Altes Testament, jüdische Kultur und deutsches Judentum: Aufsätze zur jüdisch-christlich-islamischen Kultur Europas 9783959483827, 3959483821


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Titelei
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Das Wertesystem im Alten Testament und Talmud – einneuer Ansatz zur Nachhaltigkeit
Die jüdisch-islamische Kultur von Al-Andalus im Mittelalter
Gesundheit, Hygiene und Krankheit bei Maimonides
Das Medizinsystem des Moses Maimonides
Maimonides – Wege zu Gott, zum Nächsten und zu sich selbst
Judentum, Christentum und Kulturtransfer
Jüdisch-jiddische Kultur im neuzeitlichen Franken
Deutsche Juden zwischen jüdischer Identität und deutscher Anpassung
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Altes Testament, jüdische Kultur und deutsches Judentum: Aufsätze zur jüdisch-christlich-islamischen Kultur Europas
 9783959483827, 3959483821

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Wilhelm Kaltenstadler

Der Verfasser dieser acht Abhandlungen beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Kultur des Judentums seit dem Mittelalter. Er gehört zu denen, welche bei den drei abrahamitischen Religionen nicht so sehr die Unterschiede, sondern die Gemeinsamkeiten betonen. Drei seiner fünf seit 2011 im Verlag Traugott Bautz erschienenen Bücher sind dem Judentum gewidmet. Die Bände 12 und 14 der „Jerusalemer Texte“ beschäftigen sich intensiv mit dem Gesundheitskonzept des Moses Maimonides (1138-1204). Zahlreiche Abhandlungen zur jüdischen Kultur finden sich auch in den Bänden I, II und III der „Beiträge zur Kulturgeschichte des Judentums und der Geschichte der Medizin“, herausgegeben von der Nicolas-Benzin-Stiftung in Frankfurt, und speziell zum Mediziner Maimonides in den Weihnachtsausgaben der Deutschen Medizinischen Wochenschrift der Jahre 2010, 2011 und 2013. Die Spannweite der Beiträge in diesem Band ist beträchtlich. Sie reicht vom Wertesystem im Alten Testament und Talmud bis zur gegenwartsnahen hochaktuellen Abhandlung „Deutsche Juden zwischen jüdischer Identität und deutscher Anpassung“. Die Symbiose der drei abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam ist dargestellt an dem in Europa bisher vernachlässigten Thema „Die jüdisch-islamische Kultur von Al-Andalus im Mittelalter“. Drei Aufsätze sind Moses Maimonides gewidmet, dem Arzt, Theologen und Philosophen. Es handelt sich dabei vor allem um Vorträge bei verschiedenen Bildungs- und Kulturträgern, die bisher nicht bzw. nicht in der vorliegenden Form publiziert wurden. Der Autor ist der Auffassung, dass bis heute der Beitrag der Juden zum Kulturtransfer nach Europa arg vernachlässigt worden ist. Viele Errungenschaften wie z.B. der Kaiserschnitt oder die Anatomie waren entweder gar nicht bekannt, wurden vergessen, verdrängt, falsch zugeordnet oder z.B. den Muslimen statt den Sephardim zugeschrieben. Wenig Beachtung hat die Tatsache gefunden, dass die seit dem Spät-Mittelalter aus den Großstädten wie z.B. Regensburg, Augsburg, Köln vertriebenen Juden in kleinen Städten und Ortschaften z.B. in Schwaben und Franken aufgenommen wurden und dort durchaus geschätzt waren. Am Modell von Franken verweist der Autor auf die „Jüdisch-jiddische Kultur im neuzeitlichen Franken“. Die zahlreichen Abhandlungen des Autors wie auch seine Beiträge in dem vorliegenden Sammelwerk machen deutlich, dass sowohl beim Judentum als auch bei der Beurteilung des Islams Differenzierungen unverzichtbar sind. Kulturträger, Medien- und Bildungspioniere sind die Juden auf jeden Fall. Sie haben also mehr geschaffen, als man ihnen bisher zugebilligt hat.

ISBN 978-3-95948-382-7

Wilhelm Kaltenstadler - Altes Testament, jüdische Kultur und deutsches Judentum

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Altes Testament, jüdische Kultur und deutsches Judentum Aufsätze zur jüdisch-christlich-islamischen Kultur Europas Verlag Traugott Bautz GmbH

Altes Testament, jüdische Kultur und deutsches Judentum

Jerusalemer Texte

Schriften aus der Arbeit der Jerusalem-Akademie

herausgegeben von Hans-Christoph Goßmann

Band 21

Verlag Traugott Bautz

Wilhelm Kaltenstadler

Altes Testament, jüdische Kultur und deutsches Judentum Aufsätze zur jüdisch-christlich-islamischen Kultur Europas

Verlag Traugott Bautz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://www.dnb.de› abrufbar.

© Verlag Traugott Bautz GmbH 98734 Nordhausen 2018 ISBN 978-3-95948-382-7

Inhaltsverzeichnis Vorwort

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Das Wertesystem im Alten Testament und Talmud – ein neuer Ansatz zur Nachhaltigkeit

9

Die jüdisch-islamische Kultur von Al-Andalus im Mittelalter

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Gesundheit, Hygiene und Krankheit bei Maimonides

65

Das Medizinsystem des Moses Maimonides

117

Maimonides – Wege zu Gott, zum Nächsten und zu sich selbst

131

Judentum, Christentum und Kulturtransfer

149

Jüdisch-jiddische Kultur im neuzeitlichen Franken

193

Deutsche Juden zwischen jüdischer Identität und deutscher Anpassung

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Vorwort Der Autor liefert mit diesem Werk keine Monographie. Dieses baut allerdings auf zahlreichen Monographien auf, welche dieser im Laufe der letzten Dekade vor allem im Bautz-Verlag publizierte. In acht Abhandlungen bringt der Autor wichtige, in seinen bereits publizierten Büchern dargestellte aktuelle Perspektiven vor allem zu verschiedenen Bereichen des Judentums. Diese Aufsätze beruhen auf Vorträgen, die er in der Synagoge von Ermreuth, bei der Nicolas-Benzin-Stiftung in Frankfurt, in der Katholischen Akademie Hamburg und im Großen Sitzungssaal des Bayerischen Staatsministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in München gehalten hat. Die Bandbreite der Themen reicht von dem jüdisch-arabischen Universalwissenschaftler Moses Maimonides bis zum jüdisch-christlich-islamischen Kulturtransfer nach Europa. In Deutschland, vor allem in Franken, ist die jüdische ganz massiv mit der jiddischen Kultur verbunden – auch in sprachlicher Hinsicht. Die letzte Abhandlung „Deutsche Juden zwischen jüdischer Identität und deutscher Anpassung“ veranschaulicht die jüdische Geschichte anhand von drei für ihr Jahrhundert typischen Persönlichkeiten: Moses Mendelsohn für die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, Heinrich Heine für die jüdische Emanzipation und die Restauration des 19. Jahrhunderts und Walther Rathenau für den immer mehr zunehmenden Antisemitismus in Deutschland und Europa im 20. Jahrhundert. Auch wenn das Hauptgewicht auf dem Judentum liegt, so kommt doch in mehreren Abhandlungen die heutzutage immer wieder geleugnete Wirkung der islamisch-arabischen Kultur auf Europa zur Sprache, vor allem auf Iberien, Süditalien und den Balkan. In einigen Aufsätzen wird die islamische Wurzel der europäischen Kultur schon im Titel deutlich. Kundigen Lesern ist bekannt, dass Moses Maimonides dem Islam in einem hohen Maße verbunden war und nach wie vor von führenden Muslimen als einer der Ihrigen in Anspruch genommen wird.

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In einem Land, in welchem der Antisemitismus noch mehr als sonst in Europa wütete, ist die Synthese der drei abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam unverzichtbar. Dann wächst auch die Erkenntnis, dass uns mehr verbindet, als uns trennt. In diesem Sinne kann dieses Buch nicht nur der Aus- und Weiterbildung von lutherischen Pastoren dienen, sondern auch im gymnasialen und universitären Geschichtsunterreicht mit Nutzen und Gewinn Verwendung finden.

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Das Wertesystem im Alten Testament und Talmud – ein neuer Ansatz zur Nachhaltigkeit Das jüdische System der Werte Das jüdisch-hebräische Wertesystem baut auf dem Schöpfungsverständnis der Thora auf. Wie in keiner anderen Kultur „wurde die Natur durch das Schöpfungsverständnis des Alten Testamentes für Juden- und Christentum entmythologisiert.“1 An die Stelle der Magie trat immer mehr die Rationalität. Gott kann nicht gegen die Vernunft handeln, meinte Joseph Ratzinger in seiner Regensburger Vorlesung von 2006 anlässlich seines Pastoralbesuches in Deutschland in Anlehnung an die Worte des byzantinischen Kaisers Manuel II. Palaiologos im christlich-islamischen Religionsgespräch von 1391 in Ankara. Da die von Gott gemachte Schöpfung nachhaltig ist, hebt sich die fundamentale ökologische Ordnung vom ursprünglichen Chaos ab. Hüttermann charakterisiert das ökologische Denken der Juden im alten Palästina als einzigartig. „Nur mit diesem ökologischen Verständnis sei es den Juden überhaupt möglich gewesen, auf sehr begrenztem Raum bei hoher Bevölkerungsdichte über Jahrhunderte hinweg zu überleben.“2 Das wäre ohne nachhaltiges Wirtschaften nicht machbar gewesen. Der Mensch als Ebenbild Gottes Der nachhaltige im Namen Gottes wirkende Mensch hat als Ebenbild Gottes, welches bereits im Alten Testament klar in Erscheinung tritt, eine nicht immer konfliktfreie Doppelstellung in Gottes Schöpfung inne. Er ist auf der einen Seite bei oberflächlicher und allzu enger naturwissenschaftlicher Betrachtung ein ´besseres´ Säugetier, auf der anderen 1

Max Loy: „… damit er ihn bebaue und bewahre.“ Über das Welt- und Menschenbild der Bibel und das Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung, in: Forstliche Forschungsberichte, Forum Forstgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. Egon Gundermann, hrsg. von J. Hamberger, Nr. 206, Weihenstephan 2009, S. 163165, hier S. 163. 2 Max Loy, ebd., S. 164.

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Seite aber ist er Partner Gottes und für die göttliche Schöpfung verantwortlich und muss am Jüngsten Tag sich für seine Taten, die leider oft alles andere als nachhaltig waren, verantworten. „Dem Menschen ist (somit) der grundlegende Auftrag zur Weltgestaltung – der sogenannte Herrschaftsauftrag (´dominium terrae´3) – überantwortet.“4 Nachhaltigkeit und Ressourcen Bisher wenig bekannte Ansätze für die Existenz der Nachhaltigkeitsidee finden sich im Deuteronomium (5. Buch Moses) 20,19 und 22,6-7. Jahwe verlangt von seinem Volk, was bei einem anderen Volk gar nicht denkbar gewesen wäre: Die Juden, die eine Stadt belagern, werden aufgefordert, „nicht die zu ihr gehörenden Bäume“ (Deut. 20,19) zu vernichten. Das Deuteron. begründet diese auf dem Prinzip der Nachhaltigkeit beruhende Forderung damit: Von diesen [Bäumen] „sollst du ja essen, darum haue sie nicht um“. Der Belagerer darf aber Bäume, von denen man wisse, dass „ sie keine essbaren Früchte tragen“, „vernichten, fällen und damit Belagerungswerke gegen die Stadt bauen, die mit dir im Kampf liegt, bis sie sich ergibt.“ (Deut. 20,20). Es ist ein ganz wesentlicher Aspekt der Nachhaltigkeit, dass man weitgehend nicht die Ressourcen zerstört, die man später noch dringend braucht. Es gibt allerdings eine Stelle in 2 Könige 3,25, in welcher dieses Nachhaltigkeitsgebot des Deuteronomiums im Krieg der Israeliten gegen die Moabiter total missachtet wird. Ich zitiere: Die Juden, welche die fliehenden Moabiter verfolgten, „zerstörten die Städte und warfen auf alles gute Ackerland Steine, bis es verschüttet war. Man verstopfte alle Wasserquellen und hieb alle nützlichen [evtl. auch: wertvollen] Bäume um, bis nur noch ihre Kampfscharen in KirChareset übrig waren.“ Es bleiben also die Bäume übrig, welche weder wertvoll noch nützlich waren. Leider wird an den hier zitierten Stellen nie angegeben, um welche Arten von Bäumen es sich handelt. Verstop3 4

Man beachte dazu die Fußnote 2 bei Max Loy, ebd., S. 163. Deutsche Bischofskonferenz : Handeln für die Zukunft der Schöpfung 1998.

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fung der Wasserquellen ist eine Methode, welche heute wieder von den Anhängern eines islamischen Staates in Syrien praktiziert wird. Von dieser radikalen Form der Zerstörung (Wasser, Bäume, Siedlungen) im Moabiter-Krieg weicht das Deuteronomium ab. Es geht sogar noch ein Stück weiter, als oben geschildert: „Begegnet dir zufällig auf dem Wege, auf irgendeinem Baum oder am Boden ein Vogelnest mit Jungen oder mit Eiern, und sitzt die Vogelmutter auf den Jungen oder Eiern, dann darfst du die Mutter samt den Jungen nicht ausnehmen. Lass erst die Mutter fortfliegen, dann nimm die Jungen aus, damit es dir wohlergehe und du lange lebest.“ (Deut. 22,6f). Es geht also auch hier um die Schonung der Substanz und der Ressourcen. Ressourcen bedürfen der Nachhaltigkeit. Prinzipien und Fallbeispiele zur Nachhaltigkeit Dem Prinzip der Nachhaltigkeit entspricht es auch, sog. Zwitterverbindungen zu erkennen und somit eine Fehlallokation von Inputfaktoren zu vermeiden:  In einem Weinberg solle man „nicht zweierlei Dinge säen, sonst verfällt das Ganze“, was man ansäe und was der Weinberg trage, „dem Heiligtum“ (Deut. 22,9).  Man soll nicht mit Rind und Esel gemeinsam pflügen, beide weisen nicht die gleiche Zugkraft auf. Eine weise Erkenntnis!  Ein Gewebe, das aus Wolle und Leinen gewirkt ist, passt nicht zusammen (Deut. 22,11). Prinzip der Unverträglichkeit! Man hat also im alten Israel schon sehr früh erkannt, dass bestimmte Dinge nicht sinnvoll zusammenpassen, solche Erkenntnisse sind eine wichtige Basis für Nachhaltigkeit. Sklaverei und Unfreiheit – nicht bis zum Exzess Auch Sklaverei und Leibeigenschaft werden bei den Juden nicht bis zum Exzess durchgehalten: Der Jude, der einen entlaufenen Sklaven aufnimmt, muss nicht – wie so oft in der deutschen Leibeigenschaft prakti11

ziert – seinem Herrn wieder ausgeliefert werden, „wenn er sich von seinem Herrn zu dir weg flüchtet“. Der entlaufende Sklave „wohne bei dir in deiner Mitte an dem Ort, den er sich in einer deiner Ortschaften nach Belieben aussucht; du darfst ihn nicht belästigen.“ (Deut. 23,16f). Anders als die Sklaverei bei Griechen und Römern war die jüdischaramäische Schuldknechtschaft nur von begrenzter Dauer und die persönliche Unfreiheit vererbte sich auf keinen Fall auf die Nachkommen. Unter König Josua wurde die lebenslange Schuldsklaverei „nicht nur auf sieben Jahre begrenzt“, zumindest für hebräische Sklaven, sondern auch noch mit einer Abfindung des Freigelassenen belegt: „Verkauft sich dir ein Bruder, ein Hebräer oder eine Hebräerin, so soll er dir sechs Jahre lang als Sklave dienen, im siebten Jahre aber sollst du ihn freilassen aus deinem Dienst. Entlässt du ihn aus deinem Dienst, so schicke ihn nicht leer fort! Statte ihn gut aus mit Gaben aus deinem Kleinvieh, von deiner Tenne und deiner Kelter; womit dich der Herr, dein Gott, gesegnet hat, davon sollst du ihm geben.“5 Wer aber dieses Angebot der Freilassung nicht annimmt, der bleibt allerdings Sklave für immer. Schulden und Schuldner – Lösungen dafür Eng verbunden mit der Befreiung aus der zeitlich begrenzten Schuldknechtschaft ist der Schuldenerlass. Im 15. Kapitel des Deuteronomiums, des 5. Buches Mose, gibt es unter der Herrschaft des Königs Josua im südlichen Königreich Juda alle sieben Jahre sogar ein Erlassjahr für private Schulden: „Am Ende jedes siebten Jahres sollst du einen Erlass gewähren. Folgendes ist die Regelung des Erlasses: Jeder Gläubiger soll sein Darlehen, das er seinem Nächsten gewährte, erlassen. Er soll seinen Nächsten und seinen Bruder nicht drängen; denn ausgerufen war ein Erlass zu Ehren des Herrn. Einen Ausländer magst du drängen, doch von dem, was du 5

AT Deuteronomium 15, 12-14. Abweichende Übersetzung bei Peter F.W. Heller: Die Spur des Allerheiligstens. Auf der Suche nach der Bundeslade, Leipzig 2009, S. 119.

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von einem Stammesbruder zu fordern hast, sollst du die Hand lassen.“ Wer sich an diese Worte Gottes hält, erhält dafür reichen Lohn. Er wird „vielen Völkern ausleihen können, selber aber nichts zu entleihen brauchen“ und er wird „über viele Völker herrschen“, aber von keinem anderen Volke beherrscht werden. Freiheit und Zinsfrage Freiheit, die wirtschaftlich-materiell fundiert ist, sowohl persönliche Freiheit des Einzelnen als auch die politische Freiheit nach innen und außen, ist also schon im antiken Israel ein hohes Gut, in der Ethik des jüdischen Philosophen Spinoza ist sie der Hauptzweck des Staates. Nachhaltigkeit ist also leichter zu realisieren, wenn die dafür Verantwortlichen sich – wenigstens einigermaßen – an Menschenrechte halten. Es fördert die Kohäsion der jüdischen Gemeinschaft und die Homogenität der Gesellschaft, wenn man vom Stammesbruder keinen Zins nehmen darf, „weder Zins für Geld noch Zins für Speisen, überhaupt keinen Zins für etwas, was man verzinsen kann.“ (Deut. 23,20). Allerdings darf der Jude – in begrenztem Ausmaß - vom Ausländer Zins nehmen. Das Zinsverbot der Kirche im Mittelalter beruft sich auf diese Stelle im AT, ist allerdings so gut wie nie eingehalten worden, zumindest nicht im Spätmittelalter. Für den Markt Pöttmes konnte ich Zinsgewährung durch religiöse Institutionen („Bruderschaften“) bereits ab dem 15. Jahrhundert nachweisen! Es handelte sich aber in der Regel fast immer um langfristige Darlehen.6 Eine besondere jüdische Spezialität, die wie das Zinsverbot bei keinem anderen antiken Volk vorkommt, ist die Befreiung von Neuvermählten vom Kriegsdienst.7 Ein Neuvermählter ist ein ganzes Jahr lang vom 6

Wilhelm Kaltenstadler: Kreditwesen, in: Pöttmes. Herrschaft, Markt und Gemeinde (Heimatbuch), Vol. I, Pöttmes 2007, S. 389-402, hier S. 389. 7 Vgl. zu den Traditionen und Bräuchen der aschkenasischen Juden Steven M. Lowenstein: Jüdisches Leben – Jüdischer Brauch. Internationale jüdische Volkstraditionen (aus dem Amerikanischen von Alice Jakubeit), Verlag Artemis & Winkler, Düsseldorf und Zürich 2002.

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Kriegsdienst freigestellt. Begründung: „Er soll sich an seiner Frau, die er genommen hat, erfreuen.“ (Deut. 24,5). Was für ein Verständnis für Liebe, Ehe und Familie! Alle drei sind zwingende Voraussetzungen für die Wirksamkeit der Nachhaltigkeit! Da hapert es bei uns! Ein Viertel unserer Kinder unter 19 sind z.B. seelisch krank bzw. zumindest psychisch angeschlagen.8 Wie in der Dreifelderwirtschaft, die bei uns bis ins 18. Jahrhundert hinein praktiziert wurde, gönnte man den ausgelaugten Böden in Israel alle 7 Jahre ein Sabbatjahr, „in dem nicht gesät und geerntet werden durfte. Dies galt sowohl für die Feldfrüchte als auch für die Früchte der Bäume.“9 Sabbat, Freizeit und Wertesystem Es gibt, wie inzwischen immer deutlicher wird, vor allem in der Landund Forstwirtschaft keine Nachhaltigkeit ohne Schonung der Ressourcen. Inzwischen setzt sich auch die Erkenntnis durch, dass die Agrarchemie nicht alles kann. Selbst die Profitmaximierer erkennen allmählich, dass man nicht dauernd –auch in der Volkswirtschaft – auf Kosten der Substanz wirtschaften und leben kann. Die Grenzen des Wachstums, welche der „Club of Rome“ vor Jahren feststellte, werden nicht mehr belächelt, sondern finden immer mehr Befürworter. Die amtlichen Politiker vermeiden es aber tunlichst, den „Club of Rome“ mit Namen zu nennen. Die Wichtigkeit der Nachhaltigkeit lässt sich in der jüdisch-antiken Gesellschaft auch aus der Wertestruktur ablesen. Im Talmud finden sich die universalen Regeln des menschlichen Zusammenlebens, das auf Dauer nicht ohne Nachhaltigkeit auskommt. Durch Thora, Talmud und Kommentare zu Thora und Talmud entsteht erstmals – trotz der immer wieder notwendig werdenden Kriege- eine pazifistische Weltordnung, wel8

Donaukurier vom 13.01.2012. Olaf Schmidt – Joachim Hamberger: Erst Ressourcenschonung, dann Übernutzung. In der Heiligen Schrift wird auch die ökologische Geschichte erzählt, Wald Wissenschaft Praxis, Nr. 39, 2003, S. 48. 9

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che den permanenten Kriegszustand (im Sinne des englischen Philosophen Thomas Hobbes) beendet. Wie kein anderer Denker hat der Prophet Jesaia diese globale Friedensidee im Alten Testament immer wieder angesprochen. Nicht zuletzt sind die im Ausland (vor allem Ägypten und Mesopotamien) lebenden Juden bereits in der Antike von der Idee der Nachhaltigkeit eines Friedens nach innen und außen geprägt. Globalität und Gottesebenbildlichkeit Wie kein anderes Volk der Antike denken und agieren die Juden zunehmend global. In besonderem Maße kompatibel mit dieser Globalität ist der jüdische Ein-Gott-Glaube – einmalig in einer antiken Vielgötterwelt. Der jüdische Gott hat Humor und bricht in Hesek. 39 sogar in ein befreiendes Gelächter aus. Gewalt und Krieg prägen weitgehend das Wertesystem der Antike (auch im antiken Rom), des Mittelalters und der Neuzeit. In der jüdischen Kultur sind Gewalt und Krieg vergleichsweise Randphänomene. Anders als bei den Ägyptern, Griechen und Römern (Ausnahme die Philosophie der STOA) galten sogar Sklaven als Menschen und menschliches Leben sogar als heilig. Diese Heiligkeit und Einmaligkeit des menschlichen Lebens lässt sich unmittelbar aus der Gottesebenbildlichkeit (und Gotteskindschaft) des Alten Testaments ableiten. Durch seine Gottesebenbildlichkeit gewinnt der Mensch einen einmaligen Rang in der Schöpfungsordnung10 und ist damit in der Lage, aus seiner ethisch-religiösen Verantwortung heraus nachhaltig und zielorientiert mit anderen Menschen zu kommunizieren und auch in diesem Sinne zu wirtschaften. Der jüdisch-christliche Mensch wird aus einem befehlsempfangenden Objekt zunehmend zu einem eigenständig denkenden verantwortungsbewussten Subjekt.

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Moses Maimonides: Wegweiser für die Verwirrten. Eine Textauswahl zur Schöpfungsfrage, Arabisch/Hebräisch – Deutsch, übersetzt von W. v. Abel u.a., Herder-Verlag, Freiburg i.B. 2009.

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Gerechtigkeit und Ethik – verschiedene Wege führen zum Ziel Die jüdisch-antike Sozial- und Wirtschaftsordnung orientiert sich wie sonst nirgendwo in der Antike am Prinzip der Gerechtigkeit.11 Neben der Nächstenliebe des AT und NT übersehen allerdings viele Theologen von heute die hohe Wertschätzung der Gerechtigkeit im Deuteronomium, beim Leviticus und bei Jesajas. Im Deut. 16,20 heißt es z.B. „Gerechtigkeit, Gerechtigkeit, ihr sollst du nachjagen.“ Die Gerechtigkeit umfasst auch die göttliche Sphäre. Wer ungerecht handelt, wird die Strafe Gottes bereits in diesem Leben zu spüren bekommen. Bei Jesaja 60,12 „geht jedes Volk und jedes Reich, das dir nicht dient, zugrunde, die Völker werden völlig vernichtet.“ Die Ungerechtigkeit steht in enger Verbindung mit Hochmut, Stolz, Missachtung der göttlichen Gebote und des göttlichen Gesetzes (Deut. 28, 15-24).12 Auch im Neuen Testament hat die Gerechtigkeit einen hohen Stellenwert. So kommt in den „acht Seligkeiten“ der Bergpredigt diese gleich zweimal vor. Hier die beiden Stellen zur Gerechtigkeit bei Matth. 5, 1-7: Selig sind, die Hunger und Durst haben nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden. Selig sind, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen; denn ihrer ist das Himmelreich. Bei Lukas 6, 12-26 schließt sich an die stark reduzierten Seligpreisungen das Kapitel zur Feindesliebe (6, 27-38) an. Ein solches Kapitel fehlt bei Matthäus. Vermutlich steht aber die Idee der Barmherzigkeit in den „acht Seligpreisungen“ für die biblische Nächstenliebe. Wenn man aber die Seligpreisungen wörtlich nimmt, dann verdienen sich nur die in der 11

Dazu besonders einschlägig ist Heinz Schröder: Jesus und das Geld. Wirtschaftskommentar zum Neuen Testament, 3. erweiterte Aufl., Karlsruhe 1981, vor allem Kap. 12 (S. 173-190), Kap. 13 (S. 191-202) und Kap, 14 (S. 203-214). Die Gerechtigkeitsfrage entzündet sich immer wieder am Topos des „ungerechten Verwalters“. 12 Diese Hinweise bei Deut., Levit. Jesaja und Ezechiel verdanke ich dem Hamburger Historiker Dr. Roman Landau.

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Bergpredigt genannten Gruppen den „Lohn“, in den Himmel aufgenommen zu werden, die nach Gerechtigkeit Strebenden auf jeden Fall. Zu beachten dabei ist, dass die alttestamentliche Gerechtigkeit im Neuen Testament weiterhin Gültigkeit besitzt. Denn es findet sich an passender Stelle unmittelbar nach der Bergpredigt und den „Ermahnungen an die Jünger“ der höchst bemerkenswerte, aber oft übersehene Passus: Glaubt nicht, ich sei gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, aufzuheben, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht ein Strichlein oder ein Pünktlein vom Gesetze vergehn, bis alles geschieht. Wer also eines von diesen geringsten Geboten auflöst und so die Menschen lehrt, der wird der Geringste heißen im Himmelreich. Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht vollkommener sein wird, als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen. (Matth. 5, 17-20). Im Jahre 2017 sind wir, wie auch der Wahlkampfslogan „Mehr Gerechtigkeit“ des SPD-Kandidaten zeigt, noch weit davon entfernt, in der Gerechtigkeit auf der einen Seite eine leitende Idee in der auf ihre Leistungen so stolzen Industriegessellschaft zu sehen und andererseit die Idee der Gerechtigkeit mit den Geboten Gottes in Einklang zu bringen. Politiker und Manager, also die Herren der Elite (Frauen sind nach wie vor eine Randerscheinung), wagen so ein Wort kaum mehr in den Mund zu nehmen oder gar auf das Wirtschaftsleben anzuwenden. Ein religionsnaher Politiker hätte bei einer solchen religiösen Einbeziehung der Gerechtigkeit in sein politisches Handeln große Angst, als Rechts- oder Linksoder sonstiger Populist etikettiert zu werden. In der jüdischen Kultur gibt es zwei verschiedene bewährte Wege, das Prinzip der Gerechtigkeit in Wirtschaft und Gesellschaft anzuwenden. Es ist 

einmal der religiöse Weg der 10 Gebote und anderer religiöser Vorschriften des Judentums, welche die Menschheitsgeschichte

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bis zum heutigen Tag prägen (es gibt dazu nichts Vergleichbares in der Welt der Griechen und Römer) und der angeblich erst von Immanuel Kant erfundene Kategorische Imperativ, der die Moral aus dem rein menschlichen Bereich und Jahrhunderte langer Erfahrung ableitet.

Ungerecht handelt also nicht nur derjenige, der die göttlichen Gebote und Normen verletzt, sondern im Sinne des Kategorischen Imperativs auch derjenige, der nur das eigene Verhalten als Maßstab und Richtschnur gelten lässt. Es bietet sich hier ein guter Vergleich mit dem Schachspiel an: Wer seine Züge ohne Berücksichtigung der Züge seines Gegners macht, handelt noch schlimmer als ungerecht, er schadet nämlich sich selbst. Das kann man dann auch als Zeichen von geistiger Beschränktheit und Engstirnigkeit (enge Stirne!) auffassen. Jüdische Ethik beruht also auf zwei Säulen: einmal auf der religiöskasuistischen Ethik der 10 Gebote und weiterer Vorschriften und dann auf dem angeblich so modernen „Kategorischen Imperativ“, den übrigens auch schon die alten Ägypter kannten. Doppelt hält also auch in der Ethik besser! Im Falle einer solchen Doppelung kommt man sogar ohne Ethiklehrstühle und –kommissionen aus! Ich möchte zum Kategorischen Imperativ, einem Grundprinzip der Ethik bereits seit der Antike, keine philosophische Abhandlung bieten, sondern eine Fallstudie zum Besten geben, die mehr sagt als zehn philosophische Bücher: Ein Kandidat versprach Rabbi Hillel (1. Jahrhundert nach Chr.), dass er der jüdischen Gemeinschaft nur beitreten wolle, wenn dieser es schaffe, solange er, der Aspirant, auf einem Bein stehe, ihm die gesamte Thora13 zu erklären. Rabbi Hillel gelang das ziemlich einfach mit folgendem Satz: „Was dir verhasst ist, tue Deinem Nächsten nicht an. Das ist die Thora ganz und gar, alles andere ist Auslegung. Geh und lerne!“ Das „Was Du 13

Thora bedeutet so viel wie Lehre, Unterweisung, Gesetz. Die Thora, der Pentateuch, besteht aus den 5 Büchern Mose. Die Thora enthält jeweils 613 Ge- und Verbote.

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nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“ ist also keine deutsche Erfindung.14 Bildung, Umwelt und Gleichgewicht Rabbi Hillel deutet hier an, was den Juden seit mehr als 2000 Jahren wichtig und heilig ist, nämlich die ungeheure Wertschätzung der Bildung15, welche nicht nur eine schriftliche, sondern noch heute an den jüdischen Jeschiwot (Hochschulen) auch eine mündlich-rhetorische Kultur ist. Und hier tritt ein wichtiger Aspekt einer effektiven Nachhaltigkeit ganz deutlich in Erscheinung: Wer nachhaltig handeln und auf lange Frist Erfolg haben will, der muss lernen und immer wieder bereit sein, neu und auch aus Fehlern zu lernen. Selbst Lenin hämmerte die Notwendigkeit der permanenten Lernens ein mit seinen eindringlichen Worten: Uçit-sa, uçit -sa, uçit-sa (lernen, lernen, lernen). Der Lernprozess muss jedoch im Gleichgewicht von Egoismus und Altruismus erfolgen, um nachhaltig zu sein. Der richtig Lernende muss sich selbst, aber auch den andern ernst nehmen und gelten lassen, er darf aber auch nicht sich selbst hassen. „Leben und leben lassen“, lautet noch heute ein bairischer Spruch. Dieser lässt sich auch im Biergarten anwenden. Wenn man diese Gedanken auf die moderne Zeit anwendet, dann bedeutet das, dass Menschen, welche gegen die Umwelt und die Mitmenschen sündigen, auch ihre eigene Lebensgrundlage (und die ihrer Nachkommen) gefährden bzw. zerstören. Wer den anderen verletzt oder gar vernichtet, auf den fällt irgendwann sein böses Tun wieder zurück. Wie in der Physik folgt auch in der Ethik auf die actio eine reactio, auf die neue actio wieder eine neue reactio. Solche Zerstörer sind so fern der Realität, dass sie sogar das zerstören, was ihnen gemeinsam ist, nämlich die

14

Michael Wolffsohn: – ungleiche Geschwister. Die Geschichte zweier Rivalen, Düsseldorf 2008, S. 49. 15 Vgl. dazu Wilhelm Kaltenstadler: Jewish Position in and Contribution to the European Transfer of Civilization. A Special Aspect of Jewish Assimilation, in: Studia Judaica, Vol. XVIII, Cluj 2010, S. 79-88.

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gemeinsame Heimat, die gemeinsame Kultur, die gemeinsamen Werte. Das sind wohl Egomanen, die ihre Kinder und Enkelkinder nicht lieben. Nachhaltigkeit ist– nicht nur beim Lernprozess – im Sinne der Nikomachischen Ethik von Aristoteles zwischen zwei extremen Polen angesiedelt, nämlich zwischen extremem Egoismus einerseits und sinnlosem Altruismus andererseits. Beide Extreme sind falsch und verfehlen den Sinn des Lebens. Sowohl das AT als auch das NT sind frei von Illusionen, was das wahre Menschenbild betrifft. Selbst-, Nächsten- und Gottesliebe müssen sich im Gleichgewicht befinden. Wer sich selbst hasst, ist nach Nietzsche eine große Gefahr für seine Mitmenschen und die menschliche Gemeinschaft. Denn er ist intolerant und unfähig andere zu lieben.16 Aus diesem humanen Primärgleichgewicht, das aber immer wieder – man sieht das ja an der derzeitigen Wirtschaftslage – bedroht ist –, kann man die Sekundärgleichgewichte in Gesundheitswesen, in der Gesellschaft, der Wirtschaft etc. ableiten. Wirklich sinnvolles Leben ist immer ein Streben nach Gleichwicht – besonders ausgeprägt bei dem jüdischen Universalgelehrten Moses Maimonides (1138-1204). Das gilt nicht nur in der Symbiose von Geist, Seele und Körper17 für das Gleichgewicht der körperlichen und seelischen Gesundheit, sondern eben auch für die Liebe, die sich weder in einer hemmungslosen Egozentrik einerseits noch in einer allzu abstrakten Nächsten- und Gottesliebe andererseits erschöpfen darf. Auch hier in der Liebe gilt der Grundsatz der Antike, den Ovid in seinen Metamorphosen so perfekt formuliert hat: Media tutissimus ibis (In der Mitte geht man am sichersten). 16

Hier der wenig bekannte Aphorismus von Nietzsche: „Wer sich selber haßt, den haben wir zu fürchten, denn wir werden die Opfer seines Grolls und seiner Rache sein. Sehen wir also zu, wie wir ihn zur Liebe zu sich selbst verführen!“ Quelle Friedrich Nietzsche, Werke II – Morgenröte. 17 Vgl. die Pneumata im medizinischen Opus des mittelalterlichen jüdischen Arztes Moses Maimonides (1138-1204) und seiner Vorgänger, Stichwort Psychosomatik, vgl. die Maimonides-Artikel im Weihnachtsheft der „Deutsche Medizinische Wochenschrift“ (DMW) 2010 und 2013 (Literaturverzeichnis).

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Humanität und Nächstenliebe Die Humanität ist eine heilige Trinitas (Dreiheit), bei welcher sich keine der drei Säulen auf Kosten der anderen profilieren darf. Christliche Nächstenliebe ist ohnehin irreführend. Bei einem genauen Studium der Urschrift des AT kam ich zu der Erkenntnis, dass die Nächstenliebe keine Erfindung des Christentums, sondern bereits als „Biblische Nächstenliebe“ im AT grundgelegt ist. Das gilt auch für viele andere Phänomene, die man bisher einseitig dem NT zugeordnet hat.18 Liebe bedeutet nicht nur – manchmal ausufernde – Emotionalität oder egozentrische Selbstverwirklichung, sondern u.a. auch sich Zeit nehmen für den anderen. Man kann den Kindern und Enkelkindern nichts Schöneres schenken als Zeit, die man oft nicht hat, aber sich nehmen muss. Damit diese Zeitnahme für den Partner, die Kinder, die Eltern, die Nächsten nicht graue Theorie bleibt, hat Gott vorgesorgt und den Sabbat als periodischen Ruhetag eingerichtet. Nach orthodoxem jüdischem Verständnis dient dieser nicht nur dazu, sich für Gott Zeit zu nehmen. Der Sabbat macht mich frei für meine Angehörigen und Freunde und für mich selbst. Es war ein Fehler, dass ein allzu reformeifriger römischer Kaiser (Konstantin) meinte, diesen von Gott gegebenen Ruhetag durch den Sonntag, den Tag des sol invictus, des unbesiegten Sonnengottes, ersetzen zu müssen. Es gibt selbst heute noch christliche Konfessionen, welche die Aufhebung des Sabbats ablehnen und diesen statt des Sonntags feiern. Nochmals zur Nachhaltigkeit – ein guter Schlussgedanke Wir müssen uns auch davor hüten, das Prinzip der Nachhaltigkeit allzu einseitig nur auf wirtschaftliche Sachverhalte oder gar nur auf die sog. Volkswirtschaft anzuwenden. Der Begriff ´Nachhaltigkeit´ taucht übri-

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Vgl. Pinchas Lapide: Die Anfänge des Christentums aus jüdischer Sicht, in: Zeitschr. für die Praxis des Religionsunterrichts 7 (1977) Nr. 2, S. 57-61 und Pinchas Lapide: Nach der Gottesfinsternis. Ein ökumenisches Kaleidoskop, Gladbach 1970.

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gens sinngemäß erstmals im 18. Jahrhundert in der Forstwissenschaft19 auf. Es war die Zeit, in welcher der Staat systematisch Forstpolitik betrieb und im System des Merkantilismus, der – ideologiefrei - die wesentlichen Grundlagen der Infrastruktur schuf, ordnend in die Wirtschaft eingriff. Nachhaltigkeit ist ein bestimmendes und entscheidendes Merkmal und Kriterium unserer jüdisch-christlich-europäisch-amerikanischen Gesellschaft und Kultur. In diesem Sinne fordere ich dazu auf, wie Hillel seinen Beitritts-Kandidaten aufforderte: „Geh hin und lerne!“. Nachhaltigkeit muss man lernen und trainieren. Sie beginnt bereits im Kindergarten und in der Schule und hört im Alter nicht auf. Es ist ein Learning by Training. Das Leben ist nicht nur Spiel, sondern auch Schule. Im Lateinischen gibt es erstaunlicher Weise für Spiel und Schule noch ein einziges Wort, nämlich ludus. Dass Spielen und Lernen nur zwei Seiten einer Münze sind, könnte uns in der zukünftigen Entwicklung unserer Kultur weiterhelfen. Literatur: Deutsche Bischofskonferenz: Handeln für die Zukunft der Schöpfung, Deutsche Bischöfe – Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen 19, Herausgeber: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 22.10.1998. Engelhardt Karlheinz: Die „Heidelberger Schule“. Über Anfänge der deutschen Psychosomatik, in: Weihnachtsheft der „Deutsche Medizinische Wochenschrift“ (DMW), 136. Jahrg., Heft 51/52, 23.12.2011, S. 2692-2695. Heller Peter F.W.: Die Spur des Allerheiligstens. Auf der Suche nach der Bundeslade, Leipzig 2009. Heller Peter F.W.: Schelte für das Christentum. Frommer Schwindel, echter Glaube, Leipzig 2008. 19

Herbert Kaden: Zur „Erfindung“ des Begriffs ´Nachhaltigkeit´ - eine Quellenanalyse, in: Sächsische Heimatblätter 4/12, S. 384-391.

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Hüttermann Aloys P. / Hüttermann Aloys H.: Am Anfang war die Ökologie. Naturverständnis im Alten Testament, Verlag Antje Kunstmann, Freiburg 2004. Kaden Herbert: Zur „Erfindung“ des Begriffs ´Nachhaltigkeit´ - eine Quellenanalyse, in: Sächsische Heimatblätter 4/12, S. 384-391. Kaltenstadler W.: Antijudaismus, Antisemitismus, Antizionismus, Philosemitismus – wie steht es um die Toleranz der Religionen und Kulturen? Bd. 5 der wissenschaftlichen Reihe „Jerusalemer Texte“, BautzVerlag, Nordhausen 2011, 107 Seiten. Kaltenstadler W.: Die Modernität der jüdisch-christlichen Idee. Sind Judentum und Christentum vorsätzlich aus der Zivilisationsgeschichte herausgeschrieben worden? UBW-Verlag, Hamburg 2011, als 2. Auflage „Die jüdisch-christlich-islamische Kultur Europas“, Verlag Engelsdorfer, Leipzig 2014. Kaltenstadler W.: Frauen haben (k)eine Seele – Geschichte und Mythos der Frauenverachtung, Mediengruppe König, Greiz 2017. Kaltenstadler W.: Gesundheit, Hygiene und Krankheit bei Maimonides, in: Nicolas Benzin (Editor): Beiträge zur Kulturgeschichte des Judentums, Vol. II, 2010, S. 86-141. Kaltenstadler W.: Jewish Position in and Contribution to the European Transfer of Civilization. A Special Aspect of Jewish Assimilation, in: Studia Judaica, Vol. XVIII, Cluj 2010, S. 79-88. Kaltenstadler W.: Judentum, Christentum und Kulturtransfer, in: Nicolas Benzin (Editor): Beiträge zur Kulturgeschichte des Judentums und der Geschichte der Medizin, Vol. II, 2010, S. 23-69. Kaltenstadler W.: Jüdisch-islamische Kultur im alten Andalusien, in: Nicolas Benzin (Editor): Beiträge zur Kulturgeschichte des Judentums und der Geschichte der Medizin, Vol. I, Frankfurt 2009, S. 82127. Kaltenstadler Wilhelm: Kreditwesen, in: Pöttmes. Herrschaft, Markt und Gemeinde (Heimatbuch), Vol. I, Poettmes 2007, S. 389-402.

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Kaltenstadler W.: „Kurz ist das Leben, lang die (ärztliche) Kunst…“. Das medizinische Werk des Moses Maimonides, Deutsche Medizinische Wochenschrift (DMW), Weihnachtsheft, 135. Jahrg., 2010, S. 2563-2566. Kaltenstadler Wilhelm: „Seelenkräfte“ und „Bewegungen der Seele“ im medizinischen Werk des Moses Maimonides - Moderne Betrachtungen zum 875. Geburtstag von Maimonides, abrufbar auch als englische Version: „Spirits“ and „Movements of Soul“ in the medical work of Moses Maimonides. In: Weihnachtsheft der DMW, 138. Jahrg., 2013. Kaltenstadler W.: Zucker als Lebens- und Heilmittel im arabischen Mittelalter. Aus dem medizinischen Werk des Moses Maimonides, DMW, 135. Jahrg., 2010, S. 2567-2573. Kaltenstadler W.: Kaffee – ein Geschenk der Araber an Europa, DMW, 136. Jahrg., 2011, S. 2652-2656. Lapide Pinchas: Die Anfänge des Christentums aus jüdischer Sicht, in: Zeitschr. für die Praxis des Religionsunterrichts 7 (1977) Nr. 2, S. 5761. Lapide Pinchas: Nach der Gottesfinsternis. Ein ökumenisches Kaleidoskop, Gladbach 1970. Lowenstein Steven M.: Jüdisches Leben – Jüdischer Brauch. Internationale jüdische Volkstraditionen (aus dem Amerikanischen von Alice Jakubeit), Verlag Artemis & Winkler, Düsseldorf und Zürich 2002. Ratzinger Joseph: Werte in Zeiten des Umbruchs – Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, Verlag Herder, Freiburg i. B. 2005. Schmidt Olaf – Hamberger Joachim: Erst Ressourcenschonung, dann Übernutzung. In der Heiligen Schrift wird auch die ökologische Geschichte erzählt, Wald Wissenschaft Praxis, Nr. 39, 2003. Schröder Heinz: Jesus und das Geld. Wirtschaftskommentar zum Neuen Testament, 3. Auflage, Gesellschaft für Kulturhistorische Dokumentation, Karlsruhe 1981.

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Sperber G.: Bäume in der Bibel. Eine ökologische Un-Heilsgeschichte von Bäumen, Wald, Natur, deren Zerstörung und den gnadenlosen Folgen, Forstw. Centralblatt, Bd. 113, Hamburg und Berlin, S. 12-14. Wolffsohn Michael: – ungleiche Geschwister. Die Geschichte zweier Rivalen, Düsseldorf 2008..

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Die jüdisch-islamische Kultur von Al-Andalus im Mittelalter 1. Einleitung: Europäische Zentren der christlich-moslemischjüdischen Symbiose (Balkan, Süditalien, südliches Iberien siehe Punkt 2) Seit der Diskussion der EU-Verfassung ist die Frage der europäischen Werte nicht verstummt. Die eine Seite sieht die Wurzeln der europäischen Kultur vor allem in der (weit überschätzten) griechischen Demokratie und Philosophie sowie im römischen Recht und in der römischen Politik, die andere Seite, vor allem die Vertreter der christlichen Kirchen, weist immer wieder auf das christliche Abendland hin. Beiden Seiten ist es aber entgangen, dass es noch eine dritte Komponente gibt, nämlich die Wurzeln der jüdischen und islamischen Kultur.20 Dass die islamische Kultur weitaus mehr, als man bisher zugeben wollte, auf Europa ausstrahlt, zeigt schon die Tatsache, dass es im Mittelalter neben Al Andalus im Süden Europas zwei umfassende islamische bzw. islamisch geprägte Regionen gab, nämlich den Balkan und Sizilien. Trotz des großen Anteils der Christen war auch der osmanische Balkan bis weit ins 19. Jahrhundert hinein eine eher islamische Landschaft, wie noch mehr als jede noch so gute wissenschaftliche Abhandlung der geschichtsnahe Roman des Serben Ivo Andrić „Die Brücke über die Drina“ (Na Drini cuprija 1945) verdeutlicht. 1961 erhielt dieser den Nobelpreis für Literatur. Einen Höhepunkt der Symbiose der drei Kulturen und Religionen bietet im 13. Jahrhundert das stark von der spanischen Kultur geprägte Königreich beider Sizilien unter dem Hohenstaufenkaiser Friedrich II. (im Dom von Palermo begraben), der zahlreiche jüdische, islamische und 20

Vgl. Wilhelm Kaltenstadler: Der zivilisatorische Faktor. Die jüdisch-christlichen Wurzeln der europäischen Zivilisation, Hamburg 2003; W. Kaltenstadler: Griechischrömische Antike oder jüdisches Christentum – Wem verdanken wir die europäische Zivilisation? Hamburg 2005 und W. Kaltenstadler: Wie Europa wurde was es ist. Beiträge zu den Wurzeln der europäischen Kultur, Groß-Gerau 2006.

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christliche Gelehrte an seinem Hof versammelte und auch gute Beziehungen zur islamischen Welt (z.B. Sultanat von Cairo) hatte. Er hatte vor allem moslemische Leibwächter, welche überwiegend aus der Stadt Lucera (Lucaera Saracenorum), einer islamischen Stadt in Süditalien, kamen. Sein Konflikt mit dem Papst ist sicher auch eine Folge seiner guten Beziehungen zur islamischen und jüdischen Kultur. Das Verschwinden der islamischen Kultur aus Europa ist vor allem dem päpstlichen Machtstreben und der zunehmenden Entfernung des Vatikans von christlichen Idealen zuzuschreiben. Der dritten islamischen Region in Europa, nämlich Al Ándalus, das im frühen Mittelalter für kurze Zeit mit fast ganz Iberien identisch war, gilt diese Abhandlung. 2. Al Andalus und Sepharad? Wechselnde Herrschaftsgebiete in Spanien und Nordafrika Der Begriff Al Andalus ist weiter zu fassen als das heutige Andalusien. Es reichte nicht nur weiter nördlich als heute, sondern umfasste auch Territorien in Nordafrika und auf den Balearen. Sepharad steht zwar allgemein für Iberien, es ist das Land der Sephardim, der spanischportugiesischen Juden und ihrer Nachkommen. Es ist aber im engeren Sinne besonders mit dem moslemischen Al Andalus verbunden. Wie Al Andalus nur schwer geographisch greifbar ist, so ist auch Sepharad mehr ein Wort, welches die Gemeinschaft der sephardischen Juden, die ursprünglich vor allem im Süden Iberiens lebten, zum Ausdruck bringt. Emilio G. Ferrin betrachtet aber in seinem großen Werk Sepharad als mit Al Ándalus identisch.21 Da gibt es die berühmte Definition von Jorge Luís Borges: Das Spanien des Islam und der Kabala und der dunklen Nacht der Seele beansprucht seinen größten Sinn als eine Kultur, welche in drei Wasserstrahlen von der gleichen Quelle trinkt, und besteht nicht aus einem Raum mit drei Kulturen, deren Aufspaltung sich als unmöglich erweist. 21

Vgl. dazu Georg Bossong: Die Sepharden. Geschichte und Kultur der spanischen Juden. München 2008.

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Es gibt also in Al Andalus bzw. Sefarad drei Religionen, aber nur eine Kultur. Demgegenüber ist die Frage, wer zuerst im Lande war, sekundär. Sie soll aber der historischen Exaktheit wegen dennoch gestellt werden. Juden und arianische Christen waren wohl früher im Lande als die Moslems, welche von Nordafrika auf Iberien übersetzten. Da die arianischen Christen meist Goten waren und den Moslems näher standen als den an die Dreifaltigkeit glaubenden römisch-katholischen Christen, fand auch eine Fusion der gotischen und arabisch-berberischen Kultur statt (Beispiel die gotische Fürstin Sara la Gota). Es gibt immer deutlichere Anzeichen dafür, dass das arianische Christentum sich in Iberien und anderen Teilen Europas länger gehalten hat, als die amtliche Mediävistik zugestehen will. Das römisch-katholische Christentum hat also in Iberien und sogar im bairischen Herzogtum viel später Fuß gefasst, als man bisher glaubte.22 Nicht primär die Kultur der arabischen Halbinsel, sondern die persischsyrische Kultur prägt Ándalus. Mit Berufung auf Henri Pirenne spricht Ferrin von der „Syrianisierung des Mittelmeerraumes“23. Dazu fast wörtlich E. G. Ferrin: „Die neue kulturelle Ordnung im südwestlichen Mittelmeer beerbte gewissermaßen Rom“24, „der kulturelle Islam präsentierte sich als Erbe Roms mit viel mehr Legitimität als das so genannte Heilige Reich, das in Aachen erstanden war, wobei es vorgab, wiederauferstanden zu sein.“ Im Hohen Mittelalter gibt es „den Höhepunkt der hebräischen Literatur und der Judenschaft im Arabischen.“25 Das wird auch durch die folgende Aussage von Ferrín bestätigt: „Der Judaismus, sesshaft oder nicht sesshaft (errante), häretisch oder traditionsbewusst, beteiligte sich an der Etablierung der zivilisatorischen Schichten. Auch wird er – in zwingender Weise – an der Filtrierung des 22

Vgl. Werner Greub: Wolfram und die Wirklichkeit des Grals, Dornach/Schweiz 1974. 23 Emilio G. Ferrín: Historia General de Al Andalus, 2. Aufl., 2007, S. 182. 24 Emilio G. Ferrín: Historia General, ebd., S. 363. 25 Emilio G. Ferrín: Historia General, ebd., S. 364.

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Andalusischen in das bereits strikt europäische teilnehmen, ihre Zeit war gekommen: Die aus Spanien vertriebenen Juden landeten in Al Ándalus mit ihren Satteltaschen (Rucksäcken), seitdem wird es den Namen Sefarad tragen. Etwas schwer Begreifliches für diejenigen, welche die Religionen als wasserdichte, undurchlässige kulturelle Systeme abgrenzen wollen. Schon seit Beginn; seit den gleichen kulturellen Ursprüngen und in der gleichen anti-trinitarischen Linie wie der Proto-Islam, fügte sich die als jüdisch klassifizierbare Blüte in einen Raum, welcher – auf diese Weise – nach Erweiterung drängte: Al Ándalus.“26 Die islamische Expansion erreichte wohl ihren größten Umfang unter der Herrschaft der nordafrikanischen Almoraviden. 3. Phantomzeit auch für Iberien und Andalus? Seit den Forschungen von Lüling, Luxenberg27 und Olagüe28 steht neben der für die christliche Historiographie relevanten Phantomzeit auch die Geschichte des frühen Mittelalters der Moslems und der Juden auf dem Prüfstand. Diese neue Sicht der Geschichte wirkte sich auch auf Al Ándalus aus. Manfred Neusel bringt gute Argumente dafür, dass selbst die Umayyadenprinzen und somit auch die Umayyadendynastie des 7. und 8. Jahrhunderts chronologisch fraglich sind. Er verweist auf die Parallele zur mangelhaft überlieferten Figur des Bonifatius im 8. Jahrhundert. Die fiktionale Auffassung des 8. Jahrhunderts in der europäischen Frühgeschichte wird auch durch das 3. Medieval History Seminar von Washington D.C. bestätigt. Nach Olaf Schneider ist sogar noch das 9. Jahrhundert mit fiktionalen und gefälschten Texten durchsetzt (Neusel 4.6.2008). Auch von spanischer Seite kommt Kritik, z.B. von Antonio Pulido Pastor. Er zieht aus den Forschungen des weit über Spanien hinaus bekannt gewordenen Olagüe folgende Schlüsse: 26

Emilio G. Ferrín: Historia General, ebd., S. 364. Emilio G. Ferrín: Historia General, ebd., Kap. 2.7 El debate Luxenberg, S. 106-113. 28 Vgl. Ignacio Olagüe: La Revolución islámica en Occidente, 2004 und Antonio Pulido Pastor: Los Árabes no invadieron la península ibérica, Wikipedia, Stand Juni 2008. 27

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Die Geschichte der iberischen Halbinsel im 8. Jahrhundert ist oscura y confusa (dunkel und konfus), es gibt nur wenige zuverlässige Zeugnisse bzw. Quellen.  Einwände gegen eine so frühe Eroberung Iberiens bestehen aus der Sicht der Logistik und Militärgeschichte.  Die Arabisierung Iberiens findet nach Olagüe principalmente seit der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts statt und die sich daraus ergebende Islamisierung geht auf die Beziehungen zwischen dem Süden Iberiens und der nordafrikanischen Küste zurück. Olagüe ersetzt in seinem Werk “La Revolución islámica en Occidente” (1974) den Terminus invasión musulmana durch revolución islamica. Für ihn gibt es im 8. Jahrhundert keine muselmanische Invasion, sondern erst in der 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts, also in der auslaufenden Phantomzeit nach Dr. Illig. Olagüe untermauert mit Argumenten der Logistik, des Militärwesens etc. seine Auffassung, welcher auch mein französischer Lehrer Férnand Braudel zustimmte. Die wesentliche Wurzel der alten andalusischen Kultur ist die Fusion des Islam mit dem gotischen Arianismus im Laufe des 10. Jahrhunderts, welche zur “cultura arabigo-andaluza” führt. Diese erreichte ihren Zenit im 11. und 12. Jahrhundert. An ihrem Niedergang trug der durch die almoravidische Invasion eingeführte religiöse Dogmatismus die Hauptschuld.29 Aus der historischen Unsicherheit der iberischen Phantomzeit ergibt sich natürlich die Fragestellung: Wer war zuerst in Iberien – Goten, Juden oder Araber/Moslems? Nach Theo Vennemann und Jacques Touchet gab es in Iberien eine protosemitische Kultur, selbst der Name “Iberien” ist semitisch (ibrit = hebräisch). Ob die semitischen Hebräer oder die semitischen Araber zuerst da waren, wird angesichts dieser protosemitischen Kultur sekundär. Allerdings muss die Frage der Conquista oder Reconquista neu gestellt werden. 

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Wikipedia: La Revolución islámica en Occidente (Stand Juni 2008).

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4. Conquista oder Reconquista? – der Kreuzzug der spanischen Könige gegen Al Ándalus Reconquista ist die spanische und portugiesische Bezeichnung für die „Rückeroberung“ der Iberischen Halbinsel durch christliche Nachkommen der Bevölkerung des Westgotenreichs, nachdem im frühen 8. Jahrhundert aus Nordafrika kommende muslimische Eroberer (´Araber´ und Berber) das Westgotenreich vernichtet und die Iberische Halbinsel unterworfen haben sollen. Im Frühjahr 711 soll der Berber Tāriq Ibn Ziyād mit seinem Heer in der Region von Algeciras/Gibraltar gelandet sein, um das seit dem 5. Jahrhundert auf der Iberischen Halbinsel bestehende Westgotenreich zu unterwerfen. Die Westgoten wurden im Juli 711 in der Schlacht am Rio Guadalete geschlagen, wobei ihr König Roderich (Rodrigo) den Tod fand. Bis 719 sollen die „Mauren“ die Iberische Halbinsel erobert haben. Unter den westgotischen Adligen, die sich mit den neuen Machthabern arrangierten, war auch Pelayo (Pelagius), dessen Einflussgebiet sich im Norden der Halbinsel in Asturien (an der NW-Küste Spaniens) befand. Asturien wurde damals von einem muslimischen Gouverneur namens Munuza verwaltet. Pelayo geriet mit Munuza in einen persönlichen Konflikt wegen einer Heiratsangelegenheit und begann darauf eine Rebellion in einem entlegenen Berggebiet Asturiens. Er ließ sich von seinen Anhängern zum König (oder Fürsten) wählen. Im Jahr 722 besiegte er in der Schlacht von Covadonga eine muslimische Streitmacht und konnte so seinen Herrschaftsbereich behaupten, aus dem dann das Königreich Asturien wurde. In der Höhle von Covadonga (Nationalpark Picos de Europa) findet sich noch heute eine Gedenkstätte an dieses Ereignis, das als Beginn der Reconquista gilt. In Asturien wird noch heute neben der spanischen Amtssprache Asturisch gesprochen. In Asturien und anschließenden Regionen spricht man auch Eonavian, bei dem es sich evtl. sogar um die moderne Version der galicischen Sprache handeln könnte. 719-725 drangen die Muslime über die Pyrenäen vor und sollen Septimania, einen Landstrich um Narbonne, der zum Westgotenreich

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gehört hatte, erobert haben. Diese Region war im Mittelalter ein wichtiges Zentrum der Albigenser. Liegt hier evtl. noch weit ins Hohe Mittelalter nachwirkender islamischer Einfluss vor? Ihr Vorstoß in das Frankenreich soll aber durch Karl Martell 732 in der Schlacht bei Tours und Poitiers abgewehrt worden sein. Septimania konnten sie noch bis 759 halten. Bereits Anfang des 10. Jahrhunderts nahm der muslimisch-andalusische Herrschaftsbereich in Iberien spürbar ab. Das Territorium von Aragon im Nordosten von Iberien war um 910 herum noch umstritten, wie aus einer Karte um 910 hervorgeht. Es scheint, dass die Moslems hier verlorenes Gebiet für kurze Zeit zurück gewonnen haben. Doch sind die wirklichen Herrschaftsansprüche im 10. Jahrhundert nicht wirklich exakt überliefert. Der Kampf gegen die Araber hielt die christlichen Könige nicht davon ab, auch Handel mit ihnen zu betreiben und soziale und kulturelle Kontakte mit ihnen zu haben. Christliche Heerführer wie El Cid schlossen Verträge mit den muslimischen ´Königen´ der Taifas, um an deren Seite zu kämpfen. Eine Taifa „was an independent Muslim-ruled principality, an emirate or petty kingdom, of which a number formed in the AlAndalus (Moorish Iberia) after the final collapse of the Umayyad Caliphate of Córdoba in 1031.” Eine zweite Welle der Entstehung von Taifas gab es Mitte des 12. Jahrhunderts, als die Macht der almoravidischen Herrschaft im Niedergang begriffen war. „Taifas often hired Christian mercenaries to fight neighbouring realms (both Christian and Muslim). The most dynamic taifa, which conquered most of its neighbours before the Almoravid invasion, was Seville.” Auf Grund der militärischen Schwäche wandten sich die Taifa-Prinzen an nordafrikanische Krieger um Hilfe. Nach dem Fall von Toledo (1085) rief man die Almoraviden, nach dem Fall von Lissabon (1147) die Almohaden zu Hilfe. Doch diese Afrikaner waren keine echte Hilfe für die Taifa-Emire. Denn die Afrikaner annektierten nicht selten deren

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Länder an ihre eigenen nordafrikanischen Reiche.30 Nun mussten schwache Taifas Tribute an die christlichen Könige Spaniens, vor allem an die von Kastilien und Leon, leisten. Vorher war es meist umgekehrt. Trotz gelegentlicher kriegerischer Auseinandersetzungen bestanden aber viele enge wirtschaftliche und persönliche Verbindungen zwischen Juden, Christen und Muslimen in Iberien. So entstammten die früheren Könige von Navarra der Familie Banu Qasi von Tudela. Navarra reicht von den westlichen Pyrenäen bis ins obere Ebrotal und zählt zu den kleinsten Autonomen Gemeinschaften Spaniens. Das frühere Königreich ist stolz auf sein eigenes Wappen und seine Flagge. Man spricht dort auch Baskisch, auch in der Hauptstadt Pamplona.31 Nicht zuletzt die Basken waren im Laufe des Mittelalters immer wieder mit den Moros verbündet. Die Allianzen gingen also lange Zeit quer durch die Konfessionen. Erst mit dem Druck der immer mehr auch in Spanien Fuß fassenden katholischen Kirche kommen religiöse Ideologie und Fanatismus ins Spiel. Der Druck der katholischen Theologen und der hohen Geistlichkeit auf die spanischen Könige nahmen im Laufe des hohen Mittelalters immer mehr zu, wie auch Lion Feuchtwanger in seinem weitgehend historisch getreuen Roman „Die Jüdin von Toledo“ zeigt. Im Hochmittelalter wurde der Kampf gegen die Muslime von den christlichen Herrschern Europas als Kampf für die gesamte römischkatholische Christenheit und als Heiliger Krieg wahrgenommen. Grundlegendes zum Heiligen Krieg und zum Islam der Gegenwart überhaupt bietet der in Damaskus geborene Syrer Bassam Tibi: Krieg der Zivilisationen, Hamburg 1998, 1., 2., 3. und 4. Kapitel. Sein Buch ist nach wie vor hochaktuell. Die muslimische Seite kannte den kriegerischen Aspekt des Dschihads schon seit Mohammeds Kriegszügen gegen seine Nachbarn und man hatte auch die Eroberung Spaniens in diesem Sinne unternommen. Ritterorden nach dem Vorbild der Tempelritter, wie der Santiagoorden, der 30 31

http://en.wikipedia.org/wiki/Taifa. http://de.wikipedia.org/wiki/Navarra.

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Orden von Calatrava, der Alcántaraorden und der Orden von Montesa, wurden gegründet oder gestiftet; die Päpste und Orden riefen die europäischen Ritter zum Kreuzzug auf die Halbinsel. Seine Wurzeln gehen auf die Zeit zurück, als in Iberien das arianische durch das römischkatholische Christentum abgelöst wurde. Die römisch-katholischen Christen betrachteten den Apostel Jakobus den Älteren wegen des ihm zugeschriebenen Beistandes in der Schlacht von Clavijo (844) als ihren Schutzheiligen. Er war das zentrale Symbol des Heiligen Krieges und wurde zur Integrationsfigur des katholischen Spanien. Noch heute ist er der Patron Spaniens und wird auch Santiago Matamoros („Hl. Jakob, der Maurenschlächter“) genannt. Nach Topper hat Jakobus jedoch maurische Wurzeln, er stammt aus der synkretistischen Glaubenswelt der Berber (Imasiren).“32 Zentrum des Kults war das angebliche Apostelgrab in Santiago de Compostela. Eine der größten christlichen Niederlagen (und ein äußerst wichtiges Motiv zur Reconquista) war die Eroberung und Zerstörung Santiagos 997 durch den muslimischen Heerführer alMansûr, der jedoch die Reliquien des Hl. Jakobus verschonte, weil er es für möglich hielt, dass dort der alttestamentarische Altvater Jakob begraben sein könnte. 1037 wurde Santiago von den Christen zurückerobert. In der Folgezeit wurde das maurisch beherrschte Gebiet im Süden immer kleiner. Von den unterlegenen Muslimen wird die Reconquista nicht als "Rückeroberung", sondern als Eroberung (Conquista) verstanden, da der christliche Vormarsch seit dem Tod Al Mansurs, dem Untergang des Kalifats von Córdoba und der Eroberung der weitgehend unbesiedelten Zwischenzone (Verwüstungsgürtel) im 11. Jahrhundert Gebiete betraf, die zum Teil seit dem 8. Jahrhundert von Muslimen besiedelt worden sein sollen, sowie Städte, die überhaupt erst von Muslimen gegründet worden waren.

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Uwe Topper: Zeitfälschung. Es begann mit der Renaissance, München 2003, Kap. „Der wahre Jakob?“, S. 205-208.

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Als Beginn der christlichen Eroberung wird daher von arabischer Seite oftmals erst der Kreuzzug gegen Barbastro (1064) bzw. der Fall Toledos (1085) betrachtet. Die ´Rückeroberung´ der alten westgotischen Hauptstadt Toledo markierte demnach das Ende der Reconquista und den Beginn der Conquista. Um den christlichen Angriff abzuwehren, riefen die andalusischen Muslime ihre marokkanischen Glaubensbrüder zu Hilfe, die den Dschihad zur Verteidigung des Islam proklamierten und den Vormarsch der Christen vorübergehend stoppten. Dschihad ist wörtlich „der Kampf auf dem Wege Gottes.“33 Er ist eine im Islam begründete religiöse Pflicht sowohl der Gemeinschaft als auch des Einzelnen, zur Expansion des Islam auf friedlichem Wege beizutragen. Auf die erfolgreichen militärischen Offensiven der christlichen Herrscher folgte die Repoblación (Wiederbesiedlung), die meist von Königen, Adligen, Bischöfen oder Äbten organisierte Ansiedlung von Christen in Gebieten, deren muslimische Bewohner getötet oder vertrieben worden waren. Mit der systematischen Entvölkerung von Grenzgebieten schufen insbesondere asturische Könige (Asturien im Nordwesten von Spanien) auf ihren Feldzügen einen Verwüstungsgürtel, mit dem sie ihren Machtbereich vor Angriffen der Muslime schützen wollten; nach weiteren militärischen Erfolgen wurde später die Neubesiedlung in Angriff genommen. Ein Teil der Siedler kam aus dem gesicherten christlichen Gebiet, andere waren Christen, die aus dem muslimischen Süden fortgezogen waren. Zu einem großen Teil geschah die Repoblación in grundherrlicher Form, anfänglich mit Unfreien, doch waren auch freie Bauern beteiligt. Auch Muslime, die sich zum Christentum bekehrten, wurden im Rahmen der Repoblación angesiedelt. Im Spätmittelalter spielten Ritterorden eine wesentliche Rolle. Diese Maßnahmen fanden ihren Abschluss 1609/14 mit der Ausweisung der letzten, inzwischen zwangschristianisierten Mauren. Mit der Repoblación ging eine erneute Christianisierung und eine erneute Romanisierung bzw. weitgehende Kastilisierung der Halbinsel einher. 33

http://de.wikipedia.org/wiki/Dschihad (Stand 17.06.2008).

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Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts nahm der Anteil der islamischen Herrschaft von Al Ándalus auf der iberischen Halbinsel weiter ab, der Anteil der Christen weiter zu. Nicht zuletzt die Königreiche Leon, Kastilien und Aragon hatten sich weiter in Richtung Süden ausgedehnt. Als der entscheidende Wendepunkt im Kampf zwischen den christlichen und den muslimischen Heeren gilt die Schlacht bei Las Navas de Tolosa am 16. Juli 1212, in der die Truppen der verbündeten Königreiche von Kastilien, Navarra, Aragón und León sowie französische Kontingente unter Alfons VIII. die Almohaden unter Kalif Muhammad an-Nasir besiegten. Nach der Eroberung Cordobas (1236) und Sevillas (1248) durch Kastilien, Valencias (1238) durch Aragon und der Algarve (1250) durch Portugal wurden zwar auch Murcia und Granada unterworfen, doch brach 1262 mit marokkanischer Hilfe ein muslimischer Aufstand in ganz Andalusien aus. Mit der endgültigen Eroberung Murcias durch Kastilien und Aragon (im Nordosten von Spanien) 1265 endete die erste Etappe der Reconquista. Nur das Nasriden-Sultanat von Granada blieb als kastilischer Vasallenstaat vorerst noch muslimisch. Erneut besiegte eine christliche Allianz aus Kastilien, Aragon, französischen Hilfstruppen und (letztmalig) Portugiesen 1340 in der Schlacht am Salado ein Heer des marokkanischen Sultans Abu al-Hasan, der eine letzte Intervention und Gegenoffensive angeführt hatte. Doch den christlichen Königreichen Kastilien und Aragon, welche zuvor die anderen Königreiche geschluckt hatten, gelang es, ihr Herrschaftsgebiet immer weiter nach Süden auszudehnen und das muslimische Territorium zu schmälern. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts war das nasridische Sultanat von Granada das letzte arabische Herrschaftsgebiet. Zwar besaß Kastilien die militärische Macht, das Sultanat zu erobern, aber die Könige zogen es zunächst vor, Tribut zu erheben. Der Handel mit Granada bildete einen Hauptweg für afrikanisches Gold in das mittelalterliche Europa.

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Um den 2. Januar 1492 kapitulierte der letzte arabische Herrscher in AlAndalus, Muhammad XII. Boabdil, vor den Heeren von Ferdinand II. und Isabella I. („Los Reyes Católicos“, die Katholischen Könige). Dieser Krieg zwischen den christlichen Königen und Granada war nur durch massive finanzielle Unterstützung jüdischer Finanziers, insbesondere der beiden Magnate und Berater der Krone Isaak Abravanel und Abraham Senior (1412-1493), durchgehalten und gewonnen worden. Auf eben dieser Alhambra, auf welcher sich die Moslems zehn Jahre lang gegen die christliche Offensive verteidigt hatten, wurde das nach ihr benannte Edikt (siehe unten) beraten.34 Im gleichen Monat (Januar) erließen die Könige das Alhambra-Edikt35, in dem die Vertreibung der Juden aus allen Territorien der spanischen Krone zum 31. Juli des Jahres 1492 angeordnet wurde, sofern sie bis dahin nicht zum Christentum übergetreten waren. Mit diesem Edikt endete auch die Anwesenheit der seit Jahrhunderten in Spanien ansässigen Sepharden. Mit dem Abschluss der Reconquista durch die Eroberung Granadas im Januar 1492 kam auch die bisher ausgeübte Toleranz der Könige gegenüber ihren jüdischen Ärzten, Beratern und Bankiers zum Ende. Auch die Mohren hatten ihre Pflicht getan, sie durften gehn. 1968 wurde das Alhambra-Edikt der katholischen Könige von der spanischen Regierung für unwirksam erklärt und erst am 1. April 1992 durch den spanischen König Juan Carlos I. unwiderruflich außer Kraft gesetzt. Isabella und Ferdinand vereinigten nun den größten Teil der Iberischen Halbinsel unter ihrer Herrschaft (Navarra wurde erst 1512 eingegliedert). Die großen Gebiete, die damals hohen Offizieren und Adligen zugesprochen wurden, bildeten die Ursprünge der Latifundien im heutigen Andalusien und der Extremadura. Die Heirat von Christen mit Muslimen, Juden und Konvertiten wurde trotz Konversionszwang von christlichen Eiferern bekämpft. Sie traten für die limpieza de sangre ("Reinheit des Blutes") ein, wodurch der tra34 35

http://de.wikipedia.org/wiki/Alhambra-Edikt (Stand 18.06.2008). http://de.wikipedia.org/wiki/Alhambra-Edikt, ebd.

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ditionelle religiöse Gegensatz einen rassistischen Aspekt erhielt. Die zunächst geduldeten Mauren und Juden wurden im 15. und 16. Jahrhundert systematisch drangsaliert, zur Taufe gezwungen oder des Landes verwiesen. Auch die zum christlichen Glauben übergetretenen "Conversos" waren vor Missachtung, Nachstellungen und Verfolgung nicht sicher. Der spanisch-katholische Fanatismus jener Zeit beförderte auch die Inquisition. 5. Die Minderheiten in Al Andalus und Iberien 5.1 Andalusien und Iberien als Schmelztiegel der Völker Auf der iberischen Halbinsel existierte eine in diesem Maße im restlichen Europa nicht anzutreffende Mischbevölkerung, welche nicht nur aus Europa, sondern auch aus Asien und Afrika stammte. In Al Ándalus lebten seit dem frühen Mittelalter (wenn nicht noch früher) Araber, Berber und Syrer. Ab der Mitte des 10. Jahrhunderts kamen „Slawen“, wohl mehrheitlich Nordeuropäer, deren genaue Herkunft bis jetzt nicht geklärt ist, und Schwarzafrikaner, „die zumeist Militärdienst für die Herrschenden leisteten“, dazu. Den größten Teil der Bevölkerung von Andalus stellten aber „die zum Islam übergetretenen Nachkommen der alten romanisch-westgotischen Bevölkerung, häufig auch als Andalusianos (´Andalusianer´) bezeichnet. Ihr Anteil an der Bevölkerung soll sich auf etwa 30 % belaufen haben.“36 In den christlichen Königreichen lebten außer den Muslimen und Kastiliern auch Franken. Neben der volksmäßigen Aufteilung der Bevölkerung gibt es in ganz Iberien auch Personengruppen wie die Mudejares, Mozarabes, Marranos, bei denen volksmäßige und religiöse Merkmale schwer trennbar vermengt sind. Vielfach lebten in Iberien Juden auch wie Araber oder Christen oder versuchten sowohl Moslems als auch Juden gleichzeitig zu sein. Die Anpassung der andalusischen Araber ging manchmal sogar so weit, „dass sie ihre Gebete in Arabisch sprachen.“37 Diese für Andalus so ausge36 37

Peter Altmann: Abrahams Enkel in Spanien, Magisterarbeit, Frankfurt 2006, S. 74f. Peter Altmann: Abrahams Enkel in Spanien, ebd., S. 75.

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prägte Nähe der Juden zu den Moslems/Arabern lässt sich vielleicht durch das wohl weit in die Antike zurückreichende semitidische bzw. protosemitische Erbe Iberiens, auf welches Theo Vennemann und Jacques Touchet immer wieder hinwiesen, erklären. Sie deuten Iberien als das Land der „Ibrit“, also hebräisch, sprechenden Menschen. Die klassische Ableitung des Begriffes Iberien vom Fluss Ebro greift auf jeden Fall zu kurz. 5.2 Mudejares Mauren unter christlicher Herrschaft wurden als Mudejares bezeichnet. Deren Anzahl nahm im Laufe des Mittelalters zu, da die spanischen Könige im Laufe der reconquista immer mehr islamisches Territorium eroberten und das Herrschaftsgebiet von Al Andalus verkleinerten. Die Mudejares von Malaga und Granada standen im Falle rechtzeitiger Kapitulation unter dem direkten Schutz der spanischen Krone und unterstanden nicht der Rechtssprechung des lokalen Rates. Viele von ihnen wanderten auch nach Nordafrika aus. 5.3 Mozaraber Als Mozarabes (Mozaraber) wurden die verbliebenen christlichen Bewohner der muslimisch besetzten Gebiete auf der iberischen Halbinsel bezeichnet, die nach dem Zusammenbruch des Westgotenreiches (ab 711 konventioneller Chronologie) unter maurische Herrschaft gekommen waren. Mozaraber waren also arabisch assimilierte Christen, die im Mittelalter unter muslimischer Herrschaft in Andalus lebten. Der Begriff leitet sich wohl aus dem arabischen musta´rab ab, was eine arabisierte Person fremdländischer Herkunft bezeichnet. In den äußeren Lebensformen passten sich die Mozarabes den neuen islamischen Herren an, mussten Kopfsteuer zahlen, lebten in eigenen Wohnvierteln mit eigener Rechtsprechung und Verwaltung. Die Arabisierung der (im Frühmittelalter noch weitgehend arianischen) mehrheitlichen Christen erfolgte vor allem in den Städten, wo viele Christen auch in der Verwaltung und in

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den Finanzbehörden der Umayyaden38 tätig waren. Toleranz und religiöse Freiheiten der Christen wurden von den maurischen Herrschern garantiert. Zeitweise kam es aber zu Spannungen zwischen Moslems und Christen, so z.B. im 9. Jahrhundert, als zwischen 851 und 859 fanatische martyriumssüchtige christliche Asketen mehrmals den Islam und den Propheten Mohammed schmähten und beleidigten. Eine christliche Synode musste schließlich das mutwillige Martyrium verbieten, womit der religiöse Friede wieder hergestellt war. Durch (freiwillige) Konversionen zum Islam nahm jedoch die Zahl der Mozaraber in Andalus laufend ab. Mit dem Fortschreiten der Reconquista und der zunehmenden Orientalisierung von Al Ándalus wanderten seit dem 10. Jahrhundert immer mehr Mozaraber in die christlichen Königreiche des Nordens aus. Diese Tendenz verstärkte sich noch, als im 12. Jahrhundert die berberischen Almoraviden und Almoha-den die Herrschaft in Andalus übernahmen, welche auch in religiöser Hinsicht radikaler waren als die früheren Herrscher und Druck auf die Konversion der christlichen Mozaraber zum Islam ausübten. Um den katholischen Königen Spaniens die christliche Basis in den eroberten Gebieten wegzunehmen, wurden vor allem unter den Almohaden Teile der Mozaraber nach Marokko umgesiedelt, „um den christlichen Eroberern ihnen nahe stehende Bevölkerungsgruppen zu entziehen.“39 Viele Mozaraber kommen dieser Umsiedlung nach Nordafrika zuvor, indem sie sich in die christlichen Königreiche des Nordens absetzten. Man darf diese Abwanderung der Mozaraber in den christlichen Norden nicht unbedingt negativ sehen. Denn diese Einwanderer stellten in Nordspanien die Verbindung zwischen lateinisch-christlicher und muslimisch-arabischer Kultur her. „Dabei übten die Mozaraber erheblichen Einfluss auf die Volksdichtung in Nordspanien und Südfrank38

Die Umayyaden sind eine Dynastie von Kalifen, die von 660 bis 750 Oberhäupter des sunnitischen Islam waren. Nach ihrer Vertreibung aus dem Orient gründeten sie 756 das Emirat von Córdoba. Sie waren die erste Dynastie von Kalifen, die nicht eng mit Mohammed verwandt waren. Wie dieser entstammen sie jedoch den Quraisch aus Mekka. 39 Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Mozaraber.

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reich aus“ und beeinflussten wohl mehr, als sich die europäische Kultur dessen bewusst ist, auch die Poesie der Toubadoure und die Minnedichtung des hohen Mittelalters. Diese Mozaraber entwickelten im Norden (z.B. Klosterkirche San Miguel de Escalada nahe Leon) den sog. mozarabischen mit islamischen Formelementen durchsetzten Baustil christlicher Künstler. Im Süden Spaniens diente dieser Stil auch der Verzierung noch vorhandener westgotischer Kirchen. Im Norden führten die mozarabischen Architekten neue Techniken ein, so im Gewölbe- und Bogenbau. Der den Mauren zugeschriebene Hufeisenbogen taucht nachweislich bereits vorher in der westgotischen Architektur auf. Typische Kennzeichen dieses Stils sind auch Geflechte von pflanzlichen Elementen aus Stuck. Die Mozaraber sprachen Mozarabisch, einen vulgärlateinischen Dialekt. Die spanischen Christen besaßen eine eigene mozarabische Liturgie, welche aus der westgotischen Tradition hervorgegangen war und vielleicht sogar arianische Wurzeln hat. Sie wurde allmählich abgelöst durch den römischen Ritus im Rahmen der ´Kirchenreformen´ des 11. Jahrhunderts und lebt heute nur noch in spärlichen Restbeständen fort.40 5.4 Moros und Morisken Moros ist der spanische Name für die Mauren, also die islamischen Bewohner von Al Ándalus. Der Name erinnert an die dunklere Hautfarbe der meist aus Nordafrika stammenden Moslems, vielfach Berber, und entspricht etymologisch dem altdeutschen Namen „Mohren“ für Neger. Auf den Philippinen werden die Moslems noch heute Moros genannt. Morisken, wörtlich kleine Mauren, sind Moslems, die nach dem Sieg der Reconquista in Spanien bzw. im Königreich Kastilien, lebten. Nach dem Fall von Granada 1492 ersetzte Morisken den Begriff für Mudejares. Trotz aller Garantien der Religionsfreiheit, die bei der Kapitulation von Granada gewährt wurden, begann bald die Zwangsbekehrung durch die 40

Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Mozaraber. Vgl. auch Stephan und Nandy Ronart: Lexikon der arabischen Welt, 1972.

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Katholische Kirche und die Enteignung der muslimischen religiösen Institutionen. Nach einem Aufstand in Granada um 1499 ordnete auch die Monarchie die Zwangsbekehrung der Muslime bzw. deren Deportation an. In der Folgezeit traten zwar viele Muslime zum Christentum über, übten den Islam aber im Geheimen weiter aus, was wiederum von der Inquisition verfolgt wurde. Ein weiterer Aufstand der Morisken in den südlich von Granada gelegenen Alpujarras unter der Führung von Abén Humeya gegen die spanische Unterdrückung (1569-1571) führte dazu, dass viele Morisken in die Gebiete von Kastilien und Aragonien umgesiedelt wurden. Zwischen 1609 und 1611 wurden die letzten 275.000 Morisken aus Spanien ausgewiesen. Viele siedelten sich in Tunesien und Algerien an und beeinflussten die Kultur dieser Länder durch ihre andalusischen Traditionen erheblich. 5.5 Juden unter christlicher und islamischer Herrschaft in Spanien Nach Theo Vennemann gab es semitische Völker, die sog. Semitiden, auf Iberien schon weitaus früher als germanisch-romanisch-christliche Völker. Als die siegreichen christlichen Könige Ferdinand und Isabella auf Druck von Torquemada, dem Generalinquisitor, Ende des 15. Jahrhunderts die Juden vertreiben sollten, und zwar mit der Begründung der allgemeinen jüdischen Kollektivschuld, brachten die Ältesten von Toledo Urkunden vor, aus denen hervorging, dass die Juden schon lange, bevor Jesus gekreuzigt worden war, in Iberien lebten. Dazu äußert sich auch das Internetlexikon Wikipedia: „Schon während der Antike haben Juden auf der Iberischen Halbinsel gelebt, und zwar bereits vor der Zerstörung des Tempels durch Titus und der Zerstreuung der Juden nach Asien, Afrika und Europa. Frühe Zentren jüdischer Kultur waren u.a. die Balearen, Cordoba, Zaragoza und Granada. Die Westgoten tolerierten zunächst die jüdische Minderheit. Erst mit den sich kontinuierlich verschärfenden judenfeindlichen Be-

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schlüssen der Konzile von Toledo kam es zu einem Versuch der Ausrottung jüdischer Kultur durch Zwangstaufen, die mit Ausdauer und Brutalität durchgesetzt wurden, so dass zum Zeitpunkt der Eroberung Spaniens durch die Muslime offen praktiziertes Judentum unmöglich war. Die muslimischen Eroberer wurden von der jüdischen Bevölkerung begrüßt, sie verbündete sich mit ihnen offen gegen die christlichen Herrscher. In der folgenden Epoche muslimischer Herrschaft, die andersgläubigen Minderheiten zunächst mit Toleranz begegnete und ihnen den rechtlichen Status von Schutzbefohlenen (dhimmis) zuordnete, verstärkte sich der Zuzug von jüdischen Einwanderern. Jüdische Enklaven im maurischen Spanien wurden blühende Zentren von Wissenschaft und Handel.“41 Es wurden aber nicht nur Christen, sondern vor allem seit Beginn der almoravidischen Herrschaft auch Juden unter islamischer Herrschaft von Zeit zu Zeit diskriminiert. So mussten beide Gruppen Kopfsteuer zahlen (auch auf dem Balkan) und sich im Sinne einer Kleiderordnung (Gelber Fleck, blauer Gürtel etc.) als Minderheiten kenntlich machen. Von einer systematischen Verfolgung, Ermordung und Ausrottung von Juden und Christen unter islamisch-andalusischer Herrschaft kann aber nicht die Rede sein. Versuche, die Juden mit mehr oder minder großen Zwang zu Christen zu machen, waren in den christlichen spanischen Königreichen des Mittelalters stärker ausgeprägt als die Versuche im islamischen Al Ándalus, die Juden zum Islam zu konvertieren. Gelegentlich wurde aber auch in Al Ándalus der Druck, vor allem des fundamentalistischen almohadischen Systems, auf die Juden so stark, dass sich einige von ihnen entschlossen, in die christlichen Königreiche des Nordens abzuwandern. Allerdings wurden sie dort vielfach sogar angeworben, weil man sie nicht nur als wirtschaftliche Stützen, sondern auch im Rahmen der Reconquista brauchte. Altmann macht darauf aufmerksam, dass viele Juden, „die ihre Heimat nicht verlassen wollten“, in Al Ándalus zum 41

http://de.wikipedia.org/wiki/Alhambra-Edikt, „Vorgeschichte“ des Alhambra-Edikts (Stand 18.06.2008).

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Islam übertraten. Dass die abgewanderten Juden im christlichen Norden im 15. Jahrhundert vom Regen in die Traufe kamen, ist ein anderes Kapitel, das hier nicht näher ausgeführt werden kann. Zu den Juden im alten Al Ándalus gibt es einen Kommentar des Moslems al-Murrakusi: „Die Juden aber zeigen sich islamisch, bitten in den Moscheen und lehren ihre Kinder den Koran, machen es, wie es in unserer Religion und unserer Tradition steht, aber Gott kennt am besten ihre Herzensgeheimnisse und weiß, was ihre Häuser enthalten.“42. Die Juden in Al Ándalus wussten sich also anzupassen, was allerdings im christlichen Teil Spaniens sehr viel schwerer war als selbst unter den Almohaden in Al Ándalus, wie der Fall der Familie des Jehuda Ben Esra, zeigt. Er war Escrivano (Schreiber) von König Alfons VIII. von Kastilien, in Sevilla als Moslem aufgewachsen, hatte die moslemische Amme und den moslemischen Hauslehrer seiner Kinder von Sevilla nach Toledo mitgebracht, dort die Wirtschaft Kastiliens vorangebracht, für längere Zeit den Krieg Kastiliens gegen die Moslems von Al Andalus hinausgezögert und Kastiliens Wirtschaft erblühen lassen. Er saß im Kronrat, seine Tochter Rahel, „Rahel la Fermosa“ (Rachel die Schöne), wurde 1183 sieben Jahre lang bis zu ihrem gewaltsamen Tod die Mätresse von König Alfons VIII. (1155-1214) von Kastilien. „Unter ihrem Einfluss wurde eine Anzahl von spanischen Juden in wichtigen Positionen am Hof ernannt, dies führte zu Unfrieden beim Klerus und beim Adel. Nachdem der König durch einen Vorwand weggelockt wurde, haben Gefolgsmänner der Königin Rahel und ihren Vater ermordet.“43 Die Mörder übersahen dabei etwas ganz Wichtiges: Es war nämlich im Grunde Jehuda Ben Esra, Rahels Vater, zu verdanken, dass es König Alfons VIII. gelang, nach der Niederlage von Alarcos (1195) gegen die Almohaden in der Schlacht der Navas de Tolosa im Jahre 1212 die 42

Nach Mohamed Attahiri: Kriegsgedichte zur Zeit der Almohaden, Frankfurt am Main u.a. 1992, S. 38. 43 Quelle: http://www.abipur.de/hausaufgaben/neu/detail/info/197854879.html (zu Lion Feuchtwangers „Die Jüdin von Toledo“.

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Macht der fundamentalistischen Almohaden zu brechen und die christliche Oberherrschaft auf der iberischen Halbinsel entscheidend voranzutreiben.44 Die almohadischen Fanatiker in Al Ándalus, gewissermaßen als Reaktion auf das massive Vordringen der Kastilier in den Süden, vertrieben aber nicht nur Juden, sondern auch die christlichen Mozarabes, womit sie die finanzielle und wirtschaftliche Basis ihres Herrschaftssystems schwächten. Diese gegen Nichtmuslime durchgeführten almohadischen Aktionen waren aber nach Altmann45 wohl nicht flächendeckend, wie der Fall „Maimonides“ (siehe unten) zeigt. Die kulturelle Potenz am Hofe der Almohadenherrscher hat allerdings unter diesen Aktionen seltsamerweise nicht gelitten. 5.6 Marranos bzw. Marranen: Christen und Juden, Christen oder Juden? Marranen, auch Marranos, ist eine im Mittelalter und in der frühen Neuzeit übliche, abfällige Bezeichnung für die, zumeist unter Zwang, zum Christentum übergetretenen Juden und Muslime, die zum Teil heimlich ihre alte Religion praktizierten. In Spanien hielten die zwangsweise getauften Juden, deren eigentliche Bezeichnung Conversos oder Cristianos Nuevos (Neuchristen) ist, häufig heimlich an ihren Traditionen fest. Sie blieben meist Außenseiter in der Kirche und waren Verfolgungen durch die Inquisition ausgesetzt. Zu den konvertierten Juden gehörten immer wieder hochgestellte Persönlichkeiten, z.B. die Erzbischöfe Julian von Toledo († 690), Paul von Burgos (1351-1435) und der Vater der Hl. Teresa von Avila. Marrão ist ein Wort aus dem Portugiesischen oder Kastilischen, bedeutet „Schwein“ und ist wahrscheinlich ein Lehnwort aus dem Arabischen. Máhram bedeutet „verbotene Sache“ und wurde auf Schwein übertra-

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Quelle: http://www.answers.com/topic/alfonso-viii-of-castile (Stand 21.06.2008). Peter Altmann: Abrahams Enkel in Spanien, a.a.O., S. 80.

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gen, weil die muslimischen Mauren (und auch die Juden) kein Schweinefleisch aßen. 6. Materielle und Geisteskultur von Al Ándalus 6.1 Großstädte in Andalus: Cordova, Granada, Valencia, Sevilla (Ferrín) Ferrín behauptet, einige Quellen erzählten, dass Sevilla „auf dem Höhepunkt des 10. Jahrhunderts von etwa einer Million Menschen bewohnt wurde, die vom sanft dahinfließenden, großen Fluss, dem Guadalquivir, versorgt wurden.“46 Selbst wenn diese Zahlen übertrieben sein sollten, darf man annehmen, dass die Städte von Ándalus im 10. und 11. Jahrhundert im Durchschnitt wesentlich mehr Einwohner aufwiesen als um diese Zeit in Mittel- und Westeuropa, als einige Städte wie München noch gar nicht oder als Dörfer existierten. Die Kultur von Al Ándalus war auf jeden Fall weitaus mehr städtisch geprägt als der Rest von Europa. Auch Wissenschaft, Kunst und Literatur befanden sich bereits im auslaufenden Frühmittelalter auf einem weit höheren Niveau als z.B. in Deutschland, wo es bis ins 18. Jahrhundert hinein eine nationale Literatur noch gar nicht gab und die meisten Publikationen in Latein erfolgten.47

6.2 Moderne Infrastruktur: Wasserleitungen, Kanalisation, Straßenbeleuchtung (nach Al-Maqqari) Der Guadalquivir speiste in Cordova um die 600 öffentliche Bäder, zu einer Zeit, als in den übrigen europäischen Hauptstädten selbst die meis46

Emilio G. Ferrín: Die Wege des Islam in Andalusien (unveröffentlichtes Manuskript), Übersetzung aus dem Spanischen durch Ulrike Herter & Thomas Stemmer, Manuskript, Sevilla 2007, S. 14f. Vgl. Emilio Gonzáles Ferrin: Ein Spaziergang durch al-Andalus. Die Wege des Islam in Andalusien (Übersetzung aus dem Spanischen), Nordhausen: Bautz-Verlag 2013. 47 Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, München-Wien 2002, vor allem Kapitel „Mißglückte Anfänge“, S. 22-53.

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ten Angehörigen der oberen Schichten noch keinen Zugang zu sanitären Einrichtungen hatten. Wie uns Ahmad Zaki ins Gedächtnis zurückruft, „fand die erste Straßenpflasterung in den Straßen von Cordova statt. Ebenso die öffentliche Beleuchtung in der Nacht, bevor dies unter den Menschen der Welt bekannt war.“ Begreift man die Chronik des Historikers Al-Maqqari wortwörtlich, hat man gut 15 Kilometer weit im Lichtschein dieser ersten städtischen Straßenlaternen auf dem Pflaster gehen können. Eben jener Historiker hinterließ uns auch mehr als 50 Seiten seiner Chroniken, auf denen er regelrecht eine Aufzählung der andalusischen Gelehrten, Wissenschaftler und Künstler erstellte, allesamt Bürger eines politischen Umfeldes, das von einer Hauptstadt aus verwaltet und zusammengestellt wurde.“48 Al Ándalus verfügte über gut ausgebaute Kanäle (qanats) zur Verteilung unterirdischer Gewässer und über schiffbare Flüsse. Die Moslems konnten noch auf den altrömischen Wasserleitungen aufbauen und diese noch erweitern. Der Staat von Andalusien nutzte ein Netz römischer Straßenverbindungen, war also auch hier ein Erbe des römischen Reiches.49 Der Autor bezeichnet Cordova als ein anderes Rom, das „vergrößert und befestigt“ wurde „durch die islamische Zivilisation, die beide beerbte“, das alte Rom und Cordova, „das neue Rom“. 6.3 Geistige Infrastruktur und Geisteskultur in Andalus Die geistige Infrastruktur kann hier nur angedeutet werden. Im 9. Jahrhundert wurde in Cordova ein „Zoo mit Tieren, die in diesen Breitengraden nicht bekannt waren“50, eingerichtet. Man schuf auch ein Musikkonservatorium, „wo auch islamische Musiker aus den vorderasiatischen Ländern wirkten“51. Der Bagdader Musiker Ziryab, der „schwarze Vogel“, der eigentlich Abu l-Hasan ‘Ali Ibn Nafi‘52 hieß, führte in Cordova 48

Emilio G. Ferrín: Die Wege des Islam in Andalusien , a.a.O., S. 15f. Emilio G. Ferrín: Die Wege des Islam in Andalusien, S. 16. 50 Emilio G. Ferrín: Die Wege des Islam in Andalusien, S. 4. 51 Emilio G. Ferrín: Die Wege des Islam in Andalusien, S. 4. 52 Quelle: http://en.wikipedia.org/wiki/Ziryab (Stand 21.06.2008). 49

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die musikalische Notation und Harmonielehre, „die er in Bagdad gelernt hatte“, ein53. Auch erfand er eine Guitarre mit vier statt der damals gebrauchten fünf Saiten, welche die Symbole der vier kabbalistischen Grundelemente Luft, Erde, Feuer und Wasser sein sollten. Natürlich waren auch Dichtung und Literatur hoch entwickelt. Die Sprache der Bildung und Literatur und überhaupt der Eliten war Arabisch, auch die Sprache der Juden in Iberien. In der 1. Hälfte des 12. Jahrhunderts „führten die Juden die ersten Übersetzungen aus dem Arabischen ins Romance, das Altspanische“ durch. Natürlich übersetzten Moslems und Juden vor allem in Toledo weiterhin aus dem Griechischen oder Lateinischen ins Arabische, aus dem Arabischen ins Lateinische. Nach Steinschneider54 sind viele Übersetzungen, welche man Jahrhunderte lang den Arabern zuschrieb, jüdische Leistungen. Sowohl Juden als auch Moslems waren, oft kaum unterscheidbar, Brückenbauer zwischen den Zivilisationen und Pioniere der Wissenschaft, nicht zuletzt der Astronomie und Medizin. Zur geistigen Infrastruktur gehören auch die Wissenschaften, z.B. die Medizin. Dass es in Al Ándalus auch eine homöopathisch kabbalistisch geprägte Pharmazie und Therapie gab (Ben Saprut, Avenzoar + 1161, Ben Mufarrach + 1240), sei nur am Rande erwähnt.55 Ben Nafis, auch als Ibn Al Nafis (1210-1288) bezeichnet, zog die Idee des Blutkreislaufes in Erwägung. Er ist der erste, der in Kairo im Jahre 1242 den menschlichen Blutkreislauf, vor allem den Lungenkreislauf (curculation pulmonaire), beschrieb.56 Seine Arbeiten bleiben Jahrhunderte lang unbeachtet. Erst 1924 stieß man in Berlin auf seine revolutionäre Entdeckung. Trotzdem findet man in Lehrbüchern und Lexika immer noch William Harvey als den Entdecker des Blutkreislaufes. Ben Nafis hat 53

Emilio G. Ferrín: Die Wege des Islam in Andalusien, S. 45. Vgl. Moritz Steinschneider: Die hebräischen Übersetzungen des Mittelalters und die Juden als Dolmetscher, Neudruck Graz 1956. 55 Emilio G. Ferrín: Die Wege des Islam in Andalusien, S. 8. 56 Vgl. Keys TE, Wakim KG. Contributions of the Arabs to medicine. Proceedings of the staff meet. Mayo Clinic 1953;28: S. 423-437. 54

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auch Werke über die Anatomie und über die Augenheilkunde, Ophtalmologie57, verfasst. Er hat sich auch in mehreren Kommentaren mit Hippokrates und Avicenna auseinandergesetzt.58 Im Libro de los Reyes (Buch der Könige) von Firdús wird im 13. Jahrhundert ein Kaiserschnitt beschrieben, „bei dem die Mutter in einem Halbschlaf verharrt, um die Operation besser überstehen zu können.“59. In der Traumdeutung gibt es Ansätze einer Psychoanalyse. Der andalusische Arzt Abulcasis (gest. 1106), mit vollem Namen Abul Qasim-Halaf Ibn al Abbas az Zahrawi, später ins Lateinische übersetzt, verfasste interessante Abhandlungen über die Anatomie und Chirurgie. Er hob die große Bedeutung der Anatomie für eine kompetente Chirurgie hervor. Als Hofarzt der Kalifen von Cordova schrieb er sein Hauptwerk Al Tasrif (Die Verordnung). Die von ihm und seinen arabischen Kollegen im 12. Jahrhundert verwendeten chirurgischen Instrumente, im Medizinmuseum von Damaskus zu besichtigen, kamen den heute im Einsatz befindlichen schon sehr nahe. „Das Wissen des Abulcasis fand über Gerhard von Cremona in der Übersetzerschule von Toledo Eingang in die europäische Chirurgie.“60 Er stimmte dabei mit dem großen iranischen Arzt und Philosophen Avicenna, Ibn Sina (+ 1037), in der Geringschätzung der europäischen Medizinwissenschaft“ überein, denn es gab in Europa lange Zeit „jenes ausdrückliche Verbot von Experimenten“. Die Idee des Experimentierens hatte ihren „Hauptexponenten in der Saga der Avenzoars, der Sevillaner Ärzte.“61 Avicenna war “the most famous and influential of the philosopher-scientists of Islam.” Seine medizinischen Hauptwerke sind Kitab al-shifa' (“Buch der Heilung”), “a vast 57

Emilie Savage-Smith, "Ibn al-Nafis's Perfected Book on Ophthalmology and His Treatment of Trachoma and Its Sequelae," Journal for the History of Arabic Science, vol. 4 (1980) S. 147-206. 58 Quelle: http://fr.wikipedia.org/wiki/Ibn_Al-Nafis (Stand 21.06.2008). 59 Emilio G. Ferrín: Die Wege des Islam in Andalusien, S. 8. 60 http://www.naturheilmagazin.de/wissen/lexikon-naturheilkunde/heilsystemederwelt/ avicenna.html#c519. 61 Emilio G. Ferrín: Die Wege des Islam in Andalusien, a.a.O., S. 8.

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philosophical and scientific encyclopaedia”, und der “Kanon der Medizin“, ein umfassendes Werk der gesamten Medizin seiner Zeit.62 Zu Beginn des 11. Jahrhunderts wurden unter Alfons dem Weisen auch religiöse Texte aus dem Arabischen bzw. Hebräischen ins Lateinische oder Romance übersetzt, nämlich Bibel, Koran, Talmud oder „didaktische Illustrationen wie Das Buch der Himmelfahrt Mohammeds“, ein Text, der eine fundamentale Quelle der Göttlichen Komödie von Dante war63. Juan Vernet hat in seinem Werk „Lo que debe Europa al Islam de España“ die Errungenschaften zusammengefasst, welche Europa dem spanischen Islam (und zu ergänzen: dem sephardischen Judentum) auf fast allen Gebieten der Kultur verdankt. Arabisch war lange Zeit auch die Sprache der spanischen Könige und Höfe. Bis weit ins hohe Mittelalter hinein war, auch nach der christlichen Eroberung, Toledo das große nicht zuletzt von den Juden geprägte Kulturzentrum Iberiens. Das Goldene Zeitalter des Islam in Andalus war auch das Goldene Zeitalter des Judentums, in welchem auch die Wirtschaft blühte und gedieh. 6.4 Hochentwickelte Wirtschaft (vor allem Beispiel Malaga) 6.4.1 Landwirtschaft In Malaga wurde auf Grund der bergigen Lage intensive Landwirtschaft betrieben, vor allem Wein- und Feigenbau. Die Ölproduktion reichte für die dichte Besiedelung nicht aus, somit wurden Importe aus dem sevillanischen Aljarafe notwendig. Die meist islamischen Bauern schafften es, mit relativ einfachen Geräten die terrassierten Hänge zu bewirtschaften und auf wirksame Weise die Bewässerung zu organisieren. Die Grundlage der Ernährung bildete der Dinkel, welcher auch auf sehr anspruchslosen Böden gedeiht. Natürlich gab es auch in Malaga wie überhaupt in ganz Andalus zahlreiche Nutzpflanzen, welche eine wichtige Rolle für die Ernährung im Winter spielten, nämlich neben Feigen Ha62 63

Quelle: http://www.britannica.com/eb/article-9011433/Avicenna, Stand 21.06.2008. Emilio G. Ferrín: Die Wege des Islam in Andalusien, a.a.O., S. 6.

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sel-, Walnüsse, Kastanien, Mandeln. Maulbeerbäume wurden nicht nur zur Seidengewinnung gepflanzt, sondern auch aus seiner Frucht Säfte hergestellt. Die auf einer extensiven Nutzung größerer Flächen beruhende Viehzucht fehlte völlig, somit gab es in Malaga und in der Regel in Andalus überhaupt so gut wie keine Schweinezucht. Safran und etwas später auch Koriander64 waren in Al Andalus das ganze Mittelalter hindurch Standardgewürze. Es gab zahlreiche Gemüsesorten (Salate), welche im Rest von Europa unbekannt oder nur den obersten Schichten vorbehalten waren. 6.4.2 Handwerk und Gewerbe In Malaga wurden vor allem Lederindustrie (Verarbeitung von Leder und Häuten), Metallverarbeitung (Messer, Scheren) sowie Gold- und Porzellankeramik betrieben. Natürlich wurden im gesamten Iberien auch Waffen produziert. Textilproduktion, fast ausschließlich Seidenherstellung (Seidenraupenzucht), ging im Laufe der Jahrhunderte immer mehr zurück, wohl auch deswegen, weil in Italien, Frankreich, England und den Niederlanden das Textilgewerbe (Wolle, Leinen) immer mehr aufblühte und wohl auch billiger produzierte als in Al Ándalus. Daneben erzeugte man in Ándalus auch Zucker. Der Zuckerrohranbau mit Verarbeitung zu Rohrzucker (as-sukar) war eine blühende Industrie. Da Malaga eine Stadt an der Mittelmeerküste war, wurden in den dortigen Werften „leichte Schiffe für den Schutz der Küsten gegen die Freibeuterei“ gebaut. In Ándalus gab es auch Glasbläserei und Kristallschleiferei mit Schmuckindustrie. Abbás Firnas, der andalusische Leonardo, soll schon um 850 herum ein Planetarium konstruiert, „eine Wasseruhr an den Ufern des Gudadalquivir in Gang“ gesetzt und „eine Frühform des Flugzeuges – in Wirklichkeit ein Gestell von Rahmen und Federn“65 - entwickelt haben.

64 65

Emilio G. Ferrín: Die Wege des Islam in Andalusien, S. 45. Emilio G. Ferrín: Die Wege des Islam in Andalusien, S. 4.

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6.5 Moderne staatliche Verwaltung (z.B. coras = Landkreise, Gouverneure) Als es im restlichen Europa auf Grund sehr mangelhafter Vermessungstechniken noch keine geschlossenen Herrschaftsbezirke und Verwaltungseinheiten gab (Grundherrschaften sowie Pfleg- und Landgerichte waren im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation alles andere als geschlossene Territorien), existierten in Ándalus und teilweise auch in den christlichen Königreichen des spanischen Iberiens bereits die coras, geschlossene Verwaltungseinheiten eines Sultanats oder sonstigen Herrschaftsform, in etwa heutigen modernen Landkreisen entsprechend. In den Städten vertrat ein Gouverneur, der von zahlreichen Sekretären und Juristen umgeben war, den König bzw. Sultan. Natürlich gab es auch ein ausgebildetes Gerichtswesen mit mehreren Instanzenzügen und eine zentrale Instanz, eine Art Burgvogt, den Alcaide, der für Kontinuität sorgte. 7. Die Geschichte von Al Ándalus im Spiegel bedeutender Persönlichkeiten 7.1 Jude Maimonides – wissenschaftliche Symbiose mit dem Islam Das Leben von Mose Ben Maimon, der später den arabischen Namen Abu Imran Musa Ibn Maimun annahm, „spiegelt gleichsam die ganze Ambivalenz jüdischer Existenz im Spannungsfeld zwischen Islam und Christentum unter islamischer und christlicher Herrschaft.“66. Geboren war er 1135 in Cordova in dem von den Almoraviden beherrschten Andalusien. Nach der Ankunft der Almohaden muss er sich „zusammen mit seinen Angehörigen auf eine vieljährige Wanderschaft begeben, die zunächst zehn Jahre durch den Süden Andalusiens führt, dann 1158 ins marokkanische Fes und von dort über Akko in Palästina nach Ägypten.“67 In Fustat, einem Vorort von Kairo, lässt er sich dann endgültig nieder und bringt es als Leibarzt des Sultans zu hohem Ansehen. 1176 66 67

Peter Altmann: Abrahams Enkel in Spanien, a.a.O., S. 33. Emilio G. Ferrín: Die Wege des Islam in Andalusien, S. 33.

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wählt man ihn zum Oberhaupt der Juden (ra´is al-yahud). Als Arzt, Philosoph und rabbinischer Gelehrter geht sein Ruf weit über Ägypten und den Orient hinaus. In diesem Artikel beschränke ich mich auf die wesentlichen Aspekte der drei Hauptwerke von Maimonides. Die „Mischnah Thora“ ist „eine Zusammenfassung jüdischen Rechts, in der auch alle 613 im Pentateuch [alexandrinische Bezeichnung der 5 Bücher Mose] enthaltenen Ge- und Verbote aufgeführt sind.“68 Seinem Hauptwerk „Führer der Verirrten“, von einigen Theologen und Philosophen auch als „Führer der Unschlüssigen“ oder „Führer der Schwankenden“ übersetzt, schickt er 25 Leitsätze voraus, in welchen auch der Gottesbeweis erörtert wird. Diese Leitsätze „bieten zugleich eine ausgezeichnete Darstellung der Grundgedanken der aristotelischen Physik und Metaphysik, wie das Mittelalter sie sah.“69 Wie Averroes, geb. 1126 in Cordova, gest. 1198 in Marrakesch, der nicht nur ein Philosooph war, sondern auch eine medizinische Enzyklopädie in arabischer Sprache verfasste, sind auch jüdische Philosophen ohne den Hintergrund ihrer spanisch-andalusischen Heimat nicht denkbar. „Spanien war auch der große Umschlagplatz, über den die arabisch-jüdische Philosophie in das Mittelalter Eingang fand.“70 Die große kulturelle Drehscheibe des Hohen Mittelalters war ohne Zweifel die alte kastilische Hauptstadt Toledo, auch nach der ´Rückeroberung“ von 1085 durch das christliche Kastilien. Dort wurden vor allem im 12. Jahrhundert, als die islamische Herrschaft in Al Ándalus – trotz des Verlustes von Toledo – noch fest im Sattel saß, die arabischen Werke von Maimonides, Alfarabi, Avicenna, Algazel, Avencebrol (vor der Übersetzertätigkeit auf dem Mt. St. Michel) direkt ins Lateinische übertragen. Es handelt sich dabei unter anderem auch um Werke, welche vorher schon, wie nirgendwo anders, vom Griechischen ins Syrische und Arabische übertragen worden waren. Entsprechende Übersetzungen aus dem Grie68

Peter Altmann: Abrahams Enkel in Spanien, a.a.O., S. 33, FN 126. Johannes Hirschberger: Geschichte der Philosophie, Freiburg 1957, Bd. 1, S. 369. 70 Johannes Hirschberger, Bd. 1, ebd., S. 369. 69

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chischen und Arabischen ins Lateinische auf dem Mont St. Michel71 liegen wohl später. Von den Übersetzungen, welche unter Kaiser Friedrich II. im 13. Jahrhundert auf Sizilien gemacht wurden, sind wohl sicher nicht alle erhalten geblieben. Wichtig dazu sind die Respuestas a las preguntas sicilianas, den „Antworten auf die sizilianischen Fragen“72 Der Verfasser dieser Schrift, welche Al Ándalus und die islamische zivilisierte Welt im Allgemeinen behandelt, ist der andalusische Autor Ben Sabbin. Es geht hier um einige Fragen, die Friedrich II. dem almohadischen Kalifen stellte und die dieser an die wissenschaftliche Gemeinde weiterreichte.“73 Islam, arianisches Christentum und Judentum lebten in Al Andalus bis ins 10. Jahrhundert hinein in einer Symbiose, in welcher die dogmatischen Unterschiede kaum wahrgenommen wurden. Das dritte Werk von Maimonides, die „Dreizehn Glaubenslehren“, ist darum für meine Abhandlung besonders wichtig. Denn es zeigt eine „gewisse(n) Vergleichbarkeit mit den zeitaktuellen muslimischen Glaubensvorstellungen“ (vor allem almohadisches Glaubensbekenntnis) und dem – im Vergleich zum späteren Katholizismus – weniger entjesuanierten und entjudeten74 christlichen Arianismus. Was hier Maimonides in seinen 13 Grundsätzen festhält, könnte fast alles problemlos in jedem katholischen Katechismus stehen. Die Gründsätze 1 bis 5 befassen sich mit dem Wesen Gottes:  Gott als Ursache des Daseins aller Wesen.  Gott ist einer (also nicht drei Personen).  Gott ist nicht körperlich (menschliche Eigenschaften sind allegorisch aufzufassen).  Gott ist ohne Anfang.

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Vgl. Sylvain Gouguenheim: Aristote au Mont Saint-Michel. Les racines grecques de l´Europe chretienne, 2008. 72 Ferrin: Wege des Islam, a.a.O., S. 7. 73 Ferrin: Wege des Islam, ebd., S. 8. 74 Vgl. Michael Wolffsohn: Juden und Christen – ungleiche Geschwister. Die Geschichte zweier Rivalen, Düsseldorf 2008.

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Der Mensch muss Gott allein dienen und seine Gebote erfüllen, ohne Mittler wie Engel, Heilige und Priester. Die Grundsätze sechs bis neuen befassen sich mit der Prophetie und dem Wort Gottes. Propheten empfangen Informationen vom „wirkenden Geist“, ein Ausdruck, der an den ruach kadosch, den heiligen Geist der Kabbala denken lässt. Dieser wirkende Geist muss nicht unbedingt als Person (ein menschlicher Begriff) aufgefasst werden, es kann sich um eine besondere Wirkungskomponente des einzigen Gottes handeln. Der fundamentale Prophet ist für ihn nicht Abraham, sondern Moses, der Gott besser erkannte „als irgendein Mensch, der lebt und leben wird.“ Die Thora, welche endgültig ist und niemals aufgehoben wird, hat Gott als Ganzes dem Moses übermittelt.75 Die Grundsätze zehn und elf handeln von der Beziehung Gottes zu den Menschen:  Gott hat die Menschen und ihr Tun im Blick.  Gott belohnt den, der die Gebote der Thora erfüllt, und bestraft den, der ihre Verbote übertritt. „Der größte Lohn aber ist die kommende Welt, die härteste Strafe ist die Ausrottung“, also nicht die Hölle, die im Alten Testament nicht namentlich vorkommt. Die Grundsätze zwölf und dreizehn gelten dem Kommen des Messias und der Auferstehung der Toten, also Themen, welche noch heute in der christlichen Dogmatik und im christlichen Credo eine große Rolle spielen:  Der Messias wird kommen, er wird aber „nicht zu spät“ kommen. Sein Kommen lässt sich aus der Schrift nicht ermitteln und berechnen. Israel wird „in Sicherheit unter den Völkern sesshaft sein“ (Jes. 11,6).76  Das Wiederaufleben der Toten, über das Maimonides keine exakten Erläuterungen gibt. 

75 76

Peter Altmann: Abrahams Enkel in Spanien, a.a.O., S. 35f. Vgl. Peter Altmann, Abrahams Enkel in Spanien, ebd., S. 37.

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Im Vorspann kommentiert Maimonides seine Glaubenssätze dogmatisch: „Wenn jemand diese Glaubenslehre annimmt und sie wahrhaft glaubt, ist er ein Teil der Gemeinschaft Israels“. Wer aber nur eine dieser Glaubenslehren bezweifelt, dann „hat er seinen Glauben verraten, ist er ein Renegat, ein Häretiker, ein Ungläubiger, hat er gegen Gott rebelliert, und wir sind verpflichtet, ihn zu hassen und ihn auszustoßen.“77 Wer mit den Glaubensinhalten der drei großen abrahamitischen Religionen im Sinne von Maimonides vertraut ist, muss feststellen, dass diese fast zu 100 % nicht nur von den (orthodoxen) Juden, sondern auch vom Islam und Christentum akzeptiert werden, wenn man von der starken Betonung der Mittler (Heilige, Priester etc.) durch die katholische Kirche einmal absieht. 7.2 Jude Petrus Alfonsi – der spanische Neuchrist Einen ganz anderen Weg als Maimonides ist der als Jude geborene Petrus Alfonsi gegangen. Petrus Alfonsi, auch Petrus von Toledo, Peter von Toledo, Petrus Alfunsis, Petrus Toletanus (1062-1110), war ein spanischer Arzt und der Verfasser der Disciplina clericalis. Sein ursprünglicher jüdischer Name war Moises bzw. Moses Sephardi. „Petrus was born a Jew while living in al-Andalus“78 Ob (Petrus) Alphonsi in Huesca (weit im Nordosten Spaniens gelegen) 1062 im Königreich Aragon geboren und getauft wurde, wie einige vermuten, ist nicht gesichert. Petrus war zunächst Rabbiner und nahm nach seiner Taufe im Jahre 1106 den christlichen Namen Petrus Alfonsi an, wobei er dem Namen des Apostelfürsten den Namen seines Taufpatens, König Alfons I. von Aragón, hinzufügte, dessen Leibarzt er war. Das Tetragramm ist der hebräische Eigenname Gottes, wie er seit Jahrtausenden in der Bibel fast 7.000 Mal zu finden ist. Die zugrunde liegenden vier hebräischen Buchstaben können einfach mit den vier lateini77

Text nach St. Schreiner, in: Katalog zur Maimonidesausstellung im Museum Judengasse zu Frankfurt vom 9.9.2005 – 9.1.2005, S. 20, nach Altmann, ebd., S. 37. 78 Wikipedia; Petrus_Alphonsi, Stand 15.06.2008.

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schen Buchstaben JHWH transliteriert werden. Bei der Übersetzung entsteht im Deutschen Jehova oder Jahwe. Mit diesem Tetragramm wollte Petrus Alfonsi wohl auch den Juden gegenüber bildhaft demonstrieren, wie sehr er auch mit dem Alten Testament und der jüdischen Religion und Kultur vertraut war. Dieses ´Logo´ sollte unter anderem auch auf die theologische Kompetenz und die wissenschaftlichen Werke des Petrus Alfonsi aufmerksam machen. Sein wohl bekanntestes Werk ist jedoch die um 1115 verfasste Disciplina clericalis. Es handelt sich dabei um eine Sammlung von kurzen novellenartigen Erzählungen und Fabeln, die in Verbindung mit Sentenzen und Vater-Sohn-Dialogen zur Illustration menschlicher Verhaltensweisen dienen sollen. In jüngster Zeit haben diese kurzen Geschichten wegen ihres recht einfachen Lateins in adaptierter Form Eingang in den Lateinunterricht der deutschen Gymnasien gefunden und dienen dort nach Abschluss der Lehrbucharbeit als mögliche Anfangsoder Übergangslektüre. 1142 begann er auf Anregung von Petrus Venerabilis gemeinsam mit den Mönchen Hermann von Carinthia und Robert von Ketton sowie Mohammed dem Sarazenen mit der Übersetzung des Korans ins Lateinische, 1143 war das Werk abgeschlossen. Petrus Alfonsi war zwar Konvertit, doch bediente er sich einer nicht polemischen Argumentation in seiner Auseinandersetzung mit dem Islam und Judentum. Er versuchte mit Argumenten aus der Bibel wie auch mit naturwissenschaftlichen und philosophischen Argumenten den Beweis zu erbringen, dass nur die katholische die wahre Religion sei. In seinen Dialogi contra Judaeos findet ein inneres Wechselgespräch zwischen dem Juden Moises und dem Christen Petrus statt, offensichtlich die beiden Identitäten des Petrus Alfonsi vor und nach seiner Bekehrung. Diese Dialogi wurden zum am meisten gelesenen gegen die Juden gerichteten Text des Mittelalters und in 80 verschiedenen Schriften überliefert.

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Die Dialoge I – IV üben fundamentale Kritik am Judentum. Rabbinische Schriften wie z.B. die Haggada79 stehen für ihn „im Widerspruch zur philosophischen Logik und (natur)wissenschaftlichen Erkenntnis. Seine Kritik der anthropomorphen Aussagen der biblischen Schriften wurde allerdings später durch Maimonides widerlegt. Auch sein Spott gegenüber einigen rabbinischen Talmud-Autoren (angeblich Regen als Tränen Gottes) bleibt an der Oberfläche. Nur wenigen Menschen von heute, nicht einmal Historikern ist wirklich bekannt, dass die lange Zeit bis ins 20. Jahrhundert hinein praktizierte Kollektivschuldthese der Juden am Tode von Jesus auf den jüdischen Konvertiten Petrus Alfonsi zurückgeht. Gegen diese These wehrten sich die Juden von Toledo in ihrem Gespräch mit Isabella und Ferdinand im Jahre 1492 und wiesen dabei darauf hin, dass die sephardischen Juden schon lange vor dem Kreuzestod von Jesus in Iberien lebten, was ihnen aber nichts half. Die „immerwährende Knechtschaft (perpetua servitus) und die Zerstreuung auf der ganzen Erde“80 ist die kollektive Strafe der Juden für die Ermordung des Gottessohnes. Petrus begründet diese Kollektivschuld mit äußerst fragwürdigen Argumenten. Dialog V widmet sich der Widerlegung des Islam. Dabei begnügt er sich, „die Moral Mohammeds anzufechten sowie auf den ursprünglich heidnischen Kultus in Mekka und die vermeintlich fragwürdige Textüberlieferung des Korans hinzuweisen.“81 Bei der Verteidigung der christlichen Lehre in den Dialogi VI bis XII entdeckt er zugegebenermaßen auch einige Schwachstellen im Alten Testament, auf welche inzwischen auch neuere Forscher wie Langbein aufmerksam machten, z.B. das nicht wirklich geklärte Phänomen ver“The Haggadah (Hebrew: ‫ )הגדה‬is a Jewish religious text that sets out the order of the Passover Seder. Haggadah, meaning ´telling´, is a fulfillment of the scriptural commandment to each Jew to ´tell your son´ about the Jewish liberation from slavery in Egypt, as described in the book of Exodus in the Torah.” Quelle: http://en.wikipedia.org/wiki/Haggadah. 80 Peter Altmann, Abrahams Enkel in Spanien, a.a.O., S. 40. 81 Peter Altmann, Abrahams Enkel in Spanien, ebd., S. 41. 79

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schiedener Namen für Gott, bei Elohim sogar im Plural. Seine berechtigte Kritik richtet sich auch gegen die Erschaffung Evas aus dem Fleisch Adams. Probleme hat Petrus allerdings mit der Interpretation der Dreifaltigkeit, der Auferstehung und Himmelfahrt von Jesus. Auch der christliche Teufel bereitet ihm Schwierigkeiten. Die Frage des Moises, warum man die, welche „Christi eigenen Willen erfüllten und ihn töteten, damit er die Welt erlösen könne, verurteile und der Sünde bezichtige“, kann er nur mit Spitzfindigkeiten, welche nicht durch das Alte oder Neue Testament gedeckt sind, beantworten. Dass man bei der Interpretation der Genesis des Alten Testaments auch zu anderen Ergebnissen als die Schulwissenschaft gelangen kann, zeigen Vogl und Benzin in ihrem Werk zur „Urmatrix“.82 Vogl und Benzin halten sich anders als Petrus Alfonsi mit ihrer exakten buchstabengetreuen Auswertung strikt an den Buchstaben der Genesis. Im 12. und letzten Dialog geht Petrus auf die wichtige Frage des mosaischen Gesetzes für die praktische Lebensgestaltung ein und betont, dass die Apostel und Jünger „als wahre Schüler Christi“ diese Gesetze erfüllt hätten. Die Beschneidung sieht er nicht als Heilszeichen, sondern als „Unterscheidungsmerkmal zwischen Juden und Christen“. Dabei weist er geschickt darauf hin, dass die alten Aramäer Adam, Henoch, Methusalem, Noah, Sem und überhaupt alle jüdischen Frauen nicht beschnitten waren. Zudem habe die christliche Taufe die Beschneidung überflüssig gemacht. Weniger geschickt zieht sich Petrus aus der Affäre, wenn er den Vorwurf des christlichen Bilderkultes und die Ersetzung des alttestamentarischen Sabbats durch den ´christlichen´ Sonntag zu erklären versucht. Natürlich gelingt es schließlich dem christlichen Petrus, den Juden Moises, welcher er einst war, mit biblischen und Vernunftargumenten zu überzeugen, dass allein der katholische Glaube der einzig

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Vgl. Dieter Vogl und Nicolas Benzin: Die Entdeckung der Urmatrix. Die genetische Rekonstruktion menschlicher Organe, Bd. 1: Auf der Spur der Schöpfungsformel“, Mediengruppe König, 2003 und Bd. 2: Die Ureinheit aller Dinge, Greiz 2003.

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wahre sei. Er betrachtet den Erfolg seiner Bemühungen „als ein Geschenk des Heiligen Geistes“. 7.3 Ibn Tumart – orthodoxer Imam und Mahdi – ein Mann des Wortes und der Tat Ibn Tumart, als Mitglied des Hargha-Stammes (Masmuda) 1077 im Antiatlas geboren, war der charismatische Anführer der Almohaden. Ihm war die religiöse Einstellung der Almoraviden zu lasch. Darum hatte er sich 1110 zum „Mahdi“ proklamiert und „seinen Mitstreitern die Rolle der Verteidiger der Einheit Gottes (defensores de la unidad) zugedacht.“83 Mahdi ist wörtlich der „Rechtgeleitete“, der den wahren Islam wieder herstellen will. Ibn Tumart lebte schon als junger Mensch bereits als Asket und betrieb religiöse Studien. Nach seinem Studium in Cordova, wo er Theologie, Philosophie und Rechtswissenschaften studierte, begab er sich 1106 ins ägyptische Alexandria und andere Orte der arabischen Welt. In Alexandria hielt er sich zehn Jahre lang auf. Dort soll er auch den Perser alGhazzali, den „Wiederhersteller der Religion“84, getroffen und ihn gebeten haben, dass er Gott bitte, ihn (Ibn Tumart) zum Werkzeug der Vernichtung der Almoraviden zu machen (Legende?). Ibn Tumart war von den Schriften von al-Ghazzali beeindruckt. Dessen Thesen nahmen in seinen religiösen Vorstellungen einen zentralen Platz ein. Sein Einfluss war es wohl, welcher Ibn Tumart die Synthese von Orthodoxie und Mystik anstreben ließ. Er betonte die absolute Einheit Gottes und lehrte die absolute Vorherbestimmung in einer hierarchischen Gesellschaft. Nach seiner Rückkehr in den Maghreb verbreitete er seine Lehre unter den Berbern des Hohen Atlas und sammelte erste Anhänger um sich, unter anderem Abd al-Mumin und Abu Hafs Umar. Seit 1121 beanspruchte Ibn Tumart, der unfehlbare Mahdi zu sein, und vereinigte die Masmudastämme zum Kampfbund der Almohaden. Zur Integration der 83 84

Peter Altmann: Abrahams Enkel in Spanien, 2006, S. 8. Peter Altmann: Abrahams Enkel in Spanien, ebd., S. 27.

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Stämme in die Bewegung wurde ein Rat gebildet, in dem 10 treue Stammesführer sowie 40 weitere Delegierte anderer wichtiger Stämme beteiligt waren und dem Führer der Almohaden zur Seite standen. Zentrum der Almohaden wurde 1124 Tinmallal/ Tinmal südlich von Marrakesch. 1129 scheiterte aber ein Angriff der Almohaden auf Marrakesch mit einer Niederlage gegen die Almoraviden bei al-Buhayra (13. Mai 1129). Ibn Tumart starb am 20. August 1130 und wurde in Tinmallal/ Tinmal bestattet. Mit ihm verloren die Almohaden ihren geistlichen Führer, womit die militärisch-politischen Ziele der Bewegung in den Vordergrund traten. Sein Nachfolger wurde Abd al-Mumin, der die Almohaden zum Sieg über die Almoraviden führte. Allerdings musste der Tod von Ibn Tumart drei Jahre geheim gehalten werden, bis sein Nachfolger Abd al-Mumin seine Herrschaft gesichert hatte. Ibn Tumarts Nachfolger Abd al-Mu´min ruft nach Tumarts Tod den ´Heiligen Krieg´ gegen die Almoraviden aus. Dieser äußert sich dann militärisch in der Eroberung der almoravidischen Hauptstadt Marrakesch im Jahre 1147. Bereits 1146 setzten die siegreichen Almohaden nach Spanien über. Dabei wurde die „guerra santa“ (heiliger Krieg) auch auf die christlichen Gebiete Iberiens ausgedehnt. Sie brachten das islamische Herrschaftssystem zu einer letzten Blüte in Spanien. Auf christlicher Seite wurde die Reconquista als „guerra santa“ proklamiert. 8. Islamisch-christlich-jüdische Kooperation – multikulturelles Modell und Vorbild für die Gegenwart (am Beispiel von Sevilla) – ein Ausblick Die islamische Kultur, die trotz aller frommen Beteuerungen für die meisten europäischen Staaten noch „peripher“ ist (wie mir neulich einige Lektoren großer renommierter deutscher Verlage zu verstehen gaben), gewinnt auf dem Balkan und in Iberien in den letzten Jahren wieder an Boden. Ein wichtiges Fundament einer jüdisch-islamisch-christlichen Symbiose, welche bewusst an die alten Traditionen von Al Ándalus an-

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knüpft, ist die 1998 in Sevilla gegründete „Andalusisch-marokkanische Stiftung der drei Kulturen“. Diese Stiftung will „den Austausch zwischen den Völkern und Kulturen des Mittelmeerraums fördern.“ Diesem Projekt haben sich auch „das Peres-Zentrum für Frieden, die palästinensische Autonomiebehörde und herausragende Persönlichkeiten und Institutionen aus Israel angeschlossen.“ Eine besondere Finesse: Die Stiftung unterhält einen „Chor der drei Kulturen“, welchem jeweils zur Hälfte Spanier und Marokkaner angehören. „Der Chor gibt mit seinem Repertoire in arabischer, hebräischer und lateinischer Sprache vorwiegend Konzerte in Marokko und Andalusien.“ Aus dieser Stiftung der drei Kulturen ist 2004 die Barenboim-Stiftung hervorgegangen. Der Sitz der Stiftung der drei Kulturen befindet sich im prächtigen ehemaligen MarokkoPavillon auf dem Weltausstellungsgelände von 1992. Die Stiftung ist nicht nur in Iberien und Marokko, sondern auch in Israel und anderen Teilen der Welt präsent und aktiv. Ein besonderer Hoffnungsschimmer ist die erstaunliche Tatsache, dass der Weltkongress der Imame und Rabbiner im Jahre 2006 im Marokko-Pavillon stattfinden konnte.85 Es scheint, dass der Geist der Toleranz des alten Al Andalus erfolgreich wieder belebt worden ist.

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Andalusisches Andenken. Spanien: Seit zehn Jahren erinnert eine Kulturstiftung an die Blüte jüdischen Lebens in Sevilla, in: Jüdische Allgemeine, Nr. 21, 22.05.2008, S. 7.

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Gesundheit, Hygiene und Krankheit bei Maimonides Leben und medizinische Werke von Maimonides Mūsā ibn Ubayd Allāh der Israelit von Cordova, hebräisch Rabbi Moshe Ben Maimon, häufig auch als RaMBaM verschlüsselt, allgemein bekannt als Moses Maimonides kam im Jahre 113586 in Cordova in Andalusien auf die Welt. Wegen der Verfolgung der Juden durch die fundamentalistischen Almohaden87 verließ er mit seiner Familie 1148 Spanien und kam nach einer längeren Wanderung 1165 nach Ägypten. Eine wichtige Station auf dem Weg dorthin war die marokkanische Stadt Fez. Hier vervollständigte er seine schon in Andalusien begonnene philosophische und talmudische Ausbildung, ohne jedoch, wie immer wieder behauptet wird, zum Islam zu konvertieren. „Schon 1165 verliess die Familie Fez und gelangte per Schiff nach Akko. Noch 1165 zog man nach Alexandrien (Ägypten) um. Nach dem Tod des Vaters und des Bruders liess sich Maimonides in Fostat (Alt-Kairo) nieder. Hier heiratete er und übte den Beruf des Arztes aus (wobei er bis zur Position des Leibarztes am ägyptischen Hof aufstieg). Von 1176/77 an war Maimonides geistliches Oberhaupt der Juden Ägyptens. Er starb 1204 in Fostat, das heute ein Stadtteil von Cairo ist. Nach einigen Jahren wurden seine sterblichen Überreste nach Tiberias übergeführt.“88 86

Es gibt einige neuere Werke, die von einem Geburtsjahr 1138 von Maimonides ausgehen, so z.B. Heinrich Schipperges: Krankheit und Gesundheit bei Maimonides (1138-1204), Berlin-Heidelberg 1996, S. 7. Allerdings behält der beste Kenner der arabischen Geschichte von Andalusien Emilio Gonzales Ferrín: Historia General de Al Andalus. Europa entre Oriente y Occidente, 2. Auflage, Cordova 2007, S. 467 das konventionelle Geburtsjahr 1135 bei. 87 E. G. Ferrín: Historia General de Al Andalus, ebd., Kap. VII. El orden periférico, S. 431-473. 88 Quelle: http://astore.amazon.de/buchundjudenhaga/detail/3406452698 (Stand 19.01.2010). Dieser Text beruht auf einer Besprechung des Buches von Hayoun (siehe unten Anm. 3) in der „Neuen Zürcher Zeitung“ (Das historische Buch). In der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 01.07.2000 äußert sich allerdings Friedrich Niewöhner empört über diese Biographie von Hayoun über Maimonides. Er ordnet das Werk eher unter „Märchen“ als unter Wissenschaft ein. Zu Maimonides aus spanischer Sicht vgl. E.G. Ferrín: Historia General de Al Ándalus, ebd., S. 467-471.

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Am Hofe des Sultans Saladin wurde er schließlich Leibarzt des Wesirs von Kairo. Als Arzt89 beschränkte er sich nicht auf die Behandlung und Beschreibung von Krankheiten aller Arten. Es lag ihm mindestens genauso am Herzen, in verschiedenen Werken immer wieder Mittel und Wege aufzuzeigen, wie man Krankheiten vermeiden und die Gesundheit aufrechterhalten kann. Dabei deutet er Gesundheit nicht als rein physische Angelegenheit.90 Immer wieder weist er auf die Notwendigkeit der Gesundheit der Seele und den religiösen Einklang der drei pneumata91 (siehe unten) mit Gott hin. Dieser war für Maimonides ein unkörperliches, also ein reines Geistwesen. Für die Juden schrieb er einen Kommentar zur Mischna und kodifizierte in Mischne Tora (Wiederholung des Gesetzes) die jüdischen Religionsgesetze. Als sein Hauptwerk gilt allgemein More Nevuchim, meist als „Lehrer der Unschlüssigen“, ins Englische meist als Guide of the Perplexed92 übersetzt. In diesem Buch profilierte er sich als Verfechter eines an der Offenbarung orientierten Rationalismus.93 Die Heiligen Schriften der Juden und die rationalistische Philosophie waren für ihn kein Widerspruch. Er war nicht nur Theologe und Philosoph, sondern beides in einem, nämlich Religionsphilosoph, der schon im 12. Jahrhundert mit der dialektischen Methode94 vertraut war. Seine Lehre wurde von der christlichen Scholastik des hohen Mittelalters, ohne antijüdische Ressentiments, positiv aufgenommen. Vor allem der Scholastiker Thomas von Aquin, der größte katholische Theologe des Mittelalters, baute 89

Maurice-Ruben Hayoun: Maimonides. Arzt und Philosoph im Mittelalter (Übersetzung), 1999. 90 Heinrich Schipperges: Krankheit und Gesundheit bei Maimonides (1138-1204), Berlin 1996. 91 Die meisten Übersetzer geben pneuma als spirit bzw. Geist wieder. 92 José Costa: Some Notes on the Talmudic Quotations in the Guide of the Perplexed, III, 8-24, in: Studia Judaica XVII, Editor: Prof. Dr. Ladislaus Gyémánt, Cluj-Napoca 2009, S. 169-180. 93 Eveline Goodman-Thau: On Revelation of Reason in the Work of Maimonides and Hermann Cohen, in: Studia Judaica XVII, ebd., S. 145-168. 94 Şlomo Leibovici-Laiş: Maimonides Dicalectic as a Jewish Law-Maker and Philosopher, in: Studia Judaica XVII, ebd., S. 64-87.

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große Teile des Werkes von Maimonides vor allem in seine Schöpfungsund Gotteslehre ein. Maimonides hat nicht nur zahlreiche theologische, philosophische und religionsphilosophische, sondern auch medizinische Abhandlungen hinterlassen. Das „Institute for the Study and Preservation of Ancient Religious Texts“ der amerikanischen Brigham Young University und „The Maimonides Research Institute“ in Haifa (unter Leitung von Fred Rosner) brachten in jüngster Zeit das medizinische Gesamtwerk von Maimonides heraus. Zu beachten ist, dass die neuere Gesamtausgabe der Brigham Young University auch in den Bibliotheken als „The Complete Medical Works of Maimonides“ and die Haifa-Ausgabe als „Maimonides´ Medical Writings“ bezeichnet werden. Aus europäischer Sicht ist erstaunlich, dass die Brigham Young University eine Einrichtung der „Kirche von Jesus Christus der Heiligen der letzten Tage“ (Vorwort, Bd. 1) ist. Es ist wichtig zu wissen, dass Maimonides als Jude 1135 (1138?) im muslimischen Ándalus geboren wurde und nach einer langen Wanderung durch Nordafrika schließlich als Leibarzt des Sultans am fürstlichen Hofe von Cairo wirkte und somit in muslimisch-arabischen Diensten stand. Der bedeutendste Arzt des Mittelalters hatte nie eine medizinische Ausbildung genossen, er war Autodidakt. Seine meisten Werke publizierte er - wie auch viele andere jüdische Gelehrte im Mittelalter95 in arabischer Sprache, gelegentlich auch in hebräischen Lettern. Wie so viele Muslime und dem Islam nahe stehende Juden leistete auch Maimonides einen überwältigenden Beitrag dazu, das Wissen der alten Ägypter und Griechen, nicht zuletzt von Aristoteles, Hippokrates und Galen, ins Arabische, Hebräische und Lateinische zu übertragen. Dabei sollte man 95

Vgl. dazu Moritz Steinschneider: Die arabische Literatur der Juden. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte der Araber, großenteils aus handschriftlichen Quellen, Frankfurt 1902, ders.: Die hebräischen Übersetzungen des Mittelalters und die Juden als Dolmetscher. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte des Mittelalters, meist nach handschriftlichen Quellen, Berlin 1893 und ders.: Die arabischen Übersetzungen aus dem Griechischen, 1889-1896, Nachdruck Graz 1960.

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sich vor Augen halten, dass das Arabische nicht nur die führende Sprache an den muslimischen (z.B. Bagdad und Kairo), sondern auch den christlichen Höfen Iberiens, vor allem der kastilischen Könige (Toledo) war. Im arabischen-muslimischen Wissenschaftssystem gehörte die Medizin nicht zur sog. traditionellen, sondern intellektuellen Wissenschaft. In diesem System, in welchem auch arianische Christen ihren Platz hatten, ordnete man die Medizin dem Bereich der „angewendeten oder derivativen Physik“96 zu. Die muslimisch-arabische Kultur gab das umfassende antike Wissen nicht nur an die byzantinisch-oströmische, sondern auch an die lateinisch-katholische Kultur des Westens weiter. Dimitri Gutas, Chairman der renommierten Yale University bringt in seiner Series Introduction zu Band I von „The complete medical works“ (On Asthma) die große Bedeutung der arabisch-islamischen Kultur in geradezu klassischen Worten auf den Punkt: „In einem sehr realen Sinn bilden die Wissenschaften und die Philosophie, welche man in der islamischen Kultur produzierte, die Grundlage der westlichen Zivilisation“97 Ein besonderer Lichtblick dieser arabisch-moslemischen Kultur war allerdings der Universalwissenschaftler Maimonides, der als in Ägypten lebender Jude meist in arabischer Sprache publiziert hatte. Seine Synthese von islamischer und jüdischer Kultur mit ihrer Ausstrahlung auf das christliche Europa des Mittelalters ist gerade für das immer mehr sich

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Bd. 1 der „Complete Medical Works“ von Moses Maimonides, Brigham Young University Press, Provo/Utah 2002, Series Introduction, S. XIV. 97 Auf Englisch: „In a very real sense, the sciences and philosophy that were produced in Islamic civilization, form the foundation of Western civilization.” Vgl. Dimitri Gutas: Greek Thought, Arabic Culture: The Graeco-Arabic Translation Movement in Baghdad and Early Abbāsid Society, London 1998, Franz Rosenthal: The Classical Heritage in Islam, translated from German, Berkeley 1975, Nachdruck London 1992 und W. Montgomery Watt: The Influence of Islam on Medieval Europe, Edinburgh 1983. Eine Fundgrube für die Einwirkung der arabisch-muslimischen Kultur auf Europa ist auch die “Encyclopedia of the History of Arabic Science”, hrsg. durch Roshdi Rashed, London 1996.

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integrierende moderne Europa aktueller denn je.98 Neuere Forschungen zur Kultur des Islam lassen keinen Zweifel mehr daran, dass auch die arabisch-ägyptische Medizin über die iberisch-muslimische Pforte die Medizin in Europa ganz erheblich geprägt hat.99 In dieser Abhandlung kann ich unmöglich auf die gesamte umfassende medizinische Lehre von Maimonides eingehen, ich will mich aus verständlichen Gründen auf wenige allgemeine Aspekte der Gesundheitsund Krankheitslehre von Maimonides beschränken. Wie die meisten großen Denker des Mittelalters ist Maimonides als Philosoph stark von Aristoteles, als Theologe von den heiligen Schriften der Juden und als Arzt von Hippokrates und Galen, den großen Ärzten der Antike, abhängig. Er bleibt ihnen gegenüber aber durchaus selbständig und kritisch.100 Die Prägung der medizinischen Lehre von Maimonides durch Hippokrates und Galen äußert sich in besonderem Maße in der antiken Lehre von den Körpersäften. Die Lehre von den vier Körpersäften In der antiken Homöostasie, dem Gleichgewicht der Körperfunktionen, spielt die Lehre von den vier Körperflüssigkeiten bzw. Körpersäften, eine zentrale Rolle. Diese antike Lehre baut vor allem auf der Theorie der guten und schlechten Körpersäfte bei dem griechischen Arzt Galen auf.101 Diese bei Galen beschriebenen Säfte stehen auch in unmittelbarem Zusammenhang mit der Lehre von den vier Temperamenten. Es handelt sich um folgende Flüssigkeiten: Flüssigkeit der schwarzen Galle 98

Andrei Marga: European Consequences of Moses Maimonides´ Thinking, in: Studia Judaica XVII, a.a.O., S. 19-35 und Gérard Nahon: Maimonides and Europe (11381204): A Historical Perspective, ebd., S. 88-117. 99 Vgl. Manfred Ullmann: Islamic Medicine. Islamic Surveys 2, Edinburgh 1978 und ders.: Die Medizin im Islam. Handbuch der Orientalistik, 1. Ergänzungsband 6.1, Leiden 1970. 100 Max Meyerhof: Maimonides criticises Galen, in: Medical Leaves 3 (1940) S. 141146. 101 Galen: De bonis malisque sucis, hrsg. durch G. Helmreich, Corpus Medicorum Graecorum, 5.4.2., Leipzig 1923.

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(black bile), Flüssigkeit der weißen Galle bzw. Gallenschleim (phlegm), Flüssigkeit der gelben Galle bzw. der hepatobiliären Galle (hepatobiliary bile) und rote Galle bzw. Blut.102 Sigerist bezeichnet diese vier Säfte als Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle.103 Im Folgenden beschreibt er ganz anschaulich das gleichgewichtige Funktionieren dieser vier Säfte einer - wie man heute sagen würde – Humoralpathologie: Diese vier Flüssigkeiten sind in erster Linie „für Gesundheit und Krankheit verantwortlich. Die Gesundheit ist vollkommen, wenn sich diese Substanzen hinsichtlich Zusammensetzung, Wirkung und Quantität im richtigen Gleichgewicht befinden und wenn sie richtig gemischt sind. Krank ist der Mensch, wenn es von einem dieser Säfte in seinem Körper zuviel oder zuwenig gibt oder wenn einer von ihnen sich aus dem Körper ausscheidet oder sich nicht mit den anderen vermischt. Wenn sich ein Saft von den anderen trennt, seine eigenen Wege geht und nicht länger mit den andern zusammenarbeitet, dann leidet nicht nur die Stelle, die er verlassen hat, ´sondern auch die Stellen, wo er zum Stehen kommt und wohin er sich ergießt, müssen durch die übergroße Anschoppung Schmerz und Krankheit verursachen.´ Ebenso wird die anomale Absonderung eines Saftes außerhalb oder innerhalb des Körpers Schmerz verursachen.“104 Sigerist lehnt wie manche Vertreter der modernen Medizin diese Säftelehre nicht von vornherein ab, sondern versucht, von den Normen und Gegebenheiten einer vorkapitalistischen Gesellschaft ausgehend, eine plausible nicht an der modernen medizinischen Theorie orientierte empirische Erklärung: „Diese Körpersäfte sind keine Funktionen, keine bloßen Prinzipien, sondern eine Realität. Wenn man den Körper irgendwie verwundet, sieht man Blut; wenn man eine Arznei gibt, die auf Schleim einwirkt, erbricht 102

Maimonides´ Treatise on Hemorrhoids, in: Fred Rosner (Hrsg.): Maimonides Medical Writings, Vol. 1, Haifa 1988 (2nd printing), Chapter 2, S. 131-136, hier S. 131, Fußnote 31. 103 Henry A Sigerist: Anfänge der Medizin, Zürich 1963, S. 738. 104 Henry A Sigerist: Anfänge der Medizin, ebd., S. 738.

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der Betreffende Schleim, und wenn es ein galletreibendes Mittel ist, Galle. Ebenso wird er als Reaktion auf gewisse Medikamente schwarze Galle ausscheiden. Das geschieht, unabhängig vom Alter des einzelnen, immer zu einer bestimmten Jahreszeit. Der Arzt muß daher immer die Jahreszeit berücksichtigen, denn sie beeinflußt die Körpersäfte. Schleim, der kälteste Saft, nimmt im Winter zu. Darum herrschen im Winter Schleimkrankheiten vor, und man sieht die Leute niesen und sich schnäuzen. Im Frühjahr ist der Schleim im Körper noch stark, aber das Blut nimmt zu; denn es ist feucht und warm wie der Frühling. Darmkatarrhe und Nasenbluten treten in dieser Zeit nicht selten auf. Der heiße und trockene Sommer regt die Gallenabsonderung an, und die Galle beherrscht den Körper bis zum Herbst. Die Menschen erbrechen Galle, ihr Stuhlgang enthält gallige Bestandteile, und die Haut färbt sich oft gelb. Der Herbst ist eine trockene Jahreszeit, es wird kälter, und die schwarze Galle105 gewinnt die Oberhand. So sind also die vier Körpersäfte im Menschen immer vorhanden, genau wie die Eigenschaften heiß, kalt, trocken und feucht in der Natur, aber nicht immer in der gleichen Mischung, und das erklärt die ungleiche Empfänglichkeit des Menschen für Krankheiten, je nach der Jahreszeit.“106 Nach Sigerist korrespondieren die Qualitäten dieser vier Eigenschaften nicht nur mit den Jahreszeiten, sondern entsprechen auch „den Elementen, aus denen nach der Lehre des griechischen Philosophen Empedokles das Weltall bestand, nämlich Erde, Wasser, Feuer und Luft.107 So wurde es möglich, eine direkte Beziehung zwischen dem Makrokosmos des Weltalls und dem Mikrokosmos des Organismus herzustellen und diese 105

Melancholie ist nichts anderes als wörtlich „schwarze Galle“. Henry A Sigerist: Anfänge der Medizin, a.a.O., S. 738. 107 Diese vier Grundelemente spielen bis heute in der jüdischen und christlichen Kabbalistik eine zentrale Rolle. Die Stellung dieser kabbalistischen Elemente im Rahmen der Alchimie findet sich gut verständlich behandelt bei Dieter Vogl / Nicolas Benzin: Die Entdeckung der Urmatrix. Die genetische Rekonstruktion menschlicher Organe, Bd. II: Die Ureinheit aller Dinge, Greiz 2003, Kap. „Feuer, Luft, Erde und Wasser“ (S. 40f) und noch umfassender bei Horst Friedrich: Alchimie – Was ist das? Peiting 2002, vor allem S. 41-45. 106

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mit den atmosphärischen Veränderungen, die mit den Jahreszeiten zusammenhängen, in Verbindung zu bringen. Man entdeckte in der Natur und im Menschen die gleichen Elementareigenschaften, so daß der Mensch als integrierender Bestandteil der Natur erschien. Diese Beziehung ebnete auch einem weiteren Systematisieren den Weg. Nicht nur die Elemente, die Körpersäfte und die Jahreszeiten besaßen Elementareigenschaften, sondern auch die Organe, Krankheiten und die Arzneien. Stand das Prinzip, daß Gegensätze durch Gegensätze geheilt werden müssen108, einmal fest und besaß man einmal den Schlüssel zu den Qualitäten der verschiedenen Naturgegenstände, so wurde die Behandlung Sache der mathematischen Berechnung, und die Heilkunst schien ihren spekulativen Charakter abgestreift zu haben.“109 Medizinisches Konzept und allgemeine Gesundheitsregeln in den Aphorismen Wie ungeheuer modern das medizinische Konzept des Maimonides im 12. Jahrhundert bereits war und in vielerlei Hinsicht der Medizin, den Patienten, den Krankenkassen von heute als Anregung und Vorbild dienen könnte, zeigt bereits der auf Hippokrates zurückgeführte erste Aphorismus, der nicht nur von Medizinern bis heute immer wieder – meist unvollständig – zitiert wird, ohne dass die meisten Zitierenden eine Ahnung haben, von wem er stammt. Hier das wörtliche vollständige Zitat aus dem „Kommentar des Maimonides zu den Aphorismen des Hippokrates“: „Hippocrates sagte: Das Leben ist kurz, lang die Kunst, die Zeit knapp, Erfahrung gefährlich und das Urteil schwierig. Du sollst dich nicht damit begnügen, allein das zu tun, was angemessen ist, ohne dass der Patient

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In der klassischen Homöopathie gilt nach wie vor der Grundsatz similia similibus curentur, nämlich dass Ähnliches durch Ähnliches geheilt werde. 109 Henry A Sigerist: Anfänge der Medizin, a.a.O., S. 738f.

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und seine Bediensteten auch das Gleiche und auch die externen Angelegenheiten erledigen“.110 Maimonides interpretiert das kurze Leben und die lange Kunst in dem Sinne, dass selbst ein langes Leben für einen Wissenschaftler nicht ausreicht, um eine Perfektion in seiner Wissenschaft, z.B. in der Medizin, zu erlangen. Hippokrates soll mit seiner Aussage der langen Kunst gemeint haben, „dass die Kunst der Medizin lang ist in Bezug auf die anderen Künste, dann ist Wiederholung hilfreich, als ob man sagen würde, dass die Erreichung der Vollkommenheit speziell in dieser Kunst für eine Person in weiter Ferne liegt; all das dient dazu, jemand, welcher diese auf sich nimmt, vorzuwarnen.“111 Aus diesem 1. hippokratischen Aphorismus kann man die höchst moderne Erkenntnis ziehen, dass der Arzt nicht im Alleingang handeln, sondern mit seinen Patienten und Bediensteten kooperieren soll. Denn Alleingänge sind riskant in einem Beruf, in welchem die berufliche Erfahrung leicht in die Irre führen kann und die Diagnose schwierig ist. Auch „externe Angelegenheiten“, die sog. exogenen Faktoren der Wissenschaft, wie z.B. Sprechzimmer, soziale Umgebung des Patienten etc. hat der Arzt zu beachten. Maimonides bleibt aber nicht bei der eher dunklen generellen Aussage zur langen Kunst stehen, sondern wird im folgenden Absatz konkreter. Die Kunst der Medizin – für ihn ist also die Medizin eine Kunst und nicht eine Wissenschaft – ist für ihn „länger als die anderen theoretischen und praktischen Künste.“ Als Arzt könne man diese Kunst nur 110

„Maimonides´ Commentary on the Aphorisms of Hippocrates“, publiziert durch „The Maimonides Research Institute“ in Haifa unter maßgebender Mitwirkung von Fred Rosner als Vol. 2 von „Maimondies´ Medical Writings“ im Jahre 1987, Section 1, Part 1, S. 14. Auf Englisch: „Said Hippocrates: Life is short, and the art is long, and time is limited, and experience is dangerous, and judgment is difficult. You should not be content to alone do that which is appropriate without the patient and his attendants also doing the same; and the external matters also.” 111 „Maimonides´ Commentary on the Aphorisms of Hippocrates“, ebd., S. 14. Auf Englisch: „that the art of medicine is long relative to the other arts, then repetition is helpful, as if to say that the achievement of perfection specifically in this art is extremely remote for a person; all this is to forewarn someone who undertakes it.”

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dann beherrschen und darin Perfektion erlangen, wenn man sich spezialisiert. Maimonides bringt das im folgenden Satz, der sich übrigens ganz allgemein auf jede Wissenschaft anwenden lässt, auf den Punkt: „Das Leben eines Individuums reicht nicht aus, um alle diese Disziplinen der Medizin vollständig zu beherrschen.“112 Nach Auffassung des in Turkestan geborenen arabischen Philosophen Abu Nasr Al-Farabi (870-950 u.Z.) gibt es „sieben Disziplinen des Wissens, die für ein Verständnis der Kunst der Medizin notwendig sind.113 Diese „divisions“, welche man ins Deutsche besser nicht als „Abteilungen“ wiedergeben, sondern als Stufen der medizinischen Aneignung übersetzen sollte, sind aber auf keinen Fall identisch mit den Spezialisierungsbereichen des alten ägyptischen und modernen Facharztsystems (Gynäkologie, Zahnmedizin, Chirurgie etc.). Diese bisher wenig beachtete Stufenlehre des medizinischen Wissenserwerbs erscheint mir so ausgereift, dass sie auch in der Ausbildung der heutigen Ärzte als Modell dienen könnte. Ich will darum etwas ausführlicher darauf eingehen:  First division: Der Arzt muss zuerst mit dem Aufbau (Anatomie) und den Organen vertraut sein. Dazu gehört auch die Kenntnis der Lehre von den Säften, die Funktion und Lage der Organe, sowohl der inneren als auch der äußeren. Wichtig ist auch für den medizinischen Anfänger, die Zusammenhänge und das Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Organen zu erlernen.  Second division: Regeln der Hygiene, Kenntnis der Gesundheitsarten für den gesamten Körper im allgemeinen, Arten der Gesundheit für jedes einzelne Organ  Third division: Kenntnis der Krankheitsarten und ihrer Ursachen, der sich daraus ergebenden Folgen im gesamten Körper und jedem 112

„Maimonides´ Commentary on the Aphorisms of Hippocrates“, ebd., S. 14f. Auf Englisch: „The life of an individual is not sufficient to completely master all these divisions [of medicine]”. 113 „Maimonides´ Commentary on the Aphorisms of Hippocrates“, ebd., S. 15. Auf Englisch: „seven divisions of knowledge necessary for an understanding of the art of medicine“.

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Organ des Körpers. In der heutigen Medizin bezeichnet man das heute als allgemeine und spezielle Pathologie.114  Fourth division: Einstieg in die Symptomatologie, der Arzt lernt zu unterscheiden die Symptome, welche das Subjekt betreffen, von den Symptomen, welche die einzelnen Arten von Gesundheit und Krankheit betreffen, entweder im gesamten Körper oder in einzelnen Organen. Er wird auch damit vertraut, zwischen der einen und anderen Krankheit zu differenzieren, denn „viele Symptome sind einander ähnlich“115 Gleiche Symptome bei verschiedenen Patienten lassen nicht immer auf die gleiche Krankheit schließen. Sie könnten bei verschiedenen Patienten verschiedene Ursachen haben.  Fifth division: bezieht sich auf die Regeln der Gesundheitstherapie für den Körper als Ganzes und die Gesundheit von jedem seiner Organe. Dabei differenziert Maimonides auch nach Jahreszeiten, nach verschiedenen Standorten (Städten). In dieser division erwirbt der Arzt noch mehr als bisher die Kunst der Differenzierung und auch die Methode des ganzheitlichen Denkens („Körper als Ganzes“), wie es noch heute von den meisten Homöopathen gepflegt wird.  Sixth division: ist im Grunde die Stufe, in welchem der Arzt in besonderem Maße lernt, das in den Stufen 1 bis 5 erlernte Wissen auf die Patienten anzuwenden, und zwar sowohl auf den gesamten Körper oder das betroffene Glied bzw. Organ des Körpers. Der fortgeschrittene Arzt muss also sowohl ganzheitlich als auch partiell anwenden können.  Seventh division: Erst in dieser letzten Stufe lernt der Arzt die Werkzeuge (Instrumente) kennen, mit welchen der Arzt die Gesundheit seiner Patienten erhält bzw. die verlorene Gesundheit wiederherstellt. Dazu gehören auch die Kenntnis der Nahrungsmittel sowie deren Verabreichungen in Form von einfachen und kombinierten Re114 115

„Maimonides´ Commentary on the Aphorisms of Hippocrates“, ebd., S. 15. „Maimonides´ Commentary on the Aphorisms of Hippocrates“, ebd., S. 16.

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zepten und die Tätigkeiten, welche heutzutage auch die Sanitäter und zum Teil auch die Sprechstundenhilfen beherrschen müssen, nämlich Verbinden (von Wunden), Bandagieren, Baden und Anlegen von Umschlägen. Maimonides geht noch einmal im Detail auf einige Instrumente ein, welche ein Arzt in dieser Stufe 7 bedienen muss: Vorrichtungen zum Stechen und Schneiden von Fleisch (in der Chirurgie), Haken zum Aufhängen des Fleisches, Geräte für Wundbehandlung und Augenkrankheiten. Ausdrücklich hält Maimonides hier fest, dass der Arzt auch über Pflanzen sowie Mineralien und deren Anwendung Bescheid wissen muss. Dieses Wissen geht weit über die Kenntnis der Namen und Standorte hinaus.116 Maimonides ist sich mit Bezug auf Abu Nasr Al-Farabi darüber im Klaren, dass sich diese Lernstufen über lange Zeit hinziehen können und nicht bei allen Kandidaten die gleiche Zeitdauer umfassen. In diesem Sinne kann die ärztliche Kunst sehr lange, die Lebensdauer, um sie zu erlernen, dagegen für die meisten viel zu kurz sein. Man lernt in der ärztlichen Kunst nie aus, wenn man bedenkt, dass jeder Fall, mit dem der Arzt zu tun hat, anders gelagert ist. Neben dem Kommentar zu den Aphorismen des Hippokrates, in welchem Maimonides jedoch sehr viele eigene Vorstellungen zum ärztlichen Beruf einbringt, gibt es „The Medical Aphorisms of Moses Maimonides“117, also Aphorismen, welche weniger als der Kommentar zu den Aphorismen des Hippokrates von antiken Vorgängern abhängig und als weitgehende Eigenschöpfung von Maimonides aufzufassen sind. Unter Beachtung der oben dargestellten Prinzipien und Ideen im Kommentar zu den Aphorismen des Hippokrates gelingt es Maimonides in seinen eigenen Aphorismen, die „General Rules of Health“118, ein schwieriges geradezu uferloses Gebiet der allgemeinen Medizin, in einer 116

„Maimonides´ Commentary on the Aphorisms of Hippocrates“, ebd., S. 16f. The Medical Aphorisms of Moses Maimonides, in: Medical Writings, hrsg. durch The Maimonides Research Institute (Fred Rosner), Vol. 4, Haifa 1989. 118 General Rules of Health (The seventeenth Treatise) in: The Medical Aphorisms of Moses Maimonides, ebd., S. 271-280. 117

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lockeren Art und Weise zu behandeln und dem Leser, ohne dass er medizinisch vorgebildet sein muss, zu vermitteln. Die Aphorismen des Maimonides wenden sich – anders als die hippokratischen Aphorismen – mindestens genauso eindringlich an die Patienten wie an die Ärzte. Die folgenden Regeln, welche auch Absätzen entsprechen, beziehen sich durchgehend auf die 17. Abhandlung der ´Medical Aphorisms´ des Moses Maimondides´: Regel 1: Körperliche Bewegung dient der Erhaltung der Gesundheit. Diese darf aber nach einem reichen Essen nicht übertrieben werden, das würde der Verdauung schaden. Körperliche Bewegung ist in der Regel vor dem Esser weniger schädlich. Regel 2: Mit Berufung auf das 6. Buch der „Epidemiae“ von Hippokrates führt Maimonides die Gesundheit vor allem zurück auf die Vermeidung von Übersättigung und auf den Verzicht von Trägheit bei Kraftanstrengung“.119 Regel 3: Gesundheit ist ein hohes Gut. Doch nicht jeder ist in der Lage, die Regeln zur Erhaltung der Gesundheit zu befolgen. Gründe dieser Missachtung dafür können sein: Fresssucht, Völlerei, exzessive Beschäftigung (mit anderen Dingen) oder Unwissen über die richtige Ernährung. Regel 4: Körperliche Bewegung nicht vernachlässigen! Solche Vernachlässigung findet man häufig bei Leuten „die den ganzen Tag und die ganze Nacht gewissenhaft studieren“ – ohne jegliche Gymnastik, also bei Stubenhockern und sitzenden Berufen. Alle Organe, sowohl innerlich als auch äußerlich, sind maßvoll zu betätigen, mahnt Maimonides. Regel 5: Die Erhaltung der Gesundheit geht in zweierlei Richtung: Ersetze das, was sich aufgelöst hat und vom Körper weggegangen ist, mit einem Material, das ihm ähnlich und gemäß seiner Konstitution ihm nützlich ist. An 2. Stelle steht die Reinigung von überflüssigen Säften (superfluities), die sich unvermeidlich im Körper entwickeln. An 3. Stelle soll man dafür Sorge tragen, dass die Schwäche des Alters nicht 119

General Rules of Health (The seventeenth Treatise), Vol. 4, ebd., S. 271. Auf Englisch: „the abandonment of laziness for exertion“.

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schnell eintreten solle. Dieser Alterungsprozess ist natürlich auch eine Folge der Missachtung der beiden anderen Bedingungen. Regel 6: Richte zuerst Deine Aufmerksamkeit ganz besonders auf die Erhaltung der natürlichen (Körper-)Wärme und bedenke, dass die Durchführung von mäßigen körperlichen Übungen am meisten zur Gesunderhaltung für Leib und Seele beiträgt. Regel 7: Um gesund zu bleiben, beginne (den Tag) mit Gymnastik. Lass der Gymnastik Essen und Trinken folgen, danach sind „Coitus und Schlaf“120 empfehlenswert. Diese fünf soll man auf maßvolle Art anwenden! Regel 8: Sex dient der Erhaltung der Gesundheit121, wenn dieser mäßig erfolgt und adäquate Abstände „zwischen den Perioden der Hingabe“ eingehalten werden, und zwar so, dass keine Schwäche oder Entkräftung eintritt. Bei der Ausübung des coitus sollte der Körper weder komplett leer noch mit Nahrung überfüllt, weder warm noch kalt, weder trocken noch feucht sein. Wärme und Feuchtigkeit des Körpers ist jedoch im Zweifelsfalle besser als Kälte und Trockenheit. Regel 9: Koitus erzeugt immer Trockenheit. Eine Person mit einer „vaporous superfluity“ (aufdampfenden Überflüssigkeit) im Körper, wobei eine schlechte, warme Konstitution vorherrscht, zieht Nutzen daraus. Nur bei diesem Typ ist mäßige Hingabe beim Coitus gesundheitsförderlich. Regel 10: Wie in Regel 7 rät Maimonides zuerst zu körperlicher Übung (Gymnastik). Dann erst sollten Nahrung und Getränke folgen. Danach sollte man sich schlafen legen. Auf die Sexempfehlung nach Essen und Trinken verzichtet hier Maimonides. Regel 11: Nimm Nahrung nur ein nach der Verdauung des vorausgehenden Mahles, nach mäßiger körperlicher Übung oder nach der Blähung, die von dem entsteht, was man abgeführt hat. Achte darauf, keine 120

General Rules of Health (The seventeenth Treatise), Vol. 4, ebd., S. 272. W. Zev Harvey: Sex and Health in Maimonides, in: Moses Maimonides: Physician, Scientist, and Philosopher, hrsg. durch Fred Rosner und Samuel S. Kottek, Northvale 1993, S. 33-39. 121

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Nahrung früher als diese aufzunehmen, solange diese nicht zu den Organen, bevor die Verdauung erfolgte, transportiert wurde. Wenn einer Nahrung aufnimmt, während die Eingeweide mit Gasen gefüllt sind, kann der Kopf damit gefüllt werden und, in den meisten Fällen, wird beim Magenpförtner (Pylorus) eine Blasenbildung (Luftblasen) erzeugt. Regel 12: Nachdem eine Person in angemessener Weise geübt, sich in der vorgeschriebenen Weise gewaschen (geduscht), sich gut ernährt und dann geschlafen hat, kann sie, wenn sie Lust verspürt, sich danach dem Sex hingeben. Regel 13: Vom Coitus trägt niemand Schaden davon, ausgenommen einer, dessen Körper warm und feucht ist, oder einer, dessen Natur warmen Samen erzeugt. Der größte Schaden tritt auf bei einem, dessen Konstitution zu Trockenheit und Alter (old age) neigt. Regel 14: Es gibt schlechte Bewegungen unter den körperlichen Aktivitäten. Bei vielen Leuten wird ein extrem warmer, beißender, scharfer und irritierender Samen erzeugt. Dieser stimuliert die Betroffenen, ihn auszustoßen. Wenn diese ihn während des Coitus ausstoßen, dann wird der Magenpförtner geschwächt, ihr ganzer Körper wird entkräftet [Coitus interruptus]. Sie trocknen aus, werden entkräftet, ihr Erscheinen ändert sich, und ihre Augen sinken ein. Wenn sie sich dem Coitus nicht häufig (selten) hingeben, dann werden ihre Köpfe schwer und ihr Magen gepeinigt. Sie werden geschädigt durch die Abstinenz vom Coitus, genauso wie sie Schaden haben dadurch, dass sie sich diesem (zu intensiv) hingeben. Maimonides rät solchen Personen, dass sie sich von allem enthalten, welches Samen erzeugt. „They should consume foods and medications that suppress semen formation and they should do gymnastics with the upper parts of their body such as ball playing with either a mall or large (ball) or lifting stones. They should rub the lower part of their spine [Rücken] with cooling oils after bathing. If they desire to eliminate the semen, feed them favorable nourishment during the day and also at the time of the evening meal. If they wish to sleep, they should indulge in coitus and then sleep. Just prior to awakening, they

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should cool the body and rub it with towels until the skin reddens. Then they should rub it to a moderate degree with oil, then move a little and eat some toast dipped in diluted wine and then go about their normal business.” (Regimen Sanitatis VI). Regel 15: Maimonides rät von allen Nahrungsmitteln ab, welche zu schlechten Körperflüssigkeiten führen. Das gilt auch für Personen, welche das Essen leicht und schnell verdauen. Diese tragen aber keinen so großen Schaden davon, weil die schlechten Säfte sich ohne Zweifel in ihren Arterien122 anhäufen, ohne dass sie es merken. Doch diese Säfte verfaulen bei dem geringsten Anlass, wobei sie ungünstiges Fieber erzeugen. Regel 16: Es passt, dass beim Nahrungstrakt die Durchgänge des Patienten von der Leber her offen liegend und rein sind. Das findet man nicht nur bei Kranken, sondern auch bei gesunden Personen. Regel 17: Eine gute Gesundheitspflege befördert ausgezeichnete Eigenschaften für die Seele und den Körper. Das trifft besonders für Leute zu, welche sich vom Tag ihrer Geburt an daran gehalten haben. Regel 18: Schlechte Gewohnheiten sind die Ursachen von Krankheiten. Regel 19: Es ist sehr wichtig, dass man die Esszeiten (wann und wie oft, z.B. einmal oder zweimal) je nach Konstitution festlegt. Es gibt Fälle, wo es Personen zuträglich ist, dreimal am Tag –aber nicht jedes Mal im Übermaß – zu essen. Dabei ist aber stets für regelmäßige Verdauung und Stuhlgang zu sorgen. Letzterer sollte möglichst lind sein. Regel 20: Jeder sollte aus Erfahrung lernen, welche Nahrungsmittel und Getränke und welche Aktivitäten ihm schaden und von welchen er sich enthalten sollte. Auch sollte jeder herausfinden, ob der Coitus schadet, und (falls ja), nach wie langer Zeit er nicht mehr schädlich ist. Wer so

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Galen hat eine eigene Abhandlung über “Nerves, Veins, and Arteries” verfasst. Eine gute Übersetzung dieses Werkes ins Englische besorgte Emilie Savage-Smith in ihrer Dissertation an der University of Wisconsin 1969.

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vorgeht und lebt, „rarely needs a physician and always remains healthy.”123 Regel 21: Wer glaubt, auf zusätzliche Nahrung nicht verzichten zu können, sollte am Morgen feuchte Nahrung konsumieren wie z.B. Gerstenbrei (barley gruel) und am Abend trockene Nahrung wie Brot und Fleisch. Zur trockenen Nahrung gehören: Gewürze, Teile von Früchten und Gemüse (growths) und Teile von Tieren. In der 22. Abhandlung der Aphorismen (S. 342ff) werden die tierischen Bestandteile, welche in der Regel als Medikamente und teilweise auch als Nahrung empfohlen werden, detailliert beschrieben und für unterschiedliche Krankheiten angewendet, so z.B. die Hornwurzel eines Ochsen und von Wild gegen Zahnweh, zu Asche verbrannte und mit Honig geknetete Mausköpfe zur Stimulation des Haarwachstums, die pulverisierte Lunge von Füchsen gegen spastischen Husten. In dieser 22. Abhandlung finden sich auch die Exkremente von verschiedenen Tieren, in verschiedenen Verarbeitungsformen, z.B. die Exkremente der Maus, des Hundes, des Wolfes, des Schafes, der Taube, des Huhns, gegen alle möglichen Arten von Krankheiten.124 Regel 22: Gut gekochter Gerstenbrei (gruel of barley) ist das beste Nahrungsmittel für die Produktion von gutem Speisebrei und für die Bewahrung der Gesundheit. Es nährt nicht weniger gut als gutes Brot. Regel 23: Regelmäßiges schlechtes Essen und Trinken ist besser für die Gesundheit als ein plötzlicher (permanenter) Wechsel von einer Gewohnheit zur andern, selbst zu einer besseren. Bei der Auswahl der Nahrungsmittel ist unbedingt der Konstitutionstyp (im Sinne der Viersäftelehre) zu beachten.

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The Medical Aphorisms of Moses Maimonides, in: Maimonides´ Medical Writings, hrsg. durch The Maimonides Research Institute (Fred Rosner), Vol. 3, Haifa 1989, General Rules of Health (17. Abhandlung), S. 271-280, hier S. 275. 124 The Medical Aphorisms of Moses Maimonides, Vol. 3, ebd., 22. Abhandlung, S. 342-355, hier S. 342-345.

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Regel 24: Maimonides kennt Leute mit schlechten Essgewohnheiten, die trotzdem gesund blieben durch die Aufnahme von Zwiebelessig und Zwiebelsaft. Diese sind auch erotisch stimulierend. Regel 25: Der „rock fish“ (Steinbutt?) wird schnell verdaut. Er schmeckt ausgezeichnet und ist gesund. Denn er erzeugt Blut „of an intermediate consistency, neither too thin and dilute nor too thick and heavy.”125 Regel 26: Niemand sollte mehr trinken als eine mäßige Menge Wein, denn der Genuss größerer Weinrationen bringt eine Person in Rage, “verdirbt die Gedanken seiner Psyche und untergräbt die Schärfe und Klarheit seines Intellekts.”126 Regel 27: Bei den Älteren besteht die Pflege der Gesundheit aus folgenden Komponenten: nach dem Schlaf am Morgen Massage mit Öl, dann folgt Gehen (walking, altdeutsch „Walzen“) oder langsames Reiten, anschließend Waschen in angenehm-warmem Wasser und dann Trinken von Wein, zum Schluss Konsum von wärmenden und befeuchtenden Nahrungsmitteln (Regimen Sanitatis V).127 Regel 28: Wein ist für junge Leute extrem schädigend, doch für die Älteren ist er „extrem hilfreich“. Empfehlenswert sind die Weine, die in besonderem Maße wärmen (im Sinne der Säftelehre der Antike) und ausgesprochen verdünnt (thin, dilute) sind. Das sind Weine, “welche rot oder gelblich aussehen, nach Hippokrates vinum rucham. (Regimen Sanitatis V). Diese gesundheitsfördernde Wirkung des Rotweines und Roséweines gehört heute zum festen Bestandteil der modernen Ernährungslehre und findet auch im OPC-System des französischen Parmakologen Masquelier eine besondere Würdigung. Er hat in langjähriger Forschung das Präparat Anthogenol, in welchem auch Extrakte von Traubenkernen enthalten sind, entwickelt. 125

General Rules of Health (The seventeenth Treatise), Vol. 4, a.a.O., S. 275. General Rules of Health (The seventeenth Treatise), Vol. 4, ebd., S. 276. Auf Englisch: „corrupts the thoughts of his psyche and undermines the sharpness and clarity of his intellect.” 127 Vgl. Fred Rosner: Geriatrics in the Medical Aphorisms of Moses Maimonides, in: Postgraduate Medicine 55, Nr. 1 (Jan. 1974), S. 229, 232. 126

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Regel 29: Schwache ältere Personen sollten dreimal täglich Nahrung zu sich nehmen, sie sollten sich „mit kleinen Mengen bei häufigen Pausen“ ernähren. Starke Ältere “können große Mahlzeiten mit weniger häufigen Pausen zu sich nehmen.” (Regimen Sanitatis V). Regel 30: Ältere sollten Röst- bzw. Toastbrot („bread which is toasted“) zu sich nehmen. Milch ist nicht gut für alle alten Leute, und zwar nur für diejenigen, die sie gut verdauen können und bei denen sich unter den Lenden (below the loins) kein blähendes Gas entwickelt. (Regimen Sanitatis V). Regel 31: Im Sommer sollten Ältere unbedingt frische reife Feigen, im Winter trockene Feigen zu sich nehmen. (Regimen Sanitatis V). Regel 32: Wässerige Absonderungen von weißer Galle häufen sich gewöhnlich an and werden mächtig in den Körpern älterer Personen. Es ist darum wichtig, dass bei ihnen regelmäßige Harnausscheidung (diuresis) täglich erfolgt, aber nicht mit Arzneimittelanwendung, sondern mit Petersilie, Honig und passendem [wohl rotem] Wein, also auf dem Wege der passenden Ernährung. Maimonides spricht im folgenden Satz den Arzt direkt an: „Soften their stools, in particular with oil, and give them a confection of prunes cooked in honey to enjoy, prior to meals.” (Regimen Sanitatis V). Regel 33: Vor dem eigentlichen Essen oder Trinken sollte man den Älteren etwas verabreichen, was ihren Stuhl weicher macht, also enthärtet, entweder süße Weine oder weich machendes Gemüse, das man mit Öl und Fischsuppe einnimmt. Nach dem Mahl sollten diese scharfe Speisen konsumieren, um den Magenmund zu stärken. (Regimen Sanitatis VI). Regel 34: Für Ältere mit schwacher Konstitution eignet sich Fleisch, das einen Tag und eine Nacht abgelagert ist, bevor man es kocht. Für kräftige junge Leute, Arbeiter und Schwerarbeiter eignet sich besser ganz frisches gebratenes und geröstetes nicht gekochtes Fleisch. (Commentarius de Alimentorum Virtutibus IV). Regel 35: Bei der Ernährung der Älteren ist zu beachten, dass das Alter in drei Stadien verläuft. Im ersten Stadium herrscht noch volle Aktivität,

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im zweiten Stadium können Einschränkungen auftreten, im dritten Stadium sollte die ältere Person so handeln, dass es seine Kraft aufrechterhalten kann. Hier kann der Körper des Älteren nicht mehr das aufnehmen, was wärmend und reizend ist. (Regimen Sanitatis V). Regel 36: Das Altern kann man nicht aufhalten, aber doch hinausschieben mit Diät, vielem Baden, angemessenem Schlaf, angenehmen (aber nicht anstrengenden) Spaziergängen und Vermeidung von allem, was austrocknet oder kühlt. (De Marasmo) Regel 37: Es gibt Personen, welche zu bestimmten Zeiten an Nasenbluten leiden. Andere leeren sich periodisch durch Erbrechen oder durch Durchfall (Diarrhea). Wieder andere leeren bzw. erleichtern sich durch Aderlass (Phlebotomie) oder durch Skarifizierung oder sie leeren ihre Körper mit abführenden Medikationen (Abführmitteln). Bei manchen dieser hier geschilderten Arten kann eine Unterbrechung dieser Vorgänge zu Krankheiten führen und evtl. einen Wechsel in der Behandlung nötig machen. (Peri Ethon VI) Regel 38: Galen rät älteren Leuten mit Verdauungsproblemen von der Einnahme von Aloe und von hiera picra ab. “If they suffer from constipation for one or two days, it suffices to soften their stool with (the roots of) a small bindweed plant [Winde, Ackerwinde] or with oil or with safflower hearts [Färberdistelherzen] together with barley gruel [Gerstenbrei] or with the hearts of dried figs and safflower in the amount of one shekel or two (shekels) of the resin of oak (trees).”128 Gemeint ist hier das Harz der quercus lusitanica, der portugiesischen Eiche, wohl Korkeiche. Das Harz dieser Eiche macht den Stuhl ohne Nebenwirkungen weicher und reinigt die Eingeweide, verflüssigt das, was in der Leber ist, die Milz (spleen), die Nieren, die Urin-Harnblase und die Lunge. (Regimen Sanitatis VI). Regel 39: Kopfweh, das sich von der Überempfindlichkeit des Nervs, der am Magenmund (nervus vagus) wächst, herleitet, sollte mit strenger 128

General Rules of Health (The seventeenth Treatise), Vol. 4, a.a.O., S. 278. Auf Englisch: „can be nourished with large meals at infrequent intervals.”

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Diät behandelt werden. Der betroffene Patient sollte seine Lebensweise anpassen an kühlende und feucht machende (moistening) Nahrungsmittel. Sollten bittere Flüssigkeiten in den Magen gelangen, sollte er diese eliminieren durch Erbrechen und Reinigung des Magens („dissolution of the abdomen“). Von Zeit zu Zeit sollte er auch Medikamente einnehmen wie Absynth oder Rosenöl (oder auch Nardenöl) oder ähnliche mild adstringierende Öle (Regimen Sanitatis VI). Regel 40: Verstopfungen lassen sich erfolgreich behandeln mit Granatäpfeln, getrockneten Feigen, Färberdistelherzen und anderen Heilmitteln, welche mit Färberdistel und Teufelszwirn (cuscuta) zubereitet sind. Auch sollte evtl. der Patient die (im Magen) schlecht gewordene und nicht ausgeschiedene Nahrung erbrechen. (Regimen Sanitatis VI) Regel 41: Galen empfiehlt zur Erhaltung der Gesundheit die Einnahme des Theriak, allerdings nicht im Sommer, nach der Verdauung und nachdem die Nahrung den Magen verlassen hat. Der Theriak wurde wie kaum eine andere Arznei in Antike und Mittelalter als ein universales Heilmittel betrachtet und gegen vielerlei Krankheiten angewendet. Quacksalber verkauften es in großen Mengen während der Pestzeit. Maimonides empfiehlt die Einnahme des Theriak mit Wasser. Junge Leute und Personen mit warmer Konstitution sollten jedoch den Theriak meiden. Ältere Personen sollten ihn nicht mit Wasser, sondern mit Wein vermischt einnehmen (De Theriake Pros Pisonem). Der Theriak findet sich auch erwähnt im zweiten Kapitel des „Treatise on the Regimen of Health“.129 Maimonides empfiehlt dort ohne nähere Begründung die Einnahme des Theriak jeden zehnten Tag.130 Maimonides nennt verschiedene Arten des Theriak, z.B. den „Großen Theriak“, den „Schlangentheriak“ oder das „Electuarium des Mithridates“. Maimonides setzt den Theriak nicht nur beim Asthma und beim Erbrechen, sondern auch 129

Vgl. Jacob I. Dienstag: Bibliography of Maimonides´ Regimen of Health, in: Moses Maimonides´ Three Treatises on Health, translated and annotated by Fred Rosner, Vol. 4, Haifa 1990, S. 98-116. 130 Moses Maimonides´ three Treatises on Health, in: Maimonides´ Medical Writings, Vol. 4, ebd., S. 45, 50 und 51.

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bei Vergiftungen ein.131 Ein sachkundiger Arzt teilte Maimonides mit, dass er einst bei einer Pest in Italien den Kranken empfohlen habe, Theriak einzunehmen. Er begründete diese Maßnahme damit, dass „keine andere Medizin gegen diese Krankheit gewirkt hat.“ Leute, welche den Theriak nicht regelmäßig eingenommen hätten, seien gestorben. Der Theriak, der übrigens in Italien in flüssiger Form verabreicht wurde, erhielt auch die, welche ihn vorbeugend (vor dem Einsetzen der Krankheit) zu sich nahmen, am Leben. Maimonides bietet dafür eine interessante Begründung: “Das überrascht nicht, weil diese Medikation ein Gegengift ist gegen alle Arten von Giften. Im Allgemeinen ist diese Medikation bei allen Krankheiten, wo andere Arzneimittel ihre Wirkung verlieren, noch von außergewöhnlichem Wert.“132 Leider teilt uns Maimonides nicht mit, um welche Art von Theriak es sich hier handelte und aus welchen Bestandteilen er sich zusammensetzte. Dieser italienische Heilungserfolg mag durchaus nicht aus der Luft gegriffen sein, doch muss man wie auch bei heutigen über das Internet verkauften Medikamenten damit rechnen, dass man mit dem Theriak und auch anderen Mitteln nicht zuletzt in Pestzeiten Missbrauch trieb und diese Arznei damit immer mehr in Verruf kam, wie die folgende auf Regensburger Quellen fußende Beschreibung von Manfred Dinnes zeigt: „Theriak – aus dem griechischen Wort therion (Wildes Tier) abgeleitet, galt als wertvolles Allheilmittel bei allen möglichen Gebrechen. Selbst als Viagra des Mittelalters wurde es eingenommen und bereits lange zuvor galt es bei dem römischen Kaiser Marc Aurel, bekanntlich dem Gründer von Regensburg, als tägliche Ration zum Selbstverständnis. Zur Zeit der Pest blühte der Handel dieses obskuren Mittels, das aus bis zu 131

Treatise on Poisons, in: Maimonides´ Medical Writings (Fred Rosner), Haifa 1988, Vol. 1, S. 35 und 40. 132 Moses Maimonides´ Medical Aphorisms (Fred Rosner), Haifa 1989, Vol. 3, Twenty-First Treatise (Pharmacology), Abs. 52, S. 322. Auf Englisch: „This is not surprising because this medication is an antidote against all (types of animal) poisons. In general, in any illnesses where other medicines lose their effectiveness this medication is still of exceptional value.”

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dreihundert Einzelzutaten bestehen konnte. Der Effekt dürfte ein ähnlicher wie bei Tamiflu unserer Tage gewesen sein, aber der Glaube versetzt Berge und in diesem Falle Berge von Geld aus den Taschen der Einen in die Taschen der Anderen. Partizipieren wollte jeder und wenn’s ums Geld geht, dann war man schnell bei der Hand und die Konkurrenz verschrien und der Hexerei bezichtigt. In Regensburg braute man den Theriak im Regensburger Kloster St. Emmeram.“133 Diese negative Charakterisierung des Theriak im spätmittelalterlichen Regensburg spricht jedoch nicht dagegen, dass in Regionen, in denen es eine strenge Lebensmittel- und Gesundheitspolizei gab, ein korrekt hergestellter Theriak nicht nur gegen die Pest, sondern auch gegen andere Krankheiten erfolgreich zum Einsatz kam. Im Falle von Maimonides kann man davon ausgehen, dass er den Theriak selbst herstellte oder aus einer zuverlässigen Quelle bezog. Er hätte es sich nicht leisten können, seinem Wezir und seiner wohlhabenden Klientel ein wirkungsloses oder schädliches Präparat zu verabreichen. Wenn in den Aphorismen des Maimonides die allgemeinen Gesundheitsin enger Verbindung mit den Lebensregeln mehr in einer für den medizinischen Laien verständlichen Form präsentiert werden, so arbeitete Maimonides in seiner Abhandlung über die „Laws of Human Temperaments“134 die allgemeinen Gesundheitsregeln vor allem in Kap. 3 „Rules of Normal Daily Living“135, Kap 4. „Rules of Hygiene and Health“136 und Kap. 5 „Proper Daily Conduct“ in einer anspruchsvolleren wissenschaftlichen Terminologie und Argumentation heraus.

133

Text aus dem Theaterstück „Pesthauch über der Stadt“ von Prof. Manfred Dinnes, Quelle: Website http://www.theatercompanie.eu unter „Pesthauch“. Mit Erstaunen stellte ich fest, dass in dem hier bereits zitierten Standardwerk von Sigerist der Theriak im Register keine Erwähnung findet. 134 Maimonides „Laws of Human Temperaments“, in: Moses Maimonides´ three Treatises on Health, in: Maimonides´ Medical Writings, hrsg. durch “The Maimonides Research Institute”, Vol. 4, Haifa 1990, S. 175-245. 135 Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Three, ebd., S. 190-192. 136 Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Four, ebd., S. 192-200.

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Maimonides´ Lebens- und Gesundheitsregeln im Rahmen seiner „Gesetze der menschlichen Temperamente“ Regeln für das Leben im Alltag Maimonides leitet die Regeln für den täglichen Konsum aus der Thora (Bücher Moses) und dem Talmud ab und warnt eindringlich davor, z.B. beim Fasten, in Extreme zu verfallen. Die Verbote der Thora und des Talmud reichen aus, man müsse – so Maimonides sinngemäß – nicht talmudischer leben, als es die Thora gebietet. Man könne den Vorschriften der heiligen Schriften also auch genügen, ohne dass man permanent fastet, sich kasteit und geißelt. Der fromme Mensch, also nicht nur der Jude, darf die Freuden des Lebens genießen, er muss nicht einmal auf den Genuss des Weines und des Fleisches verzichten, wenn es seine humorale Konstitution erlaubt. Der Konsum nach Maimonides reicht jedoch über den rein materiellen Bereich weit hinaus, er hat eine psychisch-religiöse Dimension. Denn alle Taten des Menschen, auch im Bereich der materiellen Bedürfnisbefriedigung, richten sich auf den „Lord, blessed He be, alone.“ Diese Orientierung des frommen Menschen an Gottes Geboten geht also weit über das engere Konsumverhalten hinaus, sie bezieht sich auf die gesamte Lebensführung, selbst „sein Niedersitzen, Aufstehen und seine Unterhaltung sollten darauf gerichtet sein, dieses Ziel zu erreichen.“137 Maimonides zeigt in Abs. 2 von Kap. 3 „Rules of Normal Daily Living“ konkrete Wege auf, wie der Mensch seinen Konsum und sein tägliches Verhalten in religiöser Sicht auszurichten hat. Bei allen Tätigkeiten, auch im Geschäftsleben („When he is engaged in business …“), sollte sich jeder Mensch – das gilt auch für moderne Bankmanager - immer bewusst sein, dass „er nicht allein danach streben sollte, Wohlstand zu akkumulieren.“ Wohlstand ist für Maimonides nämlich kein Selbstzweck, Wirtschaften dient dazu, “die Dinge zu erhalten, welche der 137

Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Three, ebd., S. 190. Auf Englisch: „his sitting down and his getting up and his conversation should all be directed to the attainment of this goal.“

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Körper braucht: Nahrung, Trinken, ein Wohnhaus und Heirat mit einer Frau.” Auch Essen, Trinken und cohabitatio (Geschlechtsverkehr) sind kein Selbstzweck. Der mit Gott im Einklang lebende Mensch hat stets im Auge, dass diese schönen Dinge des Lebens nicht absolut zu setzen sind, sondern dazu dienen, „nur die Gesundheit des Körpers und seiner Glieder aufrechtzuerhalten.“ In diesem Sinne isst ein solcher Mensch nur Speisen, “die für den Körper segensreich sind, ob sie nun bitter sind oder süß.” Was der einzelne Mensch ohne Schaden nun konsumieren darf, das hängt auch von seinem humoralen Konstitutionstyp ab. Maimonides erläutert das mit Berufung auf Salomon (Prov. 25,27) an einem Beispiel. Ich zitiere: „Wer ein heißes Fleisch (Konstitution)138 hat, sollte nicht Fleisch oder Honig essen und auch keinen Wein trinken. Auch die cohabitatio sollte in erster Linie der Aufrechterhaltung der Gesundheit seines Körpers dienen und auch dem Zweck, „seine Rasse zu erhalten“139 Auch hier kann wie beim Essen und Trinken Maßlosigkeit zu Krankheiten und zur Verkürzung des Lebens führen. Hier soll nicht verschwiegen werden, dass im Judentum sowohl die Maßlosigkeit im Konsumverhalten als auch die Vernachlässigung der eigenen Gesundheit als Sünden betrachtet werden. Die tägliche Sorge für das körperliche Wohlbefinden gilt nach wie vor als „religiöses Gebot“. Der babylonische Talmud verweist an mehreren Stellen auf diese religiöse Dimension des menschlichen Verhaltens hin. Wer also in sinnvollem Maße sich um die Aufrechterhaltung seiner körperlichen Gesundheit und Vitalität kümmert, mit der Absicht, „dass seine Seele aufrecht dasteht“140, der dient auch fortwährend Gott. In Abs. 3 von Kap. 3 vertieft und veranschaulicht Maimonides seine Ausführungen von Abs. 1 und 2 noch einmal. Er hält noch einmal aus138

Es kann sich hier sowohl um Menschen mit heißen Körperflüssigkeiten als auch um Fieberkranke handeln. 139 Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Three, a.a.O., Abs. 2, S. 191. 140 Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Bibliography of Maimonides´ Hygiene Principles by Jacob I. Dienstag, S. 223-242, hier S. 222.

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drücklich fest, dass es nicht genügt, wenn einer sich an die Gesundheitsregeln hält, “aber sein Herz ausschließlich so ausrichtet, dass sein gesamter Körper und seine Glieder gesund seien und dass er Kinder habe, die sein Werk ausführen und sich für sein Wohl plagen – das ist kein guter Pfad, dem man folgen sollte.“141 Seine Sorge für die Gesundheit des Körpers sollte dem Ziel untergeordnet sein, „dass seine Seele sich aufrichtet den Herrn zu kennen.“142 Das oberste Ziel des gesundheitsbewusst lebenden Menschen ist also die seelische Harmonie mit Gott. Wer so denkt, für den ist nicht mehr die Befriedigung materieller Bedürfnisse wichtig, sondern das Streben nach Weisheit143, welche ein Abglanz Gottes ist. Wer die Weisheit sucht, sollte sein Herz darauf richten, „einen Sohn zu haben, welcher ein Weiser und großer Mann in Israel werden könnte.“ Wer so wandelt, wird ohne Unterlass Gott anbeten, “sogar in der Zeit, in welcher er sein Geschäft betreibt und selbst dann, wenn er sich sexuell betätigt.”144 Der Dienst an der Gesundheit ist für den Weisen somit auch ein Dienst für Gott und „um des Himmels willen“. Hygiene- und Gesundheitsregeln Für Maimonides muss der Mensch, um gesund zu bleiben, bestimmte Gesundheitsregeln beachten und – im Falle von Krankheiten – sich an die Methoden halten, welche in der gesamten antiken und mittelalterlichen Medizin kanonisiert sind. Dazu gehört neben der richtigen Ernährung, der geistigen Haltung, der körperlichen Bewegung in frischer Luft und der Einnahme von Medikamenten auch die Pflege der körperlichen 141

Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Three, a.a.O., Abs. 3, S. 191 unten. Auf Englisch: „but sets his heart solely that his entire body and limbs should be healthy and that he have children who perform his work and toil for his benefit – this is not a good path to follow.” 142 Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Three, ebd., Abs. 3, S. 191f. Auf Englisch: “that his soul be upright to know the Lord.” 143 Vgl. Joshua O. Leibowitz: Verschiedene Arten der Weisheit II: Maimonides in der Geschichte der Medizin, in: Ariel, Nr. 41, (1976) S. 37-52. 144 Auf Englisch: „even at the time that he conducts his business and even when he is engaged in sexual intercourse.“

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Hygiene.145 In bestimmten Fällen kann die Gesundheit nur wieder hergestellt werden mit einer strengen Diät146, vor allem wenn der Kranke Probleme mit Verdauung und Stuhlgang hat. Sie muss allerdings in strenger Korrelation stehen mit dem Maßhalten in allen Lebensbereichen, vor allem in der Sexualität und im Konsum. Man kann nach Maimonides Gott nicht wirklich dienen, wenn man unmäßig ist im Konsum. Das bedeutet konkret, dass einer nur essen sollte, wenn er hungrig, und nur trinken sollte, wenn er durstig ist. Dazu gehört auch, dass nicht einer aus irgendwelchen Gründen seinen Stuhlgang hinausschiebt. Natürlich sollte man auch keine Nahrung zu sich nehmen, solange der Magen übersättigt ist. Vielleicht hatte Maimoindes bei dieser Aussage die Hemmungslosigkeit der Reichen und Neureichen bei den römischen Gastmählern im Auge. Ein mäßiger Esser hört nach Maimonides mit dem Essen auf, bevor die endgültige Sättigung oder Übersättigung eintritt. Er empfiehlt, dass man nur drei Viertel des Sättigungsgrades anstreben solle. Während des Essens sollte man nur wenig Wasser mit Wein vermischt trinken. Sobald die Nahrung in den Gedärmen anfängt verdaut zu werden, kann man so viel Wasser trinken, als man für nötig hält.147 Doch sollte man auch nach der Verdauung des Essens Wasser nicht im Übermaß zu sich nehmen. Vor dem Essen sollte man unbedingt spazieren gehen, womit der Körper aufgewärmt wird, man 145

Vgl. dazu Max Meyerhof : Zwei hygienisch-diaetetische Abhandlungen des Maimonides, in: Morgen 4 (1928) S. 620-624, Louis Joseph Bragman: Maimonides on Physical Hygiene, in: Annals of Medical History 7 (1925) S. 140-143, Fred Rosner: The Hygienic Principles of Moses Maimonides, in: Journal of American Medical Association 194, Nr. 13 (Dez. 1965) S. 1352-1354, Hygiène Israelite. Principes de la Santé Physique et Morale de l´Homme par Arab Mouchi Ben Maimoun (Maimonide), trad. française par M. Carcousse et une introduction par M. Honel, Algier 1887, S. 2036, Samuel Bieder : Sur un Traité d´Hygiène H. Deoth, Übers., Paris 1962 und Hermann Kroner: Die Elemente der Hygiene des Maimonides in seiner Hilchot Deot, in: Ose-Rundschau 1, Nr. 2 (Aug. 1926) S. 10-15. 146 Louis Gershenfeld: The Medical Works of Maimonides and his Treatise on Personal Hygiene and Dietetics, in: American Journal of Pharmacy 107 (Jan. 1935) S. 14-28. 147 Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Four, a.a.O., Abs. 1 und 2, S. 192f. Auf Englisch: „one may drink as much water as one finds necessary.“

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sollte eine körperliche Arbeit durchführen oder auch sich durch eine andere Tätigkeit müde arbeiten. Damit erreicht man, dass die Seele zur Ruhe kommt, dann ist der Körper auch aufnahmebereit für Nahrung. Während des Essens sollte man immer auf seinem angestammten Platz sitzen oder sich nach links hinlegen. Solange das Essen in den Därmen nicht voll verdaut ist, sollte man nicht gehen, reiten oder sonst den Körper bewegen. Eine permanente Verletzung dieser eindringlichen Regel kann zu schwerer Krankheit führen.148 Den meisten Menschen sollten acht Stunden Schlaf reichen. Aufstehen sollte man vor Sonnenaufgang.149 Man sollte auf keinen Fall auf seinem Gesicht oder auf dem Rücken, sondern auf der Seite schlafen, am besten „bei Beginn der Nacht auf der linken, am Ende der Nacht auf der rechten Seite.“150 Auf keinen Fall sollte man kurz nach dem Mahl sich schlafen legen, sondern etwa drei oder vier Stunden warten. Während des Tages sollte man überhaupt nicht schlafen.151 Es gibt Nahrungsmittel, welche bekömmlich und auch der Gesundheit förderlich sind. Dazu gehören z.B. die ´Magenreiniger´ Weintrauben, Feigen, Maulbeeren, Erbsen, Melonen, einige Arten von Gurken und Kürbis. Doch sollte man sie vor dem eigentlichen Mahl konsumieren und mit dem Essen warten, bis sie im Magen verdaut sind. Nahrungsmittel, welche die Därme binden und verstopfen, wie z.B. Granatäpfel, Quitten, Äpfel und kleine Birnen, sollte man dagegen unmittelbar nach dem Mahl, aber nicht im Übermaß zu sich nehmen.152 Auch beim Fleisch gibt es Vorschriften, die man beachten muss. Grundsätzlich kann man zwar Geflügel- und Rindfleisch gemeinsam speisen, doch nicht durcheinander, sondern zuerst das Geflügel und dann das Rindfleisch. Das gilt auch für andere Speisen, z.B. Eier und Geflügel. 148

Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Four, ebd., Abs. 3, S. 193. Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Four, ebd., Abs. 4, S. 193. 150 Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Four, ebd., Abs. 5, S. 193. 151 Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Four, ebd., Abs. 5, S. 193f. 152 Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Four, ebd., Abs. 6, S. 194. 149

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Auch hier isst man zuerst die Eier und dann das Geflügelfleisch. Fleisch von kleinen Rindern sollte man vor demjenigen von großen Rindern zu sich nehmen. Leichtere sollte also immer vor der schwereren Nahrung kommen.153 In den warmen Monaten (Sommer) sind kühlende Nahrungsmittel mit Essig zu bevorzugen. Gewürzt werden sollte nicht im Übermaß. Für die Regenmonate (Winter) eignen sich besser wärmende Speisen mit reicher Würzung. Auch die Einnahme von ein wenig Senf und Teufelsdreck bzw. Asant (Asa foetida) empfiehlt Maimonides.154 Asa foetida wird noch heute in der Homöopathie gegen Gastritis, Blähungen und Reizmagen verschrieben. Es gibt Nahrungsmittel, welche man auf gar keinen Fall zu sich nehmen sollte wie z.B. gesalzenen alten Fisch, alten gesalzenen Käse, Trüffel, Pilze, altes gesalzenes Fleisch [wohl Geräuchertes], Weinmost und ein gekochtes Gericht, das man so lange aufbewahrt hat, bis es einen üblen Geruch angenommen hat.“ Nahrungsmittel, die extrem bitter sind oder einen schlechten Geruch ausstrahlen, sollte man unbedingt meiden. Sie wirken auf den Körper wie Gift. Es gibt auch Nahrungsmittel, welche nicht so schädlich sind, aber doch nur in geringen Mengen und in größeren zeitlichen Intervallen genossen werden sollten, z.B. Großfisch, Käse, und Milch, welche mehr als 24 Stunden nach dem Melken aufbewahrt wurde. Auch das Fleisch von großen Ochsen und großen Ziegenböcken, Bohnen, Linsen, Erbsen [Erbsen sind oben Kap. 4, Abs. 6 positiv bewertet], Gerstenbrot, angesäuertes Brot, Kohl, Lauch, Zwiebeln [auch die Zwiebeln hat Maimonides für eine andere Krankheit an anderer Stelle positiver bewertet], Knoblauch, Senf und Radieschen sind für ihn „detrimental foods.“ Man sollte von Ihnen nur kleine Mengen konsumie-

153 154

Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Four, ebd., Abs. 7, S. 194. Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Four, ebd., Abs. 8, S. 194.

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ren und das auch nur in der kalten Jahreszeit. Bohnen und Linsen sollte man überhaupt nicht zu sich nehmen. Gurken nur im Sommer.155 Es gibt noch weitere Lebensmittel, die schädlich sind, aber nicht nur die eben oben erwähnten, so z.B. Wassergeflügel, kleine junge Tauben, Datteln [auch für Asthmatiker sind frische Datteln nach M. nicht geeignet], Brot in Öl geröstet [in den ´Aphorismen´ Kap. 17 Nr. 30, S. 276 empfiehlt Maimonides allerdings geröstetes Brot für ältere Leute], oder Brot, das mit Öl geknetet wurde. Nicht empfehlenswert ist auch feines (kleiefreies) Mehl, das völlig gesiebt wurde, „so das keine Spur von Kleie mehr enthalten bleibt.“ Die moderne Ernährungslehre rät immer mehr von der Verwendung der weitgehend kleiefreien Mehltype 405 ab.156 Auch Bratensoße und Pökel (Salzlauge) von gesalzenem Fisch sind sehr schädlich. Man sollte also die hier genannten Nahrungsmittel nur in kleineren Mengen konsumieren.157 Von Früchten von Bäumen soll man sich fernhalten und sie nicht im Übermaß konsumieren, das gilt auch für Trockenfrüchte. Besonders schädlich sind unreife Früchte. Auch das Johannisbrot ist mit Vorsicht zu genießen. Alle sauren Früchte sind schädlich, auch hier gilt, dass man nur im Sommer und in einem warmen Klima nur kleine Mengen zu sich nimmt. Feigen, Weintrauben und Mandeln jedoch sind gesundheitsfördernd, sowohl frisch als getrocknet. Doch auch diese Früchte sollte man nicht am laufenden Bande speisen.158

155

Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Four, ebd., Abs. 9, S. 194f. Pythagoras verbot seinen Schülern den Genuss von Bohnen und anderen blähenden Lebensmitteln. 156 Vgl. dazu M. O. Bruker (Dr. med.): Unsere Nahrung – unser Schicksal, 38. Auflage, Lahnstein 2004, vor allem S. 157-161, S. 173f, S. 189-197, S. 200-207. 157 Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Vol. 4, Chapter Four, a.a.O., Abs. 10, S. 195. 158 Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Four, ebd., Abs. 11, S. 195f.

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Honig und Wein sind nichts für Kinder, doch heilsam für die Älteren, vor allem in der Regenperiode. Im Sommer sollte man nur zwei Drittel des Winterverbrauchs zu sich nehmen.159 Die Därme sollten immer entspannt sein. Ein nicht oder nur schwer funktionierender Stuhlgang führt zu Krankheiten. Bei Verstopfungen von Knaben empfiehlt Maimonides salzige Früchte, „die mit Olivenöl gekocht und gewürzt sind“. Fischlake und Salz ohne Brot immer am Morgen. Der Patient sollte evtl. auch die Flüssigkeit von gekochtem Spinat oder Kohl in Olivenöl, Fischlake und Salz trinken. Älteren Leuten, die Stuhlgangprobleme haben, rät er dazu, mit warmem Wasser vermischten Honig am Morgen zu sich zu nehmen. Nach einer Wartezeit von vier Stunden kann er dann zum Mahl übergehen. Diese Kur sollte er mindestens drei oder vier Tage lang durchführen.160 Bei intensiver körperlicher Arbeit entfallen Krankheiten auch bei nicht so gesunder Ernährung, wenn der Arbeitende einen guten Stuhlgang hat.161 Menschen, die eine sitzende Tätigkeit haben, sich körperlich kaum bewegen, dann jene, die ihren Stuhlgang hinausschieben oder deren Gedärme verstopft sind, werden auch bei gesunder Ernährung eher krank und verlieren ihre Vitalität. „Most foods that man is afflicted with are due to bad foods or because he fills his abdomen and eats excessively“.162 Ein wichtiger Aspekt der Hygiene in Antike und Mittelalter war auch das regelmäßige Baden. Öffentliche Bäder – meist mit Hypokaustenheizung – gab es in der Antike nicht nur in Großstädten wie Rom und Alexandria, sondern sogar in kleineren römischen Siedlungen sogar an den Grenzen des Reiches. Diese antike Badekultur übernahmen die Muslime und brachten sie auch nach Iberien. Der in Cordova aufgewachsene 159

Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Four, ebd., Abs. 12, S. 196. Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Four, ebd., Abs. 13, S. 196. 161 Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Four, ebd., Abs. 14, S. 196. 162 Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Four, ebd., Abs. 15, S. 196f. 160

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Maimonides weiß wohl darüber Bescheid, spricht jedoch darüber nicht in seinem medizinischen Werk. In seiner Darstellung des Badewesens will er nicht geschichtliche Fakten überliefern, sondern Menschen helfen, ihre Gesundheit zu erhalten und wiederherzustellen. Eine wichtige Quelle der Gesundheit ist für ihn neben der optimalen Ernährung, der körperlichen und seelischen Bewegung – möglichst in frischer Luft -, der Einnahme von Medikamenten, einem maßvollen Sexualleben und nicht zuletzt wahrer Frömmigkeit die Beachtung von Hygieneregeln. Auch hier beruft sich Maimonides nicht nur auf die antiken Vorbilder wie Hippokrates und Galen, sondern auch auf die heiligen Bücher der Juden wie Genesis, Talmud und Mischna. Maimonides hat zudem mehr indirekt als direkt die Ergebnisse der altägyptischen Medizin, die durch die arabische Medizin auch in Iberien übernommen wurden, in seinem Werk verwertet, ohne dass er dafür immer die Quellen nennt. Eine tragende Säule der Hygiene von Maimonides stellt das Badewesen dar. Maimonides rät dazu, einmal in der Woche zu baden. Der Gang ins Badhaus sollte aber nicht unmittelbar nach dem Essen oder mit hungrigem Magen erfolgen, sondern erst dann, „wenn die Nahrung beginnt verdaut zu werden.“ Die Ganzkörperwaschung erfolge zuerst mit heißem Wasser, ohne dass man sich verbrüht. Danach sollte mit warmem, mit lauwarmem und abschließend mit kaltem Wasser gebadet werden. Über den Kopf sollte man kein kaltes oder lauwarmes Wasser gießen. In der kalten regnerischen Jahreszeit sollte man nicht in kaltem Wasser baden, die eben angegebene 3. Stufe des Badens entfällt hier. Maimonides warnt eindringlich vor einem zu langen Aufenthalt im Bad. Man solle das Bad verlassen, bevor man zu schwitzen beginnt und der Körper weich (verweichlicht) wird. Zur allgemeinen Hygiene gehört auch, dass der gesundheitsbewusste Mensch sich beim Betreten und Verlassen des Bades, vor und nach einem Mahl sowie vor und nach dem Schlafengehen prüft, „lest excretion of wastes be necessary.“ Ein ordentlicher Mensch sollte also immer auf die „excretion of wastes“ achten.163 163

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Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Four, ebd., Abs. 16, S. 197.

Nach dem Verlassen des Bades zieht der Gebadete wieder seine Kleider an und bedeckt seinen Kopf in der äußeren Kammer (outer chamber), um sich keine Erkältung zuzuziehen. Essen sollte man erst nach einer angemessenen Ruhepause und der Entwärmung des Körpers. Ein kurzer Schlaf nach dem Bad ist „ausgezeichnet“. Kaltes Wasser sollte man weder im Bad noch beim Verlassen des Bades (und wohl einige Zeit danach) trinken. Wer unbedingt beim Verlassen des Bades etwas trinken will, sollte Wasser mit Wein oder Honig mischen und trinken. Maimonides hat nichts dagegen, dass sich der Gebadete nach dem Waschen im Bad mit Öl salbt.164 Man darf davon ausgehen, dass Maimonides auch mit der Herstellung und Anwendung von Salben vertraut war. Vermutlich ist hier mit dem Öl nach dem Bad nicht unbedingt Olivenöl gemeint, sondern, wie der Ausdruck „salbt“ andeutet, gab es wie auch heute spezielle Salben, z.B. aus Nardenöl, für den Badebetrieb.165 Ein fester Bestand der europäischen Medizin war – vor dem Einsetzen der modernen klassischen Medizin - bis weit in die Neuzeit hinein das Aderlassen. Dieses wurde oft im Übermaß von den Badern und „Chirurgen“ praktiziert und schadete manchen Patienten mehr, als es nützte. Maimonides gehört zu den Ärzten, welche Übertreibungen auch in der Medizin ablehnend gegenüberstehen. Er vertritt darum auch beim Aderlass die Auffassung, dass sich ein Patient nicht an einen „konstanten Aderlass“ gewöhnen solle. Er empfiehlt darum den Aderlass nur für den Fall eines „außerordentlichen Bedürfnisses“, also wenn keine andere Methode Abhilfe verspricht. Optimale Zeiten für Aderlässe sind nach Maimonides die Monate Nissan (in etwa April) und Tishri (in etwa Oktober, also im Herbst). Bei Personen über 50 sollte der Aderlass ganz wegfallen. Am Tage des Aderlasses sollte sich der Patient Schonung 164

Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Four, ebd., Abs. 17, S. 197f. 165 Vgl. Dieter Vogl / Nicolas Benzin: Die Entdeckung der Urmatrix. Die genetische Rekonstruktion menschlicher Organe, Bd. II, a.a.O., Kap. „Kosmetik und Medizin“, S. 255-257, Kap. „Die Verwendung von Duftstoffen“, S. 258f, Kap. „Die Herstellung von Düften und Heilsalben“, S. 260-262.

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auferlegen, also z.B. kein Bad machen und keine Reise beginnen. Auch sollte er an einem solchen Tag weniger essen und trinken als sonst und sich vor körperlicher Bewegung hüten. Ruhe ist hier das oberste Gebot!166 Maimonides betrachtet auch die Sexualität und den Samenerguss des Mannes als Ausdruck der physischen Vitalität und sogar als „the light of the eyes.“ Doch er vertritt auch hier, ohne sich über die Maßlosigkeit der sexuellen Betätigung seiner reichen Klientel in den Harems zu äußern, den goldenen Mittelweg. Exzessiver Samenerguss führt zu körperlichem Verschleiß und – auf Dauer praktiziert – zu frühzeitigem Altern und damit zur Verkürzung des Lebens. Sexuelle Übertreibungen bringen nicht nur gesundheitliche Schädigung mit sich, z.B. Schwächung der Augen, sondern führen auch zu Mundgeruch und Schweißgeruch der Achselhöhlen. Im Folgenden malt Maimonides noch weitere Folgeerscheinungen sexueller Exzesse aus, z.B. Haarausfall nicht nur am Kopf, starkes Haarwachstum an Bart, Achseln und Beinen. Selbst die Zähne können ausfallen, wohl primär die Folge von Kalziumverlust. Ein vernünftiger gesundheitsbewusster Mann sollte sich aber nicht nur vor sexuellem Übermaß hüten, sondern auch auf die cohabitatio verzichten, wenn er körperlich angeschlagen oder gar krank ist. Krankheit führe zudem eher zu unfreiwilligen Erektionen. Der coitus kann jedoch notwendig sein für einen Mann, der ein Gefühl der Schwere von den Lenden abwärts spürt, „as if the testicular cords were being tightened“ (als ob die Hodenstränge gespannt wären), und dem sein Fleisch warm vorkommt. Hier ist also Sex („sexual intercourse“) gesundheitlich geboten.167 Maimonides wiederholt hier seine bereits früher gemachten Gründe für die Einschränkung des Geschlechtsverkehrs: Kein Sex, wenn jemand (mit Nahrung gesättigt) oder hungrig ist! Der richtige Zeitpunkt dafür ist, wenn die Nahrung bereits in den Därmen verdaut ist. Wer Sex will, sollte sich vor 166

Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Four, Vol. 4, a.a.O., Abs. 18, S. 198. 167 Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Four, ebd., Abs. 19, S. 198f.

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und nach dem coitus prüfen, ob eine Ausscheidung (Urin oder faeces) nötig ist. Trotz seiner grundsätzlich positiven Einstellung zu einem sinnvollen Geschlechtsverkehr rät Maimonides zusammenfassend von seiner Ausübung zu bestimmten Zeiten, Orten und Gelegenheiten ab: “Man sollte keinen Geschlechtsverkehr im Stehen oder Sitzen haben, auch nicht in einem Badehaus oder an dem Tag, wenn man ein Bad nimmt, auch nicht am Tag des Aderlasses und dem Tag, wenn man zu einer Reise aufbricht oder von einer Reise zurückkehrt und auch nicht an den vorausgehenden oder folgenden Tagen von solchen Ereignissen.“168 Natürlich gehört zu diesen Einschränkungen des Geschlechtsverkehrs auch die weibliche Periode, in welcher die jüdische Frau unrein ist und sich während der Menstruation169 häufig in der Mikwa, dem rituellen Reinigungsbad für jüdische Frauen, aufhält.170 Am Schlusse dieses 4. Kapitels (Nr. 20) garantiert Maimonides, um seine Thesen zur richtigen Lebensführung zu bekräftigen, dass jeder, der sich an die von ihm gemachten Anweisungen hält, „alle Tage seines Lebens“ bis ins hohe Alter frei bleibt von Krankheiten. Er fasst seine in den folgenden Zeilen noch weiter gesteigerte Garantie, allerdings mit einigen sinnvollen Einschränkungen, in die für heutige Verhältnisse anmaßend klingenden Worte:

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Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Four, ebd., Abs. 19, S. 199. Auf Englisch: „One should not have sexual intercourse standing or sitting and not in a bathhouse nor on the day when he takes a bath nor on the day of phlebotomy nor on the day when setting out on a journey or returning from a journey nor on the previous or following days of such occurrences.” 169 Zur weiblichen Sexualität im alten Ägypten vgl. Dieter Vogl / Nicolas Benzin: Die Entdeckung der Urmatrix, Bd. II, a.a.O., die Kapitel „Empfängnisverhütung“ (S. 239), „Menstruation im alten Ägypten“ (S. 243f), „Frauengesundheit“ (S. 245-247), „Schwangerschaft“ (S. 248), „Menstruationsblut als Rezeptbestandteil“ (S. 249f) und „Monatshygiene“ (S. 251f). Zu beachten ist dabei, dass Maimonides als Leibarzt des ägyptischen Wezirs von Sultan Saladin in Kairo wirkte und mit der altägyptischen Medizin wie kaum ein anderer vertraut war. 170 Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Four, a.a.O., Abs. 19, S. 199.

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„Er wird keinen Arzt brauchen, sein Körper wird vollkommen sein und das ganze Leben gesund bleiben, es sei denn, dass sein Körper von Beginn seiner Erzeugung an Mängel aufwies, oder wenn er sich nicht vom Beginn seiner Jugend an eine der schlechten Gewohnheiten gewöhnt hat oder wenn nicht Pestseuche oder Dürreplage in der Welt auftaucht.“171 Maimonides ist sich bewusst, dass der Tod, den viele Menschen bei Epidemien, vor allem bei den zahlreichen Pestzügen in Europa, erleiden mussten, nicht die Folge einer persönlichen Sündenschuld ist. Er vertritt also an dieser Stelle nicht die Auffassung, die mehrfach im Alten Testament geäußert wird, welche Epidemien und andere Katastrophen als Strafe Gottes für die Sünden des ungehorsamen Gottesvolkes deutet. Die hier genannten Anweisungen zur Gesundheit und Hygiene gelten nach Maimonides nur für gesunde Personen. Je nach der Art der Krankheit gelten andere Regeln für Kranke.172 In Orten, wo es keinen Arzt gibt, sollten sich jedoch auch die Kranken sicherheitshalber an diese Regeln halten.173 Die ärztliche Versorgung war für Maimonides ein hohes Gut. Denn er empfiehlt selbst den Schülern von Weisen (Gelehrten), nur in einer Stadt zu leben, welche die folgenden zehn Erfordernisse aufweist: Arzt, Chirurg (Wundarzt, operierender Arzt), Badhaus, (öffentliche) Toilette, Wasserversorgung durch einen Fluss oder eine Quelle, Synagoge, Lehrer, Schreiber (Schriftgelehrter), Wohltätigkeitskämmerer, und ein Gerichtshof, der die Autorität hat, mit Peitschenhieben und Gefängnis zu bestrafen.174

171

Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Four, ebd., Abs. 20, S. 199. Auf Englisch: „He will not require a physician, and his body will be complete and remain healthy all his life, unless his body was defective from the beginning of his creation, or unless he became accustomed to one of the bad habits from the onset of his youth, or unless the plague of pestilence or the plague of drought [Dürre] comes onto the world.” 172 Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Four, ebd., Abs. 21, S. 200. 173 Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Four, ebd., Abs. 22, S. 200. 174 Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Four, ebd., Abs. 23, S. 200.

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Anständiges tägliches Benehmen – ein Beitrag zum menschlichen Wohlergehen Weise Männer, zu welchen sich in der Regel auch die jüdischen und arabischen Ärzte im Mittelalter zählten, sollten die Masse nicht nur durch Weisheit überragen, sondern auch durch das gewöhnliche Alltagsverhalten (Essen, Trinken, cohabitatio, „elimination of excrement“, Redeverhalten, Gehen, Kleidung, Führen der Geschäfte). Auf keinen Fall sollte ein Weiser ein Schlemmer sein, er sollte sich gesund ernähren und in seinem Ess- und Trinkverhalten als Vorbild dienen. Der Weise sollte mit einem oder zwei Gerichten am Tage auskommen und sich an Salomos Worte halten: „Der Rechtschaffene isst, um seine Seele zufrieden zu stellen.“175 Im Sinne der Bedürfnishierarchie von Maslow befriedigt hier der Weise in erster Linie höherwertigere Bedürfnisse (z.B. Selbstverwirklichung). Der weise Mann sollte in der Regel nur daheim speisen, nicht aber in einem Restaurant (Kaufhaus) oder gar auf dem Marktplatz. Dabei, d.h. wenn er gezwungen wäre, außerhalb zu essen, sollte er die Gemeinschaft mit ungebildeten Leuten meiden und sich nicht an Tische setzen, die voll von schmutzigem Erbrochenem sind. Er sollte auch mit anderen Weisen nicht oft auf allen möglichen Plätzen essen. Auch von den öffentlichen Festen, wo große Menschenmassen auftreten, sollte er sich möglichst fernhalten. Nahrung von andern sollte er grundsätzlich nicht annehmen, es sei denn im Rahmen einer religiösen Zeremonie, z.B. anlässlich einer Hochzeit, und auch da nur, wenn es sich um die Hochzeit eines Weisen handelt, der die Tochter eines anderen Weisen ehelicht.176 Ein Weiser trinkt Wein nicht in vollen Zügen, sondern trinkt den Wein in Maßen, um die Nahrung in seinen Därmen zu befeuchten (und somit eine schlechte Verdauung zu verhindern). Wer sich berauscht, gilt als Sünder und wird verachtet. Ein Weiser würde damit seinen Ruf der Weisheit verlieren. Wenn er in der Gegenwart von Ungebildeten sich be175 176

Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Five, ebd., Abs. 1, S. 200f. Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Five, ebd., Abs. 2, S. 201.

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säuft, hält man ihn wegen des schlechten Beispiels sogar für einen Gotteslästerer. Zu Mittag darf man keinen Wein trinken, auch nicht in kleinen Mengen, es sei denn beim Mahl oder unmittelbar nach dem Mahl.177 Bei so hohen Ansprüchen, welche die jüdische Gemeinschaft an den weisen Mann stellt, fällt es schwer sich vorzustellen, dass ein solcher mit einer Frau zusammenleben und sexuell verkehren kann. In Absatz 4 von Kapitel V von „Human Temperaments“ gesteht Maimonides auch dem Weisen eine Frau zu. Das soll aber für ihn kein Hindernis sein, heilig zu leben. Ein Heiliger kann also nicht, wie das der in Kairo lebende Maimonides täglich wahrnahm, wie ein Moslem mehrere Ehefrauen haben oder gar einen Harem betreiben.178 Maimonides beschreibt in diesem Absatz das Verhältnis des monogam lebenden Weisen zu seiner Frau so trefflich, dass es sich lohnt, hier den Autor nach der englischen Übersetzung von Fred Rosner persönlich zu Wort kommen zu lassen: „Er sollte sich seiner Ehefrau gegenüber nicht wie ein Gockel verhalten. Am besten sollte er, wenn er potent genug ist, mit seiner Frau in Freitagsnächten verkehren. Und wenn er mit ihr verkehrt, sollte er das nicht zu Beginn der Nacht tun, wenn er gesättigt und sein Magen übersättigt ist, auch nicht am Ende der Nacht, wenn er Hunger hat. Am ehesten sollte er in der Mitte der Nacht verkehren, wenn in seinen Eingeweiden die Nahrung verdaut ist. Auch sollte er sich nicht in frivoler Weise exzessiv hingeben und seinen Mund mit vulgären Redensarten, auch wenn das nur zwischen ihm und ihr erfolgt, entweihen. Denn es heißt in der (Heiligen) Schrift: und Er berichtet dem Menschen, was seine Rede ist (Amos 4,13), welche unsere Weisen folgendermaßen auslegen: ´Sogar für eine leichtfertige Rede zwischen Mann und Frau wird er in der Zukunft zum Gericht gerufen werden.´ Und beide Mann und Frau sollten nicht berauscht und auch nicht träge oder gar melancholisch, auch nicht 177

Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Five, ebd., Abs. 3, S. 201f. In seiner Gynäkologie ist Maimonides durch die Lehre des Hippokrates beeinflusst. Vgl. dazu Manfred Ullmann: Zwei spätantike Kommentare zu der hippokratischen Schrift ´De morbis muliebribus´, in: Medizinhistorisches Journal 12 (1977) S.. 245262. 178

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eines von beiden sein. Er sollte auch nicht schlafen, er sollte sie auch nicht zwingen, wenn sie nicht willig ist. Vielmehr sollte der Geschlechtsverkehr mit der Zustimmung beider ausgeübt werden, dabei sollten beide glücklich sein. Er sollte mit ihr sich unterhalten und auch ein wenig scherzen, um sie bei Stimmung zu halten, dann sollte er ihr in Bescheidenheit und nicht in Schamlosigkeit beiwohnen, danach sollte er sich unmittelbar von ihr lösen.“179 Aus diesem ausführlichen Zitat wird – in Verbindung mit anderen Aussagen zum Verkehr von Mann und Frau – deutlich, dass die Ehemoral, die Auffassung der Sexualität sowie der Verkehr des Mannes mit seiner Frau im Judentum und Christentum weitgehend identisch sind. Anders als bei den Moslems ist die Monogamie Regel und Ideal zugleich und auch bis heute mehrheitlich praktiziert. Erstaunlich ist, dass der Mann mit seiner Frau in der Freitagnacht sexuell verkehren soll. Es ist jedoch zu befürchten, dass der Verkehr sich in den Sabbat hinein erstreckt. An diesem Tag der Ruhe sollte ein frommer Jude weder schwere Arbeiten verrichten noch mit einer Frau verkehren. Wenn man sich das vor Augen hält, kämen viel eher alle anderen Tage der Woche für eine cohabitatio in Frage. In meiner Interpretation des obigen Zitates soll nicht unerwähnt bleiben, dass Maimonides, der hier voll in der jüdischen Tradition 179

Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Five, a.a.O., Vol. 4, Abs. 4, S. 202. Hier der englische Text: „He should not be with his wife like a rooster [Gockel]. Rather he should cohabit only on Friday nights if he has the vigor [Potenz]. And when he converses with her, he should not converse at the beginning of the night, when he is satiated and his stomach is replete; and not at the end of the night, when he is hungry. Rather, he should cohabit in the middle of the night, when the food is digested in his intestines. And he should not indulge excessively in frivolity, nor should he profane his mouth with vulgar talk even if only between him and her. For it is stated in scripture: And He relates to man what his discourse is (Amos 4:13), which our Sages interpreted to mean: ´Even for light discourse between a man and his wife he will in the future be called to judgment.´ And both husband and wife should not be intoxicated nor lazy nor melancholic; nor either of them. And he should not be sleeping, and he should not coerce her if she is not willing. Rather, sexual intercourse should be carried out with the consent of both and while both are happy. He should converse and jest a little with her in order to put her at ease, and he should then cohabit with modesty and not with impudence, and he should separate immediately.”

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steht, zumindest in der Sexualität Mann und Frau als gleichwertige Partner behandelt. Die Frau ist für ihn kein Sexualobjekt und darf auch nicht zum Sex gezwungen werden. Sie sollte sich nicht bloß dem Manne hingeben und den Akt schlafend hinter sich bringen. Maimonides legt dem Mann nahe, mehr als ein seichtes Gespräch mit seiner Frau während des Aktes zu führen und sogar mit ihr zu scherzen. Die sexuelle Gleichwertigkeit von Mann und Frau wird auch darin sichtbar, dass der Mann seiner Frau in Bescheidenheit und ohne Schamlosigkeit begegnen soll. In Absatz 10 findet sich die interessante Stelle, dass der Mann seine Frau und seine Kinder ehren solle.180 Von einer Unterdrückung der Ehefrau kann also bei Maimonides keine Rede sein. Der Hinweis, dass beide glücklich sein sollen, lässt vermuten, dass nicht nur der Mann auf seine Kosten, sondern auch die Frau zum Orgasmus kommt. Man gewinnt auch aus diesen wegweisenden Worten des Maimonides den Eindruck, dass, anders als im Christentum, im Judentum des Mittelalters weder die Sexualität im Allgemeinen noch die Sexualität der Frau im Besonderen verteufelt werden.181 Wir müssen allerdings hier beachten, dass Maimonides den idealen Umgang des weisen Mannes mit seiner Frau schildert. In der alltäglichen Realität hielten sich jedoch die meisten Männer – die weisen Männer stellten ja wohl nur eine kleine Minderheit dar – wohl nicht immer an diese Idealforderungen des Maimonides, was ihren Umgang mit ihren Frauen betrifft. Dass sich die große Masse des Volkes, das „in der Finsternis“ wandelt, auch in der Erziehung der Kinder, nicht nur der Juden, anders verhalten hat, als Maimonides so ideal beschreibt, wird aus dem nachfolgenden Absatz 5 des Kapitels 5 der „Human Temperaments“ deutlich.182

180

Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Five, ebd., Abs. 10, S. 205. Vgl. dazu Wilhelm Kaltenstadler: Frauen – die bessere Hälfte der Geschichte, GroßGerau 2008, und derselbe: Frauen haben (k)eine Seele. Geschichte und Mythos der Frauenverachtung, Greiz 2017. 182 Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Five, a.a.O., Abs. 5, S. 202f. 181

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„Extreme Bescheidenheit“ sollte der Weise nicht nur im Sexualverkehr mit seiner Frau, sondern auch ganz allgemein in seinem gesamten Verhalten zeigen. Kopf und Körper sollten stets bedeckt sein. Zurückhaltung und Bescheidenheit hat er auch zu üben beim Aufenthalt in der Toilette. Zum Anstand eines Juden gehörte auch, dass er sich in der Öffentlichkeit nicht mit der rechten Hand (jad jamín), der guten Hand, abwischte. Wenn er hinter einem Zaun austreten muss, soll er sich von anderen fernhalten. Sie sollen ihn auch nicht hören, wenn er dort schnäuzen muss. Wenn er auf offenem Feld austreten muss, dann soll ihn sein Freund (der ihn begleitet) nicht nackt sehen. Überhaupt soll sich ein gebildeter Mann bemühen, im Freien möglichst am Morgen und am Abend austreten zu müssen, da zu diesen Zeiten noch wenige Leute unterwegs sind. Damit könnte man vermeiden, sich von anderen zurückzuziehen zu müssen, was für einen anständigen Juden immer eine peinliche Angelegenheit war.183 Ein weiser Mann soll sich auch mit seiner Stimme zurückhalten und auf keinen Fall laut sprechen. Beim Sprechen soll er den Eindruck von Hochmut vermeiden. Darum soll er auch Leute, denen er begegnet, zuerst grüßen. Er soll jeden nach seinem Verdienst behandeln, aber dessen Schwachstellen im Gespräch ignorieren. Sein Verhalten ist im Umgang mit anderen Menschen stark am Frieden orientiert. Der kluge Mann behandelt einen anderen mit Diplomatie und berücksichtigt auch dessen Gemütsverfassung, z.B. wenn einer zornig ist. Nicht reden soll er auf der Straße mit einer Frau, nicht einmal mit seiner eigenen, seiner Schwester und Tochter.184 Diese für uns heute seltsam anmutende Zurückhaltung mag sicher damit zusammenhängen, dass die sog. anständigen Frauen aus guten Familien das Haus nur selten oder in Begleitung eines Dieners oder Sklaven verlassen und dass zahlreiche Dirnen und anderes übel beleumundetes Volk auf den Straßen verkehrt haben. Mit diesem Ansprechverbot wollte Maimonides wohl auch erreichen, dass Frauen in 183 184

Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Five, ebd., Abs. 6, S. 203. Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Five, ebd., Abs. 7, S. 203f.

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der Öffentlichkeit nicht belästigt worden sind. Diese Bestimmung darf man also nicht als einen Akt der Frauenverachtung auslegen. Im folgenden Absatz beschreibt Maimonides noch einmal im Detail, wie sich ein weiser Mann in Wort und Tat verhalten bzw. nicht verhalten soll.185 Selbst die Kleidung darf ein weiser Mann nicht vernachlässigen. Diese soll „gefällig und sauber“ und frei von Schmutz- und Fettflecken sein. Das bedeutete nun nicht, dass er wie ein König gekleidet herumlaufen solle. Die Gewänder sollen auch nicht durchsichtig sein, Haut und Fleisch sollen, wie das damals schon bei Dirnen üblich gewesen ist, auf keinen Fall durch die Kleider hindurch sichtbar sein. Kleider sollen auch nicht zu lang sein und auf dem Boden dahergeschleift werden, die Ärmel müssen bis zu den Fingerspitzen reichen. Auf keinen Fall soll der edle Mann im Sommer geflickte Schuhe tragen. Evtl. aber im Winter, „wenn er arm ist.“ Parfüm ist nicht nur für seine Kleider und sein Haar tabu. Kosmetik ist auch im mittelalterlichen Ägypten eher etwas für Frauen gewesen. Parfüm darf er nur verwenden, um damit einen schlechten Körpergeruch zu vertreiben. Nachts soll er nur in Notfällen das Haus verlassen.186 Es sind ja auch im mittelalterlichen Ägypten nachts die Kriminellen unterwegs gewesen. Der weise Mann darf sich weder in der Ernährung noch in seinen Geschäften übernehmen, auch hier ist das richtige Maß angesagt. Dieses Maßhalten gilt auch für das Fleisch, das er nicht regelmäßig konsumieren sollte. Einmal in der Woche ist ausreichend. Maimonides hat jedoch nichts dagegen, dass ein Reicher (der es sich leisten kann) täglich Fleisch zu sich nimmt. In der Fleischfrage ist Maimonides nicht ganz konsequent. Es scheint, dass Fleisch damals teurer war als andere Nahrungsmittel, z.B. Fisch. Jeder sollte seine Ernährung und Bedarfsdeckung also auch nach seinen finanziellen Möglichkeiten ausrichten.187

185

Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Five, ebd., Abs. 8, S. 204. Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Five, ebd., Abs. 9, S. 204f. 187 Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Five, ebd., Abs. 10, S. 205. 186

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Im Leben kann ein Mann auch nur dann glücklich werden, wenn er in seiner Lebensplanung eine bestimmte sinnvolle Reihenfolge einhält. Am Anfang sollte ein Beruf stehen, der auf Dauer angelegt ist. Ein tragfähiger Beruf ermöglicht dann den Erwerb eines Heims (Hauses), erst dann sollte man heiraten. Narren heiraten nach Maimonides zuerst, leisten sich dann mit Mühe mehr schlecht als recht ein Heim und sind dann im Alter auf die „charity“ angewiesen.188 Ein vernünftiger Mann muss gut wirtschaften und darf sein Vermögen nicht nur „for holy purposes“ hingeben. Denn bei einem allzu großzügigen Finanzverhalten kann einer leicht „a burden on society“ werden und damit der Gemeinschaft zur Last fallen. Im Folgenden gibt Maimonides gute Ratschläge, wie ein guter Ökonom sich zu verhalten hat und welche Fehler er bei der Finanzierung vermeiden soll. Das folgende Zitat zeugt davon, dass Maimonides auch in wirtschaftlichen Angelegenheiten kompetent war: „Die allgemeine Regel in dieser Sache ist, dass der kluge Ökonom in Bezug auf sein Eigentum nach Erfolg streben und das verderbliche durch das dauerhafte Vermögen [also Umlauf- durch Anlagevermögen] austauschen sollte. Und diese Absicht sollte nicht sein, sich nur ein wenig für einen Augenblick zu freuen noch Vergnügen daraus abzuleiten und dabei einen großen Verlust zu gewärtigen.“189 Man soll also als Ökonom die weniger haltbaren durch dauerhafte Güter ersetzen und man sollte nicht kurzfristig, sondern längerfristig handeln. Wenn die Banken und Industrieunternehmen diese Regeln beachtet und längerfristig, nicht nur an die Verwirklichung des shareholder-value gedacht hätten, dann hätte man die globale Finanzkrise mit den Milliardenverlusten vermeiden können. 188

Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Five, ebd., Abs. 11, S. 205f. Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Five, ebd., Abs. 12, S. 206. Auf Englisch: „The general rule in this matter is that he should strive for success in regard to his property and exchange the perishable for the durable [property]. And his intention should not be to enjoy a little for a moment nor to derive pleasure and thereby incur a great loss.” 189

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Ein weiser Mann sollte seine Geschäfte mit Wahrheit und in „gutem Glauben“ (übrigens noch eine im BGB vorkommende heute kaum mehr vor Gerichten beachtete Formulierung) führen. Auf sein „Ja“ und „Nein“ soll man sich verlassen können. Er sollte in eigenen Geschäften gewissenhaft und anderen gegenüber ehrlich und wohlwollend agieren. Bei Einkäufen sollte er pünktlich bezahlen. Er sollte nicht als Bürge und als Treuhänder auftreten und auch keine Handlungsvollmachten erteilen. Bei Ein- und Verkauf sollte er bereit sein, Verpflichtungen über die Vorschriften des Talmud hinaus zu übernehmen. Schuldnern gegenüber soll er großzügig verfahren und ihnen evtl. sogar Geld ohne Zinsen gewähren. Auf keinen Fall soll er in den Beruf seines Freundes einsteigen und damit andere unterdrücken. Im Zweifelsfall sollte er nicht auf der Seite der Verfolger, sondern eher der Verfolgten, nicht auf Seiten der Erniedriger, sondern der Erniedrigten stehen.190 Die Ansätze der modernen jüdischen Underdog-Mentalität reichen also schon weit zurück. Das Weltbild des Maimonides Wie die Ausführungen dieser Abhandlung zeigen, kann man den Theologen und Philosophen kaum vom Mediziner und Arzt Maimonides trennen. In zahlreichen Passagen verschiedener Traktate wird deutlich, dass selbst in der Ernährung die religiöse Gesinnung nicht fehlen darf. Es gibt also bei ihm weder eine Ernährung um der Ernährung noch Wirtschaft um der Wirtschaft, eine Medizin um der Medizin willen, alle seine Worte und Handlungen sind auf Gott hin ausgerichtet, auch wenn das Maimonides nicht immer und überall explizit zum Ausdruck bringt. In seinen religiösen und philosophischen Vorstellungen ist Maimonides nicht nur von den heiligen Schriften der Juden (Thora, Talmud, Mischna etc.), sondern auch von den griechischen Klassikern, nicht zuletzt Aristoteles, und Ärzten geprägt. Der Arzt Maimonides wertet als Quellen für seine medizinischen Schriften neben den jüdischen Schriften und der jüdischen Tradition auch die Werke der antiken griechischen Ärzte Hip190

Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Five, ebd., Abs. 13, S. 206f.

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pokrates und Galen aus. Es ist sehr wahrscheinlich, dass auch von dem medizinischen Wissen der alten Ägypter wesentlich mehr in sein medizinisches Werk Eingang gefunden hat, als an Quellen bei ihm sichtbar wird. Körper und Seele bilden bei ihm eine untrennbare Einheit, man kann darum in ihm auch einen frühen Vertreter der Psychosomatik und in Ansätzen sogar der Psychotherapie191 sehen. Konsequenterweise gibt es für Maimonides nicht nur die Bewegung des Körpers, sondern auch wörtlich die „Bewegung der Seele“. Eine wesentliche Verbindung zwischen Seele und Körper erfolgt über die Mischungen der Körpersäfte. Maimonides baut hier auf Galens Lehre auf, „dass die Kräfte der Seele den Mischungen des Körpers folgen“.192 Diese Verbundenheit von Seele und Körper ist jedoch kein Selbstläufer. Um diese Harmonie und das seelischkörperliche Gleichgewicht aufrechtzuerhalten bzw. dieses – als Folge von Krankheit und falschem Lebenswandel – wiederherzustellen, muss der gesundheitsbewusste Mensch, der über die Befriedigung seiner materiellen Bedürfnisse hinausstrebt, also nicht nur seinen Körper bewegen und trainieren, sondern auch durch sein Verhalten und nicht zuletzt durch seine religiöse und sittliche Einstellung dafür Sorge tragen, dass Geist und Seele nicht verkümmern und im Gleichgewicht bleiben. Bei Maimonides bilden somit auch Religion und Ethik193 eine untrennbare Einheit.194 Wie bei seinem großen philosophischen Vorbild Aristoteles ist das Weltbild von Maimonides kein engstirnig individualistisches. Bei aller 191

In diesem Sinne argumentiert Klaus Dethloff: Shlomo Maimon and Sigmund Freud on Metapher and Dreaming, in: Studia Judaica XVII, a.a.O., S. 209-219. 192 Dieser Galen´sche Traktat wurde übersetzt und ediert durch H. H. Biesterfeldt, Wiesbaden 1973. 193 Lawrence V. Berman: The Ethical Views of Maimonides, in: Perspectives on Maimonides: Philosophical and Historical Studies, ed. Joel E. Kraemer, Oxford 1991. 194 Vgl. dazu den höchst aufschlussreichen Artikel von Susanne Zeller: Jüdische Ethik: Maimonides - ein "jüdischer Aristoteles" - und erster Sozialarbeiter des Mittelalters? Quelle im Internet: http://www.hagalil.com/juden-tum/rambam/maimonides-3.htm (Stand: 19.01.2010).

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Betonung der Rechte und Pflichten des Einzelnen ist seine Theologie und Philosophie auf Gemeinschaft ausgerichtet. Das Gottesvolk tritt als Gesamtheit und nicht als Summe von Individuen seinem Gott gegenüber. Selbst in seinen medizinischen Werken kann keiner ohne den Nächsten oder, wie Maimonides es in Kap. 6 der „Human Temperaments“ ausdrückt, den „Nachbar“ ein sinnvolles Leben führen. Es ist für Maimonides Ausdruck der menschlichen Natur, dass ein Mensch in seinen Temperamenten und in seinem Verhalten beeinflusst wird „durch seine Nachbarn und Freunde“195 und dass er den Sitten und Gebräuchen der Menschen seines Landes folgt. Doch das bedeutet nicht, dass ein vernünftiger Mensch mit allen Menschen seiner Umgebung Kontakt haben muss. Er soll vielmehr die Gegenwart der Rechtschaffenen suchen und die der Ruchlosen meiden. In unmittelbarem Zusammenhang mit der Notwendigkeit des Kontaktes zu den Mitmenschen und Nachbarn steht für Maimonides auch das Gebot der Nächstenliebe von Leviticus 19,18, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst und ihn in seinem Herzen nicht zu hassen. Maimonides weitet diese zentrale Stelle der Thora mit eigenen Worten noch weiter aus und zieht daraus auch wirtschaftliche und soziale Folgerungen. Sie verdient es hier, in vollem Wortlaut der Rosner´schen Übersetzung wiedergegeben zu werden: „Es ist ein jeder Person auferlegtes Gebot, jeden und jeden Israeliten wie sich selbst zu lieben, wie es heißt: Und du liebe deinen Nachbar (Nächsten) wie dich selbst (Lev. 19:18). Deswegen muss man zu Lobe seines Nächsten sich äußern und sorgfältig mit dem Geld des Letzteren umgehen und auf seine eigene Ehre bedacht sein. Und der, welcher sich durch Herabsetzung seines Freundes glorifiziert, hat keinen Anteil an der kommenden Welt.“196 195

Maimonides „Laws of Human Temperaments“, a.a.O., Vol. 4, Chapter Six, Abs. 1, S.207. 196 Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Six, ebd., Abs. 3, S. 208. Auf Englisch: “Therefore, one must speak in praise of one´s neighbour and be careful with the latter´s money and desires one´s own honor. And he who glorifies himself through disgracing his friend does not have a share in the world-to-come.”

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Diese in der Bibel als Gebot formulierte Nächsten- bzw. Nachbarliebe haben die Christen aus dem Alten ins Neue Testament übernommen. Da ist einmal die Parabel vom Samariter in Kapitel 10 bei Lukas und dann die Abschiedsszene von Jesus in Kap. 13 bei Johannes. Die Stelle 13,3435 bei Johannes „Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr einander liebt; wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe habt untereinander“ ist also gar nicht so „neu“. Es ist darum auch nicht korrekt, ausschließlich von der christlichen Nächstenliebe zu sprechen. Sachlich richtiger wäre es darum, den Ausdruck „Biblische Nächstenliebe“ zu verwenden. Der jüdische Neutestamentler Pinchas Lapide hat ja in vielen seiner Werke nachgewiesen, dass die Gemeinsamkeiten von Judentum und Christentum weitaus größer sind, als man fast 2000 Jahre lang in der römischen Kirche geglaubt, geschrieben und gepredigt hat. Aufgefallen ist mir noch an Maimonides´ Worten zur biblischen Nächstenliebe, dass er mit keinem Wort auf die christliche Nächstenliebe im Neuen Testament (das er ja sicher gekannt hat) zu sprechen kommt, obwohl er bei der Interpretation der Nächstenliebe voll in die Details geht. Es gibt eine wichtige Stelle bei Maimonides, welche die immer wieder von christlicher Seite behauptete Devise des jüdischen „Aug um Aug, Zahn um Zahn“ Lügen straft, nämlich das Gespräch zwischen Reuben und Simeon. Reuben zu Simeon: “Vermiete mir dieses Haus oder leihe mir diesen Ochsen.” Simeon lehnt ab. Nach einer Weile kommt Simeon zu Reuben, “von ihm zu borgen oder zu leihen“. Da spricht Reuben zu ihm die klassischen Worte: „Das hier ist für dich. Beachte, dass ich dir das leihe, denn ich bin nicht so wie du. Ich werde dir nicht nach deinen Taten vergelten.“197 Maimonides findet jedoch im Verhalten des Reuben noch einen Makel, weil er durch seine Kritik, dass er nicht so sei wie

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Maimonides „Laws of Human Temperaments“, Chapter Six, ebd., Abs. 8, S. 215. In Englisch: “Here it is for you. Behold, I am lending it to you since I am not like you. I will not pay you back according to your deeds.”

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Simeon, noch Groll und Neid in seinem Herzen trage und damit noch nicht in vollem Maße wie ein wahrhaft Gerechter gehandelt habe. In den diversen Abhandlungen von Maimonides ist die Gerechtigkeit nach der Liebe die höchste Tugend, nicht zuletzt für den Weisen und Gelehrten. Von dem Verhalten der Gerechten soll der Weise lernen. Damit ist ein wichtiger Punkt angesprochen, der nicht nur für Maimonides, sondern überhaupt für die gesamte jüdische Gemeinschaft, Aschkenasim und Sephardim, bis zum heutigen Tag eine zentrale Rolle spielt, nämlich die Idee des Lernens und der Bildung.198 Bildung, welche bei den meisten Juden ohne religiösen Bezug zu den heiligen Schriften nicht denkbar ist, ist ein Ideal, welches ein weiser Mann immer wieder anstreben und im täglichen Leben umsetzen muss. Dabei ist oft wichtiger, was ein weiser Mensch nicht sagt, als was er sagt. Zum richtigen Zeitpunkt zu schweigen, ist nicht nur ein Gebot der Klugheit, sondern auch der Gerechtigkeit, im Grunde auch angewandte Nächstenliebe. Damit er auf diesem Wege nicht erlahmt, wird er immer wieder aufgefordert, Kontakte zu ungebildeten Menschen weitestgehend zu vermeiden, mit weisen Männern zu essen und zu trinken wie auch mit ihnen in allen Arten von Beziehungen zu verkehren.199 Die jüdische Bildung umfasst auch bei Maimonides weit mehr als nur Wissenserwerb. Zur umfassenden Bildung gehören auch die Herzensbildung und ein tadelloses und gepflegtes Auftreten des gebildeten Menschen in der Öffentlichkeit. Der Gipfel der Bildung ist die Erlangung der Weisheit200, eine Eigenschaft, welche den weisen Menschen in die Nähe Gottes rückt. Denn die Weisheit ist eine der Eigenschaften des allmächtigen Gottes. Die Folgerungen, welche Maimonides aus seinem geradezu radikalen Bildungsideal zieht, sind sehr weitgehend. Wer wirklich weise sein will, 198

Wilhelm Kaltenstadler: Wie Europa wurde was es ist. Beiträge zu den Wurzeln der europäischen Kultur, Groß-Gerau 2006, Kap. „Die Idee der Bildung“, S. 240-251. 199 Maimonides´ „Laws of Human Temperaments“, Chapter Six, a.a.O., Abs. 2, S. 208. 200 Dan-Alexandru Ilieş: Cosmology, History and Human Thought. Emergence and Transmission of Wisdom in the Introduction to the Guide of the Perplexed, in: Studia Judaica XVII, a.a.O., S. 266-294.

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soll sich sogar darum bemühen, die Tochter eines Gelehrten zur Frau zu nehmen und seine eigene Tochter einem Gelehrten zur Frau zu geben.201 Maimonides ist sich bewusst, dass Bildung und überhaupt das Zusammenleben der Menschen ein infrastrukturelles Fundament benötigen. Die Kultur des Geistes braucht somit als Basis die materielle Kultur, den materiellen Unterbau nach Karl Marx. Maimonides hält es darum für notwendig, “der Verbesserung von Luft und Wasser und danach der Verbesserung der Nahrungsmittel Aufmerksamkeit zu schenken.”202 Diese große Bedeutung der Umweltfaktoren steht in einem engen Zusammenhang mit Maimonides´ Humoralpathologie (Säftelehre). Von Pneuma-Lehre (pneuma = spirit = Geist) leitet er die verschiedenen Wirkungskräfte im menschlichen Körper ab, nämlich „Natural Spirit“, den man im Blut der Leber und in den Gefäßen finde, „Vital Spirit“ im Blut des Herzens und in den Arterien und „Psychic Spirit“ in den Gehirnkammern. Die stoffliche Quelle dieser Pneumata stammt vor allem aus der Luft. Maimonides betont vor allem die direkte Korrelation zwischen Luft und „Psychic Spirit“ und hält es für erwiesen, dass man viele Leute finde, “deren psychische Aktivitäten mit der Kontaminierung der Luft abnehmen, das heißt sozusagen, sie entwickeln eine Konfusion des Denkens, Verständnisschwäche und Gedächtnisverlust, auch wenn ihre vitalen und natürlichen Aktivitäten keinem bemerkenswerten Wandel unterliegen.“203 Maimonides hat schon lange vor unserem umweltbewussten Zeitalter erkannt, dass Luft und Wasser, die in den muslimischen Großstädten und 201

Maimonides´ „Laws of Human Temperaments“, Chapter Six, a.a.O., Abs. 2, S. 208. Maimonides´ “Treatise on the Regimen of Health”, Fourth chapter, in: “Moses Maimonides´ Medical Writings” (Fred Rosner), Vol. 4, Haifa 1990, S. 73-97, hier S. 73. In Englisch: „to pay attention to the improvement of the air and then the improvement of the water and after that to the improvement of the foods.” 203 Maimonides´ “Treatise on the Regimen of Health”, The fourth chapter, ebd., Abs. 1, S. 74. In Englisch: „whose psychic activities decline with contamination of the air, that is to say they develop confusion of thought, weakness of understanding and loss of memory, even though their Vital and Natural activities do not undergo any noticeable change.“ 202

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Ballungsräumen des Mittelalters, welche die sephardischen Juden des Mittelalters bevorzugten,204 bereits damals verschmutzt und verseucht waren, sich auf die drei Grundpneumata der Menschen auswirken und durch die Störung des Gleichgewichts zwischen diesen alle möglichen Arten von Krankheiten entstehen. Ökologische Vorstellungen fließen darum logischer Weise auch in seine medizinische Therapie205 ein. In zahlreichen Kapiteln der „Laws of Human Temperaments“ wird deutlich, dass die Selbstheilungskräfte des Menschen in der Regel nicht mehr ausreichen, um dieses durch Umweltfaktoren gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen. An zahlreichen Beispielen demonstriert Maimonides, dass in solchen Fällen ärztliche Hilfe geboten ist. Selbst bei Menschen, die verantwortungsvoll mit ihrer Gesundheit umgehen, „ist es unmöglich, dass sich nicht dauernd im menschlichen Körper geringere Vorgänge entwickeln“, die zu gesundheitlichen Schäden im physischen und psychischen Bereich führen.206 In einer Welt, die nicht erst seit Beginn der Industrialisierung aus dem Gleichgewicht gekommen ist, gewinnt der Arzt – nicht zuletzt für mächtige und reiche Herrscher wie den Sultan Saladin, seine Söhne und Wesire – eine wachsende Bedeutung und wird zu einer zentralen Figur der moslemischen und später auch der christlichen Fürstenhöfe. Selbst die christlichen Könige Spaniens, an deren Höfen man bis weit ins Hohe Mittelalter hinein Arabisch sprach, schrieb und dichtete, konnten auf jüdische und arabische Ärzte nicht 204

Arthur Koestler: Der dreizehnte Stamm. Das Reich der Khasaren und sein Erbe, Wien – München – Zürich 1977, S. 229 sieht in der völligen Verstädterung der Juden im Mittelalter die Folge des selektiven Drucks, „der innerhalb der Ghettomauern herrschte.“ Dieser These, die eher auf die Sephardim anwendbar ist, widerspricht allerdings die Koestler wohl nicht bekannte Tatsache, dass die aschkenasischen Juden in Franken und Schwaben seit dem 16. Jahrhundert – allerdings nach ihrer Vertreibung aus den meisten Städten – auf dem Lande und sogar in relativ kleinen Dörfern siedelten. 205 Sami Hhalaf Hamarneh: Ecology and Therapeutics in Medieval Arabic Medicine, in: Sudhoffs Archiv 58 (1974) S. 165-185. 206 Maimonides´ “Treatise on the Regimen of Health”, The fourth chapter, a.a.O., Abs. 3, S. 75. In Englisch: „it is impossible that minor occurences not develop constantly in the human body.“

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verzichten.207 Ärzte wie Maimonides – der muslimische Arzt Firdús beschreibt im Libro de los Reyes (Buch der Könige) im 13. Jahrhundert bereits den Kaiserschnitt208 – waren ihrer Zeit weit voraus. Diese Abhandlung wurde erstmals publiziert in Beiträge zur Kulturgeschichte des Judentums und der Geschichte der Medizin, Band II, Herausgeber: Nicolas-Benzin-Stiftung, Frankfurt am Main 2010.

207

Zur andalusischen Kultur des Mittelalters vgl. Wilhelm Kaltenstadler: Die jüdischislamische Kultur des alten Andalusien, in: Beiträge zur Kulturgeschichte des Judentums und der Medizin, hrsg. von Nicolas Benzin, Bd. I, Frankfurt am Main 2009, S. 82-127 und Wilhelm Kaltenstadler: Judentum, Christentum, Islam und Kulturtransfer, in: Mitteilungen der Nicolas-Benzin-Stiftung „Beiträge zur Kulturgeschichte des Judentums und der Geschichte der Medizin“, Nr. 2, August 2009, S. 18-58. Mehr darüber in www.nicolas-benzin-stiftung.de. 208 Emilio G. Ferrín: Die Wege des Islam in Andalusien (unveröffentlichtes Manuskript), Übersetzung aus dem Spanischen durch Ulrike Herter & Thomas Stemmer, Manuskript, Sevilla 2007, S. 8.

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Das Medizinsystem des Moses Maimonides

Vortragsfassung Anlass 1: Nach neueren Erkenntnissen ist Moses Maimonides nicht im Jahre 1135, sondern 1138 geboren, viele Maimonides-Feiern und – Kongresse gab es bereits im Jahre 2010, z.B. in Cluj Anlass 2: Publikation meines Buches „Maqāla fī al-rabw – Die Abhandlung des Maimonides über das Asthma“, Bd. 12 der wissenschaftlichen Reihe „Jerusalemer Texte. Schriften aus der Arbeit der JerusalemAkademie“, publiziert durch den Bautz-Verlag in 2013. Umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis in meinem neuen Buch Anlass 3: Publikation von Abhandlungen zur Medizin von Maimonides in den Weihnachtsheften 2010, 2011, 2013 der „Deutsche Medizinische Wochenschrift“. Eine generelle Darstellung des medizinischen Systems von Maimonides bieten meine umfangreichen Abhandlungen „Gesundheit, Hygiene und Krankheit bei Maimonides“ in Bd. II der „Beiträge zur Kulturgeschichte des Judentums und Geschichte der Medizin“ (Nicolas-Benzin-Stiftung Frankfurt 2010). Kurzbiographie von Moses Maimondides – Hinführung I Geburt in Andalusien. In der Familie des Maimonides sprach man Arabisch und Hebräisch. Er absolvierte in Iberien kein akademisches Medizinstudium. Nach der Vertreibung durch die fundamentalistischen Almohaden seine Wanderjahre in Nord-Afrika. Sozialer und beruflicher Aufstieg am Hof des Sultans von Cairo. Synthese von Judentum und Islam. Verheiratet mit einer muslimischen Frau, einer Ägypterin. Arabisch als Muttersprache (Hasselhoff, S. 16, Anm. 13). Neuere Forschungen zeigen, dass Maimonides die Scholastik des Mittelalters, auch Thomas von Aquin, ganz massiv beeinflusst hat. Maimonides als universaler Forscher – Hinführung II Dreiheit seines Schaffens – Publikationen überwiegend in arabischer Sprache

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Theologie Rabbi + Oberhaupt der jüd. Gem. in Ägypten (S. 18)

Medizin (Antike, Ägypten, teles, Scholastik) Arab. Kultur)

Philosophie (Aristo-

Theologie

Schriften des Moses Maimonides Hilkhot Melakhim (Kap. 11 Messiasfragment) 1191 Traktat zur Auferstehung, „Ma´amar Techiyyat ha-Metim“ (Hasselhoff S. 27) 1158 Kommentar zur Mischna (Vorstufe zum Talmud) in Arabisch (Hasselhoff S.16) Kommentar zu den Sprüchen der Väter (Hasselhoff S. 17) Sefer ha Mitsvot (Buch der Gebote) arabisch: 613 Ge- u. Verbote der Thora Responsen: 600 St., Sendschreiben in den Yemen (1172) zur Frage des Messias (S. 18f) Philosophie Abhandlung über die Logik, Schrift „8 Kapitel“ (Hasselhoff S. 15) Theologie und Philosophie kombiniert (S. 21-27) 1190 More ha-Nevukhim (Führer der Unschlüssigen). Arabische Sprache, aber hebr. Buchstaben! (Goßmann Jerus. Texte, Bd. 10, S. 66). Auch Einbeziehung von „theologischen Gedankengängen“, von Medizin, Astronomie und Mathematik Buch 1: Sprachphilologischer Einstieg: Erläuterung der Bedeutung gewisser Wörter in den Büchern der Prophetie

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Erklärung der dunklen Geheimnisse der Prophetenbücher Problematik der spez. Anwendung von Begriffen auf Gott, Tetragramm JHWH Nur Nicht-Aussagen über Gott Buch 2: Am Anfang 26 Prämissen, die ersten 25 sind seine Zusammenfassung der aristotelischen u. nacharistotelischen ´Beweise´ der Existenz Gottes, dann 3 weitere Gottesbeweise dann Erklärung der Weltschöpfung u. „aller Elemente der geschaffenen Welt, Frage der Ewigkeit der Welt (Widerspruch zur Bibel!) Engel als Boten Gottes Offenbarungen nicht im Wachzustand, sondern in Träumen und Visionen (Ausnahme Moses) Fazit Buch 2: Synthese von Physik u. Offenbarung der Metaphysik Frage der Schlange und des Satan im Paradies, Hiob: Frage der Theodizee Ethik: Das Böse ist keine Schöpfung Gottes, es entsteht „durch Privation, d.h. ein sich Zurückziehen Gottes aus dem Guten (S. 26), Thomas von Aquin: malum = bonum deficiens Buch 3: Kap. 27: Verleihung der beiden Vollkommenheiten, nämlich „den vollkommenen Zustand der gegenseitigen Verhältnisse der Menschen untereinander“ und „die Vervollkommnung des Glaubens u. die Verleihung wahrer Kenntnisse“ zur Erreichung der letzten Vollkommenheit. Letztes Kap.: Zusammenfassung dessen, was Chokhmah (Weisheit) als menschliche Vollkommenheit ausmacht (Hasselhoff S. 27) Die Ideen der theologischen u. philosophischen Werke wirken sich aus auf das Hygienekonzept, das für Maimonides auch eine geistig-seelische Hygiene ist Bekanntestes Werk, das philosophisch und theologisch zugleich orientiert ist, ist

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More Nevuchim: übersetzt als „Guide of the Perplexed“ (Führer der Unschlüssigen). Hier zeigt sich Maimonides nicht nur als Forscher, sondern auch als Seelsorger. Dieses Werk macht deutlich, dass sich bei ihm jüdische Überlieferung (AT, Talmud etc.) und rationalistische Philosophie nicht ausschließen. Die Anwendung der dialektischen Methode – in Verbindung mit der Dialog-Methode – zeigt ihn als Vorläufer der modernen Philosophie (Hegel, Marx). Allerdings weisen Hegel und Marx Defizite in der Humanitas auf! Medizinische Schriften Maimonides hat 10 bzw. 11 med. Schriften verfasst:  Pharmakologische Schrift (entdeckt bei: Ibn Abī Usaybi´a (1940 ediert))  Vor 1190: Auszüge aus Galens Werken (al-Muhtasarāt: kommentierte Auswahl von Sätzen des Galen zu Studienzwecken)  Ca. 1190-1198: Kommentar zu den hippokratischen Aphorismen (Šarch Fusūl Abuqrāt)  Zwischen 1187-1190: Medizinische Aphorismen (med. Haupt- u. Lebenswerk): in den letzten Lebensjahren umfassend überarbeitet. Arabische und antike Sprüche gesammelt und tlw. kommentiert, 25 Kapitel, die sich den med. Einzeldisziplinen widmen, z.B.- Anatomie, Physiologie, allg. Pathologie. Das 25. Kapitel setzt sich kritisch mit Galen auseinander  1198-1200: Zwei Schriften mit dem Titel Regimen Sanitatis, wahrscheinlich aus der Regierungszeit des Sultan Al Afdal. Das große Regimen Sanitatis (Fī Tadbīr as-Sichcha). Inhalt: Diätetischer Ratschlag an den Kalifen, der wegen schwerer Krankheit nicht nach Cairo kommen konnte. Maimon gibt hier in 4 Kapiteln Ratschläge zu einer gesunden Lebensführung und „zur Vermeidung der melancholischen Anfälle des Herrschers“ (Hass. S. 33). Kap. 1: Maimon diskutiert und kritisiert die diätetischen Ratschläge von Hippokrates und Galen. Kap. 2: Ratschläge zu diversen Diäten. Kap. 3: Er un-

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termauert diese Ratschläge durch philosophische Ratschläge zur Seelenhygiene. Kap. 4: Auflistung von 17 „Anwendungsmöglichkeiten“ der vorangehenden Überlegungen. Ca. 1198-1204: Med. Schwanengesang (Maqāla fī Bayān al-A´rād): Letzte eigenständige Abhandlung des Maimonides (Hass S. 33). Zusammenfassende Gesundheitslehre. Um 1190: Abhandlung über Asthma (Maqāla fi´r Rabw): Spezialschrift für einen anonym bleibenden Patienten von hohem Rang verfasst, 13 Kapitel. Ca. 1190-1198: De hemorrhoidibus (Fī´l Bawāsīr): “In dieser Abhandlung kommt an einem Spezialproblem die medizinische ´Philosophie´ des Maimonides zum Ausdruck, der neben Ratschlägen zur gesünderen Ernährung vorsichtig in Bezug auf operative Methoden ist, und stattdessen zunächst einfachere Behandlungsmethoden wie Sitzbäder bzw. Räuchertherapie vorschlägt (Meyerhof, The medical work, 278). Ca. 1190/91: De coitu (Fīl-ğimā´) Ratschläge für ein gelingendes Sexualleben. Er hat bereits die psychischen Ursachen von Erektionsstärungen erkannt. Schrift für Neffen von Sultan Saladin (Syrien) verfasst. Ca. 1198: Antidotarium („Sendschreiben an al-Fādil“), für den Wesir und Richter Ab dar-Rachim ibn ali al-Baysani. Maimon beschreibt hier die Wirkung u. Bekämpfung einer Reihe von Giften.

Medizin als Kunst (Ars) Aphorismus des antiken Griechen Hippokrates „Kurz ist das Leben, lang die (ärztliche) Kunst", ein Programm, das im besonderen Maße auf den Dichter und Arzt G. Büchner anwendbar ist. Medizin als Kunst: Medizin kann man nicht wie ein Handwerk betreiben, wo die immer gleichen Handgriffe – ceteris paribus – zu vorhersehbaren Ergebnissen führen. Was dem einen Patienten gut tut, kann einem anderen Patienten schaden. Die „Kunst“ der Medizin des Maimonides besteht darin, dass der Arzt 121

kein Anwender von mechanistischen ein Leben lang gleichbleibender Regeln ist. Heute wieder hochaktuell: Die meisten Medikamente wirken nicht partiell auf ein bestimmtes Organ, auch sog. Naturpräparate haben Nebenwirkungen. Als Folge davon verschreibt Maimonides vielfach - Erstens nicht ein einzelnes Medikament, sondern – mehrere sich ergänzende Medikamente - Maimon beschränkt sich nicht nur auf die Verschreibung von Medikamenten, sondern verficht noch die antike Lehre von der Diaita (etymol. „Diät“), einer ganzheitlichen Lebensweise - Kombination mehrerer Methoden, um die Gesundheit eines Patienten zu erhalten bzw. die verlorene Gesundheit („Krankheit“) wieder herzustellen: Baden, Massage, mäßige Bewegung, mäßige Lebensweise (z.B. auch bei Sex), Medikamentöse Behandlung, Hygiene, gesunde Umwelt (Wasser, Luft), positive „Bewegungen der Seele“ Medizinische Typenlehre – Vorstufen der Medizin Vier Typen aus psychologischer Sicht: Kreislauf Sanguiniker

Stuhlg Choleriker

Phlegmatiker

Emotionale Instabilität dauung, Stuhl

VerMelancholiker

Depression Typenlehre wird mit der Humoralpathologie kombiniert.

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Humoralpathologie: Gleichgewicht der vier Körperflüssigkeiten im Sinne der antiken Medizin: Schwarze Galle – Melancholiker weiße Galle bzw. Gallenschleim - Phlegmatiker gelbe Galle bzw. hepatobiliäre Galle - Choleriker rote Galle bzw. Blut (= rot) – Sanguiniker Vier Qualitäten und deren „ausgeglichene Mischung“ und Gleichgewicht: HEISS

TROCKEN

FEUCHT

KALT

Es gibt 4 gesundheitsrelevante Qualitäten: Heiß, kalt, trocken, feucht Anwendungen im medizinischen Werk des Maimonides Vorbeugung zur Erhaltung der Gesundheit: der Idealfall  Körperliche Übungen und regelmäßige Bewegung verhindern zwar bestimmte Krankheiten nicht, tragen aber dazu bei, dass die Anfälligkeit für Krankheiten und der Krankheitsverlauf sich in Grenzen halten (Beispiele im Asthma-Werk, Bautz-Verlag)  Vorbeugung empfiehlt Maimonides sogar bei genetischen Dispositionen für bestimmte chronische Krankheiten. Er deutet also Krankheit nicht, wie das bis in die neueste Zeit geschah (z.B. Prof. Dr. med. Ringseis 19. Jahrhundert), als Strafe für menschliches Fehlverhalten, z.B. im Falle von Epidemien. Zahlreiche Beispiele im Alten Testament!

123

 

   

Regelmäßiges Baden ohne Übertreibungen – allerdings auf die anderen gesunderhaltenden Maßnahmen genau abzustimmen Gesunde Ernährung, die sich auch – aber nicht nur – an den jüdischen Speisegesetzen orientiert – Was darf welcher Typ essen, was nicht? Beispiel Fische Gesunde Verdauung und regelmäßiger Stuhlgang mit Einläufen und Klistieren (typisches Beispiel) Gesunde Umwelt (Wasser, Kanalisation etc.) und Hygiene verhindern Krankheiten Mäßiger Geschlechtsverkehr – dessen Einschränkungen Positive und negative „Bewegungen der Seele“

Heilung von Krankheiten – die ´Reparatur´ von Körper und Seele a) Medikamente – innere Anwendung (Beispiel). Z.B. Einnahme von Opium (verdünnt) b) Medikamente – äußere Anwendung, z.B. Absude, Klistiere, Abführmittel, Brechmittel, medizinische Geräte, Schröpfkur und Aderlass (Grenzen!) c) Medikamente-Mix bei bestimmten Krankheiten (Beispiel) d) Ganz modern: Medizinische Werkzeuge und Geräte, z.B. Inhalationsgeräte bei Atembeschwerden, Werk von Al-Gazari „Über die pneumatischen Instrumente“ Anfang 13. Jahrhundert e) Ernährung – nicht nur Vorbeugung, sondern begleitende Maßnahme der Heilung, strengere Diät als bei Vorbeugung (Beispiel) f) Schlafen, Wachen, Baden, Massage und Geschlechtsverkehr g) Schönheit und Gesundheit schließen sich nicht aus - Öle, Salben, Cremen, Pulver vor allem für die Frau (Beispiel) h) Psychotherapie: Unverzichtbarkeit der „ethischen Philosophie“ bei zahlreichen Krankheiten, Ansätze einer Psychosomatik

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Sonderfall „Epidemien“ (Pest, Typhus etc.) – Allheilmittel Theriak (bis ins 19. Jahrhundert) – Krankheit nicht immer und überall eine Strafe Gottes, Bedeutung der Infektion! Regeln in der Medizin des Maimonides: Beispiele Zahlreiche allgemeine Grundregeln, vor allem in Kap. 13 des AsthmaWerkes (Jerusalemer Text, Bd. 12), „die vor allem der Erhaltung der Gesundheit dienen“ Beispiel 1: Regelkomplex 23 (W. Kaltenstadler: Asthmabuch, S. 130): Maimonides vertraut - mit Berufung auf Hippokrates - auf die Selbstheilungskraft der menschlichen Natur: „Durch die Natur lernen wir und werden gebildet.“ Vorwegnahme der Ideen von Rousseau. Beispiel 2: „Regelkomplex 34 (Buch S. 135f): Mit Hinweis auf Galen warnt Maimonides davor, „bei einem Patienten mit einem geschädigten, schwachen oder empfindlichen Magenmund einen Aderlass durchzuführen“. Beispiel 3: Wichtiger Aspekt, der aus Theologie und Philosophie abgeleitet wird: Körper muss mit der Seele im Gleichgewicht sein. Es genügt nicht, sich entweder auf ein physisches oder auf rein psychisches Gleichgwicht zu beschränken. Regimen Sanitatis, Kap. 3: „Das körperliche Wohlergehen einer Person hängt von seinem geistigen Wohlergehen und umgekehrt ab“. Beide Gleichgewichte sind nicht absolut zu setzen, sondern stehen miteinander in Verbindung und hängen voneinander ab. Zu diesem Gleichgewicht von Seele, Geist und Körper tragen ganz erheblich die präventive Medizin und die Hygiene, welche nicht nur eine physische, sondern auch eine mentale ist, bei. Arabische Medizin, antike Philosophie und jüdische Religion stellen diesbezüglich keinen Widerspruch dar.

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Fallstudien in der Medizin des Maimonides Fallstudie 1: Behandlung von Hämorrhoiden Maimon empfiehlt in seinen „Medizinischen Aphorismen“ die pulverisierte getrocknete Schlangenwurzel und kombiniert diese, zubereitet mit vollwertigem Weizenmehl und Sesamöl. Bei anderen Konstitutionstypen kommen auch Erbrechen, Klistiere und Abführmittel in Frage. Fallstudie 2: Blähungen Folgende Nahrungsmittel sind zu vermeiden: Bohnen, Erbsen, Wicke, Reis und Linden. Zu vermeiden ist auch alles, „was Ausdünstungen zum Gehirn schickt, z.B. Nüsse, welche auch zu Allergien führen und die Blähungen verschlimmern können. Auch bestimmte Früchte wie Melonen, Pfirsiche, Aprikosen, Maulbeeren und Gurken können bei manchen Typen die Blähungen verschlimmern. Manche Patienten vertragen überhaupt keine frischen Früchte, z.B. frische Datteln und Weintrauben. Gut gegen Blähungen ist der Wein, der auch im Talmud empfohlen ist. Im Falle von Darmstörungen bei älteren Menschen wird alter Apfelwein empfohlen. Moslemischen Patienten, die keinen Alkohol konsumieren dürfen, empfiehlt Maimonides ein mit Honig zubereitetes Weinsurrogat (Maqāla fi al-rabw. Die Abhandlung des Maimonides über das Asthma, 2013, S. 44). Blähungen sind oft nicht eine von außen auferlegte Krankheit, sondern oft die Folge nicht nur einer falschen Ernährung, sondern eines falschen Verhaltens. So kann z.B. zu starke körperliche Betätigung unmittelbar nach dem Essen zu Verdauungsproblemen und Blähungen wie auch – je nach Konstitutionstyp – zu weichem oder zu hartem Stuhlgang etc. führen. Fallstudie 3: Depression Für Leute, welche unter einer Depression leiden, welche mit Trägheit und schlechter Verdauung einhergeht, ist Geschlechtsverkehr ein Mittel,

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das den Kranken fröhlicher macht und den Appetit anregt. Maimonides rät aber grundsätzlich von einer übermäßigen sexuellen Aktivität ab, vor allem bei bestimmten Konstitutionstypen. Übertriebene Emotionen können sich in Gemüts- und Geisteskrankheiten, nicht zuletzt im Alter, äußern, auch in Depressionen und Manien. Maimonides ist auch hier ein Vertreter des „gesunden Mittelweges“ der Antike (Aristoteles, Ovid etc.). Fallstudie 4: Alterskrankheiten (Schwarze Galle) Die schwarze Galle, der mit dem Melancholiker verbundene Körpersaft, überwiegt bei diversen Alterskrankheiten (zu welchem er auch die „illness of the side“ rechnet). Solche vielfach ´melancholische´ Alterskrankheiten sind oft verbunden mit Urinierungsproblemen, diversen Schmerzen (Rücken), Schwindel (vertigo), zerebraler Durchblutungsstörung (Apoplexie), Juckreiz (Pruritis), Schlaflosigkeit, Wässerung der Augen und der Nasenflügel, Sehschwäche, Hörschwäche und anderen Beschwerden. Es gab also bereits in der Zeit von Maimonides die modernen Zivilisationskrankheiten. Dicke Keine in der Nahrung führen zur Verhärtung von Milz und Leber. Wenn ein dicker Keim zu viel schwarze Galle enthält, dann kann das sogar zu Krebs, Juckreiz etc. und sogar zur Melancholie (wörtlich: schwarze Galle) führen. Fallstudie 5: Krebs und Tumore Maimonides kannte verschiedene Formen von Tumoren, auch das arabische Wort für Krebs war ihm geläufig. Er kannte bereits den Unterschied zwischen „heißen“ und „kalten“ Tumoren (Art of Cure, Vol. 5, 1992). Selbst der Nasentumor ist ihm ein Begriff (Maqāla fi al-rabw, S. 19). Auch für Geschwüre verwendet er einen eigenen arabischen Begriff. Myrobalane, zur Gruppe der Flügelsamengewächse zählend und in den Tropen gedeihend, dienen nach wie vor zur Bekämpfung von Bakterien

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und Pilzen und werden unter anderem auch zur Krebsbekämpfung eingesetzt. Schlussgedanke: Ist Maimonides heute noch aktuell? Medizin als Kunst und Wissenschaft – sie hat primär dem Menschen zu dienen.  Medizin – bei Maimonides mehr Berufung als Beruf  Große Bedeutung der richtigen Ernährung, mehr als 50 % z.B. des Asthmawerkes befassen sich mit Ernährungsfragen  Gesundheit von Körper und Seele – eine psychosomatische Einheit  Nicht reparieren, sondern vorbeugen  Maßhalten – die Wahrheit liegt in der Mitte (Nikomachische Ethik von Aristoteles)  Idee des physisch-psychischen Gleichgewichts (indiv. + kollektiv)  Der Beitrag des Patienten zum Heilungsprozess  Operationen sind nicht der Weisheit letzter Schluss  Die Wahrheit liegt meist in der Kombination  Die Quellen der Medizin von Maimonides: Hippokrates und Galen, Maghreb, lokale ägyptische Medizin seiner Zeit, Repräsentant der arabischen Medizin, darum auch Publikation in Arabisch  Wirkung auf die Scholastik (Thomas von Aquin)  Vorbild in der Verbindung von ärztlicher Praxis, Lehre und Forschung (Publikationen)  Vorbild der religiösen Toleranz, Tätigkeit für Muslime Literatur Kaltenstadler Wilhelm: Maqāla fī al-rabw. Die Abhandlung des Maimonides über das Asthma, Bd. 12 der Reihe „Jerusalemer Texte“ (www.jerusalem-akademie.de), Bautz-Verlag 2013. Hier finden sich

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auch alle wichtigen Editionen zum medizinischen Werk des Maimonides. Ackermann Hermann: Die Gesundheitslehre des Maimonides. Medizinische, ethische und religionsphilosophische Aspekte, Diss. RupprechtsKarls-Universität zu Heidelberg, 1982. Davidson Herbert A.: Moses Maimonides: The Man and His Works, Oxford University Press, Oxford 2005. Hasselhoff Görge K.: Moses Maimonides interkulturell gelesen, Interkulturelle Bibliothek, Bautz-Verlag Nordhausen 2009. Heller Peter W. F.: Ärzte, Magier, Pharaonen – Mythos und Realität der altägyptischen Medizin, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2008. Schipperges Heinrich: Krankheit und Gesundheit bei Maimonides (1138-1204), Berlin-Heidelberg 1996. Steinborn Gerhard: Islamische Geisteswelt im Mittelalter, in: Weltgeschichte, Bd. 5 Kaiser und Kalifen, Gütersloh 1996, S. 219-234. Kaltenstadler Wilhelm: Gesundheit, Hygiene und Krankheit bei Maimonides, in: Beiträge zur Kulturgeschichte des Judentums, Frankfurt, Vol. II, 2010, S. 86-141. Kaltenstadler Wilhelm: „Kurz ist das Leben, lang die (ärztliche) Kunst…“. Das medizinische Werk des Moses Maimonides, Weihnachtsheft der Deutsche Medizinische Wochenschrift (DMW), 135. Jahrg., 2010, S. 2563-2566. Kaltenstadler Wilhelm: Zucker als Lebens- und Heilmittel im arabischen Mittelalter. Aus dem medizinischen Werk des Moses Maimonides, Weihnachtsheft der DMW, 135. Jahrg., 2010, S. 2567-2573. Kaltenstadler Wilhelm: Kaffee – ein Geschenk der Araber an Europa, Weihnachtsheft der DMW, 136. Jahrg., 2011, S. 2652-2656. Der Beitrag findet sich sehr häufig weltweit in maßgebenden medizinischen Dokumentationen und Datenbanken genannt. Kaltenstadler Wilhelm: „Spirits” and „Movements of the Soul“ in the medical Work of Moses Maimonides.

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Dieser Vortrag wurde gehalten in der Synagoge von Ermreuth in Oberfranken im Juli 2013. Hier handelt es sich um eine erweiterte Fassung.

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Maimonides – Wege zu Gott, zum Nächsten und zu sich selbst

Maimonides als Theologe, Philosoph und Arzt – wichtige Schriften (More Nevuchim, Aphorismen, Acht Kapitel, Asthma) Moses Maimonides ist 1138 im muslimischen Cordoba als Sohn des jüdischen Richters Maimon ben Yossef geboren. Bild: Maimonides-Denkmal in Cordova, Aufnahme durch Dr. Ritter Er kommt auch in anderen Namensvarianten vor: Hebräisch heißt er Moshe ben Maimon, arabisch Abu Imran Musa Ibn Maimun209. Er ist auch unter dem Akronym RaMBaM210 bekannt. In der lateinischen Welt erscheint er meist unter den Namen Rabbi Moyses oder Moyses Egyptius. Moses Maimonides ist „die gräzisiert-latinisierte Form“. „Wegen der Verfolgung der Juden durch die fundamentalistischen berberischen Almohaden verließ er mit seiner Familie 1148 Spanien und kam nach einer längeren Wanderung 1165 nach Ägypten.“ Dort wandte er sich erst nach einer längeren schweren Krankheit 1166 der praktischen Medizin zu. Dann ging seine Karriere steil nach oben. Mit 39 Jahren wurde er Hofarzt beim Wesir Al-Fadhil. Von 1176/77 an war Maimonides geistliches Oberhaupt der Juden Ägyptens. Al Afdal Nur 209

Abu Imran Musa Ibn Maimun = Vater Imran (Emran = Emmeran) Moses Sohn des Maimun 210 RaMBaM = Rabbeinu Moshe Ben Maimon = Unser Lehrer Moses, Sohn des Maimon

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ad Din Ali, der ältere Sohn von Saladin, ernannte ihn am 3. März 1193 zu seinem Hof- und Leibarzt. Er starb „am 13. Dezember 1204 im Jahre 4965 der Schöpfung, in Fustāt, gleichermaßen betrauert von Juden wie Muslims.“ Seine irdische Hülle wurde auf seinen Wunsch hin in Tiberias im Heiligen Land beigesetzt. Ich beschränke mich hier auf Nennung der wichtigsten Abhandlungen aus der Perspektive meines Vortrages. Es sind dies vor allem More Nevuchim (Führer der Unschlüssigen), die Acht Kapitel (1992), die Aphorismen, welche weit über eine rein medizinische Schrift hinausreichen, Asthmawerk und Mishne Thora, Sefer Madda´, Hilkhot De´ot, Kap. 2, Nr. 7 (Ausgabe Goodmann Thau). (Sefer Madda´ = Buch des Wissens) Ich habe hier auch weniger bekannte theologische Schriften wie z.B. die „Sprüche der Väter“ ausgewertet. Eine Fülle von weiteren relevanten Quellen, Editionen und Literatur findet man in dem bei Bautz erschienenen Büchlein von G.K. Hasselhoff „Moses Maimonides interkulturell gelesen“ (2009) und in „Maqāla fī al-rabw – Die Abhandlung des Maimonides über das Asthma“ (mit ausführlichem Register), ebenfalls bei Bautz 2013 erschienen. 1. Das Weltbild des Moses Maimonides  Maimonides wird als Jude geprägt durch das Judentum (Thora, Talmud, „Gesetz“ etc.). In diesem Sinne ist er der jüdischen Tradition verhaftet. Es gilt also für ihn nicht nur der Logos, sondern die Göttliche Offenbarung des Alten Testaments. Für ihn beruht die Welt auf drei Säulen: Thora, Gottesdienst und Nächstenliebe.  Die Griechische Philosophie (Aristoteles, z.T. auch Platon) war ein wichtiges Fundament der islamischen Kultur des Mittelalters. Es war vor allem der Islam, der in Verbindung mit dem Judentum das antike griechische Erbe für das Abendland gerettet hat.

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 Als Arzt fußte Maimonides auch auf den Wurzeln der altgriechischhellenistischen Medizin (Hippokrates, Galenos) – allerdings weist er als Universalist weit über die Medizin als Wissenschaft hinaus.  Der Jude Maimonides wurde erstaunlicherweise massiv durch die islamisch-muslimische Kultur und Wissenschaft (z.B. heißt es mehrfach „bei uns im Maghreb“) geprägt. Seine Haltung zum Islam war überwiegend positiv (Hasselhoff, S. 101-103) – Maimonides hat das Andere zum Eigenen gemacht! Bereits im Hause der Familie Maimon sprach und schrieb man Arabisch. In Ägypten hereitate er eine muslimische Frau, sogar seine Muttersprache war arabisch (Hasselhoff S. 16). Seine meisten Werke hat er in Arabisch, allerdings einige davon in hebräischer Quadratschrift publiziert. Da er ein Leben lang auch unter Muslimen verbrachte, hat er wohl auch die 5 Säulen des Islam gekannt bzw. geachtet: Glaube an einen Gott, Gebet, Fasten, Almosen (= Nächstenliebe) und Wallfahrt nach Mekka.  Maimonides hat einige Vorbehalte gegenüber dem Christentum – er zweifelt am Messias-Jesus (Hasselhoff S. 97-101). Er ist überzeugt, dass die wahre christliche Lehre durch die Nachfolger von Jesus verfälscht worden ist! Diese Auffassung vertrat dann im 19. Jahrhundert mit großer Radikalität auch der deutsche Philosoph und Pfarrerssohn Friedrich Nietzsche.  Bei Maimonides schließen sich Offenbarung und Ratio (Logos) als Instrument für die Gestaltung des ´richtigen´ Lebensweges nicht aus. In diesem Sinne hat sich Papst Benedikt XVI. im September 2006 anlässlich seines Deutschlandbesuches in seiner Regensburger Vorlesung geäußert und sich dabei auf das christlich-islamische Religionsgespräch von 1391 zwischen Kaiser Manuel II. und dem edlen Perser Mudarris berufen. In diesem im Westen wenig bekannten Dialog (sog. 7. Kontroverse) soll der orthodoxe christliche Kaiser gesagt haben: „Nicht vernunftgemäß zu handeln ist dem Wesen Gottes zuwider.“

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2. Die menschliche Freiheit als Basis der Gotteserkenntnis und der Nächstenliebe Eine zentrale Voraussetzung, den Weg zu Gott und zu sich selbst zu finden und mit dem Nächsten zu kommunizieren, ist die menschliche Freiheit, die aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen abgeleitet werden kann. Die menschliche Freiheit und die Gottebenbildlichkeit sind die wahre Basis der Gottesliebe. Es geht hier nicht nur um die eigene Freiheit, sondern auch um die Freiheit der Anderen. Das schließt Gewalt-Anwendung weitestgehend aus. „Keine Gewalt in Glaubensdingen!“ heißt es sogar wörtlich im Koran. Doch die meisten Muslime halten sich daran genauso wenig wie die Christen an das Gebot der Feindesliebe. Der Hamburger Holzschnitt von Otto Pankok „gewaltlos“ aktualisiert diese Thematik.211 Gewaltlosigkeit ist ein wesentliches Element der Gottes- und biblischen Nächstenliebe und eine wichtige Basis für das Zusammenleben verschiedener Konfessionen. In der Frage der Gottes- und Nächstenliebe stimmen Altes und Neues Testament überein, wie folg. Zitat verdeutlicht: „Höre, Israel: Der Herr ist unser Gott, der Herr allein! Du sollst den Herrn, deinen Gott aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele und mit all deiner Kraft lieben“ (Deut. 6,5). Ein 2. Gebot ist diesem gleich: Liebe Deinen Nächten wie Dich selbst! (Lev 19,18). Die menschliche Freiheit ist das Fundament der Gottes- und auch der Nächstenliebe. Freiheit verpufft, wenn sich Menschen selbst hassen (S. Freud). Aus der Tatsache der von Gott dem Menschen geschenkten Freiheit (diese ist also bei Maimonides weit mehr als ein Menschen- und Bürgerrecht) ergibt sich die menschliche Wahlfreiheit zwischen Gut und Böse. Nicht der Mensch ist böse, sondern seine Handlungen, welche 211

Katholisch in Hamburg, Ausgabe 14, Frühjahr 2015.

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oft sogar multiplikatorisch wirken! Böse Handlungen können auch die Folge mangelnden Liebens und Geliebtwerdens sein! Es bedarf der menschlichen Freiheit und der göttlichen Gnade, diese Kette menschlicher Fehlhandlungen zu durchbrechen. Es ist auch die menschliche Freiheit, die verhindert, dass ein Mensch – um es extrem zu formulieren – als Heiliger oder als Bösewicht auf die Welt kommt. Dazu Maimonides: „Dem Menschen kann nicht gleich ursprünglich von Natur eine Tugend oder ein Fehler anerschaffen sein, ebenso wie ihm nicht gleich von Natur der Besitz irgend einer praktischen Kunstfertigkeit anerschaffen sein kann. Wohl aber kann ihm die Disposition zu einer Tugend oder einem Fehler anerschaffen sein, so dass ihm die entsprechenden Handlungen leichter [zu ergänzen: bei einem Fehler oder Laster auch schwerer] werden als andere.“212 Menschliche Freiheit ist weder grenzenlos noch total eingeschränkt, sondern durch verschiedene Instrumente begrenzt: z.B. durch die vier Temperamente (z.B. Melancholiker, Sanguiniker, Choleriker, Phlegmatiker), durch die humorale Konstitution (z.B. schwarze Galle), durch eines oder mehrere der vier Aggregate (feucht, trocken, heiß, kalt). Diese Einschränkungen führen aber nicht dazu, dass der menschliche Wille aufgehoben wird. Maimonides bringt in Kap. 8 seines philosophisch-theologischen Werkes „Acht Kapitel“ zahlreiche Beispiele dafür, dass die bei fast allen Menschen vorkommende „Disposition zu einer Tugend oder einem Fehler“ nicht zwangsläufig die Willensfreiheit aufhebt. Maimonides lehnt auch die Auffassung der Astrologen ab, die „vorgeben, dass die verschiedene Geburtszeit der Individuen sie mit einer Tugend oder einem Fehler begabe und dass das Individuum zu den entsprechenden Handlungen unwiderstehlich gezwungen sei.“ 212

Maimonides: Acht Kapitel. Eine Abhandlung zur jüdischen Ethik und Gotteserkenntnis, 2. Auflage, Hamburg 1992, Kap. 8, S. 57.

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Wenn es keinerlei Willensfreiheit gäbe, so wären nicht nur Erziehung wie auch „die Gebote und Verbote des göttlichen Gesetzes zweck- und nutzlos“. Es würde sich dann auch die Frage stellen, ob eine wirkliche Lebensqualität überhaupt möglich ist. Ohne Freiheit keine Lebensqualität! Handlungen, die in diesem Sinne erzwungen wären, wären dann auch weder Tugenden noch Laster, sie wären gewissermaßen neutral. 3. Lebensqualität und Gesundheit – Leib und Seele im Gleichgewicht Krankheiten, vor allem seelische, sind oft die Folge eines falschen Verhaltens. So betrachtet, erschweren nicht nur falsche Handlungen, sondern auch Krankheiten die Wege zu Gott, zum Nächsten und auch zu sich selbst. Gesundung kann z.B. bei Depressionen (die immer mehr bei uns zunehmen) oft nicht mehr aus eigener Kraft erfolgen.213 Die Ärzte, Seelsorger, Angehörige und Freunde sorgen dafür, dass der Mensch im Gleichgewicht bleibt (Idee der Prävention) bzw. sein Gleichgewicht wieder zurückgewinnt. Die Ärzte sind für Maimonides zugleich auch Gelehrte oder Weise (wie so oft im Alten Testament beschrieben). Gelehrte sind für einen jüdischen Universalgelehrten wie Maimonides zu allererst “diejenigen, die sich mit dem Studium der Thora beschäftigen.“ Da Maimonides die Seele höher wertet als den Leib, sind die Ärzte zu allererst „Seelenärzte“, die dem Wohl des Mitmenschen und dem einen Gott verpflichtet sind. Sie sind unter anderem auch für Depressionen zuständig und für Krankheiten, welche durch mangelhafte Eigenliebe – im Grunde dem Destruktionstrieb bei Sigmund Freud entsprechend - entstanden sind. Darum betrachten jüdische Ärzte – und das gilt besonders für Maimonides - die Thora, den Talmud etc. nicht nur als religiös, sondern auch als medizinisch und ethisch verbindlich.

213

Wenn der Partner depressiv wird. Ohne ärztliche Hilfe geht es nicht. In: Donaukurier Nr. 66, 20.03.2015, S. 39.

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Die Aufgabe der Ärzte bestünde eigentlich darin, dafür zu sorgen, dass ihre Patienten weder körperlich noch seelisch erkranken (Präventionsmedizin). Doch Maimonides ist sich bewusst, dass eine solche Gesundheitsvorsorge aus vielerlei Gründen nicht machbar ist (Erbsünde, Schwäche der menschlichen Natur, Mangel an Vernunft etc.). Auch der jüdisch-arabische Gelehrtenarzt kommt um das Heilungsgeschäft nicht herum. Seelenärzte wie Maimonides müssen somit in erster Linie dafür sorgen, dass „das ursprüngliche Gleichgewicht der in der Seele wirkenden Kräfte wieder hergestellt wird.“214 Gesundheit und Lebensqualität können ebenso wie die darauf aufbauenden Einrichtungen Staat, Kirche, Wirtschaft auf Dauer nur funktionieren, wenn der individuelle und kollektive menschliche Organismus, der sowohl Seele als auch Leib ist, sich im Gleichgewicht befindet. Sünde (peccatum) und Unwissenheit (ignorantia), ein auch bei Thomas von Aquin215 immer wieder vorkommendes Begriffspaar, stören und beeinträchtigen dieses Gleichgewicht und erschweren damit Selbst-, Gottes- und Nächstenliebe. Man hasst z.B. die „Anderen“, weil man sie nicht kennt! 4. Lebensqualität – auch eine Frage der Kombination verschiedener Instrumente Physisches und seelisches Ungleichgewicht kann nicht mit einem einzigen Instrument erhalten werden. Es bedarf auch hier – unter der Voraussetzung menschlicher Freiheit – einer Kombination verschiedener Instrumente:

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Görge K. Hasselhoff: Moses Maimonides interkulturell gelesen, Nordhausen 2009, S. 88. 215 Thomas d´ Aquin et ses sources arabes / Aquinas and ´the Arabs´, Conference Université Paris I, Pantheon-Sorbonne, in collaboration with the Aquinas and ´the Arabs´ International Working Group, 3-4 June 2013. Ich verdanke den Hinweis auf diese wichtige Tagung in Paris meinem Freund Prof. Dr. Illo Humphrey von der Université de Nanterre.

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Diät (diaita), Ernährung, Gymnastik und physische Bewegung, Retention und Entleerung, Ausleitungsprozess (Aderlass, Schröpfen, Brennkegel), Schlafen, Baden und Massage, Heilmittel (Pflanzen, tierische Stoffe, Metalle, Nahrungsmittel als Heilmittel etc.), „Bewegungen der Seele“.216 Die ´Wahrheit´ liegt in der Kombination mehrerer Methoden. In seinem Opus Acht Kapitel fasst Maimonides Wahrheit als die intellectuellen Tugenden217 auf. Als Friede (inkl. Gerechtigkeit) werden „dagegen die moralischen Tugenden bezeichnet, auf welchen der Friede in der Welt beruht.“ Wahrheit, Gerechtigkeit und Friede „sind die Pfeiler der menschlichen Gesellschaft“ (Talmud Gotteslehre Kap. 10). Heiner Geißler: Freiheit und Gerechtigkeit dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sie sind „gleichwertig“. ´Wahrheit´ und ´Frieden´ und das sich aus beiden ergebende Streben nach Bildung müssen auch bei der individuellen Gesundheit des Individuums und bei der kollektiven Gesundheit der übergeordneten Institutionen (Familie, Kommune, Staat, überstaatliche Gemeinschaften) harmonisch zusammenwirken. Die Bildung ist gewissermaßen der Kitt, der Wahrheit und Frieden zusammenhält. Erst durch ´Wahrheit´ und ´Frieden´ wird echte Bildung möglich. Bildung war und ist für Juden lebenswichtig. „Wer nicht lernen will, ist des Lebens unwert; wer nicht zulernt, nimmt an Wissen ab“. (Talmud, Gotteslehre, Kap. 2). Die eingesetzten Instrumente, zu denen also auch ´Wahrheit´ u. ´Friede´ gehören, müssen sich, auf einen bestimmten Konstitutionstyp bezogen, die Waage halten, eine Regel, welche bereits Hildegard von Bingen als discretio, als Wahrung des rechten Maßes, bezeichnete. Diese müssen sich im Gleichgewicht (siehe oben) befinden, „um das gesamte Gesund216

Diese diversen „Säulen“ der Medizin finden sich in diversen Werken von Maimonides. Ich habe diese „Säulen“ verschiedenen Abhandlungen entnommen, vor allem dem Werk über das Asthma. Vgl. dazu Wilhelm Kaltenstadler: Maqāla fī al-rabw – Die Abhandlung des Maimonides über das Asthma, Nordhausen 2013, S. 32-34. 217 Maimonides (Mose ben Maimon): Acht Kapitel. Eine Abhandlung zur jüdischen Ethik und Gotteserkenntnis, 2. Auflage, Hamburg 1992, S. 25.

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heitssystem nicht zu gefährden und ihm nicht zu schaden.“218 Im Gesundheitssystem von Moses Maimonides steht die seelisch-geistige Gesundheit im Vordergrund. 5. Goldener Mittelweg und Gotteserkenntnis Der Mensch kann das Gleichgewicht von Seele und Körper nur realisieren und ein evtl. verloren gegangenes Gleichgewicht wieder herstellen, wenn er sich tugendhaft verhält und übertriebene emotionale Handlungen und vor allem die Laster, die Gegenpole der Tugenden, vermeidet. Als Beispiele nennt Maimonides unaufrichtiges Reden, übermäßiges Lachen.219 Die Laster sowohl als intellektuelle als auch moralische Fehler bilden „eine Scheidewand zwischen den Menschen und Gott.“220 Bereits „das übermäßige Prunken, um den Reichtum zu zeigen, bei alltäglichen, s. g. ´festlichen´ Gelegenheiten“ bezeichnet Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik II 6,18f – sie ist eine der wichtigen Fundamente der Ethik von Maimonides – „als etwas Bauernmäßiges (βαναυσία) und als Geschmacklosigkeit (ἀπειροκαλία)“. Es handelt sich hier gewissermaßen um Vorstufen des Lasters – sie befinden sich auf der Tugend-Laster-Skala also zwischen Mitte und Extrem. Der Weg zum vollen Laster der Verschwendungssucht ist nicht mehr weit. Positive bzw. negative Einstellungen und Handlungen wirken sich nicht nur auf den Handelnden selbst, sondern auch auf die ´Nächsten´ und evtl. auch auf die ´Fernsten´ aus. Zu den „Fernsten“ bzw. Nächsten gehören – das hängt von uns ab – u.a. auch die ´Anderen´ (Fremde) und sogar unsere Feinde. Der Fremde genießt sowohl im Alten Testament als auch bei Maimonides hohe Wertschätzung. 218

Reinhard Schiller: Hl. Hildegard. Atlas der Edelsteine und Metalle, Augsburg 1993, S. 11. 219 Maimonides: Mishne Thora, Sefer Madda´, Hilkhot De´ot, Kap. 2, Nr. 7 (Ausgabe Goodmann Thau, S. 155). Vollständige moderne deutsche Übersetzung. In: Die Mischna: Ins Deutsche übertragen, mit einer Einleitung und Anmerkungen von Dietrich Correns, Wiesbaden 2005. Zitiert nach Görge K. Hasselhoff: Moses Maimonides interkulturell gelesen, a.a.O., S. 92. 220 Maimonides: Acht Kapitel, a.a.O., S. 55, Kap. 7 „Von den Scheidewänden“.

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Negative Verhaltensweisen sind aus der Sicht der religiösen Ethik Gott nicht wohlgefällig und stören die Harmonie zwischen Gott und Mensch und auch die Beziehungen zu den Mitmenschen. Im Grunde liefern bereits Altes Testament und Talmud die Basis für die kaum realisierbare Feindesliebe des Neuen Testamentes: „Freue Dich nicht über die Trübsal deines Feindes, dein Herz frohlocke nicht, wenn er gestrauchelt ist.“ (Talmud Gotteslehre, Kap. 9). Wir sehen: Auch die Feinde werden nicht einfach tot geschwiegen. Die Fremden sowieso nicht! Mit Berufung auf Salomo (und im Grunde auch auf Aristoteles!) empfiehlt Maimonides bei allen Handlungen, „den mittleren Weg zu suchen und die Extreme zu vermeiden.“ Wenn man es positiv formuliert, dann besteht der Sinn des mittleren Weges in der Gotteserkenntnis: „Der Mensch soll sein Herz und seine Handlungen lediglich darauf richten, Gott zu erkennen.“ Das gilt auch für Essen und Trinken. Es ist also konsequent, dass es seit 2010 auch in Deutschland eine „Ernährungs-Ethik“, vertreten durch das „Deutsche Netzwerk Ernährungsethik“ (www.dnee.de), gibt. Diese neue Ethik macht deutlich, dass Maimonides auch, was die Ernährung betrifft, absolut aktuell ist. Der folgende auf Maimonides bezogene Satz bringt die Sache auf den Punkt: So esse und trinke der Mensch nicht nach seinem Gelüste, sondern „nur das dem Körper [und zu ergänzen: dem Geiste] Zuträgliche“. Beide, Essen und Trinken, sind im Grunde nur „Arzneimittel, um gesund und unversehrt dazustehen.“ Das andere Extrem, vor welchem Maimonides warnt, ist der Gesundheitswahn, den es nach wie vor gibt:

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„Doch wer nach den Regeln der Gesundheit lebt, nur um Körper und Glieder zu erhalten und Kinder zu erzeugen, die seine Arbeit verrichten, und sich für seine Bedürfnisse abzumühen, der hat einen schlechten Weg erwählt; er erhalte vielmehr deshalb seinen Körper unversehrt und stark, damit seine Seele umso empfänglicher werde, Gott zu erkennen […]“.221

6. Tugendlehre (Ethik), Mittelweg, ´Gesetz´ und Gleichgewicht Die Liebe zu Gott und dem Nächsten manifestiert sich durch Tugenden. Diese stellen im Sinne der Nikomachischen Ethik nach Aristoteles die Mitte zwischen zwei Lastern dar. Ein Beispiel: Die Tugend „Sparsamkeit“ bzw. „Mäßigkeit“ ist die gesunde Mitte zwischen Geiz einerseits und Verschwendung andererseits. Das Gleichgewicht von Seele und Leib ist gefährdet, wenn der Mensch allzu oft und intensiv vom gesunden Mittelweg abweicht. Tugend beruht auf Weisheit. Sie fällt jedoch dem viel leichter, der sich nicht allzu sehr dem Erwerbe (chrematistiké) hingibt. Der Talmud bietet hier zahlreiche nach wie vor aktuelle Verhaltensregeln. Z.B. den Umgang mit Ungebildeten meiden! Daheim und nicht auswärts essen (Babylonischer Talmud). Eine wichtige, aber nicht allein ausreichende Basis des physischen und psychischen Gesundheitssystems von Moses Maimonides ist „die zu erreichende Mitte im Gleichgewicht der Säfte im Körper, dem Grundprinzip der hippokratisch-galenschen Heilkunst.“222 In einem solchen auf Gleichgewicht ausgerichteten System „muss die Ursache für das Ungleichgewicht gesucht und dem entgegengesteuert, also z.B. die Hitze des Körpers mit Kälte bzw. Kühlung ausgeglichen werden.“223 Im geistig-psychisch-ethischen Bereich dagegen reicht die Herstellung eines 221

Maimonides: Mishne Thora, Sefer Madda´, Hilkhot De´ot, Kap. 2, n. 3 (Ausgabe Goodman-Thau, 159). 222 Görge K. Hasselhoff, a.a.O. S. 89. 223 Görge K. Hasselhoff, ebd. S. 89.

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rein physischen Gleichgewichts durch die Philosophie nicht aus. Hier müssen die Gebote der Thora und die Vorschriften des Talmuds zur Anwendung kommen, wie Maimonides in verschiedenen Abhandlungen immer wieder deutlich macht. Der Logos, die auf Weisheit beruhende Vernunft, wird dadurch aber nicht überflüssig (Rede von Benedikt XVI in Regensburg Sept. 2006). Gott hält sich – so Benedikt XVI. – an den Logos. Die Notwendigkeit der Disziplinierung durch Ge- und Verbote (Thora, Talmud etc.) Maimonides hält eine solche Disziplinierung durch Ge- und Verbote für notwendig, weil viele Menschen träge sind und keine Selbstdisziplin üben. Er steht allerdings einem „gesetzlichen Rigorismus, der gegen den Sinn der Gebote verstoßen würde“, skeptisch gegenüber. Bezug zum Nächsten haben auch die 10 Gebote, vor allem das 4. Gebot (Exodus 20; Lev. 19,3 u. 20,9; Deut 5; Sprüche 1,8). Eltern und Kinder sind bei Maimonides und im Alten Testament „Nächste“ der ganz besonderen Art. Gott verspricht den Kindern, die ihre Eltern achten und ehren, schon einen hohen Lohn auf Erden für ihr Verhalten. In diesem Zusammenhang ist die Erkenntnis wichtig, dass für Maimonides die göttliche Thora mit der menschlichen Vernunft erfassbar und auch vereinbar ist. Der Mensch kommt also durch die Wahrung seines physischen und psychischen Gleichgewichts und durch die Einhaltung des Mittelweges zu einer menschlichen Vollkommenheit, „die eine reine Gottesverehrung ermöglicht“ und somit auch zur Erhaltung und evtl. Wiederherstellung der Gesundheit u. Lebensqualität beiträgt. Die meisten Menschen brauchen zur Erreichung dieses höchsten Ziels Ge- und Verbote und klare Regeln. 7.

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8. Menschliches Zusammenleben bedarf der Regeln – der Weg zum ´Nächsten´ 8.1 Allgemeine Lebens- und Gesundheitsregeln – eine Auswahl aus den „Aphorismen“ Es gibt so viele Lebens- und Gesundheitsregeln bei Maimonides, dass ich mich hier auf eine Auswahl beschränke. Maimonides kennt auch die „Lebensregeln“ bei Kohelet 5-7. Die Beurteilung der Frau als „Nächste“ bei Maimonides ist weniger ambivalent als im Alten Testament! Beispiel: „Genieße das Leben mit der Frau, die du liebst, alle Tage deines nichtigen Lebens, die Gott dir gibt unter der Sonne.“ (Koh. 9,9). Auch Maimonides ist skeptisch dem Geld und der sog. Wirtschaft gegenüber: “Wer Geld liebt, bekommt nie Geld genug“ (Koh. 5,9). Körperliche Bewegung dient der Erhaltung der Gesundheit, doch man hüte sich vor Übertreibungen. Besser sich vor als nach dem Essen bewegen. Mäßige Bewegung! Man sollte regelmäßig den Tag mit Gymnastik beginnen. Kein Genuss von Nahrungsmitteln, welche zu schlechten Körperflüssigkeiten führen! Jeder sollte aus Erfahrung lernen, welche Nahrungsmittel und Getränke und welche Aktivitäten ihm schaden und von welchen er sich enthalten sollte. Entscheidend für eine gute Ernährung ist gutes Brot. Es sollte unbedingt die Randschichten des Getreidekorns enthalten. Wein ist für junge Leute extrem schädigend, aber für Ältere „sehr gesund“. Kopfweh, das sich von der Überempfindlichkeit des Nervs, der am Magenmund wächst, herleitet, sollte mit strenger Diät – im Dinne der altgriechischen Diaita – behandelt werden.

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8.2 Regeln für das Leben im Alltag – Werte und Weisheit Zahlreiche allgemeine Gesundheits- und Lebensregeln finden sich im Buch „Maqala fi a-rabw“, der „Abhandlung über das Asthma“, welches Gerrit Bos herausgab. Ich verweise diesbezüglich auf das Asthmabuch, das als Bd. 12 der „Jerusalemer Texte“ 2013 bei Bautz in deutscher Sprache erschien. Wenn man im praktischen Leben menschenwürdig und gottergeben leben will, muss man sich auch im Alltag an Regeln halten. Die Ge- und Verbote der Thora und des Talmud reichen im Grunde hier weitgehend aus, darum müsse man „nicht talmudischer leben, als es die Thora gebietet. Man könne den Vorschriften der heiligen Schriften also auch genügen, ohne dass man permanent fastet, sich kasteit und geißelt.“ Der wahrhaft fromme Mensch, der sich der Extreme enthält und den Mittelweg gefunden hat, „muss nicht einmal auf den Genuss des Weines und des Fleisches verzichten, wenn es seine humorale Konstitution erlaubt“. Allerdings ist Maimonides zutiefst davon überzeugt, dass selbst der Konsum „über den rein materiellen Bereich“ weit hinausreicht. Denn alle Taten des Menschen richten sich selbst im Bereich der materiellen Bedürfnisbefriedigung auf den Herrn: „Der Herr, gesegnet sei Er allein.“224 Die Orientierung an Gottes Geboten bezieht sich auf die gesamte Lebensführung. Maimonides zeigt in Kap. 3 der „Laws of Human Temperaments“ die konkreten normalen Regeln des Alltags auf, wie der gläubige Mensch seinen Konsum und sein tägliches Verhalten in religiöser Sicht auszurichten habe. In allen seinen Handlungen sollte sich der

224

Maimonides´ Laws of Human Temperaments, Kap. 3, in: Moses Maimonides´ Medical Writings, Vol. 4, Haifa 1990, S. 190.

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Mensch bewusst sein, dass „er nicht nur die Absicht haben solle, bloß Wohlstand anzuhäufen.“ Auch in diesem Kapitel über die Alltagsregeln wird klar, dass der Wohlstand kein Selbstzweck ist und Wirtschaften und Konsum nicht bloß dazu dienen, „die Dinge, welche sein Körper braucht zu erhalten, nämlich Nahrung, Trinken, ein Haus, um darin zu leben, und die Heirat einer Frau.“ Die schönen Dinge des Lebens sind also nicht absolut zu setzen, sondern dienen dazu, „nur die Gesundheit seines Leibes und seiner Glieder [und zu ergänzen: auch seiner Seele] aufrechtzuerhalten.“ Für den religiösen Menschen gilt die tägliche Sorge für das körperliche und geistige Wohlbefinden also als „religiöses Erfordernis“ (religious demand). Darum sind auch die obersten Ziele des gesundheitsbewusst lebenden Menschen das Streben nach Weisheit (sie ist ein Abglanz Gottes) und die „seelische Harmonie mit Gott.“ Somit ist selbst die Sorge für die materiellen Bedürfnisse ein Dienst für Gott und „um des Himmels willen.“ In der Schrift „Acht Kapitel“ konkretisiert er als oberste Ziele die Werke, „denen wir nachfolgen sollen, als: Liebe, Recht und Gerechtigkeit. Es sind dies Werte (so würde man heute sagen), an denen Gott sein Wohlgefallen hat, wenn man sie tatsächlich „auf Erden ausübt.“ In diesem Sinne äußert er sich auch im „Führer der Unschlüssigen“ (More Nevuchim). Die Welt beruht auf drei Säulen: Thora, Gottesdienst, Nächstenliebe (Talmud). Man beachte auch die „Fünf Säulen des Islam“: Glaubensbekenntnis, rituelles Gebet, Almosen, Fasten, Pilgerreise nach Mekka. 10. Schlussbetrachtung und Fazit Bei Maimonides lassen sich die Wege zu Gott, zum Nächsten und zu sich selbst nicht so ohne weiteres trennen. Es sind nämlich oft die gleichen Wege. Deus caritas est (Gott ist die Liebe), stellte Papst Benedikt XVI in einer Enzyklika fest. Wer sich z.B. an die Regeln, auch die Regeln der Hygiene, hält, der tut das nicht nur für sein eigenes Wohlerge-

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hen und aus Liebe zu Gott, sondern auch in der Erkenntnis, dass die Beziehungen zum Mitmenschen, zum ´Nächsten´ ohne solche Regeln nicht funktionieren können. Viele dieser Regeln sind nach jüdischem Selbstverständnis auf göttliche Einwirkung zurückzuführen, sie sind aber auch das Produkt einer langen menschlichen Erfahrung. Diese wird im Judentum nicht absolut gesetzt, sondern ist ohne den Glauben an Gott nicht denkbar. Solche Regeln, wie sie vor allem in der Thora und im Talmud zu finden sind, haben nicht nur einen Bezug zum religiösen Glauben, sondern äußern sich in einer bestimmten Ethik. Hier steht bei Maimonides nicht die jüdische, sondern die Perspektive der altgriechischen Philosophie im Vordergrund. Dass die Tugenden der Mittelweg zwischen zwei Extremen sind, entspricht nicht nur der Nikomachischen Ethik, sondern auch dem Denken der religiös eingestellten Juden und der Thora. Extremisten sind im Judentum nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Die Gottesliebe ist das oberste Ziel im theologisch-philosophischen System von Maimonides. Doch auch der fromme und weise Mann kann Gott nicht wirklich achten und lieben, wenn er seine Mitmenschen und sich selbst hasst oder verachtet. Es existiert also nicht nur ein Liebesgleichgewicht, sondern auch ein Gleichgewicht in allen Lebenslagen und –bereichen. So betrachtet, schließen sich Ökonomie und Humanität nicht aus. Die Wege zu Gott, zum Nächsten und zu sich selbst sind oft identisch. Diese lassen sich nicht auseinanderdividieren und fein säuberlich in verschiedenen Schubladen archivieren, sondern gehen harmonisch Hand in Hand. Modern ausgedrückt: Das Eigene ist nicht ohne das Andere, das Andere nicht ohne das Eigene zu haben. Diesem scheinbar einfachen Sachverhalt waren die Referenten der Hamburger Reihe „Das Eigene und das Andere. Zur Aktualität jüdischen Denkens“ im Frühjahr 2015 auf der Spur. Das Eigene und das Andere sind allerdings Kriterien, welche nicht auf das jüdische Denken beschränkt sein sollten. Umsetzungen ins christliche, jüdische und islamische Denken sowie in den kulturellen, 146

ökonomischen und politischen Alltag sind nicht nur erwünscht, sondern auch gefordert. Damit das hier Gesagte nicht reine Theorie bleibt, gilt auch hier die Aufforderung von Rabbi Hillel an seinen Schüler „Geh hin und lerne!“ Das hätte so auch Maimonides sagen können.

Diese Abhandlung ist aus dem am 19.03.2015 bei der Katholischen Akademie in Hamburg gehaltenen Vortrag „Wege zu Gott, zum Nächsten und zu sich selbst“ entstanden, und zwar im Rahmen der wissenschaftlichen Reihe “Das Eigene und das Andere – Zur Aktualität jüdischen Denkens“. Dieser Traktat ist bis jetzt (Stand 17.7.2016) noch nicht publiziert.

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Judentum, Christentum und Kulturtransfer Bedeutung des jüdischen Rechts – wie steht es mit dem Römischen Recht? Der Kulturtransfer nach Europa hat ganz wesentlich mit der Tradition des Rechts zu tun. Europa ist geprägt durch mehrere Rechtskreise, die sich vielfach auch miteinander vermischt haben. So wirkten auf die deutsche Kulturentwicklung nicht nur das Römische, das kanonische, das germanisch-deutsche Recht und, was vielfach verkannt wird, auch die Rechtsvorstellungen des Alten Testaments und des Talmud ein. Nur wenigen Historikern ist bislang bewusst geworden, wie stark jüdisches Leben bereits in der Antike nicht nur vom religiösen Glauben, sondern auch von minutiös festgelegten rechtlichen Regelungen geprägt war. Diese rechtliche Prägung wirkt weit mehr, als wir das aus dem Römischen Recht kennen, in den Intimbereich des Familienlebens hinein. Es gab hier nichts, was nicht bis ins kleinste geregelt war: Verlobungen, Verschreibungen, Ehekontrakte, Scheidung, Heiligungen, Trauungsformen etc.225 Seitenweise findet man im Talmud detaillierte Erörterungen über die Frage, welcher Tag der Woche und welche Tageszeit sich für Trauungen am besten eignet und welche Tage und Tageszeiten man beim Heiraten unbedingt vermeiden sollte. Dabei gibt es verschiedene Tage, an welchen Jungfrauen und Witwen heiraten oder nicht heiraten durften. Als ideale Hochzeitstage für Jungfrauen galten Dienstag und Mittwoch, der 3. und 4. Tag der Woche, für Witwen der Donnerstag, der 5. Tag der Woche. Auf gar keinen Fall durften Jungfrauen am Freitagabend und Sabbatabend vermählt werden.226 Bis weit ins 20. Jahrhundert herein lehnten es traditionsbewusste katholische Geistliche – allerdings

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Vgl. vor allem Jakob Fromer (Hrsg.): Der Babylonische Talmud, 6. Aufl. 2000, Dritte Ordnung, Blatt 55 b – 57 b, 1. - 4. Traktat. 226 Jakob Fromer: Der Babylonischer Talmud, ebd., Dritte Ordnung, 3. Traktat, Scholie 1, Anhang 3, S. 355.

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aus anderen Gründen - in Altbayern, vor allem auf dem Lande, ab, Trauungen am Samstag durchzuführen. Diese detaillierten Regelungen des jüdischen Talmuds sind jedoch nicht primär von religiösen, sondern sehr pragmatisch von rechtlichen Normen und sozialen Erwägungen her bestimmt. Der Talmud zeigt also noch mehr als das Alte Testament, wie wichtig das Recht für das Zusammenleben der Juden bereits in der Antike war. Ich habe mich in einem großen Festschriftbeitrag „Betriebsorganisation und betriebswirtschaftliche Fragen im Opus Agriculturae von Palladius“227 auch mit den Rechtsquellen der Spätantike auseinandergesetzt, vor allem mit dem erstmals von Theodor Mommsen herausgegebenen Codex Theodosianus, und bin zur Erkenntnis gekommen, dass die Rechtsquellen erstens viel objektiver sind als die literarischen Quellen der Antike und dass diese zweitens auch die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse vielfach besser widerspiegeln. Nach der herrschenden Meinung der allgemeinen und der Rechtsgeschichte im besonderen ist unser europäisches Rechts- und Gesellschaftssystem bis in unsere Gegenwart herein vor allem vom Weiterwirken des – erstaunlicherweise erst so richtig in der frühen Neuzeit übernommenen - Römischen Rechts geprägt, die Welt des Glaubens dagegen fast ausschließlich über das Alte und Neue Testament vom Judentum bzw. Christentum. In der Realität sind diese beiden Wirkungsfaktoren aber nicht so einfach abgrenzbar. Zu bedenken ist, dass noch im Hohen Mittelalter das Römische Recht weitestgehend unbekannt war. Auch ein Universalgelehrter wie Roger Bacon kennt nur das jüdische Recht. Das Römische Recht ist ihm genauso unbekannt wie das sog. Kanonische Recht.228 Die Bibel und die jüdischen Schriften haben also auch in rechtlicher Hinsicht wohl die 227

Erschienen in der Festschrift für Siegfried Lauffer „Studien zur Alten Geschichte“, hrsg. von Hansjörg Kalcyk, Bd. II, Roma 1986, S. 503 – 557. Palladius lebte wohl in der Spätantike, er gibt das reale Leben besser wieder als die sog. klassischen Autoren wie Tacitus, Cicero etc. 228 Autorenkollektiv: Antisemitismus in der Geschichtswissenschaft, Hamburg 2004, S. 26f.

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europäische Kultur des Mittelalters und der Neuzeit mehr geformt und geprägt als das Römische Recht und die griechische Philosophie. Natürlich hat auch die römische Kultur Europa geprägt, aber weniger direkt, sondern mehr auf dem Umweg über die Katholische Kirche. Bis heute gehen katholische und teilweise auch protestantische Glaubensvorstellungen auf die Glaubenswelt der Etrusker, Römer, Perser und wohl auch auf die Kelten zurück. Ein Nachweis für das Nachwirken der Kelten ist nur schwer zu erbringen, da die Kelten keine uns überlieferte Schrift gekannt haben sollen und nur archäologische Quellen wie Gräber mit Beigaben, Münzen, Schanzen, Bergbauprodukte mit Halden, Schmuck wie z.B. Amulette erhalten sind. Mit ziemlicher Sicherheit ist auch das mittel- und westeuropäische Brauchtum wie z.B. Halloween am 1. November von keltischen Vorstellungen geprägt. Der Umfang des keltischen Erbes in Mitteleuropa ist bis heute immer noch weitestgehend ungeklärt.229 Weit mehr als die schriftlosen Kulturen der Kelten und anderer Naturvölker hat jedoch das Judentum, das „Volk des Buches“, vor allem über Altes Testament und Talmud, nicht zuletzt in den USA, auch die Sphäre des Rechts und des menschlichen Zusammenlebens stark beeinflusst. Die Weisung des 5. Gebotes „Du sollst nicht töten“, ist im Alten Testament durchaus vereinbar mit der Todesstrafe in besonderen Fällen, welche allerdings die Frauen weitaus mehr treffen als die Männer.230 Mord wird zwar im Alten Testament mit der Todesstrafe belegt, er ist aber erlaubt, „wenn er den Zielen Jahwes dient. Selbst heimtückische Bluttat wird dann offensichtlich als gottgefällig angesehen.“231 Auch der Krieg ist im Alten Testament Bestandteil des geltenden Rechts. 229

In einer knappen Form beschreibt E.W. Erhorn: Unsere keltischen Vorfahren. Keltensiedlungen in unserem Gemeindegebiet! In: Röhrmooser Heimatblätter, 10. Jahrg. (2006) die Nachwirkungen der keltischen Kultur in Altbayern. 230 Walter-Jörg Langbein: Lexikon der biblischen Irrtümer, München 2003, Kap. „Todesstrafe: Was die Bibel alles fordert!“, S. 137-140. 231 Walter-Jörg Langbein: Lexikon der biblischen Irrtümer, ebd., Kap. „Mord – im Auftrag Gottes“, S. 101-103, hier S. 101.

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Davidson und andere erklären die Geburt des modernen europäischen Rechts primär aus dem Geist des Judentums232 und halten den Glauben an die Wirkung des Römischen Rechts auf unser Rechts- und Gesellschaftssystem für stark überzogen. Professor Zarnack geht sogar noch weiter als Landau und leitet den Namen Jesus, allerdings ohne tragbare historische Belege dafür zu nennen, vom lateinischen ius (Recht) ab.233 Jesus ist also aus seiner Sicht nicht nur der religiöse Mittler zwischen der jüdischen Religion und den Menschen, sondern auch ein Vermittler jüdischer Rechtsvorstellungen. In diesem Sinne ist Roman Landau überzeugt, dass bereits „das Mittelalter völlig unter dem Eindruck nicht nur der jüdischen Geschichte, sondern auch unter dem Einfluß des jüdischen Rechts gestanden zu haben“ scheint. Landau hat in seinem kurzen Kapitel „Die Geburt des Rechts aus dem Geist des Judentums“234 diese Frage nur aufgeworfen, aber nicht endgültig gelöst. Seine Auffassung wäre es jedoch wert, von Historikern und Juristen – auch im geistesgeschichtlichen Zusammenhang und unter stärkerer Berücksichtung hebräischer Quellen auch des Mittelalters – näher unter die Lupe genommen zu werden. Christliche Religion – Glaube an der Oberfläche? Über die Idee des jüdischen Rechtsdenkens hinaus teile ich Davidsons Auffassung von der großen Bedeutung der jüdisch-christlichen Geistesund Mentalitätsgeschichte. Diese Geistesgeschichte muss auch in quel232

In Großbritannien war nicht nur das „Jewish money“ im Umlauf, sondern es wurde dort noch lange aschkenasisches Recht, sog. germanisches Recht, angewendet (mündlicher Hinweis von Herrn Dr. Schweisthal). 233 Wolfram Zarnack: Hel, Jus und Apoll / Sonnen-Jahr und Feuer-Weihe: Wurzeln des Christentums. Eine sprach- und symbolgeschichtliche Skizze, Göttingen 1997. Auch nach Christoph Pfister: Die Matrix der alten Geschichte, Fribourg 2002, S. 371 steckt der Begriff jus (Recht) im Wort Juden. Er leitet dies auch von der Tatsache ab, dass bei ihnen wie kaum bei einem anderen Volk das Gesetz betont und geachtet wird. Das zeigt der Talmud mit seinen vielen Vorschriften, welche ein frommer Jude zu beachten hat. 234 Roman Landau: Anmerkungen zum Zivilisationsprozeß. Weitere Beweise für die Fiktionalität unseres Geschichtsbildes, Hamburg 2003, S. 44-47.

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lenarmen Perioden in Verbindung mit der Religionsgeschichte analysiert werden. Dabei kommt man am Werk von Aaron J. Gurjewitsch nicht vorbei, in deutscher Sprache als „Mittelalterliche Volkskultur“ vom Beckverlag München in 2. Aufl. 1992 herausgegeben. Dieses Werk zeigt, wie rückständig die Masse der Menschen im Mittelalter und weit bis in die Neuzeit hinein vor allem in Mittel-, Ost- und Nordeuropa noch lebte und wie gering christliche Mentalität und christliches Leben selbst im Hochmittelalter in der großen Masse der Bevölkerung verankert waren. Die „ambivalente, absonderliche Weltanschauung“235 der Menschen des Mittelalters unterschied sich also auf jeden Fall bis in die Neuzeit hinein ganz erheblich von der offiziellen Lehre der Kirche. Diese Aussage gilt nicht nur für das ´christliche´ Europa, sondern auch für die Kolonien. So führte die autoritäre Missionierung der Indianer durch die Kolonialmächte in Lateinamerika dazu, dass die Christianisierung nur an der Oberfläche haften blieb. „Insbesondere in Brasilien hielten sich bei den Indianern, besonders aber bei den als Sklaven importierten Afrikanern Geheimkulte, die mittlerweile wieder offen ausgeübt werden.“236 Auch heute noch werden katholische Symbole und Glaubensinhalte mit den religiösen und sonstigen Riten ihrer Vorfahren kombiniert. Diese sind verbunden mit rhythmischen Tänzen, lauter Musik und ausgeprägter Gebärdensprache des gesamten Körpers, wie noch heute der brasilianische Karneval deutlich macht. Diese Oberflächlichkeit des christlichen Lebens gilt in besonderem Maße auch für Avignon, wo der Papst im 14. Jahrhundert residierte, das Rom der Renaissance und der Barockzeit. Wenn man den Worten des Humanisten Petrarca, der viele Jahre in Avignon lebte und wirkte, Glau235

Aaron Gurjewitsch: Problemy srednevekovoj narodnoj kul´tury, aus dem Russischen übersetzt von M. Springer, „Mittelalterliche Volkskultur“, 2. Aufl., München 1992, S. 104. 236 Jean Delumeau: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, Reinbek bei Hamburg 1989, Originalausgabe unter dem Titel „La Peur en Occident (XIVe-XVIIIe siècles). Une cité assiégée, Paris 1978, S. 395.

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ben schenken darf, dann war Avignon eine Stätte, welche der Dichter mit Babylon im Sinne der Geheimen Offenbarung vergleicht. Was Petrarca über den päpstlichen Hof dort in seinem Brief an Francesco Nelli in Avignon vom Stapel lässt, lässt das sündige Rom der Renaissance geradezu in einem relativ hellen Lichte erscheinen. Ich zitiere Petrarca: „Die eine Kraft hat dich nach Babel gezogen, die andere hält dich fest. Hart ist das, doch muß man es tragen; so ist ja nun einmal die Natur des Ortes. Alles Gute wird dort verderbt, aber allem zuvor die Freiheit; bald genug dann der Reihe nach Ruhe, Freude, Hoffnung, Glaube, Liebe und ... die Seele: welch ungeheure Verluste! Aber im Königreiche des Geizes bucht man nichts als Schaden, solange nur das Geld heil bleibt. Die Hoffnung auf das künftige Leben hält man dort für eine leere Fabel, was man von der Hölle erzählt, alles für erdichtet und die Auferstehung des Fleisches, das Weltende, Christi Wiederkehr zum Gericht – all dies gilt für Kinderpossen. Wahrheit ist dort Wahnsinn, Enthaltsamkeit bäurische Einfalt, Keuschheit schlimmste Unzucht. Zügelloses Sündigen dagegen gilt für Hochherzigkeit und höchste Freiheit, und je befleckter ein Leben, umso glänzender ist es; je mehr Verbrechen, um so mehr Ruhm. Der gute Name ist wertloser als Kot, die wertloseste Ware ist der gute Ruf.“237 Selbst wenn man annehmen darf, dass der Dichter dem Papsttum in Avignon ablehnend gegenübersteht, da ja der Vatikan in Rom für ihn der wahre Sitz des Papstes ist, darf man diese Zeilen nicht einfach als Produkt der poetischen Phantasie abtun. Denn es steht fest, dass Petrarca in seinen Briefen und sonstigen schriftstellerischen Werken die Ereignisse und Zustände seiner Zeit, wenn auch manchmal in dichterischer Verklärung und Übersteigerung, richtig wiedergibt. Im Vergleich zu Avignon war aber auch das Rom der Renaissance nicht das Abbild des himmli237

Francesco Petrarca: Dichtungen, Briefe, Schriften. Auswahl und Einleitung von Hanns W. Eppelsheimer, Frankfurt am Main 1980, Brief an Francesco Nelli in Avignon, Mailand, Frühjahr 1358, S. 128-136, hier S. 128f. Siehe auch Francesco Petrarca: Epistole, a cura di Ugo Dotti, Unione tipografico – Editrice Torinese (= Classici Italiani), Torino 1978, S. 599ff.

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schen Jerusalem: „Für die Bewohner der ewigen Stadt, egal ob männlich oder weiblich, arm oder reich, sündhaft oder ehrbar lebend, war der tägliche Kirchgang, die zumindest äußerliche Einhaltung der Fasttage und die Teilnahme an großen religiösen Festen eine Selbstverständlichkeit.“238 Dieser Glaube war aber nur wenig durch den Geist des Neuen Testamentes, sondern stark durch die religiösen Vorstellungen der altrömischen Religion und heidnisch-antike Vorstellungen geprägt. Michael Wolffsohn prägte darum in seinem neuesten Werk den Begriff der „Entjesuanisierung“239 des Christentums, vor allem seit der Etatisierung und Verstaatlichung durch Kaiser Konstantin zu Beginn des 4. Jahrhunderts nach Christus. Heidentum noch wirksam im Mittelalter? Die römische Religionspraxis führte nicht nur zu einer „Profanierung geistlicher Stätten“, sondern auch dazu, dass nicht nur in Rom, sondern auch allgemein in italienischen Kirchen seit dem Mittelalter „seltsame heidnische Feste abgehalten“ worden waren. Es genügt hier, das Festum asinorum, das Eselsfest, zu nennen. Bei diesem „wurde ein mit Priestergewändern bekleideter Esel in einer Prozession durch das Gotteshaus geführt.“240 Bräuche bzw. Verirrungen dieser Art zeigen, dass sich alte antike und mittelalterliche Kultvorstellungen bis in die Neuzeit erhalten haben. Kirchen hatten also nicht nur eine sakrale Funktion, sondern waren auch Orte der Belustigung, Jahrmarkt der Eitelkeit und Stätten nichtchristlicher Kulthandlungen. Sie wurden deswegen wie in der Antike die 238

Monica Kurzel-Runtscheiner: Töchter der Venus. Die Kurtisanen Roms im 16. Jahrhundert, München 1995, Kap. „Der Umgang mit dem Glauben“, S. 176-182, hier S. 177. 239 Michael Wolffsohn: Juden und Christen – ungleiche Geschwister, Düsseldorf 2008, p. 15ff betrachtet die “Entjesuanisierung” gleichzeitig als eine „Etatisierung“des römisch-katholischen Christentums. Er ist überzeugt, dass die Abwendung vom Weg, den Jesus ging, bereits in der späten Antike ein Rückschritt zum vortalmudischen aristokratisch-priesterlichen Judentum und die Entfremdung vom bügerlich-pharisäischen Jesus war. (Wolffsohn, a.a.O., S. 80 unten). 240 Kurzel-Runtscheiner: Töchter der Venus, ebd., S. 177.

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Tempel auch von sündigen Menschen, z.B. den Kurtisanen und den Dirnen, regelmäßig besucht, um zu sehen und gesehen zu werden. Vor allem religiöse Prozessionen wie beim Fronleichnamsfest waren gute Gelegenheiten, schöne Frauen in aller Pracht und Herrlichkeit vorgeführt zu bekommen.241 Nicht nur in Rom waren die Fronleichnamsprozessionen „mit ganz und gar unchristlichen, offensichtlich heidnischen Elementen durchsetzt, was wohl auch der Grund war, warum Luther dieses Fest so vehement bekämpfte. Festspiele, Böllerschüsse, Blumen- und Kräuterkulte, Jungfernschauen und schließlich Rauf- und Saufgelage waren einst weit verbreitet!“242 Mancherorts bis in die neueste Zeit hinein! Wie wenig der Kirchenbesuch vielfach überhaupt mit Glaube, Gebet und Religionsausübung zu tun hatte, zeigt der makabre Fall der Kurtisane Camilla la Magra, der Geliebten des römischen Adeligen Paolo de Grassi, die im Frühjahr 1559 auf die Frage, wo sie den letzten Sonntag verbrachte, folgende Antwort gab: „Sonntag ging ich zur Messe in San Salvatore, aber nachdem ich meinen Liebhaber dort nicht fand, ging ich gleich wieder. Und nachdem ich den Diener meines Liebhabers traf, der mir sagte, daß er in San Pietro war, ging ich dorthin. Ich wäre auf jeden Fall hingegangen, um die Mädchen von Santo Spirito zu sehen. Und ich ging nach Santo Spirito, wo ich die Messe hörte, und dann kehrte ich nach Hause zurück.“243 Wie stark der Verfall der religiösen Sitten und des christlichen Gedankengutes in Rom und wohl auch in anderen italienischen Orten war, zeigt die Tatsache, dass sich die Päpste immer wieder gezwungen sahen, gegen Krawalle, Aufruhr, Lärm und Gewalttaten in Rom vorzugehen. Konflikte führten noch im 16. Jahrhundert sehr häufig zur Anwendung von Gewalt. Die meisten Bewohner Roms, und zwar aller Stände, „reagierten auf Konflikte mit spontaner Gewalttätigkeit. Schlägereien, bewaffnete Auseinandersetzungen und Anschläge auf Personen und Häu241

Kurzel-Runtscheiner: Töchter der Venus, ebd., S. 178f. Christoph Däppen: Nostradamus und das Rätsel der Weltzeitalter, NorderstedtZürich 2004, S. 245f. 243 Kurzel-Runtscheiner: Töchter der Venus, a.a.O., S. 179. 242

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ser waren ebenso an der Tagesordnung wie Diebstahl, Raub und Mord.“244 Es war für einflussreiche und wohlhabende Leute unmöglich, unbewaffnet auf die Straße zu gehen. Betuchte Personen ließen sich in der Regel von Bewaffneten begleiten. Selbst in Kirchen, Klöstern und an anderen heiligen Stätten war man vor gewalttätigen Menschen nicht sicher. Da die Missachtung der heiligen Stätten immer mehr zunahm, sahen sich die Päpste gezwungen, gegen diese Entwürdigung sogar Mandate zu erlassen und gegen „die unmäßigen Gelächter und leeren, weltlichen Gespräche“ in Kirchen einzuschreiten. Doch selbst die Schaffung von Kirchenwachen in den römischen Kirchen war wohl nicht besonders wirksam.245 Im Grunde war diese Profanierung der christlichen Kirchen und des christlichen Glaubens ein Rückfall noch hinter die heidnische Antike, in welcher Tempel sakrosankt waren. Ein fremder Besucher hätte zu dem Schluss kommen können, dass im 16. Jahrhundert in Rom keine Christen, sondern altrömische Heiden lebten. Die lebensnahen in Romanesco, dem Dialekt von Trastevere, verfassten Gedichte des Römers Giuseppe Belli 300 Jahre später zeigen, dass die römische Geistlichkeit und die römischen Bürger nach wie vor weit von den Idealen des Neuen Testamantes entfernt waren. Ich verweise nur auf Gedichte wie „la Riliggione del nostro tempo“ (Die Religion unserer Zeit), „Che Cristiani!“ (Was für Christen) und „La Madonna tanta miracolosa“ (Die so wundertätige Madonna).246 Dieser nicht nur in Rom bis in unsere Tage herein auftretende eklatante Widerspruch zwischen kirchlicher Dogmatik und praktischem Leben trifft nach der Aussage einer Reihe von Autoren des Mittelalters auch für Angehörige der niederen und gehobenen Geistlichkeit zu. Dieser Widerspruch zwischen Theorie und Praxis wurde bereits in der Historia

244

Kurzel-Runtscheiner: Töchter der Venus, ebd., S. 208. Kurzel-Runtscheiner: Töchter der Venus, ebd., S. 181f. 246 Giuseppe G. Belli: G. G. Belli 1791 – 1863. Die Wahrheit packt dich … Eine Auswahl seiner frechen und frommen Verse, hrsg. von Otto Ernst Rock, München 1978, vor allem S. 60 und S. 133. 245

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Francorum von Gregor von Tours247 (6. Jahrhundert) immer wieder gerügt. Der größte Teil der Geistlichen genoss damals nicht die systematische theologische Ausbildung, wie sie z.B. Thomas von Aquin und Albertus Magnus vorzuweisen hatten. Das intellektuelle Niveau der Geistlichkeit ließ also sehr zu wünschen übrig, was noch selbst beim Konzil von Trient (1545-1563) nicht geleugnet wurde. Sogar im reformationsfeindlichen Herzogtum Baiern des 16. Jahrhunderts beklagte ein Religionsmandat das „ganz unpriesterliche“ Leben der Dorfpriester, die „Tag und Nacht in den öffentlichen Wirtshäusern“ lägen. Es wird sogar glaubhaft überliefert, „daß sie nach solchem Trinken und Rumoren, ohne zu schlafen oder ins Bett zu gehen, zum Altar gehen, um die göttlichen Ämter zu vollbringen.“248 Aberglaube und ‚Heidentum‘ – wirksamer als der Glaube? Man kann also selbst in der Epoche der Reformation und der beginnenden Gegenreformation nur von ganz wenigen katholischen Dorfpfarrern und Mitgliedern der hohen Geistlichkeit behaupten, dass sie ein christliches Leben nach den Prinzipien des Neuen Testamentes und der paulinischen Briefe geführt hätten. Sündhaftes Verhalten wie auch intellektuelle Defizite waren also noch bis weit in die Neuzeit hinein – nicht nur im alten Baiern - einen unheiligen Bund eingegangen. Die Kultur und religiöse Praxis des Mittelalters und selbst der Neuzeit waren demnach bis weit in die Neuzeit hinein nur in einem sehr begrenztem Maße christlich und noch stark von vorchristlichen hellenistischen und heidnischen Vorstellungen, wohl auch der keltischen und germanischen Kultur, geprägt, so dass Gurjewitsch die Widersprüchlichkeit der mittelalterlichen Kultur als „mittelalterliche Groteske“249 tituliert. Sehr wahrscheinlich haben also vorchristliche europäische Mentalität und 247

Gregor von Tours: Historiarum libri decem (Zehn Bücher Geschichten), 1. Bd., Buch 1-5, hrsg. von Rudolf Buchner, Darmstadt 1977, 2. Bd., Buch 6-10, Darmstadt 1974. 248 Zit. nach Wilhelm Liebhart: Altbayerische Geschichte, Dachau 1998, S. 93. 249 Aaron Gurjewitsch: Mittelalterliche Volkskultur, a.a.O., Kap. VI., S. 260-311.

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Glaubensvorstellungen das Christentum in Europa geprägt. Als Beispiel sei an die heilige Kümmernis erinnert, zu welcher an vielen heiligen Stätten Deutschlands, z.B. in Neufahrn nördlich von München, bis ins 19. Jahrhundert hinein zahlreiche Wallfahrten stattfanden. Diese Heilige hängt „bebartet, mit einer Krone auf dem Haupte, im blauen eng anschließenden Gewande“ am Kreuz. Die bisher vorliegenden Erklärungen, wie z.B. die Rückführung der Kümmernis auf die Hl. Commaria oder Wilgefortis250, die Tochter eines heidnischen Königs der Provence, entspricht nicht der historischen Wahrheit. Diese vorchristliche geradezu magische Prägung des Mittelalters in Wort und Bild lässt sich nicht nur aus den erhaltenen kirchlichen Quellen (Predigten, Verkündbücher etc.), sondern auch aus den sakralen Gebäuden251, vor allem in Spanien und Südfrankreich, erschließen. Gerhard Anwander bringt aus seinem Reisebericht von der Auvergne 2004 zahlreiche Abbildungen aus Sakralgebäuden der Auvergne, so z.B. Bewaffnete, (nicht christliche) Köpfe inmitten von Laubwerk, Fischmenschen und Sirenen, Kentauren, exotische Vögel und Tiere, gefiederte Fabelwesen, auf Panflöten spielende Tiere. Selbst Obszönitäten fehlen nicht in Gotteshäusern der Auvergne, welche für Anwander eine „fremde Welt“ ist.252 Christliche Motive in romanischen Sakralgebäuden der Auvergne 250

Vgl. Joachim Sighart: Von München nach Landshut. Ein Eisenbahnbüchlein, Landshut 1859, Nachdruck 1991, S. 40-42. 251 Toppers diverse Werke quellen über von Abbildungen an mittelalterlichen Sakralgebäuden (vor allem in Frankreich und Spanien), welche man beim besten Willen nicht als christliche Ereignisse des Alten oder Neuen Testamentes deuten kann. Als Beispiel möge die dreifache Katzengottheit dienen, welche am Kapitell der Kirche Santa Maria de Bermés in Lalin, Potevedra, in Spanien als Trinität dargestellt ist (Uwe Topper: Es begann mit der Renaissance. Das neue Bild der Geschichte, München 2003, S. 231, Abb. 13). In vielen mittelalterlichen Kirchen der keltischen Regionen wie Irland und Bretagne „findet man die in Stein gemeißelte Symbolik“ des keltischen Kultes, z.B. die Idee der Wiederverkörperung (Wladimir Lindenberg: Riten und Stufen der Einweihung. Schamanen, Druiden, Yogis, Mystiker, Starzen. Mittler zur Anderwelt, Freiburg im Breisgau 1978, S. 39). 252 Gerhard Anwander: Auvergnatische Impressionen. Reiseeindrücke aus einer „karolingischen“ Provinz, in: Zeitensprünge, Jahrg. 16, Heft 3, 2004, S. 595-624, hier vor allem S. 609-624.

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sind eine ausgesprochene Rarität. Darstellungen mit christlichem Inhalt fehlen übrigens auch in Anzy-le-Duc und anderen romanischen Kirchen von Burgund. Hamann stellt lapidar fest, dass in Anzy-le-Duc „keine [!] der Darstellungen einen religiösen Inhalt zu haben scheint, im Gegenteil: Die Fabelwesen, oder eine Konsole (Südseite unten 23), die möglicherweise eine sexuelle Konnotation besitzt, scheinen einer rein profanen Vorstellungswelt [auch der Antike] entsprungen zu sein, so wie andere – Winzer, Widderträger – aus der Beobachtung der Lebenswelt resultieren.“253 Besonders überrascht, dass selbst in den Steinmetzarbeiten der gotischen Kathredale von Chartres (so genanntes) „heidnisches Symbolgut“254 sogar im Tympanon zu finden ist. Auch der Davidstern 255 taucht in den französischen Kathedralen der Gotik, meist in versteckter Form, immer wieder auf. Bernard Robreau analysierte in seiner Dissertation La mémoire chrétienne du paganisme carnute “les héritages celtiques dans l´hagiographie des régions de Chartres et Orléans“256 Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass „große Teile der keltisch-gallischen Theologie in der religiös-christlichen Literatur überlebt haben“ und diese Erkenntnis auch auf die Bretagne zu übertragen ist. Dieser nahtlose Übergang von keltischen zu christlichen Traditionen lässt sich in der Bretagne auch im Bereich der Architektur nachweisen. Ein Beispiel: Die Kapelle von Langon ist ein altes gallo-römisches Denkmal, das der Göttin Venus geweiht war. In der merowingischen Epoche wurde aus diesem keltischrömischen ein christliches Venus-Heiligtum (sanctuaire) und dem na253

Matthias Hamann: Die burgundische Prioratskirche von Anzy-le-Duc und die romanische Plastik von Brionnais, Dissertation Würzburg 1998, S. 160f. 254 Kurt R. Walchensteiner: Die Kathedrale von Chartres. Ein Tempel der Einweihung, Saarbrücken 2006, stellt die Kathedrale von Chartres als einen Tempel dar, der geheimes Wissen in codierter Form gespeichert hat. Vgl. auch Louis Charpentier: Les Mystères de la Cathédrale de Chartres, Paris 1998 und Sonja Ulrike Klug: Kathedrale des Kosmos. Ein Tempel der Einweihung, Saarbrücken 2006. 255 Wilhelm Kaltenstadler: Der Davidstern im Umfeld der jüdisch-christlichen Symbolistik, in: Beiträge zur Kulturgeschichte des Judentums, Band I, Frankfurt 2009, S. 44-62. 256 Marc Déceneux: Bretagne Celtique. Mythes et croyances, Brest 2002, Übersetzung: „das keltische Erbe in der Hagiographie der Regionen von Chartres und Orléans“, S. 6.

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mensähnlichen heiligen Venier, einem Mann, geweiht. In Langon und anderen zahlreichen Orten der Bretagne verwandelte man einfach „dieux et héros déchus en démons malfaisants ou en saints bonasses et pasteurisés.“257 Auch der heilige Samson, ein keltisch-gallischer Abt, ist dem keltischen „paganisme“ (Heidentum) stärker verbunden als dem Christentum.258 Auf „Gründerheilige“ (saints fondateurs) wie Samson folgten noch eine Reihe von Heiligen wie z.B. Saint Hervé mit dem Wolf, welche Deveneux als „bien peu catholiques“259, als wohl wenig katholisch, bezeichnet. Es gibt also auch in der Bretagne Symbole und Gestalten, die sich nicht ohne weiteres auf das Alte oder Neue Testament oder gar auf den römischen Katholizismus zurückführen lassen. Nicht-christliche Relikte im alten Bayern Diese heidnisch-christlichen Transformationsprozesse beschränken sich jedoch nicht auf die britischen Inseln, Spanien und Frankreich. Hans Guggemos bringt gute Argumente dafür, dass sakrale Gebäude auch im alten Baiern und in Tirol bis ins Hohe Mittelalter hinein Ausdruck eines alten vorchristlichen geomantischen Weltbildes waren und keltische Traditionen wohl auch hier fortlebten. „A much more intensive, different worldview must have underlain these buildings. It may be that the winds, the movement of sun and moon, and the vegetation cycles have been an integral ingredient of this alternative Christian worldview, which may probably have been influenced by Arianism. It is indeed only as late as about 1.000 AD (partly at Wessobrunn, as late as the 13th century) that we do find indications of a central Roman Catholic authority in the ground plans of churches and monasteries.”260 257

Marc Déceneux: Bretagne Celtique, ebd., S. 6 Übersetzung: verwandelte man «Götter und versunkene Heroen in böse Dämonen oder in gutmütige oder pasteurisierte Heilige.“ 258 Marc Déceneux: Bretagne Celtique, ebd., S. 26. 259 Marc Déceneux: Bretagne Celtique, ebd., S. 31-33. 260 Hans Guggemos: Andechs and the Huosi, in: Migration & Diffusion, an International Journal, vol. 4, Nr. 15, 2003, S. 32-59, hier S. 41.

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Guggemos, ein kritischer Regionalhistoriker des altbairischen Huosigaus, weist an anderer Stelle darauf hin, dass es im frühbaierischen Huosigau, der in etwa dem heutigen südlichen Lechrain in Altbayern entspricht, keine Anzeichen für die Existenz einer christlichen Religion gab. „Most probably the Huosi themselves had not been baptized at all, they may have been adherents of the ´old order´, of Arianism or Nestorianism.”261 Bei dieser alten Ordnung handelte es sich um eine alte geomantische Tradition262, was sich auch aus der Anlage der frühmittelalterlichen Kirchen im Huosigau erschließen lässt. Es scheint, dass die mittelalterlichen Baiern überhaupt mehr mit den Awaren und Ungarn/Hunnen als mit den Franken verwandt waren.263 Die Aussagen von Guggemos zur Entstehung und Entwicklung des Christentums im alten Baiern machen deutlich, dass verschiedene Richtungen des Christentums wie auch vorchristliche Glaubensvorstellungen noch lange miteinander konkurrierten und auch Einflüsse aus dem Osten, nicht nur im religiösen Bereich, wirksam geworden sind. Guggemos macht dabei auch auf die Prägung der bairischen Kultur durch die Awaren, Hunnen und Ungarn aufmerksam.264 Auf die erstaunlich starke Präsenz von awarischem Namensgut in Bayern und Österreich weist auch Erich Zöllner, ehemaliger Ordinarius für österreichische Geschichte, hin.265 Unerwähnt bleibt jedoch bei beiden die Prägung durch das jüdische Chasarenreich und überhaupt durch das aschkenasische Judentum266, welches ja von Haus aus supranational war.267 Auch Guggemos 261

Hans Guggemos: Andechs and the Huosi, ebd. S. 33 und 36. Siehe dazu bei Guggemos die Kapitel „The role of ´geomancy´“ und „Andechs and the ´3rd grid´“, ebd., S. 36-41. 263 Hans Guggemos: Andechs and the Huosi, ebd. S. 41 und S. 57: „The Avar element e.g. among the then Bavarians will surely have more affinities with the Magyars than with the Franks.” 264 Hans Guggemos: Andechs and the Huosi, ebd. S. 41-46. 265 Erich Zöllner: Awarisches Namensgut in Bayern und Österreich, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, Bd. LVIII, 1950. 266 Vgl. dazu Horst Friedrich: Noch immer rätselhaft: Die Entstehung der Baiern, Wessobrunn 1995 und Die Entstehung der Baiern, Auf den Spuren eines geschichtlichen Rätsels, 2. vollständig überarbeitete und ergänzte Auflage, Greiz 2006, Kapitel 262

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klammert den Einfluss des jüdischen Khasarenreiches und des Aschkenasischen Judentums aus.268 Dieses war nach Boris Altschüler bereits im Mittelalter supranational.269 Kosmopolitisches Judentum gegen Römisch-Katholischen Kulturtransfer? Die Auffassung von Ralph Davidson, dass das ursprüngliche Judentum kosmopolitisch270 gewesen sei, vor allem in Verbindung mit der Kultur des Zweistromlandes271, ist somit durchaus akzeptabel, wenn man die Aussagen des Propheten Jesaja für historisch begründet hält. Solche Gedanken sind mir ein Leben lang bei der Lektüre des „Babylonischen Talmud“272 gekommen, ohne dass ich diese Gedanken bisher in einer „Das Jiddische und die Herkunft der Baiern“, S. 45-52. Zur starken Nähe der Baiern zu den Aschkenasim vgl. Boris Altschüler: Die Aschkenasim – außergewöhnliche Geschichte der europäischen Juden, Band 1, Saarbrücken 2006. 267 Boris Altschüler: Die Aschkenasim, Bd. I, ebd., vor allem S. 237f, 252f, 260-264, 276f, 279f, 286f, 326-334, 225f, 341-344, 416f. 268 Vgl. Horst Friedrich: Noch immer rätselhaft: Die Entstehung der Baiern, Wessobrunn 1995 und Die Entstehung der Baiern, Auf den Spuren eines geschichtlichen Rätsels, 2. Auflage, Greiz 2006, Kap. „Das Jiddische und die Herkunft der Baiern“, S. 45-52. Gute Argumente für die starke Verwandtschaft von Baiern und Aschkenasim finden sich bei Boris Altschüler: Die Aschkenasim – außergewöhnliche Geschichte der europäischen Juden, Bd. 1, Saarbrücken 2006. 269 Boris Altschüler: Die Aschkenasim, Bd. I, ebd., vor allem S. 237f, 252f, 260-264, 276f, 279f, 286f, 326-334, 225f, 341-344, 416f. 270 Theodor Mommsen: Das Weltreich der Cäsaren, Lizenzausgabe Frankfurt 1955, charakterisiert in seinem Kapitel XII „Judäa und die Juden“ die Juden außerhalb von Judäa / Palästina, vor allem die von Alexandria und Mesopotamien, als äußerst weltoffen und kosmopolitisch. Der Widerstand gegen das global agierende Römische Reich kommt von den Juden Palästinas, welche in der Auslegung des Alten Testamentes und der jüdischen Lehre überhaupt wesentlich radikaler sind und cum grano salis einen von den Römern freien unabhängigen Staat anstreben. Die Juden in Judäa sind bei weitem nicht so wirtschaftlich erfolgreich und im Handel engagiert wie die Juden in der „Diaspora“. 271 Roman Landau: Anmerkungen zum Zivilisationsprozeß, Kapitel „Exkurs: Jüdische Poly-Ethnik“, a.a.O., S. 87f. 272 Der 1924 in deutscher Sprache von Jakob Fromer übertragene und erläuterte Babylonische Talmud ist vor kurzem im Weiss-Verlag, 6. Aufl., 2000, erschienen und in einer Lizenzausgabe im Fourier-Verlag Wiesbaden nachgedruckt worden. Die umfas-

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Publikation zum Ausdruck gebracht hatte. Es war für mich zu selbstverständlich, um darüber schreiben zu müssen. Man kommt zu einer anderen Sicht der Geschichte, wenn man mit der Kultur des Judentums, welche offensichtlich „eine gewisse Faszination auf die Europäer ausgeübt haben muß“273, und der hebräischen Sprache vertraut ist. Mich hat zum Beispiel der amerikanische Jude und Querdenker Sitchin in meinem Glauben an die Bedeutung der jüdischen Kultur in Mesopotamien bestärkt. Die Einflüsse der mesopotamischen Kultur auf die jüdischalttestamentliche Kultur werden von neueren kirchlich nicht gebundenen Autoren nicht mehr in Frage gestellt.274 Auch Davidson und Eisler sind davon überzeugt, dass sich das Judentum als kosmopolitische und supranationale Kultur, nicht zuletzt in Verbindung mit der aramäischen Sprache und Schrift, erst in Babylon in voller Ausprägung entwickelt hat.275 Der babylonische Talmud lässt dies, wie bereits erwähnt, noch heute deutlich werden. Davidsons Argumente zum frühen Christentum und zum Christentum in Europa276 teile ich. Ich bin sicher, dass das katholische Christentum Vorgänger in Europa hatte (armenischer Bischof des frühen Mittelalters 1093 in Kloster Niedernburg bestattet, stark orientalische Züge des irisendste Ausgabe des Babylonischen Talmud in deutscher Sprache besorgte Lazarus Goldschmidt: Talmud Babli – Der Babylonische Talmud nach der 1. zensurfreien Ausgabe unter Berücksichtigung der neueren Ausgabe und handschriftlichen Materials, deutsche Ausgabe, Königstein/Taunus 1981. 273 Hanna Eisler: Einführung in: Ralph Davidson / Christoph Luhmann, Evidenz und Konstruktion. Materialien zur Kritik der historischen Dogmatik, Hamburg 1998, S. 15. Das Judentum hat im Laufe einer langen Geschichte nicht nur religiös über das Alte Testament, sondern auch als kulturelle Institution auf Europa gewirkt. 274 Paul Hengge: Auch Adam hatte eine Mutter. Spuren einer alten Überlieferung in den Fünf Büchern Moses, München 1999, vor allem die Kap. V. Die Urgeschichte und Kap. VI „Als die Götter Menschen waren“. 275 Hanna Eisler: Einführung, a.a.O.., S. 45-47. 276 Lucas Brasi: Der große Schwindel. Bausteine für eine wahre Geschichte der Antike, Hamburg 1995, Kap. 11, S. 90-102 bringt unter Einbeziehung sozialgeschichtlicher Aspekte des alten Palästina einige kritische Argumente dafür, dass „der Siegeszug des Christentums [ist] eigentlich eine orientalische Erfolgsgeschichte“ ist und „mit Rom vermutlich gar nichts zu tun“ hat.

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schen Christentums, unverkennbar in der frühen irischen Kunst).277 Guggemos weitet diesen Gedankengang auf die sakralen Gebäude des Mittelalters im alten Baiern aus. Er bringt gute Argumente dafür, dass der Symbolismus dieser mittelalterlichen Sakralgebäude im frühen Mittelalter „cannot possibly have been developed from the Roman-Christian basilicas“278. Ich lasse dazu Guggemos noch einmal zu Wort kommen: „There are scarcely indications that the really old monasteries in the dukedom of Bavaria, e.g. the famous Benediktbeuern, have originally been Christian buildings. There are strange deviations to be observed with respect to the orientation of their ground plans. Our historiographers seem to be hypnotized by the preconceived idea of a heavyweight Christian Church already during these early times in Bavaria. The deviations in the ground plans of those monasteries do, however, conform top the ´geomantic´ situations there, i.e. with the ´Dragon lines´ or ´Leylines´ of the ´3rd grid´. There can be no doubt that we have here affinities with the cultures of Asia. After the well-known raids of the Pannonian ´Magyars´ and their final defeat, however, the victorious Western culture has obviously been able to eliminate more or less completely all these Slavic-Hunni-Hungarian affinities with the end result that the Church of Rome became the dominant cultural power also in the then rather impressive Bavarian dukedom, including also the territories of today´s Austria.”279 Wie auch die oben erwähnten Studien von Hans Guggemos und Boris Altschüler zeigen, gibt es nicht zuletzt für Baiern immer mehr Argumente für eine Prägung der bairischen Kultur und Glaubensvorstellungen aus dem Osten Europas und sogar aus Asien. Man wird in Zukunft nicht 277

Am Rande erwähnt sei hier auch, dass bis ins hohe Mittelalter hinein die byzantinische Kirche in weiten Teilen Böhmens und sogar im alten Herzogtum Baiern Fuß fassen konnte. Ich erinnere nur an die beiden Hauptfiguren Kyrill und Method und die noch heute vorkommenden zahlreichen griechisch-byzantinischen Taufnamen und kirchlichen Patrozinien, z.B. Georg, Dionys (Denis) etc. 278 Guggemos: Andechs and the Huosi, a.a.O., S. 41. 279 Hans Guggemos: Andechs and the Huosi, ebd., S. 42.

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darum herum kommen, auch die Epoche der Völkerwanderung aus der Sicht dieser neuen Erkenntnisse zu betrachten. Es galt lange Zeit als herrschende Meinung, dass die Grundlagen des Christentums in besonderem Maße in der Epoche der Völkerwanderung in den germanischen und romanischen Ländern gelegt worden waren. Diese These kommt aber nicht zuletzt auf Grund der zunehmend salonfähig gewordenen Phantomzeitthese nach Dr. Illig und der Studien der modernen russischen Historiker immer mehr ins Wanken. Es scheint, dass die nächsten Jahre uns eine neue Sicht der europäischen Geschichte bieten werden. Christlich-heidnische Ambivalenz des Mittelalters – das heidnische Erbe des alten Rom Der russische Autor Zhabinsky, der sich mit den Wirkungsfaktoren des Judentums und Christentums in Europa intensiv befasst, sieht die christlich-heidnische Ambivalenz des Mittelalters noch kritischer als Gurjewitsch. Er beruft sich auf Quellen, welche zeigen, dass „as early as the 12th century A.D., all of Eurasia was pagan, and human sacrifice and slavery prospered in Europe” und „that Europe adopted Christianity in the 14th – 15th centuries A.D., not earlier, and Islam appeared at the end of the 15th century, already after the appearance of printing.”280 Aus dieser Sicht der Dinge besteht immer mehr Grund daran zu zweifeln, ob tatsächlich Konstantin der Große ein reines Christentum auf einer rein jüdisch-christlichen Basis zur Staatsreligion erhoben hat. Denn zu seiner Lebenszeit war der Sonnenkult des sol invictus, des unbesiegten Sonnengottes, offizielle römische Staatsreligion, und es scheint, dass Konstantin der Hohepriester dieser Religion war281 und „dass er sich nicht als dreizehnter Jünger, sondern als Christus ebenbürtig erachtete.“282 280

A. Zhabinsky: The Medieval Empire of the Israelites, Buch in Vorbereitung, Internetauszug aus: www.new-tradition.de, S. 1. 281 Dan Brown: Sakrileg. The Da Vinci Code, deutsche Ausgabe, Bergisch Gladbach 2005, S. 249. 282 Rainer Pudill: Die Götter Roms und der Weg zum Christentum, in: Das Fenster, Kreissparkasse Köln, Thema 169, Oktober 2006, S. 29.

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Selbst nach der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion unter Kaiser Konstantin wurden nach wie vor „selbst noch die christlichen Kaiser von Konstantin dem Großen (306-337) bis Theodosius I. (379-395)“ nach ihrem Tod „durch den Akt der Konsekration (Consecratio) zum Gott (Divus) erhoben und kultisch verehrt.“283 Es sind noch weit bis ins Mittelalter hinein die heidnischen Aktivitäten römischer Kaiser ins Christliche umgedeutet worden. Selbst wenn man sich dieser Auffassung nicht anschließen sollte, ist wohl nicht mehr zu leugnen, dass das aschkenasische und sephardische Judentum wohl noch viel länger, als wir bisher angenommen haben, die europäische Kultur geprägt hat und ein Wirkungsfaktor war, der dem Ideengut des Urchristentums näher stand als die von Konstantin d. Gr. eingeführte heidnisch-christliche „Mischreligion“.284 Bei kritischer Lektüre von Gurjewitsch, Bachtin, Gabowitsch, Zhabinsky u. a. wird jedoch immer offensichtlicher, dass das Christentums selbst noch im Hohen Mittelalter in manchen Regionen Europas, z.B. in Iberien und Nordeuropa, eine marginale Erscheinung war und die Glaubensvorstellungen und Weltanschauung der Masse nicht fundamental geändert hat. Es gibt nicht nur im 19. Jahrhundert, sondern auch heute eine Reihe von Autoren, welche aus der Tatsache der Grausamkeiten (z.B. Verbrennung von sog. Ketzern bei lebendigem Leib), welche sich die mittelalterliche Kirche gegen Abweichler wie Waldenser, Albigenser, Katharer, Templer etc. (welche ja im Grunde von der Machtkirche des Mittelalters weg zu den unverfälschten Ideen des Urchristentums zurückwollten) geleistet hat, den Schluss ziehen, dass das Christentum, zu welchem ja nicht zuletzt sich auch die sog. christlichen Häretiker rechneten, in Europa mit brutalem Zwang eingeführt worden sei. 285 Die 283

Rainer Pudill: Die Götter Roms und der Weg zum Christentum, ebd. S. 8. Vgl. Michael Wolffsohn: Juden und Christen – ungleiche Geschwister, a.a.O.. 285 Nach Wolfram Zarnack: Das europäische Heidentum als Mutter des Christentums, in: Efodon, 1999, wirkt im Rahmen des alten Weltbildes nicht primär das Christentum auf das Heidentum, sondern umgekehrt prägt das vorchristliche Weltbild das Christentum in signifikanter Weise. 284

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folgenden durch Uwe Topper diesbezüglich getätigten Aussagen entbehren jedoch einer ausreichenden Quellenbasis: „Nun ist ja vielfach dargestellt worden, wie fremdartig und wie freiheitsberaubend das junge Christentum sich über die europäische Bevölkerung geworfen hat, mit Inquisition, Verteufelung der medizinischen Errungenschaften, Verachtung der Frau286, Vernichtung der volkssprachlichen Bücher und Zerstörung aller hohen Werte der freien Heiden. Das kann man sich nur als einen langwierigen Religionskrieg vorstellen, von dem ja auch zahlreiche Beispiele überliefert sind (Sachsenschlächterei bei Verden an der Aller287, Wendenkriege, Stedinger Kreuzzug usw.).“288 Die Bogumilen und die Bedeutung der Langobarden Aus diesem Sachverhalt heraus stellt sich Topper die Frage, wie es überhaupt möglich war, „dass sich eine derart menschenfeindliche und kulturvernichtende religiöse Vorherrschaft durchsetzen konnte. Welche ´angenehmen´ Seiten hatte denn die neue Herrschaft, dass sie Anhänger finden konnte?“289 Im Neuen Testament sieht Topper stark übertreibend eine nur langsam fortschreitende Überwindung des „jüdische[n] Blutrausch[es]“. In der zwangsweisen Einführung des Christentums in Europa sieht er ein sublimes Weiterwirken des Judentums, welches eine geheimnisvolle Katastrophe am besten überstanden und die finanziell erfolgreiche Organisation der Templer abgelöst habe, und im Grunde einen kulturellen und humanen Rückschritt. Die vorchristliche Kultur Eu286

Wilhelm Kaltenstadler: Frauen – die bessere Hälfte der Geschichte, Groß-Gerau 2008, stellt in drei umfassenden Beiträgen das System der Frauenfeindlichkeit im Rahmen des von der Antike ausgehenden Patriarchalismus dar. 287 Die Abschlachtung der Sachsen bei Verden durch Karl den Großen (vorausgesetzt man hält diesen für eine historisch greifbare Figur) wurde bereits durch die kritische historische Forschung des 19. Jahrhunderts als Fälschung entlarvt und ist seit den 60er Jahren Gegenstand vieler mediävistischer Seminare. 288 Uwe Topper: Zeitfälschung. Es begann mit der Renaissance. Das neue Bild der Geschichte, München 2003, S. 227. 289 Topper: Zeitfälschung, ebd., S. 227.

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ropas und dessen imaginäre „Lichtreligion“ bewertet Topper extrem positiv. Diese Lichtreligion ist nach Topper iranischer bzw. persischer Herkunft.290 Sie soll durch die bulgarischen Bogumilen auf dem Weg über den Balkan ins westliche Europa übertragen worden sein. Die etruskisch-langobardischen Städte, „die zu diesem Zeitpunkt keineswegs seit tausend oder mehr Jahren verschüttet liegen, sondern ganz lebendig in vorderster Linie in der europäischen Entwicklung stehen“, sollen diese persische Kultur aufgenommen haben. Die Hauptrolle in der Weitergabe dieser Kultur sollen aber die Langobarden gespielt haben. Diese sollen gegen 568 Pannonien verlassen und Norditalien besiedelt haben. Zu diesem langobardischen Kulturtransfer schweigen aber weitgehend die schriftlichen Quellen, und die nur spärlich vorhandene Überlieferung ist tendenzielle Geschichtsschreibung. Ein solcher Transfer ist aber durchaus nicht auszuschließen, wenn man bedenkt, dass sich die Langobarden mit vielen Völkern, auch aus dem asiatischen Raum (z.B. Hunnen), vermischten und in regem Kontakt standen291. Für einen solchen Kulturtransfer spricht auch die von immer mehr Historikern vertretene Auffassung, dass auch die „Ethnogenese der Kroaten weit von der heutigen Heimat ihren Ursprung hat und zwar auf dem Gebiet von Persien, von wo aus die Kroaten ihren Weg westwärts angetreten haben“. 292 Diese Auffassung trifft wohl auch für die Albaner zu. So reicht wohl auch die Abstammung der Langobarden viel weiter zurück, als die amtlich sanktionierte Geschichtsschreibung bislang akzeptierte. Papst Stefan III. ließ nämlich die vielfach rothaarigen Langobarden von einer „leprösen Nation“ abstammen. Diese Aussage könnte nach Däppen darauf beruhen, dass „Rothaarige stärker zu Sommersprossen 290

Vgl. Thomas Ritter: Die Katharer. Kinder des Teufels oder wahre Christen? 2. Aufl., Groß-Gerau 2006., S. 19-22. 291 Thomas Cerny: Die Langobarden. Ein geheimnisvolles Volk tritt aus dem Schatten der Geschichte, München 2003, vor allem Buch 1: Das Fest oder Die frühe Geschichte der Langobarden, S. 12-85. 292 Georg Dattenböck: Die Kroaten: Volk mit sagenhafter Herkunft, in: Zeitensprünge, Jahrg. 19, Heft 2 (2007), S. 369-377, S. 370.

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neigen“. Das mag beim Papst negative Assoziationen zur Lepra ausgelöst haben. Vielleicht hat der Papst mit der „leprösen Nation“ auch die Juden gemeint, deren starke Anfälligkeit für die Lepra ja auch aus dem Alten Testament bekannt ist. Wie die Juden legten auch die Langobarden auf ihre langen Bärte und das lange Haupthaar größten Wert. Damit unterschieden sich die Juden von den anderen freien antiken Völkern.293 Auch Einflüsse aus dem Islam auf die lange Zeit dem Arianismus anhängenden Langobarden muss man in Betracht ziehen. Es fehlen zwar dazu die schriftlichen Quellen, doch die Kunst spricht hier eine deutliche Sprache. Es fällt nämlich auf, dass die islamische Ornamentik der Moschee Ibn Tulun eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der sog. langobardischen Ornamentik aufweist.294 Die zentrale Auffassung von Topper zur Übertragung von Elementen der persischen Kultur über die in Bulgarien und überhaupt auf dem Balkan wirkende, den Manichäern verwandte Sekte der Bogumilen295 an die Langobarden Italiens findet man in der folgenden spektakulären Passage, welche aber nicht ausreichend mit entsprechenden Quellen untermauert wird: „Die Linie, die zum modernen Menschen führt, geht von den Langobarden aus – weil sie das ´innere Licht´ der Bogomilen absorbierten und es zur politischen Autonomie, zur Souveränität des ´popolo´ entwickelten. Das war der Schritt, der über alles entschied, der Schritt zur Freiheit des Geistes und der Forschung. Das war der Empfängnisakt der Renaissance.“296 293

Christoph Däppen: Nostradamus und das Rätsel der Weltzeitalter, a.a.O., S. 75. Autorenkollektiv: Antisemitismus in der Geschichtswissenschaft, a.a.O., S. 44. 295 Die Bogumilen bzw. Bogomilen, die „Gottesfreunde“, entstanden im 10. Jahrhundert auf dem Balkan als eine ursprünglich manichäisch orientierte Glaubensrichtung. Die Mehrzahl von ihnen trat Ende des 15. Jahrhunderts zum Islam über. Es ist nicht auszuschließen, dass die zahlreichen Bulgaren, welche der arianische Romoald, der Herzog von Benevent, im Frühmittelalter auf „Geheiß seines Vaters, des Langobardenkönigs Grimoald, in den Gebieten nördlich der Stadt Beneventum angesiedelt“ hatte (Cerny: Die Langobarden, a.a.O., S. 209), bogumilisches Gedankengut nach Italien einschleusten. 296 Topper: Zeitfälschung, a.a.O.., S. 176. 294

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Topper erklärt also die Tatsache, dass sich die Langobarden nicht nur durch eine besonders progressive Wirtschaftsgesinnung und –praxis hervortaten, sich nicht ans kirchliche Zinsverbot hielten, sich von den anderen Europäern abhoben und in dieser Mentalität mehr den Juden als den Christen nahe standen, sondern auch ein außergewöhnliches Freiheitsbewusstsein entwickelten, mit der These des bogumilischen Kulturtransfers. Diese Freiheit des Geistes, auch ein wichtiges Prinzip der sephardischen Kultur (nach Spinoza, der sephardischer Herkunft war, ist der Hauptzweck des Staates die Sicherung der Freiheit), soll, vor allem in der Frage des Zinses, die Langobarden schon früh in Konflikt mit Papst und christlichen Normen gebracht haben. Voll zustimmen kann man jedoch Toppers Auffassung, dass die Lombarden bereits im 13. Jahrhundert ein Wirtschaftssystem entwickelten, das sich nicht ausschließlich von den sozialen und wirtschaftlichen Prinzipien des Neuen Testamentes (Zinsverbot) leiten ließ, sondern vielmehr umgekehrt dazu beitrug, das dogmatische Christentum des Mittelalters an die wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten der modernen Welt anzupassen. Diese positive Entwicklung der „lombardisch-etrurischen Kultur“297 seit der Renaissance sollte jedoch meines Ermessens nicht den Eindruck erwecken, dass es vor der endgültigen Etablierung des römischen Katholizismus und des lutherisch-protestantischen Christentums überall in Europa eine heile Welt gegeben hätte, welche dann erst durch Judentum und Christentum aus dem Gleichgewicht gebracht worden wäre. Es gab auch sehr dunkle Seiten in dieser vorchristlichen Welt und überhaupt in den archaischen Gesellschaften. Reinhardt Sonnenschmidt zeigt in seinem wegweisenden Werk über die Initiationsriten in archaischen Gesellschaften, wie extrem als Folge der Katastrophenangst und der Angst vor den Strafen der Götter die ritualisierte Gewalt in allen Formen und Variationen das Leben der Menschen prägte. In fast allen Fällen, welche Sonnenschmidt vorführt, spielen die Frauen eine sehr untergeordnete

297

Topper: Zeitfälschung, ebd., S. 175f.

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Rolle und werden vielfach ihrer weiblichen Würde beraubt. 298 Gerade in archaisch-patriarchalischen Gesellschaften299 sind Frauen nicht selten Menschen zweiter Klasse. Gewaltanwendung in ritualisierter Form und Machtstrukturen bedingen sich dabei einander gegenseitig. Das Leben der Gemeinschaft wird zudem in sehr vielen archaischen Kulturen durch die mythischen Ahnen oder Toten belastet, die vielfach an die Stelle der Götter treten. „Sie gelten als Gründer, eifersüchtige Wächter, sogar als Zerstörer kultureller Ordnung. Als Geister suchen die Toten die Lebenden heim, nehmen von ihnen Besitz, verursachen Alpträume, Wahnsinnsanfälle, Krankheiten, Konflikte, Perversionen aller Art.“300 Nach der Lektüre des Buches von Sonnenschmidt und anderer Werke über die Kultur archaischer Gesellschaften stehe ich dem Gedanken, dass die vorchristlichen Kulturen Europas dem Judentum und Christentum in menschlicher Hinsicht überlegen gewesen wären, skeptisch gegenüber. Damit sollen jedoch die Rückfälle christlicher bzw. christianisierter Menschen in Mittelalter und Neuzeit in Verhaltensweisen der archaischen Gesellschaft nicht geleugnet oder beschönigt werden.

Europäische Kultur – aus der Sicht der orientalischen Völker Das vor dem Christentum in primitiven und archaischen Gesellschaften in Europa und anderen Kontinenten herrschende Gewaltpotential und das wenig entwickelte Niveau der materiellen und geistigen Kultur, auf welches immer wieder Kaufleute und Reisende aus anderen Kulturkreisen (bei Davidson, Brasi usw. zitiert) hinwiesen, unterschlägt Topper in 298

Reinhard Sonnenschmidt: Mythos, Trauma und Gewalt in archaischen Gesellschaften, Gräfelfing 1994. 299 Grundlegend dazu Wilhelm Kaltenstadler: Haben Frauen eine Seele? Frauenverachtung und Frauenfeindlichkeit – eine kulturelle Konstante, in: W. Kaltenstadler: Frauen – die bessere Hälfte der Geschichte, Groß-Gerau 2008, S. 9-46. 300 Sonnenschmidt: Mythos, Trauma und Gewalt, a.a.O., S. 99. Dazu spezieller René Girard: Das Heilige und die Gewalt, Zürich 1972, 2. Aufl. 1987, S. 373.

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diesem Zusammenhang. Der orientalische Reisende Abu al-Hasan Ali Ibn al-Husayn al-Mas´udi, ein in Bagdad lebender muslimischer Historiker und Geograph (896-956 n. Chr.), bringt eine höchst glaubwürdige Beschreibung der Sitten, Gebräuche und Lebensgewohnheiten der Menschen, welche das Gebiet des Steinbocks im hohen Norden bewohnen. Dazu zählen neben den Franken, Slawen und Langobarden auch Völker wie die Türken, Chasaren, Bulgaren, Alanen und Galizier (Kelten). Diese Stelle bei Masudi soll nicht zuletzt deswegen hier wörtlich wiedergegeben werden, weil der Autor aus einem völlig anderen Kulturkreis stammt, somit mehr Distanz zur christlich-europäischen Kultur hat. Es ist daher anzunehmen, dass seine Schilderung objektiver ist als die meisten Quellen des europäischen Mittelalters, die ja häufig sehr subjektiv und, wie allgemein bekannt, ja auch gefälscht und sogar erfunden sein können. Ich zitiere Masudi: „Kälte und Feuchtigkeit herrschen in ihren Gebieten, und Schnee und Eis reihen sich endlos aneinander. Der warme Humor fehlt ihnen; ihre Körper sind groß, ihr Charakter derb, ihre Sitten schroff, ihr Verständnis stumpf und ihre Zungen schwer. Ihre Farbe ist so extrem weiß, daß sie blau aussehen. Ihre Haut ist dünn und ihr Fleisch rau. Auch ihre Augen sind blau und entsprechen ihrer Hautfarbe; ihr Haar ist der feuchten Nebel wegen glatt und rötlich. Ihren religiösen Überzeugungen fehlt Beständigkeit, und das liegt an der Art der Kälte und dem Fehlen von Wärme. Je weiter nördlich sie sich aufhalten, desto dümmer, derber und primitiver sind sie. Diese Eigenschaften verstärken sich in ihnen, wenn sie weiter nach Norden ziehen ... Diejenigen, die mehr als sechzig Meilen jenseits dieser Breite leben, sind Gog und Magog. Sie befinden sich im sechsten Klima und werden den Tieren zugerechnet.“301

301

B. Lewis: Die Juden in der islamischen Welt, München 1987; zit. bei Lucas Brasi: Die erfundene Antike. Einführung in die Quellenkritik, Hamburg 2004, S. 118. Brasi, ebd., S. 119-121 weist noch auf weitere orientalische und spanische Reisende hin, welche sich nicht positiv zur europäischen Kultur des Früh- und Hochmittelalters äußerten.

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Falls man davon ausgehen sollte, dass diese Schilderung von Masudi etwas überspitzt ist, so kann man doch nicht daran zweifeln, dass viele Regionen Europas im 10. Jahrhundert nicht in dem Maße kulturell und wirtschaftlich entwickelt waren wie der Vordere Orient, aus dem Masudi stammt. Es ist also nicht auszuschließen, dass selbst dieses unterentwickelte nördliche und östliche Europa für die Aufnahme der höher entwickelten jüdisch-christlichen Kultur mit einer besser entwickelten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Organisation, wie sich aus dem AT und NT ablesen lässt, bereit war und sich davon wohl auch Vorteile versprach. „Das Bild Gottes, das die Juden entwickelten und den Heiden gaben, um sie zu Christen zu machen, ermöglichte diesen Letzteren die Organisation ihrer Gesellschaft auf einem Niveau, das bis dahin unerreicht war.“ Die Übernahme des Christentums und damit indirekt jüdischer Vorstellungen in die europäische Zivilisation war – trotz der bis in die Neuzeit hinein praktizierten Beibehaltung sog. heidnischer Sitten und Lebensgewohnheiten - der kühne „Versuch, die animalischen Kräfte des Menschen, die ihm von der Schöpfung mitgegeben wurden, zu bändigen“. Dieses großartige Experiment ist aber bis heute nicht als wirklich vollendet zu bezeichnen, so dass man vielleicht zu der Feststellung kommen kann, „daß das jüdisch-christliche zivilisatorische Konstrukt mit der Natur des Menschen eben nicht vereinbar ist.“302 Christentum und Heidentum – ein permanenter Wettbewerb Immer wieder überlagerten und verdrängten diese ´heidnischen´ Kräfte die Wirkungsfaktoren der jüdischen und christlichen Religion und Kultur. Im Grunde war auch das im 19. Jahrhundert vor allem in Deutschland eingeführte Welt- und Menschenbild der griechisch-römischen Antike in Verbindung mit einem nebulosen Indogermanismus303 ein Weg, der von den Errungenschaften der jüdisch-christlichen Kultur wegführte 302

Autorenkollektiv: Antisemitismus in der Geschichtswissenschaft, a.a.O., S. 22. Vgl. dazu Horst Friedrich: The “Indo-Europeans” and the Concept of “Language Families”, in: Midwestern Epigraphical Journal, Vol. 17, Nr. 2, 2003, S. 73-75. 303

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und zurück zu einem Denken der Verherrlichung von Gewalt und Krieg, wie ja die dann bald einsetzende Entwicklung zu einem extremen Nationalismus, Imperialismus und Antisemitismus hin offenbarte. Gerade die Entwicklung der kulturellen Wirkungsfaktoren seit der Aufklärung zeigt, dass das friedensorientierte Judenchristentum nur mehr ein Element unter vielen war und auf keinen Fall mehr der primär prägende Faktor der kulturellen Entwicklung. Unbestreitbar bleibt aber die Tatsache, dass das Christentum im Mittelalter von den europäischen Eliten - in zeitlicher Verzögerung von Süd nach Nord und von West nach Ost - übernommen und von diesen als kultureller Fortschritt betrachtet wurde. Mit der Übernahme christlich-jüdischer Ideen durch christlich geprägte Staaten wie z.B. Deutschland („Heiliges Römisches Reich“), Italien, Frankreich, England u. a. wurde jedoch das alte vorchristliche Weltbild, von welchem auch die Astronomie geprägt war, keineswegs abgeschafft, sondern nur modifiziert und in das neue Weltbild mehr oder weniger stark integriert. Im Grunde muss man aber davon ausgehen, dass das neue jüdisch-christliche dem alten vorchristlichen Weltbild – in der Gestaltung der materiellen Kultur - per Saldo überlegen war, da die Einführung des Christentums in relativ kurzer Zeit erfolgte und von größeren Widerständen gegen die Einführung nicht die Rede sein kann, wenn man vom Widerstand der Friesen und Sachsen in karolingischer Zeit absieht. Auch wenn wir mit Bezug auf die kulturelle Unterentwicklung der meisten europäischen Regionen davon ausgehen könnten, dass das Christentum im Mittelalter nicht von den Volksmassen, sondern von den romanischen, germanischen und slawischen Eliten – zugegebenermaßen erst so richtig im Hochmittelalter – voll übernommen und akzeptiert worden sein sollte, so ist doch die Frage berechtigt, ob die Übernahme einer aus Vorderasien stammenden Zivilisation und Religion wirklich gegen die Interessen des Volkes und mit Zwang erfolgte. Die Übernahme religiöser Glaubensvorstellungen ist, wie die Geschichte zeigt, fast immer in

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erster Linie ein zivilisatorischer304 und im Grunde auch ein schriftsprachlicher Aspekt, bei welchem die Übernehmer die vorgefundenen religiösen Ideen in ihr gesellschaftliches und kulturelles Schema in pragmatischer Weise transformierten. Das Zurückdrängen des alten vorchristlichen Weltbildes seit dem Spätmittelalter verwundert um so mehr, als neuere Studien von Topper305 und Zarnack verdeutlichen, dass nicht nur das Christentum das alte primär magisch geprägte Weltbild beeinflusste und umformte, sondern auch umgekehrt die vorchristliche Weltsicht spürbar auf die Entstehung und Entwicklung des Christentums in Europa eingewirkt haben muss. Diese gegenseitige Prägung war so stark, dass Zarnack überspitzt das Heidentum „als Mutter des Christentums“306 zu bezeichnen wagte. Im Grunde fußten wohl nicht nur das Christentum, sondern teilweise auch das Judentum und der Islam „auf antik-heidnischen Grundlagen“307. Der jüdische Historiker Raphael Straus, welcher sehr sachlich den Wurzeln des Christentums nachgeht, bringt beachtliche Argumente für die Loslösung des Christentums „von seinen Ursprüngen unter dem Einfluß hellenistisch-heidnischer Ursprünge“ bereits in der Antike. Dennoch sind die „Wechselwirkungen jüdischer und christlicher Religionsphilosophie während des Mittelalters“ eine nicht zu leugnende Tatsache.308 Sogar die Ideen des Islam fanden im Hochmittelalter Eingang in den Wissenschaftsbetrieb der europäischen Universitäten und selbst in die christli304

Nach Auffassung des Germanisten Dr. Schweisthal ist romanisieren in der europäischen Kulturgeschichte gleichzusetzen mit zivilisieren. Romanisieren erlange die Bedeutung von schriftsprachlich machen. Aus psychologischer Sicht ist mit der Schriftsprachlichkeit ein Verlust an kindlicher Kreativität und Spontaneität unvermeidlich. Jede moderne Kultur müsse also für schriftliche Kodifizierung der Sprache einen hohen Preis zahlen. 305 Vgl. Uwe Topper: Wiedergeburt. Das Wissen der Völker, 1988. 306 Wolfram Zarnack: Das alteuropäische Heidentum als Mutter des Christentums / Gorgo und die Drachentöter Sigurd und St. Georg, Hohenpeißenberg 1999. 307 Christoph Pfister: Matrix der alten Geschichte, a.a.O., S. 367. 308 Christian Wiese: Zwiespalt und Verantwortung der Nähe. Raphael Straus´ „friedvolle Betrachtung über Judentum und Christentum“, in: Kalonymos, 7. Jahrg. 2004, Heft 3-4, S. 1-9, hier S. 2f.

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che Religion. In Wolfram von Eschenbachs frühem Epos Willehalm ist der fränkische Gaukönig Willehalm mit der gebildeten persischislamischen Prinzessin Arabel aus Bagdad in erster Ehe verheiratet. Die arabische Astronomie prägte über die iberische Schiene nicht nur die Werke von Wolfram, sondern überhaupt das naturwissenschaftliche Denken des frühen Mittelalters. Die frühe europäische Kultur ist also ursprünglich nicht primitives Heidentum, wie die Studien von Werner Greub zu den Epen Willehalm und Parsifal von Wolfram von Eschenbach und die neuesten Forschungen des Sprachwissenschaftlers Theo Vennemann309 von der Universität München verdeutlichen. Die beiden Thesen von Vennemann und die Bedeutung der iberischen Kultur Vennemann hat seine jahrelangen Forschungen zu den sprachlichen und kulturellen Grundlagen des westlichen Europa in einem umfassenden Werk310 zusammengefasst. Es handelt sich bei ihm um zwei fundamentale Thesen, die hier ganz kurz vorgestellt werden sollen. These A zeigt die Existenz „eines vor-indoeuropäischen, paneuropäischen, vaskonischen, ethnolinguistischen Substrats“311 auf. Mit dem Vaskonischen nahe verwandt ist die Sprache der noch heute in Nordwest-Afrika lebenden Berber, welche über viele Jahrhunderte auch die Geschichte des iberischen Al Ándalus prägten. Der arabische Historiker Ibn Chaldun „beschreibt das Judentum vieler Berber Nordafrikas noch vor der Ankunft des Islam in der Region.“ In diversen Chroniken taucht sogar eine jüdische Berberkönigin namens Dahiya al-Kahina auf. Sie hatte im Jahre 694 „gegen den muslimischen Einfall“ gekämpft. Schlomo Sand (Tel Aviv) leitet daraus die „Frage der späteren jüdischen Besiedlung Spani309

Wilhelm Kaltenstadler: Wie Europa wurde was es ist. Beiträge zu den Wurzeln der europäischen Kultur, Gross-Gerau 2006, S. 99f. 310 Theo Vennemann: Europa Vasconica – Europa Semitica, Berlin / New York 2003. 311 Theo Vennemann: Europa Vasconica – Europa Semitica, ebd., Kap. 17 “Zur Frage der vorindogermanischen Substrate in Mittel- und Westeuropa” (S. 517-590).

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ens“ ab und hält es für wahrscheinlich, dass viele Juden Spaniens Berber und „oftmals als Offiziere der muslimischen Armee an der Eroberung der iberischen Halbinsel beteiligt waren“.312 Die Mitwirkung von jüdischstämmigen Berbern an der Eroberung Iberiens im frühen Mittelalter schließt aber nicht aus, dass schon weitaus früher Juden und überhaupt Semiten dort gelebt haben. Der rumänische Jude Valeriu Marcu weist nämlich, als es darum ging, ob die iberischen Juden nach der Eroberung von Granada (1492) durch die christlichen Könige Spaniens ausgewiesen werden sollen, auf die überlieferte Argumentation der jüdischen Rabbanen hin, welche aus phönikischen und babylonischen Texten den Vertreibern gegenüber zu beweisen suchten, dass „die Juden lange vor Christi Geburt in Spanien gewohnt hatten, daß also diese zur Zeit, als Jesus seinen Leidensweg ging, nicht in Palästina waren“. 313 Das Judentum in Nordwestafrika und Iberien könnte also evtl. sogar älter sein als dasjenige in Palästina, wenn man zudem bedenkt, dass der weit gereiste Herdodot, der Vater der europäischen Geschichtsschreibung, in seinen im 5. Jahrhundert vor Chr. verfassten Historien in Palästina nicht Juden oder Hebräer, sondern Syrer leben lässt. In These B skizziert Horst Friedrich den „schon sehr früh existierenden Einfluss[es] einer überlegenen, maritim aktiven, kolonisierenden atlantosemitischen Zivilisation“314 auf Westeuropa. In diesen beiden Thesen 312

Eik Dödtmann: Wann und wie wurde das jüdische Volk erfunden? Ein israelischer Historiker betreibt Grundlagenforschung, in: Jüdische Zeitung, 4.8.2008, S. 23. 313 Valeriu Marcu: Die Vertreibung der Juden aus Spanien, München 1991 (Erstausgabe Amsterdam 1934), S. 173. Vgl. zur Ibererfrage auch Antonio Arribas: The Iberians, New York 1964, Pierson Dixon: The Iberians of Spain, London 1940, Wilhelm Kaltenstadler: Der zivilisatorische Faktor, Hamburg 2003, Kap. „Die Juden im mittelalterlichen Spanien”, S. 17-22 und Wilhelm Kaltenstadler: Die jüdisch-islamische Kultur des alten Andalusien, in: Mitteilungen der Nicolas-Benzin-Stiftung. Beiträge zur Kulturgeschichte des Judentums und der Geschichte der Medizin, Nr. 1, Frankfurt, Oktober 2008, S. 36-75. 314 Friedrich Horst: A Linguistic Breakthrough for the Reconstruction of Europe´s Prehistory. Vennemann´s Thesis of a Vasconic and Proto-Semitic Europe and its Ramifications, in: Migration & Diffusion, Bd. 5, Issue Number 17, 2004, S. 6-15, hier “Zusammenfassung”, S. 15 mit einer Fülle weiterer Spezialliteratur von Theo Vennemann und anderen relevanten Autoren.

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beschränkt sich Vennemann auf drei Sprachfamilien im vorgeschichtlichen Europa nördlich der Alpen: 1. Das alteuropäische Sprachsystem, vor allem das Baskische 2. die atlantischen Sprachen, welche nach Vennemann dem Semitischen nahe stehen und von ihm als „semitidisch“ bezeichnet werden 3. Die indoeuropäische Sprachgruppe (von der konventionellen Forschung lange als indogermanisch klassifiziert). Vor allem die Semitiden sind bei Vennemann die wahren Träger der hochentwickelten megalitithischen Kultur. Ihnen waren ein entwickelter Fernhandel und Bergbau nicht fremd. Weder für Vennemann noch für Friedrich gibt es in Europa und weltweit reine Sprachen und Rassen. In seinen umfassenden Sprach- und Kulturanalysen gelingt es Vennemann, „to demonstrate the most remarkable ethno-linguistic mixtures between Old Vasconians, Hamito-Semitic and Indo-European peoples with which we will have to reckon in the gradual ´nation building´ of today´s European peoples.”315 Die Semitiden hatten also in Iberien und wohl im gesamten Westeuropa eine sehr hohe Kulturstufe erreicht, soweit man das aus der sprachlichen Überlieferung ableiten kann. Trotzdem setzte sich in einem sehr langen Infiltrationsprozess nicht diese semitischvaskonische Megalithkultur, sondern das aus dem Orient stammende vor allem vom Judentum geprägte Christentum durch. Was aber hatte nun die europäischen Völker bzw. die Eliten der europäischen Völker dazu gebracht, sich schließlich endgültig für das Christentum – trotz des teilweisen Beibehaltens der alten vorchristlichen Glaubens- und Lebensformen – zu entscheiden und nicht den Islam und das Judentum als ihre Religion anzunehmen oder gar die alte semitidische Megalithkultur beizubehalten? Christlicher Religionstransfer – eine Frage nicht der Religion, sondern der Zivilisation

315

Horst Friedrich: A Linguistic Breakthrough, ebd., S. 10.

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Davidson und Brasi bringen brauchbare Argumente dafür, dass die germanischen und überhaupt die europäischen Völker im Mittelalter das Christentum sowie die orientalisch geprägte christliche Kultur sicher nicht primär aus religiösen Gründen übernommen haben. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Übernahme erfolgte, weil man sich eine Verbesserung der materiellen Kultur sowie der gesellschaftlichen und kulturellen Organisation versprach, die offensichtlich mit den alten vorjüdischen bzw. vorchristlichen Wertvorstellungen in diesem Maße nicht realisierbar gewesen wäre. Es war also für die germanischen, slawischen und romanischen Völker einfacher und praktikabler, die Kultur des Christentums in modifizierter Form zu übernehmen, als den Versuch zu riskieren, mühsam eine eigene soziale und kulturelle Organisation aufzubauen und zu entwickeln. Zudem ist es ja immer noch offen, ob die Germanen vor der Übernahme des Christentums überhaupt lesen und schreiben konnten.316 Es spricht manches dafür, dass sie auf einer Kulturstufe standen, von welcher aus eine sinnvolle Weiterentwicklung in die Richtung einer höheren materiellen Kultur aus eigener Kraft nicht möglich gewesen wäre.317 Es ist eine heute immer mehr vernehmbare Redensart, dass das Christentum gesellschaftlich, wirtschaftlich und wissenschaftlich ein Rückschritt gegenüber dem angeblich bzw. wirklich höheren kulturellen Niveau der alten Griechen und Römer gewesen sei. Es gibt ja nicht nur im 19. Jahrhundert, sondern auch heute Historiker, welche den Untergang des Römischen Reiches auf die angebliche Weltabgewandtheit des Christentums zurückführen. Längerfristig schuf die christliche Mentalität neue materielle und geistige Fundamente, welche einen neuen Weg der Sozialökonomie auf einem höheren Niveau begünstigten. Materielles Fundament der christlichen Religion – die Klöster 316

Vgl. dazu Lucas Brasi: Die erfundene Antike. Einführung in die Quellenkritik, Hamburg 2004, Kap. „Konnten die Germanen lesen und schreiben?“, S. 116-123. 317 Brasi: Der große Schwindel, a.a.O., Kap. 13, S. 108-114. Vgl. Allen A. Lund: Die ersten Germanen: Ethnizität und Ethnogramm, Heidelberg 1998.

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Die Forschungen der vergangenen Jahrzehnte haben aber für fast alle Staaten Europas deutlich gemacht, dass nicht zuletzt die Klöster wirtschaftliche Pioniere in Ackerbau, Viehzucht und Forstwirtschaft waren und zunehmend bereits im Mittelalter sog. Grenzböden bewirtschafteten, deren Kultivierung für den einzelnen Bauern nicht realisierbar und rentabel gewesen wäre. Die Klöster verbesserten Agrarkulturen, welche bereits in der Antike existierten, so z.B. den Weinbau. Sie entwickelten aber auch völlig neue Kulturen wie Gemüse- und Obstanbau sowie neue Getreidesorten, wie auch bei Hildegard von Bingen nachzulesen ist. Noch größer ist aber ihr Verdienst, dass sie diese ihre Erkenntnisse und Errungenschaften nicht für sich behielten, sondern bereitwillig und kostengünstig die Bedürfnisse einfacher Menschen, vor allem der bäuerlichen Bevölkerung, befriedigten. Die klösterliche Bildung und Askese kam im Grunde in der Form der gesteigerten materiellen Bedürfnisbefriedigung den von ihnen betreuten und vielfach auch rechtlich und sozial abhängigen Bauern zugute. Es gab verschiedene Wege, den bäuerlichen Menschen zu helfen, so z.B. die Stellung von Saatgut, die Information über neue Getreidesorten, Nachlass und Erleichterung der Abgaben. Mönche und Geistliche wussten, dass sie die einfachen Menschen mit ihrer christlichen Botschaft nur erreichen konnten, wenn es ihnen gelang, dazu beizutragen, in erster Linie die materiellen und Basisbedürfnisse zu befriedigen. Bereits im frühen Mittelalter hatten Klöster und Kirche Schulen errichtet, in welche sogar die Kinder von einfachen Leuten aufgenommen und ausgebildet wurden. Und an den Universitäten des Mittelalters waren nicht zuletzt die Mönche die Träger der wissenschaftlichen Forschung in Theologie, Philosophie, Rechtswissenschaft und Medizin. Hoch anzurechnen ist ihnen, dass sie vor allem in der Scholastik bereit waren, die wissenschaftlichen Erkenntnisse sarazenischer Gelehrter zu übernehmen und an den Universitäten zu lehren, so z.B. Abälard und Siger von Brabant. Wissenschaft – der neue Weg des Christentums

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Wissenschaftliche Forschung kann nicht gedeihen ohne eine materielle Basis. Die Klöster setzten die Tradition des Verfassens von wissenschaftlichen Werken nicht nur fort, sondern verbesserten diese noch quantitativ und qualitativ, indem sie die Ergebnisse ihres Forschens auf Buchrollen und in Codices festhielten. Selbst die meist von Klöstern praktizierten Fälschungen muss man als Spiegel ihrer hoch entwickelten Kultur akzeptieren. Dabei sind in klösterlich-kirchlichen Quellen nicht nur Informationen enthalten, sondern diese auch in Form der Buchmalerei318 künstlerisch gestaltet. Die wissenschaftliche Arbeit in den klösterlichen Skriptorien blieb nicht stehen, sondern entwickelte sich permanent weiter. Es waren vor allem christliche Geistliche und Mönche, welche als erste auch im Bereich der materiellen Kultur die Buchrolle durch den Codex ersetzen. „Wir sehen also den Sieg des Kodex über die Rolle mit dem Sieg des Christentums eng verknüpft.“319 Die Mönche in den christlichen Skriptorien verwandten dann seit dem frühen Mittelalter in steigendem Maße neben den Papyrus- auch Pergamentcodices. Im Hochmittelalter kamen somit Buchrollen kaum mehr vor, der Pergamentkodex war die herrschende Form der Publikation geworden. Es sind also vor allem Pergamentcodices, in welchem nicht nur das Wissen des Mittelalters an uns tradiert, sondern auch das Leben der Menschen, auch des bäuerlichen Lebens, z.B. in den sog. Stundenbüchern, festgehalten wurde. Dieses Beispiel zeigt, dass Kirche und Klöster nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch in anderen Lebensbereichen progressiv waren. In diesen Codices wurde nicht nur das Wissen des Mittelalters, sondern auch das Leben der Menschen, auch das Landleben, z.B. in den klösterlichen Chroniken, Jahrbüchern und den sog. Stundenbüchern festgehalten. Diese Bücher waren nicht nur in Latein verfasst, wie z.B. 318

Vgl. Tamara Woronowa – Andrej Sterligov: Westeuropäische Buchmalerei des 8. bis 16. Jahrhunderts in der Russischen Nationalbibliothek, Sankt Petersburg, Lizenzausgabe Augsburg 2000. 319 Herbert Hunger: Antikes und mittelalterliches Buch- und Schriftwesen, in: H. Hunger und andere (Hrsg.): Die Textüberlieferung, München 1975 (2. Auflage 1988), S. 49.

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die Grandes Heures der Anne von Bretagne (1503-1508), sondern manchmal auch in den frühen Nationalsprachen wie Kastilisch und Französisch. Stundenbücher waren meist kostbar bemalt und gestaltet. Die berühmtesten, auch Gegenstand der großen Kunst, waren die Stundenbücher des französischen Duc de Berry (1340 – 1416), darunter die Très riches heures (Chantilly, Mus. Condé, Ms. 65). Dieses Beispiel soll zeigen, dass Kirche und Klöster nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in kultureller Hinsicht progressiv waren. Bedeutung der Juden für die europäische Bildung Neben den Christen waren auch die Juden im Bereich der materiellen Kultur und Infrastruktur engagiert. So hielten auch jüdische Gelehrte in hebräischer und jiddischer Sprache ihr Wissen auf Pergament und stärker als die Klöster auch auf Papyrus fest und ließen diese vervielfachen und der gesamten Judenschaft zukommen, bei welcher Analphabeten kaum anzutreffen waren. Auch bei den Juden findet sich im Mittelalter schon der geschätzte Beruf des Buchschreibers. „In jüdischen Häusern und Synagogen gab es schon seit frühen Jahren neben der Bibel Handschriften verschiedener Art.“320 Ebenfalls schon im Mittelalter zogen jüdische Kaufleute und Krämer, welche mit Büchern und Handschriften auch für das einfache Volk handelten, durch Dörfer und Kleinstädte und „verkauften neben allen möglichen Waren“ meist „Kalender, Traumbücher, Ratgeber und Gebetbücher für Glaubensgenossen, manchmal aber auch Meisterwerke der großen Literatur“.321 Juden waren seit der Erfindung der Buchdruckerkunst durch Gensfleisch („Gutenberg“) mit Beginn des 16. Jahrhunderts als Drucker, Verleger und Händler von hebräischen Büchern aktiv.

320

Eugen Gabowitsch: Bücher für Juden: wann und wo wurden sie zu allererst gedruckt? Quelle Internet: www.jesus1053.com/12-wahl//12-autoren/13gabowitsch/buecher-juden.html mit einer Reihe von wichtigen neueren Werken zur jüdischen Buchkultur. 321 Marian Fuks: Polnische Juden, Geschichte und Kultur, ohne Ort und Jahr ,S.45.

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Johannes Gutenberg, vor 1400 geboren, war der Sohn des Mainzer Patriziers Friele Gensfleisch zur Laden, hieß ursprünglich auch Gensfleisch und war wohl jüdischer Herkunft. Dies legt auch sein späterer Name Gutenberg nahe. Der Gutenberg wird von den Mainzern als Jutenberg (Judenberg) ausgesprochen. Dieser war bekanntlich das mittelalterliche Mainzer Judenviertel. Es ist sehr wahrscheinlich, dass seine Mainzer Vorfahren im Gutenbergviertel gelebt hatten. Das große Verdienst von Gutenberg besteht nicht nur darin, dass er den Buchdruck mit gegossenen beweglichen Lettern erfunden hat, sondern auch darin – und das blieb bisher weitestgehend unbeachtet –,dass er ursprünglich nicht mit den uns heute geläufigen 29 Buchstaben (mit Umlauten, aber ohne sog scharfes sz) gedruckt hat. Seine im Grunde phonetische Schrift basierte auf nur 18 Buchstaben.322 Für Gutenberg gab es ursprünglich also nicht die uns heute geläufige und für die Schüler so belastende Trennung in gesprochene Sprechsprache und Schriftsprache. Sprache und Schrift bildeten eine harmonische Einheit. Der Lesevorgang erfolgte nicht still, wie ein deutsches Buch aus dem Jahre 1581 verdeutlicht, sondern es war ein Prozess mit allen Sinnen, bei welchem das Gehör nicht zu kurz kam: „Seind nicht die Buchläden vol schändtlicher Bücher und Tractätlein, in welchen die jungen Knaben, Maidlein, Weiber, auch gar die Closterfrawen, allerley spitzbübische sprüch, Gailheit unnd büberey, mit dem mund lesen, im gemüt lernen, mit augen schepffen, im werck vollbringen? ...“.323 Die im Folgenden genannten Drucker bzw. Druckereien druckten bereits mit Typen, die im Grunde weitgehend mit unserer heute noch praktizierten Schriftsprache, der sog. hochdeutschen Sprache, übereinstimmen. Die erste jüdische Druckerei im deutschen Kulturbereich betrieb ein

322

Günther Schweisthal: Sprachschrift Europa. Rekonstruktion einer voreinzelsprachlichen offenen Schriftform der alteuropäisch mündlichen Kultur. Ein Versuch, Manuskript 2004., S. 5ff. 323 Winfried Schulze: Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert 1500-1618, Frankfurt a. M. 1992, S. 234.

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Gerson Kohen seit 1503 in Prag.324 Um 1444 soll ein Jude namens David de Caderousse in Avignon die Buchdruckerkunst studiert und mit dem Goldschmied Waldvogel aus Prag in Verbindung gestanden haben. Eugen Gabowitsch aus Potsdam erwähnt in seiner eben genannten Website noch weitere Juden, welche in der frühen Neuzeit im hebräischen Buchdruck führend waren. Hebräische Bücher wurden auch in Italien und Spanien, sogar im Osmanischen Reich gedruckt und publiziert, übrigens auch von christlichen Verlegern. Seit dem 18. Jahrhundert gibt es auch jüdische Drucker und Verleger, welche Bücher in der jeweiligen Landessprache, vor allem in deutscher Sprache, druckten und verlegten, z.B. in Isny im Allgäu und in Sulzbach in der Oberpfalz. Aus der Sprache des religiösen Kultus wurde im 18. und 19. Jahrhundert zunehmend eine säkulare hebräische Sprache, welche seit dem 19. Jahrhundert dann zunehmend von aramäischen Elementen gereinigt wurde. An die Stelle des Jiddischen trat bei vielen Juden zur gleichen Zeit in Deutschland immer mehr die hochdeutsche Sprache. Jiddisch galt seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland zunehmend als vulgär und unfein selbst in Ostmitteleuropa, wie der Entwicklungsroman von Emil Franzos „Der Bajazz“ in einer sehr feinsinnigen Weise veranschaulicht. Aus jüdisch-orthodoxer Sicht bedeutet diese sprachlich-kulturelle Integration der Juden einen Verlust an religiöser Substanz und einen Bruch mit der alttestamentarisch-jüdischen Religion. Der Preis einer von jüdischer Seite positiv eingestuften Assimilation war das Aufgeben jahrhundertealter jüdischer Traditionen. Jenes Erbe der jüdischen Aufklärung wirkt bis heute fort in dem immer wieder aufflammenden Streit zwischen jüdischer Orthodoxie und jüdischem Liberalismus. Diesen Kon-

324

Vgl. Heinrich Graetz: Volkstümliche Geschichte der Juden in 6 Bänden, Bd. 5, München 1985, S. 156.

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flikt trachtete die vom jüdischen Philo-Verlag vertretene Idee des Mehrheitsjudentums nach dem Ersten Weltkrieg zu überwinden.325 Ein höchst interessanter Aspekt der deutsch-hebräischen Symbiose ist die Tatsache, dass schon seit vielen Jahrhunderten deutsche Bücher in hebräischen Lettern gesetzt wurden. In Bayern war Sulzbach (heute Sulzbach-Rosenberg) ein bedeutendes Zentrum für Drucke von deutschsprachigen Büchern in hebräischen Schriftzeichen.326 Am SteinheimInstitut, das in die Universität Duisburg-Essen integriert ist, arbeiten Mitarbeiter an der Geschichte der hebräisch-deutschen Literatur. Thomas Kolatz, der „deutsche Literatur in hebräischen Lettern“ untersucht, befasst sich im Rahmen seiner Studien auch mit „Periodika wie HaMeassef oder Bikkure ha´ittim, deren Herausgeber und Autoren sich seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts auf Hebräisch und Hochdeutsch an ein jüdisches Publikum wandten – jeweils geschrieben in hebräischen Buchstaben.“327 Neben der deutsch-hebräischen Literatur, welche sich an das aufgeklärte liberale jüdische Bildungsbürgertum wandte, sind auch jüdische Grabinschriften, übrigens nicht nur in hebräischen, sondern auch in lateinischen Lettern gesetzt, ein bisher wenig ausgewerteter Spiegel jüdischer Sprache, Religion, Gesellschaft und Kultur sowie des jüdischen Selbstverständnisses vor allem in Deutschland. In diesem Bereich der „hebräischen Epigraphik“328 leistet das Steinheim-Institut in Duisburg hervorragende Arbeit. Es wäre verfehlt, aus diesen Zeilen über das hebräisch-deutsche Druckwesen seit dem 18. Jahrhundert den Schluss zu ziehen, dass es nicht 325

Volker Dahm: Ein Plädoyer für das historische deutsche Mehrheitsjudentum. Susanne Urban-Fahr: Der Philo-Verlag 1919-1938. Abwehr und Selbstbehauptung (Haskala 21), Hildesheim 2001. 326 Vgl. Magnus Weinberg: Die hebräischen Druckereien in Sulzbach (1669-1851), Frankfurt am Main 1904. 327 Holger Elfes: Raus aus der Opferperspektive. Das Steinheim-Institut in Duisburg erforscht die deutsch-jüdische Geschichte, in: Jüdische Allgemeine, Nr.16/04, 22.04.2004, S. 13. 328 Elfes, ebd., S. 13. Siehe auch die Website www.steinheiminstitut.de/publikationen/epigra-phik/index.xml.

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auch im Mittelalter eine ausgeprägte deutsch-hebräische Symbiose gegeben hätte. Wir finden also nicht nur in der Neuzeit, sondern auch im Mittelalter und bereits in der Antike die Bereitschaft der Juden, kulturell mit den Völkern und Nationen ihres Wohngebietes zusammenzuarbeiten und mit ihnen in einer kulturellen Symbiose zu leben und zu wirken. Das ist einer der Gründe, warum die Ideen des Alten und Neuen Testamentes weitaus wirksamer waren als die Werte des griechischen und römischen Altertums, welche nicht wirklich durch die germanischen Eroberer des Römischen Reiches angenommen und verinnerlicht wurden. Die Ideale des klassischen Altertums waren im Prinzip erst im 19. Jahrhundert durch die westeuropäische Gesellschaft übernommen worden. Vor allem die Begeisterung für das antike Griechenland war grenzenlos. Das deutsche humanistische Gymnasium ist eine der Folgen dieser Glorifizierung der alten Griechen. Allerdings waren die meisten Griechen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als die „Befreiung“ der Griechen von den Osmanen erfolgte, nicht in der Lage, Griechisch zu sprechen, geschweige denn Altgriechisch zu schreiben und zu verstehen. Seit der Antike waren also die Ideen des Alten und des Neuen Testamentes weitaus wirksamer als die Werte der griechischen und römischen Antike, welche, wie eben am Fall Griechenlands dargelegt, erst so richtig im 19. Jahrhundert Fuß fassten und wissenschaftlich Beachtung fanden. Dabei ist stets zu beachten, dass die religiös-kulturellen Ideen des Alten und Neuen Testamentes nicht revolutionär, sondern eher evolutionär, vielfach mit großen Rückschlägen, in die europäische Kultur hineinwirkten und nicht immer deutlich und offen sichtbar, sondern auf verschlungenen Pfaden zur Entstehung und Entwicklung des europäischen Werteprozesses329 beitrugen.

Europäische Kultur – eine neue kritische Sicht

329

Wilhelm Kaltenstadler: Wie Europa wurde was es ist, Kap. „Kritische Betrachtungen zur europäischen Kultur. Europas Werte und Wurzeln“, a.a.O., S. 9-13.

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Dieser Gedanke der Prägung der europäischen Kultur durch die jüdischchristliche Tradition liegt auch insofern nahe, wenn man bedenkt, dass die Überlieferung der die hebräische Kultur betreffenden Quellen wie Altes Testament, Neues Testament, Talmud, Kabbala etc. den tatsächlichen Ereignissen und Geschehnissen wesentlich näher steht als die literarischen Quellen der Griechen und Römer. So reichen z.B. die Originalhandschriften des Neuen Testamentes „bis an den Anfang des 2. Jh. [Jahrhunderts], also bis in die unmittelbare Nähe der letzten Autoren zurück. Für kein Werk der klassischen griechischen und lateinischen Literatur liegen die Verhältnisse so günstig.“ Wahrscheinlich. sind die Handschriften von Qumran sogar noch älter. Den Unterschied zwischen der Überlieferung der hebräisch-christlichen und der klassisch römischlateinischen Quellen macht Stegmüller am krassen Fall von Homer deutlich: „Die älteste vollständige Handschrift des viel gelesenen Homer gehört ins 13. Jh. n. Chr., hält also vom Autor einen Abstand von mindestens 2000 Jahren.“330 Dieser Zeitunterschied ist nicht bei allen klassischen literarischen Handschriften so exorbitant. Man geht aber nicht fehl zu sagen, dass die Zeitdifferenz zwischen der Entstehung eines Werkes und der ersten erhaltenen Handschrift bei den meisten klassischen Autoren mindestens tausend Jahre, bei den Griechen 1.500 Jahre überschreitet. Diese geradezu ungeheuerliche Tatsache, welche von den meisten Historikern weder wirklich wahrgenommen noch verinnerlicht wurde, legt den Gedanken nahe, dass Handschriften nach 1000 bzw. 1500 Jahren (und mehr) zerfallen, erheblich verändert und wohl auch verfälscht worden sind. Bei solchen gigantischen Zeitdifferenzen ist auch die Vorstel330

Otto Stegmüller: Überlieferungsgeschichte der Bibel, in: Die Textüberlieferung, der antiken Literatur und der Bibel, München 1975, S. 167 und Kap. II. „Die Heilige Schrift der Christen“, 2. Aufl. 1988, S. 165ff. Die Epen von Homer sollen nach Pfister: Die Matrix der alten Geschichte, a.a.O., S. 292f erstmals im Jahre 1488 in Florenz gedruckt worden sein. Er: hält jedoch einen noch späteren Druckzeitpunkt für wahrscheinlich. Kritisch zur Homerüberlieferung äußert sich auch Alexander Zhabinsky: Legends of „Ancient Greece“, Quelle: http://revisedhistory.org/greeks.htm, S. 5.

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lung nicht auszuschließen, dass die Originale solcher zeitversetzter Handschriften gar nicht aus der Antike stammen, sondern erst im Mittelalter angefertigt wurden. Diese für die antike Geschichte zentrale Frage sollte nicht mehr weiter eine quantité negligeable sein, sondern vielmehr die Forschung dazu anregen, nicht nur mit rein systemimmanenter Quellenkritik an diese heikle Materie heranzugehen, sondern (wie in der Vorund Frühgeschichte bereits erprobt331) die Quellenkritik zusätzlich mit den Methoden der Genanalyse, Logistik, mathematischer Wahrscheinlichkeitsrechnung etc. zu konfrontieren. Vor allem ist es unerlässlich, die Entwicklung der europäischen Kulturgeschichte von der Antike bis zur Neuzeit mit derjenigen anderer Kontinente und Kultursysteme, z.B. Indien und China, zu vergleichen und zu konfrontieren. Ich bin überzeugt, dass eine solche Methodenvielfalt völlig neue Erkenntnisse über die Entstehung und Entwicklung von kulturellen Wertesystemen erbringt. Die bis heute extrem auf Europa ausgerichtete europäische Geschichtsforschung mit ihrem sublimierten eurozentrischen Überlegenheitsdenken332 hat in Verbindung mit einer einseitigen historischen Methodik und der mangelhaften Quellensituation die bislang kaum beachtete Tatsache verdeckt, dass Idee und Realität antiker Ereignisse und Erscheinungen in fast allen Lebensbereichen weit auseinander klaffen.333 Vieles, was uns sog. antike Autoren in allen Lebensbereichen überliefern, auch im Bereich der Menschenführung (was ich in meinem Werk zur antiken Menschenführung auch herausgestellt habe), ist mehr Theorie als Praxis und vielfach nur die Wiedergabe aus der Sicht eines einzigen antiken Autors und somit oft sehr subjektiv. Nicht zuletzt wirken sich auch die Ideolo331

Ich verweise auf eine Sendung von 3Sat im Januar 2004. Diese geht wiederum auf einen Film der BBC zurück. 332 Diese europazentrische Einstellung der europäischen Geschichtsschreibung beklagt in seinen verschiedenen Werken immer wieder Dr. Horst Friedrich, so z.B. auch in seiner Besprechung des Werkes von Gavin Menzies: 1421 – Als China die Welt entdeckte, München 2003, in: Zeitschr. für Anomalistik, Bd. 3, Nr. 3, 2003, S. 271f. 333 Wilhelm Kaltenstadler: Arbeitsorganisation und Führungssystem bei den römischen Agrarschriftstellern, Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte, Bd. 30, Stuttgart – New York 1978, vor allem S. 46ff.

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gien des 19. und 20. Jahrhunderts, vor allem Nationalismus und Imperialismus, mehr oder weniger bewusst auf die Bewertung von antiken Quellen aus, die wohl manchmal gar nicht aus der Antike stammen, sondern erst im Hoch- oder Spätmittelalter oder noch später das Licht der Öffentlichkeit erblickt haben. Die Rolle der alten Griechen für die europäische Kultur Aus dieser zeitbezogenen Sicht der Dinge wird die attische Demokratie mit den Augen unserer Zeit und aus der humanistischen Ideologie des 19. Jahrhunderts heraus vielfach verzerrt und idealistisch überhöht dargestellt.334 Es ist eine bis heute in Europa aufrechterhaltene Ideologie, dass die attischen Griechen ein Bollwerk von Freiheit und Demokratie gegen den persischen Despotismus gewesen seien. Wenig Beachtung findet dabei jedoch die Tatsache, dass die griechische Kultur - vor der relativ kurzen Blüte der attischen Demokratie im 5. Jahrhundert v. Chr. in den ionischen Städten Kleinasiens an der türkischen Westküste und den vorgelagerten Inseln in der Ägäis eine bedeutende Rolle gespielt hatte und dort bedeutende Philosophen und Wissenschaftler (Thales, Demokrit, Parmenides etc.) gelebt und gewirkt hatten. Sie wurden wohl genauso wie der Mathematiker Pythagoras von der iranisch-chaldäischen Wissenschaft geprägt und beeinflusst. Selbst der große Dichter Homer war der asiatischen Kultur mehr verbunden, als die klassischen Humanisten von heute das wahr haben wollen. Raoul Schrott beschreibt ihn in seinem neuen Buch von 2008335 „als Schreiber und Funktionär der neuassyrischen Weltmacht“336, der wohl in Kilikien im Südosten der heutigen Türkei gelebt und gewirkt hat. Auch Herodot, der Vater der europäischen Geschichtsschreibung, dessen Interesse mehr den asiatischen Kulturen als den europäischen Griechen gilt, ist ein Grieche aus Kleinasien. 334

Vgl. dazu Christian Meier: Die Welt der Geschichte und die Provinz des Historikers. Drei Überlegungen, Berlin 1989, S. 70-97. 335 Raoul Schrott: Homer und das Abendland. Warum wir wurden, was wir sind, 2008. 336 Berthold Seewald: Leitartikel Raoul Schrott, Homer und das Abendland, in: Die Welt, 22.03.2008, S. 7.

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Und der attische Grieche Xenophon schildert in seiner sieben Bücher umfassenden Kyropaideaia, der Erziehung des (jüngeren) Kyros, Leben und Wirken des vorbildlichen Herrschers nicht an der Gestalt eines Griechen oder sonstigen Europäers, sondern am Modell eines persischen Königs. „Ausserdem war es ein wichtiges Anliegen Xenophons, bei seinen Landsleuten das herrschende Vorurteil gegen alles Persische, das als Inbegriff des Barbarischen galt, zu beseitigen, womit er zum Wegbereiter des Hellenismus wurde, in dem sich griechische und östliche Kultur verschmolzen.“337 Xenophon zeigt in seiner Kyrupaideia (vor allem Kyrup. 1,6), dass die persische Kultur sowohl im Bereich der militärischen Strategie und Taktik wie auch der Menschenführung338 den attischen Griechen mindestens ebenbürtig war, wie das von Xenophon beschriebene Gespräch zwischen dem Kronprinzen Kyros und seinem Vater veranschaulicht.339 Das Vorurteil vom asiatisch-persischen Despotismus wird also nicht nur durch die positive Bewertung der persischen Herrschaft beim jüdischen Propheten Jesaja (Buch 41) erschüttert, sondern auch durch das anerkannte Werk eines attischen Griechen, welcher nach konventioneller Auffassung der griechischen Elite angehörte.340 Asien wirkte also, wie oben die Ausführungen von Wille zeigen, nicht nur (besonders intensiv) über die jüdisch-christliche Religion, sondern auch über die griechische Kultur auf Europa ein, was eben auch durch klassische griechische Autoren wie Herodot und Xenophon bezeugt

337

Fritz Wille: Führungsgrundsätze in der Antike. Texte von Xenophon Plutarch Arrian Sallust Tacitus, Zürich 1992, S. 28. 338 Fritz Wille: Führungsgrundsätze, ebd., S. 27ff bezieht sich ausdrücklich auf die „Führungsgrundsätze des Kambyses“, wiedergegeben in der Kyropaideia des Xenophon. Es ist wahrscheinlich, dass die in anderen Werken von Xenophon, z. B. dem Oikonomikós, beschriebenen Führungsprinzipien wohl auf persische Erfahrungen hindeuten und von seinem langen Aufenthalt am persischen Königshof geprägt sind. 339 Wille: Führungsgrundsätze, ebd., S. 28-41. 340 Vgl. Marguerite Del Giudice (Text): Persien. Die geheime Seele des Iran, in National Geographic, September 2008, S. 38-71.

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wird. Fernsehautoren sehen hier oft klarer als eingefleischte Wissenschaftler.341 Diese Abhandlung wurde erstmals publiziert in Beiträge zur Kulturgeschichte des Judentums und der Geschichte der Medizin, Band II, Herausgeber: Nicolas-Benzin-Stiftung, Frankfurt am Main 2010, S. 23 – 69.

341

ZDF-Expedition. Das Delphi-Syndikat. Die geheime Macht des Orakels, ausgestrahlt im ZDF, Sonntag, 15. August 2004.

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Jüdisch-jiddische Kultur im neuzeitlichen Franken 1. Die Sprachen der Juden – mit hebräischen Lettern Nicht immer und überall war „Jiddisch“ die Sprache der aschkenasischen Juden. Das Jiddische entstand wohl zugleich mit dem Mittelhochdeutschen (Mittelhochfränkischen, Mittelhochbairischen etc.) im Hohen Mittelalter. Die Juden nannten ihre Sprache allerdings nicht „jiddisch“, sondern „taitsch“. Jiddisch ist eine Verdeutschung des englischen Wortes „yiddish“. Jiddische Texte wurden meist in hebräischen Lettern überliefert. In den jüdischen Ma´asse-Büchern – ein solches ist erstmals im Raum Regensburg in 1602 erschienen342 – findet man „die enge Verwobenheit christlicher und jüdischer Kultur“. Das wird besonders deutlich in der Emmeramslegende. Hier wurde „die christliche Lokalsage um Sankt Emmeram auf den Kölner Rabbi Amram übertragen.“343 Oder war es umgekehrt? Amram ist nach wie vor ein hebräischer Personenname, die arabische Version lautet Imran. Im Koran kommt er noch als Amram vor.344 Emmeram ist nach wie vor ein katholischer Vorname im Bistum Regensburg. Er ist auch Patron zahlreicher katholischer Pfarreien seit dem Mittelalter. In der Antike und bis weit ins Mittelalter hinein gab es mehrere Sprachen, welche Juden sprachen und in welchen sie auch schrieben und publizierten. Das Jiddische war seit dem Mittelalter die vorherrschende Sprache der aschkenasischen Juden, womit nicht nut die deutschen Juden im weiteren Sinne gemeint waren.

342

Einen Auszug aus dem Sepher hamaaße („Buch der Geschehnisse“), kurz als „Maißebuch“ bezeichnet, von 1602 bietet Franz Josef Beranek: Das Rätsel des Regensburger Brückenmännchens, BJV (1961) S. 61-68. Auch die Steinerne Brücke in Regensburg hieß einst „Judenbruck“. 343 Joseph Opatoshu: Ein Tag in Regenburg (im Original in hebräischen Lettern: „A Tag in Regensburg), Verlag Karl Stutz, Passau 2008, S. 110 f. 344 https://de.wikipedia.org/wiki/Amram.

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These der israelischen Althistoriker Arye Edrei und Doron Mendels (2010): Griechisch war nicht nur in Alexandria, sondern sogar im Westen des Römischen Reiches und seiner Nachfolgestaaten im Frühen Mittelalter „die am meisten gesprochene Verkehrssprache der Juden“. Bereits J. Yahuda (1982) stellte fest, dass das ältere Griechisch mit dem Hebräischen und Aramäischen nahe verwandt ist. Edrei und Mendels bestätigen die Auffassung von Yahuda und stellen fest: Es hat zwei Sprachen, nämlich Griechisch und (weniger) Lateinisch im Westen sowie Aramäisch und (weniger) Hebräisch im Osten gegeben. Griechisch sprach man allerdings nach wie vor auch in Palästina. Im hohen Mittelalter entwickelt sich das sephardische und das aschkenasische Judentum immer mehr auseinander. Die sephardischen Juden in Südeuropa, vor allem Spanien, wandten sich – neben dem Griechischen – der arabischen und später der kastilischspanischen Sprache zu. Gelehrte wie Maimonides publizierten vor allem in Arabisch! Es war bis ins Hohe Mittelalter auch die Sprache der gebildeten spanischen Katholiken und auch der christlichen Königshöfe. Nach dem Rückgang der arabischen Präsenz in Iberien wurde Ladino / Judezmo zunehmend zur Sprache der sephardischen Juden, es gibt sie noch heute in Nord-Griechenland. In West-, Mittel- und Osteuropa wurde für die Aschkenasim das Judendeutsche (Jiddische) zur Hauptsprache. Es wurde allerdings meist in aramäischen oder hebräischen Lettern geschrieben. Nach wie vor gab es aber im gesamten jüdischen Kulturraum das Hebräische. Es war allerdings bei den Aschkenasim nicht (mehr) die Verkehrssprache, sondern die Sprache des jüdischen Gottesdienstes und die der Gelehrten. In den aschkenasischen Gebieten war das Hebräische ebenso wie das Deutsche und Lateinische (so bereits Dante) eine Kunst- und Schriftsprache.

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Die allerneueste Forschung stellte allerdings fest, dass das Hebräische im Jemen (bis vor wenigen Jahren) die täglich gesprochene Verkehrssprache der Juden war. Im 18. Jahrhundert waren die aschkenasischen Juden die ersten, welche für die hochdeutsche Schriftsprache votierten, was übrigens der Wiener Dichter Josef Weinheber sehr beklagte. In diversen Abhandlungen von Dr. Roman Landau findet sich eine hochinteressante Musterseite aus dem vierspaltigen Lexikon des im fränkischen Ipsheim geborenen Jiddisch-Forschers Elia Levita (1469-1549). Die 1. Spalte gibt die deutschen Wörter in lateinischen Lettern, die 2. Spalte (von links) nennt die lateinischen, die 3. Spalte die hebräischen Wörter mit hebräischen und die 4. Spalte die jiddisch-deutschen Wörter (Taitsch) in sog. jiddischen Lettern. Auswahl und Lesen der Wörter: Schul (hebr. kneseth), Schulter (hebr. betech), Sta(d)t (hebr. ír, jer) und Stain (hebr. ewen) 2. Jiddisch – eine germanische Sprache, kein jüdisch-hebräischer Dialekt 2.1 Entstehung und Verbreitung des Jiddischen These A: Nicht Hebräisch oder Aramäisch, sondern das Jiddische (Yiddisch), früher als „Judendeutsch“ („Taitsch“) bezeichnet, ist die eigentliche Sprache der aschkenasischen Juden. Weder Jiddisch noch Bairisch, Schwäbisch oder Fränkisch lassen sich von der deutschen Schriftsprache ableiten, denn diese ist „ein junger Sproß und ein Kunstprodukt“345 Der Germanist Robert Hinderling widerspricht heftig der immer wieder geäußerten Meinung, „daß die Mundart sozusagen ein entstelltes Hochdeutsch sei, ein Abfallprodukt des Hochdeutschen. Nein: die Mundart steht zwar unter Einfluß des Hochdeutschen, sie stammt aber nicht von der Schriftsprache ab, 345

Robert Hinderling: Stiftland und Sechsämterland, mundartliche Gemeinsamkeit, in: Heimat – Landkreis Tirschenreuth, Band 9/1997, S. 113-126, hier S. 114.

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sondern ist älter als jene.“346 Während z.B. die Baiern ihr Bairisch fast ausschließlich nur sprachen und nur relativ selten schriftlich fixierten, diente den aschkenasischen Juden ihr „Taitsch“ a u c h als Schriftsprache. Es wurde allerdings, wie Abb. 1 zeigt, nicht in lateinischen oder gotischen Lettern, sondern in einer speziellen jüdischen Kursivschrift geschrieben. Das Jiddische hat sich nach M. Weinreich angeblich im Rheinland entwickelt und ist von dort aus bereits im Mittelalter immer weiter nach Osten gewandert. Im Rheinland finden sich die ältesten Erwähnungen jüdischer Siedlungen in christlichen Texten. In Bayern und Franken (Ostteil des Regnum Francorum = Königreich der Franken347 im Frühen Mittelalter) sind Juden erst seit dem 11. Jahrhundert nachweisbar. Allerdings taucht Ende des 10. Jahrhunderts in Freising ein Bischof namens Abraham auf. Vermutlich waren die Juden schon mit den Römern nach Gallien und ins westliche Deutschland gekommen und wohl schon einige Jahrhunderte vor den ersten Christen da. Nicht erklärbar ist aber bei dieser These A, wie in wenigen Jahrzehnten die jüdische Bevölkerung in Ostmitteleuropa sowie in Ostund Südosteuropa auf Grund des Zuzuges aus dem Westen so gewaltig zugenommen haben soll. Haben die schon anwesenden Juden, die vor allem im slawischen Kulturraum lebten, von den westlichen Zuwanderern die (juden-)deutsche Sprache angenommen? Gegen eine Übernahme des Jiddischen aus dem Deutschen spricht allerdings die erstaunliche Tatsache, dass die Juden Jiddisch, eine germanische Sprache, sprachen und noch sprechen, doch diese nicht 346

Robert Hinderling: Stiftland und Sechsämterland, mundartliche Gemeinsamkeit, ebd., S. 115. Im Grunde hat einige Jahre später auch der Stuttgarter Germanist Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, München 2002 die von Hinderling geäußerte Auffassung vertreten. 347 Vgl. dazu grundlegend Wilhelm Kaltenstadler: Interpretation der Vorreden der ´Historia Francorum´ bei Gregor von Tours, Nordhausen 2011 mit einer Fülle von weiterer Literatur zum Regnum Francorum.

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mit deutschen oder lateinischen Lettern, sondern fast immer in speziellen jiddischen Lettern, einer Art hebräischen Kursivschrift, geschrieben und publiziert haben. These B: das Jiddische ist die Sprache der Aschkenasim, also der im weitesten Sinne deutschen Juden. Nach Boris Altschüler („Die Aschkenasim“) kamen die aschkenasischen Juden über Mesopotamien, den Kaukasus, Südrussland (jüdisches Khasarenreich im Frühmittelalter) nach Mitteleuropa. Altschüler verweist auch auf die bis ins 18. Jahrhundert angenommene Herkunft der Baiern aus dem Kaukasus. Ein Tegernseer Mönch des 12. Jahrhunderts bestätigt die Auffassung von Altschüler: „Bawari traduntur ab Armenia oriundi“ (Die Baiern stammen nach der Überlieferung von Armenien ab). Nach Altschüler und anderen ist also das Jiddische die Sprache der Aschkenasim und mit dem Aschkenasischen identisch. Für diese These spricht die von jüdischen Forschern wie Mathias Mieses (1924) festgestellte enorme Ähnlichkeit des Jiddischen und Bairischen. Ich vertrete allerdings die Auffassung, dass das Fränkische und das fränkische Jiddisch sich noch mehr gleichen als Jiddisch und Bairisch. Im deutschen Kulturraum stand bis weit in die Neuzeit hinein – vor allem beim Adel und Großbürgertum - nicht die deutsche Sprache, sondern Latein und Französisch im Vordergrund (Germanist H. Schlaffer). Die Juden waren die ersten, welche noch vor den Mitgliedern der deutschen Elite (Adel, Großbürgertum) die hochdeutsche Sprache als ihre Sprache übernahmen. Als besonderes Beispiel diene hier der in Berlin im 18. Jahrhundert wirkende jüdische Theologe und Philosoph Moses Mendelsohn.

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2.2 Hebräische und jiddische Wörter kommen auch in den ´deutschen´ Sprachen vor Jiddisch ist wie Bairisch und Fränkisch eine germanische Sprache mit rd. 20 % hebräischen Wurzeln. Bei meinen Forschungen stellte ich fest, dass auch im Bairischen und Fränkischen und in deutschen Dialekten häufig nicht nur jiddische, sondern auch hebräische Wörter vorkommen. Dazu einige Beispiele: Massel (hebr. massal = Glück, Stern), Ganove (hebr. ganav = Dieb, gan = Garten), Knast (hebr. knass = Geldstrafe), Pleite (hebr. pleitah = Flucht, ruach (ruach = Geist, Wind), leker (hebr. leker = Ochsenzunge), schäkern (jiddisch scheker, hebr. schakár = lügen), Amme (hebr. „am“ = Mutter), Schild (hebr. schelet), komm (hebr. kum = steh auf“, etymologisch „komm!“). Der Nürnberger Johann Heinrich Häßlein leitet in seinem „Nürnberger Wörterbuch“ (Neuausgabe 1993) das fränkische „Seibala“ vom hebräischen Siboleth bzw. Schiboleth ab. Seibala werden nach Häßlein „diejenigen genannt, welche die hiesige Sprache nach dem Dialekt des gemeinen Mannes reden.“ Diese Aussage fällt genau in die Zeit, in welcher die westlichen und deutschen Juden ihr Jiddisch zunehmend durch das Hochdeutsche ersetzen. Schmeller schreibt in seinen Briefen (Briefwechsel I, S. 289 ff) statt Häßlein „Häslein“. Jiddische Wörter haben auch im abgelegenen Eifeldörfchen NEROTH das Dritte Reich überdauert. Noch 1981 kannten alte Leute in Neroth z.B. noch folgende direkt aus dem Hebräischen stammenden Wörter: Nerother Dialekt hakdul mosseren, mosern sern Teschuwe Acherer 198

Hebräisch hakol massor

Hochdeutsch alles angeben, mo-

teschuwa, tschuwa acher

Antwort anderer

More Meloche, Maloche Tobuche Dalles Ayn Suss toff

mora melacha tapuach dalut ayin suss tov

Angst Arbeit Apfel Armut Auge Pferd gut

Quelle: Nachum Gidal: Die Juden in Deutschland, BertelsmannVerlag, Gütersloh 1988, S. 65. Die hier wiedergegebenen Wörter stellen nur eine Auswahl dar. Vor dem 1. Weltkrieg finden sich wohl noch viel mehr Wörter hebräischer Herkunft in Neroth. Angesichts dieser starken Durchdringung des Dialektes eines abgelegenen Dorfes liegt Prof. Theo Vennemann mit seiner These durchaus richtig: Er weist nach, dass mindestens 25 % des Wortschatzes der germanischen Sprachen (Bairisch, Fränkisch, sogar Deutsch) semitischer bzw. semitidischer Herkunft sind. 2.3 Gibt es ein speziell fränkisches Jiddisch? Franz J. Beranek („Die fränkische Landschaft des Jiddischen“ 1961) rechnet das fränkische Jiddisch zum sog. Westjiddischen. Unter Franken versteht er vor allem die Osthälfte des fränkischen Siedlungsgebietes, im Wesentlichen also das heutige Mittel-, Ober- und Unterfranken. Juden tauchen im heutigen Franken erst im 11. Jahrhundert auf. Sie lebten anfangs wie im Rheinland in den Städten, von wo sie – Fürth ausgenommen - dann im späten Mittelalter mehr und mehr ausgewiesen wurden und weiter östlich wanderten. Die im späten Mittelalter aus Nürnberg, Bamberg und Würzburg vertriebenen Juden wurden aber auch in Fürth und zahlreichen fränkischen

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Landgemeinden aufgenommen und wurden hier vielfach als Bereicherung – was man wörtlich nehmen darf – empfunden. Für den Sprachforscher Franz Joseph Beranek gibt es im süddeutschen Raum und in Franken „eine nachweisbare jiddische Sprache“ erst seit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Man darf aber annehmen, dass das Jiddische noch weiter als bis ins 14. Jahrhundert zurückgeht und auch älter ist als die hochdeutsche Schriftsprache. Das Jiddische hat sich wie das Bairische seit dem 14. Jahrhundert dann noch weiterentwickelt und regional nach Dialekten differenziert. Seitdem verschob sich der Schwerpunkt der aschkenasischen Tradition und Gelehrsamkeit von den sog. rheinischen „SCHUM“Städten348 (Speyer, Worms = Uorms und Mainz) in den bairischösterreichischen Kulturraum und von dort im 16. Jahrhundert weiter nach Polen, Böhmen und Osteuropa. Prag war ein blühendes jüdisch-aschkenasisches Zentrum! Seit 1800 ist – anders als das Ostjiddische – das Westjiddische und auch das fränkische Jiddisch zunehmend dem Verfall preisgegeben, da die Juden noch mehr als alle anderen Deutschen sich für die hochdeutsche Sprache entschieden. Im fränkischen Jiddisch überwiegen die oberdeutschen Elemente. Die Aussprache des fränkischen Jiddisch ist dem Fränkischen sehr nahe, vor allem sichtbar beim nasalierten Vokal „a“ (Schtā, klā, Frā etc.). Als Beispiel diene die folgende Episode des jüdischen Bajazz Löbele Fürth: „Ein fränkischer Rabbi, der nicht im besten Rufe stand, sagte einmal, nachdem alle Welt und er selbst sich mit an Löwles [Löbeles] Possen ergötzt hatte: ´Schad um den guten Wein im boesen Faß.“ Darauf erwiderte schlagfertig Löwle Fürth: 348

Speyer und andere „S“-Städte beginnen im Hebräischen mit dem Buchstaben „Schin“, welcher gleicherweise für „S“ und „Sch“ steht. Im Hebräischen ist wie im Alemannischen das „Sch“ am Wortanfang sehr häufig. So wird z.B. „Simon“ meist als „Schimon“ ausgesprochen.

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„Der Wān ist gutt un´ das Fass is auch gutt; aber der Raf is nix nutz´…“ Raf = Reif = Rabbiner. (Lautverschiebung von Rab zu Raf) Das Ostjiddische drängt sich bis an den Rand des fränkischen Jiddisch, was sich in der Diphtongierung des oberpfälzischen Jiddisch bemerkbar macht. 3. Juden in Franken – die Verlagerung der jüdischen Kultur in kleinere Städte und Orte Seit Beginn der Neuzeit trat Fürth, das „fränkische Jerusalem“, zunehmend an die Stelle des Vakuums Regensburg und auch der Reichsstadt Nürnberg. Die Ausstrahlung von Fürth führte im 18. Jahrhundert zu einer Verschmelzung der fränkischen und oberpfälzischen jiddischen Landschaft, das fränkische Jiddisch drang immer mehr in die Oberpfalz vor und drängte dort das Ostjiddische zurück. Von Fürth abgesehen, lebten die meisten bayerischen Juden in der Neuzeit in kleinen schwäbischen, fränkischen und oberpfälzischen Städten und kleinen herrschaftlichen Territorien, z.B. Hofmarken und Reichsritterschaften, wie z.B. Bechhofen (2/3 der Gesamtbevölkerung waren Juden), Biebelried, Forth bei Erlangen (Gemeinde bestand aus Juden und Christen), Veitshöchheim, Rödelsee, Tüchersfeld, Schnaittach und natürlich auch im oberfränkischen Ermreuth (Gemeinde Neunkirchen am Brand). Bibelried wird oft in den fränkischen Quellen genannt. 3.1 Zwei Fälle für das jiddisch-fränkische Zusammenleben in Bibelried: Fall 1: „Schultheis Stoffel Breuttigamb bringt vor, das(s) auf den heiligen Palmabendt Isackh judt ein beschneidung gehabt, worauf seine

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gäst bezecht und frevelmütig sowohl im dorf närrischer weis als im hof umgelofen mit juchsen und mit … geschrey, pitt also, solches zu bestrafen.- Der Jude antwortet, er könne für das Verhalten seiner Gäste nicht verantwortlich gemacht werden. Da der Vorfall „auf unserm heiligen Palmabendt“ geschah, muß er Buße zahlen.“ (Jahr 1667, Kramer S. 155) Fall 2: „Christoff Breüttigamb clagt wider Lämble juden, das da er aus seiner gnl. Herrschaft befelch in den annoch wehrenden betrübten contagions-zeiten alle ubbigkeiten, dantz, spielleuth uns sonsten verbiethen sollen, so hette doch derselb Lämble judt bey seiner schwester erlaubter hochzeith … sich der spielleuth gebraucht und frevelmüthig diselbe mit wehrendtem dantz offentlich unter die linden geführt.- Ex adverso Lämble judt sagt, weilen ihme die hochzeith erlaubt were, wabey man jederzeit spielleuth brauchte, so were auch sub tacito dessen erlaubnus gewesen, wolle also nit verhoffen, mit straf angesehen zu werden.“ (Jahr 1667, Kramer S. 155). Ob eine Bestrafung erfolgte, geht aus Kramer nicht hervor. Was uns da als Jiddisch überliefert ist, klingt eher fränkisch und ist auch von fränkischen Texten dieser Zeit kaum zu unterscheiden. 3.2 Quellen der Phonetik des Jiddischen Nach Franz J. Beranek war das Jiddische – bereits vor dem Holocaust – als „Alltags- und Umgangssprache des jüdischen Bevölkerungsteils längst erloschen“ und nur noch aus spärlichen schriftlichen Quellen fassbar. Das gelegentlich meist schriftlich überlieferte Jiddisch scheint aus dem Osten und Südosten Europas gekommen zu sein. Als brauchbare phonetische Quellen für das fränkische Jiddisch taugen nicht zuletzt jiddische Bühnenstücke wie das von Joseph Herz: Esther oder die belohnte Tugend“ (Fürth 1827). Inhalt des Stücks von Joseph Herz: Dienstmädchen, das sich der Avancen seines adeligen Dienstherrn mit den „Waffen einer Frau er-

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wehrt und schließlich seinen sozialen Aufstieg durch die Ehe mit dem vormaligen Unterdrücker bewerkstelligt“ (Lowenstein 32, S. 33). Eine brauchbare Quelle der jiddischen Phonetik ist der Roman „Die Juden von Zirndorf“ (München 1897) des in Fürth geb. Jakob Wassermann. Wie in den jiddischen Theaterstücken ist auch der Romancier mit dem lebendigen fränkischen Jiddisch noch vertraut. Völlig unbrauchbar in phonetischer Hinsicht ist der „Materialgewinn“ aus den ältesten judaistischen Zeitschriften und Jahrbüchern. 3.3 Früher Antijudaismus in den jiddischen Werken des Nürnberger Patriziers Freiherrn von Holzschuher Eine weitere jiddische Quelle stellen vor allem die Prosaschriften von Itzig Feitel Stern dar. Besonders bekannt und in Antiquariaten gehandelt ist sein „Medrasch Sefer“, sein „Lexikon der jüdischen Geschäfts- und Umgangs=Sprache“. In diesem „Medrasch“, auch als „Midrasch“ bezeichnet, schildert er jüdische Handelsleute aus den Dörfern und Landstädtchen Frankens, allerdings aus einem deutlich erkennbaren antijüdischen Geist heraus. Itzig Feitel Stern ist ein Deckname für Johann Friedrich Sigmund Frh. v. Holzschuher aus Nürnberg (geb. 1796, gest. 1861 in Gräfenberg). In Gräfenberg war er lange als Landrichter tätig. Da er meist in jüdischen Siedlungen wirkte, war er mit dem Jiddischen bestens vertraut. Beranek warnt jedoch ausdrücklich vor einer unkritischen Benutzung seines „Lexikons der jüdischen Geschäfts- und Umgangssprachen“, München 1833 (Leipzig-Meißen 1858/59) (S. 273). Unkritisch sind auch viele Wörterbücher, welche vom Wörterbuch Holzschuhers von 1833 ihren Ausgang nahmen. Beispiel „Die Markt- & Handelssprache der Israeliten“, nach 1871 publiziert. Midrasch-Sefer (hebr. Titel des Lexikons) bedeutet eigentlich „Auslegung“ (des Alten Testaments – mit Halacha und Haggada).

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4. Fallstudien zum Lachoudischen an der westlichen Grenze von Franken Eine gute Basis der jiddischen Phonetik bietet das Lachoudische von Schopfloch und der Umgebung im westlichen Mittelfranken. Es wurde nicht nur von Juden, sondern auch von Christen bis zur Etablierung des NS-Systems gesprochen. Also eine wahrhafte „Sprache“! Jiddisch-Lachoudisch sprach man aber nicht nur in Schopfloch und Umgebung, sondern, wie neuere Forschungen zeigen, z.B. auch im Eifeldörfchen Neroth. Bei intensiver Nachforschung könnte man sicher noch weitere Orte ausfindig machen, in welchen sowohl Christen als auch Juden Jiddisch oder eine verwandte Sprache als Umgangssprache nutzten. Der Dialekt des schwäbisch-bairischen Lechrains ist übrigens stark mit jiddischen Wörtern durchsetzt. Fallstudie: Gespräch zwischen Heiner und Fritz Heiner: Uuser, wemm merr die härt, noe hascht du immer Schlammassl und makscht bald Machulle. Fritz: Etz achil merr und schassgene e moel gscheit. Heiner: Rojn, wie der Loukouhn mit seiner Goje mauschlt. Fritz: Du Schejchets [auch: scheikets], i māhn, wir maschulme, sunscht bringscht du noch en klane Schigger zamm und zledscht kummt noch die Maschbueche und holl di. Affn Hammweg secht der Fritz zum Heiner: Fritz: Du i lakeäch merr noch a Desche für mei Hanife, die Kaffriechem wärre merr nitt gleich ihrn Keeleff noechhetze. Heiner vorm Fritz sein Bajes: Masslebrouche, i gäe etz in mein Middes

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Übersetzung ins Hochdeutsche: Heiner: Nicht wahr, wenn man dich hört, dann hast du immer Pech und machst bald Konkurs (Bankrott). Fritz: Jetzt essen wir und trinken einmal gescheit (richtig). Heiner: Schau, wie der komische Typ mit seinem Mädchen tuschelt (in sein Mädchen verliebt ist) Fritz: Du, Spezi (Freund), ich meine, wir zahlen, sonst bringst du noch einen kleinen Rausch zusammen und zuletzt kommt noch die Verwandtschaft und holt dich. Auf dem Heimweg sagt der Fritz zum Heiner: Fritz: Du, ich nehm´ (stehle) mir noch a Gras für meine Hasen, die Bauern werden mir nicht gleich ihren Hund (Kläffer) nachhetzen. Heiner (vor dem Haus von Fritz): Glück und Segen, ich gehe jetzt in mein Bett. Im Folgenden findet sich eine Erklärung der aus dem Jiddischen und Hebräischen ableitbaren Wörter: Achil = essen (hebr. ochel = Nahrung), bajes = hebr. bajit (Haus), goje entspricht im Lachoudischen nicht dem Nichtjuden, sondern ist i. d. Regel ein (christliches) Mädchen, kofer = althebr. Dorf, aramäisch „kaff“, koun = Bursche, Mensch, lakeach(e), lakeäche = nehmen, stehlen, maschbueche = hebr. mischpacha = Familie, maschulme = hebr. meschalém (zahlen), mauscheln = geheimnisvoll reden, masslebrouche = hebr. mazal-baruch (Glück und Segen), middes = hebr. mita (Bett), Schassgene wohl von hebr. „schato“ (trinken), rojn, roine, wohl von jiddisch „r´jie = Sehkraft, scheikets (Freund) wohl abgeleitet von jiddisch „schejgez“ (nichtjüdischer Junge, Knabe), schigger = jiddisch „schiker“ = Säufer, „secht“ =

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hochdeutsch „sagt“. Secht kann im Fränkischen auch als „sächt“ geschrieben sein, ist zugleich Fränkisch und fränkisches Jiddisch. Uuser = hebr. „az“ bzw. „aß“ = also, dann? Im Ostjiddischen wird ein langes „a“ oft zu „u“. Hanife kommt als Vorname im Koran vor, ist arabisch und bedeutet auch „sehr religiöse Frau“. Der Hase ist nach dem jüdischen Gesetz ein sehr unreines Tier. Hanife könnte also hebräisch „Unreiner“, „Ruchloser“, „Gottloser“ bedeuten, also ein Schimpfwort. Im Arabischen ist „hanif“ ein Rechtgläubiger. Desche = Gras (Herkunft des Wortes noch nicht geklärt). Rund 40 Prozent der in diesem Gespräch zwischen Heiner und Fritz genannten Wörter sind jiddischer oder sogar hebräischer Herkunft. Diese Ausdrücke zeigen auch, wie sehr das Fränkische und das fränkische Jiddisch miteinander verwandt sind. 5. Jüdische Sprichwörter (Ostjiddisch) Ignatz Bernstein hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts systematisch ostjiddische Sprichwörter gesammelt. Sie kommen mit meist kleinen phonetischen Abweichungen auch im Westjiddischen und im fränkischen Jiddisch vor. Ich begnüge mich hier mit der Wiedergabe einer kleinen Auswahl. Ich habe vor allem solche Sprüche gewählt, welche den deutschen Mundarten Bairisch, Alemannisch und Fränkisch sehr nahestehen. Es wird viele Leser überraschen, dass erstens Jiddisch nicht eine semitische, sondern germanische Sprache ist, die noch etwas mehr als das Bairische auch hebräische Wörter enthält. Die im Folgenden ausgewählten 22 ostjiddischen Sprüche enthalten auch abgewandelte Worte aus dem Hebräischen und natürlich viel Weisheit und Humor. Das Ostjiddische hat, wo man im Westjiddischen und Bairischen ein a spricht, oft ein dem „o“ nahestehendes „u“, z.B. tug = tag. 1. Aus die ojgen – aus dem harzen (Harz = mhd, heart = altenglisch, althochdeutsch)

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2. An Rojsch-Chodesch Ijor trinkt men dus beste Bier. Ijor entspricht etwa Monat Mai, Anfang des Monats Ijor) 3. A halber emess (hebr. emeth = Wahrheit) is a ganzer ligen. Eine halbe Wahrheit ist eine ganze Lüge. 4. Urem (hebr. arem = Armut) is kejn schand –ober auch kejn grojsser kuwojd (hebr. kavód = Ehre) nit. Armut ist keine Schande, aber auch keine große Ehre nicht. 5. Ganz Aschk´nas ist eijn schtudt (schtadt). Ganz Deutschland ist eine Stadt. 6. A pojlioschen bejn (hebr. ben = Sohn) juchid (hebr. jachad) soll man leihen – a deitschen bejn juchid sol men freien. (hebr. jachad) Einem polnischen einzelnen Sohn soll man leihen – einen deutschen Einzelsohn soll man freien. 7. Besser zehn m´schümudim (schmad = Taufe), ejder ein schlecht weib. Besser zehn getaufte Juden als ein schlechtes Weib. 8. Got krigt sich mit´n weib.“ Kommentar von Bernstein: „So sagen Kinder scherzhaft, wenn es donnert.“ 9. Drei tug is men a gast – schpeter wert men zü last. Drei Tage ist man ein Gast, später wird man zur Last. 10. As bei gojim is a kermeschel, schlugt men jüden. Gojim = Nichtjuden. Kermeschel = Kirmes. Wenn bei den Christen Kirmes ist, schlägt man die Juden. 11. Asoj fil geld hot Got alejn nit. So viel Geld hat nicht einmal gott. 12. As men ferlirt geld, sücht men frümkejt, as men gewint geld, ferlirt men frümkejt. Wenn man Geld verliert, sucht man Frömmigkeit; gewinnt man Geld, verliert man Frömmigkeit. 13. Er hat aasoj fil geld, wi a jüd chasejrim. Er hat so viel Geld wie ein Jud Schweine (also kein Geld). 14. As der jüd is hüngerig, singt er, ün der pauer schlugt dus weib. Wenn der Jude hungrig ist, singt er, aber der Bauer schlägt sein Weib.

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15. Mojsche rabejnu hot mit di jüden auch nit gekent auskümen. Rabbi Moses hat mit den Juden auch nicht auskommen können. 16. Klejne kinder losen nit schlufen, grojsse kinder losen nit leben. Kleine Kinder lassen nicht schlafen, große Kinder lassen nicht leben. 17. Zwischen a schwiger ün a schnür, gehert an eiserne thir. Zwischen eine Schwiegermutter und eine Schwiegertochter gehört eine eiserne Türe. 18. A weib ün a ferd borgt men nit aweg. Ein Weib und ein Pferd leiht man nicht aus. 19. As dus weib geht in di hojsen, müs der man wigen dus kind. Wenn das Weib in den Hosen geht, dann muss der Mann das Kind wiegen. 20. A jüng weib, is wi a schejn fejgele, wus men müs es halten in schteigele. Ein junges Weib ist wie ein schönes Feigele, man muss es halten im Steigele. 21. Weiber haben drei sez: an einsaz, an ubsatz, ün an aufsaz. Frauen haben drei Sätze: einen Einsatz, einen Absatz, einen Aufsatz. (Die 3 Sätze sind der Frauentoilette entnommen). 22. Weiber fihren züm güten, oder züm bejsen; s´sei-wi-s´sei, ferfihren sej. (Bejse = böse). Weiber führen zum Guten oder zum Bösen, sei es wie es sei, sie verführen. 6. Schlussbetrachtung Gerade in Franken hat das neuzeitliche Landjudentum nicht nur die jüdische, sondern auch die nichtjüdische Kultur mehr geprägt als die jüdische Stadtkultur des Mittelalters. Vieles ist durch die Barbarei des Dritten Reiches wie auch durch die Nachlässigkeit und das Desinteresse der Nachkriegszeit unwiederbringlich verloren gegangen. Wenn es nicht so engagierte Menschen wie die Aramäerin Frau Rajaa Nadler gäbe, dann wäre das Wissen um die jüdisch-jiddische Kultur nicht nur zunehmend aus der Land-

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schaft, sondern auch aus den Köpfen der Franken verschwunden. Es ist traurig und man darf es durchaus „beweinen“349, dass in den wenigen antisemitischen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kulturelle Werte, welche in Jahrhunderten der christlichjüdischen Kooperation in Franken mehr als anderswo geschaffen wurden, von der Bildfläche verschwanden. Wir haben also einen guten Grund, Gott dafür zu danken, dass es aktiven jüdischen und christlichen Menschen gelungen ist, einen Teil dieser Kultur in den fränkischen Synagogen von Ermreuth, Veitshöchheim, Rödelsee, Schnaittach etc. wieder lebendig werden zu lassen. Internetquellen http://www.alemannia-judaica.de/schopfloch_synagoge.htm#Fotos http://www.antiquariat.de/tigross.jsp;jsessionid=2D50A6F03C017611D E1238B2BFBF5BB6?id=15038232 http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Emil_Franzos (Dichter Emil Franzos) http://en.wikipedia.org/wiki/Charoset http://de.wikipedia.org/wiki/Chuppa http://www.chabadnuernberg.de/templates/photogallery_cdo/aid/588136 http://www.hronline.de/website/rubriken/nachrichten/indexhessen34938.jsp?rubrik=34938 http://www.infranken.de/nachrichten/lokales/bamberg/Ein-froehlichesFest-nach-einem-strengen-Ritus;art212,71508 http://www.kaeuzcher.de/lexikon-a-e.html (Bajazz) http://www.stockfood.de/results.asp?txtkeys=Matzenbrot http://www.swr.de/fastnacht/mainz-bleibt-mainz//id=4329558/did=4370402/pv=video/nid=4329558/19z8zbv/index.html (Bajazz) 349

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Deutsche Juden zwischen jüdischer Identität und deutscher Anpassung Einleitung Mein Vortrag hier in der Synagoge von Ermreuth (Juli 2012) stellt exemplarisch drei jüdische Persönlichkeiten vor, welche in besonderem Maße der deutschen Kultur zugetan waren, aber trotz aller Liebe zu Deutschland ihre jüdischen Wurzeln nicht aufgeben wollten. Alle drei litten unter der in Deutschland lange praktizierten Irrlehre, dass man entweder deutscher Christ oder israelitischer Hebräer sein müsse. Wir wissen inzwischen nach den leidvollen Erfahrungen des Holocaust und als Mitglieder der sich immer mehr entwickelnden europäischen Kultur, dass man Deutscher und Jude, Deutscher und Muslim etc. gleichzeitig sein kann. Es ist heute kein Problem, zwei Staatsangehörigkeiten zu besitzen und mehrsprachig aufzuwachsen. Neuere politische Tendenzen weisen allerdings in eine andere Richtung, nämlich in Europa möglichst nur mehr eine einzige Staatsangehörigkeit zuzulassen. Für meinen Vortrag in der Synagoge von Ermreuth am 8. Juli 2012 habe ich nicht wahllos drei Vertreter des deutschen Judentums, sondern drei bekannte Persönlichkeiten gewählt, welche der im Thema angesprochenen Problematik, nämlich „zwischen den Stühlen“ zu sitzen, ausgeliefert waren. Diese drei Männer haben etwas Wichtiges gemeinsam, nämlich den Konflikt zwischen der Aufrechterhaltung jüdischer Identität und der Anpassung an die Normen der vor allem vom protestantischen Christentum geprägten deutschen Kultur. Ich habe ganz bewusst die drei behandelten Personen aus unterschiedlichen Lebensbereichen und Jahrhunderten gewählt: Moses Mendelsohn, den universalen Denker und Philosophen, Heinrich Heine, den Dichter der Romantik, und Walther Rathenau, den loyalen Politiker und Außenminister des Deutschen Reiches bis zu seiner Ermordung im Juni 1922. Die hier behandelten drei Persönlichkeiten lebten in verschiedenen Epochen. Moses Mendelsohn, der jüdisch gebliebene Theologe und Philo-

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soph, repräsentiert das 18. Jahrhundert und steht als Mann der Wissenschaft für die deutsche Aufklärung. Heinrich Heine, der große deutschjüdische Dichter und Virtuose der deutschen Sprache, der sich protestantisch taufen ließ und katholisch heiratete, ist Ende das 18. Jahrhunderts (1797) geboren, ist aber ein typischer Vertreter des 19. Jahrhunderts. Er ist ein Opfer der politischen Restauration, welche bald nach dem Wiener Kongress (1814/15) eingesetzt hat. Er ist von den drei hier Behandelten derjenige, der am meisten um ein besseres Verständnis zwischen Franzosen und Deutschen bemüht war und der in Europa sein wahres Vaterland sah. Walther Rathenau, 1867 geboren, wohl der vielseitigste Jude und Deutsche der Neuzeit, steht für das 19. und 20. Jahrhundert. In besonderem Maße hat er aber die deutsche Politik und Wirtschaft des 20. Jahrhunderts bis zu seiner Ermordung im Jahre 1922 beeinflusst und geformt. Er war zugleich Industriemanager (in zahlreichen Unternehmen), liberaler Politiker, Minister, Schriftsteller, Naturwissenschaftler. Rathenau war dazu noch künstlerisch begabt und beherrschte viele Sprachen in Wort und Schrift. Vielseitig war bereits sein Studium. So studierte er in Straßburg und Berlin Physik, Chemie und Philosophie, anschließend 1889/90 Maschinenbau an der TU München. Wir beginnen mit Moses Mendelsohn. Moses Mendelsohn Moses wurde im gleichen Jahr 1729 wie sein langjähriger Dichterfreund Gotthold Ephraim Lessing geboren, Moses in Dessau, Lessing im sächsischen Kamenz. Moses hieß aber seit seiner Geburt nicht Mendelsohn, sondern nur Mendel. Sein Vater Menachem Mendel war Gemeindeschreiber und Lehrer an einer Privatschule. Seine Muttersprache war „taitsch“ (Jiddisch). Als Zweijähriger lernte er bereits Hebräisch und Aramäisch. Letztere ist die Sprache von Jesus und seinen Jüngern. Doch das hatte man damals schon ´erfolgreich´ verdrängt. Den Namen „Mendelsohn“ verpasste dem Moses ein Berliner Zollbeamter, als Moses erstmals die Stadt Berlin betrat, um dort etwas zu werden.

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Er wagte den ungewissen Schritt ins aufstrebende Berlin des 18. Jahrhunderts, weil er auf die in den preußischen „General-Privilegien“ von 1750 garantierten Toleranzideen – auch den Juden gegenüber – vertraute. Von einer Gleichstellung der Juden konnte aber im 18. Jahrhundert nicht einmal in Berlin die Rede sein. Auch Mendelsohn genoss kein wirkliches Bürgerrecht, sondern stand als „Schutzjude“ unter dem persönlichen Schutz von König Friedrich II., dem ´Großen´. Der preußische König war nicht der liberale König, wie ihn die nationale preußischdeutsche Geschichtsschreibung so gerne hinstellt. In neueren Forschungen wurde nachgewiesen, dass es auch unter Friedrich II. starke Einschränkungen der persönlichen Freiheit – nicht nur für Juden – gab. Friedrichs Regierungsstil, mehr absolutistisch als aufklärerisch, war durchaus autoritär, von einer Freiheit der Presse konnte auch in Preußen keine Rede sein. Allerdings muss man zugeben, dass anderswo vielfach noch autoritärer regiert wurde. Es gab jedoch, was gerne verschwiegen wird, in der republikanischen Hansestadt Hamburg ein ziemlich freies Pressewesen mit hohen Auflagen der Tageszeitungen schon im ausgehenden 18. Jahrhundert. Mendelsohns Denken wurde nicht nur durch die jüdische Tradition geprägt, sondern auch durch die hochdeutsche, protestantisch geformte deutsche Literatur (Lessing), die christlichen Philosophen Christian Wolff (1679-1754) und den Allroundwissenschaftler Leibnitz (16461716). Der Aufstieg des Moses Mendelsohn klingt wie eine moderne Erfolgsstory. In unserer modernen Casting-Kultur hätte Mendelsohn den Sprung nach Berlin wohl nicht geschafft. Denn er war „ein schüchterner Mann von kleiner Statur, der zeit seines Lebens aus Verlegenheit stotterte, wenn er zu sprechen begann“. Er war zwar ein Mann

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„mit schön gebildetem Gesicht, klugen Augen und einem kurzen Bart, aber mit verwachsenen Schultern, die einen Höcker bildeten; ein bescheidener kranker Mann“. Seine Geisteskapazität war aber so außergewöhnlich, dass diese Defizite seinen sozialen und intellektuellen Aufstieg nicht verhindert konnten. Der folgende Spruch, welcher die Größe von Moses Mendelsohn zeigt, war in Berlin schon zu seinen Lebzeiten ein geflügeltes Wort: „Von Moses bis Moses war keiner dem Moses gleich.“ Als Moses nach Berlin kam, wurden die jüdischen Gemeinden noch meist von polnischen Rabbinern geführt, die nur mangelhaft Hochdeutsch konnten, kein Interesse an der hochdeutschen Sprache hatten und auch nicht wollten, dass die Mitglieder der Gemeinden ihr „Taitsch“ (Jiddisch) zu Gunsten der hochdeutschen Schriftsprache aufgaben. Vertreter des jüdischen Großbürgertums in Berlin wandten sich als erste der hochdeutschen Sprache zu (Heinz Schlaffer 2002). Taitsch (Jiddisch) und Hochdeutsch standen also zumindest in Berlin im Wettbewerb zueinander. Moses Mendelsohn, wie er in Berlin nun hieß, gewann sehr bald gleichgesinnte Freunde, so z.B. den Dichter Lessing und den jüdischen Philosophen Fränkel (1779-1865). Fränkel hatte Mendelsohns Genialität erkannt und er ließ ihn zum Studium an seiner Jeshiva (Hochschule) in Berlin zu. Dort lernte er nicht nur systematisch jüdische Theologie (Bibel, Talmud, Haskala etc.) und die Lehren jüdischer Gelehrter wie Maimonides (1138-1204) kennen, sondern wurde auch mit den Lehren christlicher Theologen und Philosophen vertraut. Mendelsohn und Lessing wurden Freunde. Mendelsohn war der erste deutsche Jude, der philosophische Abhandlungen in der deutschen Schriftsprache, also nicht in „Taitsch“, verfasste. Ich erinnere hier an das

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damals viel diskutierte 1767 publizierte Werk „Phädon oder die Unsterblichkeit der Seele“, ein modernes sokratisches Gespräch, das Mendelsohns Ruhm über Deutschland hinaus begründete. Bereits vor ihrer Veröffentlichung lernte Moses in seiner Korrespondenz mit Immanuel Kant die Grundgedanken der „Kritik der reinen Vernunft“ und der „Kritik der praktischen Vernunft“ kennen. Phädon ist gewissermaßen eine Chiffre für Sokrates, und dieser steht symbolisch für die europäische Aufklärung. In dieser Abhandlung stellt also Mendelsohn nicht einen historisch realen, sondern einen virtuellen Sokrates vor. Mit der Idee der Unsterblichkeit der Seele steht Mendelsohn nicht nur in der jüdischen, sondern auch in der europäischen Philosophietradition. Die europäisch-christliche Aufklärung und die stark von der Bildungsidee geprägte jüdische Haskala haben also gemeinsame Wurzeln. Natürlich gefiel den polnisch-preußischen Rabbinern weder die Beschäftigung des Moses Mendelsohn mit der modernen Philosophie noch die Zurückdrängung der jiddischen Sprache und Kultur. Die Rabbiner hielten trotz Mendelsohn unbeirrbar an der „taitschen“ Sprache fest. Sie waren sich der Tatsache bewusst, dass die Juden mit der Akzeptanz der deutschen Schriftsprache auch die preußisch-deutsche Kultur und das protestantisch-christliche Wertesystem hätten übernehmen müssen und dass an die Stelle des Alten Testamentes immer mehr das Neue Testament getreten wäre. Wer also „Deutsch“ statt „Taitsch“ sprach und schrieb, war für die orthodoxen Rabbiner ein Ketzer. Wer die deutsche Übersetzung der „Fünf Bücher Moses“ las, wurde sogar mit dem Bann belegt. Selbst der Besitz eines deutschen Buches konnte zum Ausschluss aus der jüdischen Gemeinschaft führen. Man unterstellte Moses, dass er sogar eine „Glaubensvereinigung“ mit den Christen anstrebe. Genau das aber war nie der Fall. Moses Mendelsohn hielt – bei aller Wertschätzung von deutscher Sprache und Kultur – unbeirrbar an seinem mosaisch-jüdischen Glauben fest und widerstrebte allen Bekehrungsversuchen. Er war zutiefst überzeugt,

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dass Gott die „Mannigfaltigkeit“ der verschiedenen Glaubensrichtungen nicht ablehne. Mendelsohn bekennt sich zu einer aktiven Toleranz, „die den Andersgläubigen nicht nur duldet, sondern seine Andersgläubigkeit auch zu erkennen, zu beurteilen sich müht, um ihr wahrhaft in einem Dialog ohne Vorurteil gegenüberstehen zu können.“ Mendelsohn saß immer zwischen den Stühlen. Er konnte es den Christen nicht recht machen, weil diese ihn nicht nur als Preußen, sondern auch als Mitchristen haben wollten. Wissenschaftler wie Gottlieb Fichte (1762-1814), ab 1805 Professor für Philosophie in Erlangen, und Heinrich von Treitschke (1834-1896) forderten ganz allgemein von den Juden: „Sie sollen Deutsche werden.“ Natürlich sollte eine solche Deutschwerdung verbunden sein mit einer Konversion zu einem aktiven (protestantischen) Christentum. Allerdings ging Mendelsohn auch den meisten Berliner Juden mit seiner Anpassung an deutsche Sprache und Kultur viel zu weit. Die meisten von ihnen, deren Hauptsprache nach wie vor „taitsch“ war, wollten weder Deutsche noch Christen werden. Für die meisten Elitedeutschen gab es aber nur ein „Entweder – Oder“. Wer nicht Deutscher und Christ werden wollte, war in Deutschland unerwünscht, wie ´klassische´ Aussagen von Fichte und Treitschke belegen. Der hochgepriesene Philosoph Fichte wollte die Juden in „ihr gelobtes Land“ abschieben, um das deutsche Volk vor ihnen zu schützen. Treitschke ging noch weiter und riskierte den bösen Satz: „Die Juden sind unser Unglück.“

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Mendelsohn, fest in seinem hebräischen Glauben verwurzelt, lehnte die seit dem 19. Jahrhundert immer mehr sich ausbreitende Maxime, dass man sich taufen lassen und Christ werden müsse, „um vorwärts zu kommen“, kategorisch ab. Er war aber so tolerant, dass er sich nicht dagegen wehrte, dass mit Ausnahme des älteren Sohnes „alle Kinder und Enkel Mendelsohns getauft“ wurden. (Paul Schallück). Mendelsohn war (wie Maimonides) offen für alle Religionen. Er korrespondierte sogar mit einem Benediktinermönch von La Trappe. Selbst ein so aufgeklärter den Juden positiv gegenüberstehender Wissenschaftler wie der berühmte Geograph Alexander v. Humboldt (17671835) sah in der Assimilation der Juden zwar nicht eine „Bedingung“, aber doch die „notwendige Folge der Emanzipation“. Die damaligen Diskussionen um eine Assimilation der Juden werden heute wieder lebendig, wenn es um die Assimilation der Muslime und überhaupt der zugewanderten Ausländer in Deutschland geht. Man hat hier diese Thematik allzu lange verdrängt oder vor sich hergeschoben. Noch lange ist man sich in Deutschland nicht klar darüber, ob man überhaupt eine Assimilation erwarten und verlangen dürfe und wenn schon, dann in welchem Ausmaß und in welcher Form. Ungeklärt ist m. E. nach wie vor, was man unter „europäischen Werten“ zu verstehen hat. Gehören da auch die in den religiösen Werken des Judentums und Christentums grundgelegten Werte dazu? Vor allem Ehe und Familie? Die „Zehn Gebote“? Mendelsohn war weitaus mehr als nur Theologe oder Philosoph – das war er natürlich auch. Ohne die eigene jüdische Substanz aufzugeben, hat er wie kein anderer im 18. Jahrhundert dazu beigetragen, dass die Botschaft des Judentums „nicht verlor, sondern nur einen anderen Klang bekam.“

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Mendelsohn zeigte, dass man Jude bleiben und trotzdem der deutschen Nation und Kultur verbunden sein konnte. In diesem Sinne äußerte sich auch der Berliner Dichter Emil Franzos (1848-1904). Es gibt keinen anderen, der so anschaulich und überzeugend wie Martin Buber die Botschaft des Judentums – im Sinne von Moses Maimonides und von Moses Mendelsohn – in wenigen Zeilen auf den Punkt gebracht hat: „Die Menschenwelt ist bestimmt, ein einziger Leib zu werden; bislang ist nichts als ein Haufen von Gliedern, von denen jedes meint, einen ganzen Körper zu bilden. Des weiteren ist die Menschenwelt bestimmt, dies durch das Tun und Lassen der Menschen selber zu werden. Wir Menschen sind betraut, unseren eigenen Teil des Alls, die Menschenwelt, zu vollenden. Und es gibt ein Volk, das diese Betrauung so laut und klar vernahm, daß sie ihm in die Tiefe der Seele drang. Es nahm den Auftrag an, nicht als Menge, sondern als Volk [nicht im Sinne der Nation, sondern als ´Gottesvolk´]. Als ein Volk nahm es die Wahrheit an, die von dem Menschenvolk, von dem ganzen Menschengeschlecht verwirklicht werden will. Dieses ist sein Geist, der Geist Israels. Es ist der Geist der Verwirklichung.“ Einige der hier Anwesenden sehen evtl. einen Bruch in diesem Vortrag, wenn ich nun auf Moses Mendelsohn den Dichter Heinrich Heine folgen lasse. Hat denn Heinrich Heine, der sich durch seine Konversion zum Protestantismus dem Christentum zuwandte und eine katholische Französin heiratete, überhaupt etwas mit dem jüdisch gebliebenen Moses Mendelsohn gemeinsam? Heinrich Heine Heinrich Heine erblickte zehn Jahre nach dem Ableben von Moses Mendelsohn am 13. Dezember 1797 als Harry Heine in Düsseldorf das

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Licht der Welt. Seine Eltern waren der Kaufmann Samson und Betty Heine, eine geborene van Geldern. Im Sinne der späteren deutschen Rassegesetze war Heine ein Volljude. Es fällt immer noch deutschen Politikern, aber auch deutschen Germanisten schwer, bei Heine objektiv und sachlich zu bleiben. Das Ausland, vor allem Frankreich, steht dem Dichter unbefangener gegenüber. Der Kanadier Barker Fairley nannte z.B. das „Buch der Lieder“ „The greatest hit possibly in the history of lyrical poetry“ Keines Dichters Lieder wurden so oft vertont wie die von Heine, nicht einmal diejenigen des Joseph Freiherr von Eichendorff. Das folgende Gedicht, das 255mal vertont wurde, ist der absolute Spitzenreiter und hat Goethesches Format: „Du bist wie eine Blume, So hold und schön und rein; Ich schau dich an und Wehmut Schleicht mir ins Herz hinein.

Mir ist, als ob ich die Hände Aufs Haupt dir legen sollt, Betend, daß Gott dich erhalte So rein und schön und hold.

Heine war sich durchaus bewusst, dass er Goethesches Format besaß, zumindest in der Lyrik. Diese Unbescheidenheit haben ihm natürlich deutsche Germanisten genauso wie seine Spottlust immer wieder übel genommen. Nicht einmal die deutschen Journalisten waren vor seinem Spott sicher. Doch in der deutschen Medienlandschaft von heute hätte es dieser unangepasste Dichter sehr schwer gehabt. Die meisten deutschen Juden waren natürlich viel angepasster als Heine. Den meisten von ihnen genügte das preußische Emanzipations-Gesetz von 1812, durch welches Juden „als gleichberechtigte preußische Staatsbürger Anerkennung fanden.“ Anders als Moses Mendelsohn und Walther Rathenau mied Heine die aufstrebende Stadt Berlin, die immer mehr zu einer europäischen Metropole wurde. Ein Genie wie Heine hätte wie

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kein anderer in die damals immer mehr um sich greifenden Berliner Salons gepasst, welche zu einem großen Teil von weltoffenen Jüdinnen geführt wurden. Dem Dichter waren Düsseldorf und überhaupt die rheinische Kultur vorerst genug. Er besuchte dort das Lyzeum und hatte vor allem katholische Lehrer, über welche sich Heine erstaunlich positiv äußerte. Er war also der katholischen Kultur des Rheinlandes durchaus nicht abgeneigt. Ludwig Marcuse schildert so köstlich in seiner Heine-Biographie, wie der Dichter als Kind mit großer Begeisterung beim Aufbau des Fronleichnams-Altars in Düsseldorf mitwirkte. Die jüdische Familie Heine wohnte nämlich in einem Haus in Düsseldorf, welche von alters her einen der vier Altäre zu Fronleichnam in Düsseldorf zu stellen und herzurichten hatte. Diese Stellung und Herrichtung eines Altares war ein besonderes rheinisches Privileg und nicht an die Religion des Hausbesitzers gebunden. Es gab eine weitere Stadt in Deutschland, wo sich Heine öfter aufhielt, aber nicht weil sie ihm wirklich zusagte. Es war Hamburg, wo Onkel Salomon Heine, ein großer Förderer der Kultur der Stadt, lebte und ein großes Unternehmen betrieb. Der Dichter stand Hamburg mit gemischten Gefühlen gegenüber, er bezeichnete sie mehrfach als „Schacherstadt“, in welcher nur Juden leben würden, nämlich getaufte und ungetaufte Juden. Diese Skepsis gegenüber Hamburg hielt ihn aber nicht davon ab, sich von Onkel Salomon sowohl in Deutschland als auch später in Paris intensiv finanziell fördern zu lassen. Sogar seine französische Witwe, welche einen gehobenen Lebensstil zu schätzen wusste, kam bis zu ihrem Tod in den Genuss einer üppigen Onkel-Salomon-Rente. Salomon ließ ihm seine finanzielle Unterstützung nicht ohne Kritik an Harrys Dichterberuf angedeihen: „Hättst Du gelernt was G´scheits, misstest Du nicht schreiben Bicher“.

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Man sagt allerdings, dass Onkel Salomon bloß nicht zugeben wollte, dass er die Bücher seines Neffen im Geheimen las. Er war ja als Jude ein Angehöriger des „Volkes des Buches“ (am hasefer). Im Jahre 1833/35 wurden mit der Zunahme der „Restauration“ (Rückkehr zum vorrevolutionären politischen System in Europa) und der damit einhergehenden Bücher- und Pressezensur Heines Werke in Preußen und Deutschland verboten. Dieses Verbot vertrieb den Dichter endgültig ins Exil nach Paris, wo er nicht Französisch, sondern Deutsch schrieb. Dort hatte er sich schon vor 1833 zeitweise aufgehalten. Heine hatte in Paris zu bedeutenden „dort lebenden Größen des europäischen Kulturlebens, wie Hector Berlioz, Ludwig Börne, Frédéric Chopin, George Sand, Alexandre Dumas und Alexander von Humboldt“ Kontakt. Seine Kontakte zu führenden Sozialisten in Paris waren nicht von langer Dauer. Um Sozialist zu werden, war er viel zu pragmatisch. Paris regte Heine zu einer Flut von „Essays, politischen Artikeln, Polemiken, Denkschriften, Gedichten und Prosawerken“ an. Er war immer bemüht, den Deutschen Frankreich und den Franzosen Deutschland näher zu bringen. Doch keiner von beiden war an dem anderen wirklich interessiert. Dabei gelangen ihm „Analysen von nahezu prophetischer Qualität, zum Beispiel im Schlusswort von Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Heine schrieb diesen Text 1834 an die Adresse der Franzosen, 99 Jahre vor der Machtergreifung jener, die auch seine Bücher verbrennen sollten“: „Das Christenthum – und das ist sein schönstes Verdienst – hat jene brutale germanische Kampflust einigermaßen besänftigt, konnte sie jedoch nicht zerstören, und wenn einst der zähmende Talisman, das Kreuz, zerbricht, dann rasselt wieder empor die Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige Berserkerwuth […] Der Gedanke geht der That voraus, wie der Blitz dem Donner. Der deutsche Donner ist freylich auch ein Deutscher und ist nicht sehr gelenkig und kommt etwas langsam herangerollt; aber kommen

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wird er, und wenn Ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht. Bey diesem Geräusche werden die Adler aus der Luft todt niederfallen, und die Löwen in der fernsten Wüste Afrikas werden die Schwänze einkneifen und sich in ihre königlichen Höhlen verkriechen. Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revoluzion nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte.“ Quelle: ZUR GESCHICHTE DER RELIGION UND PHILOSOPHIE IN DEUTSCHLAND

Früher als die meisten seiner Zeitgenossen erkannte Heine den zerstörerischen Zug im deutschen Nationalismus, der sich – anders als der französische – zusehends von den Ideen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit entfernte. Der Dichter spürte in ihm vielmehr einen untergründigen Hass auf alles Fremde, wie er in dem Gedicht Diesseits und jenseits des Rheins schrieb (Anhang zum Romanzero, letzte Heine´sche Gedichtsammlung von 1851): Aber wir verstehen uns bass, Wir Germanen auf den Hass. Aus Gemütes Tiefen quillt er, Deutscher Hass! Doch riesig schwillt er, Und mit seinem Gifte füllt er Schier das Heidelberger Faß. In Paris beschränkte sich Heine nicht auf seine literarische Tätigkeit und auf politische Agitation, sondern er wusste auch die Pariser Weiblichkeit, welche dann später auch Bismarck würdigte, zu schätzen. Er verliebte sich in die Schuhverkäuferin Augustine Crescence Mirat, die er Mathilde nannte, und heiratete diese in der katholischen Kirche St. Sulpice in Paris. Die Trauung fand auf ihren Wunsch nach katholischem 228

Ritus statt. Seine jüdische Herkunft hat Heine ihr ziemlich lange verschwiegen. Mathilde-Augustine war weitaus mehr als eine Randerscheinung in Paris. Sie machte ihm das Leben in Paris erträglich und ließ kaum ein Heimweh nach Deutschland aufkommen. Sie war auch seine poetische Muse und seine Finanzverwalterin. 1843 schrieb Heine sein Gedicht Nachtgedanken mit dem oft zitierten Eingangsvers: Denk ich an Deutschland in der Nacht, Dann bin ich um den Schlaf gebracht, Ich kann nicht mehr die Augen schließen, Und meine heißen Thränen fließen. Die folgenden Schlusszeilen verweisen nicht nur auf die Helligkeit des französischen Tages, sondern auch auf seine Mathilde, welche alle deutschen Sorgen vertreibt: Gottlob! durch meine Fenster bricht Französisch heit’res Tageslicht; Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen, Und lächelt fort die deutschen Sorgen. Heinrich Heine, der Jude mit dem protestantischen Taufschein, an seiner Seite eine katholische Französin – die sich übrigens mit Onkel Salomon gut verstand –, empfand sich selber sowohl als Jude als auch als Deutscher, aber in manchen Situationen wohl noch mehr als Jude. Gelitten hat er unter beiden Existenzweisen, nämlich deutscher Christ und Jude zu sein. Sein Verhältnis zum Judentum war nicht weniger zwiespältig als das zum Deutschtum. Aber warum hat sich Heine, wenn er sich vor allem als Jude fühlte, dann taufen lassen? Die meisten Heinekenner vermuten, dass er mit seinem Taufzettel „das Entréebillett“ zur europäi229

schen Kultur oder zumindest zur Hamburger bürgerlichen Gesellschaft erwerben wollte. Er hätte sich wohl in der „Schacherstadt“ Hamburg niedergelassen, wenn man ihn nicht aus Deutschland vertrieben hätte. Bei Heine fehlen weder die massiven Seitenhiebe gegen Deutschland, deutsche Mentalität und deutsche Politik noch diejenigen gegen einige Juden, die nicht in sein Weltbild passten. Es gibt darum sogar Juden, welche in Heine einen Abtrünnigen oder sogar einen Antijudaisten sehen wollen. Dass es auch Deutsche gibt, welche Heine für einen Verunglimpfer der Deutschen und der deutschen Kultur halten, zeigte die unschöne Affäre um die Namensgebung der Universität Düsseldorf. Walther Rathenau Walther Rathenau, am 29. September 1867 in Berlin geboren, liebte Deutschland noch viel mehr als Heinrich Heine. Er ließ kaum eine Gelegenheit aus, um zu zeigen, wie sehr ihm Deutschland, seine Menschen und seine Kultur am Herzen lagen. Rathenau ist den meisten Deutschen, falls sie überhaupt von ihm gehört haben, als Politiker und Mitglied des Reichstags bekannt. Einige wissen vielleicht auch, dass er bis zu seiner Ermordung Außenminister des Deutschen Reiches war. Ein höchst unangenehmer Job! Walthers Vater Emil stammte aus einer alten Berliner Familie, die „Mittelpunkt der Berliner jüdischen Gesellschaft“ war, seine kunstverständige Mutter Mathilde „kam aus einer kultivierten Frankfurter Bankiersfamilie, welche sich auf den berühmten Rabbi Moses Ben Nachman (1194-1270) zurückführte.“ Dieser lebte und wirkte in Katalonien auf der iberischen Halbinsel. Walthers Vater war ein engagierter Unternehmer und der modernen Technik gegenüber sehr aufgeschlossen. Er war ein typischer Repräsentant der „Gründer“-Epoche des Deutsche Reiches. Walther stand seiner Mutter emotional viel näher als seinem Vater. Vater und Sohn verstanden sich nicht besonders. Das wird deutlich in dem geflügelten Satz, der einen Vater-Sohn-Konflikt anzeigt:

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„Er verachtet, was ich liebe, und liebt, was ich verachte.“ Der Sohn war noch vielseitiger als der Vater. Bereits als Primaner schwankte er „zwischen dem Studium der Malerei, dem der Literaturgeschichte und dem der Naturwissenschaften.“ Er entscheidet sich schließlich für Mathe, Physik, Chemie, aber zusätzlich auch für Philosophie. Bei aller Liebe zur Naturwissenschaft und Philosophie war Walther Rathenau kein Theoretiker, sondern ein Pragmatiker und Anwender. Seine Kreativität hielt ihn nicht davon ab, sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik das Machbare nicht aus den Augen zu verlieren. Er war immer bereit, seine Ideen auch umzusetzen. Darum nahm er auch die Position des Außenministers an. Ihm war klar, dass das nach dem verlorenen 1. Weltkrieg und angesichts des wachsenden Nationalismus für einen Juden ein gefährlicher Posten war. Gerade das Außenministerium ist eine Institution, in welcher die „Kraftmenschen, die klugen Füchse, die Equilibristen“ die geistigeren und feineren Naturen ausbooten. Rathenau gehörte zu den letzteren. Er wollte den Krieg nicht. Doch als dieser unvermeidbar war, übernahm er die „Leitung der gesamten deutschen Kriegsrohstoffwirtschaft“. Ohne eine solche – heute immer wichtiger werdende – Kriegslogistik hätte Deutschland einen Krieg gar nicht beginnen können. Nicht einmal Adolf Hitler konnte bis 1944 auf die jüdischen Logistiker um General Milch verzichten. Die Dolchstoßlegende trifft auf niemand weniger zu als auf Rathenau. Denn er wollte den Krieg mit einer Volkserhebung sogar verlängern. Natürlich hat man auch diese angestrebte Kriegsverlängerung zu Ungunsten von Rathenau und der deutschen Juden umgedeutet und ihm sogar das Schild eines Kriegsverbrechers anhängen wollen. Rathenau hatte das bessere Konzept als General Ludendorff, den Krieg zu vollenden und zu einem humanen Frieden zu gelangen. Rathenaus Feinde kamen vor allem aus dem Inneren. Gegen das ihm immer mehr anhaftende Etikett des „Erfüllungspolitikers“, eine besondere Art der Geschichtsklitterung, war schwer anzukämpfen. Denn die alliierten Politiker waren nicht weniger intolerant

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gegen die sog. Erfüllungspolitiker als die deutschen Nationalisten und Antisemiten. Gegen Hitler und Konsorten waren dann die Politiker der Großmächte einige Jahre später – im Rahmen der sog. appeasementpolicy - geradezu sträflich kompromissbereit. Es gibt Situationen in der Geschichte, wo überzogene Friedens- und Kompromissbereitschaft eher zum Krieg führen mag als eine Politik des „Bis hierher und nicht weiter“, wie das Kennedy bei der Stationierung von sowjetischen Raketen auf Kuba tat. Im Grunde wussten auch schon die alten Römer, dass es keinen Frieden um jeden Preis geben dürfe. Dazu gibt es ein höchst bemerkenswertes römisches Sprichwort: Si vis pacem, para bellum (Wenn du Frieden willst, rüste zum Krieg). Nach dem 1. Weltkrieg, den Rathenau nie gewollt hatte, führten äußere Umstände dazu, dass Walther in die Lage versetzt wurde, seine Fähigkeiten und Talente als Manager unter Beweis zu stellen. Nach dem Tod seines jüngeren Bruders musste Walther die Leitung der AEG übernehmen. Sein Vater Emil Rathenau hatte dieses Unternehmen gegründet. Bereits 1910 gehörte Walther Rathenau mehr als 80 Großunternehmen als Direktor oder Aufsichtsrats-Mitglied an. Einige dieser Unternehmen befanden sich sogar in Übersee. Es ist unmöglich, hier aufzuzeigen, in wie vielen Branchen Walther Rathenau aktiv vertreten war. Nach dem Tod des Vaters gelangte er 1915 an die Spitze der AEG. Eigentlich wäre er als AEG-Vorstand und Manager bereits extrem ausgelastet gewesen. Doch das genügte Walther auf einmal nicht mehr. Er nahm ausgerechnet jetzt seine politischen Aktivitäten und die Schriftstellerei wieder auf. Er machte sich durch seine extreme Vielseitigkeit das Leben noch schwerer und bot damit nicht nur seinen nationalistischen Feinden, sondern auch den orthodox gesinnten Juden enorme Angriffsflächen. Diese Neuorientierung äußert sich darin, dass jüdische und christliche Geistes- und Kulturgrößen in seinen Gesichtskreis treten, so z.B. Hugo von Hoffmanns-

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thal, Max Reinhardt, August Strindberg, Henri Bergson (konvertierte zum Katholizismus), Paul Claudel, Gabriele d´Annunzio, der große Dichter und italienische Nationalist. Walther Rathenau beherrschte das heute so gepriesene Zeit-Management, wie der österreichische Dichter Stefan Zweig überliefert: „Dieser vielbeschäftigte Mann hatte immer Zeit.“ Trotz seines festen Tagesprogrammes war Walther Rathenau erstaunlich flexibel und anpassungsfähig. Es gibt nur wenige Menschen, welche so konkret auf andere eingehen und sich beinahe übergangslos einer neuen Materie anpassen konnten. Und dann konnte er sich noch präzis wie ein Uhrwerk in mehreren Sprachen fehlerfrei und druckreif ausdrücken. Er war also nicht nur ein politisches und wirtschaftliches, sondern auch ein Sprachgenie. Zudem hatte er ein phänomenales Gedächtnis und konnte somit aus allen möglichen Berichten und Statistiken zitieren. Rathenau lässt sich nicht in eine bestimmte Schublade, wie man das in Deutschland so liebt, einordnen. Er war nicht Wirtschaftsführer und Politiker auf der einen Seite und „schriftstellernder Schöngeist“ auf der anderen Seite. Ihm lag ein soziales System am Herzen, das sich nicht an der Spekulation und Profitmaximierung, sondern an der Ethik orientieren sollte. Die Idee der Mitbestimmung war ihm ein besonderes Anliegen. Den sozialistischen Materialismus lehnte er ab. Seine zentrale Devise für die Gestaltung von Wirtschaft und Politik hieß „Vergeistigung“. Er war seiner Zeit auch politisch weit voraus: „Auch predigte er soziale Neuordnung nach übernationalen Maßstäben und erkannte in Europa die organische Heimat, das verbindliche Ganze.“ (R. Hagelstange, Poet)

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Doch es scheint, dass ihm seine Fähigkeit, über den nationalen Gartenzaun hinaus zu denken, ganz besonders zum Verhängnis wurde und zum Attentat von 1922 erheblich beitrug. Anders als Heinrich Heine besteht das Jüdische für Rathenau nicht mehr gleichberechtigt neben dem Deutschen, sondern in der „Eingliederung des Jüdischen ins Deutsche“. Das rief natürlich nicht nur den Widerspruch der „Völkischen“, sondern auch der jüdischen Glaubensgenossen hervor. Mit der Anpassung an deutsche Kultur und Werte ging sein Bekenntnis Hand in Hand, dass er „auf dem Boden der Evangelien“ stehe. Trotz seines Engagements für Deutschtum und deutsche Kultur leidet Rathenau darunter, dass man in Deutschland die Juden nicht wirklich als gleichwertige Deutsche wahrnehmen will. Das wird sehr deutlich in dem am 12.12.1917 an Frau v. Hindenburg gerichteten Brief: „Wenn auch ich und meine Vorfahren nach besten Kräften unserem Lande gedient haben, so bin ich, wie Ihnen bekannt sein dürfte, als Jude Bürger zweiter Klasse. Ich könnte nicht politischer Beamter werden, nicht einmal in Friedenszeiten Leutnant. Durch einen Glaubenswechsel hätte ich mich den Benachteiligungen entziehen können, doch hätte ich hierdurch nach meiner Überzeugung dem von den herrschenden Klassen begangenen Rechtsbruch Vorschub geleistet.“ Rathenau hatte Courage, er hatte Zivilcourage, was hierzulande nach wie vor sehr selten ist. Mit seinem politischen Engagement ging er ein großes Risiko ein, das sich schließlich als „tödliches Wagnis“ erwies. Die bezahlten drei Mörder hatten im Juni 1922 einen wahrhaft deutschen Patrioten umgebracht. Auch er gehört zu den jüdischen Menschen, welche nicht in das Raster von Hitlers „Mein Kampf“ passen. Im Jahre 1922 war Deutschland zwar schon durch eine falsch verstandene Beschwichtigungspolitik nach innen

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gefährdet. So war es auch nicht verwunderlich, dass drei „Fememörder“ am 24. Juni 1922 dem Leben von Rathenau ein Ende setzten. Der falsche Freiheitsbegriff einer inhaltlosen formalen Freiheit bedrohte schon damals das Land. Deutschland raffte sich aber noch einmal auf, in einem würdigen Staatsbegräbnis von seinem Außenminister Rathenau am 27. Juni 1922 Abschied zu nehmen. Im feierlichen Staatsakt vom 12. Juli 1922 im Reichstag erwiesen die Volksvertreter dem Außenminister Rathenau die letzte Ehre. Das Attentat auf Walther Rathenau löste ein gigantisches politisches Erdbeben in Deutschland aus. Dieses wäre ein Signal gewesen, weiteren Radikalisierungen energisch zu wehren. Die große Masse der Deutschen raffte sich dazu nicht (mehr) auf und selbst die Volksvertreter hatten die Zeichen der Zeit weniger erkannt als Werner Techow, der dritte Mörder – die beiden anderen waren nicht mehr am Leben. Erwin Kern wurde beim Schusswechsel auf Burg Saaleck von einer Kugel tödlich getroffen, sein Komplize Hermann Fischer entschloss sich daraufhin zum Selbstmord. Es waren vor allem zwei Mütter, welche der Tod von Walther Rathenau am meisten mitgenommen hatte, nämlich Betty Rathenau, seine Mutter, und Frau Techow, die Mutter des dritten Mörders, welcher nach Frankreich entkam und sich der Fremdenlegion anschloss und dann „zu einer Schlüsselfigur im Kampf um die Errettung verfolgter Juden in Frankreich“ während des Zweiten Weltkrieges wurde. Er hat einen Teil seiner großen Schuld wieder wettgemacht, indem er „mehr als 700 Flüchtlingen den Weg in die Freiheit geebnet“ hat. Die Hauptursache für diesen Gesinnungswandel vom Nationalisten zum judenfreundlichen Retter war wohl der Brief, den Betty Rathenau an die Mutter des Mörders schrieb: „In namenlosem Schmerz reiche ich Ihnen, Sie ärmste aller Frauen, die Hand. Sagen Sie Ihrem Sohn, daß ich im Namen und Geist

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des Ermordeten ihm verzeihe, wie Gott ihm verzeihen möge, wenn er vor der irdischen Gerechtigkeit sein volles, offenes Geständnis ablegt und vor der göttlichen bereut. Hätte er meinen Sohn gekannt, den edelsten Menschen, den die Erde trug, so hätte er eher die Mordwaffe auf sich selbst gerichtet als auf ihn. Mögen diese Worte Ihrer Seele Frieden geben.“ Man sieht also: ´Christliche´ oder besser gesagt Biblische Nächstenliebe ist Juden nicht fremd. Nachtrag für interessierte Leser: Attentat vom 24. Juni 1922 auf Rathenau: 3 „Fememörder“   



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Erwin Kern, Kieler Jurastudent, auf der Flucht bei Schusswechsel mit Polizei auf Burg Saaleck tödlich verletzt. Komplize Hermann Fischer, Maschinenbau-Ing., kam auf Burg Saaleck dem Tod durch die Polizei mit einem Selbstmord zuvor. Ernst Werner Techow, Fahrer des Attentatswagens: wurde zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt, kam aber nach einigen Jahren wieder frei und ging in die Französische Fremdenlegion. Nicht am Attentat, aber an der Planung des Mordes beteiligt war Ernst von Salomon, deutscher Schriftsteller, Sohn eines Polizeibeamten, Kadettenanstalt, seit 1918 Freikorps Maercker und dann noch in anderen Freikorps, wegen Beihilfe zum Mord 5 Jahre Zuchthaus.

Literatur zu Mendelsohn, Heine und Rathenau Allgemein zur jüdisch-deutschen Kultur: Buber Martin: Die chassidischen Bücher, Hellerau 1928. Buber Martin: Wer eine Seele rettet, rettet die Welt – das Martin BuberLesebuch, Crotona-Verlag, Amerang 2010. Goßmann Hans-Christoph: Altes Testament und jüdische Gemeinde. Christliche Zugänge zum ersten Testament der Bibel, Jerusalemer Texte Bd. 10, Jerusalem-Akademie Hamburg, Bautz-Verlag Nordhausen 2012. Gýemánt Ladislau (Editor): The Alienation and Assimilation Process in the Jewish Communities from Europe, International Conference, Cluj-Napoca, October 27-29, 2009, Studia Judaica Bd. XVIII, ClujNapoca 2010. Diverse Abhandlung von jüdischen Wissenschaftlern aus fast allen Teilen der Welt zu Fragen der jüdischen Emanzipation, Assimilation, Entfremdung (Alienation) und Integration. Herzig Arno: Judentum und Emanzipation in Westfalen (Veröffentlichungen des Provinzialinstituts für westfälische Landes- und Volkskunde Reihe 1, H. 17), Münster 1973. Kaltenstadler Wilhelm: Die Modernität der jüdisch-christlichen Idee. Sind Judentum und Christentum vorsätzlich aus der Zivilisationsgeschichte herausgeschrieben worden? UBW-Verlag Hamburg 2011 (Tel. 040 / 47 26 10) Kaltenstadler Wilhelm: Antijudaismus, Antisemitismus, Antizionismus, Philosemitismus- wie steht es um die Toleranz der Religionen und Kulturen? Jerusalemer Texte Bd. V, Jerusalem-Akademie Hamburg, Bautz-Verlag Nordhausen 2011. Lüling Günter: Preußen von gestern und der Islam von morgen, in: Zeitensprünge, Jahrg. 19, H. 2 (2007), S. 443-466. Lüling Günter: Sprache und archaisches Denken. Neun Aufsätze zur Geistes- und Religionsgeschichte, Verlagsbuchhandlung Hannelore Lüling, Erlangen 1985.

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Neumann Victor: Tentaţia lui Homo Europaeus. Geneza spiritului modern în Europa Centrală şi de Sud-Est, Editura Stiinţifică, Bukarest, 1991 (Versuch zum Homo Europaeus. Die moderne intellektuelle Genese in Mittel- und Süd-Ost-Europa). Das Werk wurde 1993 mit dem Titel “The Temptation of Homo Europaeus“ ins Englische übersetzt und erschien in der Reihe „East European Monographs“ bei Boulder, Colorado. Schlaffer Heinz: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, Hanser Verlag, München 2002. Wissenschaftliche Reihe „Jerusalemer Texte“, hrsg. von der JerusalemAkademie in Hamburg (www.jerusalem-akademie.de), Bd. V „Antijudaismus, Antisemitismus, Antizionismus, Philosemitismus. Wie steht es um die Toleranz der Religionen und Kulturen? Bautz-Verlag, Nordhausen 2011 (www.bautz.de) Wistrich Robert S.: A Lethal Obsession. Anti-Semitism from Antiquity to the Global Jihad, Random House, New York 2010 (rd. 1000 Seiten). Literatur zu Moses Mendelsohn: Bourel Dominique: Moses Mendelsohn – Begründer des modernen Judentums, Ammann-Verlag, Zürich 2007. Feiner Shemuel: Moses Mendelssohn – Sage of Modernity, New Haven [u.a.], Yale Univ. Press, 2010. Forester Vera: Lessing und Moses Mendelsohn. Geschichte einer Freundschaft, Europ. Verlagsanstalt, Hamburg 2001. Klein Hans G. und Schulte Christoph: Zum 200. Geburtstag von Felix Mendelssohn-Bartholdy, Mendelssohn-Studien, Bd. 16, Hannover 2009. Michah Gottlieb: Faith and Freedom. Moses Mendelssohn's theologicalpolitical thought, Oxford Univ. Press, 2011. Moses Mendelssohn im Spannungsfeld der Aufklärung, Verlag Frommann-Holzboog, Stuttgart – Bad Canstatt 2000 (Sammelwerk)

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Schallück Paul: Moses Mendelsohn und die deutsche Aufklärung, in: Thilo Koch (Hrsg.): Porträts zur deutsch-jüdischen Geschichte, Verlag Dumont, Köln1997, S. 28-46. Zade Lene: Der Enkel und sein Großvater. Studien zu Felix Mendelssohn-Bartholdy und eine Ausgabe mit Schriften von Moses Mendelsohn, in: Jüdische Zeitung, Februar 2009. Literatur zu Heinrich Heine: Heine Heinrich – ein Lesebuch ; eine Veröffentlichung der Internationalen Hugo-Wolf-Akademie für Gesang, Dichtung, Liedkunst e.V. Stuttgart, Verlag Schneider, Tutzing 1995. Heine Heinrich: Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Säkularausgabe, Akademie-Verlag u.a., Berlin (ab 1979). Leonhardt Rudolf Walter: Heinrich Heine – der erste Jude in der deutschen Literatur, in: Thilo Koch (Hrsg.): Porträts zur deutschjüdischen Geschichte, Verlag Dumont, Köln1997, S. 47-65. Marcuse Ludwig: Heinrich Heine – Melancholiker, Streiter in Marx, Epikureer (Biographie), Zürich 1980. Literatur zu Walther Rathenau: Brenner Wolfgang: Walther Rathenau. Deutscher und Jude, Piper Verlag, München 2007. Gall Lothar: Walther Rathenau – Portrait einer Epoche, Beck-Verlag, München 2009. Hagelstange Rudolf: Rathenau – ein Jude in der deutschen Politik, in: Thilo Koch (Hrsg.): Porträts zur deutsch-jüdischen Geschichte, Verlag Dumont, Köln1997, S. 165-187. Hentzschel-Fröhlings Jörg: Walther Rathenau als Politiker der Weimarer Republik, Verlag Matthiesen, Husum 2007. Loeffler Hans F.: Walther Rathenau – ein Europäer im Kaiserreich, Berlin-Verlag, Berlin 1997.

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Schölzel Christian: Walther Rathenau. Eine Biographie, SchöninghVerlag, München 2006.

Vortrag in der Synagoge Ermreuth Juli 2011, für diese Publikation erweitert und überarbeitet.

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Jerusalemer Texte

Schriften aus der Arbeit der Jerusalem-Akademie herausgegeben von Hans-Christoph Goßmann Band 1:

Peter Maser, Facetten des Judentums. Aufsätze zur Begegnung von Christen und Juden sowie zur jüdischen Geschichte und Kunst, 2009, 667 S.

Band 2:

Hans-Christoph Goßmann; Reinhold Liebers (Hrsg.), Hebräische Sprache und Altes Testament. Festschrift für Georg Warmuth zum 65. Geburtstag, 2010, 233 S.

Band 3:

Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.), Reformatio viva. Festschrift für Bischof em. Dr. Hans Christian Knuth zum 70. Geburtstag, 2010, 300 S.

Band 4:

Ephraim Meir, Identity Dialogically Constructed, 2011, 157 S.

Band 5:

Wilhelm Kaltenstadler, Antijudaismus, Antisemitismus, Antizionismus, Philosemitismus – wie steht es um die Toleranz der Religionen und Kulturen?, 2011, 109 S.

Band 6:

Hans-Christoph Goßmann; Joachim Liß-Walther (Hrsg.), Gestalten und Geschichten der Hebräischen Bibel in der Literatur des 20. Jahrhunderts, 2011, 294 S.

Band 7:

Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.), Geschichte des Christentums, 2011, 123 S.

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Band 8:

Jonathan Magonet, Schabbat Schalom. Jüdische Theologie – in Predigten entfaltet, 2011, 185 S.

Band 9:

Clemens Groth; Sophie Höffer; Laura Sophie Plath (Hrsg.), „... das habe ich nie vergessen, bis heute ...“. Jugendliche befragen Menschen, die die Zeit des Nationalsozialismus erlebt haben, 2011, 200 S.

Band 10:

Hans-Christoph Goßmann, Altes Testament und christliche Gemeinde. Christliche Zugänge zum ersten Testament der Bibel, 2012, 198 S.

Band 11:

Bernd Gaertner; Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.), Der Glaube an den Gott Israels. Festschrift für Joachim LißWalther, 2012, 254 S.

Band 12:

Wilhelm Kaltenstadler, Maqāla fī al-rabw. Die Abhandlung des Maimonides über das Asthma, 2013, 171 S.

Band 13:

Hans-Christoph Goßmann; Joachim Liß-Walther (Hrsg.), Gestalten und Geschichten der Hebräischen Bibel im Spiegel der Literatur des 20. Jahrhunderts, 2015, 434 S.

Band 14:

Wilhelm Kaltenstadler, Ernährung im medizinischen Werk des Moses Maimonides, 2015, 132 S.

Band 15:

Yee Wan SO, „And Jesus Replied...” – But what issues did Jesus address in his replies?! The Reception of the Conflict Narratives in the Gospel of Matthew, 2015, 377 S.

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Band 16:

Salomon Almekias-Siegl; Sabine Münch, Gehen wohl zwei miteinander. Jüdisch – christliche Lernwege durch die Bibel, 2016, 288 S.

Band 17:

Michaela Will, Rabbinat bei Franz Rosenzweig, 2017, 102 S.

Band 18:

Hans-Christoph Goßmann; Michaela Will (Hrsg.), „Siehe, wie gut und schön es ist, wenn Geschwister beieinander wohnen“. Festschrift für Wolfgang Seibert, 2017, 202 S.

Band 19:

Joanne Schmahl, Von der „Vergegnung“ zur Begegnung. Die besondere Beziehung zwischen Christentum und Judentum und die Bedeutung des christlich-jüdischen Dialogs für den Frieden, 2018, 139 S.

Band 20:

Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.), „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich“. Predigten zum 10. Sonntag nach Trinitatis, 2018, 243 S.

Band 21:

Wilhelm Kaltenstadler, Altes Testament, jüdische Kultur und deutsches Judentum. Aufsätze zur jüdisch-christlichislamischen Kultur Europas, 2018, 243 S.

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