Die fremde Wurzel: Altes Testament und Judentum in der Evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts 9783666551932, 3525551932, 9783525551936


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Die fremde Wurzel: Altes Testament und Judentum in der Evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts
 9783666551932, 3525551932, 9783525551936

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V&R

Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte Herausgegeben von Adolf Martin Ritter und Thomas Kaufmann

Band 85

Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 2002

Die fremde Wurzel Altes Testament und Judentum in der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts

von Klaus Beckmann

Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 2002

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Die Deutsche Bibliothek -

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Beckmann, Klaus: Die fremde Wurzel: altes Testament und Judentum in der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts / von Klaus Beckmann. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2002 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte; Bd. 85) Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 2000 ISBN 3-525-55193-2

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsund Beihilfefonds Wissenschaft der VG W O R T

© 2002 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen http://www.vandenhoeck-ruprecht.de Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck- und Bindung: Hubert & Co., Göttingen

Vorwort Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit der Theologie des 19. Jahrhunderts aus einem Blickwinkel, der trotz wachsenden, manchmal geradezu enthusiastisch scheinenden Interesses an der Theologie des bürgerlichen Zeitalters und insbesondere an Person und Werk Friedrich Schleiermachers gegenwärtig nur geringe Aufmerksamkeit findet. Die verbreitete Indifferenz gegenüber der Frage, welchen Stellenwert die Heilige Schrift im bürgerlichen Protestantismus für sich verbuchen konnte, halte ich für um so bedauerlicher, als der Bibelbezug doch Problemkonstellationen aufdeckt, die für das Selbstverständnis der Kirche zu allen Zeiten zentral sind. Meine Untersuchung entspringt weder hagiographischer Absicht noch der Neigung, Ketzerhüte zu verteilen. Sie möchte vielmehr allzu schulverbundenen Interpretationen der Heroen einer sich programmatisch als „modern" begreifenden evangelischen Theologie, wie sie die aktuelle Literatur gelegentlich bietet, auflockernd zur Seite treten. Uber allen Richtungsstreit hinaus läßt sich aus der Wirkung von Schleiermachers Umgang mit der Bibel ersehen, daß in der Geschichte des christlichen Glaubens auch eine theologische Aporie wertvolle Frucht bringen kann. Dies dürfte bei einer theologiegeschichtlichen Studie, die immer auch ihre eigene theologische Gegenwart reflektiert, kein marginaler Aspekt sein. Die Arbeit wurde im Wintersemester 1999/2000 von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen. Der ursprüngliche Untertitel, der die präzise Themenstellung erfaßt, lautet: „Zur Bedeutung des Alten Testaments und des zeitgenössischen Judentums in der evangelischen Theologie von Schleiermacher bis zum frühen Neukonfessionalismus". Die seit Abgabe der Arbeit erschienene Literatur zum Thema konnte teilweise in der Druckfassung noch berücksichtigt werden. Mein Dank gilt zunächst meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Wolfram Kinzig, der die Arbeit angeregt und erkenntnisfördernd begleitet hat. Herr Prof. Dr. Karl-Heinz zur Mühlen fungierte nicht nur als Zweitgutachter, sondern unterstützte mich mit kompetentem Rat. Aus dem Kreis der Bonner Fakultät habe ich neben dem Dekan, Herrn Prof. Dr. Heiner Faulenbach, besonders Herrn Dr. Henning Theurich, Herrn Prof. Dr. Werner H. Schmidt und Herrn Prof. Dr. Konrad Stock zu erwähnen, die mir nützliche Hinweise gaben. Wichtige fachliche Unterstützung erhielt ich ferner durch Herrn Prof. Dr. Otto Dann in Köln und Herrn Dr. Stefan Nienhaus in Meta di Sorrento. Ich danke den Leitern der Schleiermacher-Forschungsstellen in Kiel und Berlin, Herrn Prof. Dr. Günter Meckenstock und Herrn Prof. Dr. Kurt-Victor Selge, für ihre

6

Vorwort

umfassend sachkundige Beratung. An den Studienaufenthalt in Berlin denke ich gerne zurück. Besonders bedanke ich mich bei der Bonner Fakultät für die Vermittlung eines Promotionsstipendiums nach dem Graduiertenförderungsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen. So wurde mir für den Zeitraum von zwei Jahren unbehindertes Forschen ermöglicht. Herrn Oberkirchenrat Dr. Klaus Bümlein in Speyer bin ich für fachlich anregende und ermutigende Gespräche verbunden; auch vermittelte er mir einen Druckkostenzuschuß der Evangelischen Kirche der Pfalz. Einen wesentlichen finanziellen Beitrag zum Werden dieses Buches leisteten außerdem die Universität Bonn und die VG Wort (München). Den Herausgebern der Reihe und dem Verlag danke ich für die faire Zusammenarbeit. Viele Menschen, die ich nicht alle aufführen kann, haben auf ihre je eigene Weise zum Gelingen der Arbeit beigetragen. Nennen will ich aus dem Kreis des Bonner evangelisch-theologischen Seminars Frau Dr. Christa Theisen, Frau Ursula Rubrecht, Frau Illelore Pleger, Frau Brigitte Schimmelpfennig und Herrn Holger Johannes. Wichtige Gesprächspartner in theologischen und ebenso in außertheologischen Dingen waren mir in den Bonner Jahren Dr. Wolfgang Matz, Christopher König, Dr. Vicco von Bülow, Dr. Athina Lexutt und Dr. Reinhard von Bendemann. Ulrike Merkel (Borkum), Ulrich Pfeffer (Tübingen), Clemens Betzner (Winterbach) und Dr. Ludwig Massmann (Karlsruhe) halfen mir durch manchen Engpaß der Entstehungszeit dieses Buches. Dorothea Schmidt (München) hat es schließlich auf sich genommen, das ganze Manuskript mit geschultem Auge und spitzem Bleistift zu überprüfen. Den beiden Menschen, denen das Buch gewidmet ist, gehört mein Dank nicht zuletzt für ihre geduldige, verständige und kritische Gesprächsbereitschaft in allen Phasen der Arbeit - in einer Weise, die in Worten nicht ausdrückbar ist. Kaiserslautern, den 24. Juni 2001

Klaus Beckmann

Inhalt

Einleitung 1. 2. 3. 4.

Eine öffentliche Kontroverse als historische Problemanzeige Das Alte Testament in der „Umformungskrise" des modernen Protestantismus - eine Skizze Das Thema der Untersuchung Methoden und Ziele der Untersuchung

13 16 23 27

I.

Dem Alten Testament fremd um Christi willen Friedrich Schleiermacher

0.

Forschungsübersicht

31

1.

Das Bild des Alten Testaments und des Judentums in den theologischen Arbeiten Schleiermachers

34

1.1. 1.1.1. 1.1.2. 1.1.2.1. 1.1.2.2. 1.1.2.3. 1.1.2.4. 1.1.3.

Die Reden Der Befund im Text Die Genese der frühen Haltung Schleiermachers zum Judentum Der Bruch mit der herrnhutischen Herkunft Kant Lessing und Herder Semler Bewertung der Darstellung des Judentums in den „Reden"

34 34 40 40 42 43 47 51

1.2. 1.2.1. 1.2.2. 1.2.3.

Kurze Darstellung Der Befund im Text Veränderungen seit den „Reden" Gründe der Veränderungen

54 54 58 59

1.3. 1.3.1. 1.3.2. 1.3.3. 1.3.4.

Die Glaubenslehre und ihr Umfeld Der Befund in der Glaubenslehre Schleiermachers „Hermeneutik" Die Prädestinationsschrift Augustanapredigten

60 60 76 77 79

1.4. 1.4.1.

Späte Arbeiten Der Befund in den Texten

81 81

. . .

8

Inhalt

1.4.1.1. 1.4.1.2. 1.4.1.3. 1.4.1.4. 1.4.2.

Einleitung in das Neue Testament Enzyklopädie Leben Jesu Praktische Theologie Tendenz und Begrenzung der späten Entwicklung

81 84 84 86 88

1.5.

Kritik der Darstellung des Alten Testaments und des Judentums in Schleiermachers „kirchlicher" Theologie

91

Exkurs: Schleiermachers Verhältnis zum Alten Testament auf dem Hintergrund seiner reformierten Konfession

101

2.

Schleiermachers Einstellung zur Judenemanzipation

104

2.1. 2.1.1. 2.1.2.

Die „Briefe bei Gelegenheit" Anlaß und historische Situation Schleiermachers Verkehr mit jüdischen Menschen in seiner frühen Berliner Zeit Schleiermachers Reaktion auf Friedländers Sendschreiben Das inhaltliche Verhältnis der „Briefe" zu den Reden Würdigung und Kritik

104 104

1.6.

2.1.3. 2.1.4. 2.1.5. 2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.2.3.

110 113 119 121

Die „Christliche Sitte" Der Befund im Text Die veränderte historische Situation Schleiermachers „Verkirchlichung" in ihrer Auswirkung auf seine Haltung zur Judenemanzipation

126 126 130

3.

Fazit

133

II.

Selbstbewußte Weiterführung Theologen der auf Schleiermacher folgenden

0.

Vorbemerkung

136

1.

Die Eigenart der testamentischen Religion Carl Immanuel Nitzsch

138

1.1. 1.1.1. 1.1.2.

Nitzschs Ort in der Theologiegeschichte Leben und Werk Nitzsch in der Literatur

138 138 139

1.2. 1.2.1. 1.2.2. 1.2.3.

Nitzschs Einstellung zum Alten Testament Die Heraushebung des „Testamentischen" aus der Religionsgeschichte . Die Unterscheidung von „Religion" und „Offenbarung" Das Verhältnis zur Philosophie

141 141 144 147

131

Generation

Inhalt

9

1.2.4. 1.2.5.

Bewährung des Ansatzes in der Kirchenpolitik Der Gegensatz zu Schleiermacher

149 151

1.3. 1.3.1. 1.3.2.

Nitzsch und das Judentum Die theologische Perspektive Kirchliche und politische Folgerungen

154 154 159

1.4.

Fazit

162

2.

Das Judentum als Vorbereitung Christi Johann August Wilhelm Neander (David Mendel)

164

2.1. Neanders Ort in der Theologiegeschichte 2.1.1. Leben und Werk 2.1.1.1. Elternhaus und Schule

164 164 164

2.1.1.2. Die Konversion 2.1.1.3. Studium und Lehrtätigkeit 2.1.2. Neander in der Literatur

167 171 174

2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.2.2.1. 2.2.2.2. 2.2.2.3.

Das Alte Testament in Neanders Theologie Frühe Arbeiten im akademischen Amt Das kirchengeschichtliche Hauptwerk Die Interpretation des Gesetzes Die Entstehung der Kirche aus dem Judentum Die Unterscheidung frühchristlicher Frömmigkeitstypen

176 176 182 184 187 190

2.3.

Fazit

194

3.

Wider den Buchstabenglauben David Friedrich Strauß

197

3.1. 3.1.1. 3.1.2.

Strauß'Ort in der Theologiegeschichte Leben und Werk Strauß in der Literatur

197 197 199

3.2. 3.2.1. 3.2.2. 3.2.2.1. 3.2.2.2. 3.2.2.3. 3.2.3. 3.2.4. 3.2.5. 3.2.6.

Das Alte Testament und das Judentum in ihrer Bedeutung für Strauß . Die Dissertation „Das Leben Jesu" Der Befund imText Ertrag und Problematik Rezeption und Modifikationen Die Glaubenslehre Das politische Intermezzo „Das Leben Jesu für das deutsche Volk bearbeitet" „Der alte und der neue Glaube"

201 201 204 204 208 211 216 220 229 231

3.3.

Fazit

237

10 4. 4.1.

Inhalt Gottes Weisung für den christlichen Staat Ernst Wilhelm Hengstenberg

239

Hengstenbergs Ort in der Theologiegeschichte

239

4.1.1.

Leben und Werk

239

4.1.2.

Hengstenberg in der Literatur

242

4.2.

Hengstenberg und das Alte Testament

243

4.2.1.

Die exegetische Bedeutung

243

4.2.2.

Die politische Bedeutung

249

4.2.2.1. Die Funktion des Alten Testaments in der Staatstheorie

249

4.2.2.2. Das Alte Testament als Interpretationskategorie der Revolution . . . .

254

4.2.3.

258

Die praktisch-aktuelle Bedeutung

4.3.

Hengstenberg und die Juden

260

4.3.1.

Kirche versus Judentum

260

4.3.2.

„Christlicher Staat" versus Emanzipation

264

4.4.

Fazit

268

5.

Israels heilsgeschichtlicher Beruf Johann Christian Konrad von Hofmann

270

5.1.

Hofmanns Ort in der Theologiegeschichte

270

5.1.1.

Leben und Werk

270

5.1.2.

Hofmann in der Literatur

273

5.2.

Die theologische Bedeutung des Alten Testaments

275

5.2.1.

Weissagung und Erfüllung

275

5.2.2.

Gesetz und Evangelium

281

5.2.3.

Heilsgeschichte und Ewigkeit

284

5.2.4.

Die Kritik an Schleiermacher und Hengstenberg

288

5.3.

Hofmanns theologische Sicht des Judentums

291

5.3.1.

Die Analogie der Heilsgeschichte vor und nach Christus

291

5.3.2.

Der Uberschuß des Alten Testaments gegenüber dem status quo der Kirche

293

5.3.3.

Die eschatologische Hoffnung für Israel

294

5.3.4.

Die Bewertung der Judenmission und der Judengesetze

301

5.4.

Fazit

306

III.

Zusammenfassung und Vergleich der untersuchten Konzeptionen

1.

und

Ergebnisse

Die Darstellung und Bewertung des Zusammenhangs von Altem und N e u e m Testament

312

Inhalt

11

1.1.

Das philologisch-historische Verhältnis beider Testamente

312

1.2.

Das theologisch-kerygmatische Verhältnis beider Testamente

315

1.3.

Das Alte Testament als Buch der Kirche

317

1.4.

Die Einschätzung des jüdischen Gebrauchs des „Alten Testaments" . .

319

2.

D i e Darstellung des Verhältnisses von Kirche und J u d e n t u m . .

321

2.1.

Die Frage der „Wurzel"

321

2.1.1.

In historischer Hinsicht

321

2.1.2.

In theologisch-heilsgeschichtlicher Hinsicht

322

2.2.

Die Frage der Koexistenz von Christen und Juden

324

2.2.1.

Auf der theologischen Ebene

324

2.2.1.1. In gegenwärtig-ekklesiologischer Hinsicht

324

2.2.1.2. Hinsichtlich der Gemeinsamkeit beider Religionen

326

2.2.1.3. Hinsichtlich des eschatologischen Verhältnisses

327

2.2.2.

Auf der politischen Ebene

328

3.

Gesamtergebnis

330

Ausblick 1.

Die theologische Debatte um das Alte Testament im frühen 19. Jahrhundert und der heutige Diskussionsstand

338

2.

Die veränderte Stellung der Juden in Gesellschaft und Theologie seit dem späten 19. Jahrhundert

340

3.

Neue Impulse, Perspektiven und Gefährdungen der Diskussion seit dem Zweiten Weltkrieg

345

Anmerkungen zu einer zukünftigen Israeltheologie

347

4.

Anhang Literaturverzeichnis

350

Register der Personennamen

390

Register der Begriffe

397

Einleitung 1. Eine öffentliche Kontroverse als historische Problemanzeige Im Spätjahr 1829 entspann sich zwischen zwei prominenten Berliner Theologen ein leidenschaftlicher Streit. Die Kombattanten waren der im 61. Lebensjahr stehende Friedrich Schleiermacher, seit zwei Jahrzehnten Prediger und Hochschullehrer in der preußischen Metropole, und der gerade 27 Jahre alte Ernst Wilhelm Hengstenberg, bekannt als Herausgeber der konservativen „Evangelischen Kirchenzeitung", außerdem seit wenigen Monaten ordentlicher Professor für Biblische Exegese an der theologischen Fakultät. Auslöser der Kontroverse unter den Fakultätskollegen war der zweite Teil von Schleiermachers „Sendschreiben" an seinen Schüler, den nunmehrigen Göttinger Professor für Neues Testament Friedrich Lücke (1791-1855), gewesen. Als Voranzeige der Neubearbeitung seiner „Glaubenslehre" hatte Schleiermacher dieses Schreiben in der Zeitschrift „Theologische Studien und Kritiken" publiziert. Aufgrund seiner gedanklichen Breite empfanden viele Beobachter den Text als „theologisches Testament".1 Zum Stein des Anstoßes wurde für Hengstenberg, daß Schleiermacher sich in den „Sendschreiben" zu einer Reihe von aktuellen theologischen Fragen nachdrücklich und bewußt einseitig äußerte. Eine zentrale Position nahm darunter die kirchliche und theologische Rolle des Alten Testaments ein. Schleiermacher brachte hier einen sehr kritischen Standpunkt zum Ausdruck: „Der Glaube an eine bis zu einem gewissen Zeitpuncte fortgesetzte besondere Eingebung oder Offenbarung Gottes in dem jüdischen Volk ist schon bei dem gegenwärtigen Stande der Untersuchungen über die jüdische Geschichte so wenig Jedem zuzumuthen, und es ist mir so wenig wahrscheinlich, daß er am Schluß dieser Untersuchungen mehr Stützen werde b e k o m m e n haben, daß es mir sehr wesentlich schien, auf das bestimmteste auszusprechen, wie ich es eben so deutlich einsehe als lebendig fühle, daß der Glaube an die Offenbarung Gottes in Christo von jenem Glauben auf keine Weise irgend abhängig ist. [ . . . ] Diese Ueberzeugung, daß das lebendige Christenthum in seinem Fortgange gar keines Stützpunctes aus dem Judenthum bedürfe, ist mir so alt als mein religiöses Bewußtsein überhaupt." 2

1 Vgl. Trauisen, KGA 1,10, L X I X ; Ohst, BThZ 1998, 107 - Daß auch Schleiermacher selbst das „Sendschreiben" als eine Art theologisches Vermächtnis auffaßte, läßt sich daraus schließen, daß er in der Phase der Abfassung und Publikation - in erster Linie aus gesundheitlichen Gründen - seinen Rücktritt vom akademischen Lehrstuhl betrieb (siehe dazu seinen Brief an den mit ihm befreundeten Konsistorialrat G. H. L. Nicolovius vom 30. 11. 1829, in: Aus Schleiermacher's Leben IV, 393). 2 KGA 1,10, 353 f.

14

Einleitung

Hatte es Schleiermacher für seine moralische Pflicht gehalten, den Lesern bezüglich seiner Auffassung vom theologischen Wert des Alten Testaments und dem Zusammenhang - oder richtiger: Nicht-Zusammenhang - der im Alten Testament erzählten Geschichte mit der christlichen Religion reinen Wein einzuschenken 3 , so entgegnete Hengstenberg in einer vom 5. Dezember 1829 bis zum 13. Januar 1830 erscheinenden sechsteiligen Artikelserie 4 mit nicht geringerem Ernst. Schleiermachers negative Einstellung zum Alten Testament wurde dabei als Ausdruck eines umfassenden theologischen Defizits und einer unangemessenen Anpassung an den „Zeitgeist" interpretiert. Hengstenbergs Argumentation gipfelte darin, daß er Schleiermacher, dessen „zum Theil gesegnete Wirksamkeit zur Anerkennung der Religion und gewissermaßen auch des Christenthums unter den höheren Ständen" er zwar konzedierte 5 , eine „unchristliche" Auffassung des Christentums und der Religion vorwarf. 6 Schleiermachers Verständnis von Christentum sei „keineswegs ein wahrhaft, d. h. hier mit Freiheit, Christliches", sondern vielmehr Symptom einer ungewollten inneren Gebundenheit an das Christentum; Schleiermacher verrate seine „Unfähigkeit, dem christlichen Glauben geradezu zu widersprechen", wenn er ihm auch nicht frei und umfassend zustimmen könne. 7 So müsse Schleiermacher, da er die in der Bibel gegebene „Mitte" des Christentums nicht entschlossen festhalte, auf Um- und Auswegen eine Vermittlung zwischen dem Christlichen und dem „Zeitgeist" suchen. 8 Statt der Bibel als einzig gewissem Halt, „Licht ihrer Seele und [ . . . ] Leuchte vor ihren Füßen", offeriere Schleiermacher den Christenmenschen ein unanstößiges, darum aber auch nutzloses Gemisch aus Christentum und herrschendem „Rationalismus". 9 Vor dem Andringen der kritischen Wissenschaft habe er sich „schon zum Voraus in den Harnisch des Gefühls gesteckt", um der notwendigen Auseinandersetzung auszuweichen. 10 Auf Schleiermachers These, das Christentum habe zum Alten Testament kein wesentliches Verhältnis, antwortete Hengstenberg, indem er die Relation Vgl. K G A 1,10, 354. EKZ 1829, 7 6 9 - 7 7 5 . 7 7 7 - 7 8 2 . 7 8 5 - 7 9 0 ; EKZ 1830, 17-21. 2 5 - 3 1 . 5 Vgl. EKZ 1829, 778. 6 Ausdrücklich vollzog Hengstenberg diesen Schritt erst in seiner in der zweiten Jahreshälfte 1830 separat erschienenen „Rechtfertigung des Sendschreibens über Schleiermacher", der eine apologetische Schrift des Schleiermacher-Freundes Ludwig Jonas vorangegangen war (vgl. dazu insgesamt Trauisen, K G A 1,10, L X X X I - L X X X I V ; zu Hengstenbergs Vorwurf einer „unchristlichen" Methodik gegen Schleiermacher: Rechtfertigung, 39). In seiner „Rechtfertigung" betonte Hengstenberg allerdings zugleich abwägend, „daß ich Schleiermacher etwas beilege, wodurch er sich von den Rationalisten unterscheide, und gewiß nicht zu seinem Nachtheile" (8). Die maßgebliche Differenz zum „Rationalismus" - für Hengstenberg Chiffre jeder modernen kritischen Infragestellung der biblischen und kirchlichen Lehrautorität - liege im „Glaubenwollen" (9). 7 Vgl. EKZ 1829, 777 8 Vgl. EKZ 1829, 777f. ' Vgl. EKZ 1829, 780. 10 Vgl. EKZ 1829, 781. - Rechtfertigung, 46, problematisierte Hengstenberg Schleiermachers A n satz beim religiösen „Gefühl" dahingehend, daß der scharf definierte dogmatische Begriff zwangsläufig wegfalle und damit auch die Möglichkeit einer wirklichen Bewahrung des christlichen Glaubensgutes vor dem Andringen des modernen „Zeitgeistes". 3 4

Einleitung

15

von Christusglaube und Schriftbezug umkehrte: Die Erkenntnis der „Göttlichkeit des A.T." beruhe „in den Wiedergeborenen auf dem lebendigen und rechtfertigenden Glauben an Jesum den Gekreuzigten". Vom Faktum des christlichen Glaubens aus werde Christus in der messianischen Weissagung als der Verheißene erkannt. Der christliche Gebrauch des Alten Testaments und besonders der Ankündigungen des Messias bei den Propheten sei ein retrospektiver, der sich in den prophetischen Texten die dort enthaltene Vorwegnahmejesu erst erschließe. 11 Das Interesse am Alten Bund gehe notwendig aus dem christlichen Glauben hervor, für den der Alte Bund „ewig der Neue" sei.12 In ironischer Replik wurde Schleiermacher zugestanden, der Glaube an die besondere göttliche Offenbarung in der Geschichte Israels sei tatsächlich nicht jedem zuzumuten, „weil überhaupt und zu aller Zeit der Glaube nicht Jedermanns Ding ist"13. Durch die theologische Abweisung des Alten Bundes sah Hengstenberg den christlichen Glauben, der eben - antithetisch zu Schleiermacher - sich sehr wohl einen Stützpunkt im Alten Testament errichte und bewahre, ja in der jüdischen Bundesgeschichte gründe, durch eine „zeitgeistgemäße", der Offenbarung Gottes entfremdete Lebenseinstellung in seinem inneren Wesen angegriffen: „ D a ß m a n seine L a n z e z u e r s t gegen d e n A l t e n B u n d r i c h t e t , u n d i h n e b e n f ü r w e i t e r n i c h t s als d e n alten, soll h e i ß e n v e r a l t e t e n u n d a b g e s c h a f f t e n , w i l l gelten l a s s e n , ist g a n z n a t ü r l i c h . D a ß d a m i t a b e r a u c h d e r N e u e B u n d , d e r n i c h t s a n d e r e s ist u n d s e y n w i l l als d e r A l t e in s e i n e r R e a l i s i e r u n g u n d V e r k l ä r u n g , i m t i e f s t e n G r u n d e u n d i n n e r s t e n W e s e n a n g e g r i f f e n u n d , s o v i e l o d e r s o w e n i g a n j e n e n liegt, v e r n i c h t e t w i r d , ist nicht m i n d e r natürlich f ü r den, der ü b e r h a u p t desselben N a t u r hat k e n n e n lernen."14

Öffentlich hat Schleiermacher den Angriff Hengstenbergs nicht beantwortet. In einem privaten Brief an seinen Vertrauten Alexander von Dohna bezeichnete er die Kritik am 10. April 1830 als „zu unanständig und zu wenig bedeutend, als daß mich auch nur eine leise Versuchung hätte anwandeln sollenf,] darauf zu antworten". 15 In seiner privaten Korrespondenz war anderweitig zuvor allerdings von dem „ungerathenen Gewäsch und polemischen Gekleff" Hengstenbergs die Rede gewesen. 16

" Vgl. EKZ 1829, 7 8 5 f ; ferner Rechtfertigung, 2 8 - 3 0 . - Hengstenberg äußerte sich in der Frage des Primats des christlichen Glaubens vor dem Gebrauch des Alten Testaments im weiteren Verlauf seiner Schleiermacher-Kritik allerdings widersprüchlich. Indem er versuchte, Schleiermachers These zu widerlegen, die messianischen Weissagungen hätten noch niemanden zum Christentum geführt, stellte er die Behauptung auf, die Christentumsgeschichte selbst zeuge für die missionarische Kraft der Weissagungen (vgl. EKZ 1830, 17f). Hengstenberg referierte ausführlich die Geschichte eines brandenburgischen Juden, der sich im 18. Jahrhundert primär aufgrund seiner soliden jüdischen Bibelkenntnis zum Christentum „bekehrt" und seine christliche Gewißheit aus dem Verständnis des Alten Testaments gewonnen habe (vgl. EKZ 1830, 19-21. 2 5 - 3 0 ) . 12 Vgl. EKZ 1829, 780. 785. 13 EKZ 1829, 786. 14 EKZ 1829, 780. 15 Vgl. Schleiermacher als Mensch II, 357; siehe auch Trauisen, K G A 1,10, L X X X I V . " Vgl. Trauisen, K G A 1,10, L X X X I V .

16

Einleitung

Daß Schleiermacher sich freilich auch der Sache nach an einem neuralgischen Punkt getroffen fühlte, wird aus einer dann doch - wiederum nur privat - geäußerten inhaltlichen Entgegnung deutlich. Gegenüber dem befreundeten Bonner Exegeten Friedrich Bleek (1793-1859) konkretisierte Schleiermacher am 23. April 1830 seinen Standpunkt, indem er unter Berufung auf den altkirchlichen Häretiker Marcion den Gott Jesu von dem Gott des Alten Testaments unterschied: „Der dogmatischen Adhibition des alten Testaments verdanken wir doch entsezlich viel übles in unserer Theologie. Und wenn man den Marcion richtig verstanden und nicht verkezert hätte, so wäre unsere Lehre von Gott viel reiner geblieben. Dies halte ich für nothwendig aufs allerstärkste zu sagen, und für mich ist es eine Gewissenssache [ · ]." 17 Das Fundament der evangelischen Theologie sei die Offenbarung Gottes in der Person Christi, die Schleiermacher von dem Buchstaben der Bibel und der Geschichte des Alten Bundes prinzipiell trennte. 2. Das Alte Testament in der „ Umformungskrise " des modernen Protestantismus - eine Skizze Schleiermacher und Hengstenberg sind aus unterschiedlichen Gründen zu den wirkmächtigsten Theologen des 19. Jahrhunderts zu rechnen. Ihr Streit, in dem es beiden ersichtlicherweise um weit mehr ging als „nur" um die Bewertung des Alten Testaments oder der jüdischen Religion, spannt einen Problemhorizont auf, der typisch ist für eine Epoche, die Emanuel Hirsch scharfsichtig mit dem Wort „Umformungskrise" gekennzeichnet hat.18 Schleiermacher sah das Christentum auf ganzer Linie mit der Frage der wissenschaftlichen Wahrheit konfrontiert. Die rasante Entwicklung der historischen und naturwissenschaftlichen Forschung tangierte sein Verständnis der gesellschaftlichen Rolle des Christentums empfindlich. Dabei deutete er das konstruktive Interesse an der Wissenschaft für die aus der Reformation hervorgegangene Kirche als historische Bringschuld an der Gesellschaft: „Wenn die Reformation, aus deren ersten Anfängen unsere Kirche hervorgegangen ist, nicht das Ziel hat, einen ewigen Vertrag zu stiften zwischen dem lebendigen christlichen Glauben und der nach allen Seiten freigelassenen, unabhängig für sich arbeitenden wissenschaftlichen Forschung, so daß jener nicht diese hindert, und diese nicht jenen ausschließt: so leistet sie den Bedürfnissen unserer Zeit nicht Genüge, und wir bedürfen noch einer andern, wie und aus was für Kämpfen sie sich auch gestalten möge." 1 9

Im Konflikt mit der Wissenschaft fürchtete Schleiermacher weniger ein von außen kommendes „Bombardement des Spottes" gegen die traditionellen christ-

Aus Schleiermacher's Leben IV, 396; vgl. auch Trauisen, K G A 1,10, L X X V I I . i» Vgl. Hirsch 1938, V f ; ders. 1954, bes. 518. » K G A 1,10, 350 f. 17

Einleitung

17

lich-biblischen Aussagen als vielmehr die innere intellektuelle Blockade und Aushungerung des Christentums, von dem sich die Gebildeten zwangsläufig abwenden müßten. Ein Christentum, welches sich gegen die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft verschließe, verschanze sich selbst und müsse in seinen „enggeschlossenen religiösen Kreisen" einfältig und barbarisch werden. 20 Während Schleiermacher es somit geradezu zum Proprium zeitgemäßen evangelischen Christseins erklärte, die Wissenschaft weder zu hindern noch zu provozieren - also ihr aufgrund eigener, „wissenschaftlich" unvertretbarer Erkenntniszusammenhänge kritische Aussagen entgegenzustellen - , maß er umgekehrt der kirchlichen Uberlieferung im Diskurs mit der modernen Wissenschaft keinen Anspruch auf Bestandsschutz zu. Da die „Wissenschaft" in seinen Augen die Richtung vorgab, in der sich ein gesellschaftlich überlebensfähiges, allein in der individuellen Christuserfahrung verankertes Christentum zu orientieren hatte, unterschied Schleiermacher zwischen einem unanfechtbaren Christentum der individuellen Erfahrung und den überkommenen kirchlichen Hüllen, die dem Christentum keinen Dienst mehr leisten könnten. 21 Seinen Appell, „angesichts der modernen historischen Kritik und der Fortschritte der Naturwissenschaften alsbald entschieden vielen altgewohnten weltbildhaften Implikationen vormodernen Christentumsverständnisses den Abschied zu geben" 22 , spitzte Schleiermacher auf die Kritik des Bibelkanons zu. Während er 20

Vgl. KGA 1,10, 347 Mit der Ablehnung eines dem Christentum gebotenen „Stützpunctes" in der jüdisch-biblischen Uberlieferung rezipierte Schleiermacher anscheinend polemisch ältere Überlegungen zum Verhältnis zwischen Bibelkritik und gesellschaftlicher Stellung des Christentums. Der Jenenser Neutestamentl e r j o h a n n Jakob Griesbach (1745-1812) hatte 1806 zu W. M. L. de Wettes exegetischem Erstlingswerk eine Vorrede geschrieben. Griesbach hatte darin das fragliche Verhältnis von einer Paulusexegese her bestimmen wollen und die Position des Paulus zum Alten Testament so zusammengefaßt: „Der Apostel sähe wohl ein, daß das Christenthum damals aus nichts anderem als dem Judenthum habe hervorgehen können, und daß es, bis es selbst fester gewurzelt und gleichsam erstarket sey, des gereinigteren Judenthums als einer Stütze, an welche es sich vor der Hand lehnen könne, bedürfe; allein augenscheinlich ging sein ganzes unablässiges Bestreben dahin, die möglichste Trennung beider zu befördern und zu beschleunigen, damit der Christianismus vom Judaismus, dem historischen Zusammenhang abgerechnet, ganz unabhängig werden möge." (XIV) Griesbach, den man selbst einen „Bahnbrecher der neutestamentlichen Textkritik" genannt hat (vgl. Aner, 138), hatte die beginnende historisch-kritische Forschung nicht dahingehend bewertet, daß sie die hebräische Bibel als für die Kirche untragbar erweisen würde, sondern sie gerade als Chance verstanden, innerhalb des Alten Testaments Anstößiges aufzulösen und so die gesamtbiblische Uberlieferung zu stützen. Die „Untersuchungen unsrer neuern Gelehrten" seien „ganz dazu geeignet [...], den Stoff auf einmal wegzuräumen, aus welchem man zahllose Zweifel, Einwendungen und Spöttereien über die in den Büchern des alten Testaments enthaltenen Erzählungen gebildet, und dann sich und andere zu überreden gesucht hat, es sey dadurch der jüdischen nicht nur, sondern auch selbst der christlichen Religion eine gefährliche Wunde beygebacht worden." (XV f) Griesbach hatte erwogen (XII), ob durch die historische Kritik, indem diese dem Judaismus den „Heiligenschein" nehme, „dann nicht auch der auf jenem beruhende Christianismus in offenbare Gefahr gerathen" müsse; da Paulus in Mose indes nur einen wesenlosen Schatten Christi gesehen habe, hatte er die Frage schließlich verneint. Für Schleiermacher stand nun hingegen nicht mehr das Recht und der Wert der historischen Kritik innerhalb der Exegese zur Disposition, sondern das Festhalten an der (für Griesbach noch unstrittigen) traditionellen dogmatischen Aussage, das Christentum beruhe auf dem Judentum. 22 Ohst, BThZ 1998, 107 21

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das Neue Testament in die sichere Zone des authentisch Christlichen zog, rechnete er das Alte unter den nutzlosen Ballast der kirchlichen Uberlieferung: „Ich fürchte, je mehr wir uns, statt die reichen Gruben des neuen Bundes recht zu bearbeiten, an das Alte halten, um desto ärger wird die Spannung werden zwischen der Frömmigkeit und der Wissenschaft. Darum glaubte ich auch, es sey meine Pflicht, ganz gerade herauszugehn mit meiner Ansicht, nicht nur von dem Werth der Weissagungen für den Glauben, sondern auch von dem Verhältniß der Alttestamentischen Offenbarung zu der in Christo, und, was so genau damit zusammenhängt,von der Einheit der Alttestamentischen und Neutestamentischen Kirche." 2 3

Im Neuen Testament besaß das Christentum demnach für Schleiermacher sehr wohl Dokumente von Frömmigkeit, mit denen es vor der „Wissenschaft" bestehen konnte. Es gelte, diese purifizierend gegen den traditionellen Rekurs auf die gesamtbiblische Uberlieferung hervorzuheben. Schleiermachers Absage an das den Maßstäben der „Wissenschaft" nicht genügende Alte Testament weist auf den geistesgeschichtlichen Hintergrund seines Wissenschaftsverständnisses hin. Die im späten 18. Jahrhundert begonnene historisch-kritische Erforschung des Alten Testaments und der Geschichte Israels24 stellte für ihn eine Herausforderung der Theologie im Forum des modernen Bewußtseins dar. Wie unser erstes Zitat belegt, erwartete er, daß die wissenschaftliche Erforschung der Bibel einen abschließenden Befund über die Historizität der Bibeltexte und über deren Bedeutung für die Entwicklung des Christentums erbringen würde. Bereits den gegenwärtigen Stand dieser Entwicklung wertete er aber als normativ für die kirchliche Theologie. Lehre und Verkündigung könnten sich nur zum eigenen Schaden von den Aussagen der „Wissenschaft" dispensieren. Dies war Schleiermachers erste Prämisse, die es ihm verboten sein ließ, den ,,Glaube[n] an eine [...] besondere Eingebung oder Offenbarung Gottes in dem jüdischen Volk [...] jedem zuzumuten", denn die zeitgenössische historisch-kritische Bibelforschung hatte gerade die von der früheren Theologie behauptete Singularität der israelitischen Geschichte relativiert. Überdies erschien nicht weniges am Alten Testament als moralisch und ästhetisch anstößig. Die Distanzierung vom überkommenen dogmatischen und ethischen Bibelgebrauch war in Schleiermachers Augen der Kirche durch den Stand des modernen Bewußtseins vorgegeben. Dabei erwies er sich insofern als Schüler des theologischen Rationalismus des späten 18. Jahrhunderts, als für ihn der Adressatenkreis der kirchlichen Praxis mit der bildungsfähigen Menschheit in ihrer Totalität übereinstimmte. Die kirchliche Lehre mußte für ihn deshalb „jedem" nach Maßgabe des wissenschaftlichen Konsenses zumutbar sein. Die Verträglichkeit mit dem wissenschaftlichen Bewußtsein der gebildeten Zeitgenossen verstand Schleiermacher als Wahrheitskriterium von christlicher Theologie überhaupt. Ein Scheitern an dieser Norm, wie es in seinen Augen

K G A 1,10, 354f. 2t Vgl. bes. W. H . Schmidt 1995, 4 3 - 4 7 ; H.-J. Kraus 1982, 8 0 - 1 1 3 ; Aner, 2 0 4 - 2 2 3 . 3 1 6 - 3 2 0 . 23

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durch das Festhalten am überkommenen Bibelkanon heraufgeführt würde, bedeute für das Christentum eine „Gefahr". Die moderne Wissenschaft, und zwar nicht allein die naturkundliche, sondern mindestens genauso die Geschichtsforschung, entwickelte sich in seinen Augen zunehmend zu einer von der kirchlichen Uberlieferung emanzipierten „umfassenden Weltkunde". 25 Im Horizont seiner Maxime, „der Knoten" der gegenwärtigen Krise der christlichen Religion dürfe sich nicht so auflösen, daß „das Christenthum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben" gehen müsse 26 , erkannte er seitens der Religion einen Handlungsbedarf. Er forderte eine solche Gestaltung der christlichen Lehre, die dem modernen Bewußtsein keinen Anstoß bot. Dazu gehörte für ihn ein „reiner", dem „wissenschaftlichen" Denken plausibler Gottesbegriff. Dies bedingte die Loslösung der kirchlichen Gotteslehre vom Alten Testament mit seinen moralisch und wissenschaftlich fragwürdigen Aussagen. Gleichzeitig postulierte Schleiermacher aber eine ursprüngliche „Reinheit" des christlichen Gottesbegriffs, welche durch die unangemessene Wertschätzung der jüdischen Überlieferung beeinträchtigt worden sei. Seine Berufung auf den im Jahre 144 von der römischen Gemeinde exkommunizierten Marcion beweist, daß er die Frage des Alten Testaments zwar in der Gegenwart besonders nachdrücklich gestellt sah, in ihr aber eine durchgängige Anfechtung des Christentums erkannte. Das Christentum „an sich" hielt Schleiermacher demnach für dem modernen Bewußtsein gewachsen, wenn es sich nur rechtzeitig von der geschichtlich erworbenen Umkleidung, vornehmlich dem Alten Testament, freimache. Der aktuelle Handlungsbedarf zielte in seinen Augen auch auf die Wiederherstellung des ursprünglich Christlichen. Umgekehrt verteidigte Hengstenberg das Alte Testament ebenfalls nicht aufgrund eines bloß biblizistischen Interesses. Auch für ihn stand an diesem Punkt die Authentizität der christlichen Theologie insgesamt zur Disposition. Christliche „Wahrheit" und herrschenden Wissenschaftskonsens wollte er allerdings nicht identifizieren. Mit ironischer Spitze gegen seinen berühmten Kontrahenten betonte Hengstenberg, daß in der Tat „der Glaube nicht Jedermanns Ding ist". Hengstenberg insistierte darauf, daß die Theologie gegenüber dem allgemeinen Diskurs des Wissens und Forschens über eigene Kriterien für die „Wahrheit" ihrer Aussagen verfüge; dies habe gerade Schleiermacher selbst nachdrücklich gelehrt. 27 Innerhalb des besonderen christlichen Wahrheitsbe-

25 Vgl. K G A 1,10, 345. 352; zur Entwicklung der Naturwissenschaft einführend: Wölfel, TRE 24, 189-197 26 Vgl. K G A 1,10, 3 4 7 2 7 Vgl. Rechtfertigung, 14: „Allerdings hat Schleiermacher gelehrt, und wir sind ihm Dank schuldig dafür: Wenn die Theologie und andere Wissenschaften streiten, so darf die Theologie nicht nach diesen, noch dürfen diese nach der Theologie corrigirt werden, sondern dieser Widerspruch soll dem Theologen nur eine Aufforderung sein, sein System ohne Rücksicht auf die andern Wissenschaften (deren Resultate er ja nicht untersuchen kann), vom rein theologischen Standpunkte aus zu prüfen. A b e r gerade mit dieser schönen Theorie steht Schleiermacher selbst, seinem Sendschreiben zufolge, praktisch in Widerspruch." Indem Schleiermacher als Dogmatiker in entsprechenden Streitfällen keinen Zweifel an der Verbindlichkeit „wissenschaftlicher" Aussagen zulasse, verletze er

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wußtseins entschied für Hengstenberg das Verhältnis zur Gesamtheit der Uberlieferung, die das Alte Testament einschloß, über die Sachgemäßheit von Theologie. Hinter Schleiermachers Kanonskritik erkannte Hengstenberg somit einen viel tieferen Dissens. Das Alte Testament sei in der gegenwärtigen Diskussion nur vorgeschobener Angriffspunkt, mithin der Vorwand einer Kritik, die letztlich alle christliche Lehre zu negieren drohe. Die Kontroverse um die kirchliche Geltung des Alten Testaments aus den Jahren 1829 und 1830, die hier nicht umfassend dargestellt, sondern nur in ihrem theologischen Kern charakterisiert werden sollte 28 , scheint weniger über das Alte Testament auszusagen als über die Normen und Ansprüche, denen die evangelischen Theologen dieser Epoche ihr Lehren und Predigen unterstellten. Schleiermachers Kriterien für eine Theologie, die dem Maßstab des Bewußtseins der gebildeten Zeitgenossen genügen sollte, hießen „Universalität", „Akzeptabilität" und „Modernität". Hengstenberg stellte „Besonderheit", „Authentizität" und „Integrität" dagegen. Die Argumentationslinien beider Konzepte kreuzten sich in der Frage der Kanonizität des Alten Testaments und des theologischen Zusammenhanges der Kirche mit der jüdischen Uberlieferung. Während für Schleiermacher die biblisch-jüdische Tradition mit ihren Wunderberichten und der „zornigen" Gottesgestalt das dem modernen Menschen schlechthin Unzumutbare darstellte, sah Hengstenberg im Angriff gegen das Alte Testament auch die christologische Verkündigung der Kirche bedroht. Der an die Zeitgemäßheit des Christentums zu entrichtende Preis war in seinen Augen unzulässig. Die Infragestellung des Christentums von außen transformierte sich zunächst bei Schleiermacher, dann auch in der Reaktion Hengstenbergs, in die innertheologische Frage nach der biblisch-jüdischen Uberlieferung als kirchlicher Norm. Der Streit zwischen Schleiermacher und Hengstenberg zeigt symptomatisch die Auseinandersetzung der Kirche mit dem seit dem späten Humanismus aufgekommenen „profanen" Welt- und Geschichtsbild an. Um den Hintergrund des Konflikts zu verstehen, müssen wir fragen, wie das „säkulare" Modell in die deutsche protestantische Theologie eingedrungen war. Reformation und protestantische Orthodoxie hatten durch die Betonung des Schriftprinzips die in der Renaissance angebahnte Säkularisierung des Denkens und Forschens unterbunden oder doch aufgeschoben. 29 Gleichwohl wurde bereits durch Melanchthon im Zuge der evangelischen Universitätsreform das sein eigenes Verständnis der Theologie als positiver Wissenschaft des christlichen Glaubens (siehe dazu bei Schleiermacher v. a. in der Einleitung der 1810 veröffentlichten „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums" die §§ 1 - 6 [ed. Scholz, 1 - 3 ] ) : „So giebt Schleiermacher einen Artikel der Theologie, ehe die Naturwissenschaften nur zur Uebergabe aufforderten, freiwillig verloren; an die Naturwissenschaften aber erlaubt sich der unpartheiische Theologe bei dieser harten Collision nicht einmal die Aufforderung, ihre vorgeblichen Resultate einer neuen Revision zu unterwerfen; alle ihre Aussagen nimmt er für baare Münze" (Rechtfertigung, 15). 28 Vgl. zum Verlauf der Kontroverse vorrangig Trauisen, K G A 1,10, L X X I X - L X X X I V . 2' Vgl. Münkler, 7 8 - 8 8 ; Cassirer, 1 8 4 - 1 8 8 ; Reventlow 1980, 1 6 - 6 8 ; Margolin, T R E 29, 8 2 - 8 5 . Z u m Problemzusammenhang siehe auch die Studie von A . Seifert.

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akademische Studium der Universalgeschichte eingeführt - freilich noch mit biblisch-theologischen Intentionen und Vorgaben. 30 Jean Bodin, der Theoretiker des Absolutismus, postulierte dagegen 1566 im „Methodus ad facilem historiarum cognitionem", der Historiker habe von einer besonderen Weltlenkung Gottes völlig abzusehen und historia politica und historia ecclesiastica unabhängig voneinander zu betrachten. Bodin ging damit allerdings erst unter den aufklärerischen Auspizien des 18. Jahrhunderts in das allgemeine Geschichtsbewußtsein ein. 31 Im 17. Jahrhundert lieferten indes Erkenntnisse von der außereuropäischen, besonders der orientalischen Geschichte wesentliche Kritikmomente am herkömmlichen, biblisch geprägten Geschichtsbild. Seit diesem Jahrhundert kam schließlich die biblische Zählung der vorchristlichen Zeit außer Kurs; die universalgeschichtlichen Daten sprengten das Schema der biblischen Ur- und Volksgeschichte. 32 Die Stellung der hebräischen Bibel im christlichen Kanon und die theologische Validierung der geschichtlichen Verbundenheit von Judentum und Kirche hatten infolge dieser Erkenntnisse ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt. Bis in die protestantische Orthodoxie hinein war das Alte Testament als „ein Grundbuch der Christenheit" behandelt und das nachbiblische Judentum als - im Horizont christlicher Ablehnung des Talmudismus freilich überwiegend polemisch beurteilter - Abkömmling des von der Kirche beanspruchten Traditionsstrangs gesehen worden. 3 3 Die im 18. Jahrhundert in das Zentrum der Theologie eingedrungene Aufklärungswissenschaft 3 4 hatte ihre Wirkung getan in Gestalt einer doppelten Anfechtung: Z u m einen hatten die aufklärerische Philosophie und die von ihr gestützte, den allgemeinen Methoden der Vernunft verpflichtete historische Forschung das tradierte, aus dem biblischen Aufriß abgeleitete Geschichtsbild auch im innerkirchlichen Diskurs ins Wanken gebracht. 35 Die wissenschaftlich erforschte Welt zeigte sich pluralistischer, als es die überkommene Konzeption des Gottesvolkes und seiner Geschichte auszusagen und auszuhalten vermochte. Die Bibel hatte ihre Bedeutung als unhinterfragte, da göttlicher Inspiration zugeschriebene Erkenntnisquelle verloren. 36 Resultate der seit der Wende zum 3 0 Vgl. Moeller, 282; Maurer 1967, 103-128; Neddermeyer, bes. 74-79; Scheible, T R E 22, 372-375. 31 Vgl. Benrath, T R E 12, 633f; Piepmeier, T R E 4, 581; Berkhof, 11-13; Münkler, 79f. 32 Vgl. Moeller, 283. Zur bis ins 18. Jahrhundert wirksamen Prägung des Geschichtsbildes durch biblisch-prophetische Schemata („Danielraster") siehe Pannenberg, JBTh 1997, 189; K. Koch, Spätisraelitisches Geschichtsdenken, 276 f. 33 Vgl. Liebeschütz 1967, 1; ferner Hornig 1961, 46; Friedrich 1988, bes. 49-54; Kraeling, 33-42. Siehe auch Griesbach, X , der 1806 für die zurückliegende, noch nicht von der historischen Kritik bestimmte Phase des christlichen Umgangs mit dem Bibelkanon sagt, es seien im biblisch-israelitischen Kultus „so viele Vorbilder auf Christus" gesehen worden. 34 Vgl. insgesamt Benrath, T R E 12, 633-641; Hoffmann, 20-22; Aner, 311-320; Cassirer, 210-214. 35 Vgl. Karpp, T R E 6, 81; M. Schmidt, T R E 4, 605 f; Aner, 333 f; Reventlow 1982, 2 - 7 3 6 Aner, 206 f, spricht für die Bibellektüre des 18. Jahrhunderts von einer „Humanisierung des Schriftinhalts", die sich daraus ergeben habe, daß der Text nunmehr aus seiner geschichtlichen Situation abgeleitet wurde. Vgl. ferner W. Philipp, Protestantismus, X V I I I ; Kraeling, 43-58. - Über

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19. Jahrhundert stark vorangeschrittenen Orientwissenschaften schienen die Einmaligkeit des Alten Testaments und damit auch dessen theologischen Anspruch zu relativieren; das biblische Judentum wurde als eine orientalische Religion unter anderen vergleichend wahrgenommen. 37 Der Universalismus der menschlichen Vernunft begründete ein Konzept von „Weltgeschichte", das die „Enge des kirchlichen Weltbildes mit seinem von Jerusalem ausgehenden Heilsweg durchbrechen" mußte und die Wurzeln der abendländischen Kultur nicht nur in Griechenland und Rom, sondern auch in Indien und China suchte. 38 Vor allem die westeuropäische Richtung der Aufklärung war dem kirchlichen Gebrauch der hebräischen Bibel radikal entgegengetreten.39 Im Zuge einer idealistischen, die Kritik der Aufklärung aufnehmenden Uminterpretation des Christentums mußte so insbesondere die Identifizierung der abendländischen Christenheit mit der im Alten Testament erzählten Geschichte von Weltschöpfung, Paradies, Fall, Sintflut und der besonderen Zuwendung Gottes zu den Stämmen Israels fragwürdig erscheinen. Die bisher festgehaltene integrale Einheit des Gottesvolkes, das sich aus dem biblischen Israel und den Bekennern Jesu Christi aus Juden und Heiden zusammensetzte, verlor ihre Gewißheit und stand unter dem Rechtfertigungsdruck der Vernunfterkenntnis.40 Zum anderen machte der in Westeuropa geborene liberale Staatsentwurf neben der weltanschaulich-wissenschaftlichen auch die gesellschaftliche Stellung der christlichen Religion fragwürdig. Das biblisch geprägte Geschichtsbild hatte scheinbar selbstverständlich den politischen Primat des Christentums begründet. Die Postulierung allgemeiner, natürlicher Menschenrechte im Gefolge der Aufklärung widerstritt der alten Verbindung von Konfession, Recht und Politik.41 Berührte die weltanschauliche Krise des Christentums vorzüglich seine Stellung zum Alten Testament, so wurde auf der Seite des Politischen das Judentum zur Herausforderung des christlichen Selbstverständnisses. Die Minderprivilegierung der Juden als der Leugner der endgültigen Offenbarung Gottes in Jesus, dem Christus, war über Jahrhunderte aus dem christlich-theologidie Koinzidenz des neuzeitlichen Wandels im Geschichtsbild mit dem Bruch innerhalb der naturwissenschaftlichen Methode, die bisher ebenfalls von biblisch hergeleiteten Parametern bestimmt war: Hornig 1961, 52-55. 37 Vgl. zur Geschichte der Assyriologie: Johanning, 17-20; ferner Hoffmann, 23-32. 38 Vgl. Liebeschütz 1967, 43; ferner K . Koch, Einleitung, 21 f; H.-J. Kraus 1982, 73-79. 39 Liebeschütz 1967, der zur Einstellung der Deisten zum Alten Testament einerseits bemerkt, es sei auffällig, „daß diese radikale Bewegung für eine allen Menschen gemeinsame Religion eine ausgesprochene Tendenz gegen das heilige Buch der jüdischen Minderheit hatte" (3), weist in diesem Zusammenhang auf den streng „gesetzlichen" Gebrauch des Alten Testaments hin, der v. a. im angelsächsisch-puritanischen Milieu vorgeherrscht habe. Dies erkläre teilweise die heftige Reaktion des Deismus (vgl. 2-13). Siehe dazu auch Kraeling, 41 f; Hoffmann, 11-15; Hoheisel, 7f; Reventlow 1980, bes. 470ff; Bruer, 52-54. 4 0 Cassirer, 212, führt hinsichtlich der Relation zwischen dem biblischen Gotteszeugnis und einem allgemeinen philosophischen Theismus aus, daß in der deutschen Theologie des 18. Jahrhunderts das zuerst Begründende und Rechtfertigende immer deutlicher zum Begründungs- und Rechtfertigungsbedürftigen wurde. Dies läßt sich auf den Streit um das Geschichtsbild übertragen. 41 Vgl. Wolgast, 45; Kampe, 14f; Gay, 117 125-155; Krumwiede, EvTh 1976; W. Philipp, Zeitalter, L X X X I X f.

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sehen Verständnis des Bibelkanons abgeleitet worden. Umgekehrt darf aber nicht vergessen werden, daß einzig die christlich-theologische Anerkennung der gemeinsamen biblischen Wurzel von Juden und Christen es dem Judentum ermöglicht hatte, im Corpus Christianum auf Basis einer „tolerantia limitata" überhaupt legal zu existieren. 42 Die fundamentale Revision des religiösen Weltund Geschichtsbildes mußte das überkommene Verhältnis von Christen und Juden zerstören. Das die Kirchen- und Theologiegeschichte seit den Ereignissen der Jahre 70 und 135 kennzeichnende Problem der ambivalenten und klärungsbedürftigen Beziehung zum Judentum 43 aktualisierte sich in der Auseinandersetzung des frühen 19. Jahrhunderts und erfuhr durch den neuzeitlichen Perspektivenwechsel eine bisher ungekannte theologische Zuspitzung.

3. Das Thema der Untersuchung Daß protestantische Theologen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der geschilderten doppelten Herausforderung in kontroverser und mühevoller Weise umgegangen sind, zeigt der eingangs skizzierte Konflikt zwischen Hengstenberg und Schleiermacher. Beiden stand hier nicht weniger als der Kern der theologischen Wahrheit auf dem Spiel. An der Würdigung der hebräischen Bibel und des Verhältnisses von Kirche und Synagoge entschied sich für beide Kontrahenten die Authentizität von Theologie. Keiner Partei könnte man dabei die subjektive Glaubwürdigkeit und das Bemühen, nichts als rechte, ihrem Wesen und Auftrag verpflichtete Theologie treiben zu wollen, kurzerhand absprechen. Vielmehr stellten sich beide der Zumutung der Situation, in die die evangelische Kirche aufgrund der geistes- und weltgeschichtlichen Entwicklung geraten war. Die Vermittlung von christlicher Wahrheit und kirchlichem Erbe einerseits, von profan-weltanschaulicher Dynamik und christlicher Zeugenpflicht andererseits kristallisierte sich gerade vor der biblischen Kanonsfrage zum kirchlichen Lebensproblem. Ein kritischer Beobachter der Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts sprach zu Recht davon, die „durch die neue historische Stellung zur Schrift" gestellte Frage nach der Bibel sei für Theologie und Kirche als „die Grundfrage unseres Jahrhunderts" anzusehen. 44 Welche Bedeutung das Alte Testament nach der Infragestellung der bis in die protestantische Orthodoxie hinein weitgehend festgehaltenen biblischen Geschichtskonzeption für die evangelische Theologie im beginnenden 19. Jahrhundert hatte und welche Sicht sich daraus auf das neben der Kirche existierende Judentum und dessen Streben nach gesellschaftlicher Gleichberechtigung ergab, will diese Arbeit untersuchen. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts 42 Noethlichs, 139 f, spricht von einer „repressiven Toleranz", die den Juden vorneuzeitlich zugewandt worden sei; analog Hoffmann, 9 - 1 1 ; Katz 1988, 1 f; Rürup 1975, 13 f. 7 5 - 7 8 ; Schrey, TRE 9, 537; H. Graetz XI, 173. 43 Vgl. einführend Moeller, 36; ferner Nicolaisen, 5. 44 Vgl. Kahler 1989, 272.

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stellt gerade für einen Untersuchungsgegenstand, bei dem sich Fragestellungen der eigentlichen Theologiegeschichte mit Momenten der kirchlichen Sozialgeschichte verbinden, ein reizvolles Aufgabengebiet dar, können diese Jahrzehnte doch für den modernen Protestantismus in Deutschland in mehrerlei Hinsicht als formative Periode gelten. Dabei dürfen wir Schleiermachers Lebens- und Wirkungszeit geradezu als Kulminationsphase des durch den „Rationalismus" verursachten und in der religiösen „Erweckung" des frühen 19. Jahrhunderts aufgenommenen innerkirchlichen Wandlungsprozesses verstehen. Schleiermacher hat eine in sich differenzierte kirchlich-theologische Erneuerungsbewegung wesentlich initiiert, die er selbst nicht vollends mitvollziehen konnte und die ihn mit den nachfolgenden Theologen deshalb in dialektischer Spannung verband. Die gegen Ende seiner Lebenszeit virulenten Auseinandersetzungen um fundamentale theologische Axiome, wie sie Hengstenbergs scharfe Intervention in der Frage christlicher Wahrheitskriterien spiegelt, müssen somit auch als epochetypische Generationenkonflikte - und, da man sich gegen Schleiermacher auf dessen eigene methodologische Maßstäbe berief, als Lehrer-Schüler-Konflikte im weiteren Sinne - verstanden werden. 45 In der zur Verhandlung stehenden Phase der deutschen Geschichte korrespondierte die politische Entwicklung eines selbstbewußt werdenden Bürgertums, das - gegen erhebliche Widerstände restaurativer landesherrlicher Regimes - hinsichtlich der staatlichen Konstitution seine gesellschaftlichen Ansprüche anmeldete und die religiöse Konfession als rechtliches Kriterium zunehmend in Frage stellte, 46 mit einer relativen Konsolidierung des Protestantismus. Durch die territorialen Neuordnungen des Wiener Kongresses bekamen die deutschen Landes- bzw. Provinzialkirchen ihre weitgehend bis heute gültigen Grenzen. Unterschiedlich begründete und ausgestaltete innerprotestantische Unionen sowie der Neukonfessionalismus prägten überdies die theologisch-konfessionelle Landkarte nachhaltig. Befand sich der Protestantismus seit dem Erstarken der Aufklärung in der Mitte des 18. Jahrhunderts in einer Umformungskrise 47 , so trat die Umgestaltung im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in das Stadium einer bestandsfähigen Reorganisation ein. Bis zur Mitte des Jahrhunderts wurden mehrere Ansätze hervorgebracht, die jeweils eine mögliche vorläufige Antwort auf die durch Aufklärung, bürgerliches Selbstbewußtsein und Idealismus veranlaßten Veränderungen im religiösen Gefüge formulierten und die weitere Entwicklung bestimmten. 48 Wenn heute die Bedingungen und Chancen des neuzeitlichen Protestantismus neu diskutiert werden, so wird dabei nicht willkürlich, sondern mit theologiegeschichtlicher Plausibilität auf theologische Ansätze dieser Zeit zurückgegriffen. 49 4 5 Zur historiographischen Aussagekraft des Begriffs der „Generation" für die Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts vgl. die Überlegungen bei Maron, PuN 1979, bes. 37f. 46 Vgl. bes. Rürup 1975, 11 f; Mehlhausen, TRE 29, 90f. 4 7 Wichtig die Überblicksreferate bei Kahler 1989, 2 6 - 4 0 ; K. Barth 1947; 6 0 - 1 5 2 ; ebenso kompetent wie detailliert: Jung, 2 4 - 3 3 . Vgl. auch Η. M. Müller 1988, 19f. 48 Vgl. Jacobs, Entstehung, 2 9 - 3 4 ; Stephan/M. Schmidt, 143-148. 165-172. 49 Vgl. exemplarisch F. Wagner, Vorwort; ders., EK 1998, 5 3 2 - 5 3 4 ; Herms 1995, X X f.

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U m die B e d e u t u n g des A l t e n Testaments u n d des J u d e n t u m s f ü r die b e t r e f f e n d e t h e o l o g i s c h e E p o c h e z u e r h e b e n , b e z i e h t sich die A r b e i t auf T h e o l o g e n , die nicht als F a c h - A l t t e s t a m e n t l e r h e r v o r g e t r e t e n sind, s o n d e r n als s y s t e m a t i sche, h i s t o r i s c h e o d e r p r a k t i s c h e T h e o l o g e n o d e r i m Bereich d e r kirchlichen Publizistik in p o i n t i e r t e r W e i s e m i t d e r P r o b l e m s t e l l u n g k o n f r o n t i e r t w a r e n . Es geht also nicht u m die G e s c h i c h t e d e r alttestamentlichen Exegese, s o n d e r n u m die R e z e p t i o n des d e n biblischen K a n o n u n d die K o e x i s t e n z v o n C h r i s t e n u n d J u d e n b e t r e f f e n d e n F r a g e n k o m p l e x e s in d e r Breite d e r t h e o l o g i s c h e n D i s k u s s i o n . 5 0 A u c h die P r o t a g o n i s t e n d e r J u d e n m i s s i o n s g e s e l l s c h a f t e n j e n e r E p o c h e w i e F r a n z D e l i t z s c h w e r d e n nicht gezielt berücksichtigt, da diese z w a r ζ . T. b e d e u t e n d e t h e o l o g i s c h e K o n z e p t e e n t w i c k e l t e n , a b e r f ü r ihre t h e o l o g i s c h e Zeitg e n o s s e n s c h a f t nicht r e p r ä s e n t a t i v g e n a n n t w e r d e n k ö n n e n . 5 1 D e r A u s s c h l u ß derer, die a u f g r u n d i h r e r speziellen Fachdisziplin m i t d e m A l t e n Testament u n d d e m J u d e n t u m b e f a ß t w a r e n , b e g r ü n d e t sich d a r a u s , d a ß bei diesen W i s s e n s c h a f t l e r n in allen E p o c h e n d e r T h e o l o g i e g e s c h i c h t e ein einschlägiges Interesse v o r a u s g e s e t z t w e r d e n k a n n . D i e in e i n e m b e s t i m m t e n A b s c h n i t t d e r K i r c h e n u n d T h e o l o g i e g e s c h i c h t e h e r r s c h e n d e W e r t s c h ä t z u n g des älteren Teils d e r Bibel u n d die gleichzeitige Einstellung z u d e r a n d e r e n biblischen Religion zeigen sich r e p r ä s e n t a t i v erst a u ß e r h a l b d e r alttestamentlichen Fachdisziplin u n d bes o n d e r s in denjenigen F ä c h e r n , die es m i t einer G e s a m t s c h a u t h e o l o g i s c h e r E r -

50 Für die Geschichte der alttestamentlichen Fachexegese ist neben den einschlägigen Darstellungen von H.-J. Kraus 1982, 92-294; Reventlow 1982, 1-47, sowie W. H. Schmidt 1995, 371 f, besonders auf die Untersuchung von U. Kusche über die Sicht des Judentums im Werk exemplarischer Alttestamentler des 19. und 20. Jahrhunderts zu verweisen. Kusches Untersuchung setzt allerdings erst mit Eduard Reuss (1804-1891) ein, der dem Schwerpunkt seiner langen akademischen Wirkungszeit nach bereits der zweiten Generation nach Schleiermacher zuzurechnen ist. Für den an der Bedeutung des Alten Testaments und des Judentums in der theologischen Gesamtdiskussion Interessierten trägt die Arbeit auch deshalb nur wenig aus, weil Kusche die vom ihm ausgewählten FachAlttestamentler weitgehend isoliert gegenüber der kirchlich-theologischen Gesamtentwicklung betrachtet. Seine Themenbestimmung legt den Fehlschluß nahe, als könnte die verantwortliche Bezugnahme auf das Alte Testament und das erste Bundesvolk an eine bestimmte Disziplin der christlichen Theologie delegiert werden (vgl. bes. 163). H.-G. Waubke, der mit seiner detaillierten Untersuchung zum Pharisäerbild der protestantischen Bibelwissenschaft des 19. Jahrhunderts unlängst einen wesentlichen Beitrag zur Geschichte der Exegese unseres Zeitraumes geleistet hat, berücksichtigt die theologische Gesamtentwicklung stärker. Jedoch legt auch er den Schwerpunkt auf das späte 19. Jahrhundert. M. Brumlik hat mit seiner jüngst publizierten Studie zum Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum, die auch Schleiermacher einbezieht, einen nützlichen Beitrag zur Erhellung unseres Fragekomplexes vorgelegt. Seine meinungsfreudige Arbeit geht auf die kirchliche Breitenwirkung der untersuchten Konzeptionen indes nicht ein und verfehlt deshalb insbesondere die ambivalente Wirkungsgeschichte der Schleiermacherschen Position zu Bibel und Kirche. Die einer umfassenden theologiegeschichtlichen Perspektive verpflichteten älteren Darstellungen von Maurer 1953, Ehrlich 1961, Rupprecht, Dantine und F.-H. Philipp 1970 erreichen in der Quellenrezeption für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum die erforderliche Tiefe und Detailtreue, führen aber dennoch problembewußt in die Thematik ein. Als wichtige Einzeldarstellung zum christlich-jüdischen Verhältnis im frühen 19. Jahrhundert ist die F.A.G. Tholuck (1799-1877) gewidmete Untersuchung von P. Maser in JSKG 1980 zu nennen. 51 Zu Franz Delitzsch vgl. einführend Plümacher, TRE 8, 431-433; Kutsch, RGG 3 2, 74 f; F.-H. Philipp 1970, 288-290; S. Wagner; und siehe unten 304f.

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gebnisse zu tun haben, also v.a. in der Systematik, der Praktischen Theologie und der Kirchengeschichte. Ebenso darf die populäre kirchliche Publizistik als authentischer Gradmesser für den Bewußtseinsstand einer kirchlichen Epoche gelten. Da die Resultate der zeitgenössischen alttestamentlichen Exegese vielfältig in die Aussagen der anderen theologischen Disziplinen eingeflossen sind, bedeutet diese Themenbestimmung jedoch keine völlige Ausblendung der Geschichte der Exegese. Zunächst konzentriert sich die Darstellung auf Friedrich Schleiermacher (1768-1834), dessen Werk nicht nur selbst lange schon das Signum des Klassischen trägt, sondern auch für die Generation der ihm folgenden Theologen in Deutschland von epochaler Bedeutung war. Der Umstand, daß sich unter den hier behandelten Theologen der Folgegeneration kein eigentlicher Schüler Schleiermachers befindet, gleichwohl alle aber ausführlich auf seine Positionen Bezug nehmen, stützt diese Einschätzung seiner Bedeutung. Für die Folgegeneration wurden fünf Vertreter ausgewählt, die die unterschiedlichen theologischen Strömungen jener Jahre repräsentieren sollen und jeweils eine Antwortmöglichkeit auf die von Schleiermacher aufgeworfenen Fragen verkörpern: - Carl Immanuel Nitzsch (1787-1868) ist der wichtigste Vertreter der „Vermittlungstheologie" und einer der Begründer der „Praktischen Theologie" als Fachdisziplin. Er hat ein Vierteljahrhundert in Bonn gelehrt und gepredigt und anschließend noch zwei Jahrzehnte in Berlin gewirkt. - Johann August Wilhelm Neander (1789-1850), geboren mit dem Namen David Mendel als Sohn einer jüdischen Familie, war als erster Berliner Kirchenhistoriker neben Schleiermacher der herausragende Lehrer an der jungen theologischen Fakultät der preußischen Hauptstadt. Er darf als Begründer der modernen, dezidiert theologisch bestimmten Kirchengeschichtsschreibung gelten und ist ein markanter Vertreter der „Erweckungstheologie". Auch die Umstände seiner Konversion können unseren Themenkomplex erhellen. - David Friedrich Strauß (1808-1874) ist Repräsentant der „linkshegelianischen" Schule und hat der kritischen Leben-Jesu-Forschung wichtige Impulse gegeben. Im Rahmen seiner parlamentarischen Ambitionen des Jahres 1848 sowie in seinen Spätschriften lassen sich geistes- und gesellschaftsgeschichtlich weiterführende Linien in der politischen Betrachtung der jüdischen Minderheit erkennen. - Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802-1869) war vierzig Jahre lang das publizistische Sprachrohr des protestantischen Konservatismus in Preußen. Sein Wirken hat sowohl die kirchliche Bedeutung des Bibelkanons wie die Fragen um das Verhältnis von Kirche und Staat zu Brennpunkten. - Johann Christian Konrad von Hofmann (1810-1877) schließlich, einer der „Väter" des Erlanger Neuluthertums, sah sich selbst im Schriftverständnis als Antipoden Schleiermachers. Er entwickelte ein Konzept von „Heilsgeschichte", das den Maßstäben der Moderne Rechnung zu tragen versuchte

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und das Alte Testament konstruktiv einbezog. Politisch hat er als liberaler Abgeordneter im bayerischen Landtag für die religiöse Neutralität des Staates gestritten. Bei keinem der genannten Theologen bestand ein primäres Interesse an jüdischen oder alttestamentlichen Fragen. 5 2 Vielmehr waren die betreffenden Stellungnahmen in Interessenskontexte ekklesiologischer, eschatologischer und schrifthermeneutischer Natur eingebunden. Der Bestand an unmittelbaren Quellentexten ist daher nicht sehr umfangreich. Die Herausforderung für den Forscher besteht darin, die wenigen, dafür oft recht dezidierten Aussagen zu ihrem Kontext ins Verhältnis zu setzen und festzustellen, welche Prämissen und Interessen hier steuernd wirksam sind. Die Untersuchung beschränkt sich im wesentlichen auf die theologischen Konzepte, wie sie in gedruckten Quellen vorliegen. Es werden jeweils die theologischen Hauptschriften der ausgewählten Theologen herangezogen. Selbstverständlich kann dabei keine vollständige theologische Werkanalyse geboten werden. Vielmehr konzentriert sich die Arbeit auf den Aufweis derjenigen Grundaussagen, die das Verständnis des Alten Testaments und des nachchristlichen Judentums bestimmen. D a s biographische Moment ist im Rahmen dieser theologiegeschichtlichen Untersuchung nur insofern von Interesse, wie der soziale Kontakt der betreffenden Theologen mit dem zeitgenössischen Judentum - etwa im Falle der Salonbekanntschaften des jungen Schleiermacher oder im Kontext der Konversion Neanders - in die öffentlich wirksamen theologischen oder sozialethisch-politischen Aussagen eingeflossen ist. Ein etwaiger anderweitiger Verkehr mit jüdischen Menschen wäre Gegenstand einer ausführlichen biographischen Würdigung der betreffenden Theologen und liegt jenseits der Grenzen unseres Themas.

4. Methoden und Ziele der Untersuchung Absicht der Untersuchung ist es, die Behandlung des Alten Testaments und des neben der Kirche existenten Judentums aus dem inneren Gefälle der ausgewählten theologischen Konzeptionen heraus zu verstehen. Die Betrachtung der in den gedruckten Quellen vorliegenden epochetypischen Konzepte soll die in unserem Untersuchungszeitraum geführte theologische Diskussion um den kirchlichen Wert des Alten Testaments und die Bedeutung der anderen biblischen Religion lebendig werden lassen. Die Würdigung der analysierten Befunde soll dabei primär den zeitgenössischen Rahmen berücksichtigen und die vorgestellten Theologen im Horizont ihres genuinen Kontextes bewerten. Darum hat die aktuelle Beurteilung der historischen Situiertheit der Quellen das Vorrecht einzuräumen. Es geht in erster Linie darum, den theologie- und

52 Für Hengstenberg gilt dies hinsichtlich seiner publizistischen und kirchenpolitischen Tätigkeit, die gegenüber seiner Exegese in unserer Betrachtung den Schwerpunkt bildet.

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kirchengeschichtlichen Zusammenhang zu verstehen, in dem die darzustellenden Positionen und Konzepte ihren Ort hatten. Kritische Anfragen an die Positionen der behandelten Theologen greifen in dieser Arbeit die Fragen der Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts auf. Die Struktur der Analyse entwickelt sich so vorrangig aus der Materie des historischen Gegenstandes selbst. Die Untersuchung will dadurch der Gefahr wehren, eine spezielle Fragerichtung, die aus der nach 1945 gegebenen Situation im jüdischchristlichen Verhältnis entstanden ist, ahistorisch an das 19. Jahrhundert heranzutragen.53 Die Arbeit fragt nach der in den unterschiedlichen theologischen Systemen gegebenen Sicht des Alten Testaments hinsichtlich - des philologisch-historischen Zusammenhangs beider Teile der Bibel - des kerygmatisch-theologischen Zusammenhangs beider Teile - der Einschätzung der dem Alten Testament eigenen Bedeutung für die Kirche - der Einschätzung des nachchristlichen Judentums vom theologischen Kanonsverständnis her. Sie fragt nach der Einstellung zum Judentum hinsichtlich - der Bewertung des historischen Zusammenhangs von Kirche und Synagoge - der theologisch-heilsgeschichtlichen Bewertung der ursprünglichen Beziehung der Kirche zum Judentum - der theologischen Bewertung der gegenwärtigen Koexistenz - der theologisch motivierten Sicht auf das politische Anliegen der Judenemanzipation - der Vorstellung einer eschatologischen Gemeinschaft der Menschen beider Religionen. Zunächst werden die einschlägigen Äußerungen Schleiermachers und der ihm geschichtlich folgenden Theologen innerhalb ihres ursprünglichen theologischen Konzeptes separat dargestellt. Anschließend sollen in einem thematischen Querschnitt die erhobenen Einzelresultate miteinander verglichen werden, um so ansatzweise zu einem Gesamtbefund des in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegebenen Diskussionsstandes zu gelangen. Wenn die oben zitierte Einschätzung Martin Kählers aus dem Jahre 1898 zutrifft, derzufolge die Frage nach der Bibel gerade in der vom Vordringen der historischen Forschung bestimmten Gesprächslage „die Grundfrage unseres Jahrhunderts" gewesen ist, dann könnte die vorliegende Arbeit - trotz der relativ schmalen Auswahl der untersuchten Ansätze - einen erhellenden Einblick in das Theologieverständnis dieser wichtigen Epoche vermitteln. In einem Ausblick wird schließlich die untersuchte Periode mit der gegenwärtigen Diskussion um die theologische Bedeutung des Alten Testaments und 53 Zu der beinahe unvermeidbaren Tendenz insbesondere der deutschen Historiographie, das Verhältnis von Juden und Christen in der Moderne unter dem Gesichtspunkt der „bloßen Vorgeschichte des Völkermordes" zu betrachten, vgl. Berding 1988, 7 - 9 ; ferner ders. 1996, bes. 192-194; Volkov 1996, passim.

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die der Kirche aufgetragene Würdigung des Judentums kritisch verbunden. Die bleibende Relevanz der im frühen 19. Jahrhundert diskutierten Fragen und Lösungsansätze soll dabei hervortreten. Der vorliegende Beitrag versteht sich nicht primär als Votum innerhalb des „jüdisch-christlichen Dialogs", sondern als Versuch einer Selbstverständigung christlicher Theologie über den Umgang mit den sie begründenden und normierenden biblischen Dokumenten und ihre Reflexion auf die andere biblische Religion innerhalb einer für den deutschen Protestantismus maßgeblichen geschichtlichen Phase. Wie gerade an den Äußerungen des 19. Jahrhunderts deutlich werden wird, bedarf der christliche Rekurs auf die Bibel in ihrer profilierten Einheit aus Altem und Neuem Testament einer solchen Selbstklärung. Ebenso zeigt sich im Horizont des politischen Geschehens im 19. Jahrhundert besonders nachhaltig, welchen Einfluß theologische Begründungszusammenhänge auf das gesellschaftliche Verhalten von Christen gegenüber der jüdischen Minderheit hatten - eine Erfahrung, die im späten 20. Jahrhundert unter völlig veränderten Bedingungen der Koexistenz wiederholt wurde. 54 Erst nach einer solchen Selbstbesinnung kann mit jüdischen Partnern in einen sinnvollen Dialog über biblische Auslegungs- und Anwendungsfragen sowie über die theologische Bedeutung der gemeinsamen Geschichte eingetreten werden. Freilich ist bereits in der Phase der internen christlich-theologischen Selbstklärung die Koexistenz des jüdischen Partners stets mitzubedenken. 55 Wie in jeder theologiegeschichtlichen Untersuchung kann auch hier der heutige Diskussionsrahmen nicht gänzlich ausgeblendet werden. Der Wunsch nach einer „objektiven" oder gar „neutralen" Darstellung, der die geschichtliche Bedingtheit aller Forschung und vornehmlich die eigene theologische Sozialisation des Autors negieren wollte, würde sich gerade in der theologiegeschichtlichen Arbeit, die nur eingedenk der je eigenen Verantwortung vor dem der Kirche aufgegebenen Zeugnis und in bewußter Teilhabe an der epoche-

5 4 Vgl. Bock, 2 8 8 f : „Der Wille zu einer Erneuerung des christlich-jüdischen Verhältnisses von christlicher Seite aus hat [ . . . ] auch zu einer erneuten Besinnung auf die eigene theologische Begründung des Verhältnisses von Israel und Kirche geführt. Diese Besinnung ist, auch wenn sie kontrovers ausgetragen wird, notwendig und führt zu einer Selbstverständigung über die inhaltliche Reichweite dessen, was theologisch begründet ausgesagt werden kann." 5 5 Vgl. Schwöbel, Kul 1997, 174. - Der Charakter dieser historischen Untersuchung als christlicher Selbstverständigung enthebt sie der Notwendigkeit, eine mit dem Judentum konsensuale Terminologie finden zu müssen. Der erste Teil der christlichen Bibel wird in Einklang mit der christlichen Tradition hier in der Regel als „Altes Testament" (AT) bezeichnet. Daß mit dieser Bezeichnung eine nicht immer unproblematische Sprachverwendung assoziiert ist, wird berücksichtigt. Gleichwohl dürfte die Analyse der Quellen den Beleg liefern, daß die Rede vom „AT" keineswegs pejorativ sein muß. Vgl. dazu Schwöbel, Kul 1997, 175; kritisch Janowski, ZThK 1998, l f Anm. 3 ; Zenger, 144-154. - Die gängig gewordene Bezeichnung „Hebräische Bibel" ist im Blick auf die Verwendung der Septuaginta im antiken Judentum und auch hinsichtlich des Gewichtes dieses griechischen Textes für den Schriftgebrauch der Alten Kirche nicht adäquat. Aus der Perspektive des Patristikers macht Markschies, B T h Z 1997, 34 A n m . 3, darauf aufmerksam. Siehe dazu auch Thümmel, B T h Z 1998, 2 2 ; M. Müller, K u D 1996, bes. 75ff.

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übergreifenden communio sanctorum recht zu leisten ist 56 , als nicht ungefährliche Selbsttäuschung erweisen. 57 Zudem gebietet es die im Umgang mit geschichtlichen Quellen stets angebrachte „Bescheidenheit sowohl im Wissen als im Verstehen" 58 , auf den Anspruch einer aller historischen Relativität entrückten Perspektive tunlichst zu verzichten. Die Frage nach der Koexistenz von Christen und Juden wird in dieser Arbeit als theologische Frage gestellt. Sie ergibt sich, wie an den behandelten Konzeptionen zu bewähren ist, aus dem Umgang christlicher Theologen mit den für sie grundlegenden Dokumenten und nicht aus den Erfordernissen eines indifferenten religiösen oder sozialen „Pluralismus". Der Umstand, daß im Zusammenhang der theologischen Frage nach der biblisch-jüdischen Wurzel der Kirche mit sachlicher Notwendigkeit auch die gesellschaftliche Stellung des Christentums zur sozialen Minderheit der Juden verhandelt werden muß, unterstreicht indes einmal mehr die Tatsache, daß „Theologie, Kirche und Christentum [...] immer politisch" sind. 59 Die kirchlich-theologische Bestimmung unserer Frageintention hinsichtlich der anderen biblischen Religion schließt daher die Berücksichtigung der politisch-sozialen Hintergründe und Bedingtheiten von christlich-theologischer Existenz ein. 60 Die gesonderte, in dieser Arbeit nicht zu leistende Untersuchung des biographisch-sozialen Kontaktes christlicher Theologen mit jüdischen Zeitgenossen in der Emanzipationsphase des 19. Jahrhunderts stellt für die konzeptionsgeschichtliche Würdigung der christlichen Haltung zum Judentum ein wichtiges Komplement dar. Sie bildet ein fortdauerndes Forschungsdesiderat.

5 6 Vgl. in diesem Zusammenhang die grundlegenden Erwägungen zur kirchlichen Bedeutung der kirchen- und theologiegeschichtlichen Forschung bei K . Barth 1947, 2f. 5 7 Siehe dazu den instruktiven Essay „Kann Geschichte objektiv sein?" bei Nipperdey 1990, 264-283. 5 8 Kahler 1956, 20. 5 9 Vgl. Honecker, E K 1998, 304. Honecker spitzt damit die Erkenntnis von Herms, K Z G 1997, 320, „daß Sozial- und Geistesgeschichte eine reale Einheit bilden", theologisch zu. 6 0 Widersprochen werden muß dem Vorhaben, „rassistische, nationalsozialistische, zeitgeschichtliche oder andere nicht-religiöse Formen des Antijudaismus" bei der Betrachtung der Auswirkungen der „Bekenntnispostulate der großen christlichen Konfessionen auf das innertheologische Bild der christlichen Ursprungsreligion" auszuklammern, wie es Hoheisel, 4, vorstellt. O b das dezidiert antijüdische Neuheidentum, wie es seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Gestalt gewann und im Nationalsozialismus gipfelte, angesichts der in ihm virulenten Mythologeme als „nicht-religiös" bezeichnet werden darf, sei dahingestellt. Die jüngst erschienene wichtige Arbeit von R. Sünner zur Verbindung nationalsozialistischer Ideologie mit esoterischen Strömungen weist nachdrücklich in die entgegengesetzte Richtung. Festzuhalten ist jedenfalls, daß die Ausgestaltung und Umsetzung theologischer Konzeptionen von Judentum keinesfalls ohne Berücksichtigung der geschichtlichen und politischen Situation gewürdigt werden kann.

I. Dem Alten Testament fremd um Christi willen Friedrich Schleiermacher

0.

Forschungsübersicht

Die Stellung, die Friedrich Schleiermacher zum Alten Testament und zu dem neben der Kirche existierenden Judentum einnahm, ist kein Thema, das die Forschung bisher im Ubermaß beschäftigt hätte. 1 Dies gilt, obwohl bereits Zeitgenossen Schleiermachers hier ein Grunddefizit seiner Theologie sahen, wie schon in der Einleitung angedeutet wurde. Neben Hengstenberg haben sich besonders Schleiermachers Schüler und Freund, der Alttestamentler W. M. L. de Wette, sowie Carl Immanuel Nitzsch, Ferdinand Delbrück und Friedrich Steudel während Schleiermachers später Schaffenszeit kritisch geäußert. 2 In Ferdinand Christian Baurs Auseinandersetzung mit der Christologie Schleiermachers, die auf David Friedrich Strauß nachhaltig gewirkt hat, tritt hingegen das Problem des AT nicht in den Vordergrund. 3 In seiner bis heute maßgeblichen Schrift über die Bedeutung des AT in der christlichen Kirche nahm Ludwig Diestel 1869 pointiert zu Schleiermacher Stellung, ohne dabei aber den Bezug der einschlägigen Passagen zu Schleiermachers theologischen Gesamtentwürfen detailliert zu entfalten. 4 Dagegen brachte Ernst Bindemann 1886 in seiner Untersuchung über die predigtgeschichtliche Bedeutung des AT sowohl Schleiermachers epochale Bedeutung als auch sein Verhältnis zum AT kritisch zur Sprache. 5 Wilhelm Dilthey geht in seinen Schleiermacherstudien auf die Rolle der Bibel kaum ein; seiner philosophischen Position entspricht es, daß er in dieser Frage nicht das kritische Niveau erreicht, welches etwa von einem der reformatorischen Theologie verpflichteten Standort her angezeigt werden müßte. 6 Auch das 1905 erschienene grundlegende Werk über Schleiermachers religiöse Entwicklung von Johannes Wendland behandelt zwar kritisch das Bibelver-

1 Gegen Trillhaas 1991, 279. 288f; Η . M. Müller 1988, 20; Liwak 1989, 176 Anm. 64; anders etwa H.-J. Kraus 1970, 210; Preuß, 127. 2 Zu de Wette: Smend 1958, 82f. 122f. Vgl. Delbrück 1827, 66-72; Steudel 1840, 539-543. 3 Vgl. bes. Baur, TZTh 1/1828, und siehe unten 96f mit Anm. 347 4 Vgl. Diestel, 561. 688 f. 766. 5 Vgl. Bindemann, 116-125. 6 Wichtig ist dennoch der Abschnitt Leben II/2, 729-731, mit der Kapitelüberschrift: „Falsche Stellung des AT in seiner [sc. Schleiermachers] Theologie und in der der Zeitgenossen". Vgl. dazu Nowak 1986, 13.

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ständnis Schleiermachers, berücksichtigt den Kanonsbegriff und die Bedeutung des AT aber nur unzureichend.7 In seiner „Geschichte der Juden" schildert der jüdische Historiker Heinrich Graetz im elften Band (1876, 2 1900) sehr anschaulich die Teilnahme des jungen Schleiermacher an den Berliner Salons des Ehepaares Herz sowie die Umstände des Taufbegehrens der Berliner Juden um David Friedländer, geht aber auf Schleiermachers theologische Entwicklung nicht konkret ein.8 Wie Graetz äußert auch Leo Baeck aus der Position eines selbstbewußten, für die europäische Aufklärung aufgeschlossenen Judentums eine energische Zurückweisung bzw. Gegenkritik der Aussagen Schleiermachers.9 Walther Sattler lieferte 1916 in einem Beitrag der Zeitschrift „Nathanael" eine prägnante Zusammenstellung der Äußerungen des frühen Schleiermacher zur Judenmission, berücksichtigte aber den theologisch-systematischen Hintergrund nur unzureichend. Hingegen faßte der 1919 im Neuen Sächsischen Kirchenblatt publizierte Artikel „Schleiermacher und die alttestamentlich-jüdische Religion" des Dresdner Oberkirchenrates Ernst Katzer die entsprechenden Aussagen systematisch stimmig zusammen.10 Durch die aus dem Kreis der „dialektischen Theologie" vorgebrachte radikale Kritik am Kulturprotestantismus erfuhr die Auseinandersetzung mit Schleiermacher eine Zuspitzung. Das Verhältnis zur jüdischen Uberlieferung wurde dabei allerdings nur am Rande zum Thema.11 In der Zeit des evangelischen „Kirchenkampfs" sind die Äußerungen Schleiermachers zum AT durch „deutsch-christliche" Theologen für eine vermeintlich von Luther begründete „völkische" Tradition der evangelischen Theologie beansprucht worden. 12 Vgl. bes. unten 54 Anm. 129. Vgl. H . Graetz XI, bes. 161-171. 9 Vgl. Wesen des Judentums, bes. 135. 252. 10 Statt einer theologischen Einordnung und Kritik findet sich bei Katzer allerdings eine polemische, zu einer abwertenden „völkischen" Sicht des Judentums tendierende Überhöhung der Schleiermacherschen Positionen; vgl. bes. 759. Zu Katzer siehe Nicolaisen, 30f. » Vgl. K. Barth 1978, 35f. 92. 279. 427-434; Groos, 209-212; Trillhaas 1933, 205-207 (auffallend anders die Tendenz beim späten Trillhaas, der sich von der während des beginnenden „Kirchenkampfs" entwickelten Schleiermacher-Kritik verabschiedete; vgl. 1991, bes. 288f). - E. Brunner, dessen Schleiermacher-Buch von 1924 den Bruch mit dem „Kirchenvater des 19. Jahrhunderts" am schärfsten markierte, benannte zwar das AT als denkbar radikalsten Gegensatz zu der (in Brunners Augen) von Schleiermacher repräsentierten theologischen Denkrichtung (vgl. 386), ging aber auf Schleiermachers Umgang mit der hebräischen Bibel nicht konkret ein. - Theologisch der „dialektischen" Schule verbunden ist die unter H. J. Iwands Betreuung 1959 geschriebene Arbeit über Schleiermachers Häresiebegriff von K.-M. Beckmann. Auf das Verhältnis zum AT wird darin am Rande eingegangen, jedoch nicht in einer Weise, die Barths kritische Erkenntnisse überstiege (vgl. 32. 69f). 12 Zuerst zu nennen ist hier der Jenenser Systematiker Η. E. Eisenhuth mit seinem 1940 für das Eisenacher „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben" erstellten Vortrag. Zur Zielsetzung des im Mai 1939 gegründeten „Entjudungsinstituts" vgl. Kirchliches Jahrbuch 1933-1944, 296f. 324. 502f; sowie Heschel; Siegele-Wenschkewitz, EvTh 1982, bes. 183f; Nicolaisen, 88f. Für eine „völkisch" orientierte Schleiermacher-Interpretation vgl. entsprechend Heger, bes. 49. Ein gegen diese Tendenz opponierender Beitrag des emeritierten Superintendenten Weerts versuchte 1939 mit erkennbar apologetischer Absicht, Schleiermacher im Verständnis des AT mit den konstruktiven Ansätzen der Reformatoren zu parallelisie7 8

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Die wohl luzideste und umfassendste Darstellung von Schleiermachers Theologie hat 1952 und 1954 Emanuel Hirsch in den beiden abschließenden Bänden seiner neuzeitlichen Theologiegeschichte vorgelegt. Die Beurteilung von Schleiermachers Einstellung zur hebräisch-biblischen Tradition erweist sich hier indes als besonders kritisch zu lesen und der Uberprüfung an den Quellen bedürftig.13 Dennoch ist Hirsch für unsere Arbeit, wenn auch oft als Gegenpol, ein sehr wichtiger Gesprächspartner. Aufgrund der in der Auseinandersetzung mit „völkischer" Ideologie geschärften Sensibilität für die kirchliche Relevanz des AT wurde nach 1945 auch Schleiermachers diesbezügliche Position problematisiert. Sie fand Berücksichtigung in den wichtigen Gesamtdarstellungen der Wirkungs- bzw. Auslegungsgeschichte des AT von Emil G. Kraeling, Walter Rupprecht und Hans-Joachim Kraus. 14 Kraus und v.a. sein Schüler Joachim Puschmann ordnen die exegetisch-hermeneutischen Prämissen Schleiermachers dabei in das theologiegeschichtliche Umfeld, also in die Tradition der aufklärerischen, romantischen und idealistischen Schriftauslegung, ein. Im Zusammenhang der seit mehr als einem Vierteljahrhundert andauernden „Schleiermacher-Renaissance" 15 , die wesentlich auf das Werk Hans-Joachim Birkners (1931-1991) und seiner Schüler zurückgeht, hat die Frage nach der hebräischen Wurzel der christlichen Kirche und deren Behandlung durch Schleiermacher kaum Beachtung gefunden. Birkners Habilitationsschrift vermerkt Schleiermachers Einstellung zur jüdischen Uberlieferung zwar knapp, problematisiert sie aber nicht theologisch. 16 Die erste spezifische Äußerung aus dem Kreis dieser Schule datiert aus dem Jahr 1970 und ist, trotz der beispielhaft gelungenen Zusammenschau der unterschiedlichen Perspektiven des Sujets, insgesamt als wenig problembewußt zu bewerten. 17 Im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe ragt die von Günter Meckenstock besorgte Einleitung der „Briefe bei Gelegenheit" heraus.18 Bis in die jüngste Zeit scheint das Thema „Schleiermacher und das AT" in der einschlägigen Literatur primär unter dem Gesichtspunkt bloßer formaler Vollständigkeit abgehandelt zu werden. Dabei tritt die inhärente Verbindung des Themas zum Zentrum evangelischer Theologie nicht ausreichend zutage.19 Gewissermaßen als Reaktion auf diese Tenren. - Einen wichtigen Beitrag zur historischen Einordnung von Schleiermachers „Briefen bei Gelegenheit" leistete 1935 ein Aufsatz von Ellen Littmann. " Vgl. Hirsch 1952, 490ff; 1954, 2 8 1 - 3 5 7 - M. Engelke hat in seiner Bonner Dissertation über Kierkegaards Einstellung zum AT auf die Wirkungsgeschichte der theologiegeschichtlichen Arbeiten Hirschs hingewiesen und gezeigt, wie nachhaltig Hirschs Sichtweisen die Rezeption der theologischen Entwürfe des 19. Jahrhunderts gerade hinsichtlich des AT bis heute prägen (vgl. dort 15-26. 101. 165). 14 Vgl. Kraeling, 5 9 - 6 7 ; Rupprecht, 1 5 7 - 1 6 3 ; H . - J . Kraus 1970, 2 1 0 - 2 2 0 ; ders. 1982, 170-173; siehe ferner Hoppe, M P T h 1965; Lucas, EvTh 1963. 15 Nowak 1986, 11; vgl. auch Herms 1974, 15. 16 Vgl. Birkner 1964, 48 f. 74 f. 100. ' 7 Vgl. Schütte 1970. Zur Kritik siehe Scholtz, W S A 1977, 3 5 4 Anm. 120.

Vgl. K G A 1,2, L X X V I I I - L X X X V . Vgl. bes. Offermann; Lange 1975; Schröder; Dierken 1996. Die Untersuchungen von AxtPiscalar, Quapp, Herms 1974, Beißer, P. Seifert, Junker, Frost, Curran und Osthövener übergehen 18

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denz, die Fragestellung theologisch abzuwerten, erschienen in den achtziger Jahren Aufsätze von Rudolf Smend und Horst-Dietrich Preuß, von denen besonders der letztere nachdrücklich das reformatorisch-theologische Gewicht des Themas anmahnte. 20 In den letzten Jahren hat das Thema „Schleiermacher und das AT" in Teilen der Forschung neuen Stellenwert gewonnen. Neben der Heidelberger Dissertation von Martin Treiber, die auf die ältere Literatur zum Thema nur unzureichend eingeht und Schleiermachers Praxis der Predigt alttestamentlicher Texte leider nicht auf dem Hintergrund seiner theologischen Prämissen befragt, hat besonders ein Aufsatz Johann Anselm Steigers über die vermeintliche Wandlung des AT-Verständnisses beim alten Schleiermacher wichtige Fragen aufgeworfen und zugleich an die methodologische Bedeutung einer verantwortungsvollen Quellenbearbeitung erinnert. Steiger führt v.a. den Entwicklungsaspekt in die Diskussion um Schleiermachers Bibelverständnis ein. Obwohl man ihm im Resultat kaum wird folgen können, gibt er doch für unsere Arbeit eine wertvolle perspektivische Orientierungshilfe.

1. Das Bild des Alten Testaments und des Judentums in den theologischen Arbeiten Schleiermachers 1.1. Die „Reden" 1.1.1. Der Befund im Text Schleiermachers erste populäre Schrift trägt den Titel: „Uber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern". Geschrieben hat sie der reformierte Prediger an der Charite zu Berlin 1799 im Alter von nicht ganz 31 Jahren.21 die Frage der Berücksichtigung des AT vollständig. Besonders mißlich erscheint, daß Geck in seiner Schleiermachers kirchenpolitischer Bedeutung geltenden, insgesamt akribisch gearbeiteten Studie die Haltung zur bürgerlichen Judenemanzipation ausklammert. Bereits Yorick Spiegels detaillierte Analyse des Zusammenhangs zwischen Schleiermachers Theologie und seinen gesellschaftspolitischen Positionen hatte 1968 die Frage der Stellung der Juden ausgespart. 20 Preuß; Smend 1984. Ganz im Sinne von Preuß macht auch Bayer 1985, 1015, den Abstand zwischen der Schleiermacherschen und der reformatorischen Theologie an der Stellung des AT fest. Kurt Nowak hat in den letzten zwei Jahrzehnten in mehreren Arbeiten (1984; 1986; 1995) wichtige interpretatorische Ansätze vor allem zum Frühwerk Schleiermachers vorgelegt, die auch das Problem der Judenemanzipation einbeziehen. - Eine Einordnung von Schleiermachers Einstellung zur Judenemanzipation in die Diskussion der frühromantischen Phase unternimmt ansatzweise Friedrich, 2 K G 1991, 338-343. 21 Vgl. aus der Fülle der einleitenden Literatur bes. Meckenstock, KGA 1,2, LIII-LXXVIII; Herms 1974, 168-173; Lange 1975, 22-35; F. H . R. Frank, 67-75; Kahler 1989, 47-64; Berkhof, 48-52; Beißer, 12-52; Otto; Hertel, 29-44; Hermann Fischer, TRE 30, 153-157; kritisch K. Barth 1978, 435-463.

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In der fünften und letzten Rede kommt Schleiermacher, nachdem er das Wesen und die Bedeutung von Religion überhaupt beschrieben hat, auf die existenten positiven Religionen zu sprechen. 22 Behandelt werden nur Judentum und Christentum, die beiden in Schleiermachers Umgebung vertretenen verfaßten Religionen. Er unterscheidet und beurteilt beide danach, auf welche spezifische Weise das Individuum seine Anschauung des Universums, der Ganzheit des Seins, gestalte. 23 Das religiöse Verhältnis des einzelnen zum Universum, so Schleiermachers Grundannahme, wird erzeugt in der anschauenden Selbsttätigkeit des Individuums, die wiederum durch dessen Partizipation am Ganzen des Kosmos angeregt ist; wesentlich ist das Individuum gegenüber dem Universum folglich in einem anschauenden Verhältnis. 24 Das individuelle Weltverhältnis legt sich in religiöse Traditionen und Sozialisationen aus. Diese können nur von dem sie begründenden Erlebnis her verstanden und bewertet werden, sind also nicht als äußere Gegebenheiten empirisch zu erfassen. 25 In welche der positiven Religionen das Individuum eintritt, beruht für Schleiermacher auf der ursprünglichen „Fundamental-Anschauung", die das religiöse Interesse weckt und alle religiösen Regungen bestimmt. Gemeinschaftlich tradierte positive Religion und individuelle Authentizität der Religion liegen ineinander. 26 Die traditionelle Gotteslehre und das kirchliche Axiom der übernatürlichen Offenbarung werden in die Theorie der persönlichen Religion aufgehoben. 27 In diesem Horizont charakterisiert Schleiermacher die zeitgenössischen Juden als Anhänger einer in Wahrheit längst abgestorbenen Religion. Diejenigen, welche gegenwärtig noch die Farbe des Judentums trügen, „sizen eigentlich klagend bei der unverweslichen Mumie und weinen über sein Hinscheiden und seine traurige Verlaßenschaft". Schleiermacher betont, er thematisiere den Judaismus keineswegs deshalb, „weil er etwa der Vorläufer des Christenthums wäre: ich haße in der Religion diese Art von historischen Beziehungen, ihre Nothwendigkeit ist eine weit höhere und ewige, und jedes Anfangen in ihr ist ursprünglich". 28 Vielmehr komme dem Judaismus in seiner negativen Entwicklung eine signifikante Bedeutung für das Wesen der Religion überhaupt zu. Er habe

22 Vgl. K G A 1,2, 2 9 3 - 3 2 6 ; dazu Hirsch 1952, 5 2 9 - 5 3 8 ; Hermann, R G G 3 5, 1428; Lange 1975, 27; Beißer, 4 4 - 4 7 ; Hertel, 135-144. 23 Vgl. bes. K G A 1,2, 2 9 9 - 3 0 8 ; Lange 1975, 30. 24 Vgl. bes. K G A 1,2, 2 1 3 - 2 2 0 (2. Rede); dazu Herms 1974, 181-183. 213; P. Seifert, bes. 7 5 - 7 7 2 5 Vgl. Hirsch 1952, 532; Herms 1974, 184. 26 Vgl. K G A 1,2, 305; Lange 1975, 28; Dantine, 200. - Beißer, 45, interpretiert Schleiermachers Position treffend: „Daß ich mich etwa gerade für diese Religion entscheide, entspringt meiner persönlichen Disposition im Zusammenhang mit dem geschichtlichen Augenblick, der mir gerade diese Möglichkeit anbietet." 2 7 Vgl. Osthövener, 9 - 1 1 ; Nowak 1986, 1 4 0 - 2 0 7 ; Berkhof, 4 6 f ; F. H. R. Frank, 7 5 - 7 9 ; Beißer, 4 6 f ; Hirsch 1952, 533; die kompakteste Zusammenfassung der Religionstheorie der Reden: Hirsch 1952, 5 1 1 - 5 1 3 . 28 Vgl. K G A 1,2, 314f.

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„ [ . . . ] einen so schönen kindlichen Charakter, und dieser ist so gänzlich verschüttet und das Ganze ein so merkwürdiges Beispiel von der Corruption und vom gänzlichen Verschwinden der Religion aus einer großen Masse, in der sie sich ehedem befand. Nehmt einmal alles Politische und, so Gott will, Moralische hinweg, wodurch er gemeiniglich charakterisiert wird; vergeßt das ganze Experiment, den Staat anzuknüpfen an die Religion; daß ich nicht sage, an die Kirche; vergeßt, daß das Judentum gewissermaßen zugleich ein Orden war, gegründet auf eine alte Familiengeschichte, aufrechterhalten durch die Priester; seht bloß auf das eigentlich Religiöse darin, wozu dies alles nicht gehört, und sagt mir, welches ist die überall hindurchschimmernde Idee des Universums ? Keine andere als die von einer allgemeinen unmittelbaren Vergeltung, von einer eigenen Reaction des Unendlichen gegen Jedes einzelne Endliche, das aus der Willkür hervorgeht, durch ein anderes Endliches, das nicht als aus der Willkür hervorgehend angesehen wird. So wird alles betrachtet, Entstehen und Vergehen, Glük und Unglük; selbst nur innerhalb der menschlichen Seele wechselt immer eine Äußerung der Freiheit und Willkür und eine unmittelbare Einwirkung der Gottheit; alle andern Eigenschaften Gottes, welche auch angeschaut werden, äußern sich nach dieser Regel und werden immer in der Beziehung auf diese gesehen; belohnend, strafend, züchtigend das einzelne im einzelnen, so wird die Gottheit durchaus vorgestellt. [...] Daher der sich überall durchschlingende Parallelismus, der keine zufällige Form ist, und das Ansehen des Dialogischen, welches in allem, was religiös ist, angetroffen wird. Die ganze Geschichte, so wie sie ein fortdauernder Wechsel zwischen diesem Reiz und dieser Gegenwirkung ist, wird sie vorgestellt als ein Gespräch zwischen Gott und den Menschen in Wort und Tat, und alles, was darin vereinigt ist, ist es nur durch die Gleichheit in dieser Behandlung. Daher die Heiligkeit der Tradition, in welcher der Zusammenhang dieses großen Gesprächs enthalten war und die Unmöglichkeit, zur Religion zu gelangen, als nur durch die Einweihung in diesen Zusammenhang." 2 9 Faßt m a n d e n Inhalt d e r P a s s a g e s y s t e m a t i s c h z u s a m m e n , s o ergibt sich folg e n d e C h a r a k t e r i s t i k d e s J u d a i s m u s : D i e G e s c h i c h t e d e s J u d e n t u m s ist f ü r S c h l e i e r m a c h e r d a s P a r a d e b e i s p i e l f ü r d e n N i e d e r g a n g einer R e l i g i o n . D e r V o r g a n g , d e n er mit d e n V o k a b e l n „ v e r s c h ü t t e t " u n d „ C o r r u p t i o n " k e n n z e i c h n e t , w i r d d a r a u f z u r ü c k g e f ü h r t , d a ß in d e r geschichtlichen K o n s t i t u t i o n d e s J u d e n t u m s d a s R e l i g i ö s e stets m i t d e m Politischen v e r m e n g t g e w e s e n sei. D i e relig i ö s e A n s c h a u u n g d e s U n i v e r s u m s sei ü b e r l a g e r t w o r d e n v o n p o l i t i s c h e n u n d m o r a l i s c h e n N o r m e n . D a s J u d e n t u m steht s o m i t b e i s p i e l h a f t f ü r die v o n S c h l e i e r m a c h e r a b g e l e h n t e V e r b i n d u n g v o n R e l i g i o n u n d politischer O r d n u n g . 3 0 D a s „eigentlich R e l i g i ö s e " läßt sich f ü r S c h l e i e r m a c h e r nicht in einer äußeren L e b e n s o r d n u n g f i n d e n , s o n d e r n einzig in d e r „ I d e e d e s U n i v e r s u m s " , a l s o d e r existentiellen H a l t u n g d e s E i n z e l n e n z u r G a n z h e i t d e s S e i n s . D i e k e n n z e i c h n e n d e n M o m e n t e d e s verfaßten J u d e n t u m s - regulative A b g r e n z u n g z u r A u ß e n w e l t ( Ä h n l i c h k e i t z u m „ O r d e n " ) , B e r u f u n g auf erlebte G e s c h i c h t e , S u k z e s s i o n in a d m i n i s t r a l e r w i e lehrhafter H i n s i c h t - k ö n n e n folglich nicht als n e u t r a l e N e b e n e r s c h e i n u n g e n a m religiösen P r o p r i u m g e s e h e n w e r d e n , s o n 2 9 Ebd. Vgl. durchgängig Hirsch 1952, 534f; Lange 1975, 30; Hoheisel, 9 f ; Dilthey, Leben 1/1, 419-422; Hertel, 141 f; Liebeschütz 1967, 96-98. 30 Vgl. Honecker 1968, 8 f.

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dern stellen Bedrohungen der eigentlichen Religion dar. Daß der „Judaismus" eine „todte Religion" sei, folgt notwendig aus seiner Affinität zum PolitischMoralischen. 31 Diese gefährliche Affinität findet Schleiermacher indes in der dem Judentum eigenen religiösen Anschauung konstituiert. Man preßt die Aussagen Schleiermachers nicht, wenn man die Kennzeichnung der jüdisch-religiösen Anschauung des Universums als „kindlich" durch „minder entwickelt" und „unmündig" interpretiert. Die Beurteilung des Judentums hat ihr positives Komplement in der des Christentums als „herrlicher, erhabener, der erwachsenen Menschheit würdiger". 3 2 „Kindlich" enthält somit ein pejoratives, dem Ideal der religiös aktiven Persönlichkeit zuwiderlaufendes Moment. Schleiermacher beschreibt die religiöse Grundvorstellung des Judentums als „Vergeltung", als Erwartung der „Reaction des Unendlichen gegen Jedes einzelne Endliche". 3 3 D a s Individuum erlebe Gott als ein Gegenüber, mit dem eine Versöhnung und Vereinigung nicht möglich sei. Das religiöse Erleben strukturiere sich allein als Tun-ErgehensZusammenhang. Indem das Absolute dem religiösen Empfinden stets „belohnend, strafend, züchtigend" erscheine, komme es nicht zur Beheimatung des Menschen im Kosmos, zu seiner Synthese mit dem Universum. Der jüdischreligiöse Mensch stehe dem Universum gegenüber. Die individuelle Welt- und Gottesrelation im Judentum sei „dialogisch", also dem Wechselspiel von „Reiz und Gegenwirkung" verhaftet. Mithin erscheint sie ungeeignet dazu, die Identität von Individuum und Universum vermittelnd herzustellen, wie es die „Reden" als Bestimmung und Erfüllung von Religion überhaupt verstehen. 34 Der jüdische Mensch benötige zur Kommunikation mit der in seiner religiösen Anschauung konstituierten Gottheit die ethische Situation, die ihn zur Entscheidung herausfordert, um die göttliche Reaktion erfahrbar zu machen. Dies binde das Judentum an konkrete Geschichte, während die religiöse Anschauung in Schleiermachers Idealvorstellung „universal", also losgelöst ist von distinkten geschichtlichen Kontexten. Die eigentliche jüdische Religion sei deshalb abgestorben in dem Moment, als die biblisch erzählte Geschichte endete. Unabhängig von Geschichtstatsachen ist das Judentum in Schleiermachers Augen aber nicht existenzfähig. Für die Unfähigkeit der jüdisch-religiösen Anschauungsweise, Mensch und Gottheit zusammenzuführen, steht das geometrische Sinnbild der Parallelen. Der „Parallelismus" zwischen zwei unvereinbaren Größen zieht sich für

31 Vgl. Lucas, EvTh 1963, 592 f. - Waubke, 145, charakterisiert Schleiermachers in der fünften Rede ausgedrückte Sicht des Judentums treffend als die „eines substanzlosen Undinges". 32 Vgl. K G A 1,2, 316. 33 Vgl. dazu N o w a k 1986, 202. 34 D e m Kontext nach ist es also durchaus nicht positiv gemeint, wenn Schleiermacher „das Ansehen des Dialogischen" als Kennzeichen des Judaismus hervorhebt (vgl. Mehlhausen, EvTh 1994, 29 Anm. 17). D a z u Brumlik, 149: „Hier wird paradoxerweise avant la lettre einer dialogischen, kommunikationstheoretischen Fassung des Glaubens jeglicher Boden entzogen. Die eigentümliche Gleichsetzung von ,Vergeltung' und ,Dialog' stellt nicht nur den Schöpfungsglauben in Frage, sondern auch die Personalität Gottes."

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Schleiermacher durch die jüdische Gedankenwelt. Da die Polarität zwischen Individuum und Universum ein ethisches Regularium benötige, gewinne die Tradition ein normatives Gewicht. Die damit verbundene soziale Abgrenzung diene zugleich der inneren Selbstvergewisserung und der Definition nach außen. Der der jüdisch-religiösen Anschauung immanente legalistische Zug ist in Schleiermachers Augen für eine Religion selbstzerstörerisch. Das nicht zufällige, sondern aus der jüdischen Grundanschauung resultierende „Experiment" der Synthese von Religion und politischer Ordnung habe die authentische Religiosität zum Verschwinden bringen müssen. Allerdings sicherte seine religiös-politische Mischstruktur dem Judentum auch sein äußerliches Uberleben. Die politisch-moralische Imprägnierung habe das Judentum gerade aufgrund seiner Rigidität als bloße Hülle - „mumifiziert" - über viele Generationen tradiert, obwohl der religiöse Kern seit dem Ende der biblisch erzählten Geschichte nicht mehr vorhanden sei: „Die politische Verbindung, welche an sie angeknüpft war, schleppte noch länger ein sieches Dasein, und ihr Außeres hat sich weit später erhalten, die unangenehme E r scheinung einer mechanischen Bewegung, nachdem Leben und Geist längst gewichen ist. 1 ' 3 5

Schleiermacher folgert aus der „kindlichen", mithin essentiellen religiösen „Unmündigkeit" des Judentums seine mangelnde Kompetenz im Umgang mit Weltphänomenen außerhalb des engen eigenen geschichtlichen Raumes. „Je weiter die Bekenner dieser Religion vorrüken auf den Schauplaz der Welt, unter die Verbindung mit mehreren Völkern", desto mehr müsse sich die Aporie der jüdischen religiösen Eigenart erweisen.36 Indem die religiöse Anschauung des Judentums nach geschichtlich-politischer Verifikation verlange, falsifiziere sie sich selbst. Einen Fluchtversuch aus diesem Konflikt zwischen der religiös destruktiven Bindung an geschichtliche Fakten und der kanonisierten geschichtlichen Erinnerung erkennt Schleiermacher in der Prophetie und im Messiasglauben. Die darin gespiegelte Erwartungshaltung, für Schleiermacher Ausdruck partikularistischer Weltsicht, da „nur auf einen kleinen Schauplatz ohne Verwicklungen berechnet", trage kindliche, religiös unentwickelte Züge. Der Messias, in dem man sich die Unterwerfung der disparaten Erscheinungen der Völkerwelt unter das Gesetz erhofft habe, repräsentiere die letzte Aufgipfelung der nomistischen Religiosität. 37 Zur Illustration des Gegensatzes von Judentum und Christentum bietet Schleiermacher eine Paraphrase von Joh 9,2 f, in der er auffallenderweise von „Christus" sprechen kann, ohne die Beziehung zu eben diesem jüdischen Messiasglauben herzustellen:

KGA 1,2, 316. Vgl. ebd. 3? Vgl. KGA 1,2, 315f.

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„Als die Jünger einmal Christum fragten: Wer hat gesündiget, diese oder ihre Väter, und er ihnen antwortete: Meint Ihr, daß diese m e h r gesündigt haben als Andere? Das war der religiöse Geist des Judenthums in seiner schneidendsten Gestalt, und das war seine Polemik dagegen." 3 8

Der „Stifter" des Christentums steht für Schleiermacher von Anfang an nicht in Beziehung zu der jüdisch-religiösen Gedankenwelt, aus der seine Bezeichnung entnommen ist. Die die Christologie der „Reden" prägende Mittlervorstellung wird nicht biblisch, sondern aus der vorausgesetzten religiösen Konzeption hergeleitet. 39 „Christus" ist darum der polemische Uberwinder des Judentums und ihm nur äußerlich verbunden. 40 Neben dieser Charakteristik des Judaismus nimmt sich das Christentum vorteilhaft aus, da es die wirkliche Vermittlung aller Existenz mit der „Gottheit" leiste und - im Unterschied zur politischen Verflechtung des Judaismus auf die rein religiöse Anschauung des Universums ausgerichtet sei. 41 Die Überlegenheit des Christentums zeige sich daran, daß es „jede falsche Moral, jede schlechte Religion, jede unglükliche Vermischung von beiden" entlarve. Seine erste geschichtliche Leistung, noch vor der Uberwindung des heidnischen Kultus, liege in der Zerstörung der politisch-nomistisch bestimmten Zukunftserwartungen des Judentums. Bei seinen „nächsten Brüder[n] und Zeitgenossen" habe das Christentum es als „irreligiös und gottlos" erwiesen, „eine andere Wiederherstellung zu wünschen oder zu erwarten als die zur beßeren Religion, zur höheren Ansicht der Dinge und zum ewigen Leben in Gott". 4 2 Religiöses Existenzgefühl, wie es im Christentum ganzheitlich und idealtypisch repräsentiert ist, und jüdische Hoffnung auf eine von Gott in ihren Realia erneuerte Welt schließen sich nicht nur aus, sondern stehen mit sachlicher Notwendigkeit konträr zueinander. 43 KGA 1,2, 314 f. Vgl. etwa KGA 1,2, 232 (2. Rede); Quapp, 190f Anm. 176; Nowak 1986, 206f. - Lange 1975, 30, weist zu Recht auf den „merkwürdig unwirklichen und schemenhaften Eindruck" hin, den der Christus der „Reden" erwecke. 40 In der Formulierung: „[...] rede ich nicht deswegen von ihm, weil er etwa der Vorläufer des Christenthums wäre" (KGA 1,2, 314), die zumindest die Auslegung als Irrealis ermöglicht, bestreitet Schleiermacher der geschichtlichen Verbindung des christlichen Glaubens mit dem Judaismus jede theologische Relevanz; vgl. dazu Lucas, EvTh 1963, 592. 41 Vgl. Hertel, 142. Zu der 1799 von Schleiermacher formulierten Ablehnung jeder Konversion vom Judentum zum Christentum siehe unten 116-118. 42 Vgl. KGA 1,2, 318. 43 Gegen Hirsch 1952, 536, ist zu betonen, daß Schleiermacher von der Zerstörung der Messiashoffnung als der letzten lebendigen Erwartung des Judentums spricht und nicht von „Vernichtung der jüdischen Religion in der letzten Gestalt, die sie ihrer Grundanschauung vom vergeltenden Gesetzesgott gegeben hatte, in der Messiasidee". Die religiöse Koexistenz von Judentum und Christentum ist für Schleiermacher sehr wohl historische Gegebenheit. Allerdings bestreitet er dem „Judaismus" die Qualität der echten, Mensch und Universum vermittelnden Religion (vgl. KGA 1,2, 314). Die für den Ansatz der „Reden" zentrale Idee der Positivität der lebendigen Religion wird von Schleiermacher nicht auf das Judentum angewandt; die charakteristische „Fundamentalanschauung" des Göttlichen im ethischen „Dialog" erscheint nicht als ein Phänomen eigener Qualität, sondern als ein Negatives und im Christentum Überholtes. Somit stellt das Judentum keine Religions38

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1.1.2.

Die Genese der frühen Haltung Schleiermachers z u m J u d e n t u m

1.1.2.1. Der Bruch mit der herrnhutischen Herkunft Die Theologie der „Reden" ist als Fortsetzung der enthusiastisch geprägten herrnhutischen Christus-Frömmigkeit über den Bruch mit der protestantischorthodoxen Lehre hinweg verstanden worden. 44 Tatsächlich blieb bei Schleiermacher die Berufung auf „Christus" virulent. In der zitierten Passage über den „Judaismus" drückte sich das darin besonders auffällig aus, daß Christus als kritischer Gegenpol zur jüdischen Position zitiert wurde. Der Abstand zur Lehre der Brüdergemeine, der bei Schleiermacher eingetreten war, zeigte sich darin, daß er Jesus als völligen Kontrast zur Uberlieferung des Judentums hervorhob. Zinzendorf hingegen, der schon als Jugendlicher Speners Gedanken über die endzeitliche Bekehrung ganz Israels aufgenommen und selbständig weitergeführt hatte 45 , formulierte 1742, übereinstimmend mit der Reformation und dem Lehrkonsens der protestantischen Orthodoxie, für die Haltung seiner Gemeinschaft zum Judentum, „dass Moses und die Propheten von keinem andern G O t t gewusst haben, als von dem, der Mensch worden ist, und den ihre Väter ans H o l z gehangen haben: H ö r e , Israel! du hast keinen G O t t als Jehovah, deinen G o t t ; w o ist ein Volk, dessen G O t t hingegangen ist, J E s u s zu w e r d e n ? " 4 6

Indem Schleiermacher seinen Ansatzpunkt in die religiöse Anschauung des Menschen legte, schob er die in der Theologie der Brüdergemeine im Gottesbegriff festgehaltene Verbindung von Judentum und Christentum zur Seite. 47 In seinem Ringen mit den eigenen religiösen Empfindungen, die ihm mit der überkommenen protestantisch-theologischen Lehre nicht vereinbar schienen, findet sich eine Spitze gegen die dogmatische Wertschätzung des AT, durch die formation dar, die in ihrer Eigenart zu respektieren ist. Schleiermacher reduziert seinen weitreichenden Gedanken, wonach das Religiöse weder aus moralischen noch aus metaphysischen Prämissen abgeleitet werden kann, zum Hilfsargument im Rahmen einer Christentumsapologie, die letztlich der aufklärerischen Abstufung der unterschiedlichen Religionen verhaftet bleibt. 44 Vgl. Herms 1974, 27-35; Dilthey, Leben 1/1, 28-36; Kantzenbach 1969, 102. 4 5 Vgl. Beyreuther, Jud 1963, 205-222; Bein II, 109-112; Schräder 1988, 91 f; Maurer 1953, 57-59; de le Roi I, 359f; bei Spener: 41-48 (siehe unten 304f Anm. 830). 46 Fabricius, 705. Vgl. auch Freeman, UnFr 1981, 107 110. - Die Herrnhuter Brudergemeine zeigte insgesamt einen starken „philosemitischen" Zug. Sie nahm die Fürbitte für die Juden in ihr regelmäßiges Kirchengebet auf, feierte am Versöhnungstag besondere Gottesdienste zur Erinnerung des Israel-Bundes und betreute konvertierte Juden diakonisch (siehe dazu F.-H. Philipp, Emuna 1972, bes. 21-23; ferner Schräder 1988, 88-94; Bruer, 397f Anm. 13; de le Roi I, 360-372). 47 Allerdings knüpft Schleiermacher mit seiner antithetischen Unterscheidung der jüdischen und der christlichen Gottesanschauung dennoch an einer Linie der Theologie Zinzendorfs an. Dieser identifizierte unter Einfluß der Mystik Jakob Böhmes den zornigen Gott des Gesetzes mit der Gottheit aller Religionen und stellte den Gott des Christentums, der „wahren Religion", dazu in Kontrast. Diese Argumentation verzichtete freilich auf jede moralische Diskreditierung des Judentums (vgl. Beyreuther, Jud 1963, 215) und bewegte sich bibelhermeneutisch innerhalb des einen Kanons, da Christus in dialektischer Beziehung zur alttestamentlichen Geschichte gesehen wurde. Vgl. Deghaye, UnFr 1983, 62. Zu Zinzendorfs Einstellung gegenüber dem nicht christusgläubigen Judentum seiner Zeit vgl. Beyreuther 1962, 265f; H. Schneider, UnFr 1985, 70.

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das Christentum an die engen Grenzen des Judentums gebunden werde. Erst der Einfluß der klassischen Philosophie habe die universale Geltung der christlichen Religion begründet. 4 8 Für den jungen Theologen Schleiermacher setzte Christi Erlöserfunktion seine absolute Neuheit gegenüber der religiösen U m welt voraus. Christi Auftreten konnte daher nicht in einer solchen offenbarungsgeschichtlichen Kontinuität wurzeln, wie sie der innere Zusammenhang des kirchlichen Kanons beider Testamente dokumentiert. Die Christologie als Rede vom „Mittler" wurde vom religiösen Erleben und dessen subjektiver Gewißheit her reformuliert, wobei der Gottesbegriff für Schleiermacher zunächst zum Adiaphoron wurde. 4 9 Die herrnhutische Christusfrömmigkeit Schleiermachers schied sich von der ihr ursprünglich zugrundeliegenden Theologie. Schleiermacher war es möglich, sich in der Absage an die überkommene Satisfaktions- und Versöhnungslehre und den hier involvierten biblisch-reformatorischen Konnex von Gotteslehre und Christologie die enthusiastische Beziehung zu Christus zu bewahren. 5 0 Die herrnhutische Prägung mit ihrer charakteristischen Verbindung orthodoxer Sünden- und Gnadenlehre mit einer psychologisierenden Frömmigkeitspraxis zeigte sich „anschlußfähig" für religiöse Momente des romantischen Denkens, die Schleiermacher in seine Christologie hineintrug. 51 Hinsichtlich der Sünden- und Erlösungslehre und im Schriftverständnis kehrte Schleiermacher Zinzendorf radikal den Rücken. Gegenüber der theologischen Praxis der Brüdergemeine muß dennoch kritisch bedacht werden, inwiefern hier - gegen den nominellen Bekenntnisstand - ein „Christus"-Erlebnis offeriert wurde, das das Gotteshandeln auf das Individuum und seinen „Heiligungskampf" engführte und überindividuelle theologische Aussagen zurückstellte. 52

Vgl. K G A V,l, 153 (Brief vom 28. 9. 1789); Preuß, 128f; Q u a p p , 84; F. H . R. Frank, 60. Vgl. Hirsch 1952, 498: „Keine einzige Aussage über Gott und sein Verhältnis zu uns wird über ihren unmittelbaren religiös-sittlichen Bezug hinausgeführt." N o w a k 1986, 177, bemerkt, „daß der Redner nicht einzusehen vermochte, warum in der Schau des Einen und Allen überhaupt eine Gottesvorstellung notwendig sei. Das religiöse Erleben fand im Anschauen des Universums vollauf Genüge." - Timm 1978, 27-32, charakterisiert Schleiermachers Haltung zum Gottesbegriff als Transzendierung des von Kant und Fichte aufgeworfenen Atheismusstreites in der Devise: „Gott ist tot - es lebe die Religion!" Vgl. auch a a O , 39; ferner Q u a p p , 139; Trowitzsch, Z T h K 1980; K. Barth 1978, 447; F. Wagner, T R E 28, 528. 50 Vgl. Herms 1974, bes. 31 f; N o w a k 1986, 178-181. - Zur Absage an die reformatorische Satisfaktionslehre siehe den Brief an den Vater vom 21. Januar 1787 ( K G A V,l, 50; dazu Hermann, R G G 3 5, 1422). 51 Vgl. J . Frank, 479; Herms 1974,23-27; Preuß, 154; Hertel, 38f; Wendland, 180f; F. H . R. Frank, 61 f; Dilthey, Leben II/2, 4 8 6 f ; N o w a k 1986, 80 Anm. 96. 151; kritisch Frost, 87f. - Honecker 1968, 21, weist für die spätere, betont auf die Gemeinde bezogene Ekklesiologie Schleiermachers auf herrnhutische Wurzeln hin. Siehe dazu auch W. Ulimann, 341. 52 Vgl. Herms 1974, 25; Hirsch 1952, 496. - Beyreuther 1962, 249, formuliert über Zinzendorf zugespitzt, „daß der Graf im Grund nur ein Thema kannte: Gott und die eigene Seele"; vgl. auch Kantzenbach 1966, 199-209. Q u a p p , 60 Anm. 172, beschreibt den herrnhutischen „Pietismus" undifferenziert als „Mystik + Bibel", wobei „diese Mystik [. . .] durchaus auch ohne die biblische Bindung lebensfähig" gewesen sei. 48

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1.1.2.2. Kant Schleiermachers Haltung zum AT läßt sich kaum zwingend auf einen philosophischen Einfluß oder auf seinen theologischen Bruch mit der traditionellen Satisfaktionslehre zurückführen. Mehrere Anklänge sind nicht zu ignorieren.53 An vorderster Stelle ist die 1794 in zweiter Auflage erschienene Religionsschrift Immanuel Kants (1724-1804) zu nennen. 54 Kant problematisierte darin die das Judentum kennzeichnende Verbindung von Religion und Politik in einer Weise, die auf die zeitgenössische Diskussion dominante Wirkung ausübte.55 Er ging so weit, daß er dem „jüdischen Glauben" den Charakter des Religiösen überhaupt bestritt: „Der jüdische Glaube ist, seiner ursprünglichen Einrichtung nach, ein Inbegriff bloß statuarischer Gesetze, auf welchem eine Staatsverfassung gegründet war; denn welche moralische Zusätze entweder damals schon, oder auch in der Folge ihm angehängt worden sind, die sind schlechterdings nicht zum Judentum, als einem solchen, gehörig. Das letztere ist eigentlich gar keine Religion, sondern bloß Vereinigung einer Menge Menschen, die, da sie zu einem besondern Stamm gehörten, sich zu einem gemeinen Wesen unter bloß politischen Gesetzen, mithin nicht zu einer Kirche formten; vielmehr sollte es ein bloß weltlicher Staat sein, so daß, wenn dieser etwa durch widrige Zufälle zerrissen worden, ihm noch immer der (wesentlich zu ihm gehörige) politische Glaube übrig bliebe, ihn (bei Ankunft des Messias) wohl einmal wiederherzustellen." 5 6

Das ganze Gesetzeskorpus des AT ziele nur auf äußerliche Befolgung ab und betreffe das Gewissen gar nicht. Damit unterscheide sich das Judentum aber vom Christentum gerade an dessen Hauptmerkmal, das Kant im moralischen Impetus sieht. Alle das Gesetz flankierenden Sanktionen lägen im Judentum innerhalb der raumzeitlichen Geschichte, so daß die moralisch definierte Jenseitsidee, für Kant Hauptkriterium für „Religionsglauben", entfalle.57 Die Vorstellung der exklusiven Gottesbeziehung eines einzigen Volkes steht Kants Kirchenbegriff diametral entgegen. Die Neigung des Judentums, sich durch „zum Teil peinliche" Toraobservanz von den Völkern abzusondern, habe ihm den Vorwurf des Menschenhasses eingetragen, wie Kant ohne Distanzierung darlegt.58 Das orthodoxe Axiom der präexistent erwählten einen Kirche lehnt er somit ab und postuliert, die Kirchengeschichte könne erst mit dem historischen Anfang des Christentums einsetzen.59 Den engen geschichtlichen Zu-

5 3 D e m Hinweis von Hornig 1985, 890, wonach sich Schleiermachers anfängliches Bibelverständnis im Einklang weiß mit der zeitgenössischen Hauptströmung in Philosophie und Exegese, ist beizupflichten. Jedoch können, gerade im Blick auf die Bewertung des AT, die Einflüsse konkreter benannt werden. Vgl. auch Quapp, 311; Birkner 1974, bes. 12. 5 4 Vgl. dazu Graupe, 147; Kraeling, 5 1 - 5 4 ; ferner Bruer, 1 8 0 - 1 8 5 ; Brumlik, 2 7 - 7 4 ; Μ . A . Meyer, 179 f. 5 5 Vgl. Smend 1958, 8 2 ; Liebeschütz 1967, 1 6 - 2 2 ; W. H . Schmidt 1995, 396f. 5 6 Die Religion, 789f. 5 7 Vgl. Die Religion, 791; dazu Perlitt, 28 f. 58 Vgl. Die Religion, 858.

" Vgl. Die Religion, 792 f.

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sammenhang zwischen Synagoge und früher Kirche erklärt Kant mit einer religiösen Beeinflussung des genuin areligiösen Judentums durch „viel fremde (griechische) Weisheit". 60 Schleiermacher weist Kants moralisches Religionsparadigma ab. 61 Gleichwohl kann er die negative Sicht des Judentums weitgehend übernehmen. Der Vorwurf der religiösen Defizienz wird nun jedoch nicht mehr moralisch, sondern ästhetisch begründet. Indem nicht mehr Regel und Sanktion, sondern die religiös-individuelle Anschauung den Vergleichsmaßstab für Judentum und Christentum bildet, kann dem Judentum der Charakter der „Religion" nicht mehr rundheraus abgesprochen werden. Schleiermachers ästhetisches Urteil lautet auf Vermischtheit und Unreinheit. Auffällig ist, daß die politische Herleitung des Messiasgedankens, den auch Kant nicht mit Jesus Christus in Zusammenhang bringt, dabei im wesentlichen erhalten bleibt. Schleiermacher modifiziert, wohl im Anschluß an Herder 6 2 , Kants Argumentation aber dahingehend, daß er die Messiaserwartung nicht als dem Judentum ursprünglich eigen sieht, sondern von einer Reaktion auf das Scheitern des Grundsystems ausgeht. Der kritische Gesichtspunkt ist nicht mehr das moralische Handeln, sondern die Authentizität der Anschauung. 1.1.2.3. Lessing und Herder Eine nachweisbare enge Beziehung besteht zwischen dem jungen Schleiermacher und der Schrift „Die Erziehung des Menschengeschlechts" von Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) aus den Jahren 1777/1780. 63 Diese ist bis in die Terminologie der Auseinandersetzung mit dem „Judaismus" hinein wirksam. Bezeichnend ist das Begriffspaar „kindlich / erwachsen", dessen Herkunft von Lessing am wahrscheinlichsten ist. 64 Für die Bewertung des AT läßt sich zunächst verzeichnen, daß Lessing wie Schleiermacher (und auch Kant) hebräische Bibel und Judentum schlicht identifiziert. Weder wird das biblische Israel von dem Israel, das neben der Kirche existiert, unterschieden, noch kann das AT als „Buch der Kirche" gesehen werden. 6 5 Allerdings bestehen in der Begründung und Ausführung dieses Ansatzes gravierende Unterschiede. Schleiermacher weist Lessings konstruktive religions- und geschichtsphilosophische Rezeption des AT und des Judentums ab, indem er die Vorläuferrolle

60

Vgl. Die Religion, 793; siehe auch 832 f. Vgl. Lange 1975, 26f; Herms 1974, 90f. 100-112; Kantzenbach 1969, 55-60; W. Philipp, Protestantismus, LXXII; Kahler 1989, 52; Macquarrie, TRE 17, 19. 62 Siehe unten 46 f. 63 Lessings Erziehungsschrift ist im Katalog von Schleiermachers nachgelassener Bibliothek nicht enthalten (vgl. Meckenstock, Bibliothek). Jedoch ist eine frühe Aufsatzübung Schleiermachers mit dem Titel „Wer soll die Menschen erziehen?" überliefert, die thematisch und inhaltlich eine Bekanntschaft mit Lessings Abhandlung nahelegt (vgl. Nowak 1986, 229 Anm. 74). Im Berliner Freundeskreis sind die „Reden" offensichtlich auch in Zusammenhang mit der Lessingschen Geschichtsschau rezipiert worden (vgl. Nowak 1986, 209f); dazu Quapp, 177-185. 64 Vgl. Quapp, 180-185; Schnur, 41; Preuß, 150f. 65 Vgl. Lessing, Erziehung, § 27 61

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des Judentums für die Kirche auf Grund einer „höheren und ewigen N o t w e n digkeit" aller Religion für belanglos erklärt. 66 Für Lessing steht Religion unter einer moralisch-pädagogischen Zweckvorgabe. Alle Offenbarungen haben in seinem aufklärerischen Konzept die Funktion von pädagogischen Veranstaltungen Gottes, die der Menschheit eingängiger und schneller das vermitteln sollen, was an sich auch auf dem reinen Vernunftwege erschließbar ist. 67 Innerhalb seines von rationalistischem Optimismus geprägten Systems kann Lessing aber die innere Kontinuität beider biblischen Testamente wahrnehmen und mit einer Deutung versehen, die dieser Kontinuität im Fortschritt der Menschheit einen zentralen Platz zuerkennt. Das Judentum und vorzüglich das biblische Gesetz nimmt eine solch fundamentale pädagogisch-progredierende Stellung ein, daß Lessing sogar den Spitzensatz formulieren kann, die Juden seien „Erzieher des Menschengeschlechts. Das wurden Juden, das konnten nur Juden werden, nur Männer aus einem so erzogenen Volke" 68 . Zwar sei Christus „ein beßrer Pädagog" als Mose und das N T das gegenüber dem AT fortgeschrittene „Elementarbuch" 69 ; doch bildet diese Klimax einen Zusammenhang im Rahmen der ,,nämliche[n] Ökonomie des nämlichen Gottes", in der das Frühere vom Späteren bewahrheitet wird. 70 Judentum und Christentum sieht Lessing zukünftig in der „Zeit eines neuen ewigen Evangeliums", also durch die sittliche Vervollkommnung der Menschheit, überwunden. 71 So möchte Lessing zwischen „sinnlicher Jude" und „geistiger Christ" unterscheiden. 72 Das nachchristliche Judentum, gewissermaßen ein Irrläufer der göttlichen Pädagogik, unterzieht er dabei einer ungünstigen Bewertung. 73 Der zusammenhängende Entwicklungsgedanke läßt aber den66 Vgl. KGA 1,2, 314. Zu Lessings Einstellung zum Judentum, insbesondere in der Frage der Emanzipation, vgl. Guthke, WSA 1977; Hoffmann, 2 4 f ; Perlitt, 11-14; ferner Bruer, 61-63. 67 Vgl. Erziehung, § § 1 - 4 ; dazu H.-J. Kraus 1970, 199-201; 1982, 123-127; Aner, 349f. 355f u.ö. 68 Erziehung, § 18. Der hohe Respekt Lessings vor der alttestamentlichen Geschichte und dem Mosegesetz kommt besonders in §§ 32 f zum Ausdruck, wo er die Toraobservanz, die allein auf der göttlichen Herkunft der Gebote und nicht auf versprochener Belohnung beruhe, einen „heroischen Gehorsam" nennt. Die Erwählung Israels verfolgt für Lessing einen pädagogischen Zweck an der gesamten Menschheit. Nach §§ 8-11 liegt die Erwählung Israels gerade in seinem geringen geistigen, kulturellen und religiösen Standard begründet, den die Gefangenschaft in Ägypten verursacht habe. An Israel als dem Extrembeispiel sei so die Erziehung aller Menschen vorgebildet und eingeleitet worden (vgl. § 18). Dem umfassend „kindlichen" Status dieses Volkes entspreche auch die Struktur der Belohnungen und Strafen des Gesetzes (vgl. § 16). Das AT bilde daher das erste „Elementarbuch" der pädagogischen Entwicklung der Menschheit, geistiger Ungeübtheit angemessen (vgl. §§ 26f). Vgl. Reventlow, EvTh 1965, 4 4 2 - 4 4 7 ; zur Rezeption der Erziehungsschrift Lessings im aufklärerischen Judentum: M. Graetz, WSA 1977, 275-281. - Moses Mendelssohn, der „Kopf" des aufgeklärten Judentums im späten 18. Jahrhundert, trat Lessings rationalistischer Inanspruchnahme des Judentums entgegen; vgl. Jerusalem, 413f.

Vgl. Erziehung, §§ 53. 64. Vgl. § 88. ι Vgl. § 86. 72 Vgl. § 9 3 . 73 Das rabbinische Judentum wird in §§ 51 f als mit einem „kleinlichen, schiefen, spitzfindigen Verstand" begabt charakterisiert, „geheimnisreich, abergläubisch, voll Verachtung gegen alles Faßliche und Leichte". Vgl. dazu M. Graetz, WSA 1977, 274f. 69 70

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noch eine Entgegensetzung beider Religionen nicht zu. Das AT wird der religionsgeschichtlichen Nivellierung entzogen, dabei aber für ein aufklärerisches Erziehungs- und Entwicklungskonzept instrumentalisiert. 74 Schleiermacher übernimmt die wertende Unterscheidung zwischen „sinnlich" und „geistig"; für ihn stellt dieses Begriffspaar die benötigte ästhetische Transformation der von Kant geprägten ethischen Antithese „statuarisch / moralisch" dar. Negiert wird aber der für Lessing bedeutsame Entwicklungszusammenhang. Dadurch erhält die Konstellation von Judentum und Christentum den Charakter des Gegensatzes. Lessings Kritik am nachbiblischen Judentum wird bei Schleiermacher zum Verdikt der „todten Religion" gesteigert. In seiner Absage an das rationalistische Modell einer fortschreitenden pädagogischen Ökonomie Gottes läßt Schleiermacher - neben Verbindungen zur A n schauungslehre Fichtes75 - Anleihen bei Johann Gottfried Herder (1744-1803) erkennen. 76 Dieser hatte 1769 die These aufgestellt, die Schriften der hebräischen Bibel seien als „heilige, uralte, Poetische, Nationalurkunden des Orients" zu lesen. 77 Die religiösen Dokumente wurden damit zu Objektivierungen religiöser Anschauungen und Lebensweisen, die für die jeweiligen Völker als signifikant gedacht waren. Statt auf Lessings rationalistisch konstruierten Zusammenhang der Religionen hebt Herder, von einem metaphysischen Organismusgedanken geprägt, auf die nationale „Eigentümlichkeit", den „Nationalgeist", ab. 78 Nationale Identität avanciert, unter Abschwächung aller universalistisch-eschatologischen Vorstellungen der religiösen Uberlieferungen, zur religiösen Größe. 7 9 Die biblische Uberlieferung enthält wie alle religiöse Tradition originäre „mythologische Nationalgesänge vom Ursprung ihrer ältesten Merkwürdigkeiten". 80 74 Vgl. M. Graetz, WSA 1977, 277 - Reventlow, EvTh 1965, 446f, erkennt in der Funktionalisierung der Erwählung Israels für die göttliche Pädagogik bei Lessing „deuterojesajanische Motive". Dagegen merkt H.-J. Kraus 1970, 201, kritisch an, Lessing vertausche die biblische Heilsgeschichte gegen eine „Aufklärungs-Okonomie". " Vgl. Hirsch 1952, 502. 505; Janke, TRE 11, 163f. 166f; P. Seifert, 70-75. Kritischer beurteilen den Einfluß Fichtes auf Schleiermacher: Frost, 95-98; Herms 1974, 252 f. 76 Die Bekanntschaft mit Herders exegetischen Maximen machte Schleiermacher 1785-1787 durch seinen Lehrer Baumeister am herrnhutischen theologischen Seminar in Barby; vgl. Preuß, 128, mit weiteren Literaturverweisen. - Zu Herders Bedeutung für die Exegese des AT siehe H.-J. Kraus 1982, 114-132; Perlitt, 15-24; zu seiner Wirkung auf die zeitgenössische Sicht des Judentums: Bein II, 93-95; mit anderer Tendenz Liebeschütz 196^ 2 3 f ; Bruer, 178-180. 77 Vgl. Uber die ersten Urkunden, 30 (Orthographie und Interpunktion im Original). 78 Herder bestimmt die national-völkische Situation des Menschen als in seiner Existenz unmittelbar gesetzt und daher auch seiner religiösen Aktivität normativ vorgeordnet. Vgl. Uber die ersten Urkunden, 13: „Natürlich, daß diese Theologische Traditionen auch National sein mußten, als etwas in der Welt. Jeder sprach aus dem Munde seiner Väter: er sähe nach der Welt, die um ihn war, er machte sich Aufschlüsse, von Dingen, die ihm als die merkwürdigsten vorlagen, und nach der Art, wie sie seinem Klima, seiner Nation, seiner bisherigen Leitung nach am besten konnten erkläret werden: er schloß nach seinem Interesse und nach der Denkart, Sprache und Sitten seines Volks." Dazu Tilgner 1966, 18-28; Dantine, 215; Emmerich 1968, 97f; Kantzenbach 1969, 43-50; Hoffmann, 19f. 2 3 f ; H.-J. Kraus 1970, 203-207; Perlitt, 18f. 79 Vgl. Kaiser, 175. 229f; Schulz 1977, 114. so Vgl. Über die ersten Urkunden, 15f. Zu Herder: Herms, TRE 15, 70-95; Redeker, R G G ' 3, 235-239; eine theologische Problematisierung Herders unternimmt: W. Schweitzer, W u D 1967.

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Schleiermachers Absage an eine „natürliche Religion" will ganz im Sinne Herders dem Eigenrecht der je verschiedenen geschichtlichen Religionen Raum schaffen.81 Die Wahrheit aller Religionen fällt für Herder zusammen mit ihrem „Ursprung", also dem initiierenden Lebens- und Bewußtseinsmoment, das wiederum in der national vorgeprägten rezeptiven Eigentümlichkeit der religiösen Individuen wurzelt. Die „Wahrheit" der Bibel bestimmt sich nach humanistisch-ästhetischen Kriterien. 82 Folglich muß jede geschichtlich-kulturelle Entwicklung aber als Verfall von religiöser Authentizität verstanden werden.83 Herder gelangt von dieser Prämisse aus zu einer Abwertung des nachmosaischen Judentums gegenüber der originär mosaischen Religion. 84 Ein sinnvoller Zusammenhang mehrerer „Ursprünge", also etwa der israelitischen Glaubensgeschichte und der christlichen Berufung auf Christus, ist nicht zu denken, da das religiös Eigentliche sich der Weiterentwicklung entzieht. 85 Das authentischmosaische Judentum hat für Herder keine Bedeutung über seine nationale Grenze hinaus.86 Anders als Schleiermacher hat Herder besonders den Pentateuch sehr verehrt und sich v.a. mit seinen literarisch-ästhetischen, aber auch religionsphilosophischen Aspekten beschäftigt. Das Postulat der Ursprünglichkeit läßt indes auch Herder vom Christentum als einer „Stifter"-Religion sprechen; auch er sieht keinen Zusammenhang von Christentum und Judentum auf der Ebene des inhaltlich-religiösen Propriums. 87 Schleiermachers abwertende Verortung des Messiasgedankens im späteren Judentum scheint unmittelbar auf Herder zurückzugehen. Dort hieß es, nach der Destruktion der mosaischen „Nomokratie" zugunsten einer gemeinorientalischen Theokratie seien die alten Weissagungen mißverstanden worden im Sinne ,,eitelste[r] Weltherrschaft". 88 Diese Selbsttäuschung ist für Herder freilich keine inhärente Konsequenz der ur-

81

Vgl. bes. K G A 1,2, 3 0 8 - 3 1 1 ; P. Seifert, 151-156; Hertel, 158.

82

Vgl. Puschmann, 6 0 f ; Kippenberg, T R E 29, 21. Vgl. Kaiser, 192.

83

84 Vgl. Weinzierl, T R E 3, 157, zu Ideen, 316. Gegen die undifferenzierte Kritik Weinzierls an Herder und Schleiermacher muß für ersteren die nahezu begeisterte Hochschätzung des AT und insbesondere des Gesetzes betont werden. „Die feine Nomokratie also, auf die es Mose angelegt hatte, und eine Art theokratischer Monarchie, wie sie bei allen Völkern dieses Erdstrichs voll Despotismus herrschte" bilden nach Herder „entgegengesetzte Dinge"; „und so mußte das Gesetz Moses" nach dem Ende der Herrschaft des Mose „dem Volk ein Sklavengesetz werden" (vgl. Ideen, 313). 85

Vgl. W. Schweitzer, W u D 1967, 98ff.

Vgl. Tilgner 1966, 23 f. 8 7 Vgl. etwa Über die ersten Urkunden, 18. - Die weltweite Tradierung der jüdischen Urkunden durch die Kirche beurteilt Herder ambivalent. Einerseits sieht er in der Verbreitung der hebräischen Religionsurkunden eine gute Wirkung, „da Moses Gesetz in ihnen die Lehre vom einigen Gott, dem Schöpfer der Welt, zum Grunde aller Philosophie und Religion machte"; der qualitative „Vorzug der hebräischen Schriften vor allen alten Religionsbüchern der Völker" sei unleugbar (Ideen, 314). Andererseits aber habe die Dominanz der biblischen Tradition die religiöse wie moralische Selbstverwirklichung der christianisierten Völker unterbunden, „daher keine einzige christliche Nation sich ihre Gesetzgebung und Staatsverfassung von Grund aus gebildet" (Ideen, 315). 86

88

Vgl. Ideen, 313 f.

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sprünglich jüdischen, d. h. mosaischen Religiosität, sondern Produkt ihres Verfalls. Auch Herder versteht das Auftreten und Wirken Christi aber nicht auf dem Hintergrund der damaligen Erwartung des jüdischen Volkes. Die messianischen Weissagungen seien nur als dogmatisch unkonkretes „Trostbild künftiger Zeiten" deutbar.89 Daß er jeden Ansatz, den Christusglauben in das AT zurückzuverfolgen, ablehnt, bestätigt - gegen seine literarisch-ästhetische Vorliebe für die hebräische Bibel - seine „moderne", AT und NT trennende theologische Einstellung in der Kanonsfrage. 90 Bei Herder konnte das philologischliterarische Interesse am Pentateuch für Israel und das Mosegesetz dennoch einen Ort im Kontext des Christus-Kerygmas sichern.91 Bei Schleiermacher entfällt dies. Der „Ursprungs"-Gedanke bedingt für ihn die Abgrenzung des Christentums gegenüber der jüdischen Uberlieferung, die er weit weniger differenziert beurteilt als Herder.92 Für Schleiermachers Verständnis des AT verdient Beachtung, daß auch Herder in Bezug auf die Verfasser der hebräischen Bibel die Attribute „kindlich" und „jugendlich" verwendet. 93 Dies ist allerdings im Sinne von ursprünglich und unverfälscht zu verstehen und erfordert kein positives Gegenstück in „erwachsen". Vielmehr wird die geschichtliche Fortentwicklung im religiösen Bereich besonders hinsichtlich der Juden skeptisch bewertet. 94 Für Schleiermachers Sprachgebrauch können wir daher auf eine Herkunft von Lessing schließen, wo das AT zwar konstruktiv auf das NT bezogen, aber innerhalb des Fortschrittsgedankens als mindere Entwicklungsstufe untergeordnet wurde. 95 Bei Schleiermacher mutiert - gegen Lessings Intention - die Deutung des biblischen Israel als wertvoller anfänglicher Entwicklungsstufe zum Qualitätsurteil der essentiellen religiösen Inferiorität. 1.1.2.4. Semler Der breiteste Wurzelstrang von Schleiermachers Einstellung zum AT führt zu seinem Studium im „neologischen Halle", das als manifester Bruch mit der herrnhutisch geprägten Jugend gelten darf.96 Besonders die Theologie und Exegese des späten Johann Salomo Semler (1725-1791) scheint auf Schleiermacher

Vgl. Puschmann, 66. Vgl. Puschmann, 96. 91 Siehe unten 74 f A n m . 237. 92 Daß die von Schleiermacher vollzogene theologische Abrogation des AT durchaus im Gefalle des Denkens Herders liegt, deutet Puschmann, 84, an. Vgl. auch Dilthey, Leben II/2, 730. 93 Vgl. Uber die ersten Urkunden, 11. 94 Vgl. für die Bewertung des jüdischen Volkes: „Es ist ein Volk, das in der Erziehung verdarb, weil es nie zur Reife einer politischen Kultur auf eignem Boden, mithin auch nicht zum wahren Gefühl der Ehre und Freiheit gelangte" (Ideen, 316). Siehe auch H.-J. Kraus 1982, 127 9 5 Gegen Hirsch 1952, 534. - Unpräzise Preuß, 150f, der Schleiermachers Verständnis von „kindlich" zwar treffend auf Lessing zurückführt, aber die für die Tendenz dieser Charakterisierung entscheidende Ablehnung des pädagogischen Entwicklungsgedankens bei Schleiermacher nicht vermerkt. 96 Vgl. Hirsch 1952, 490; ferner Wendland, 177 89

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stärker und anhaltender gewirkt zu haben, als es lange Zeit Forschungskonsens war. 97 In Semlers Frontstellung gegen den orthodoxen Gebrauch der Bibel konnte Schleiermacher seine eigene Ablehnung der im zinzendorfischen Pietismus aufgenommenen Momente reformatorischer Sünden- und Erlösungslehre wiederfinden. Bei Semler, der „die große Wandlung im protestantischen Bibelverständnis heraufgeführt hat" 98 , sah er auch den grundsätzlichen Unterschied zwischen religiösem Erleben und Theologie wissenschaftlich bestätigt: Exegese und Dogmatik wurden entflochten, der biblische Kanon damit ganz von dogmatischen Perspektivvorgaben gelöst und der historischen Kritik übergeben. 99 Zugleich hatte Semler die Vorbehalte der Aufklärung gegen die kirchliche Verwendung des AT, wie sie in Deutschland u. a. von J. Chr. Edelmann (1698-1767), H . S. Reimarus (1694-1768) und G. S. Steinbart (1738-1809) erhoben worden waren und bis weit in die „gebildeten Kreise" hinein geteilt wurden, in der wissenschaftlichen Theologie etabliert. 100 Auch konstruktiv findet sich bei Semler das Grundmodell der Schleiermacherschen Religionstheorie vorgebildet, indem Semler die Gestalt der Religion 97 Frost, Senft und P. Seifert gehen, offensichtlich bestimmt durch Diltheys negative Beschreibung der Situation an der Halleschen Fakultät zu Schleiermachers Studienzeit (vgl. Leben 1/1, 40), auf eine mögliche Beeinflussung Schleiermachers durch die Hallenser Exegese nicht ein; anders dagegen Herms 1974, 40; Lange 1975, 30 mit Anm. 22; Hertel, 159f; Maier, 479; Puschmann, 25f; Hirsch 1952, 534; Rupprecht 1962, 157; Preuß, 150; Schütte 1970, 294f; Sommer, KuD 1989, 302-304; Waubke, 42f; Hornig, TRE 31,146; indirekt Wendland, 229; zur Diskussion um den Einfluß des späten Semler auf Schleiermacher: Weisweiler, lOf; Hornig 1985, 876-884; Lüder, 244-250; F. H. R. Frank, 62. ' s H.-J. Kraus 1982, 104; vgl. ders. 1970, 196-198; Rogerson, TRE 6, 350; Kraeling, 56f; Hirsch 1952, 59; F. Wagner, TRE 28, 173f; Kähler 1989, 34f; Aner, 218f; Hoffmann, 30f; Bergjan, M L C D , 625f. - Zu Semlers Einstellung zur „neologischen" Theologie siehe ausführlich Aner, 98-111. 99 Vgl. Schnur, 29. 33f. 38; Hornig 1961,100; Hirsch 1952, 58-60; Ebeling, 33; H.-J. Kraus 1982, 107-109; Liebeschütz 1967, 13-16; Tilgner 1966, 28-35; Scholder 1966, 474f; Diestel, 601-607 621-624. - Zu betonen ist freilich, daß bei Semler, trotz seiner sachkritischen Einstellung zur altprotestantischen Verbindung von Dogmatik und Exegese, keineswegs die antiorthodoxe Polemik dominiert, vgl. Ausführliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen, 253; Lüder, 214f; Sommer, KuD 1989, 306f. too Vgl. Waubke, 28-42; Puschmann, 27f; Hornig, TRE 31, 144; ders. 1961, 92-115; Bindemann, 116. Zur Kritik der westlichen Aufklärer am AT: Hirsch 1952, 64. - Exemplarisch für die um die Wende zum 19. Jahrhundert im Milieu gebildeter Bürger- und Adelshäuser vorherrschende Einstellung zum AT soll hier aus einer autobiographischen Skizze von Κ. A. Varnhagen von Ense (1785-1858), der ab 1806 als Student in Halle mit Schleiermacher verkehrte und Mitschüler und Taufzeuge Neanders war (siehe unten 165-172), zitiert werden. Varnhagen beschreibt seine im liberalen Hamburger Elternhaus geprägte Sicht des AT folgendermaßen, wobei besonders die rationalistisch-moralisierende Tendenz der Kritik auffällt: „Überhaupt schien mir Lob und Tadel wunderlich verteilt; Moses und Josua, David und Salomo, waren als Männer Gottes bezeichnet, und begingen Handlungen, die allem, was in unsrer Zeit als verbrecherisch oder unmenschlich verabscheut wurde, wenigstens gleichstanden, hingegen Milde und Großmut wurden bestraft; in dieser Hinsicht war mir auch gleich das Neue Testament der tatsächliche Widerspruch des Alten, und mich dünkte, jenes müsse dieses abstoßen, und begriff nicht, wie so Entgegengesetztes in demselben Bande zusammengefaßt sein, als ein und derselbe Zug heiliger Schriften gelten sollte" (Denkwürdigkeiten I, 174; zu Varnhagens Herkunft auch Arendt, 139-150).

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normativ setzt.101 Die Reduktion der theologischen Fragestellung auf das phänomenal Gegebene einer Religion, aus dem sich das „Wesen der Frömmigkeit" analytisch bestimmen lasse, verband bereits Semler mit einer doppelten Absage, nämlich erstens an die rationalistisch-deistische Behauptung einer allgemeinen „Vernunftreligion" und zweitens an die orthodoxe Vorstellung einer stringenten göttlichen Heilsgeschichte. 102 Die Bibel sollte ausschließlich historisch als Dokument real gewesener Frömmigkeit verstanden werden.103 Auch für Schleiermacher zählt am Christentum die positive Erscheinungsweise. Wie Semler bestimmt er deren Eigenart unter Betonung des Erlösungsmoments ebenfalls im erklärten Gegenüber zum Judentum als der entgegenstehenden religiösen Anschauung. 104 Dabei wird von beiden Theologen die jüdische Religion auf die Charakteristika „Äußerlichkeit", „Partikularismus" und „Nomismus" festgelegt und das Christentum im Gegenzug als innerlich, universal und freiheitlich beschrieben. 105 Die im AT erzählte Volksgeschichte rückt in Semlers Exegese dem christlich-religiösen Interesse fern und erweckt durch ihre nationale Begrenzung Befremden. 106 Das AT wird damit, im Gegensatz zu seiner christlich-dogmatischen Beanspruchung in der Orthodoxie, zu einem „jüdischen Buch". 107 In der Aussage, das israelitische Gottesverständnis habe eine gleichmäßige Relation Gottes zu allen Menschen nicht zugelassen und daher auch eschatologisch eine Sonderrolle für Israel reklamiert, stimmt Semler mit Kants und Herders Bewertung überein. 108 Der Partikularismus des AT macht die kirchliche Anknüpfung an der hebräischen Uberlieferung für Semler fragwürdig; jüdische und heidnische Vorgeschichte Christi erscheinen ihm als in gleicher Weise „finster". 109 Die Kritik am AT erhält so, zusätzlich zur Differenzierung authentisch „jüdischer" oder „christlicher" religiöser Momente, einen moralisierenden

101

Vgl. hierzu Hornig 1985, 886.

Vgl. Hornig 1985, 8 9 0 ; Hirsch 1952, 60f. Vgl. Tilgner 1966, 31 f. - Hornig 1961, 176-210, arbeitet den Unterschied zwischen dem reformatorischen und Semlers historisch-kritischem Schriftverständnis heraus. Die Differenz läßt sich gerade hinsichtlich der Stellung der Christologie als hermeneutischem Kriterium und hinsichtlich der Wertung des AT verdeutlichen (vgl. bes. 208f). 102

103

Vgl. Hornig 1985, 892 f. '05 Vgl. Hornig 1985, 8 9 0 f ; ders. 1961, 92f. 171; Waubke, 2 9 - 3 2 ; Graf, T R E 13,103f; Weisweiler, 17; Hirsch 1952, 61 f; Maier, 450. 106 Vgl. Lüder, 141 f; ferner Waubke, 32. 107 Vgl. Puschmann, 2 6 ; Diestel, 5 5 5 ; W . H . Schmidt 1995, 397 - Hornig 1961, 9 3 - 1 0 0 , unterstreicht freilich zu Recht, daß Semler im AT dennoch ein vorausweisendes Zeugnis vom Geiste Christi erkennt; schon Abraham, Mose und die Propheten seien Empfänger göttlicher Offenbarung gewesen. Trotzdem versteht er das AT insgesamt als Dokument einer gesetzesgerechten Religion, die dem glaubensgerechten Christentum entgegensteht. Das Gesetz ist für Semler, stärker als in der Orthodoxie, durch das Evangelium überwunden und abgeschafft, so daß sich die christliche Lebenshaltung wesentlich als „Freiheit vom Gesetz" darstellt. 108 Vgl. Abhandlung von freier Untersuchung des Canons I, 43. 109 v g l . Ausführliche Erklärung über einige neue theologische Aufgaben, Censuren und Klagen, 194; dazu Lüder, 161. 104

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Zug. 110 Semler postuliert eine Antithese zwischen jüdischer und christlicher Religiosität, wobei das „Jüdische" den Charakter des Schattenhaften und Negativen annimmt. 111 „Christusreligion" und Gesetzesobservanz sind definitive Gegensätze, wobei das „Christliche" als das Universale sich auch vor Vernunft und Moral als überlegen zeigt. Dies kommt in der Interpretation der Segensformel 2. Kor 13,13 zum Ausdruck: „Die Gnade des H e r r n Jesu, ohne jüdische Gesetze; die Liebe Gottes, ohne Unterschied der Nationen und die allen Christen gemeine Theilnehmung an dem heiligen Geiste." 1 1 2

Eine praktische Vorstellung Semlers griff der „reife" Schleiermacher modifizierend auf, indem er für christliche Bibelleser ein Exzerpt des AT herzustellen empfahl, das alle für sie bedeutsamen Texte enthalte und zugleich die unterschiedliche religiöse Wertigkeit der Teile des AT-Kanons zum Ausdruck bringe. 113 Relevanz für Christen könnten, so Semlers ursprüngliche Fassung des Gedankens, innerhalb des AT nur jene Texte beanspruchen, die allgemeine religiöse Befindlichkeiten des Menschen zur Sprache brächten. 114 Ausgeschieden werden sollten zunächst die Geschichtsbücher, die Semler dem Judentum ostentativ überließ: „Viele jener Bücher, so man z u m Alten Testament rechnet, kann man als Religionsbücher der Juden [ . . . ] ansehen; sie sind auch, ihrer Abfassung nach, nur für diese Nation bestimmt, und gehören ihr, als ein gottesdienstliches Eigentum, wohin der meiste Theil der Bücher Mosis, und die folgenden historischen allesamt gehören." 1 1 5

Die messianischen Weissagungen der Späteren Propheten interpretiert Semler als Produkt der zeitgeschichtlichen Situation. Sie müßten als Erneuerungen der mosaisch-gesetzlichen Religiosität - und somit als dem christlichen Glauben entgegengesetzt - verstanden werden. 116 Die Verbindung zwischen Judentum uo Vgl etwa Abhandlung von freier Untersuchung des Canons III, 31 f; dazu Schnur, 39; Sauter, T R E 28, 333; Hirsch 1952, 61; Tilgner 1966, 32-34; Maier, 450f. - H.-J. Kraus 1982, 110, bestimmt die geschichtliche Wirkung der Semlerschen Erkenntnisse kritisch: „Das Neue Testament enthält nach Semlers Auffassung die universale, abgeklärte, ewige Religion, der gegenüber das Alte Testament eng, national jüdisch und zeitgebunden wirkt. - Es kann nicht oft genug betont werden, daß diese Urteile bis in die Gegenwart hinein die Auffassung des Alten Testaments zu bestimmen suchen. Sie entspringen dem Geist der Aufklärung und jener modernen Gnosis, die weithin der eigentliche Impuls oder doch zum mindesten das beherrschende Vorzeichen der historisch-kritischen Forschung geworden ist - besonders im sog. Liberalismus, der aus der freieren Denkweise' der Neologie ein wissenschaftliches Programm entwickelt hat, dessen weltanschauliche Prämissen überall erkennbar sind." Vgl. auch Puschmann, 29f. Zum Begriff „Moral" bei Semler kritisch Hornig 1961, 106-111. Vgl. Puschmann, 24. 26f. Beantwortung der Fragmente, 58; vgl. Hornig 1985, 891. 113 Siehe unten 75. 114 Vgl. Lüder, 142; insgesamt 122-179; ferner Maier, 451 f. 115 Abhandlung von freier Untersuchung des Canons IV, 424; vgl. Lüder, 162. Semler berief sich für seine Unterscheidung des überlieferten Kanons vom theologisch normativen Wort Gottes gegen die protestantische Orthodoxie auf rabbinische Lehre, vgl. Lüder, 164. i» Vgl. Lüder, 170; Hirsch 1952, 62. 67 112

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und Christentum besteht nach Semlers Urteil einzig auf der Ebene einer unspezifischen Religiosität. Semler stellt für Schleiermacher die theologische Methodik bereit, mit der er Judentum und Christentum historisierend vergleicht und wertend ins Verhältnis setzt. Daß der spätere Schleiermacher bezüglich der messianischen Texte gegenüber Semler die kirchliche Relevanz wieder stärker betont11^ tut dem Einfluß der Halleschen Exegese auf sein Verständnis der Schrift insgesamt keinen Abbruch.118 Für Schleiermachers späteres soteriologisches Konzept bleibt Semler dadurch maßgebend, daß die Vorstellung einer Rettung der Menschheit durch ein sich im allgemeinen Bewußtsein fortpflanzendes Ergriffenwerden durch den „christlichen Geist" bereits hier als Alternative zu der „physischen" Erlösungstheorie der reformatorischen Kreuzestheologie favorisiert wird.119 1.1.3.

Bewertung der Darstellung des Judentums in den „Reden"

Die Einstellung Schleiermachers zum Judentum und der hebräischen Bibel, wie die „Reden" von 1799 sie spiegeln, geht in der Grundstruktur auf den Hallenser Exegeten Semler zurück. Unverkennbar sind die ergänzenden Einflüsse Kants, Lessings und Herders. Schleiermacher fand bei den beiden letztgenannten Philosophen eine je unterschiedlich begründete ausgesprochene Hochschätzung des Mosegesetzes vor, von der er sich - im Einklang mit Kant und Semler strikt distanzierte. Mit der Lehre der Herrnhuter Brüdergemeine hat Schleiermacher in der Frage der Autorität und der inneren Kanonizität der Schrift gebrochen. Die enthusiastische Christusbeziehung wurde nicht nur über diesen Bruch hinweg bewahrt, sondern ist auch als ein der herrnhutischen Frömmigkeit innewohnendes Moment anzusehen, das Schleiermachers Absage an die reformatorische Sünden- und Satisfaktionslehre erleichterte. Gleichwohl stellt Schleiermachers Votum, das Bestandteile der disparaten Konzepte von pietistisch-zinzendorfischer Frömmigkeit, Aufklärungsphilosophie, romantischer Weltanschauung und kritischer Exegese in sich vereint, eine selbständige Position dar.120 Um die Bewertung des Judentums und seiner Überlieferung in den „Reden" angemessen zu würdigen, gilt es, die primär apologetische Zielsetzung und Methode des Textes zu beachten. Die „Reden" sind gemeint als Werbung nicht für Religion allgemein, sondern für das Christentum.121 Schleiermacher wirbt 117 118

Siehe unten bes. 7 2 - 7 5 . 83. 8 5 - 8 7 Vgl. Diestel, 561. 766.

1 , 9 Vgl. Letztes Glaubensbekenntnis über natürliche und christliche Religion, 165ff. 182f; dazu Hornig 1985, 8 9 3 ; Kahler 1989, 78 f. 120 Vgl. Rupprecht, 157; zu Schleiermachers Rezeption des romantisch-idealistischen Ideengutes: Herms 1974, 2 3 5 - 2 6 4 . 121 Daß sich Schleiermacher in seiner hymnischen Darstellung der wahren Kirche (KGA 1,2, 2 9 0 f) nicht nur aller klassischen ekklesiologischen Aussagen enthält, sondern gegen die reformatorische Erlösungs- und Stellvertretungslehre offen polemisiert, widerspricht dem im Horizont seines damaligen theologischen Ansatzes nicht. Vgl. Hirsch 1952, 5 2 2 f ; Hermann, R G G 3 5, 1427; Nowak 1986, 1 9 9 - 2 0 2 .

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unter den Mitgliedern des aufklärungsfreundlichen Bürgertums in Deutschland, in Preußen und Berlin zumal. Die sachliche Koinzidenz von Bürgersein und Christsein soll die Adressaten ansprechen. Das heißt aber, daß das Judentum als solches, aufgrund der ihm in dieser Zeit auferlegten gesellschaftlichen Repressionen ohnehin im realen „Vergleich" unterlegen und kein „Konkurrent" des Christentums, gar nicht genuin Thema der Darstellung ist. Es wird für die Darstellung des Christentums komparativisch funktionalisiert, dient mithin als negatives Gegenbild. Daher muß Schleiermacher zugute gehalten werden, daß er die Herabsetzung des Judentums so wenig primär gewollt haben dürfte wie die Herabsetzung der Engländer und Franzosen in jener Passage der ersten Rede, wo er seinen Adressaten nahezubringen versucht, gerade sie als Deutsche seien zum Christsein prädisponiert, oder die Herabsetzung der „einfacheren" Schichten der Bevölkerung dort, wo Schleiermacher das Christentum als Bestimmung des gebildeten Bürgertums beschreibt.122 Das Judentum oder die jüdischen Menschen verächtlich zu machen, ist nicht Schleiermachers Absicht. Daß er vorhandene Negativvorstellungen 123 dennoch bedient und verstärkt, bleibt kritisch festzuhalten gegenüber einem Verständnis des Christentums, dem ein abwertendes, das Gegenüber verzerrendes Bild fremder Religiosität angebracht erscheint.124 Dabei sollte man allerdings nicht übersehen, daß Schleiermachers Polemik gegen das Judentum im zeitgenössischen Diskurs keineswegs singulär dasteht, ja daß die Ablehnung der jüdischen Religion bei ihm sogar ausgesprochen maßvoll formuliert wird. Der junge Hegel etwa hatte in seiner (erst 1907 publizierten) Abhandlung über den „Geist des Judentums" die Haltung Abrahams und seiner Nachkommen zur umgebenden Welt als schlechthin lieblos charakterisiert und die fortdauernde jüdische Sonderstellung daraus abgeleitet; das Schicksal der Juden könne „nur Abscheu erwekken". 125 122 Vgl. K G A 1,2, 1 9 5 - 1 9 7 ; dazu Birkner 1996, 148 f ; Nowak 1986, 160 f; zu Schleiermachers Einstellung zu Frankreich: Crouter, 1096. - Die apologetische Instrumentalisierung eines Negativbildes von „Judentum" zugunsten des Christentums könnte als ein denkbarer Lösungsvorschlag angeführt werden, wenn Hermann Fischer, TRE 30, 155, vermerkt, Schleiermachers Fundamentalkritik am Judaismus sei aus seiner eigenen Religionstheorie nicht ableitbar und „läßt nach anderweitigen Gründen fragen". 123 Dittmar, 6 8 - 7 0 , weist auf die zur Zeit der Emanzipationsdebatte gerade im politisch progressiven bürgerlichen Lager virulenten Vorurteile gegen Juden und deren Religion hin; vgl. auch Elbogen/Sterling 1966, 171. 124 Zum „antithetischen Denk- und Argumentationsstil Schleiermachers": Nowak 1986, 203. Lucas, EvTh 1963, 602, vermerkt kritisch: „Hier erweist sich, daß die moderne Religion des persönlichen Erlebnisses und der innerlichen Gesinnung nicht nur ratlos vor der Welt kultischer Frömmigkeit, sondern vor der Torafrömmigkeit überhaupt steht. Was sie erfaßt, ist ein Zerrbild. Dieses Zerrbild aber ist das genaue Gegenteil dessen, was als eigene Frömmigkeit ausgesagt wird. So wird die jüdische zur exemplarisch falschen Religion, zum Gegenbild schlechthin." 125 Vgl. Nohl, 2 4 6 f . 260. - Ferner wird in Hegels Entwurf über das Volk des Exodus gesagt, es sei „ohne Seele und eigenes Bedürfnis der Freiheit bei seiner Befreiung gewesen"; das Mosegesetz bilde, aufgrund der implizierten knechtischen Passivität der Israeliten, ein der Sklaverei entsprechendes Joch (249f). Durch die „gesetzliche" Frömmigkeit sei den Juden das Heilige stets äußerlich, „ungesehen und ungefühlt" geblieben - „an irgend einem Ewigen hatten die Juden keinen Teil"; Gott

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Das Axiom, es gebe keinen theologisch relevanten Zusammenhang zwischen Judentum und Christentum, hält sich in Schleiermachers Entwicklung durch. Für die religionsgeschichtliche, also äußerliche Verwandtschaft beider Religionen ergeben sich zwar wichtige Nuancierungen, die eine Änderung der theologischen Bewertung jedoch nicht veranlassen. Der „Haß" auf das Herstellen oder treffender: das Wahrnehmen - geschichtlicher Verbindungen im Bereich des Religiösen bleibt ein charakteristisches Moment seiner Theologie. In den „Reden" tritt der dafür ursächliche immanente Faktor seiner Theologie am deutlichsten hervor. Es ist die verabsolutierende phänomenologische Betrachtung der Religion als eines Momentes des menschlichen Lebensvollzuges. Anhand der den jeweiligen Phänomenen zugrundeliegenden typischen „Anschauungen" werden die Religionen kategorisiert. 126 Dies bedingt zwangsläufig die Weigerung, den biblischen Kanon und die darin manifeste Bindung des Christusgeschehens und des Glaubens der frühen Kirche an die israelitische Glaubensgeschichte gegenüber dem religionsphänomenologischen Befund als kritisches Potential gelten zu lassen. Mit der Aufhebung des Gottesbegriffs in den religiösen Vollzug hat auch die besondere, AT und N T umgreifende Gottesgeschichte der Bibel jede normative Bedeutung für die christliche Religion verloren. Die vom geschichtlichen Werden abstrahierte, unmittelbar gegebene „Gestalt" des Christentums negiert seine Konstitution in bestimmten, dem religiösen Leben objektiv vorausgesetzten Offenbarungstatsachen. In Anknüpfung bei Semler wird in beiden Teilen der Bibel der Ausdruck divergenter religiöser Bewußtseinszustände erkannt. 127 Nachdem die Bibel als Urkunde bestimmter religiöser Erfahrungstatbestände definiert ist, kommt ihrer spezifischen Geschichtlichkeit, also der den erzählten göttlichen Selbsterweisen (Noahbund, Abrahambund, Exodus, Sinai, Landnahme, Exil etc.) zugeschriebenen theologischen Normativität, kein Gewicht mehr zu. In allen „heiligen Schriften" liege der Diamant wahrer Religion in einer schlichten Masse verschlossen, wer wahrhaft religiös sei, könne sich seine Heilige Schrift wohl selber machen, heißt es in der zweiten Rede. 1 2 8 Für Schleiermacher liegt die „Wahrheit" der Religion jenseits der geschichtlichen Faktizität ihres Uberlieferungsgutes und wird im je ursprünglichen Akt der Anschauung des Universums manifest. Die Wahrheit der christlichen Religion wird daher nicht von der Offenbarung Gottes in dem distinkten geschichtlichen Zusammenhang ab-

komme im Judentum „nicht als eine Wahrheit vor, sondern als ein Befehl" ( 2 5 2 - 2 5 4 ) . So müsse hier ist offensichtlich eine Spitze gegen die zeitgenössische Emanzipationsforderung impliziert „der Zustand der Unabhängigkeit der Juden", da er ihrem Naturell widerspreche, „ein Zustand einer völligen Passivität, einer völligen Häßlichkeit sein" ( 2 5 8 ; vgl. auch 370f). Insgesamt habe sich im Judentum der Mensch „an fremde Wesen" gehangen, um so „in ihrem Dienste alles Heilige der menschlichen Natur [zu] zertreten und [zu] ermorden" (260). Dazu Bruer, 195 f; Brumlik, 196-213; Dantine, 212 f; sowie kurz H . - J . Kraus 1962, 2 8 f. 126 Vgl. Quapp, 2 5 9 f. Zur Auswirkung des genuin aufklärerischen anthropologischen Ansatzes auf die Verhältnisbestimmung von AT und NT, Judentum und Kirche: Liebeschütz 1967, 38 f. 127 128

Vgl. Quapp, 178 Anm. 79. Vgl. KGA 1,2, 2 4 2 ; Wendland, 7 0 - 7 4 ; Hoheisel, 9.

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geleitet, den das N T in Hinsicht auf das AT konstituiert. Sind alle Religionen gemessen an ihrer phänomenalen Eigentümlichkeit - gleich „ursprünglich", so sind Judentum und Christentum füreinander Fremdreligionen. Diese Feststellung bleibt für Schleiermacher nicht irenisch-neutral. Aufgrund der ihm bei Semler besonders kraß vorgegebenen gegensätzlichen Sicht der beiden Religionen eigentümlichen Anschauungen nimmt sie einen polemischen Charakter an.129

1.2. Kurze Darstellung 1.2.1.

Der Befund im Text

Gegenüber der ostentativen Geringschätzung der Schriftautorität in den „Reden" hat in der 1810 verfaßten ,,Kurze[n] Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen"130, Schleiermachers theologischer Enzyklopädie, die Bibel - oder zumindest das N T - an Gewicht gewonnen. Von einem „Schriftprinzip", wie es die reformatorische Theologie aufgestellt hatte, kann freilich auch hier nicht gesprochen werden. Denn der biblische Kanon ist nicht vorgegebene Norm theologischer Aussagen, die Bibel nicht kritisches Gegenüber der Frömmigkeit. Vielmehr konstituiert die christliche Frömmigkeit den Kanon. „Die Idee des Kanons ist, daß er die Sammlung derjenigen Dokumente bildet, welche die ursprüngliche, absolut reine und deshalb für alle Zeiten normale Darstellung des Christentums enthalte," formuliert Schleiermacher zu Anfang des Abschnitts über die exegetische Theologie.131 In der Definition des Kanons, die Schleiermacher der methodischen Bestimmung der theologischen Exegese zugrundelegt, kommt die Relation zwischen religiösem Lebensgefühl und objektiver Kodifizierung im „Kanon" allgemein zum Ausdruck: Der Kanon ist Dokument der Frömmigkeit.132 Den historisch-realen Kanon - im Falle der Kirche ist es, wie wir sehen werden, im strengen Sinn nur das N T - spricht Schleiermacher demnach jetzt als Konkretion der in den „Reden" aufgestellten Generalthese von der Vollmacht des religiösen Individuums über seine heiligen Schriften an. In der ersten Auflage der Kurzen Darstellung geht Schleiermacher an dieser Stelle noch nicht auf die Umstände des Entstehungs- und Kodifizierungsvorgangs des N T ein.133 Vielmehr verhandelt er - unmittelbar im Anschluß an die

129 Der Bewertung von Wendland, 74, Schleiermacher habe „das Alte Testament [...] stets unterschätzt", ist zu widersprechen, denn das AT wird nicht als unvollkommener Ausdruck christlichreligiösen Bewußtseins verstanden, sondern als - vollwertiges - Manifest einer Fremdreligion, die Schleiermacher insgesamt allerdings als überholt auffaßt. 130 Zu der Schrift insgesamt vgl. Hermann Fischer, T R E 30, 160-162; Hirsch 1954, 352; F. H . R. Frank, 86-92. 131 Vgl. Exegetische Theologie § 2 (Kurze Darstellung, ed. Scholz, 43). 132 Vgl. Exegetische Theologie § 1 (Kurze Darstellung, ed. Scholz, 43). 133 Anders verfährt er in der 1830 edierten zweiten Auflage, wo das Verhältnis der Kirche z u m „jüdischen K o d e x " - sachlich unverändert - weniger pointiert zur Sprache gebracht wird.

D a s Bild des AT und des Judentums

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Basisbestimmung des Kanons als Gegenstandes exegetischer Theologie - das Verhältnis des christlichen Kanons zum AT. In § 3 heißt es apodiktisch: „Den jüdischen Kodex mit in den Kanon zu ziehen, heißt, das Christentum als eine Fortsetzung des Judentums ansehn, und streitet gegen die Idee des Kanons." 1 3 4

Wie in der fünften Rede wird eine theologische Beziehung zwischen Christentum und Judentum verneint. D a s AT ist als der „jüdische K o d e x " Dokument einer Fremdreligion. Jedoch hat Schleiermachers Sichtweise seit 1799 an Differenziertheit gewonnen. In der Apologetik, dem ersten Hauptabschnitt seiner Enzyklopädie, unterscheidet er zwischen dem Christentum als einer neuen und ursprünglichen Tatsache - also dem im Bewußtsein gegebenen religiösen Proprium - einerseits und dem äußeren Zusammenhang der Kirche mit anderen religiösen Gestaltungen andererseits. 135 Ohne die unableitbare Neuheit des christlichen Bewußtseins zu relativieren, spricht er von dem „Hervorgehen des Christentums aus dem Judentum und Heidentum" und gebraucht dafür die Kategorien Weissagung und Vorbild. 136 Diese Begriffe gelten ausschließlich für die geschichtliche Erscheinungsweise des Christentums; sie bilden einen Kontrast zu „Offenbarung, Wunder und Eingebung", womit Schleiermacher die essentielle Neuheit des ideal-inhaltlich Christlichen benennt. 137 „Weissagung und Vorbild" beziehen sich nicht auf eine besondere göttliche Ökonomie, sondern auf die prinzipielle Bruchlosigkeit aller geschichtlichen Phänomene, denen äußerlich auch die Kirche zugehört. Unter diesem Aspekt nimmt Schleiermacher jetzt durchaus eine Verbindung der Kirche zum Judentum wahr, allerdings in prinzipiell gleicher Weise wie zum klassischen Heidentum. Als geschichtliche Darstellung der christlich-religiösen Idee hat Kirche am Gesamtkomplex des religiösen Lebens teil. Schleiermachers Kirchenverständnis erhält dadurch eine Spannung, die von den Polen „geschichtliche Größe" und „ewige Notwendigkeit" erzeugt wird. In diesem Horizont formuliert Schleiermacher: „Die Kenntnis des jüdischen Kodex ist die allgemeine Hilfswissenschaft für die gesamte historische Theologie." 1 3 8 Damit wird die Gedanken- und Sprachwelt der hebräischen Bibel nicht nur für das NT, sondern auch für die Geschichte der frühen Kirche und deren Dogmatik als prägendes Umfeld wahrgenommen. Dies bedeutet aber nicht, daß der christlich-religiöse Inhalt nun doch in das AT zurückverfolgt werden

Kurze Darstellung, ed. Scholz, 47. Vgl. Apologetik §§ 5f (Kurze Darstellung, ed. Scholz, 19 f). 136 Vgl. § 6 (Kurze Darstellung, ed. Scholz, 20). 137 Vgl. Kurze Darstellung, ed. Scholz, 19. 138 Exegetische Theologie § 4 (Kurze Darstellung, ed. Scholz, 48). Vgl. Weisweiler, 23 f; Jörgensen, 204. - Die Auswirkung dieser Einschätzung des AT auf die von Schleiermacher wesentlich mitbestimmte institutionelle Stellung der alttestamentlichen Lehre an der jungen Berliner Fakultät erwägt Liwak 1989, 174-176. Tatsächlich trat mit W. M. L. de Wette (1780-1849) ein profilierter Alttestamentler in die Fakultät ein; Schleiermacher hatte dieser Professur jedoch eine breitere thematische Widmung zugedacht (so a a O , 174). 134

135

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sollte. Die alttestamentliche „Hilfswissenschaft" liefert vielmehr die Kenntnis der äußeren Bedingungen der Entstehung und Fortbildung des Christentums. Schleiermacher, der sich in der Kurzen Darstellung ausdrücklich auf den formalen Aufriß des theologischen Gesamtentwurfs beschränkt 139 , führt die materiale Bedeutung des AT als Gegenstandes einer theologischen „Hilfswissenschaft" nicht aus. Jedoch lassen sich aus der in der ersten Auflage nun folgenden Behandlung der geschichtlichen Entstehungsbedingungen des neutestamentlichen Kanons die entsprechenden Parameter ablesen: „[Der Kanon] enthält wesentlich die Dokumente von dem Zusammensein Christi mit seinen Jüngern, und die von dem Zusammenwirken der Jünger zur Gründung des Christentums. [...] Durch das Zusammensein dieser beiden Teile im Kanon ist schon die Unzertrennlichkeit des Entstehens und der Fortbildung auch in Bezug auf diese Idee gesetzt." 140

Die Idee des Kanons kann nicht in eine definitive geschichtliche Erscheinung umgesetzt werden. Der normative Ausdruck des Christlichen im N T ist, so deutlich bereits der Bestand der neutestamentlichen Schriften innere Differenzierungen aufweist, stets kritisch an der Dialektik von idealem christlichen Bewußtsein und sich entwickelnder Erscheinung zu messen. Die Reinigung des Kanons durch theologische Bibelkritik wird zur permanenten hermeneutischen Aufgabe der Kirche.141 Der faktische Bestand des Kanons muß „notwendig schwanken". 142 Daraus läßt sich schließen, daß die Kenntnis des AT als des geschichtlichen Umfeldes des N T den kritischen Maßstab liefern soll, an dem das Neue des Christlichen, das die geschichtliche Beeinflussung und Vermittlung inhaltlich übersteigt, erhoben wird. Das Überlieferungsgut des N T soll auf dem Hintergrund des AT kritisch auf seinen Mehrwert abgefragt werden. Das AT findet somit im usus hermeneuticus - und einzig darin - bei Schleiermacher eine Verwendung. Schleiermacher fordert, jeder Theologe müsse, um das ursprünglich Christliche zu erheben, „den Kanon auch durch sich selbst verstehen" können. 143 Jede rhetorische Äußerung ist für ihn aber allein in ihrer gedankenbildenden Ursprache wirklich nachvollziehbar. Intendiert ist also die Analyse der griechischen Sprache des N T bezüglich der vorkommenden Hebraismen, die „nur durch die Kenntnis aller semitischen Dialekte möglich" sei.144

139 Vgl. Vorerinnerung zur ersten Ausgabe (Kurze Darstellung, ed. Scholz, X L I I ) ; Einleitung § 21 (8). 140 Exegetische Theologie §§ 6f (Kurze Darstellung, ed. Scholz, 44) 141 Vgl. § 10 (Kurze Darstellung, ed. Scholz, 45). Diese theologische Kanonskritik wertet Schleiermacher vom kirchlichen Standpunkt aus höher als die historisch-philologische Untersuchung der „Echtheit" der biblischen Schriften gemäß ihrer Verfassernamen. Die Pseudonymität einer Schrift dürfe niemals zu ihrer Entkanonisierung führen (vgl. § 15 [Kurze Darstellung, ed. Scholz, 47]). D a z u Jörgensen, 202 f. 142 Vgl. § 5 (Kurze Darstellung, ed. Scholz, 44). 143 Vgl. Exegetische Theologie § 19 (Kurze Darstellung, ed. Scholz, 51). 144 Vgl. §§ 17 f. 20 (Kurze Darstellung, ed. Scholz, 51 f).

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Die zweite Auflage von 1830 bietet, neben der Voranstellung der geschichtlichen Umstände der Kanonbildung vor die Frage des Zusammenhangs von N T und AT, nur Nuancenverschiebungen. Darin spiegelt sich die heftige Kritik an der ersten Auflage der Glaubenslehre und auch der öffentlich eskalierte Konflikt mit Hengstenberg; Schleiermacher sucht erkennbarerweise beschwichtigende Formulierungen. So ist im früheren § 6 der Apologetik (nun § 46) nicht mehr von dem „Hervorgehen des Christentums aus Judentum und Heidentum" die Rede, sondern von der „geschichtliche[n] Stetigkeit in der Folge des Christentums auf das Judentum und Heidentum". 1 4 5 Damit wird die auch 1810 schon konzedierte Kontinuität im Äußeren stärker hervorgehoben, die Grundthese vom identischen Abstand des Christentums zu Judentum und Heidentum aber weder historisch noch theologisch revidiert. Die Forderung an den Exegeten, die philologische Analyse des NT-Kanons eigenständig leisten zu können, wird mit der expliziten Nennung der „vielfältigen direkten und indirekten, in neutestamentischen auf alttestamentische genommenen Beziehungen" begründet. 146 Daß Schleiermacher die Schärfe früherer Aussagen zurücknimmt, fällt in der Reformulierung des alten § 3 der exegetischen Theologie (nun § 115) am besten ins Auge. Statt der These von der inneren Diskontinuität zwischen Judentum und Christentum, der der Kanonsbegriff Rechnung zu tragen habe, steht jetzt die Aussage: „Daß der jüdische Kodex keine normale Darstellung eigentümlich christlicher Glaubenssätze enthalte, wird wohl bald allgemein anerkannt sein. Deshalb aber ist nicht nötig - wiewohl es auch zulässig bleiben muß - von dem altkirchlichen Gebrauch abzuweichen, der das Alte Testament mit dem Neuen zu einem Ganzen als Bibel vereinigt." 147

Wie 1821 in der Glaubenslehre wird die theologische Abrogation des AT in der überarbeiteten Kurzen Darstellung als erst werdendes Gemeingut der Kirche präsentiert. 148 Schleiermacher äußert sich 1830 nicht konstatierend, sondern prognostisch. Dabei stellt er seine frühere These der gegenwärtigen Situation erwartend entgegen. Er läßt darin die Erfahrung durchscheinen, daß seine Haltung zum AT mit der kirchlich-theologischen Mehrheitsposition nicht übereinstimmt, verrät aber auch eine avantgardistische theologische Selbsteinschätzung in der Kanonsfrage. In der praktischen Konsequenz der Kanonstheorie, die bisher nicht thematisiert worden war, hat sich Schleiermacher allerdings der kirchlichen Praxis gefügt. Die Trennung von theologischem Kanon und kirchlichem Überlieferungsgut ist hier in die ursprüngliche „Kurze Darstellung" interpoliert worden.

145

Vgl. Kurze Darstellung, ed. Scholz, 2 0 .

146

Vgl. Exegetische Theologie § 19 mit § 128 (neu): Kurze Darstellung, ed. Scholz, 51. Kurze Darstellung, ed. Scholz, 47 Siehe unten 73 f.

147 148

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1.2.2. Veränderungen seit den „Reden" Was Schleiermacher in der Kurzen Darstellung ausführt, läßt sich so zusammenfassen: Jede „heilige Schrift" ist nicht autoritative Norm, sondern Manifest real existierender Religion. Die rund ein Jahrzehnt alte These, wonach derjenige Religion habe, welcher sich seine heilige Schrift wohl selber machen könnte, 149 ist hier nicht aufgegeben, jedoch im Hinblick auf die Schleiermachers Theologie jetzt bewußter vorgegebene Realität der Kirche spezifiziert worden. 150 Der neutestamentliche Kanon ist Produkt christlicher Frömmigkeit, die christliche Religion hat sich hier ihre „heilige Schrift" gemacht. Indem das NT allerdings die dem geschichtlichen Ursprung nächst benachbarten Zeugnisse christlicher Religiosität enthält151, kommt ihm eine sekundäre, am christlichen Bewußtsein geprüfte Normativität zu. Der innere Zusammenhang von Judentum und Christentum wird, entgegen der zahlreichen Verweise im NT auf die Anknüpfung des Christusgeschehens an der Geschichte des Alten Bundes, nicht wahrgenommen. Hier wirkt sich die Nachrangigkeit der dem NT zugesprochenen Normativität aus, die gegenüber der abstrakt postulierten Ursprünglichkeit des christlichen Bewußtseins zurücksteht. Entscheidendes Axiom Schleiermachers ist seit seiner Studienzeit, daß eine theologische Verbindung des Christentums mit einer älteren Religion der Berufung auf Christus die soteriologische Relevanz nehme. 152 Daß Christus die christliche Weltreligion „gestiftet" habe, sei die einzige relevante Verbindung zwischen ihm und dem gegenwärtigen Christentum; die genealogische Verbindung mit Israel, ja seine historisch-konkrete Biographie überhaupt sei bedeutungslos, wie Schleiermacher 1806 in der „Weihnachtsfeier" zum Ausdruck bringt.153 Aufgrund dieses christologischen Neuheitspostulates ist die theologische Abweisung des AT nicht genuin als Polemik gegen die jüdische Uberlieferung einzuschätzen. Sie folgt vielmehr zwingend aus Schleiermachers christologisch-soteriologischer Prämisse. Neu gegenüber der fünften Rede ist, daß Schleiermacher einen geschichtlichäußerlichen Konnex beider Religionen zur Kenntnis nimmt und diesen an herausgehobener Stelle in sein theologisches System integriert. Diese philologisch-historische Einsicht liegt außerhalb der Gedankenwelt der „Reden" und Vgl. K G A 1,2, 242; siehe oben 53. Zur Ausbildung von Schleiermachers Kirchenbegriff vgl. Sommer 1985, 1062 f; zu dem sich entwickelnden theologischen Kanonsverständnis K . - M . Beckmann 1959, 6 7 - 7 0 . 151 Vgl. Einleitung § § 1 6 - 1 9 (Kurze Darstellung, ed. Scholz, 3 5 f ) ; exegetische Theologie §§ 5 - 9 (44 f). 152 Siehe oben 41. 153 Vgl. aus der Rede des „Leonhard", der „mit merklicher Sympathie gezeichnet" (Kantzenbach 1967, 90; vgl. Lange 1975, 4 1 - 4 3 ; Hirsch 1968, 4 6 f ) wird, in Weihnachtsfeier, 9 9 - 1 1 0 , bes. 1 0 5 f : „Noch weit tiefer, der Zeit nach, fällt das Christenthum herunter, wenn man Acht hat auf das emsige Bestreben seiner [sc. Christi] Lebensbeschreiber, ihn an das alte Königshaus des jüdischen Volkes anzuknüpfen, was doch, ob es sich so verhält oder nicht, ganz unbedeutend ist für den Stifter einer Weltreligion. Daß also die Geburt und das wirkliche Vorhandensein Christi in der Geschichte gar wenig mit dem Christenthum selbst zusammenhängt, ist offenbar." M9

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zeigt an, daß Schleiermacher inzwischen ein tieferes Verständnis für die Kirche als geschichtliche Formation entwickelt hat. Da die historische Entstehung der Kirche mit religiösen Erscheinungen in Judentum und Heidentum korrespondiert, wird die Erforschung des AT „die allgemeine Hilfswissenschaft für die gesamte historische Theologie". In dieser Funktion ist die hebräisch-biblische Uberlieferung allerdings nur graduell vom Heidentum verschieden. Der geschichtliche Zusammenhang von Kirche und Judentum bekommt keine theologisch-konstitutive Bedeutung, sondern ist prinzipiell austauschbar. Er steht für die immer gegebene Wechselbeziehung zwischen religiösen Anschauungen und historisch-kulturellen Milieubedingungen. 154 1.2.3. Gründe der Veränderungen Bereits in den „Reden" von 1799 sahen wir Herders Ausführungen über das AT als für Schleiermacher maßgeblich hervortreten. Dort blieb die Rezeption jedoch stark eklektisch, vor allem in Bezug auf die historisch-philologische Berührung der christlichen mit der jüdischen Uberlieferung. Herder hatte die Kenntnis der hebräischen Sprach- und Gedankenwelt als notwendige Voraussetzung einer adäquaten Exegese des NT herausgestellt, indem er in der Vorrede zu „Geist der ebräischen Poesie" schrieb: „Der Grund der Theologie ist Bibel, und der Grund des N.T. ist das alte. Unmöglich verstehn wir jenes recht, wenn wir dieses nicht verstehen: denn Christentum ist aus dem Judentum hervorgegangen, der Genius der Sprache ist in beiderlei Büchern derselbe. [...] Es ist falsch und verführend, wenn man jungen Theologen das N.T. mit Ausschließung des alten anpreiset; ohne dieses ist jenes auf eine gelehrte Weise nicht einmal verständlich. Dazu ist in ihm, dem A.T., eine so reiche Abwechslung von Geschichten, Bildern, Charakteren, Szenen: in ihm sehen wir die vielfarbige Dämmerung, der schönen Sonne Aufgang; im N.T. steht sie am höchsten Himmel, und jedermann weiß, welche Tageszeit dem sinnlichen Auge die erquickendste, die stärkendste ist. Studiere man also das A.T., auch nur als ein menschliches Buch voll alter Poesien, mit Lust und Liebe; so wird das Neue in seiner Reinheit, seinem hohen Glanz, seiner überirdischen Schönheit von selbst aufgehn. Sammle man den Reichtum jenes in sich; und man wird auch in diesem kein leerer, Geschmackloser oder gar entweihender Schwätzer werden." 155

Das AT ist hier auf die Bedeutung einer kulturanthropologischen Urkunde reduziert. Als solche freilich hat es eine singuläre und unabdingbare Funktion für das sprachliche Verstehen der auch von Herder auf das NT beschränkten eigentlichen christlichen Bibel. Schleiermacher holt Herders Einsicht in den philologischen Konnex von AT und NT, die in den „Reden" noch übergangen 154 Daß das Christentum faktisch mit dem Judentum in engerer geschichtlicher Verbindung steht als mit anderen Religionen, beruht auf dem graduell höher entwickelten „Monotheismus" der jüdischen Religion, nicht aber auf einer spezifischen theologischen Qualität der jüdischen Überlieferung. Prinzipiell denkt Schleiermacher den „Übergang" vom Alten zum Neuen Bund daher doch „austauschbar"; vgl. kritisch Treiber, 9 A n m . 2, mit Hoppe, MPTh 1965, 215; Rupprecht 1962, 158f. 155 Geist der ebräischen Poesie, 669 f.

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wurde, jetzt offensichtlich in sein Konzept ein. Der Ausdruck „Hilfswissenschaft" erfaßt das von Herder inaugurierte Verhältnis beider Testamente exakt. Daß eine nochmalige Beschäftigung mit Herder dem vertieften Verständnis der historischen Rolle des AT im Christentum zugrunde liegt, zeigt insbesondere die Formulierung „Hervorgehen des Christentums aus Judentum und Heidentum" in der Apologetik der ersten Auflage an, in der man ein Zitat aus der eben angeführten Herder-Passage erkennen kann. Mit der paritätischen Einfügung des Heidentums hat Schleiermacher allerdings die bei Herder betonte Exklusivität der historisch-philologischen Beziehung zwischen Kirche und Judentum auffallend relativiert. Daß Schleiermacher nunmehr dem NT als Dokument der Religion der Kirche eine scheinbar selbstverständliche Dignität einräumt, geht offenbar auf eine gewisse „Verkirchlichung" seiner Situation zurück. Der religiöse Impuls wird nicht mehr primär kritisch gegenüber den geschichtlich entstandenen Kirchengemeinschaften und der etablierten Theologie wirksam. Vielmehr stellt Schleiermacher jetzt die vom religiösen Bewußtsein veranlaßte Reflexion in den Dienst der Erhaltung und Fortentwicklung der Kirche.156 In seinen theologisch-theoretischen Schriften wie besonders seinem kirchenpolitischen Handeln läßt Schleiermacher nunmehr ein Selbstverständnis erkennen, das sich ganz an die kirchliche Gemeinschaft rückbindet. Die religiöse Reflexion wird dem Zweck der Kirchenleitung untergeordnet.157 Dadurch wird auch die institutionelle wissenschaftliche Theologie mit Schleiermachers religiösem Impetus, der sich in den „Reden" noch theoriekritisch artikulierte, vereinbar.158 Die Definition der kirchlichen Gemeinschaft anhand des übereinstimmenden „pneumatischen" Erfahrungsbestandes erweist sich als herrnhutisches Erbe, mit dem Schleiermacher sich vom kollegialistischen Kirchenbegriff des Rationalismus abgrenzt.159

1.3. Die Glaubenslehre und ihr Umfeld 1.3.1.

D e r Befund in der Glaubenslehre

Etwa ein Jahrzehnt nach der Erstfassung der Kurzen Darstellung erschien 1821 „Der christliche Glaube" in der ersten Auflage. In der 35 Paragraphen umfassenden Einleitung verortet Schleiermacher das Christentum innerhalb des anthropologischen und kulturellen Phänomens „Frömmigkeit". 160 Hier wird eine

156 Vgl. Honecker 1968, 5f; Berkhof, 54; Maier, 475. - F. H. R. Frank, 106, spricht kritisch von einer „Art Akkommodation, wenn Schleiermacher dem kirchlichen Gebrauche sich fügt"; siehe auch aaO, 101. Vgl. Weirich, bes. 19-27; Hermann, R G G 3 5, 1426; Hertel, 272; Dinkel, EvTh 1998, 272-274. ™ Vgl. Hertel, 267 f. '5' Vgl. Sommer, KuD 1989, 311 f; auch Wendland, 80. 150-153. 178-180. 160 Vgl. KGA 1,7,1, 9-121, bes. 2 0 - 2 5 (§§ 6f); dazu Hermann Fischer, T R E 30,166-171, bes. 168f; Osthövener, 12; Mildenberger, ZThK 1990, 347-350. Zum philosophischen Rahmen der Glaubenslehre: Lange 1975, 61-83.

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Metatheorie von Religion entwickelt, an der sich die materiale Dogmatik orientiert. Gleichwohl bezieht sich die übergeordnete Religionstheorie aber auf die gelebte christliche Religiosität zurück.161 Das Dasein christlich-religiöser Individuen ist der Dogmatik vorgegeben. Die „christliche Glaubenslehre ist nicht für diejenigen" bestimmt, „welche den Glauben nicht haben, um ihn ihnen annehmlich zu machen, sondern nur für diejenigen, welche ihn haben, um sich über seinen Inhalt, nicht über seine Gründe, zu verständigen, und ihn zu verfolgen, wie sein inneres Wesen in der Gestalt der Lehre heraustritt".162 Dieser Selbstexplikation des christlich-religiösen Selbstbewußtseins ist ein sich aus dem menschlich-personalen Selbstbewußtsein und der relativen ethischen Freiheit heraus entwickelndes Gefühl von existentieller Abhängigkeit vorausgesetzt, mithin eine apriorisch gegebene religiöse Anlage des Menschen.163 In der Theorie des „Gefühls der schlechthinigen Abhängigkeit" ist die Totalitätsrelation der „Reden" aufgenommen.164 Wiederum nicht ausgesagt ist damit eine allgemeine „natürliche" Religion. Die Notwendigkeit von Religion ist zwar anthropologisch allgemein gesetzt, doch besteht wie schon in den „Reden" die menschheitliche Größe „Religion" nur in den unterschiedlichen positiven Religionen.165 Schleiermacher will aus der Perspektive des religiösen Bewußtseins den Inhalt des christlichen Glaubens entfalten. Die verschiedenen religiösen Phänomene und Gemeinschaften bilden sich in genetisch übereinstimmender Weise kraft der „Aeußerungen des Selbstbewußtseins". 166 Dennoch gestalten sie sich je partiell und unterschiedlich, hinsichtlich der Intensität ihrer frommen Erregung wie auch hinsichtlich deren Beschaffenheit. Die geschichtlich existenten Religionen stellen teils verschiedene Arten von Frömmigkeit dar, teils verschiedene Entwicklungsstufen derselben Art. 167 Unter den Entwicklungsstufen ist jeweils die monistische Ausrichtung des frommen Bewußtseins, also die Gestalt des „Monotheismus", als die höchste anzusehen. Hier differenziert Schleiermacher nochmals in die „ästhetische" Richtung, die neben dem klassischen Hellenismus auch der Islam repräsentiere, und die „teleologische", die er im Christentum und - weniger ausgeprägt - im Judentum vertreten sieht.168 Merkmal der teleologischen Richtung sei es, daß alle religiöse Tätigkeit als Mittel zum Zweck der Hervorbringung 161 162

Vgl. Dierken 1996, 3 5 9 f ; Axt-Piscalar, 178. 183f; Beißer, 5 3 - 5 Z Vgl. K G A 1,7,2, 8 (§ 109); dazu Lange 1975, 131-135; Weirich, 16.

163 Vgl. KGA 1,7,1, 3 1 - 3 3 (§ 9); Axt-Piscalar, 175. 182f; F. H . R. Frank, 9 3 f ; Beißer, 56. 58. 6 1 - 6 8 ; Herms, T R E 25, 179. 164 Vgl. Dierken 1996, 364 Anm. 81. Die geprägte Formel „Gefühl schlechthin [n]iger Abhängigkeit" geht auf Delbrücks Kritik von 1827 zurück (vgl. Delbrück, 47 50, 64 u.ö.) und begegnet erst in der zweiten Auflage ( C G 2 1 , 23 [§ 4]). K G A 1,7,1, 31 (§ 9) kommt ihr freilich bereits sehr nahe. 165 Vgl. Hertel, 160f; Dierken 1996, 3 6 0 ; Axt-Piscalar, 176. - Philosophische Spekulation und Theologie sah Schleiermacher streng geschieden, so daß auch eine materiale Begründung christlicher Aussagen in allgemeinen denkerischen Axiomen ausgeschlossen war, vgl. Curran, 328 f. Z u m Nebeneinander von theistischer Spekulation und geschichtlich-religiöser Erfahrung: aaO, 75-115.

Vgl. K G A 1,7,1, 4 0 (§ 12); dazu Dilthey, Leben I I / 2 , 4 7 9 ; Weirich, 2 7 - 5 1 . ">7 Vgl. K G A 1,7,1, 4 3 - 6 0 (§§ 13-17). 168 Vgl. K G A 1,7,1, 6 1 - 6 8 (§ 18); dazu Bader 1998, 248. 2 5 2 - 2 5 4 ; Weirich, 43f. 166

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des Reiches Gottes aufgefaßt werde. Dem Judentum wirft Schleiermacher in diesem Zusammenhang vor, seine Observanz vollziehe sich „mehr unter der Form von Strafe und Belohnung, als unter der von Aufforderungen und Bildungsmitteln", was dem Judentum wiederum das Prädikat der „Unreife" einträgt. 169 Schleiermachers Verfahren, die historisch gegebenen Religionen zu unterscheiden, kann „kulturphänomenologisch" genannt werden. Die theologische Wahrheitsfrage hat Schleiermacher in das christliche Selbstbewußtsein aufgehoben; sein frömmigkeitstheoretischer Ansatz will den Inhalt der christlichen Religion als Objektivierung von religiösem Lebensgefühl zur Sprache bringen. Folglich kann das Selbstsein Gottes, wie es die traditionelle Trinitätslehre behandelte, methodisch nicht zur Grundlegung der Dogmatik herangezogen werden. Die Trinitätslehre, welche „nicht gleichen Werth mit den übrigen eigentlichen Glaubenslehren" habe, wandert an den Schluß der Dogmatik. 170 Die Heranziehung anderer Religionen zur Bestimmung des „Christlichen" stellt, analog der komparatorischen Empfehlung des Christentums in den Reden, eine religionsphilosophische Folientechnik dar.171 Die christliche Dogmatik, so kann man zugespitzt sagen, wird damit formal in die analytischen Humanwissenschaften eingeordnet, wobei für Schleiermacher allerdings der Sachgehalt des christlichen Glaubens in der Frömmigkeit des Christen bewahrt ist.172 Schleiermacher reformuliert zunächst die Gotteslehre von seiner Theorie des frommen Selbstbewußtseins her. „Gott" wird als transzendentes Gegenüber weltlich-geschichtlicher Existenz erfahren. Indem Schleiermacher die Gottesbeziehung in den Aufbau der religiösen Subjektivität integriert, legt er die Definitionskompetenz für den Begriff „Gott" mittels transzendentaler Selbstinterpretation in das Bewußtsein des religiösen Individuums. Die Dogmatik soll „den Inhalt des anerkannten Bewußtseins von Gott" entwickeln.173 „Gott" ist das Unendliche als Komplement des endlich-individuellen Selbstverhältnisses. 174 Das fromme Selbstbewußtsein, welches der menschlichen Natur ein169 Vgl. K G A 1,7,1, 56-58 (§ 16); Treiber, 7 f ; Dierken 1996, 385f; Lange 1975, 74-76; K . - M . Beckmann 1959, 16 f. 170 Vgl. K G A 1,7,2, 357-371 (§§ 186-190), bes. 3 5 8 f ; dazu Hermann Fischer, T R E 30, 170; Osthövener, 14; Weirich, 51-62; Senft, 18; F. H . R. Frank, 91 f; Lange 1975, 146; Beißer, 80f. 234-237 Curran, 303-306, faßt den Grund für Schleiermachers Distanz zur Trinitätslehre dahingehend zusammen, daß bei dieser vom Wesen Gottes selbst - und nicht vom Eindruck der Gotteserfahrung im Menschen - gehandelt werde, was den Ansatz in der Darstellung des Gottesbewußtseins transzendiere. Prägnant formuliert Bader 1998, 251: „Die Glaubenslehre beginnt mit Frömmigkeit und sie endet, wo Frömmigkeit endet." 171 Siehe oben 51 f. 172 Vgl. Osthövener, 14f mit Anm. 27; Lange 1975, 58; Senft, 7; Hirsch 1954, 283-299. - Beißer, 94, weist zu Recht darauf hin, daß das fromme Subjekt für Schleiermacher Ort, nicht aber Schöpfer der Frömmigkeit ist, da sich diese aus dem In-der-Welt-Sein des Subjekts entwickelt. Siehe dazu Macquarrie, T R E 17, 19. 173 Vgl. K G A 1,7,1, 128 (§ 38); dazu v.a. Sauter 1995, 178; ferner Hermann, R G G 3 5, 1430. 174 Vgl. Osthövener, 16-19. 22; F. H . R. Frank, 98. 109f. 133f; Senft, 15 u . ö . ; W. Philipp, Protestantismus, L X X V - L X X V I I ; K . Barth 1978, 387; Frost, 223; Treiber, 222. Curran, 300, faßt zusammen: „ G o d is the co-determinate of the feeling of absolute dependence."

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wohnt, äußert sich, indem es Eigenschaften Gottes benennt, über sich selbst als ein „die Gesammtheit des endlichen Seins repräsentierende [s] Selbstbewußtsein". 175 „Gott" als das „unendliche Sein" ist, „indem im unmittelbaren Selbstbewußtsein wir uns als schlechthin abhängig finden", als das Woher der Abhängigkeit mitgesetzt. 176 Der Terminus „Gott" bezeichnet einen „funktionalen Zusammenhang [ . . . ] , der jedem Bewußtsein eigen ist"; auf ihn hin legt der Mensch sich existential aus, von ihm her denkt er sich die Welt als Totalität. 177 Im Rahmen dieser Theorie der Genese und Ausgestaltung von Frömmigkeit wird das Christentum als dadurch ausgezeichnet gefunden, daß es alle fromme Erregung auf die Erlösung durch die Person Jesu von Nazareth bezieht. 178 „Das ursprüngliche ein höchstes Wesen mitsezende Abhängigkeitsgefühl" werde im Christentum „nicht anders zum wirklichen Bewußtsein als mit der Beziehung auf Christum". 1 7 9 Die Gemeinschaft mit Gott, also die Überwindung der sinnlichen Hemmung des religiösen Lebensgefühls, werde exklusiv als von Christus vermittelt vorgestellt, wobei einerseits die „dem Menschen ins Leben mitgegebene Sündhaftigkeit als eine gänzliche Unfähigkeit zum Guten anzusehen" sei, man aber andererseits die „mitgebohrene Sündhaftigkeit nicht so weit ausdehnen" dürfe, „daß man dem Menschen auch die Fähigkeit abspräche, die Kraft der Erlösung in sich aufzunehmen". 180 Die Präsenz des Göttlichen in Christus und seine erlösende Wirkung dürfe als nichts Übernatürliches und die natürlichen Fähigkeiten des Menschen prinzipiell Übersteigendes angesehen

Vgl. KGA 1,7,1, 123 (§ 36); 134 (§ 43). i * Vgl. KGA 1,7,1, 123; dazu Redeker, Einleitung, X X X I . 177 Vgl. Osthövener, 30f; Dierken 1996, 370-378; Axt-Piscalar, 189; Sauter 1972, 125; Lange 1975, 69-77, bes. 70f; Kahler 1989, 68f; Beißer, 106-110; Hertel, 223f; Frost, 159f. 178 Vgl. KGA 1,7,1, 61-68 (§ 18). Zur Stellung der Christologie innerhalb der Glaubenslehre: Herms, T R E 25, 179; Lange 1975, 138-145; K.-M. Beckmann 1959, 17 17' Vgl. KGA 1,7,1, 129 (§ 39). 180 Vgl. KGA 1,7,1, 2 5 6 f (§ 80); 274f (§ 91). - Bemerkenswert ist Schleiermachers Argument gegen die Annahme einer der „Erlösung" vorauszusetzenden „Umschaffung", diese verringere „die Erlösung und widerstreitet unserm Glauben an dieselbe", da „außer ihr [sc. der Erlösung] zur Vollendung des Menschen noch etwas anderes nöthig sein soll" (275). Die Wirksamkeit Christi als des Erlösers wird also in einen bruchlosen evolutionären Zusammenhang der Menschheitsentwicklung einbezogen, der „den Grund unseres frommen Bewußtseins" als „zu dem Wesen der menschlichen Natur" (ebd) gehörend bestimmt und eine radikale Neuschöpfung als Christi Werk verneint (vgl. K.-M. Beckmann 1959, 18 f). In gewisser Spannung zu diesem Argumentationsstrang stehen die stärker am N T und der traditionellen Dogmatik orientierten Aussagen über Wiedergeburt, Rechtfertigung und Bekehrung (vgl. KGA 1,7,2, 103-135 [§§ 127-130]). Hier heißt es mit 2. Kor. 5,17, der Mensch werde „durch die Gemeinschaft mit Christo ein neues Geschöpf, und beginnt ein neues Leben" (104), das Erlösungsleben werde ihm als Passivem „auf das alte gleichsam aufgepfropft" (ebd), und in Anbetracht der Unfähigkeit der sündhaften menschlichen Natur, „das geistige Leben aus sich selbst zu beginnen", könne „der Anfang des neuen Lebens [...] nur als eine schöpferische Thätigkeit angesehen werden" (106). Ohne eine „Fähigkeit, die Kraft der Erlösung in sich aufzunehmen", als ursprünglichen Besitz des Menschen vorzubehalten, kann Schleiermacher hier von der „Umwandlung der Menschen, deren zeitliche Manifestation in der Vereinigung Gottes mit der menschlichen Natur in Christo ihren Anfang hat," als Beginn der „Neuschöpfung des Menschen" sprechen (vgl. 114). Für die Wirksamkeit des göttlichen Wortes in der Bekehrung könne „keine natürliche Mitwirkung des Menschen zugegeben werden" (132). Vgl. dazu auch kritisch Dierken, T R E 32, 520. 175

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werden, da der Gottesbegriff Schleiermachers eine Ökonomie des göttlichen Geistes nur in Kontinuität mit allen Erfahrungsmomenten zu denken gestattet; auf „dem ganzen Gebiet der Frömmigkeit" könne keine Notwendigkeit entstehen, „ein schlechthin übernatürliches anzunehmen". 181 Folglich ist auch die Aneignung des Göttlichen durch den Menschen - die Gewinnung kräftigen „Gottesbewußtseins" - , „so gewiß als Christus ein Mensch war", das innerhalb des Natürlichen generell Mögliche. 182 Christus, der „Stifter des Gesammtiebens der Seligkeit" und „Anfänger" eines ,,neue[n] Gesammtiebens, in welchem die Annäherung zur Seligkeit ihren Grund hat" 183 , steht innerhalb der evolutionären Kontinuität der sich religiös entwickelnden Menschheit. Das Telos der auf das Gottesbewußtsein Jesu zurückgeführten religiösen Entwicklung beschreibt Schleiermacher als ein solches vervollkommnetes Gottesbewußtsein, wie es sich in dem johanneischen Satz „Gott ist die Liebe" ausdrückt. 184 Ihre ontologische Begründung erhält diese Konzeption der Soteriologie in Schleiermachers „organischer" Vorstellung von der Entwicklung des Gottesreichs. Die Evolution des religiösen Bewußtseins zum Christentum hin ist zwar durch das Auftreten Jesu als ein singuläres Geschehen initiiert und befördert, sie gestaltet sich aber innerhalb allgemein gegebener Strukturen, die Notwendigkeit und Möglichkeit der in Christus geschehenen „Erlösung" setzen. 185 Das vollkommene Gottesbewußtsein Jesu ist eine inhärente Grenzmöglichkeit des Menschlichen, nicht Resultat übernatürlichen Gotteshandelns. Die Erlösung ist nicht „als solche" losgelöst vom Kontext der natürlichen Existenz, sondern „als die vollendete Schöpfung der menschlichen Natur" zu verstehen.186 Das religiöse Selbstbewußtsein des Christen begreift das „Geschichtliche" und das „Urbildliche" in der Person Jesu als untrennbar vereint. Die Stiftung des christlichen Gesamtlebens müsse in einem historisch konkreten Menschenleben ihren Ausgang nehmen. Christi menschliche Natur wäre nicht volll 8 ' Vgl. K G A 1,7,1, 176 (§ 61); dazu Offermann, 279f; K . - M . Beckmann 1959, 38. 4 4 f ; Lange 1975, 144; Kahler 1989, 70; Beißer, 216f; Hirsch 1954, 304. 182 Vgl. K G A 1,7,1, 77-81 (§ 20), bes. 79; K G A 1,7,2, 12 (§ 110); dazu Mildenberger, T R E 1, 435f; Macquarrie, T R E 17, 20; H e r m s , T R E 25, 179; Senft, 2 2 f ; Axt-Piscalar, 197; Lange 1975, 128. 183 K G A 1,7,1, 352 (§ 106); K G A 1,7,2, 2 (§ 107). 184 Vgl. 1. Joh. 4,8.16; siehe dazu K G A 1,7,2, 348-350 (§ 183). Zur geschichtsphilosophischen Herleitung des Werkes Christi: Lange 1975, 67 - Im Hinblick auf Schleiermachers „Verkirchlichung", die seit den „Reden" eingetreten ist, verdient Beachtung, daß er das Christentum jetzt ganz in die „ethische" Kategorie der Erwartung des Reiches Gottes faßt und die in den „Reden" hervorgehobene ästhetische Komponente der Frömmigkeit abweist. Indem er das Christentum „teleologisch" definiert, hat Schleiermacher das N T und dessen Erwartungsgut als gültige Beschreibung christlicher Frömmigkeit akzeptiert (freilich ohne die inhärente sachliche Berufung des N T auf das AT anzuerkennen). 185 Offermann hat die Struktur der Einleitung der Glaubenslehre detailliert untersucht und dabei nachgewiesen, wie stringent Schleiermacher das geschichtliche Auftreten des Erlösers mit dem vorausgehenden Aufweis der universalen Erlösungsbedürftigkeit der Menschheit verbindet (vgl. bes. 324f). Siehe auch Sauter 1972, 124f; Lange 1975, 141-145; Beißer, 219-221. 237-243; Hirsch 1954, 310-313. 334. Zum Organismusbegriff Schleiermachers vgl. Weirich, 74f. 186 Vgl. K G A 1,7,2, 11 (§ 110); Lange 1975, 79f; kritisch Redeker 1968, 188-218.

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ständig, „wenn sie nicht auch wäre volksthümlich bestimmt gewesen". Das „Volksthümliche" in Jesus ist dabei als rein empfänglich für die Tätigkeit des Geistes, nicht als eigenständig tätig gedacht, so daß es für die Erlöserfunktion zwar notwendig vorausgesetzt, nicht aber inhaltlich bestimmend ist.187 Zugleich sei der Erlöser als dem früheren, der Sünde verhafteten Gesamtleben völlig entzogen und der positiven Annäherung des religiösen Bewußtseins der Christen absolut überlegen zu denken; als „Urbild" ist er die Verkörperung des religiösen Ideals.188 Auf der positiven Seite des „Urbild"-Gedankens wahrt Schleiermacher demnach eine kritische Spannung zwischen Christologie und Ekklesiologie, die in der zeitlich nie restlos überwundenen Erlösungsbedürftigkeit des Menschen wurzelt. Die negative Seite des Gedankens bedingt die Absolutsetzung Jesu gegenüber allen vorchristlichen religiösen Traditionen auch der alttestamentlich-jüdischen - , die unterschiedslos dem „früheren Gesammtieben der Sündhaftigkeit" zugeschlagen werden. Mit der Annahme der Vereinigung von Geschichtlichkeit und Urbildlichkeit in Jesus, die der Erfahrung wie der Logik widerstrebe - nicht aber: widerspreche - , sei im Christentum das Wunderbare seiner Person anerkannt. Die Ablehnung dieser Koinzidenz bedeute die Auflösung des Christentums selbst.189 Die Urbildlichkeit Jesu unterscheide ihn als Religionsstifter von Mose und Mohammed, denn anders als bei Judentum und Islam sei es dem christlichen religiösen Bewußtsein eigentümlich, daß es die Möglichkeit verneine, über den religiösen Stand des Stifters hinauszugehen. Die „urbildliche" Dimension des Erlösers ist somit ein christliches Spezifikum. Würde das Urbildliche aus der Lehre von Christus ausgeschieden, so müßte er „aus dem vor ihm bestandenen Gesammtieben" begriffen werden, und auch „sein ganzes Erzeugniß", nämlich das Christentum, „muß also alsdann zu begreifen sein aus dem Judenthum auf der Entwiklungsstuffe, auf der es damals stand, und auf welcher ein Mensch wie Jesus aus seinem Schooß hervorgehen konnte; das Christenthum ist alsdann nichts anderes als eine neue Evolution des, sei es auch mit irgend einer fremden Weisheit gesättigten, Judenthums, und Christus [...] nur ein mehr oder weniger revolutionärer jüdischer Lehr- und Gesezverbesserer".190 Die Annahme der „Urbildlichkeit" Jesu impliziert die theologische Trennung von Judentum und Christentum sowie von AT und NT. Würde man das Christentum auf Jesus als „einen Ausgezeichneten des jüdischen Volkes" zurückführen, so wäre Jesus „als Erlöser nichts", da das Neue und Bleibende des Christentums in ihm nicht definitiv gegeben wäre.191 Dem „urbildlichen" Erlöser komme „eine von der natürlichen Abstammung losgerissene Ursprünglichkeit nothwendig" zu.192 Das Dasein des Erlösers ist „nicht als ein Erzeugniß der

' 8 7 Vgl. 188 Vgl. 189 Vgl. Vgl.

KGA KGA KGA KGA

1,7,2, 1,7,2, 1,7,2, 1,7,2,

2 5 f (§ 115). 19 (§ 114). 2 0 f (§ 114); dazu Lange 1975, 76; Herms, T R E 25, 180. 21 (§ 114).

i " Vgl. K G A 1,7,2, 22. 192 Vgl. K G A 1,7,2, 42 (§ 118).

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durch die Volksthümlichkeit auf besondere Weise bestimmten und beschränkten menschlichen Natur anzusehen" und folglich steht seine Lehre in keinem konstitutiven Zusammenhang mit dem „Gesez" als der religiösen Norm dieser volkstümlichen Umgebung. 193 Diese christologische Konzeption veranlaßt Schleiermacher zur Kritik der traditionellen Christologie mit ihrer Bezugnahme auf die messianisch-theologischen Topoi des AT. So könne Christus keine vollkommene Gesetzeserfüllung zugeschrieben werden, sei das Gesetz doch Ausdruck des in ihm gerade überwundenen Zwiespalts zwischen göttlichem und menschlichem Willen.194 Ist in Christus etwas definitiv Neues geschehen, so verbietet es die Prämisse des gleichmäßigen Zusammenhangs aller Geschichte, seine Funktion aus einer distinkten Kontinuität heraus abzuleiten. Die Erlösungshoffnung „der Männer im alten Bunde" gibt für Schleiermacher lediglich ein Beispiel der unvollkommenen Heilserwartung, mit der die Menschheit sich zu bescheiden gehabt hätte, „wenn Christus nicht erschienen wäre", geht Christi Erscheinen aber nicht bestimmend voraus. 195 Die für den Hauptstrang der alttestamentlichen Heilserwartung signifikanten Begriffe „Vergeltung" und „Erwählung" sieht Schleiermacher in den messianischen Erwartungen, die als höherstrebende, Christus andeutende religiöse Äußerungen zu verstehen seien, ausgeschieden.196 Die ethnischkulturelle Prägung Jesu wird formal vorausgesetzt; deren religiöse Ausgestaltung steht in keinerlei Verbindung mit seiner Erlösertätigkeit. Die These von der Pflanzung reinen Gottesbewußtseins kraft der „urbildlichen" Religiosität Jesu führt zur ausdrücklichen Kritik des vorchristlich-jüdischen Gottesverständnisses. Dieses wird hinsichtlich des Abstands zu dem in Jesu Gottesbewußtsein rein enthaltenen Gottesverständnis von den heidnischen Religionen nicht unterschieden. Insbesondere kritisiert Schleiermacher die „sinnlichen" und auf Einbezogenheit Gottes in das Weltgeschehen abhebenden („leidentlichen") Momente der biblischen Gottesrede, die der „vollkommnefn] Einwohnung des höchsten Wesens im Bewußtsein", wie sie Jesu Religiosität kennzeichne, zuwiderliefen: „ D a s ursprüngliche, auch abgesehen von dem Zusammenhange mit ihm [sc. Jesus], der menschlichen Natur mitgegebene Bewußtsein Gottes, kann nicht eben so schlechthin ein Sein Gottes in uns genannt werden, weil es, vermöge der auch durch den jüdischen Monotheismus sich überall hindurchziehenden bald gröberen bald feineren Versinnlichung, weder ein reines Bewußtsein des höchsten Wesens ist noch auch von allem leidentlichen frei, weil es nämlich in seiner Aeußerung durch die Sinnlichkeit kann gehemmt und gewendet werden. Wenn es nun weder Gott rein und vollkommen angemessen in uns abzubilden vermag, noch auch als reine Thätigkeit sich zu erweisen, da Gottes Sein nur als Thätigkeit aufgefaßt werden kann: so ist jenes nicht ein wahrhaftes Sein Gottes in uns." 1 9 7 Vgl. K G A 1,7,2, 80 (§ 124). im Vgl. K G A 1,7,2, 90 (§ 125). "5 Vgl. K G A 1,7,2, 67 (§ 121). Vgl. K G A 1,7,2, 82 (§ 124). 197 K G A 1,7,2,29 (§ 116).

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Auf das transzendentale, an die individuelle Welterfahrung gebundene Gottesverständnis, das jede besondere geschichtliche Vergegenständlichung oder Einwirkung Gottes verneint, ist die Notwendigkeit zurückzuführen, mit der Schleiermacher eine theologische Distinktion der vorchristlichen Religionen und die Rückbindung der christologischen Erlösungswirkung an die spezielle Glaubensgeschichte Israels ablehnt. Der „urbildliche" Erlöser steht gleichmäßig über allen früheren religiösen Phänomenen. Ein besonderes, umgreifendes Gotteshandeln in Judentum und Christentum ist apriorisch ausgeschlossen. § 22 bringt dies im Leitsatz thetisch zum Ausdruck: „Das Christenthum ist ohnerachtet seines geschichtlichen Zusammenhanges mit dem Judenthum doch nicht als eine Fortsezung oder Erneuerung desselben anzusehen; vielmehr steht es, was seine Eigenthümlichkeit betrifft, mit dem Judenthum in keinem anderen Verhältniß als mit dem Heidenthum." 198

Die Ablehnung jeder äußeren Normierung des Glaubens zugunsten des dogmatischen Ausgangs von der Glaubenserfahrung 199 bringt es mit sich, daß auch die im NT dokumentierte besondere Bezugnahme des Glaubens der ersten Christen auf Israels Bundesgeschichte und deren Verheißungen für Schleiermachers Theologie dogmatisch folgenlos bleiben muß. Für die dogmatische Bewertung des AT ergibt sich die Alternative: „Beweis des Glaubens aus der Schrift" oder „Abrogation jeder inneren Beziehung". Die Weissagungen der „jüdischen Profeten" könnten für das Christentum nur dann Beweiskraft haben, „[...] wenn man Eingebung bei jenen Sehern voraussezt, und also nur sofern das Christenthum schon eine frühere Offenbarungsformation unter sich hat. Allein [...] können wir nicht unsern festern Glauben an das Christenthum auf unsern unstreitig minder kräftigen Glauben an das Judenthum gründen wollen." 200

Da Schleiermacher die Erlösungstat Christi gegenüber der Tradition des AT absolutsetzt und sein Gottesbegriff an das Schema des transzendierenden religiösen Bewußtseins gebunden ist, findet das AT, im Denken Schleiermachers ein Dokument des im Judentum lebendigen religiösen Bewußtseins, in der Glaubenslehre keinen dogmatischen Ort. Die christliche Glaubenserfahrung wird nicht retrospektiv in eine besondere theologische Kontinuität hinein ausgelegt. Was dem christlich-religiösen Gefühl gemäß sei, finde sich allein in den Schriften des NT, die damit zur sekundären, von der Glaubenserfahrung bedingten Norm werden. 201 Die apostolische Praxis des Schriftbeweises aus den Prophetentexten hingegen könne das christliche Bewußtsein nicht stützen oder gar eine Garantie der soteriologischen Bedeutung Jesu geben, „da kein Apostel auf diesem Wege gläubig geworden ist"; folglich erlange man aus den betreffenden Aussagen des NT „mehr Beweise für die Würde der Propheten und für das Verhältniß des Judenthums zum Christenthum als für die Erlöserwürde " 8 K G A 1,7,1, 88; vgl. Hirsch 1954, 3 2 0 f . 1,9 Vgl. K G A 1,7,2, 2 2 2 f (§ 148); dazu Hirsch 1954, 318f. 2 0 0 Vgl. K G A 1,7,1, 8 1 - 8 7 (§ 21), bes. 85ff. 201 Vgl. K G A 1,7,2, 224 (§ 148).

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Christi". 202 Die Würde, welche den Propheten im N T beigemessen wird, und das geschichtliche Verhältnis von Kirche und Synagoge stehen zur Erlöserwürde Christi in Kontrast und begründen gerade keinen inhaltlichen Bezug des AT zur christlichen Erlösung. Zur Stützung seiner These von der gleichmäßigen Beziehung der urbildlichen soteriologischen Funktion Jesu zu allen Menschen bedient sich Schleiermacher indes eines alttestamentlichen Schriftverweises. Hier kommt es singulär zu einem positiven dogmatischen Gebrauch des AT, genauer gesagt: der biblischen Urgeschichte. Schleiermacher führt das in der Alten Kirche und der Orthodoxie bestimmte „Protevangelium" (Gen 3,15) an, das er auf eine an den „Fall" selbst angeknüpfte Möglichkeit der Wiederherstellung auslegt. 203 Die Passage wird gemäß dem Schleiermacherschen Grundsatz von der Natur-Immanenz der Erlösungstat Christi nicht in dem Sinne als Prot-„Evangelium" aufgefaßt, als geschehe hier ein besonderer, den natürlichen Zusammenhang verändernder göttlicher Zuspruch an den Menschen; vielmehr sieht Schleiermacher eine im Menschen vorhandene Potenz des Gottesbewußtseins angesprochen, wonach „gleich an das erste Bewußtsein der Sünde auch die erste Weissagung der Erlösung anknüpft". 204 Der Rekurs auf die biblische Urgeschichte will allgemein Religiöses aufzeigen und das Christusereignis darin integrieren. Die Beziehung zwischen Kirche und Judentum reduziert sich auf Äußerliches, das mit dem transzendental Ur-Anfänglichen jeder Religion nicht in Verbindung steht. 205 Die geschichtliche Verwandtschaft des Christentums mit dem Judentum relativiert Schleiermacher. Der geschichtliche Zusammenhang dürfe nicht „zu ausschließend" gedacht werden. Denn auch das Heidentum sei vielfältig monotheistisch vorgeprägt gewesen, während die messianische Erwartung im Judentum zur Zeit Jesu gar nicht dominant vorzustellen sei. Mit einer Anleihe bei Kant, aber in erkennbarer Spannung zu der zeitgenössischen Exegese seines (bis 1820) Berliner Kollegen W. M. L. de Wette 206 erklärt er die Vgl. K G A 1,7,2, 8 (§ 109). Vgl. K G A 1,7,1, 79 (§ 20). Siehe auch die ausführliche Darlegung über die Frage der Sündhaftigkeit der ersten Menschen im Verhältnis zu der der Nachgeborenen (KGA 1,7,1, 2 8 3 - 3 0 1 [§ 94], bes. 286f. 299). Z u m „Protevangelium" siehe K. Koch, T R E 27, 4 7 7 202

203

° Vgl. K G A 1,7,1, 281 (§ 93); dazu Wendland, 70.

2 4

Vgl. zum folgenden: K G A 1,7,1, 8 8 f (§ 22). Ahnlich wie Herder (vgl. oben 4 6 f) attestierte de Wette in einer stärker dialektisch geprägten Sicht dem nachexilischen Judentum einen religiösen Verfall gegenüber dem Mosaismus. „Ausländische metaphysische Mythologie" habe die metaphysische Zurückhaltung der rein sittlich bestimmten Religion Moses ausgehöhlt und eigentlich erst die Herrschaft des Buchstabenglaubens begründet (vgl. Über Religion, 114f). Nicht die ursprüngliche mosaische Gestalt des Judentums, sondern erst die nachexilische Mischform versteht de Wette somit als den Inbegriff der von Christus durch „den lebendigen freien Geist der Religion" überwundenen religiösen Unfreiheit. Christus „trat in Moses Fußstapfen, als Verkündiger der göttlichen Wahrheit, als Stifter einer Anbetung im Geiste und in der Wahrheit. Aber wie viel höher und selbständiger erschien in ihm dieses Streben nach Wahrheit! Mose hatte die mythischen Hüllen weggeworfen, aber dagegen neue symbolische [sc. rituelle und dogmatische] geschaffen; Christus aber erhob sich auch über diese" (115f). Für Mose gelte, er habe „den kühnen Gedanken ausgeführt, eine Religion aufzustellen, welche von der [ . . . ] höchsten Idee 205

206

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im Babylonischen Exil eingetretene teilweise Paganisierung des Judentums zur Voraussetzung dafür, daß die Kirche aus ihm hervorgehen konnte. 2 0 7 Der „Monotheismus" ist die einzige theologische Klammer, die für Schleiermacher die Christen mit den Juden, aber auch mit Strömungen des klassisch-antiken Heidentums verbindet. In dieser abstrakten Betrachtung stellen sich die Differenzen zwischen Juden und Heiden vor dem Auftreten Jesu „weit geringer" dar, als es „auf den ersten Anblik" scheine. 208 Etwa hinsichtlich eines strikten TunErgehens-Zusammenhangs habe „Christus selbst auf das bestimmteste" der ,,beschränkte[n] und irrige[n] Ansicht, die [...] sowol im hellenistischen Heidenthum als auch im Judenthum sehr tief gewurzelt war, daß nämlich auf jede einzelne Sünde auch einzelnes Uebel folge, und aus jedem Uebel auf Sünde an demselben Ort und in dem gleichen Zeitzusammenhang geschlossen werden dürfe", widersprochen, wie Schleiermacher in Aufnahme seiner Interpretation von Joh 9,2 f in den „Reden" - nun aber ohne besondere Kontrastierung Jesu gegenüber dem Judentum - darlegt. 209 Das Judentum wird in der Glaubenslehre zu „solchen Glaubensweisen, welche keinen Erlöser anerkennen", gezählt. 210 Das Sündenbewußtsein habe daher durch heilige Riten und Pflichten stillgestellt werden sollen. Das darin der Andacht ausging, mit ernster Strenge die sittliche Natur des Menschen in Anspruch nahm, und zugleich, kraft ihrer geistigen Richtung, die Hüllen des mythologischen Bilderdienstes durchbrach, und den Menschen an das eigene Gewissen und die eigene freye Ueberzeugung zurückwies" (107). So habe Mose „eine sittlich heilige Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen" gestiftet, diese aber damit „dem Dienste seines [Moses!] heiligen Willens" unterworfen (vgl. 108). Der Mosaismus habe die Tendenz - nicht den allgemeinen Charakter Religion in abstrakte Gerechtigkeit, also Gesetzlichkeit, aufzulösen. Auch behauptet de Wette ein Defizit im Gottesverständnis; der „Gott der völkerhassenden Hebräer" habe nicht „Gott der Liebe [ . . . ] , Vater aller Menschen" sein können (vgl. 112). Die Entwicklung des Mosaismus interpretiert de Wette so letztlich als ein religiöses Scheitern: „Der menschliche Geist hatte einen hohen Schwung genommen, um sich zur Freyheit zu erheben, aber er sank doch wieder zur Knechtschaft zurück, indem er sich ein selbstgemachtes Joch auflegte" (113). De Wette sieht im Gesetz demnach eine religiöse Schöpfung des Mose und verortet Tora und Christusgeschehen nicht in einer von der religiösen Ideengeschichte unterschiedenen göttlichen Ökonomie. 207 Vgl. Diestel, 688. - Dagegen vertritt Schütte 1970, 306 f, die (nicht an Quellen belegte) Auffassung, Schleiermacher sehe im Monotheismus der jüdischen Religion zur Zeit Jesu einen spezifischen Verbindungsstrang zwischen Judentum und Christentum, da „das vom Heidentum bestimmte Bewußtsein sich des Begriffs des Monotheismus nicht bemächtigen kann und partikular bleibt". Aufgrund des Quellenbefundes ist dem zu entgegnen, daß Schleiermacher durchaus eine Affinität des „höheren" Heidentums zu monotheistischen Vorstellungen erkennt und andererseits die „Reinheit" des jüdischen Monotheismus in Frage stellt (vgl. dazu unten 71-73. 75f Anm. 243. 86f. 93f. 98f; ferner Scholtz, WSA 1977, 354 A n m . 120; H.-J. Kraus 1970, 211; partiell zustimmend zu der Position Schüttes: Lange 1975, 76; Η. M . Müller 1988, 21). 208 Dem Urteil von Diestel, 688: „Die antike Bildung hinderte Schleiermachern, dem A.T. ein tieferes Studium zuzuwenden, und darum zeigt auch er eine starke Abhängigkeit von der Zeitströmung. Aehnlich wie Kant stellt er Judenthum und Heidenthum dem Christenthum gleich nahe", ist zu entgegnen, daß nicht die solide Kenntnis der klassischen Antike, sondern vielmehr die fehlende theologische Unterscheidung zwischen jüdischer und paganer Tradition Schleiermachers Haltung bestimmt. Vgl. dazu Karpp, TRE 6, 83. 2°9 Vgl. KGA 1,7,1, 319 f (§ 99). 2 '° Vgl. KGA 1,7,2, 6 (§ 109).

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wirksame Erlösungsverlangen interpretiert Schleiermacher als in den nichtchristlichen Religionen enthaltene Tendenz auf das Christentum und seine Erlösung hin. Die im Judentum lebendige Sehnsucht nach einem Erlöser wird mit der Unerfülltheit heidnischer Religiosität gleichgestellt: „Wie aber der christliche Glaube die Nichtigkeit aller dieser Methoden zur wahren Beruhigung des Menschen aussagt: so ist auf der andern Seite nicht zu läugnen, sofern in allen Glaubensgestalten dem Judenthum und dem Heidenthum deren Hauptkörper solche Handlungen ausmachen, ohnerachtet derselben eine unbefriedigte Sehnsucht zurükbleibt, welche also auch eine Ahndung sein muß von einer solchen Befriedigung jenes Bedürfnisses, in welcher das Wesen wäre statt des Schattens, insofern drükken sie eine Verwandtschaft mit dem Christenthum und eine Annäherung an dasselbe aus, und zeigen wie die menschliche Natur auf ihrer niederen Entwiklungsstufe sich der höheren göttlichen Mittheilung in Christo verlangend aufthut." 2 1 1

Da Sünde und Unseligkeit aus dem Gesamtleben der Christen nur allmählich verschwinden, ist die Erlösungssehnsucht, wie sie AT und Judentum exemplarisch - nicht spezifisch - darstellen, in der Kirche noch immer enthalten.212 Das Christentum hat sich außerhalb und innerhalb seiner verfaßten Grenzen der „veralteten und unvollkommnen Religionsformen" zu erwehren.213 Im Kontext der Frage der Kindertaufe behauptet Schleiermacher, „daß sich in jedem christlichen Kinde beides, sowohl die heidnische d.h. die leichtsinnig frevelnde als auch die jüdische d.h. die trübsinnig ängstliche Versinnlichung des göttlichen nur in anderem Verhältniß in jedem, von selbst entwikkelt, und daß also jedes eben so sehr als die gebohrnen Unchristen einer Belehrung bedarf". 214 Die als „trübsinnig ängstliche Versinnlichung" des in Reinform „geistigen" Gottesbegriffs aufgefaßte jüdische Gottesvorstellung erscheint hier als natürliche Vorstufe der christlichen Religion. Ihr wird somit der Ursprung in einer besonderen göttlichen Ökonomie, die der Urbildlichkeit Jesu analog wäre, abgesprochen. Das gegenwärtige Verharren der Juden in ihrer Religion ist für Schleiermacher demgemäß unspezifischer Ausdruck religiöser Hemmung. Den erwartbaren Einwand, er leugne durch die Reduktion der Verbundenheit von Kirche und Israel auf äußere Relativa den seit Augustin bestehenden Glaubenssatz von der einen, vor Beginn der Welt erwählten Kirche, kontert Schleiermacher mit der Behauptung, dieser Topos ziele gar nicht auf eine besondere theologische Bedeutung des erwählten Israel vor der Zeitenwende, sondern solle die Beziehung Christi zu unterschiedslos allen Menschen aus-

211 K G A 1,7,2, 7 (§ 109). Schleiermacher verweist in einer Anmerkung zu der zitierten Passage auf Hebr. 10,1-3. Die dort ausgesagte christologische Kritik der alttestamentlichen Opferpraxis enthält freilich keinerlei Parallelisierung mit heidnischen Religionsübungen. 212 Vgl. etwa K G A 1,7,2, 9f (§ 109); 100-102 (§ 126); 167-189 (§§ 137-140). Zu Schleiermachers Bestimmung des Sündenbewußtseins als einer Erinnerung des Vorchristlichen siehe Bader, Z T h K 1982, bes. 70-73. ™ Vgl. K G A 1,7,2, 313f (§ 173). 214 Vgl. K G A 1,7,2, 126 (§ 130).

D a s Bild des A T und des Judentums

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drücken. 215 Im übrigen - dies ist Schleiermachers entscheidendes Argument gegen den das Christus geschehen übergreifenden Erwählungsgedanken sei diese Einheit des Gottesvolkes „nur in dem göttlichen Rathschluß durch einen geheimen geistigen Zusammenhang wirklich"; sie sei also in einer dogmatischen Objektivation gegeben, jedoch „nicht auch in dem Selbstbewußtsein der Frommen". 2 1 6 Schleiermacher bestimmt „Kirche" streng gemäß seinem bewußtseinstheoretischen Ansatz als Gemeinschaft, in der „Glaube an Christum und gegenseitige Anerkenntniß desselben ist; und beides kann vor der Offenbarung Christi nicht gewesen sein". 217 D a den Frommen des Judentums ante Christum natum die Berufung auf Jesus Christus und auch ein übergreifendes Kirchenbewußtsein gefehlt habe, könne man sie nicht der selben religiösen Gemeinschaft zurechnen wie die Christen. Ihnen sei kein anderer Zusammenhang mit der Kirche zuzuschreiben als den Heiden. Diese beim Kirchenbewußtsein bestehende Differenz sei in der Begrifflichkeit von altem und neuem Bund ausgedrückt. 218 Jedoch könne religiösen Gemeinschaften, „welche auf dem der menschlichen Natur einwohnenden Gottesbewußtsein ruhen, aber auf einem solchen, in welchem keine Offenbarung Christi mitgesezt ist", eine gewisse, „wenn gleich unvollkommene und mit Irrthum vermischte" theologische Wahrheit nicht abgesprochen werden. 219 Dies gilt für Schleiermacher auch hinsichtlich des Judentums. An allen diesen vorchristlichen religiösen Systemen sei freilich nur das als wahr zu erachten, was sich für das Christentum anschlußfähig zeige, was sich also mit einem „noch so dunkeln und verhüllten Gefühl der Erlösungsbedürftigkeit und mit der Sehnsucht nach einem Erlöser verbindet". Von daher könne gesagt werden, die wahre Kirche sei doch älter als die Erscheinung Christi, wobei sich dieses Zugeständnis nicht spezifisch auf die Geschichte des AT beschränkt: „Der vorchristliche Theil dieser Einen wahren Kirche ist dann auch im Heidenthum eben so gut als im Judenthum; und was wir vorzugsweise die alttestamentliche Kirche nennen, ist nicht als Judenthum ein Theil jener Einen wahren Kirche, sondern nur sofern darin die Keime des christlichen, also die Offenbarung Christi, eingehüllt liegen.

2 , 5 Vgl. bes. K G A 1,7,2, 306 f (§ 169); zu der seit der Alten Kirche üblichen ekldesiologischen Einbeziehung des vorchristlichen Israel: May, T R E 18, 224f; A. Schindler, T R E 4, 680-682. 216 Vgl. K G A 1,7,1, 89 (§ 22). 217 Vgl. K G A 1,7,2, 307 2 , 8 Vgl. K G A 1,7,1, 89. - In der zweiten Auflage wird die Vorwegnahme kirchlich-religiöser Momente im biblischen Israel mit dem Hinstreben des Heidentums zum Monotheismus parallelisiert, was sich in der ersten Auflage entsprechend pointiert in diesem Kontext noch nicht findet (vgl. C G 2 1 , 85f [§ 12]). - Die Aussage bei Offermann, 269, Schleiermacher lasse in diesen Aussagen die These von der einen seit Beginn der Welt erwählten Kirche unangetastet, scheint von apologetischen Interessen bestimmt. Der von Offermann, ebd, angebrachte Verweis auf § 46 der zweiten Auflage der Kurzen Darstellung ist nicht stichhaltig, da dort ohne Unterscheidung vom äußeren geschichtlichen Zusammenhang des Christentums mit dem Judentum und dem Heidentum die Rede ist (vgl. ed. Scholz, 20). Treffend dagegen die Analyse bei Weirich, 155-157 219 Vgl. K G A 1,7,2, 307

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Friedrich Schleiermacher D a s J u d e n t h u m a b e r ist in d i e s e r H i n s i c h t e b e n s o s e h r ein z w i s c h e n e i n g e s c h o b e n e s als j e d e a n d e r e a u c h h e i d n i s c h e R e l i g i o n s f o r m , w e l c h e Sitten u n d G e s e z e enthielt u m e i n e n T h e i l d e r M e n s c h e n d a r u n t e r z u b e s c h l i e ß e n bis d e r G l a u b e k ä m e . " 2 2 0

Schleiermacher exemplifiziert den unspezifischen Zusammenhang des Christentums mit dem Judentum als einer vorchristlichen Religion in der Sakramentenlehre. Die Institutionen von Taufe und Abendmahl einerseits sowie Beschneidung und Passafeier andererseits stünden zwar historisch in einem nicht zu leugnenden Konnex, doch verhielten sie sich „gleichmäßig jede zu der Gemeinschaft [...] der sie angehören"; „aus der Vergleichung unserer Sacramente mit jenen Instituten" werde „der ganz verschiedene Charakter beider Gemeinschaften deutlich". 221 Die Zusammenstellung beider Kodizes, des „jüdischen" und des „christlichen", zu der von der Kirche überlieferten Bibel erklärt Schleiermacher aus der Übung der frühen Kirche, auch die genuin jüdischen Schriften zu benutzen. Freilich sei für die Kirche aus dem AT das stets besonders belangvoll gewesen, was daran am wenigsten jüdisch sei. Das christlich-fromme Bewußtsein finde sich in jenen Stellen des AT wieder, die (wie das Protevangelium) menschlich Allgemeines zur Sprache brächten. Was die spezifischeren Aussagen des AT angehe, so stünden diese dem Christentum nicht näher als die des „edleren und reineren Heidentums". Judentum und Heidentum demonstrierten nur die „Ubergangsfähigkeit einer veraltenden und unvollkommeneren Glaubensweise in eine höhere". Auch eine innere Anknüpfung der christlichen Religion am Glauben Abrahams unter Uberspringung des Gesetzes wird mit Rücksicht auf die singuläre Repräsentanz des religiösen Urbildes in Jesus abgewiesen. 222 Allerdings leitet Schleiermacher aus dem „überwiegenden geschichtlichen Zusammenhang des Christenthums mit dem Judenthum" ab, daß sich diese historisch-äußerliche Affinität auch in der Ausgestaltung der Lehre ausdrücken müsse. Denn Jesu Jünger seien „von den messianischen Hofnungen ihres Volkes" ausgegangen, weshalb „die Zusammenstellung des neuen Gottesreiches mit dem alten nothwendig in die ersten Darstellungen übergehen mußte". Mit diesen, den neutestamentlichen Darstellungen müsse die Theologie „die Continuität bewahren, und also darlegen können, daß unsere Vorstellungen von dem Geschäft Christi, wie sie sich aus unserem eignen frommen Gefühl entwikkeln, einerlei sind mit denen, die sich seine Jünger bildeten, indem sie seine Verrichtungen als erhöhte Umbildungen derjenigen darstellten, durch welche sich im alten Bunde die göttliche Regierung offenbarte". 223 Mit der Uber-

K G A 1,7,2, 307 221 Vgl. K G A 1,7,2, 284f (§ 160). 2 2 2 Vgl. K G A 1,7,1, 89. Auch Herder, Über die ersten Urkunden, 18, sah die Übernahme des AT in den kirchlichen Kanon durch die Praxis Jesu begründet. Den religiösen Wert der jüdischen Urkunden stuft er freilich wesentlich höher ein als Schleiermacher; „das reine Unmythologische ihrer Begriffe, die Erhabenheit und der Adel ihrer Vorstellungen" ließen es auch bei rein literarisch-ästhetischer Betrachtung zu, von einem göttlichen Ursprung der Texte zu sprechen. Vgl. K G A 1,7,2, 7 6 f ( § 123). 220

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bietung der alttestamentlichen Gottesreichserwartung im ersten Christentum sei bereits die Vorstellung von einem „rein inneren und geistigen Gottesreich" einhergegangen, die die jüdische, politisch geprägte Erwartung transzendierte. 224 In der eigentlichen Schriftlehre, die die §§ 147-150 umfaßt, wird wie in der Kurzen Darstellung unter den „heiligen Schriften" der Kirche nur das N T verstanden. 225 Die theologische Aufgabe, den Kanon zu definieren, wird hier unter dem Gesichtspunkt der Eigentümlichkeit der Religionen näher bestimmt. Innerhalb der neutestamentlichen Schriften sei dort mit „unreiner" Darstellung des christlichen Geistes zu rechnen, wo jüdische oder heidnische Denkweisen eingedrungen sein könnten; das christliche Bewußtsein dränge in dieser Frage auf reinigende Unterscheidung. 226 Die Tatsache, daß die Jünger Jesu aus dem Judentum stammten, werde in ihrer Wirkung auf die neutestamentlichen Schriften durch die bei ihnen gegebene besondere biographische Nähe zu Christus kompensiert: „Jemehr ihnen sein ganzes Leben gegenwärtig war, desto deutlicher mußte sich ihnen jeder Widerspruch gegen den Geist desselben [sc. des Judentums] entdekken in allem was sich bis zu einer gewissen Klarheit des Bewußtseins entwikkelte." 227

Zur Unterscheidung vom neutestamentlichen Kanon sei für die über Gebühr jüdisch oder heidnisch geprägten Texte aus der frühen Kirche der Begriff des Apokryphischen eingeführt worden. 228 Nach der definitiven Kanonisierung des N T gehe von jüdischen und heidnischen Einflüssen, wie sie etwa durch Konversionen entstünden, kein Risiko für die Reinheit der kirchlichen Lehre und damit die Bestimmung des Kanons mehr aus. 229 Die kirchliche Stellung des AT wird in einem Zusatz des § 150 behandelt. 230 Thetisch steht hier voran: „Die alttestamentischen Schriften verdanken ihr Aufgenommensein in unsern Kanon theils den Berufungen der neutestamentischen auf sie, theils dem geschichtlichen Zusammenhang des christlichen Gottesdienstes mit der jüdischen Synagoge, ohne daß sie deshalb die normale Dignität oder die Eingebung der neutestamentischen Schriften theilen."

224

Vgl. K G A 1,7,2, 77.

Vgl. K G A 1,7,2, 218f (§ 147 A n m . ) . Zur dogmatischen Würdigung des N T siehe Weirich, 116-119; Stroh, 264f. 291. 22 Vgl. K G A 1,2, 354; Littmann, 109. - Scholtz, WSA 1977, 307, bemerkt treffend, Schleiermacher habe hier polemisch ironisierend die jüdischen Hausväter besser verstehen wollen, als diese sich mit ihrem Übertrittsangebot selbst verstanden hätten. Anders Friedrich, Z K G 1991, 328, der bereits bei Friedländer „viel eher eine Apologie des Judentums als eine Absage" erkennt. 462 Siehe oben 45 f. 4 " K G A 1,2, 342. 464 K G A 1,2, 347. 460

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Friedrich Schleiermacher

„Ja! Ein judaisirendes Christenthum das wäre die rechte Krankheit, die wir uns noch inokuliren sollten! Sie sind nicht so sehr Laie in der Kirchengeschichte, daß Sie Sich nicht daran erinnern könnten, wie alles Unheil in den alten und neuen Zeiten des Christenthums gänzlich aus dieser Quelle entsprungen ist, die immer noch fortrieselte, wenn man glaubte, sie sei längst abgegraben, Unheil, von dem wir uns nur mit der größten Mühe und auf eine gewaltsame Weise, und doch immer noch nicht vollkommen los gemacht haben." 4 6 5

Bemerkenswert ist der indirekte polemische Rekurs auf das paulinische Ölbaumgleichnis („inokulieren"). Hierin wie auch in dem Moment der Dauerhaftigkeit, das die Metapher „fortrieseln" enthält, kann man die biblische Vorstellung der bleibenden Bezogenheit der Kirche auf den ersten Gottesbund als bekannt vorausgesetzt sehen. Schleiermacher lehnt den traditionellen kirchlichen Rekurs auf diesen Gedanken ab. Er drückt die Erwartung aus, die „immer noch nicht vollkommen" gebannte „Krankheit" des jüdischen Einflusses in der Kirche werde schließlich völlig besiegt werden. A m Ende seiner Abhandlung findet sich eine sarkastische Spitze gegen solche Christen, die dem jüdischen Einfluß und, wie Schleiermacher implizit folgert, auch dem Konversionsangebot Friedländers offen gegenüberstehen könnten: „Andre mögen ihre Freude so im Stillen gehabt haben über das herannahende Christenthum ohne Christus." 4 6 6 Schleiermacher stellt auch praktische Erwägungen zum Problem der Konversion in den Raum. Er weiß dabei zwischen den individuellen Ubertritten in früheren Epochen und dem gemeinschaftlichen Taufanliegen der assimilationswilligen Berliner Juden zu unterscheiden. Uber die früheren Konvertiten urteilt er: „Es gab allerdings von Zeit zu Zeit einige Proseliten, aber es waren - außer den Verliebten, wenn ich die ausnehmen soll - lauter schlechte Subjecte, deren sich die jüdischen Gemeinen gar zu gern entledigten; ruinirte und zur Verzweiflung gebrachte Menschen, oder solche, die nur einen augenblikklichen Vortheil im Auge hatten, und deren giebt es doch, Gott sei Dank, immer und überall nur Wenige. Die Meisten fielen sogleich unsern Armenkassen anheim, oder der Privatwohlthätigkeit ihrer neuen Glaubensgenoßen, indem sie, welches ihre eigentliche Speculation gewesen war, auf ihren Taufschein, als auf einen wohlerworbenen Brandbrief, betteln gingen." 4 6 7

Auffällig ist neben der starken Betonung des sozioökonomischen Moments die völlige Ausblendung etwaiger Glaubensgründe. Die Religionszugehörigkeit wird hier verabsolutierend als persönliches Identitätsmerkmal bestimmt. Die Fähigkeit, dieses Merkmal zu wechseln, trägt so zwangsläufig einen psychologischen Makel. Dies tritt gegenüber den aktuellen Konversionsbewerbern um so klarer in Erscheinung:

465 466 467

Ebd. K G A 1,2, 360. K G A 1,2, 344 f.

Schleiermachers Einstellung zur Judenemanzipation

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„Ganz andre Menschen sind es, die jetzt mit dem Uebergange zum Christenthum umgehen, gebildete Wohlhabende, in allen weltlichen Dingen wohl angethane Leute, die Rechte erwerben und sich einbürgern wollen. [...] Es mag sein, daß ihr Uebergang dem Staat, der meinetwegen auf seine Verantwortung für sich selbst thun könnte, was er wollte, nicht so viel schadet, [...] desto mehr schadet er der Kirche und dem Christenthum. Bei weitem die Meisten, die wir unter uns zu erwarten haben, werden solche sein, die gegen alles, was zur Religion gehört, völlig gleichgültig sind, entweder weil sie es auch gegen die Sittlichkeit sind, und ganz von weltlichen Gesinnungen beherrscht werden, oder weil sie, von Kantianischer Weisheit durchdrungen, von nichts als ihrer Moral wißen wollen, und, was das Christenthum betrifft, nur ihren politischen Zwek im Auge, Alles was ihnen darüber gesagt wird, mit halbem Ohre oder gar nicht anhören, und nach ihrem Unterricht und ihrer Taufe eben so wenig davon wißen, und eben so weit davon entfernt sind, als vorher." 468

Wohl kann sich Schleiermachers negative Einschätzung darauf berufen, daß das Eintrittsbegehren der „Hausväter" von äußeren Umständen bestimmt ist. Er übergeht aber die ausführliche Reflexion über die sittlichen und religiösen Umstände der Konversion, die in den jüdischen Petitionen angestellt wurde, und unterstellt einen religiösen Indifferentismus, der sich bei abgewogener Betrachtung in diesem Grade in Friedländers Sendschreiben nicht findet. 469 2.1.4.

Das inhaltliche Verhältnis der „Briefe" zu den „Reden"

Schleiermachers „Reden" und seine einzige separate Publikation zur Frage der Judenemanzipation sind zeitlich unmittelbar benachbart.470 Schon früh fiel auf, daß Schleiermacher in den „Briefen" ein schärferes christlich-kirchliches Profil zeigt als in den Reden. So konnte er zum Abschluß der zweiten Rede eine allgemeine Definition der idealen „Kirche" (sc. Religionsgemeinschaft) geben, die auf jede Einbeziehung christlich-dogmatischer Momente verzichtete.471 Seine Darstellung des Christentums wurde dadurch als allgemein-religiöses Dokument rezipierbar. Demgegenüber zeugt die Absage an ein „Christentum ohne Christus" in der Emanzipationsschrift bei dem jungen Pfarrer von mehr konfessioneller Verbindlichkeit.472 Der „Stifter" des Christentums kommt nicht nur als herausragender Träger christlicher Anschauung in den Blick473, sondern wird selbst als historische und theologische Größe in das inhaltliche Proprium gezogen. Dies begründet allerdings keinen Widerspruch zwischen den „Re468 K G A 1,2, 345. 469 Vgl. Politisch-theologische Aufgabe, K G A 1,2, 3 7 6 - 3 7 9 , mit Erwägungen zu den Konsequenzen individueller Übertritte im familiären und gesellschaftlichen Bereich; Sendschreiben, K G A 1,2, 384 f, mit Überlegungen zur pädagogisch-psychologischen Auswirkung der von der christlichen Gesellschaft geächteten Toraobservanz auf jüdische Individuen. 470 Die „Reden" wurden am 15. April 1799 abgeschlossen; der erste der fiktiven „Briefe bei Gelegenheit" datiert zwei Tage später, vgl. K G A 1,2, 332; Sattler, 16; Scholtz, W S A 1977, 3 0 9 - 3 1 5 ; Friedrich, Z K G 1991, 340. Die chronologische (und sachliche) Reihenfolge beider Schriften vertauscht Bruer, 203. 47· Vgl. oben 51 f mit A n m . 121; K G A 1,2, 2 9 0 f ; Meckenstock, K G A 1,2, LXII-LXVI. 472 Vgl. Wendland, 148. 473 Vgl. für die Reden: Dilthey, Leben \/\, 4 2 5 f ; Mehlhausen, EvTh 1994, 2 9 f .

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den" und den „Briefen", da Schleiermacher seine Argumentation jeweils der Situation und dem Kontext anpaßt. Offensichtlich rührt die „christliche" Strenge der zweiten Äußerung mit daher, daß er einer Mißdeutbarkeit der „Reden" im Zusammenhang des Friedländerschen Taufbegehrens entgegensteuern möchte. Betrachtet man die Argumentation der „Briefe" detaillierter, so lassen sich die Prämissen der „Reden" durchaus wiedererkennen. Judentum und Christentum erscheinen als zwei fundamental entgegengesetzte Arten, das Universum anzuschauen. Die Konversion zwischen beiden Religionen wird dadurch unlösbar problematisiert. Den geschichtlichen Einfluß des Jüdischen auf die Kirche beschreibt Schleiermacher - in polemischer Abgrenzung sowohl gegen die protestantische Orthodoxie und deren biblische Geschichtskonzeption als auch gegen Zinzendorfs Biblizismus - als Ursache von Entstellung und Gefährdung des eigentümlich Christlichen. Die Aussage, „alles Unheil [...] des Christenthums [sei] gänzlich aus dieser Quelle entsprungen", verabsolutiert den negativen Einfluß des Judentums auf die Kirche in einer Weise, daß deren pagane Prägungen nicht mehr in kritischer Perspektive gesehen werden können. Die Aversion gegen geschichtliche Zusammenhänge im Bereich des Religiösen, die in den „Reden" ausgesprochen wurde, erhält neben der formal-analytischen auch eine inhaltlich strukturprägende Komponente. 474 Schleiermacher als christlicher Theologe ist am Judentum nicht in neutraler Weise desinteressiert, sondern hat ein ausdrückliches Interesse an der Ausschaltung jüdischen Einflusses in der Kirche. Hierin zeigt sich die praktische Folge der besonders von Herder geprägten Vorstellung der „Ursprünglichkeit" und „Individualität" jeder religiösen Anschauungsweise. Friedländers rationalistische Bestimmung der positiven Religionen als „Vernunftreligion plus X " wird nicht nur konkret für die vorgeschlagene Fusion von Judentum und Christentum abgelehnt, sondern im Ansatz verworfen. Die religiösen Phänomene sind zwar der Gestalt nach vergleichbar, können aber nicht inhaltlich einem zusammenhängenden rationalistischen System einbeschrieben werden. Schleiermacher weist die Vorstellung einer universalen göttlichen Ökonomie zugunsten des originären Eigenrechts jeder Religion ab. In der gehereilen Problematisierung der Konversion, die religiöse „Amphibien" hervorbringe, läßt sich die religionspsychologische Anwendung der Religionstheorie der „Reden" erkennen. Ist jede religiöse Anschauung des Universums „ursprünglich", so kann es keinen Wechsel zwischen den Anschauungen geben, ohne daß das betreffende Individuum seine religiöse Authentizität aufgäbe. Der Vorwurf der kalkulierten Konfessionszugehörigkeit „um des Westphälischen Friedens willen" trifft auch geborene Christen; allerdings legt Schleiermacher diesen nicht explizit das Ausscheiden aus dem Christentum nahe. Im Blick auf den Kirchenbeitritt geborener Juden steht demnach nicht die Kritik zweck474 Vgl. K G A 1,2, 314 f. - Dantine, 200, erkennt bei Schleiermacher zutreffend eine „Furcht vor der zersetzenden Wirkung einer in das Christentum eingepflanzten jüdischen G r u p p e " ; diese Furcht habe in der die Theologie der „Reden" bestimmenden Annahme des unveränderlichen Charakters religiöser Prägung ihren Grund.

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bestimmter „Konfession" im Mittelpunkt von Schleiermachers Erwägung, sondern die Abwehr des „Jüdischen", dessen Einfluß auch durch religiös minder gebundene Individuen gegeben sei. Das „Jüdische" aber erscheint pauschal als schlechtes Prinzip der Christentumsgeschichte. Uber den Anlaß des Taufbegehrens Friedländers hinaus zeigt die Theologie des frühen Schleiermacher ein grundlegendes ekklesiologisches Defizit. Indem sie den Eintritt ins Christentum insgesamt psychologisch unter Verdacht stellt, limitiert sie den Anspruch des christlichen Glaubens auf den „christlich" geprägten abendländischen Bereich und verneint so den eschatologischen Universalismus des Christentums, der gerade die Aufnahme genuin „fremder" Individuen bedingt. 2.1.5.

Würdigung und Kritik

Schleiermacher pflegte in seiner frühen Berliner Zeit Umgang mit Vertretern eines aufklärungsfreundlichen, teilweise auch assimilierungswilligen Judentums. In seine Bewertung des orthodoxen Judentums, zu dem sich ein persönlicher Kontakt nicht nachweisen läßt, flöß die Perspektive seiner die Orthodoxie ablehnenden jüdischen Gesprächspartner mit ein. Dennoch folgt Schleiermacher in seiner Stellungnahme zur Frage der Emanzipation der religiösen Sicht des Judentums, wie sie die „Reden" enthalten. Die politische Haltung ist wesentlich als Implikat der religiösen Einstellung aufzufassen. Schon in früheren Jahren finden sich bei Schleiermacher Äußerungen, die ein selbstbewußtes, die Assimilation verweigerndes Judentum negativ beurteilen. So schreibt der 17jährige Student an seinen Onkel Samuel Stubenrauch anläßlich des Todes von Moses Mendelssohn, dieser werde als Philosoph doch weit überschätzt. 475 Später kritisiert er Mendelssohns Interpretation des Zeremonialgesetzes gegenüber einem Studienfreund explizit und gibt zu verstehen, „daß ich diesen ungekreuzigten Juden eben nicht sehr verehre".476 Das hier mitschwingende Gruppenvorurteil gegen das Judentum spiegelt sich in einer brieflichen Aussage seiner Schwester Charlotte, die Mitglieder des Herzschen Salons als „Ueberbleibsel des auserwählten Volkes Gottes" tituliert, worauf Schleiermacher nicht reagiert. 477 Eine weitere indirekte Kritik am Festhalten des Mosegesetzes und der biblischen Geschichtskonzeption, wie es Mendelssohns Philosophie der Haskalah auszeichnet, findet sich in Schleiermachers Notizbuch aus der Zeit der „Briefe". Daß jüdische und christliche Lehre im „Sendschreiben" rationalistisch egalisiert werden, beurteilt Schleiermacher auf Mendelssohnschem Hintergrund als Verharren im Judentum: 475 Vgl. K G A V , l , 38. Stubenrauch erwidert, Mendelssohn habe nicht nur als Philosoph große Bedeutung; „ihm hat in der That unsre Literatur, unsre Sprache selbst und die gesunde Kritik ungemein viel zu danken" (ebd). Eine Antwort Schleiermachers darauf ist nicht überliefert. Allerdings spricht aus einem Schreiben an den Studienfreund v. Brinckmann vom 9. 12. 1789 ein größeres Verständnis für Mendelssohns Leistung (vgl. K G A V , l , 175f). 476 Vgl. K G A V , l , 175; V,2, 113. 477 Vgl. K G A V,2, 241 (Brief vom 19. 1. 1798).

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„Im Sendschreiben liegt noch immer die Tendenz ein Volk Gottes zu sein erstlich indem sie ihre natürliche Religion noch immer von Mose deduciren wollen zweitens indem sie der Last überhoben sein wollen an Christum zu glauben. Sie könen nichts beabsichtigt haben als daß sie hintennach sagen wollen: auch der aufgeklärteste Christ bleibt doch ein Christ. Man kann aber auch gleich von ihnen sagen: auch der aufgeklärteste Jude bleibt doch immer ein Jude." 4 7 8

Aus seinen nicht zur Veröffentlichung bestimmten Gedanken wird deutlich, daß Schleiermachers in den „Briefen" geäußertes Votum gegen die Integrierbarkeit des Zeremonialgesetzes in die bürgerliche Ordnung mit seiner Ablehnung von Mendelssohns Interpretation des Gesetzes korrespondiert. Vor allem durch Marcus Herz war es veranlaßt, daß Schleiermacher - über die Absage an einen limitierten Kircheneintritt hinaus - die volle äußere Assimilierung der Juden an die christlich-bürgerliche Gesellschaft, wie sie Friedländers Sendschreiben vorschlug, ablehnte und statt dessen eine jüdisch-aufklärerische Sonderkonfession anregte. 479 Darin sah er zugleich die jüdisch-religiöse Identität und den Anspruch des säkularen Staates gewährleistet. Hervorzuheben ist, daß dieser Vorschlag Schleiermachers das Zeremonialgesetz behutsamer kritisierte, als es in Friedländers „Sendschreiben" geschehen war. Dort sollte mit dem politisch motivierten Ubertritt zur Kirche die Toraobservanz vollständig aufgegeben werden; Friedländer hatte die Position derjenigen Aufklärer, die „die Emanzipation des Juden als Öffnung der christlichen Gesellschaft für den einzelnen Juden um den Preis seines Judeseins begriffen", im Grundsatz akzeptiert. 4 8 0 Schleiermacher redete demgegenüber einer Emanzipation der Juden als Juden das Wort, wenn auch unter Restriktionen, die die emanzipierte jüdische Bevölkerungsgruppe in ihrem Auftreten den Christen nahezu angeglichen hätten. 481 Daß dahinter eine Kritik an Friedländers stillschweigender Zustimmung zur staatlichen Privilegierung der Kirche stand, beweist der Gedanke in Schleiermachers Notizbuch, „der Sendschreiber" halte den Staat „für incurabel, [...] weil er bereit ist sich in die jezigen Praetensionen deßelben zu fügen". 4 8 2 Die Zurückweisung derjenigen Juden, die bereit sind, die Voraussetzungen für die Staatsbürgerschaft zu erfüllen, ging demnach auf einen Defekt des Staates zurück, der politisch „kuriert" werden sollte. Schleiermacher ist sich der sozialen und kulturellen Problematik bewußt gewesen, die der Vorstoß der jüdischen Oberschicht für die jüdische Bevölkerung insgesamt mit sich brachte. In seinem Notizbuch heißt es kritisch: „Zur Zeit der Reform machten die Juden noch gemeinschaftliche Ansprüche; jetzt nicht mehr, weil die Gebildeteren entschloßen sind ihre ungebildeten Mitbrüder sizen zu laßen." 4 8 3 K G A 1,2, 46. Zur Einflußnahme von Marcus Herz auf Schleiermacher vgl. oben 113 Anm. 440. 4 8 0 Vgl. Rengstorf, WS A 1977, 28; ferner Littmann, 102. 481 Vgl. Mehlhausen, EvTh 1994,30f; Friedrich, ZKG 1991,341; N o w a k 1984, 77f; kritisch Sattler, 17 Vgl. K G A 1,2, 46. 4 8 3 K G A 1,2, 47; vgl. dagegen kritisch Steiner, 155-157, der betont, der aufgeklärten jüdischen Oberschicht habe das Schicksal aller ihrer Glaubensgenossen am Herzen gelegen. 478

479

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Seine Wertung dieser Beobachtung war auch von innerchristlich-konfessionellem Ressentiment gekennzeichnet, indem sie Friedländers Vorschlag sarkastisch kommentierte: „Der Verfaßer des Sendschreibens ist gewißermaßen schon ein Christ denn er ist ein Crypto Jesuit." 484 Schleiermachers Kenntnis der länger als ein Jahrzehnt andauernden jüdischen Bemühungen um die Bürgerrechte geht aus den Notizen hervor.485 In diesem Kontext konnte er auch das frühere Anliegen, allen Juden die Bürgerrechte zu erwerben, mit diskreditierenden Aussagen belegen. Aus ihnen erfährt man, daß er die traditionelle jüdische Observanz und die preußische Staatsbürgerschaft für unvereinbar hält: „ W i e b e t r ü g l i c h z u r R e f o r m Z e i t d i e a u f g e k l ä r t e n J u d e n gegen die A n d e r n z u W e r k e g e g a n g e n s i n d . R e c h t jüdisch w o l l t e n sie sie u m i h r J u d e n t h u m b r i n g e n . " 4 8 6

Sein eigener Vorschlag, eine aufgeklärt-jüdische Sonderkonfession ins Leben zu rufen, zielte darauf ab, die Solidarität der jüdischen Oberschicht mit den schlechtergestellten Juden zu erhalten, zugleich aber eine sofortige Einbürgerung der orthodoxen, der bürgerlichen Ordnung fremden Juden zu vermeiden. 487 Die jüdische Religion als „Religionsindividuum" sollte ein relatives Existenzrecht behalten und der politische „Bekehrungsdruck" fallen. 488 Das Interesse an der christlichen Lebensweise war für Schleiermacher Bedingung für den dauerhaften Aufenthalt in einem christlich geprägten Land. Er zog eine milieukritische Parallele zum Problem der Integration hugenottischer Immigranten in Berlin und notierte: „Juden die sich nicht ums Christenthum bekümmern sind Franzosen die nicht deutsch lernen wollen." 489 Fragwürdig erscheint Schleiermachers Kritik an der traditionellen jüdischen Religiosität im einzelnen. Seine Annahme, die Erwartung des Messias und der Rückführung ins Land Israel müsse der staatsbürgerlichen Loyalität abträglich sein, widersprach der jüdisch-aufgeklärten Philosophie Moses Mendelssohns und den Grundsätzen aufklärerischer Politik. Schleiermacher stellte sich in der Alternative, die die Kontroverse zwischen Dohm und Michaelis markiert hatte, mit Friedländer auf Michaelis' Seite. 490 Die politisch motivierte Abweisung der Messiaserwartung gibt zur Rückfrage an Schleiermachers Christentumsverständnis Anlaß. Offensichtlich schließt er bei Christen, gleich welcher Prägung, einen eschatologischen Vorbehalt im Sinne von Hebr 13,14, der auch ihnen die bedingungslose Akzeptanz K G A 1,2, 48. Vgl. K G A 1,2, 47, den kritischen Vergleich zwischen dem Mißerfolg der Deputiertenversammlung 1787 und der von Teller geforderten Antwort. 4 8 6 K G A 1,2, 47. 4 8 7 Daß das verbleibende orthodoxe Judentum nach und nach in die reformjüdische „Kirche" aufgesogen werden sollte, geht aus Schleiermachers „Briefen" nicht explizit hervor, ist aber bei Nowak 1984, 80, eine plausible Interpretation; vgl. Friihwald 1989, 89. 488 Vgl. Nowak 1984, 78 f. 489 K G A 1,2, 47 490 Dohms Schrift ist in Schleiermachers Bibliothek nicht nachgewiesen und wird in seinem Briefwechsel nicht erwähnt. Dagegen hat er Michaelis' Werk „Mosaisches Recht" besessen (vgl. Meckenstock, Bibliothek, 230). 484

485

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des Staates als „bleibender Statt" unmöglich machen würde, aus. Dies erweist ihn als einer romantischen Christentumsvorstellung verbunden, die zur Gleichsetzung von religiöser und politischer Gemeinschaft tendiert und den funktionalistisch-individualistischen Ansatz der aufklärerischen Staatstheorie verwirft.491 Die Messiashoffnung ist für Schleiermacher dadurch diskreditiert, daß sie die Bestimmung des Staates als einer ganzheitlichen Gemeinschaft relativiert. Die Analyse von Judentum und Christentum nach dem Kriterium der politischen Verträglichkeit erhält so eine Disparität zugunsten der scheinbar besseren Harmonie des bürgerlichen Ideals mit christlichen Auffassungen, in der man eine romantische Adaption des Christentums erkennt. Dies kann zu dem Fehlschluß verleiten, Schleiermacher schließe mit dem „christlichen Staat" konservativer Provenienz einen Kompromiß. 492 Tatsächlich fordert er die Abschaffung des alten staatlichen Systems. Er geht damit einen angesichts der herrschenden Zensurpraxis mutigen Schritt über Teller, den Adressaten des „Sendschreibens", hinaus, der die Frage der politischen Emanzipation an die Organe des „christlichen Staates" verwiesen hatte. 493 Es kann deshalb keine Rede davon sein, Schleiermacher verlange in Fortführung überkommenen Privilegrechts den Juden als Bedingung für ihre Gleichstellung mehr ab als Christen. Schleiermachers Eintreten gegen die alte Ordnung und für eine partizipatorische Staatsidee ist unzweideutig; allerdings scheidet die Übertragung des französischen Modells auf Preußen und Deutschland aufgrund des nach romantischen Prämissen vorausgesetzten je eigenen Nationalcharakters jedes Volkes aus. 494 Die für Frankreich begrüßte volle Judenemanzipation ist kein Vorbild für Schleiermachers eigene Situation. Die in romantischen Vorstellungen begründete Reduktion christlicher Eschatologie leitet über zur Kritik von Schleiermachers Staatsbegriff. Wohl spricht er sich klar für eine säkulare Verfassung aus, in der alle Religionen, Verträglichkeit mit den säkularen Gesetzen vorausgesetzt, gleichberechtigt sein 491 Vgl. Kaiser, 82 f. 120. - Friedrich, Z K G 1991, 340, verweist auf Schleiermachers Ablehnung einer futurischen Eschatologie als Grund der geforderten Aufgabe der jüdischen Messiaserwartung. Dies berücksichtigt jedoch das mit religiösen Momenten aufgeladene Gemeinschaftsverständnis Schleiermachers nicht zureichend. Brumlik, 155, interpretiert den theologisch-politisch komplexen Gedankengang Schleiermachers einleuchtend: Die „Annahme, daß in Heilsdingen noch mehr zu erwarten sei, als was in Freundschaft, Familie und Gemeinde grundsätzlich bereits erreicht war, gewinnt für ihn eine gleichsam asoziale und politisch antiemanzipatorische Funktion". 4 9 2 Vgl. Scholtz, WSA 1977, 318: „Schleiermacher schont doch hier die Intoleranz des noch christlichen Staates weit mehr als die religiöse Gesinnung der Juden und verlangt von diesen, fortschrittlicher zu sein als jener." In diesem Sinne auch W. Ullmann, 103. 4 9 3 Vgl. Teller, Beantwortung des Sendschreibens einiger Hausväter jüdischer Religion an mich den Probst Teller, Berlin 1799, 21 (zitiert bei Poliakov V, 233 f); dazu Littmann, 104; Friedrich, Z K G 1991, 337; N o w a k 1995, 36. - Die in den „Briefen" ausgedrückte couragierte politische Stellungnahme ist wohl der Grund dafür, daß der Autor vor allem gegenüber der Berliner Geistlichkeit inkognito bleiben wollte, vgl. Schleiermachers Brief an H . Herz vom 16. 4. 1799 (KGA V,3, 94). Zur Praxis der Zensur, die bis in die Geselligkeit der Salons hineinwirkte: Schultz 1997; 264 f. 494 Vgl. N o w a k 1986, 95-97; Geck, 26-37 Dantine, 199, analysiert, Schleiermacher sei „in Sorge um die Integrität [...] der chrisdichen Gesellschaft, wie sie sich im protestantischen Deutschland herausgebildet hat".

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sollen. Doch enthält die Forderung der vollkommenen Identifizierung der Individuen und Gruppen mit dem Staat ein sozio-organisches Moment, das den scheinbar rationalistisch-liberalen Ansatz konterkariert. Zwar hat Schleiermachers Staatsverständnis grundsätzlich ein pluralistisches Gepräge, es erreicht aber nicht die emanzipatorische Radikalität der Aufklärung, wie sie in Frankreich 1790/91 mit der bedingungslosen Einbürgerung der Juden realisiert worden war. 4 9 5 Als politischer Denker markiert Schleiermacher - Friedländers Anliegen als anachronistisch erweisend 496 - das Ende der Aufklärungsepoche, ohne daß ihm eine radikale Absage an das aufklärerische Anliegen insgesamt oder gar der Rückschritt zum „ancien regime" attestiert werden müßte. 4 9 7 Neben Novalis und Heinrich Steffens hat man Schleiermacher einen Vertreter der „politischen Romantik" genannt. 498 Einen kosmopolitischen Egalitarismus, wie er das Staatsdenken der rationalistischen Theologie prägte, 4 9 9 lehnt er ab. Das Postulat, jeder Bürger solle den Staat als „bleibende Statt" ansehen, könnte als Ausdruck „bürgerlicher Eschatologie" bezeichnet werden. Darin meldet sich ein das christlich-romantische Denken bestimmendes Ganzheitsideal zu Wort, das in Abgrenzung gegen die „mechanische" Vertragstheorie Rousseaus den Staat zur „organisch"-metaphysischen Größe erhebt und der rationalistisch-individualistischen Staatszielbestimmung namens eines ästhetisch definierten Modells von „Geselligkeit" widerspricht. 500 „Gemeinschaft" gerät so zu einem „ganzheitlichen", dem religiösen Empfinden konnotierten Begriff ohne primäre politisch-konstitutionelle Bedeutung. Zugunsten des Ideals

4 9 5 Vgl. Scholtz, WSA 1977, 317; Geiss 1988, 186. Der Hauptgrund für Schleiermachers nur bedingt positive Einstellung zur Judenemanzipation liegt in seiner den Gemeinschaftsaspekt auch religiös betonenden politischen Grundhaltung dieser Phase und nicht in seiner Unfähigkeit, „die Andersartigkeit der Juden" akzeptieren zu können (so Friedrich, ZKG 1991, 345). 496 Vgl. Littmann, 112; Graupe 1977, 135; Bruer, 203; Brumlik, 150; zum zeitgenössischen Stand des nationalpolitischen Bewußtseins: Dann 1996, 81 f. 4 9 7 Vgl. Birkner 1996, 151; J . H. Schoeps 1996, 49f; zu Schleiermachers Rezeption der Französischen Revolution auch Crouter, 1077 1083-1097; Dann 1985, 1117 1120. - Unexakt notiert Nowak 1984, 79, Schleiermacher sei „noch nicht, wie das im Frankreich der Revolution der Fall war, zur vorbehaltlosen Bejahung der Emanzipation durchgestoßen" (Hervorhebung Κ. B.). Tatsächlich hat Schleiermacher eine bürgerliche Koexistenz von Juden und Christen auch später nicht als Dauerzustand bejaht (siehe unten 127 f), wiewohl er die Frage der rechtlichen Stellung der Juden prinzipiell von der religiösen Problematik unterschied (vgl. Oberdorfer, KuD 1998, 308). 498 Vgl. Kaiser, 156. 209-212. 235. - Frühwald 1989, 83, bemerkt, daß Schleiermachers Äußerungen zum Verhältnis zwischen christlicher Mehrheit und jüdischer Minderheit - „von [ . . . ] den erschreckend pöbelhaften, antijüdischen Ausfällen Fichtes (1793) abgesehen" - für den romantischliterarischen Kreis der Zeit um 1800 singulär sind; die judenkritischen Aussagen der Romantiker konzentrierten sich auf die Zeit der Hardenbergschen Emanzipationspolitik (1810-1815). Vgl. auch Belke, 42 f. Fichte artikulierte seine Ablehnung der Juden im Kontext seiner Beurteilung der Französischen Revolution (Beitrag, 149f); dazu Bruer, 185-195; Dantine, 202f; Battenberg 1990 II, 129; Niewöhner, WSA 1977, 122 f; H.-J. Kraus 1962, 33. 4 9 9 Vgl. Scholder 1966, 480. 5 0 0 Vgl. Kaiser, 226-228; Dann 1985, 1112; Oberdorfer, KuD1998, 307f. Schleiermachers Kritik der tradierten Form gesellschaftlichen Zusammenlebens verzichtet in dieser Phase - anders als die französische Aufklärung - auf das primäre Anliegen der politischen Durchsetzung und artikuliert sich im (vermeintlich) „herrschaftsfreien Raum" ästhetisch, vgl. Arndt 1997, 54f. 57f. 61.

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der gelebten Identität eines jeden Volkes wird dabei die im individualistischen Ansatz garantierte soziale und kulturelle Binnendifferenzierung der Gemeinschaft als politische Forderung aufgegeben.501

2.2. Die „ Christliche Sitte " 2.2.1.

D e r Befund im Text

Die postum edierte „Christliche Sitte", deren Grundgerüst die Ethikvorlesung des Sommersemesters 1826 bildet, zeigt in ihren politischen Aussagen einen bemerkenswerten Wandel Schleiermachers an. War 1799 der bürgerliche Staat zur eschatologischen Größe geworden, so wendet Schleiermacher nun das eschatologische Kritikpotential des Christentums gegen die Selbstgenügsamkeit des Staates. Der Impuls des Christentums erschöpft sich nicht im politischen status quo. Die Vorstellung des „christlichen" - besser: verchristlichten Staates wird zur normativen Grenze des gesellschaftlich Gegebenen. Der einst vertretene Identifikationsanspruch des Staates gegenüber den Bürgern entfällt zugunsten der Erwartung einer vollständigen Aneignung der bürgerlichen Gemeinschaft durch das Christentum. 502 Zwar hat Schleiermacher damit das konservative Modell des „christlichen Staates" nicht übernommen, doch wird - in eschatologisch gebrochener Weise - das „Christliche" zur politischen Norm. Dies ist gegenüber den „Briefen" von 1799 neu, hatte dort doch die romantisch bestimmte „Gemeinschaft" als solche den sinnstiftenden Rahmen bürgerlicher Existenz abgegeben, innerhalb dessen eine Gleichberechtigung aller Religionen gefordert wurde. Statt der „bürgerlichen Eschatologie" seiner Salonzeit vertritt Schleiermacher nun eine christliche Eschatologie des Staates. Die Erwartung einer zukünftigen Verchristlichung der Gesellschaft muß als kritische Reaktion gegen die politische Realität der Restaurationsphase aufgefaßt werden. Die christliche Norm ist aber nur indirekt politisch anzuwenden; weder gibt es für Schleiermacher eine bestimmte christliche Staatsform noch darf der Regent im christlichen Sinn auf die Bürger erzieherisch einwirken. 503 Letzteres würde der Politik einen theo501 Dann 1985, 1114, weist darauf hin, daß das Nationale in Schleiermachers religiösem Denken nicht als von den Zeitumständen der Jahre 1806-1815 bedingtes Akzidens aufgefaßt werden kann; vielmehr gehört es zur durchgängigen „Grundorientierung". 502 Vgl. SW 1,12, 241-245; dazu Birkner 1964, 132; Hermann Fischer, T R E 30, 171-174. 5 0 3 Vgl. SW 1,12, 242 (Vorlesung 1826/27): „Das Reich Gottes und die gemeinsame Vervollkommnung in demselben ist dem Staate nur die Grenze, und man kann nur sagen, daß seine Gesezgebung nichts dem Reiche Gottes hinderliches enthalten dürfe." Zur eschatologischen Ungleichzeitigkeit von Kirche und Staat beim „reifen" Schleiermacher siehe Spiegel, 231. - Zur Involvierung Schleiermachers in repressive Maßnahmen der Restaurationszeit, insbesondere im Zusammenhang der 1820 im Gefolge der Ermordung des Dichters A. Kotzebue vollzogenen Absetzung de Wettes von seinem Berliner Lehrstuhl, siehe die Lebenserinnerungen bei Varnhagen, Tageblätter, 17-20. Schleiermacher war im März 1820 kurzzeitig als „Verführer der Jugend" förmlich angeklagt (vgl. aaO, 19; dazu auch: Aus Schleiermacher's Leben IV, 430-443; ferner Maser 1990, 176-181). Jörgensen, 137-141,

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kratischen Charakter verleihen, also einen Rückfall in die vorchristliche Sphäre des AT bedeuten, die „das Christenthum aufgehoben hat". 5 0 4 Schleiermachers Kritik am Vorgehen des „christlichen Staates" restaurativer Prägung ist von Anspielungen auf das AT durchzogen, die die herrschende politische Ethik als vorchristlichem Bewußtsein gemäß erscheinen lassen sollen. 505 So heißt es zur Todesstrafe, „daß der Christ die Strafgesezgebung nicht auf den Begriff der Vergeltung, der Rache gründen kann; denn gegen diese erklärt sich der Erlöser absolut; das Aug' um Auge, Zahn um Zahn verbietet er schlechthin" 506 . Der Unterschied der Gottesvorstellungen in AT und N T solle auch in der öffentlichen Praxis der Christen zu seinem Recht kommen. 5 0 7 Dies dürfe jedoch nicht durch obrigkeitliche Einwirkung geschehen, sondern nur so, daß das religiöse Bewußtsein jeden Christen veranlasse, „als Organ der Kirche aufzutreten" 508 . Das Christentum als gesellschaftlich erneuernde religiöse Kraft wird politisch-eschatologisch interpretiert. Die Abschaffung des „christlichen Staates" hingegen, durch die die rechtliche Privilegierung der christlichen Konfessionen entfiele, nennt Schleiermacher in seiner späten Zeit vom christlichen Standpunkt aus wünschenswert: „Das Christenthum ist nicht in der Identität mit dem Staat entstanden, also auch sein Fortbestehen kann nicht davon abhangen. Das Christenthum soll sich verbreiten, aber nur frei." 5 0 9

In der Frage der Konversion und der Mission der Kirche am jüdischen Volk hat Schleiermacher die in den „Briefen" strikt geäußerte Ablehnung revidiert. Der Ubergang jüdischer Menschen zum Christentum erscheint nun als notwendiges Moment der geschichtlichen Gesamtentwicklung und als Folge des geselligen Verkehrs beider religiöser Formationen miteinander. Eine missionarische charakterisiert die politische Dimension der christlichen Ethik Schleiermachers entschieden zu harmlos und harmonistisch, wenn er behauptet, dieser habe im Verhältnis von Kirche und Staat „auch nicht den Schatten von Problemen" erkannt. Bereits Karl Barth, dem Jörgensen in simplifizierender Überzeichnung seiner Kritik an Schleiermacher eine „Erbfeindschaft" zum Kirchenvater des 19. Jahrhunderts unterstellt (vgl. 10), hat die politische Courage und Standfestigkeit des Berliner Theologen wie auch dessen gesellschaftskritischen Weitblick nachdrücklich gewürdigt (vgl. etwa 1947, 392; dazu Berkhof, 62f). 504 Vgl. SW 1,12, 242. 505 Analog gibt Schleiermacher in seiner „Lehre vom Staat", deren edierte Fassung auf einer Vorlesung von 1829 basiert (vgl. SW 111,8, X X X I ) , mit implizitem Rückgriff auf seine Charakterisierung des Judentums in den „Reden" zu bedenken, „daß das theokratische immer ein kindischer Zustand ist" (SW 111,8, 70). 506 SW 1,12, 250 (Vorlesung 1826/27). 507 Vgl. SW 1,12,252 (Vorlesung 1826/27): „Freilich, das alte Testament ordnet die Todesstrafe bestimmt an, und wer also von der Identität der göttlichen Offenbarung in beiden Testamenten ausgeht: der kann sich in seinem Gewissen bei einer Gesezgebung beruhigen, welche die Todesstrafe nicht ausschließt. Aber wir unseres Ortes können jene Identität wenigstens in diesem Punkte nicht annehmen; denn zu deutlich ist beides, daß im alten Testamente die Todesstrafe nichts ist als von den vorgesezten verwaltete Blutrache und daß Christus alle Rache schlechthin verbietet." Dazu Jörgensen, 144-146; Spiegel, 82-88. so« SW 1,12, 264 (Vorlesung 1826/27). 509 SW 111,8, 71.

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Praxis gegenüber Juden sieht Schleiermacher jetzt als selbstverständliches Implikat christlichen Lebens auf der individuellen Ebene. Er knüpft darin an die Auffassung des Altprotestantismus an, wonach „jeder Christ seinem jüdischen Nachbarn gegenüber eine missionarische Verantwortung wahrzunehmen habe" 5 1 0 . Daß Schleiermacher die Integration des ganzen jüdischen Volkes in die endzeitlich-universale Kirche voraussetzt, zeigt die Prädestinationsschrift von 1819.511 Die Zusammenführung von Juden und Christen erwächst aus der kontinuierlichen religiösen Verbreitungskraft des Christlichen. In der „Lehre vom Staat" bezeichnet Schleiermacher 1829 die bürgerliche Emanzipation der Juden als weder den Bestand der jüdischen Religion konservierend noch als dem Eingang in die Kirche förderlich: „Auch bin ich überzeugt, das Judenthum wird nicht minder schnell aufhören nach der Emancipation als vor der Emancipation." 5 1 2

Das religiös-theologische Interesse an der „Bekehrung" Israels scheidet somit als Argument in der politischen Debatte um die Gleichstellung der Juden aus. Die wesentlich von pietistischen Kreisen getragene institutionelle Gestalt der Judenmission 5 1 3 erscheint Schleiermacher hingegen als kontraproduktiv im Verhältnis zu der vom allgemeinen geselligen Verkehr bestimmten Gesamtentwicklung. In der Ethikvorlesung von 1831 heißt es: „Besondere Anstalten zur Bekehrung der Juden mitten unter den Christen scheinen mir etwas völlig verkehrtes. Die Juden nämlich, die unter den Christen zerstreut leben, sind überall mit diesen in geselligem Verkehr. Es kann ihnen also niemals an der Anschauung des gesammelten christlichen Lebens fehlen. U n d entwikkelt sich aus dieser Anschauung eine Empfänglichkeit für das Christenthum: so stehen ihnen die christlichen Kirchen offen, sich darüber zu unterrichten, und glauben sie besonderer Belehrung zu bedürfen: so wissen sie auch, an wen sie sich zu wenden haben. Von der anderen Seite hat jeder Christ, der mit ihnen in Verkehr steht, die Aufgabe, ihnen die christliche Gesinnung zu Tage zu legen und sie zu derselben zu bekehren. [...] Diese Sache also sollte man getrost sich selbst überlassen, sie würde dann ganz gewiß besser gedeihen. N u r dafür sollte man sorgen, daß die Juden keine schlechten Gründe haben können, Christen zu werden; man sollte sie mit christlicher Liebe behandeln und sie in bürgerlicher Hinsicht nicht unter dem Drukke leben lassen. Dann würden sie rechte Christen werden, und zwar um so eher, je weniger man besondere Anstalten für ihre Bekehrung gründete und ihnen besondere Lehre dazu sezte. Wogegen jetzt bei dem politischen Drukke, unter dem sie stehen, die für sie eingerichteten Missio-

510 Maurer 1953, 52; vgl. 56. - Friedrich 1988, 145, resümiert, der Pietismus habe die missionarische Verpflichtung gegenüber den Juden aus der Orthodoxie übernommen und individualistisch zugespitzt. Daraus resultierte insgesamt eine gewisse voraufklärerische Toleranzbereitschaft gegenüber dem Judentum (so 148). 5» Siehe oben 77-79. 5 ! 2 SW 111,8, 71. 5 , 3 Nach der „Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den J u d e n " (Berlin 1822) war 1830 in Basel der „Verein der Freunde Israels" gegründet worden, der sich die christliche Mission an den Juden zum Ziel gesetzt hatte, vgl. Aring, T R E 17, 329; ferner Jung, 151-153; Sattler, 21; Maser, J S K G 1980, 114-125; ders. 1990, 166-169.

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nen positiv schaden. Denn da diese nicht denkbar sind ohne äußere Unterstüzungen für diejenigen, welche sich heranziehen lassen: so werden sie gerade ein Haltungspunkt für alle, die schlecht genug sind, um irdischer Vortheile willen sich die Aufnahme in die christliche Kirche zu erheucheln." 514

Konvertiten gelten Schleiermacher nunmehr als potentielle „rechte Christen" und nicht mehr als „Amphibien", wie es das romantische Menschenbild seiner frühen Phase bedingte. Eine staatliche Begünstigung des Ubertritts, die fremde Motive in den religiösen Diskurs eintrüge, lehnt Schleiermacher nach wie vor ab. Wichtig ist, daß die Absage an den „christlichen Staat" und dessen Diskriminierung der Andersgläubigen jetzt nicht mehr durch die Kritik der orthodoxen jüdischen Observanz eingeschränkt wird; Schleiermacher verlangt, daß alle Juden vom politischen Druck befreit werden sollen. Ihr Ubergang zur Kirche, den Schleiermacher als natürlichen Vorgang des Geschichtsverlaufs ansieht, trete ohne Fremdeinwirkung am sichersten ein. Im Duktus der Schleiermacherschen Auffassung bedeutet der Ubergang zum Christentum für jüdische Menschen den radikalen Bruch mit ihrer bisherigen religiös-ethischen Observanz. Für die auf das „Reich Gottes" ausgerichtete Praxis der Christen leisten Weisung und Verheißung des AT nicht nur keinen positiven Beitrag, sie stehen sogar in völligem Gegensatz zum authentisch christlichen Tun. Daher könnte es, führt man Schleiermachers Aussagen systematisch fort, für getaufte Juden auch keine traditionsbedingte weitere Beachtung der Tora geben. Schleiermachers theologische Ethik baut die Thesen aus, die in der Glaubenslehre über das Verhältnis von Christentum und Judentum sowie zwischen beiden biblischen Testamenten entwickelt worden waren. Die erwartete Integration aller Juden in die christliche Gemeinschaft schließt also deren radikale Absage an die jüdische Uberlieferung ein. Für das christliche Leben ist der Rekurs auf das N T normativ im Sinne der Vergewisserung der Ubereinstimmung der eigenen Praxis mit der der frühen Christen. 515 Die alttestamentliche Ethik des „Sollens" und die neutestamentliche der Entsprechung zur Gotteskindschaft stehen strukturell und material einander gegenüber. Der Gegensatz von „Jüdisch" und „Christlich" trete auf dem Gebiet der Sittenlehre noch krasser hervor als in der Dogmatik, da der eklektische - Rekurs auf das AT die überkommene Praxis kirchlichen Lebens darstelle und sich auch im N T ausführlich finde. Schleiermacher erklärt die offensichtlichen Anknüpfungen und Zitate der ethischen Passagen des N T am AT zu neutestamentlichen Aussagen; jede weitergehende Ergänzung oder Ausdeutung christlicher Maximen vom AT her scheide aber kategorisch aus: „Aus dem alten Testament aber etwas in die christliche Sittenlehre herüberzunehmen, was im neuen gar nicht ist, ist durchaus unstatthaft, weil damit jede Schranke gegen den gesezlichen Geist des alten Testamentes verloren wäre." 5 1 6

514 515 516

SW 1,12, Beilage 182. Vgl. Birkner 1964, 100. SW 1,12, 92 (Vorlesung 1826/27).

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Friedrich Schleiermacher

Die Differenz „gesetzlich/landschaftlich" prägt auch in der Ethik das Denken Schleiermachers. In der Ethikvorlesung von 1828 wird die fundamentale Notwendigkeit dieser Scheidung ausdrücklich gegen den kirchlichen Gebrauch des Dekalogs gewendet: „ I h r e V e r n a c h l ä s s i g u n g a b e r [ist] f ü r die c h r i s t l i c h e S i t t e n l e h r e n o c h gefährlicher, als f ü r die G l a u b e n s l e h r e , weil w i r m i t d e m D e k a l o g u s d e n g a n z e n g e s e z l i c h e n G e i s t in die c h r i s t l i c h e Sittenlehre e i n f ü h r e n . " 5 1 7

Das AT sei als Richtschnur christlichen Lebens „ganz überflüssig", da es allenfalls eine „unbestimmte Ahndung Christi" enthalte, bei deren Hinreichen das Kommen Christi obsolet wäre.518 2.2.2.

Die veränderte historische Situation

Schleiermachers christliche Kritik des politischen status quo spiegelt seine Desillusionierung bezüglich der Möglichkeiten einer christlich-nationalen Erneuerung Preußens, die nach dem innenpolitischen Scheitern der antinapoleonischen Freiheitsbewegung eingetreten war. Die religiös geprägte politische Erwartung hatte sich zerschlagen; Christentum und Patriotismus konnten keine Synonyme mehr bilden. Die Kirche, in der Schleiermacher seit 1799 eine erheblich stärkere Stellung gewonnen hatte519, wurde zum kritischen Potential erklärt gegenüber der nun als vorläufig verstandenen gesellschaftlichen Situation. Wichtig ist, daß Schleiermacher, obwohl er seit 1808 als eine der zentralen Gestalten der nationalen Bewegung und als „der größte patriotische Prediger der evangelischen Kirche im Zeitalter der deutschen Erhebung" 520 gegolten hatte, gegenüber der antijüdischen Linie maßgeblicher Vertreter dieses Kreises resistent blieb.521 Napoleon war - trotz seiner eigenen restriktiven Judenpolitik - in Deutschland als Symbolfigur der Emanzipation gesehen worden. 522 Tatsächlich hatte die französische Expansion das aufklärerische Ideal in Europa verbreitet, was von vielen deutschen Intellektuellen mit anfänglicher Sympathie beantwortet worden war.523 Schleiermacher, der 1811 Teilnehmer der „Christlich-deutschen Tischgesellschaft" war, hatte dagegen Napoleon stets ablehnend beurteilt und zur christlichen Erneuerung Deutschlands aufgeru-

517

SW 1,12, Beilage 167; vgl. Preuß, 144.

Vgl. SW 1,12, Beilage 166; dazu Jörgensen, 2 0 0 - 2 0 5 . Vgl. Birkner 1996, 137; Thadden 1985, 1101. 5 2 0 J . Bauer, 301; vgl. Bindemann, 122 f. 521 Zur Rolle Schleiermachers innerhalb der antinapoleonischen Bewegung: Dann 1996, 6 8 - 8 4 ; ders. 1985, 1107ff; Kantzenbach 1969, 105f; Redeker 1968, 1 2 6 - 1 3 6 ; Tilgner 1966, 3 6 - 4 2 ; Preuß, 130f. 1 3 6 - 1 4 3 ; Birkner 1996, 143f. 154; U . Landfester, 278. 518

5 2 2 Vgl. Dietmar, 6 7 ; Rürup 1975, 18f. 7 9 ; Richarz 1976, 2 3 ; Graupe 1977, 1 5 6 - 1 5 8 ; Geiss 1988, 186f; Bein II, 141-145; Gay, 1 2 3 - 1 3 5 ; Elbogen-Sterling 1966, 173-178; Battenberg 1990 II, 103f; Volkov, Die Juden, 19f; Nienhaus 1994, 139; H o c k 1997, 321. 5 2 3 Vgl. zum „Napoleon-Mythos" in Deutschland: Wülfing, passim, mit weiterer Literatur; ferner Greive 1983, 18.

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fen.524 Gleichwohl sind von ihm nicht nur aus der Zeit der Freiheitskriege keine judenfeindlichen Äußerungen überliefert, sondern es ist auch festzustellen, daß seine relativ günstige Einstellung zur Judenemanzipation aus der vornapoleonischen Zeit jetzt sogar in radikalisierter Gestalt begegnet.525 Er verwirft jeden staatlichen Druck auf die Juden. Von seiner national-protestantischen Umgebung, in der sich ein romantisch interpretiertes Christentum mit der Abneigung gegen das „Jüdische" verband (Arndt, Jahn, von Arnim, Brentano), 526 hebt er sich deutlich ab. Die Enttäuschung über das in den Freiheitskriegen faktisch Erreichte scheint seine Zustimmung zur Gleichstellung der bisher bürgerlich Diskriminierten noch gefestigt zu haben. 2.2.3. Schleiermachers „Verkirchlichung" in ihrer Auswirkung auf seine Haltung zur Judenemanzipation Indem Schleiermacher das missionarische Zeugnis nun grundsätzlich als Aufgabe der christlichen Individuen bejaht, behebt er ein entscheidendes ekklesiologisches Manko seiner frühen Konzeption, das sich in den „Briefen" ausdrückte. „Kirche" ist in der Christlichen Sitte nicht mehr ein von kulturanthropologischen Axiomen abgeleiteter Begriff, sondern wird als soziale Größe theologisch-eschatologisch definiert. Das geschichtliche Gesamtleben der Menschheit wird als zum Eingang in das Christentum bestimmt verstanden. Damit gewinnt die Ekklesiologie eine kritische Stellung gegenüber allen phänomenologischen Gemeinschaftstheorien. Indem das christliche Bewußtsein als sich ausbreitender Impuls universalistisch verstanden wird, bestimmt nicht mehr das individuelle religiöse „Urerlebnis" unabänderlich über die Zugehörigkeit zu einer der positiven Religionen. 527 Die parallele Existenz der positiven Religionen, die Schleiermacher schon in den „Reden" nicht als gleichwertiges Ne524 Vgl. Redeker 1968, 124 f. Zu Schleiermachers Zugehörigkeit zu der von Achim von Arnim initiierten „Christlich-deutschen Tischgesellschaft": Nienhaus 1994, 128. 133; Grab 1991, 16. - Das Statut dieser regelmäßigen Tafelrunde, deren „ideologischen Kern" eine „strikt antisemitische Einstellung" bildete (vgl. Nienhaus 1994, 138; dazu Härtl 1993, 190; Hock 1997, 326; Frühwald 1989, 7 6 f ; Bruer, 3 1 2 - 3 1 7 ; Brammer, 2 5 f ; Maser 1990, 142-152), Schloß auch getaufte Juden aus (vgl. Nienhaus 1994, 132 f). Eine diesbezügliche Positionsbestimmung Schleiermachers scheint nicht überliefert zu sein. Siehe dazu bei J. Bauer, 76, den Hinweis, daß kaum Briefe Schleiermachers aus der Zeit um 1812 erhalten sind (dieser Befund zur Quellenlage wurde bestätigt in einer brieflichen Mitteilung von Dr. S. Nienhaus, Meta di Sorrento, vom 3. 11. 1997). 525 Dazu ist zu bedenken, daß die Rechtslage der preußischen Juden nach 1815 „unsicherer und unüberschaubarer denn je" gewesen ist, da je nach Provinz unterschiedliche Regelungen bestanden und der emanzipatorische Kurs der früheren Jahre nicht konsequent weiterverfolgt wurde, vgl. Belke, 45; ferner Rürup 1975, 2 2 f ; Jung, 1 4 7 f ; Preißler, 3 2 - 5 2 ; Holeczek, 150-155; Fehrs 1998, 2 0 1 - 2 1 0 ; Richarz 1976, 2 5 f ; Oberdorfer, K u D 1998, 306; Bruer, 2 5 7 - 3 4 2 ; Horst Fischer, 6 7 - 6 9 ; Brammer, 71 ff, bes. 2 1 7 f ; J. H. Schoeps, W S A 1977, 9 1 ; Gay, 131 f; Battenberg 1990 II, 1 1 7 - 1 2 2 ; Nowak 1995, 84. 526 Vgl. Tilgner 1966, 5 1 - 5 4 ; Hoffmann, 174; Gay, 1 2 6 - 1 2 8 ; Steiner, 2 1 4 f ; H.-J. Kraus 1962, 3 0 f ; H. Graetz XI, 3 0 0 - 3 4 4 ; Dantine, 2 0 3 - 2 1 1 . - Zur Frage der historischen Gewichtung des „Antisemitismus solcher Mentoren des Nationalismus" siehe Volkov 1996, 215 f. 527 Siehe oben bes. 1 1 6 - 1 1 9 .

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Friedrich Schleiermacher

beneinander aufgefaßt hatte, wird nun unter eschatologischem Blickwinkel als vorläufig erkannt und das Christentum als kritische Zielbestimmung des Geschichtsverlaufes eingesetzt. So ist Schleiermachers Begriff der christlichen Kirche jetzt geeignet, auch Individuen und soziale Zusammenhänge zu integrieren, deren genuine kulturelle Prägung außerhalb des abendländisch-christlichen Raumes liegt. Schleiermacher überwindet dadurch die in seinen Äußerungen von 1799 zumindest latent enthaltene Neigung, die christliche Kirche als kulturelle Lebenseinheit vom Judentum definitiv abzugrenzen. 528 Die Mission der Kirche an den Juden wird in dieser Konzeption allerdings lediglich als Beispiel der Verbreitungsdynamik des Christlichen verstanden und nicht auf ihre im biblischen Kanon festgehaltene besondere theologische Problematik hin befragt. Dies ist in der eschatologischen Gesamtkonzeption Schleiermachers begründet. Das „Reich Gottes" als Zielvorstellung aller gesellschaftlichen Gestaltung bezieht die prophetischen Aussagen beider Testamente nicht als kritische Uberbietungen des kirchlichen status quo ein. Da die „Verkirchlichung" der Gesellschaft, also die Gestaltung aller sozialen Vollzüge nach „christlichen" Maximen, den organisch-universalen Endzweck bildet, ist die eschatologische Vorstellung einer „Neuschöpfung" mit ihrem Kritikpotential gegenüber dem ekklesiologischen Gegenwartszustand aufgegeben. Im Rahmen dieser verkürzenden Interpretation christlicher Eschatologie kann auch der Eintritt ganz Israels in die Kirche nicht mit Paulus als Peripetie der Christentumsgeschichte gedacht werden (vgl. Rom 11,12). Die Juden gelten folglich wie die vorläufig in heidnischen Religionen verharrenden Menschen aus den Völkern unspezifisch als „Unchristen". 529 Schleiermacher denkt in seinen späten politisch-ethischen Aussagen Kirche und bürgerliche Gesellschaft eschatologisch kongruent. Im Vergleich zu den „Briefen" von 1799 ist deshalb auch zu konstatieren, daß die bürgerliche Existenzberechtigung der jüdischen Bevölkerungsgruppe nicht mehr eigens postuliert wird. Während in der vornapoleonischen Zeit im Zeichen eines bürgerlichen Optimismus noch neben der christlichen Kirche die gleichberechtigte Existenz einer jüdischen Gemeinschaft gefordert wurde, soweit sie bestimmte Bedingungen erfüllte, wird das Judentum in der „Christlichen Sitte" als grundsätzlich zum Aufgehen in der Kirche bestimmt angesehen. Damit ist nicht die Forderung nach staatlicher Diskriminierung der nicht „bekehrten" Juden verbunden; vielmehr erscheint solche äußere Einwirkung als dem Konversionsprozeß schädlich.

528 Somit ist in Schleiermachers eigener Entwicklung auch der Ansatz gebannt worden, einen „Antijudaismus" als Gegensatz soziokultureller Natur im Begriff der Kirche zu verankern, vgl. Feilchenfeldt 1997, 167 529 Vgl. S W 1,12, Beilage 181 f.

Fazit

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3. Fazit Schleiermacher war nicht der erste Theologe, der das AT als „jüdisches Buch" definiert und zwischen jüdischer und christlicher Religion und Überlieferung wertend unterschieden hat. Er hat aber die ihm von der historisch-kritischen Exegese wie von der idealistischen Religionsphilosophie vorgegebenen Ansichten in ein beeindruckendes und wirkmächtiges System integriert und ihnen dadurch maßgeblich zum Durchbruch verholfen. Erst durch Schleiermacher ist die kirchliche Haltung zum AT „in eine Krise eingetreten". 530 In der Schleiermacherschen Theologie begegnet eine offen an Marcion anschließende negative Einstellung zum AT und der jüdischen Religion als integraler Bestandteil einer dezidiert „modern" und zugleich selbstbewußt „kirchlich" auftretenden protestantischen Positionsbestimmung. Einige Jahrzehnte nach Schleiermachers Tod fand seine Verbindung von theologischer Kanonskritik und kirchlichem Anspruch auf „Zeitgemäßheit" im Kontext der liberalen Theologie breite Zustimmung. Als namhaftester Fürsprecher der von Schleiermacher vertretenen Abwertung des AT ist Adolf von Harnack (1851-1930) in die Theologiegeschichte eingegangen. 531

530 Vgl. Smend 1958, 122; ferner Liebeschütz 1967, 96f; H.-J. Kraus 1970, 219f; Friedrich, ZKG 1991, 343; Brumlik, 191; Bindemann, 118. - Sicherlich überpointiert, im Blick auf die weitere Wirksamkeit der Theologie Schleiermachers aber nicht leichthin von der Hand zu weisen ist die Bewertung von H . Graetz XI, 172f: „Schleiermacher impfte den gebildeten Kreisen Deutschlands von neuem eine eigene, kaum bezeichenbare Antipathie gegen das Judentum ein. Er war keinesfalls, was man so nennt, ein Judenfeind. [...] Aber es waltete in ihm ein dunkles, unangenehmes Gefühl gegen das jüdische Wesen, dessen er sich nicht erwehren konnte. [...] Bis dahin hatte sich die gläubige Christenheit in einer gewissen Gemeinschaft mit dem Judentum gefühlt, und das alte Testament, die Bibel, war der gemeinsame Boden, auf dem die übermütige Tochter und die geknechtete Mutter einander begegneten und auf einen Augenblick ihren Haß vergaßen. [...] Aber waren Jesus, die Apostel und die Stammväter der Kirche nicht Juden? Schleiermacher hätte diese Tatsache gern abgeleugnet, wenn es nur irgendwie angegangen wäre; aber da er dies nicht vermochte, so löste er die Tatsache in Dunst auf." Gegen diese Sicht könnte eingewandt werden, Schleiermacher habe, indem er N T und AT scharf unterschied und die christlich-dogmatische Beanspruchung des letzteren verneinte, der jüdischen Religion „ihre" Bibel „zurückgegeben" (in diese Richtung könnten die Ausführungen bei Peiter, 1018 f, verstanden werden, denen zufolge Schleiermacher analog zu Johann Agricola, aber im Gegensatz etwa zu Luther, den jüdischen Bibelgebrauch nicht nach christlich-christologischem Maßstab bewertet habe). Wenn eine solche Argumentation vordergründig auch vieles für sich anführen könnte, würde sie doch verkennen, daß Schleiermacher den Juden „ihr" AT als etwas Minderwertiges und Überholtes überließ - und nicht als ein neben dem N T eigentümlich Anderes von eigener Qualität. Den Gedanken der positiven, in ihrer Eigenart achtbaren Religion wandte er auf das Judentum nicht an. Das hypothetisch zu konstruierende Resultat einer solchen Anwendung, wonach auch das Judentum als geschichtlich in eigener Weise gegebene Religionsformation zu respektieren wäre, lag in allen Phasen außerhalb des Schleiermacherschen Gedankenkreises. Tatsächlich trennte Schleiermacher das Jüdische vom Christlichen, indem er es, wie noch seine späte Sozialethik erweist, als Negativfolie funktionalisierte. Über das rationalistische Vergleichen und gegenseitige Bewerten der Religionen kam er faktisch nicht hinaus. 531 Die These bei Harnack 1924, 217: „Das AT im 2. Jahrhundert zu verwerfen, war ein Fehler, den die große Kirche mit Recht abgelehnt hat; es im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schick-

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Friedrich Schleiermacher

Zwar kann man bei Schleiermacher selbst eine Entwicklungslinie hin zu einer differenzierteren und konstruktiveren Wertung des Judentums feststellen, auf der er philologisch und historisch weit über die Aussagen seines Lehrers Semler hinauswächst. Das bibeltheologische Anliegen des pietistischen „Philosemitismus", das ihm in der Version Zinzendorfs begegnet war, mitzuvollziehen, gelingt Schleiermacher jedoch nicht. Es kommt nicht zur theologischen Revision der seit dem Studium und den „Reden" durchgehaltenen diastatischen Grundthese. Besonders in den späten Jahren fällt daher der Abstand zwischen der dogmatischen Trennung des „Christlichen" vom „Jüdischen" und den sich vertiefenden exegetisch-philologischen Einsichten in die enge strukturelle und inhaltliche Verbindung beider Testamente ins Auge. Nicht der Befund am biblischen Text, sondern das vorausgesetzte Modell des schlechthinigen Abhängigkeitsgefühls und des daraus transzendental erschlossenen „höchsten Wesens" bestimmt über die Christologie auch die Sicht des Verhältnisses der beiden biblischen Religionen. Die in dem transzendentalen Gottesverständnis bedingte Ablehnung der in der Bibel enthaltenen geschichtsverbundenen, „sinnlichen" Rede von Gott zeigt sicherlich die Grenze der Möglichkeit an, den Sachgehalt des biblisch dokumentierten christlichen Glaubens in ein vom religiösen Bewußtsein des Individuums abgeleitetes System einzuholen. Die innovative Kraft insbesondere des radikalen Christozentrismus Schleiermachers drängte somit zur Uberwindung seines von vielen Zeitgenossen als aporetisch erkannten Bibelgebrauchs. 532 Eine theologische Kritik Schleiermachers auf dem Hintergrund der politischen und kirchlichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts muß sich der Gefahr bewußt sein, anachronistisch zu argumentieren. Schleiermachers religiöser Haltung zum Judentum kann man nur dann gerecht werden, wenn man sie auch als Hintergrund seiner im zeitgenössischen Vergleich positiv erscheinenden Einstellung gegenüber der bürgerlichen Emanzipation der Juden wahrnimmt. 533 Aufgrund seiner politischen Voten ist Schleiermacher über jeden Verdacht erhaben, in antisemitischen Ressentiments verhaftet zu sein. In seiner frühen Berliner Phase erregte vielmehr sein intimer Umgang mit Persönlichkeisal, dem sich die Reformation noch nicht zu entziehen vermochte; es aber seit dem 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde des Protestantismus noch zu konservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung", liegt im Gefalle der Kanonskritik, die Schleiermacher seit der Glaubenslehre und der zweiten Auflage der Kurzen Darstellung äußerte. Harnack verlangte konsequent die Streichung des AT aus dem kirchlichen Kanon: „Hier reinen Tisch zu machen und der Wahrheit in Bekenntnis und Unterricht die Ehre zu geben, das ist die Großtat, die heute - fast schon zu spät vom Protestantismus verlangt wird" (222; vgl. dazu kritisch K. Barth, K D 1,2, 81 f; Waubke, 2 9 1 - 2 9 5 ; Nicolaisen, 1 2 - 1 5 ; zu Harnacks theologischer Grundposition ferner: Jacobs, TRE 21, 56). Auffällig ist die Parallele in der Rezeption von Luther und Agricola bei Schleiermacher, S W 1,11, 604 f, und Harnack 1924, 219 f. 532 Vgl. Redeker, Einleitung, X X X I I . - Herms, TRE 25, 180, urteilt, Schleiermachers Rezeption der altkirchlichen Lehrbildung „provoziert [...] die theologische Weiterarbeit". Dies gilt mindestens im gleichen Maß für sein Bibelverständnis, wie unsere Betrachtung der Theologen aus der ersten von Schleiermacher wesentlich geprägten Generation zeigen wird. 533 Vgl. dazu die Erwägungen bei Nowak 1984, 68.

Fazit

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ten der aufgeklärten jüdischen Bevölkerungsgruppe mancherorts Anstoß. Zumindest in der Zeit nach Einsetzen der Restauration tritt er auch für die orthodoxen Juden, zu denen ein persönlicher Kontakt allerdings nicht erhebbar ist, für die Befreiung von allem politischen Druck ein. Sowohl in der frühen als auch in der „reifen" Phase zeigt sich Schleiermachers gesellschaftliche Einstellung zur jüdischen Religion von seinen theologischen Prämissen und der davon abhängigen Würdigung des AT bestimmt. Politische Erfahrungen und sozialethische Aussagen treten kaum in Wechselwirkung. Vielmehr liefern die äußeren Umstände, also die Lebensverhältnisse der Juden als sozialer Minderheit, nur den jeweiligen Anlaß der theologisch begründeten Äußerungen. In seiner theologischen Reflexion über die Koexistenz von Kirche und Synagoge bleibt Schleiermacher in allen Phasen hinter dem Zeugnis des NT, insbesondere des Paulus in Rom 11, zurück. Dies ist bereits von Zeitgenossen unterschiedlicher theologischer Prägung festgestellt und kritisiert worden. Seine Abwendung vom altprotestantisch-orthodoxen wie herrnhutischen Schriftund Geschichtsverständnis ist mit einer polemischen Haltung zur traditionellen Konzeption des einen Gottesvolkes verbunden. Auch für die christliche Lebenspraxis kündigt Schleiermacher, indem er sogar den Dekalog verwirft, das in der Kirche übliche Maß an Solidarität mit der hebräischen Überlieferung auf.

II. Selbstbewußte Weiterführung Theologen der auf Schleiermacher folgenden Generation

0.

Vorbemerkung

Die Theologie des 19. Jahrhunderts kann insgesamt als eine Theologie „post Schleiermacher locutum" verstanden werden.1 Diese Charakterisierung zielt weniger auf die inhaltliche Ausgestaltung der Lehre, in der die bedeutendsten Theologen der Folgegeneration von Schleiermacher oft entscheidend abwichen und ihn energisch kritisierten, als vielmehr auf die Anerkennung von drei Basisaxiomen, die Schleiermacher der protestantischen Theologie wieder vor Augen gestellt hatte. Martin Kahler, der „positive" Hallenser Dogmatiker, faßte am Ende des Jahrhunderts die von Schleiermacher geprägte Grundgestalt der kirchlichen Lehre so zusammen: „Erstens: Selbständigkeit des religiösen Lebens, und zwar nicht so, daß es nichts mit Verstand und nichts mit Sittlichkeit zu tun hat, aber Selbständigkeit und Ursprünglichkeit des religiösen Lebens gegenüber der Wissenschaft und der Moral. Zweitens: die unbedingt zentrale Stellung der Person Christi im Ganzen des Christentums. Drittens: die Uberwindung der Individualisierung der Religion, ihrer Auffassung als bloße Privatreligion, und die Betonung dessen, daß Religion Sache der Gemeinschaft sei." 2

Begründung der Theologie aus der gegebenen Faktizität der christlichen Religion, Christozentrismus und ekklesiologische Hervorhebung von Gemeinschaft und Gemeinde: Es ist wohl nicht zu hoch gegriffen, wenn man sagt, daß die Theologie in diesen Grundparametern - dank der am stärksten von den Reden ausgehenden Wirkung der Schleiermacherschen Kritik an Orthodoxie und Rationalismus - durchaus am theologischen Selbstverständnis der Reformatoren wieder anknüpfte und daraus eine neue, das Leben der Kirche ergreifende Schwungkraft erhielt.3 Wir sahen bei Schleiermacher selbst, daß dabei der biblische Kanon als geschichtliches Traditionsgut der Kirche an Wertschätzung gewann und daß, gegen Ende von Schleiermachers Lebens- und Wirkungszeit, auch der literarisch-historische Zusammenhang Jesu und der Apostel mit der 1 Vgl. H.-J. Kraus 1970, 221; abwägend F. H . R. Frank, 136-138. 2 Kahler 1989, 82. 3 Vgl. die Erwägungen bei Kahler 1989, 48f, und F. H . R . Frank, 67; zum Verhältnis der neuprotestantischen Theologie zum reformatorischen Ansatz ferner Herms, T R E 25, 189.

Theologen der folgenden Generation

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jüdischen Überlieferung und dem jüdischen Milieu ihrer Zeit verstärkt wahrgenommen werden konnte. Dieser Rückgriff auf die Bibel, speziell auf das AT und den Zusammenhang beider Testamente, setzt sich in der Folgezeit, wie wir sehen werden, in einer theologisch zugespitzten Weise fort. Wenn aus einem neuen, der religiösen „Erweckung" verbundenen Verständnis des Zusammenhangs von Exegese und Theologie heraus dabei an Schleiermachers eigenen theologischen Fragestellungen und Ergebnissen heftige Kritik geübt wurde, so darf doch nicht verkannt werden, daß sich der Grundzug dieser Entwicklung im Entscheidenden gerade Schleiermacher verdankte. Der von ihm neu erkannte Ansatzpunkt der christlichen Theologie am faktisch existenten Christlichen erfuhr in einem dogmatisch vertieften Rückgang auf den Bibelkanon eine Radikalisierung, die sich, wie bereits in der Diskussion seiner Ergebnisse zitiert wurde, vornehmlich in der Kritik seiner christologischen Aussagen niederschlug und so auch den Schleiermacherschen Christozentrismus präzisierte. Weiterhin ist die zeitgeschichtliche Situation der Theologen der auf Schleiermacher folgenden Generation zu berücksichtigen. Ihre maßgebliche Prägungsund Wirkungszeit ist nachnapoleonisch. Das heißt, daß sie die nach 1815 einsetzende konfessionelle und institutionelle Erneuerung des deutschen Protestantismus nicht wie Schleiermacher mit initiierten, sondern sie vorfanden und in unterschiedlichen Richtungen ausgestalteten. Dies ist hinsichtlich der charakteristischen „Kirchlichkeit" der Mehrzahl ihrer Konzepte nicht zu übersehen. Für unser Thema bedeutsam ist ferner, daß ihnen auch die emanzipatorischen Errungenschaften der französischen Expansion - die Ansätze zur bürgerlichen Gleichstellung der Juden eingeschlossen - , welche in der Phase der Restauration zwar nicht positiv weiterverfolgt, aber im Sinne des Legitimismus auch nicht völlig zurückgedrängt wurden, eine vorgegebene Tatsache bildeten. Trotz der äußerst schleppenden, sich schließlich bis 1869 hinziehenden Emanzipation der deutschen Juden bildete doch das preußische Edikt vom 11. März 1812 einen Meilenstein, der auch von den christlichen Theologen nicht ignoriert werden konnte. 4 Soweit sie also nicht im Namen einer reaktionären „christlichen" Staatsidee mit aller liberalen Konstitution auch die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden ablehnten (so v.a. Hengstenberg), enthielten sie sich der noch beim jungen Schleiermacher historisch unabweisbaren grundsätzlichen Diskussion der Emanzipationsfrage und äußerten sich in erster Linie pragmatisch (so besonders Nitzsch).

4 Vgl. Mommsen, 21 f; Binder, T R E 24, 6; Holeczek, 154; Zmarzlik, 264; Preißler, 47; Bruer, bes. 324-333; Horst Fischer, 26-31. 71-79; Brammer, 62-70.

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Theologen der folgenden Generation

1. Die Eigenart der testamentischen Religion Carl Immanuel Nitzsch 1.1. Nitzschs Ort in der Theologiegeschichte 1.1.1.

Leben und Werk

Der 1787 in Borna bei Leipzig geborene Nitzsch stammte aus einer Theologenfamilie.5 Sein Vater Carl Ludwig Nitzsch (1751-1831) wirkte ab 1790 als kursächsischer Generalsuperintendent und Professor für systematische und „angewandte" Theologie in Wittenberg, später als Direktor des dortigen Predigerseminars. 6 Carl Immanuel Nitzsch besuchte von 1803 bis 1806 das kirchliche Internat Schulpforta und studierte anschließend in Wittenberg Theologie. 1809 wurde er zum Magister artium und zum Doktor der Philosophie promoviert und legte in Dresden das kirchliche Dienstexamen ab. 1810 habilitierte er sich mit einer patristischen Arbeit über die Testamente der zwölf Patriarchen an der philosophischen Fakultät und wurde dritter Diakonus an der Schloßkirche zu Wittenberg. Seit 1816 lehrte Nitzsch am Wittenberger Predigerseminar. 7 Zum Reformationsjubiläum 1817 verlieh ihm Schleiermacher als Dekan der Berliner theologischen Fakultät den theologischen Ehrendoktor. 1822 folgte Nitzsch dem Ruf auf einen systematischen und praktisch-theologischen Lehrstuhl an der Universität Bonn, der mit der neugeschaffenen Stelle des Universitätspredigers verbunden war. 8 Schon in Wittenberg Fürsprecher der innerprotestantischen Union 9 , gehörte Nitzsch ab 1824 als Vertreter des unierten Bonner Presbyteriums der Kreissynode Mülheim an, die ihn 1835 zur rheinischen Provinzialsynode delegierte. Dort war er ab 1838 Vizepräses. 1843 5 Zur Familiengeschichte Nitzschs seit der Reformation und seiner Prägung im Elternhaus vgl. W. Beyschlag, 3-13. 6 C . L. Nitzsch war besonders von Lessing und Kant zugunsten einer primär ethischen Ausrichtung des Christentums beeinflußt; vgl. Theurich, T R E 24, 578; Haas, 2 - 4 . - Carl Immanuel Nitzschs Sohn Friedrich (1832-1898) lehrte in Gießen und Kiel Systematik und Dogmengeschichte (dazu Scholder, R G G 3 4, 1499 f). 7 W. Beyschlag, 14-80. Beyschlag stellt die Wittenberger Zeit aufgrund der Kriegserfahrungen unter den Titel „Drangsalsschule"; vgl. auch aaO, 81-106. 8 Vgl. W. Beyschlag, 107-135. - Beyschlag schildert das Bonn des Jahres 1822 als eine „ziemlich bäurische[.] Stadt" (109). An der 1818 gegründeten Universität gab es bei Nitzschs Ankunft ca. 60 Theologiestudenten (124). Zu den namhaften Dozenten gehörten neben A. W. Schlegel und dem seit 1820 wegen „demagogischer Umtriebe" von seinem Geschichtslehrstuhl suspendierten E. M. Arndt die Theologen J . C . W. Augusti, Κ. H. Sack und „[F.] Lücke, Schleiermachers nächster Schüler und Freund" (110). Siehe dazu auch D . Meyer, T R E 29, 168. 9 Vgl. Theurich, T R E 24, 579. Ähnlich wie Schleiermacher (vgl. oben 101 mit Anm. 369) kritisierte der Bonner Nitzsch den von Friedrich Wilhelm III. unterstützten Entwurf einer einheitlichen Agende, da dieser für Gemeinden reformierten Ursprungs kaum akzeptabel sei (vgl. Theurich, aaO). Der Grund des Interesses des genuinen Lutheraners Nitzsch besonders am reformierten Gemeindeverständnis wurde bereits durch seinen Vater gelegt, der als Pfarrer in Wittenberg entgegen der zeitgenössischen lutherischen Praxis ein Gemeindepresbyterium wählen ließ (vgl. Haas, 4).

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wurde er aufgrund nebenamtlicher Tätigkeit beim Koblenzer Konsistorium zum Konsistorialrat ernannt.10 Die theologisch bedeutsamste Aktivität Nitzschs im Rahmen kirchenleitender Verpflichtungen war sein vielfach angefeindeter und letztlich an König Friedrich Wilhelm IV. und konservativ-neokonfessionellen Gegnern gescheiterter Versuch, auf der preußischen Generalsynode 1846 einen protestantischunierten Lehrkonsens und ein Ordinationsformular für alle preußischen Pfarrer zu etablieren.11 1847 wurde Nitzsch, von dem sein Sohn betonte, er sei „vom Pietismus völlig frei" gewesen12, gegen Vorbehalte des Königs als Nachfolger des Hegelianers Philipp Marheineke (1780-1846) nach Berlin auf die systematische und praktische Professur und wiederum die Universitätspredigerstelle berufen.13 1852 trat Nitzsch als einziger Vertreter der Konsensunion in den Evangelischen Oberkirchenrat ein. Im Revolutionsjahr 1848/49 war Nitzsch Rektor der Berliner Universität, seit 1848 Mitglied im engeren Ausschuß des „Kirchentages", 1848/49 und 1852 Abgeordneter in der Ersten Kammer des preußischen Landtags mit konservativer, aber konstitutioneller Haltung. 1855 wurde er zum Berliner Propst berufen. Erst in Berlin kam Nitzsch zur theoretischen Ausführung eines Programms der Praktischen Theologie, das sich deutlich an Schleiermachers institutionaler Begründung der Theologie in den Erfordernissen der Kirchenleitung anlehnte.14 Die Ausbildung der Praktischen Theologie als Fachdisziplin folgte der „zeitgenössische [n] Tendenz zur wissenschaftlichen Spezialisierung"15. Nitzsch starb 1868, nachdem er noch in hohem Alter kirchlichen Pflichten, u.a. der Funktion des Berliner Propstes, nachgekommen war. 1.1.2.

Nitzsch in der Literatur

Obwohl Nitzschs Lebenswerk theologie- wie kirchengeschichtlich von hoher Bedeutung ist, führt er in der Literatur ein Schattendasein. Die maßgebliche Gesamtdarstellung stammt aus dem Jahr 1872. Willibald Beyschlag würdigt Nitzsch darin als „Lichtgestalt" der Theologie des 19. Jahrhunderts. Er beschreibt die Vielfalt der kirchlich-theologischen Aufgaben, denen sich Nitzsch über fünf Jahrzehnte gestellt hat, und urteilt: „Haben einige Wenige ihn nach dieser oder jener Seite hin an schöpferischem Geiste überragt, so doch Keiner an Allseitigkeit der Gaben und Tugenden, an Gleichmaaß der religiösen und der sittlichen Energie, des speculativen und des historischen Sinnes, der wissenschaftlichen und der kirchlichen Erfahrung und Begeisterung." 1 6

Zu Nitzschs kirchenleitender Tätigkeit: W. Beyschlag, 181-230. Vgl. Theurich, T R E 24, 579f. 12 Vgl. F. Nitzsch, RE 3 14, 135. 13 Vgl. F. Nitzsch, RE 3 14, 133; Gestrich, 186. 14 Vgl. Theurich, T R E 24, 580. Siehe bei Schleiermacher: Kurze Darstellung 2 , § 3 (ed. Scholz, 2). '5 Wintzer, EvTh 1969, 98. " W. Beyschlag, 2. 10 11

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Beyschlag selbst unternimmt freilich eine engführende Interpretation Nitzschs, indem er ihn für ein politisierendes Verständnis des deutschen Protestantismus vereinnahmt. Nitzsch sei für die Nachwelt deshalb von besonderem Belang, weil er die Bewährung der protestantischen Kirche gegenüber Gefährdungen von „links" und „rechts" exemplarisch darstelle. Die Originalität, die Nitzsch besonders in seiner biblischen Hermeneutik zeigt, wird somit von kirchenpolitisch-funktionalen Interessen überlagert.17 Der von Nitzschs Sohn Friedrich geschriebene Personalartikel der RE 3 hebt stärker auf das theologische Profil ab. Nitzsch wird hier als einer der bedeutendsten Vermittlungstheologen, wichtiger Fürsprecher der Presbyterial- und Synodalverfassung, Vorkämpfer der Konsensunion und der „nach Schleiermacher [...] mindestens der Zeit nach erste selbständige Systematiker der neueren praktischen Theologie" genannt.18 Seit dem Ersten Weltkrieg ist Nitzsch als systematischer und exegetischer Theologe weitgehend in Vergessenheit geraten. Seine dogmatische Kritik an Schleiermacher, die ihn auch gegenüber der liberalen Theologie der zweiten Jahrhunderthälfte in Widerspruch setzte, fand in der späteren Diskussion kaum Beachtung. 19 Die kurze Vorstellung bei Hirsch 20 wird Nitzsch nicht vollends gerecht; insbesondere werden die Intentionen der „Vermittlungstheologie" nur unzureichend beschrieben. Dagegen hat Albert Haas 1964 in Göttingen eine ungedruckt gebliebene Dissertation vorgelegt, die das theologische System Nitzschs scharfsichtig darstellt und ausführlich auf die theologische Motivation seiner kirchenleitenden Tätigkeiten eingeht. Nitzschs Bedeutung für die Ausbildung der Praktischen Theologie als Fachdisziplin ist seit den späten sechziger Jahren mehrfach herausgestellt worden. 21 Dies trägt zwar dem zentralen Aufgabenfeld Nitzschs Rechnung, bewirkt jedoch eine perspektivische Verkürzung. Gerade in der dogmatischsystematischen Aufnahme exegetischer Erkenntnisse beweisen Nitzschs Schriften seine Selbständigkeit gegenüber den Zeitströmungen und auch eine polemische Kraft, die das damalige theologische Gespräch konturiert. Auch Nitzschs umstrittene Vorlage eines konsensualen protestantischen Bekenntnisses auf Basis der Bibel, die gleichermaßen gegenüber den theologischen Strömungen der Zeit wie gegenüber den kirchenpolitischen Ambitionen des preußischen Königs als autonom erscheint, verdiente stärkere Beachtung.

17 Angesichts der aktuellen Situation des „Kulturkampfs" heißt es: „Der deutsche Staat wird weder mit der ultramontanen noch mit der socialistischen Gegnerschaft fertig werden ohne eine sich frei verjüngende und dadurch erst wahrhaft volksthümlich werdende evangelische Kirche" (VIII). F. Nitzsch, RE 3 14, 128. 19 Wichtig ist jedoch die zustimmende Zitierung von Nitzschs zentraler Forderung, die biblische Gottesrede von einem allgemeinen Theismus abzugrenzen, in Karl Barths 1932 geschriebenen Prolegomena zur Trinitätslehre (vgl. KD 1,1, 318). 20 Hirsch 1954, 375-378. 410f. 21 Vgl. v.a. Wintzer, EvTh 1969; Theurich 1975; Gerbracht, 57-71; F. Schweitzer, ZThK 1993.

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Nitzschs Arbeiten etwa zur Patristik harren ebenfalls noch der angemessenen Würdigung. 22

1.2. Nitzschs Einstellung zum Alten Testament 1.2.1.

Die Heraushebung des „Testamentischen" aus der Religionsgeschichte

In seiner 1829 erschienenen, in knappen Thesen ausgeführten Gesamtdogmatik „System der christlichen Lehre" verankert Nitzsch, hier Schleiermacher bedingt folgend, die christliche Theologie in einem allgemeinen Religionsbegriff, der in der anthropologischen Größe „Gefühl" wurzelt. In § 10 heißt es: „ U n s s c h e i n t es g e r e c h t , d a s P r i n z i p d e r R e l i g i o n i m G e f ü h l e z u s u c h e n , in e i n e m s o l c h e n , w e l c h e s n i c h t zufälliger, s o n d e r n n o t h w e n d i g e r W e i s e religiöse G r u n d e r k e n n t nisse u n d f r o m m e Gewissenstriebe e r z e u g t . " 2 3

In Abgrenzung zu Schleiermacher sieht Nitzsch sich aber genötigt, zwischen der biblischen und der heidnischen religiösen Tradition deutlicher zu unterscheiden und auch das „Gefühls"-Konzept entsprechend zu spezifizieren. Innerhalb der von Schleiermacher übernommenen Absage an jede orthodoxe „Lehrgesetzlichkeit" wird der kirchlichen Uberlieferung theologisch mehr Raum gegeben. Die traditionelle Dogmatik kommt mit Trinitätslehre, Logoslehre und Betonung der Präexistenz Christi wieder ausführlicher zur Sprache.24 In konsequenter Aufnahme Schleiermacherscher Gedanken schließt Nitzschs Glaubensbegriff die ethische Verpflichtung konstitutiv ein. Das christlich-religiöse Gefühl leitet an zu einem konkreten Tun. Ebenso impliziert es ein verbindliches Erkennen religiöser Wahrheit, das bestimmte Verwerfungen bedingt.25 Die betonte ethische Auslegung des Glaubens erweist - neben der besonders vom Vater angeregten Beschäftigung mit Kant 26 - die Auseinandersetzung des Lutheraners Nitzsch mit dem reformierten Erbe. Der Wechsel aus Wittenberg ins Rheinland dürfte sich hier niedergeschlagen haben.27

2 2 Der 1994 von H . Theurich geschriebene Personalartikel der T R E berücksichtigt die vielfältigen Aspekte in Nitzschs Wirken, konzentriert sich aber - aufgrund der ungleichen Wirkungsgeschichte der unterschiedlichen Interessen Nitzschs durchaus legitimerweise - auf sein praktisch-theologisches und kirchenleitendes Engagement. Wichtig für Nitzschs bibeltheologische Leistung ist der Abschnitt bei H . - J . Kraus 1970, 2 2 5 - 2 2 8 . Jung, 5 3 - 5 5 , führt kompetent in das Anliegen der von Nitzsch repräsentierten Vermittlungstheologie ein.

System, § 10; dazu H.-J. Kraus 1970, 225f. Vgl. Hirsch 1954, 375; F. Nitzsch, R E 3 14, 131; Krieg 1991, 322f. " Vgl. F. Nitzsch, R E 3 14, 131. 2 6 Vgl. Krieg, Z K G 1988, 150 f. 2 7 Vgl. F. Schweitzer, ZThK 1993, 78; Wintzer, EvTh 1969, 100; Krieg 1991, 315. - Haas, 41, stellt fest, daß Nitzsch sich im Lauf seiner Entwicklung insgesamt immer stärker reformierten Positionen annähert. 23 24

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Nitzsch sieht die Verteidigung der Stringenz und Einheitlichkeit des biblischen Gesamtkanons als integralen Bestandteil der autoritativen Berufung auf das neutestamentliche Kerygma. Der christliche Glaube schreite dabei „mehr vom N.T. auf das A. zurück, als vom A. zu dem N . vor". 28 Umgekehrt verspreche das N T ,,wörtlich[,] das Gesetz wieder aufzurichten" 29 . Aus beiden Teilen der Bibel spreche die besondere Zuwendung Gottes. So kann der Homiletiker Nitzsch formulieren, „daß bei geordneter Lesung [...] gar herrliche Evangelien und gar herrliche Episteln auch aus dem A.T. hervortreten, die dem Glaubensleben der Christen [...] unmittelbar zur Begründung gereichen"30. Die biblische Gesamtüberlieferung wird unter dem Titel des „Testamentischen" gegen eine einebnende religionsgeschichtliche oder religionsphänomenologische Betrachtung reserviert. Nitzsch bringt ein Spezifikum biblischer Gottesrede, den „Bund", systematisch auf den Begriff, indem er den zentralen Terminus der Föderaltheologie der reformierten Orthodoxie aufnimmt. 31 Zwischen dem „Testamentischen" und der übrigen Religionsgeschichte wird ein unüberbrückbarer qualitativer Abstand konstatiert: „Während die heilige Geschichte der Testamente im unzerrissenen Bande mit der äußersten Urgeschichte zusammenhangt und wiederum bis in die Tage der Römischen Auguste [sie] hereinreicht, müssen die heidnischen Religionen auf bloße Urgeschichte der Cultur zurückschauen und ihren Mangel theils mit Poesie über die Natur- und Völkergeschichte theils mit isolierten Wunderwerken und Zaubereien ausfüllen. Sie fußen auf Geschichten ohne Eine Geschichte zu haben, es fehlt ihnen Weissagung und Erfüllung." 32

Die innere Dialektik des biblischen Kanons, der von Verheißung und Realisierung bestimmte geschichtliche Zusammenhang, zeichnet in Nitzschs Augen die biblische Uberlieferung gegenüber der Partikularität der heidnischen Religionen aus. Die biblische Erzählung pflanze „in dem einen Testamente die Offenbarung des göttlichen Wortes in die zusammenhangende Volksgeschichte der Israeliten ein" und konstituiere eine religionsgeschichtlich singuläre Konkretheit der Gottesbeziehung. 33 Die distinkte Kontinuität der israelitischen Geschichte wird durch die ihr inhärente überlegene Geschichtsdeutung zum Träger der universalen Gottesoffenbarung. Nitzsch widerspricht hier implizit dem seit Mitte des 18. Jahrhunderts gegen das AT erhobenen Vorwurf des „Partikularismus". 34 Der Vorzug der Bibel leitet sich für ihn gerade aus ihrer umfassen28 Vgl. Sendschreiben, 30. - G A II, 306, betont Nitzsch, ein exklusiver Gebrauch des N T müsse zu dessen theologischer Verkürzung und Entstellung führen. 2 9 Ueber Gesetz und Evangelium, 80; vgl. R o m 3,31. Nitzsch setzt sich im Kontext des Zitats mit Luthers antinomistischem Gegner Johann Agricola auseinander, der auch Schleiermachers Interesse gefunden hatte (siehe oben 80 Anm. 266). 30 Biblische Vorlesungen, X I . 31 Vgl. zu Nitzschs Verständnis des Bundesbegriffs v. a. Ueber Gesetz und Evangelium, 181, wo „ B u n d " als Chiffre der konsistenten Ö k o n o m i e Gottes erklärt wird. 32 System, § 17 A n m . 4a (Hervorhebung im Original). 33 Vgl. Sendschreiben, 83; GA II, 8-10. 34 Vgl. oben zu Kant und Semler bes. 42f. 49.

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den geschichtsdeutenden Kompetenz ab. Einzig die biblische Kontinuität führe zum universalen Gottesreich hin, wobei Nitzsch zwischen einer „äußerlichen at-lichen Theokratie und einer innerlichen, durch den h. Geist gewirkten Theodidaskalie, welche zur innerlichen, durch den h. Geist aufgerichteten und durchgehaltenen Theokratie führt", spezifiziert. 35 Der Entwicklungszusammenhang wird also bei Nitzsch als differenziert, aber in sich geschlossen und notwendig verstanden, da die göttliche Ökonomie in der politisch-ethisch manifesten „Theokratie" des AT und der erzieherisch-reflektierenden „Theodidaskalie" des N T unterschiedlich wirkt und darin dennoch identisch ist. Nitzschs theologischer Kanonsbegriff ist demnach relational-bipolar; die unterschiedlichen Aussagen von AT und N T sind untrennbar dialektisch aufeinander bezogen und bedingen einander.36 Das Reich Gottes ist bereits im alttestamentlichen Gesetz und der israelitischen „Theokratie" positiv angelegt.37 In dem Hinweis auf den „poetischen" Charakter paganer Uberlieferungen ist eine versteckte Zurückweisung der Herderschen Annäherungsweise an das AT zu erkennen. Nitzsch lehnt die ästhetische Interpretation der Bibel zugunsten der material-dogmatischen Betrachtung ab. Der sachliche Zusammenhang der ganzen Bibel verbürgt ihre Überlegenheit. In der Einleitung seiner großen „Praktischen Theologie" heißt es thetisch: „ D a s christliche, u n d s o d a s kirchliche, e v a n g e l i s c h e v o n V e r m i t t l u n g s t h ä t i g k e i t f ü r d a s R e i c h G o t t e s m u ß i m A . T . sich in W e i s s a g u n g e n , in p e r s ö n l i c h e n , s a c h l i c h e n , s p r a c h l i c h e n T y p e n a n k ü n d i g e n . S t r e b t die ä u ß e r e u n d e i n g e s c h r ä n k t e B u n d e s h e r r s c h a f t n a c h geistlicher u n d s c h r a n k e n l o s e r T h e o k r a t i e , s o m u ß sie d u r c h T h e o d i d a skalie, durch Lehr- u n d H i r t e n a m t vermittelt w e r d e n . " 3 8

Nitzsch vertritt eine differenzierte Vorstellung der Einheit beider Testamente.39 Ihre relative Unterschiedenheit festzuhalten, sei die Aufgabe der biblischen Theologie als einer „protestantischen Grundwissenschaft". 40 Nitzschs kanonstheologische Gedanken lassen sich in korrespondierende Begriffe fassen. Die maßgebenden Begriffspaare sind „Vollendung/Vorbereitung", „Entschränkung/Beschränkung" und „Unmittelbarkeit/Mittelbarkeit". Christus schaffe im N T die Begrenzung und Äußerlichkeit des alttestamentlichen Gesetzes ab

3 5 Vgl. H a a s , 6f. Zur mosaischen Theokratie vgl. in der nachgeschriebenen Vorlesung „Biblische Theologie des A . und N . T . " den § 21 (dort 45-49). Nitzsch hebt darin besonders auf die unterschiedliche Form der göttlichen Ö k o n o m i e in beiden Testamenten ab (vgl. v.a. 46). 36 Vgl. H a a s , 36. Zur reflektierenden Struktur der neutestamentlichen Didaskalie: G A II, 289. 37 Vgl. H a a s , 111; Krieg 1991, 324f. - Bereits 1816 hatte Nitzsch in den „Theologischen Studien" für die frühe Kirche zwischen den jüdisch-orientalischen Ursprüngen der christlichen Theologie und apologetischen Strömungen, die eine Herleitung des Christentums aus der paganen Philosophie versuchten, unterschieden (vgl. bes. aaO, 11). Die Absicht dieser Abhandlung war es, „auch den Begriff der christlichen Trinität aus dem Gebiete der logisch-metaphysischen Theogonie zu retten" (150) und also das jüdisch-biblische Proprium des Christentums polemisch sicherzustellen. 38 PrTh I, 39. 3 9 Vgl. Theurich 1975, 52 f. 129. 4 0 Vgl. R E 2, 224. Dazu H a a s , 95-100.

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und bringe so die universale Intention des AT zum Vorschein. 41 Nitzsch setzt sich somit einerseits von Schleiermacher ab, der jeden besonderen Rückbezug des Christentums auf die revelatorische Kontinuität der hebräischen Bibel verneint hatte. Die Mangelsituation der Menschheit ante Christum wird allein am konkreten biblischen Gesetz ersehen. Andererseits widerspricht Nitzsch aber auch der von Calvin vertretenen Gleichsetzung der göttlichen Ökonomie im Alten und Neuen Bund. 42 Für Nitzsch ist das revelatorische Geschehen in AT und NT wohl in sich zusammenhängend; es kennt aber dennoch eine innere Abstufung, die unter Zuhilfenahme der lutherischen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium christologisch bestimmt wird. Die Relevanz des AT für das NT und die christologische Verkündigung der Kirche sieht Nitzsch primär in der Bereitstellung des im Mosegesetz und der darin wurzelnden Prophetie verankerten Christustitels. 43 Die Heilsbotschaft des NT wird nach dem Schema von Gesetz und Evangelium als Antwort auf eine im Gesetz vorausgehende Manifestation des Mangels aufgefaßt. Das Evangelium „muß sich [ . . . ] auf ein prophetisches und gesetzliches Wort zurückbeziehen". 44 Die Christusverkündigung benötigt eine revelatorische Vorstufe, auf die sie verifikativ zurückgreift, „so wie in jedem Bewußtsein von der Erlösung Regreß auf das Bedürfniß derselben um der Sünde willen, und durch die bewußte Sünde auf das Gesetz, und durch dieß alles auf ursprüngliche Bestimmung des Menschen zu Gott und von Gott gewonnen wird" 45 . 1.2.2. Die Unterscheidung von „Religion" u n d „Offenbarung" Alles „Außertestamentische" muß für Nitzsch von der besonderen biblischen Linie der Vorbereitung und Erfüllung unterschieden werden. 46 Er differenziert zur Erklärung dieses Anliegens den Gegenstandsbereich der Theologie in die Größen „Offenbarung" und „Religion". „Offenbarung" ist eine von Gott aktual gesetzte Mitteilung und somit eine den natürlich-geschichtlichen Maßstäben entzogene Größe. Sie gilt kraft ihrer Faktizität und ist somit „ein erscheinendes Sein. Sie besteht nicht in Aussprüchen begrifflichen Inhalts, nicht in Lehren, deren sonstige Unbeweisbarkeit durch die Beweiskräfte anderweitiger Wunder gedeckt würde. Sie vermittelt sich durch lebendige Anschauung wirklicher Gestalt und Persönlichkeit"4^ Im Bereich der „Offenbarung" lehnt Nitzsch jede religionsgeschichtliche Parallelisierung des „Testamentischen" mit dem Paganen ab. Innerhalb der Offenbarung wirke die gegenseitige Einbeziehung und Beglaubigung der distinkten, von Gott frei gesetzten Fakten, „weil jede Stufe [...] von einer folgenden oder vorangehenden zeugt und sich auf ei41 42 43 44 45 46 47

Vgl. Ueber Gesetz Vgl. bes. Institutio Vgl. System, § 30; Vgl. System, § 30. System, § 30. Vgl. auch z.B. G A A n Weiße, 23.

und Evangelium, 185. 11,10. G A II, 10.

I, 5.

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nen neuen Anfang des religiösen Lebens der Menschheit bezieht". 4 8 Der Gesamtstrang „testamentischer" Offenbarung bilde einen normativen Kanon, der sich dem Vergleich mit „außertestamentischen", also paganen religiösen Phänomenen verweigert. Die Absolutheit der für diese Seite ausgesprochenen Absage an jeden religionsgeschichtlichen Vergleich relativiert Nitzsch bei der „Religion". Der Begriff der „Religion", der in seiner spezifischen Verwendung das anthropologische Komplement der „Offenbarung" bildet, stellt die „Gattungseinheit" des „Testamentischen" mit dem Paganen wieder her. 49 A m apriorischen Gegebensein der metaphysischen und psychologischen Möglichkeit der Religion hält Nitzsch mit Schleiermacher fest; die evidente Kausalität des Alls stehe kosmologisch dafür wie die empirische Allgemeinheit der Religion psychologisch. 5 0 Ausweislich eines philologischen Befundes hätten die Römer und Griechen „die wesentlichen, für immer anwendbaren Merkmale des Religionsbegriffs aufgewiesen". 5 1 Die Kirche habe den allgemein-religiösen Begriffsapparat aus dem Heidentum übernommen, denn „auch in der Offenbarung [sind] die Strukturen der Religion nicht außer Kraft gesetzt". 5 2 Nitzsch spezifiziert diesen Gedanken sogleich, indem er schreibt: „ N u r eben das Moment des historischpositiven [sie] an dem Begriffe öffentlicher und gemeinsamer Religion stiftet von N e u e m Beziehungen und Aehnlichkeiten zwischen dem Christenthume und dem heidnischen Religionsinstitut; im dogmatischen Gebiete selbst findet im gleichen Augenblicke der absolute Abstoß statt." 5 3

Den Zusammenhang aller religiösen Phänomene erläutert Nitzsch unter dem Gesichtspunkt der äußeren Religionsgeschichte, stellt dabei aber die notwendige Differenzierung zwischen den „testamentischen" und „außertestamentischen" Erscheinungen heraus: „Die Grundbegriffe der Theologie, Religion und Offenbarung, werden desto wahrer, je mehr zur Bildung des einen wie des anderen die Religionsgeschichte des Alterthums in ihrem ganzen Umfange, sowohl des testamentischen, als außertestamentischen Alterthums, zugezogen wird. Denn soll die Göttlichkeit einer allmählich sich entwikkelnden und mittheilenden, jedoch auf die Besitznahme von allen Völker ausgehenden Offenbarung vollkommen bestehen, so muß auch im Heidenthum, namentlich in demjenigen, welches mit dem Evangelium in die unmittelbarste Berührung kam, eine, wenn auch negative, παιδαγωγία εις Χ ρ ι σ τ ό ν vorzufinden und anzuerkennen sein. Positiv ist nur die des A.T., aber in negativer Art auch der Hellenism eine solche." 5 4

Durch die auf Christus vorbereitende Funktion sieht Nitzsch das biblische Judentum vom Heidentum geschieden. Während im Heidentum nur eine Ah48 49 50 51 52 53 54

Vgl. G A I, 4f. Siehe dazu Herms, T R E 25, 190f. Vgl. G A I, 5; dazu Mehlhausen 1992, 191 f. Vgl. System, § 28. Vgl. G A I, 18. Vgl. Krieg, Z K G 1988, 154; dazu bei Nitzsch: G A I, 19. An Weiße, 29. G A I, 6 f ; vgl. Krieg, Z K G 1988, 153.

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nung von Erlösungsbedürftigkeit das Christentum negativ vorbereite, führe die hebräische Bibel positiv auf das Evangelium hin, da hier exklusiv der „Bund" thematisiert sei: „Die positive Vorbereitung und der Offenbarungsgehalt gehören [...] dem A. Testament ausschließlich an." 55 Das Heil, das von den Juden komme (Joh 4,22), „muß an den unzerrißenen Proceß der Offenbarung, der außer Juda nicht vorhanden ist, geknüpft bleiben" 56 . Unter dem Titel „Weissagung" bestimmt Nitzsch die Funktion des AT für das N T dahingehend, daß es „auf dem Grunde der Offenbarung des wahrhaftigen Gottes und seiner Bundesherrschaft von Anfang an auf eine heilige Endgeschichte" hinziele; deshalb seien für Christus die Identität mit dem verheißenen Messias und die genealogische Abstammung von David konstitutiv. 57 In der Überlieferung Israels sei die göttliche Offenbarung verbindlich zur Geltung gelangt, während sie im klassisch-hellenistischen Paganismus von menschlicher Vernunft, in anderen heidnischen Traditionen vom Interesse an der eigenen Geschichte oder dem Eindruck der Natur überlagert und verfälscht worden sei. Die Wahrheit der Offenbarung sei in aller Religion vorhanden, das spezifische Verhältnis von Offenbarung und religiöser Realisation verleihe dem AT dennoch einen nicht nur graduellen, sondern prinzipiellen Vorsprung. Nitzsch spricht von der „ [ . . . ] Unfähigkeit des außertestamentischen Alterthums, die Offenbarung zu verwirklichen und gegen die Widersprüche der Vernunft oder den Einspruch der Geschichte und Natur aufrecht zu halten. Daher gibt es auf der einen Seite soviel Analogie zwischen der testamentischen Religion und den außertestamentischen, auf der anderen Seite eine so vollkommene, ursprüngliche Entgegensetzung der Ersteren gegen die Letzteren alle. Jehova schließt freilich auch die DTI^K ΟΉΠΝ aus, aber anders, als Dii novi, advenae, peregrini nach Cicero (und sonst) ausgeschlossen waren; denn es gibt keine Gattungsgleichheit zwischen ihm und den Baals [sie]. Der Gegensatz des Lebendigen und der Nichtse (Elilim) ist ein anderer, als der des einheimischen und fremden Gottes. Der Gott Israels, ungeachtet dieser Erhabenheit und Undarstellbarkeit, ist zwar nicht wie das θ ε ί ο ν der Griechen erkannt, sondern durch Zeugnisse und Thatsachen; allein es findet dennoch zwischen ihm und dem natürlich erkennbaren, oder dem, dessen Dasein allen Gottesverehrungen z u m Grunde liegt, keine Entgegensetzung statt, denn Jehova ist Elohim, ist Zebaoth sowie Elschaddai. Er hat die Welt inne, obgleich er auf besondere Weise in Zion einwohnet, Ps. 24. Die nationale Beschränkung ist mit der höchsten Entschränkung zugleich gesetzt." 5 8

Die Unterscheidung der biblischen Überlieferung von den übrigen Religionen ist demnach nicht im Raum der „Religion", sondern - dezidiert theologisch -

55 Vgl. System, § 31. - H.-J. Kraus 1970, 227, unterstreicht Nitzschs betont positives Verständnis der Vorläuferfunktion des AT für das N T , das das Schema von Gesetz und Evangelium transzendiere: „Die gesamte biblische Geschichte wird der ,Einheit des Heilsbeschlußes' unterstellt und in dieser Einheit abgestuft." * An Weiße, 28. 57 Vgl. System, §§ 35. 125; dazu H.-J. Kraus 1970, 226f. Siehe auch G A II, 280: „Der Weissagungsbegriff, den das N.T. enthält, entspricht [...] dem wirklichen Befunde im A.T. in seinen Grundlagen vollkommen." 58 G A I, 30f; vgl. H.-J. Kraus 1970, 227

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in der „Offenbarung" begründet. Der „Gattungseinheit" der testamentischen Religionen mit heidnischen Kulten im äußerlich-„religiösen" Bereich steht die Gattungsdifferenz zwischen J H W H und den Baalim gegenüber. Gegen Schleiermachers transzendentalen Theismus kommt die verbindliche „Selbstobjektivierung Gottes" in der aktualen Offenbarung zur Geltung. 59 Kein Christ aus den Heiden habe an seine frühere heidnische Religiosität anknüpfen können; die Bindung an das AT sei in der frühen Kirche so selbstverständlich, daß überhaupt erst Justin das Verhältnis des Christentums zur paganen Tradition thematisiere.60 Die Spezifik des Biblischen wird somit vom Religiös-Psychologischen abstrahiert und in einer dem Glaubensleben gegenüberstehenden Gotteswirklichkeit verortet. Nicht die Gotteserfahrung der Israeliten, sondern die Identität JHWHs in Differenz zu den „Nichtsen" begründet die Sonderstellung des „Testamentischen". Nitzsch bedient sich unausgesprochen noch der orthodoxen Vorstellung einer pneumatischen Inhärenz Gottes im biblischen Wortlaut. Die schriftliche Uberlieferung Israels und der Kirche bekommt damit Anteil an der besonderen theologischen Qualität des israelitisch-christlichen Gottesglaubens. Nitzsch nimmt folglich die Geschichtlichkeit der Bibel nicht radikal wahr, da er die theologische Qualität der Schrift allein von der Größe „Offenbarung" her bestimmt und den „religiösen" Hintergrund der Kanonsgeschichte ignoriert.61 Er sondert die „testamentische" Uberlieferung von der Allgemeinheit des religiösen Uberlieferungsgutes ab. Allerdings beansprucht Nitzsch in diesem Horizont gerade den rationalen Impetus der aufklärerischen Tradition für seine Konzeption. Die Bibel selbst leiste den ersten und entscheidenden Ansatz zur Rationalisierung der religiösen Sphäre. J H W H , heißt es in Abgrenzung gegen die kritische Abwertung des AT und seiner Gottesrede, sei in seiner offenbarenden Ökonomie der UrImpuls aller Mythoskritik. 62 Anders als der heidnische Bilderdienst beruhe die hebräische Gottesverehrung auf einem rein sittlichen Verhältnis.63 1.2.3.

Das Verhältnis zur Philosophie

Auffällig ist, daß neben der Betonung der einzigartigen Wesenheit des biblischen Gottes die biblisch konstitutive geschichtliche Komponente der Offenbarung verkürzt erscheint. Die theologische Abgrenzung des „Testamentischen" vom Paganen scheint oft außerbiblischen Kriterien zu folgen. So bestreitet Nitzsch die Relevanz der klassischen Philosophie für die christliche Theologie nicht mit

59

Vgl. Krieg, Z K G 1988, 155.

Vgl. An Weiße, 2 8 ; siehe auch a a O , 58, wo Nitzsch betont, kein inhaltliches Moment des Christentums beruhe auf dem Anschluß „an die ethnischen Vorstellungen". PrTh 111,2, 2 0 (§ 538), legt Nitzsch dar, daß die ersten Heidenchristen nach Art der Gottesfürchtigen in die Frömmigkeitstradition der Synagoge eingetreten seien; vgl. ferner PrTh 11,2, 251 (§ 2 3 9 ) ; 2 6 7 (§ 242). 60

61 ω 63

Vgl. Theurich 1975, 58 f. Vgl. G A I, 31. Vgl. PrTh 11,2, 2 5 0 f (§ 239).

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dem Verweis auf die geschichtliche Kontinuität Jesu und der frühen Kirche zur alttestamentlichen Erzähltradition. Er zieht dafür vielmehr ein Werturteil der philosophischen Gotteslehre heran: „ U b e r h a u p t d ü r f e n w i r a u f ' s k ü r z e s t e b e h a u p t e n , d a ß die T h e o l o g i e d e r H e l l e n e n , i n d e m sie a u s A n t r i e b d e r V e r n u n f t d e n P o l y t h e i s m b e k ä m p f t e , in d e r V e r s t a n d e s einheit d e s P a n t h e i s m g e f a n g e n b l i e b . " 6 4

Plato habe den Gegensatz von Geist und Stoff nicht überwunden. 65 Nitzsch schärft ein, „daß das Christenthum als wirkliche That und Kraft der göttlichen Erlösung und als dadurch bedingte und vermittelte Lehre nicht im Plato, noch irgendwo in der Philosophie als solcher sein kann". 66 An dieser Stelle verweist er auf die „alttestamentlichen Voraussetzungen, welche dem Plato fehlen, und gegen welche seine Philosophie sich verschließt"6-! Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß Nitzsch den biblischen Gott und die hellenistische Gottesvorstellung einem philosophisch-theistischen Vergleich unterzieht. Die Wahrheit und Einzigkeit JHWHs wird also nicht aus dem faktischen Vollzug der biblischen Offenbarung selbst, sondern im Vergleich mit der paganen Uberlieferung festgestellt. So verkürzt Nitzsch die theologisch-kriteriologische Funktion des Glaubens zugunsten einer allgemeinen geistesgeschichtlichen Betrachtung der Gottesvorstellungen. Im biblischen Gott erscheint ihm das ideale „Göttliche" vollkommen realisiert, nicht aber die einzigartige Wahrheit Gottes erst frei gesetzt. Ihm ist in diesem Zusammenhang vorgeworfen worden, letztlich denke er theologisch nicht über ein Urbild-Abbild-Schema hinaus. 68 Dem entspricht, daß Nitzsch bei seinen Predigten über alttestamentliche Stellen die geschichtlichen Texte fast völlig ausgelassen hat. Die Propheten waren ihm - unabhängig von der konkreten Situation, in die ihr Wort erging - Künder allgemeiner Wahrheit.69 Sein eigenes systematisches Werk versteht Nitzsch dennoch als Ableger der „biblischen Theologie". In einem Artikel der „Realencyklopädie" schreibt er 1854 über sein „System der christlichen Lehre" von 1829, es beabsichtige, „den urchristlichen Inhalt, den dogmatischen und ethischen der Gemeinschaft, zwar mittels heutiger Denk- und Sprachformen, aber unabhängig von der kirchGA I, 35. Vgl. GA I, 35. 66 Vgl. G A I, 60. 67 G A I, 71. - G A II, 300, hebt Nitzsch das AT als die unverzichtbare „erdhafte" Basis der Christusverkündigung hervor; „das Christliche" habe einzig „als die Verwirklichung der prophetischen Idee, als die volle Entwickelung des Jehova-Princips" in den hellenischen und germanischen Bereich hineinwirken können. 68 Vgl. Krieg, Z K G 1988, 166. - Haas, 35, sieht bei Nitzsch das Problem einer die Freiheit der göttlichen Zuwendung einschränkenden ,,formale[n] Kongenialität des menschlichen Geistes und des heiligen Geistes". Sein Konzept neige deshalb dazu, die Offenbarung anthropologistisch zu verzeichnen und einen „Analogieschluß vom Christen auf Christus" zu suchen, der die Freiheit des biblischen Zeugnisses einschränke (vgl. auch 41. 49). Siehe in diesem Sinne ferner K. Barth, K D 11,1, 369. 69 Vgl. Theurich 1975, 64. 64

65

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149

liehen Scholastik und den Symbolen, zwar nicht nach dem geschichtlichen Verlaufe innerhalb der Offenbarungsgeschichte, aber wohl nach Maßgabe des urkundlichen Wortes und mit Einschluß der ganzen alttestamentlichen Voraussetzung des N.T. in den Haupttheilen vom Guten, vom Bösen, vom Heile darzustellen" 70 . Nitzsch greift also bewußt - über die theologische Lehrentwicklung und die Bekenntnisformulare hinweg - auf den biblischen Urtext zurück. Dabei will er der biblisch erzählten Offenbarungsgeschichte aber doch einen „scholastischen" Aufbau geben. Die besondere biblische Offenbarung fügt sich den Kategorien „das Gute / das Böse / das Heil". 71 Dieser Ansatz sei „seiner Form nach als ein vorübergehendes Phänomen in der Geschichte der system. Th. aufzufassen, obgleich sein Erfolg bewiesen hat, daß er in der zeitlichen Lage der Religionsphilosophie, der confessionellen Dogmatik und der akademischen Studien gegründet war" 72 . Nitzsch führt für diese theologiegeschichtliche Situation, welche auch seine eigene Konzeption befruchtet habe, neben den „besondern Bemühungen um das prophetische Element von Hengstenberg, Delitzsch, Hofmann" 7 3 v. a. die Leistung de Wettes an, der die Theologen gelehrt habe, die Schrift nach dem Verständnis ,,eine[r] Dogmengeschichte innerhalb der Bibel" zu lesen. 74

1.2.4. Bewährung des Ansatzes in der Kirchenpolitik 1846 war Nitzsch in seiner Funktion als theologischer Referent einer der maßgeblichen Teilnehmer der preußischen Generalsynode. 75 Er verfaßte den Entwurf für einen der unierten Kirchenordnung beizugebenden Lehrkonsens und ein Ordinationsformular. Der Entwurf, der eine Fülle von v. a. neutestamentlichen Zitaten aneinanderreihte, wurde besonders von konservativer Seite scharf verurteilt, da prägnante Formeln des Apostolikums ausgelassen waren. 76 Nitzsch sah sich auch persönlich heftiger öffentlicher Kritik ausgesetzt. 77

70

RE 2, 223. Der Abschnitt „Vom Guten" (§§ 59-102) unterteilt sich in die (trinitarisch ausgeführte) Gottesund die Schöpfungslehre (§ 59 bringt dazu einleitend eine biblisch fundierte Unterscheidung von Schöpfungs- und Erlösungshandeln Gottes), der Abschnitt „Vom Bösen" (§§ 103-122) in die Behandlung von Sünde und Tod, der Abschnitt „Vom Heile" (§§ 123-215) in Christologie, Soteriologie, Ekklesiologie und Eschatologie. 72 RE 2, 223. Das Buch erreichte bis 1851 sechs Auflagen, so daß es legitim erscheint, wenn Nitzsch hier von einem Erfolg spricht. 73 RE 2, 224. 74 Vgl. RE 2, 222f. Dazu Haas, 24. 75 Vgl. W. Beyschlag, 273-312; Krieg 1991, 328f; Neuser, 350-361; Haas, 54f. 207-213; Kahler 1989, 151 f; Jung, 90-92. 76 Vgl. W. Beyschlag, 283-287; Besier 1991, 141. - Tonangebend war in der konservativen Kritik Hengstenbergs „Evangelische Kirchenzeitung"; siehe v.a. die Artikel „Zur Vertheidigung des apostolischen Glaubensbekenntnisses" vom 30. 9. 1846 (EKZ 1846, 665-673); „Die Unionsfrage in ihrem jetzigen Stadium" vom 3./Z 10. 1846 (EKZ 1846, 681-683. 689-695); „Synodalia" vom 31. 3. 1847 (EKZ 1847, 257-261) und „Ordinationsformular" vom 29. 5. 1847 (EKZ 1847, 426-428). 77 Vgl. Mehlhausen, ZKG 1989, 42. 71

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Was in der Diskussion um diesen Versuch einer Konsensunion bisher zu wenig beachtet wurde, ist der Charakter des als „Nitzschenum" verballhornten Entwurfs als eines „Symbolum Biblicum". 78 Der Versuch der dogmatischen und kirchenrechtlichen Anknüpfung an den biblischen Urkunden deckt sich mit Nitzschs fundamentalem Theologieverständnis. Wie er 1854 in dem schon oben zitierten Artikel schrieb, fällt für ihn „der Ursprung der bibl[ischen] Theologie [...] mit dem Ursprünge der Theologie zusammen" 79 . Die Bibel ist somit nicht erstes Glied in einer Kette christlicher Selbstreflexion und -dokumentation, sondern singuläre Wahrheitsquelle. Sie steht sachlich wie dem autoritativen Gewicht nach über den im Lauf der Kirchengeschichte entstandenen Bekenntnisformularen. Nitzsch versucht hier, der reformatorischen und altprotestantischen Unterordnung des Bekenntnisses unter die Schrift praktisch zu entsprechen. Sein bibelbezogener Ansatz begreift die Konsensunion dabei nicht als reduktionistische Abstraktion beider protestantischen Bekenntniskorpora, sondern als „einen Schritt nach vorn, und d.h. für ihn [...] eine Vertiefung der Kirche in ihren Lebensgrund". 80 Die Bibelorientierung war folglich kein theologischer Notbehelf in der durch außertheologische Faktoren geschaffenen kirchenpolitischen Situation, sondern als das sachliche „Fundament aller Union" 81 ein Fortschreiten zu einer höheren Stufe protestantischer Authentizität, die für alle Beteiligten einen Gewinn bedeutete. Nitzschs freie Stellung zum Bekenntnis verdankt sich seiner Bindung an die biblische Urkunde, nicht rationalistischer Indifferenz. 82 Daß sein Entwurf von einem ekklesiologischen Ansatz bestimmt war, der sowohl gegenüber landesherrlichen oder konsistorialen Ansprüchen als auch gegenüber den Auswüchsen eines religiösen Individualismus das Recht der Gemeinde zum Tragen bringen sollte, folgte schlüssig aus der zur Norm erhobenen Biblizität. Mit „Gemeinde" griff Nitzsch eine zentrale biblische Größe, die Versammlung der zum Zeugendienst Berufenen, auf und wandte sie kriteriologisch an: „Nicht Ämter und Ordnungen sind primär, sondern Funktionen in Erfüllung eines eindeutigen Auftrags." 83 Anders als etwa bei der knapp drei Jahrzehnte zuvor in der bayerischen Rheinpfalz eingeführten Konsensunion, wo zunächst allein das N T - in rationalistischer Interpretation - der „ungestörte [n] Glaubensfreiheit" die Norm setzen sollte 84 , schlug Nitzsch eine im Vollsinn biblisch geprägte gemeinsame Bekenntnisfor-

Vgl. Wintzer, EvTh 1969, 100; ferner Neuser, 354-357 R E 2, 220. Dazu Kahler 1989, 15Z 80 Vgl. Wintzer, EvTh 1969, 104 f. 81 Haas, 156. 82 Vgl. Haas, 38f. 211; Jacobs, Entstehung, 31. 83 Mehlhausen, ZKG 1989, 49. - Haas, 29f, betont für Nitzschs Interesse an der Größe „Gemeinde" wiederum den reformierten Hintergrund; vgl. auch aaO, 177-188. 84 Vgl. Unionsurkunde der Vereinigten protestantisch-evangelisch-christlichen Kirche der Pfalz, § 3 (Bonkhoff, 146). Nach Intervention des Münchner Oberkonsistoriums wurde 1821 allerdings der ganze biblische Kanon zur Glaubensnorm erklärt (vgl. Bonkhoff, 33-40). Das weiterhin bestehende dogmatische „Vakuum" füllte 1853 die Festsetzung der CA Variata von 1540 als verbindlicher Lehrnorm. Dazu Benrath, T R E 26, 329f; Lutz, 140-146; Blessing, 54f; Jung, 80f. 78

n

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mel vor. So wurden im Entwurf des Lehrkonsenses die Sakramente analog zur Beschneidung als „Siegel und Unterpfänder des Bundes" (vgl. Gen 17,10f; Rom 4,11) bezeichnet. 85 Uber die altkirchlichen Bekenntnistexte hinausgehend, hob das Ordinationsformular explizit das prophetische Amt Christi heraus. 86 Im Zusammenhang des Versuchs, die 1817 von Friedrich Wilhelm III. angeordnete Kultus- und Verwaltungsunion in eine Bekenntnisunion zu überführen, wird das kritische Verhältnis Nitzschs zu den kirchenpolitischen Vorstellungen Friedrich Wilhelms IV. erkennbar. Zunächst ist festzuhalten, daß beide im intendierten Bibelbezug übereinstimmten. 87 Nitzschs Konzeption der „Geschichtlichkeit" der Offenbarung Gottes im biblischen Kanon Schloß aber seine Zustimmung zu der vom König beabsichtigten unmittelbaren kirchenpolitischen Anknüpfung bei den Dokumenten der „apostolischen" Zeit aus. 88 Nitzsch beharrt gegen diesen romantisierenden Impuls auf der geschichtlichen Integrität jeder Epoche. Die Neugestaltung der preußischen Kirche im 19. Jahrhundert sollte in Treue zu den biblischen Urkunden, nicht aber durch Repristination eines anfänglichen Zustandes der Kirche geschehen. Biblizität und Bejahung des historischen Werdegangs der Kirchenordnung bildeten für Nitzsch keinen Gegensatz. 89 Seine Ablehnung des die Geschichte übergreifenden „revolutionären" Vorschlags Friedrich Wilhelms IV. entsprach der Ablehnung jeder Absolutsetzung des Christuskerygmas gegenüber der revelatorischen Kontinuität der hebräischen Bibel in Nitzschs Theologie. In beiden Fällen wollte Nitzsch die Integrität der geschichtlichen Entwicklung gewahrt sehen. 90 1.2.5.

D e r Gegensatz zu Schleiermacher

„Seine persönlichen Berührungen mit Schleiermacher waren vereinzelt und vorübergehend", schrieb Friedrich Nitzsch über seinen Vater.91 Trotz dieser

8 5 Haas, 158 f, weist darauf hin, daß Nitzsch auch aus taktischen Gründen das den Lutheranern anstößige „signum" durch den biblischen Ausdruck „Siegel" ersetzte (vgl. auch 216).

Abgedruckt bei W. Beyschlag, 281 f; vgl. Wintzer, EvTh 1969, lOOf Anm. 26. Vgl. Mehlhausen, Z K G 1989, 49. 88 Vgl. Kinzig, Z N T h G 1997,12-19; Strohmaier-Wiederanders, BThZ 1 9 9 8 , 1 5 ; Brennecke, B T h Z 1987; Mehlhausen 1982. 86 87

Vgl. Wintzer, EvTh 1969, 103; Mehlhausen, Z K G 1989, 47 Krieg, Z K G 1988, 163, macht darauf aufmerksam, daß in der Frage des Kirchenbaustils zwischen Nitzsch und dem preußischen König ein Gegensatz bestand, der ihrer Differenz in der Kirchenverfassungsfrage parallel ist. Nitzsch lehnte Friedrich Wilhelms Vorliebe für den byzantinistischen Baustil ab, da diese dem Geschichtsbewußtsein des Vermittlungstheologen entgegenstand (zu den Kirchenbauten des Königs: Zuchold; Strohmaier-Wiederanders, BThZ 1998). Vgl. zur Haltung Friedrich Wilhelms IV. gegenüber der Generalsynode: Barclay, 147f. 89

90

91 Vgl. F. Nitzsch, R E 3 14, 131; dazu Haas, 1 5 - 2 2 ; Gestrich, 188. Dagegen spricht - ohne Angabe von Belegen - Hirsch 1954, 375, von einer Freundschaft zwischen Schleiermacher und Nitzsch. F. H . R. Frank, 138, rechnet Nitzsch - gemeinsam mit A . Twesten, der tatsächlich in Berlin bei Schleiermacher Studien hatte - zu den „unmittelbaren Schülern Schleiermachers", belegt dies aber weder biographisch noch zureichend theologisch. Ohne erkennbaren sachlichen Anhalt zählt Gerbracht, 122 Anm. 274, Nitzsch sogar zu den Hörern von Schleiermachers Vorlesungen. Zutreffend dagegen Hermann Fischer, T R E 30, 176.

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nicht eben engen persönlichen Beziehung ist festzustellen, daß Carl Immanuel Nitzsch das Grundsystem Schleiermachers verteidigt und festhält. Er scheint indes Wert darauf gelegt zu haben, bei seinen sachlichen Berührungen mit Schleiermacher als selbständig gesehen zu werden. 92 So betont sein Sohn, der Vater habe „gewisse theologische Fundamentalanschauungen, die er mit Schleiermacher teilte, nicht von diesem entlehnt", sondern sei „unabhängig mit ihm zusammengetroffen". 93 Auch für Nitzsch ist „Gefühl" die geeignete Dimension, um das Phänomen christlicher Religion anthropologisch zu verorten. Allerdings zeigt er im Unterschied zu Schleiermacher bereits im „System der christlichen Lehre" ein entschiedeneres materiales Eingehen auf die christliche Uberlieferung. 94 Die Theologie ist für Nitzsch nicht ausschließlich Beschreibung religiöser Bewußtseinszustände, sondern Auslegung einer bestimmten objektiven Uberlieferung. Deshalb rückt Nitzsch die Trinitätslehre wieder stärker in den Vordergrund des systematischen Geschehens. 95 Das Interesse an der Objektivität des theologischen Gegenstands schlägt jedoch im vertieften Schriftverständnis besonders zu Buche. Nitzsch versucht, das bei Schleiermacher tendenziell aufgetretene Auseinanderfallen von kirchlicher Uberlieferung und religiöser Wahrheit zu korrigieren. Er präzisiert das „Gefühls"-Konzept hinsichtlich der Konkretheit der von der Kirche geglaubten und verkündigten Inhalte, indem er die religiöse Existenz des Christen pneumatologisch definiert. 96 Dazu dient ein stärkerer, die traditionelle Lehre von immanenter und ökonomischer Trinität einbeziehender Begriff von „Offenbarung". Schleiermacher, heißt es bei Nitzsch 1829, also noch vor Erscheinen der zweiten Auflage der Glaubenslehre, „hat nämlich den Begriff der O f f e n b a rung] nicht aus der h. Schrift, sondern aus der Philosophie des allgemeinen Sprachgebrauchs genommen, und schon dieses ist Ursache geworden, daß er ihn für zu gering gehalten hat, um die Eigenthümlichkeit des Christenthums zu bezeichnen" 9 ! Nitzsch macht Schleiermacher den Vorwurf, aufgrund einer philosophisch vorausgesetzten monistischen Sicht von Gott und Mensch die Spezifität der göttlichen Offenbarung zu gering zu veranschlagen. 98 Beyschlag charakterisiert die theologische Korrektur, die Nitzsch an Schleiermachers Ansatz vornimmt, damit, daß sich „die Thatsache der in Christo gestifteten Erlösung nicht blos, wie bei Schleiermacher, aus den Aussagen des christlichen Bewußtseins her, sondern [...] aus dem objectiven Verlauf einer Offenbarungsgeschichte, deren Nichtbeachtung die christologische Position Schleiermachers einigermaßen in der Luft schwebend erscheinen ließ", beVgl. W. Beyschlag, 139-156. Vgl. F. Nitzsch, R E ' 14, 131. * Vgl. Wintzer, EvTh 1969, 101, auch 103. '5 Vgl. Haas, 15f. 96 Vgl. Krieg, ZKG 1988, 155 f; Theurich 1975, 63; Haas, 17; F. H . R. Frank, 143; Kahler 1989, 122. 97 System, § 24 Anm. 1; dazu F. H . R. Frank, 143. 9 « Vgl. Haas, 20-22. 93

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gründete." 1828 bringt Nitzsch in seinem Aufsatz „Über den Religionsbegriff der Alten" folgende implizite Kritik an Schleiermachers Kanonsverständnis zu Papier: „Zur alttestamentlichen Religion steht das Christenthum in diesem zweifachen Verhältnisse des Abstoßens und der Anziehung, der Ablösung und Anknüpfung. Denn das Gesetz wird, indem es abgeschafft wird, erst recht festgestellt, und die Schranke des Bundes und der Erwählung, nachdem sie als eine äußerliche durchbrochen worden, erlangt durch ihre Vergeistlichung erst rechte Heiligkeit und Festigkeit. Das Christenthum zeugt von der Göttlichkeit des Α [lten] Bfundes] und wird wiederum durch die erfüllte Verheißung und aufgehobene alte Verfassung selbst bezeuget. Allein ganz in demselben Verhältnisse, wie zum Α. B., steht deshalb das Christenthum keineswegs zur außertestamentischen Religion. Man hat zwar neuerdings behauptet, was im A.T. am meisten jüdisch sei, bereite am wenigsten auf's Christenthum vor, und was am meisten zugleich heidnisch, das bahne am mehrsten den Weg zum Evangelium. Zugleich aber hat der Urheber dieser Behauptung durch den treuen und wahren Gebrauch, den er in der Lehre vom Amte des Erlösers, von den drei Pflichten der Theokratie, Hoherpriester, König und Prophet, gemacht hat, sie selbst, wenn nicht alles trügt, vollkommen wieder zerstört." 1 0 0

Der Vorwurf des Selbstmiß Verständnisses, den Nitzsch ohne Namensnennung gegen Schleiermacher erhebt, zielt auf die spezielle interreligiöse Relation zwischen alttestamentlichem Judentum und Christentum, welche Schleiermacher aufgrund seiner Prämissen nicht berücksichtigt hatte. Schleiermachers Berufung auf Christus widersprach nach Nitzschs Auffassung somit seiner unterscheidungslosen Sicht des Judentums und der „außertestamentischen" Religionen ante Christum. 1 0 1 In der Sequenz, welche die in der Abschaffung des Gesetzes eingeschlossene Beglaubigung des Alten Bundes thematisiert, klingt die Beschäftigung Nitzschs mit Calvin an. 102 In seiner Kritik an Schleiermacher bedient sich der genuin lutherische Vermittlungstheologe Nitzsch demnach dezidiert des reformierten Erbes. Die Schriftgemäßheit einer Lehre und ihre Dienlichkeit zu einem rechten Schriftverständnis, nicht ihr konfessioneller Ursprung, hat kriteriologische Bedeutung. Die Verknüpfung zwischen der Geschichtlichkeit des Schriftkanons und der geschichtlichen Wirklichkeit der Gemeinde stellt eine theologische Zuspitzung des von Schleiermacher vertretenen Organismusgedankens dar. 103 Nicht mehr ein allgemeiner Zusammenhang, der jede echte Distinktion der religiösen Phänomene verbietet, bestimmt die Verortung der Gemeinde in der religionsgeschichtlichen Gesamtanlage. Vielmehr ist die Konstitution der Gemeinde von einem spezifischen Offenbarungszusammenhang geprägt. Nitzsch nennt die

" Vgl. W. Beyschlag, 147.

100

GA I, 3f.

Vgl. F. Nitzsch, R E 3 14, 131. 102 Vgl. bes. Institutio 11,7,16, die Ausführung, daß Christus durch seinen Tod die Kraft und Wirkung des Gesetzes und seiner Zeremonien versiegelt hat. 103 Vgl. Theurich 1975, 65. 101

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Bibel einen „lebendigen, unzerreißbaren Organismus". 104 In einer Sammelrezension betont er 1836 gegen Vatke, Hegel und wiederum besonders gegen Schleiermacher, AT und NT stünden für „eine einige testamentische Religion, Eines Geistes und einer Offenbarung". Ihr geschichtlich im Kanon gegebener Zusammenhang sei keinesfalls zufällig und äußerlich, sondern in ihrem inneren Wesen bedingt.105 Der Eintrag von konzentrierter Biblizität, den Nitzsch in dem Schleiermacherschen „Gefühls"-Konzept vornimmt, bedeutet letztlich den Bruch mit der transzendentalen Grundprämisse dieses Ansatzes. Wenn auch Nitzsch die Christologie funktional von der Soteriologie her entwirft, so garantiert doch die Biblizität den konkret-geschichtlichen Charakter seiner Rede von „Christus".106 Tatsächlich hat Nitzsch hiermit das „Herz aller dogmatischen Neubildungen Schleiermachers" ausgestoßen.107 Die Veranlassung dazu dürfte allerdings nicht die Bereitschaft zur Konzession an den kirchlichen Gemeingeschmack gewesen sein, sondern vornehmlich das biblisch-theologisch begründete „Bedenken [...] wider Schleiermachers metaphysische Grundansicht von Gott und Welt".108 Die von Nitzsch erkannte Besonderheit des biblischen Gottes gegenüber der allgemeinen religiösen Phänomenologie zwingt - trotz der beschriebenen Problematik des Erkenntnisweges - den Vermittlungstheologen dazu, seinem System insgesamt ein stärkeres „biblisches Gepräge" zu geben.109 Nicht verkehrt erscheint die zugespitzte Formulierung, Nitzsch trage „eine vereinheitlichte und modernisierte neutestamentliche Lehre als sein System" vor.110

1.3. Nitzsch und das Judentum 1.3.1.

Die theologische Perspektive

Nitzsch reflektiert seine Zeitumstände stets unter dem Gesichtspunkt seines ekklesiologischen Interesses. Folglich kann auch seine Bewertung des nachbiblischen Judentums allein aus diesem spezifischen Blickwinkel erschlossen werden. Die Kirche sieht Nitzsch als alleinigen legitimen Träger der „testamentischen" Tradition. Sein ekklesiologisches Selbstverständnis korrespondiert eng mit seinem Bibelverständnis. Als christlicher Theologe und Prediger interpretiert er das AT vom NT her, ohne dabei dem ersten seinen eigenen Charakter

Vgl. GA II, 3 0 6 ; dazu Theurich 1975, 65. 105

Vgl. GA II, 7 ; Theurich 1975, 6 2 f ; W. Beyschlag, 169.

Vgl. Haas, 4 2 - 4 5 . Vgl. Hirsch 1954, 375. - Kahler 1989, 122, formuliert entgegengesetzt, Nitzsch habe „auch den Marcionitismus Schleiermachers" überwunden. 108 Vgl. F. Nitzsch, R E 3 14, 131. 109 Siehe oben 147-149. - Den Ausdruck „biblisches Gepräge" übernimmt Hirsch 1954, 37^ offensichtlich von F. Nitzsch, R E 3 14, 131. 106

107

110

Vgl. Hirsch 1954, 377

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zu bestreiten.111 Er findet das Christuszeugnis bei den Propheten und im Psalter vorgebildet. Seine Vorstellung einer exklusiven und einlinigen Stringenz des „Testamentischen" bedingt es aber, daß er einen Uberschuß der alttestamentlichen Verheißung gegenüber der im NT erzählten Erfüllung bestreitet. Das AT geht vollständig im Christuskerygma auf. Es führt ganz zu ihm hin.112 „Die Ekklesia der Christen" ist nicht nur dogmatisch-qualitativ, sondern auch im quantitativen Vollsinn „wiedergeborne Synagoge".113 Diese einlinige Konzeption der „testamentischen" Uberlieferung spricht dem nachbiblischen Judentum eine religiöse Existenzberechtigung neben der Kirche ab. Die für Nitzsch evidente vollständige Verknüpfung zwischen Gesetz und Prophetie als Verheißung einerseits und Christusverkündigung als Erfüllung andererseits widerlegt das Judentum in seiner Weigerung, Jesus Christus als die Konsequenz und Bestätigung seiner eigenen biblischen Basis zu akzeptieren. Nitzsch erkennt somit im Judentum post Christum crucifixum keinen legitimen Vertreter des „Testamentischen", sondern stellt es der allgemeinen Religionsgeschichte, von der er das Christentum als authentische Repräsentanz des „Testamentischen" strikt trennt, zur Seite. Israel verläßt für Nitzsch in seinem Ausscheren aus der Linie des „Testamentischen" die Intentionalität des „Bundes". Das AT als Dokument Israels in seiner „authentischen", nämlich biblischen Phase zeugt somit gegen das aktuelle Israel. „Christentum" und „testamentische Religion" werden im nachbiblischen Abschnitt Synonyme, wie in der Epoche vor Christus allein Israel den besonderen Strang der Bundesreligion repräsentierte. Nitzschs Betonung der kritischen Funktion der „testamentischen" Überlieferung gegenüber dem religionsgeschichtlichen Gesamtbestand richtet sich damit gegen das nachbiblische Judentum. Das AT wirke zur „Widerlegung des Islam oder des vom Christenthume abgefallenen Judenthums" mit dem N T zusammen.114 Der Schriftbeweis zeuge in der ganzen Kirchengeschichte „gegen Häretiker, gegen Juden und Heiden" und bilde auch innerkirchlich das authentische Korrektiv, wie Nitzsch in Einklang mit dem Kanonsverständnis der protestantischen Orthodoxie

111 Gegen die Interpretation von Haas, 3 6 : „Das AT ist nicht vom N T her zu lesen, sondern die Offenbarung des Gesetzes erhellt erst die Botschaft des Evangeliums in ihrer ganzen Fülle", ist festzuhalten, daß für Nitzsch eine authentische Auslegung des AT nur in Verbindung mit dem N T möglich ist. Der jüdische Umgang mit der Bibel ist deshalb in seinen Augen unsachgemäß.

Vgl. System, § 35 (Hervorhebung Κ. B.). Vgl. PrTh 111,2, 21 (§ 538). 114 Vgl. GA II, Ί. - Nitzschs Polemik gegen das nicht mehr als „testamentisch" anzusprechende nachchristliche Judentum verband sich auch mit antikatholischem Ressentiment. In einem privaten Brief, den er 1822 während des Umzugs von Wittenberg nach Bonn schrieb, klingt in diesem Horizont ein gängiges antijüdisches Klischee an. Nitzsch hatte bei einem Unterwegsaufenthalt erstmals eine römische Messe miterlebt und war davon emotional abgestoßen. Diesen Eindruck assoziierte er mit der landläufigen abschätzigen Vorstellung des synagogalen Gottesdienstes, der „plappernden J u denschule": „In Fulda lasen vier Priester an vier Altären zu gleicher Zeit die Messe, woraus ein Murmeln und Geplärre entstand, wie man es nur in der Synagoge zu hören gewohnt ist" (zitiert nach W. Beyschlag, 107). Die römische Messe stand für Nitzsch demnach der Institution der evangelischen Predigt in vergleichbarer Weise entgegen wie der synagogale Gottesdienst. 112

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lehrt.115 Das „vom Christentum abgefallene Judentum" stehe zur Kontinuität des „Testamentischen" in keinem anderen theologischen Verhältnis als der synkretistische Islam. Diese These kann Nitzsch freilich auch positiv wenden, indem er sagt, „Juda" (als biblische Größe) beherrsche „durch Christenthum und Muhamedanismus die Welt" und Palästina sei das Mutterland der christlichen Kirche.116 In ungewöhnlich anschaulicher Sprache schildert Nitzsch die weltbewegende Funktion des kleinen vorderasischen Volkes, dessen Geschichte die Bibel bewahrt: „Abraham ist ein Semit, ist ein Hirtenfürst wie viele: aber er ist der Vater der Monotheisten; das Volk Israel ist ebenso aufzufassen, auch in ihm verändern sich die gattungsmäßigen Bestimmungen der Menschheit." 1 1 7

Die universale Bestimmung Israels tritt für Nitzsch bereits in der jüdischen Geschichte seit dem Exil zutage. Der sukzessive Ubergang vom Tempel zur Synagoge liege „im Geiste und Wesen des A.T. und in der weltgeschichtlichen Bestimmung des im Schooße des mosaischen Gesetzes erzogenen Volkes". Im Verzicht auf das sinnlich-materielle Opfer zugunsten der Lehre und des Gebetes habe die „überallhin pflanzbare, gleichsam ökumenische" Intention des „Testamentischen" Gestalt angenommen. 118 Gleichwohl habe die Synagoge das göttliche Privileg, das der Tempel innehatte, mit dem Erscheinen Christi verloren. Richtete sich die synagogale Religion primär auf das Kommen des Messias aus, so habe sie sich in der Abweisung der apostolischen Predigt vom gekreuzigten und auferstandenen Jesus in einen Selbstwiderspruch begeben.119 Die Funktion des biblischen Juda in der göttlichen Mission unter den Völkern ist für Nitzsch seit der Verwerfung Jesu Christi definitiv auf die Kirche übergegangen, die Weltgeltung des ursprünglichen Gottesvolkes in der Kirche aufgehoben. Daß der christliche Gottesdienst sich gegen Ende des zweiten Jahrhunderts von seiner ursprünglichen synagogalen Gestalt entfernte und Elemente des heidnischen Kultus aufnahm, wird von Nitzsch akribisch beschrieben, aber nicht kritisiert. Der Schriftauslegung sei „eine eucharistische oder sacramentliche Opferfeier als selbstständiger Theil des Hauptgottesdienstes" entgegengestellt worden, welche in ihrer „Aehnlichkeit mit der Mysterienform der damals bestehenden heidnischen religiösen Orden" die in der Kirche erreichte universale Stufe der aus der Bibel abgeleiteten Gottesverehrung repräsentierte.120 Das Christentum habe den ökumenischen Aspekt der jüdischen Synagoge aufgenommen und in einen neuen, universalen „Tempeldienst" transzendiert, der das authentische biblische Moment bewahre.121 Vgl. R E 2, 220. Vgl. An Weiße, 29 f. 117 An Weiße, 44. Ii« Vgl. PrTh 11,2, 258f (§ 240). ι " Vgl. PrTh 11,2, 260f (§ 241). ™ Vgl. PrTh 11,2, 265f (§ 242). 12' Vgl. PrTh 11,2, 267 (§ 242); 278 (§ 244). 115

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Der Begriff des „Testamentischen" erweist sich somit als dem historisch-religionsphilologischen, nicht dem gegenwärtig-theologischen oder dem eschatologischen Diskurs zugehörig. Die verbindende Sonderstellung von Judentum und Christentum gegenüber der paganen Religiosität bleibt auf die Epoche und die Sachebene der biblischen Urkunden beschränkt. Der normative „testamentische" Zusammenhang zwischen biblischem Israel, Jesus Christus und seiner Kirche verneint eine Koexistenz unterschiedlicher, aber übereinstimmend „testamentisch", also in Gottes Bundesstiftung begründeter Religionen. Nitzschs Ekklesiologie bedient sich eines positivistisch-absoluten Modells von Offenbarungswahrheit, das dem aktuellen Gegensatz beider biblischer Religionen keinen theologischen Aussagewert zuschreiben kann. Eine Relativierung dieses ekklesiologischen Konzepts zugunsten einer das nachbiblische Judentum integrierenden „Bundes"-Vorstellung erfolgt nicht. So sieht sich Nitzsch durch die eschatologischen Aussagen des NT, insbesondere des Paulus, nicht veranlaßt, die Zukunft des Judentums theologisch zu thematisieren.122 Die Kirche wird für die nachchristliche Epoche mit der revelatorischen Kontinuität beider Teile der Bibel exklusiv identifiziert. Nitzsch will diesen theologischen Ausschluß des nachchristlichen Israel auch an den biblischen Urkunden belegen. Er relativiert die Verbundenheit von Juden und Christen, indem er auf das Hineinwirken der frühen Kirche in das heidnische römische Weltreich hinweist: „ D a s H e i l m u ß z w a r v o n d e n J u d e n k o m m e n , J o h 4 ; a b e r die c h r i s t l i c h e n M y s t e r i e n , die b e s t i m m t sind, alle a n d e r e n z u e r s e t z e n , selbst u n e r s e t z l i c h , w e i s e n eine K e t t e g ö t t l i c h e r T h a t e n u n d heiligen G e s c h i c h t e n auf, die bis in die T a g e d e r r ö m i s c h e n C ä s a r e n h e r e i n r e i c h e n u n d u n z e r r e i ß b a r a u f die U r g e s c h i c h t e z u r ü c k f ü h r t e . " 1 2 3

Anders als das in sich abgeschlossene Judentum des AT sei das Christentum dazu bestimmt, alle anderen Religionen zu ersetzen. Sein Ursprung in der distinkten jüdisch-biblischen Tradition wird derartig in einen größeren Kontext integriert, daß das Christentum gegenüber seinem Vorläufer einen qualitativen Mehrwert zugeschrieben bekommt. Erst das Christentum verbinde die distinkte biblische Geschichte mit der Weltgeschichte und verbreite die Wahrheit der „testamentischen" Offenbarung in die Völkerwelt hinein. Die Verschlossenheit der Mehrzahl der Juden gegen den Christusglauben erklärt Nitzsch psychologisch in einer Weise, die die Überlegenheit der biblischjüdischen Religion im Vergleich mit dem vorchristlichen Heidentum noch einmal herausstellt. Dabei wird das paulinische Theologumenon der „Verstok-

122 Die Eschatologie wird in Nitzschs Systematik (vgl. System, §§ 204ff) zwar weitgehend auf der Grundlage neutestamentlicher Stellen ausgeführt, doch fehlt hier - trotz der Hervorhebung der einmaligen Vorläuferrolle Israels für die Kirche (siehe bes. §§ 31. 35. 125) - die Perspektive auf das nicht christusgläubige gegenwärtige Judentum völlig. Im Abschnitt zur Wiederkunft Christi (§ 211) werden Lk 17,23f; 1. Thess 5 , 2 3 ; 2. Thess 2 , 3 ; 1. Tim 6,14 und Hebr 9 , 2 8 ; 10,37 herangezogen, nicht aber R o m 11,25 ff. Nitzsch bezieht die christliche Hoffnung negativ auf das allgemeine Erlösungsverlangen der Kreatur gemäß R o m 8,22 (vgl. § 205). Siehe dazu kurz Maier, 509f. 123 GA I, 31 f; dazu H . - J . Kraus 1970, 226.

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kung" arbiträr-psychologisch verstanden. Der christologische Unglaube der Juden ist Folge einer Entscheidung, die auf der Selbsteinschätzung der Juden von ihrer Religion beruht: „Eben darum verstockt sich das Judenthum in so großem Umfange gegen das Christenthum, weil es sich seiner gänzlichen Negation des Heidenthums bewußt ist und sich dieses Besitzes allein freuen will." 1 2 4

Nitzsch spricht hier den Topos des jüdischen „Stolzes" an. Freilich geschieht dies in einer Weise, die dem Judentum der Zeitenwende religiösen Respekt bekundet. Der inhaltliche Abstand zum Paganismus bleibt in Nitzschs Darstellung als Gemeinsamkeit von Judentum und Christentum unangetastet, obwohl Israel die Bestimmung des „Bundes" verlassen habe. Nitzsch widerspricht damit der von der aufklärerischen Exegese wie von Schleiermacher vertretenen Auffassung, erst durch die im Babylonischen Exil empfangenen heidnischen Einflüsse habe das Judentum zum Ursprung des universalen Christusereignisses werden können; auch zur Zeit Jesu bildet das Judentum für ihn die entscheidende Ausnahme in der Religionsgeschichte.125 Allerdings findet Nitzsch den doppelten Ausgang des AT in Kirche und Judentum doch in einer Nebenlinie der hebräischen Bibel selbst angelegt: „Im A.T. bildet sich eine Weisheitslehre auf dem Grunde der gesetzlichen Gottesoffenbarung, die sich, sofern sie v o m Prophetism gesondert besteht, gegen den historischen Erlöser und dessen Erwartung verschließt, wie vielmehr die platonische Ideenlehre." 1 2 6

Die weisheitlichen Texte des AT, die Nitzsch mit der messianischen Verkündigung der Propheten im Dissens sieht, bereiteten nach Nitzschs Verständnis den Abfall des späteren Judentums von der Kontinuität des „Testamentischen" vor. Die Abständigkeit von der „testamentischen" Linie in dieser jüdisch-weisheitlichen Schule sei zwar weniger radikal zu denken als in der genuinen griechischen Philosophie, bewege sich aber in analogen Bahnen. Gegen die Propheten und den adäquaten Gebrauch des Gesetzes, die übereinstimmend auf Jesus Christus vorauswiesen, stünden seitens der weisheitlichen Texte des AT „Juden und Heiden" in einer Front. Nitzsch widerspricht so diametral der von Semler vertretenen und bei Schleiermacher aufgenommenen These, wonach

GA II, 8. Siehe oben bes. 71 f. 126 GA I, 71. - Pfarrer Dr. H. Theurich, Bonn, macht aufgrund seiner Exzerpte der Bonner Fakultätsunterlagen darauf aufmerksam, daß Nitzsch innerhalb seiner Lehrtätigkeit auf die weisheitlichen Schriften des AT besonderes Gewicht legte. Während Nitzsch häufig „Biblische Theologie des A. und N.T." las, war das Buch der Weisheit Salomonis die einzige alttestamentliche Schrift, die er separat traktierte (1836, 1838, 1840, 1843 jeweils im Sommersemester sowie im Wintersemester 1845/46; die beiden letzten Kollegien waren dabei explizit als „Einleitung in die jüdische Theologie" ausgewiesen). Vgl. in der erhaltenen Vorlesungsnachschrift „Buch der Weisheit" von 1836 dazu v.a. 21 f, wo Nitzsch Talmud und Kabbala in die biblisch-weisheitliche Tradition einordnet (siehe insgesamt dort 2-24); ferner in der Nachschrift „Biblische Theologie des A. u. N.T." 149-151 (§ 70 Buch der Weisheit). 124

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die wesentliche Verbindung des Christentums mit dem AT im „allgemein Religiösen" liege. Die universale Kirche knüpft ihm zufolge nicht an das weisheitliche, sondern an das messianische Moment des AT an, während die philosophizierende biblische Linie in das „abgefallene" Judentum mündet. Der Messianismus ist für Nitzsch in die Hauptlinie des AT eingebunden. Die messianischen Erwartungen gehen somit nicht in ihrer religionsgeschichtlichen Situation auf, wie es besonders Herder und Schleiermacher vertreten hatten, sondern enthalten das gesamtbiblische Proprium. 127

1.3.2.

Kirchliche und politische Folgerungen

Im Zusammenhang seines Systems der evangelischen Kirchenordnung äußert sich Nitzsch 1867, ein Jahr vor seinem Tod und zwei Jahre vor der vollständigen Emanzipation der Juden im Norddeutschen Bund, über das Verhältnis der protestantischen Kirche zu den nichtchristlichen Religionen. Generell gelte für das praktische Auftreten der Kirche die Devise: „Freie und freilassende Mission! Keine Anbequemung, keine Proselytenmacherei!" 128 Für die Beziehung zum

127 Siehe oben bes. 46f. 65f. 75f Anm. 243. - Nitzsch entgegnet in diesem Zusammenhang vor allem dem spät-rationalistischen Theologen K. G. Bretschneider (1776-1848). In Bretschneiders dogmatischen Schriften lebte die Spielart der Abwertung des AT fort, die im späten 18. Jahrhundert in der aufklärerischen Forschung vertreten worden war. Auf anderem Wege als Schleiermacher kam Bretschneider so zu einem kanonstheologischen Ergebnis, das mit dem Schleiermachers weitgehend kongruierte. Für Bretschneider galt allgemein die Prämisse, daß die vorchristlichen Offenbarungen unterschiedslos „mit dem Zwecke aller Offenbarung übereinstimmen" (Systematische Entwicklung, 225). Uber diesen abstrakten Konsens hinaus sah er das AT aber als „abgeschafft" an. Dem AT sei „die Idee von Offenbarung, die wir in der Wissenschaft suchen, nämlich die Idee eines Zusammenhangs religiöser Wahrheiten" völlig fremd, da es partikularistisch und geschichtlich denke (vgl. Handbuch I, 89). Es fänden sich nur „einzelne Gebote, Eröffnungen, Entscheidungen in zweifelhaften Fällen, Enthüllungen der Zukunft, Ausbrüche der Begeisterung", „weit öfterer [sie] auf einzelne Schicksale als auf Religionswahrheiten sich beziehend" (ebd). Für das Maß an Geltung in der christlichen Kirche, das Bretschneider dem AT zugestehen wollte, ist entscheidend, daß - wie das Mosegesetz insgesamt den Charakter einer „politischen Gesetzgebung" habe - auch die Verheißungen der Propheten den politischen Verhältnissen zumindest gleichrangig Rechnung trügen wie den übergeschichtlichen „religiösen Gegenständen". Somit sprach Bretschneider den messianischen Weissagungen die „religiöse Wahrheit" ab und reduzierte sie - wie Herder - auf ihren politisch-historischen Kontext. Was für ihn als Summe der alttestamentlichen Religion bestehen konnte - Monotheismus, Tugendforderung, Heilserwartung in der Zukunft - trug kein spezifisch-religiöses Gewicht und durfte nicht für das Christentum verbindlich gesetzt werden. Das Resultat dieser Reduktion fand Bretschneider unter Berufung auf Rom 1,19-21 und 2,14 f in einer allgemeinen göttlichen „Manifestation der Natur und des Gewissens" wieder. Allerdings hätten Jesus und die Apostel die allgemeine „Gottes- und Tugendlehre" besser vorgetragen als die Propheten (vgl. Handbuch I, 91 f). Nitzsch widerspricht Bretschneider an dem für sein Verständnis des „Testamentischen" zentralen Punkt. Der Messianismus der Propheten hänge mit dem Ganzen des AT zusammen (vgl. GA I, 4). Die Weissagungen, die Nitzsch spezifisch auf das neutestamentliche Kerygma bezieht, berührten den Kern des hebräischen Gottesglaubens. Der Deutungsansatz der Jesuserzählungen des N T wird hier - gegen Bretschneiders rationalistisch-pädagogische Perspektive - im Bereich des Theologischen verortet. Nicht Jesu Tugendlehren, sondern seine Verwurzelung im „Bund" des Gottes Israels eröffnet das adäquate Verständnis des NT, welches folglich das AT notwendig einbezieht. 128

PrTh 111,2, 284 (§ 688).

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Judentum konstatiert Nitzsch mit Joh 4,22 ein „eigenartiges" Ineinander „an Ferne und Nähe, an Freundlichkeit und Feindlichkeit. Nicht von Samaritern, nur von den Juden konnte das Heil kommen". 129 Die Verwerfung Jesu habe jedoch bewirkt, daß die Juden das authentische Verständnis ihrer eigenen Tradition verloren hätten. „So sind sie abgehauen worden vom Stamme des guten Oelbaums und nur in enger Auswahl Boten für die Heiden geworden", wie Nitzsch Rom 11 interpretiert.130 Er bekräftigt seinen dogmatischen Standpunkt, wonach die Spezifität der alttestamentlichen Gottesrede vollständig in das christologische Zeugnis der Kirche mündet. Ein allgemeiner Theismus, der die positiv vorhandenen Unterschiede egalisieren könnte, sei der biblischen Tradition fremd. Die „testamentische" Uberlieferung entziehe sich jedem Vergleich. Das von Christus „abgefallene" Israel könne deshalb nicht, wie es im Kontext der Aufklärung versucht worden sei - man denke an Friedländers Vorstoß von 1799 auf dem Wege eines allgemeinen religiösen Grundübereinkommens an seine authentische biblische Wurzel wieder anknüpfen. Die Rückkehr zum „Testamentischen" eröffne sich den Juden einzig in der „Bekehrung" zur Kirche, nicht etwa in einem rationalistischen Minimalkonsens. Gegen den religiösen Indifferentismus der Aufklärung sei es somit christliche Pflicht, den „verstockten" Juden „das Evangelium zu verkündigen", wie es die Judenmissionsanstalten Englands, Schottlands und Deutschlands täten.131 Das biblisch inspirierte Argument, es sei für die vollständige Bekehrung Israels noch nicht die Zeit (vgl. Rom 11,25f), weist Nitzsch ab: „Das ist immer angezeigt, daß wir, was wir von ihnen übernommen haben und mit an ihrer Stelle bewahren und verwalten, ihnen wiedergeben und mittheilen."132 Jedoch sei auf dem „freien und freilassenden" Charakter dieser Mission zu bestehen. Die Frage der rechtlichen Stellung der Juden wird zu einem exklusiv staatlichen Problem erklärt. Gleich Schleiermacher133 sieht Nitzsch das Verhältnis der Religionen von der bürgerlichen Emanzipation unberührt: „Auf keine Weise aber soll die Evangelische Kirche dazu mitwirken, daß den jüdischen Beisassen ihre Religionsfreiheit und die von ihnen fortschrittweise erlangte ganze Fülle der staatsbürgerlichen Rechte wieder verkümmert werde. Wahr ist es, ihr Volksthum und ihre Religion sind so unzertrennlich eins, daß, solange sie religiös von uns als Juden fern stehen, im Grunde eine Art nationaler Scheidewand sie von uns trennt. Daraus ließe sich denn folgern, das Judenthum müßte von den höchsten politischen Rechten der Gesetzgebung, der Bewilligung der Staatsmittel und von den positiven und activen Wahlen ausgeschlossen sein." 1 3 4

Nitzsch bezeichnet die Juden, obwohl diese in den meisten preußischen Provinzen seit 1812 als Bürger gelten, als „Beisassen" und beschreibt eine „natio129 Vgl. PrTh 111,2, 284 (§ 689). ™ Vgl. ebd. 131 Vgl. PrTh 111,2, 286 (§ 689); zu Friedländer siehe oben 106-110. 132 PrTh 111,2, 287 i " Siehe oben bes. 127 13" PrTh 111,2, 287 (§ 689).

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nale Scheidewand", die sie von der christlichen Mehrheit trenne. Die Ausschließung der Juden aus Parlamenten und Regierungsämtern und vom aktiven Wahlrecht erscheint ihm zumindest diskutabel. Nitzsch wägt die kirchlichen, soziokulturellen und staatlichen Interessen gegeneinander ab. Unter Berufung auf einen nicht genannten „jüdischen Gelehrten von edlerer Bildung" zitiert er denkbare soziomoralische Gefährdungen der jüdischen Menschen durch eine allzu reibungslose politische und ökonomische Besserstellung. Die christliche Judenmission könne das Abgleiten vieler Juden in blanke Verehrung des „Mammon" und sittliche Zügellosigkeit verhindern. Angesichts der sozialen und kulturellen Situation der Juden spricht Nitzsch vom „Uebel politischer Emancipation". Sein Gegenvorschlag erinnert an Schleiermachers 1799 vorgetragene Alternative zu Friedländers Taufbegehren135, bewertet jedoch den Einfluß der orthodoxen Synagoge auf das gesellschaftliche Verhalten der Juden wesentlich günstiger. Der dort gepflegte „Offenbarungsglaube" zeige bessere soziale Resultate als der Umgang mit der Kirche entfremdeten Christen. Man solle „die Juden in selbstständige und nur dem Aufsichtsrechte des Staates unterworfne Genossenschaften sammeln; so würden sie, der Synagoge und dem Offenbarungsglauben treuer, gegen die Reize der ungläubigen modernen Bildung der Weltchristen sich gewaffneter halten".136 Nitzsch verweist ferner auf die Gefährdung „des Evangelischen Volkes in denjenigen Classen, welche der Erwerb und Dienst in äußere Abhängigkeit von jüdischer Brodherrschaft bringt oder in Versuchung führt, an jüdischen Wuchergeschäften sich zu betheiligen".137 Hier wie auch bei der „bedenklichen" Praxis der Mischehen sei die Seelsorge in besonderem Maße gefordert. Für ein Verbot solcher alltäglicher Berührungen zwischen Christen und Juden bestehe aber kein Anlaß, und „unsre Kirche hat weder Macht noch Recht und Pflicht, die politische Emancipation oder irgend einen Grad der Rechtsgleichheit mit den Christen zurückzuschrauben". 138 Bei Mischehen könne freilich der Übertritt des christlichen Partners zum Judentum keinesfalls akzeptiert werden: „Gewöhnlich zwar zieht der Christ die Jüdin, die Christin den J u d e n in das christliche Bekenntniß, aber es geschieht doch auch das ganz Unweltgeschichtliche und Ungeheure, daß der Christ dem Willen der reichen und brünstigen Braut und der jüdischen Verwandtschaft zu Liebe z u m Proselyten der Synagoge wird, ja sich beschneiden und in A b r a h a m oder sonst umtaufen läßt. D a hat die Kirche Recht und N o t h , ohne Schonung die Anzeige der Person vor der Gemeine in geeigneter Weise zu vollziehen, u m s o mehr, weil so viele freigemeindliche unter den Christen wie unter den J u d e n sind, welche sich in keine oder in Eine Gemeine z u s a m m e n schicken. Die Kirche thut nicht unrecht, hiegegen in Seelsorge und Disciplin ihren ganzen Ernst zu richten und Z u rückkehrende ohne Bedingungen und Probezeiten nicht aufzunehmen." 1 3 9 i " Vgl. oben 116. Vgl. PrTh 111,2, 287f. i " Vgl. PrTh 111,2, 288. 138 Vgl. ebd. 139 PrTh 111,2, 288 f.

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Für die gängige Praxis assimilierter jüdischer Eltern, ihre Kinder taufen zu lassen, ohne selbst zu konvertieren, mahnt Nitzsch an, die Taufe sei dort vorzuenthalten, wo man eine christliche Erziehung nicht erwarten könne. Generell dürfe sich die Kirche hier aber nicht verweigern.140

1.4. Fazit Nitzsch erweist sich gerade in seiner Würdigung des AT auch im konfessionellen Sinn als „Vermittler". Dem lutherischen Schema von Gesetz und Evangelium stellt er das klassisch reformierte Thema des „Bundes" betont zur Seite. Bemerkenswerterweise bringt der aus dem Luthertum stammende Nitzsch das reformierte Anliegen, welches ihm den zentralen Schlüssel zum Bibelverständnis liefert, ausgerechnet gegen den „Reformierten" Schleiermacher zur Geltung."" In der Literatur wird Nitzschs Kritik an Schleiermacher kontrovers bewertet; hier bekommt sein Werk Brisanz, zumal Nitzsch als einziger der „Vermittlungstheologen" seiner Zeit nicht als eigentlicher Schleiermacherschüler anzusprechen ist.142 Der stärkere Rückgriff Nitzschs auf das traditionell-kirchliche Bibelverständnis wird als Konzession an das „kirchlich Tragbare" 143 zumindest verkürzend interpretiert. Nitzsch zeigt sich vielmehr von sachsystematischen Gründen bewegt, die auf eine eigene kritische Durchdringung der Materie schließen lassen. Sein „Zurückholen dogmatischen Hausrats, den Schleiermacher als unverwendbar abgestoßen hatte" 144 , geschieht offenbar aus der Nötigung des neutestamentlich fundierten Christuskerygmas heraus und kaum primär in repristinatorischer Absicht. Im Zuge dieser kritischen Reformulierung des Schleiermacherschen „Gefühls"-Konzeptes wird es erforderlich, zwischen der biblischen Gottesrede und einem abstrakten Theismus eindeutig zu differenzieren. So weist Nitzsch auch die Möglichkeit eines rationalistischen Kompromisses zwischen Judentum und Christentum nicht aus Rücksicht auf die authentische Gestalt des Christentums, sondern wegen des spezifisch theologischen Charakters der biblischen Gottesoffenbarung ab. Die „vermittelnde" Absicht hat bei ihm also eine deutliche „positive" Note. 145 Durch die ihm mögliche Integration des AT in den christologischen Ansatz gelangt Nitzsch über Schleiermachers formalen Christozentrismus hinaus zu einer Zentrierung auf die biblisch-theologischen Sachaussagen.146 Nitzschs Theologie dürfte damit einen inhaltlichen Gewinn erzielt

Vgl. PrTh 111,2, 289. Historisch dazu v. a. Jacobson, X X X I I I . Vgl. Haas, 110. 215. 1"2 Vgl. Krieg, ZKG 1988,164 f; Haas, 18-22. 197 Hirsch 1954, 375. >44 AaO, 376. 145 Vgl. Theurich 1975, 64f. 146 Vgl. Haas, 44 f. 140 141

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haben. 147 Der Vorwurf, „daß diese Theologie das Tiefste und Schwerste, aber auch Beste an Schleiermacher, seine entschlossene kritische Klarheit in der Bestimmung des Gott-Welt-Verhältnisses samt allen einschneidenden Folgen daraus, preisgegeben und auch sonst ihn nach Kräften abgeplattet und eingeebnet hat" 1 4 8 , hätte nur Gewicht, wenn man Schleiermacher als Maßstab der modernen Theologiegeschichte absolutsetzte. Nitzschs Lehre erscheint demgegenüber nicht nur im äußerlichen Sinn „kirchlicher", sondern vor allem quellengerechter als Schleiermachers Vorgabe. 149 Daß Nitzsch zu Lebzeiten populärer gewesen zu sein scheint als Schleiermacher, dürfte sich nicht eindimensional darauf zurückführen lassen, daß seine Theologie in stärkerem Maße dem kirchlichen status quo Ausdruck verliehen habe. 150 Vielmehr wirkte Nitzsch aufgrund seiner offiziellen Funktionen aktuell intensiver in sein kirchliches und gemeindliches Umfeld hinein, als dies Schleiermacher tat. Umgekehrt war Nitzsch, der nicht schulgründend wirkte, kaum Nachruhm beschieden. 151 Neben der wichtigen theologischen Integration des AT in eine christozentrische und auf dem religiösen „Gefühl" aufbauende Systematik, die Nitzsch leistet, muß man bei ihm aber ein gewisses eschatologisches Defizit feststellen. Dies begründet die Tendenz, die Ekklesiologie gegenüber der eschatologischen Erwartung der Wiederkunft Christi zu verabsolutieren. Davon ist auch Nitzschs Sicht des gegenwärtigen Judentums bestimmt, die die zukünftige Heilsperspektive ausblendet. Ebenso beeinflußt die Verkürzung der Eschatologie das theologische Schriftverständnis, das einen einlinigen Zusammenhang von AT und N T postuliert und weder eine eschatologische Kritik des gegenwärtigen kirchlichen Schriftgebrauchs noch eine konstruktive Wahrnehmung der bestehenden jüdischen Gemeinschaft zuläßt. D a s „Testamentische" geht vollständig von der prophetischen Linie des AT auf die Christusverkündigung des N T und die Predigt der Kirche über. Nitzsch beansprucht für die Kirche somit den „Besitz" der biblisch offenbarten Wahrheit. Die Abweisung eines „doppelten Ausgangs" des AT in Kirche und Judentum wird jedoch nicht eigentlich exegetisch, sondern mit geschichtsphilosophischen Axiomen begründet; das Christentum sei dazu bestimmt gewesen, alle früheren Religionen zu ersetzen. Der biblische Zentralbegriff des Bundes wird so in seiner theologischen Bedeutung reduziert. „Bund" ist bei Nitzsch Ausdruck für die spezielle inhaltliche Struktur der biblischen Religion, nicht Dokument der die ekklesiologische Wirklichkeit übergreifenden Ökonomie Gottes. Das „Testamentische" bildet deshalb letztlich nur die Bezeichnung für den imma147 D a ß H i r s c h 1954, 376, diese T e n d e n z als Verlust an „ w i s s e n s c h a f t l i c h e m H a l t " abqualifiziert, erscheint nicht a n g e m e s s e n .

H i r s c h 1954, 411. F. H . R . F r a n k , 143, sagt über N i t z s c h : „ E s ist nicht zu leugnen, daß er in wesentlichen S t ü k ken über ihn [sc. Schleiermacher] hinausging u n d der evangelischen Wahrheit näher trat." 148

149

S o H i r s c h 1954, 411. Vgl. Theurich, T R E 24, 580. - Kahler 1989, 289, zählt N i t z s c h zu den wirkmächtigsten U n i versitätstheologen der G e n e r a t i o n nach Schleiermacher. 150 151

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nenten Zusammenhang des N T mit dem AT, wobei der Verheißungsgehalt des AT als vollständig im NT und der Wirklichkeit der christlichen Kirche aufgehoben gedacht wird. Judentum und Christentum erscheinen dadurch zwar nicht wie bei Schleiermacher als unterschiedliche Religionen, doch wird die Solidarität der Kirche mit der gegenwärtigen Synagoge aufgekündigt. Gegenüber der theologischen Authentizität der Kirche, die für Nitzsch vollkommen das Erbe des alttestamentlichen Israel angetreten und das Judentum als Bundespartner substituiert hat, befindet sich das nachchristliche Judentum theologisch definitiv und endgültig im Unrecht. Das AT ist zum kirchlichen Besitztum geworden und wird als Zeugnis der christlichen Wahrheit gegen die Synagoge beansprucht.

2. Das Judentum als Vorbereitung Christi Johann August Wilhelm Neander (David Mendel) 2.1. Neanders 2.1.1.

Ort in der

Theologiegeschichte

Leben und Werk

Anders als bei den übrigen in diesem Hauptteil der Arbeit untersuchten Theologen kann sich die Darstellung der Biographie bei Neander nicht auf einen skizzenhaften Aufriß des Lebenslaufes und der theologiegeschichtlichen Verbindungslinien beschränken. Hat der geborene Jude, der zu einem namhaften Vertreter der protestantischen Erweckungstheologie wurde, den im frühen 19. Jahrhundert vorhandenen gesellschaftlichen und religiösen Gegensatz zwischen Judentum und Christentum doch selbst biographisch durchlebt. 2.1.1.1. Elternhaus und Schule Neander kam als David Mendel 1789 als jüngstes von sechs Geschwistern in Göttingen auf die Welt. Sein Vater, Emanuel Mendel Gumprecht, war Kaufmann und als solcher „auf der Universität ein betriebsamer Geschäftsmann, gewandt und geprüft im Verkehr mit den Studenten"; seine Mutter Esther, geborene Gottschalk, stammte aus einer bekannten norddeutsch-jüdischen Familie, die u. a. mit Moses Mendelssohn verwandt war.152 1796 wurde die Fami152 Vgl. Varnhagen, Denkwürdigkeiten I, 3 4 5 ; ferner Selge 1989, 2 3 6 f ; K.T. Schneider, 8 f ; Peylo, A.1.2. - Kling, ThStKr 1851, 517, gibt für den Vater die nicht ohne weiteres erschließbare Beschreibung, er sei „allen Nachrichten zufolge gemeiner jüdischer Sinnesart" gewesen. In wohl vergleichbarer Tendenz bezeichnet Harnack 1889, 196, den Vater als „jüdischen Krämer[.] gewöhnlichen Schlags". Zur Mutter siehe Peylo, A . 2 . 2 . Ein Kurzreferat über Herkunft, Jugend, Schule und Studium Neanders bei Hagenbach, ThStKr 1851, 570; ferner Mehlhausen, T R E 24, 2 3 8 f ; Harnack 1889, 196f; Krabbe, lOf; Jacobi, 1. - Hirsch 1954, 115f, verschweigt in seiner biographischen Notiz die jüdische Herkunft Neanders („geb. 1789 Göttingen als David Mendel, 1806 in Hamburg Christ geworden und seitdem Neander heißend"); entsprechend Scholder, R G G 3 4, 1388.

Johann August Wilhelm Neander

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lie nach einem Skandal um Kreditgeschäfte mit Studenten zusammen mit sechs weiteren jüdischen Familien aus Göttingen ausgewiesen; nach einem Aufenthalt in Hannover kam sie 1798 nach Hamburg. 1 5 3 Bis ins 14. Lebensjahr erhielt David Mendel Privatunterricht 154 , um dann im Oktober 1803 in die Gelehrtenschule des Johanneums einzutreten. Deren Direktor, der Theologe Johannes Gurlitt (1754-1827), war ein prominenter Anhänger der Aufklärung, für den es „wol keinem Zweifel unterworfen" war, daß der Staat keine der partiellen positiven Religionen bevorzugen dürfe und daß somit „denJuden [ . . . ] das unbeschränkte Bürgerrecht, sobald sie sich anheischig machen, alle Bürgerlasten zu tragen und alle Bürgerpflichten ohne alle von ihren Religionsgesezen vorgeschriebenen Ausnamen [sie] zu erfüllen", gebührte. 155 Gurlitt neigte insbesondere der Position Dohms zu, wonach die moralischen Defekte der Juden als „Flecken, welche durch die bürgerliche Absonderung und Vernachläßigung einer talentvollen Nation ankleben," anzusehen seien; er erwartete infolge der Emanzipation und der sozialen Besserstellung der Juden die Wiederherstellung eines reinen „Mosaismus", den er - in Ubereinstimmung mit Mendelssohn und Dohm - mit der Vernunftreligion gleichsetzte. 156 Mendel zeigte besondere Leistungen in den alten Sprachen und fand, trotz seiner ausgeprägten Neigung zum Einzelgänger, Anschluß an einen sich „Nordstern" nennenden romantisch-schwärmerischen Zirkel um die mehrere Jahre älteren Gastschüler Karl August Varnhagen von Ense (1785-1858) und Wilhelm Neumann (1781-1834), in dem neben aktueller philosophisch-schöngeistiger Literatur (Schlegel, Tieck, Fichte) besonders griechische Klassiker enthusiastisch studiert wurden. 157 Entgegen seiner Akzeptanz in diesem Kreis Vgl. Peylo, A.4.I.2.; A.4.2. Der Vater verließ die Familie um 1803 (so Peylo, A.4.2.2.). Vgl. K.T. Schneider, 10; Peylo, B.1.2. 155 Vgl. Gurlitt, Anhang, 30f; Peylo, B.l.3.1.; K.T. Schneider, lOf; Hüttmann, 16f; Kling, ThStKr 1851, 516f; Mehlhausen, T R E 24, 238; Liebeschütz 1967, 9 3 - 9 5 ; Krabbe, 11-13. 156 Vgl. Gurlitt, Anhang, 32. 36f. 43; zu Dohm siehe oben 108 Anm. 416. - Gurlitt bezog sich 1805 in seiner kurzen Abhandlung über die Judenemanzipation explizit auf Dohms Schrift von 1781 (vgl. 38; 38-41 ein Bericht über die von Dohm hervorgerufene Literatur). Auch Friedländers Vorstoß von 1799 wird kritisch erwähnt, nicht aber Schleiermachers Reaktion (vgl. 42). Daß Gurlitt ein aufklärerisches Religions- und v.a. Christentumsverständnis vertritt, wird an seiner These deutlich, „daß der Jude ein Christ sein kann, ohne den Namen zu führen, wenn er die wahre Erkenntniß von Gott, den feinen moralischen Sinn Christi und dessen sanften Geist der Humanität und Liebe und überhaupt die religiösen und moralischen Begriffe und Erkenntnisse, zu deren Ausbreitung die christliche Religion mit verholfen hat, sich zu eigen gemacht hat". Die unverfälschte mosaische Religion ohne rabbinischtalmudische Einflüsse sei folglich auf der Höhe des Christentums, ja sie besitze „das Urchristenthum rein". Friedländers Konversionsangebot sei deshalb ebenso kontraproduktiv wie eine kirchliche oder staatliche Konversionsforderung, da sich das Judentum bei besserer Bildung von selbst zum Mosaismus zurückforme. Die Taufe stelle für „helldenkende Juden" eine Zumutung dar (vgl. 33 f). Ahnlich wie Schleiermacher fordert Gurlitt für die bürgerliche Gleichstellung der Juden die Einschränkung der Toraobservanz, v. a. der Speise- und Sabbatgebote, da diese mit der Militärdienstpflicht nicht vereinbar seien; nicht verlangt wird hingegen die Absage an die Messiaserwartung, welche ohnehin real kaum mehr vorhanden sei und bei Erteilung der Bürgerrechte vollends absterben werde (vgl. 31. 38 f). 153 154

157 Vgl. Kling, ThStKr 1851, 518. 520f; Schulteß, 204f; Varnhagen, Denkwürdigkeiten I, bes. 319-321. 336f; Lenz I, 614f; Harnack 1889, 198f. - Varnhagen beschreibt Mendel in seinen 1837 veröffentlichten Lebenserinnerungen als „einen stillen und scheuen Jüngling, der aber von tiefer Glut

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scheint Mendel unter den Mitschülern fortwährend Spott und Neid ausgesetzt gewesen zu sein, wobei eine antijüdische Motivation dieses Verhaltens aus den Quellen zumindest erahnbar ist. 158 Gurlitt veranlaßte, daß Mendel auf der Feier des Übertritts in das Akademische Gymnasium am 30. April 1805 eine der beiden lateinischen Festreden hielt. Der Titel der Abhandlung, die Gurlitts eigene politische Haltung mit zum Ausdruck brachte und auf dessen Initiative hin als Broschüre gedruckt wurde, lautete: „ D e Iudaeis optima conditione in civitatem recipiendis." 159 Gurlitt betonte, daß die Rede seinen „eigenen Grundsäzen über die allen Völkern und Religionsverwandten gleichmäßig zukommenden Menschen- und Bürgerrechte, bei gleicher Erfüllung der dagegen obliegenden Pflichten, gemäß" sei. 160 Der 16jährige Redner vertrat die Idee der Humanität im Sinne Moses Mendelssohns und verlangte daher die Aufnahme der Juden als vollberechtigte Staatsbürger. Den schwelenden Konflikt zwischen christlicher Mehrheit und jüdischer Minderheit sprach Mendel couragiert an. Denen, die den Juden Christenfeindschaft vorwürfen, hielt er die demütigende reale Situation

erfüllt w a r " (Denkwürdigkeiten I, 328). Die auffällige Erscheinung Mendels als eines in sich gekehrten Genies wird wie folgt charakterisiert: „Sein Außeres war ganz vernachlässigt; ob sein Haar ordentlich, seine Wäsche rein, seine H ä n d e gesäubert waren, kümmerte ihn nicht, seine Bücher und Papiere waren herumgesudelt und zerfetzt, Dinte schwärzte seine Finger, die mit gleicher Unbeachtung in O l oder Sand griffen, Lichtschnuppe [sc. Kerzendocht] oder Postpapier anfaßten; von Kleidung wußte er nichts, seinen Hut trug er verbogen, wie der Zufall es wollte [ . . . ] ; hiebei im höchsten Grade kurzsichtig, ungeschickt mit allen seinen Gliedern bis zur Unbrauchbarkeit, blöde und stokkend im Gespräch - was blieb dem armen Jungen übrig, für den die Sinnenwelt keinen Reiz, kein Vergnügen, keine Zerstreuung, ja kaum einen Gegenstand bot, als auf sein Inneres beschränkt in diesem einen geistigen Ersatz für so viel Entbehrungen zu finden? Er war immer fleißig, weil er sonst wirklich nichts sein konnte, und besaß in den alten Sprachen große Geläufigkeit" (328 f). Bezogen auf Mendels Eintritt in den romantischen Freundeskreis analysiert Varnhagen: „Sein philosophischer Eifer verband sich leicht mit unserm poetischen, beide waren in ihrer Unreife einander ähnlich genug" (329). Kling, ThStKr 1851, 520, datiert die Bekanntschaft Mendels mit Varnhagen und Neumann und den Eintritt in den Freundeskreis „Nordstern" auf die Abgangsrede; dies steht in Widerspruch zu Varnhagens Erinnerungsbericht. 158 Varnhagen, Denkwürdigkeiten I, 329, verweist in diesem Zusammenhang auf den positiven Einfluß, den Gurlitt auf das Klima der Schule ausübte: „Es gereicht dem würdigen Gurlitt zur Ehre, und zeugt von dem bessern Geiste, der unter seiner Leitung die hamburgische studierende Jugend beseelte, daß David Mendel, bei solchem Äußern und solcher Eigenheit, und dazu ein Jude, zwar hin und wieder zu Bemerkungen und Scherzen Anlaß gab, auch wohl manche Neckereien erfuhr, aber niemals bösen Mutwillen oder kränkende Anspielungen zu ertragen hatte, sondern im Gegenteil wegen seines Wissens und Eifer[s] wahrhaft geachtet wurde, worin die angesehensten und gerade nach außen stattlichsten Mitschüler, wie Sieveking, das Beispiel gaben." Kling, ThStKr 1851, 518 f, berichtet dagegen von durchaus handfesten „Spaßen" (bis hin zu einer inszenierten Hinrichtung), denen Mendel ausgesetzt war. Für die generelle Tendenz der damaligen Jugendkultur zu scherzhaften Aktionen auf Kosten der Juden vgl. Varnhagen, 318f, mit dem Bericht über die Beteiligung des jungen Wilhelm Neumann an einem „Mutwill [ . . . ] , der die Juden gröblich zu verhöhnen beabsichtigte". Siehe auch Peylo, B.2.1.1.; B.2.2.; Hüttmann, 17f; Schulteß, 204f. 159 D a z u Kling, ThStKr 1851, 519; K.T. Schneider, 12-15; Lenz I, 618f; Liebeschütz 1967, 9 2 f ; Krabbe, 14f; Jacobi, 1 f; Harnack 1889, 197f. - Eine gekürzte Fassung der Rede bietet K.T. Schneider, 255-262. 160 Vgl. Gurlitt, Anhang, 30.

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der Juden entgegen: „Negant enim isti, Judaeos propter odium in Christianos beneficiis dignos esse." 1 6 1 In ironischer Anspielung auf Michaelis' Behauptung, die Juden könnten aus religiösen Gründen Europa nur als „Zeitwohnung" ansehen, fragte er: „ N o n est Judaeo patria, cujus civis sit [.,.]?" 1 6 2 U m seinen Hörern die mißliche Lage der Juden anschaulich zu machen, sprach Mendel sie auf ihren zugesicherten Besitz der Freiheit an: „Alii populi libertatem non nisi nomine cognoverunt, vos non ejus imaginem solam vidistis, sed quotidie omni ejus dulcedine sub legum sacra custodia fruimini."

Positiv verwies er stärker auf emanzipatorische Ansätze in der Politik des zaristischen Rußlands als auf westliche Vorbilder. 163 Dabei zeigte sich Mendel gegenüber der talmudisch-orthodoxen Tradition des Judentums reserviert und benannte auch den schlechten sittlichen Zustand vieler Juden als ernstzunehmendes Argument gegen die Gleichstellung; dagegen setzte er - ganz im Duktus des aufklärerisch gesinnten Gurlitt - mit dem Ruf: „ o philosophia, optima humani generis magistra", den erzieherischen Wert der klassischen Bildung. 164 Die sittliche Unterlegenheit der Juden führte er im Sinne Gurlitts und Dohms auf die rechtliche Unterprivilegierung selbst zurück und leitete daraus den absehbaren Erfolg der Emanzipation ab: „Libertas non dissimilis videtur vino illi generosiori, quod eorum sane, quorum natura per se ipsa satis firma est, et animos exhilarat, et vires excitat." 165 So sei die Gleichstellung der Juden, wie Mendel im Duktus Dohms und Gurlitts ausdrückte, mit wohlbegründeter positiver Erwartung für ihre künftige gesellschaftliche Rolle verbunden: „Itaque aliquando, auditores amplissimi, videbimus hanc gentem, tamquam arborem, jam marcescentem, ad flörem revocatam, fructusque adeo uberrimos edentem." 1 6 6

2.1.1.2. Die Konversion Varnhagen beschreibt die Einstellung seines Mitschülers David Mendel zum Christentum als ausgesprochen negativ. Während er für den antik-griechischen Staat und die griechische Religion sowie die modernen französischen Ideale von Freiheit und Gleichheit stark eingenommen war, erschien ihm das kirchliche, auf die Bibel bezogene Christentum von der Warte der philosophischen Tugendlehre aus als unterlegen und rückständig: „ D a s Christentum verachtete er tief, als eine Religion demütiger und knechtischer Gesinnung, die er auch an den Psalmen zu tadeln fand, deren Erhabenheit er nicht zugestehen wollte, so sehr auch Gurlitt sie in's Licht zu stellen und mit den Pindarischen Gesängen zu vergleichen sich bemühte." 1 6 7

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Oratiuncula, 21. A a O , 24; zu Michaelis siehe oben 108f. Vgl. den Hinweis auf Zar Alexander: Oratiuncula, 27 Vgl. a a O , 25; K.T. Schneider, 15; Liebeschütz 1967, 93. A a O , 19; vgl. Kling, ThStKr 1851, 520; Liebeschütz 1967, 93. Oratiuncula, 26 f. Vgl. Varnhagen, Denkwürdigkeiten I, 329 f.

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Anscheinend hat Mendel seine Ablehnung des Christentums, die mit einem wachsenden Interesse an der paganen, v.a. platonischen Philosophie einherging, gegenüber Gurlitt und den Mitschülern offensiv vertreten und dadurch wohl in erster Linie aufgrund der Intensität dieses Standpunktes - einiges an „Kopfschütteln" erregt.168 Nach Varnhagens Darstellung war Mendels Entschluß, sich im Frühjahr 1806 an der Universität Halle zu immatrikulieren, zunächst ohne den Gedanken an eine Konversion gefaßt worden. 169 In der Tat ließ der Ton der Abgangsrede nicht darauf schließen, daß Mendel dem Judentum als solchem den Rükken zu kehren beabsichtigte. Vielmehr hatte er zwar die jüdische Lebensweise kritisiert und die orthodox-talmudische Tradition verworfen, doch korrespondierte in seinen Augen zumindest das kirchliche Christentum in seiner Unterlegenheit gegenüber dem klassischen Hellenismus so eng mit dem Judentum, daß Mendel dem Übertritt zur Kirche kaum einen Reiz hätte abgewinnen können. Eine „innerlich" gesuchte Konversion scheint eine „gegensätzliche Haltung" zum Anliegen der Rede zu verkörpern. 170 Nach Varnhagen war die Konversion Mendels allein durch einen äußeren Umstand begründet, nämlich die finanzielle Abhängigkeit von dem Hannoveraner Medizinalrat und Hofarzt Johann Stieglitz, einem im Jahr 1800 konvertierten Verwandten der Mutter171, „der dem Mendel'schen Hause ehemals in Göttingen große Verbindlichkeit schuldig geworden, und aus Dankbarkeit jetzt den Sohn desselben studieren ließ". Während sich Stieglitz von seiner Vorgabe des Studienortes (Göttingen) leicht habe abbringen lassen, war die Konversion zum Christentum eine pragmatisch begründete 172 - Bedingung, „von welcher der Gönner schlechterdings nicht ablassen wollte; sein Schützling sollte nämlich nicht als Jude auf die Universität gehen, und dieser, ungeachtet alles Widerwillens gegen das Christentum, mußte sich die Taufe gefallen lassen, zu der auch schon alles ohne sein Zutun eingeleitet war." Von Wilhelm Neumann habe Mendel zuvor eine Schrift Jakob Böhmes (1575-1624) über die Taufe erhalten, die ihm erstmals „das Christentum von einer hohen geistigen Seite" gezeigt und ihm dieses attraktiv gemacht habe.173 Die Taufe wurde am 25. Februar 1806 im Hause des 168 Vg], Varnhagen, Denkwürdigkeiten I, 330; ironisch fährt der Text fort: „Niemals vielleicht war mehr spekulativer Drang bei weniger spekulativem Talent, denn im Grunde, wie die Folge gezeigt, mangelte dies ganz [•·.]." Vgl. Varnhagen, Denkwürdigkeiten I, 338. Vgl. Liebeschütz 1967, 92. 171 Stieglitz hieß vor seiner Konversion Israel Hannover; vgl. Steiner, 77; Peylo, B.3.1.1.; Hüttmann, 27 172 Auch das Jurastudium hätte einem Juden im Jahr 1806 keinen beruflichen Aufstieg ermöglicht, da für alle Staatsämter die Taufe vorausgesetzt war, vgl. bes Peylo, B.3.2.2. 173 Vgl. Denkwürdigkeiten I, 338. Nach Selge 1989, 266 A n m . 117, hat es sich bei der Schrift Böhmes um das 1624 erstmals im Druck erschienene Werk „Der Weg zu Christo", speziell das fünfte Buch „Von der Wiedergeburt" gehandelt. - Kling verschweigt den direktiven Einfluß von Stieglitz und führt die Taufe Mendels ganz auf dessen geistige Entwicklung zurück. Während, wie die A b iturrede gezeigt habe, Mendel „in Bezug auf das jüdische Satzungswesen höchst unbefangen war", habe ihn doch nicht „oberflächliche Aufklärung" im Sinne Friedländers dem Christentum zugeführt 169

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Pastors Bossau zu St. Katharinen in Hamburg vollzogen, als Taufzeugen dienten sämtliche weiteren anwesenden Personen, nämlich Direktor Gurlitt, Varnhagen und Neumann. Mendel nannte sich fortan mit Familiennamen Neander und übernahm von jedem der Taufzeugen einen Vornamen. 174 Gegen Varnhagens Interpretation, die Mendels Taufe allein als Resultat äußerer Notwendigkeit, nicht aber innerer Bereitschaft erscheinen läßt, sprechen allerdings Fakten, welche jede monokausale Motivation der Taufe abweisen. 175 Zunächst fällt auf, daß David Mendel mit der Taufe nicht nur neue Vornamen, sondern - als einziger unter seinen Geschwistern, die zwischen 1804 und 1809 vollzählig konvertierten 176 - auch einen neuen Nachnamen annimmt. Dieser drückt - falls es sich nicht, wie aber kaum anzunehmen ist, lediglich um die abstrakte Gräzisierung des Namens des Taufzeugen Neumann handeln sollte 177 durchaus ein Verständnis der Taufe als Wiedergeburt aus. 178 Mendel hätte die Taufe somit bereits zum Zeitpunkt ihres Vollzuges nicht als nur äußeren Vorgang, sondern als Lebenswende verstanden. Zum anderen existiert in Auszügen eine „Denkschrift", die Mendel anläßlich seiner Taufe dem Pastor Bossau übergab. 179 Darin formuliert er in einem spekulativen religionsphilosophischen Entwurf die Überlegenheit des christlichen Erlösers über alle vorchristliche Religion. Das religionsgeschichtliche Auftreten des Christentums setze die Vollkommenheit der Entfremdung zwischen Gottheit und Menschheit voraus, die Mendel gerade im Judentum, das er umfas-

(vgl. ThStKr 1851, 521; zu Stieglitz hier: 517). Vielmehr habe ein „Jüngling von so tiefem Gemüth und so hellem Geiste" einzig „durch einen Einblick in die Tiefen des Christenthums als der vollkommenen Religion und Bildung, als des wahren Ziels aller früheren geistig-sittlichen und religiösen Bewegung und Entwickelung für dasselbe gewonnen werden" können: „Inwiefern auch theosophische, philosophische und ästhetische Werke der neueren Zeit (Böhme, Fichte, die Romantiker) und persönlicher Umgang, z . B . mit Karl Sieveking, der als eine der edelsten Naturen und als ein Jüngling, den seine Mitschüler auch wohl bei der Bibel fanden, dazu mitgewirkt, kann aus Mangel an näherer Kunde nicht genauer bestimmt werden; daß aber der Piatonismus eine hauptsächliche Uebergangsstufe für ihn bildete, daran ist nicht zu zweifeln" (ebd). Vgl. Kling, ThStKr 1851, 523; Peylo, B.3.3.; Schulteß, 205; Hüttmann, 25. Auffällig ist, daß Kling das persönliche Kennenlernen von Stieglitz - möglicherweise in apologetischer Absicht - hinter die Taufe datiert (vgl. 527 f). Ihm folgt Jacobi, 4 f. Krabbe, 16-20, erwähnt hingegen Stieglitz' Einfluß auf Mendels Konversion überhaupt nicht. 175 Vgl. Peylo, B.3.2.2. 176 Vgl. Kling, ThStKr 1851, 523; Peylo, B.3.1.2. 177 Diesen Gedanken rückt Mehlhausen, T R E 24, 239, in den Vordergrund, liefert allerdings keinen zureichenden Beleg. Kling, ThStKr 1851, 523, weist nur daraufhin, daß Mendel von Neumann formal „im Grunde auch den Geschlechtsnamen" übernommen habe, verneint eine „theologische" Interpretation von „Neander" damit aber nicht; entsprechend K.T. Schneider, 19. 178 Kling, ThStKr 1851, 528, zitiert aus einem Brief Mendel/Neanders an Pastor Bossau, in dem die Taufe explizit Wiedergeburt genannt wird. 179 Abgedruckt bei Kling, ThStKr 1851, 524-526. Mendel hatte bereits auf dem Akademischen Gymnasium, also während des nach seiner Abgangsrede noch unter dem Dach des Johanneums in Hamburg verbrachten Studienjahres, theologische Vorlesungen gehört, die sich wahrscheinlich in der Denkschrift niedergeschlagen haben; dazu ausführlich Peylo, B.I.4.; B.3.2.2.; Hüttmann, 18 f.

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send mit „Furcht" assoziiert, gegeben findet. 1 8 0 Er läßt Christus dabei aber stärker an Plato als an die jüdische Tradition anknüpfen und verrät in der Diktion den starken Einfluß der Reden Schleiermachers: „Aber schon vorher ahnen Virtuosen der Religion diese kommende Identität, ohne selbst schon die Kraft der Vermittelung in sich zu haben, wozu auch die Zeit, weil jene Entgegensetzung noch nicht absolut, noch nicht da ist. Aber sie verkünden sie, ihn (in der Zeit erscheinend als Subject = Messias). So die Propheten, und noch mehr, wenn auch nicht in persönlichen Anschauungen, der göttliche Plato, am meisten in der ,Republik', dem Werke, wo er am lautesten seine heilige Liebe zum Unendlichen, seine wehmütige Sehnsucht ausspricht, weissagend die heilige Religion vermißt, die wiedergebären sollte die Kunst und, sich mit ihr vermählend, sie gestalten zu einer lebendigen Darstellung des Unendlichen. Das war die lauteste Prophezeiung des Christenthums, nicht Feindschaft gegen die Kunst, die in der Vermählung mit seiner Philosophie so liebenswürdig sich aussprach." 181 Mendel, dem Plato „die nächste Brücke z u m Evangelium bildete" 1 8 2 , interpretiert den biblisch-christlichen Erlöser von einem spekulativen Erlösungsprinzip her. Der „ M e s s i a s " sei das „ S y m b o l des Erlösers aus dem Zwiespalt". 1 8 3 D e n Unterschied zwischen dem J u d e n t u m als der höchsten Stufe der vorchristlichen Erlösungsbedürftigkeit und dem Christentum, in dem das Endliche mit dem Unendlichen vermittelt sei, erklärt Mendel mit dem Schleiermacherschen Gegensatz der Religion zur Moral: „Das Judenthum schaute das Unendliche im Endlichen an, das Christenthum, fortgerissen von dem beseelenden Triebe der Liebe, schaute das Unendliche in sich selbst an, und schafft daher auch die fremden Elemente in Religion um. Wie das Judenthum das Theoretische [zum Praktischen ?] herabzieht, so potenzirt das Christenthum das Praktische zum Theoretischen; wie jenes die Religion zur Moral, den religiösen Ritus zu moralischen Handlungen zu machen strebt, so erhebt dieses die Moral zur Religion, die moralischen Handlungen zu einem religiösen Ritus. Jenes individualisirt das Allgemeine, dieses potenzirt das Individuelle zum Allgemeinen."184 Die christliche Religion habe den Charakter, „immer thätig sich selbst zu potenziren, bis sie, in die höchste Potenz dringend, die absolute F o r m gefunden hat, die auch als F o r m ewig, unerschütterlich, unpotenzirbar ist". 1 8 5 Dies legt es ° Vgl. Kling, ThStKr 1851, 524. Zitiert nach Kling, ThStKr 1851, 524f (dort die Hervorhebungen). 182 Hüttmann, 21; vgl. K.T. Schneider, 19; Harnack 1889, 199f. 183 Vgl. Kling, ThStKr 1851, 525; dazu kritisch K.T. Schneider, 21. 184 Zitiert nach Kling, ThStKr 1851, 526 (dort die in Klammern gesetzte Einfügung). 185 Kling, ThStKr 1851, 527, analysiert bei dem „platonisirenden israelitischen Jünger Christi, böhme'sche, romantische, wohl auch fichtisch-schelling'sche, insbesondere schleiermacher'sche Elemente, welche sich zu einem neuen lebendigen Ganzen verschmelzen und ihn, wenn auch in symbolisch-idealistischer Weise, das Christenthum als die absolute Wahrheit erkennen lassen. Namentlich müssen Schleiermacher's Reden über Religion von bedeutendem Einfluß auf ihn gewesen seyn [. ..]·" Den theologischen Duktus der Denkschrift deutet Kling dahingehend, daß sich darin „die Erkenntniß des Christenthums als der vollkommenen Religion" mit den „sich durchdringenden hauptsächlichen geistigen Lebenspotenzen der neueren Zeit" für das selbständig werdende Denken Mendel/ Neanders verbunden habe. 18

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nahe anzuerkennen, daß Mendel selbst seine Taufe als „Aufnahme in den heiligen Bund des höheren Lebens" gedeutet hat.186 Unbestreitbar ist, daß „dem zukünftigen Kirchenhistoriker Neander" zu dieser Zeit das Judentum „als Folie bei der Beschreibung des Glaubens, zu dem er sich bekehrt hat", dient.187 Die „jüdische" Kontur der familiären Herkunft Mendels ist anhand der zugänglichen Quellen nicht ausreichend zu bestimmen. Daß es sich nicht um ein streng orthodox-jüdisches Haus handelte, kann aber aus zwei Sachverhalten erschlossen werden. Zum einen blieb der Vater, der nicht zum Christentum übertrat, seinem Sohn auch nach dessen Taufe und der theologischen Karriere verbunden. Nach Klings Bericht soll er auf die akademischen Erfolge seines Sohnes sogar in seinem eigenen Umfeld mit erkennbarem Stolz hingewiesen haben. Dies widerspricht dem orthodoxen Grundsatz, vom Judentum abgefallene Kinder als ausgestoßen zu behandeln. 188 Zum zweiten erhielt Mendel zu Hause offenbar keine talmudistische Ausbildung, die ihn auch zur Lektüre der hebräischen Bibel befähigt hätte. Vielmehr mußte er in Göttingen bei dem damaligen Privatdozenten Wilhelm Gesenius Privatunterricht nehmen, um das AT im Original lesen zu können. 189 Mendels Familie scheint im gesellschaftlichen Verkehr und in der ökonomischen Praxis die sozialen und kulturellen Schranken des jüdischen Milieus bereits vor der Konversion der Kinder überschritten zu haben. Stieglitz' Intervention gab offenbar den verbindlichen Anlaß, kaum aber die zentrale Motivation für den Ubertritt. 190

2.1.1.3. Studium und Lehrtätigkeit Auch Neanders Entscheidung für das Studienfach Theologie wird in ihrer Genese in der Literatur unterschiedlich beschrieben. Varnhagen zufolge ging der Wunsch, sich gemeinsam mit Freunden aus dem Johanneum in Halle zu immatrikulieren, der Wahl des Faches voraus. Stieglitz habe für das zunächst präferierte Jurastudium auf Göttingen beharrt, bei der Wahl der Theologie aber den Weg nach Halle freigegeben. Neander habe daraufhin „mit Entschlossen-

Vgl. Kling, ThStKr 1851, 528. So Liebeschütz 1967, 9 3 f . Der Autor fährt fort: „Die neuen geistigen Möglichkeiten, die er vor sich sieht, sollen sich gegenüber der Welt, der er den Rücken kehrt, um so heller abheben. Furcht und Liebe, Entzweiung und Identität, Strafe und Versöhnung sind die Begriffspaare, mit denen Judentum und Christentum gegeneinander gesetzt werden. Das Judentum hat ein Wissen vom Dasein des Unendlichen, aber seine Vorstellungswelt beschränkt sich auf das Endliche. Als Religion der Furcht hatte es die Funktion, das Gegenstück, die Religion der Versöhnung von Individuum und Unendlichkeit, hervorzutreiben." 188 Vgl. ThStKr 1851, 517; K.T. Schneider, 9. - Zur inneren Verfassung der Juden um 1800 siehe Bruer, 9 4 - 9 7 ; zur Taufproblematik dort 3 7 6 - 3 7 9 ; ferner F.-H. Philipp, Emuna 1972, 22; Jacobson, X X X I I I - X X X V . Zum nicht reibungsfreien Verhältnis Mendel/Neanders zu seiner Familie sind außer Varnhagen, Denkwürdigkeiten I, 3 4 4 f , auch Liebeschütz 1967, 9 4 f ; Peylo, B.3.1.1., und kritisch Hüttmann, 15f, heranzuziehen. 189 Vgl. Kling, ThStKr 1851, 533. - Jacobi, 3 f , resümiert für die Auswirkung der jüdischen Herkunft auf den religiösen Werdegang Mendel/Neanders: „So viel ist gewiß, daß der Entschluß, Christ zu werden, nicht durch das Alte Testament gereift worden ist." Vgl. Hüttmann, 21. 186

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heit" erklärt, „so wolle er denn lieber Theologie studieren!"191 Varnhagen stellt die spätere theologische Wirksamkeit Neanders unter die kritische Perspektive der Umstände der Konversion und der Wahl des Studienfaches: „Wenn man in seinem künftigen Leben das Christentum und die Theologie als bestimmende Richtung und eigentlichen Gehalt seines Wesens unstreitig anzuerkennen hat, so muß man dem Erzählten zufolge dabei doch gestehen, daß er zu beidem auf eine sehr zufällige Weise und mittelst ganz äußerlicher Bestimmungsgründe gekommen ist."192 Demgegenüber ist betont worden, daß Neander seine Entscheidung für die Theologie sehr wohl religiös verstanden habe; er habe dem „heiligen Bund des höheren Lebens" nicht passiv angehören, sondern im Leben der Kirche mitwirken wollen. Das Studium sei als Pflege der „Religion, die ja nur von innen kommt und im Innern wohnt" in den Dienst der Lebenserneuerung gestellt worden.193 Anders als seine Hamburger Mitschüler hielt sich Neander in Halle von persönlichen Kontakten mit den Professoren, unter denen besonders Schleiermacher und Steffens am geselligen Leben teilnahmen und allgemein einen neuen wissenschaftlichen und religiösen Eifer weckten, „hartnäckig" zurück; die Schüchternheit wurde nach dem Urteil seines langjährigen Bekannten Varnhagen „zum starren Trotz". Gleichwohl hätten die Dozenten „hinter dem Sonderling einige bedeutende Eigenschaften" erkannt.194 Wegweisend wurde der Umgang mit Schleiermacher, der in Neander das Interesse an der Kirchengeschichte weckte, welche die „Einheit der religiösen Speculation mit dem äußeren Leben" zum Thema habe.195 Nach der französischen Besetzung Halles mußte Neander 1807 unter schweren Bedingungen mit seinen Freunden nach Göttingen übersiedeln.196 Neander studierte in Göttin191

Vgl. Varnhagen, Denkwürdigkeiten I, 344. Der Bericht des Studienfreundes fährt fort: „Stieglitz war nicht wenig verwundert, fand aber bei solcher Mischung von düstrem Starrsinn und leichter Wandlung in dem jungen Manne fast gleichgültig, welche Fakultät er wählte, da er in jeder doch nur sein Wesen fortsetzen würde, und dies schien in der Theologie noch am leichtesten zu betten." 1,2 Denkwürdigkeiten I, 344. 193 Vgl. Kling, ThStKr 1851, 528 f. 194 Vgl. Denkwürdigkeiten I, 353. - Ein denkbares Motiv für die in einigen Aspekten abträglich tendenziöse Beschreibung Neanders durch Varnhagen deutet die sich hier anschließende Schilderung des Zerbrechens der Wohngemeinschaft beider Studenten an. Varnhagen macht dafür Neanders heillose Unordentlichkeit in den Verrichtungen des Alltagslebens verantwortlich. Als Neander, der Varnhagens Zurechtweisungen als willkürliche Schikanen angesehen habe, aus der gemeinsamen Wohnung auszog, sei Varnhagen „einer großen Last ledig" geworden (354). Siehe dazu Selge 1989, 265. 267; K.T. Schneider, 19f; Kling, ThStKr 1851, 529. 195 Vgl. Kling, ThStKr 1851, 529f; ferner Selge 1989, 239; Boekels, 6; K.T. Schneider, 24; Hüttmann, 28-30; Schulteß, 205f; Krabbe, 22-26. - In einer Arbeit aus seinem Sterbejahr hob Neander dankbar hervor, daß sich aus der bei Schleiermacher neu erfahrenen „Macht des religiösen Gefühls" auch ein lebendiges Interesse an der Kirchengeschichte entwickelt habe (vgl. Jahrhundert, 225 f). Damit verbunden war allerdings die Kritik des in den Reden vorhandenen Pantheismus (vgl. 224). Siehe dazu Krabbe, 148-150. •9 Vgl. W u E I, 35. ™ W u E I, 36. 777 778

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Einzig die im AT manifeste Geschichte Israels sei unter der gesamten Überlieferung aller Völker geeignet gewesen, „zum Worte der Selbstdarstellung des Sohnes Gottes zu werden", da in ihm die weissagende Geschichte Gottes dokumentiert war. Bereits im AT walte vollwertig der Geist Christi.783 Der historischen Kritik Semlers und deren Rezeption bei Schleiermacher konzediert Hofmann, daß das AT „Nationalliteratur" darstellt. Aber damit hat es seine Bedeutung für das abendländische Christentum nicht verloren. Die jüdische Bibel ist vielmehr Nationalliteratur sui generis - außergewöhnlich „wie die Nation, der sie angehört, und wie deren Beruf, den von Gott erzeugten Menschensohn zu gebären", und deshalb relevant für die ganze Geschichte der Menschheit.784 Israel ist durch die Hervorbringung des Christus als die Nation gekennzeichnet, deren Geschichte in Christus die Bestimmung aller Nationen umgreift. Hofmann illustriert dies durch eine teleologische Gegenüberstellung der israelitischen und der römischen Geschichte: „Das eigenthümliche eines Volks erkenne ich aber an dem Schluß- und Höhepunkt seiner Geschichte. Nun ist, was Cäsar Augustus für das Verständniß der römischen, Jesus Christus für das der israelitischen Geschichte. Sonach sind auch die Uberlieferungen des jüdischen Volks am sichersten in allem dem, was zur Vorausdarstellung Christi gehört." 785

Die universale Bestimmung Israels schließt freilich ein, daß es mit der Erscheinung Christi der Völkerwelt soteriologisch gleichgestellt wird. Das erreichte vorläufige Ziel seiner Geschichte macht seine Sonderstellung zunichte: „Aber nachdem nun Christus, um dessen Zukunft willen Israel von allen Völkern unterschieden gewesen, aus ihm geboren ist; hört in der Gemeinde Christi dieser Unterschied auf."786 Mit der ersten Erscheinung Christi und der Entstehung der Kirche aus Juden und Heiden ist für Hofmann die besondere Geschichte Israels als ethnischer Größe jedoch nicht abschließend erledigt. Vielmehr kommt der „weltgeschichtliche [n] Tragödie des Volkes Israel" für Hofmanns auf die Parusie Christi ausgerichtete Theologie eine zentrale Bedeutung zu.787 Er folgt Paulus und dessen in Rom 11 manifester Hoffnung für sein Volk, wenn er die Epoche der Spaltung des Gottesvolkes in Kirche und Synagoge als „Zwischenzeit" ansieht, welche auf die eschatische Vereinigung des ganzen Gottesvolkes vorausverweist. Die Heilsgeschichte nach der Entrückung Christi wird als mehrstufig verstanden; das in Christus verheißene Heil geht nicht in der präsentischen Gegebenheit der Kirche auf.788

Vgl. W u E I, 39 f. Vgl. W u E I, 48 f. 785 W u E I, 54. Vgl. dazu Behr, 225. 786 W u E I, 36. 787 Vgl. Wapler, 51. 277; ferner Behr, 2 2 5 - 2 2 8 . 788 Vgl. Kapitelüberschrift SB 11,2, 8 8 - 9 8 : „Mit Herstellung einer heidnischen Christenheit ist eine Zwischenzeit der neutestamentlichen Heilsgeschichte eingetreten." 783

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