Einstellungen; denn Farben können im Browser und Betriebssystem voreingestellt werden, wodurch CSS-Angaben von Webseiten überschrieben werden. Hier fördert das Zulassen benutzerdefinierter Farbangaben die Zugänglichkeit für Nutzer, die auf bestimmte Kontrastverhältnisse angewiesen sind. Anforderungen zur Farbgestaltung gelten für Farben in Fließtexten und Navigationsbereichen sowie für Schriftgrafiken. Einige Elemente gehören nicht zu den kontrastreich zu gestaltenden Inhalten, etwa grafische Darstellungen in Diagrammen. Vor allem Wortbildmarken, also Text, der Teil eines Logos oder Markennamens ist, sind von der Empfehlung ausgenommen.

2.14 Mehrfachkennzeichnung Die Vermittlung von Informationen über mehrere Wege gehört zu den ältesten Anforderungen des barrierefreien Webdesigns. Während die zusätzliche Beschriftung von Grafiken mit Alternativtexten für blinde Nutzer oder das Anbieten verschiedener Navigationspfade zunehmend im Web umgesetzt werden, um die verschiedenen Fähigkeiten und Kenntnisse der Nutzer berücksichtigen zu können, ist die Vermittlung von Informationen über sensorische Merkmale und insbesondere Farbe nach wie vor ein kritischer Aspekt. Unabhängig davon, ob die Hervorhebung eines Navigationspunktes durch eine veränderte Hintergrundfarbe, die Unterscheidung von Inhaltstypen durch

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einzelne Formatierungen oder Audio-Hinweise ohne visuelle Pendants erfolgt, muss die Mehrfachvermittlung von Informationen berücksichtigt werden. Das können Navigationsleisten sein, die nur über Hintergrundfarben die aktuelle Position verdeutlichen, oder Fehlermeldungen in Formularen. Dabei soll Farbe eingesetzt werden. Farbe darf aber nicht das einzige Unterscheidungsmerkmal sein.

Abbildung 8 Links werden normalerweise durch eine Farbe gekennzeichnet, benötigen aber mindestens eine Unterstreichung, ein vorangestelltes Symbol oder eine weitere Formatierung.

3. Ausblick Die WCAG 2.0 sind ein ausgereifter Standard, der aber noch in die Gesetzgebung und in weitere Richtlinien für die Praxis Eingang finden muss. Der Webstandard bietet eine gute Grundlage für barrierefreies Webdesign und liefert erprobte Techniken für viele Einzelfälle. Die WCAG 2.0 stellen deutlich höhere Anforderungen an die Webgestaltung als die Vorgängerversion aus dem Jahr 1999 und bieten gleichzeitig konkrete Handlungsanweisungen. Durch die Berücksichtigung einer Vielzahl von Beispielen sollten die allgemein formulierten Erfolgskriterien nicht mehr missverstanden werden können. Gleichzeitig ist der Umfang der Richtlinien um ein Vielfaches gestiegen. Die WCAG 2.0 und andere Webstandards gehen vor allem auf die Ausgabe von Daten ein und bearbeiten dabei folgende Aspekte: Wie werden Inhalte z.B. auf einer Webseite organisiert, strukturiert, gestaltet, miteinander verknüpft und geräteunabhängig bedient? Die zugängliche und nutzbare Aufbereitung von Inhalten in einem professionellen Umfeld sollte inzwischen selbstverständlich sein. Dennoch fehlt es an Werkzeugen, die eine umfassende und unabhängige Qualitätsprüfung der Barrierefreiheit auf breiter Basis erlauben. Einige Prüfverfahren wie das der Stiftung „Zugang für Alle“ in der Schweiz oder das des Projekts „Barrierefrei Informieren und Kommunizieren“ in Deutschland werden weiterentwickelt, um den erweiterten Anforderungen der WCAG 2.0 zu genügen. In beiden Fällen handelt es sich um manuelle Prüfungen, d.h. die Seiten werden durch Menschen getestet.

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Mit den Techniken der WCAG 2.0 wird die erforderliche Grundlage geboten, Barrierefreiheit wirksam umzusetzen und zu bewerten. Eine realistische Einschätzung der Barrierefreiheit ist allerdings oft nur durch Beteiligung externer Experten möglich. Die für die Einschätzung der Barrierefreiheit unverzichtbaren Erläuterungen zu den WCAG 2.0 werden sukzessive ins Deutsche übersetzt.14 Der normative Teil der Richtlinien wurde bereits 2009 ins Deutsche übersetzt.

14 Techniken für WCAG 2.0. Techniken und Fehler für die Richtlinien für barrierefreie Webinhalte 2.0 (Stand: 14. Oktober 2010), .

Patrick S. Föhl

Kommunikation und Planung. Zentrale Aspekte eines Projektmanagements zur barrierefreien Gestaltung von Museen und Bibliotheken

Museen und Bibliotheken1 barrierefrei zu gestalten ist eine Aufgabe, die – bestenfalls – alle Abteilungen und Mitarbeiter betrifft und in Bewegung bringt. Es entstehen spezifische Anforderungen an ein Projektmanagement. Der folgende Beitrag fokussiert hierbei die Aspekte der Kommunikation und der Planung. Neben den notwendigen finanziellen, strukturellen und personellen Ressourcen bedarf Barrierefreiheit vor allem einer strategischen Planung, um entsprechende Maßnahmen passgenau und effizient durchführen zu können oder um alternative Lösungswege zu finden. Damit sich möglichst alle Mitarbeiter mit einer „barrierefreien Mission“ identifizieren und ihr Handeln auf diese Mission ausrichten können, ist eine profunde interne Kommunikation notwendig.

1.  Barrierefreiheit: Ein komplexes Handlungsfeld In den vergangenen Jahren hat das Thema Barrierefreiheit2 in Museen3 und Bibliotheken an Boden gewonnen.4 Das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes (BGG)

1 Die Ausführungen dieses Beitrages richten sich an Museen und Bibliotheken, unabhängig davon, ob sie öffentlich, privat-gemeinnützig oder privat getragen werden, und unabhängig davon, ob es sich um kleine oder große Institutionen handelt. Selbstredend kann von einem ehrenamtlich betriebenen Heimatmuseum aufgrund mangelnder finanzieller und personeller Ressourcen nicht dasselbe erwartet werden wie von einem großen öffentlichen Museum. Folglich stellen die Ausführungen einen idealtypischen Anspruch dar, der auf die jeweiligen Vor-Ort-Bedingungen angepasst werden muss. 2 Vgl. exemplarisch zur Annäherung an einen Begriff der Barrierefreiheit Rüdiger Leidner: Die Begriffe „Barrierefreiheit“, „Zugänglichkeit“ und „Nutzbarkeit“ im Fokus, in: Patrick S. Föhl, Stefanie Erdrich, Hartmut John, Karin Maaß (Hg.): Das barrierefreie Museum. Theorie und Praxis einer besseren Zugänglichkeit. Ein Handbuch, Bielefeld: transcript, 2007, S. 28–33. 3 Vgl. speziell für den Museumsbereich Föhl/Erdrich/John/Maaß (Anm. 2). 4 Die verhältnismäßig späte ernsthafte Beschäftigung mit Barrierefreiheit im deutschen Kulturbereich ist erstaunlich, da die Thematik schon seit langem diskutiert wird und die Bedeutung bekannt ist; vgl. exemplarisch International Council of Museums, Fondation de France (Ed.): Museums without barriers. A new deal for disabled people, London [u.a.]: Routledge, 1991.

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vom 1. Mai 2002 entwickelte hier besondere Schubkraft.5 Vor allem setzt sich jedoch die Erkenntnis durch, dass sich Museen und Bibliotheken öffnen müssen, um angesichts des gesamtgesellschaftlichen Wandels vorhandene Zielgruppen zu binden, neue zu aktivieren und ihrem Vermittlungsauftrag gerecht zu werden. Hierzu zählen eine übergeordnete Audience-Development-Strategie6 und vor allem besondere Vermittlungsangebote im Bereich der kulturellen Bildung, um den Besuchern bzw. Benutzern spezifische Aneignungsprozesse der musealen bzw. bibliothekarischen Inhalte zu ermöglichen.7 Diese veränderte Grundhaltung begünstigt eine barrierefreie Denkweise und Ausrichtung der Kultureinrichtungen. Denn mit Barrierefreiheit verbindet sich über die baulichen Aspekte hinaus eine neue Grundhaltung einer offenen, an den Bedürfnissen der Besucher orientierten Vermittlungsarbeit. Anstrengungen auf diesem Feld sind umso lohnender, als Menschen mit besonderen Bedürfnissen die barrierefreie Teilhabe an kulturellen Angeboten und Leistungen nicht nur persönlich als besonders wichtig erachten, sondern generell als Gradmesser für Barrierefreiheit und gesellschaftliche Integration überhaupt. Die Ressourcen und die Energie, die Kultureinrichtungen in eine leichtere Zugänglichkeit ihrer Häuser und Angebote investieren, kommen außerdem nicht „nur“ Menschen mit körperlichen und/oder geistigen Handicaps zugute. Auch die angesichts des demografischen Wandels wachsende Zahl älterer Besucherinnen und Besucher profitiert davon ganz entscheidend.8 Eine barrierefreie Ausrichtung von Museen und Bibliotheken stellt die Einrichtungen allerdings in mehrfacher Hinsicht vor inhaltliche, strukturelle und finanzielle Herausforderungen: In ihnen muss das Wissen über die spezifischen Anforderungen einer – soweit möglich – umfassenden Barrierefreiheit angeeignet9 sowie ein Verständnis von Behinderung an sich entwickelt werden.10 Barrierefreiheit, als komplexe Kultur- und Projektmanagementaufgabe verstanden, stellt folglich verschiedene Anforderungen an die Leitungen und die Mitarbeiter von Museen und Bibliotheken. Es entstehen spezifische Ansprüche an ein integratives Projektmanagement, das von der Konzeptphase über die Definitions- und Realisierungsphase

5 Vgl. vertiefend Karin Auer: Barrierefreie Museen – Rechtliche Rahmenbedingungen, in: Föhl/Erdrich/John/Maaß (Anm. 2), S. 34–43. 6 Vgl. vertiefend Birgit Mandel (Hg.): Audience Development, Kulturmanagement, kulturelle Bildung. Konzeptionen und Handlungsfelder der Kulturvermittlung, München: Kopaed, 2008; Klaus Siebenhaar (Hg.): Audience Development. Oder die Kunst, neues Publikum zu gewinnen, Berlin: B & S Siebenhaar, 2009. 7 Vgl. vertiefend Hannelore Kunz-Ott, Susanne Kudorfer, Traudel Weber (Hg.): Kulturelle Bildung im Museum. Aneignungsprozesse, Vermittlungsformen, Praxisbeispiele, Bielefeld: transcript, 2009. 8 Gleiches gilt für weitere Zielgruppen, wie z.B. für Eltern mit Kinderwagen oder Menschen mit geringen Deutschkenntnissen. 9 Vgl. für die spezifischen Anforderungen an eine Barrierefreiheit in Kultureinrichtungen das gesamte Kapitel 2 in Föhl/Erdrich/John/Maaß (Anm. 2). 10 Vgl. ausführlich Markus Dederich: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies, Bielefeld: transcript, 2007.

Kommunikation und Planung

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bis hin zur Abschluss- bzw. Kontrollphase reicht.11 Im Folgenden stehen die Aspekte der Kommunikation und Planung als zentrale Erfolgsfaktoren zur Umsetzung von Barrierefreiheit in Museen und Bibliotheken im Vordergrund.

2.  Interne Kommunikation 2.1  Die Gefahren mangelnder interner Kommunikation Ein wesentlicher Faktor, der regelmäßig für das Gelingen barrierefreier Projekte angeführt wird, ist eine reibungslose und vertrauensvolle interne Vernetzung und Kommunikation zwischen den Mitarbeitern einer Bibliothek oder eines Museums.12 Eigentlich trifft diese Aussage auf alle Projekte und internen Austauschprozesse zu, doch die Planung und Umsetzung barrierefreier Maßnahmen verlangen ein besonders hohes Maß an interner Abstimmung. Da Barrierefreiheit eine Einrichtung interdisziplinär und gesamtheitlich erfasst, selbst wenn zunächst nur einzelne Projekte realisiert werden (z.B. die barrierefreie Ausgestaltung einer Projektwoche), müssen Mitarbeiter, deren Arbeitsfelder und Aufgaben unter Umständen wenig Überschneidungen aufweisen, kommunizieren und intensiv zu diesem Thema zusammenarbeiten. Idealerweise sitzen zu Beginn eines Projektes Verantwortliche aus den Bereichen Direktion, Bau, Verwaltung, Kommunikation und Marketing, Pädagogik, Wissenschaft, Sicherheit u.a. an einem Tisch. Dabei geht es um inhaltliche Absprachen, aber auch um die Information weiterer Mitarbeiter. Häufig kommen jedoch solche Auftakttreffen nicht zu Stande oder es bleibt bei einer einmaligen Veranstaltung. Dies hat zur Folge, dass die Mitarbeiter, die konkret an barrierefreien Projekten arbeiten, ihre Tätigkeiten nahezu ausschließlich auf das eigene Kompetenz- und Handlungsfeld beziehen und keine Vernetzung mit anderen Abteilungen erfolgt. Dadurch werden Potenziale nicht bzw. nur ungenügend ausgeschöpft; zudem können Doppelungen entstehen, konträre Strategien entwickelt oder bereits gemachte Fehler wiederholt werden. Mitarbeiter, die nicht direkt mit dem Thema „Barrierefreiheit“ konfrontiert sind, sind in vielen Fällen völlig unbeteiligt, so dass, selbst wenn Anstrengungen hinsichtlich notwendiger Maßnahmen von Barrierefreiheit unternommen werden, in der Summe häufig nur noch einzelne Bestandteile einer vormals anvisierten „Gesamtstrategie Barrierefreiheit“ übrig bleiben. Dann entstehen einzelne barrierefreie Bereiche, das Personal mit direktem Besucherkontakt (z.B. Empfang, Aufsicht, Infotheke, Museumsshop) ist aber nicht auf die speziellen Bedürfnisse einzelner Besuchergruppen eingestellt, informiert oder gar geschult worden. Der Besuch bleibt 11 Vgl. vertiefend Armin Klein: Projektmanagement für Kulturmanager, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2004. 12 Vgl. hier und im Folgenden ausführlich Patrick S. Föhl: Interne Kommunikation für barrierefreie Maßnahmen, in: Föhl/Erdrich/John/Maaß (Anm. 2), S. 131–148.

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dann häufig bei den Betroffenen – trotz engagierter Angebote – als nicht oder nur eingeschränkt barrierefrei in Erinnerung.

2.2  Was kann interne Kommunikation leisten? „Sämtliche Mitglieder [eines Unternehmens] müssen sich Gedanken darüber machen, was sie anstreben – und dafür Sorge tragen, dass ihre Kollegen ihre Ziele kennen und verstehen. Sie alle müssen darüber nachdenken, was sie den anderen zu geben haben – und dafür sorgen, dass die anderen dies wissen. Auf der anderen Seite müssen sie sich überlegen, was sie ihrerseits von den anderen benötigen – und sicherstellen, dass die anderen wissen, was von ihnen erwartet wird.“13 Folgt man den Hinweisen des bekannten Managementforschers Peter F. Drucker, sollten alle Mitarbeiter einer Kultureinrichtung an internen Kommunikationsflüssen beteiligt werden und aktiv teilnehmen, allerdings aus ihren unterschiedlichen Rollen, Sichtweisen, Fähigkeiten, Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten heraus. Das Erfüllen barrierefreier Anforderungen beruht hierbei, wie der gesamte Kulturbetrieb, auf der Kommunikation und der individuellen Verantwortung eines jeden Mitarbeiters. Dieser Prozess steuert sich in seiner Komplexität allerdings nicht von selbst. Interne Kommunikation – als verbale und nonverbale Kommunikation zwischen Mitarbeitern einer Kultureinrichtung verstanden – sollte immer Chefsache sein bzw. von der Leitung ausgehen, um das Anliegen auf den Weg zu bringen und auch eine entsprechende Gewichtung zu verdeutlichen. Dies impliziert jedoch nicht, dass Kommunikationsprozesse ausnahmslos „von oben nach unten“ verlaufen müssen. Auch der umgekehrte Weg muss möglich sein, um Vorschläge zu unterbreiten oder Probleme vorzutragen. Allerdings sollten wichtige Entscheidungen erfahrungsgemäß „von oben“ ihren Lauf nehmen, auch wenn sie „von unten“ initiiert wurden, damit sie als gewichtig wahrgenommen werden („Impulsgeber“). Dass sie diese Bedeutung behalten, dafür haben dann alle Mitarbeiter mit ihren jeweiligen Entscheidungen, Rollen und Kompetenzen Sorge zu tragen. Im Wesentlichen lassen sich die Aufgaben von interner Kommunikation unter zwei Hauptfunktionen subsumieren. Hierzu zählt einerseits die abgestimmte Versorgung an Informationen der unterschiedlichen Mitarbeiter (Informationsfunktion) und andererseits die Sicherstellung von sprachlichen Austauschprozessen zwischen den Mitarbeitern (Dialogfunktion). Diese informativen und dialogischen Ebenen bilden den Ausgangpunkt für weitere notwendige Differenzierungen in Bezug auf die Funktionen und Wirkungsweisen von interner Kommunikation.14

13 Peter F. Drucker: Was ist Management? Das Beste aus 50 Jahren, Berlin: Econ, 32005, S. 28. 14 Vgl. ausführlich Philip Meier: Interne Kommunikation im Unternehmen. Von der Hauszeitung bis zum Intranet, Zürich: orell füssli, 2002, S. 28f.

Kommunikation und Planung

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Koordination, Vermittlung, Weisung: Das Thema Barrierefreiheit macht einen überproportionalen Abstimmungsbedarf zwischen den Mitarbeitern notwendig, der nur mit einer funktionierenden internen Kommunikation erfüllt werden kann. Gleiches gilt für klare Weisungsstrukturen, nach denen Arbeitsaufträge erteilt und besprochen werden. Know-how-Transfer, Erhöhung der Arbeitsleistung: Das Wissen zum Thema Barrierefreiheit ist zu Beginn meist sehr gering. Die Weitergabe und Abstimmung von vorhandenem und akkumuliertem Wissen beschleunigt den Kompetenzaufbau zum Thema Barrierefreiheit. Themengewichtung, Anweisungen: Interne Kommunikation sollte immer auch „Chefsache“ sein und von der Leitung genutzt werden, wichtigen Themen die angemessene Bedeutung zu verleihen und diesbezüglich alle Mitarbeiter zu sensibilisieren. Hier kann und sollte die Bedeutung von Barrierefreiheit betont werden. Vertrauen, Identifikation, Kooperation, Kontakt: Interne Kommunikation dient, durch die Teilhabe an Informationen, dem Aufbau von Vertrauen, was insbesondere bei neuen Themen wichtig ist, und erzeugt dadurch – bestenfalls – langfristig eine Identifikation mit barrierefreien Inhalten und Strategien.15 Außenwirkung, Motivation: Interne Kommunikation verbessert die Außenwirkung der Bibliothek oder des Museums, da die Prozesse und Maßnahmen professionell durchgeführt werden und sich positiv wahrgenommene Inhalte besser verwirklichen lassen. Kostenfaktor: Die frühzeitige kommunikative Einbindung aller Mitarbeiter spart zudem Kosten, da keine Doppelleistungen erarbeitet und weniger Fehlentscheidungen getroffen werden.

2.3  Welche internen Kommunikationsinstrumente gibt es? Die Auswahl an Instrumenten zur internen Kommunikation ist vielfältig. Allerdings sind zahlreiche Instrumente durchaus kostspielig sowie zeitaufwändig (z.B. eine regelmäßige Mitarbeiterzeitschrift) und kommen nur bedingt in Frage. Meistens empfiehlt sich der Rückgriff auf vorhandene Instrumente (z.B. die Dienstbesprechung) und punktuelle Einzelveranstaltungen (z.B. ein Workshop zum Thema). In der folgenden Übersicht werden zentrale Kommunikationsziele und entsprechende Instrumente benannt:

15 Interne Kommunikation ist indes kein reines Instrument der Aufgaben- und Informationsvermittlung. Vielmehr geht es auch um sozialen Austausch, also zwischenmenschliche Kontakte. Werden diese auf einer professionellen und kollegialen Ebene gepflegt, können sie dazu beitragen, interne Arbeitsabläufe zu verbessern oder Konflikte besser zu lösen.

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Ziele und Instrumente interner Kommunikation (Auswahl)16 Ziele

Ausgewählte Instrumente (persönlich, elektronisch, schriftlich, Events) Wissensvermittlung, Persönliches Gespräch, Plakate, Mitarbeiterzeitung, Spiele (z.B. mit Information verbundenen Augen Exponate ertasten), Quiz, Intranet, Datenbank (s.u.), Newsletter, Konsultation und Vortragsreihen von Bedürfnisgruppen, Flugblätter, Schwarzes Brett, Presse (externe Kommunikation = interne Kommunikation), Spezialliteratur beschaffen Wissenstransfer und Persönliches Gespräch, Aufbau eines Wissensspeichers mittels -genese Intranet und zentraler Datenbank (für Texte, Adressen, einheitliche Ablage, Ideenforum u.v.m.), Workshop Führung der Mitarbeiter Persönliches Gespräch, gemeinsame Planung, regelmäßiges Feedback Motivation

Vertrauen

Persönliches Gespräch, Gruppengespräche, Spiele, Quiz, Exkursion, Feier, Einbindung von Bedürfnisgruppen in den Planungsprozess, Befragungen, Aufgabenübertragung Persönliches Gespräch, Befragungen, Round Table

Identifikation

Persönliches Gespräch, Mitarbeiterzeitung, Events

Leistungssteigerung (Quantität) Erhöhung der Arbeitsleistung (Tempo und Qualität) Themen und Visionen Bedeutung geben

Persönliches Gespräch, Auszeichnungen, Einbindung, Übertragung von Verantwortung, teilweise dezentrale Entscheidungen ermöglichen Persönliches Gespräch, Intranet, Datenbank (s.o.), inhaltsorientierte Projektgruppen, teilweise dezentrale Entscheidungen ermöglichen

Zusammenarbeit

Persönliches Gespräch, Kick-off-Veranstaltung, Teamsitzungen, Top-Down-Beginn, E-Mails, Ansprachen, Leitbildentwicklung bzw. Modifikation des Leitbildes hinsichtlich der Barrierefreiheit Persönliches Gespräch, Intranet, alle Arten von Events, Arbeitsgruppen bilden (vor allem interdisziplinär und abteilungsübergreifend), gemeinsame Analysen durchführen (z.B. Szenario-Technik)

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3.  Planung barrierefreier Maßnahmen 3.1  Notwendigkeiten einer Planung Barrieren in Museen und Bibliotheken bestehen in Bezug auf Vermittlung, Orientierung, Gestaltung, Marketing und Service. Eine entsprechende Um- und Neugestaltung muss und kann nicht immer in vollem Umfang geplant werden. Teilweise wird es ausreichen, bei Einzelaktivitäten, wie z.B. dem Druck eines Flyers, barrierefreie Anforderungen zu bedenken. Im Englischen spricht man hier z.B. von der so genannten „Disability Awareness“, d.h. alle Aktivitäten und Maßnahmen sind hinsichtlich ihrer Barrierefreiheit zu 16 Tabelle nach Caroline B. Nierhaus: Interne Kommunikatiion – schnell und effektiv. Vertrauen und Zusammenarbeit gezielt aufbauen, Göttingen: BusinessVillage, 2004, S. 21, 48.

Kommunikation und Planung

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überprüfen bzw. zu diskutieren, ähnlich wie dies im „Gender-Mainstreaming-Prinzip“ gehandhabt wird. Geht es allerdings um ein größeres Projekt, das die Barrierefreiheit zum Inhalt hat bzw. generell um ein großes Projekt, in dem Barrierefreiheit mit geplant und umgesetzt werden soll, dann sollten die genannten Bereiche bereits in der Konzeptions- und Planungsphase umfassend berücksichtigt werden. Denn das Wissen um den tatsächlichen Inhalt und die daraus resultierenden Lösungen im Verlauf der Maßnahme ist zu Projektbeginn noch verhältnismäßig gering. Zudem lauern besonders am Anfang eines Vorhabens größere Risiken, die oft nicht erkannt bzw. unterschätzt werden. Eine entsprechende strategische Planung ist folglich als systematisierte und intellektuelle Erarbeitung sowie Reflexion von zukünftigen Handlungsschritten zu verstehen, die zur Erreichung von – in diesem Fall barrierefreien – Zielen notwendig sind.17 Hierzu zählen auch Aussagen zu der entsprechenden Organisation bzw. der Operationalisierung, den notwendigen materiellen und immateriellen Ressourcen, den Zeitverläufen sowie der Kontrolle der entsprechenden Zielvorstellungen. Die strategische Planung ist ein fundamentaler Bestandteil eines vorausschauenden, zukunftsorientierten und verantwortungsvollen Museums- bzw. Bibliotheksmanagements.

3.2  Grundfunktionen der Planung Selbstredend ist das Ziel, Bibliotheken, Museen und andere Kultureinrichtungen für alle Zielgruppen in gleichem Maße barrierefrei zu gestalten, immer nur näherungsweise zu erreichen. Zu unterschiedlich sind die individuellen Bedürfnisse, Erwartungen und Vorstellungen der Adressaten. Auch blockieren diese sich zum Teil gegenseitig. So tragen flache Bürgersteige einerseits zur Mobilität von Rollstuhlfahrern bei, erschweren andererseits Blinden die Orientierung an Straßenkreuzungen, da sie sich mit ihrem Langstock an hohen Bordsteinkanten besser zurechtfinden können. Nicht alle Bereiche der genannten Kultureinrichtungen können für die Bedürfnisse aller gleichermaßen optimal gestaltet werden. Eine Planung barrierefreier Maßnahmen kann folglich dabei helfen, entsprechende Entscheidungen auf einer belastbaren Grundlage zu treffen (z.B. eine Festlegung der Hauptzielgruppen nach Besucher- bzw. NichtBesucherbefragung).18 Eine gründliche Planung erfüllt darüber hinaus auf der Grundlage einer Bestandsaufnahme vier zentrale Funktionen.19 Sie hat eine „Frühwarnfunktion“. Probleme werden frühzeitig erkannt und definiert; ein möglicher Problemlösungsraum wird vorstruktu17 Vgl. hierzu und im Folgenden ausführlich Franz Xaver Bea, Jürgen Haas: Strategisches Management, Stuttgart: Lucius & Lucius, 32001, S. 43–210. 18 Vgl. hierzu vertiefend Patrick Glogner, Patrick S. Föhl (Hg.): Das Kulturpublikum. Fragestellungen und Befunde der empirischen Forschung, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaft, 22011. 19 Vgl. hier und im Folgenden Dietrich Fürst, Ernst-Hasso Ritter: Planung, in: Akademie für Raumforschung und Landesplanung: Handwörterbuch der Raumordnung, Hannover: ARL, 42005, S. 765– 769, hier S. 766.

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riert. Neben dem Erkennen einer Notwendigkeit von Barrierefreiheit sind hier insbesondere Stolpersteine zu nennen, die bei einer strategischen Planung sichtbar werden (z.B. kein geschultes Personal, bauliche Herausforderungen). Evident werden entsprechende Herausforderungen z.B. im Rahmen einer Machbarkeitsstudie mittels verschiedener Analyseverfahren. Planung weist darüber hinaus eine „Orientierungsfunktion“ auf. Die Zeitachse des Handelns wird in die Zukunft verlängert. Durch Planung wird sichtbar, was wann und wie konkret zu tun ist, wobei unvorhersehbare Probleme nicht ausgeschlossen werden können. Planung übernimmt zudem eine „Koordinationsfunktion“. Durch die Berücksichtigung sachlicher Interdependenzen und deren interessenabhängiger Bewertung werden Ziel- und Maßnahmenkonflikte frühzeitig ausgeräumt. Planung ermöglicht es, materielle und immaterielle Ressourcen möglichst ziel- und ergebnisorientiert einzusetzen. Zudem sei auf die „Moderations- und Beteiligungsfunktion“ von Planung hingewiesen. Im Rahmen von Planungen wird kommuniziert. In diesem Kontext kann durch Moderation z.B. einer Verhärtung von Verteilungs- und Interessenkonflikten entgegengewirkt und diese ggf. durch kooperative Lernprozesse aufgelöst werden. Es können verschiedene interne und externe Interessengruppen zusammengebracht werden, um gemeinsame Lösungen und Kompromisse zu finden. Eine Planung sollte folglich überwiegend partizipativ angelegt sein und neben der Planung durch Mitarbeiter und/oder durch einen Berater, externe Anspruchsgruppen (z.B. potenzielle Besucher) einbeziehen. Hierdurch werden zusätzlich wichtige Informationen gewonnen (z.B. spezifische Ansprüche und Wünsche), die insgesamt eine Akzeptanz für die geplanten Maßnahmen erzeugen. Somit ist ein Planungs- bzw. Beteiligungsprozess für barrierefreie Maßnahmen auch als Bestandteil einer zeitgemäßen Governance von Bibliotheken und Museen zu verstehen.

3.3  Planungsschritte und -methoden An dieser Stelle kann nicht vertiefend auf konkrete Möglichkeiten der Planungsgestaltung eingegangen werden.20 Daher werden verkürzt vier Schritte einer Planung dargestellt: Festlegung der Ziele; Analyse des Planungsfeldes mittels Unternehmensund Umweltanalyse; Ableitung von Strategien und Auswahl des geeigneten Ansatzes; Umsetzung der Strategien in Handlungsprogramme (Operationalisierung). Barrierefreiheit ist ein umfangreiches Handlungsfeld mit zahlreichen Facetten und Anforderungen. Deswegen reicht es nicht aus, eine generelle barrierefreie Ausrichtung der eigenen Einrichtung zu postulieren. Es müssen präzise und messbare Ziele formuliert werden, um Prioritäten zu bestimmen und Schritt für Schritt vorgehen zu können. Für die Anfertigung von aussagekräftigen Zielen bietet sich die SMART-Formel an: SPECIFIC: spezifisch und konkret, nicht allgemein. – MEASURABLE: messbar, wenn möglich über Kennzahlen. – ACHIEVABLE: erreichbar, nicht überzogen. – REALIS20 Vgl. vertiefend Bea/Haas (Anm. 17), S. 43–210.

Kommunikation und Planung

279

TIC: realistisch und wirklichkeitsnah, keine „Traumgebilde“. – TIME-SCALED: auf einen möglichst exakten Zeitraum oder Termin fixiert.21 Anschließend gilt es, diese Ziele hinsichtlich ihrer Realisierbarkeit zu überprüfen und zu analysieren. Hierbei ist den Fragen nachzugehen, welche Ziele und Wünsche realisierbar sind und welche nicht bzw. welche Kompromisse gemacht werden müssen. Hierzu sind Analysen des Umfeldes (z.B. demografische Daten, Besucherwünsche) sowie der eigenen Einrichtungen (z.B. baulicher Zustand, vorhandenes Wissens zur Thematik) vorzunehmen. Hier kann sich – vor allem bei größeren Vorhaben – die Erstellung einer so genannten Machbarkeitsstudie22 anbieten. Mit dieser wird im Vorhinein ausführlich und gesamtheitlich geprüft, ob die formulierten Ziele und Wünsche tatsächlich mit der ausgewählten Maßnahme zu erreichen sind oder zumindest erreichbar scheinen und welche – u.a. inhaltlichen und finanziellen – Anforderungen auf die Beteiligten zukommen. Mit der „Vorstudie“ sollen Aussagen zur Durchführbarkeit getroffen, die Erreichbarkeit gesteckter Ziele gemessen bzw. geschätzt und Risiken aufgedeckt werden (u.a. mittels einer Stärken-/Schwächen- und Chancen-/RisikenAnalyse). Ein weiterer, zentraler Nutzen ist die Ableitung konkreter Handlungsanweisungen für den anschließenden Managementprozess und die Legitimation des Vorhabens gegenüber möglichen Skeptikern. Nach der Durchführung dieser Vorstudie wird das Wissen über das ob, wie und bis wann präziser vorliegen. Die planerische Arbeit wird sich schnell auszahlen, da der Prozess im Anschluss reibungsloser verlaufen wird. Das Argument, dass einem die Zeit für Planung fehlt, läuft insofern ins Leere, als durch sie Schwachstellen eines Projektes frühzeitig aufgedeckt und insgesamt weniger Zeitressourcen benötigt werden.

3.4  Leitbilder für die Planung und Durchführung Für den dargestellten Planungs- und Entwicklungsprozess bietet sich die Erarbeitung eines gemeinsamen Grundverständnisses und die Formulierung einer Mission an, wie Barrierefreiheit im eigenen Hause definiert und realisiert wird. Gute Möglichkeiten bietet hier das so genannte „Universal Design“, auch „Design für alle“ oder „barrierefreies Design“ genannt. Die Idee zielt darauf ab, eine nutzerfreundliche Gestaltung in allen Lebensbereichen zu erreichen, wobei die Bedürfnisse von Menschen mit besonderen Anforderungen bereits mitgedacht werden (Inklusion). Die sieben Grundprinzipien des universellen Designs23 sind: breite Nutzbarkeit, Flexibilität in der Benutzung, ein21 Vgl. Klein (Anm. 11), S. 43. 22 Vgl. hierzu und im Folgenden ausführlich Patrick S. Föhl: Die Machbarkeitsstudie im öffentlichen Kulturbereich. „Sorgfaltpflicht“ vor der Durchführung von Veränderungsmaßnahmen und Projekten, in: Friedrich Loock, Oliver Scheytt (Hg.): Kulturmanagement & Kulturpolitik. Die Kunst, Kultur zu ermöglichen, Loseblatt-Ausg., Berlin: Raabe, 2006-, Kap. D 1.2 (Ergänzungslieferung 2007). 23 Vgl. ausführlich Rebecca McGinnis: Konzepte für „Universal Design“ in den Museen der USA: Aktuelle Bestrebungen und Erreichtes, in: Föhl/Erdrich/John/Maaß (Anm. 2), S. 437–459.

280

Patrick S. Föhl

fache und intuitive Benutzung, sensorisch wahrnehmbare Information, Fehlertoleranz, niedriger körperlicher Aufwand, Größe und Platz für Zugang und Benutzung. Mit diesen Kriterien werden folglich nicht nur das Design, sondern auch die Vermittlung sowie andere Museums- bzw. Bibliotheksaufgaben angesprochen, und sie bieten einen praktikablen Ansatzpunkt, eigene, passfähige Ziele zu entwickeln. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass nicht alles für alle gleich zugänglich sein kann. Zentral scheint deshalb auch die Definition von Mindestanforderungen, die z.B. jede Wechselausstellung zu erfüllen hat und auf deren Grundlage ggf. weitere Maßnahmen aufbauen können. Damit wird verhindert, dass das Thema bei anderen Projekten wieder vernachlässigt wird.24

4. Ausblick Mit den Aspekten Kommunikation und Planung sind zwei zentrale Schritte aufgezeigt worden, um eine barrierefreie Kultureinrichtung zu ermöglichen. Allerdings handelt es sich dabei nur um einen Ausschnitt. Gesichtspunkte des Verstehens von Behinderung, der konkreten Konzipierung und Umsetzung von Barrierefreiheit sind weiterführend ebenso zu betrachten wie konkrete operative Handlungsfelder. Hierzu zählen etwa Fragen der Gestaltung, des Marketings, der Kooperation, der Kulturvermittlung und der Finanzierung. Insgesamt stellt Barrierefreiheit eine interdisziplinäre und anspruchsvolle Aufgabe dar, die eines zeitgemäßen Museums- bzw. Bibliotheksmanagements bedarf.25 Das ist eine Anforderung, der sich Museen und Bibliotheken generell zunehmend stellen bzw. stellen müssen. Darüber hinaus wird mittelfristig daran zu arbeiten sein, den häufig noch explizit projektorientierten Ansatz von Barrierefreiheit als einen festen Bestandteil der Mission und des Handelns von Kultureinrichtungen zu etablieren.

24 Als besonders beispielhaft ist hier ein Leitfaden zu nennen, den das Deutsche Technikmuseum Berlin für seine Ausstellungen erarbeitet hat: Barrierefrei Konzipieren und Gestalten. Leitfaden für Ausstellungen im Deutschen Technikmuseum Berlin, Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin – Abteilung Bildung und Besucherbetreuung, 2008, Konzept und Text: Svenja Gaube. 25 Vgl. hierzu vertiefend Hartmut John, Anja Dauschek (Hg.): Museen neu denken. Perspektiven der Kulturvermittlung und Zielgruppenarbeit, Bielefeld: transcript, 2008.

Jan Hoffmann

Zielvereinbarungen nach dem Behindertengleichstellungsgesetz

Am 1. Mai 2002 ist das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen (Behindertengleichstellungsgesetz, BGG)1 in Kraft getreten, das einen grundlegenden Paradigmenwechsel hin zu einer emanzipatorischen Behindertenpolitik markiert. In Respekt vor der Menschenwürde behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen werden die betroffenen Menschen nicht als Adressaten oder Objekte öffentlicher Fürsorge verstanden. Vielmehr soll durch die Beseitigung der Hindernisse, die ihrer Chancengleichheit im Wege stehen, ihre Menschenwürde respektiert und ihre Teilhabe am öffentlichen Leben gefördert werden. Ziel des BGG ist es, Barrierefreiheit im umfassenden Sinn anzubahnen. Menschen mit Behinderungen soll ermöglicht werden, bauliche Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände und Kommunikationseinrichtungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zu nutzen. Umfassende Barrierefreiheit ist nur schrittweise und unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes herzustellen. Gesetzliche Regelungen hierzu gibt es praktisch nur für den öffentlichen und behördlichen Bereich. Um die Barrierefreiheit auch darüber hinaus zu gewährleisten, wurde mit dem BGG zugleich das Instrument der Zielvereinbarungen geschaffen. Mittels Zielvereinbarungen können nach dem BGG anerkannte Verbände behinderter Menschen mit Unternehmen oder Unternehmensverbänden in eigener Verantwortung darüber verhandeln, wie und in welchem Zeitraum Barrierefreiheit vor Ort konkret verwirklicht wird. Den Beteiligten bleibt es selbst überlassen, Regelungen zur Herstellung von Barrierefreiheit zu treffen, die den jeweiligen Verhältnissen und Bedürfnissen angepasst sind. Zielvereinbarungen sollen so flexible und den Verhältnissen angemessene Lösungen möglich machen. Zielvereinbarungen, die Barrierefreiheit herstellen sollen, können für alle gesellschaftlichen Bereiche getroffen werden, die für behinderte Menschen wichtig sind. Zielvereinbarungen können vor allem den Status behinderter Menschen als Kunden verbessern. Immer dort, wo spezielle Anforderungen an die Ausgestaltung eines Angebotes zu stellen 1 Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen (Behindertengleichstellungsgesetz – BGG) vom 27. April 2002 (BGBl. I, S. 1467, 1468), das zuletzt durch Artikel 12 des Gesetzes vom 19. Dezember 2007 (BGBl. I S. 3024) geändert worden ist, ; vgl. auch Welti in diesem Band.

282

Jan Hoffmann

sind und die Marktgegebenheiten nicht von selbst ein barrierefreies Angebot herstellen, können Zielvereinbarungen verbindliche Standards für die Vertragspartner setzen. Zielvereinbarungen zur Barrierefreiheit enthalten insbesondere die Bestimmung der Vertragspartner, räumliche und sonstige Regelungen zum Geltungsbereich, Bestimmungen zur Geltungsdauer und den Zeitpunkt oder Zeitplan der Erfüllung. Vertragspartner von Zielvereinbarungen sind auf der einen Seite nach § 13 Absatz 3 BGG anerkannte Verbände und auf der anderen Seite Unternehmen oder Unternehmensverbände der verschiedenen Wirtschaftsbranchen. Verbände können als Interessenvertreter behinderter Menschen Verhandlungen über Zielvereinbarungen verlangen, wenn sie vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales anerkannt worden sind. Die Anerkennung kann erteilt werden, wenn bestimmte Mitglieder des Beirates für die Teilhabe behinderter Menschen nach dem Neunten Sozialgesetzbuch2 den Verband hierfür vorgeschlagen haben. Ein Verband, der die Aufnahme von Verhandlungen verlangt, hat dies gegenüber dem vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales geführten Zielvereinbarungsregister schriftlich anzuzeigen unter Benennung der Verhandlungsparteien und des Verhandlungsgegenstandes. Nachdem die beteiligten Verbände eine gemeinsame Verhandlungskommission gebildet haben oder fest steht, dass nur ein Verband handelt, sind die Verhandlungen innerhalb von vier Wochen aufzunehmen. Je nach Reichweite der zu schließenden Zielvereinbarung wird der anerkannte Verband mit seiner räumlichen Untergliederung mit Unternehmen oder Unternehmensverbänden die Vereinbarung schließen, die ihrem sachlichen und räumlichen Organisations- und Tätigkeitsbereich entspricht. Idealerweise sollten Zusammenschlüsse von anerkannten Verbänden gemeinsam mit Unternehmen oder Unternehmensverbänden Vereinbarungen schließen, die möglichst alle Formen von Beeinträchtigungen umfassen. Damit wird auch für die Unternehmen und Unternehmensverbände mehr Rechts- und Vertragssicherheit geschaffen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales führt ein Zielvereinbarungsregister, in das der Abschluss, die Änderung und die Aufhebung von Zielvereinbarungen eingetragen werden.3 Der die Zielvereinbarung abschließende Verband behinderter Menschen ist verpflichtet, innerhalb eines Monats nach Abschluss einer Zielvereinbarung dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales diese als beglaubigte Abschrift und in informationstechnisch erfassbarer Form zu übersenden sowie eine Änderung oder Aufhebung innerhalb eines Monats mitzuteilen. Die Möglichkeit, Barrierefreiheit über Zielvereinbarungen zu regeln, wurde von den Verbänden behinderter Menschen in der Vergangenheit nur zögerlich in Anspruch genommen. Seit Inkrafttreten des BGG im Jahre 2002 bis zum Januar 2011 wurden dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales lediglich 35 Zielvereinbarungen und fünf Mobilitätsprogramme vorgelegt. Gründe hierfür sehen die Verbände behinderter Men2 Sozialgesetzbuch (SGB) Neuntes Buch (IX) – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, . 3 .

Zielvereinbarungen nach dem Behindertengleichstellungsgesetz

283

schen im Wesentlichen in mangelnden personellen und finanziellen Ressourcen. Infolgedessen fehlt es zumeist an fachlichem, organisatorischem und juristischem Sachverstand, um einzelne Zielvereinbarungsverhandlungen auf Augenhöhe mit den Wirtschaftsvertretern aufnehmen und begleiten zu können. Auch sind das Instrument der Zielvereinbarung und das Thema der Barrierefreiheit mit Blick auf die Herausforderungen und Chancen des demographischen Wandels in der Wirtschaft noch nicht hinreichend bekannt. Hier muss noch ein grundlegender Prozess des Umdenkens erfolgen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen haben in den Jahren 2007 und 2008 Gespräche mit Vertreterinnen und Vertretern der Verbände und Expertinnen und Experten für Barrierefreiheit geführt, um die bestehenden Probleme zu identifizieren. Es bestand Einvernehmen darin, dass das Instrument der Zielvereinbarung grundsätzlich geeignet ist, die Herstellung von Barrierefreiheit voranzubringen. Das Ministerium, die Beauftragte und die Verbände stimmten darin überein, dass zur stärkeren Nutzung dieser Möglichkeit ein durch die Verbände behinderter Menschen getragenes Kompetenzzentrum eingerichtet und vom Bund unterstützt werden sollte. Die Verbände behinderter Menschen, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und die Beauftragte haben daraufhin gemeinsam ein Konzept für ein entsprechendes Kompetenzzentrum auf Bundesebene entwickelt. Für die Trägerschaft des Kompetenzzentrums gründeten die Verbände am 3. Dezember 2008 den Verein Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit e.V. mit Sitz in Berlin.4 Dieser hat seine Arbeit Anfang 2009 aufgenommen und wird für vier Jahre von der Bundesregierung mitfinanziert. Ziel des Kompetenzzentrums ist es, Verbände, Unternehmen und weitere Beteiligte organisatorisch, fachlich und juristisch dabei zu unterstützen, konkrete Lösungen für eine barrierefreie Umweltgestaltung zu entwickeln und diese in Zielvereinbarungen nach dem Behindertengleichstellungsgesetz festzuhalten. Das Kompetenzzentrum arbeitet behinderungs- und verbandsübergreifend und ist Ansprechpartner und Anlaufstelle für behinderte Menschen, ihre Verbände, Beauftragte und Beiräte sowie für Vertreterinnen und Vertreter aus Wirtschaft, Politik und Verwaltung. Vom Kompetenzzentrum werden außerdem Öffentlichkeitsarbeit und Qualifizierungsmaßnahmen koordiniert und durchgeführt.

4 .

Sachregister

Access, Accessibility 16, 45, 53, 71, 110f., 194, 198, 246, 255ff. s.a. International Symbol of Access s.a. Zugänglichkeit Archiv 17, 256 Ästhetik 19, 65, 101–115, 149, 176f., 186– 188, 215 Aktion Mensch e.V. 14, 45, 56, 205, 236 Armut 20, 119, 135 Assistenz 23, 63, 84, 86, 87 (Assistenzgenossenschaft), 92, 99, 251 Audioguide 22, 198, 203–206, 211, 214, 217 (Abb.), 222f. Ausstellung – Der [im-]perfekte Mensch. Vom Recht auf Unvollkommenheit (2000, 2002) 7, 14 – Fühlen, Hören, Sehen – 200 Jahre Blindenbildung in Berlin (2006) 208 – Profitopolis oder Der Mensch braucht eine andere Stadt (1971) 38f. – Sechs Richtige! Louis Braille und die Blindenschrift (2009) 22, 205, 207 (Abb.) – Sinnenfinsternis (1995–2007) 184 – Unten und Oben: die Naturkultur des Ruhrgebietes (2000) 183 Ausstellung (im Nationalsozialismus) 152–158 Ausstellungskonzept und -praxis 152ff., 171ff., 202ff., 212ff. Ausstellungstechnik s. Audioguide s. Tastmodell s. Videoguide s. Vitrine Barriere 101ff. (Def.) barrierearm 16 „Barrierefrei Konzipieren und Gestalten“ (Leitfaden) 203f., 280

Barrierefreie InformationstechnikVerordnung (BITV) 78, 256 barrierefreies Bauen 15, 18, 29ff., 79, 213 Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen 283 Behindertenbewegung 12f. 19, 81, 60, 86, 149 s.a. Krüppelbewegung Behindertengleichstellungsgesetz 15, 49, 67ff., 218, 239, 281ff. s.a. Gleichstellung Behindertenpolitik 14, 29ff., 281, 244f. Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN) 8, 63, 70ff., 91ff., 149, 195, 218f., 245f. Behinderten- und Selbsthilfeverband und -verein 13, 29ff., 211, 237 – Allgemeiner Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin gegr. 1874 e.V. 237f. – Berliner Elternverein Hörgeschädigter e.V. 240 – Blinde und Kunst e.V. 184 – Deutsche Vereinigung für die Rehabilitation Behinderter e.V. (früher Deutsche Vereinigung für Krüppelfürsorge, Deutsche Vereinigung zur Bekämpfung des Krüppeltums) 32, 34f., 148 – Gehörlosenverband Berlin e.V. 23, 237, 239f. – Hörfilm e.V. 214 – Nationale Koordinierungsstelle Tourismus für Alle e.V. 47 – Reichsbund der Deutschen Schwerhörigen 143 – Reichsdeutscher Blindenverband e.V. 143 – Reichsverband der Gehörlosen Deutschlands e.V. 143 – Selbsthilfebund (später Reichsbund) der Körperbehinderten 139f. (Abb.), 142ff., 148, 150

Sachegister

– Sozialverband VdK Deutschland e.V. ehemals Reichsbund gegründet 1917 (früher Reichsbund der Kriegs- und Zivilbeschädigten, Sozialrentner und Hinterbliebenen e.V. und andere Namensformen) 31, 35, 38f. (Abb.) Behinderung – als Kategorie 15ff., 29, 53, 116ff., 133f., 152ff. – als Modell (medizinisch, sozial, kulturell) 13, 53, 89, 91, 105, 219 Berlin s. Bibliothek s. Museum Bibliothek 16f., 23, 198, 252–254 (inklusives Bibliothekssystem), 271ff. – Berlin, Zentral- und Landesbibliothek 23, 236ff. – Dortmund, Universitätsbibliothek 23, 243ff. – Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek 8, 17 Bibliothek für Alle s. Inklusion BIENE-Award 236 Bildung (kulturell, politisch) 21–23, 193, 244–246 s.a. Inklusion Blinde und Sehbehinderte 171ff., 202ff., 243ff., 255ff. Blindenschrift, Brailleschrift 91, 113, 204– 207 (Abb.), 209, 211, 213, 248 Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit e.V. 24, 283 Bundesverband Museumspädagogik e.V. 191, 198 Deutsches Hygiene-Museum Dresden s. Museum Deutscher Kulturrat e.V. 193, 200 Deutsches Blindenmuseum Berlin s. Museum Deutsches Studentenwerk 244–248 Deutsches Technikmuseum Berlin s. Museum DIN (Deutsche Industrie-Norm) 33, 35–37, 40, 48 (DIN-CERTCO), 79, 213 Disability Studies 14f., 44, 53ff. Dortmund

285 s. Bibliothek s. Hochschule Dresden s. Museum Ethik 19, 30 (Sozialethik), 56 (Bioethik), 85ff. (Care-Ethik), 104, 107, 112f. Europäischer Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) 203, 236f. Gebärdensprache 22f., 25, 204, 215–217 (Abb.), 218ff., 239–242 (Abb.) Gedenkstätte Hadamar 23, 225ff. Gehbehinderte s. Mobilitätseingeschränkte Gehörlose und Hörbehinderte 25, 45, 218ff. Gleichstellung 16, 18, 42, 49, 52, 69, 81, 144f. s.a. Behindertengleichstellungsgesetz Hadamar s. Gedenkstätte Hands-on-Modell s. Tastmodell Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar s. Bibliothek Hochschule 23, 43, 80, 243ff. – Dortmund, Technische Universität 23, 243ff. – Dortmunder Zentrum für Behinderung und Studium (DoBus) 249–253 s.a. Bibliothek s.a. Deutsches Studentenwerk Hochschule für Alle s. Inklusion Hochschulrahmengesetz 246 Hochschulrektorenkonferenz 246, 249, 251, 254 Hörbehinderte s. Gehörlose Independent-Living-Bewegung s. Behindertenbewegung Infothek 22, 208–211 (Abb.) Inklusion 11ff., 71, 92–99, 112–115, 244f. – Bibliothekssystem 252–254 – Bildung 25 – Hochschulsystem 243ff. Integration 41, 71–73, 96–98 International Classification of Disability, Functioning and Health (ICF) 74, 89

286 International Council of Museums (ICOM) 195ff. International Symbol of Access (ISA) 40, 110f. s.a. Access s.a. Zugänglichkeit Kinder- und Jugendbibliothek s. Bibliothek, Berlin Klassik Stiftung Weimar 8, 17 Körper 19f., 30, 44, 62, 64ff., 106f., 111, 118, 123, 153 Körperbehinderte 20, 86, 135f., 141–150 Konferenz Nationaler Kultureinrichtungen 8, 17 Krüppel 12, 117f., 134–150 Krüppelbewegung 13, 86, 149 s.a. Behindertenbewegung Kunst- und Wunderkammer 119–125, 131 Landesmuseum Mainz s. Museum Leichte Sprache 90, 113 (einfache Sprache), 204f., 228f., 264 Mainz s. Museum Menschen mit Lernschwierigkeiten 23, 37, 61, 90, 113, 202, 225ff. Mobilitätseingeschränkte 29ff., 212ff., 236 s.a. Rollstuhl Museum 21, 171ff., 195–198 (Def.), 202 – Berlin, Deutsches Blindenmuseum 22, 205 – Berlin, Deutsches Technikmuseum 22, 192, 205ff. , 210 (Abb.), 261 (Abb.), 280 – Berlin, Museum für Kommunikation 205, 207 (Abb.) – Dresden, Deutsches Hygiene-Museum 7f., 14, 17, 152ff., 192, 268 (Abb.) – Mainz, Landesmuseum 192, 212ff., 217 (Abb.), 223 Museumspädagogik 191ff. Nahverkehr 45, 73, 81 Narr, Narrenliteratur 117, 121, 123–125, 131 Normalisierung 30, 42, 53, 58, 61–66, 86, 96f. Normalismus 57f., 62, 65 Normalität 11, 17f. 20, 25, 29f., 42, 52–66, 111, 114

Sachegister

NS-„Euthanasie“ 147, 150f., 160f., 165, 167, 227, 229–234 Rehabilitation 13f., 31–36, 40–42, 45, 49f., 61, 77 Relief s. Tastmodell Rollstuhl 30f. (Abb.), 40, 46, 90, 110f. (Symbol), 204, 209, 213, 217 (Abb.), 251, 272 Schule 61, 64, 68, 75, 98, 140f., 147, 149, 155, 200, 219, 241 Schwerbeschädigte 138 Sehbehinderte s. Blinde Sehen 118, 172, 177f., 182, 185, 188f., 208f. Selbstbestimmung 13, 42, 47, 50, 85, 92–94, 98f., 104, 112, 254 Sozialer Rechtsstaat 67ff. Tastmodell (Hands-on-Modell, Relief ) Umschlag (Abb.), 16, 22, 44, 188, 203– 205, 209, 213, 210 (Abb.), 215, 217 (Abb.) Technische Universität Dortmund s. Hochschule Teilhabe s. Inklusion Tourismus 45–48 UNESCO 193–196 Universal Design 51, 111, 202, 279 Universität s. Hochschule Universitätsbibliothek Dortmund s. Bibliothek s.a. Hochschule Unternehmen, Unternehmensverband 15, 24, 78f., 79 Verbandsklage 15, 81f. Videoguide 215, 217 (Abb.), 222f. Vitrine 22, 205f., 207 (Abb.), 213 Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.0 255–260 Weimar s. Bibliothek s. Klassik Stiftung Weimar Weltgesundheitsorganisation (WHO) 74, 87f. Wunder, Wundergeburt, Wundermensch 117, 122 (Abb.), 126ff. (Abb.)

Sachegister

Zentral- und Landesbibliothek Berlin s. Bibliothek Zielvereinbarung 15, 24, 49, 73, 78f., 282f.

287 Zugänglichkeit, Zugang 7, 53, 71ff. (Def.), 90, 255ff. s.a. Access s.a. International Symbol of Access

Autorinnen und Autoren

Martina Bergmann, gehörlose Museumspädagogin, ist seit 1999 beim Museumsdienst Hamburg angestellt und konzipiert eigenverantwortlich die Museumsangebote in Deutscher Gebärdensprache für gebärdensprachkompetente Besucherinnen und Besucher. Daneben führt sie pädagogische Angebote und Museumsgespräche für Menschen aller Altersstufen durch. Zu ihren Aufgaben gehören auch die Beratung und der fachliche Austausch mit schwerhörigen und gehörlosen freien Mitarbeitern. Ausgewählte Publikationen: Barrierefreie Kommunikation – Wie sich Museen hörgeschädigten Menschen öffnen können, in: Patrick S. Föhl, Stefanie Erdrich, Hartmut John, Karin Maaß (Hg.): Das barrierefreie Museum. Theorie und Praxis einer besseren Zugänglichkeit. Ein Handbuch, Bielefeld: transcript, 2007, S. 55–72; Angebote des Hamburger Museumsdienstes für gehörlose Menschen: Ein Erfahrungsbericht, ebda., S. 363–368. Ruth von Bernuth, Dr. phil., Assistenzprofessorin für deutsche Literatur der Frühen Neuzeit an der University of North Carolina at Chapel, USA. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehört Disability History, Narren- und jiddische Literatur. Ausgewählte Publikationen: Wunder, Spott und Prophetie. Natürliche Narrheit in den Historien von Claus Narren. Tübingen: Niemeyer, 2009; wer jm guotz thett dem rödet er vbel. Natürliche Narren im Gebetbuch des Matthäus Schwarz, in: Cordula Nolte (Hg.): Homo debilis. Behinderte – Kranke – Versehrte in der Gesellschaft des Mittelalters, Korb: Didymos, 2009, S. 411– 430; Über Zwerge, rachitische Ungeheuer und blödsinnige Leute lacht man nicht. Zu Karl Friedrich Flögels Geschichte der Hofnarren von 1789, in: traverse. Zeitschrift für Geschichte – Revue d’histoire 13, 2006, H. 3, S. 61–72. Elsbeth Bösl, Dr. phil, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Technikgeschichte der TU München im Münchner Zentrum für Wissenschafts- und Technikgeschichte. Arbeitsschwerpunkte sind Disability History und Technikgeschichte. Ausgewählte Publikationen: Politiken der Normalisierung. Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld: transcript, 2009; Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung (hg. mit Anne Klein, Anne Waldschmidt), Bielefeld: transcript, 2010.

Autorinnen und Autoren

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Markus Dederich, Dr. phil., Professor für Allgemeine Heilpädagogik – Theorie der Heilpädagogik und Rehabilitation an der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte sind ethische und bioethische Fragen im Kontext von Behinderung, Disability Studies, theoretische Grundfragen der Heilpädagogik. Ausgewählte Publikationen: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies, Bielefeld: transcript, 2007; Behinderung und Anerkennung (hg. mit Wolfgang Jantzen), Stuttgart: Kohlhammer, 2009; Anerkennung und Gerechtigkeit in Heilpädagogik, Pflegewissenschaft und Medizin – Auf dem Weg zu einer nichtexklusiven Ethik (hg. mit Martin W. Schnell), Bielefeld: transcript, 2011. Birgit Drolshagen, Dr. paed., Sonderpädagogin, Akademische Oberrätin an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften, Lehrgebiet Rehabilitation und Pädagogik bei Blindheit und Sehbehinderung an der Technischen Universität Dortmund, Mitarbeiterin im Dortmunder Zentrum Behinderung und Studium, Leitung des Arbeitsraums und Hilfsmittelpools für behinderte Studierende an der TU Dortmund. Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind: Selbstbestimmt Leben als Prinzip der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik, Behinderung und Studium, behindertengerechte Hochschuldidaktik, Sehschädigung und neue Technologien. Ausgewählte Publikationen: Der Weg zu einem inklusiven World Wide Web. Wo stehen wir heute, was ist zu tun? Herausforderungen aus Sicht sehgeschädigter Lernender (mit Ralph Klein), in: blind/sehbehindert 130, 2010, H. 3, S. 177–185; Schulischer Vorbereitungsdienst und Lehramtsberuf mit Behinderung oder chronischer Krankheit (hg. mit Dortmunder Zentrum Behinderung und Studium, Andrea Hellbusch), Dortmund, 2010. Patrick S. Föhl, Dr. phil., Leiter der Forschungsgruppe „Regional Governance im Kulturbereich“ am Studiengang Kulturarbeit der FH Potsdam, freier Kulturberater im Netzwerk für Kulturberatung sowie Dozent an Hochschulen in Deutschland, in Polen, in der Schweiz und in den USA. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen strategisches Kulturmanagement, Kooperationen, Governance/Verfahren kooperativer Demokratie, Kulturmarketing, Ausstellungsmanagement, Kulturpublikumsforschung, Kulturpolitik und Kulturentwicklungsplanung. Ausgewählte Publikationen: Kooperationen und Fusionen von öffentlichen Theatern, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2011; Nachhaltige Entwicklung in Kulturmanagement und Kulturpolitik (hg. mit Patrick Glogner, Markus Lutz, Yvonne Pröbstle), Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2011; Das Kulturpublikum (hg. mit Patrick Glogner), Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 22011; Das barrierefreie Museum. Theorie und Praxis einer besseren Zugänglichkeit. Ein Handbuch (hg. mit Stefanie Erdrich, Hartmut John, Karin Maaß), Bielefeld: transcript, 2007.

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Autorinnen und Autoren

Vera Franke, Dipl.-Designerin, gründete 1997 gemeinsam mit Frank Steinert das Designbüro Franke | Steinert GbR, Berlin. Der Schwerpunkt des Büros liegt im Bereich Ausstellungsgestaltung, z.B. für das Jüdische Museum Berlin, das Deutsche Technikmuseum Berlin, das Museum für Kommunikation Berlin und das Rautenstrauch-Joest Museum in Köln. Lehrtätigkeit an der Universität der Künste Berlin, der Freien Universität Bozen und der Zürcher Hochschule der Künste im Department für Kulturanalysen und -vermittlung. Publikation: Künstlerische Transformationen. Modelle kollektiver Kunstproduktion und der Dialog zwischen den Künsten (hg. mit Dagmar Jäger), Berlin: Reimer, 2010. Petra Fuchs, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Die Breite des Normalen.“ Zum Umgang mit Kindern im Schwellenraum zwischen „gesund“ und „geisteskrank“ in Berlin und Brandenburg, 1918–1933, Institut für Geschichte der Medizin, Berlin. Ihre Arbeitsgebiete sind Geschichte von Behinderung, Disability Studies, Geschichte der Sonderpädagogik, NS-Geschichte, Patientengeschichte, Biographieforschung. Ausgewählte Publikationen: Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion „T4“ und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart (hg. mit Maike Rotzoll u.a.), Paderborn [u.a.]: Schöningh, 2010; „Sei doch dich selbst“ – Krankenakten als Quelle im Kontext der Disability History, in: Elsbeth Bösl, Anne Klein, Anne Waldschmidt (Hg.), Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, Bielefeld: transcript, 2010, S. 105–123. Uta George, Dr. rer. soc., arbeitete mehr als 15 Jahre als pädagogische Mitarbeiterin in der Gedenkstätte Hadamar. Seit 2010 ist sie freiberuflich als Trainerin für historisch-politische Bildung mit dem Schwerpunkt „inklusive Bildungsangebote“ tätig. Sie arbeitet außerdem in der kommunalen Integrationspolitik. Ausgewählte Publikationen: Kollektive Erinnerung bei Menschen mit geistiger Behinderung. Das kulturelle Gedächtnis des nationalsozialistischen Behinderten- und Krankenmordes in Hadamar. Eine erinnerungssoziologische Studie, Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 2008; Gedenkstättenarbeit in Hadamar: Lernen mit der Geschichte, in: Maike Rotzoll, Gerrit Hohendorf, Petra Fuchs, Paul Richter, Christoph Mundt, Wolfgang U. Eckart (Hg.): Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion „T4“ und ihre Opfer. Geschichte und Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn [u.a.]: Schöningh, 2010, S. 384–390. Karen Gröning, Dipl.-Bibliothekarin und Lektorin für Kinder- und Jugendmedien mit dem Schwerpunkt Programmarbeit in der Kinder- und Jugendbibliothek „Hallescher Komet“ der Zentral- und Landesbibliothek Berlin. Sie arbeitete für bibliothekarische Fachzeitschriften und war Jurymitglied für den Deutschen Kinderhörspielpreis und den Deutschen

Autorinnen und Autoren

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Jugendliteraturpreis. Sie ist als Rezensentin für Hörmedien beim Bibliotheksservice der Einkaufszentrale für Bibliotheken (ekz) tätig und seit 1999 Mitautorin von Töne für Kinder und Jugendliche: Kassetten und CDs im kommentierten Überblick, München: KoPäd-Verlag, 2006–2008, seit 2010 Online-Ausgabe . Jan Eric Hellbusch, Dipl.-Kfm., bis 1998 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Unternehmensrechnung und Controlling an der Universität Magdeburg. Er ist freiberuflicher Berater für barrierefreies Webdesign. Zu seinen Dienstleistungen zählen die Prüfung und Bewertung der Barrierefreiheit von Webanwendungen, die Qualitätssicherung in Webprojekten und die Durchführung von Workshops. Er ist an zahlreichen Webprojekten beteiligt, z.B. beim Landtag NRW, bei ARD tagesschau.de und bei PRO RETINA Deutschland e.V. Ausgewählte Publikationen: Barrierefreies Webdesign. Alle WAI-Richtlinien! (mit Thomas Mayer), Osnabrück: KnowWare, 52007; Barrierefreiheit verstehen und umsetzen. Webstandards für ein zugängliches und nutzbares Internet (mit Kerstin Probiesch), Heidelberg: dpunkt, 2011. Jan Hoffmann, Jurist, Referent im Arbeitsstab des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, zuständig für den Bereich Barrierefreiheit (Bauen und Wohnen, Kommunikation, Tourismus, Mobilität, Internet). Petra Lutz, Ausstellungskuratorin am Deutschen Hygiene-Museum Dresden. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Theorie, Praxis und Geschichte des Ausstellens, Geschichte des Nationalsozialismus und die Gestaltung von NS-Gedenkstätten. Ausgewählte Publikationen: Der [im-]perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung (hg. mit Thomas Macho, Gisela Staupe, Heike Zirden). Köln [u.a.]: Böhlau, 2003; Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort (hg. mit Anke te Heesen). Köln [u.a.]: Böhlau, 2005; Arno Schmidt? – Allerdings! Katalog zur Ausstellung der Arno-Schmidt-Stiftung im Schiller-Nationalmuseum (mit Susanne Fischer, Jörg W. Gronius, Bernd Rauschenbach, Jan Philipp Reemtsma), Marbach: Deutsche Schillergesellschaft, 32006; Kraftwerk Religion. Über Gott und die Menschen (hg. mit Klaus Vogel), Göttingen: Wallstein, 2010. Folker Metzger, Bildungsreferent der Klassik Stiftung Weimar, Sprecher der Arbeitsgruppe Barrierefreie Museen im Bundesverband Museumspädagogik e.V.; Museumspädagoge am Badischen Landesmuseum Karlsruhe (1996–1999), Leitung der Abteilung Museumspädagogik des Deutschen Hygiene-Museums (1999–2004), Leitung des Fachgebietes Pädagogik an der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (2004–2007). Ausgewählte Publikationen: Vom Geist der Dinge. Das Museum als Forum für Ethik und

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Autorinnen und Autoren

Religion (hg. mit Udo Liebelt), Bielefeld: transcript, 2005. Barrierefreiheit und Besucherfreundlichkeit. Neue Anforderungen an die Koordination zwischen Kuratoren, Gestaltern und Pädagogen, in: Heike Kirchhoff, Martin Schmidt (Hg.): Das magische Dreieck, Bielefeld: transcript, 2007, S. 129–134. Siegfried Saerberg, Dr. phil., ist Soziologe mit den Arbeitsgebieten Soziologie der Sinne und Disability Studies. Lehrbeauftragter an der Technischen Universität Dortmund, der Universität Hamburg, der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Universität zu Köln, Akustik-Künstler, Kurator und Kulturmanager; künstlerischer Leiter des Projektes „Ohrenblicke – Radiokunst von Blinden und Sehenden“ (2010–2011). Ausgewählte Publikationen: Blinde auf Reisen, Köln [u.a.]: Böhlau, 1991; Geradeaus ist einfach immer geradeaus. Eine lebensweltliche Ethnographie blinder Raumorientierung, Konstanz: UVK, 2006; Blinde Flecken – eine akustische Ausstellung. CD zur Ausstellung, Köln: Blinde und Kunst e.V., 2010; Die schwarzen Wühler. Sinnessoziologische Erkundungen eines zwielichtigen Kampfplatzes, in: Reiner Keller, Michael Meuser (Hg.): Körperwissen, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2010, S. 353–377. Christine-Dorothea Sauer, stellvertretende Generaldirektorin der Zentral- und Landesbibliothek Berlin, zugleich Leiterin der Betriebsabteilung und Hausdirektorin der Amerika-Gedenkbibliothek bis 2009. Schwerpunkt im Bereich der Entwicklung von Informationsdienstleistungen. Seit 2009 ehrenamtlich tätig für die ZLB im Projektteam Humboldt-Forum/Berliner Schloss. Ausgewählte Publikationen: Vom Teil der Informationskette zum aktiven Router auf der Datenautobahn – Information als Dienstleistung (mit Paul S. Ulrich), in: Margit Rützel-Banz (Hg.): Grenzenlos in die Zukunft. 89. Deutscher Bibliothekartag in Freiburg im Breisgau 1999, Frankfurt/M.: Klostermann, S. 317–344; Zuverlässige Brücke zu den Informationen im Netz. Von der Allgemeinen Auskunft der AmerikaGedenkbibliothek zum Referat Informationsdienste der Zentral- und Landesbibliothek Berlin (mit Paul S. Ulrich), in: BuB Forum Bibliothek und Information 56, 2004, H. 10/11, S. 673–677. Anja Tervooren, Dr. phil., Juniorprofessorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Bildung und Kultur an der Universität Hamburg. Ihre Arbeitsgebiete sind Konstruktionen von Körper und Differenz, Sozialisations- und Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen und Methoden qualitativer Forschung. Ausgewählte Publikationen: Phantasmen der (Un-)Verletzlichkeit. Körper und Behinderung, in: Petra Lutz, Thomas Macho, Gisela Staupe, Heike Zirden (Hg.): Der [Im-]perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung, Köln: Böhlau, 2003, S. 280–293; Ganz normale Kinder. Heterogenität und Standardisierung kindlicher Entwicklung (hg. mit Helga Kelle), Weinheim [u.a.]: Juventa, 2008.

Autorinnen und Autoren

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Jana Viehweger, Dipl.-Bibliothekarin in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin im Bereich e-Learning und Fachlektorate. Ausgewählte Publikationen: Untersuchung und Evaluation von Bibliothekswebangeboten unter dem besonderen Aspekt der Barrierefreiheit anhand ausgewählter Beispiele, Berlin: Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, 2009, auch als Online-Version: ; Ohne Hindernisse ins Netz, in: BuB Forum Bibliothek und Information 63, 2011, H. 1, S. 48–50. Helmut Vogel, freiberuflicher Dozent und Historiker, gründete 2008 das Unternehmen Deaf History Now – Bildungs- und Geschichtsbüro Helmut Vogel. Er bietet Ausarbeitungen verschiedener Themen, vor allem zu Deaf History und zur deutschen Geschichte an, darunter auch Führungen in diversen Museen. Seit 2001 ist er 1. Vorsitzender der Bundesvereinigung zur Kultur und Geschichte Gehörloser e.V. Ausgewählte Publikationen: Carl Wilke (1800–1876) – ein bekannter gehörloser Gehörlosenlehrer und Künstler im 19. Jahrhundert, in: Gerlinde Renzelberg (Hg.): Zeichen im Stillen. Über die Vielfalt von Zugängen zur Hörgeschädigtenpädagogik (= Internationale Arbeiten zur Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser, Bd. 47), Seedorf: Signum, 2006, S. 159– 167; Taubsein: Vom Aufbruch einer Bewegung, in: MENSCHEN. das magazin, 2010, H. 2, S. 52–55. Anne Waldschmidt, Dr. rer. pol., Univ.-Professorin für Soziologie und Politik der Rehabilitation, Disability Studies an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln, Leitung der Internationalen Forschungsstelle Disability Studies (iDiS). Forschungsschwerpunkte sind Wissenssoziologie, Körpersoziologie, Politische Soziologie, Bioethik/Biopolitik, Normalität und Abweichung, Europäische Behindertenpolitik, Disability Studies, Diskurstheorie und -analyse. Aktuelle Veröffentlichungen: Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung: Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld (hg. mit Werner Schneider), Bielefeld: transcript, 2007; Disability History: Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung (hg. mit Elsbeth Bösl, Anne Klein), Bielefeld: transcript, 2010. Ursula Wallbrecher, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Landesmuseum Mainz, bis 2010 für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, seit 2011 für die zentrale Steuerung des Leihverkehrs der Institutionen der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz zuständig. Vorsitzende des Behindertenbeirats der Stadt Mainz, stellvertretende Vorsitzende von Pro Vita Mobilis e.V.

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Autorinnen und Autoren

Jürgen Weber, Dr. phil., stellvertretender Direktor und Leiter der Abteilung Sondersammlungen und Bestandserhaltung der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Klassik Stiftung Weimar. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Betriebsorganisation, Sammlungs- und Provenienzforschung. Ausgewählte Publikationen: Sondersammlungen im 21. Jahrhundert: Organisation, Dienstleistungen, Ressourcen (hg. mit Graham Jefcoate), Wiesbaden: Harrassowitz, 2008; Barrierefreiheit, in: Petra Hauke, Klaus Ulrich Werner (Hg.): Bibliotheken bauen und ausstatten, Bad Honnef: Bock + Herchen, 2009, S. 310–321. Knut Weinmeister, gründete gemeinsam mit Ralph Raule die Firma Gebärdenwerk Hamburg. Zweck der Firma ist die barrierefreie Gestaltung von Online- und Offline-Medien für Gehörlose. Neben der Produktion von Gebärdensprach-Filmen für Behörden, Firmen und Institutionen erstellt Gebärdenwerk auch Contents in Gebärdensprache für Museen und Ausstellungen, wie z. B. das Landesmuseum Mainz, das Museum Ostwall in Dortmund und das Technische Museum in Wien. Ausgewählte Publikationen: Bilingual acquisition of German Sign Language and written German: Developmental asynchronies and language contact (mit Carolina Plaza-Pust), in: Ronice Müller de Quadros (Ed.): Sign Languages. Spinning and unraveling the past, present and future, Editora Arara Azul: Petrópolis/RJ. Brazil, 2008, S. 498–530; Das ist DaZiel: Deutsch als Zielsprache im bilingualen Sprachunterricht mit erwachsenen Gehörlosen (mit Renate Fischer, Saskia Bohl), in: Das Zeichen 53, 2000, S. 456–468. Felix Welti, Dr. jur., Professor für Sozialrecht der Rehabilitation und Recht der behinderten Menschen an der Universität Kassel, Fachbereich Humanwissenschaften, Institut für Sozialwesen, Abteilung Sozialpolitik, Recht und Soziologie. Ausgewählte Publikationen: Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat. Freiheit, Gleichheit und Teilhabe behinderter Menschen, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005; Handkommentar zum Sozialgesetzbuch IX. Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (hg. mit Klaus Lachwitz, Walter Schellhorn), Köln: Luchterhand, 32010; Behindertengleichstellungsrecht. Textsammlung mit Einführungen (mit Horst Frehe), Baden-Baden: Nomos, 2010. Michael Wunder, Dr. phil., Dipl.-Psychologe und psychologischer Psychotherapeut, Leiter des Beratungszentrums der Evangelischen Stiftung Alsterdorf in Hamburg, einer Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung, und Leiter eines Entwicklungshilfe-Projektes der Behindertenhilfe und Psychiatrie in Rumänien. Mitglied der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ in der 14. und 15. Legislaturperiode im Deutschen Bundestag und Mitglied des Deutschen Ethikrates. Ausgewählte Publikationen: Bio-Ethik und die Zukunft der Medizin (hg. mit Therese Neuer-Miebach), Bonn: Psychiatrie-Verlag, 1998; Des Lebens Wert. Zur Diskussion über Euthanasie und

Autorinnen und Autoren

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Menschenwürde (hg. mit Ute Daub), Freiburg: Lambertus, 1994; Euthanasie in den letzten Kriegsjahren. Die Jahre 1944 und 1945 in der Heil- und Pflegeanstalt Hamburg Langenhorn, Husum: Matthiesen, 1992; Demenz und Selbstbestimmung, in: Ethik in der Medizin 20, 2008, H. 1, S. 17–25; Inklusion – nur ein neues Wort oder ein anderes Konzept?, in: Holger Wittig-Koppe, Fritz Bremer, Hartwig Hansen (Hg.): Teilhabe in Zeiten verschärfter Ausgrenzung? Kritische Beiträge zur Inklusionsdebatte, Neumünster: Paranus, 2010, S. 22–37.

Schrif­ten­deS­­ deut­Schen­hy­gie­neMu­Se­uMS­dreS­den Im AuftrAg des deutschen hygIene-museums dresden hg. von gIselA stAupe.

Eine Auswahl.

Band 7: Band 2: Petra Lutz, Thomas Macho, Gislea Staupe, Heike Zirden (Hg.) der (Im-)perfek te mensch metAmorphosen von normAlItät und AbweIchung

Klaus-Dietmar Henke (Hg.)

tödlIche medIZIn Im nAtIonAlsoZIAlIsmus von der rAssenhygIene Zum mAssenmord

2008. 342 S. Br. ISBN 978-3-412-23206-1

2003. 483 S. 38 farb. u. 67 s/w-Abb. Br. mit SU. ISBN 978-3-412-08403-5

Band 3: Hartmut Böhme, FranzTheo Gott wald, Christian Holtorf, Thomas Macho, Ludger Schwar te, Christoph Wulff (Hg.) tIere eIne Andere AnthropologIe

2004. 329 S. 37 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-412-16003-6

Band 5:

Hans Joas (Hg.)

dIe Zehn gebote eIn wIdersprüchlIches erbe?

Bearbeitet von Stefan Daberkow. 2006. 188 S. Br. ISBN 978-3-412-36405-2

Band 6: Christian Holtorf, Claus Pias (Hg.)

TR808

escApe!

Band 8: Karl-Siegbert Rehberg, Gisela Staupe, Ralph Lindner (Hg.) kultur Als chAnce konsequenZen des demogrAfIschen wAndels

Unter Mitarbeit von Manuel Frey und Christian Holtorf 2011. 189 S. Mit 22 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-412-20681-9

Band 9: Anja Tervooren, Jürgen Weber (Hg.) wege Zur kultur

computerspIele Als kulturtechnIk

bArrIeren und bArrIerefreIheIt In kultur- und bIldungseInrIchtungen

2007. 295 S. mit 24 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-412-01706-4

2012. 296 S. 26 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-412-20784-7

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