204 29 23MB
German Pages 412 Year 2007
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Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste
Herausgegeben von Christopher Balme, Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele
Band 51
Jörg von Brincken
Tours de force - Die Ästhetik des Grotesken in der französischen Pantomime des 19. Jahrhunderts
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2006
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN-13: 978-3-484-66051 -9 ISBN-10: 3-484-66051-1
ISSN 0934-6252
Zugleich: Dissertation, München, Universität, 2004. © Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006 Ein Imprint der Walter de Gruyter G m b H & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Einband: Nädele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren
Danksagung
Mein Dank gilt den Herausgebern fur die Aufnahme des Bandes in der Reihe. Außerdem danke ich von Herzen meinem Lehrer Herrn Prof. Dr. Hans-Peter Bayerdörfer fiiir all seine Unterstützung, seine große Geduld und die vielen guten Ratschläge, die über so lange Zeit stets zur rechten Zeit kamen; meiner wunderbaren Mutter Barbara von Brincken für den Rückhalt und die Sicherheit, die sie mir gab, für ihre Liebe und ihr Vertrauen; meinem Bruder Wolf von Brincken für so viel intellektuelle Anregung und die technische Unterstützung; meinem Freund Wolfgang Traeger für seine Freundschaft und seine Hilfe; und nicht zuletzt meiner geliebten Frau Kerstin dafür, dass sie ist, wie sie ist.
Für meine Mutter
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
ι
II.
Theoretische Fokussierung
8
1.
Kritischer Überblick über die Grotesktheorie: Zwischen Semantik
8
und Sinnlichkeit
8
2.
Ästhetische Modernität und Groteske
23
III.
Die Problematik des Grotesken: Der historische Diskurs
27
1.
Z u m Verlust vom Wahrheitsgehalt der Freude
27
2.
Die europäische Diskussion um das Groteske:
31
Zur Krise künstlerischer Verfahrensrationalität
31
2.1.
Die prekäre Eigenwertigkeit ästhetischer Deformation
31
2.2.
Die deutsche Diskussion:
39
2.2.1.
Die Problematik von Hegels Komikbegriff: Das Ästhetische am Hässlichen
39
2.Z.2. Hegels Ironiekritik
48
2.2.3.
54
Die Gewaltsamkeit des Grotesken
2.2.4. Nachhegelsche Bestimmungen des Grotesken: Volkelts »ungeheuerliches Nichts< - Rosenkranz' >Grotesktanz< (mit einem Rekurs auf Flögeis >Harlekininnerer< und >äußerer
Verkleinerung< des Erhabenen
88
VII
V.
Die französische Pantomime: Das Theätre des Funambules und Deburau
92
1.
Theoretische und kritische Perspektivierung - Einleitung in die Auseinandersetzung mit der Pantomime unter Rekurs auf Adorno
92
1.1.
1.2. 2.
3.
Die tour deforce mit Adorno 92 1.1.1. Das Hässliche als das Gewaltsame der Kunst: Zum Zusammenhang von Formgebung und De-Formation 92 1.1.2. Die >niedere< Kunstform als Substrat der Kunst: Die tour deforce und das Clownshafte 98 Die französische Pantomime des 19. Jahrhunderts: Exploitationstheater . . 101
»vingt ans de revolution ont donne ä l'imagination d'autres besoins«: Das neue Interesse am Schlechten 2.1. Die grausame Wirklichkeit: Revolution, Gewalt und ästhetischer Mehrwert 2.2. Die »blutige Komödie< als Antwort auf das epochale Trauma »Le theatre tel que nous le revons«: Die romantische Entdeckung der Pantomime 3.1. Erstaunen und Uberraschen - Gautiers Bestimmung der ästhetischen Eigenwertigkeit der Pantomime 3.2. Jules Janin: Die Pantomime als theätre ignoble
108 108 113 116 117 123
4.
Melodram und Pantomime: Die komische Exploitation des Gewaltsubstrats . . 126 4.1. evidence — etonnement: Das melodramatische Struktur-Erbe der Pantomimen 126 4.2. Die >verkleinernde< Nachahmung melodramatischer Kampfszenen 131 4.3. Die zentrale Aktions-Figur der Pantomime: cascade 134 4.4. Raffinement des intensiv bewegten Körpers 139 4.5. Das theatrale Potenzial der Gewalt 141 4.5.1. Grausame Bilder und unsichere Assoziationen 141 4.5.2. Exzentrische Körper: Deformation als Abstraktion 145
5.
Fantastischer Schrecken 5.1. Die Durchdringung von Komik und Fantastik: Entreferentialisierung und Effekt-Überbietung 5.2. Schrecklich komische Spektakel 5.2.1. >Illusionismus< des Grauens, >Folgenlosigkeit< der Gewalt: Körper in der Differenz 5.2.2. Die Dynamik des verstümmelten Körpers: Mutilation als Motor szenischer Transformation
149
6.
Die dynamische Grimasse 6.1. Der Zusammenhang von Affektrepertoire und extrovertiertem Spiel . . . . 6.2. Commedia-Bezug? - Eine Reflexion im Rekurs auf Paul Hippeau 6.3. Die Körpergrimasse
171 171 173 175
7.
Deburau/Pierrot: »mille acteurs dans un seul«
177
VIII
150 159 159 165
7·ΐ. 7.2. 7.3. 8.
Das Laster als produktives Prinzip: Amoral als Herausforderung an die Darstellungsraffinesse Technische Perfektion und Artifizialität des Ausdrucks Der >Sarkasmus< von Pierrot/Deburau: sang-froid und die Souveränität
178 183
des Akteurs
188
Reflexe und Wechselwirkungen: Pantomime und Deformation bei Gautier und Champfleury 8.1. Gautier 8.1.1. Das Groteske vs. die Satire 8.1.2. Der Clown: Die ideale Hässlichkeit und das bedenkliche Lachen
8.2.
Shakspeare aux Funambuler. Die Ironie des Tödlichen
205
8.1.4.
Das Schreckliche als »Motive Verlust seiner Realität
212
Champfleury : »[...] toute mon ceuvre funambulesque est logique a desesperer Aristote [...]« 8.2.1. Die >Logik< der Pantomime
220 220
8.2.2. Die Beibehaltung des Prinzips des Grotesken: Die Karikatur-Referenz
229
8.2.3.
231
Der Tod: »pretexte ä litterature«
Die englischen Clowns
1.
Der style anglais·. Bewunderung und Skepsis von französischer Seite
238 238
Baudelaires comic absolu und die englische Pantomime als dessen Paradigma 2.1. Beitrag zur Pathologie der Moderne: Das satanische Lachen 2.2. Das absolute Komische: Das Hässliche als Kreation 2.3. Karikatur bei Baudelaire: Die aggressive Uberzeichnung 2.4. Baudelaire und die englische Pantomime 2.4.1. Die Gewaltsamkeit der clownesken Erscheinung 2.4.2. le vertige. Reine Dynamik als Strukturprinzip der englischen Szene - mit Rückblick auf den deutschen Diskurs
3.
200
8.1.3.
V.
2.
194 194 194
244 244 247 252 258 258 264
Die Hanlon-Lees: »les gens les plus interessantes que le siecle ait produit« . . . . 271 3.1. Erste Annäherung an die Clown-Monster: Die bedrohliche Erscheinung der theatralen Karikatur 271 3.2.
3.3. 3.4.
Zum >Realismus< der Hanlon-Lees 3.2.1. Das Prinzip der agitation·. Akrobatische Bewegung, Metropole und desinvolture 3.2.2. Thedore de Banville - > Theoretiker! der Hanlon-Lees 3.2.3. Die Szene als Nichtort und Transformationsraum 3.2.4. Die Reorganisation natürlicher Handlungsverläufe: Le Duel Die Hanlon-Pantomime unter Bergsonscher Perspektive: Mechanik und Dynamik
275 27J 281 282 284
Akrobatik und Gewalt
301
292
IX
3·4·ΐ· Pierrot terrible: Die schreckliche Figur und ihre Spieldynamik... .302 3.4.2. Die Banalität und das Bestialische 306 3.4.3. Verspieltes Mitleid, verspielter Schrecken: Die Subversion empathischer und mitleidiger Einlassung durch Tempo und Intensität 309 3.4.4. Strategien der Entnarrativierung des Schrecklichen: Befremdliche Bildsequenzen 312 3.4.5.
Wahnsinnige Akrobatik und ästhetische Autonomie
318
VII. Die Wiedergeburt der Pantomime aus dem Geist des Bösen
323
1.
Verdüsterung der Pantomime
323
2.
Decadence und Tod
326
3.
Paul Margueritte: Das Prinzip des satanischen Pierrot 3.1. Pierrot Assassin de sa Femme.
332 332
3.1.2. 3.1.2.
3.2. 3.3. 3.4.
4.
Die Wiederauferstehung des Genres Amoral und Artifizialität: Die Uberbietung des komischen
332
Typus ins Böse 333 3.1.3. Nachahmung von Distanz 337 Die Ambivalenz des Komisch-Schrecklichen und die >artifiziell-perverse< Motivation 342 Das Tragische als formaler Zwang Das erschreckende Abbild
348 354
3.4.1. Reflexion zum »Unheimlichem - unter Rekurs auf Diderot 3.4.2. La Peur. Die Angst vor dem Bild der Angst und die unheimliche Distanz zwischen Akteur und Rolle
354 357
Joris-Karl Huysmans' Pierrot sceptique - Die nihilistische Semantik der Pantomime 361 4.1. Das Vorbild der Hanlon-Lees 361 4.2. Skepsis und Nihilismus - Die narratio von Pierrot sceptique 363 4.3. Die prekäre Liaison: Sozialsatire - Schauspielmetapher - Gewaltmotiv . . 365 4.4. Die pessimistische Ver-Spielung des Ästhetischen: Pierrot als Chiffre des Todes 368
VIII. Schluss: ... mit Lustig?
374
IX. Anhang
385
1.
Pantomimen
385
2.
Literatur
389
X
Einleitung
Solventur risu tabulae, tu missus abibis
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die Kunst der französischen Pantomime, so wie sie sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunächst als rein aliterarisches Unterhaltungstheater etablierte, um ab der Mitte und verstärkt zum Ende des 19. Jahrhunderts in die Hände arrivierter Autoren überzugehen, unter der ästhetischen Kategorie des Grotesken zu erfassen. Es gilt dabei, beiden thematischen Aspekten gleichermaßen gerecht zu werden: der Pantomimenästhetik und dem Grotesken als zentralem Paradigma einer modernen Ästhetik des Hässlichen, die - wie Carsten Zelle zu Recht meint - als »brandaktueller Theorierahmen«1 auch noch fur die Tendenzen heutiger Kunst zu fungieren vermag. Hierin ist bereits eine perspektivische Differenz ausgemacht. Ist das Groteske innerhalb der aktuellen Kunst und kunsttheoretischen Diskussion eine nicht mehr wegzudenkende Größe, so ist die Pantomime in ihrer im Folgenden zu untersuchenden Form: der des auf Effekt und Amüsement abgestellten Spektakels, trotz einiger liebevoller und luzider Arbeiten zum Thema, nahezu gänzlich aus dem allgemeinen Bewusstsein verschwunden. Uber die Gründe hierfür kann spekuliert werden: Z u m einen handelte es sich bei der französischen Pantomime des 19. Jahrhunderts — zunächst — um ein Theater, das vorrangig unterhalten wollte. Sie war genuin aliterarisches >reines< Spiel, dessen artistisch und akrobatisch geschulte Darsteller im Verlass auf die Trick- und Verwandlungstechnik der Bühne auf die Erzeugung verblüffender visueller Wirkungen abzielten. Das heißt auch, dass, obwohl Szenare und Beschreibungen erhalten sind, ihr eigentlicher performativer Wert aus heutiger Sicht, also im Abstand von über hundert bzw. fast zweihundert Jahren, schwierig zu erschließen und hinsichtlich seiner Bedeutung fur eine moderne theatrale Ästhetik perspektivierbar ist. Zweitens schadete wohl das der Pantomime allenthalben aufgeklebte Etikett der >VolkskunstAuthentizität< sowie das Implikat eines demokratischem
Carsten Zelle: Ästhetik des Häßlichen: Friedrich Schlegels Theorie und die Schock- und Ekelstrategien der ästhetischen Moderne. In: Silvio Vietta/Dirk Kemper (Hrsg.): Ästhetische M o derne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik. München 1998, S. 197-234, S. 231.
1
Fonds zu attribuieren suchte. Scheinbar perfekt ließ sie sich so als Herausforderung einer offiziösen Theaterkultur und der durch sie reproduzierten symbolischen Ordnung verzeichnen. Diese Relationierung zur populären Kultur trug jedoch in dem Maße zum Verblassen der Pantomime als eigenständiger Form bei, wie mit Beginn des 20. Jahrhunderts ein performative turn einsetzte, der generell auf das Paradigma der >niederen< Unterhaltungskünste rekurrierte. Die Emphase der historischen Avantgarden auf dem ludischen Vorbild von Zirkus, Variete und Music Hall machte scheinbar eine gesonderte Rekurrenz auf eine Kunst obsolet, die bereits nach der Mitte des 19. Jahrhunderts im Ableben begriffen war, um schließlich nach einem nochmaligen Höhenflug in den 70er Jahren schließlich vollends literarisiert zu werden. Drittens und für unseren Fokus entscheidend: Bereits das für die Diskussion der Pantomime veranschlagte Bild der französischen Romantik bedarf dort, wo es auf die oben angesprochene Authentizitäts-Perspektive abstellt, dringend einer Ausdifferenzierung, die in den letzten Jahren bereits innerhalb der Forschung anvisiert wurde. Nicht nur die deutsche, auch die französische Romantik muss dezidiert unter ästhetischen Vorzeichen, d.h. hinsichtlich einer tiefgreifenden Differenz zwischen Realität/Empirie und Kunstraum befragt werden. Bereits die von Victor Hugo in seiner Preface de Cromwell unter dem Etikett des Grotesken proklamierte Tendenz auf veritehdX nichts mit vordergründiger Mimesis zu tun und ist schon gar nicht mit einer Verpflichtung der Kunst auf ein soziales oder ethisches Fundament angesichts realer Misstände zu verwechseln. Vielmehr schreibt sie sich von der Prämisse ästhetischer Transformation der Wirklichkeit über deformative Strategien her - ein Postulat, das einen genuin über- oder sogar amoralischen Fond verzeichnen lässt. Erst über solche Relationierung von Realität und Kunstraum konnte sich in der Folge ein romantischer, und in dessen Folge wiederum ein dekadenter Diskurs um die theatrale Wertigkeit der Pantomime entwickeln. Der grundlegende Topos dessen ist das Hässliche in seiner hochartifiziellen Verfassung: die Deformation als Asthetikum. Jedoch: Soll im Folgenden die Pantomime als wesentliche theatrale Ausprägung einer modernen Ästhetik des Hässlichen diskutiert werden, dann kann das nur geschehen, wenn man ihre eigenen Ansprüche zunächst ausblendet, bzw. die >Selbst-Vergessenheit< der Pantomimenkunst in dieser Hinsicht veranschlagt. Es ist nicht anzunehmen, dass etwa die Macher des Theätre des Funambules auf die Bedeutung ihrer Darbietungen für einen modernen Diskurs um das Hässliche reflektierten, sie organisierten ihre Szenen nach den Prämissen eines kommerziellen Unterhaltungstheaters und seines AmüsementWerts. Impulskraft für eine Groteskästhetik erlangte das pantomimische Spiel erst, als die Romantiker sich zum Ende der 1820er Jahre (dem eigentlichen Ausgangspunkt unserer Analyse) mit ihr zu beschäftigen begannen. Insofern ist von der schieren historischen Faktizität abzusehen, und stattdessen zu fragen, inwieweit ein romantischer ReflexionsHorizont und in seiner Folge der Diskurs um eine moderne Ästhetik des Hässlichen in dem von den Pantomimen Präsentierten einen anspruchsvollen Gegenstand fand. Isabelle Bauge etwa geht in dieser Hinsicht vom Paradigma des stummen, bewegten Körpers aus, wenn sie schreibt:
2
Cet art du silence privilegie systematiquement une vision du corps comme receptacle, c o m m e boite de Pandore de laquelle tout ce que ['imagination peut enfanter sortira. 2
Entgegen Bauges Perspektive, die, wie einige andere Arbeiten, vor allem auf den Wert der Pantomime und der in ihr präsentierten Physis fiir imaginative Entgrenzung und die Aktivierung des Unbewussten abstellt, ist weitaus stärker auf die artistischen Verfahrensweisen und Spieltechniken zu insistieren, die dem Spektakel der Pantomime sein Fundament gaben. Denn nur auf diese Weise kann die romantische und die ihre folgende dekadente Emphase ihrerseits profiliert werden. Hält man sich vor Augen, dass die Pantomime ein virtuoses Artisten-Theater war, das vor allem unterhalten wollte, so ist die romantische Vorliebe auch in dieser Hinsicht ausgesprochen ernst zu nehmen: Der im Artistischen implizierte Gedanke an eine >reine< Komik von Körper und Theatercoup, lässt es nicht, oder zumindest nicht ohne weiteres zu, einen tiefergelegten anthropologischen* Mehrwert anzunehmen, auch wenn eine solcher Reflex in einer die Pierrot-Figur metaphorisierenden Literatur im 19. Jahrhundert durchweg zu verzeichnen ist. Aber solche symbolischen Transkriptionen sind für die Analyse nur dann von Wert, wenn an ihnen das Spezifikum des Amüsierspiels mitreflektiert wurde: Dies liegt gerade in seiner genuinen Attitüde der Desinvolture gegenüber philosophischen, weltanschaulichen, moralischen, semantischen und auch imaginativen Beglaubigungen, die seinen Spielraum außerästhetisch abzusichern in der Lage gewesen wären Tatsächlich entfaltete die Pantomime gerade dort, wo sie sich als >oberflächliche< Spielkomik gerierte und also das theatrale Potenzial des Körpers quasi rein darbot, den wichtigsten Impakt für den zeitgenössischen theoretischen und kritischen Diskurs. Zugleich jedoch wird diese genuin komische Distanz vom pragmatisch Gelebten durchaus als Krisensymptom mitreflektiert. Und zwar im Hinblick auf die der Pantomime genuinen Motive. Um es vorab zu sagen: Die vorliegende Arbeit hat keine leichte Kost zu ihrem Thema. Die Pantomime im Frankreich des 19. Jahrhunderts war, auch hierin nahezu vergessen, ein Spiel, das um die bewegten Bilder von Gewalt, Mord und Totschlag, Verstümmelung, horribler Deformation, Unheimlichkeit und - nicht zu vergessen - gnadenloser Unmoral gravitierte. Zwar bezog sie ihre Komik nicht ausschließlich aus dieser Ikonographie, ihren grotesken Wert in einem von uns im Folgenden zu spezifizierenden Sinne gewann die Pantomime aber unter allen Umständen daran. Ganz generell formuliert: Die brutale Szene ist in all ihren Variationsmöglichkeiten aus unserer Sicht der eigentliche, im Laufe der modernistischen Evolution des Genres intensiver reflektierte und erschlossene groteske Kern der Pantomime des 19. Jahrhunderts. Nun läge die Vermutung nahe, dass das stumme Spiel darin in erster Linie ein relativistisches und nivellistisches Publikums-Interesse gegenüber einem Thema bediente, welches innerhalb der Lebenswelt eine ernsthafte Einlassung nahezu zwingend verlangte, dass es also eine komisch-ironische Brechung des Schrecklichen, einen comic reliefveranstaltete. Eine solche Perspektive wäre jedoch verkürzend. In ihr ist der wesentliche Umstand ausgeblendet, dass die Pantomime ein akrobatisch-technisches Spektakel war, das auf den
2
Isabelle Bauge: Pantomime, Litterature et Arts visuels. Crise de la Representation (1820-1880). Paris 1995, S. 407.
3
dynamischen Effekt des Dargestellten und seinen Überraschungs- und Verblüffungswert abgestellt war. Gerade hier scheint sich ein spezifischer Anknüpfungspunkt zur romantischen Doktrin zu ergeben. Stendhal, der erste Theoretiker der Modernität innerhalb der französischen Romantik, hatte in seiner programmatischen Schrift Racine et Shakespeare die Frage gestellt, was >Romantizismus< eigentlich bedeute, und unmittelbar im Anschluss die Antwort gegeben: Le romanticisme est l'art de presenter aux peuples les oeuvres litteraires, qui dans l'etat actuel de leurs habitudes et de leur croyances, sont susceptibles de leur donner le plus de plaisir possible.'
Die hierin geführte Volte gegen eine klassizistische Tradition fordert als ästhetische Entsprechung einen spezifisch >neuen< Begriff von Kunst generell und Drama im Besonderen: Das neue »plaisir dramatique«4 geht nicht mehr in erster Linie auf Inhalte aus, sondern ist Resultat der Inszenesetzung von frappierenden »actions energiques«5. Das hier bereits indizierte Unterlaufen der herkömmlichen Sinn-Prämisse und der Verpflichtung auf eine inhaltlich-kausal unterlegte dramatische narratio zugunsten eines ins Energetische tendierenden Aktionsbegriffes gewährt prinzipiell auch dem Hässlichen, wofern es nur den erwünschten Effekt garantiert, Einlass in die Kunst. Hier deutet sich bereits an, inwieweit sich in der Folge auch der Begriff des komischen Plaisirs innerhalb der romantischen Moderne verschieben wird: Er kommt nicht daher als Aufweis einer Ironie-Ubereinkunft zwischen Kunstwerk und Rezipient, zwischen Bühne und Saal. Es geht nicht um eine Semantik des ironischen Bruches prekärer Gegebenheiten, die auf reflexivem Wege humoristische Erleichterung schafft. Vielmehr sucht eine Kunst, durch welche die Vorstellung einer Plaisir erregenden energetischen Aktion eingelöst wird, entlang der komischen Präsentation des Schrecklichen und Difformen frappierende Wirkungen zu stellen, die den Betrachter in besonderem Maße affizieren. Gerade die Pantomime konnte dieses Desiderat einlösen, weil ihr komisches Spiel von vorneherein keines der gelehrten Belustigung war, sondern eines, in dem auf das schiere Substrat an dynamischer Körperaktion gesetzt wurde. In dieser Purifikation der komischen Deformation von jeglicher Außenabsicherung ist in der Tat immer auch tief greifende Irritation impliziert. Das gilt es zu betonen. Denn was bereits in der frühen Form der Pantomime um das Jahr 1820 herum strukturell angelegt ist, wird in der Folge seine theoretische Fassung und vor allem seine prekäre Markierung finden: Das um das Gewalt- und Difformationsmotiv herum organisierte stumme Spiel tendiert zu einer intensiven Eindrücklichkeit, die unter anderem der mit allen Wassern des Immoralimus gewaschene Baudelaire als >Gewaltsamkeit< beschreiben sollte — hierin eine theoretische Perspektive Adornos vorwegnehmend. Komisch-groteske Deformation, die nichts will (außer unterhalten), kommt einem genuin >lizenzlosen< aggressiven künstlerischen Aneignungs- und Transformationsgestus gleich, dessen ästhetische Selbstgenügsamkeit und Unbekümmertheit angesichts der Exploitation schrecklicher
3
Stendhal: Racine et Shakespeare, fitudes sur le Romantisme. Paris 1915, S. }zf.
4
Stendhal, Racine et Shakespeare, S. 6.
5
Stendhal, Racine et Shakespeare, S. 2.
4
Motive hochirritativ wirkt: Die im Groteskkomischen ausgespielte Distanz zur Realität und Faktizität des Schrecklichen wird selber bedrohlich. Und umso prekärer ist das, weil ihr nach wie vor die an dieser Distanz im Betrachter entzündete Wirkung ästhetischer Lust beikommt. In der Tat löst die Pantomime damit die wesentliche Strukturprämisse des modernen Grotesken ein, das sich erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts vollends zu einer Kategorie entwickelte, in der die Erregung von Schrecken unauflöslich an die komische Deformation selbst gebunden ist. Und alle in der Kategorie implizierten Problematiken — sowohl ästhetischer als auch ethischer Natur - enthält auch das stumme Spiel nukleushaft. Nun ist damit die theoretische Strukturierung der vorliegenden Arbeit eingeholt. Weder die bloße Addition von Komik und Schrecken noch die Rückführung von Lachen und Grauen auf einen theoretisch vorgefassten Rahmen, etwa psychologischer Art, kann die Tragweite dieser Problematik erschließen helfen. Vielmehr ist die wesentliche theoretische Prämisse, die These, dass sich über die komische Transformation des Empirischen eine Distanz herstellen lässt, die selber irritatives Potenzial entbindet, in einer Vorabeinlassung auf den ästhetischen Diskus der Moderne, wie er sich um 1800 etabliert und in der Folge eine Wirkung bis heute entfaltet, zu entwickeln. Dabei ist aus wesentlichen Gründen auch dem nicht-französischen und speziell dem deutschen Diskurs gebührender Raum zu gewähren. Zum einen und ganz generell, weil sich sämtliche Perspektiven einer modernen Ästhetik aus übernationalen Zusammenhängen ergeben haben. Weiters, weil die Vorstöße der französischen Romantik deutlich von deutschen Reflexionslagen beeinflusst sind. Und schließlich im ganz Besonderen, weil der Gedanke an eine prekäre Dimension des Modus ästhetischer Distanzierung sich zentral einer Lektüre deutscher Asthetiktheorie entnehmen lässt. Die Proliferation des Grotesken kann in der Tat als Folge einer dialektischen Radikalisierung des klassischen Paradigmas von der Autonomie des ästhetischen Raumes begriffen werden. Bereits Hegels Systematik lässt, so wird es unsere Analyse zeigen, eine dem Wahren und Guten von Seiten des Ästhetischen drohende Gefahr relativ offenkundig werden. Und zwar ausgerechnet in Gestalt des Komischen. Im Umkreis der deutschen Romantik werden die von Hegel gehegten Dünkel eine positive Transkription erfahren. Das Hinüberwirken dieser Tendenz ist ein weiterer Grund fiir die raumgreifende Untersuchung des deutschen Beispiels: Baudelaire, dessen Groteskauffässung ob ihrer Luzidität unverständlicherweise keinen weiteren theoretischen Impakt entfaltet hat, wird etwa in seiner Affirmation explizit und implizit auf deutsche Vorbilder (Hoffmann, Tieck, Schlegel) rekurrieren. Und schließlich: Es geht vorliegender Untersuchung darum, eine Alternative zu solchen Theorieansätzen zu liefern, die - zumeist im Rekurs auf Bachtin - das Groteske als >die bessere Komik< entlang einer Systematik der Difformen zu fassen suchen, also etwa anhand des bekannten ikonographischen Dreierpools von >HyperbolisierungVerkehrung von Oben und Unten« und >Hybridbildungästhetischen Scheinens< verleiht, die es allererst zum Gegenstand des Plaisirs werden lässt.
5
Es geht mithin darum, die >dunkle< Seite des Amüsements und die erschreckende Dimension des Lachenerregenden aufzudecken. Dass diese gerade dort liegt, wo auch die >Unschuldsvermutung< gegenüber dem komischen Spiel anzubringen ist: in seiner Sorglosigkeit gegenüber dem ethischen Einwand, wird zu zeigen sein. Was das perspektivischen Etikett »französische Pantomime< betrifft, so gilt es zwei Annoncen zu machen: Zum einen wird die Arbeit stets um den Zusammenhang von Pantomime und moderner Ästhetik des Hässlichen gravitieren. Mithin werden dort, wo der zeitgenössische Pantomimendiskurs wesentlich zur Profilierung anderer Genres beiträgt, die sich dem Difformen verpflichtet haben, solche Bezüge herausgestellt werden — et vice versa. Das betrifft etwa den engeren ludischen Bereich der Circusclownerie, jedoch auch das bildgestalterische Medium der Karikatur. Damit ist auch gesagt, dass die historische Theorie des Grotesken und Hässlichen, wofern sie - wie im Falle Baudelaires und Gautiers - Reflexe seitens des stummen Spiels verzeichnen lässt, immer wieder in den Fokus gerückt wird. Die zweite Annonce betrifft das nationale Adjektiv: >Französisch< weist auf »Spiel auf französischem BodenPrinz< der damaligen Kritik, Jules Janin, um das akrobatische Aktionssubstrat der zeitgenössischen Pantomime zu bezeichnen. Zum anderen diente der Begriff Adorno zur Konzipierung seiner Ästhetik. Er begreift den akrobatischen Akt, das körperliche Kunststück, das sich selbst genug ist, als strukturelle Metapher für den Fond jeder Kunst. Es dient ihm dermaßen auch als Kritikbegriff am genuin gewaltsamen Gestus, der in ästhetischer Gestaltung generell liegt und der, als solcher ausgestellt, eine neue Qualität des Hässlichen innerhalb der »verfinsterten Moderne< anvisieren lässt: Hässlichkeit, wo sie dargestellt wird, wird zum impliziten Einbekenntnis, dass dem Ästhetischen als einem Ergebnis der Transformation des Empirischen das Grausame inhäriert. Insofern wir es also mit einem nach allgemeinem Empfinden durchaus problematischen Gegenstand zu tun haben, soll nach der Diskussion der Grotesktheorie bis zu Hugo eine kritische und theoretische Perspektivierung im Ausgang von Adorno erfolgen. Die im Anschluss daran begonnene Auseinandersetzung mit der Pantomime wird entsprechend gleich am wesentlichen Differenzkriterium der französischen zur deutschen Ästhetik des Hässlichen festmachen. Geht es in letzterer vorrangig um die bewusstseinsmäßigen und wirkungsästhetischen Implikate eines ästhetisch autonomen Hässlichen, so wird eine solches >In-die-Distanz-Rücken< dort besonders heikel, wo es, wie in Frankreich, auf einen der gesellschaftlichen Realität abgeschauten Motiworrat zurückgreift. Mit anderen Worten: Die flottierende Gewaltikonographie der französischen Pantomime ist nicht vom Trauma der französischen Revolution und der sie arrondierenden gesellschaftlichen Umwälzungen und Wertsklerosen zu denken. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts 6
wird sich eine spezifische Relation von pantomimischem Kunstraum und Faktischem immer wieder ergeben, allerdings keinesfalls im Sinne klassischer mimetischer Referenz, sondern in Form einer Transformation, die den terreur ebenso verspielt wie sie ihn spielerisch erzeugt. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass weder die moralinsaure Kritik einer großartigen Kunstform Pantomime noch die Demontage der ihr entsprechenden ästhetischen Kategorie des Grotesken angestrebt ist. Im Gegenteil geht es darum, das theatrale Potenzial einer grausamen Komik durchweg ernst zu nehmen und es dementsprechend in all seinen Nuancen zwischen Spielerischem und Prekärem zu reflektieren.
7
II.
Theoretische Fokussierung
i.
Kritischer Überblick über die Grotesktheorie: Zwischen Semantik und Sinnlichkeit
Das Problem der Groteskforschung und -theorie war von Beginn an die Polyvalenz des Begriffes und die damit einhergehende Vielfältigkeit des Untersuchungsgegenstandes. Beklagt bereits der Urvater der germanistischen Auseinandersetzung mit dem Grotesken, Wolfgang Kayser 1957 das weite Felds »das unser Wort da decken muß«1 und resümiert Steig dreizehn Jahre später »Es hat etliche Versuche gegeben, das Groteske systematisch zu untersuchen und zu definieren, aber dem Gegenstand umfassend gerecht zu werden, gelang dabei nicht.«2, so schlägt Buck noch einmal achtzehn Jahre später vor, den Begriff des Grotesken »so zu bestimmen, dass er sich als Instrument der Literaturwissenschaft verwenden läßt. Begriffsbestimmung bedeutet in diesem Fall Begriffsbegrenzung.«3 Die erfolgten Systematisierungsversuche konnten dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Wort grotesk im Künstlerdiskurs wie in der theoretischen Reflexion selber auf außerordentlich vielfältige Weise verwendet wurde: Synonym fiir jegliche Form extremer und/oder deutlich zu Tage tretender Deformation wird es semantisch mit dem Erhabenen, dem Grobkomischen, dem Wunderbaren und Phantastischen, dem Sonderbaren, dem Exzentrischen sowie dem Unheimlichen kurzgeschlossen und bietet der systematischen und historischen Aufarbeitung ein schier unerschöpfliches Feld an divergenten Ausprägungen und Signaturen. Geoffrey Galt Harpham bringt dieses Faktum unscharfer Assoziierbarkeit auf den Punkt, wenn er schreibt, es sei zwar »relatively easy to recognize the grotesque >in< a work of art, but quite difficult to apprehend the grotesque directly.«4 In all den theoretischen Bemühungen schlägt negativ zu Buche, dass das Groteske kein Substanzbegriff ist, sondern immer nur Artikulation einer erfahrenen »Dekomposition symbolisch-kultureller Ordnungsstrukturen«5, die jedoch als solche immer abhängig ist von den innerhalb einer Gesellschaft herrschenden Wertsystemen. Diese genuine Relativität der ästhetischen Figur des Grotesken, die ihre Entsprechung im historisch wie
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Wolfgang Kayser: Das Groteske. Seine Gestaltung in Dichtung und Malerei. Oldenburg/Hamburg 1957, S. 29. Michael Steig: Zur Definition des Grotesken: Versuch einer Synthese. In Otto F. Best: Das Groteske in der Dichtung. Darmstadt 1980, S. 69—84, S. 69. Theo Buck: Das Groteske bei Büchner. In: fitudes germaniques 1/1988, S. 66—81, S. 66. Geoffrey Galt Harpham: On the Grotesque. Strategies of Contradiction in Art and Litterature. Princeton 1982. S. XVI. Peter Fuß: Das Groteske. Ein Medium kulturellen Wandels. Köln/Weimar/Wien 2001, S. 147.
subjektiv je anders gelagerten apperzeptiven Vermögen der jeweiligen Betrachter findet, lässt es lediglich zu, als Konstante die Verbindung einer spezifischen Art der ästhetischen Deformation mit einer durch sie evozierten Irritation zu veranschlagen, zu welchen formalen oder inhaltlichen Bedingungen sie auch statthaben, zu welchen Zwecken auch immer sie beansprucht werden mag. 6 Tatsächlich ist Peter Fuß darin zuzustimmen, dass die Kategorie des Grotesken insofern selbstreferentiell ist, als sie innerhalb ihrer Diskursgeschichte immer der begriffliche Platzhalter für jede Art von Phänomenen war, die innerhalb eines historisch vorgegebenen und sozial reglementierten Rahmens von Erfahrung, Verstehen und ästhetischem Empfinden dessen Störung und Negation vorstellen: Die Abhängigkeit des Grotesken vom Klassischen [gemeint ist ein jeweils überkommener ästhetischer K a n o n sowie sein weltanschaulicher F o n d ; der V e r f . ] schlägt sich in den gängigen Interpretationen des Grotesken nieder, die ihren Gegenstand meist durch Worte mit negierendem Präfix beschreiben. Rosenkranz spricht von >AmorphieAsymmetrieUnheimIiche[n]Neuzeitmodernen MenschenBien-PensantsHochkonjunkturphasen des Groteskem und bindet die entsprechenden F o r m e n (im Sinne von ästhetischen Indikatoren) zurück an den »Fortschritt der Naturwissenschaften, die industrielle Revolution, die Entthronung des Subjekts im Z u g e der psychoanalytischen Postulierung des Unbewußten u n d der sozialistischen Kollektivierungsprojekte sowie die V e r k ü n d u n g des Gottestodes durch Nietzsches >tollen Menschern«' 7 . Entsprechend stellen die (offensichtlich der Bachtinschen Systematik entlehnten) M o d i grotesken Gestaltens - Verkehrung der Relation von H o c h u n d Niedrig, Verzerrung der Gestalt u n d V e r m i -
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'4 15 16
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Klaus Völker: Das Phänomen des Grotesken im neueren deutschen Drama In: Reinhold Grimm: Reinhold Grimm (Hrsg.): Sinn oder Unsinn - Das Groteske im modernen Drama. Basel 1962 (Theater und Zeit Band 3). S. 9-46, S. 45. Wolfgang Kayser, Das Groteske, S. 200. Karl S. Guthke: Die moderne Tragikomödie — Theorie und Gestalt. Göttingen 1968, S. 82. Guthke, Tragikomödie, S. 80. Diese Korrelation hatte schon vorher, z.B. bei Klaus Völker, zu einer undurchschaubaren Veramalgamierung grotesker Stil- und absurder Inhaltsmomente geführt. Vgl. dazu: Klaus Völker: Groteskformen des Theaters. In: Akzente 7/1960, S. 321-339. Fuß, Groteske, S. 93. II
schung einander heterogener Bereiche — die ästhetischen Vehikel bereit, um diese epochalen Umbrüche gleichsam zu objektivieren18: Historische Umbrüche forcieren die Liquidation der traditionellen Gesellschaftsstrukturen, der überlieferten Relationen zwischen den Elementen (Mitgliedern, Institutionen, Normen) einer Gesellschaft, durch die Kollision und Überlagerung (Vermischung) diachron verschiedener Kulturformationen. Die Hochkonjunkturphasen des Grotesken sind nicht zufällig im Umfeld der von Foucault analysierten Brüche der >episteme< angesiedelt. Diese Brüche sind Effekte jener Karnevalisierung des Bewußtseins, die Bachtin zufolge historischen Umbrüchen vorangeht, genauer: sie begleitet und forciert. 1 '
Fuß' Ansatz steht exemplarisch für die Post-Bachtinsche Phase der Groteskforschung, in der die beschriebenen Momente von ästhetischer Irritation als Ausdruck einer bewusstseinsgeschichtlichen Krise zugleich das Ende der Epoche idealistischer Sinnverbindlichkeit und der entsprechenden Ideologie einläuten und darin eine positiv-revolutionäre Fassung gewinnen. Der von Bachtin allenthalben übernommene Begriff der »Karnevalisierung« veranschlagt das Groteske nicht nur als ästhetisches Ergebnis eines Bewusstseinswandels, sondern als semiotischen Index derjenigen gesellschaftlichen und bewusstseinsgeschichtlichen Gehalte, die mit der Karnevalisierung verbunden sind. Die vom Grotesken nach Fuß geleistete »Strukturliquidation« durch die »anamorphotische Verzerrung«20 hat in diesem Sinne immer die Tendenz zur Transzendierung des ästhetischen Rahmens: Sie markiert die Disponsibilität der bisherigen auf Identitätslogik gegründeten Anthropologie zugunsten einer neuen — natürlich ihrerseits weltanschaulich befrachteten - Auffassung vom Menschen als eines >dezentrierten Subjekts< oder zumindest als einer ambivalent gewordenen Ich-Identität. Bachtins berühmte Grotesktheorie, die er in Auseinandersetzung mit dem Werk Rabelais' entwickelte, stand generell Pate fur eine gut postmoderne Emphase auf dem Wert des Grotesken als einer »nicht zum Schweigen zu bringende[n] Energie des alternativen Appells«21. Die kulturkritische Beglaubigung des Hässlichen stellt dabei zentral auf das Implikat eines materiellen Fond jeglicher gesellschaftlichen Zeichenpraxis ab, der im grotesken Werk zu Bewusstsein gebracht würde. Bachtin fasst diesen Vorgang als ridikülisierende Herabsetzung, als >ProfanierungVerkehrung< oder >DegradierungRealismus des Difformengrotesken Leibesgefiihlten< Austausch von Identität und Alterität kommt. Das Groteske »wirkt [...] der Abgrenzung von den materiell-leiblichen Wurzeln entgegen, verhindert Absonderung und Sich-Verschließen, abstrakte Idealität und alle Ansprüche auf eine von Körper und Erde befreite, unabhängige Bedeutsamkeit,«19 Diese oszillative Relation wird aber in der Folge begriffen·. Denn Bachtins Ansatz betreibt explizit eine Übertragung des Leib-Konzeptes in den Raum der Literatur, bzw. er entnimmt es dieser in Gestalt des Rabelaischen Werkes. Die Veranschlagung der medialen Distanz des Geschriebenen von realer Körperlichkeit bei gleichzeitiger Beibehaltung des Materialitäts-Konzepts terminiert letztlich in einem Umschlag der einmal gemachten a-diskursiven Erfahrung in einen Erkenntnisprozess, ein Umstand, der dem Bachtinschen Ansatz in der Folge seine soziale
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Bachtin, Rabelais, S. 67.
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Bachtin, Rabelais, S. 79.
25
Vgl. Lachmann in Bachtin, Rabelais, S. 39.
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Bachtin, Rabelais, S. 76.
27
Bachtin, Rabelais, S. 100.
28
Bachtin, Rabelais, S. 425.
2
Bachtin, Rabelais, S. 69.
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und politische Signifikanz sicherte. Die Metaphorik eines entgrenzten Leibes und materieller Fonds fuhrt zu neuen Erkenntnisbereinkünften. Bachtins Grotesktheorie ist somit ein optimistisch-utopistisches Konzept: Die >heitere Relativität, die nach ihm von Karneval, karnevalistischer Literatur und Lachkultur vermittelt wird, bedeutet eine Gegensozialisation zum jeweiligen herrschenden Normsystem und den Versuch, mit einem das europäische Denken prägenden »Vertikalismus der Wertvorstellungen«30 zu brechen, der nicht zuletzt das ideologische Fundament für die westliche Klassengesellschaft abgibt. Ein Umstand der den Marxisten Bachtin innerhalb der postmodernen marxistischen Exegese, die sich von den überkommenen sozialistischen ideologischen Zwangsverpflichtungen und ihrer katastrophischen Real-Existenz zu emanzipieren suchte, so populär machte ( - war doch die historische Ausgangslage, in der Bachtin sein Konzept verfasst, die der postrevolutionären Avantgarde in Russland angesichts der Sklerose des Kommunismus im stalinistischen Regime). 31 Die »unlösbare Bindung an die Freiheit«32, die Bachtin dem Lachen ob des Grotesken zuerkennt, ließ das Konzept jedoch in der Folge über den geographischen und ideologisch-historischen Rahmen hinaus zum Paradigma einer Ästhetik avancieren, die im Dienste gesellschaftlicher Emanzipatorik auf das kreative Potenzial des von Normierungen freigestellten Körpers abzielte (wobei >Körper< metaphorisch für jedes signifikante ästhetische Material steht).33 Markante Spuren hat Bachtins Konzept etwa bei Julia Kristeva hinterlassen, die als eigentliche Transkriptorin seiner Gedanken in den Kontext einer poststrukturalistischen Ästhetik betrachtet werden kann. In Bezug auf das Lachen angesichts moderner, auf einen somatischen Fond rekurrierender Textpraxis schreibt sie: Lachen ist das, was Verbotsschranken hebt, was in das (vom Schöpfer symbolisierte) Verbotene eindringt und den zerstörerischen, gewaltsamen, befreienden Trieb in es hineinträgt. W e n n sich dieser Widerspruch aber im Subjekt vollzieht, hat dieses nichts zu lachen [...]. Das >IchIchSchuldhaftigkeit< der ästhetischen Moderne zuträgt) eine folgenschwere Verflachung und vordergründige >Re-Bachtinisierung< gefunden, gerade wenn es über die theoretische Erfassung hinaus um die revolutionär-utopistische Funktionalisierung des Komischen und Grotesken ging. Die dem ästhetisch hergestellten Groteskkomischen wesentliche Dialektik von Rationalität und Inkommensurabilität blieb in dem Maße unerkannt, wie das kreative Potenzial, das in der komischen und grotesken Irritation beschlossen ist, vorrangig aus der angenommenen Relation zum Nur-Sinnlichen erklärt wurde. Damit war zumeist einer Anthropologie des Irrationalen Vorschub geleistet, in der die nichtsozialen Komponenten des Subjekts mit dem Lebendigen schlechthin identifiziert wurden: Das Groteske wird so etwa als »Zueinander sachlicher und personaler Gegenstandsbedeutung« 35 an der Leitlinie der modernen Diskurskritik bestimmt, der gemäß die generelle Abhängigkeit des Menschen von Sprache und Zeichen Indiz einer unlöslichen, in der Moderne neuerlich untermauerten Rückbindung an die Autorität des Unbewussten und Verdrängten ist.3(5 Auch wenn dem Grotesken als modernem künstlerischen Gestus die rationale Verfasstheit im Rahmen einer ästhetisch-symbolischen Ordnungsstruktur attestiert wird
37
, so wird sein Zweck doch vorrangig in der Offenlegung des Verdrängten
bestimmt, als eine auf das anthropologische Substrat verweisende »Artikulation des Triebeinbruchs in die Ordnung des Signifikanten« 38 . Fluchtpunkt der Argumentation ist denn, auch noch in jüngeren Ansätzen, die gesamtkulturelle und existentielle Signifikanz des Aberranten, dem, auch wenn es als bedrohlich empfunden wird, dennoch die alternative Dynamik zukommt: Die etwa von Patrick West analysierten grotesken Texte beförderten »to the >insideNihilismus< dieser A r t avanciert letztlich zum utopistischen K o n z e p t i m R a h m e n einer ästhetischen Befreiungsideologie. 4 2 D i e Prominenz des Theaters als eines Ortes zur A u f d e c k u n g des psychischen R a u m e s innerhalb der a n g e s p r o c h e n e n T h e o r i e b i l d u n g , die ihrerseits a u f die p r o p a g a n d i e r t e
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Thomas Immelmann: Der unheimlichste aller Gäste. Nihilismus und Sinndebatte in der Literatur von der Aufklärung zur Moderne. Bielefeld 1992, S. 176. Immelmann, Nihilismus, S.202. Bereits in den 70er Jahren finden sich ganz analoge Freudianische Ansätze, die das Lachenerregende des Grotesken generell vorrangig unter dem Subversivitäts-Kriterium einer vor allem semantiscb-referentiellen Positivierung des Negativen, des Abständigen und Ausgegrenzten gefasst hat. So bestimmte z.B. Carl Pietzcker im Jahre 1971 in einem prominenten, auf die Freudsche Triebtheorie rekurrierenden Aufsatz (Das Groteske. In: Otto F. Best: Das Groteske in der Dichtung. Darmstadt 1980, S. 85-102) das Groteske als über die formale Verformung ins Werk gesetzte 'Struktur der Weltbegegnungs die eine — je nach historischem Werthorizont unterschiedlich ausfallende — unaufgelöste Diskrepanz zwischen normaler Deutungsweise und grotesk Dargestelltem stiftet. Das Lachen über das Groteske befreie, so Pietzcker dermaßen von gesellschaftlich vorgegebenem Sinn: »Es greift ihn an und löst sich, indem es ihm eine Niederlage beibringt, in anarchischer Lust von seiner Autorität.« Indem Pietzcker aber die über den ästhetischen Abstand evozierte Irritation, »das Versagen unserer Wekorientierung« ganz klassisch als einen Akt des Bewusstseins ausgab, die einen selbstkritischen Abstand des Betrachters zu seiner Verstehens- und Empfindenspragmatik, zu einmal verfestigten Wahrnehmungsschemata (Normen ästhetischer und moralischer Art) ermögliche, konnte der einmal über die ästhetische Deformation erfolgte identifikatorische Bruch des Betrachters mit seiner Weltorientierung in deren gehaltlicher Erweiterung aufgehoben werden: Entsprechend resultierte bei Pietzcker eine moderne semantische Satireversion des Grotesken, deren eigentlicher Fluchtpunkt neben der Destruktion des Bestehenden die gehaltliche Würdigung des Abständigen und die Erweiterung des Sinnbereichs um den Aspekt des ihm vormals Heterogenen war: »Die anarchische Komponente des Grotesken bringt es mit sich, dal? die grotesken Werke in unserer patriarchalisch strukturierten Gesellschaft häufig von Sexualität und Verbrechen bestimmt sind; denn das in einer Gesellschaft von der Autorität Verdrängte ist, wenn es ins Bewußtsein tritt, am besten geeignet, den von jener Autorität getragenen Entwurf in Frage zu stellen.« (S. 103). Vgl. auch neuere Ansätze, die im weitesten Sinne auf Bachtin und die Bachtin-Exegese rekurrieren. Etwa: Katrin Kröll: Der schalkhaft beredsame Leib als Medium verborgener Wahrheiten. Zur mittelalterlichen Bedeutung von Entblößungsgebärden in Bildkunst, Literatur und darstellendem Spiel. In: Katrin Kröll/Hugo Steeger (Hrsg.): Mein ganzer Körper ist Gesicht. Groteske Darstellungen in der europäischen Kunst und Literatur des Mittelalters. Freiburg i.Br. 1994, S. 239-294; Soren Kaspersen: Körper, Trieb und Leibesdenken. Z u einigen Moralitäten der Gruppe von Everlöv-Brarup. In: Katrin Kröll/Hugo Steeger (Hrsg.): Mein ganzer Körper ist Gesicht. Groteske Darstellungen in der europäischen Kunst und Literatur des Mittelalters. Freiburg i.Br. 1994. S. 193-214.
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Theatralisierung der Künste innerhalb der Avantgarden rekurriert, ergibt sich zwangsläufig aus dem performativen Wert, der zum einen dem Körper im hic et nunc seiner Live-Präsentation auf der Bühne sowie zum anderen der theatralen Zeichendichte bei der Konstitution einander im Laufe der Präsentation abwechselnder >Sinnbilder< zukommt. Die Szene avanciert damit im 20. Jahrhundert zu einem Freiraum, in dem Bedeutungsbildung als Zusammen- und Widerspiel von Signifikanz und körperlich-materieller Eigenpräsenz erprobt und nachvollzogen wird. Dermaßen verwundert es nicht, wenn auch Theorien zur Bühnenwirkung des Komischen und Grotesken vorrangig diesen Aspekt herausstellen, ergibt sich doch in dem Gedanken an einen von signifikanter Materialität konstituierten »Spielraum eigenwilliger Imagination«43 eine nahezu vollständige Konvergenz zwischen beiden Perspektiven. Lohr z.B. sieht das theatrale Komische als >Thematisierung des Werdens von BedeutungPraxis< des leeren Subjekts.«44 Solche kurzzeitige Entpragmatisierung verleiht der komischen Szene nach Lohr ihr antizipatorisch-utopistisches Potenzial, es gilt dass »die komische Praxis auf eine »pragmatisch freie Gesellschaft hinweisen und ein >neues Verständnis< freisetzen kann, wie in der Komödie eine im »utopischen Sinne erwünschte Wirklichkeit« hergestellt werden kann.«45 Auch Greiner geht davon aus, dass die komische Technik eines selbstreflektierten Spiels den Rezipienten vor allem mit dem Vorgang der Zeichenbildung und dem dahinterliegenden Triebsubstrat, einer »Bedeutungslust« konfrontiere, wobei herrschende Sinnsysteme »entmächtigt und damit ein »Spielraum« im Feld der Bedeutung (»Ambivalenz«, »Dementierung des einen Sinns« im Verständnis Bachtins) eröffnet« werde.46
4)
Rolf Christian Zimmermann: Der Dichter als Prophet. Grotesken von Nestroy bis Thomas Mann als prophetische Seismogramme gesellschaftlicher Fehlentwicklungen des 20. Jahrhunderts. Tübingen/Basel 1995, S. 50.
44
Günther Lohr: Körpertext. Historische Semiotik der komischen Praxis. Opladen 1987, S. 4. Lohr, Körpertext, S. 5. Bernhard Greiner: Die Komödie: eine theatralische Sendung. Tübingen 1992, S. 7. Greiners Ansatz ist eine Übertragung des Bachtinschen Konzeptes der Karnevalisierung auf die Praxis der Komödie. Wenn im Laufe dieser Arbeit immer wieder vom Grotesken und Komischen im gleichen Atemzug gesprochen wird, so ist damit der modernen Theorie des Komischen begrifflich Genüge getan, die sich wesentlich auf die Bachtinsche Groteskkonzeption stützt. Das Groteske ist demnach Paradigma fur das Komische in der Moderne schlechthin. Spuren von Bachtins Karnevalskonzept finden sich u.a. bei Roland Barthes, der in seiner Dividierung eines »entgegenkommenden« (d.h. abgeschlossenen, repräsentativen) von einem »stumpfen« (d.h. offen-bewegten) Sinn, letzteren folgendermaßen definiert: »er gehört zur Familie
45 46
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Im Zentrum derartiger Überlegungen (die, was exemplarisch ist, keine Scheidung von Komik und Groteske aufmachen), steht die Annahme, der menschliche Körper und die Materialität der am Theater beteiligten Signifikantensysteme (mithin das entscheidende Differenzkriterium zwischen Theater und den anderen Künsten) erfahre auf der komischen Szene eine Promotion. Die synchrone Vorstellung von signifikanten Zeichen, die zu vergeben der Körper Instrument ist, und der realen Körperlichkeit der Darsteller selber, also das dem sekundären modellbildenden System Theater wesensimmanente »Prinzip der Doppelung« 47 wird auf der komischen Szene insoweit zugunsten des zweiten Aspektes verschoben, als sich hier »der Körper mit seinem Lustanspruch - der dargestellte Körper wie der reale Körper des Schauspielers - an der unterwerfenden Macht, den Ordnungsund Sinnsystemen, gerade geltend«48 mache. Das Manko dieser Argumentationen ist, dass sie, obwohl im Hinblick auf Drama und Theater entworfen, die schiere Visualität des in Szene gesetzten Körpers als eigenständiges Phänomen nicht ernst genug nehmen. Die theatrale >Entfesselung< des Leibes wird schließlich und endlich immer zugunsten des weltanschaulichen Signifikats >Sinnlichkeit< und seiner kritischen Qualität ausgeblendet. Dass Theatralität und der ihr grundgelegte Modus der Transformation auch das Körpermaterial ins radikal Andere verwandeln könnten und dass dieser A k t als solcher die eigentliche Herausforderung an eine Ästhetik des Theaters wie des Grotesken darstellt, bleibt außer Betracht. Zwar hat sich seit den 1980er Jahren im Rahmen der Etablierung der PerformanceBegriffes eine Diversifikation von (theaterwissenschaftlichen) Konzepten zur Körperlichkeit ergeben, die deren Realitätswert teilweise in Frage stellen. Innerhalb avancierter Performativitäts-Theorien, wie etwa der von Erika Fischer-Lichte, wird dem Körper als physiologischem Angelpunkt jeder Darstellung jedoch nach wie vor die fundamentale Rolle zuerkannt. 49 Auch theaterwissenschaftliche Reflexionen auf den Wert des komisch in Szene gesetzten Körpers stellen immer noch vorrangig auf dessen materielle Dimension ab. Manfred Pfister etwa schreibt in Bezug auf Becketts Komik: Die physiologische Orientierung dieser impliziten, performativ vermittelten Theorie des Lachens zeigt sich schon darin, daß sein Theater Lachtheater in dem Maße ist, in dem es Theater der Körper ist. Seine Figuren und sein Publikum zum Lachen zu bringen, bedarf es keiner elaborierten
der Wortspiele, der Possen, der nutzlosen Verausgabungen; von moralischen oder ästhetischen Kategorien [...] unberührt, steht er auf der Seite des Karnevals.« Roland Barthes: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Frankfurt a.M. 1990. Im selben Sinne wird das Groteske als auf Ambivalenz basierendes transästhetisches Erkenntnismodell gefasst, etwa von: David K. Danow: T h e Spirit o f Carnival. Magical Reclaims and the Grotesque. Kentucky 1995. 47
Greiner, Komödie, S. 5.
48
Greiner, Komödie, S. 6.
49
Vgl. etwa Erika Fischer-Lichte: Performance Art and Ritual. In: Theatre Research International Z2/1997 [Suppl.], S. 22-37, S. 33; Erika-Fischer-Lichte: Entgrenzungen des Körpers. Uber das Verhältnis von Wirkungsästhetik und Körpertheorie. In: Erika Fischer-Lichte/Anne Fleig (Hrsg.): Körperinszenierungen. Präsenz und kultureller Wandel. Tübingen 2000, S. 19-34; sowie generell: Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2004, S. 129—239: iZur performativen Hervorbringung von Materialität«.
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komödienhaften Verwicklungen oder komisch doppelbödiger Situationen. Das Ausspielen ihrer Körperlichkeit reicht. 50 E i n e a n g e n o m m e n e sinnliche Realität des Körpers, die sich in ihrer Sinnferne ideologischen Z u s c h r e i b u n g e n j e d e r Art widersetzt, ist auch der wesentliche N e x u s zwischen einer n a c h wie vor aktuellen T h e a t e r t h e o r i e , der T h e o r i e des K o m i s c h e n u n d V e r s u c h e n , die historische europäische Avantgarde systematisch zu beschreiben: Bereits R o l a n d
Barthes sah
in einer n i c h t ideologisch funktionalisierbaren K ö r p e r l i c h k e i t den eigentlichen E r m ö g l i c h u n g s g r u n d für Avantgarde. 5 1 D i e einmal gesetzte Prämisse gewann in d e m M a ß e utopischen C h a r a k t e r , wie sie als Aufforderung betrachtet wurde, den Körper aus seinem an die Ich-Identität gebundenen Zeichencharakter qua ästhetischer D e f o r m a t i o n zu befreien, u m durch diese inszenierte Abweic h u n g von der kulturell codierten K ö r p e r n o r m antizipatorisches Potenzial zu entbinden. S o bestimmt Boris Groys etwa den gesellschaftsrelevanten Fluchtpunkt einer avantgardistischen »monströsen H e i t e r k e i t wie folgt: » M a n k a n n D e n k w e i s e n , Kunststile, Ideale, W e r t e u n d soziale Verhältnisse so viele und so oft ändern, wie m a n nur will - w e n n man die Beschaffenheit des menschlichen Körpers nicht ändert, bleibt auch alles andere, wie es immer war.« 5 2 Ein derartiger F o k u s erlaubte es, M a n i f e s t a t i o n e n des ästhetisch Hässlichen, also auch das G r o t e s k e , d e m » P r o g r a m m einer unverschämten Sinnlichkeit« 5 3 einzuschreiben. D e r i m deformierten körperlichen M e r k m a l ausgestellten Materialität als einer »exzessive[n] A b w e i c h u n g von der N o r m physischer Integrität« 5 4 u n d d e m physischen » E x t r e m i s m u s des M o n s t r u m s « 5 5 wurden z u m einen die Relativierung der jeweiligen gesellschaftlichen N o r m zugetraut, z u m anderen verband sich d a m i t - g e m ä ß der E t y m o l o g i e des W o r t e s monstrum i m S i n n e von » W u n d e r z e i c h e n « - eine H o f f n u n g a u f die E r s c h l i e ß u n g bis dato unerschlossener S i n n b e z i r k e u n d realer H a n d l u n g s o p t i o n e n . 5 6 D e r G e d a n k e , a u f der B ü h n e k ö n n e (»unterdrückte«) Kreatürlichkeit u n d Materialität frei-gesetzt und diese E m a n z i p a t i o n k ö n n e als M o d e l l relativ umstandslos a u f die soziale Praxis projiziert w e r d e n , fuhrt dazu, dass die h i s t o r i s c h e D i m e n s i o n einer m o d e r n e n ä s t h e t i s c h e n G e s t a l t u n g s - R a t i o n a l i t ä t , w i e sie sich in d e r G e s c h i c h t e d e r k o m i s c h e n , hässlichen, schrecklichen u n d grotesken Szene als deren Eigentliches nachweisen lässt, zugunsten der beanspruchten Ahistorizität eines anthropologischen M e r k m a l s , der »Ungeschichtlichkeit der Körperlogik« 5 7 , außer A c h t gerät. 5 8
50
Manfred Pfister: Inszenierungen des Lachens im Theater der frühen und späten Neuzeit. In: Erika Fischer-Lichte/Anne Fleig (Hrsg.): Körperinszenierungen. Präsenz und kultureller Wandel. Tübingen 2 0 0 0 , S. 3 5 - 5 5 . S. 3 8 .
51
Vgl. Roland Barthes: Le Grain de la Voix. Interviews. Paris 1981, S. 182. Boris Groys: Die Heiterkeit des Monströsen. In: Akzente 2 / 1 9 9 3 , S. I 2 2 f f , S. Hans Brittnacher: Ästhetik des Horrors. Frankfurt a.M. 1994, S. 189. Brittnacher, Horror, S. 183.
52 53 54
122.
55
Brittnacher, Horror, S. 197.
56
Vgl. zum Begriff des Monstrums in dieser Version: Fuß, Groteske, v.a. S. 3 o i f f , Brittnacher, Horror, S. i 8 i f f , sowie Roland Barthes, Sinn, S. 1 5 3 . Außerdem zur Körperlichkeit des Grotesken, Jehl, Ethik und Ästhetik des Grotesken, S. 97.
57
Brittnacher, Horror, S. 197.
58
Vgl. Greiner, Komödie, S. 97.
19
Abgesehen davon, dass mit der Betonung dieses antizipatorischen physiologischen Potenzials ein Diskurs vorliegt, wie er selber nicht ideologischer sein könnte, ein Diskurs, der den Körper eigentlich nur als >befreiten< zulässt und ihn somit wiederum einem System der diskursiven Unterdrückung einschreibt, scheint im Hinblick auf die ästhetische Entfesselung des Körperlichen der wesentliche Umstand verfehlt: Die Freisetzung des Leiblichen qua Deformation, wie sie nicht nur die Kunstproduktionen der historischen Avantgarde, sondern vorher wie nachher das Theater der Moderne wesentlich auszeichnet, geschieht zu ästhetischen Bedingungen. Ein sich im Wechselspiel von ästhetischer Gestaltung und Körperlichkeit entfaltendes Spiel, das stets auf das Prinzip der artifiziellen Inszenierung des Physiologischen rekurriert, zeichnet sich durch die Spannung zwischen dem Realen und dem Künstlichen aus, und diese Spannung ist dem transformativen, umbildenden Gestus jeder ästhetischen Verfahrenweise geschuldet. Er greift bereits da, wo ein scheinbar in all seiner Natürlichkeit ausgestellter Leib in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt wird: Der in irgendeiner Form präsentierte Körper ist ein nicht nur verfremdeter, er ist ein künstlich und künstlerisch verfremdeter und in diesem Sinne neu hergestellter Körper: Der Körper als ein radikal Anderes. Jedoch ist diese Abgrenzung von Realität und ästhetischem Transformationsraum im Zuge der Postmodernisierung scheinbar obsolet geworden, besser: Sie wurde von Seiten der ästhetischen Theorie (die aufgrund ihrer anthropologisch-psychoanalytischen Unterfutterung, streng genommen, eine solche gar nicht mehr ist) wie von Seiten der Geschichtsphilosophie gleichermaßen außer Kraft gesetzt. In dem Maße, wie der Ästhetik aufgrund der angenommenen Auflösung der Wirklichkeit zum Diskurs ab den 1980er Jahren »der Zerfall von weltanschaulichen Gewissheiten kein metaphysisches Angstproblem mehr bereitet, sondern eine vorauszusetzende kulturelle Gegebenheit« 59 ist, wie Lehmann für das so genannte >postdramatische Theater« zu Recht diagnostiziert, in eben diesem Maße muss dann das Groteske als ästhetische Strategie seinen irritativen Charakter vollends einbüßen. Wird der gesellschaftliche Diskurs selber nicht mehr von Phantasma der Identität bestimmt, dann ist das Groteske als ästhetisch in Szene gesetzter Bruch mit der Norm mehr oder weniger obsolet. 60 Diese Tendenz ist bei Kristeva explizit grundgelegt, wenn sie — trotz ihrer Veranschlagung einer prekären Dimension der ästhetischen Textpraxis — in der Folge einer Selbstabschaffung des Ästhetischen in der Moderne das Wort redet. Die poetologischen Revolutionen zum Ende des 19. Jahrhunderts definiert sie als Indiz einer Transformation der
Greiner rekurriert auf die Vorstellung »des dionysisch-orgiastischen Momentes der Komödie, die die Neuzeit ausgebildet hat« (S. 69), als dessen vorzüglichste Ausprägung er die Commedia dell' arte ansieht. Auch wenn er die Diskursform >Komödie< als Strukturierung und damit Bändigung dieses Momentes betrachtet, steht im Zentrum seiner Bachtin-nahen Argumentation stets der >in Sittlichkeit« nicht gebändigte Körper und dessen antizipatorisches Potenzial. Die Übertragung eines Nietzscheanisch aufgeladenen Terminus zur Betrachtung einer historischen Komikform wie der Commedia offenbart die ideologische Seite deutlicher als wünschenswert: Das dionysische Element der Grausamkeit bleibt völlig außer Betracht zugunsten der optimistischen Markierung. 59 60
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Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Frankfurt a.M. 1999, S. 88. So explizit Bormann, Gegenwartslyrik, S. 147.
Ästhetik z u m »Praxisfeld des Subjekts in der S p r a c h e « 6 ' in der die N o t w e n d i g k e i t von K u n s t als »Reservat« 6 2 aufgegeben scheint u n d dermaßen verabschiedet ist. 6 3 D a m i t ist aber auch der kritische F o k u s gegenüber einer ästhetischen Strategie aufgegeben, die sich m i t ihrem Penchant für extreme D e f o r m a t i o n , für das das Schreckliche, das M a k a b r e , das G e w a l t s a m e u n d U n h e i m l i c h e i m m e r an den G r e n z e n des jeweilig Z u m u t b a r e n bewegt. Tatsächlich verschiebt sich die Achse des Erträglichen dort, wo alles möglich u n d erlaubt ist: D a s a m Signifikanten entfesselte Irritationspotenzial tritt nur n o c h g e g e n ü b e r klassischen verfestigten W e l t a n s c h a u u n g e n negativ auf, besitzt aber d a g e g e n i m K o n t e x t einer aktuellen I d e o l o g i e u n d W e l t s i c h t n u r n o c h die positive D i m e n s i o n des emanzipativen Impulses. Besonders deutlich wird diese A u s b l e n d u n g des Negativen an Fuß' A r g u m e n t a t i o n , der in den drei von i h m identifizierten grotesken M e c h a n i s m e n der Strukturliquidation: der positionalen Verkehrung, der monströsen Verzerrung u n d der V e r m i s c h u n g heterogener Bereiche, »keine belanglosen ästhetischen Spielereien, sondern die spezifisch neuzeitliche F o r m eines notwendigen u n d deshalb konstanten Elements jeder kulturellen F o r m a t i o n « 6 4 zu erblicken vermag. Zentral f ü r diese A r g u m e n t a t i o n ist die bewusste K o n t a m i n a t i o n von poetologischen u n d ästhetischen mit weltanschaulichen Kategorien, die ihrerseits vereinfachend als Indiz von M o d e r n i t ä t schlechthin ausgegeben werden. W e n n , wie Fuß referiert, in »der M o d e r n e [...] K u n s t selbst z u m chimärischen P h ä n o m e n [...] z u m M e d i u m von E r k e n n t n i s ( T h e o r i e ) u n d P o l i t i k « 6 ' wird u n d die »Poetik der M o d e r n e [...] weitgehend eine T h e o r i e des C h i m ä r i s c h - G r o t e s k e n « 6 6 ist, d a n n bedeutet das nichts anderes als die Eliminierung des prekären, schrecklichen, gewaltsamen u n d negativen Aspekts des DifFormen aus d e m R a u m der einmal erreichten >verflüssigten< Wirklichkeitsstruktur - einschließlich der positiven,
faszinierenden
Q u a l i t ä t e n dieser
Aspekte, die im Jenseits jeder, sprich: auch ganz aktueller Moralität anzuvisieren wären. Konsequenterweise betrachtet Fuß als zentrale Funktion des Grotesken die erwünschte »Liquidation kultureller Formationen und die mit ihr einhergehende E n t b i n d u n g kreativer P o t e n z « 6 7 , mithin die generelle kulturelle T r a n s f o r m a t i o n . D a s Groteske avanciert zur M e t a p h e r für die E n t b i n d u n g gesellschaftlicher Dialektik schlechthin, es gerät nicht zur ästhetischen Entsprechung, sondern z u m initiierenden » M e d i u m des historischen Wandels u n d des E p o c h e n w a n d e l s . « 6 8 D i e ästhetische Grenze kann innerhalb dieses Diskursrahmens weder einen kritischen noch einen irritativen I m p a k t entfalten, der spezifische Diskurs u m die Emanzipation des m o d e r n e n K u n s t w e r k s v o n gesellschaftlicher F u n k t i o n a l i s i e r u n g wird paradoxerweise ebenso sehr bestätigt wie unterlaufen. Diese Substitution ästhetischer durch transästhetische
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Kristeva, Revolution, S. 91. Kristeva, Revolution, S. 21. Kristeva, Revolution, S. 21. Fuß, Groteske, S. 12. Fuß, Groteske, S. 414. Fuß, Groteske, S. 415. Fuß, Groteske, S. 155. Fuß, Groteske, S. 12. 21
Bezüge kulminiert schließlich in einem schon in Bachtins Relativitätskonzept angeschnittenen »Mythos der ModerneUrväter< der postmodernen Theoriebildung — Sigmund Freud — das Verhältnis von Groteske und Mythos. Vgl. Harpham, Grotesque, S. 67fr. Stand so etwa bei Kristeva noch der destruktive Aspekt des Lachens im Rahmen einer kulturanthropologischen Auslotung eines möglichen revolutionären Gewaltpotenzials ästhetischer Abständigkeit im Vordergrund und wurde es sogar als Pendant zur modernistischen Rationalität zumindest angespielt, so tritt dieser beunruhigende Aspekt des Grotesken zugunsten eines einseitig in ihm anvisierten kreativen Lustaspektes, der häufig in Termini der Erotisierung gefasst wird, zurück. So spricht Andre Chastel vom Grotesken als einem: »produit pur de l'imaginaire oil se condensent les fantaisies, d'une vitalite ä la foi troublant et fuyante, nettement erotisee dans le detail.« Andre Chastel: La Grottesque. Paris 1988, S. 25. Die mit der Prominenz der Körpermetapher ineins gehende >Erotisierung< der poststrukturalistischen Theorie, die zentral auf Barthes, Lacans und Kristevas Vorstöße rückführbar ist, sich aber immer mehr in einem Amalgam von trockener Systematik und fröhlicher Sex-Metaphorik verhedderte, darf in ihren Implikationen nicht unterschätzt werden: Die hier zu Tage tretende Verflachung bedeutet das Versanden eines ernstzunehmenden Versuches, Theorie zu gesellschaftlicher Wirksamkeit zu bringen, sie also wahrhaft revolutionär zu machen, in den Dünen eines wissenschaftlichen Animier- und Amüsierbetriebes, dessen Grundimpuls die Beliebigkeit des anything goes ist.
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Vgl. Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne. Weinheim 1987, S. 83.
stellt sich darin vor allem als Verkennung des diskursiven Horizonts von ästhetischer Modernität dar. Statt die eigenen Erkenntnisse von der Koextensivität von Moderne und Groteske und dem damit einhergehenden >Verlust diakritischer Relevanz< (Fuß) ernst zu nehmen und zu versuchen, den Groteskbegriff dezidiert an einen entsprechenden ästhetischen Diskurs der Moderne anzubinden, wird dem ins Werk gesetzten Deformativen eine den ästhetischen Raum transzendierende Funktion zugeschrieben. Soll die Spezifik grotesker Deformation demgegenüber als historische Gestalt erschlossen werden, so kann dies, nur aus der Einlassung auf immanente Problematik der Moderne geschehen.
2.
Ästhetische Modernität und Groteske
In jüngerer Zeit hat im Bereich der auf die Kategorie des Grotesken abstellenden Forschung vor allem Elisheva Rosen den Versuch unternommen, das Irritationspotenzial grotesker Deformation dezidiert an den ästhetischen Initialdiskurs der Moderne, nämlich den der europäischen Romantik, anzubinden, sie betrachtet die Reflexion um das Groteske in diesem Sinne sogar als »metadiscours pour la modernite«72. Für unsere Perspektive, die sich mit dem 19. Jahrhundert auseinandersetzt, würde das bedeuten, dass die Paradigmen von künstlerischer Deformation und ästhetischer Modernität miteinander kurzzuschließen sind. In der Tat kommt es in der europäischen Romantik zu ästhetischen Entgrenzungen entlang des Hässlichen, die alle Teile eines Diskurses sind, der seither das Spezifikum von Modernität schlechthin ausmachen sollte: Dem Diskurs um die Emanzipation der Kunst von ihrer gesellschaftlich-ideologischen Vereinnahmung. Diese um 1800 im Bereich der ästhetischen Theorie einsetzende Entfunktionalisierung, die bereits dort (teilweise) unter dem expliziten Etikett modern auftritt, hat zur Folge, dass sich, wie Karl Heinz Bohrer schreibt, als Opposition zum »generellen Diskurs einer unter teleologischen Vorzeichen stehenden rationalistischen Moderne«73 eine autonome poetische Moderne als Ausprägung des romantisch-ästhetischen Bewusstseins konstituiert. Galt die europäische Romantik »bis vor einiger Zeit in weiten Kreisen und gilt mancherorts noch heute als entschieden und bewusst automodern, ja, als radikalste Kritik der modernen Kultur überhaupt, als prinzipielle Absage an alles, was dieser vernunft- und fortschrittsfrohen Kultur lieb und teuer war«74, so wurde in den letzen Jahren verstärkt auf die »Modernität der Romantik«7S hingewiesen: In diesem Sinne sind ihre wesentlichs-
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Elisheva Rosen: Sur le Grotesque. L'Ancien et le Nouveau dans la Reflexion esthetique. SaintDenis 1991, S. 49. Karl Heinz Bohrer: Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne. Frankfurt a.M. 1989, S. 7, vgl. S. 23. Urte Heldhuser/Johannes Weiß (Hrsg.): Die Modernität der Romantik. Zur Wiederkehr des Ungleichen. Kassel 1999 (Intervalle 4): Zur Einführung: S. 9-18, S. 10. Vgl. Karl Heinz Bohrer: Die Modernität der Romantik. Zur Tradition ihrer Verhinderung. In: Urte Heldhuser/Johannes Weiß (Hrsg.): Die Modernität der Romantik. Zur Wiederkehr 2
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ten Kennzeichen zum einen die genuin anti-irrationale »Selbstreflexion«76 des Künstlers (Paradigma dessen: die romantische Ironie), die in der »Reflexivität des Kunstwerkes«77, sprich: seiner Selbstreferenz im Sinne einer strikten ästhetischen Autonomie ihre Entsprechung findet. Zum anderen die Entdeckung des Phantastischen, Unheimlichen, Grauenerregenden78 etc. und im Zuge dessen die Erschließung der ästhetischen Wertigkeit der Deformation. Da vorliegende Arbeit im Hinblick auf die Kunst der Pantomime und ihrer Wechselwirkung mit einer genuin modernen Ästhetik dezidiert auf diesen Modernebegrifif abstellt, ist seine Klärung nötig. Als analytische Leitkategorie kann der von Dirk Kemper ins Spiel gebrachte Begriff der »Makroepoche der ästhetischen Moderne«79 gelten. Er setzt sich dezidiert ab von einer rein historisierenden Verwendungsweise des Moderne-Signats, da dieses sich zumeist an einer bestimmten, historisch auf den Zeitraum etwa zwischen ca. 1900 und 1930 begrenzten literarischen und künstlerischen Programmatik orientiert und daher vor allem deren Tendenz zur eigenen Negativdefinition: >Neu vs. Alt< prolongiert. Damit muss die Möglichkeit einer der Moderne daselbst immanenten Dialektik, die ihre gipfelhafte Ausprägung in einer Radikalautonomie des Ästhetischen erreicht, aus dem Blick geraten. Demgegenüber ist eine Vorstellung von Moderne vorzuziehen, die die Frage nach den Gründen, der Dynamik und den Ausprägungen einer sich aus dem Kontext klassischer Normierungen emanzipierenden Ästhetik zulässt und dabei vor allem auch der Tatsache Rechnung trägt, dass »sich alle wichtigen Problemzusammenhänge der modernen Ästhetik in übernationalen Kommunikationszusammenhängen entfaltet haben«80. Es bietet sich also an, mit einem Epochenbegriff von Moderne zu arbeiten, der ihr Einsetzen in der >Sattelzeit< (Koselleck) um 1800 konstatiert, und zwar innerhalb eines Diskurses, der seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts im Umfeld der deutschen Romantik geführt wird und von dort auch nach Frankreich ausstrahlt.81 Zum einen konstituiert sich im deutschen Sprachraum eine ästhetische Moderne, die den revolutionären Impuls, den die gesellschaftlichen Veränderungen um 1800 mit sich brachten, vorrangig aufnimmt. Wesentlicher Bezugspunkt solcher Schriften wie Schillers Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96) und
des Ungleichen. Kassel 1999 (Intervalle 4), S. 49-82. Zum Beginn der Moderne um 1800 vgl. Walter Fahnders: Avantgarde und Moderne 1890 — 1933. Weimar 1998, S. 1-9; Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf. Opladen 1995, S. 1-6. Andere Ansätze datieren erste Impulse schon um 1750. Vgl. etwa den Band: Britta Herrmann/Barbara Thums (Hrsg.): Ästhetische Erfindung der Moderne? Perspektiven und Modelle 1750 — 1850. Würzburg 2003. Dort die Einleitung von Herrmann und Thums: S. 7-28. 76 77 78 79
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Bohrer, Romantik, S. 57. Bohrer, Romantik, S. 52. Vgl. Bohrer, Romantik, S. 52. Dirk Kemper: Ästhetische Moderne als Makroepoche. In: Silvio Vietta/Dirk Kemper (Hrsg.): Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik. München 1998, S. 97-126, S. 97. Silvio Vietta/Dirk Kemper: Einleitung. In: Silvio Vietta/Dirk Kemper (Hrsg.): Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik. München 1998, S. 1-56, S. 1. Vgl. Kemper, Ästhetische Moderne, S. 101 und S. 109.
Schlegels Über das Studium der griechischen Poesie (1797) ist eine autonome Definition der ästhetischen Moderne, in der nicht mehr die epochale Relation Alt-Neu vorrangig ist, sondern im Zuge derer die einsetzende Selbstreflexivität im Diskurs der Moderne zum Signum der Analyse des im Kunstwerk ausgesparten Gegenwartsbewusstseins avanciert.82 Zum anderen wird erst hier die Vorstellung eines artifiziell verfassten Komisch-Hässlichen, sprich: Grotesken entwickelt, an dem sich die Abständigkeit des ästhetischen Raumes von der Realität und ihren pragmatischen und wertmäßigen Anforderungen allererst beweist. Unsere These dazu: Das Groteske belegt die Souveränität des ästhetischen Raumes gegenüber der Wirklichkeit darin, dass sie die faktisch repulsiven Merkmale des Hässlichen qua ästhetischer Transformatton in Vehikel ästhetischer Lust verwandelt, einer Lust, die nicht mehr mit außerästhetischen Bezügen abzugelten oder zu entschärfen ist Es ist von großer Bedeutung, dass Bachtin, der in seiner utopistischen Fassung einer Projizierbarkeit des Grotesken in den Raum gesellschaftlicher Verwertbarkeit das Wort redete, einer solchen modernen - und das heißt für ihn ebenfalls: romantischen! - Form der Groteske die Absage erteilte: Der die Groteske des Mittelalters und der Renaissance auszeichnende »groteske Realismus[...] der Mechanismus ihrer Kombination [...] der Schlüssel für das VerständnisSattelzeit< der Moderne um 1800 einsetzende Relativierung der komischen Dimension und beginnende Verfürchterlichung des Grotesken, wie sie im europäischen Diskurs bereits von Thomsen diagnostiziert wurde, als Symbolik einer sich anbahnenden Dezentrierung des Subjekts ausreichend gedeutet werden kann.4 Die bisher gegebenen Reflexionen lassen zunächst und vor allem den Schluss zu, dass die prekäre Dimensionierung des Grotesken zu Beginn der europäischen Romantik einer Krise des klassischen ästhetischen Gestaltungsparadigmas geschuldet ist. Mit anderen Worten: Das Bedrohliche des Grotesken kommt weniger als Mimesis an das anthropologische Unbewusste, an das metaphysisch Dämonische und existenziell Subjektferne daher, sondern ergibt sich vielmehr als ein durch die Radikalisierung der klassischen Gestaltungskonzepte generiertes Irritationsmoment ästhetischer Formgebung
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Vgl. Christian W. Thomsen: Das Groteske und die englische Literatur. Darmstadt 1977, S. 164. Lee Byron Jennings: The Ludicrous Demon. Aspects of the Grotesque in German Post-Romantic Prose. Los Angeles 1963, S. 10. Lee Byron Jennings, übersetzt zit. nach: Michael Steig: Zur Definition des Grotesken: Versuch einer Synthese. In: Otto F. Best: Das Groteske in der Dichtung. Darmstadt 1980, S. 69-84, S. 73. Vgl. Thomsen, Literatur. 2
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daselbst. Adorno hat dies theoretisch bereits auf den Punkt gebracht, als er an der künstlerischen Verfahrensrationalität eine innere Dialektik diagnostizierte, die in der hässlichen Kunst des 20. Jahrhunderts kulminiere. Adorno betonte, »mit dem Ansteigen der Reflexion, und durch ihre gesteigerte Kraft, verdunkelt sich der Geist an sich.«5. Eine solche »subjektive Paradoxie von Kunst«, »das Blinde nicht zu rationalisieren, sondern ästhetisch überhaupt erst herzustellen«6 setzt aus unserer Perspektive zentral mit dem Grotesken des 19. Jahrhunderts ein. Zwar ist nicht zu leugnen, dass im Umfeld der deutschen Romantik das Lachen und die Komik in dem Maße einen dunklen Teint erhalten, als an ihnen die Krise eines Bewusstseins zu Tage trat, welche »in der Entbehrung jener letzten Generalklausel >Sinn< auch eine Katastrophe für die individuellen Handlungsdevisen und Wertcodices heraufziehen sah.«7 Allerdings ist von zentraler Bedeutung, dass die moderne Ästhetik die durch sie re-konstituierten ästhetischen Formen und Kategorien nicht in erster Linie als motivischen Pool fur die mimetische Darstellung der Krisis, denn vielmehr als künstlerische Affirmation der neugewonnenen Spiel-Freiheiten nutzt.8 Der Wegfall der traditionellen Legitimierung des Schönen durch die Allgemeinverbindlichkeit der Wahrheit und der auf sie aufbauenden formalen Normierungen wird aufgewogen durch die Reflexion auf die Möglichkeit eines neuartigen, genuin ästhetischen (!) Gefallens am Schrecklichen und Hässlichen, das nicht zuletzt im Lachen sich kundtut. Und diese neuartige Version von Plaisir setzt immer voraus, dass seine Gegenstände künstlerisch hergestellt und durchgebildet sind. Wolfgang Preisendanz hat in einem vorzüglichen Beitrag zum schwarzen Humor eine besondere Form des Lachenerregenden beschrieben, die er als eine »Komik der Opposition« von einer »Komik der Identität« abgrenzt. Das Spezifikum der Oppositions-Komik ist demnach, dass ihr das selbstreflexive Moment eingeschrieben ist, wodurch sie durch die Herausstellung der »Bedenklichkeit des jeweils hervortretenden Sinns fitir Komik, [...] die Bedenklichkeit eines zynischen, bizarren, makabren, naiven Humors« 9 ihren eigenen komischen Charakter daselbst infrage stellt. Unabhängig von den Einzelaspekten, die alle auch fur das Groteske bemüht worden sind 10 , gewinnt hier die historische Tendenz eines spezifisch modernen Lachens deutlich an Profil: Es handelt sich um den seismographischen Reflex auf eine ästhetische Lust, der die traditionelle Legitimation abhanden gekommen
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Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M. 1998, S.47. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 174. Thomas Immelmann: Der unheimlichste aller Gäste. Nihilismus und Sinndebatte in der Literatur von der Aufklärung zur Moderne. Bielefeld 1992, S. 139 Vgl. Karl Heinz Bohrer: Das Romantisch-Phantastische als dezentriertes Bewußtsein. Zum Problem seiner Repräsentanz. In: Karl Heinz Bohrer: Die Grenzen des Ästhetischen. München/Wien 1998, S. 9-36. Wolfgang Preisendanz: Zum Vorrang des Komischen in der Darstellung von Geschichtserfahrung in deutschen Romanen unserer Zeit. In: Wolfgang Preisendanz/Rainer Warning (Hrsg.): Das Komische. München 1976 (Poetik und Hermeneutik 7), S. 153—164, S. i6of. Vgl. z.B. Bormann, Gegenwartslyrik, S. 143; Carl Pietzcker: Das Groteske. In: Otto F. Best: Das Groteske in der Dichtung. Darmstadt 1980, S. 85—102. 192, S. 85.
ist und die damit zunächst relativ »verlassen* dasteht. Wobei jedoch von entscheidender Bedeutung ist, dass sie dasteht. Der im düsteren Lachen verzeichnete modernspezifische Verlust an »Wahrheitsgehalt der Freude«11, wie er in Schlegels Lakonismus »Aller Witz tendiert auf Nihilismus«12 treffend auf den Punkt gebracht ist, macht den fortgesetzten Willen zum ästhetischen Vergnügen vom aufgeklärten Gesichtspunkt aus natürlich fragwürdig. Das Avancieren des Grotesken zu einer Zentralkategorie der modernen Ästhetik ist genau an dieser Demarkationslinie anzusetzen. Wichtige Dokumente, die sich mit den weltanschaulichen Hintergründen eines modernen Hässlichen aus der zeitgenössischen Perspektive des Endes des 19. Jahrhunderts befassen, haben Hinweise auf die Tragfähigkeit des Arguments geliefert. John Ruskin beispielsweise, als Theoretiker des Grotesken mit gesamteuropäischem Horizont, gibt in seiner Auseinandersetzung mit der venezianischen Architektur einen wesentlichen Anhaltspunkt, wenn er die Groteske nicht nur als strukturelle Kombination der Aspekte ludicrous, playful und fearful definiert, sondern, selber noch in der idealistischen Emphase befangen, gegen das Überborden schrecklicher Gestaltungsmerkmale in der von ihm als »ignoble« abqualifizierten Form der Groteske als einer »expression of low sarcasm« und als »delight in bestial vice«1' polemisiert. Die vom Grotesken generell evozierte Geftihlsambivalenz von Repuls und Gefallen stellt sich demgemäß verschärft dort, wo die komisch-spielerische Verfassung des Gegenstandes nicht zur moralisierenden Aufhebung eines dargestellten Schlechten beiträgt, sondern dessen ästhetischen Mehrwert entfesselt, ihm sozusagen einen spielerischen Freiraum eröffnet. Das Groteske dieser Version ist nicht mehr die reflexiv integrierte Darstellung des Bösen, es ist aber auch nicht die über eine solche Darstellung indizierte anthropologisch-psychologische Tiefendimension des Unbewussten, des Dämonischen etc. Vielmehr liegt das Problem fur Ruskin darin, dass das ästhetische Plaisir seinen wesentlichen Impuls durch die interessanten, faszinierenden formalen Aspekte des Hässlichen erhält. Wenn »low sarcasm« als das quasi weltanschauliche Fundament dieses Vorgangs beargwöhnt wird, dann deswegen, weil über die emanzipierte ästhetische Attitüde sämtliche herkömmlichen moralisch-pragmatischen Zusammenhänge relativierbar erscheinen.14 Die Analyse Ruskins deckt sich relativ passgenau mit der Kritik des Verfassers der zu einiger Berühmtheit gelangten Ästhetik des Hässlichen, Karl Rosenkranz, der die zentralen Argumente klassischer Kunstdoktrin für das Ende des 19. Jahrhunderts noch einmal zusammenfasst. Rosenkranz unterscheidet eine >gesunde< und eine »krankhafte« Weise, auf die das Hässliche Vergnügen bereite. Gesund und gerechtfertigt ist das Hässliche als
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Theodor W. Adorno: Ist die Kunst heiter? In: Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur IV. Frankfurt a.M. 1974, S. 147-157, S. 157. Zit. nach Immelmann, Nihilismus, S. 177. Immelmann verweist übrigens darauf, dass der Schlegelsatz einer der frühesten Belege für den Begriff »Nihilismus« ist. Vgl. Immelmann, Groteske, S. 177/Anm. 603. John Ruskin: The Stones of Venice. In: John Ruskin: Works. Bd. IX-XI. New York7London 1904. Bd. XI, S. 135-195, S. 145. Vgl. dazu Bohrer, Romantisch-Phantastisches, S. 15. 29
eine im komischen Modus neuerlich im Schönen aufgehobene relative Notwendigkeit, die das Schöne schärfer konturiert. Krankhaft ist ein Vergnügen allerdings dann, wenn »das Unerhörteste, Disparateste und Widrigste« zusammengebracht wird, um »die abgestumpften Nerven aufzukitzeln [...]. Die Zerrissenheit der Geister weidet sich an dem Hässlichen, weil es fur sie gleichsam das Ideal ihrer negativen Zustände wird.«1' Die epochale Diagnose von Rosenkranz bemüht den Doublebind von zum formalen Kitzel verkommener ästhetischer Lust und dessen Entsprechung in einer besonderen mentalen Disposition, die, das dürfte relativ klar sein, mit dem Etikett des ironischen Bewusstseins, wie es aus der Romantik überkommen ist, relativ eindeutig zu identifizieren ist. Das Doppel der Argumente aus dem Munde berufener Ästhetiker deutet darauf hin, dass die prekäre Dimensionierung, die das Groteske im 19. Jahrhundert erhält, wenn nicht ausschließlich, so doch vorrangig eine Krise der traditionellen Kunstdoktrin und ihrer weltanschaulichen Prämissen selber markiert. Hegels Forderung, die poetische Phantasie müsse, um ästhetisch genossen zu werden, Zweck für sich selbst sein und alles, was sie ergreift, in rein theoretischem Interesse als eine in sich selbständige, in sich geschlossene Welt ausbilden, wird offenbar vom Grotesken, so wie es Rosenkranz und auch Ruskin verstehen, quasi ad absurdum geführt: Weil die Verfassung einer in sich geschlossenen WeltDisparateste< zusammenbringt und darin ein für den bewusstseinsmäßigen Zugang Verschlossenes herstellt, das nur noch als äußerlicher Reiz rezipierbar ist. Solche Bedenken umreißen nun den Problemhorizont einer modernen Ästhetik weitaus spezifischer, wo sie nicht auf den unscharfen Begriff der schöpferischen poetischen Phantasie als beliebig instrumentalisierbares Produktionsetikett rekurrieren, sondern dezidiert auf die Verfahrens rationalität der modernen Kunst, also ihre formalkonstruktive Dimension in deren Verbindung zu einem souverän gestaltenden Subjekt abzielen. Der junge Friedrich Schlegel hatte 1795 in seinem Aufsatz Uber das Studium der griechischen Poesie eine (noch) skeptische Diagnose der modernen Kunst und Poesie gegeben. In der Gegenüberstellung von Sophokles und Shakespeare anerkennt er erstmals das Hässliche als eine zentrale Kategorie, deutet es aber in gut idealistischer Attitüde noch als »Schein unendlicher Leerheit und Disharmonie«, als »leere[n] Schein«16. Ausschlaggebend für diese Verweigerung des Status einer ontologischen Gegebenheit ist nicht zuletzt die Verbindung, in der für Schlegel die repulsiven Merkmale der modernen Poesie mit einer künstlerischen Verfahrens-Rationalität stehen: Aus dieser Herrschaft des Verstandes, aus dieser Künstlichkeit unsrer ästhetischen Bildung erklären sich alle, auch die seltsamsten Eigenheiten der modernen Poesie völlig.' 7
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Karl Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen. Zit nach: Carsten Zelle: Ästhetik des Häßlichen: Friedrich Schlegels Theorie und die Schock- und Ekelstrategien der ästhetischen Moderne. In Silvio Vietta/Dirk Kemper (Hrsg.): Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik. München 1998, S. 197-234, S. 219. Friedrich Schlegel: Kritische Schriften und Fragmente. Hrsg. von Ernst Behler und Hans Eichner. Paderborn [u.a.] 1988. Band I: 1794 - 1797, S. 113. Schlegel, Schriften I, S. 77. Künstlerischen Wert erhält das Hässliche - widerwillig: im Hin-
Der von jeglicher Pragmatik emanzipierte ästhetisch verfahrende Verstand ist keineswegs eine frei flottierende und >phantasierende< Größe, sondern bestimmt sich als eine bewusst setzende Instanz. Bereits Adorno hatte, gegen das Primat subjektiver Imagination im Diskurs um die Moderne polemisierend, das rationale Moment der Konstruktion als zur Grundschicht von Moderne gehörig definiert.'8 Gegenüber einem beliebig vereinnahmbaren Utopismus der Imagination zielte das Argument auf den Anteil an >Schuldhaftigkeit< ab, den avancierte Kunst an der Rationalität der Moderne hat. Ästhetische Formung bedeutet demgemäß nicht zuvorderst Emanzipation von Wirklichkeit qua Phantasie, sondern ästhetische Aneignung widerständiger Materialien und deren auf rationalen Überlegungen basierende Konstruktion und Integration. Darin ist jedoch eine Krisis des klassischen Asthetikverständnisses daselbst verzeichnet, der es im Folgenden auf die Spur zu kommen gilt.
2.
Die europäische Diskussion um das Groteske: Z u r Krise künstlerischer Verfahrensrationalität
2.1. Die prekäre Eigenwertigkeit ästhetischer Deformation Für die idealistische Ästhetik des 18. Jahrhunderts, zumal des deutschsprachigen Raumes, stand eine ästhetische Selbstwertigkeit des Hässlichen außer Betracht. Im Kanon des Schönen als dessen Defizit gesetzt, war das Difforme wesentlich dazu angetan, die Konturierung und Akzentuierung des Schönen innerhalb eines ästhetischen Gesamtzusammenhangs zu leisten, in dem die Lizenz für Darstellbarkeit stets nach der ethischen Implikation bemessen wurde. Der locus classicus sämtlicher derartiger - und übrigens bis an die Gegenwart hineinreichender19 - kunsttheoretischer Doktrinen, ist bekanntlich die Prämisse von der Leitfunktion des Schönen, wie sie Piaton im zweiten, dritten und zehnten Buch der Politeia ausgegeben hatte. Die hier gestellte Grundforderung nach der Darstellung des Handelns und Redens guter Menschen enthält die ästhetische Rückverpflichtung auf ein ontologisch begründetes Ideal sittlicher Reinheit und machte die Präsenz des Hässlichen - als Form wie als Inhalt - bis zum Heraufdämmern einer ästhetischen Moderne in der europäischen Romantik zu dem Problemfall ästhetischer Theorie
blick auf seine Unterarten des Ekelhaften, Quälenden, Grässlichen, gebilligt: unter dem Etikett des >Interessanten< (Vgl. S. 63, 73 und 113) — als absichtlich und aus subjektiver ästhetischer Kraft< heraus erzeugtes Phänomen. Es fungiert gerade aufgrund dieser mangelnden Allgemeinverbindlichkeit jedoch nur als ästhetisches Interim, d.h. nur solange zwischen dem Verlust schöner Vergangenheit und der Rückgewinnung des eigentlich Schönen in der Zukunft eine zu überbrückende Kluft feststellbar ist. (Vgl. dazu etwa Schlegel, Schriften I, S. 77). Das Hässliche wird so zur spezifisch modernen Übergangskategorie ästhetischen Experimentierens, Resultat »unbefriedigter Sehnsucht«(Schlegel, Schriften I, S. 68) das negativ auf die Normativität des Allgemeinen und seiner Vermittlungskategorie des Schönen bezogen bleibt. ,8 19
Vgl. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 43. Vgl. etwa Hans-Georg Gadamers Abhandlung Die Aktualität des Schönen aus dem Jahre 1977, in der das Hässliche eindeutig als Relativum im Schönen aufgeht.
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schlechthin. Auch wenn in jüngerer Zeit, z.B. in der umfassenden Darstellung von Carsten Zelle, die Spuren einer ästhetischen Würdigung des Hässlichen innerhalb einer idealistischen Tradition nachgewiesen wurden: Die Prämissen einer reflexiven und moralischen Integration des Difformen und seine Relativierung auf das Schöne, Wahre und Gute hin blieben deren verbindende Theorieaspekte.20 Am Grotesken als einem Sonderfall ästhetischer Deformation erweist sich aber bereits früh die Problematik derartiger Integrationsversuche, als in ihm gleich zwei wesendiche Aspekte der klassischen Forderung in Frage gestellt werden: der mimetische Gedanke und die Rückbindung der Darstellung an einen allgemeinverbindlichen Horizont von Sinn. Das Wort grotesk leitet sich vom italienischen la grottesca her, das seinerseits auf grotta zurückführbar ist. Es diente dermaßen zur Bezeichnung antiker, Mischwesen aus Pflanzen und Tieren darstellender Wandornamente, die in Italien gegen Ende des 15. Jahrhunderts bei Ausgrabungen des domus aurea Neros und der Titus-Thermen zum Vorschein kamen, und verweist auf deren unterirdische« Herkunft. 21 Das seit Ende des 15. Jahrhunderts in Italien belegte Wort grottesche verbreitetet sich rasch in ganz Europa, zunächst über Frankreich, wo es 1532 erstmals als crotesque auftaucht, um dann 1546 von Rabelais in Gargantua et Pantagruelverwendet zu werden.22 In der theoretischen Auseinandersetzung mit dem anfangs rein bildkünstlerischen Phänomen dominiert dabei von vorneherein die besondere Qualität der Deformation: Wenn etwa Vitruv von monstra spricht, steht damit zuerst der a-mimetische, weil gegen die Ordnung der Natur wie die darauf gründenden ästhetischen Normen verstoßende Charakter des Grotesken in der Kritik, denn: »Solches Zeug [...] gibt es nicht, wird es niemals geben und hat es auch nie gegeben.«23 Die besondere Rage des Architekten und eine darin gründende Verbannung der »unbillige[n] Mode« des Grotesken in die Niederungen des künstlerisch Ephemeren erklärt sich vornehmlich daraus, dass im Verstoß gegen eine überkommene Ordnung eine radikale Emanzipationstendenz der künstlerischem Kreativität beargwöhnt wurde. Das >Zeug, das es nie geben wird< deutet früh auf die Möglichkeit hin, innerhalb ästhetischer Gebilde die Realität nicht nur zu transformieren, sondern eine ästhetische Gegenrealität zu entwerfen. Der Diskurs um die groteske Deformation unterscheidet sich dementsprechend von thematisch ähnlich gearteten Querelles grundlegend darin, dass in ihm die moralisch aufgeladene Diskussion um eine hässliche Mimesis explizit um die Frage nach der Lizenz für die dichterische und künstlerische Freiheit erweitert wurde. Mit anderen Worten: Das
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Vgl. Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne: Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart/Weimar 1995. Vgl. dazu schon Kayser, Das Groteske, S. 20. 1550 dann auch in Spanien bei Lope de Rueda als grutesco, zeitgleich dazu in den Niederlanden: Grottisen. In England taucht die Bezeichnung synonymisch mit antic seit 1529 auf, mit Beginn des 17. Jahrhunderts schließlich erlangt sie dort Eigenständigkeit als grotesque. Vgl. dazu: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Berlin/New York, S. 746; [Larusse]: Dictionnaire etymologique et historique du Francais, Paris 1993: >grotesqueUnlustHolzhammermethode< des K o m i s c h e n , in d e m Bereich des Derben und Possierlichen, es wird von Flögel sogar einer entwicklungsmäßig niedrigeren Epoche zugeschlagen: Die Neigung des Menschen zum Groteskekomischen oder zur komischen Karikatur ist so alt wie irgendein anderer Zweig des Komischen, ja es ist wahrscheinlich, daß er an Altertum alle anderen übertreffe. Denn ehe der Mensch so gesittet wird, daß er das ferne und hohe Komische erfindet oder an demselben einen Geschmack haben kann, ist lange vorher der Geschmack an dem übertriebenen und groben Komischen vorhergegangen.29 Solche Auffassung v o m Grotesken als moralischer Hohlspiegel und karikatureskes Vergrößerungsglas verpflichtet den an der willkürlichen D e f o r m a t i o n zu T a g e tretenden Distanzierungsgestus eindeutig der satirisch-moralischen Tendenz und entschärfte dermaßen seine irritative Wirkung. 3 0 D i e damit vorgegebene Rezeptionslinie verläuft i m deutschen Spachraum relativ stringent bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, sie reicht bis zu Rosenkranz und schließlich Schneegans, dem eigentlichen Begründer einer literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Grotesken. 3 1
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Thomsen, Literatur, S. 24. Justus Moser: Harlekin oder die Verteidigung des Grotesk-Komischen (Hamburg 1761). Neu hrsg. von Henning Boetius: Harlekin. Texte und Materialien. Bad Homburg/Berlin/Zürich 1968, S. 21. Carl Friedrich Flögel: Geschichte der komischen Literatur. 4 Bände. Liegnitz und Leipzig 1784 - 1787. Band I, S. 89. Carl Friedrich Flögel: Geschichte des Groteskekomischen. Ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit, Liegnitz und Leipzig 1788, S. 1. Vgl. zur in Rede stehenden Epoche und ihrer moralischen >Zwangsverpflichtung< des Komischen die wegweisende Arbeit von Wolfgang Promies: Der Bürger und der Narr oder das Risiko der Phantasie. Sechs Kapitel über das Irrationale in der Literatur des Rationalismus. München 1966, S. 136. Die Verknüpfung des Grotesken mit dem Satirischen tritt innerhalb der Rezeptionsgeschichte immer häufiger auf, ohne dass die Relation beider Gestaltungsweisen immer hinreichend deutlich gemacht wird; immerhin deutet das Etikett des Grotesken auf den besonderen Schärfegrad hin, der den satirischen Text auszeichnet. Vgl. Heinrich Schneegans: Geschichte der Grotesken Satire [Straßburg 1894]. Neu hrsg. von Max Bauer. München 1914.
Bereits Moser, in seiner gegen die Gottsched-Neuberschen Hygienebestrebungen gewandten Verteidigung des Harlekins, kommt jedoch nicht umhin, neben der satirischen Indienstnahme auch formalästhetische Gründe für eine Absicherung des Grotesken zu suchen. Er findet sie einmal in einer recht bemühten Relation zum Walten der Natur, die auch »dergleichen Sprünge«32 mache. Die subjektive Willkür des Artisten ist demnach im klassizistischen Natürlichkeitsdiskurs in eben dem Maße beglaubigt wie um ihr eigentliches emanzipatorisches Moment gebracht. Konsequenterweise weist Moser einen Grad der Deformation, der aufgrund seiner Monstrosität unter keinen Umständen mehr gemäß der Natur zu beglaubigen und vor allem wider jeden Geschmack sei, zurück, so z.B. »Mißgeburten dieser Art, welche zween Köpfe und mehrere nicht zusammenpassende Glieder haben«33. Die von Moser betriebene Rückbindung an den Mimesis- und Natürlichkeits-Primat behält auch die klassizistische Prämisse bei: Das groteske Werk, das »Reich der Chimären«34 und der »Übertreibung der Gestalten«35 gewinnt, so Moser, seine formale Einheit und damit Harmonie, »wenn die Absicht des Verfassers ist, alle Regeln zu verletzen, und er thut es auf eine glückliche Art«. Vollkommenheit erlangt das Werk, das sich durch seinen »goüt baroc« auszeichnet, also einmal in seiner Enthaltsamkeit gegenüber dem radikal Monströsen und der darin indizierten völligen Loslassung des kreativen Impulses, auf der anderen Seite aber eben dadurch, dass es die Vermischung unähnlicher Teile als konstruktives Zentralverfahren konsequent durchhält, um sich auf diese Weise von vorneherein als Werk der Phantasie zu offenbaren. Dieser Doppelaspekt von - entschärfender Selbstanzeige des Phantastischen und seiner Festlegung auf die Einhaltung der grundlegenden Regeln des guten Geschmacks sichern dem Grotesken als >Sonderbar-Schönenwahren< »Caricaturen [...], wo der Maler die verunstaltete Natur bloß abbildet wie er sie findet;« und - weniger wohlwollend - »übertriebene, wo er aus irgendeiner besonderen Absicht, die Ungestalt seines Gegenstandes zwar vermehrt, aber doch auf eine der Natur so analogische Art dabei zu Werke geht, daß das Original immer noch kenntlich bleibt«38.
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Moser, Harlekin, S. 29. Moser, Harlekin, S. 28. Moser, Harlekin, S. 15. Moser, Harlekin , S. 22. Vgl. Moser, Harlekin, 24. Moser, Harlekin , S. 24. Christoph Martin Wieland: Unterredungen zwischen W** und einem Pfarrer zu ***. In: Chris35
Diejenigen Werke aber, die die mimetische Prämisse ganz verabschieden, werden als Ausgeburten einer subversiven Phantasie gebrandmarkt, »wo der Maler unbekümmert um Wahrheit oder Ähnlichkeit, sich [...] einer wilden Einbildungskraft überläßt und durch das Unnatürliche und Widersinnige seiner Hirngeburten bloß Gelächter, Ekel und Erstaunen über die Kühnheit seiner ungeheueren Schöpfungen erwecken will.«39 Gelächter, Ekel und Erstaunen< als rezeptive Modi sind gerade nicht mehr an die inhaltliche Dimension des Werkes und auf deren Rezeption über Ähnlichkeiten gebunden, sondern stellen nahezu somatische Reflexe auf die Hermetik eines »weder zum Nutzen noch zum Vergnügen« 40 dienenden Werkes und der es konstituierenden subjektiven Phantasie dar.41 Ganz ähnlich hatte bereits Gottsched das Lachen über die ästhetische Verformung als kunstdoktrinär-polemische Abwehrreaktion des Aus-Lachens gefasst; auch ihm bietet der Zusammenhang von fantastischer Amimetik und artifizieller Hässlichkeit die wesentliche Angriffsfläche. Dabei ist zu vermerken, wie eindeutig negativ Gottsched die willentliche Emanzipation der grotesken Kunst von der für die idealistische ästhetische Doktrin verbindlichen Kontinuität eines Erfahrungs- und Verstehensaktes verhandelt: D i e eine Art, sich etwas ohne Beobachtung eines zureichenden Grundes einzubilden, heißt eigentlich träumen oder phantasieren [...]. Gleichwohl bedienen sich ungeschickte Maler, Poeten und Componisten vielmals dieser Kraft und bringen dadurch lauter Mißgeburten zur Welt [...]. Die Grotesken der ersten und ungereimten Fabeln der andern können hiervon zu Exempeln dienen. 4 1
Es zeigt sich, dass für Gottsched die Verfassung grotesker Werke und Gebilde nur ganz vordergründig einem irrationalen Fond zugeordnet werden kann. Der eigentliche Zielpunkt der Kritik ist vielmehr die Methode, sprich: die besondere konstruktive Rationalität, die sich in der absichtlichen Einlassung auf Traum und Phantasie durchweg beweist. Und wenn Wieland von dem Sich-Überlassen der jeweiligen Künstler an ihre Vorstellungskraft spricht, so ist gegen den nämlichen Umstand, die willentlich und bewusst entfesselte Phantasie, polemisiert. Zusammenfassend für eine ganze idealistische Tradition formuliert Sulzer noch 1792 in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste, das Groteske sei »eine besondere und seltsam phantastische Gattung der malerischen Verzierung gewisser Zimmer.«
toph Martin Wieland: Werke. Hrsg. von Fritz Martini und Werner Seiffert. München 1967. Band 3, S. 295-349, S. 34339
Wieland, Unterredungen, S. 343.
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Wieland. Unterredungen, S. 343.
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Schon Thomsen weist d a r a u f h i n , dass auch bei Kant die der Verstandeskontrolle unterworfene Einbildungskraft positiv als Substrat jeglichen künstlerischen Schaffensprozesses gefasst wird, dass aber gerade diese Emphase auf der rationalen Kontrolle eine deutliche Negativattitüde gegenüber der emanzipativen Tendenz einer subjektiven Phantasie mitmarkiert. Vgl. dazu Thomsen, Literatur, S. 6zf.
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Johann Christoph Gottsched: Erste G r ü n d e der gesamten Weltweisheit, darin alle philosophischen Wissenschaften in ihrer natürlichen Verknüpfung abgehandelt werden. 1., theoret. Teil. Frankfurt a.M./Leipzig 1733, S. 224.
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D e r Verweis auf die römischen F u n d e wird explizit angereichert u m die genuin ästhetische Bestimmung des >Seltsam Phantastischen«. Dass dies nicht nur Folge explikatorischer N o t ist, zeigt sich, wenn Sulzer der »ausschweifende[n] Verbindung solcher Dinge, die keine natürliche Verbindung unter einander haben« die >überraschende< Wirkung eines abenteuerlichen Traumes« attestiert. 43 Wie der T r a u m jedoch oder das »tolle Geschwätz eines sich närrisch anstellenden Menschen« kann sie nur »eine Zeitlang gefallen« 4 4 . Ihr k o m m t also keine über den M o m e n t ihrer Rezeption hinausgehende Wirkung oder gar tiefere semantische Fundierung zu. Genau aus diesem Grunde aber reizt sie zum Lachen: D a s Groteske gehört »überhaupt in die Gattung des Lächerlichen und Abentheuerlichen, das nicht schlechterdings zu verwerfen ist.« 45 Sulzer vertritt hier eine Position, gemäß derer dem Hässlichen Einlass in das Kunstwerk nur über den U m w e g des Belachbaren zugebilligt wird. Dass ihm die strukturelle Selbstbezüglichkeit der künstlichen Deformation und die durch sie erreichte Irritation noch nicht oder nicht mehr problematisch ist, erklärt sich einmal daraus, dass er den überraschenden und momentanistischen Eindruck, den das Groteske evoziert, nach Maßgabe eines überkommenen Begriffes des Komisch-Lächerlichen definiert. So ist etwa auch nach Lessing eine »unschädliche Häßlichkeit«, die lachen macht, von einer »schädliche[n] Heiterkeit«, die in Schrecken setzt, zu scheiden. 4 6 Allerdings, und dies klingt bei Sulzer deutlich an, unterscheidet sich die groteske Hässlichkeit wesentlich von einem allgemeinen Begriff des Repulsiven darin, dass sie künstlich erzeugt wird. D a s heißt aber auch, dass sie unlöslich mit dem künstlerischen Material und den entsprechenden konstruktiven Verfahrensweisen selber verbunden bleibt. In Bezug auf die Tanzkunst systematisiert Sulzer dementsprechend: Die erste oder unterste Klasse wird Groteske genannt; ihr Charakter ist Ausgelassenheit oder etwas Abentheuerliches. Diese Tänze stellen im Grunde nichts, als ungewöhnliche Sprünge und seltsame närrische Gebehrden, Lustbarkeiten und Abentheuer der niedrigsten Klasse der Menschen vor. D e r gute Geschmack k o m m t daher wenig in Betrachtung [...]. Dieser T a n z erfordert hauptsächlich Stärke. 4 7
Die Äußerlichkeit der Darstellung wiegt offenbar das inhaltliche M o m e n t in dem Maße auf, wie an ihr die ästhetischen Möglichkeiten der jeweiligen Darstellungsmittel und techniken selber ausgelotet werden. Die allen Ansätzen gemeinsame disqualifizierende Rede von den Missgeburten, die geteilte Ausblendung des Monströsen und/oder die Marginalisierung des Grotesken zum harmlos-selbstgenügsamen abenteuerlichen Kraftakt sowie die in all dem zu Buche schlagende Nichtlizenzierung radikaler künstlerischer Willkür, all dies darf nicht darüber
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Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste [1792]. Band II. Hildesheim
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Sulzer, Theorie, S. 448.
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Sulzer, Theorie, S. 448.
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Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766).
1967, S. 448.
In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke. 8 Bände. Hrsg. von Herbert G . Göpfert. München 1 9 7 0 - 1 9 7 9 , Band 6, S. 7 - 1 8 7 , S. 148-152. 47
Sulzer, Theorie, S. 506.
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hinwegtäuschen, dass dasjenige ästhetische Moment, das aus Gottscheds und Sulzers gesicherter aufklärerischer Perspektive als auslachenswerte oder vernachlässigbare Verirrung erscheint, vom Standpunkt einer idealistischen Ästhetik, die sich dem Heraufdämmern des modernen ästhetischen Horizontes der Romantik nicht mehr verschließen konnte, als Symptom ihrer eigenen Krise erlebt wurde. Wieland, dessen Position im deutschen Sprachraum die Abkehr von einer noch bei Moser anzutreffenden klassizistischen Verharmlosung des Grotesken als marginaler Spielerei und seine Konnotierung mit dem Repulsiven und Prekären markiert 48 , hat dementsprechend darauf hingewiesen, das Groteske sei dazu angetan, »empfindende Seelen mit einem vergeblichen Grauen und Ekel zu quälen« 49 . Er leitet damit den eigentlichen Diskurs um den Zusammenhang von komisch-fantastischen Kunstgegenständen und tiefgreifender Irritation ein, die in der Folge unter wechselnden Etiketten: des Grauens, des Dämonischen, des Bösen, des Unbewussten etc. diskutiert wird. Es wäre jedoch unzulässig, den Verweis auf die Vergeblichkeit des ins Werk gesetzten Repulsiven als idealistische Ausblendung einer erst mit der Romantik zu Bewusstsein kommenden möglichen anthropologischen Tiefendimension als neuem hermeneutisch zu erschließenden Gehalt zu verstehen. Wielands Kritik, die hier noch einmal sein Argument paraphrasiert, die grotesken Gebilde dienten >weder dem Nutzen noch dem Vergnügen richtet sich vornehmlich auf die rein formalästhetische und aus diesem Grund pragmatisch ganz und gar nicht verrechenbare Dimension der Deformation. Was als heikel erlebt wird, ist, mit anderen Worten, ein von jeder außerästhetischen Funktionalisierbarkeit emanzipierter selbstgenügsamer Spiel- und Transformationsgestus. Wenn dieser vom aufgeklärten Standpunkt aus etwas Quälendes hat, dann deswegen, weil er den ontologisch-moralisch fundierten Gegensatz von Lust und Unlust im Angesicht hässlicher Gebilde zugunsten des schieren Reizwertes jenseits von Gut und Böse verabschiedet hat. Denn auch der Repuls ist offensichtlich >vergeblichNichtsubstantialität< der Normabweichung, obwohl diese im Handlungsraum des Dramas veranschaulicht wird, nicht einfach und ausschließlich auf dem klassischen Komödienverlaufsschema beruht, d.h. auf der narrativen Darstellung des besonderen Zweckes als eines nichtigen im und durch den zeitlichen Verlauf der Komödie. Hegels vorrangige Diskussion des Komischen in der Komödie darf nämlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Aufhebungsprämisse fur jede Art des Komischen zu gelten hat. Dies deutet seinerseits darauf hin, dass das komödienspezifische zeitliche Verlaufsschema nur die dramatische - wenn auch vorzügliche - Ausprägung einer gene-
s'
Hegel, Ästhetik III, S. 313F.
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Hegel, Ästhetik III, S. 338.
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Hegel, Ästhetik III, S. 315.
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rellen Struktur des Ästhetischen ist: Mit anderen Worten verleiht der proklamierte und (nicht erst seit Hegel) als ästhetisches Muster standardisierte Verlaufszusammenhang der Komödie dem vorab zitierten grundlegenden Gedanken vom Schein der Kunst, der durch sich hindurch auf anderes hindeutet, Realität. Er ist das klassische und - aus der weltanschaulichen Prämisse des Idealismus heraus auf verstehenden Nachvollzug abstellende Ausprägungsmuster eines viel grundlegenderen Phänomens, nämlich derjenigen poetischen Phantasie, die »ihrem Inhalte Zweck für sich selbst sein und alles, was sie ergreifen mag, in rein theoretischem Interesse als eine in sich selbständige, in sich geschlossene Welt ausbilden« muss um ein geschlossenes, autonomes Ganzes zu erzeugen, welches, »der Welt relativer Abhängigkeiten gegenüber frei für sich nur um seiner selbst willen dasteht.«6' Die Erkennung der Abweichung als nichtige und damit komische setzt damit nicht erst am endgültigen Scheitern als zeitlichem Endpunkt der Komödie an. Dann wäre diese erst zu ihrem Ende hin komisch. Vielmehr gilt die Hegeische Prämisse für jeden einzelnen Handlungsabschnitt der Komödie, für jegliches einzelne Inerscheinungtreten der Abweichung. Das heißt aber nichts anderes, als dass der Devianz in jedem Moment im Verlauf der Komödie bereits etwas Nichtiges anhaften muss, um sie komisch wirken zu lassen. Wie ist das zu bewerkstelligen? Nicht anders denn durch die strikte Bindung der Abweichung an den ästhetischen Gestaltungsgestus selbst: Sie wird durch ihre Präsentation als ästhetische, d.h. als erkennbar willkürlich aus der Subjektivität der dichterischen Phantasie heraus geschaffene entsubstantialisiert.62 Hegel hat als erster diesen wesentlichen Zusammenhang von einer im innerdramatischen Zusammenhang veranschaulichten komischen Normverletzung und der künstlerischen Subjektivität auf den Punkt gebracht, und zwar bezeichnenderweise in Gegenüberstellung zur Tragödie, in der die Normabweichung stets auf einen allgemeinen transsubjektiven Horizont hin durchschaubar wird: Um endlich noch eine nähere Bemerkung anzuführen, so erlaubt unter den verschiedenen Arten der dramatischen Poesie die Tragödie einen geringeren Spielraum fur das freie Vortreten der Subjektivität des Dichters als die Komödie, in welcher die Zufälligkeit und Willkür des Subjektiven überhaupt schon von Hause aus das Prinzip ist.6'
Die Komik der Abweichung resultiert damit nicht in erster Linie aus der an den zeitlichen Verlauf gebundenen Darstellung ihres letztlichen Scheiterns, sondern aus ihrer als solche offenbar gemachten rein spielerischen Verfassung. Es geht nicht um dargestellte Unschädlichkeit, sondern um die unschädliche, weil erkennbar willkürliche, sprich: rein ästhetisch verfasste Darstellung (einer Abweichung). Zugleich bedeutet dies: Die Abweichung als ästhetisch hergestellte ist jeglichem pragmatischen Verstehensvollzug, der sich auf die Substantialität eines Inhalts konzentrieren könnte, von vorneherein entzogen. Sie ist nicht erst in die ästhetische Distanz gerückt, sondern die ästhetische Distanz haftet
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Hegel, Ästhetik I/II, S. 15. Vgl. zu diesem Prinzip komischer inventio Rainer Warnings hervorragenden Aufsatz: Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie. In: Wolfgang Preisendanz/Rainer Warning (Hrsg.): Das Komische. München 1976 (Poetik und Hermeneutik 7), S. 279-333, S. 291. Hegel, Ästhetik III, S. 289; vgl. ebd. S. 306, 320.
ihr als Wesensmerkmal an. Das Lachen im Angesicht des Komischen resultiert also nicht aus einer verständnisvollen Einlassung auf die causa der Devianz, sondern beruht auf dem Verstehen, dass es sich bei dem Präsentierten um eine künstlich hergestellte und eben aus diesem Grunde nicht thematisierungsfähige Abweichung handelt.64 Die im Werk vorgeführte Deformation ist von vorneherein als nur gespielte und damit unsubstantielle geoutet. Die wesentliche, innerhalb der Forschung immer wieder betonte, historisch wie systematisch aber völlig unzureichend aufgearbeitete Nähe des Komischen zum Ästhetischen6' entspricht damit im Hegeischen System einer Konvergenz: Hegel fasst das Komische innerhalb seiner Systematik in diesem Sinne als höchste Kunstform, weil es die konstruktive Verfahrensrationalität einer künstlerischen Willkür (als zentralem Modus einer die Autonomie des Gebildes garantierenden schöpferischen Phantasie) und die ästhetische Entsubstantialisierung des Hässlichen (weil Abweichenden) engstens aufeinander bezieht.66 Das Komische ist der je offenbar unternommene und auf sich selbst referierende Vollzug der Möglichkeit eines freien Geistes, das ihm Entgegenstehende zu entsubstantialisieren, indem es von vorneherein als vom Geist durchdrungenes, weil von ihm (ästhetisch) konstruiertes präsentiert wird. Das komische Subjekt innerhalb der Komödie avanciert zur eigentlichen Metapher dieser Aufhebung: Die komische Subjektivität ist zum Herrscher über das geworden, was in der Wirklichkeit erscheint. Die gemäße reale Gegenwart des Substantiellen ist daraus verschwunden [...] 6?
Bestimmt man ein >reflexives Wohlgefallens d.h. eine sinnliche und emotionale Lust, die ihrerseits qua reflexiver Distanzierung zur Unmittelbarkeit des Gegenstandes allererst zustande kommt, zum Spezifikum des ästhetischen Genießens68, dann ist das Komische nicht nur eine seiner Gegenstände, sondern es avanciert bei Hegel zum Paradigma des ästhetischen Prozesses, wobei die Rezeption gleichsam den Produktionsgestus wiederholt. Die Möglichkeit und der Vorgang reflexiver Durchdringung eines Gegenstandes wird an ihm veranschaulicht, insofern dieser Gegenstand ein veranschaulichter nur qua vorheriger reflexiver Durchdrungenheit und ästhetischer Ausformung ist. 6 ' Er ist somit gerade nicht dem Hässlichen/Lächerlichen in der Realität gleichzusetzen.
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Damit ist ausgesagt, dass das Komische nicht einfach auf der Wahrnehmung einer Abweichung, sondern auf der reflexiven Anerkennung eines Phänomen als Abweichung, d.h. als inhaltlich nicht zu bemeisternde und in diesem Sinne inkommensurable Struktur beruht. Zur Diskussion vgl. Horn, Komisches, S. i8f. Hegel, Ästhetik II, S. 358 f. Hegel, Ästhetik III, S. 316. Vgl. Wolfgang Welsch: Ästhet/hik. In: Christoph Wulf/Dietmar Kamper/Hans Ulrich Gumbrecht: Ethik der Ästhetik. Berlin 1994, S. 3-22, S. 5f. Auf die prinzipielle Anschaulichkeit des Komischen wurde innerhalb der Komiktheorie seit Aristoteles immer wieder hingewiesen, ohne dass aber geklärt wurde, wie die damit implizierte gesteigerte sinnliche Unmittelbarkeit, wie sie beispielsweise im Paradigma komischer körperlicher Deformation zu Tage tritt, zugleich mit der dem Komischen wesentlichen Distanzschaffijng auf der Grundlage ästhetischer Überlegungen zu verbinden wäre. Die teils aporetischen Bestimmungen hätten durch eine Einlassung auf die wesentlichen Aussagen einer idealistischklassischen Tradition vermieden werden können, was aus unserer Sicht aus dem Grunde nicht
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Innerhalb der nachhegelschen Theoriebildung funktioniert eine Integration des Widerständigen und Devianten in das Reich des Schönen ebenfalls zentral über das komische Paradigma. Rosenkranz, der darin als Abschluss fungiert, wird am Ende des 19. Jahrhunderts das Komische an ein ihm wesentliches »Ingredienz von Hässlichkeit«70 binden, aufgrund eines angenommenen inneren Zusammenhangs des Schönen mit dem Hässlichen aber begründet sich »die Möglichkeit, daß das Häßliche sich wieder aufhebt, daß es, indem es als das Negativschöne existiert, seinen Widerspruch gegen das Schöne auflöst und in die Einheit mit ihm zurückgeht. [...] In dieser Versöhnung entsteht eine undenkliche Heiterkeit, die uns zum Lächeln, zum Lachen erregt.«71 Das Lachen avanciert in Rosenkranz Verflachung des Hegeischen Gedankenganges zum Indiz anthropologischer Rückversicherung und einer geglückten harmonischen Ausbildung des Menschen. Auch Friedrich Theodor Vischer, der wohl eigenständigste und im Hinblick auf das ästhetische Potenzial der Moderne wohl luzideste Adept Hegels, setzt bei seiner Komikauffassung dezidiert beim Hässlichen an: Dessen Bestimmung als »Erscheinung, welche gegen ihre eigene Idee [...] sich nicht nur auflehnt, sondern in dieser Auflehnung selbst das Schöne zu sein sich anmaßt« 7 1 kündigt in der Relationierung von Hässlichkeit und Schönheit - sprich: nicht in erster Linie einer Idee, die diese Schönheit vermittelt - die Möglichkeit von deren ästhetischem Faszinationscharakter an.73 Während das Hässliche im Modus des Erhabenen eine (ästhetische) Wirkung von Bedrohung und Furchtbarkeit entfaltet74, wird das Hässliche im Komischen geradezu als diese Wirkungen negierender Gegensatz gefasst. Das Komische fungiert als teleologisches Moment hin auf eine Wiederherstellung des Gleichgewichts des Schönen, das in den überbordenden Deformationen des Erhabenen bereits in Frage steht.75 Diese Rekonstitution kommt auch bei Vischer als Reintegration des Hässlichen qua erkennender Durchdringung seiner Scheinhaftigkeit zustande, so dass die in Folge einer Emanzipation der reinen Erscheinung »in Trübung verhüllte Idee«7® im Komischen von Neuem entbunden wird. Auch Vischer betont dabei die Bindung des Komischen an die subjektive Willkür.77
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geschah, weil das komische Körperparadigma auch im Zuge einer postmodernen Debatte zum diametralen Gegensatz einer klassischen Ästhetik stilisiert wurde. Vgl. zur Frage der >Anschaulichkeit< u.a. Jenny Gehrs: Komische Philosophie — Philosophische Komik. Philosophische Komödien und satirische Kritik der Philosophie im 19. Jahrhundert. Heidelberg 1996, S. 74ft; sowie Horn, Komisches, S. 4if. Karl Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen. Leipzig 1996, S. 7. Rosenkranz, Ästhetik, S. 14. Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. 4 Bd. München 1922 — 24. Band I, S. 362. Auf Vischers erweiterten Horizont weist auch seine stellenweise, jedoch nicht unpolemische Einlassung auf die »le laid est le beau«-Diskussion der französischen Romantiker hin. Vgl. etwa Vischer, Ästhetik I, S. 362. Vgl. Vischer, Ästhetik Vgl. Vischer, Ästhetik Vischer, Ästhetik I, S. Vischer, Ästhetik I, S.
I, v.a. S. 257-263. I,S. 358f. 372. 372
Der gesamte nachhegelsche Diskurs um die komische Deformation zeichnet sich also insgesamt durch ein wesentliches Implikat aus: Das Komische ist eine Art der Deformation, in der das Schöne bereits genuin anwesend ist. Dementsprechend konvergieren im Komischen die über die Abweichung evozierte Unlust und die ästhetische Lust darin, dass diese Abweichung selber eine lustige, d.h. eine spielerisch vermittelte und hergestellte ist.78 Indem Hegel das Komische als Abweichung vom Schönen im Zustand ihrer ästhetischen Präsentation definiert hatte, öffnet er damit nicht etwa einer Ästhetik des Hässlichen im Sinne einer Integration realer Widrigkeit Tür und Tor des idealistischen Diskurses, vielmehr gewährt er dem Schönen die Aneignungsrechte am Hässlichen, das Komische
ist das Negativschöne. Dennoch aber ist damit das wesentliche Paradox der idealistischen Ästhetik gesetzt: Die willentliche und absichtliche Erzeugung von Hässlichkeit ist die einzige Methode, die Hässlichkeit von vorneherein als von der Idee durchdrungen zu präsentieren. Die Schillersche Forderung nach »Veredelung«79, bei der der »Stoff durch die Form vertilgt«80, das heißt durch die an ihm vollzogene reflexive Formungsleistung in seiner Eigenständigkeit entsubstantialisiert wird, wird vom Hegeischen Komischen radikaler als wünschenswert eingelöst, denn es tendiert als Spitze einer ästhetischen Entwicklung auf die Seibscabschaffung der Kunst zugunsten einer abstrakteren, das sinnliche Moment völlig verabschiedenden Tätigkeit, der Philosophie: In Hegels Stadientheorie, nach der der Kunstbegriff sich am klassischen Paradigma einer Durchdringung von Form und Inhalt orientiert, nimmt die Komik dermaßen die höchste Stufe ein, sie ist die wesentliche Entsprechung zum bewusstseinsgeschichtlichen Umbruch einer völligen Emanzipiertheit des Geistes vom Stofflichen.
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Bereits Wolfgang Preisendanz hatte mit Souriau darauf hingewiesen, dass das »Komische im Gegensatz zum nur Lächerlichen schon immer die Objektivation eines reflexiven Lachens [...] ist. Das Komische führt, als structure esthetique du risible, die revision reflexive deshalb mit sich, weil in ihm Provokation von Lachen und Justifikation dieses Lachens stets vermittelt sind[...].« Wolfgang Preisendanz: Reflexive Komik. In: Harald Weinrich (Hrsg.): Positionen der Negativität. München 1975 (Poetik und Hermeneutik 6), S. 551-552, S. 552. Preisendanz sieht dabei die justifikation des Lachens als wesentliches Resultat der ästhetischen Vermittlung sicher nicht zu Unrecht als Komplement einer dadurch beabsichtigten Restriktion des Lachens. Nicht eingehender thematisiert wird jedoch der Umstand, dass die Restriktionsbemühungen ethischer Art ihrerseits mit dem grundlegenden Paradigma der >Spielwelt< arbeiten müssen, d.h. dass die Rechtfertigungen des Komischen zuallererst auf seiner Verfassung als >nur< Ästhetischem basieren und dann erst einer ethischen Teleologie dienstbar gemacht werden können. Das ist deshalb so wichtig, weil — wie der Fortgang der Argumentation zeigen wird — die genuin ästhetische Verfassung des Komischen innerhalb der romantischen Moderne gerade zum Gegenteil, nämlich zu einer auf das reflexive Erfassen der ästhetischen Konstruktion abstellenden Entpragmatisierung und Entethisierung des Dargestellten geführt hat.
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Friedrich Schiller: Uber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G . Göpfert. München 6. Aufl.1980. Band 5, S. 570-669, 4. Brief, S. 577 und 23. Brief, S. 642.
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Schiller, Ästhetische Erziehung, 22. Brief, S. 639.
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Vgl. Hegel, Ästhetik III, S.
3 5 8f.
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Vor diesem Hintergrund ist nun auf die durch das Komische geleistete narratio, die sich im zeitlichen Nexus der Komödie niederschlägt und seine Erfüllung im klassischen >guten Ende< findet, zurückzukommen. Sie bleibt nämlich innerhalb einer idealistischklassischen Komödientradition, wie sie von Hegel systematisch aufgearbeitet wird, eine gewichtige Komponente, und das aus einem ganz spezifischen Grund: Die komische Entlarvung des Widerspruchs im inneren Sinnkontinuum des Dramas geht bei Hegel immer einher mit der zum Ende dargestellten Bewusstheit der komischen Figur über ihre Fehlleistung. Dies ist die wesentliche Bedingung der Möglichkeit einer Versöhnlichkeit des Hegeischen Humors. 82 Anzunehmen wäre nun: Das letztliche Scheitern des Komischen und der versöhnliche Schluss weisen zumindest auf die Nichttragfähigkeit einer Devianz auch im sozialen Raum hin und bestimmen das im Inneren des Dramas vorgespielte Selbstbewusstsein der komischen Figur über ihre Fehlleistung zum zentralen Identifikationsschema, und zur ästhetisch gespiegelten Verhaltensregel. In der Tat lehnt Hegel die satirisch-polemische Variante des Lachens, ein rein überhebliches Ver-Lachen also, das das komische Subjekt zum reinen Anschauungs-Gegenstand degradiert, rundweg ab.83 Hegels explizite Anbindung des Komödiengeschehens an das Subjekt des Autors und dessen spielleitende Willkür lässt jedoch erahnen, dass er auch an einer den Raum des Ästhetischen transzendierenden Identifikation nicht interessiert war. Das Schicksal der komischen Dramenfigur ist vielmehr personales Paradigma und sozusagen symbolhafte Manifestation eines grundlegenden ästhetischen Aneignungs- und Souveränitätsgestus, den Hegel als »absolute Freiheit des Geistes«84 bestimmt. Zu fragen ist also, was der eigentliche Fluchtpunkt dieser Emphase auf der Selbstbewusstheit der komischen Figur als conditio sine qua non des Hegeischen Komischen ist. Es geht Hegel mit seinem Plädoyer für die Selbstbewusstheit der komischen Figur wohl vor allem darum, einer Gefahr zu begegnen, die nahezu zwingend mit der Bestimmung des Komischen als ästhetisch nicht nur entlarvter, sondern allererst hergestellter Devianz einhergeht: Das Lachen über die ästhetische Präsentation des Hässlichen könnte sich allzuleicht nur am äußeren Eindruck und an seiner Faszinationsstruktur festmachen, die nicht mehr auf den allgemeinen Begriff zu bringen wären. Dies stünde nicht nur im diametralen Widerspruch zu Hegels inhaltsästhetischer Bestimmung des ästhetischen Scheins, der durch sich hindurch auf anderes deutet. Diesen Modus hat das Komische bereits hinter sich gelassen.8' Das große Problem Hegels ist vielmehr, dass die Distanzierungsfunktion, die im Komischen angelegt ist und die wesentlicher Bestandteil der im Komischen veranschaulichten Emanzipiertheit des Geistes ist, zu einer völligen Distanzierung vom allgemeinen substantiellen Gehalt fuhren könnte, zumal dieser im Komischen ohnehin nur über Umwege, sprich: negativ anvisiert ist. Die gezeigte Devianz wäre gerade aufgrund ihrer ästhetischen Verfassung dem Bewusstsein nicht mehr vollends integrierbar und dermaßen nicht mehr auf das Schöne und das in ihm aufscheinende Wahre hin
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46
Vgl. Hegel, Ästhetik I /IIS, v.a. S.354 und 3j6f. Vgl. Hegel III, S. Hegel, Ästhetik III, S. 339. Vgl. Hegel in Bezug auf das Komische, Ästhetik III, S. 358f.
relationierbar. Das Skandalon lauert also in der Konsequenz von Hegels eigener Argumentation: Das Komische unterscheidet sich vom Hässlichen als »falschem Schein des Sinnlichen< eben dadurch, dass es erkennbar (!) künstlich hergestellt wurde und somit seinen Scheincharakter einbekennt. Dies erst sichert ihm als dem »Negativschönen« (Rosenkranz) nicht nur die ästhetische Lizenz, sondern bringt ihm in Hegels Systematik die Höchstwertung ein. Durch die dennoch nicht aufhebbare Bindung des Komischen an ein Ingredienz von Hässlichkeit scheint damit aber einerseits die traditionelle Geltung des Schönen als alleinigem Vermittler der allgemeinen Idee und der subjektiven Vernünftigkeit in Frage gestellt. Darüber hinaus aber erhält die Deformation über das Komische diejenige ästhetische Anziehungskraft, die früher nur diesem rein Schönen beikam. Das Problem dieser neuen Attraktivität erschließt sich vollends, wenn man bedenkt, dass das Komische mit seiner Bindung an die Deformation nicht wie das traditionelle Schöne auf reiner Transparenz auf eine in ihm vermittelte Wahrheit beruht, sondern im Gegenteil auf der Spannung zum allgemeinen Begriff: Der Zweck aller Kunst ist die durch den Geist hervorgebrachte Identität, in welcher das Ewige, Göttliche, an und für sich Wahre in realer Erscheinung und Gestalt für unsere äußere Anschauung [...] offenbart wird. Stellt nun aber die Komödie diese Einheit nach ihrer Selbstzerstörung dar, indem das Absolute, das sich zur Realität hervorbringen will, diese Verwirklichung selber durch die im Elemente der Wirklichkeit jetzt fur sich frei gewordenen und nur auf das Zufällige und Subjektive gerichteten Interessen vernichtet sieht - so tritt die Gegenwart und Wirksamkeit des Absoluten nicht mehr in positiver Einigung mit den Charakteren und Zwecken des realen Daseins hervor, sondern macht sich nur in dieser negativen Form geltend, daß alles ihm nicht Entsprechende sich aufhebt und nur die Subjektivität als solche sich zugleich in dieser Auflösung als ihrer selbst gewiß und in sich gesichert zeigt. 86
Indem die komische Figur von Hegels System zum Lachen über sich selbst »gezwungen« wird, wird im Inneren des Dramas wesentlich die restlose Aufhebung der ästhetisch in Szene gesetzten Devianz betrieben. W o eine Figur über sich selbst lacht, misst sie im Inneren des Dramas ihre verfehlte Handlung an der Sinnhaftigkeit der Gesamthandlung, wie sie im dramatischen Nexus zu Tage tritt, und reintegriert den komischen Fehler damit in eine Sinnkontinuität, die das Subjektive und das Allgemeine wiederum in Identität treten lassen. Es scheint, das Hegeische Plädoyer für eine Einsicht der komischen Figur verpflichtet die subjektiv verfasste Hässlichkeit des Komischen umso stärker einem allgemeinen Sinnbegriff, als diese Gefahr läuft, sich im Zuge einer modernen Kunst davon zu distanzieren. Darauf deutet Hegels Ablehnung gegenüber der »modernen Komödie« hin. Wenn Hegel davon spricht, dass Figuren der romantischen ironischen Komödie - etwa Tiecks - aufgrund der in ihnen angezeigten Substanzlosigkeit »kein wahrhaftes Interesse erwecken« 87 könne, so ist damit stets die allgemeine Idee als Zielvorgabe einer ethisch fundierten Aufmerksamkeit eingefordert. Die »platten Figuren« der neuen Komödie weichen in der wesentlichen Hinsicht von Hegels komischem Paradigma ab, als bei letzterem innerhalb der dargestellten Devianz immer noch ein Zweck, ein Interesse auszumachen
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Hegel, Ästhetik III, S. 359. Hegel, Ästhetik 1/ II, S. 124.
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ist. Dieses ist zwar verfehlt, falsch, ablehnenswert, jedoch immer noch eine causa, was dem Komischen seine Stellung als Counterpart des Tragischen sichert. Die kritisierte Leere der Figuren innerhalb der modernen Komödie ist somit eine kaum versteckte Polemik gegen die Möglichkeit, ästhetischen Genuss an ihrer rein formalen Verfassung zu finden, die nicht aufs Allgemeine einer höheren Wahrheit hin transzendierbar wäre. Hegel disqualifiziert konsequenterweise in Verbindung mit seiner Kritik der Romantik ein »haltunsglos[es]« Lachen, weil in ihm das »Ideal verlorengehen«88 könnte. Hegel beargwöhnt letztlich nichts anderes als die radikale Konsequenz, die seine eigene Systematik eröffnet: die Möglichkeit nämlich, auf konstruktiv-spielerischem Wege ästhetische Gegenstände herzustellen, die geistig eben nicht mehr durchdringbar sind bzw. es gar nicht mehr sein sollen. Hegels an anderer Stelle geäußerter Vorbehalt gegenüber der romantischen Vorliebe für die formalen Aspekte körperlicher Deformation (wenn sie denn nicht eindeutig zur Charakterisierung des Schlechten tauge89) und seine nahezu völlige Unterschlagung der formalen Aspekts des komischen Spiels - Körperkomik, Komik des Habitus und der Gestalt etc. - sind besondere Indizien einer generellen Aversion gegen eine ästhetisch präsentierte Hässlichkeit, deren Abstand vom geistigen Gehalt unerträglich vergrößert ist. Es mag in diesem Zusammenhang weiter erhellend sein, dass Hegel, anders als sein theoretisches Vorbild Piaton, nicht zwischen Schauspieler und komischer Figur differenziert.90 Die Möglichkeit zu einer dezidiert auf die virtuos-technische, und darin rein äußerliche Vorführung komischer Gesten setzenden Komik, die mit der offenbaren Trennung Darsteller-Rolle den bedeutungsmäßigen Mittelpunkt eines Bühnengeschehens: das Paradigma >Person< in seiner allgemeinen Transzendierbarkeit aufgibt, ist damit ausgeblendet.
2.2.2. Hegels Ironiekritik Mit der in der Stadientheorie diagnostizierten bewusstseinsgeschichtlichen Emanzipation der Subjektivität ist also die prinzipielle Gefahr einer künstlich hergestellten und daher ästhetisierten Hässlichkeit impliziert, die sich ihrer Einschreibung in die Transparenzrelation zum Allgemeinen widersetzt. Zentrales begriffliches Etikett dieser Distanzierung ist für Hegel die moderne romantische Ironie. Sie markiert die negative Umsetzung eines Grundprinzips des Komischen, geradezu dessen Umkehrung. In der Entzweiung von Bewusstsein und Stoff erlangt ersteres eine Form von bedrohlicher Souveränität, die zugleich den wesentlichen Impuls für die Verweigerung gegenüber der allgemeinen Idee und ihren Manifestationen liefert: Dann aber kann auch das Ich Herr und Meister über alles bleiben, und in keiner Sphäre der Sittlichkeit, Rechtlichkeit des Menschlichen und Göttlichen, Profanen und Heiligen gibt es etwas, was nicht durchs Ich erst zu setzen wäre und deshalb vom Ich ebenso sehr könnte zunichte
88
90
48
Hegel, Ästhetik I/II, S. 238. Hegel, Ästhetik I/II, S. 237. Vgl. Gehrs, Komische Philosophie, S. 84.
gemacht werden. Dadurch ist alles Anundfiirsichseiende nur ein Schein, [...] ein bloßes Scheinen durch das Ich, in dessen Gewalt und Willkür es zu freiem Schalten bleibt.«9' Dementsprechend kritisierte Hegel »die Darstellung des Göttlichen als des Ironischen«: Diese Form, abstrakt genommen, streift nahe an das Prinzip des Komischen heran, doch muß das Komische in dieser Verwandtschaft wesentlich von dem Ironischen unterschieden werden. Denn das Komische muß darauf beschränkt sein, daß alles, was sich vernichtet, ein an sich selbst Nichtiges, eine falsche und widersprechende Erscheinung [...] sei. Ganz etwas anderes aber ist es, wenn nun in der Tat Sittliches und Wahrhaftes, ein in sich substantieller Inhalt überhaupt, in einem Individuum und durch dasselbe sich als Nichtiges dartut. [...] Es kommt deshalb bei diesem Unterschiede des Ironischen und Komischen wesentlich auf den Gehalt dessen an, was zerstört wird.92 Das nach Hegel über das Komische eingeläutete »Nach der Kunst« fällt zusammen mit dem Romantischen. Es ist nicht verspekuliert, in der bekannten Hegeischen Ankündigung der Überführung von Kunst in Philosophie einerseits einen proklamierten »Entwicklungsstop< fiir die romantische Ironie als einer »inneren unkünstlerischen Haltungslosigkeit« 93 zu erblicken. Zum anderen tritt Hegels Weigerung zum Vorschein, sich mit einer spezifisch modernen Kunst - nichts anderes meint Hegels Romantikbegriff - auseinander zusetzen, die das Vermögen der Subjektivität bestätigt gerade indem sie ihre eigene Distanzierung von einem allgemeinen Wahrheitsbegriff anzeigt. Man muss sich weiter vor Augen halten: Die Krise, die sich fur Hegel in der Verwandtschaft von Ironie und Komik ankündigt, ist nicht nur durch deren rein formale Analogie begründet. Wenn Hegel die Ironie als »allseitige Vernichtungskunst« 94 bezeichnet und in ihr eine zur ästhetischen Verformungsgewalt verkommene subjektive künstlerische Willkür am Werk sieht, dann deckt er damit eine wesentliche Implikation seiner eigenen ästhetischen Theorie mit auf, die im Plädoyer fiir die Versöhnlichkeit des Humors und in der Ablehnung des Verlachens verschleiert wird: Der im Komischen exemplarisch gewordene Akt einer souveränen Durchbildung und Integration eines Widerständigen in den ästhetischen Kontext eines Werkes, ist selber ohne ein Ingredienz von willkürlicher Uberhebung und darin implizierter Gewalt am jeweiligen Objekt nicht denkbar. Piaton hatte in seinem Philebos (48-50) als erster auf ein Element von Grausamkeit im Lachen hingewiesen; Hobbes Definition des Lachens als »sudden glory arising from some sudden conception of eminency in ourselves, by comparison with the infirmity of others, or with our own formerly« 95 betont den subjektiven Anteil der der Degradation des jeweils Anderen innewohnenden Uberhebungstendenz; auch in der modernen The-
"
Hegel, Ästhetik I/II, S. 120. Hegel, Ästhetik I/II, S. 123. μ Hegel, Ästhetik I/II, S. 239. '« Hegel, Ästhetik I/II, S. 239. 95 Thomas Hobbes: Human Nature. In: Thomas Hobbes: Works. Band IV. London 1840, Kap. IX, art. 13. Im idealistischen Diskurs bereits bei Reni Descartes: Traite des Passions de l'Ame. Artikel CLXXXVIII: »De la Moquerie«. 92
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o n e des Lachens, z.B. bei Bergson, Ribot 9 6 , Beerbohm 9 7 und Koestler
98
wird dem Lachen
ein aggressiver Impuls attestiert. I m Umkreis der Hegel-Exegese hat Christian Weisse in seiner Version des Komischen explizit auf das M o m e n t von Gewalttätigkeit abgestellt. Für ihn, weitaus stärker als f ü r Hegel, ist bereits das Hässliche eine ästhetische Kategorie. E r definiert es zwar analog zu Hegel als Paradigma einer »erlogenen Existenz der Allgemeinheit des absolut Geistigen in der besonderen Erscheinung« 9 9 , aber gerade das sittliche Argument bindet die Deformation an das Problempotenzial, das in willkürlicher ästhetischer F ü g u n g Inbegriffen liegt: Das Hässliche wird nämlich als Ausdruck einer den allgemeinen Geist- und Wertbegriff aggressiv relativierenden Individuation der Phantasie bestimmt: D i e »Substanz der häßlichen Kunst« 1 0 0 besteht darin, dass in ihr »die Darstellung des Inhalts [...] gestört [wird] durch jene sich gewaltsam und frech hervordrängende Subjektivität« 1 0 1 . Das seinerseits auf der romantischen Subjektivität fußende >moderne< Komische steigert sich f u r Weisse demgegenüber in »eine noch gewaltsamere Weise«
102
desselben Gestus.
Eine hochreflexive, von der Bindung ans Allgemeine emanzipierte Form des Komischen, wie sie sich durchweg entlang der romantischen Ironie etabliert, musste dieses >un-moralische< Element subjektiver Überhebung als wesentlichen, jedoch gleichsam verschwiegenen Bestandteil der klassischen Ästhetik erkennen und in Form eines dialektischen Umschlags gegen diese selbst ausspielen. Diese Tendenz macht ihre eigentliche ästhetikgeschichtliche Negativität aus. Sie geriert sich zunächst - unter Auslassung des Gewaltbegriffes im engeren Sinne — als Vollzug subjektiver Bewusstseins-Souveränität und als demonstrative Nichteinlösung auf die Sphäre der Sittlichkeit. 103 Das 116. Athenäumsfragment Schlegels, das die umfassendste Definition der romantischen Ironie enthält, bringt den Zusammenhang einer selbstreflexiv gewordenen romantischen Kunst mit der Radikalisierung des traditionellen Autono-
96
Vgl. zu Ribot: Joachim Ritter: Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt a.M. 1974, S. 68. Vgl. Arthur Koestler: Der göttliche Funke. Der schöpferische Akt in Kunst und Wissenschaft. Bern/München/Wien 1966, S. 45: »Max Beerbohm entdeckte >zwei Elemente im Humor des Publikums: die Lust am Leiden und die Verachtung des Fremdartigen.«< s8 Vgl. Koestler, Funke, S. 4 5 f. 99 Christian Hermann Weisse: System der Ästhetik als Wissenschaft von der Idee der Schönheit. Hildesheim 1966, S. 179. 100 Weisse, Ästhtetik, S. 204. 101 Weisse, Ästhetik, S. 204. 101 Weisse, Ästhetik, S. 197. IO ' Die moderne Selbstreflexion ästhetischer Verfahrensweisen hat mithin zentral an der Komik gegriffen. Wenn diese nach Hegel die höchste Vollzugsform des Ästhetischen ist, gilt für sie die im Schillerschen Postulat vom >reinen Interesse an der Freiheit! vorbereitete Abschirmung ästhetischer Autonomie gegenüber dem alten Anspruch der Sittlichkeit im besonderen Maße. Wenn aber die Komik damit beanspruchtermaßen am weitesten über pragmatische Erwägungen hinaus ist, was innerhalb der Tradition immer wieder — so als komische >Bindungslosigkeit< (Lukian, vgl. Horn, Komisches, S. 153), moralische Gleichgültigkeit (Schiller) >Gefiihllosigkeit< oder >Unempfindlichkeit des Herzens (Bergson) — betont wurde, ist in ihr die Emanzipation einer modernen Ästhetik von der Verpflichtung auf einen allgemeinen Sinnbegriff und die in ihm implizierten moralisch-ethischen sowie pragmatischen Kategorien angelegt. 97
JO
miebegriffes auf den Punkt, wenn es dort von der romantischen Poesie heißt, dass sie »am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer undenklichen Reihe von Spiegeln vervielfachen« 104 könne. Damit ist in der Ironie ein Modus künstlerischer Phantasie sowie ein entsprechendes Rezeptionsverhalten inauguriert, das den Bezug auf Realität u n d klassische Idealität gleichermaßen aufgibt, indem sich die Perspektive des Subjekts dauernd von Neuem und jeweils anders rekonstituiert. Der vom Bewusstsein erfasste Gegenstand wird so disponsibel für die Dynamis von Setzung und Nichtung. Eben diese Definition künstlerischer Willkür ist es, die Hegel in polemischer Weise fur den modernen H u m o r bemüht, von dem er sagt, in ihm gehe »der Künstler immer wieder von seiner eigenen Subjektivität aus und kehrt immer wieder zu derselben zurück, so daß das eigentliche Objekt der Darstellung nur als eine äußere Veranlassung behandelt wird, um den Witzen, Späßen, Einfällen und Sprüngen der subjektivsten Laune vollen Spielraum zu geben.« 105 Die resultierenden »Karikaturen der Phantasie« 106 - und hier sind wir mitten in Hegels Kritik an einem modernen Grotesken - sind das strukturelle Pendant zu einer romantischen Bewusstseinslage, der die »Zerrissenheit und Dissonanz des Inneren« 1 0 7 zum Vorbild einer Neukonzeptualisierung künstlerischer Genialität gerät. Angesichts solcher Tendenzen polemisiert Hegel rundweg gegen eine in der Ironie anvisierte Erschließbarkeit neuer existenzieller und anthropologischer Erfahrungsräume. So wird u.a. im Hinblick auf E.T.A. Hoffmanns fantastische Entwürfe (Hegel: »Humor der Abscheulichkeit und eine Fratzenhaftigkeit der Ironie« 108 ) gegen Ausblicke ins Dämonisch-Metaphysische und ins Unbewusste judiziert: Das lebendig seinsollende Individuum wird in Rücksicht auf diese dunklen Mächte in Verhältnis zu etwas gesetzt, das einerseits in ihm selber, andererseits seinem Inneren ein fremdartiges Jenseits ist, von welchem es bestimmt und regiert wird. In diesen unbekannten Gewalten soll eine unentzifferbare W a h r h e i t des Schauerlichen liegen, das sich nicht greifen u n d fassen lasse. 10 '
Es kann nicht bestritten werden, dass die romantische Fantastik in Teilen versuchte, sich über derartige Tiefensemantik zu profilieren. 110 Die Hegeische Kritik am Zusammenbringen einer »Menge Äußerlichkeiten [...], deren innersten Sinn der Dichter für sich behält«, richtet sich im ridikülisierenden Tonfall generell gegen die Annahme, unter dem Etikett des Romantischen seien willkürlich konstruierte Flickwerke legitim, in denen » die Poe-
104
Zit. nach: Gisela Dischner: Romantische Ironie als reflektiert dionysischer Zustand, als »progressive« Universalpoesie. In: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hrsg.): Lachen - Gelächter - Lächeln. Reflexionen in drei Spiegeln. Frankfurt a.M. 1986, S. 201-210, S.209. "°5 Hegel, Ästhetik I/II, S. 412. 106 Hegel, Ästhetik I/II, S. 412. Hegel, Ästhetik I/II, S. 237. 108 Hegel, Ästhetik I II, S. 318. Hegel, Ästhetik I/II, S. 344. 110 Vgl. Bohrer, Romantisch-Phantastisches, S. 36.
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sie der Poesie und alles Tiefste und Vortrefflichste verborgen, das sich nur eben seiner T i e f e wegen nicht aussprechen lasse.« 111 V o n großer Bedeutung ist, dass Hegel hier ein Argument wiederholt, das er bereits in Bezug auf die archaische - nach der Hegeischen Stadientheorie: »symbolische« - Kunstf o r m gebrauchte, die nach ihm durch ihre fantastischen, bizarren und grotesken Gestaltungen charakterisiert war: Wie viel nun aber bei solcher Unangemessenheit von Bedeutung und unmittelbarem Kunstausdruck, der Dürftigkeit der Kunst, der Unreinheit und Ideenlosigkeit der Phantasie selbst zuzuschreiben, wie vieles dagegen so beschaffen sei, weil die reinere, richtigere Gestaltung fiir sich nicht fähig wäre, die tiefere Bedeutung auszudrücken, und das Phantastische und Groteske eben vielmehr zum Behufe einer weiterreichenden Vorstellung gemacht worden sei - dies ist es eben, was zunächst in sehr weitem Umfange als zweifelhaft erscheinen kann. 112 D e r sachliche T e n o r von Hegels Zweifel wird erst dort u m weitaus schärfere und polemischere T ö n e angereichert, wo nicht mehr eine fragwürdige semantische Relation, sondern der künstlerische Willkürakt als solcher, d.h. das Kernstück der Hegeischen Systematik des Komischen daselbst, zur erneuten Diskussion steht: nämlich in Konfrontation mit einer modernen K o m i k , die sich derselben formalen Prinzipien wie die vergangene symbolische Grotesk-Kunst bedient. So stellt sich für Hegel z.B. an den Texten eines Jean Paul, die auf dem grotesken Eindruck kombinatorischen Witzes und auf dem >barocken< Z u s a m menhang der Teile beruht, das romantische Problem verschärft. Hegel bringt explizit die an Jean Pauls Schriften zu T a g e tretende emanzipierte dichterische Subjektivität in einen Zusammenhang mit der frühesten Epoche der symbolisch-archaischen K u n s t . " 3 Deren wesentliches Charakteristikum: das »Wüste und Groteske in der Vermischung einander widerstrebender Elemente« " 4 , bedingte sich nach Hegel noch aus einer »Unbestimmtheit und Unklarheit«" 5 , auf einer »Mangelhaftigkeit«" 6 der darzustellenden Idee. D i e formale Hässlichkeit der entsprechenden Artefakte resultiert dementsprechend aus einer aufgrund der Ungreifbarkeit der Idee immer wieder gescheiterten Suche nach adäquater Verbildlichung: Indem sie nun in dieser Gegenständlichkeit ihre eigenen Abstraktionen unmittelbar ahnt oder sich mit ihren bestimmungslosen Allgemeinheiten hineinzwingt, verderbt und verfälscht sie die vorgefundenen Gestalten. Denn sie kann sie nur willkürlich ergreifen [...]. 117 D a s D e f o r m a t i v e in der K u n s t Vergangenheit blieb so stets das Indiz einer durchaus legitimen Darstellungsbestrebung, die lediglich aufgrund einer noch nicht vollständig zu sich gekommenen Idee scheitern musste: Denn symbolisch heißt hier nur, daß die Mythen als aus dem Geist erzeugt - wie bizarr, scherzhaft, grotesk usf. sie auch aussehen können, wie vieles auch von zufälligen äußerlichen Willkür-
111 111
"t 115 117
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Hegel, Ästhetik I/II, Hegel, Ästhetik I/II, Vgl. Hegel, Ästhetik Hegel, Ästhetik I/II, Hegel, Ästhetik I II, Hegel, Ästhetik I/II, Hegel, Ästhetik I/II,
S. 413. S. 430. I/II, S. 140 und S. 669. S. 450. S. 133. S. 131. S. 420.
lichkeiten der Phantasie eingemischt sein möge — dennoch Bedeutungen, d.h. allgemeine Gedanken über die Natur Gottes, Philosopheme in sich fassen." 8
Hier zeichnet sich nun der wesentliche Unterschied zwischen archaisch-symbolischer und romantischer Deformationstendenz ab: Letztere hat zu einem Zeitpunkt statt, in der die allgemeine Idee bereits zur vollen Ausprägung gelangt ist. Damit wird ihr von Hegel die entwicklungsgeschichtlich begründete Lizenz für das Difforme verweigert. Hegels Argwohn ist mithin der Perspektive geschuldet, dass es nunmehr gar nichts mehr an idealem Gehalt zu finden gäbe, da dieser bereits vollständig entwickelt sei und dass dementsprechend das moderne Penchant fur Deformation rein vordergründig einer nahezu krankhaften Lust an der bizarren Spielerei entspräche. In der Tat wird das imaginäre Potenzial der >Verunstaltungsromantik< von Hegel vorrangig auf den Generalnenner einer im künstlerischen Willkürakt zu Tage tretenden >scherzhaften< Relativierungsleistung gebracht, die entweder gar nicht inhaltlich zu verstehen sei oder - siehe die Kritik an Hoffmann — die Neigung zur tiefensemantischen Recherche nur als Alibi eines formalistischen Interesses am Hässlichen vorschützt. Es werde die »Seite des äußeren Dasein [...] der Zufälligkeit überantwortet und den Abenteuern der Phantasie preisgegeben, deren Willkür ebenso das Vorhandene, wie es vorhanden ist, widerspiegeln als auch die Gestalten der Außenwelt durcheinander würfeln und fratzenhaft verziehen kann.«" 9 Hegel bereitet damit entlang seiner Kritik der romantischen Ironie einen Diskurs um die Problematik des Grotesken vor, der seither immer wieder anzitiert wird, ohne dass der Rekurs auf die romantischmoderne Bewusstseinsfassung der Ironie und der zentrale moderne ästhetische Überbietungsmodus dabei immer in den Focus gerieten. Nur in der Rückschau lässt sich jedoch die Aporie ermessen, in die der traditionelle ästhetische Spielbegriff, der im Komischen höchste Ausprägung erfahren hatte, nunmehr geraten war und inwieweit diese Krisis zur Konstituierung einer ästhetischen Kategorie maßgeblich beitrug. Die dichterische Subjektivität als Paradigma einer zu sich gelangten und vollendeten Geistigkeit120 stellt auf künstlichem Wege Gegenstände her, die in ihrer qua Deformation erreichten Opakizität und Inkommensurabilität dem Heteronomen der kruden Realität nahezu analog sind, nur dass sie eben alles andere als natürlich sind. Mit anderen Worten: Das bereits im herkömmlichen Komischen ausgespielte Prinzip ästhetischer Distanzierung büßt im Kontext romantischer Kunst zusehends seine Qualität als Rettungsanker der Relation von Allgemeinem und Besonderem ein; eine Qualität, welche ihm nach dem Ende einer klassischen Periode der Durchdringung von Form und Inhalt (der zweiten Phase in Hegels Epochensystematik) noch wesensmäßig zukam. Diese Entwicklung basiert auf einer ironischen Relativierung des künstlerischen Aktes selber, dessen einziger semiotischer Fluchtpunkt die offensive Zurschaustellung der eigenen Originalität ist - »Geschäft des Spaßes nur des Spaßes wegen«121
118 119 120 121
Hegel, Ästhetik I/II, Hegel, Ästhetik I/II, Vgl. Hegel, Ästhetik Hegel, Ästhetik I/II,
S. 432. S. 140. I/II, S. 140. S. 413.
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2.2.3· Die Gewaltsamkeit des Grotesken Spaß? — das wesentliche Implikat der Hegeischen Besorgnis mag hier euphemistisch überspielt sein. Da Hegel das Etikett des Grotesken - entsprechend der an der archaischen Kunst zu Tage tretenden Divergenz von Bedeutung und Ausdruck - zur Kennzeichnung der formalen Verfassung der entsprechenden Gegenstände gebraucht hatte, kann angenommen werden, dass dem modernen Grotesken, das dem archaischen Hässlichen in formaler Hinsicht gleicht, ebenfalls etwas von der besonderen Wirkung des Hässlichen der archaischen Kunstform zukommt. Diese Wirkung hatte Hegel zum einen als »Gärung, Rätselhaftigkeit und Erhabenheit« 122 bestimmt und damit auf die in der Verformung zu Tage tretende semiotische Spannung von Form und einem in ihr indiziertem aber nicht auf den Begriff zu bringenden Gehalt abgestellt. Z u m anderen aber hatte er an den entsprechenden Gegenständen einen Eindruck von Gewaltsamkeit festgestellt, der durch die beständig enttäuschte Suche der Idee nach einer ihr angemessenen Form an den Naturgegenständen entstünde: [...] sie taumelt in ihnen herum, sie braut und gärt in ihnen, sie tut ihnen Gewalt an, verzerrt und spreizt sie unnatürlich auf und versucht, durch Zerstreuung, Unermesslichkeit und Pracht der Gebilde, die Erscheinung zur Idee zu erheben.12' Erinnern wir uns, dass eine der wesentlichen Negativbestimmungen der romantischen Kunst durch Hegel deren allseitiges Vernichtungsinteresse war, das sich in Form erschreckender >Fratzen< manifestierte, die den Gedanken an einen höheren Sinn und Gehalt durch ihre schiere äußerliche Präsenz eskamotierten. Nach den Abstrichen, die von Hegel in punkto Vorhandensein eines tragfähigen Inhalts an der romantischen Ironie- und Groteskkunst gemacht wurden, deutet also auch die bewusste Relationierung von romantischer und archaischer Phase im Hinblick auf formalästhetische Konvergenzen daraufhin, dass als das wesentliche Spezifikum auch der ersteren eine genuin aggressive Verformungsund Entstellungstendenz zu gelten hat. Weiters - da diese keinen ernstzunehmenden Inhalt mehr verzeichnen lässt - , dass das resultierende Difforme in seiner reinen Äußerlichkeit und Opakizität dem rezipierenden Bewusstsein als tiefgreifende Irritation erscheint. Rein semiotisch mag diese sich als Moment radikaler signifikativer Enttäuschung äußern, eine Perspektive, die es erlaubt, das jeweilige Kunstwerk als abgeschmackte Plattheit zu disqualifizieren. In jedem Falle konterkariert wird die überlegene Hegeische Kritik an der >Leere< romantischer Groteskgebilde aber durch den bei ihm nachgerade als >Ekel< sich manifestierenden intensiven Impakt, den sie ob ihrer reinen Äußerlichkeit hervorrufen. Auf der Stufe der modernen Kunst, und das heißt: nach der radikalen Verabschiedung der Gehalt-Prämisse setzt sich die vormalig als Form-Inhalt-Spannung definierte Rätselhaftigkeit des Grotesken nur noch als aggressiv-gewaltsame, weil die Sinne und apperzeptiven Vermögen des Rezipienten zutiefst herausfordernde, ja gleichsam überfallende Wirkung des ästhetischen Aktes und der von ihm produzierten formalen Gebilde fort.
122 I2
Hegel, Ästhetik I/II , S. 135. ' Hegel, Ästhetik I/II, S. 134 vgl S. 4 4 iff.
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Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass Hegels Bestimmung des archaischen Erhabenen die traditionelle Kategorie eines subjektiven Erhabenen, wie es in der klassischen Tragödientheorie als Bestätigungsvehikel für die Instanz des Individuums in seiner Konfrontation mit einer an ihm vollzogenen Ordnung gesetzt ist 114 , außer Acht lässt. Diese Version bestimmte zentral auch noch Kants Definition des Erhabenen als eines Prädikats der Vernunft, wobei Kant die idealistische Tradition mit der fur den angelsächsischen Sprachraum exemplarischen sensualistischen Spekulation Edmund Burkes, verband.125 Die englische (und französische) Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts hatte dabei im Gegensatz zur deutschen Aufklärung eine wirkungsgerichtete Fundierung der Ästhetik betrieben, die sich entsprechend in einer besonderen sensations- und nicht vorrangig inhaltästhetischen Fassung des Erhabenen niederschlug. In der englischen Diskussion wurde dabei vor allem, wie Carsten Zelle gezeigt hat, auf den Umstand verwiesen, dass und inwieweit das Schreckliche und Hässliche seine repulsiven Merkmale qua Asthetisierung einbüßen und im Sinne eines intensiven Reizes anziehend wirken könne: Vorraussetzung für derartige Ansätze war eine Aufgabe der starren Opposition von Schönem und Hässlichem, der sich terminologisch im lexikalischen Wechsel von deformity zu ugliness niederschlug. So gibt bei Burke ugliness, also das Hässliche, nicht aber deformity, also die Deformation den eigentlichen Gegensatz zum Schönen ab. Objekten der ästhetischen Anschauung kommt so das Prädikat von Schönheit bei trotz ihrer Assoziation mit Unvollkommenheit.126 Burke betont vor diesem Hintergrund neben der rätselhaften »obscurity«127 erhaben erscheinender Gebilde den Schreckens- und Gewaltaspekt des evozierten Eindrucks, »terror« und »power«'28. Auch wenn ihm die positive Emphase auf der Goutierbarkeit des Irritierenden und Schreckerregenden fremd ist, rekurriert Hegel an den besprochenen Stellen implizit weitaus stärker auf eine Quasi-Burksche Version des Erhabenen und versagt sich den idealistischen Optimismus Kants. Das Groteske zeitigt bei ihm erhabene Wirkung in Form eines nicht vernunftmäßig reintegrierbaren oder hermeneutisch reduziblen Eindrucks von Gewaltsamkeit, der keinerlei semantische oder narrative Legitimation besitzt. Die Entschärfung, ja Bannung der erhabenen Wirkung zugunsten subjektiver Vernünftigkeit wird bei ihm erst durch die systematische Historisierung erreicht, wonach das Erhabene wesentlich einer vergangenen Kunstperiode angehört. Die implizite Wiedereinführung des Erhabenen >durch die Hintertürs nämlich in Ansehung der von den Romantikern verfertigten komisch-bizarren Werke zeigt jedoch an, wie wenig deckungsgleich sich die relativ rigide, auf ideellen Prämissen beruhende historische Systematik und die luzide ästhetische Diagnostik in Hegels Ästhetik zueinander verhalten.
124
Vgl. Zelle, Ästhetik des Hainichen, S. 2iif; Zelle, Doppelte Ästhetik, S. 124ft sowie Sabine
125
Vgl. Zelle, Doppelte Ästhetik, S. 161.
Kleine: Z u r Ästhetik des Häßlichen. V o n Sade bis Pasolini. Stuttgart/Weimar 1999, S. 152fr. 126
Vgl. zu all dem: Zelle, Ästhetik des Häßlichen, S. 2iif.
127
Vgl. E d m u n d Burke: A Philosophical Enquiry into the Origin of O u r Ideas of the Sublime and
128
Vgl. Burke, Enquiry, S. 96ff und n o f f .
Beautiful. N e w York 1971, S. 99ft
55
In der Tat liefern Hegels Analysen plausible Erklärungen für die vom Stufenmodell negierte Möglichkeit, dass der im klassischen Komik-Begiff als dessen Kern angelegte reflexive Überhebungs- und Konstruktionsgestus in der Tat mit der beginnenden Moderne zu dialektischem Umschlag gelangen und darin eine weitreichende Dynamik hin auf eine erhabene, oder treffender: schreckliche Inkommensurabilität entwickeln könnte. 2.2.4. Nachhegelsche Bestimmungen des Grotesken: Volkelts »ungeheuerliches Nichts< - Rosenkranz' >Grotesktanz< (mit einem Rekurs auf Flögeis >Harlekinals Gegenstände kontemplativer Versenkung< (Walter Benjamin) als den zentralen Modus einer ästhetischen Wirkung erkennt. Die Unfixierbarkeit des jeweiligen Eindrucks, das formale Moment des >Herumtaumelns< des archaischen Erhabenen entspricht strukturell passgenau dem an der romantischen Ironie und ihrer Groteskgebilde kritisierten Umstand, >daß es ihr mit keinem Inhalte mehr ernst istVerpuffungheftigSchön< wird eine romantische Kunst entsprechend durch die in ihren Bizarrerien zu Tage tretende reine Selbstreferenz und die in ihr manifestierte künstlerische Willkür:
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Friedrich Schlegel: Vom ästhetischen Wert der Griechischen Komödie. In: Friedrich Schlegel: Kritische Schriften und Fragmente, Band I, S. 11. Schlegel, Schriften I, S. 14 und S. 12. Vgl. Friedrich Schlegel: Gespräch über Poesie. In: Friedrich Schlegel: Kritische Schriften und Fragmente, Band II, S. 209. Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente. In: Schlegel: Kritische Schriften und Fragmente Band II, S. i n , Fragment 75 und vgl. ebd. S. 1465, Fragment 389. Vgl. Schlegel, Schriften, S. 134, Fragment 305; vgl. S. 145, Fragment 379. Schlegel, Schriften II, S. 135, Fragment 310.
Sie allein ist undenklich, wie sie allein frei ist, und das als ihr oberstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leidet. 141
Mit all dem ist eine prinzipielle Differenz zwischen den Hässlichkeiten der Natur und der ästhetischen Deformation gesetzt. Ein avanciertes romantisches Kunst-Bewusstsein beweist sich im Grotesken als souverän gegenüber den realen Widrigkeiten, in dem es diese in den ästhetischen Raum transponiert und dort zum Gegenstand des Genusses transformiert. Die entscheidende Differenz zu Hegel ist Schlegels Emphase auf der mutwilligen Lust am Schlechten und Widrigen, auf der Liebe zum Schein des Zufälligen und Seltsamen. Sie postuliert nicht mehr Abarbeitung und Ausblendung, sondern die selbstgewisse Einlassung auf den äußeren Reiz des Hässlichen. Die romantische Reflexion auf die der klassischen Autonomieästhetik konstitutive Relation von Schönheit und künstlerischer Freiheit fuhrt so zu einer radikalen Umwertung der klassischen Prämisse: Das Vergnügen an der Deformation wird zum eigentlichen Indiz für ästhetische Emanzipation. Das wesentliche Kriterium künstlerischer Originalität, das somit vornehmlich im Hinblick auf die »Abarten der Poesie, selbst die exzentrischen und monströsen«141 ins Auge sticht, verleiht diesen auch eine wesentliche Impulsfunktion für die Konstituierung einer neuen Form der Kunst143, die schließlich im Gespräch über Poesie zu ihrer Programmatik findet: Schlegel hat nunmehr den Begriff des Grotesken - ob seiner diskursgeschichtlichen Verbindung zu einem niederen Komischen einerseits, wie zu einer moralisch aufgeladenen darstellenden Komik andererseits - zugunsten desjenigen der Arabeske aufgegeben. In ihm tritt das Moment absoluter künstlerischer Verfügungs-Rationalität und damit das Postulat einer extremen Differenz zur Realität des Faktischen stärker hervor: J a , diese künstliche geordnete Verwirrung, diese reizende Symmetrie von Widersprüchen, dieser wunderbare ewige Wechsel von Enthusiasmus und Ironie, der selbst in den kleinsten Gliedern des Ganzen lebt, scheinen mir eine indirekte Mythologie zu sein. Die Organisation ist dieselbe und gewiß ist die Arabeske die älteste und ursprünglichste Form der menschlichen Fantasie.' 4 4
Die wesentlichen Programmpunkte dieser neuen Mythologie erfüllen, obwohl in Schlegels optimistischer Emphase das negative, bei Hegel als Aggression (»Vernichtungskunst«) auftretende Moment ästhetischer Emanzipation, nicht eigens expliziert wird, relativ passgenau die Kriterien, welche Hegel den ironischen Fratzen des romantischen Grotesken attestierte: Zum einen referiert das arabeske Gebilde als das »Künstlichste aller Kunstwerke«'45 rein auf sich selbst. Das von Hegel erblickte Skandalon, dass die Auto-
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Schlegel, Schriften II, S. 115, Fragment 116.
142
Schlegel, Schriften II, S. 117, Fragment 139.
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Diese Abarten fasst Schlegel als »Vorübungen der Universalität«, d.h. als Vorstufe zu einer romantischen ironischen Universalpoesie, die sich damit wesentlich auf der Grundlage einer Theorie des Komischen und des Hässlichen profiliert. Vgl. Schlegel, Schriften II, S. 117, Fragment 139.
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Schlegel, Schriften II, S. 204.
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Schlegel, Schriften II, S. 201.
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nomie des deformativen Gebildes durch dessen offen zur Schau gestellte konstruktive Durchbildung allererst zustande kommt, wird von Schlegel als positives Spezifikum einer progressiven romantischen Kunst geadelt. In diesem Bedingungsverhältnis von Deformation und Autonomie müssen, wie von Hegel beargwöhnt, die moralische Dimension und die Bindung an die Allgemeinheit der Idee verloren gehen. Eine »von den Schwingungen des Humors»' 46 beseelte Kunst ist mit sittlicher Reizbarkeit nicht vereinbar, »Selbstständigkeit des Schönen« beruht darauf »dass es vom Wahren und Sittlichen getrennt sei und getrennt sein solle, und daß es mit diesem gleiches Recht habe [..,].«147 Vollends umgekehrt werden die Hegeischen Dünkel, wenn aus der formalästhetischen Eigenwertigkeit der Gegenstände ein entsprechender Rezeptionsmodus abgeleitet wird, nämlich »daß man sich ganz aus sich selbst affizieren, über Nichts in Affekt geraten und ohne Veranlassung fantasieren kann.«148 Eine solche affirmative Einlassung auf das >Leere< und »Substanzlose* ist für Hegel undenkbar, zumal sie mit dem nunmehr ins Positive gewendeten Implikat einer spezifischen Wirkung verbunden ist: demjenigen tiefgreifender Irritation als Negation der Möglichkeit zu vernunftmäßiger Einlassung. Denn das ist der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen [...]'49
Die Wirkung des romantischen Fantatsisch-Schönen ist nicht mehr nach semantischen Kriterien referierbar, allgemein aussagbar oder transparent auf das >Wahreneuen Mythologie* ein modernes Sublimes anvisierte vgl. Zelle, Doppelte Ästhetik, S. 266 und 269. Bereits im Werk Boileaus, einem der ersten Theoretiker des Erhabenen, wird der Begriff der »beau desordre« mit dem dadurch implizierten Versagen der herkömmlichen Verstehensleistung — »je ne sais quoi« — zu einem besonderen Begriff des Sublime verzahnt. Wenn Schlegel ein Erhabenes im Sinne hat, dann eben nicht dasjenige, die subjektive Vernünftigkeit bestätigende einer idealistischen Tradition, sondern dasjenige, welches in einer wirkungstheoretischen und sensationsästhetischen Tradition, die u.a. von Longinus, über Boileau, Dubos bis hin zu Burke reicht, vermittelt wurde. Vgl. dazu Zelle, Doppelte Ästhetik, S. 58.
ten Ahndungen desselben in ein grauses Chaos gemischt zu einer ungeheuren Tragikomödie der Menschheit so bizarr als möglich verwebt sind.' 50
Der Befund stellt sozusagen die Umkehrung oder besser: die Radikalisierung des späteren Heineschen Diktums dar, dass das »Ungeheuerste, das Entsetzlichste, das Schaudervollste, wenn es nicht unpoetisch werden soll [...] nur in dem buntscheckigen Gewände des Lächerlichen«15' zur Anschauung gebracht werden könne. Mit der Selbstreflexion des Komischen in Gestalt der romantischen Ironie avanciert das Groteske zu derjenigen Anschauungskategorie, entlang derer auch der beobachtbare Schrecken der Realität zum Vehikel gleichsam ästhetischer Lust wird. Wenn seit dem 18. Jahrhundert das Erhabene die zentrale Kategorie abgibt, um mit der Heteronomie der natürlichen und geschichtlichen Realität nicht nur ästhetisch umzugehen, sondern diese ästhetisch zu bewältigen, dann markiert das Groteske der Schlegelschen Version einen Kulminationspunkt: Die Wirklichkeit ist dem ästhetischen Blick in einem Maße disponsibel geworden, dass sich ihr Furchtbares nunmehr rein als >ästhetischer Genuss« reflektieren lässt. Diese Umwertung bedeutet jedoch eine weitaus stärkere Distanzierung von der Realität, als die Theorie des Erhabenen im deutschen Sprachraum sie seit dem 18. Jahrhundert im Sinn hatte. Versuchte man im zunächst, auf die Gegenvernünftigkeit der Realität durch eine ästhetische Integration des Schrecklichen zu antworten und es zugunsten der Bestätigung einer transzendentalen Vernunft zu entschärfen, ohne dass das reale Faktum dabei seine repulsiven Merkmale verlor, so konvergieren nun die Erfahrung des Furchtbaren und die ästhetische lustvolle Einlassung: Schrecken wird ästhetisch.'52 Er wird nicht mehr vorrangig als metaphysisch, moralisch oder anderweitig beurteilbarer Gehalt des Schrecklichen, sondern in seiner das Rezeptionsvermögen verstörenden äußeren Erscheinungsqualität wahrgenommen. Diese >Irritation minus vernunftmäßiger Integration« ist prinzipiell mit dem ästhetischen Modus einer schrecklichschönen Verwirrung und einer lustvollen Erfahrung von Negativität kompatibel. 153
150 ,s
'
151
153
Schlegel, Schriften II, S. I5if, Fragment 424. Heinrich Heine: Brief an Friederike Robert. In: Heinrich Heine: Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Säkularausgabe. Band zo: Briefe. Berlin/Paris 1970, S. 217-220, S. 219. Zum Erhabenen und seiner modernen Durchdringung mit dem Grotesken vgl. das Kapitel über Hugo in vorliegender Arbeit sowie dasjenige über die Konvergenz des Hässlichkeitsparadigmas mit dem Gewaltimago innerhalb der französischen Diskussion. Wiederum ist hier auf Burke zu verweisen, der die >pkasure*-generierende Wirkung des Erhabenen als Effekt der ästhetischen Distanz beschrieben hatte, die bei ihm nichts anderes meint als die eigene Sicherheit vor dem schrecklichen Angeschauten. Vgl. Burke, Enquiiy, S. 60 Dabei bestimmt Burke die ästhetische Lust als abhängig davon, dass das Angeschaute nicht wirklich zur Gewalttätigkeit gegenüber dem Betrachter sich auswächsc. Eine Gewaltmäßigkeit der ästhetischen Erscheinung durch die hochirritative Unterbrechung des pragmatisch Gelebten qua ästhetisch inszenierter Deformation gerät ihm noch nicht in den Blick. Der Befund harrt seiner theoretischen Ausprägung bei Baudelaire und im Umkreis einer französischen Romantik, fiir die der schreckliche Aspekt von Gebilden dezidiert an deren ästhetische Struktur rückgebunden wird. Vgl. dazu den Abschnitt über Hugo, Baudelaire und die englischen Clowns in vorliegender Arbeit.
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Das Groteske löst das Erhabene des 18. Jahrhunderts in diesem Sinne ab, einmal als ironische Negierung der erhabenen Instanz des erklärenden Bewusstseins, zum anderen aber als Affirmation seiner formalen Qualitäten. In Schlegels Befund zur historischen Revolution kündigt sich diese veritable ästhetische Revolution an. Von großer Bedeutung dabei ist, dass Schlegels formalästhetische Relativierung des historischen Geschehens unter dem Etikett des Grotesken undenkbar ist ohne die in der Theorie der ironischen Universalpoesie ausgearbeitete Fassung radikal subjektiver ästhetischer Distanzierung. Die bereits von Hegel an der romantischen Ironie kritisierte Subjektivität avanciert bei Schlegel zur conditio sine qua non ästhetischer Gestaltung und Wahrnehmung. Die damit in Gang gesetzte Gefährdung pragmatischen Begreifens und moralischen Empfindens kann im historischen Diskurs wohl nicht hoch genug veranschlagt werden. Es geht nicht um die eskapistische Emanzipation einer modernen Ästhetik von der Allgemeinheit des Denkens und Empfindens (diese sollte erst später zur Forderung werden). Es geht um die Herausforderung von deren Grundlagen, es geht um die Gefährdung des herkömmlichen ästhetischen Urteilens und um die Gefährdung der Grenze, die Realität und Ästhetik trennt. Bereits Goethe hatte - im Hinblick auf E.T.A. Hoffmanns romantische Phantasiestücke - mit der ernsten Besorgnis reagiert, dass »ein hohler Tageswahn hier als Urteil, und zwar als ein [...] das Zeitalter bedrohendes Urteil auftritt« welches »nur aus dem einzelnen Menschen und seiner augenblicklichen Stimmung«154 geboren sei. Wie zu zeigen sein wird, lebt auch die französische Diskussion um das Groteske sehr wesentlich von einer offensiven Außerkraftsetzung der prekären Dimensionen realer Gegebenheiten. Die Pantomime, als groteske Kunst par excellence wird, vor allem zu Ende des 19. Jahrhunderts, die Relation auf die Wirklichkeit des Schrecklichen nach Maßgabe eines gout de macabre unter energetisch-formalen Prämissen reorganisieren. Inwieweit diese Tendenz romantischen Vorstößen geschuldet ist, wird sich zeigen lassen. Von Bedeutung ist, dass das, was im deutschen idealistischen Diskurs als Prekäres reflektiert und einer harten Kritik unterzogen wurde, innerhalb der romantischen Bewegung selber positiv umgeschrieben wurde. Bevor an Victor Hugo eine solch entscheidende und initiale Transkription für den französischen Raum verifiziert werden soll, muss auf deutsche Gewährsmänner eingegangen werden, zumal sich Spuren ihrer Emphase auf einem ästhetischen Mehrwert des Hässlichen bis in die französische Decadence hinein auffinden lassen. 2.2.7.
Das Groteske im Umkreis der deutschen Romantik
2.2.7.1. Jean Paul und Vischer Was blieb nun dem poetischen Geiste nach diesem Einsturz der äußern Welt noch übrig? Die, worin sie einstürzte, die innere. Der Geist stieg in sich und seine Nacht und sah Geister. Da aber die Endlichkeit nur an Körpern haftet und da in Geistern alles unendlich ist oder ungeen-
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J.W. Goethe: Brief an Eichstädt. In: Geothe-Briefe. Hrsg.von Ph. Stein, Berlin 1905. Band VII, S. 17.
dig:: so blühte in der Poesie das Reich des Unendlichen über der Brandstätte der Endlichkeit auf. 1 "
Jean Paul ist in seiner Infragestellung des sicheren Rückzugsgebietes >Geist< sicherlich durch und durch romantisch.156 Anders als beispielsweise im Falle Hoffmanns und auch Novalis wird in seinen theoretischen Texten der Gedanke, poetische Deformation könne in Form eines semantischen Verweises einen fantastischen Assoziationsraum öffnen und so neue Sinnbezirke erschließen, nahezu völlig umgangen. Paul blendet in seiner Komiktheorie das Metaphysikproblem und die ihm wesentliche Implikation des Moralischen sogar explizit aus: Wenn er den Humor als das >umgekehrte Erhabene< und das Lächerliche als das mnendliche Kleine< bestimmt, welches dem ehrfurchtgebietenden unendlichen Großen; komplementär sei, dann um ihm sogleich das Reich des tätigen Verstandes zuzuweisen, denn im »moralischen Reich gibt es nichts Kleines.«'57 Diese Eingangserklärung hat freilich nichts Skrupulöses. Vielmehr trägt sie ihrerseits der subjektivistischen Prämisse zu. Definiert Jean Paul das Lächerliche als Paradigma eines »sinnlich angeschauten unendlichen Unverstandes«1'8, so fallen nämlich drei Spezifika ins Auge. Zum einen wird das Moment sinnlicher Anschauung weitaus stärker als z.B. bei Hegel betont. Entsprechend ist nicht von einem Komischen als gehaltmäßiger, auf einem falschen Zweck beruhender und daher in den allgemeinen Begriff reintegrierbarer Figur die Rede, sondern von einem »Lächerlichen«'59 im Sinne einer formal-strukturellen kontrastiven Fügung, die eine entsprechende äußerliche, sensationsästhetische Wirkung zeitigt: den Widerspruch, worin das Bestrebe oder Sein des lächerlichen Wesens mit dem sinnlich angeschauten Verhältnis steht, nenn' ich den objektiven Kontrast; dieses Verhältnis den sinnlicherf6°
Hatte Hegel am Lächerlichen den subjektiven Uberhebungsgestus kritisiert, so avanciert dieser bei Paul — entlang der romantischen Subjektphilosophie der Schellingschen Schule zum eigentlichen Grund des Vergnügens, es gilt, dass das Komische »nie im Objekte wohnt, sondern im Subjekte.«'6' Damit ist jedoch nicht auf die subjektive Einsicht in den komischen Widerspruch angespielt, vielmehr verabsolutiert Paul das bereits bei Hegel als Spezifikum des Komischen
155
Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. Nach der Ausgabe von Norbert Miller hrsg., textkritisch durchges. und eingeleitet von Wolfhart Henckmann. Hamburg 1990, S. 93. 156 Jean Paul kann als einer der ersten modernen Theoretiker des Grotesken im deutschen Sprachraum gelten, obwohl er den Begriff nicht erwähnt. Bereits bei Schlegel jedoch wird seiner Kunst das entsprechende Etikett attribuiert. Vgl. dazu Thomsen, Literatur, S. 46ff. 157 Paul, Vorschule, S. 109. 158 Paul, Vorschule, S. 114. Vgl. Paul, Vorschule, S. iozff und S. n 4 f f . Paul spricht an anderer Stelle vom Komischen, allerdings kommen diesem ebenfalls die formalen Qualitäten dessen zu, was Hegel als nur >Lächerliches< kritisiert. ,6 ° Paul, Vorschule, S. 114. ,6 ' Paul, Vorschule, S. 110.
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gefasste Moment der Willkür - interessanterweise zunächst analog zu Hegels Ablehnung der moralistischen Satire. Gegenüber deren verweisender, unmittelbar der sozialen und moralischen Pragmatik zutragender Verfassung ist ihm das wahrhaft Komische Paradigma einer freien Phantasietätigkeit und des poetischen Spiels schlechthin, weil in ihm »zu jedem Grade sich ein subjektiver Kontrast erfinden läßt, der kleiner macht.«162 Charakteristisch für den im Komischen ermöglichten »Genuss [...] des ganz für das Freie entbundenen Verstandes«163 ist somit der Mangel an vernunftmäßiger und moralischer Gegenindikation, »das Komische gleitet ohne Friktionen (Reibungen) der Vernunft und des Herzens vorüber, und der Verstand bewegt sich in einem weiten luftigen Reiche frei umher, ohne sich an etwas zu stoßen.«*64 Im selben Sinne betont Jean Paul immer wieder die Lauterkeit des gleichsam entfesselten ludischen Gestus, der entbundene Verstand hätte »ein dermaßen frei gelassenes Spiel [...], daß er es sogar an geliebten und geachteten Personen treiben kann, ohne sie zu versehren; denn das Lächerliche ist ja nur ein von uns in uns selber geworfener Schein«16*. Paul wertet in der Folge das Hegeische Verdikt um, wenn er die Idee des Humors aufgrund der in ihr begriffenen Möglichkeit unendlicher beliebiger Kontrastsbildung ebenfalls als >vernichtendApr£s vous avoir ebloui autant que vous avez voulu l'etre, contraint ä se raontrer ä vous dans toute sa difformite, il obeit en esclave qui premediti la revoke: il ne veut vous laisser aucune idee raisonnable et distincte, melant le grotesque au terrible; le puerile des ses escargots lumineux ä la decouverte effrayante de son horrible tete; enfin le mensonge ä la verite; le repos ä la veille; de manure que votre esprit confus ne distingue rien, et que vous pussiez croire, que la vision qui vous a frappe, etait moins 1'effet de sa malice, qu'un reve occasionne par les vapeurs de votre cerveau.frappiertmodernen Grotesk-Erhabenen< in so hohem Maße mit rein wirkungsästhetischen Implikaten angereichert, dass er fortan auch als Begriff fur ein artifiziell verfasstes, vom Prinzip der äußeren Dynamik bestimmtes aktionsgeladenes Spektakel fungieren kann. Darin, und nur darin, liefert er auch einer grotesken Ästhetik der Pantomime des 19. Jahrhunderts, die sich als Kunst des optisch frappierenden Spiels geriert, ihr wesentliches theoretisches Fundament. Die zentrale Vermittlerrolle, die im französischen romantischen Diskurs einigen wenigen herausragenden Vertretern zukommt - und das gilt vor allem fur Hugo - bemisst sich stets anhand zweier Aspekte: Einmal wird in dezidierter Ablehnung des Napoleonischen Klassizismus und seiner politischen Instrumentalisierung ein gesamtgesellschaftliches, dezidiert republikanisches Verständnis von Literatur und Kunst allererst ermöglicht, einschließlich der Möglichkeit zu politischer und sozialer Einflussnahme fiir eine ganze Generation von Künstlern. Zum anderen bedeutet die Absetzung von klassischen Mimesis-Konzepten die dieser Emanzipation komplementäre Recherche nach neuen Darstellungsprämissen, die geeignet waren, die Allgemeinverbindlichkeit der bis dato gültigen poetischen Tradition zu durchbrechen, um eine der postrevolutionären Situation angemessene Ästhetik hervorzubringen.7 Entscheidend für den, mit gut zwanzigjähriger Verspätung gegenüber der deutschen Romantik einsetzenden engeren ästhetischen Diskurs ist die Emphase, die entlang der Querelle von klassischer Mimesis-Konzeption und einem erwachenden poetischen Selbstbewusstsein, auf zwei einander komplementäre Prinzipien gelegt wird: Zum einen wird das um den Begriff der vraisemblance organisierte klassische >Nachahmungs-Konzept zugunsten des Ausdrucks der verite von Natur und sozialer Realität modifiziert. Die künstlerisch vermittelte belle nature wird als Bezugsgröße zugunsten der vraie nature zurückgewiesen. Entsprechend avanciert bei Hugo das Groteske, von ihm zunächst als Etikett für alle von der traditionellen Ästhetik bisher ausgegrenzten Bereiche des Faktischen bemüht, zum Ausweis einer poesie plus vraie, einer poesie complete des neuen romantischen Dramas: [...] le caractere du drame est le reel; le reel resulte de la combinaison toute naturelle de deux types, le sublime et le grotesque, qui se croisent dans le drame, comme ils se croisent dans la vie
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Vgl. Naugrette, Theatre Romantique, S. 21.
et dans la creation. Car la poesie vraie, la poesie complete, est dans l'harmonie des contraires.«8
Bereits dieses Zitat aus der Preface de Cromwell zeigt, dass Hugos Grotesktheorie des Dramas eindeutig der Tendenz auf verite verpflichtet ist. Zum anderen aber geht diese Ausrichtung auf die Wirklichkeit in all ihren mit dem klassischen SchönheitsbegrifF und der ihm entsprechenden Kategorien unvereinbaren Aspekten mit einer Entgrenzung künstlerischer Freiheit, der liberte de la creation, einher.5 Obwohl z.B. Volker Kapp meint, dass Hugos Ansatz hierin auf wesentliche Aspekte eines klassisch-romantischen Literaturverständnisses des 17. und 18. Jahrhunderts bezogen bleibt, so ist dennoch die revolutionäre Geltung der Schrift im Kontext einer sich konstituierenden Moderne unbestreitbar.10 Das hat damit zu tun, dass in ihrer Doppelemphase auf verite und creation die eigentliche Darstellungsproblematik der französischen Romantik enthalten ist. Die grundsätzliche Schwierigkeit im Umgang mit der französischen Romantik, die mit Rene Girards Buch Mensonge romantique et Verite romanesqu^1 zum ersten Mal theoretisch reflektiert wurde, ergibt sich angesichts des paradoxen Doublebinds von realistischer Emphase und imaginativer Lizenz. Die Propagierung des Natürlichen in der Kunst und der Ausrichtung auf die Realität zieht mit der Freisetzung der Subjektivität des Künstlers grundsätzlich auch die Differenz von Natur und Kunst mit in Betracht und kann diese Kluft nur aufgrund von theoretischen Annahmen überbrücken, die jedoch eine Darstellungs- und Vermittlungsästhetik völlig dekonstruieren.12 An Hugos Groteskbegriif tritt wie nirgends sonst die entsprechende romantische Ambivalenz zu Tage: Zum einen ist der Ausgriff auf das Hässliche der i>eVift?-Prämisse geschuldet, zum anderen aber handelt es sich, der Gebrauch des Terminus grotesque als Oberetikett für alle Arten
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Victor Hugo: Preface de Cromwell. In: Victor Hugo: Theatre complet. Paris 1963, S. 409-454, S. 425. Vgl. zum paradigmatischen Zusammenhang der Prinzipien von liberte und verite und seiner Prolongierung in den auf die französische Romantik folgenden literarischen Schulen: Emile Verharen: Hugo et le Romantisme. Edition presentee par Paul Gorceix. ο.Ο. [Paris] 2002, S. 47ff. Vgl. Volker Kapp: Victor Hugos Konzeption des Welttheaters in der >Preface de Cromwelk In: Theatrum Mundi. Götter, Gott und Spielleiter im Drama von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. von Franz Link und Günter Niggl. Berlin 1981, S. 257-277. Rene Girard: Mensonge romantique et Verite romanesque. Paris 1961. Vgl. dazu: firic Drayre: Traduction et Politique. In: Modernite et Romantisme. Textes reunis par Isabelle Bour, Eric Drayre et Patrick Nee. Paris 2001, S. 317-330, S. 268f. Für den deutschen Raum hatte nicht nur Schlegels Hässlichkeitsbegriff eine derartige doppelte Entgrenzung vorbereitet, sondern auch an Novalis ist, wie Britta Herrmann unter Rekurs auf Novalis' theoretische Prämissen gezeigt hat, das spezifisch moderne »Bewußtsein eines künstlichen Naturideals« zu verzeichnen, dem gemäß der Dichter nicht mehr nachahmt, sondern »er arrangiert, strukturiert, codiert und verdichtet die Sinnbezüge im Text derart, dass statt einer idealen eine supranaturale Wirklichkeit entsteht, deren Kunstcharakter stets offen zutage tritt.« Deren Etikett ist das >WunderbareDramatischenDramatischen< herum arrangierte neue Dramen-Poetik aus dem christlichen Ideologem einer Leib-Seele-Dissoziation. Die »civilisation moderne«, auf die das romantische Drama relationiert ist, begründet sich aus der Erkenntnis, dass der Mensch zwei Leben zu leben habe:
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So etwa ganz dezidiert und unter nahezu völliger Ausblendung des modernen ästhetischen Diskurses Günter Stolzenberg: Die romantische Opposition. Ästhetisches Naturverhältnis am Ursprung der Moderne. Lüneburg 1998, S. I28f. Letzteres scheint überhaupt die wesentliche Schwierigkeit nicht zuletzt in Ansehung des Hugoschen Groteskbegriffes sein. Dessen terminologische Herkunft ist nach wie vor ungeklärt. Einflüsse französischer Theorien, z.B. seitens Chateaubriands, werden ebenso angenommen wie Parallelen zum Schlegelschen Arabesken-Begriff, der zentral auf das Moment gegensätzlicher und verwirrender Eindrücke abstellt. Vgl. dazu Zelle, Doppelte Ästhetik, S. 299/Anm.ioo. Dabei ist zu betonen, dass bei Hugo die Reflexionsform der Ironie, die fur Schlegel wesentlicher Ausgangspunkt war, nahezu völlig abgeht. Ein weiterer möglicher Grund ftir die einseitige Verortung Hugos in einem >sozial engagierten< romantischen Kontext.
l'une passagfcre, l autre immortelle, l'une de la terre, l'autre du del. Elle lui montre qu'il est double [...], qu'il y a en lui un animal et une intelligence, une äme et un corps; en un mot, qu'il est le point d'intersection [...]. 15
Dementsprechend produziert der mit dem duplexen christlichen Menschenbild zu Tage tretende »demon de Γ analyse«"5 (ein Begriff, der deutlich auf das Ironiebewusstsein Hegels verweist) konfligierende Bewusstseinstrukturen, die das moderne Zeitalter zum dramatischem machen. Im Zentrum des Wirklichkeitsbegriffes Hugos steht damit nicht vorrangig die nüchterne Beschreibung sozialer Wirklichkeit (einschließlich sozialer Parteinahme), sondern die Einlassung auf die Dualitätsproblematik als Indiz eines modernen Bewusstseins von einer Realität, die angesichts ihrer sozialen und anderweitigen Entgrenzungen ansonsten völlig unüberschaubar wäre. Es gilt sich vor Augen zu fuhren, dass mit dem Wegfall eines klassischen Weltbildes im Zuge der Revolution die Außenabsicherung einer Mimesis in absolutistischen Ordnungsvorstellungen verschwunden ist und sich stattdessen, zumal im Kontext der Emanzipation des Bürgertums, der Vergroßstädterung und der Industrialisierung etc. dem Betrachter ein weithin diffuses Bild von der Realität bot. Dieses Bewusstsein reduziert aber die Vielfältigkeit der Realität in der Tat auf ein künstliches, d.h. der Wirklichkeit von oben herab oktroyiertes Antithese-Modell: das des Gegensatzes von Materie und Geist/Seele, der sich als Antithetik von Hässlichem und Schönem auf die Kunst überträgt. Die Promotion des Hässlichen in Gestalt des Grotesken ist dieser vorausgehenden Reduktion der Realität geschuldet und ohne sie gar nicht denkbar.: Le christianisme i m b e la poisie ä la verite. C o m m e lui, la muse moderne verra les choses d'un coup d'oeil plus haute et plus large. Elle sentira que tout dans la creation n'est pas humainement beau, que le laid y existe ä core du beau, le difforme ρ res du gracieux, Ie grotesque au revers du sublime, le mal avec le bien, I'ombre avec la lumiere.' 7
Das abbreviaturische Interesse Hugos in seiner Korrespondenz zur christlichen Auffassung fuhrt konsequenterweise zur expliziten Wendung gegen die direkte und umstandslose Nachahmung der Wirklichkeit: Le po£te, insistons sur ce point, ne doit done prendre conseil que de la nature, de la verite et de l'inspiration qui est aussi une veriti et une nature. [ . . . ] La nature done? La nature et la verite. - Et ici, afin de montrer que, loin de demolir l'art, les idees nouvelles ne veulent que le reconstruire plus solide et mieux fonde, essayons d'indiquer quelle est la limite infranchissable qui, ä notre avis, separe la realiti selon l'art, de la r^aliti selon la nature. II y a etourderie ä les confondre, comme le font quelques partisans peu avances du
romantisme.
La verite de l'art ne saurait jamais etre [...] la realite absolue. L'art ne peut donner la chose meme.' 8
15
Hugo, Preface, S. 413.
16
Hugo, Preface, S. 416.
'7
Hugo, Preface, S. 416.
18
Hugo, Preface, S. 435.
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On doit reconnaitre, sous peine de l'absurde, que le domaine de l'art et celui de la nature sont parfaitement distincts.'9
Das hier verflochtene und immer wieder veranschlagte Konzept einer »originalste personelle«2·0, die die subjektive Imagination zu einer Natur sui generis stilisiert, hebt die Verpflichtung auf eine Vermittlungsauthentizität im Hinblick auf das Faktische auf. Vielmehr wird das romantische Drama der Realität in Form einer dem Kontrastprinzip verpflichteten rein formalen Strukturanalogie zugeordnet: le sublime et le grotesque, qui se croisent dans le drame, comrae ils se croisent dans la vie et dans la creation. Car la po&ie vraie, la poesie complete, est dans l'harmonie des contraires. 11
Diese Harmonie jedoch ist bei Hugo ausgesprochen einseitig auf dem Hässlichen gewichtet, das für ihn zum Paradigma ästhetischer Fruchtbarkeit schlechthin erhoben wird: Gegenüber einer »uniforme simplicite du genie antique« 22 zeichnet sich das Hässliche durch die Vielfalt der von ihm gesetzten Reize aus. Es ist der Garant formaler Polymorphie: »Le beau n'a qu'un type; le laid en a mille.«23 Zum eigentlichen Ort einer Ästhetik des Hässlichen und damit zur paradigmatischen Kunstform seiner Epoche bestimmt Hugo das Drama aus dem Grunde, weil es aufgrund seiner Strukturtypologie prädestiniert ist, als ästhetisches Pendant zu der an der Realität modellhaft festgestellten formalen Gegensätzlichkeit und Kontrastvielfalt zu fungieren: [...] le drame, qui fond sous un meme souffle le grotesque et le sublime, le terrible et le bouffon, la tragedie et la comedie, le drame est le caractere propre de la troisieme epoque de poesie, de la litterature actuelle.24
Drama ist in diesem Sinne nicht mehr eine künstlerische Form unter vielen, sondern es avanciert zum In- und Leitbegriff begriff von Literatur und Kunst schlechthin. Das alles setzt aber eine entscheidende Reperspektivierung des Begriffes von Drama voraus: Das dramatische Werk wird nicht mehr in erster Linie vom inhaltlich-narrativen Standpunkt aus wahrgenommen: Hugos Satz: »Dans le drame [...] tout s'enchaine et se deduit ainsi que dans la realite.«25 funktioniert nämlich nur, insoweit das Theater in seiner Anbindung an die Kategorie des Hässlichen dezidiert als »un point d'optique«26 begriffen wird, dessen wesentliche Gemeinsamkeit mit der Realität in dem Umstand begründet liegt, dass es aufgrund seiner transistorischen Natur im Verbund mit seinem formalen Reichtum andauernd neue Reize ftir das rezipierende Bewusstsein liefert. Wie fur das Hässliche der Natur gilt fur es: »il nous presente sans cesse des aspects nouveaux, mais incomplets.«27
19 20 21 22
23 24 26 27
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Hugo, Hugo, Hugo, Hugo, Hugo, Hugo, Hugo, Hugo, Hugo,
Preface, Preface, Preface, Preface, Preface, Preface, Preface, Preface, Preface,
S. S. S. S. S. S. S. S. S.
436. 435· 425. 417· 420. 422. 426. 436. 421.
Diese Prämisse der Kontingenz, d.h. der Flüchtigkeit stets wechselnder Eindrücke, die in die consecutio narrationis eine Serie rein formaler Reize einblendet und ihres Sinngehalts weitgehend entkleidet, profilieren die vormalige inhaltsästhetisch bestimmte Kunstform des Dramas zum Paradigma einer Wirkungsästhetik um, in dem der Unterschied von dramatischer Form und theatralem Spektakel theoretisch ausgehebelt ist. Das Drama wird im Hinblick auf seine Auffuhrung verfasst und diese wird unter dem Gesichtspunkt des optischen Spektakels fokussiert. Es ist für die Dramengeschichte von nicht zu unterschätzender Bedeutung, dass die so geleistete Promotion des Hässlichen zur Zentralkategorie der modernen Ästhetik dezidiert auf einen formalistischen, weil auf die sensationsästhetische Wirkung konfligierender äußerer Gegensätze abstellenden Dramenbegriff aufbaut et vice versa das moderne grotesk-hässliche Drama/Theater seine Wertigkeit allererst in seiner Fundierung in einer modernen Ästhetik des Hässlichen erhält: Es ist dabei wie das Hässliche auf den Abstand angelegt, den ein subjektiver dichterischer, auf die Spezifik des dramatischen FormemtAsxih abgestimmter genialischer Gestus - »si complexe, si varie dans ses formes, si inepuisable dans ses creations«28 - zu einem für die traditionelle Ästhetik bis dato wesentlichen Begriff von Schönheit (»l'uniforme simplicite du genie antique«29) und Wahrheit einnimmt. Das eigentliche moderne Moment kommt der Hugoschen Schrift jedoch darin zu, dass sie das zum optischen Reizzusammenhang umdefinierte und in diesem Sinne groteske Dramatische keineswegs nur strukturell beschreibt. Vielmehr ersetzt Hugo die Inhaltlichkeit des herkömmlichen Dramas dezidiert durch ganz spezifische wirkungsästhetische Prämisse, die an einer Uberwindung des Gegensatzes von Komischem und Schrecklichem festmacht. Zunächst hat es in der Tat den Anschein, Hugo erweitere einfach nur den Raum des Darstellungswürdigen um das Hässliche und Komische im Sinne einer Antithetik von Hässlichem und Schönem und belasse es dabei. Genügend Phrasen deuten darauf hin, etwa wenn er schreibt, dass »tout dans la creation n'est pas humainement beau, que le laid y existe ä cote du beau, le difforme pres du gracieux, le grotesque au revers du sublime, le mal avec le bien, l'ombre avec la lumiere.«30 Bei dieser Seit-an-Seit-Stellung von Groteskem und Sublimem handelt es sich jedoch nur um Eingangsreflexionen, deren rhetorische Unscharfe allerdings sogar prominente Theoretiker wie Grojnowski dazu gebracht hat, Hugo einer Beibehaltung der »antinomie entre les modes bas et eleve«31 zu zeihen.
28 Hugo, Preface, S. 417. 29 Hugo, Preface, S. 417. 30 Hugo, Preface, S. 416. 31
Daniel Grojnowsi: Aux Commencements du Rire moderne. L'Esprit fumiste. Paris 1997. Darin Beginn des Kapitels »Les Genres Comiques et la Question du Rire«.
8?
3·
Die frappierende Wirkung des Grotesken
Im Fortgang seiner Argumentation jedoch löst Hugo diesen Dualismus beider Positionen durch eine Integration ab: Er gelangt von der Vorstellung eines Umgebenseins des Sublimen durch das Groteske: »le sublime environne de tous le grotesques«32 über deren Annäherung: »melis de grotesque et de sublime«33 schlussendlich zu einer Allianz: »du grotesque allii au sublime«34. Der eigentliche Sinn dieser Abfolge von Näherungsgraden ist es, über die historische Erforschung des je und je anders gearteten Verhältnisses der beiden Größen schlussendlich über deren Verbindung ein »sublime moderne«35 zu konstituieren und dermaßen von allen voraufgehenden, klassischen Formen des Sublimen im Sinne einer inhaltlich-metaphysisch fundierten grandeur abzugrenzen36: Hugos Groteskes ist ein Grotesk-Erhabenes, das sowohl die referentiell-realistische Tendenz des herkömmlichen Komisch-Hässlichen außer Kraft setzt, wie es ihm in der Folge eine genuin ästhetische Wirkmächtigkeit zuerkennt, die aus dem Umkreis eines Dynamisch-Erhabenen kommt. Zugleich dient die Beibehaltung des Terminus des Grotesken und Difformen dazu, das Erhabene seinerseits von jeder metaphysischen Aufladung zu befreien und es als Paradigma ästhetischer Wirkung, und zwar einer Wirkung, die nahe am Schrecken ist, zu reetablieren. Wie verfährt Hugo dabei? Zunächst etikettiert er die Funktionsweise von hässlicher Kunst durch die Metapher des >Konzentrationsspiegels: D'autres, ce nous semble, l'ont άέ)k dit: le drame est un miroir oü se reflechit la nature. Mais si ce miroir est un miroir ordinaire, une surface plane et unie, il ne renverra des objets qu'une image terne et sans relief, fidMe, mais decolore: on sait ce que la couleur et la lumiere perdent a la reflexion simple. II faut done que le drame soit un miroir de concentration qui, loin de les affaiblir, ramasse et condense les rayons colorants, qui fasse d'une lueur une lumiere, d'une lumiere une flamme.37
Das groteske Werk konzentriert also auf artifiziellem Wege die Reize eines realen Hässlichen, wobei das Bild der Flamme bereits auf den energetischen Aspekt dieser Konzentrierung anspielt, den Hugo im Folgenden fokussiert. Es verwundert daher nicht, wenn die Kreativitätsprämisse einer »originalitd«38, und die darin zu Buche schlagende »perception plus fraiche et plus excitee«33 des Künstlers, die sich weder an eine überkommene Abbildungs-Regel noch an ein kanonisiertes Schönes mehr zu halten bereit ist, als »accent
31 33 34 35
36 37 38 39
84
Hugo, P^face, S. 422. Hugo, Preface, S. 425. Hugo, Preface, S, 426. Hugo, Preface, S. 4i9f. Vgl. dazu generell: Suzanne Guerlac: The impersonal Sublime. Hugo, Baudelaire, Lautreamont. Stanford 1990. Vgl. dazu Zelle, Doppelte Ästhetik, S. 30if. Hugo, Preface, S. 436. Hugo, Preface, S. 419. Hugo, Priface, S. 419.
energique«40 ausgewiesen wird. 4 ' Als Gewährsmänner einer solchen Auffassung dienen Hugo dabei ausgerechnet die Klassiker Aristoteles und Boileau: C e precepte effectivement, qui donne pour regle de ne point garder quelque regies, est un mystere de l'art qu'ils n'est pas aise de faire entendre ί des horames sans aucun goüt... et qu'une espece de bizzarerie d'esprit insensibles ä qui frappe ordinairement les horames.< - Qui dit cela? c'est Aristote. Qui dit ceci? c'est Boileau. 4 2
Das aus einem souveränen ästhetischen Konstruktionsgestus, nämlich einer bizzarerie d'esprit heraus verfasste, regellose Werk frappiert: Es bricht in seiner konstruktiven Ungeordnetheit mit jeglicher Abbildungsübereinkunft und darin kommt ihm eine irritierende Wirkung auf den Rezipienten zu. Der historische Schlenker bindet die Hugosche Version des Grotesken an einen französischen ästhetischen Diskurs an, der — im Gegensatz zur deutschen aufgeklärten Diskussion - eine ästhetische Versinnlichung des Geistigen und in der Folge eine sensualistische Emotionalisierung der Kunsttheorie betrieb. Die Subversion der klassischen Tradition durch Hugo steht damit, wie schon bei Schlegel positiv-emphatisch inauguriert, wie schon bei Hegel beargwöhnt, unter dem Vorzeichen einer geforderten wirkungspoetischen Un-Ordnung, die ihre erste Ausprägung innerhalb der französischen Ästhetik bereits in den Reflexions critiques sur la Poesie et la Peinture (1719) von Jean Baptiste Dubos erhalten hatte. Während Dubos unter dem Eindruck der Eintönigkeit ästhetischer Konformität mit der Forderung nach dem sublime zugleich ein wirkungspoetisches Defizit des Nur-Schönen anvisiert und im Verbund mit Crousaz {TratteDu Beau, 1715)43 die sensualistische Tradition in Frankreich ästhetiktheoretisch einholte44, war es Boileau, der bereits im Jahre 1674 den Klassizismus mit der gleichzeitigen Veröffentlichung seiner die doctrin classique befestigenden L 'Art poetique und seiner Pseudo-Longinus-Ubertragung Tratte du Sublime*5 herausforderte.46 Der von Longinus herausgestellte wirkungsästhetische Effekt des Erhabenen scheint unvereinbar mit der auf Gehalt abstellenden Ästhetik der französischen Klassik. Das Verständnis dieses Effekts, so wie Boileau es Longinus' Traktat über die erhabene Rede unterstellt, gemahnt jedoch stärkstens an die Hugosche Version vom frappanten Impakt des Grotesken auf den Rezipienten: Boileau betont »cet extraordinaire et ce merveilleux qui frappe
40
Hugo, Preface, S. 419.
41
M i t dieser Betonung der Energetik des ästhetischen Eindrucks eröffnet H u g o eine Linie moderner Poetik und Stilistik, die über die französische Romantik und Balzac bis hinein in die Avantgarde fuhrt. Siehe zum Aspekt des energetischen Paradigmas und seiner Umsetzung beispielsweise bei Balzac: Christine Marcandier-Colard: Crimes de Sang et Scenes capitales. Essai sur l'Esthetique de la Violence. Paris 1998, S. 98f.
42
Hugo, Preface, S. 453f.
43
Vgl. Jean-Pierre de Crousaz: Traite du Beau. Amsterdam 1715, v.a. Kapitel III und V I I .
44
Vgl. Jean-Baptiste Dubos: Reflexions critiques sur la Poesie et la Peinture. [Paris 1719] G e n f
45
Nicolas Boileau-Despreaux: Traite du Sublime, ou du Merveilleux dans le Discours, traduit du
46
Vgl. zu all dem Zelle, Doppelte Ästhetik, S. 302.
1967 [Nachdruck der 7. Auflage 1770], S. iff. G r e c du Longin. In: Nicolas Boileau-Despreaux: CEuvres completes. 1966. S. 331-440.
85
dans le discours, et qui fait qu'un ouvrage enleve, ravit, transporte.«47 Die Kategorie des Wunderbaren erscheint als Garant dieser auf der Instantialität des Eindrucks und dem Überraschungsmoment basierenden Wirkung: II faut done entendre par Sublime dans Longin, L'Extraordinaire, le Surprenant, et comme je l'ai traduit, le Merveilleux dans le discours.48
Hugo bestimmt nun, ganz unspezifisch (d.h. nur in Aufzählung von Figuren wie Jago, Falstaff, Hamlet und Othello, aber ohne Verweis auf konkrete dramatische Strukturen und Motive) Shakespeare zum Vorbild seiner Melange von Groteskem und Sublimem, wenn er sagt: Shakespeare, c'est le Drame; et le drame, qui fond sous un meme souffle le grotesque et le sublime, le terrible et le bouffon, la tragedie et la comedie. 49
Es ist von großer Bedeutung, dass Hugo, der in der Preface auf Shakespeares Bruch mit der Eindeutigkeit dramatischer Kategorien sowie den im Zuge dessen freigesetzten Formenreichtum als Paradigma einer modernen Ästhetik des Grotesken rekurriert, nun, in einem anderen Text aber am selben Beispiel, das Gewalttätige eines solchen über das Difforme produzierten überraschenden und irritierenden Eindrucks exponiert und dabei wiederum die dichterische Subjektivität zu dessen Motor bestimmt. Die durch das englische Vorbild in Szene gesetzten »monstres du sublime« sowie der im »contact des extremes« erzielte »coup de theatre« seinen nicht auf Inhaltlichkeit hin entworfene, sondern exzentrische, nach außen schockant wirkende Fügungen eines individuellen Stils, der vorrangig zu irritieren wünscht: Die im frappanten Stil manifestierte dichterische Imagination »deroute«, »meurtrit«, »excede«. Die dichterischen Genies ä la Shakespeare zielen in ihrer regelbefreiten ästhetischen Entwurfsfreude auf den offensiven Bruch sowohl mit der verstehenden Ratio als auch — das ist wichtig - auf die Störung eines empathischen Modus. Alle herkömmlichen Zugangsmodi werden nicht etwa in ihrer assoziativen Kapazität ausgeweitet, sondern geradezu aggressiv gestört und gewaltsam unterminiert: Votre intelligence, ils la depassent; votre imagination, ils lui font mal aux yeux; vos entrailles, ils les tordent; votre coeur, ils le brise; votre äme, ils l'emportent. 50
In seiner Rückschau auf die symbolistische und dekadente Phase der französischen Literatur hatte Gustave Kahn auf den sich innerhalb der französischen Romantik im Ausgang von Hugo universalisierenden Einfluss Shakespeares hingewiesen. Die im Werk des Franzosen ebenfalls von Kahn diagnostizierte Konvergenz von dramatischem Aktionismus und formaler Exzentrizität beruhte somit auf einer dem Werk des Engländers unterstellten Prämisse: dem Primat äußerer Wirkung vor inhaltlicher Tragfähigkeit als Charakteristikum einer modernistischen Schreibart, deren wesentliche Instanz gerade in der Dramatik die dichterische Subjektivität ist. 51
47 48 49 50 51
86
Boileau, Traite, S. 338. Boileau, Traite, S. 338. Hugo, Preface, S. 422. Victor Hugo: Critique. Paris 1985, S. 377, S. 376, S. 372. Vgl. dazu Gustave Kahn: Symbolistes et Decadents. Genf 1977 [Reprint], S. 284^
Shakespeare erhielt - neben Schiller - seine Wertigkeit als »grand maitre dans le drame romantique«52 also keineswegs, wie etwa Fürst, die französische Rezeption darin von der deutschen abgrenzend, meint, durch seine realistisch-volksnahe Darstellung eines »comprehensive picture of the world«53, sondern geradezu im Gegenteil durch die ästhetisch raffinierte Irritation jeglichen Verstehens und Begreifens. Lessing hatte bekanntlich in seinem 17. Literaturbrief den Focus für die folgende deutsche Auseinandersetzung vorgegeben und dabei daraufhingewiesen, »daß das Große, das Schreckliche, das Melancholische, besser auf uns wirkt, als das Artige, das Zärtliche, das Verliebte.«54 Wenn Lessing anhand dieser spezifischen Affinität die grundlegende Differenz zu Frankreich mitimplizierte, dann gilt das vorrangig im Hinblick auf eine französische Klassik, die zwar das >Barbarische< des Shakespeareschen Stils stets zentral in den Focus gerückt, jedoch dabei mit gehöriger Skepsis und Abstandnahme quittiert hatte.55 Der generelle aufgeklärte Dünkel ob eines >wilden< Stils war aber bereits durch Diderot merklich zurückgenommen worden. In seiner aus dem Jahre 1758 datierten Schrift De la poesie dramatique hatte er - unter dem Eindruck Burkes - schon darauf hingewiesen, dass Dichtung in Zeiten des Krieges prinzipiell das barbarische Element zu verzeichnen habe: La poesie veut quelque chose d'enorme, de barbare et de sauvage C'est lorsque la fureur de la guerre ou du fanatisme arme les hommes de poignards, et que la sang coule ä grands flot sur la terre, que le laurier d'Apollon s'agite et verdit. [... ] Quand verra-t-on naitre des poetes? C e sera apres les temps de desastres et de grands malheurs; lorsque les peuples harasses commenceront ä respirer. Alors les imaginations, ebranlees par des spectacles terribles, peindront des choses inconnues ä ceux qui n'en ont pas ete les temoins. 5 6
Das Diderotsche Szenarium ist prinzipiell mit der postrevolutionären Situation des Frankreichs des frühen 19. Jahrhunderts - und, wie sich zeigen wird, auch mit der späteren gealterten Epoche - kompatibel. Aber bereits Diderot begriff das Schreckliche, die Eingangsworte belegen das, offensichtlich nicht rein als Abbildung realer Gräuel, sondern auch als im Sinn einer die Realität formal analogisierenden poetischen Stileigentümlichkeit. Wenn auch erst die Guizotsche Shakespeare-Übersetzung von 1821 Shakespeares nachhaltige Wirkung auf das zeitgenössische französische Theater einleitete, indem sie deutlich machte, dass Shakespeares Stil einem modernen Zeitalter angemessener war als
51
Dedeyan, Drame Romantique, S. 373.
55
Vgl. Lilian R. Fürst: Shakespeare and the Formation of Romantic Drama in Germany and France. In: Gerald Gillespie (Ed.): Romantic Drama. Amsterdam/Philadelphia 1994, S. 2 - 1 6 , S. 12.
54
"
Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften. Stuttgart 1982. Band V I I I , S. 43. Vgl. dazu die sehr gute und umfassende Darstellung von Dedeayan, D r a m e Romantique, S.
56
17fr.
Denis Diderot: D e la Poesie Dramatique. In: Denis Diderot. CEuvres Esthetiques. Textes etablis, avec introduction, Bibliographies, notes et releves de Variantes par Paul Verniere. Paris 1965, S. 1 7 7 - 2 8 7 , S. 26if.
87
das klassische System57, so hatte bereits zwei Dekaden vorher, nämlich im Jahre 1800, Germaine de Stael Shakespeare bereits als einen Dichter bestimmt, in dessen Darstellungen des Schreckens eine eigentümliche ästhetische Eigen-Dynamik zu Tage trete: eine »Energie dans la terreur« und ihn darob zum »roi des epouvantements«58 gekrönt.
4.
D i e Nivellierung des Unterschiedes von >innerer< und >äußerer< Hässlichkeit und die komische >Verkleinerung< des Erhabenen
Das Skizzierte hat für Hugos Groteskbegriff entscheidende Folgen: Denn in der Tat bedeutet die Hinwendung zu einem optisch frappierenden, intensiv wirkenden Theater und die Abkehr von einem vorrangig narrativ-diskursiv fundierten DramenbegrifF nicht nur, dass sich die Wertigkeitsrelation zwischen dem Schönen und dem Hässlichen zugunsten des letzteren verschiebt, und zwar, weil es den Zuschauer stärker affiziert. Diese angenommene höhere Wirkmächtigkeit des Hässlichen setzt außerdem voraus, dass es selber unter rein formal-energetischer Perspektive verhandelt wird. Konsequenterweise verfallen bei Hugo auch die Abtrennungen zwischen verschiedenen Arten von Deformation: Einmal steht komisch-harmlose Hässlichkeit nach Maßgabe des energetischen Aspektes, sofern es ihn nur verbürgt, auf derselben Stufe wie die schrecklich-grausige Deformation. Zum anderen aber, und schwerwiegenderer, werden die Grenzen zwischen dem bloß lächerlichem Laster und dem eigentlich die moralische Gegenindikation fordernden Bösen ausgesprochen unscharf - to say the least: Unterschiedslos als »creations des sa fantaisie«59 gefasst, geraten dem Dichter »tous les ridicules, toutes les infirmites, toutes les laideurs« ebenso wie »les passions, les vices, les crimes«60 zu Elementen eines Groteskhässlichen, aus dem die Moderne ihr Formenrepertoire schöpfen soll. Inwieweit diese Nivellierung wiederum einer Reflexion auf das Erhabene geschuldet ist, belegt die Parallele, wie sie in der ästhetischen Spekulation Schillers, dem neben Shakespeare zweiten großen ausländischen Gewährsmann der französischen Romantik, verzeichnet ist. Schiller, der entlang der Kantschen Bestimmung eines Dynamisch-Erhabenen seine Auffassung vom Erhabenen systematisch unter der Perspektive eines energetischen Kraftbegriffes entwickelte6', hatte in seiner Schrift Über das Pathetische den Unterschied von Kunst und Moral nicht nur dezidiert herausgestellt, sondern eine nahezu erstaunliche Emphase auf dem ästhetisch-energetischen Potenzial des Bösen und Unmoralischen an den Tag gelegt. In Bezug auf die »ästhetische Kraft, womit uns das Erhabene der Gesin-
57
Vgl. Dedeayan, Drame Romantique, S. 373; vgl. ebenfalls Fürst, Shakespeare, S. 11. Madame de Stael: De la Litterature. Paris 1991, S. 218-221. 59 Hugo, Preface, S. 418. 60 Hugo, Preface, S. 420. 61 Vgl. zu Schillers Fassung des Erhabenen: Friedrich Schiller: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen. In: Friedrich Schiller: Vom Pathetischen und Erhabenen. Stuttgart 1987, S. 14—29, S. 18; sowie: Friedrich Schiller: Über das Pathetische. In: Friedrich Schiller: Vom Pathetischen und Erhabenen. Stuttgart 1987, S. 55-82, S. 68. 58
88
nung und Handlung ergreift« schreibt er zunächst, sie beruhe »keineswegs auf dem Interesse der Vernunft, dass recht gehandelt werde, sondern auf dem Interesse der Einbildungskraft, dass recht handeln möglich sei, d.h. dass keine Empfindung, wie mächtig sie auch sei, die Freiheit des Gemüts zu unterdrücken vermöge.«62 Das entspricht der Fassung des Dynamisch-Erhabenen, wonach der Eindruck des Erhabenen »aus dem Gefühl unserer Übermacht, welche vor keinen Grenzen erschrickt und dasjenige sich gegenseitig unterwirft, dem unsere sinnlichen Kräfte unterliegen«6' erwachse. Schiller bindet mit dieser gut Kantschen Betonung auf der Souveränität des betrachtenden Subjekts dessen moralische Kraft an die ästhetische Lust am Schrecklichen daselbst. Das Schreckliche kann genossen werden, weil dieser Genuss die Macht des Ästhetischen (als Paradigma von Freiheit und Selbstbewusstsein) manifestiert, eigentlich repulsive Gegenstände und Stoffe positiv zu transformieren. In der Folge nimmt Schiller über diese ästhetische Lizenz nachgerade eine Promotion des Prekär-Hässlichen, sprich: des Bösen vor. Und zwar deshalb weil es sich durch ein Surplus an Kraft auszeichnet. Es ist demgemäß für den Dichter unerheblich, »aus welcher Klasse von Charakteren, der schlimmen oder der guten, er seine Helden nehmen will, da das nämliche Maß von Kraft, welches zum Guten nötig ist, sehr oft zur Konsequenz im Bösen erfordert werden kann. Wie viel mehr wir in ästhetischen Urteilen auf die Kraft als auf die Richtung der Kraft, wie viel mehr auf die Freiheit als auf Gesetzmäßigkeit sehen, wird schon daraus hinlänglich offenbar, daß wir Kraft und Freiheit lieber auf Kosten der Gesetzmäßigkeit geäußert, als die Gesetzmäßigkeit auf Kosten der Kraft und Freiheit beobachtet sehen.«64 Eine solche offensive AuseinanderdifFerenzierung von Moral und Ästhetik, die Schiller immer wieder explizit bekräftigt (»Daher wird ein Objekt zu einem ästhetischen Gegenstand gerade um so viel weniger taugen, als es sich zu einem moralischen qualifiziert«65) hat innerhalb der französischen Ästhetik des 19. Jahrhunderts (und keineswegs immer im expliziten Rekurs auf Schiller) einen großen Nachhall erfahren, was im Verlaufe vorliegender Arbeit deutlich werden wird. Zentral wird für nahezu alle Theoretiker eine vorrangig formalästhetische Fassung des >Bösen< sein, die dessen energetischen Wert erst freisetzt. Es ist von großer Bedeutung, dass Hugo in seinem Frappanz-Begriff nicht nur auf einen nämlichen Konnex von (eigentlich) Repulsivem und Energetik abstellt66, sondern dass er den Status der energetischen Wirkung in einer Neufassung des Erhabenen als einem >Groteskerhabenem< sichert. Dabei spielt das komische Substrat im Grotesken, das ist bisher unzureichend reflektiert worden, eine wesentliche Rolle.67
62
Schiller, Pathetisches und Erhabenes, S. 80.
63
Schiller, Pathetisches und Erhabenes, S. 18.
64
Schiller, Pathetisches und Erhabenes, S. 80.
65
Schiller, Pathetisches und Erhabenes, S. 77.
66
Sogar in Bezug auf diejenigen Dramen, in denen er aus unserer Sicht eine soziale Perspektive zu vertreten scheint, hat die französische Forschung nicht nur die anti-idealistische Verve gegen das Klassisch-Schöne, sondern auch die anti-humanistische Haltung festgestellt. Vgl. Dedeayan, Drame Romantique, S. 277 und i 8 i f .
67
Zelle hat in seiner großartigen Studie auf das >Groteskerhabene< Hugos hingewiesen, dabei aber die Relation aus unserer Sicht zu einseitig, also im Sinne eines >Erhabenen des Groteskem
89
A n der Hugoschen Argumentation fällt auf, das immer dort, wo er dezidiert auf den Zusammenhang von Groteskem und Sublimen zu sprechen kommt, das Erhabene und seine klassisch dramatische Zentralkategorie: das Tragische, gleichsam reduziert werden zum Schrecklichen und Grausigen. Das moderne Drama vereint »sous un meme souffle le grotesque et le sublime, le terrible et le bouffon, la tragedie et la comedie« 68 , »il cree le difforme et l'horrible; de l'autre, le comique et le bouffon.« 69 Diese Emphase auf dem Schrecken deckt sich mit unserer bisherigen Analyse insofern, als darin die formalästhetische Seite des Sublimen zu Ungunsten möglicher semantischer und metaphysischer Gehalte eindeutig in den Vordergrund gerückt ist. Das TragischErhabene gerinnt zur energetischen Wirkqualität des Schreckens. Die wesentliche Voraussetzung dafür ist allerdings, dass dem Erhabenen sein sublimer Nimbus, sprich: seine Verankerung in der grandeur einer aus der Antike überkommenen Fassung klassischer Erhabenheit genommen wird. Die Etablierung einer modernen Ästhetik des Grotesk-Schrecklichen greift dabei zentral an der Verkleinerung überkommener Ikonographie des Sublimen ins Lächerliche: Et comme il est libre et francs dans son allure! Comme il fait hardiment saillir toutes ces formes bizarres que l'äge precedent avait si timidement enveloppes de langes! La poesie antique, obligee de donner des compagnons aux boiteux Vulcain, avait täche de diguiser leur difformiti en l'etendant en quelque Sorte sur des proportions colossales. La genie moderne conserve ce mythe des forgerons surnaturels, mais il lui imprime brusquement un caract^re tout oppose et qui le rend bien plus frappant; il change les geants en nains; des cyclopes il fait les gnomes. 70 Das Lächerliche, ridikül Kleine entspricht im eigentlichen einer Freilegung des optischfrappanten Wertes der Deformation: Das Bizarre wird durch das Komische aus seiner diskursiven Einbettung in einen mystisch-metaphysischen Horizont, der einer schüchternen Verbergung gleichkam, befreit und in all seiner formalen Exzentrik quasi offensiv ausgestellt und ausgespielt. Diese Emanzipation erst, eine Emanzipation des Sublimen in die
gefasst. In der Tat funktioniert die Aufladung des Hässlichen mit der Wirkmächtigkeit des Erhabenen aber nur, wofern es über das Komische von jeder außerästhetischen Relationierung gleichsam abgeschnitten wird, wie im weiteren Verlauf des aktuellen Kapitels zu zeigen sein wird. Vgl. Zelle, Doppelte Ästhetik, S. 30if. Andere Arbeiten zu Hugos >Komischem< fassen die Problematik im Kontext moderner Ästhetik, auch wenn sie auf die Vielfalt seiner Ausprägungen im Werk Hugos selber rekurrieren, so gut wie kaum. Es werden zumeist ohne theoretische Einlassung auf die romantische Konstellation strukturale Analysen geliefert, die sich anhand von vagen und diffusen Bestimmungen des Komischen ins frei Flottierende verabschieden. Friedemann etwa geht von einer Lach- und Komikvorstellung Hugos aus »aux contours indecis, ouvert seulement aux idees de fantaisie, d'ardeut juvenile, d'appetit de vivre, de liberte, d'imagination creactrice, d'extravagance, d'imprevu et de caprice.« - was immer das im Einzelnen heißen soll, eine theoretische Fokussierung lässt es kaum zu. Joel Friedemann: Victor Hugo, un Temps pour Rire. Saint-Genouph 2002, S. 10. Vgl. zum Zusammenhang von Lachen und Repuls in Hugos Prosa: Myriam Roman: Victor Hugo et le Roman philosophique. Du >Drame dans les Faits< au >Drame dans les IdeesVergeistigung des Hässlichen« seit der Aufklärung gar nicht mehr als semantisch oder inhaltlich fundierte, sondern unter der formalen Perspektive der Abstraktion8: »Der ästhetisch formende Geist ließ von dem, woran er sich bestätigte, nur passieren, was ihm gleicht, was er begriff oder was er sich gleichzumachen hoffte. Dieser Prozeß war einer von Formalisierung: darum Schönheit, ihrer historischen Richtungstendenz nach, ein Formales.«9 In dieser Selbstbestätigung qua Formgebung ist aber zugleich eine spezifische, mit einer modernen Ästhetik des Hässlichen ä la Hugo ins Offensive gewendeten Affinität des Geistes zu dem ihm Widerständigen indiziert: Oer Primat des Geistes in der Kunst und das Eindringen des zuvor tabuisierten sind zwei Seiten des gleichen Sachverhaltes. Er gilt dem nicht bereits gesellschaftlich Approbierten und Vorgeformten und wird dadurch zu einem gesellschaftlichen Verhältnis bestimmter Negation. Vergeistigung vollzieht sich nicht durch Ideen, welche die Kunst bekundet, sondern durch die Kraft,
5
Adorno, Ästhetische Theorie, S. 76.
6
Adorno, Ästhetische Theorie, S. y6(.
7
Adorno, Ästhetische Theorie, S. 77.
8
Vgl. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 65.
'
Adorno, Ästhetische Theorie, S. 82f.
93
rait der sie intentionslose und feindliche Schichten durchdringt. Nicht zuletzt darum lockt das Verfemte und Verbotenen das künstlerische Individuum.«10 A d o r n o s kritische Lektüre deckt hier die wesentliche Aporie der K u n s t auf: D i e ästhetische F o r m g e b u n g k a n n erst i m N a c h h i n e i n als semantisierender G e s t u s gewertet werden. Z u e r s t j e d o c h meint sie nichts anderes als die m i t >KraftSuperstars< Deburau im Theoretischen wie im Praktischen bei Gautier und Champfleury hinterlassen hat, überprüft. Die französische Pantomime als ein genuiner style francais des Theaters wurde schließlich überboten durch eine aus England importierte akrobatische Gewalt- und Groteskclownerie, die ihrer schieren Erscheinungsqualität nach weit über das hinausging, was auf den Funambules jemals geboten war. Bereits Baudelaire hatte zur Mitte des Jahrhunderts seine Version des Grotesken an diesem style anglais geschliffen, wobei zentrale Theoreme der bereits besprochenen deutschen Diskussion reevaluiert wurden. An die volle Realisierung des von Baudelaire Angedachten machte sich dann eine Gruppe englischer Clowns, die Hanlon-Lees, deren Impakt auf die zeitgenössische Kritik nahezu ebenso ungeheuerlich wie ihre Darstellungen grausig waren. Schließlich und zu guter Letzt soll der Ubergang der Pantomime in eine literarisierte Form beleuchtet werden, die dezidiert - hierin der Decadence und dem englischen Beispiel verpflichtet - einen epochenspezifischen goüt de macabre bediente, was im einen Falle: demjenigen Marguerittes, zu einer raffinierten und hochsensiblen Reflexion des Genres, im anderen Fall: demjenigen Huysmans, zu einer düsteren Resemantisierung des Grotesken unter nihilistischen Vorzeichen führte.
2.
»vingt ans de revolution ont donne ä l'imagination d'autres besoins«: Das neue Interesse am Schlechten
2.1.
Die grausame Wirklichkeit: Revolution, Gewalt und ästhetischer Mehrwert
Das französische 19. Jahrhundert war, wie Alfred Noe konstatiert, »ohne Zweifel eine herausragende Epoche der voluptas horrescendi,«53 Ein ausgeprägtes Interesse an Mord und Totschlag, Verstümmelung und an den äußeren Aspekten von Schmerz, Wahnsinn und Tod kennzeichnet paradigmatisch die Literatur und Kunst mehrerer Generationen von Dichtern, Schriftstellern, Dramatikern und bildenden Künstlern. Diese Verknüpfung von ästhetischer Lust und Gewaltmotiv, die als Epochenspezifikum gelten kann, ist nicht zuletzt in Hugos Grotesk-Begriff und seiner Aushebelung der inhaltlichen Dimension des Bösen mit grundgelegt. Tatsächlich ist die ästhetische Entgrenzung nie ohne eine Rückbindung an die gesellschaftliche Dynamis in der Folge der französischen Revolutionen von 1789 und 1830 einerseits, im Zuge einer Modernisierung der großstädtischen Gesellschaft und ihrer Teilbereiche zum anderen zu verstehen. Christine Marcandier-Colard begründet fiir das Frankreich des 19. Jahrhunderts eine modernistische Redefinition der Ästhetik entlang
53
108
Alfred Noe: Einleitung. In: Alfred Noe (Hrsg.): Horror und Greuel in der französischen Prosa des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1994, S. 5-13, S. 5.
des Gewaltmotivs aus deren engster Verbindung mit den sozialen wie bewusstseingeschichtlichen Impakten der historischen Traumata: Cette Emergence du meurtre dans la literature et le discours esthetique du premier XIX e siecle fait sens: le crime est devenu familier, la Revolution a fait de I'echafaud un objet presque quotidien, la decollation du roi a sacralise la guillotine, et la presse, par le biais du fait divers ou du feuilleton, a transform^ le crime en objet de plaisir, presque de consommation. Le melodrame, le feuilleton et le roman populaire accompagnent cette intensification du theme criminel, lide non seulement ä un renouveau esthetique et thematique, a l'importance grandissante de la medicine et de la science, mais aussi a un renouvellement du gout et du plaisir de lire [...]. Tous les ecrivains du XIX e siecle s'attachent en efFet ä souligner des effets de la Revolution, des bains de sang de la Terreur et des guerres de l'Empire, sur les actions et les croyances, plus largement la sensibilite, de leurs contemporains.54
Das Hässliche, um das es im französischen romantischen Diskurs und in der Folge innerhalb der ästhetischen Diskussion bis zum Ende des Jahrhunderts geht, charakterisiert sich vor allem durch seine engste Verbindung zum Motiv der Amoral (Hugos vice ), des Verbrechens (Hugos crime) und des Schreckens, den Gewalt, Grausamkeit und körperliche Mutilation zu erzeugen vermögen. In dieser Gravitation unterscheidet es sich vor allem von den in der deutschen Romantik vorgenommenen Entgrenzungen, etwa um den Begriff des Dämonischen und Unheimlichen herum, die, nicht in allen Fällen, jedoch vorrangig, eine solche Realitätsanspielung zugunsten der Relationierung von ästhetischer Struktur und bewusstseinsfeindlichem Impakt in den Hintergrund gedrängt hatten. Im Gefolge der Programmatik der Preface de Cromwell konstituiert sich dagegen in Frankreich vor dem Hintergrund der historischen Umwälzungen seit der Revolution eine spezifische Relation von Drama/Theater und gesellschaftlicher Realität, in der die Historie zum Objekt einer gleichsam ästhetisch kontaminierten Anschauung gerät - und zwar vorrrangig im Hinblick auf ihren Fond an terreur. Wie de Stael bereits 1813 schrieb: »vingt ans de revolution ont donne ä l'imagination d'autres besoins«'5. Chateaubriand spezifiziert dazu in seinem Essai sur les Revolution?. Les grands crimes comme les grandes vertus nous etonnent. Tout ce qui fait evenement plait ä la multitude. On aime ä etre remue, ä s'empresser, ä faire foule; et tel honnete homme qui plaint son souverain legitime massacre [...], serait cependant bien fache de manquer sa part du spectacle, peut-etre meme trompe s'il n'allait pas avoir lieu.' 6
Balzac attestiert seinerseits seinen Landsleuten eine Mischung von sozialer Kälte und ästhetischer Faszination im Angesicht der historischen Gräuel, indem er die theatrum W2««i&-Metapher zur Gesellschaftclowneske umbiegt: »Le parisien, de tout temps, a fait des lazzi avant, pendant et apres les plus horribles revolutions.«57 Bereits Hugo hatte die dramatisch-theatrale Verarbeitung und Spiegelung historischer Sachverhalte aus der nunmehr erreichten Disponsibilität der letzteren fur den ästhetischen
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Marcandier-Colard, Scenes capitales, S. 2-3. Mrae de Stael: De l'Allemagne, II, XIII, Paris 1928, S. 98. Atala Rene Chateaubriand: Essai sur les Revolutions. Paris 1978, S. 338 Honore de Balzac: Sur Catherine de Medicis, zit. nach Marcandier-Colard, Seines capitales, S. 357.
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Blick und den allgemeinen goüt de spectacle erklärt.58 Der damit zu Tage tretende Hugospezifische und hier gegen anders lautende Lesarten anvisierte dezidierte Mangel an sozialer Ausrichtung beweist sich in einer an die Schlegelsche Fassung der französischen Revolution als Groteske gemahnenden Nivellierung des Unterschiedes von Ästhetik und Realität. Die sozialen Umwälzungen im Zuge der französischen Revolution werden beispielsweise als Gegenstände eines »esprit de l'examen et de curiosite« abgehandelt: »Ces grandes catastrophes etaient aussi de grands spectacles, de frappantes peripeties.«59 Die Spektakelaffnität entspricht nicht der diskursiv verarbeitenden Wahrnehmung der Realität, sondern ist immer schon die Manifestation einer modernen Bewusstseinslage, in der sich Irritation angesichts des historischen Inkommensurablums mit der Faszination am Widerständigen unauflöslich verbinden. Solche Relativierungen reißen jedoch keineswegs die Grenze zwischen Realität und theatraler Darstellung ein, sondern erlegen zunächst dem Theater die Verpflichtung auf, die historischen Sachverhalte und die damit verbundenen prekären Gegebenheiten der Realität in die ästhetische konzentrierte Form zu transponieren und dermaßen anschaulich zu machen. Im Zuge dessen wurde für das Theater und das Drama unter dem Etikett des Grotesken die ästhetische Prämisse des übertriebenen Hässlichen ausgegeben, das nicht mehr inhaltlich aufzuarbeiten war, sondern hinsichtlich seines wirkungs- und sensationsästhetischen Surplus in einen Konnex mit einem der Tradition extrahierten und für den eigenen ästhetischen Zweck teil- und uminterpretierten Begriff des Erhabenen gestellt wurde. Die auf die Intensitätsprämisse abzielende Deformationsstilistik des Grotesken avancierte so zu einem Gegenangebot zu einer in Verfall begriffenen klassischen Ästhetik, deren Kategorien - einschließlich der des klassischen Erhabenen - das Versprechen auf eine sinn- und werthaltige Verarbeitung realer Heterogenität und geschichtlicher Negativität, wie sie als tief greifende soziale Irritation im Gefolge der Revolution mächtig hervortraten, nicht mehr einlösen konnten. Wo jedoch die klassische Ästhetik innerhalb Europas noch versuchte, im Erhabenen das vernünftige Bewusstsein als Definitionsmacht über das Widerständige der Realität zu behaupten, wird in der paradigmatischen Einforderung des intensiv wirkenden Spektakels und einer Dramatik der szenischen Aktion eine Affirmation an diese Heteronomie greifbar, die unter anderem in Hugos Begriff des Frappierenden Profil gewinnt. Das Theater gerät damit jedoch, will es seine ästhetische Stellung innerhalb der romantischen Moderne sichern, unter einen radikalen Überbietungsdruck. Es muss, auch wenn es auf die Realität und die Natur als motivischen Fond reagiert und hierbei die mimetische Lizenz auf den Tabubereich des formalen wie moralischen Hässlichen - von der körperlichen Deformation über den sexuellen und skatologischen Bereich bis hin zum Verbrechen - erweitert, dem ästhetisch rezipierenden Bewusstsein einen weitaus stärkeren Reiz bieten als ihn ein rein mimetischer Gestus zu leisten imstande wäre. Die schon von De Stael im Kontext ihrer Rezeption des deutschromantischen Vorbildes anzutreffende
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Vgl. den Abschnitt über Hugo in vorliegender Arbeit. Hugo, Preface, S. 415.
ausgegebene Bestimmung des Theaters »presque comme un evenement reel« 00 konnte zur ästhetische Leitlinie fiir die folgenden romantischen Bestimmungen nur im Konnex mit einer Ästhetik des Hässlichen avancieren, in der das Repulsive, wenn nicht ästhetisch hergestellt, so doch zumindest qua ästhetischer Transkription in seinem Wirkungspotenzial allererst entfesselt werden musste. Das galt insbesondere auch für den in dieser Epoche zum eigentlichen Exploitations-Fundus einer Ästhetik des Difformen avancierenden Bereich des Verbrechens und des Bösen. Was das Überborden von entsprechenden Darstellungen auch und gerade auf dem Theater des 19. Jahrhunderts in Frankreich angeht, darf die Bedeutung der französischen Revolution von 1789 und des epochalen Imago der Guillotine natürlich nicht unterschätzt werden: L'Histoire convulsive, glorieuse et tragique ä la fois, entraine une redefinition de la beaute. La coupure sanglante de l'Histoire imprime sa marque ä l'esthetique. Le romantisme est lie ä la Revolution, et plus particulierement ä la Terreur: relecture de l'Histoire ä travers le sang et le meurtre, definition d'une esthetique du sang, de la violence et du sublime, il porte lemergence d'un personnage, incarnant ses ambiguites comme de ses forces, vecteur de beaute comme de violence, le crimincl. 6 '
Insbesondere die Sklerose, der das moralische Fundament politischen und gesellschaftlichen Handelns nach den Erfahrungen der Jakobinischen Blut-Herrschaft und der in ihrem Gefolge entstehenden gesellschaftlichen Wirren des 19. Jahrhunderts ausgesetzt war, führte dazu, dass das Vorkommen realer Gewalt nicht mehr Anlass zu einer ohnehin nutzlos scheinenden ästhetischen Therapie gab, sondern vielmehr die ästhetische Exploitation stimulierte. Es war nicht zuletzt die an der Gestalt Robespierres offenbar gewordene Möglichkeit der Personalunion von historischer Größe und krimineller Energie, welche das neue Frankreich konstituiert hatte, die zu einer ästhetischen Umwertung des moralischen Horizonts führte. So bestätigt Chateaubriand in dem bereits zitierten Essay die romantische Affirmation an einen politischen Führer »meditant des crimes dans la cavernosite des son coeur« und »grand de cela meme qu'il n'avait pas une vertu«. 61 Die romantische Vorliebe für das moralisch Verwerfliche und dessen Kontamination mit Souveränität erklärt sich allerdings vollständig erst vor dem Hintergrund der bei Hugo reevaluierten Kategorie des Sublimen. Tatsächlich liefert der >Großkriminelle< einer Ästhetik des dynamischen Efifekts die Entsprechung. In dem Gedicht Prostrate von Jean Polonius aus dem Jahre 1841 wird die ästhetische Affirmation des Bösen und seiner Gewalt maßgeblich aus dessen Uberraschungs- und Novitätscharakter sowie aus dem energetischen Mehrwert abgeleitet, den seine Darstellung verspricht: Que veut-il done? [...]/ Quelque chose de neuf, de hardi, d'imprevu,/ Quelque fait eclatant qu'on n'ait point encore να.../ Crime ou vertu qu'importe! - II suffit qu'il saisisse;/ Que son nom d'un seul coup, frappe, etonne, eblouisse... 6 '
60
D e Stael, zit. nach Marcandier-Colard, Scenes capitales, S. 90.
61
Vgl. Marcandier-Colard, Seines capitales, S. 12 und vgl. S. 211 ff.
61
Chateaubriand, Essai sur les Revolutions, S. 339.
63
Jean Polonius: Les petits Romantiques. G e n f 1968, S. 78.
III
Das >große< Verbrechen erregt als Imago die Gemüter der Künstler in dem Maße, wie an ihm die Kategorie des Erhabenen zugleich ins Frappante profanisierbar war. Statt sie wie in ihrer klassischen Version ins Hochgefühl der Vernunftfreiheit umzubiegen, wurde ihr nach dem Verlust der moralischen Größe vor allem der dynamische Aspekt extrahiert, der erhabene Geschehnisse charakterisiert. Dergestalt reduziert sich die Qualität der Kategorie. Es bleibt als ihr wesentliches Merkmal die ästhetisch bewerkstelligte Evozierung von horriblem, am Geschehnis daselbst haftenden Schrecken: L'absolu ne se laisse approcher que dans une concentration forcenee d'energie: une telle concentration porte en sol un risque de violence, de perversion, de profanation. Le sublime est presque toujours, dans cet univers, contamine par l'horreur.6/> Man kann hier durchaus, wie Zelle es getan hat, von einer programmatischen >Rebarbarisierung< der Kunst und Literatur innerhalb der französischen Romantik sprechen. Dahinter steht, seit Diderot unter dem Eindruck Burkes eine Ausweitung der eigenen Schönheitslehre um die Kategorie des Erhabenen vorgenommen hatte 65 , das implizite Nachwirken der Auffassung des Engländers, die Freude am Schönen schwächle gegenüber der ebenso faszinierenden wie emotional überwältigenden Kraft des Hässlichen und Grauenhaften: Whatever is fitted in any sort to excite the ideas of pain, and danger, that is to say, whatever is in any sort terrible, or is conversant about terrible objects, or operates in a manner analogous to terror, is a source of the sublime; that is, it is productive of the strongest emotion which the mind is capable of feeling. I say the strongest emotion, because I am satisfied the ideas of pain ate much more powerful than those which enter on the part of pleasure. [...] No passion so effectually robs the mind of all its powers of acting and reasoning as fear.156 Die innerhalb der französischen romantischen Moderne paradigmatische Akzentuierung des Schreckens als des eigentlichen dynamischen Aspektes des Erhabenen, fuhrt einmal zur Konstitution einer Richtung in Literatur und Kunst, die von Gautier 1837 treffend als ecole du cadavre etikettiert wurde. Die Ästhetik der Kadaveristen stellte zentral auf eine »etude des representations artistiques des agonises, des trepas, du cadavre, ou des figurations de la Mort macabre« 67 ab. Dieser künstlerischen Faszination am Degoutanten und Widerwärtigen sowie nicht zuletzt am Bild des verwundeten und geschändeten Körpers ging ein gesteigertes gesellschaftliches Interesse an der Medizin und der anatomischen Wissenschaft parallel: Verbrechen und Medizin bildeten nahezu einen Komplex in ihrer gemeinsamen Relation auf diejenigen Bereiche, in denen der menschliche Körper dem neugierigen, genuin ästhetisch goutierenden Blick der Menge ausgeliefert war. Die aufkeimende Mode, Leichenschauhäuser zu besuchen, öffentliche Hinrichtungen sowie die wachsende Zahl von anatomischen Sammlungen, die Schaulustigenheere anzogen, erge-
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Arlette Michel: La Duchessse de Langeais et le Romanesque Balcazien. Figures feminines et Roman. Paris 1982, S. 98. Zum Einfluß Burkes auf Diderot vgl. Gita May: Diderot and Burke. Α Study in Aesthetic Affinity. In: PMLA 75/1960, S. 527-539. Burke, Enquiry, S. 38f und S. 96. Michel Guiomar: Principes d'une Esthdtique de la Mort. Paris 1970, S. 11.
ben den düsteren Gesamtbefund einer nach dem Spektakulären gierenden, gleichsam blut- und opfergierigen Moderne, wobei die Wissenschaften dem Trend entgegenkamen. Medizinische Zurschaustellung und der Aspekt des Verbrechens und der Gewalt konvergieren im nämlichen Objekt: der durch Fremdeinwirkung spektakulär verunstalteten Leiche. Wie LeBreton in seiner medizinhistorischen Abhandlung schreibt: Le XIX e si£cle voit un affinement des travaux [...] Sur le victimes: empoisonnements, submersion, pendaison, Strangulation, suffocation, effets des balles, des coups de couteaux, pourrissement, depecage criminel, etc., sont l'objet des recherches regulieres.68
2.2. Die »blutige Komödie< als Antwort auf das epochale Trauma Es darf bei all dem jedoch nicht übersehen werden, dass sich im Zuge der Auseinandersetzung mit den äußeren Aspekten von Verunstaltung auch eine den schieren Realismus der Widerwärtigkeit hinter sich lassende und darin spezifisch moderne Ästhetik der Deformation ihre wesentlichen Initialimpulse erhält. So stellte etwa Flaubert im Anschluss an seinen Besuch des naturhistorischen Museums in Nantes und die Besichtigung der dort ausgestellten menschlichen und tierischen Exponate (siamesische Schweinezwillinge, monströs deformierte menschliche Föten etc.) im Abstand von jedem moralischen Dünkel die ernsthafte Frage nach einer besonderen Qualität der Schönheit dieser Difformitäten: »[...] pourquoi done tout cela n'aurait-il pas sa beaute aussi, son ideal?«69 Dem Interesse am Horriblen ist somit auch von Seiten der Autoren, die darin sowohl als Seimsographen der sozialen Attitüde wie als deren stilistische Vollstrecker fungierten, einer zunehmenden Unernsthaftigkeit gegenüber der Faktizität des Schrecklichen komplementär, die in der Gleichsetzung von Gewalt und Schönheit ihren Fluchtpunkt hat: Wie Patrick Wald Lasowski betont, etabliert sich innerhalb der französischen Kunst und ästhetischen Theorie eine breite Strömung, deren Devise lautet: »il n'y a rien au-delä des beautes d'echafaud.« 70 Der Schönheitsbegriff der französischen Romantik ergibt sich, anders als der auf die bewusstseinsmäßig-verinnerlichte Dimension der Ironie abgestellte Deformationsbegriff der deutschen Romantik, entlang der Relation von Kunst und faktischem Schrecken: sprich der am Menschen und durch den Menschen vollzogenen Gewalt, sowohl auf der Ebene staatlichen Handelns als auch in Bezug auf die private Natur des Verbrechens. Definiert sich das Schöne durch seine Nähe zur Guillotine, dann ist das Überborden gewaltsamer Bilder von körperlicher Mutilation jedoch immer an die Nivellierung der moralisch-semantischen Kontextes bis hin zu seiner völligen Außerachtlassung gebunden. Der >Werwolf< und ausgewiesene Antimoralist Petrus Borel, Hauptvertreter einer Ästhetik des Grotesk-Horriblen innerhalb der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts, reklamiert entsprechend für seine Texte eine besondere »beaute egale ä sa ferocite«7'.
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David LeBreton: La Chair ä vif. Usages mediaux et mondains du Corps Humain. Paris 1993, S. ro6. Flauben, zit. nach Marcandier-Collard, S. 139. Patrick Wald Lasowski: Les ßchafauds du Romanesque. Lille 1991, S. 11. Petrus Borel: Champavert. Contes immoraux. Paris 1985, S. 42.
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Bereits Burke, der über Diderot Eingang in den französischen Diskurs gefunden hatte und dessen Gedanken zumindest implizite Reflexe wohl auch bei H u g o hinterlassen haben, hatte mit der Betonung des dynamisch-energetischen Aspekts des Erhabenen die genuin ästhetische — nicht: klassisch-schöne - Qualität des evozierten Eindruckes von Schrecken herausgestellt: Erst im Abstand — »at certain distances, and with certain modifications71« - zum schrecklichen Ereignis, also gleichsam aus der Distanz eines ästhetischen Betrachtens, sublimiert sich das bloß Entsetzliche zum lustvoll erfahrbaren Erhabenen. Dementsprechend reagiert auch ein Teil der französischen Romantik auf die Herausforderung einer Massierung des realen Hässlichen, des Amoralischen und Gewalttätigen und dessen Ausbeutung seitens der ecole du cadavre, was zu einer Welle von Neubestimmungen der wesentlichen ästhetischen Vermittlungsparameter führte: Es verwundert nicht, dass dabei eine zunehmend ironische Haltung zum historischen Gräuel sowie eine ihr entsprechende Tendenz zur hyperbolisierenden Uberzeichnung des Schreckens eine immer wesentlichere Rolle spielten. Insbesondere die Unüberschaubarkeit der gesellschaftlichen Realität und die Sklerose ihrer Wertfundamente konnte in der Folge als Argument für die ironische Distanznahme und eine ihr entsprechende eigenwertige, d.h. von der Last der empirischen Verrechenbarkeit befreite Deformationsstilistik gelten. Tatsächlich genügt beispielsweise einem aufgrund der Massierung von expliziter und übertriebener Gewaltdarstellungen ins Visier der zeitgenössischen Kritik geratenem Autor wie Auguste Barbier zur Rechtfertigung der lapidare zweizeilige Verweis auf den epochalen Konnex von sozialem Dilemma und ästhetischer Deformation: »Le cynisme des moeurs doit salir la parole,/ Et la haine du mal enfante l'hyperbole« 73 . Im Bereich der Komödie und des theatralen Komischen wird im Laufe des 19. Jahrhunderts - nicht ohne Zynismus - die Forderung nach einer neuen Stilistik erhoben, die Aspekte des Verbrecherisch-Amoralischen und der Gewalttätigkeit mit einer ridikulisierenden ästhetischen Distanzierung kontaminieren soll. Ebenso avancieren die bildnerische Karikatur und die komische Literatur einschließlich des Dramas zu wesentlichen Ausprägungen einer auf den Zusammenhang von Grässlichkeit und Komik abstellenden Ästhetik. Stellvertretend sei auf Theodore de Banville verwiesen, der um die Jahrhundertmitte den epochalen Nexus von historischer Depression und Kunst mit dem Bild eines ebenso lächerlichen wie blutig-grausamen Komödiengeschehens fasst, was durchaus der Grotesk-Perspektive Schlegels auf die Revolution entspricht und zugleich Hugo anklingen lässt: Et cependant il y aura pour nous neveux un livre plus grand, plus audacieux, plus un et plus variee, plus difficile ä ecrire que ce livre impossible! C e sera l'histoire des types crees par notre comedie. Car, osons le dire ί notre louange, nous avons su apres Regnard, apres Beaumarchais, apres le grand poete Desaugiers, apres Dancourt, cet historien hardi, erder nous-memes et pour nous une comedie plus simple, plus vraie et plus complexe, que cette admirable comedie, la comedie de nos percs! Oui, il faut bien que quelqu'un ait enfin de courage de l'ecrire quelque part, cette funebre comedie de dix-neuvieme sieclc, [...] cette farce barbouillie et sanglante que
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Burke, Enquiry, S. 60.
73
Auguste Barbier: Iambes et poemes. Paris 1841, S. 12.
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nous savons faire a, plus que toutes les autres, sans en excepter la farce de Moliere et d'Aristophane, la cruaute et la terreur qui font de la grand comedie!« 74 Et quel autre peuple eut ose faire une comedie grotesque et ruisselante de comique avec deux terribles machines appeles la Justice et la Guillotine ?«75
Entsprechend, so De Banville, resultiert etwa die »satire vivante si rageuse et cruelle« 7 6 eines Mayeux aus einem ästhetischen Stilwillen, der der gesellschaftlichen Amoral sowie der Allseitigkeit historischer Gewalt seinerseits mit Zynismus gegenüber gesellschaftlichen Werthorizonten, die ihre Praxistauglichkeit eingebüßt haben, beizukommen sucht. 77 Der »caricaturiste feroce« schlägt die französische Gesellschaft gleichsam ans Kreuz, wie de Banville - unverkennbar für sich die höhere moralische Position reklamierend - expliziert.78 Entsprechend ist von De Banville, wenn er vor diesem Hintergrund eine >moderne< Komödie einfordert, an eine offensiv hyperbolisierende Darstellung der gleichsam aus den Fugen geratenen Welt gedacht, in der die Pole von Gut und Böse reversibel werden. So erklärt er die ubiquitäre Prominenz der Robert-Macaire-Figur als eines »vrai roi [...] vrai poete [...] vrai comedien de la comedie moderne« aus der in ihr geleisteten ästhetischen Apotheose des Verbrechers.79 Die blutige Komik erhält zwar bei all ihrer Ferozität die satirische Absicherung, ein Fundament, das Baudelaire in seinen Reflexionen zum Grotesken später radikal zurückweisen wird. Jedoch zielt De Banville immer auch auf die Faszination des Bösen in seiner ästhetischen Gestalt sowie auf eine Gewaltaffinität des modernen künstlerischen Gestus selbst ab. Letztere bestimmt sich für ihn als eine am Blut-Stil manifestierte aggressive Revision klassischer Konzepte: Cependant, ne riez pas de ce theatre de sang et de boue! Les revolutions litteraires ne se font pas avec du sucre candi, et elles ne sauraient que tirer de la fameuse formule, arracher les dents sans douUuή Toutes ces violences ont ete utiles en leur temps pour tuer ä fait les vieilles poetiques
Damit ist auch die grausame Komödie sowie generell jede Kunst, die sich von der Exploitation des Formenpools des Schrecklichen her schreibt, in eine mit Hugos Groteskbegriff eingeleitete Uberbietungs- und Transgressionsemphase integriert.
74
Theodore de Banville: Les pauvres Saltimbanques. Paris 1853, S. 66.
75
D e Banville, Saltimbanques, S. 74.
76
D e Banville, Saltimbanques, S. 68.
77
D e Banville deutet die literarische Neuerungsbewegung im Z u g e der französischen Romantik wesentlich als gewalttätige Opposition gegenüber der Tradition. Vgl. D e Banville, Saltimbanques, S. 75f
78
D e Banville, Saltimbanques, S. 72.
79
Vgl. D e Banville, Saltimbanques, 69f.
80
D e Banville, Saltimbanques, S. 77f. Z u r Affinität von künstlerischem Stil und Gewalt in der Moderne vgl.: Angelika CorbineauH o f f m a n n : Die Bewaffnung der Worte. Aspekte der Sprachgewalt in moderner Lyrik. In: Angelika Corbineau-Hoffmann/Pascal Nicklas (Hrsg.): Gewalt der Sprache - Sprache der Gewalt. Beispiele aus philologischer Sicht. Hildesheim/Zürich/New York 2000, S. 191-228; Karl Heinz Bohrer: Stil ist frappierend. Über Gewalt als ästhetisches Verfahren. In: Karl Heinz Bohrer: Imaginationen des Bösen. Z u r Begründung einer ästhetischen Kategorie. München/Wien 2004, S. 188-213.
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Schon gut dreißig Jahre vor der von De Banville sarkastisch geforderten »satire sanglante de la bourgeoisie«81 etablierte sich die grotesk-grausame Ästhetik der Funambules, die nicht satirisch verfuhr und weitaus stärker auf den Eigenwert der im Komischen geleisteten Distanzierung von der empirischen Gewalt abstellte, jedoch ebenso zentral am entsprechenden Motivrepertoire ansetzte. Im Verlass auf die körperlichen Abilität ihrer Darsteller, die eine theatrale Ästhetik des Difformen allererst möglich machte, rekurrierte die französische Pantomimen-Szene ganz generell auf die ästhetische Ausschlachtung des Tabubereiches und verschob im Zuge dessen seine Grenzen. Das modernistische Interesse der Romantiker an den Pierrot-Pantomimen machte dezidiert an dieser clownesken Stilisierung des Schrecklichen und an der damit erzielten Wirkung fest, die mit Hugos Vorstellung einer frappierenden Phänomenalität zu Deckung zu bringen ist. Die von Starobinski im Hinblick auf die romantische Vorliebe fiir volkstheatrale Formen (Commedia dell' arte, Zirkus, schließlich Variete) gegebene Diagnose, es handele sich dabei samt und sonders um Versuche, eine >Naivität< des Ausdrucks nicht nur wiederzugewinnen, sondern dessen »archaische Energie« als ursprüngliche Qualität theatraler Darstellung gegen die Langweile und Uberkommenheit der offiziellen Kunst in Anschlag zu bringen81, ist vordergründig, wenn sie rein auf die spielerische Entfesselung scheinbar natürlicher kreatürlicher Potenzen abzielt. Sie übersieht geflissentlich, dass die Hochwertung des szenischen Wertes clownesker Exzentrik nie unabhängig von einem Diskurs um die transformativen und transgressiven Möglichkeiten einer hochreflexiven modernen Ästhetik des Hässlichen waren, welche sich den Vorgaben der empirischen wie sozialen Realität im weitesten Sinne entpflichtete. Der wesentliche Ansatzpunkt dafür war das Gewaltmotiv. Der Relation von Artifizialität, Deformation und theatralem Gewaltspiel ist nun nachzugehen.
3.
»Le theatre tel que nous le revons«: Die romantische Entdeckung der Pantomime
Die Kunst der Pantomime war seit Beginn der 1820er Jahre mit dem Theätre des Funambules nahezu vollständig synonym. Auch wenn später das Theätre des Folies-Nouvelles oder das Theätre des Fantaisies-Parisiennes hinzutraten: Durch die Funambules, das »Theater der Seiltänzers dessen Akteuren per Obrigkeitsbeschluss das dramatische Sprechen untersagt war8', erhielt das pantomimische Spiel dasjenige ästhetische und performative Gepräge, welches seine entscheidende Impulsfunktion für eine moderne Ästhetik des Hässlichen
81
De Banville, Saltimbanques, S. 72.
82
Vgl. Jean Starobinski: Portrait des Künstlers als Gaukler. Frankfurt a.M. 1985, S. 22. Nicht so ausschließlich und strikt betraf das jedoch das lyrische Sprechen, z.B. in Form von Prologen etc. Allerdings muss gesagt werden: Der Pierrot (und zumeist auch das andere rein komische Personal) der Szenen trat, abgesehen von ganz vereinzelten und rein lautlichen Äußerungen, stets ohne dramatische Stimme auf. Vgl. den weiteren Fortgang der vorliegenden Arbeit.
83
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verschaffte. Das einhellige Penchant der französischen Romantiker 84 für die Pantomime ist maßgeblich entlang der Beiträge zweier Großfürsten der zeitgenössischen Kritik perspektivierbar: Theophile Gautier und Jules Janin.
3.1.
Erstaunen und Überraschen - Gautiers Bestimmung der ästhetischen Eigenwertigkeit der Pantomime
Theophile Gautier, seines Zeichens ein Cheftheoretiker der französischen Romantik, fällt im Jahre 1838 - einmal angesichts eines offiziösen theatralen Kulturbetriebes, der rein auf die Wiederholung einmal etablierter klassischer Vorbilder angelegt ist, zum anderen im Hinblick auf den Zustand des kommerziellen Unterhaltungstheaters, das zur Klischeereproduktion tendiert - , ein relativ ernüchterndes summarisches Urteil. Sein »coup d'oeil sur l'&at present de l'art dramatique en France« ergibt: »A quelques rares exceptions pres, le theatre est la proie des mediocrites [...].«"5 Hauptgrund der Abneigung sind die nicht eingelösten Prämissen von ästhetischer Modernität, wie sie mit Hugos Vorstößen und den entsprechenden Folge-Programmatiken anvisiert worden waren: le mouvement si energiquement imprime ä l'art dramatique [...] ne s'est pas continue; nous avons cru un moment que nous allions avoir un theatre moderne, mais nos esperances ont ete trompees.86
Verantwortlich für die Misere macht Gautier neben einer Präferenz der Theaterdirektoren für das ohne großen szenischen Aufwand auskommende Salonstück — kommerzielles Motiv und elegante Attitüde in einer liaison fatale - vor allem den Akademismus der Verantwortlichen »qui ont des habitudes litteraires chroniques et inveterees, ne veulent rien admettre en dehors des combinaisons qu'ils ont experimentees sur leur theatre«87. Diese Kritik an der Ein- und Abschleifung stilistischer Muster ist nicht nur als sarkastisches Argument des avancierten Geschmacks gegen eine überkommene Szenenästhetik zu werten, der aufgrund ihres Formalismus die inhaltliche Dimension abhanden gekommen ist. Vielmehr gewinnt aus der Rancune gegen die Stereotypie des etablierten
84
85
86 87
Vgl. zur generellen euphorischen Rezeption durch die Romantik und die nachfolgenden Stömungen die gesamte Arbeit von Robert F. Storey: Pierrots on the Stage of Desire. NineteenthCentury French literary Artists and the comic Pantomime. Princeton 1985; außerdem die Studie von Louisa E. Jones, Sad Clowns, S. 6iff. Theophile Gautier: L'Art dramatique en France depuis vingt-cinq Ans. 5 Bände. Genf 1968 [Reprint], Band I, S. 8if. Bei der hier zitierten und im Folgenden als Quelle herangezogenen zitierten Bände von >L'Art dramatique< handelt es sich um die Zusammenfassung sämtlicher Aufsätze und Kritiken, die Gautier zwischen 1837 und 1852/53 zum Theaterbetrieb und der Darstellungsästhetik im Paris des 19. Jahrhunderts in diversen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht hat, so z.B. in La Presse, La Gageure oder auch im Monituer UniverseL Gautier, L'Art dramatique I, S. 84. Gautier, L'Art dramatique I, S. 85.
»7
Theaters die Programmatik einer auf die Sensation und die intensive Wirkung abzielenden Ästhetik Hugoscher Provenienz neues Profil, und das in mehrerlei Hinsicht. Zum einen bemüht Gautier erneut die von Hugo antizipierte Relationierung von empirischer Mannigfaltigkeit und einem auf das Prinzip der Kontradiktorik abstellenden Theater: En effet, une grande partie de la question est lä: si Ton represente la vie humaine, accordez l'accessoire, le costume et le changement de decoration; la vie rielle est ambulatoire, compliquee et diffuse [...]. 8 8 Sans changement ä vue, le drame moderne est impossible; le drame moderne est complex de sa nature et represente une action sous plusieurs de ses faces; les combinaisons simples sont epuis&s depuis longtemps [...]. 8 9
Deutlicher als bei Hugo noch verlagert sich Gautiers Interesse schwerpunktmäßig auf die yl«/fi??zseite theatraler Aufführung und Darstellung. Neben der Forderung nach szenischem Facettenreichtum deutet die explizite Betonung des optischen Reizes von ständigen Szenenwechseln, von Kostüm und Ausstattung nicht nur die Vorliebe fiir das Spektakelhafte an, sondern verstärkt tritt eine genuin formalistische Perspektive in den Vordergrund, die den Wert einer ästhetischen Veranstaltung vorrangig an der Vielfalt reizvoller Impressionen und deren Uberraschungswert bemisst. Konsequenterweise fuhrt Gautier die Unterhaltungsansprüche eines modernen großstädtischen Publikums — »plus facile ä la nouveaute«90 — und dessen Willen zum »etre etonne et surpris«91 als wesentliche qualitative Orientierungsmarken an: Amusement und Plaisir werden zu den rezeptiven Hauptkriterien eines erwünschten >neuen< Theaters. Es gilt sich vor Augen zu halten, dass mit dieser Emphase auf dem unterhaltenden und Staunen erregenden Aspekt des Theatralen die hierarchische Wertung von hohen und niederen Formen der darstellenden Kunst verabschiedet ist: Wird der formalästhetische Reiz zum Hauptaspekt erklärt, nivellieren sich die Grenzen von dramatischen Kategorien und theatralen Genres. Zugleich wird die paradigmatische Geltung von populären spektakelhaften Theaterformen für den modernistischen ästhetischen Diskurs bereits an dieser Stelle grundgelegt. Entsprechend verstärkt sich bei Gautier die Emphase auf der Differenz von Realität und theatralem Spektakelraum und avanciert eine auf komisch-hyperbole Distanzierung von der Wirklichkeit abstellende hochartifizielle Szene, die von alogischen brüsken Szenenwechseln, fantastischen Verkleidungsspielen und exotischer Stofflichkeit gekennzeichnet ist, zum Modell eines anvisierten poetischen Theaters. Dessen repräsentativer Wert im Hinblick auf Realität wird damit vollends von der Ebene der mimetischen Relation ins Symptomatische gewendet: Eine der realen Kontingenz yorwanaloge, gleichsam entfesselte Theatralität fungiert als ästhetische - und durchaus eskapistische - Entgegnung auf eine diffuse Wirklichkeit. Als Spielraum entgrenzter Imagination und Kreativität
88
Gautier, L'Art dramatique I, S. 86.
89
Gautier, L'Art dramatique I, S. 85.
90
Gautier, L'Art dramatique I, S. 85.
91
Gautier, L'Art dramatique I, S. 85.
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gehandelt, markiert ihre radikale Gegenstellung zum pragmatischen Diskurs die Unvereinbarkeit einer emanzipierten Ästhetik mit den Erfassungskriterien gesellschaftlicher Wirklichkeit. Noch weitaus offensiver als im Falle Hugos schlägt bei Gautier die epochale Depression angesichts des Verlustes eines verbindlichen Geschichtskonzeptes und praktikabler gesellschaftlicher Wert- und Beurteilungsmuster und das daraus resultierende Fehlen einer referentiell eindeutigen Außenabsicherung künstlerischer Darstellung ins Positive um: Die Abständigkeit von pragmatischen Strukturen sowie damit eins die jederzeit mögliche ästhetische Transformation des Realen ins Wunderbare oder Fantastische wird als der eigentliche Mehrwert von Modernität verbucht. In seinem programmatischen Aufsatz »Le theatre tel que nous le revons«, mit dem er am i. Januar den theaterästhetischen Diskurs des Jahres 1839 einläutete, beschreibt Gautier das seinen Vorstellungen entsprechende Theater: Jeunes amoureux romanesques, demoiselles vagabondes, serviables suivantes, boufifons caustiques, valets et paysans naif, rois denonnaires dont le nom est ignore de l'histoire, et le royaume du geographie; graciosos barioles, clowns aux reparties aigues et aux miraculeuses cabrioles; ö vous qui laissez parier de libre caprice par votre bouche souriante, je vous aime et vous adore entre tous et sur tous. Perdita, Rosalinde, Celle, Pandarus, Parolles, Sylvio, Leandre et les autres; tous ces types charmants, si faux et si vrais, qui sur les ailes bigarres de la folie, et dans qui le poete personnifie sa joie, sa melancolie, son amour et son reve le plus intime sous les apparences les plus frivoles et les plus degagees!' 1
j- 'elivent au-dessus de la grossiere realite - Gautier bindet hier die unter allen Umständen gewünschte transformative und transgressive Qualität eines modernen Theaters - immer auch in Abgrenzung zu einer realistischen Tendenz innerhalb der französischen Romantik - streng an die Idealität des Poetischen als einer Metapher nicht nur fiir die subjektive Imagination des Autors, sondern auch fiir Stil As Gegensatz zu einem bloß abgeschmackten Einsatz fantastischer Entgrenzungen zurück. Mit anderen Worten: Die hymnisch beschriebenen exotischen Figuren und das von ihnen getragene, vom Standpunkt dramatischer Logik aus gesehen völlig deregulierte szenische Geschehen, sind nicht Einspruch gegen künstlerische Durchbildung, sondern sie entsprechen der Forderung nach deren Radikalisierung ins Selbstwertige. Diese Perspektive bestimmt auch Gautiers Neuwertung deformativer künstlerischer Strukturen. In einem dem eben zitierten Text ein einhalb Jahre vorausgehenden Beitrag zum £tat actuel du theätre, an dem er geradeheraus das völlige Fehlen von Idealität und Poesie auf der zeitgenössischen Szene beklagt, fordert er im Rückgriff auf das dramatische Vorbild von Hugos Le roi s 'amuse das Groteske (»le romanesque, le fantasque«) als zentrales Charakteristikum avancierter Szenenästhetik ein, zugleich aber gibt er die Devise aus: »[...] le grotesque, pour etre admis dans l'art, a besoin d'etre travaille et martele par la fantaisie [...].«"
92 93
Gautier, L'Art dramatique I, S. 215 f. Gautier, L'Art dramatique I, S. 16 f.
119
Dies ist im zitierten Text ebenso eine spezielle Wendung gegen die Abgeschmacktheiten eines Vaudevilles, das durch die bloße Ansammlung von Lächerlichkeiten seinen komischen Zweck zu erfüllen sucht, wie eine Abgrenzung gegen jeglichen Kunstbegriff, der auf vordergründige, nicht auf konstruktivem Gestus und stilistischer Planung beruhende Verzerrungen setzt. Hinzu kommt eine entschiedene Volte gegen die mimetische Forderung: Deformation als >Darstellung< in der Realität vorfindbarer Makel wird verworfen. 94 All diese Abarten von Entgrenzung sind gleichgewichtig von Gautiers Kritik an der Mittelmäßigkeit der aktuellen Theaterlandschaft: und ihrer >unpoetischen< Bühnen mitbetroffen. Demgegenüber wird das eigentliche ästhetische Potenzial theatraler Ästhetik von Gautier - in Form mannigfaltiger Aufsätze, Kritiken, Anspielungen und Gedankensplittern - an den komischen Pantomimen des Theätre des Funambules ausgemacht. Indem er sein Figurenpersonal als nächste Verwandte des Thespis glorifiziert, verleiht er dem stummen Spiel nicht nur generell die ästhetische Noblesse, sondern er stilisiert es zum Paradigma von moderner Theatralität schlechthin: On joue maintenant aux Funambules, des vaudevilles identiquement pareils a ceux des Varietes, du Vaudeville, du Gymnase, et du Palais Royal. La seule difference qu'on y pouvait trouver, c'est qu'ils sont meilleurs, &ant faits par de jeunes auteurs, pleins de poesie et de verve >adolescentesPoetische< unter genuin adiskursiven und imaginativ-assoziativen Vorzeichen sieht und es stets - worauf im Abschnitt über Gautiers Pantomimenrezeption zurückzukommen sein wird - in engster Nähe zum Optischen und Spektakelhaften begreift. Darin, dass die Funambules-Pantomimen ihre narratio stets als Ausstellung exaltierter Körperlichkeit und optischer Effekte inszenierten, entsprachen sie Gautiers Auffassung des >Poetischen< als eines vorrangig Visuellen relativ genau. In der Tat lässt sich Gautiers Auffassung von Theatralität generell als Niederschlag einer grotesken Pantomimen-Ästhetik und eines korpoexzentrischen Clownstheaters identifizieren. Bereits im Jahre 1832, also sieben Jahre vor der programmatischen Le Thedtre tel que now le Jwow-Schrift, weist Gautier auf das Charakteristikum des Pantomimentheaters hin, »011 fourmille et grimace ce monde etrangement bariole de la farce italienne, mele ä ce que la feerie a de plus extravagant.«97 Damit steht vorrangig die wunderbare Spielart der Pantomime, die pantomimischen Feerie in Rede, die von Anfang an das theatrale Paradigma der Funambules-Sienen abgab und deren Charakteristikum - neben der aus der italienischen Commedia dell' arte überkommenen allegorisch-typischen Personnage - der übernatürlich motivierte Szenenwechsel sowie die schnelle Abfolge fantastisch-exotischer Topographien war. Das eigentliche Implikat dieser Emphase auf dem Wunderbaren erschließt sich jedoch erst vollends, wenn man darin die Forderung nach einer besonderen Rezeptionshaltung entdeckt. Gautier weist darauf hin, dass das Publikum der Funambules sich aus einer Schicht rekrutiert, die dieses von den Besuchern des >hohen< Theaters und der gepflegten Komödie unterscheidet. Die Pantomimen seien - worauf auch die Ableitung aus der Commedia dell'arte abzielt - Volkskultur: [...] un public en veste, en blouse, en chemise, sans chemise souvent, les bras nus, la casquette sur l'oreillet.. .]«.98 Die zum Vorschein kommende romantische Programmatik einer »Democratisation du public«99 erhält bei Gautier jedoch ein besonderes Profil. Nicht zielt er in Form eines sozialreformatorischen Winks auf die soziale Entgrenzung und Gemeinschaftsbildung inner- und auch außerhalb des Theaters ab. Dazu ist Gautiers Emphase auf Poesie, Imagination und Idealität bei weitem zu elitär fundiert, zu sehr der Prämisse ästhetischer
96
Pericaud, Funambules, S. 135.
97
Theophile Gautier, zit nach: Pericaud, Funambules, S. 115.
98
Gautier, zit. Nach Pericaud, Funambules, S. 115.
99
Florence Naugrette: Le Theatre romantique. Histoire, ficriture, Mise en Scene. Paris 2001. S. 34.
121
Sensibilisierung und Geschmacksbildung verpflichtet und zu sehr innerhalb einer modernistischen Dynamis mit ihrer Tendenz zur Kunst-Aristokratie verortet.100 Gautiers >Volk< und >Volkskultur< sind jeweils nur das vordergründige Etikett fur einen weitaus grundlegenderen Prozess von ästhetischer Rezeption und Produktion, der in seinen bewusstseinsmäßigen Implikationen dem genuin adiskursiven Poesie- und Imaginations-Postulat entspricht: Die Welt des stummen Spiels etabliert besonders im wunderbar-fantastischen Format eine szenische Eigenrealität, die im Widerspruch zu einer reflexiven und vernunftmäßigen Rezeption steht und eine intuitiv-affirmative, >naive< Einlassung bedingt, welche unabhängig vom jeweiligem Grad an reflektorischem Vermögen ist. Das ideale Publikum für diese Kunst sei dementsprechend »nai'f comme un enfant ä qui Ton compte la Barbe Bleue, se laissant aller bonnement ä la fiction du poete, - oui du poete, - acceptant tout, ä condition d'etre amuse, un veritable public, comprenant la fantaisie avec une merveilleuse facilite, qui admettrait sans objection la Chat botte, le Petit Chaperon rouge de Ludwig Tieck, et les etinclant parades du venetien Gozzi [,..].« 101 Es gilt dabei, dem kulinarischen Verdacht vorzubeugen: Amüsement in der von Gautier angedachten Form hat trotz des popkulturellen Prädikats nichts von einem banalen Sichüberlassen an den bloß sinnlichen Stimulus. Anvisiert ist eine direkte, hermeneutisch, moralisch und generell pragmatisch unabgegoltene Einlassung auf die poetische Struktur und die raffinierte Fantastik der Szene daselbst und zwar gerade angesichts von deren Differenzqualität gegenüber dem Empirischen. Es ist wichtig, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass der Begriff der fantaisie im französischen Sprachgebrauch im Unterschied zur imagination und auch zum deutschen Wort >Phantasie< nicht die schiere innere Einbildungskraft, sondern deren Spezifizierung zum »Fantastischen! hin meint: im Sinne einer von der Realität getrennten, sinnlich erfahrbaren Topographie von ganz spezifisch ästhetischer Verfasstheit.102 Das >Volkoffiziellen< Theater, dem »Parterre litteraire, savant, glorieux«, ihr Ende bescheinigt und sie durch die Qualitäten eines >ignoble< »Parterre des Funambules«, eines »parterre anime, actif, en chemise [,..].«104 ersetzt. Die genuine Spektakelhaftigkeit des Pantomimenspiels macht es auch für Janin zum Paradigma einer »art tout neuf«105, in der neben der unglaublichen körperlichen Agilität und Mutilierbarkeit der stummen AkrobatenAkteure vor allem die »suite inoui'e de changements de tableaux et de decors que vous ne croyez possibles qu'ä l'Opera.«106 auffallen: Ständiger wunderbarer Wechsel von Dekor und Szenerie, wie bei Gautier stilistisches Pendant zu einer dadurch in Gang gesetzten Rezeption des Erstaunens, der Überraschung, der Irritation: »votre etonnement a ete grand.«'07 Janin stellt jedoch, indem er die Funambules als theätre ignoble etikettiert, begrifflich weitaus dezidierter als Gautier auf die eigentliche Implikation der Funambules fiir eine moderne Ästhetik ab: das Prinzip des provokant zur Schau gestellten Hässlichen, der offensiven Deformation sowie der Präsentation und Exploitation des von der offiziellen Kultur Ausgeschlossenen und Abjekten. T o u t ce qui est vieux, edente, malpropre et malsain au theätre, est excellent pour le theätre ignoble. [...] Le theätre ignoble, c'est la sentine oil se rendent ä bas prix routes les impuretes de I'art [ . . . ] " *
Damit ist zum einen ein provokatorischer Gestus an den Tag gelegt, der sich gegen die offizielle Theaterkultur richtet und dem scheinbar jede Art von dargestellter Hässlichkeit zum probaten Mittel der romantischen Rancune wird. Auf der anderen Seite aber entfaltet sich erst entlang der Demarkationslinie von hoher Kultur und niederer >Volkskunst< der eigentliche ästhetische Mehrwert der letzteren. Dieser bestimmt sich nicht in erster Linie in einem quasi originären Begriff des bisher von der Hochkultur Ausgeschlossenen, sondern die Deformation bezeugt als genuin komische Deformation die Abgelebtheit des jeweiligen hohen dramatischen oder literarischen Vorbildes und seiner schematisierten Gehalte wie den Willen zur radikalen ästhetischen Erschließung dessen, was an formalen Angeboten und szenischen Effekten in ihnen sedimentiert ist. Fiir Janin schreibt sich der Begriff des ignoble also nicht zuvorderst als eine mimetische, auf die gesellschaftliche Realität hin transparente Hässlichkeit und auch nicht als bloßer Sensationalismus des Repulsiven, sondern er vermeint vornehmlich die artistische Exploitation dessen, was überkommene Dramatik an ästhetischen Restbestän-
103
Jules Janin: Deburau. Histoire du Theätre ä quatre Sous. Avec une Preface par Arsene Houssaye.
104
Janin, Deburau, S. 7.
105
Janin, Deburau, S. 186.
106
Janin, Deburau, S. 158.
Paris 1881.
107
Janin, Deburau, S. 157.
108
Janin, Deburau, S. i8of.
123
den hinterlassen hat - >Tout ce qui est vieux< - und vor allem, was in diesen Restbeständen als Spiel- und Theatralitätssubstrat identifiziert werden kann. Angesichts einer der berühmtesten Pantomimen des 19. Jahrhunderts, des dramatisch völlig inkohärenten Szenarios des Boeuf enrage, expliziert Janin: »C'est un drame vif, actif, animd, plein des passions et des peripeties de tous genres [,..].« 109 Und bereits in einem Artikel im Figaro vom 22. September 1928 hatte er betont: Le Boeuf enragi, grande et belle conception, ä laquelle je ne voudrais comparer aucune des tragedies modernes! puissante application de la maniere de Shakespeare ä la vieille parade italienne et francaise; drame admirable, oil est la vie qui manque ä tant de pi£ces academiques. C'est la un chef-d'oeuvre! [...] Fais-toi peuple un jour, vas voir Deburau et tu sauras ce que c'est que le vrai plaisir. 110
In einer epochalen gesellschaftlichen Situation, in der vor dem Hintergrund der Außerkraftsetzung moralischer wie damit verbundener ästhetischer Prämissen ein Voranschreiten der Kunst generell nicht mehr zu erwarten ist (»L'art ne va plus nulle part, l'art ne marche plus, l'art est stationnaire [...]·«"')> stellt die ignoble Kunst keineswegs eine Erneuerung des ästhetischen Feldes dar - in dem Sinne etwa, dass von ihr sinnvolle, in die Zukunft weisende ästhetische Beiträge oder die künstlerische Etablierung neuer sozial und pragmatisch zu verrechnender Werte zu erwarten wären. Janin spricht der Kunst generell die evolutive Möglichkeit und damit die gesellschaftsrelevante Dimension ab. Vielmehr platziert sich die komische Kunst der Funambules-Sizne und ihre Ausrichtung auf das Plaisir und das Amüsement in einem historischen Feld, dem die Depression angesichts des Bankrottes der referentiellen und utopischen Wirkmächtigkeit von Literatur, Drama und Kunst generell eingeschrieben ist. Es fällt auf, dass das, was bei Gautier angesichts einer fantastisch-bizarren Szene vor allem als Surplus der poetischen Imagination beschrieben wird, von Janin eine Wendung ins Konstruktivistische erfährt: Die Pantomime der Funambules kontaminiert die formalen Angebote verschiedener dramatischer Genres sowie der entsprechenden ästhetischen Kategorien, z.B. von Tragik und Komik, um dermaßen deren bis dato verborgenes Effektpotenzial freizulegen. Das stumme Spiel ist somit Exploitationskunst schlechthin: produktive, artistisch reorganisierende Nachahmungvon. Vorbildern, und das nicht nur in Gestalt der Akteure, die in komischer Manier menschliche Verhaltensweisen in überzeichneter Form wiedergeben, sondern vor allem auch hinsichtlich seiner Stoffe und Strukturen. Auf den ersten Blick ähnelt dies formal der rein parodistischen Ridikülisierung jeweiliger traditioneller Vorbilder, also einem intertextuellen Modus, der die komische Distanz zur Vorlage über deren Wiedererkennbarkeit herstellt und darin kritischen Impakt entfaltet. Ab dem Punkt jedoch, wo ein Fortschritt der Kunst gemäß Janin nicht mehr erwartbar ist, ermangelt es auch dem parodistischen Grundzug und der komischen Kunst generell an eben diesem reflexiven und erneuernden Potenzial. Vielmehr setzt Janin auf die unterschiedslose Exploitation aller möglicher Elemente, einschließlich derjenigen her-
109 1,0 111
124
Janin, Deburau, S. 130. Le Figaro. Paris, 22. September 1829 (unsigniert). Janin, Deburau, S. 177.
gebrachter Volkskomik, nach Maßgabe der Aktivierbarkeit des darin angezeigten AktionsPotenzials und des formalen Reichtums, den sie für die Darstellung versprechen. Gerade diese nivellierende Durchdringung der verschiedenen zitierten Versatzstücke - was auch die kontradiktorische Kombination heterogener Elemente meint — ergibt eine groteskbizarre Struktur des Werkes, die strikt selbstreferentiell ist und darin die eigentliche ästhetische Qualität der Pantomime bedingt:: C e drame, tel qu'il est, est un compose bizarre, moitie tragedie, moitie comedie, mi-paretie ballet et feerie, drame ä la fois parle, chante, mime, danse et declame [...]. 1 1 2 Es ist daran zu erinnern, dass H u g o das Erhabene als mythisch-inhaltliche Kategorie in Folge der Etablierung einer modernen Bewusstseinslage zugunsten eines komisch verkleinerten Grotesk-Erhabenen, das als Intensitätssubstrat der traditionellen Kategorie gewertet wurde, außer Kraft gesetzt hatte. Diese Attitüde bestimmt, wie das Beispiel Janins belegt, fortan nicht so sehr die Relation Kunstwerk-außerästhetische Realität, sondern vor allem die binnenästhetische Dimension. Der sublime N i m b u s traditioneller Formen und Motive, seien es tragisch-erhabene im engeren Sinne oder aber komische, wird in der Exploitation und Zitation auf das moderne M a ß verkleinert, seiner inhaltlich-wertmäßigen Implikate entkleidet und so erst als genuines Spielmaterial nutzbar gemacht: Allez, ä l'heure de midi, les mains dans vos poches, ä la porte des ces etroites cavernes dramatiques; voyez ces vieillards, Achilles d'autrefois, Paillasses aujourd'hui; ces Iphigenies du siecle passe, Colombines de notre temps, sepanouissant au soleil comme fait l'huitre." 3 N u n ist zu betonen: D i e Pantomime ist eine an die Körperlichkeit des Akteurs delegierte und darin besonderen strukturellen und stilistischen Spielregeln unterworfene theatrale Form mit eindeutiger Emphase auf dem optisch-spektakelhaften Wert komisch-frappanter Bilder. Es müsste dementsprechend ein intrinsischer Konnex zwischen zitierter Spielvorlage, ihrem Materialaspekt und dem Prinzip pantomimisch veroutrierter Körperlichkeit nachzuweisen sein. Jules Champfleury, der in den 40er Jahren z u m großen literarischen Neuerer der FunambuUs-S>zenare avancieren sollte, unterscheidet in seinem Rückblick auf das Theater der Funambules
drei Arten von Pantomimen: Z u m einen die von ihm etablierte Form
der »pantomime-realiste«, zum anderen aber die zwei überkommenen Hauptformen der traditionellen Funambuks-Szenanen:
Die »pantomime-melodrame« und die »pantomime
feerique«," 4 die beide, je auf ihre Weise doch in engster Verbindung ihrer ästhetischen Implikationen, eine Exploitation bereits etablierter Vorlagen betreiben. Das zweite, wunderbare Format der Pantomimen soll dezidiert im Zusammenhang mit dem Deformationsparadigma diskutiert werden. Ihre eigentliche ästhetische Markanz sowie ihr groteskes Aktions-Substrat, das zentral auf dem Prinzip korporeller Exzentrik basiert, erhält die französische Pantomime des 19. Jahrhunderts jedoch in F o r m eines Erbes aus der Gewaltszene des französischen Melodramas.
111 ,IJ 114
Janin, Deburau, S. 129. Janin, Deburau, S. i8if. Champfleury: Souvenirs des Funambules. Genf 1971 [Reprint], S. 86.
125
4·
Melodram und Pantomime: Die komische Exploitation des Gewaltsubstrats
4.1. evidence — etonnement: Das melodramatische Struktur-Erbe der Pantomimen Im
Almanach des Spectacles des Jahres 1823 wird die enge motivische Nähe der PantomiFunambules zu den Verlaufsmustern des romantischen Melodrams besonders
men der
hervorgehoben: A u x paroles pres, ce sont, la plupart du temps, des especcs de melodrames oil l'innocence ingenue et candide est pers^cutie par le crime, qui brave tout, et la trahison et la perfidie qui dissimulent. 1 1 5
Ganz dementsprechend betont Pericaud in seiner umfassenden Rückschau am Ende des 19. Jahrhunderts, der Großteil der Pantomimen wäre »comme on le voit, tirees des melodrames« 116 . Es ist nun der Frage nachzugehen, welchen besonderen Reiz das melodramatische Vorbild für seine generell ans Plagiat reichende pantomimische Exploitation abgab." 7 Einen sehr ernstzunehmenden Hinweis mit gleichsam europäischem Hintergrund gibt A . W . Schlegel in seiner Kritik am französischen Melodram: Unter M e l o d r a m a versteht man nicht, wie bey uns, ein Schauspiel, worin Monologe mit Instrumental-Musik in den Pausen abwechseln, sondern w o in emphatischer Pose irgend etwas wunderbares, abenteuerliches, oder auch sinnliche Handlungen nebst den dazugehörigen Dekorationen und Aufzügen zur Schau gebracht werden. A u f die Neigung hierzu ließe sich etwas besseres bauen; denn leider sind die meisten Melodramen bis zur Abgeschmacktheit roh, und gleichsam Fehlgeburten des Romantischen. 1 ' 8
Abgeschmacktheit und Sinnlichkeit, sowie exotisch-abenteuerliche und ans Wunderbare reichende Stofflichkeit sind die wesentlichen Aspekte des Vorwurfs, aber eben nur in Verbindung mit dem Implikat inhaltlicher Armut:
nirgend etwas wunderbares,
abenteu-
erliches^ bieten die Melodramen an, das vor allem auf den optischen Effekt und die Vergrößerung setzende dramatische Geschehen läuft gleichsam ins Leere. Der spürbare Wille zur Freisetzung des schieren Bühnen- und
OsisteWungs-Effekts auf
der Grundlage
einer nicht tragfähigen narrativen Folie zwecks Vereinnahmung des Publikums qua Sensation: dieser Aspektekomplex begründet das Schlegelsche Negativ-Argument. Dabei scheint das Melodram als Schrumpfform romantischer Ästhetik jedoch im Gegenzug dem Janinschen Positiv-Kriterium des
ignoble durchaus
kompatibel zu sein.
In der T a t charakterisierte sich das französische Melodram einerseits durch einen Trend zur Technisierung der Szene, zur maschinellen Erzeugung von Illusionseffekten
115
Almanach des Spectacles [de Barba] pour l'An 1823. Paris 1823, S. 245.
116 Pericaud, Funambules, S. 31. "7
Vgl,
118
A . W . Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Kritische Ausgabe eingelei-
z u m
Plagiatcharakter: Pericaud, Funambules, S. 135.
tet und mit Anmerkungen versehen von Giovanni Vittorio Amoretti. B o n n und Leipzig 1923, Band II, S. I04f.
126
und seltsam-abenteuerlichen Topographien, sowie andererseits durch die Schematisierung seiner Figuren-Typen, die stets entlang der dramatischen Dyade >Gut vs. BöseUnschuld vs. Lasten etc. angelegt waren und in ihrer Überbetonung stets Gefahr liefen, unfreiwillig ins Possenhafte zu tendieren. Das französische Melodram des ig. Jahrhunderts stellte in seiner Berechnung auf den goüt de spectacle somit selber, trotz aller moralistischen Attitüde, eine Form des auf Sensation tendierenden Unterhaltungs- und Spannungstheaters dar, eine, wie Northrop Frye nicht zu Unrecht vermeint, »comedy without humor«" 9 . Erst in dieser allgemein goutierbaren Verbindung von Schematisierung und Effekt konnte sie sich zum beherrschenden Bühnengenre des Zweiten Kaiserreichs entwickeln 120 und zur eigentlichen Ausprägung des zeitgenössischen bürgerlichen Dramas avancieren.
121
Naugrette weist vor diesem Hintergrund daraufhin, dass der Begriff romantique
von
einer konservativen zeitgenössischen französischen Kritik durchweg in Bezug auf das genuin regellose und effekthascherische Melodram gebraucht wurde, und zwar im Sinne einer Disqualifikation seiner ästhetischen Wertigkeit.
122
In der T a t gilt das weniger für
Ducange, als vor allem fiir das >klassische< Melodram Gilbert de Pixerecourts, dessen Dramaturgie stärkstem auf das optische Spektakel und die körperliche Aktion angelegt war und die narratio
vorrangig als Folie für die Akkumulation jeweils vereinzelter mar-
kanter Ereignisse und Aktionen bemühte. 1 2 3 Das ist für unsere Perspektive insofern bedeutsam, als damit die wesentliche ästhetische Signatur des klassischen Melodramas, auf das die Pantomimen exploitativ rekurrierten, nicht nur in der Delegation der moralisierenden Intrige an schematisierte Typenfiguren bestand. Die verbindlich erwartbare poetische
Verlaufstruktur einer zunächst empfindlich gestörten und dann neuerlich her-
gestellten Gerechtigkeit stellte vor allem eine dramatische Lizenz, einen formalen Rahmen dar, innerhalb dessen eine möglichst frappierende und dabei zumeist gewalttätige
action
vollzogen werden konnte, ohne dass ein moralischer Einwand bezüglich der Gesamthandlung indiziert war. Die besondere Manifestation des dramatischen Konflikts anhand der Steigerung des gefahrvollen Verlaufs ins Pathetische großer Gesten und veroutrierter Kämpfe blieb so zwar immer menschlich dimensioniert und auf den moralischen Gegensatz der dramatischen Folie rückgebunden, dennoch entfaltete das Geschehen ob der Sensationalität seiner Handlungsvollzüge und der Brutalität seiner Motive eine ausgeprägte ästhetische Eigenwertigkeit. Damit etablierte das romantische Melodram jedoch bereits - freilich ohne dies explizit zu machen - eine grundlegende dynamische Spannung von Klischee
119 110
111 122 123
Northrop Frye: Anatomy of Criticism. Princeton 1957, S. 167. Das Melodram als dramatisches Genre stellt selbst bereits ein komplexe Zitationsform von Vorbildern dar: Das Schema der vom Bösen verfolgten Unschuld etwa stammt aus dem sentimentalen Roman und ist über die Vermittlung des romantischen drame ins Melodram eingegangen. Die Uberzeichnung des Konfliktes ins Schwarz-Weiß-Schema von Gut vs. Böse findet sich parallel im Roman noir. Vgl. Konrad Schoell: Die französische Komödie. Wiesbaden 1983, S. i7of. Vgl. Dedeyan, Drame Romantique, S. 79fr. Naugrette, Theatre Romantique, S. 272. Vgl. Marie-Pierre Le Hir: Le Romantisme aux Encheres. Ducange, Pixerecourt, Hugo. Amsterdam/Philadelphia 1992. S. 28 und vgl. S. 31. 127
und Sensation, eine »[...] tension entre le connu et le meconnu, entre Γ evidence et l'etonnement determine la dynamique du spectacle [,..].« 124 . Und genau entlang einer solchen durch das Melodram präformierten »curieuse coincidence de l'interet et du cliche, du nouveau et de la formule, du suspense et de la Stereotypie«125 etablierte sich auch die Pantomime der Funambules als ein komisches Unterhaltungstheater. Tatsächlich erklärt sich der Publikumserfolg der Pantomime des frühen 19. Jahrhunderts vor allem aus der parodistischen Zitation des durch das romantische Melodram erfolgreich etablierten Konfliktschematismus: des Kampfes der reinen Liebe und des Guten gegen die äußere Gewalt in Gestalt des Lasters und Bösen. Das bedeutet zum einen: Die Pantomimen-Szene geriert sich als formale Wiederholung einer bereits etablierten dramatischen Semiosis, die dezidiert aus dem melodramatischen Muster extrahiert wird. Zum anderen aber schafft sie sich damit eine Folie an Erwartbarkeit, von der sich der frappierende Effekt (l'etonnement) in all seiner Sensationalität umso stärker absetzen kann. Dieser Effekt ist, das wird im Folgenden zu zeigen sein, substrathaft in der Gewaltszene des Melodrams und der mit ihr assoziierten exzentrischen Körperlichkeit angelegt. Beginnen wir bei der parodistischen Wiederholung des stereotypen Handlungsschemas: Wo das Melodram das Klischee bemühte, diese Tatsache aber aufgrund seiner moralischinhaltlichen Dimensioniertheit, und seines Wertes als >Drama< wesensmäßig verbarg, ging die Tendenz der Pantomimen zunächst darauf aus, das Klischee in all seiner historisch gewordenen Komik offensiv auszustellen. Die wesentliche Strategie, deren sich die Pantomimen zu diesem Zwecke bedienten, bestand in der Ersetzung des am moralischen Gegensatz orientierten Figurenarsenals des Melodrams durch die seit der Commedia dell' arte etablierten komischen Maskenfiguren: Das melodramatische Grundgerüst wurde zwar formal beibehalten, sein semantischer Horizont jedoch erfährt eine radikale Verkleinerung in den (von vorneherein) komischen Stereotyp. Der Part der verfolgten Unschuld wird so etwa an das archetypische duo amoureux delegiert: Colombine und Arlequin, deren Zueinanderkommen ein zumeist aus monetären Erwägungen (die Verkleinerung des lasterhaften Motivs) begründete Einwand des ewigen komischen Alten, Colombines Vater Cassandre, gegenübersteht; eine Fee (oder im weitesten Sinne: eine personifizierte übernatürliche Macht) hat jedoch bereits Arlequin und Colombine füreinander bestimmt und ihrer Liaison das gute Ende prognostiziert, woraufhin Arlequin Colombine entfuhrt; das Liebespaar wird in einer dynamischen Sequenz von komischen Jagdszenen immer wieder beinahe von Cassandre und seinem Möchtegern-Schwiegersohn Leandre sowie dem rüpelhaften Diener Pierrot eingeholt. Die Liebenden können sich aber, zumeist durch den Einsatz von Arlequins Zauberstab, buchstäblich in die nächste Szene hinüberretten, nicht jedoch ohne sich vorher mit den Verfolgern heftige Schlagabtausche in Form von Handgreiflichkeiten und Fußtritten etc. geliefert zu haben. Nach zahlreichen Fluchten quer durch ein sich ständig wandelndes Szenenbild wendet sich mit einem abrupten und
124 115
128
Julia Pr/.ybos: L'Entreprise melodramatique. Paris 1987, S. 150. Przybos, Entreprise, S. 150.
narrativ unmotivierten Wiedererscheinen der Fee alles ins Happy End: Es erfolgt das >grandefinale*,mit Tanz, allerlei bengalischem Feuer und einer Schluss-Apotheose. Auch wenn im Laufe des 19. Jahrhunderts dieses Schema immer wieder abgewandelt wurde und auch Pantomimen existieren, die nur Pierrot und z.B. den doppelbuckligen Polichinelle in den Mittelpunkt ridiküler Kabinettstückchen stellen, so ist die epochale Signatur des Komischen, die die Pantomime trägt, besonders in der verkleinernden Exploitation des melodramatischen Schemas zu erkennen: Überkommene Strukturen werden als solche nochmals komisch ausgestellt, jedoch nicht kritisch als unbrauchbar verworfen, sondern hinsichtlich des rein formalen Wertes ihrer Verlaufsstrukturen und situationalen Konstellationen sowie hinsichtlich des in ihnen aufgesparten Substrats an intensiver szenischer Aktion ausgeschlachtet. Das Komische ist diejenige ästhetische Strategie, die es erlaubt, das Abgelebte nochmals zu beleben. Komik wird im Zuge dessen von einer vor allem inhaltlich-moralischen Kategorie der Darstellung, welcher soziale Determinanten vorgeordnet sind, zum Paradigma eines konstruktiven ästhetischen Uberbietungsgestus, der sich als solcher nicht mehr in erster Linie in der Relation von Text und Realität, sondern in der von Text zu Tradition, also metatextuell auf der Ebene von dramatischen Strukturen und Figuren-Motiven geriert. Stilbildend in dieser Hinsicht war die 1829 erstmals aufgeführte und zu einiger Berühmtheit gelangte Pantomime Ma Mere l'Oie ou Arlequin et l'Oeuf d'Orderen Affiche-Untertitel bereits auf die erwartenden visuellen Sensationen vorbereitet: Pantomime-Arlequinade-Feerie ä grand Spectacle, dans le Genre anglais, avec Changements ä vue, Travestissments, Metamorphoses, etc. Precedee. D 'un Prologue. Die in diesem Flaggschiff der zeitgenössischen Pantomimenkunst vorgeführte Verfolgungsjagd von Arlequin und Colombine durch Cassandre und seinen gemeinen Diener Pierrot setzt entsprechend genretypisch auf der Stelle und ohne die mindeste Explikation des ihr voraufgehenden Konfliktes ein und reiht in der Folge Setting an Setting, beginnend in rustikaler Umgebung, über Feld und Wiese hinein in die Stadt, dort in einen Garten, hinaus zu den Marktboutiquen und schließlich in einen Zauberwald zum glücklichen Finale. Für die Pantomime der Funambules jedoch, das wurde bereits angedeutet, gilt, dass das offensive Ausspielen des Stereotyps nur eine Seite der Relation >entre Γ evidence et l'etonnementi ausmacht: Eigentliches und vor allem artistisch signifikativstes Objekt des exploitativen Zugriffs auf die melodramatische Vorlage war stets der Gewaltfond des Melodrams. Werfen wir einen Blick auf eine sehr frühe, dafür jedoch beispielhafte Pantomime aus dem Jahre 1815, den Faux Ermite, der wiederum mit dem Prädikat »ä grand spectacles angekündigt wurde. 117 Das Szenar ist noch weitaus eindeutiger als das der eben beschriebenen Pantomime dem Melodram verpflichtet: Die komische Figur tritt nur als
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Ma Mere l'Oie ou Arlequin et l'Oeuf d'Or. Pantomime-Arlequinade-Feerie ä grand spectacle, dans le genre anglais, avec changements ä vue, Travestissments, Metamorphoes, etc. Precedee. D 'un Prologue. In: Janin, Deburau, S. 131 -153. Le Faux Ermite ou Les Faux Monnayeurs. Pantomime en } actes, par C.D. In: Pericaud, Funambules, S. Ii—13.
129
Nebenfigur auf, im Zentrum der Handlung stehen ein »wirklicher^ d.h. in diesem Falle ein ernster Held und seine Geliebte, sowie ein veritabler Schurke: Arlequin, der Diener des Grafen Adolphe versucht, dessen Melancholie zu vertreiben, indem er eine alte hässliche Frau herbeibringt, die per Zauberspruch das Bild der schönen Bauerstochter Isabelle erscheinen lässt und dem Grafen prophezeit, er werde diese Anbetungswürdige zur Frau nehmen, davor aber erst eine Reihe von Hindernissen zu bewältigen haben: »C'est l'epouse que le ciel vous destine: mais avant de la posseder, vous aurez bien des obstacles ä surmonter.«128 Nachdem der Graf die junge Frau tatsächlich gefunden und ihr seine Liebe erklärt hat, wird die Schöne jedoch von einer Bande von Falschmünzern entfuhrt. Sie kann sich zwar befreien, fällt aber auf den als Eremiten verkleideten Chef der Bande, den Schurken Rinaldi, herein und folgt diesem in seine Höhle, wo er sie im wahrsten Sinne des Wortes zu übermannen sucht (ein delikater Sachverhalt, den man im szenischen Off beließ und der entsprechend auch im Manuskript durch drei Auslassungspunkte gekennzeichnet ist...) Auf den entsetzlichen Schrei Isabeiles erscheint der junge Graf, erdolcht den wachhabenden Banditen, schlüpft in dessen Kleider und wird dermaßen unerkannt von Rinaldi sogar zum Offizier der Bande befördert. Als der Böse der schönen Isabelle erneut zu Leibe rücken will, kommt es zum finalen Showdown. Der Graf legt sein Kostüm ab und tritt Rinaldi gegenüber, es folgt ein »combat ä outrance«119 zwischen den Kontrahenten, der jäh durch eine unerklärliche »explosion terrible«130 beendet wird, die die Höhle zum Einsturz und den falschen Eremiten ums böse Leben bringt. Die übrigen Banditen werden in Eisen geschlagen und die Liebenden leben fortan in Glück und Zufriedenheit. Pericaud betont, wie deutlich gerade am katastrophischen Endbild noch der moralisierenden Folie Genüge getan wird: »la terrible explosion ne frappe que les personnages antipathiques et s'incline respectueusement devant les sympathiques.«'31 Obwohl die komische Figur - in diesem Falle Arlequin - hier noch eine Nebenrolle spielt und nur den Zweck eines comic 7r/z'f/rgegenüber dem im Grundzug ernsten und hochmoralisch aufgeladenen szenischen Geschehen erfüllt, werden wesentliche Züge der Pantomime des 19. Jahrhunderts bereits exemplarisch vorweggenommen. Erstens: Der in diesem Fall im Kontext des Wunderbar-Fantastischen explizit vorgegebene Nexus von Ausgangspunkt und Happy Ending (durch die Ankündigung der Alten, das Geschehen werde ein gutes Ende nehmen) verschiebt von vorneherein den rezeptiven Focus. Durch die Erwartbarkeit des Handlungsverlaufes verlagert sich die Konzentration von der Inhaltlichkeit der Darstellung auf die formalen Besonderheiten ihres performativpantomimischen Vollzuges. Zum einen richtet sich das Interesse des Zuschauers darauf, welcher Art die Hindernisse sein werden, die den Figuren im Verlauf der Handlung entgegentreten. Als unterhaltendes Theater bemüht sich die Pantomime, diese Hindernisse zum einen als darstellerische
128
Pericaud, Funambules, S. 12.
129
Pericaud, Funambules, S. Ii.
130
Pericaud, Funambules, S. izf.
131
Pericaud, Funambules, S. 13.
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oder szenische Kabinettstücke zu gestalten, die motivisch immer autoreferentiell auf den grundlegenden theatralen Modus der Verwandlung rückverweisen. So tritt der als Eremit verkleidete Schurke Rinaldi dem seinerseits als Banditen verkleideten Helden gegenüber und befördert diesen sogar zum Unterhauptmann der Räuberbande. Es wird hier eine temporäre Reversibilität der Grundopposition von Gut und Böse erzeugt, die insofern komisch-amüsanten Charakter hat, als sie rein formal, also als Verkleidung organisiert ist und keine wirkliche inhaltliche Außerkraftsetzung der Positionen bedeutet. Es handelt sich um eine genuin theatralische und auf den theatralen Verkleidungsmodus hin durchschaubare Pointe, in der jedoch bereits die Differenz von inhaltlich-moralischer Indikation und performativem Wert der Darstellung markiert oder noch besser: ausgespielt ist. Zweitens: Entlang dieser Verlagerung des rezeptiven Interesses auf den performativen Vollzug kommt die melodramatische Gattungsstruktur einer Spannung zwischen evidence und etonnement in besonderer Weise zum Tragen. Das wiederholt ausgespielte stereotype Konfrontationsschema von >Gut vs. Böse< tendiert immer zum Absprung in den schieren szenischen Sensationalismus, der entlang der Ikonographien des Gewaltsamen, der Aggression und des Schrecklichen vor allem körperlich markiert ist. Der als Eremit verkleidete Schurke fällt über die bedauernswerte Unschuld her, Adolphe tötet die Wache, der Showdown ist als veroutriertes, d.h. als von korporeller Dynamik getragenes Spektakel organisiert und endet schließlich in der explosiven Katastrophe. Es handelt sich bei all den beschriebenen Handlungen per se keinesfalls um komische Elemente, vielmehr um typische Aspekte des um die genannte Grundopposition herum organisierten Melodrams: verirrte Leidenschaft und Gier, die sich gewaltsamer Mittel bedient, um ihre Ziele zu erreichen und der ebenso gewaltsam entsprochen wird. Erst die besondere pantomimische Transkription des melodramatischen Grundarsenals ergibt die komische Perspektivierung, die hier allerdings ausgesprochen stark in den Hintergrund gerückt ist. Der Faux Ermite deutet als Musterexemplar des Changierens zwischen Melodram und Pantomime jedoch bereits daraufhin, dass exzentrische Gewaltszenen und pantomimische Darstellung eine prinzipielle Affinität zueinander besitzen; eine Tatsache, die in der Folgezeit dazu führen sollte, dass eine um das Motiv des Brutalen und des Schrecklichen herum organisierte groteske Körperlichkeit zum Nukleus jeglicher pantomimischen Veranstaltung im Frankreich des 19. Jahrhunderts avancierte.
4.2. Die >verkleinernde< Nachahmung melodramatischer Kampfszenen Charles Nodier hatte in seiner Einfuhrung zu den Stücken Pixerecourts darauf verwiesen, wie stark die Gewaltikonographie des Melodrams der post-revolutionären Lage und einem sie kennzeichnenden Bedürfnis nach intensiven Eindrücken entsprach: Le peuple tout entier venait de jouer dans les rues et Sur les places publiques le plus grand drame de l'histoire. Toute le monde avait ete acteur dans cette piece sanglante, tout le monde avait ete Soldat, ou revolutionnaire, ou proscrit. A ces spectateurs solennels qui sentaient la poudre et le sang, il fallait des emotions analogues ä Celles dont le retour de l'ordre les avait sevres. 1 ' 1
1,2
Charles Nodier, zit. nach: Naugrette, Theatre Romantique, S. 273.
131
Diese Verhandlung der Ästhetik des Melodrams unter emotiver und damit auch energetischer Perspektive133, lässt den Gedanken an eine vordergründige Widerspiegelungsreferenz auf die soziale Realität fragwürdig werden. Julia Przybos bemüht sich dementsprechend in ihrer umfangreichen Arbeit zum französischen Melodram über einen von Rene Girard hergeleiteten, am Opferritual geschulten und metaphysisch unterfutterten GewaltbegrifF, das melodramatische Geschehen als abbreviaturisch-symbolisch verfahrende »mise en oeuvre d une purification sociale« zu bestimmen. Demgemäß gälte fiir die in Rede stehenden Dramen: Inlassables, elles miment rapts, vols, meurtres, orages, eruptions de volcan et inondations. Tout en se gardant bien de parier ouvertement du passe traumatique et sans jamais mentionner la violence revolutionnaire, les melodrames rccr&nt sur les treteaux - sous une forme hautement codifiee et symbolique — l'histoire tumultueuse des annies revolutionnaires et post-revolutionnaires. A l'aide de ces effets forts et spectaculaires, les pieces presentent les moyens qui permettent ä la communaute de canaliser et d'cvacuer l'hostilite. Le melodrame donne somme toute ä voir le processus qui permet de sortir du cercle de la violence. 1 ' 4
In dieser relativ optimistischen Katharsisversion scheint der wesentliche Umstand ausgeblendet, dass mit dem Beginn der ästhetischen Moderne die Themen von Gewalt und Schrecken generell auch immer unter der Perspektive des Faszinosums verhandelt werden. Die wesentliche ästhetische Lizenz für die Romantik hatte dann Hugo mit seiner nivellistischen Relationierung von Realität und ästhetischem Raum unter energetischem Gesichtspunkt sowie mit seiner unterschiedlosen Subsumption des Verbrechens und des Lasters unter das Paradigma des Grotesken gegeben. Jedoch ist Przybos insoweit zu folgen, als sich das Melodram seinem Anspruch nach immer in den moralische Zweck retten konnte. Eine Ästhetik der Gewalt im Sinne einer selbstwertigen Größe war somit im Melodram nicht entwickelbar. Diese Tendenz ist vielmehr der zeitgenössischen Pantomime in ihrer spezifisch auf den Gewaltaspekt abzielenden Rezeption melodramatischer Muster zuzuschreiben. Bereits zitiert wurde der Almanack des Spectacles des Jahres 1823, der die Pantomimen der Funambules in engste motivische Nähe zum Melodram rückte. Der wesentliche Unterschied beider Formen liegt für den Verfasser des Almanach im akrobatischen Element, das das stumme Spiel auszeichnet, in den komischen »gambades« und »cabrioles«, in welchen die melodramatischen Verwicklungen, in die der Held gerät, körperlich veräußerlicht werden: La seule difference essentielle qiu existe entre ces pieces et d'autres, que leurs autuers regardent comme bien superieures, e'est que l'amoureux, ne peut pas prendre part ä l'action et vaquer aux affaires de son ceeur, sans avoir fait prealablement quelques gambades et quelques cabrioles.I35
•33 Vgl. z u r Analogisierung von Melodram und Leben unter energetischem Gesichtspunkt: Naugrette, Thdatre Romantique, S. 273fF. 134 135
132
Przybos, L'Entreprise melodramatique, S. 121 und vgl. generell S. 97-150. Almanach [de Barba], S. 245. Die Implementierung des komisch-,akrobatischen Elements in die melodramatische Struktur bedeutet zum einen die generelle Abwertung des literarischen Wertes der Szenare unter dramenästhetischem Gesichtspunkt, zugleich jedoch wird deutlich darauf hingewiesen, dass die Kabriolen nicht nur Randfiguren der Darstellung sind, sondern dass sich die Haupthandlung
V o n ganz entscheidender Bedeutung ist, dass das, was im Jahre 1823 noch als komische Kabriolen ausgewiesen wurde, spätestens ab Ende der 20er und A n f a n g der 30er Jahre in eine komische Gewaltartistik einmündet, die das brutale Substrat des melodramatischen Vorbildes transkribiert. Bereits im noch stärksten dem Melodram verpflichteten
Faux
Ermite k o m m t es zwischen dem Helden und dem Schurken zum finalen Showdown, dem »combat ä outrance«, der als unverzichtbares szenisches Element zur Gattungstypologie des französischen Melodrams gehört. Jules Janin hat in seiner wunderbaren H o m m a g e an das Theater der Funambules
unter dem Stichwort »Le Combats« auf eben diesen ganz
spezifischen Vorbildaspekt des Melodrams verwiesen: Ce fut ä peu pres dans ce temps-lä que furent inventes les Combats ä outrance, au sabre et äl'hache. [...] le Combat ä outrance est une des grandes causes du melodrame en France. La premiere piece de ce genre s'appelait le Siege du Chateau. Jamais Drame moderne n'eut un succes egal ä celui-lä. Au iever de ia toile, on voyait le Chateau; le Chateau etait garde en haut par deux Soldats et en bas par deux Soldats. En haut et en bas il y avait un Soldat traitre et un Soldat fidele; Tun voulait livrer le Chateau, l'autre voulait le d'fendre. Iis se battaient en haut et en bas [...]. A la fin, le Traitre d'en haut et le Traitre d'en bas etaient mis ä mort, et le Chateau etait sauve. C'etait lä tout le Spectacle, et jamais Drame romantique ou represantation ä benefice n'a attire un pareil concours.136 Für J a n i n bestimmt sich die Vorbildfunktion des Melodrams für die
Funambules-Panto-
mime nicht vorrangig an der inhaltlichen Qualität einer dramatischen Konflikt-Narration, sondern dezidiert am Motiv des sichtbar auf der Szene ausgetragenen gewaltsamen Kampfes zweier Parteien und ihres tödlichen Ausgangs. Der dramatische Nexus erfüllt im gegebenen Beispiel anscheinend so gut wie automatisch das Prinzip poetischer Gerechtigkeit und so unterbleibt die Frage nach Einbindung des Schicksals von Verteidigern und Verrätern in einen größeren narrativen Gesamtzusammenhang, bzw. sie interessiert den Kritiker nicht im Mindesten. Das inhaltliche M o m e n t erscheint banal, es tritt merklich hinter seiner schieren körperlichen Manifestation in der Kampfszene zurück. Die Funambuks-V zntomimen
selbst rekurrieren ebenfalls auf ein stereotypes Konflikt-
schema mit mehreren Facetten, das immer wieder nach einer gewaltsamen Austragung ruft: Der spannungsreiche Bezug der Liebenden zu ihren Widersachern, die M a c h t - O h n macht-Relation zwischen dem Herrn und dem Knecht (Cassandre - Pierrot/Polichinelle etc.) und ihrer temporären Reversion im komischen Akt, schließlich die prinzipiell konfliktträchtigen
Anstrengungen der komischen Figur, sich alles sinnlich Anziehenden zu
bemächtigen.
wesentlich an ihnen orientiert bzw. in ihnen manifestiert. Es gilt sich vor Augen zu halten: Alle Darsteller der Funambules, der Szene der Seiltänzer, waren Akrobaten bzw. in erster Linie nicht als Schauspieler, sondern akrobatisch-athletisch geschult. Die resultierende Präponderanz des akrobatischen Elements in den Pantomimen erklärt sich daraus scheinbar von selbst. Die strukturell paradigmatische Verbindung von Erwartbarkeit und Überraschung hat aber weiterhin zur Folge, dass die einzelnen Szenen nicht nur auf der Basis des körper- und bewegungstechnischen Raffinements ausgestaltet werden konnten, sondern dass mit der körperlichen Aktion zugleich einem Uberbietungsgestus Genüge getan werden musste. 136
Janin, Deburau, S. 55^.
133
Dabei ist zu unterscheiden zwischen Pantomimen, die das melodramatische Grundgerüst nur sehr lose in der Figuren- und Handlungskonstellation anzitieren und solchen, die - und zwar durchgängig im 19. Jahrhundert - weitaus expliziter auf ein melodramatisches Erbe rekurrieren: Es handelt sich um Stücke, in denen der Konflikt keineswegs nur zwischen den komischen Figuren und ihren gleichsam privaten Ansprüchen alleine ausgetragen wird, sondern um solche, die der narratio eine größere, menschliche und durchaus ernste Dimensionierung verleihen: die sogenannten pantomimes-melodram^1. In Pierrot en Afrique1^ etwa, einer Pantomime, die jeglichen wunderbaren Horizonts entbehrt, legt Pierrot sein typisches weißes Kostüm ab und avanciert zum tapferen Soldaten in einem Kampf zwischen Franzosen und Muselmanen, bei dem es tatsächlich um Leben und Tod, um Ehre und um Treue geht. Allerdings sind diejenigen Szenen, deren spielerischer und pantomimischer Reiz am größten ist, solche, in denen das >hehre< Geschehen gleichsam diminuierend am Zweikampf zweier komischer Typen gespiegelt wird. Pierrot, der hier den treuen Waffenmann gibt, gerät immer wieder in harschen Konflikt mit einem grotesken, bitterbösen und brutal bewaffneten Eunuchen, dem Diener des eigentlichen Widersachers, den er schließlich besiegt. Der moralische Schematismus wird also zum einen auf einer dramatischen, d.h. durchweg >sinnhaltigen< Ebene ausgetragen, zum andern jedoch in Form einer verkleinernden Spiegelung an die komischen Typen delegiert. In der Konsequenz wird gerade in Pierrot en Afrique die verkleinerndridikülisierende Tendenz der Pantomime gegenüber prekären Stoffen offensiv ausgespielt: Die großdimensionierte, historisch fundierte und existentielle Gewalterzählung wird von allerlei Schlachtengetümmel, Kanonendonner und - tödlichen - Kugeleinschlägen bildlich arrondiert und auf dieser Ebene scheinbar ernst genommen; die beiden komischen Typen ahmen nun aber gleichsam in ihren grotesk überdeterminierten Zweier-Schlagabtauschen dieses katastrophische Geschehen nach und entkleiden es — quasi in Form eines körperlichen Kommentars - völlig seiner prekären inhaltlichen Dimensionierung.''9 Der hier auf sich selbst transparente Modus des pantomimischen Nach-Spielens, Kern jeder komischen Mimesis, ist zwar eingebettet in die geschichtliche Perspektivierung des Stückes und dermaßen als Teil des Gesamtgeschehens narrativ beglaubigt, die Kriegshandlung wird jedoch in ihrer pantomimischen Wiederholung durch die beiden komischen Typen gleichsam nivelliert ins groteske Gewaltspiel, auf das die ganze Pantomime, indem sie das Aufeinandertreffen der beiden Kontrahenten ständig wiederholt und dermaßen zur reizvollen Hauptsache promoviert, fokussiert.
4.3. Die zentrale Aktions-Figur der Pantomime: cascade Das Prinzip einer solchen diminuierenden Nachahmung ist der Pantomime genuin: Das Moment der Gewalt in den Pantomimen wird entsprechend ihrer parodistischen Rezep-
•37 Vgl Champfleury, Souvenirs des Funambules, S. 86. 138
139
134
In: [Deburaus]: Pantomimes de Gaspard et Charles Deburau. Traduction par fimile Goby. Preface par Jules Champfleury. Paris 1889, S. 45-62. Vgl. Deburau, Pantomimes, S. 45-63. Da noch einmal gesondert auf die betreffenden Stellen im Stück zurückzukommen sein wird, kann eine Zitation an dieser Stelle unterbleiben.
tion melodramatischer Vorlagen motivisch verkleinert. Dabei spielt eine wesentliche Rolle, dass nicht nur die Delegierung der Handlung an komische Typen Komik erzeugt, sondern dass auch das eigentliche Schauspiel von exerzierter Brutalität eine entsprechende Transformation erfährt: und zwar von einem erbitterten Kampf auf Leben und Tod hin zu einem Trommelfeuer an Fußtritten, Knüppelschlägen und Ohrfeigen. Z u einer korporellen Exzentrik mit hohem sinnlichen Reiz also, die das Augenmerk des Betrachters umso mehr zu vereinnahmen vermag, als sie von existenzieller Schwere und substantiellem Botschaftsgehalt weitgehend befreit ist. Ein sprechendes Beispiel geben die 17. und 18. Szene der Pantomime Le Berger Suisse, welche in der entsprechenden Kompilation fast den Umfang einer ganzen Seite einnehmen: S C E N E XVII Le seigneur sort de l'auberge; il voit Turlubin aux genoux de Kettly. II s'avance pres de Turlubin et le releve avec un coup de pied. Celui-ci lui envoie un soufflet. Le seigneur va pour saisir Turlubin qui lui saute sur les epaules, lui passe entre les jambes et le fait tomber ä plat ventre. Ensuite il lui monte sur les dos et grimpe ä l'echelle qui conduit au poulailler oü il se cache. Le seigneur est fiirieux et il dit ä Kettly, qui rit aux eclats, que c'est mal de sa partie des se moquer de lui. Ensuite il se jette ä ses pieds en lui offrant une bague. Turlubin lui lance un ceuf dans les dos. [...] Le seigneur redescend et va se remettre aux pieds de Kettly qui lui envoie un soufflet et se sauve. Turlubin veut descendre, mais il tombe avec l'echelle et le seigneur a la cete prise dans un echelon. Turlubin le fait tourner et s'en va. S C £ N E XVIII Le postilion entre et recoit des coups d'echelle dans les jambes, car le seigneur tourne toujours. Le postilion, en colere de ce qui lui arrive, fait claquer son fouet et donne une volee au seigneur qui jette les hauts cris et finit par tomber. [ . . . ] 1 4 0
Das begriffliche Etikett für diese grotesken Kämpfe, frappanten lazzi und der sie arrondierenden schmerzhaften Unfälle auf offener Szene ist das der cascade: Es meint den massierten, immer und immer in wechselnden Konstellationen jeder gegen jeden wiederholten komischen Kampf: »Combat comique entre eux deux. Pierrot finit par se sauver, poursuivi par colin (Cascades. - Sortie.) [...] II se fächent et vont pour se frapper. Mondor fait tourner Bazile qui ä son tour fait tourner Mondor (Cascades). »' 4I etc. etc. etc. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass der romantische Diskurs um den hohen Wert der Pantomimen fur eine moderne Szenenästhetik zentral um dieses Motiv komisch vermittelter frappanter Gewalttaten und des grotesk vorgetragenen Schmerzbildes gravitiert. Champfleury, einflussreicher Theoretiker — vor allem, was eine komische Darstellungstradition angeht - und berühmtester Autor der Funambules in Personalunion, hat unisono mit Janin und Gautier nicht nur immer wieder emphatisch auf diesen spezifischen grotesken Gewalt-Aspekt der Pantomimen abgestellt, sondern ausdrücklich die cascade
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141
Deburau, Pantomimes, S. 211. (Alle im Folgenden zitierten Szenar-Auszüge werden mit einfacher Seitenzahl zitiert unter dem Sigel >Deburau, Pantomimes«) Deburau, Pantomimes, S. 107
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zum zentralen Merkmal einer in der Pantomime anvisierten Überwindung klassischer Inhaltsdramatik promoviert: [...] la pantomime ä cascades est la nouvelle forme de la pantomime, comme qui dirait une forme romantique, une grande scission avec l'ecole classique. Cascade appartient au dictionnaire des Funambules; cascade contient ä la fois les coups de pied, les soufflets, les coups de baton. 142
Champfleury spricht ausdrücklich von der neuen Form der Pantomime: Indiz dafür, dass erstens die frühen Pantomimen vom Ende des 17. Jahrhunderts bis ca. zu den 1820er Jahren entweder, wie der Ermite, pantomimische Melodramen waren oder eher harmlose, keineswegs von frappanter Gewalttätigkeit gekennzeichnete Darbietungen, in der das Komische vor allem an den ridikülen Figuren und ihrem farcenhaften, jedoch relativ kohärenten dramatischen Plot festmachte; zweitens aber fur ein gesteigertes Interesse an der veroutrierten körperlichen Darstellung und ihres Intensitätswertes, die immer und in jedem Fall mit dem Motiv der Gewalttat und des Schmerzes verbunden war. Zum Dritten: Das Etikett der >cascade< (Wasserfall, Purzelbaum, Sprung) ist eine (auch dem >native speaken keineswegs selbstverständliche143) strukturelle Metapher für die szenische Aktion: Sie lässt eine unabschließbare Bewegung von extremer Energetik assoziieren, die wesentlich von der Dichte und Massierung ihrer einzelnen Teile getragen wird, der mit zunehmender Dynamik das begründende Moment abhanden kommt. In Champfleurys Argumentation wird übrigens mit der Emphase auf dieses Intensitätsprinzip der melodramatische Rückbezug nahezu gänzlich aufgegeben. Das Repertoire an Schlägen und Tritten ersetzt das inhaltlich-kausal begründete dramatische Prinzip schlechthin. Indiz einer modernistischen Subversion des dramatischen Kontinuitätsprinzips durch die frappante szenische Aktion sind in der Folge begriffliche Etiketten, die die Einlösung der wirkungsästhetischen Prämisse durch die cascaden in den Vordergrund rücken: Une revelation et un mystere que ces representations oil la parole etait remplace par des soufflets et des coups de baton. Quelle magie et quel enchantement ! 1 4 4
Wir haben es hier mit einer ernstzunehmenden Infragestellung derjenigen klassischen dramatischen Repräsentationsstrukturen, denen stets ein vom pragmatisch-diskursiven Kommunikationsaspekt beherrschter gesellschaftlicher Zusammenhang zugrunde liegt, zu tun. Ernstzunehmen in dem Sinne, dass die narrativen Grundstrukturen einer auf dem Konfliktschema basierenden dramatischen Erzählweise nicht einfach zugunsten des Absurden verabschiedet werden, sondern formalistisch transformiert werden. Die Grundannahme der Theorie des klassischen Dramas, wie sie für den europäischen ästhetischen Diskurs verbindlich von Hegel formuliert wurde, basiert bekanntlich auf der Annahme, dass das »Bedürfnis des Dramas überhaupt [...] die Darstellung gegenwärtiger menschlicher Handlungen und Verhältnisse für das vorstellende Bewusstsein in dadurch sprachlicher Äußerung der die Handlung ausdrückenden Personen« sei, und dass das
142
Champfleury, Souvenirs des Funambules, S. jf. •43 Vgl. Champfleury, Souvenirs des Funambules, S. 5. 144 Jules Champfleury: Souvenirs et Portraits de Jeunesse. Genf 1970 [Reprint], S. 63. 136
»dramatische Handeln [...] schlechthin auf kollidierenden Umständen, Leidenschaften und Charakteren«' 45 beruhe. Die Pantomimen verhalten sich subversiv gegen dieses Prinzip, indem sie es nicht von vorneherein aufgeben, sondern es durch Exponierung des wirkungsästhetischen Mehrwertes, der an der äußeren Gestalt des Dramas haftet, aufsprengen. Die Pantomime legt das der dramatischen Handlung grundgelegte Substrat an reiner szenischer Aktion bloß, indem sie den auf Sinnfinalität ausgerichteten dramatischen Nexus als körperlich-energetischen Reiz-Reaktions-Zusammenhang reorganisieren. Die akrobatische Gewalttat als Veroutrierung des stereotypen Konfliktschemas bedeutet sozusagen eine genuin visuelle Radikalisierung des bei Hegel wesentlichen Aspektes der reinen Gegenwärtigkeit der dramatischen Handlung: Die unmittelbare Sinnpräsenz der jeweiligen Handlung wird durch ihre Integration in ein stereotypes Schema und in ihrer Delegierung an den körperlichen Ausdruck suspendiert. Besonders in der den Konflikt manifestierenden Gewaltgeste wird unmittelbare Sinn-Gegenwärtigkeit (als innerlicher Modus) gleichsam umgeschrieben in die rein temporäre Plötzlichkeit und Instantialität intensiver äußerlicher Gesten. Es war diese optisch vereinnahmende Dynamik physischer Entladung in plötzlichen Schlägen, Tritten, Stößen und Unfällen, die das immer wieder von der zeitgenössischen Kritik frenetisch gefeierte Potenzial der Pantomimen-Szene an Überraschendem, an »imprevu«1·*6 ausmachte. In der Tat stellt die um das Konfliktschema herum organisierte groteske Gewaltgeste so den Extremfall einer über den Körper in actu geleisteten Deregulierung des Verhältnisses von dramatischer Inhaltlichkeit und performativen Vollzug dar. Zum einen sind die Gewaltgesten zwar in der zugrundeliegenden Konflikterzählung resthaft abgesichert: Ihr Inerscheinungtreten entspricht so einer vom Zuschauer durchaus immer wieder erwarteten Aktualisierung des Themas. Das ändert aber nichts daran, dass in der Gewaltgeste die Kontinuität der Handlung jedes Mal in ein extrem instantanes Körpergeschehen hinein überboten wird, das immer den Charakter einer grotesken Uberreaktion hat, in der die Verbindung von Geschichte und identitätsträchtigem Affekt gekappt ist. Das Szenar bietet dermaßen eine Folie, auf der sich Gewaltgesten performativ verselbständigen können, eine motivische Materialsammlung für gleichsam autonomisierte Effekte. Die Gewaltgeste fungiert dabei stets als eine ins Funktionslose tendierende Überdeterminierung von Ausdrucksgeschehen, an dem eine unüberbrückbare Kluft von innerem Anlass und äußerer Folge offenkundig wird. Hierin kann sie zur paradigmatischen Grundfigur einer pantomimischen Nachahmung werden, in der sich der äußere Ausdruck gegenüber dem Inhalt verselbständigt. Auf mannigfache Weise kehrt, nicht nur unter grotesk-gewaltsamen Vorzeichen, eine solche komische Semiotik der Differenz Innen und Außen in den Pantomimen wieder, etwa in der Travestie-Szene, die immer auch auf den theatralen Verwandlungsmodus daselbst anspielt.147
J . W . F . Hegel, Ästhetik III, Frankfurt a.M. 1970 (Werke: Band 15), S. 475. Deburau, Pantomimes, S. 262. [aus den Memoiren von Charles Deburau]. •47 Vgl etwa die Pantomimen Les Deux Jocrisses und Pierrot en Afrique. Deburau, Pantomimes, S. 59 und S. 75. 146
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Was jedoch die Gewaltgeste eindeutig vom Verkleidungsspiel unterscheidet, ist, dass sie immer mit dem Implikat physischer Energetik versehen ist. Auf den ersten Blick könnte die Pantomime somit als Erschließungsvehikel für das anarchische Potenzial einer entfesselten Sinnlichkeit und damit als Dispositiv für einen vermeintlichen romantischen Entgrenzungsdiskurs gegenüber den Zwängen einer symbolischen Ordnung gewertet werden. Indiz dafür wäre etwa, dass das zentrale Element der cascade offensichtlich eine eigene Dynamis mit steigender Intensitätstendenz besitzt, die sich auf ihrem jeweiligen Höhepunkt der Beschreibbarkeit entzieht und somit alleinig an die körperliche >Kreativität< und Abilität der Darsteller delegiert wird: In der Pantomime Pierrot dans le sac beispielsweise kommt es zu einem nicht näher definierten »tohubohu [sie!] epouvantable.«148, das dritte Tableau des Le Loup garou endet im finalen Taumel: »Tohu-bohu, cascades. Tout le monde se sauve.«149 Hier erscheint das Prinzip dramatischer Inhaltlichkeit vollends ins Effektdynamische umkarikiert: Der narrative Finalnexus, in dem sich dramatisch vermittelter Sinn entlang der kausallogischen Akkumulation kleiner szenischer Sinneinheiten entfaltet und vervollständigt, zeigt sich ersetzt durch eine bloße Akkumulation intensiver Gestik, Proxemik und Kinetik zum tohu-bohu, dem Wirrwarr, das die sinnvolle Begrenzung des >Dramas< durchbricht: Wie Champfleury schreibt, bestehen die Pantomimen aus einem: »averse de coups de pied, de coups de baton ä n'en plus finir.«'50 Der richtungslose Ausdehnungscharakter der körperlichen Exzentrik lässt das von ihm getragene Geschehen dermaßen als prinzipiell unabschließbares assoziieren, terminiert nur durch den ihm von außen gesetzten zeitlichen Rahmen. Was den frappanten Charakter der Pantomimen-Gewalt betrifft, so macht die romantische Begeisterung für diese Form der Darstellung, wie sie bei Janin und Champfleury exemplarisch wird, tatsächlich zum einen an der hier bedienten energetischen Prämisse fest. Marcandier-Collard hat auf die grundlegende Bedeutung des energetischen Prinzips fur die modernistische Revolution im Kontext der französischen Romantik verwiesen und diese strukturell wie motivisch an das Paradigma der Gewalttat gebunden. Dementsprechend erlaubt: L'energie [...] en effet une redefinition de la litterature, tant dans ses themes que dans son esthetique et ses valeurs philosophiques, morales et politiques, elle st une forme de bcaute liee ä la violence, elle est cette force physique, corporelle [...]. O n comprend d & lors ce culte romantique de la vitalite, de la force, d'une energie qui est l'autre nom de la violence: l'energie definit tous les paroxysmes romantiques, les caracteres absolus des personnages, les actes extremes, atroces mais plastiquement parfaits, les effets stylistiques.' 51
Von zentraler Bedeutung ist der hier am Ende angesprochene epochale Konnex des energetisch-anarchischen Prinzips mit dem StilefFekt. Wenn Marcandier-Colard unter anderem dezidiert auf das Melodram zu sprechen kommt, die pantomimische Tradition
148
Deburau, Pantomimes, S. 225.
149
Deburau, Pantomimes, S. 179.
150
Champfleury, Souvenirs, S. 184.
151
Marcandier-Colard, Scenes capitales, S. 95.
138
aber außer Acht lässt, entsteht der Eindruck, Energetik, für sich alleine genommen als Etikett einer gleichsam ungerichteten physikalischen Intensität, mache schon ästhetischen Stil aus. Dem ist jedoch nicht so.
4.4. Raffinement des intensiv bewegten Körpers Vor dem Hintergrund der zitierten Emphase auf dem energetischen Aspekt ergibt sich angesichts der pantomimischen Darstellung, die immer die komische Distanzierung vom realen Gewaltakt mit auszuspielen hat, eine gewichtige Problematik: Die chaotische Deregulierung in den cascaden und Tohuwabohus muss, um als artistischer Gestus und vor allem als komischer Akt erkennbar zu bleiben und mit Lachen quittiert zu werden, ihrerseits ästhetisch strukturiert sein. Bereits Champfleurys Einspruch gegen die Regularität klassischer Inhaltsästhetik, deutet, wo er mit den Begriffen magie und enchantement arbeitet, darauf hin, dass der szenische Wert der cascades keineswegs in der schieren und als solcher zur Schau gestellten korporellen Energetik gelegen haben kann. Auch Gautier lässt, wo er auf die körperlichen Voraussetzungen der Pantomimenkunst abstellt, die Kraftprämisse nicht als solche stehen, sondern integriert sie in das Konzept einer künstlerischen Durchbildung, etwa wenn er schreibt: »La force est la seule grace permise ä l'homme.« 152 Kraft und Stil sind nicht getrennte, sondern einander inhärente Prinzipien, die zum Gesamtbild artistischer Raffinesse zusammentreten, im Fall der cascade zu demjenigen des clownesk-artistischen acts. In der Tat findet sich in den Szenaren immer wieder - auch in Bezug auf den grotesken Zwei-, Drei- oder Mehrkampf - die Anweisung: »Scene comique a regier.«'53 Für die technische Ausführung dieser Szenen hat Charles Deburau jr., Sohn und Nachfolger des berühmtesten aller Pierrots, die Bedeutung reiner Körperkraft außerordentlich hoch veranschlagt - »la force etait tout, eile etait la puissance supreme«'S4 - jedoch eine »force de concentration pour celui qui l'interprete« sowie eine »forte dose de reflexions«'55 als ebenso unverzichtbar bestimmt. So folgt die nach Maßgabe des Unterhaltungstheaters geforderte Binnendynamisierung des stereotypen Handlungsschemas in den Vsmomimtn-cascades einem primären Prinzip energetischer actio. Nichtsdestoweniger handelt es sich stets um ästhetisch raffinierte Gewalttätigkeiten, um ausgefeiltes korporelles Management der >Untatclaques< unterschieden anhand der besonderen Bewegungsfuhrung, mit der sie ausgeführt werden. Es wird - übrigens im Zusammenhang mit einem Unfall der Gebrüder Hanions, bei dem ein Schlag versehentlich buchstäblich ins Schwarze traf und seinen Empfänger empfindlich verletzte'58 — ebenfalls darauf hingewiesen, dass der dynamische Boxschlag ob der geraden Bewegungslinie, der er folgt, eine Schnelligkeit gewinnt, die in der Folge den gewaltsamen Eindruck der Geste auf den Betrachter ungeheuer verstärkt. Der hier explizit angesprochene Zusammenhang von korpodynamischen Aspekten, artistischer Organisation und einer erst durch sie evozierten besonderen Gewaltassoziation ist der wesentliche Ansatzpunkt, von dem aus sich eine Evolution der Pantomime vollziehen wird, in der die prekären inhaltlichen Dimensionen von Brutalität zurücktreten zugunsten einer theater immanenten dimensione violentia. Eine derartige Entwicklung bestimmt maßgeblich die besondere Rezeption der englischen Clowns - siehe die Hanions - seitens der französischen Kritik, die zwischen Begeisterung und Betroffenheit schwankte.'59
156
Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sich die Ästhetik der französischen Romantik, wie bereits an Hugos Groteskbegriff dargelegt, keineswegs in einer Außerkraftsetzung, sondern vielmehr in einer Neudefinition künstlerischen Stilwillens entlang des Konnex Kreativität-Frappanz etabliert, dürfte einsichtig sein: Auch in der als spezifisch romantisch gefeierten Pantomime bedarf die Verdunkelung des Sinngeschehens durch die gewaltsame Aktion, um als ästhetischer Gestus wahrgenommen zu werden, einer besonderen stilistischen Formung.
157
Freres Hanlon-Lee: Memoires et Pantomimes des Fr£res Hanlon-Lee. Avec une Preface de Theodore de Banville. Ed. Richard Lesclide. Paris 1880. S. I02f. (Im Folgenden als >Hanlons< zitiert.)
158
Vgl. Hanions, S. ioif. Es ist bedauerlich, dass — abgesehen vom hier zitierten Beispiel und einer Deburau betreffenden
159
140
Jedoch war es bereits ein wesentliches Charakteristikum der Funambules-Vantomimtn, dass die Gewalterzählung sich als Prozess der theatralen Erscheinung von Gewalt manifestierte. Das trat besonders dort zutage, wo die cascade gleichsam in den horriblen Exzess hinein radikalisiert wurde.
4.5. Das theatrale Potenzial der Gewalt 4.5.1. Grausame Bilder und unsichere Assoziationen Die Funambules-Szenen zeichneten sich durchweg durch ihre extreme Affinität zur Ikonographie der Gewalt und des Schmerzes aus, die sich stets in einem stereotypen Handlungs-Rhythmus von Angriff und Abwehr, von Ausgriff und schmerzhaft komischem Scheitern, von Versuch und Unfall manifestierte. Dieser gleichsam seriellen Organisation von über eine narrative Folie lose verbundenen grotesken Schreckens-Szenen haftete durchaus ein prekäres Moment an, das von der zeitgenössischen Kritik reflektiert wurde. Janin etwa beschreibt, trotz aller Gewogenheit, die Pantomimen der Funambules in den 30er Jahren als »une complication de faits inou'is et d'accidents deplorables, comme on en voit en reve«, jedoch nicht im erleichternden Traum, sondern im »veritable cauchemar, oü la terre et le ciel, la raison et la feerie, la prose et les vers, sont compromis egalement.« ,6 ° Es wurde bereits in Bezug auf das Gautiersche ^»fczw/f-Prädikat darauf verwiesen, dass es, unter etymologischer Perspektive betrachtet, nicht die subjektive Imaginationsfähigkeit bedeutete, sondern die Struktur eines ästhetischen Raumes, der der Empirie und ihrem Kausalprinzip nicht unterworfen ist, bezeichnete. Wenn Janin seinerseits den Konnex von reve und cauchemar bemüht, dann zwar mit einer gegenüber Gautier merklich verdüsterten Attitüde, jedoch implikativ in ganz ähnlicher Hinsicht. Vickermann hat in einem Aufsatz zu Nodiers Fantastik darauf hingewiesen, dass das Wort reve bis weit ins 19. Jahrhundert hinein begrifflich von songe abgegrenzt war, wobei es eine besondere strukturelle Verfassung der Traumgebilde, nicht aber deren (etwa psychologisch aufzuschlüsselnden) Inhalt meinte. Das heißt, nicht die Relationierbarkeit auf anthropologische Tiefenfonds, sondern die traumanaloge Formal-Struktur einer Zusammenstellung des Disparaten und der Wechsel einander heterogener Eindrücke gab den semantischen Horizont des Begriffes reve ab. In der Bewusstseinsirritation, die diese Anordnung erzeugt, ist bereits die Nähe zu cauchemar verzeichnet. Zugleich aber ist es das Implikat von
Stelle Gautiers, die an entsprechender Stelle zitiert werden soll - wohl keine anderen Dokumente fur das technische Management der artistischen Gewalttat vorliegen, vor allem, wenn man bedenkt, wie eindeutig sich die Pantomime im 20. Jahrhundert, z.B. in Gestalt Marcel Marceaus, von diesem Brutalitätsraffinement weg entwickelt hat. Der Stummfilm, etwa der frühen Chaplinschen aber auch der Keatonschen Prägung, sowie die Filmkunststücke von Stan Laurel und Oliver Hardy können dagegen durchaus als späte Überbleibsel dieser groteskkomischen Virtuosität im Umgang mit der Brutalität und dem Schmerz betrachtet werden. 100
Janin, Deburau, S. 155.
141
Äußerlichkeit, die das Prinzip des reve mit poetischen und generell mit künstlerischen Texturen kompatibel werden lässt. 1 6 1 Für Janin steht jedoch in Ansehung der Funambules-Pantomimen
nicht nur die irri-
tierende Mischung des Unvereinbaren, sondern auch - und in erster Linie - eine dezidiert auf das Schreckliche bezogene Motivik zur Debatte: Er beklagt, dass das makabre Spiel mit dem T o d zum eigentlichen Charakteristikum der dato aktuellen Pantomime avanciert ist und belegt damit am Beispiel des stummen Spiels zugleich die Fallhöhe, die die dramatische Kunst in Frankreich hinter sich gebracht hat. In Ansehung einer AusstattungsListe der Funambules, die mit »Douze tetes de mort« schließt, echauffiert er sich: D O U Z E tetes de mort! Vous pouvez suivre facilement, ä la lecture de cette liste, les progres, ou plutot la decadence de l'art dramatique. Si cette liste etait faite dans l'ordre chronologique, eile commencerait par la coupe tragique pour finir par la tete de mort. La coupe et le poignard furent longstemps les seuls accessoires de l'art dramatique en France. N o u s en sommes venus au squelette et a la tete de mort." 5 2
Nicht von ungefähr referiert Janin auf die Requisiten des Tragischen: Das Makabre bedeutet die Außerkraftsetzung auch derjenigen dramatischen Kategorie, die das theatrale Spiel mit dem T o d und der Gewalt strengstens an die Sinndimension und ihre moralische Ordnung rückband. Florian Vaßen hat den Zusammenhang von artistischem Transgressionswillen über eine logische und ethische Ordnung der Dinge und dem Todesmotiv als eigentliche ästhetische Perspektive des Grotesken veranschlagt: In seiner Genese verweist es auf die civitas diaboli, dargestellt als Antichrist oder Hanswurst, in seiner Struktur ähnelt es der Grenzüberschreitung der Traumwelt, u n d in seiner Perspektive deutet es hin auf den T o d als makaber grotesken Totentanz." 5 3
Wenn Vaßen unter anderem das diabolische Etikett bemüht, dann deshalb sehr konsequent, weil in der makabren Ausschlachtung der Bildlichkeit des Todes und des Tödlichen eine tiefgreifende, oftmals als künstlerischer Zynismus ausgelegte Differenz zwischen ästhetischem und moralischem Diskurs verzeichnet ist. Die beschriebene Grund-Spannung
'
Vgl. Gabriele Vickermann: Die Erschreibung des Unbewußten. Charles Nodiers Smarra zwischen Traumtheorie und Poetik. In: Britta Herrmann/Barbara T h u m s (Hrsg.): Ästhetische Erfindung der Moderne? Perspektiven und Modelle 1750-1850. Würzburg 2003, S. 195-214, v.a. S. I9moyen violent beschrieben wird, deutet bereits d a r a u f h i n , dass derm Transformationsmotiv zumeist auch das M o m e n t des Gewaltsamen innewohnte. Damit sind wir zum eigentlichen Focus unserer Arbeit zurückgekehrt, dem Zusammenhang der Gewaltimagination mit einer ins Fantastische überbotenen Komik.
der Bühne der Funambules um 1818 sogar der explizite Verweis auf die artistische Herkunft des Pantomimenspiels mittels eines einleitenden Drahtseilaktes zwingend vorgeschrieben war: »Mais il fallait, avant de commencer une piece, que les artistes montent Tun apr£s l'autre sur la corde raide, pour faire voir au public que c'etait un spectacle d'acrobates, ou pour mieux dire de funambules.« Pericaud, Funambules, S. 20. Pericaud, Funambules, S. 70. Vgl. Pericaud, Funambules, S. 2i6f.
214 Vgl. Pericaud, Funambules, S. 250. 215
158
Pericaud, Funambules, S. 71.
5-2. Schrecklich komische Spektakel 5.2.1. >Illusionismus< des Grauens, >FoIgenlosigkeit< der Gewalt: Körper in der Differenz In Ma Mere l'Oie tritt der schurkische Pierrot, nachdem er beim Versuch, den Attacken Arlequins zu entgehen, durch die Scheiben eines Gewächshauses gestolpert war, wieder zurück auf die offene Szene: von oben bis unten gespickt mit Glassplittern. Seine Komplizen versuchen in einer urkomischen Szene, ihn davon zu befreien, was jedoch angesichts ihrer Anzahl einem ebenso unmöglichen wie schmerzhaften Unterfangen gleichkommt. 2 ' 6 Die Szene rückerinnert an die groteske Rasur in Pierrot Coiffeur, jedoch ist die Gewichtung hier eine andere: Gab das Szenar des Pierrot Coiffeur Anweisungen zur jeweiligen Gewaltgeste und der auf sie folgenden Schmerzreaktion, so wird hier auf das frappante Bild einer körperlichen Verunstaltung, so komisch diese auch sein mag, besonderer Wert gelegt. Wie ein grotesker menschlicher Igel muss Pierrot in dieser FunambulesVariante ekkyklematischen Vor-die-Augen -Bringens ausgesehen haben, und es ist davon auszugehen, dass das Bewegungsspiel diesen Eindruck verstärkt hat. Die Affinität der Funambules-Pantomimen zu den Ikonographien des von Unfällen, Gewaltakten und horriblen Mutilationsakten gezeichneten Körpers lässt sich zumindest der Tendenz nach nahezu durchweg belegen, allerdings reizen einige Szenare den darin angelegten erschreckend-komischen Erscheinungswert in besonderem Maße aus. Im neunten, Titel gebenden Tableau des Boeuf enrageetwa wird der Pierrot von einem wild gewordenen Rind massakriert: Le Boeuf enrage. Voici le cortege du bceuf gras qui s'avance. Le boeuf visiblement contraria ä l'idee de devenir pot-au-feu, se met en fureur. II renverse tout sur son passage, les porcelaines des Cassandre et ses desaventures de boutique. Pierrot, qui ne s'est pas gare assez vite est perfore d'un coup de corne. 2 1 7
Einmal abgesehen davon, dass natürlich das Rind ebenfalls pantomimisch dargestellt wurde und das Ganze eine ungeheuer komische Szene abgegeben haben muss, der hier vorgeführte Konnex von Tohuwabohu und Gewalt mit potenziell >tödlichem< Ausgang oder zumindest einer Evokation der Assoziation >Schwerstverletzung< besitzt drei wesentliche Aspekte: Die allem vorgängige Imagination und Kreation einer ins Fantastische überbordenden Gewalt- und Verstümmelungsmotivik, ihre technische und artistische Realisierung über die Effektmaschinerie, das Ausstattungs- und Maskeninstrumentarium und schließlich am Körper des Akteurs vollzogene Abstraktion vom natürlich-organischen Prinzip, die die reale Physis dennoch zur materiellen Grundlage hat. Beginnen wir bei letzterem Aspekt: Es mag erstaunen, aber manche der auf der Szene gebotenen Verwandlungstricks, die in ihrer offensichtlichen technischen Perfektion an magische Kunststücke erinnern, wurden als »trucs« bezeichnet, als optischer Schwindel, als Illusionismus. Die
216
Janin, Deburau, S. I46f.
217
Pericaud, Funambules, S. 72.
159
Frage ist: Wie kann angesichts einer derartig fantastischen Effektüberbietung überhaupt noch sinnvoll von Illusion, von Schwindel gesprochen werden? Das optische Spektakel war doch ein offensives Schau-Vergnügen fernab jeder mimetischen Tendenz. In der Tat gibt es keinen Beleg über die Reichweite des Begriffes des true, darüber also, in welchen Szenen und mit welchem instrumenteilen Ausstattungsaufwand das Prinzip zum Einsatz kam.118 Die Frage danach ist für uns auch nicht wirklich von Belang. Denn was vorrangig zählt, ist ein ganz spezifischer szenischer Kontext, in dem der true auch zum Einsatz kam. Es handelt sich eben um die Inszenesetzung extremer körperlicher Mutilation: Verstümmelung, leibliche Desintegration, das Spiel mit dem abgetrennten Körperteil - mal eher ridikül, mal am Randes des Erträglichen, aber stets auf höchstem visuellen Niveau. In der Deburau-Pantomime Le Duel de Pierrot findet sich ein in seiner Explizitheit seltener, aber dennoch sprechender Hinweis auf die eines true. Pierrot lädt »deux enormes pistolets« für die Duellanten Cassandre und Arlequin, aber — ebenso treu gegenüber Cassandre wie perfide gegenüber dessen Widersacher - steckt er in Arlequins Pistole nur eine Kerze. Wie könnte es aber anders sein, diese landet direkt in Cassandres Auge und bleibt dort stecken. Im Szenar heißt es dazu: Cassandre frappe trois coups encore. O n tire. Cassandre revolt la bougie dans l'ceil. Ceci est un true facile ä faire. Pendant qu'il tourne les dos au public pour soigner Colombine, il se place lui-meme la bougie qui est retenue par un fil de fer dans sa perruque.
II donne le signal, tournant le dos au public. Qaund on tire il se retourne.21' Der von extremer Gewalteinwirkung gezeichnete Körper wird durch den >Illusionismus< des true nicht etwa mimetisch-realistisch evaluierbar. Der Effekt dient offensichtlich dazu, den vormals natürlichen Körper (immer im Rahmen der mimetisch-künstlichen Grenzlage der komischen Pantomimen-Figuren natürlich) als mutilierten Körper auszustellen. Die deformative Folgeerscheinung von Gewalt und Grausamkeit wird als Bild, als Gewaltfigur in den Vordergrund gespielt und darin komisch distanziert.220 Wenn das Wort true jedoch immer auch den illusionistischen Trick meint, dann bedeutet seine Verwendung im Zusammenhang mit der Gewalttat und dem Grausigen nie den völligen Abstand vom Paradigma >natürlicher< Körper, sondern die extreme Ausreizung der Limits zwischen organischer Leiblichkeit und Artifizialität. Diese ist zentral in der Gewaltimagination mitimpliziert. Gewalt als ästhetisches Motiv ist im Hinblick auf den Körper stets auch als Gestus des Einbrechens und Aufspaltens zu veranschlagen, ein Nachaußenkehren des Inneren des Leibes und - in der Folge - als genuin ästhetisch-übermoralische und nicht zweckgerichtete sondern von Faszination geleitete Erforschung seiner vom Zusammenhalt befreiten Einzelteile.
118
Weder Pericaud, noch die zeitgenössische Kritik, noch spätere Arbeiten wie die von Storey und Jones etc. gehen dezidiert auf den Begriff ein. Er wird anscheinend umstandslos unter das komisch-fantastische Metamorphose- und Transformationsprinzip subsumiert.
219
Deburau, Pantomimes, S. 40.
220
A u f den ridikülisierdenen Grundgestus deutet nicht zuletzt der Umstand hin, dass die Tödlichkeit des Duells von vornherein durch die Verwendung einer Kerze entschärft ist.
160
An dieser Stelle nun kommt wiederum das Fantastische in seiner doppelten Perspektivierung als optisches Foregrounding und Handlungsrahmung ins Spiel: Die FunambulesPantomimen setzen Entsetzliches in Szene, daran besteht kein Zweifel. Aber sie reizen es erstens bis zu einem fantastischen Grad aus, der seine natürlichen Aspekte völlig verabschiedet. Das Schreckliche wird durch die Betonung seiner frappant-exzentrischen Optik völlig entnarrativiert. Es illustriert in keinster Weise und ist nicht in abbildender Relation - sei sie zynisch oder miserabilistisch - auf eine Realität des Todes hin transparent. Zweitens legt die von vorneherein als fantastisches Spektakel ausgewiesene Szene einen artifiziellen Rahmen um das Grauen: Champfleury weist explizit auf einen spezifischen Zusammenhang von fantastischem Irrealismus und der rein formalästhetischen Dimension des Schreckens hin, wenn er im Hinblick auf die mit fantastischen Szenenverwandlungen arbeitenden pantomimes feeriques und deren »incroyable mepris de toutes les regies« zugleich besonderes Augenmerk auf die Inszenierung des Makabren legt: »La famille de Cassandre, Colombine, Arlequin, Polichinelle, entre, sort, se jette par les fenetres, est coupee par morceaux, revient a. la vie [.,.].« 221 Champfleurys Emphase liegt dabei ebenso sehr auf dem Motiv der Mutilation wie auf der Folgenlosigkeit der - eigentlich >Tödlichkeit< implizierenden - Verstümmelungen auf der narrativen Ebene. Ganz im nämlichen Sinne erblickt Gautier das Spezifische der Feerien-Vintomime im Konnex von körperlicher Desintegration und fantastischer Wiederherstellung. Angesichts der Clownsfarce Les Pilules de Diable (die nicht in den Funambules, sondern von englischen Clowns im Cirque-Olympique gegeben wurde, die er aber in engste Nähe zur Ästhetik der frühen Funambules-Szenare bringt 221 ) rückt er angesichts der grausigen Vorfälle ebenfalls die narrative Folgenlosigkeits-Prämisse in den Vordergrund: Le monde feerique est ainsi fait, le heros fut-il decapite, empale, hache comme chair a pate, mis dans un mortier et broye au pilon, cela ne nuit en rien a la sante; tous les personnages se retrouveront sains et saufs ä leur tiomphante des feux du Bengale 2 2 3
In der Tat erhebt sich - abgesehen von den das Geschehen nur arronierenden Widersachern in den bereits zitierten Pantomimen mit realistisch-historischem Fond (z.B. Les Francs en Espagne, Pierrot en Afrique) - das komische Personal immer wieder von Neuem: Pierrot überlebt den Rinder-Angriff in Le Boeuf enrage, Cassandre führt in Le Duel de Pierrot zwar einen irrsinnigen Schmerzenstanz auf, aber die Kerze im Auge wird danach relativ umstandslos und unaufgeregt entfernt, in Ma Mere l'Oie wird Cassandre erschossen und Arlequin enthauptet, beide jedoch kommen auf wunderbare Weise wieder ins Leben zurück. Diese Spielprämisse gilt auch dort, wo die Extreme des Grässlichen ohne explizite wunderbare Anbindung in Gestalt von Feen, Zauberei etc. geboten werden. In Pierrot mitron etwa, einer Bäckerszene, verstecken sich zwei Bucklige in einem Ofen, der verse-
221
Champfleury, Souvenirs des Funambules, S. 86.
222
Vgl. Gautier, L'Art dramatique I, S. 225.
223
Gautier, L'Art dramatique I, S. 225f.
161
hentlich befeuert wird. Pierrot wagt es kaum, die Ofentür zu öffnen, aufgrund des zu erwartenden schrecklichen Anblicks: Horreur! on aperijoit quaere jambes qui s'agitent. Pierrot tombe ä la renverse, ainsi que Cassandre. [···]
Tout ä coup, il ramene une masse informe, carbonisee. (Effroi general.)»224
Aber auch der völlig zerstörte, zu einer verkohlten Masse geschrumpfte Körper ist wiederherstellbar und das Happy End dermaßen möglich: En ce moment on entend dans le four des rires eclatants. (Effroi general.) Alors les deux bossus sortent du four qui s'agrandit. Iis menacent tout le monde comme des spectres. Chacun tombe ä genoux. Alors les deux bossus se mettent ä danser. - Nous vous pardonnons, [ . . . ] . « " '
Das zitierte Beispiel ist symptomatisch: Zuerst wird grauenhaftes Geschehen gezeigt und dermaßen als Bühnen-Sensation gesetzt, der mitleidige oder ethische Einwand jedoch ist obsolet, denn es handelt sich um ein im sur-realen Raum reversibilisierbares Grauen. Nun hat man es zwar mit einem Prinzip zu tun, das jede kindische Kasperliade von jeher durchexerziert, seine hier in Rede stehende Verbindung mit Körperartistik einerseits sowie die Exponierung dieser Relation innerhalb der avancierten Kritik andererseits weisen nicht nur auf die grundlegende Bedeutung von Körperschrecken als einer wesentlichen motivischen Komponente moderner Ästhetik, gerade auch im Bereich des Theaters, hin. Zugleich markieren sie einen Problemgehalt, der erst im Kontext avancierter Kunstauffassung zum Tragen gelangt: Der entstellte Leib fungiert aufgrund seiner extremen visuellen Ausstrahlung perse als Unterbrechung des narrativen Modus. Die damit evozierte sensationelle Phänomenalität sowie die in ihrem Gefolge evozierte Mischung aus Irritation und Faszination läuft jedoch immer in Gefahr, über die körperliche Identifikation, die als Folge eines ideologisch entworfenen klassischen Bild des natürlichen Organismus< quasi automatisch auftritt, entschärft zu werden. Auf dem Theater und generell in der Kunst ausgestellte Deformation tendiert in diesem Sinne immer dazu, als mimetisches Negativ des Organischen missverstanden zu werden. Genau dies würde sie darauf verpflichten, die irgendwo zwischen den Polen von Mitleid und Schrecken justierte Geschichte des klassischen Subjekts in seiner Bindung an den Körper nachzuerzählen. Bereits das komische, völligen Antirealismus assoziierende Spiel-Prinzip der >Folgenlosigkeit< hebt eine solche Bindung jedoch auf, es ist die treffende strukturelle Metapher für eine tief greifende Differenz zwischen dem Körper als Asthetikum und dem Körper als sinnlichem Vehikel des Sinns: Artifiziell hergestelltes Körper-Schreckbild und körperlich ausagierte Narration sind aneinander genuin uninteressiert, sie lassen sich nicht zu einem Ganzen integrieren, schon gar nicht zu einer moralisch einwandfreien Story um
124 225
162
Deburau, Pantomimes, S. 23. Deburau, Pantomimes, S. 25.
Recht und Unrecht von Gewalt, jedoch eben auch nicht zu einer grand recit du corps, zu einer physiologisch-anthropologischen Recherche. Der Körperschrecken der Pantomime nimmt dagegen den Körper als Kunst-Material in einer Weise ernst, die noch die subtilsten der von ihm ausgehenden Wirkungen und sinnlichen Qualitäten ästhetisch transformiert, oder besser: im ästhetischen Zugriff allererst freilegt. Gilles Deleuze hat einen für den Körperdiskurs und seine ästhetischen Implikationen folgenreichen Essay zum Deformationsprinzip in den Gemälden des britischen Künstlers Francis Bacon verfasst. 226 Für unsere freilich in die ungleich weitere historische Ferne justierte Perspektive ist dennoch bedeutsam, dass Deleuze den hohen Stellenwert, den der deformierte Körper in der Kunst des Briten einnimmt, ebenfalls nicht in einer Darstellungs- und Repräsentationsabsicht begründet, sondern in einer durch die bildliche Exponierung der Deformation erreichten Entwirklichung und Entnarrativierung des Schrecklichen. Dies sei der eigentliche Zweck der Deformationen, die damit nicht nur aus jeglichem narrativ-ethischen Beurteilungskontext entbunden werden, sondern darüber hinaus auch nicht mehr einwandfrei auf Körperlichkeit als eine natürliche (und durch und durch ideologische) Größe rückzubeziehen sind. Nach Deleuze zeugen die entsprechenden Bilder einzig von dem Willen zu einer im Rahmen des Kunstwerks zu leistenden Überwindung der empirischen Grenzen sowie der funktionalen Schichtungen des menschlichen Körpers, wie sie ideologisch mit dem Prinzip des Organischen und NatürlichFunktionellen verbunden sind. In ihrem künstlerischen Kontext funktionieren die verzerrten Gestalten nicht mehr entlang der Maßgabe gestalthafter Totalität und ihres zweckgerichteten Zusammenhangs und sind damit einer auf Ontologie und Genealogie ausgerichteten Betrachtung unzugänglich. Vielmehr sind es genuin transitorische Figuren, deren Deformationen ein dynamischer Wert zukommt. Deleuze selbst macht dabei den systematisch bedeutenden Unterschied zwischen >Deformation< und transformations Die letztere markiert sozusagen entweder eine abgeschlossen oder aber eine nach einer bestimmten und qualifizierbaren Richtung hin verlaufene Umformung, die einen Anfangspunkt und vor allem einen anvisierbaren Endpunkt hat, was bereits die Vorstufe zu einer Beziehbarkeit der jeweiligen Positionen, sprich: zu einer >Geschichte< bedeuten würde. Das Potenzial der >Deformation< dagegen liegt darin, dass sie - so Deleuze - die umgestaltende Einwirkung von Kräften auf den Körper verdeutlicht, jenseits einer funktionalen oder zielpunkthaften Besetzung. >Deformation< wird somit strikt im Sinne eines punktuellen Ereignisses wahrnehmbar, welches Deleuze (im wahrnehmungstheoretischen Sinne!) als >Sensation< bezeichnet. Gemeint ist eine nicht-klischeehafte, d.h. genuin unvorhersehbare Qualität des Erscheinens, die im Betrachter sinnlich-neuronale Wirkungen hervorruft. Abgesehen von der durchaus diskutablen Physiologisierung der Ästhetik: Wichtig ist, dass diese Qualität von Deleuze an die materielle Beschaffenheit des Mediums daselbst rückgebunden wird, jedoch erst durch den spezifischen kompositorischen Akt des Künstlers freigesetzt wird. Erst die strikte Einschreibung der präsentierten Gestalten in den Bild-Ausschnitt, ihre spezifische Strukturierung und formale Gruppierung inner-
226
Gilles Deleuze: Francis Bacon - Logik der Sensation. München 1995.
163
halb seiner sichert der materiellen Komponente auf Dauer ihren ästhetischen Sensationscharakter, macht sie der emprischen Sinnlichkeit different und bewahrt sie davor, erneut in Interpretationskontexte gezwungen zu werden. Paradigma dieser künstlerischen, die natürlichen Schranke durchbrechenden und darin gleichsam ästhetisch-utopische Qualitäten entbindenden Deformation ist für Deleuze das von Artaud übernommene Konzept eines »Organlosen Körpers«: Organlos deshalb, weil ihm die herkömmliche natürlichorganische Stratifizierung des realen Körpers abgeht und er keine Verfestigung in funktionale Schemata zulässt: Jenseits des Organismus, aber auch als Grenze des erlebten Körpers gibt es das, was Artaud entdeckt und benannt hat. D e n organlosen Körper. [...] Der organlose Körper steht weniger den Organen, als jener Organisation der Organe gegenüber, die man Organismus nennt. Der organlose Körper definiert sich [...] schließlich durch die vorübergehende und provisorische Gegenwart bestimmter Organe. Er ist ein dichter, intensiver Körper. [...] Der Körper ist ganz und gar lebendig und dennoch nicht organisch. D a r u m gewinnt auch die Sensation [ . . . ] eine exzessive und spasmodische Wendung, sie durchbricht die Schranken der organischen Aktivität. 2 2 7
Zwei Aspekte im Besonderen verdienen unsere Aufmerksamkeit: Mit Deleuze ließe sich sagen, dass eine Deformation dann ästhetisch ernst zu nehmen ist, wenn an ihr die künstlerische Umformungsleistung in Form einer das Ausgangsobjekt variierenden Wiederholung selber erfahrbar werden, die in der Lage ist, unsere Realitätswahrnehmung und deren Kriterien reversibel werden zu lassen. 228 Eine in diesem Sinne durchaus utopisch zu nennende Qualität, auch wenn sie aus unserer Sicht gerade nicht anthropologisch umzudeuten ist. Zweitens hat das zur Bedingung, dass eine bestimmte Beziehbarkeit des abgebildeten Gegenstandes zur außerästhetischen Realität besteht, mithin Abbildung als Modus zwar beibehalten wird, jedoch nicht zum gelungenen Versuch einer Repräsentation gerät, sondern vielmehr als Effekt des jeweiligen Mediums und seiner Tendenz zur Wiederholung fühlbar wird. Mit anderen Worten: Die Abbildung konstituiert ihren Gegenstand als ästhetischen, stellt ihn allererst her und wird so von einer Re-Präsentation zur Präsentation. Das führt paradoxerweise dazu, dass er als beziehbares Objekt gar nicht mehr anwesend ist, sondern in einer Reihe von punktuellen Sensationen und instantanen
227
Deleuze, Logik, S. 32, S. 33p, S. 32.
228
Der »organlose Körper< funktioniert in den Deleuzschen Schriften in vielfältiger Art und Weise als strukturelle Metapher für De- und Rezentrierungsvorgänge, keinesfalls nur künstlerischer Art. Er ist im Kontext der Deleuzschen Philosophie als einer Praxis des Denkens in offensive Offenheit gewendet, fungiert somit als produktives Konzept, das sich je nach Gegenstand variieren lässt. Vgl. etwa: Gilles Deleuze/Felix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt a.M. 1977, S. I4ff; sowie: Gilles Deleuze/Felix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin 1992, S. 205-227. W i r verwenden den Begriff sowie davon abgeleitete Gedankengänge hier und im Folgenden ausschließlich im Bezug auf ästhetische Verfahren. Ohne dass dies, aus Gründen der absichtlichen begrifflichen Unschärfe der Deleuzschen Einlassungen, die ihre produktive Dimension erst eröffnet, im Einzelnen zu belegen wäre, sind wesentliche im weiteren Fortgang der Arbeit geäußerte Gedanken von Deleuze inspiriert.
164
Bildwirkungen aufgeht, die gerade in ihrer Differenzqualität eine eigentümliche Wirkung entfalten. Die Intensität des Eindrucks ist eigentlich der Dynamik dieses Changierens zwischen Identifizierbarkeit und Eigenwirkung geschuldet. Die Pantomime gewinnt ihr ästhetisches Potenzial ganz entsprechend aus dem Nachspielen, der performativen Wiederholung von empirischen Schreckensgestalten zum einen und im Verlass auf einen durchaus empirischen Stoff: den Körper des Akteurs, zum anderen. Beides erfährt auf der Szene eine Transformation, hier im Sinne der Deleuzschen >Deformationpassiertrealistisch< erklärt sich dabei weitaus weniger aus der auf wenige Züge reduzierten wirklichkeitsnahen Anspielung, sondern vor allem durch die völlige Abwesenheit wunderbarer Motive und Mächte sowie des hehren Kontextes (Kampf >Gut gegen Böserealistische< Form der Pantomime, sowie auf die >melodramatische< Pantomime. Zu den /wriiTi-Pantomimen, in denen Deburau zum gefeierten Star wurde, gehören u.a. M a
Mire l'Oie, Le Songe d'Or und Le Boeuf enrage.
273
274
178
Vgl. Jaroslav Svela: Jean Gaspard Deburau: The immortal Pierrot. Mime Journal 5/1977, S. 2 6 32. Vgl. Storey, Pierrots, S. 19.
des verliebten Paares wie in den Feerien, sondern er rückt merklich in den Mittelpunkt der Szenare. Erst mit Deburaus Erfolg als Darsteller avancierte der komische Typus von der Diener-Nebenfigur zur Zentralgestalt der Szene, um den herum die Handlung fortan gravitierte. Der Diskurs um Deburau, denn um einen solchen handelt es sich, hängt nicht nur mit den kommerziellen Erwägungen des auf das Starprinzip abonnierten Unterhaltungstheaters zusammen, das seinen berühmtesten Akteur stets in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rückte, sondern mit dem Interesse, das die Romantiker, allen voran Janin und Gautier, der besonderen Darstellungstechnik des Mimen zuteil werden ließen. Der >neue Pierrot< Deburaus entsprach, das darf vorab gesagt werden, relativ passgenau einer modernistischen Emphase, die im Hinblick auf das Prinzip des Hässlichen, einschließlich des moralisch Verwerflichen, stets zugleich den ästhetischen Mehrwert im Auge hatte. Theophile Gautier klärt in einer Rückschau anlässlich des Todes des Darstellers im Jahre 1846 über die eigentlichen pantomimentypologischen Implikationen der Deburauschen Neuerung auf: Avec lui, le röle de Pierrot s'etait elargi, agrandi; il avait fini par occuper toute la piece, soit dit avec tout le respect qu'on doit ä la memoire du plus parfait acteur qui ait jamais existe, par s eloigner de son origine et se denaturer. Pierrot, sous le farine et le casaque de l'illustre Bohemien, prenait des airs de maitre et un aplomb qui ne lui convenaient pas; il donnait des coups de pied et n'en recevait plus; c'est ä peine si Arlequin osait lui effleurer les epaules de sa hatte; Cassandre y regardait ä deux fois avant de le souffleter. II embrassait Colombine et lui prenait la taille comme un seducteur d'opera-comique; il menait Taction ä lui tout seul et il en etait arrive ä ce degree d'insolence et d'audace, qu'il battait meme son bon genie. 2 7 5
Deburaus Pierrot zeichnete sich also laut Gautier durch einen extremen Grad an Kühnheit und Unverschämtheit sowie durch eine gewisse Gefährlichkeit aus, die er gegenüber den ihn umgebenden Figuren an den Tag legte: Diese Züge waren es, entlang derer Deburaus Pierrot zur Zentralfigur promovierte. Die noch zu einem späten Zeitpunkt merklich zwischen Skepsis und Bewunderung schwankende Einlassung Gautiers stellt dezidiert auf die Aura nahezu bedrohlicher Souveränität ab, in deren Folge sogar das wunderbare Motiv - son bon genie - in offenbar gewaltsamem Gestus verabschiedet wurde. Auch Pericaud bestätigt: Pierrot n'avait ete qu'un röle secondaire de la pantomime, un cynique, un valet infidele ä quoi l'on faisait des farces. Deburau [sic!] ä son tour se mit ä en faire aux autres. 276
Das hier verzeichnete Surpliis an Gewalttätigkeit, das die Figur unter Deburau erwirbt, weist nun zunächst deutlich auf den gemeinsamen Kontext von komischer Vergegenwärtigung und dem Motiv des Lasters zurück. Moralische Unschärfe war stets das bestimmende Element der komischen Dienerfigur. Neben der ungeheueren Lust auf alles Ess- und
275
Gautier, L'Art dramatique V , S. 25.
276
Pericaud, Funambules, S. 23
179
Trinkbare frappierte somit auch an Deburaus Figur zunächst ihr ausgeprägter erotischsexueller Appetit, (was George Sand und Paul de Saint-Victor unabhängig voneinander - ebenfalls anlässlich Deburaus Tod und bei aller Bewunderung fiir den Darsteller —, etwas pikiert von >heiklen< Situationen mit klarer Tendenz ins Obszöne sprechen ließ. 177 ) Sternberg hat nun jedoch in Bezug auf die Farce zu Recht darauf hingewiesen, dass das registre bas der niederen Komik nie nur inhaltlich auf den dramatischen Handlungsverlauf dimensioniert ist, sondern quasi die strukturelle Metapher ftir eine der komischen Szene generell unterlegte Tendenz abgibt: Es indiziert die körperliche Note, die dimension materielle des komischen Aktes daselbst.278 Dass sich der Körper des Akteurs in den Funambules-Pantomimen durch seine exzentrische Dynamik primär dort exponierte, wo violence in Szene gesetzt wurde, konnte bereits gezeigt werden. Von Beginn an, das heißt, auch dort, wo Pierrot noch auf die typisch arrondierende Dienergestalt reduziert ist, zeichnet sich gerade diese Figur durch ihren extremen Hang zur bösartigen Gewalttätigkeit aus. (In der wunderbaren Pantomime Le Ginie rose et le Genie bleu, ou les Vieilles Femmes rajeunies wird er aufgrund seiner Ungerechtigkeit und seines bösen Schalks vom Genie rose abgeurteilt und zur Strafe von vier Dämonen lebendig begraben.279). In Ma Mere l'Oie erschießt und seziert er Cassandre. In Les Epreuves zerschneidet er Arlequin, nachdem er ihn zuvor erschossen und ihm dreimal den Kopf abgeschnitten hat. In La Sorciere ermordet er sogar ein schlafendes Kind. etc. etc. l8 ° Deburaus stilistische Revolution stellte nun ganz dezidiert auf das Moment der Gewalt ab, ja, für Janin ist Deburau der eigentliche Begründer der Gef/At-cascade als derjenigen Körperkomik-Signatur der Pantomimen-Farce, die diese von der herkömmlichen satirischen Komödie a la Moliere unterscheidet: Le Misanthrope de Moliere s'indigne dans le grande monde [...]. Ici l'homme succombe sous la calomnie et sous les ridicules du salon; chez Deburau, l'homnie est en butte aux soufflets et aux coup de pied. 281
Janins Emphase ist jedoch unspezifisch: Tatsächlich verleiht Deburau der Gewalt- und Deformationsästhetik der Pantomime zwei wesentliche neue Implikate: Zum einen wird
277
278 275 280
281
180
Vgl. George Sand in: Le Constitutionnel, 8. Februar 1846; vgl. Außerdem Paul de Saint-Victor (Mort d'un Artiste et de son Art): La Semaine, im Juli 1846. In der Faksimile-Sammlung »De presse sur Jean-Gaspard Deburau (1796— 1846). 1829 — 1950. Paris (Bibliotheque d'Arsenal.) F.21. Die manches Mal hinzutretende Geldgier Pierrots ist relativ in Bezug auf diese Primärtriebe: Monetäres bedeutet im besten Fall die (erhoffte) Erreichbarkeit von Essen, Trinken und körperlicher Liebe. Vgl. Sternberg, Comique, S. 3jff. Le Genie rose et le Genie bleu, ou les vieilles Femmes rajeunies. Paris 1817, S. 33. Vgl. Pierrot Coiffeur. In: Deburau, Pantomimes; Ma M£re l'Oie. In Janin, Deburau; Les Epreuves. Grande Pantomime-arlequinade feerie en 13 Tableaux, melie de Danses, Travestissement, etc. precedee de: Le Cheveu du Diable. Prologue en un Acte et en 2 Tableaux, en Vers libres, mele de Chants, Danses, etc. Paris 1835: Archives Nationales de France Paris. Document F18 1083 MS 112 (unpaginiert); La Sorciere, ou le Ddmon protecteur. Pantomime. Paris 1838: Archives Nationales de France Paris. Document F18 1084, M S 1957 (unpaginiert). Janin, Deburau, S. 156.
Pierrot als Hauptfigur tatsächlich auch zu einem Souverän der Gewalt. Zwar wird er geschlagen und getreten, teilt aber mindestens im gleichen Maße aus, wie er einsteckt. Zweitens aber, dies der eigentliche performative turn, bindet Deburau als erster die stilisierten Gewaltgesten seiner Figur dezidiert an eine ausgesprochen prekäre a-moralische Motivation: Zwar tritt Pierrot in den >realistischen< Pantomimen stets als kleiner Angestellter, als Friseur, als Bäcker oder als Nichtstuer auf, ist also fest in der Banalität des Alltags verwurzelt, jedoch steht gerade diese Folie an Normalität, anders als in den Feerien, wo der wunderbare Rahmen eine Art moralischer Absicherung leistet, zu seiner in der Folge an den Tag gelegten Schurkenhaftigkeit in schneidendstem Kontrast: In Pierrot et ses Creanciers beklaut er eine hilfsbereite Nachbarin, die, um seine Schulden zu bezahlen, ihren Schmuck versetzt. 182 In Pierrot et l'Aveugle fällt ein wehrloser Blinder seinen Diebereien zum Opfer. 283 In Le Billet de iooo Francs284 bildet er zusammen mit Robert Macaire und Bertrand ein versoffenes, diebisches, geldgeiles trio criminal, in dem keiner dem anderen an Amoral nachsteht. In Pierrot Coiffeur schließlich erschießt er Arlequin (der allerdings, dies die bereits beschriebene und auch für die >realistische< Pantomime verbindliche Prämisse, wieder aufsteht) und tut alles, damit seine Untat unbemerkt bleibt.285 Die Pantomime-realiste, die fur Deburau so wichtig wurde, bezieht also insgesamt ihre spezifische stilistische Signatur vor allem aus dem merklich in den Vordergrund gespielten Implikat des moralisch Verderbten. Die eigentliche Tragweite des Deburauschen Reform-Pierrots erschöpft sich jedoch keinesfalls in der Vordergründigkeit einer Semantik des Verwerflichen, deren provokatorischer Wert, vor allem im Hinblick auf die epochenspezifische Vorliebe für derartige Motive, stark zu bezweifeln ist. In der Tat verband Deburau mit dieser gehaltlichen Ausweitung der Pierrot-Figur vor allem eine performative Redimensionierung: Mit der Emphase auf dem Amoralischen wurde eine gezielte Registratur lasterhafter Motive und eine Kategorisierung ihres darstellungsstilistischen Wertes möglich. In einem nicht gekennzeichneten und unsignierten Artikel in der Pandore vom 19. Juli 1828 wird entsprechend Deburaus besonderes raffinement in der Darstellung des bösen Clowns (hier: Gilles) hervorgehoben: Gilles, voyez-vous est un caractere dont les nuances infinies sont mal aisees a rendre! Simple comme un enfant, poltron, ruse, paresseux, mechant par instinct, serviable, railleur, gourmand, voleur, bravache, cupide, maladroit, ingenieux dans les inventions qui tendent ä la satisfaction de ses goütes, c'est Satan nai'f et bouffon. Une des plus dröles de creations qui soeint dans la farce est assurement celle-lä. 286
282
Pierrot et ses Creanciers. Pantomime en sept Tableaux. Paris 1836: Archives Nationales de France
183
Pierrot et l'Aveugle. Pantomime comique en 5 Tableaux. Paris 1841: Archives Nationales de
28,t
In Deburau, Pantomimes, S. 229—241.
285
In Deburau, Pantomimes (bereits zitiert).
Paris. Document F18 1083, M S 750 (unpaginiert). France Paris. Document F18 1086, M S 3924 (unpaginiert).
l8Ä
Pandore, 19. Juli 1828. Storey nimmt an, der anonyme Kritiker
sei
wahrscheinlich Charles
Nodier gewesen. Vgl. Story, Pierrots, S. 19/Anm. 51.
181
Es fällt auf, wie deutlich der Verfasser dieser Hymne das Laster unter formal-ästhetischer Perspektive verzeichnet: Das Motiv der Amoral konvergiert bei Deburau schlichtweg mit dem von Gautier so hochgeschätzten und für ihn an den Pantomimen paradigmatisch auf Kosten eines dramatischen Theaters exemplifizierten >poetischen< Prinzip von invention und creation, und zwar aus dem besonderen Grund, weil in ihm eine Vielfalt möglicher Ausprägungen angelegt ist, deren jede den frappanten szenischen Effekt garantiert. Die Lizenz fur das Spiel rund um das Laster liegt dabei offensichtlich in einer psychologisch-narrativen Entleerung der Figur: Sie sei > simple comme un enfant und > mecbant par instinct*. Hatte der typische Diener-Pierrot, z.B. in den Ff'mWz-Pantomirnen wie Ma Mere l'Oie, noch den Befehl seines Herrn zur Motivationsgrundlage fur seine Gemeinheiten, so tritt nun der auf die Figur selbst fokussierte Konnex von lasterhaftem Verhalten und einer logisch nicht mehr nachvollziehbaren Boshaftigkeit und Gewaltbereitschaft in den Vordergrund. Sprechendstes Indiz dafür ist das einer Interpretation nicht zugängliche Vergnügen, das Pierrot offensichtlich an seinem bösen und gewalttätigen Spaß hat: Pierrots immer wieder herausplatzendes Lachen angesichts seiner eigenen Gemeinheiten und ihres Effekts auf andere (»pierrot s'amuse«) ist sprechendstes Indiz für die Lust der Figur am Bösen und der Gewalt, überfuhrt diese Regung aber ihrerseits in den pantomimisch-artistischen Grimasseneffekt. Es handelt sich nie um Lust als Inhalt der Darstellung, sondern um dargestellte, ins Artifizielle der Grimasse transkribierte Lust, die in ihrem Konnex mit dargestellter Gewalt das eigentliche Implikat der Deburau-Vorstöße offenbart: Das >Clownesk-Böse< ist das Böse als dargestelltes Böses, als in die ästhetische Differenz gerückte Figur des Bösen. In dieser Festlegung auf die Außenseite erhält es seine komische Ladung und avanciert in der Folge zum rein formalmotorischen Motiv, aus dessen nuancierter Entfaltung sich szenisches Geschehen generieren lässt. 287
187
182
Indiz für die Präponderanz des Bösen als eines reinen Effekts ist nicht zuletzt die Tatsache, dass seine Inszenierung, auch wenn sie zumeist dem narrativen Nexus von begehrtem Objekt (Geld, Frauen, Essen und Trinken) und darauf gerichtetem lasterhaftem Verhalten lose unterworfen bleibt, immer auch in Szenen terminiert, die einer möglichen Handlungsökonomie des Lasters strikt zuwiderlaufen: Es scheint, dass Deburaus Pierrot einem Zwang unterliegt, seiner Amoral auch dann nachzugeben, wenn es ihn in Schwierigkeiten bringt: Die regelmäßig auf seine Avancen gegenüber Essen, Trinken und Frauen folgenden Schläge belegen das hinreichend. Aber auch der Ausbruch in die Grimasse ist davon betroffen: Eine dafür exemplarische Szene findet sich in Le Duel de Pierrot, wo Pierrot verzweifelt versucht, ein quäkendes Baby zu beruhigen: »Hurlement de l'enfant. — Je vois ce que c'est. C'esc ma figure et mon costume qui lui font peur. II apergoit le costume de femme pendu sur les cordes. Quelle idee! II öte sa jaquette et s'affuble en femme. II prend des serviettes et en remplit le corsage. Puis, il prend des serviettes et en remplit le corsage. Puis, il prend l'enfant dans son berceau et le dodeline. Mais tout ä coup il fait une horrible grimace et pousse des cris, l'enfant le mord. Pierrot exaspere le fouette.« (Deburau, Pantomimes, S. 42.)
Die von Deburau verkörperte lasterhafte Figur ist damit als Paradigma einer szenisch produktiven Figur gefasst, das >Böse< und die artistische Raffinesse konvergieren, und zwar in doppeltem Sinne: Zum einen darin, dass die Unmoral, anders als das langweilige Gute, ein schier unerschöpfliches Reservoir an möglichen äußeren Ausprägungen ist. Ein ganzer Katalog von zynischen Ridicula kann erschlossen werden. Die romantische Imagination des Lasterhaften, des Bösen, Hässlichen und der Gewalt schließt sich mit dem Paradigma modemer Kreativität, wie es von Hugo mit dem Etikett des Grotesken versehen wurde, schlechthin zusammen. Das im eben gegebenen Zitat geäußerte Lob für Deburau verweist somit prinzipiell auch auf die ästhetische Rechtfertigung zurück, die Hugo der Deformation - auch der moralisch-hässlichen! - gab: Gegenüber dem auf einen bis wenige Züge festgelegten Guten und Schönen bietet das Hässliche tausende von Reizen. Zum anderen aber wird eindeutig auf den Konnex von Darstellungstechnik: sprich Virtuosität und Lastermotiv, verwiesen. In seiner äußeren Exzentrik stellt das Schlechte den Akteur vor die Herausforderung, das in ihm angelegte exzentrische Formenpotenzial technisch versiert bis hin zur Perfektion auszuschöpfen. 7.2. Technische Perfektion und Artifizialität des Ausdrucks Wie eindeutig dieser genuin amoralische Konnex von Lastermotiv und Darstellungsraffinesse von den romantischen Zeitgenossen an Deburau wahrgenommen und in der Folge nachhaltig zur charakteristischen Genre-Signatur der Pantomime par excellence promoviert wurde, bestätigt sich in Gautiers korpotechnischer Forderung an alle Pantomimenakteure im Gefolge des großen Deburau, der in seinem »genre un acteur comme Frederick, Talma, mademoiselle Mars et mademoiselle Rachel«288 gewesen sei: Les coups de pied doivent etre vifs, bien detaches, avec un mouvement de fouet ou de detente, et montes ä toute hauteur, la jambe droite, et sans jamais faire perdre l'equilibre. II faut qu'un Pierrot puisse fourrer par megarde le bout de sa pantoufle dans l'ceil du beau Leandre, et faire sauter la perruque de Cassandre, les mains derriere le dos. [...] Deburau avait eu ce bonheur de faire des etudes classiques sur le tapis, au milieu des places et de carrefours. II marchait sur la tete, portait des echelles au bout de nez, se tambourinait sur la nuque avec les talons, pratiquait la danse des echasses, le grand ecart, le saut perilleux; il etait ce qu'on appelle, en termes de l'art, rompu, ouvert et desosse. [...] L'aisance de la demarche, l'aplomb du repos, l'equilibre des mouvements, la facilite du geste, la rapidite des parcours, l'elegance et la gräce de la tenue [...]. 289
Gautier beschreibt hier die komische Gewaltdarstellung - die cascade ä la Deburau - als quasi equilibristischen Akt und bringt sie als solche in dezidierten Zusammenhang mit Deburaus >klassischer< Ausbildung als Jahrmarktsakrobat290: Eine veritable Konvergierung
288 289 290
Pierrot bricht unvermittelt in die schreckliche Grimasse aus, >ohne Sinn Die Travestie, beliebtes komisches Motiv auch in den Funambules-Pantomimen, vollständigen Verwandlung, sondern durch sie hindurch bricht das Laster der Form einer veroutrierten Gesichtsexzentrik, komischer Effekt sui generis, aus. Gautier, L'Art dramatique IV, S. 319. Gautier, L'Art dramatique IV, S. 3i9f. Vgl. zu Deburaus Werdegang, der auf Jahrmärkten und öffentlichen Plätzen nahm: Janin, Deburau, S. 19-40, v.a. S. 2if und 34f.
und Verstand·. fuhrt nicht zur Pierrot-Figur in
seinen Ausgang
183
von Gewalt und Artistik. Die artistische Aggressions-Nummer folgt dabei offenbar einem Schema strengster Regulierung von Bewegung und Körperhaltung, an dessen Ende der Uberschlag ins frappante >peitschenschlagähnliche< Zuschlagen oder Zutreten steht. Ganz deutlich zeichnet sich hier das spezifische Interesse des romantischen Kritikers ab, das in der Deburauschen Darstellung seine offensichtliche Entsprechung fand: Gewalt wird in ihrer Delegierung ans Artistische zu einer rein visuellen Größe, die dem Stil-Doppel von korpotechnischem Raffinement (>l'equilibre des mouvements, la facilite du geste, la rapidite des parcours, l'elegance et la grace de la tenuegelungene< Spiel mit dem brutalen Motiv wird zum Aufweis korporeller Abilität und theatraler Qualität ineins. Diese Fokussierung auf rein formal-ästhetische Bezüge setzen natürlich die prekären Aspekte der inhaltlichen Dimension weitgehend außer Kraft. Voraussetzung fur eine solche Meisterschaft in der Gewaltdarstellung ist laut Gautier ein Mime »rompu, ouvert et desossc«29'. Der »knochenlose« und exzentrische, in jede beliebige Stellung arrangierbare Körper des Pantomimen wird hier zum eigentlichen Projektionsfeld für die Stiftung des Zusammenhangs von Gewalt-, aber auch generell der Deformationsmotivik (einschließlich aller moralischen Fehler) und körperlicher Darstellung. Nicht nur die Gewaltexzentrik, sondern das ganze unerschöpfliche Repertoire an lasterhaften Ridicula fordert nämlich ganz entsprechend den Akteur, dessen physische Abilität (zumindest scheinbar) die Grenzen des gewöhnlich Machbaren überschreitet: C e n'est pas au coup de pied seulement que se boment les talents physiques exiges par l'acteur qui aspire ä l'emploi de Pierrot. II doit etre bätonniste de la force d'un maitre de Caen, pouvoir absorber, si un effet comique l'exige, une quantite indefinie de boisson et de nourriture, etre plus insensible au gresillement des feux d'artifice que le bouledoge Marocain, et savoir tomber comme un capucin de carte ou un heros de Paul de Kock a travers toutes sortes de vaisselles sans se faire mal. 2 9 2
Besondere Betonung verdient nun angesichts der paradigmatischen Geltung, die die Deburausche Darstellung für die theoretische Reflexion erlangte, der Umstand, dass der Mime sich gerade nicht durch eine besondere auf die Wirkung beim Publikum hin berechnete Exuberanz der Gesten auszeichnete: Champfleury bestätigt, dass sich alle szenischen Kreationen Deburaus stilistisch im Umfeld des Grotesken bewegten, er spricht von den »bizarreries« und »audaces« Deburaus, mittels derer er »mille dessins capricieux«293 erstellte, so seinerseits auf die Proliferation des Hässlichen verweisend, die von den Deburauschen Pantomimen ausging. Zugleich jedoch weist er dezidiert darauf hin, dass das stumme Spiel Deburaus bei aller Virtuosität und Abilität nie ins »Virtuosentum«, in das veroutrierte groteske Spiel abglitt, sondern geradezu dessen reinen Gegensatz darstellte: C'etait reellement, toute question de mode mise ä part, une nature comique d'elicc, remarquable surtout par une exquise finesse et une extreme sobriete de gestes. [...] Deburau avait du lutter des longes annees avant de faire accepter du public ce jeu discret et ce clingnement d'ceil particulier avec lequel il eut faire comprendre en pantomime les ceuvres de Swedenborg.
291
Gautier, L'Art dramatique I V , S. 320.
292
Gautier, L'Art dramatique I V , S. 320.
293
Champfleury, Souvenirs et Portraits, S. 65.
184
II n'emplissait pas le theatre des ses gesticulations pour >chauffer< une scene; jamais il ne se posait academiquement pour faire admirer une intention. Loin d'apporter l'importance fatigante de ces comidiens qui soulignent chacun de leurs gestes, Deburau sur les planches agisait comme dans la vie reelle et se persuadait qu'il accomplissait des actes habituels. II etait naturel et convaincu. 2 ' 4 Es gilt sich vor Augen zu halten, dass das Spiel >zum Publikum< stets eine Beziehung zu diesem herstellt, die die Darstellung, auch wenn sie nicht auf Inhaltvermittlung ausgeht, v o n neuem >semantisiertSchau her, was ich kann!natürliche< Duktus der einzelnen kleinen Ausdrucksgesten und ihre stilsichere Komposition integrieren sich zu einem artifiziellen Ganzen, das sich durch seine Raffinesse auszeichnet und damit im Einklang mit der anämisch-eleganten Künstlichkeit der Gesamtgestalt steht: D i e Kunstfigur Deburaus ist in diesem Sinne nicht natürlich, sie ahmt das Ideal von >Natürlichkeit< nach und stellt es diesen A k t als genuin schöpferische Handlung jenseits des rein Effekthaften aus. 1 9 5 Andererseits erschließt sich in der Absage an den emotionalen, v o m Applaus des Publikums abhängigen Akteur ein weiterer wichtiger Aspekt der Darstellung Deburaus: Meinten seine Vorgänger, durch eine emotional-affektive Beteiligung ihren Körper- und Gesichtsgrimassen ein F u n d a m e n t geben zu müssen, so ist der P a n t o m i m e D e b u r a u innerlich völlig unbeteiligt an dem, was er vorführt. Das gilt für mögliche semantischsatirische Gehalte seiner Figuren sowieso. Ebenso aber zielt es eben auf den psychophysischen Z u s a m m e n h a n g von Geste und Darsteller: Keine der grotesk-frappanten u n d bizarren Gesten Deburaus ist in einer affektiven Ausstattung oder emotionalen Einlassung des Akteurs fundiert, in einem subjektiven psychischen Erregungs-Potenzial, das sich in exzentrischen Gesten nach außen hin manifestiert. Es existiert bei Deburau keinerlei Z u s a m m e n h a n g von Körperintensität und innerer Unruhe. Vielmehr sind alle Aktionen des großen Clowns bis ins Kleinste geplant und konstruktiv verfasst. Jules Janin hat, ganz ähnlich wie Champfleury, darin das eigentliche Spezifikum der Deburauschen Darstellung erblickt:
294 295
Champfleury, Souvenirs et Portraits, S. 64Γ. Partouche schreibt zu Recht von der mimischen Delicatesse Deburaus, übersieht aber dabei, dass diese im Dienst des theatralen Effekts stand, was sie zu der These verleitet, Deburau habe aus dem Typus eine psychologisch zugängliche dramatische Figur, einen »Charakter« gemacht. »Die feinsten Gesichtsregungen wurden zum Spiegel der Seele Pierrots, der sich nun mit einer Innenwelt versehen sah. Debureau hatte ihm eine Psyche eingehaucht, einen Typus in eine sentimentale Figur verwandelt.« Partouche, Karikatur, S. 38, vgl. S. 37fr. Abgesehen davon, dass sie die Tendenz der Figur ins Böse ausblendet, orientiert sie sich aus unserer Sicht weitaus zu stark am literarischen Diskurs um die Figur, der sich nach Deburaus Tod, sicher in Auseinandersetzung mit dessen Darstellungsästhetik, jedoch gerade nicht in Entsprechung mit deren eigentlichen Intentionen, herauskristallisierte.
185
C o m m e n t il est Deburau, je ne saurais le dire. Le fait est qu'il a fait une revolution dans son art. II a veritablement cree un nouveau genre de Paillasses, quand on en croyait toutes les varietcs epuisees. II a remplace la petulance par le sang-froid, l'enthousiasme par le bon sens; ce n'est plus le Paillasse qui s'agitait f a et la, sans raison et sans but; c'est un sto'icien renforce qui se laisse aller machinalement ä toutes les impressions du moment, acteur sans passions, sans parole et presque sans visage; qui dit tout, exprime tout, se moque de tout; qui jouerait sans mot dire toutes les comedies de Moli£re; qui est au niveau de toutes les betises de l'epoque, et qui leur donne une vie reelee; inimitable genie qui va, qui vient, qui regarde, qui ouvre la bouche, qui ferme les yeux, qui s'en va, qui fait rire, qui attendrit, qui est charmant. [...] C'est un homme qui a beaucoup pensi, beaucoup Studie, beaucoup espere, beaucoup souffert [ . . . ] . 2 5 6
Deburau als »Genie ä l'usage de toutes les passions qu'un visage enfarine peut contenir«297: Was sich hier abzeichnet, ist eine Darstellungsästhetik, die eine mögliche Relation von exzessiver Körperlichkeit und affektiven Potenzialen des Darstellers, also den psychophysischen Zusammenhang, wie er beispielsweise in einer performativen Ästhetik postmodernen Zuschnitts auch rückblickend auf vorangegangene Epochen herausgestellt wurde 298 , radikal unterläuft. Der »grimacier spirituel«259 Deburau ist in dem Maße Artist, wie er als Maschinistscines Körpers fungiert. Seine Darstellung ist als minutiöse Abfolge von einander angeschlossenen Gesten organisiert und — entlang reflexiver Distanzierung - kontrolliert anhand ihrer Passgenauigkeit innerhalb eines rein formalen Bewegungsensembles. Janin hatte ganz dementsprechend, wiederum unter Bezugnahme auf die Unerschöpflichkeit des deformativen Motivrepertoires, auf Deburaus Fähigkeit verwiesen, alle Arten von Ausdrücken instantan abzurufen: Et apres sa grimace, apres cette vengeance dont il se contente en attandant mieux, le voilä qui gambade de plus belle, le voilä qui redevient ivrogne, querelleur, maussade, mechant, bon: c'est toujours l'instinct du peuple, l'esprit du peuple; il y a de cette maniere mille acteurs dans un seul. Mille acteurs amusants, suivis d'interet et de rire. O r ces mille acteurs, ces mille visages, ces mille grimaces, ces mille postures, cette joue brusque, cette doleur d'une minute, cette tendresses si prompte ä commencer et ä finir, tot cela, ä la honte de nos thiätres, tot cela n'a qu'un nom et s'appelle Deburau ! 3 ° °
Janins Bestimmung des Pierrot als Metapher für >le peupL· von Paris erregte zwar den Widerspruch seitens Deburau selbst.301 Sie stellt aber einen wichtigen Rückverweis auf
296
Janin, Deburau, S. 68f.
297
Janin, in Pericaud, Funambules, S. 289.
298
Vgl. z.B. die Beiträge in: Erika Fischer-Lichte/Jörg Schönert: Theater im Kulturwandel des 18. Jahr-
299
So der zeitgenössische Karikaturist C h a m , zitiert nach Pericaud, Funambules, S. 247.
300
Janin, Deburau, S. 77.
hunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper — Musik — Sprache. Göttingen 1999.
Partouches Insistieren auf einer korporellen Symbolik und unmittelbar einsichtigen signifikativen M i m i k und Gebärdensprache der Deburauschen Darstellung übersieht den konstruktivsynthetischen und damit rein theatralen Aspekt dieser >Expressivität< des Deburauschen Pierrot. N i c h t Mimesis des natürlichen Ausdrucks, sondern virtuose variierende Wiederholung und synthetische Reorganisation von expressivem Gesten-Material machten den Reiz der Deburauschen Kunst aus. Vgl. Partouche, Karikatur, S. 38f. 301
Vgl. dazu die Erinnerungen von George Sand: Histoire de ma Vie. CEuvres autobiographiques. Band II. Paris 1971, S. 136.
186
Hugos Grotesk-Konzept dar, eine diffuse Realität durch die Diversifizierung ästhetischer Eindrücke in Form einer >analogisierenden Mimesis< zu spiegeln: Nicht mehr aus der eindeutigen mimetischen Referenz, sondern aus der ästhetischen Transkription der an der Realität verifizierten Eindrücke des Flüchtigen, Unfassbaren und nicht zuletzt der Bewegung daselbst, schreibt sich fortan eine moderne Ästhetik des Groteskkomischen her. Entsprechend ist in Janins Zitat auch eine ganz spezifische Phänomenologie des Grimassierens indiziert. Die technische Abrufbarkeit des jeweiligen Ausdrucks unterläuft einmal die satirische/moralkomische Referenz. Die jeweilige Miene oder Geste ist fugitiv, sie zerschlägt das Kommunikationsmuster herkömmlicher signifikativer Komik gerade darin, dass sie die Wiedererkennbarkeit über komische Vergrößerung nur momentan herstellt und so das Augenmerk weg von der außerästhetischen Relation auf das temporäre Zustandekommen des Effekts selber und auf seine erwartbare Ablösung durch einen anderen lenkt. Im besonderen zählt hier der Umstand, dass das Gesicht Deburaus zur Gänze weiß geschminkt war: Das berühmte face enfarine lässt es von einer per se ausdruckstragenden Größe zu einer Folie werden, auf die in raschem Wechsel verschiedene Ausdrücke gleichsam projizierbar werden. Der jeweilige Ausdruck wird in diesem Sinne unschuldig·. Er referiert nicht mehr in denunziatorischer Absicht auf das tatsächliche Laster, sondern aktiviert vergrößernd nur noch dessen äußere Form. Janin spricht von einer »satire sans malice«' 02 , die satirisch nur noch an der Oberfläche ist, nämlich als vergrößernde artistische Transkription der realen Vorbilder, die ihre eigene ästhetische Differenzqualität ausspielt.303 Ganz im nämlichen Sinne wird jedoch auch die tabubrechende Affirmation des Leiblichen, wie sie etwa in Bachtins Groteskkonzept verzeichnet ist, außer Wert gesetzt: Von einem möglichen utopisch-kritischen Potenzial einer derb ausgestellten Körpermaterialität distanziert sich Deburaus Darstellung in dem Sinne, dass der Körper ebenfalls der Instantialität anheim gegeben wird. Er löst sich in einen Komplex kurzer frappanter Eindrücke von reinen Körperbildern auf, in eine dynamische Ikonographie des Körpers (einschließlich des Gesichts natürlich), die in radikale Distanz zur realen Leiblichkeit gerät und so ein »rire sans obscenite«3°4 evoziert. Deburaus Darstellung ist in diesem Sinne frei von der sublimsten Ökonomie auch des Leiblichen: Der Körper erscheint nicht als via ästhetischer Überdeterminierung verallgemeinerungsfähiger materialistischer Rettungsbegriff gegenüber einer rationalistisch verfassten außerästhetischen Sphäre. Dieser extreme Grad an ästhetischer Distanzierung, wie sie in Deburaus Raffinesse und seiner >delikaten< Darstellungsweise verzeichnet ist, wurde von den Kritikern konsequenterweise als Einspruch gegenüber jeglicher Funktionalisierung des Komischen als signifikativer Gestus gewertet. Die Hochschätzung Deburaus erklärt sich entsprechend auch daraus, dass sich in seiner Darstellungsweise die exploitative Ästhetik der Funambules-Pantomimen gleichsam
302
Janin, Deburau, S. 69.
303
Janin, Deburau, S. 7of.
304
Janin, Deburau, S. 69.
187
verkörperte: Es handelte sich bei den von Deburau gespielten Szenaren, so Janin, »ni de comedie de mceurs ni de comedie d'intrigue, ni de comedie historique ni de farce, ni de drame ni de rien de ce que les critiques ont defini, mais il s'agit un peu de tout cela; tous les genres y sont confondus et melis [...].« 3 ° 5 Die Aneignung bereits bestehender narrativer Muster einschließlich aller in ihnen implizierter emotionaler Lagen, Affektausdrücke und Handlungsvollzüge sowie ihr virtuos-vergrößerndes komisches Nachspielen avancieren erst mit Deburau zum eigentlichen stilistischen Nukleus pantomimischer Darstellung.
7.3. Der >Sarkasmus< von Pierrot/Deburau: sang-froid und die Souveränität des Akteurs Das an Deburau paradigmatisch personifizierte hohe Maß an artistischer Souveränität hat den zeitgenössischen Diskurs in ganz besonderem Maße beeinflusst. Gautier gelangt beispielsweise nach den über Deburau legitimierten Postulaten für eine ausgezeichnete körperliche Abilität der Pantomimen-Akteure zu entsprechender Forderung an dessen »qualites intellectuelles«: Deren ausgezeichnetste sei »le sang-froid imperturbable«, was mit dem deutschen Begriff »Kaltblütigkeit insofern einseitig übersetzt wäre, als dieser die moralische Dimension in den Vordergrund setzt. Für Gautier aber handelt es sich um eine spezifische Form artistischer Desinvolture gegenüber dem Dargestellten als Voraussetzung fur die Erschließung des ikonographischen Repertoires des Hässlichen und dementsprechend für die Erzeugung möglichst vieler frappanter Kontraste: le sang-froid imperturbable, la niaiserie fine et la finesse niaise, la gourmandise effrontee et naive, la poltronnerie fanfaronne, la credulity sceptique, la servilite dedaigneuse, l'insouciance occupee, l'activite faineante, et tous ces etonnants contrastes qu'il faut exprimer par un clignement d'oeil, par un pli de la bouche, par un froncement de sourcil, par un geste fugitif. 3 0 6
Es sticht ins Auge, dass Gautier die darstellerische Qualität Deburaus und die Spezifik der Figur des Pierrot hier nahezu unterschiedslos aneinander bindet. Die Beschreibung der zentralen intellektuellen Qualität des Akteurs gleitet bruchlos in die Aufzählung der Merkmale des Typus über. Das kann nicht einfach als ironischer Schlenker Gautiers gewertet werden. Natürlich: Die Identifikation Darsteller-Rolle, in der Commedia-Tradition bestens etabliert 307 , greift gerade und besonders bei einem >Revolutionär< des Rollenfachs. Dennoch ist in der sowohl auf die Figur wie auch auf den Akteur bezogenen Diagnose der Unbeteiligtheit und Sorglosigkeit ein spezifisches ästhetisches Argument verzeichnet: Der Pantomimen-Artist geht in der Virtuosität und Raffinesse seiner souveränen Darstellungen über bisherige ästhetische Grenzziehungen in dem Maße hinaus, wie die Figur sich von ihren inhaltlichen, d.h. auch immer: moralischen Besetzungen dis-
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Janin, Deburau, S. 69f.
Gautier, L'Art dramatique IV, S. 3Zof. 507 Vgl J e n Aufsatz von Rudolf Münz: Le Deitä e la Molticiplita di Personaggi. Z u m Problem von Strukturfiguren in der Theatergeschichte. In: Bettina Brandl-Risi/Wolf-Dieter Ernst/Meike Wagner (Hrsg.): Figuration. Beiträge zum Wandel der Betrachtung ästhetischer Gefüge. München 2000 (Intervisionen. Texte zu Theater und anderen Künsten. Hrsg. von Christopher Balme und Markus Moninger. Band II), S. 104-116. 188
tanziert und zur reinen Kunstfigur avanciert. Zwischen der hochreflektierten Performance und der moralischen Prekärlage wird ein Konnex gestiftet, oder anders herum formuliert: Je virtuoser und damit psychologisch und thematisch uninteressierter die Darstellung sich gibt, desto stärker wird ihr die Transgression über den moralischen Fond einer jeden Laster- narratio möglich. Wohl aus besonderem, über das schiere Faktum des »Phänomens Deburau< hinausreichenden Grund spricht Gautier - übrigens im Einklang mit Janin 3 ° 8 - von »sang froid« (auch wenn diese Annahme nicht verifizierbar ist). Er schreibt damit implizit die von Deburau in Gang gebrachte Emanzipation der Pierrot-Rolle begrifflich einem größeren epochalen Kontext von Darstellungs- und Körperästhetik ein: Sang-froid war diejenige wesentliche Qualität, die in Diderots später Schauspieltheorie den idealen Akteur ausmachte. Das bekannte beau paradoxe zielte darauf ab, dass der prototypische Darsteller seiner Phantasie und seiner Genialität entsprechend die natürlichen Eindrücke >vorausftihle< »et les rendra de sang-froid.«309 Diderots Emphase auf dem reflektierten, innerlich unbeteiligten Darsteller lancierte bekanntlich die Abkehr von einer auf Innerlichkeit und emotiver Beteiligung gründenden Darstellung, deren Authentizität sich wünschenswerter Weise aus der NatürlichkeitsRelation von Affekt und Körper ergab. Seine Ästhetik war darin Kulminations- und eigentlicher dialektischer Umschlagspunkt einer zeichen- und medientheoretischen Wende, die das europäische 18. Jahrhundert insgesamt vollzog (und die von Lessings Laokoon maßgeblich miteingeleitet wurde). Die neue Einsicht »in die leibseelische Ganzheit des Menschen und die auf ihr basierende Neubewertung des Körpers als >fiihlbar gewordene [r] Seele«' 10 hatte eine inhärente problematische Dynamis, die sich entlang der in der Folge vorgenommenen »Aufwertung der Rolle, des Scheins und damit auch des Körpers« ergab: »Das wahre Sein und Wesen wird ersetzt durch den authentischen Ausdruck, der vor allem in den natürlichen Ausdrucksformen des Körpers und weniger in verstellenden Zeichenformen der Sprache vermutet und behauptet wurde«'", wie Käuser schreibt. Die damit einhergehenden Systematisierungsversuche gerieten, was den individuell-natürlichen Körperausdruck betraf, jedoch zum einen dort in Aporie, wo die von ihnen verifizierte »individuelle Vielgestaltigkeit und Vielbedeutsamkeit des Körperausdrucks die Identitäten des Zeichens, der Sprache der Leidenschaften und der Person zersetzt[e].«'12 Zum ande-
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Vgl. die folgende Argumentation. Denis Diderot: Paradoxe sur le Comedien. In: Denis Diderot: CEuvres Esthetiques. Textes etablis, avec Intoductions, Bibliographies, Notes et releves de Variantes par Paul Verniere. Paris 1965, S. 299-381, S. 318. Heide Eiert: »...allein durch die stumme Sprache der Gebärden«: Erscheinungsformen der Pantomime im 18. Jahrhundert. In: Erika Fischer-Lichte/Jörg Schönen (Hrsg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper - Musik - Sprache. Göttingen 1999, S. 339-360, S. 356. Andreas Käuser: Körperzeichentheorie und Körperausdruckstheorie. In: Erika Fischer-Lichte/ Jörg Schönen (Hrsg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper - Musik - Sprache. Göttingen 1999, S. 39—52, S. 43. Käuser, Körperzeichentheorie, S. 5of. 189
ren aber ging mit der »Rationalisierung der Ausdrucksbewegung«313 die Emanzipation der individuellen künstlerischen Gestaltung einher3*4, die schließlich in die Diderotsche Umkehr mündete: Der äußere korporelle Ausdruck ist dermaßen emanzipiert, dass Natürlichkeit und Identität nur noch gespielt, aber nicht mehr substantiell verkörpert werden3'5. Markiert Diderots Neveu de Rameau stets auch die identitätskrisenhafte Dimension dieses Umschlags, so gewinnt er im Pardoxe sur le Comedien positive Verfassung im Hinblick auf die Lizenz für eine gleichsam ins >Virtuosenatürlich< agierende Pierrot Deburaus. Der entscheidende Unterschied aber liegt darin, dass er die offensive und sich als solche ausstellende künstliche Reorganisation des Natürlichen zum eigentlichen Kern und Faszinosum seiner Darbietung macht. Das prekäre Moment erhält diese Artifizialisierung daran, dass sie das andere wesentliche Implikat einer Natürlichkeitsästhetik außer Kraft setzt: Die moralische Verpflichtung, die im Paradigma einer ungebrochenen natürlichen Transparenzrelation von Ausdruck und Affekt immer mit anvisiert ist wird von einer offensiv in Szenen gesetzten Virtuosität ausgehebelt. Wo Realität als Effekt des Artifiziellen in Szene gesetzt und dermaßen abstrakt restrukturiert wird, verlieren jegliche Be- und Entglaubigungen von Seiten eines außerästhetischen (natürlichen) ethischen Fundaments ebenfalls an Gehaltmäßigkeit. Der vormals in Ansicht eines veranschaulichten Inneren bewertbare Gegensatz von Gut und Böse wird seinerseits einem virtuosen Spielzusammenhang eingeschrieben und die Handlungen der Figur aktivieren je nach szenischer Erfordernis mal das eine, mal das andere Moment. Das dürfte der wesentliche Grund fur die von Gautier gemachte Doppelbindung von sang-froid an Darsteller und Kunstfigur sein: Die Figur als hergestellte Kunstfigur hat jegliche innere Handlungslizenz aufgegeben, weil sie ihrem artifiziellen Status nach über das narrativpsychologische wie das darin implizierte ethische Fundament längst hinaus ist. Das hat im Hinblick auf den Gehalt der Darbietung, sofern man noch guten Gewissens davon sprechen kann, zweierlei Konsequenzen: Zum einen schreiben sich Pierrots Handlungen fortan vom formalistischen Kontrastprinzip her, wie es bereits in Gautiers Zitat offenkundig wird. Die inhaltliche Dimension und dementsprechend die realistisch-mimetische Beglaubigung werden offensiv zugunsten der artistischen Erzeugung von bizarr-kapriziösen Einzeleindrücken in Aktion, Mimik und Gestik in den Hintergrund gedrängt. Zum anderen aber ist darin eine verstärkte Exploitation des Inventars amoralischer Motive indiziert, deren Abfolge als formale Serie in den Vordergrund gespielt wird ohne an eine narrativpsychologische Ordnung rückgebunden zu sein: »Pierrot [der kurz vor der Hinrichtung steht] se met alors ä pleurer, puis ä manger.«3'6 / »Pierrot continue ä voler et ä manger.«3'7
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Claudia Jeschke: Noverre, Lessing, Engel. Zur Theorie der Körperbewegung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Wolfgang F. Bender (Hrsg.): Schauspielkunst im 18. Jahrhundert: Grundlagen, Praxis, Autoren. Stuttgart 1992, S. 85-111, S. i n . Vgl. Jeschke, Noverre, S. m . Vgl. Käuser, Körperzeichentheorie, S. 48f. Deburau, Pantomimes, S. 152. Deburau, Pantomimes, S. 9.
Tatsächlich waren die Deburau-Pantomimen förmlich als künstlich arrangierte Klaviatur des Amoralischen und Deformativen organisiert, die umso mehr frappieren musste, je natürlicher und integrativer das figürliche Gesamtensemble >Pierrot< daherkam: die einzelnen Motive des Hässlichen und Exzentrischen glitten gleichsam elegant ineinander über, und zwar ohne Dünkel ob der Alogik einer solchen Kombination. Der Verweis auf >Natürlichkeit< markiert somit stets auch die romantische Ahnung von einer heraufdämmernden hochkonstruktiven Ästhetik und Theatralität, deren artifizielle Gebilde dem Empirischen in punkto Bewusstseinsferne ähnlich waren. Eine solche Perspektive setzt natürlich auch die ethische Inhaltsdimension explizit außer Kraft, der dramatisch vorgetragene moralische Gegensatz von Gut und Böse besteht zwar weiterhin, dies aber nur noch in Form eines stereotypen Spielschemas, das den motivischen Kontrast garantiert. Die Pantomimen, allen voran diejenigen Deburaus, bezogen aus der inhaltlichen Nivellierung des moralischen Gegensatzes stets den frappanten Effekt, will sagen: Im Zuge einer Promotion des Hässlichen zum ästhetischen Paradigma unter Vernachlässigung seiner inhaltlichen Dimension, wurde auch das sogenannte >Gute, Wahre und Schöne< zum bloßen Schau-Effekt herabgewürdigt. Aber eben nicht nur herabgewürdigt: Zugleich wurde es als ein Element innerhalb eines formalen Zusammenhangs neu bewertet. Z u m einen lieferte es dem lasterhaften Motiv seinen notwendigen Gegenpol, es garantierte als anderes Extrem zu dem der Amoral den frappanten Uberschlag, zum anderen avancierte es in seiner ridikülen Uberbetonung selbst zur panomimischen Lachnummer, so etwa in La Perle de Savoie, wo der diebische Pierrot die Absolution verlangt: Pierot dit au cure qu'il part aussi ; mais, avant de partir, il lui demande de le confesser. (Scene comique.) Le eure lui dit qu'il est un brave garcon et lui donne l'absolution. [...] L'absolution n'est pas encore donnee que Pierrot, appercevant la tartine, la vole et prend toute la confitue etalee dessus. Le Cure s en apercoit, le reprimande; Pierrot se frappe la poitrine de nouveau. Enfin! il est pardonne. 3 ' 8
Der ethische Gegensatz wird dermaßen zu einem formalen Schema, innerhalb dessen sich die Figur von einem Extrem ins andere bewegt. Der gelungene fließende Ubergang von einander differenten und zum Teil auch unvereinbaren emotionalen, moralischen und affektiven Lagen und der entsprechenden Gesten wird zum Aufweis einer bis ins Kleinste durchraffinierten Darstellung und der völligen Unbeteiligtheit seines Darstellers im emphatisch-identifikatorischen Sinne. Jules Janins Lektüre des Deburauschen Pierrot zielt genau auf diese spezifische Konstellation von Schauvergnügen und Desinvolture ab, indiziert in ihrer besonderen Wortwahl aber wohl bereits ein krisenhaftes Moment: Auch für Janin ist sowohl Deburaus artistische als auch Pierrrots inhaltlicher sang-froid admirable die Voraussetzung für ein gemäß der
318
Deburau, Pantomimes, S. 160. In der Pantomime Le JoueurzA.
erweist sich Pierrot zudem als ausgesprochen treuer und loy-
aler Diener. Immer wieder wird auch aus dem Motivrepertoire des Guten szenischer Mehrwert gewonnen,
(vgl. Le Joueur in Deburau, Pantomimes, S. 181-198).
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energetischen Intensitätsprämisse organisiertes Gesamtgeschehen, das aufgrund der Flüchtigkeit der momentanen Eindrücke an formaler Komplexität kaum zu überbieten ist: C'est admirable! Jamais acteur n'a paru dans un drame plus compliqui avec plus d'energie, de patience, de sang froid et d'esprit. 3 " 9
Janin hatte dabei, anders als Gautier, zusammen mit dem Etikett des sang-froid stets das des Sarkasmus bemüht, und es wiederum ebenbürtig auf den Pierrot wie auf seinen Darsteller Deburau gemünzt: Quand Deburau trouva son sang-froid et ce muet sarcasme qui fait sa grande superiority, cet inepuisable sarcasme, dont il est si prodigue! 3 2 0
Es scheint, dass dem völligen Mangel an >BöswilligkeitJe suis ton mauvais genie!< Sans se deconcercer, il va prendre une hache dans un coin, retrousse ses manches, crache dans ses mains, et, avec cet air reflechi et soumois qui lui est familier, coupe tres-propremeru en deux son mauvais genie et jette les morceaux dans la trappe encore ouverte. Le mauvais genie depeche, voici qu'une fee etincelante de paillettes, un morceau de clinquant rouge dans les cheveux en guise d'etoile, sort d'un nuage et se presente au paillasse en lui disant: >Je suis ton bon geniel· Debureau reprend sa hache, recrache dans ses mains et coupe le bon genie en trois; — mais il mange son pate et Taction continue comme s'il n'etait rien arrive. Cette sc£ne devrait bien etre placee au commencement de toutes les pieces de spectacle. 325
Rien arrivS. - in der Tat! Und eben doch nicht: Die inhaltlichen Implikationen des Gegensatzes von Gut und Böse werden aktiv vergessen, Unvereinbarkeiten werden offensiv nivelliert und vor allem: Diese veritable Entmächtigung hat selbst Schauwert, wird als amüsant-groteskes Spektakel vollzogen. Tatsächlich ist die Gautiersche Beschreibung im Sinne eines der Pantomime immanenten ästhetischen Gestus zu lesen: Die Verabschiedung des ethischen Implikats innerhalb der Pantomime, vor allem aber der Deburauschen Szenen, ist nicht einer provokativen Attitüde gegenüber sozial-ethischen Prämissen geschuldet, sondern dem Willen, ein exzentrisches Schauvergnügen zu präsentieren. Die Amoralität der Deburauschen Figur ist keine pessimistische oder utopistische Reflexionsfigur auf Außerästhetisches, sondern in ihr ist die moralische Frage im Dienste des ästhetischen Reizfaktors verabschiedet. Mit anderen Worten: Der Pierrot ist über jede pragmatische Rückprojizierbarkeit auf die moralische Ebene absolut erhaben. Gerade diese Souveränität des reinen Spiels jedoch, die sowohl die Figur auf narrativer Ebene auszeichnet, als auch die Qualität ihrer Darsteller auf der performativen Ebene ausmacht, trägt in ihrer offensiven Distanziertheit das sarkastische Implikat. Janin hat, als er das Etikett bemühte, wohl deutlich erkannt, wie sehr ein radikaler ästhetischer Abstand ins Dunkle tendiert. Dass in der Emphase auf dem Prinzip ästhetischer Distanz eine epochale Affinität zum Makabren zu verzeichnen ist, verwundert kaum. In der Folge sollen Gautiers und Champfleurys Beiträge zu einem Diskurs um die groteske Szene im Hinblick auf eben diesen Aspekt analysiert werden, wobei verstärkt auf die Reflexe und Relationen eingegangen werden soll, die die Pantomimenkunst mit anderen Ausprägungen des Hässlichen, etwa im Circus, der Karikatur und in der makabren Prosa verzeichnen lässt.
325
Gautier, L'Art dramatique I, S.
z$6f. 193
8.
Reflexe und Wechselwirkungen: Pantomime und Deformation bei Gautier und Champfleury
8.1.
Gautier
Innerhalb der französischen romantischen Bewegung setzt sich die von Hugo initiierte modernistische Linie wohl am deutlichsten in den ästhetischen Reflexionen Theophile Gautiers fort. Von besonderem Interesse ist dabei die spezifische Verbindung, in der das Deformationsparadigma und der um dieses gravitierende Diskurs um die Freiheit künstlerischer Kreativität mit f/?iiZ£?rästhetischen Reflexion steht. Gautiers Modell eines poetischen Theaters, das seine Differenz zur Realität als Qualität sui generis ausspielt, stellt eine der radikalsten Umwertungen des Verhältnisses Kunstwerk-Realität innerhalb der romantischen Bewegung dar und bereitet gerade hierin den elitären Asthetizismus der französischen Decadence vor. Das theatergeschichtliche Fundament dieser Perspektive liegt nicht zuletzt in der französischen Theatertradition des 19.Jahrhunderts begründet: Bereits am Beispiel Hugos wurde deutlich, wie eine Auffassung von Theater als optisch intensivierendem >Konzentrationsspiegel· die realistische Tendenz entgrenzte. Das Seit-An-Seit-Bestehen von so unterschiedlichen Theaterformen wie dem szenischen Realismus (der seinerseits romantisch unterfuttert war), dem dramatischen Romantizismus und dem Melodram lässt sich entsprechend aus dem allen Varianten gemeinsamen Primat des Visuellen erklären, wobei als dessen wesentliches Fundament das bewusstseingeschichtliche Phänomen des gout de spectacle gelten kann.326 Durch Theophile Gautier, dem aufgrund seiner avancierten ästhetischen Reflexionen bis heute der Rang eines der wichtigsten Gewährsmänner der poetischen und theatralen Moderne zukommt 317 , erhält die Theorie des Grotesken ihre erste dezidierte Anbindung an den Diskurs um die ästhetische Differenzqualität der Bühne. Gautiers theatrale Paradigmen sind dabei zum einen die Pantomime und zum anderen der Zirkus und dort vor allem die Clownsnummer. Es wird sich im Folgenden zeigen, wie die unter dezidiert poetischen Kriterien verfahrende Analyse von Theater- bzw. Spektakelformen im Gautierschen Diskurs zu einer Profilierung des Grotesken als der Zentralkategorie ästhetischer Modernität beigetragen haben. 8.1.1. Das Groteske vs. die Satire Theophile Gautier bildet zusammen mit Jules Janin die Doppelspitze der einflussreichsten Kritiker der Funambules und hat mit am meisten dazu beigetragen, der Pantomime und generell der Kunst des Spektakels ästhetische Noblesse zu verleihen.328
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Vgl. dazu den Abschnitt über Hugo in dieser Arbeit; vgl. außerdem: Frantisek Deak: Symbolist Theatre. The Formation of an Avant-garde. Baltimore 1993, S. i8f. Vgl. etwa L. Cassandre Hamrick: Gautier et l'Anarchie de l'Art. Relire Theophile Gautier: Le Plaisir du Texte. Etudes reunies et presentees par Freeman G. Henry. Atlanta 1998, S. 91-117, S. I02ff; sowie: Patrick Berthier: Gautier Journaliste. Relire Theophile Gautier: Le Plaisir du Texte. Etudes reunies et presentees par Freeman G. Henry. Atlanta 1998, S. 49-72. Vgl. Jones, Sad Clowns, S. 7iff.
Der Grund fur die Gautiersche Vorliebe liegt eindeutig in dem genuin visuell orientierten Vergnügen, das die aliterarischen Theaterformen bereiten: Keinerlei Störung des Unterhaltungswertes durch dessen Rückverpflichtung auf pragmatische Diskursivität und eine erst dadurch freigesetzte >intuitive< Einlassung auf die Vielfalt intensiver Eindrücke - dies sind die Kriterien, die Gautiers empathische Kritiken immer wieder in den Vordergrund rücken. Jedoch: Gautier hat stets auf dem Prinzip der Poetizität als grundlegender struktureller Metapher für ein ästhetisch hochraffiniertes Theater des Spektakels insistiert. Der schiere Wille zur Optik, zum amusement pour l'oeil taugt zur Einlösung dieser Prämisse nur, weil er mit einer tieferliegenden ästhetischen Tendenz unauflöslich verbunden ist: der Erschließung des Formenrepertoires und des Wirkungsspektrums des vom klassischen Kunst- und Schönheitsbegriff bis dahin Ausgegrenzten. Gautier kann als zentraler Stichwortgeber innerhalb der um ästhetische Emanzipation von akademischen Darstellungsprinzipien bemühten romantischen Bewegung betrachtet werden. Für vorliegende Arbeit ist es bedeutsam, dass er seine Reflexionen zu einer Ästhetik des Hässlichen nicht nur äußerlich mit den begrifflichen Etiketten von grotesque, arabesque, bizarre, baroques und burlesques garniert329, sondern sie stets mit den Primatforderung von Grazie, Stil und Fantasie verbindet. Das lässt auf zweierlei schließen: Zum einen versucht Gautier tatsächlich, das Hässliche als main principle innerhalb der romantischen Bewegung zu etablieren, aber er stellt zum anderen dezidiert auf das Moment von dessen ästhetisch-konstruktiver Verfasstheit ab. Insofern sind seine Reflexionen für den Zusammenhang von Theater-SpiA und Deformation von nicht zu unterschätzendem Wert für unseren Fokus. Im Vorwort zu seinem Band Les Grotesques promoviert Gautier unter dem Stichwort des Arabesken die Stileigentümlichkeit der »fantaisies baroques«: Cependant, en dehors des compositions que Γοη peut appeler classique, et qui ne traitent en quelque sorte que des generalites proverbiales, il existe un genre auquel conviendrait assez le nom d'arabesque, oil, sans grand souci de la purete des lignes, le crayon s'egaye en mille fantaisies baroques. — Le profil de l'Apollon est d'une grande noblesse, — c'est vrai; mais ce mascaron grimaiant, dont l'ceil s'arrondit en prunelle de hibou, dont la barbe se contourne en volutes d'ornament, est, ä de certain heures, plus amüsant ä l'ceil. Une guivre griffue, rugueuse, papelonnee d'ecailles, avec ses ailles de chauve-souris, sa croupe enroulee et ses pattes aux coudes bizarres, produit un excellent effet dans un fourre de lotus impossibles et de plantes extravagantes.» 0
Ganz im Hugoschen Sinne wird die Vervielfältigung des ästhetischen Stimulus im Hässlichen gegenüber der klassischen Schlichtheit in Anschlag gebracht, wobei das Proliferations-Argument mit dem Plädoyer fur eine Kunst der optischen Sensation aufs Engste verbunden wird: Das diskursiv nicht gezügelte Hervortreten der einzelnen Teile zu einem visuellen Spektakel, die Desintegration des Bildes in einzelne sensationelle Momente, die die Statik des Gegenstandes in eine Dynamik des Sehens überfuhrt, das ist Gautiers wesentlicher Punkt.
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Vgl. dazu auch: Daniel Sangsue: Le Recit excentrique. Gautier - D e Maistre — Nerval - Nodier. Paris 1987, S. 28off. Theophile Gautier: Les Grotesques. G e n f 1969 [Reprint], S. X-XI.
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In den Kontext von Modernität rückt Gautier das Hässliche dabei allemal, jedoch schränkt er seine Emphase auf die künstlerische Deformation gerade im Hinblick auf den modernistischen Uberbietungsgestus ein, wo er die intellektuelle Inferiorität einer vordergründigen Preokkupation mit dem >Neuen< betont: » Les grands esprits, qui ne sont touches du beau, n'ont pas cette preoccupation du neuf qui tourmente les cerveaux inferieurs.«33' Das ist keineswegs als konservative Anbiederung an Klassizität, sondern als Ausdruck der Bewusstheit angesichts der modernen Problemlage zu werten. Gautier sichert sein Plädoyer entsprechend durch das Argument der Abwechslung ab: »ä de certain heures« sei das Bizarre und Extravagante ästhetisch reizvoller als das Klassische, und »les plus gens de goüt ont besoins quelquefois, pour se remettre en appetit, du piment de concetti et des gongorismes.«332 Das Hässliche fungiert als zeitweiliges Tonikum, als manieristischer Appetitanreger und ist dermaßen relativ hin auf ein klassisch Schönes und zwar im Hinblick auf die epochale Abfolge. Der hier gegebene Focus ist bestimmend für Gautiers gesamte Reflexion: Zum einen wird die kategoriale Scheidung von Schön/Klassisch und Hässlich/Grotesk über den Stilbegriff aufgeweicht: Das Hässliche, wofern nur durch die Phantasie geformt und in seiner Exzentrik konstruktiv verfasst, ist ästhetisch. Allerdings wird die Prominenz der Deformation immer wieder als Indiz modernistischer Neuerungsemphase wie als Signum einer hochproblematischen Epoche abgeschattet. Dieser Dualismus, der bereist Hugos Emphase zumindest mitgeprägt hat, wird noch Baudelaires und Huysmans Reflexionen zum Grotesken bestimmen: Er ist als ästhetische Signatur der Moderne ebenso auf der Höhe der Zeit, wie es Ausdruck einer Krise ist. Inwieweit das Hässliche selber den Charakter des Schönen annimmt, also nicht mehr kategorial von diesem unterschieden werden kann, darauf deutet bereits der Gebrauch des Begriffes der Arabeske hin, den Gautier ausgerechnet innerhalb eines Les Grotesques betitelten Band verwendet: Die in diesem Etikett indizierte Hintanstellung einer möglichen inhaltlichen Dimension des Hässlichen zugunsten eines Augenmerks auf seine besondere formale Verfassung und ornamental-dekorative Wertigkeit deutet auf eine Konvergenz des Schönen und Hässlichen unter genuin formalästhetischer Perspektive. Gautiers zentrale Begriffe sind dabei die künstlerische Kreativität, die subjektive Originalität und die Gestaltungs-Fantasie, die sämtlich auf die technische Raffinesse der formalen Ausführung wie an dem damit verbundenen ästhetischen Transgressionsgestus zielen. Ob seines resultierenden hohen Artifizialitäts-Grades wird das entsprechende Werk — sei es eines der Literatur, der bildenden oder auch der szenischen Kunst - , von der Verpflichtung auf gesellschaftliche Funktionalisierbarkeit entbunden. Ausgesprochen bestimmt argumentiert Gautier in dieser Hinsicht, wenn es um das Theater geht: Nous ne voulons cependant que le theatre soit une chaire de morale; le poete n'est oblige qui la beaute; mais le beau est le chemin du bon, et des hommes qui s'occupent de la perfection
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196
Gautier, Grotesques, S. X. Gautier, Grotesques, S. XI f.
d'un vers et qu'une tirade poetique ravit d'enthousiasme, sont toujours de fort honnetes gens.«333 Das durchaus »Schillernde« Argument entdeckt den moralischen Gehalt von Kunst nicht a m expliziten Postulat sondern am Kriterium formalästhetischer Perfektion. Dies trägt unmittelbar einer Strategie der Nobilitierung des difformen künstlerischen Gebildes zu, wofern an ihm nur solche formalen Normüberschreitungen zu verzeichnen sind, die das Originalitätskriterium erfüllen. Vorzüglich an der von Champfleury, Janin und auch Baudelaire geteilten Vorliebe Gautiers für das G e n r e der Karikatur lässt sich ermessen, inwieweit gerade die komische D e f o r m a t i o n dazu taugt, dem Kunstwerk A u t o n o m i e zu sichern: In einem Essay zu William Hogarths Werken etwa wird dem englischen Karikaturisten absolute Originalität bescheinigt. 334 Jedoch schränkt Gautier sein L o b auf diejenigen Bilder ein, die nicht >narrativ< und mittels Außenverweises verfahren, sondern ihrer formalen Verfassung nach zur Selbstreferenz tendieren. D i e moralisierenden Karikaturen werden im ferventen Plädoyer für eine strikte Autonomie des Ästhetischen entsprechend verworfen: The Rake's progress est un de ces romans en huit ou dix chapitres, oü I'artiste demontre les inconvenients d'un vice, oubliant qu'un tableau η est pas un sermon et qu'il empiete ainsi sur les attributions des predicateurs et des philosophes. L'art tient dans les spheres intellectuelles une place assez haute pour etre un but et non pas un moyen, et c'est le meconnaltre que de le faire servir ä exprimer d'une maniere subordonnee telle ou telle morale. L'utilite et pratique n'est pas de son ressort. L'art eleve en lui donnant la pure sensation du beau, en l'arrachant aux plaisirs materiels, en satisfaisant aux postulations de ses reves, en la rapprochant plus ou moins de l'ideal.33' In Bezug auf Hogarth wird zwar das satirische Etikett beibehalten, konsequenterweise aber vorrangig auf den formal-exzentrischen Z u g abgestellt, der die wirklich bedeutenden Werke des Engländers auszeichne. Entsprechend werden diejenigen Karikaturen hervorgehoben, die nicht mehr vorrangig mimetisch sind, sondern in denen die Deformation ob ihres besonderen Grades einen ästhetischen Eigenwert gewinnt. Der imaginativ-kreative Z u g , der im Hässlichen Hogarths zu Buche schlägt und formal zum Monströsen tendiert, w i r d v o n G a u t i e r als »verve diaboliquement satirique« 3 3 6 durchweg positiv geschätzt. Der in höchstem M a ß e subjektive - und gerade hierin »diabolische« - Wille zur Verformung, in dem prinzipiell ein aggressiver Z u g gegenüber dem realen Gegenstand zu T a g e tritt, überbordet bei weitem die auf komische Abbildung der Realität ausgehende Darstellungstendenz: »il pousse la Ιεςοη jusqu'aux dernieres limites de l'outrance, et c'est en cela qu'il est un maitre.« 337 Die »diabolische* Satire verweist bereits im Prädikat auf einen Verweigerungsgestus gegenüber jeglicher diskursiv-pragmatischen Verständigungsabsicht. Gautier visiert mit
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Gautier, L'Art dramatique I, S. 231. Theöphile Gautier: William Hogarth. In Theophile Gautier: CEuvres completes. Genf 1978 [Reprint], [Im Folgenden zitiert als: Gautier, CEuvres] Band VIII/I,S. 315-344, S. 315. Gautier, CEuvres VIII/I, S. 32of. Gautier, CEuvres VIII/I, S. 325. Gautier, CEuvres VIII/I, S. 325. 197
dem teuflischen Etikett nichts anderes an als einen in den Karikaturen offensiv zu Tage tretenden autonomen ästhetischen Gestus, der sich von der Begründung in einer Außenreferenz (generell darstellender, speziell jedoch moralistischer Absicht) emanzipiert hat. Jedoch werden auch Bedenken geäußert: Hogarth pousse jusqu'au paroxysme ce comique feroce dont les Anglais tirent des effets si Stranges, et que, litterairement, Swift possedait au plus haut degre. Hogarth s'en est donne ici ä cceur joie avec une absence de goüt formidable. [...] II y a Iä des figures effrayantes, cadavereuses, spectrales; des etres hybrides, moitii chair, moitie bois, echaufades de potences, agitant des moignons. 3 ' 8
Das spezifisch Englische, die Exzentrik der Gestaltung, wird positiv verrechnet, jedoch der exzessive Gebrauch von morbiden Schreckensmotiven als Mangel an Geschmack ausgewiesen. Dass dem Kritiker jedoch auch eine solche Inflation der Fratzen prinzipiell erträglich ist, wofern sie nur der Originalitätsprämisse entspricht, verdeutlicht die schöne ironische Schlusspointe des Gautierschen Essays: Le merite de Hogarth est d'avoir ete intimement et profondement Anglais, Anglais jusque dans la moelle de ses os. II a tiri son art des son temps, chose difficile, et nul artiste n'a fait preuve d'une originalite plus absolue dans ses defauts comme dans ses qualites.' 39
Das Avancierte Hogarths beweist sich mithin nicht zuletzt darin, dass die Realität seinem subjektiven karikaturistischen Zugriff als Formenpool disponsibel geworden ist. Dieser Umstand allein beweist die Differenz seiner Kunst zur schlichten Mimesis. Die beiden wesentlichen Implikate des Gautierschen Aufsatzes sind also zum einen das Argument für eine originäre Stilistik, die sich von der Deformation herschreibt, zum anderen das Plädoyer für eine Reinigung des so entworfenen Hässlichen: Es darf weder (aus moralistischer Attitüde heraus) abbildend verfahren, noch darf die Bildexzentrik in der Abgeschmacktheit des nur Repulsiven terminieren. Das Hässliche muss sich als formal-konstruktiver Gestus der Auswahl und des stilistischen Raffinements erweisen. Nur so erzeugt es plaisir und ermöglicht es amusement. In der Tat erfüllen das Theater der Funambules und die circensische Clownsszene fur Gautier diese Bedingungen am reinsten. In seinen diversen Artikeln zur Pantomime zieht Gautier dementsprechend stets die doppelte Trennlinie: Zum einen betont er den Abstand der fantastischen Szenerie der Commedia-YipiKn zur Faktizität des vie reelle. Der Zuschauer werde aus der Realität herausgerissen in eine an fantastischen Eindrücken reiche Kunstwelt, in eine von caprice und fantaisie regierte Atmosphäre, die nicht das reale Leben reproduziere, sondern ein Schattentheater desselben darstelle340, das sich durch seine uninterpretierbare Alogik, seine verrückte gaite auszeichne und dementsprechend in einem gleichsam >reinen< Lachen explodiere, das keinen referentiellen Grund mehr hat. 34 ' Das diesem Spektakel idealiter entsprechende Publikum sei, wie bereits zitiert,
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Gautier, Ouevres VIII/I, S. 327. «9 Gautier, CEuvres VIII/I, S. 344. 340 Le Moniteur Universel (zu: Maurice 341 Le Moniteur Universel, 10.9. 1855. 198
Sands Masques te Bouffons),
21.11.1859.
naif comme un enfant ä qui Ton conte la Barbe Bbleue, se laissant aller bonnement ä la fiction du poete - oui du poete, - acceptant tout, ä condition d'etre amuse; un veritable public, comprenant la fantaisie avec une merveilleuse facilite, qui admettrait sans objection le Chat botte, le Petit chaperon rouge de Ludwig Tieck, et les etincelantes parades du Venetien Gozzi, oil fourmille et grimace ce monde etrangement bariole de la farce italienne, mele i ce que la feerie a de plus extravagant.342
Auffallend stark stellt Gautier hier auf die poetische Verfasstheit der Pantomimen ab - deren Autoren zumeist als solche gerade nicht in Erscheinung traten: Die qualitative Gleichwertung der Pantomime mit den wunderbaren Tieck- und Gozzi-Stücken ist sprechendes Indiz dafür, wie deutlich er das Genre als ernstzunehmendes Exempel einer ästhetischen Alternative zum klassischen Kunstbegriff verhandelt. Entsprechend ist auch sein Plädoyer fur >naives Amüsement< keineswegs affirmativ an den Strukturen des kommerziellen Unterhaltungstheaters entzündet, vielmehr markiert es den Versuch, eine anti-klassische Rezeptionsweise zu etablieren: Diese stellt dezidiert auf das adiskursiv intuitive Moment am ästhetischen Genuss ab, das zum Modus einer diskursiven Beglaubigung im diametralen Gegensatz steht. 343 Diese besondere Perspektivierung ästhetischer Produktion und Rezeption erhält insofern eine utopische Dimensionierung, als sie die formale maniera des Alogischen, sogar dann, wenn es sich nicht im engen Sinne um die Pantomime, sondern um eine fantastisches Vaudeville handelt, zum Rettungsbegriff bestimmt: »nous aimons beacoup ce vaudeville [...], parce qu'il est absurde et n'a ni queue ni tete, ainis que doit etre tout vaudeville veritable; un vaudeville raisonnable est quelque chose de particulierement odieux«.344 Dass Gautier für das Vaudeville in der Tat dieselben ästhetischen Kriterien wie fur die Pantomime und generell das wunderbar-komische Spektakel ansetzte, belegt seine Absage an die zeitgenössischen Vaudevilles, »qui sont, en general, plutöt des petites
342
343
Theophile Gautier: Shakspeare aux Funambules. Theophile Gautier: William Hogarth. In Theophile Gautier: CEuvres completes. Genf 1978 [Reprint]. Band V1II/II, S. 55-67, S. 55F. Insofern ist auch die Sichtweise Starobinskis zu korrigieren: Gautiers Motivation ist nicht >naiv< einer »der mächtigsten primitivistischen Sehnsüchte der Romantik« geschuldet, nämlich, »daß die Volkskünste in ihrer namenlosen Unbefangenheit aus den Quellen der Inspiration selbst schöpfen; daß sie spontaner Ausdruck des Genius der Gemeinschaft seien.« Tatsächlich ist das Element des Volkstheatralen erst am Paradigma höchstmöglicher Poetizität und Artifizialität gleichsam vom Rohdiamanten zum Brillanten umgeschliffen worden. Jean Starobinski: Porträt des Künstlers als Gaukler. Drei Essays. Frankfurt a.M. 1985, S. 20. Nicht völlig von der Hand zu weisen ist dagegen Starobinskis These vom eskapistischen Zug der Hochwertung der Volkskunst, auch wenn wiederum Abstriche in punkto 'Naivität' zu machen sind: »Zweifellos läßt dieses Interesse zunächst eine rein äußerliche Erklärung zu: In der kohlschwarzen Atmosphäre einer in Industrialisierung begriffenen Gesellschaft bildeten die Zirkuswelt und der Jahrmarkt-Rummel eine wundersam schillernde Welt, ein unversehrt gebliebenes Kinderland - ein reich, in dem die schlichten Wunder der Geschicklichkeit oder des Mißgeschicks, Illusionen und die spontanen Regungen des Lebens vor dem von der täglichen Monotonie der Pflichtergebenheit ermatteten Zuschauer betörend durcheinanderwirbelten.« Starobinski, Portrait, S. 9.
344
Gautier I, S. 98.
199
comedies manquees que des vaudevilles reussis.« Dahinter steht wiederum die strikte, jedes komische Genre betreffende Aversion gegen ein auf die Gesellschaft oder auf einen moralischen Gehalt transparentes signifikatives Ridikulum, die sich mit der Absage an ein logisch durchstrukturiertes dramatisches Ganzes deckt: »un vaudeville raisonnable est quelque chose de particulierement odieux.«345 Nun muss im Hinblick auf Gautiers Kritik an der Geschmacklosigkeit mancher Werke Hogarths betont werden: Die pantomimisch ausgestellte Körperlichkeit und generell die adiskursive >Materialität< des Spektakeltheaters hat für Gautier keinen Realitätswert mehr, sie ist ebenfalls von der Artifizialität der caprice kontaminiert und dementsprechend nicht beschmutzt durch die »fanges reelles«346. Das entspricht wesentlich der von Adorno theoretisch veranschlagten Entrealisierungstendenz, die in autonomer Kunst gerade auch im Hinblick auf das sinnlich-korporelle Element gilt. Das fuhrt uns zu der Frage nach Gautiers figuralem Vorbild für das, was man eine >ideale< oder >poetische< Hässlichkeit nennen könnte: den Zirkusclown. 8.1.2. Der Clown: Die ideale Hässlichkeit und das bedenkliche Lachen Im Jahre 1838 verfasst Gautier eine emphatische Kritik des akrobatischen Vaudevilles Les Salmtimbanques, in dem der berühmte Saltimbanque Odry die Hauptrolle übernahm. Weitaus wichtiger als der Inhalt dieses Stückes ist das zentrale Augenmerk, das Gautier auf den Clown Odry und dessen groteske Körperlichkeit richtet: C o m m e la nature l'a traiti en enfant gäte! Avec quelle curiosity complaisante eile a soigne sa laideur! C o m m e c'est une laideur parfaite, ideale, sans rivalit^ possible. Quasimodo lui-meme est moins laid, car il arrive au terrible pat le fantastique et le monstrueux; mais Odry! comme on voit qu'il a ete fait expres pour le theatre des Varietes: un nez en bouchon de carafe, martele de meplats et de facettes, allume d un rouge vehement, epate au milieu de la figure et ecrase par le poing de la trivialite et de la sottise, des yeux de poisson cuit au regard habere, une bouche fendue comme un grelot et faisant deux ou trois fois le tour de la tete; des epaules voütees, des jambes si comiquement cagneuses et denuees de mollets; des mains rugueuses, courtes, violettes, carris; puis, sur tout cela, cette admirable fatuite de betise et cette insolence d'anerie que vous savez. Ο grand, inimitable, surprenant, ebouriffant Odry! Jamais cassenoisette de Nuremberg, jamais tete chimerique sculptie dans le noeuds d une canne, n'offrit plus risiblement grotesque. Le comique d ' O d r y ne depend pas des pieces qu'il joue; mais il ressort naturellement de luimeme; c'est n'est pas un acteur ni un personnage, c'est Odry, voilä tout; c'est assez. II entre, on rit; il ouvre la bouche, on rit; il fait quelques pas avec un air itonne, on rit plus fort [...]. 3 4 7
Ahnlich wie im Falle des Konnex von Typus und Darsteller bei Deburau zeichnet sich Odrys Darstellung durch die Synonymität von Groteskfigur und individueller körperlicher
Gautier I, S. 98. Dass das Vaudeville die prominenteste Form des komischen Theaters im 19. Jahrhundert und als solche dermaßen kommerziell aufgemacht war, dass es schließlich in endlosen ermüdenden Wiederholungen versandete, darauf weist Gautier ebenfalls hin. Vgl. Gautier, L'Art drmatique II, S. 265. Vgl. zum Vaudeville als populärem Genre, das wesentliche Neuerung erst durch Feydau erfuhr: Veronique Sternberg-Greiner: Le Comique. Paris 2002, S. 2off. 346
Le Moniteur Universel, 24.12. 1855.
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Gautier, L'Art dramatique I, S. 95; vgl. zu Odry in ähnlichem Zusammenhang auch S. 345.
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Ausstattung und Abilität ihres Darstellers aus. Das entscheidende Argument Gautiers im Votum für die >ideale< Hässlichkeit Odrys ist das des Nicht-Nachahmbarem Nur aufgrund der privaten, individuellen Physiognomie ist Odrys Entwurf des komisch-hässlichen Typus möglich. Zugleich aber handelt es sich, daran lässt Gautier keinen Zweifel, nicht um die Ausstellung des deformierten Leibes in seiner nur natürlichen Verfassung (der damit aus heutiger Sicht eine pragmatische Funktion der Entgrenzung zuzubilligen wäre, etwa im Sinne der Erhöhung gesellschaftlicher Toleranz gegenüber dem Ausgegrenzten). Eine Ökonomie der Deformation in dem Sinne, dass über die individuelle Ausstattung authentisch Körperlichkeit und damit eine gesteigertes Maß an Realität vermittelt werde, liegt gänzlich außerhalb des Gautierschen Interesses. Erst entlang der artifiziell exponierten tatsächlichen Hässlichkeit des Akteurs rechtfertigt Gautier den Zusammenhang von Deformation und künstlerischer Originalität. Die Rückbindung des Typus an den individuellen Akteur und seine partikulare Physis und dessen Fähigkeit, die ihm gegebene >Gnade der Hässlichkeit darstellerisch zu überhöhen, machen Odrys Erscheinung originär und originell·. Gautier spricht beispielsweise von den »etranges plis« des Clowns, von seinen »pantalons prodigieux« sowie von den »fracs particuliers«, außerdem von den »gilets d'un jaune chimerique«348. Exzentrische Körperbewegung und habitueller Detailreichtum Odrys markieren fur Gautier ein modernes Hässliches. Seinen ästhetischen Reiz gewinnt es durch die von ihm affizierte Dynamisierung der Wahrnehmung: Der Körper sowie die einzelnen Handlungen auf der Bühne zeigen sich als gleichsam in eine Serie von frappierenden singulären Momenten seziert, die in ihrer konstruktiven Zusammenfassung innerhalb der Erscheinung ein faszinierendes Körperspektakel ergeben. Solches Interesse am Detail visiert außerdem einen einzigartigen Gesamteindruck an, der ebenfalls >detailliertunmögliche< korporelle Deformation die eigentliche Demarkationslinie zwischen Kunstraum und natürlich-realem R a u m gezogen wird: Deformation ist Kunst - und wird im Lachen als solche affirmiert. Das Vergnügen am Zircusakt besitzt dabei ein durchaus krisenhaftes Moment: Eine Kunst, die in der Überschreitung des Möglichen zugleich auf Überbietung des bisher
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Gautier, L'Art dramatique I, S. 25.
353
Gautier, L'Art dramatique I, S. 11.
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Dagewesenen setzt, impliziert immer auch Gefährlichkeit, eine Akrobatik nahe am Tödlichen sowie das ihr komplementäre Interesse des Zuschauers am Unfall, wie Gautier eingesteht: Die Möglichkeit de »se casser le cou«354 und die damit entfachte bedenkliche Schaulust ist prinzipiell in der akrobatischen Clownsnummer mit beschlossen. Der Umstand, dass es sich um fiir den Akteur durchaus gefährliche Aktionen handelt, befestigt die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit jedoch geradezu: >Gefahr< besitzt keinerlei ökonomische Implikation mehr, sie steht nicht im Dienste der Erbringung einer sinnvollen Aufgabe (einschließlich der Utopie des Sportiven), der Clownsakrobat riskiert sein Leben (schlimmstenfalls) fiir das Zustandekommen eines rein ästhetischen Effekts, im wahrsten Sinne des Wortes fur nichtf. Genau hier zeichnet sich die bedenkliche Seite einer ästhetisch entfesselten und als solcher beglaubigten Hässlichkeit ab: Das >intuitive< Lachen als Response auf eine von aller Pragmatik und jedem außerästhetischen Zweck (und damit vom Prinzip des Zwecks schlechthin) befreite Deformation tendiert seinerseits zum körperlichen Spasmus. Es ist nicht mehr Ausdruck gelehrter Einlassung, sondern besitzt einen zwanghaften Charakter, den Gautier im Hinblick auf Odrys Publikum beschreibt: tout le monde se tient des cötes de rire, et se tord sur les banquettes en proie ä des spasmes d'hilarite convulsive. Odry rit lui-meme et partage la gaiete qu'il excite.555
Das konvulsive, die Grenze zwischen Bühne und Saal offenbar sprengende Lachen ist keines der Einsicht, es schreibt sich nicht in die semantische Ökonomie des »komischen Zwecks< als einer reflexiv quittierbaren Erscheinung von Devianz ein. Es ist eine körperliche, nicht mehr dem freien Willen unterworfene Reaktion, die sich an der Übereinkunft von Akteur und Publikum über das geglückt in Szene gesetzte und virtuos präsentierte deformative Gebilde entzündet, dann aber eine physiologische Dynamik gewinnt, die vom Standpunkt des Sinns uneinholbar ist. Der Körper der Zuschauer erscheint im Lachen ebenfalls von jeglicher Normierung befreit, er emanzipiert sich gleichsam vom Willen des Subjekts und agiert nach seinen eigenen Kriterien: Spasmodischer Ausbruch in die Singularität und Punktualität, ungerichtete Abfolge einzelner physischer Intensitäten. Erst hier schlägt die Wirkung des Ästhetischen in die >Logik< des Körperlichen um: Die Erscheinung des Leibes, das Herauskitzeln seiner schieren Phänomenalität sind ganz und gar abhängig von dem Reiz, der von der artistischen Darbietung ausgeht. Weil sie als Kunstfaktum der Empirie entwunden ist, kommt ihr die Qualität eines jegliche Schranken aufhebenden Stimulus allererst zu. Gautier bestimmt dieses haltlose, in den allgemeinen Taumel überfuhrende epidemische Lachen der Körper (und nicht mehr nur: der Gehirne!) zum Symptom einer roman-
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Gautier, L'Art dramatique I, S. 26. Gautier referiert in diesem Zusammenhang auch auf die eigentliche Wiege des Clownstheaters, die akrobatische Pferdenummer: »L'interet de ce drame monte sur quatre jambe consiste dans l'attente oil Γοη est de savoir si l'homme tombera et se cassera le cou.« Gautier, L'Art dramatique I, S. 12. Zu der Evolution der Clownsgestalt aus der Pferdenummer vgl. Simon, Planete, S. 27ff. Gautier, L'Art dramatique I, S. 96.
tisch-modernistischen Epoche, die den Triumph des ^Ignoblem der Kunst über deren vormalige moralisch-inhaltliche Qualitäten verzeichnet: Quel parfait sentiment de l'ignoble! Ce n'est pas lä assurement de la haute comedie, et le rire soulfeve par un haillon excentrique n'est pas ä beaucoup pres d'aussi bon aloi que celui qui nait d'un mot spirituel; il y a peut-etre meme quelque chose de feroce et d'immoral dans ce rire excite par la difformite et la betise; mais dans une epoque comme la nötre, on rit comme on peut et non pas comme on veut. — Solventur risu tabulae, tu missus abibis. "6
Gautier nimmt die seit Hugo in Gang gebrachte Nivellierung des Unterschiedes von äußerer körperlicher-optischer Hässlichkeit und innerer moralischer Hässlichkeit, die alles Gezeigte nicht anders denn unter der Prämisse des ästhetischen Stimulus auffassen kann, messerscharf wahr. Das Komische der auf difformite abstellenden Clownsszene wird von ihm als ein an der Sensationalität des äußerlichen Eindruck haftendes und darin spezifisch theatrales, weil sich selbst ausstellendes Ridikulum beschrieben, das nicht nur die ethische Gegenindikation in den Hintergrund treten lässt, sondern aufgrund seines körperlichen Zwangscharakters einen diese offensiv außer Kraft setzenden Impakt besitzt. Es lässt moralisch-reflexiv wie körperlich (gleichermaßen, jedoch unter verschiedenen Vorzeichen) ins >Barbarische< tendieren. Gautiers dermaßen am Clownstheater und am Zirkusakt geschliffener ästhetischer Focus steht in engster Wechselwirkung mit seinen Reflexionen zum pantomimischen Genre. Besonderes Augenmerk muss dabei auf den Konnex von Deformation als ästhetischem Intensitätsprinzip und moralischer Nivellierung gelegt werden. 8.1.3. Shakspeare atix Funambules: Die Ironie des Tödlichen Die heutzutage bekannteste Pantomime des 19. Jahrhunderts: Le Marrrchand d'Habits verdankt ihren nachhaltigen Ruhm einzig und allein einer emphatischen Kritik Gautiers, die am 4. September 1842 in der Revue de Paris unter dem Titel Shakspeare [sie!] aux Funambules veröffentlicht wurde.357 In diesem Text analysiert Gautier das pantomimische Genre dezidiert unter der Perspektive des Zusammenhangs von lachenerregenden und schrecklichen Momenten. Es gilt im Vorhinein daraufhinzuweisen, dass nicht der tatsächliche ästhetische und womöglich inhaltliche Anspruch der Pantomime selbst zur Debatte steht, sondern die spezifischen Implikate der Gautierschen Lektüre für eine szenische Ästhetik des Hässlichen in seiner
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Gautier, L'Art dramatique I, S. 96. Vgl. zum Topos des wilden Lachens in der Romantik auch Marcandier-Collard, Scenes capitales, v.a. S. 260. Gautier, CEuvres completes VIII/II, S. 55-67. Vgl. Le Marrrchand d'habits! Pantomime comique en 5 Tableux. Paris 1842: Archives Nationales de France Paris. Document F18 1087 MS 4426. Jean-Louis Barrault spielte diese Pantomime in Carnes berühmtem Film Enfants du Paradis und später, zusammen mit Marcel Marceau als Arlequin, in Baptiste (im Jahre 1946). Obwohl sicherlich eine von Deburaus Kreationen, wurde der Pierrot des Marrrchand im 19. Jahrhundert vor allem mit Paul Legrand, Deburaus Nachfolger an den Funambules, identifiziert. Vgl. dazu Storey, Pierrot, S. 41; sowie Tristan Remy: Jean-Gaspard Deburau. Paris 1954, S. 174fr.
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Gestalt als Grotesk-Makabres, sprich: als ironisch-hyperboles Spiel mit dem Schrecken des Todes.358 Dass das makabre Spiel als »presence simultanee du rire et de la mort« eine, wenn nicht die, wesentliche Ausprägung des Grotesken gerade auch in seiner romantischen Variante ist, darauf hat bereits Anne Uebersfeld hingewiesen.359 Gautiers ästhetische Faszination an der in Rede stehenden Pantomime ist, wie zu zeigen sein wird, einer der sprechendsten Belege. Zunächst kurz zum Inhalt der Pantomime, so wie er bei Gautier wiedergegeben ist: Pierrot hat sich leidenschaftlich in eine Gräfin verliebt, eine ebenso mondäne wie anspruchsvolle Dame aus der feinen Gesellschaft. Um vor ihr einen Staat zu machen, überfällt und ermordet er einen Hausierer, der mit Kleidung handelt und gelangt so an den entsprechenden eleganten Habitus. Zwar gelingt es Pierrot tatsächlich, das Herz der Dame für sich zu gewinnen, empfindlich gestört wird sein Verhältnis aber durch den regelmäßig (im Sinne eines runningga£) erscheinenden Geist des Ermordeten, der - den Säbel noch immer in der Brust - mit knurrender Stimme unablässig seinen Marktschrei »Marrrchand d'habits!« wiederholt. Nicht genug damit spielt das Gespenst seinem Mörder auch noch böse Streiche: Als dieser z.B. auf dem Abendempfang seiner Angebeteten ein leckeres Eis genießen will, geht selbiges in bengalischem Feuerzauber auf, woraufhin Pierrot vor Grauen seinen Löffel verschluckt. Pierrot entledigt sich des aufdringlichen Wiedergängers stets auf die bewährte handgreifliche Weise: Er stopft ihn in ein Kellerloch, haut ihn ungespitzt in den Boden etc. etc. Nach einigen Verwicklungen (unter anderem gewinnt Pierrot Geld und verliert es auch schnell wieder) kommt es endlich zur Hochzeit, aber voilä und oweh: Dem Souffleurkasten entsteigt erneut der rachsüchtige Geist und fordert seinen Mörder zum finalen >valse infernal·. Er umarmt Pierrot und spießt ihn auf diese Weise ebenfalls auf den Säbel, der ihm noch im Leib steckt. Solchermaßen grotesk aneinandergepfählt erfolgt der Abgang beider direkt in die Hölle. Am Ende seiner Beschreibung der Pantomime versucht sich Gautier an einer Interpretation der wesentlichen Motive: Pierrot qui se promene dans la rue avec sa casaque blanche, son pantalon blanc, son visage enfarine, preoccup^ de vague desirs, n'est-ce pas la symbolisation de l'äme humaine encore innocente et blanche, tourmentee d'aspirations infinies vers les regions superieures? La poignee du sabre qui semble s'offrir d'elle-meme ä la main de Pierrot, et l'inviter par le scintillement perfide de son cuivre jaune, n'est elle pas un emblcme frappant de la puissance de 1'occasion sur les esprits dejä tentes et vacillantes? La promptitude avec laquelle la lame entre dans le corps de la victime demontre combien le crime est facile ä commettre, et comment un simple geste peut nous perdre ä tout jamais. Pierrot n'avait en prenant le sabre d'autre idee que de faire une espieglerie! Le spectre du marchand d'habits sortant de la cave, montre que le crime ne saurait etre cache, et lorsque Pierrot fait replonger dans la cave ä coups de buche l'ombre de la victime plaintive, l'auteur n'a-t-il pas indique de la maniere la plus ingenieuse que les precautions peuvent quelquefois retarder la decouverte d'un forfait, mais que le jour de la vengeance ne manque
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Das muss deshalb betont werden, weil schon Pericaud Versäumnisse in punkto Gesamtdarstellung, sowie auf der anderen Seite die »philosophische« Lektüre der Motivik der Pantomime bemängelt. Vgl. Pericaud, Funambules, S. 254 sowie S. 256Γ.
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A n n e Ubersfeld: Le Drame romantique. Belin 1993, S. 148.
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jamais d'arriver. Le spectre symbolise le remords de la fa^on la plus dramatique et la plus terrible. Cette simple phrase: marrrchand d'habits! qui jette une terreur si profonde dans l'äme de Pierrot, est un veritable trait du genie, et vaut, pour le moins, le fameux >11 avait bien du sang' de Macbeth. [...] Le detail de la glace qui se change en feu d'artifice montre que, pour le criminel, tout devient un poison, et que ce qui rafraichit la bouche de l'innocent bmle le palais du scelerat: de plus, c'est une indication preparatoire des feux eternels de 1'enfer auxquels le meutrier doit etre livre. [...] Pierrot, comme Don Juan, provoque la colere celeste, il est arrive au dernier degre de l'endurcissement; aussi, quand il va epouser la princesse, le spectre vengeur reparait, et cette fois il ne peut plus le faire rentrer dans la trappe qui l'a vomi. Allegorie tres fine qui demontre que tot ou tard le crime se decouvre, malgre l'audace, la presence d'esprit et le sang-froid du meutrier. Cette valse infernale, oil la pointe du sabre qui traverse le corps du marchand d'habits entre dans la poitrine de Pierrot et le perce de part en part, nous enseigne que les hommes sont punis par leur crime meme, et que la pointe du couteau dont le meutrier frappe sa victime, penetre dans son propre coeur encore plus profondement. [...] - Connaissez-vous beaucoup de tragedies qui supporteraient une pareille analyse ?,lSo Zunächst fällt auf, dass Gautier bis auf wenige Ausnahmen vor allem auf die Gewalt- und Schreckensmotivik dieser tragik-komischen Horrorszene abstellt und diese zur moralischen Allegorie umschreibt. Allerdings: Der Schlusssatz verweist eindeutig auf den ironischen Duktus der gesamten symbolischen Analyse! Der Wink ist offensichtlich: Die einzelnen Motive bieten sich dazu an, sie subjektiv-assoziativ verfügbar zu machen, und zwar durch eine Zerlegung des dramatischen Zusammenhangs, wie er fiir das Vorbildgenre dieser Pantomime, die (Shakespearsche) Tragödie, noch konstitutiv ist, in eine Abfolge einzeln interpretierbarer Sequenzen, die nur über die Hauptassoziation des Konnex von Schuld und Sühne lose zusammengehalten werden. N u n muss man sich vor Augen halten, dass die französischen Romantik sich wesentlich durch die Tendenz auszeichnete, die tragische Dimension (auch des Melodrams) in szenisch explizit vorgetragenen Gewaltbildern zu erschließen, diese dabei aber in erster Linie formalästhetisch und wirkungsmäßig ausbeutete: Wie Marcandier-Collard diesbezüglich schreibt gelangt dermaßen die: »beaute de la violence [...] sur scene, n'est plus rejetee en coulisses: Lorenzo assassine Alexandre sous les yeux des spectateurs, Lucrece Borgia se poignarde au denouement du drame hugolien, La Tour de Nesle de Dumas multiplie assassinats efifectifs et recits de tueries.«' 6 ' Diese Exploitation hat aber generell, wie die Autorin in Bezug auf das literarische Todesmotiv betont, eine Entrealisierung des Schrecklichen zur ästhetischen Figur zur Folge: »Par sa representation [...] eile echappe ä la realite, et devient objet et discours, >metaphore conscienteGeisterautomatik< sprechen, einer Veräußerlichung des sublimen Schreckens, der dementsprechend von Pierrot gar nicht mehr mit innerem Schauder, sondern mit Handgreiflichkeiten quittiert wird. Unübersehbar vor diesem Hintergrund auch die Pointe, dass der Geist vor dem Schreckensfinale aus dem Souffleurskasten steigt: Veritable mise en abyme, die ironisch auf den Zusammenhang von Wiedergängermotiv und Theatertradition anspielt, darin aber zugleich den Spuk als reines Spiel-Element positiv reevaluiert. Deutlich nämlich transformiert sich das Gespensterbild in seiner theatralen >Greifbarkeit< zum ludischen Ansatzpunkt, von dem aus sich groteskkomische und bizarr-theatrale Effekte herstellen lassen. Zumal es als Manifestation des Gewissenskonfliktes mit der konfliktuellen Grundstruktur der Pantomime prinzipiell kompatibel ist und sich so auch für die gesteigerte Visualität der gewalttätigen Auseinandersetzung öffnet: Pierrot va bravement au spectre et lui propose avec une hardiesse que n'aurait peut-etre pas eue don [sie!] Juan, d'acheter en bloc le frac, le gilet, le pantalon et le chapeau; le spectre fait signe qu'ils sont bien sues, et offre trente sols du tout. - Pierrot, apres l'avoir appele voleur, consent au raarche, et lui remet les hardes; alors le spectre pretendant que les effets sont ä lui, ne veut pas lui donner les trente sols. La fureur de Pierrot ne connait plus de bornes; il detache un coup de pied süperbe dans les jambes du fantöme, le coup de pied est suivi d'une Serie de coups de poing dans les yeux et l'estomac; [...].' S 9
Wir haben es mit einer veritablen Transposition des Atmosphärisch-Unheimlichen ins Manifest-Körperliche zu tun, wobei die Struktur der gerade beschriebenen Szene als exemplarisch gelten kann. Bevor es zu der tätlichen Auseinandersetzung kommt, wird das Geistermotiv im versuchten Kuhhandel zunächst ironisch gebrochen: Der Mörder versucht, seine Beute an das tote Opfer zurückzuverschachern, letzteres feilscht seinerseits und haut seinen Verhandlungspartner dabei auch noch übers Ohr, was den Mörder in moralischen Furor versetzt - eine Entsublimierung, die dann ganz unmittelbar in die Körperkomik überführt. Die Ironisierung, als Kommentar zum traditionellen Motiv, entleert dieses offensiv ins Klischeehafte und befreit es auf diese Weise erst zum formal konstitutiven Element einer schrill-bizarren Körpergroteske. Diese Assimilierung von Tragik und pantomimischer Farce führt weiters zu einer offensiven Zer- und Ersetzung des inhaltlichen Nexus von Schuld und Sühne durch eine äußerliche Logik des pantomimischen Bildes. Die beiden hierfür wesentlichen Stellen in der von Gautier beschriebenen Aufführung sind die Mord-Sequenz zu Beginn, sowie die schlussendliche Verklammerung des Mord- mit dem Sühnemotivs am Ende des Stükkes: C o m m e Pierrot est en proie ä ces idees ameres, qu'il accuse le dieux, la fortune et le sort, passe un marchand d'habits, portant toutes sortes de nippes, plus ou moins fripes. - Oh! si j'avais ce
Gautier, CEuvres VIII/II, S. 62.
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frac vert p o m m e , et ce süperbe p a n t a l o n ä la cosaque! se dit Pierrot, 1'oeil allume par la convoitise, les doigts titilles par d'irresistible envies; et en disant cela, il allonge et retire les m a i n s ä plusieurs reprises. Le m a r c h a n d d ' h a b i t s vient d'acheter la d e f r o q u e civique d ' u n garde national, hors d'äge, d o n t il p o r t e le sabre, place sous son bras d a n s l'attitude peu belliqueuse d ' u n simple paraplui; la poignee d e cuivre de l ' i n n o c e n t bancal s'offre t o u t n a t u r e l l e m e n t ä la m a i n de Pierrot qui le saisit. Le m a r c h a n d , sans p r e n d r e garde ä rien, c o n t i n u e sa r o u t e . Pierrot teste i m m o bile t e n a n t t o u j o u r s la poignee d u sabre, d o n t la l a m e est b i e n t o t t o u t entiere hors d u f o u r r e a u q u e le m a r c h a n d d ' h a b i t s entraine avec lui. A la vue de l'acier flamboyant u n e pensee d i a b o l i q u e i l l u m i n e la cervelle de Pierrot, il e n f o n c e la lame, n o n pas d a n s sa gaine, mais d a n s le corps d u m a l h e u r e u x qu'elle traverse de part e n part, et q u i t o m b e m o r t . 3 7 0
In der Tat hat Pierrot eine Motivation: er ist verliebt und braucht unbedingt einen eleganten Habitus, um in den Augen seiner Gräfin bestehen zu können. Betrachtet man sich die Szene jedoch genau, dann wird die Motivation Pierrots, so verständlich sie - freilich immer auf die komische Kunstfigur hin berechnet - zunächst auch scheinen mag, überlagert durch die formale Stringenz des traditionellen Pantomimenmotivs vom diebischen Pierrot: »tout naturellement« -automatisch offeriert sich der Säbel Pierrots Gaunerfingern. Und die lapidare Beschreibung des Mordes lässt keinen Zweifel aufkommen, dass die Untat ebenfalls als formallogische Folge organisiert ist. Die >psychologische< Nachvollziehbarkeit, und die moralische Einmahnung, wofern sie in der Pantomime resthaft vorhanden war, ist hier völlig außer Wert gesetzt durch die äußerliche Motorik, welche das der Kunstfigur genuine artifizielle Triebmotiv >Diebisch< aus sich entbindet. Das von Gautier angesprochene »pensee diabolique« deutet darauf hin, wie eindeutig Pierrots eigentliche causa jenseits einer nachvollziehbaren Begründung rein im überkommenen Motiv der komischen Amoral verortet wird, die hier ins Mörderische überboten ist. Wenn Pierrot, nachdem er den rachsüchtigen Geist zum ersten Mal ins Kellerloch geworfen hat, diesem äffend sein »marrrchand d'habiti.« hinterherkräht, so deutet Gautier dies entsprechend als Aufweis einer Bindung von »l'ironie ä la sceleratesse« 371 : In der Tat erhält die gesamte Pantomime ihre exemplarische Geltung fur Gautier aus der Verbindung von tödlichem Schrecken mit der ironischen Distanznahme, die dadurch erreicht wird, das die Verbrechens-narratio mit der Typenlogik der komischen Figur unauflöslich kontaminiert wird. Dieser Formalisierung der Untat entspricht, dass das gesamte Verbrechen um das Requisit des Säbels herum als ironische Pointe organisiert ist: Pierrot klaut dem Opfer die Mordwaffe, bevor er es damit ersticht! Damit zum anderen Aspekt: der engen motivischen Verklammerung von Anfang und Ende, die ebenfalls einer motorischen Formal-Logik folgt. Unübersehbar ist die formale Affinität von Anfangs- und Endmotiv in den Vordergrund gespielt: Der Säbelmord und der »valse infernal«, in dem das Opfer den Täter in einer höllischen Umarmung an sich spießt, verklammern das Stück im Sinne einer ebenso komischen wie schrecklichen motivischen Pointe. Schon während des Stückes wird übrigens auf die Möglichkeit, der Mörder werde durch seine eigene Waffe sterben, angespielt, nämlich, wenn der Geist die Waffe aus seiner Brust zieht, um Pierrot abzuwehren, dieser
'7° G a u t i e r , CEuvres V1II/II, S. 58. 37' G a u t i e r , CEuvres V1II/II, S. 59.
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aber mit Püffen und Tritten pariert.372 Interessanterweise entsteht trotz aller Komik eine vom Wiedererscheinen des Geistes sogar noch verstärkte Atmosphäre der Bedrohung, die aber immer und in jedem Fall durch den fantastisch-komischen Einfall aller inhaltlichen Bedeutsamkeit entkleidet wird. Gautier lässt in seiner Beschreibung nicht den geringsten Zweifel daran aufkommen, dass der finale Totentanz gerade aufgrund seiner fantastischgrotesken Unmöglichkeit (im Sinne einer radikalen Abstandes von jeder Glaubwürdigkeit!) tatsächlich schrecklich wirkte: Aussitöt le spectre reparait, enlace Pierrot dans ses long bras, et le force a executer avec lui une valse infernale plus terrible cent fois que la c£lebre valse de M^phistophel£s [...]. L'assassine serre l'assassin contre sa poitrine de telle sorte que la pointe du sabre p e n t a e le corps de Pierrot et lui sort entre les epaules. La victime et le meurtrier sont embroches par le raeme fer comme deux hannetons que Ton aurait piques ä la meme epingle. Le couple fantastique fait encore quelques tours, et s'abime dans une trappe, au milieu d'une large flamme d'essence ter&enthine. 3 7 3
Dieses »Strange drame, mele de rire et de terreur« erhält, so lässt sich resümieren, seinen letztlich befremdlichen und hochirritativen Charakter aus dem produktiven Zusammenspiel von komischer Brechung der Bedeutungsmäßigkeit des Schrecklichen auf der einen Seite und aus der daraus resultierenden reinen Visualität des Schreckensmotiv, das in all seiner schrillen Expressivität frappiert. Der komische Gestus, der das Schreckliche als Motiv ironisch ausstellt, vollzieht damit zugleich eine formalistische Reinigung des Schrecklichen: Es tritt als bizarr-fantastische, inkommensurable Phänomenalität des theatralen Schreck- Bildes hervor. 8.1.4. Das Schreckliche als »Motive Verlust seiner Realität Hinter der Begeisterung Gautiers für den Marrrchand d'habits steht nicht zuletzt das gesteigerte Interesse am Gewalt- und Todesmotiv, und zwar unter der Perspektive des fur die französische Romantik charakteristischen Doublibinds. Zum einen liefert das makabre Sujet, als extremste Ausprägung des Deformationparadigmas einschließlich der Implikation von Gewalt und Grausamkeit, ein unerschöpfliches Reservoir an ob ihrer Grässlichkeit frappierenden Eindrücken. Zum anderen aber ist in diesem ausgeprägten Interesse eine Distanz zur Realität des Schrecklichen, Tödlichen, Grausamen usw. verzeichnet, die als solche reflektiert wird: Das Schreckliche ist als Motiv erkannt und unterliegt damit ebenso dem ironischen Zitationsduktus wie es einer formalistischen Auffassung anheim gestellt wird, die die inhaltlich-ethischen Implikation vergessen lässt.374 In Bezug auf Baudelaire hatte Gautier so (allerdings erst im Jahre 1862) von einem Schönen gesprochen, »qui s'obtient dans l'horreur comme dans la grace.«375 Der Tod, der tödliche Schrecken
372
Vgl. Gautier, CEuvres VIII/II, S. 6z. Gautier, CEuvres VIII/II, S. 64. 374 Vgl. zum schwarzen Humor bei Gautier: Carmen Fernandez Sanchez: L'autre Testament de Spirite ou le Triomphe de Cherbonneau: Fantastique et Humour en Habit noir. In: Relire Theophile Gautier: Le Plaisir du Texte. Etudes reunies et presentees par Freeman G . Henry. Atlanta 1998. S. 221-242, S. 2 2 2 ®
373
375
212
Theophile Gautier: Les Poetes francais. Fusains et Eaux-fortes. In: Theophile Gautier: CEuvres completes. Genf 1978 [Reprint]. Band III, S. 307.
ist ästhetisch, und zwar, weil er genuin theatrale Aspekte verzeichnen lässt und als ein multiformes Phänomen der Proliferationsprämisse des ästhetisch Hässlichen entgegenkommt: La Mort est multiforme, eile change de masque / Et d'habit plus souvent qu'une actrice fantasque: / Elle sait se farder / Et ce n'est pas toujours cette maigre carcasse, / Qui vous montre des dents et vous fait la grimace / Horrible ä regarder. 376
Ganz entsprechend zu diesem Gedicht aus der Sammlung Comedie de la Mort, bordet das Gautiersche Werk über vor Schwelgereien im Grässlichen und Degoutanten, dessen hyperbole Massierung und ästhetische Überdeterminierung es aber eindeutig dem Grotesken zuschlagen lassen.377 In Voyage en Espagne etwa beschreibt Gautier den »salle funebre« von Saint-Michel in Bordeaux als grausige Szenerie des Todes, die sogar »les caprices les plus monstreux de Goya« bei weitem an Schrecklichkeit überträfe: »Ce sont des figures contournees, grimacantes, des cranes ä demi peles, des flancs entrouverts [...]«. Gerade die Abwesenheit von eigentlich erwartbarer Ruhe in den verzerrten Gesichtern, also die >Dynamik< der Totenfratzen, affiziert Gautiers Fantasie: [...] aucune de ces tetes n'a le calme passible que la mort imprime comme un cachet supreme a tous ceux qu elle touche; les bouches bäillent affreusement, comme si elles etaient contractees par ['incommensurable ennui de l'eternite, ou ricanent de ce rire sardonique du neant qui se moque de la vie.
Jedoch, der durchweg erkannte und affirmierte Schauwert des Todes stimmt Gautier zugleich bedenklich: »On dirait qu'ils sont irrites d'avoir ete tires de leurs tombes et troubles dans leur sommeil par la curiosite profane.«378 Unbeschadet einer möglichen aber unwahrscheinlichen moralischen Implikation des Einwands lässt sich die bedenkliche Endnote vor allem als Skepsis gegenüber einem gewöhnlichen, d.h. nicht ästhetisch reflektierenden und gerade darin den Gegenstand entwürdigenden Blick deuten. Tatsächlich ist hierin ein größerer Horizont ästhetischer Reflexion angerissen, der Gautiers Positionierung gegenüber einer französischen Kunsttendenz des 19. Jahrhunderts betrifft, die sich durch ihren gout de macabre et d'horrible wesensmäßig auszeichnete. Damit ist nicht in erster Linie die schwarzromantische Ästhetik Baudelaires gemeint, sondern eine bereits viel früher in Auseinandersetzung mit dem englischen Schauerroman initiierte Richtung, die ihre wesentliche Ausprägung im roman noir erhalten hatte. Das Dictionnnaire des romans anciennes et modernes pour lire les romans addierte bereits im Jahre 1819 dessen charakteristische Motive: Sinistres, Assassinats, Emprissonnements,
376
Theophile Gautier: >La Comedie de la Mort< et autres Poemes. Paris 1994, (Portail): S. 34.
377 Vgl. Francois Boddaert im Vorwort zu: Gautier, Comedie, S. 10. Boddaert erkennt im Überborden schrecklicher Motive und Beschreibungen in Gautiers Werk »une hypertrophie du sanglant qui pret ä sourire«. 378
Theophile Gautier: Voyage en Espagne. Suivi de Espana. Paris 1981. S. 36fr.
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Souterrains, prison, cavernes, Vieux chateaux, Enlevements, vengeance et crimes affreux, etc. etc.379 Deutlich stellt die hier in Rede stehende Dichtung auf zwei Aspekte des Hässlichen ab: Zum einen auf den sensationellen Schauwert des Grässlichen und der Gewalt, wie er in der minutiösen literarischen Beschreibung zu Tage tritt. Zum anderen auf die Annahme einer gesteigerten expressiven Kraft des abjekten Bildes, das einen unsicheren Status zwischen existentieller Metapher, körperanalytischer Semantik und rein irritativ-phantasmatischer Qualität besitzt. Das medizinisch-anatomische Interesse des >ästhetischen PathologenIrrtum< bindet das bereits als Zitat ausgewiesene Todesmotiv rein an das Außere der komischen Figur und an den von den Figuren konstituierten Spiel-Raum zurück. 380 (Es gilt in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass Gautier seine Figuren immer wieder auf ihre eigene Artifizialität und die Darstellungstradition der Commedia anspielen lässt. So schmachtet der verliebte Arlequin: Car je palis d'amour sous le naiv de mon masque« 387 und wird am Ende weinend in die »Heimat« der Figur, ins Bergamasker Land (»au pays bergamasque«) zurückgeschickt: »Mon coeur se fend! Les pleurs ruissellent sous mon masque.« 388 ) Der komische Bruch des Realitätsgehaltes wird in der zitierten Szene ebenfalls über Einbettung des Referats in ein poetisches Konstrukt vollzogen: Die einzelnen Bilder werden über Assonanzen rhythmisch gereiht. Zugleich folgt ihre Koordination innerhalb einer lyrischen Sprechsequenz dem Prinzip einer additiven und darin komischen Massierung von Pathologie-Bildern, die zum Schluss vollends ridikül gebrochen wird. Die unweigerliche Entwirklichungstendenz gegenüber dem Todesmotiv wird an keiner Stelle so deutlich, wie an Pierrots eigener Beschreibung seiner Strangulation am Schiffsmast: M a pose horizontale en perpendiculaire Se changea. J'apergus, dans l'onde bleue et claire, Un reflet s'agiter et s'allonger en i J e fis un entrechat, et cnac.. .tout est fini ! 3 ® 9
Die Figur des Gehängten wird mittels einer geometrischen Anspielung ins rein TheatralPosenhafte transkribiert, nämlich zur formalen Analogie des kleinen »i«, einem abstrakten Kopf-Körper-Symbol, das das Schrecknis gleichsam auf das Buchstäbliche festlegt und es damit ridikül verkleinert. Die minutiöse Zergliederung des Vorgangs der Strangulation in eine Abfolge einzelner Stadien entspricht passgenau dem anatomischen Interesse der literarischen Zeitgenossen wie dem von Gautier selber, weist aber bereits auf die unweigerliche Ironisierung des Gegenstandes hin, die mit dem poetischen Detailinteresse am Grausigen verbunden ist. Dahinter steht derselbe Wille zur Delegierung des Schrecklichen an den äußeren exzentrischen Ausdruck, wie er bereits am Beispiel des Marrrchand-Szenars dingfest gemacht werden konnte: Die Situationen von Tod, Verstümmelung und Schmerz etc.
,8i
Ein solcher »discours« wird übrigens später wieder aufgenommen, und zwar als Colombine versucht, Pierrot mit Backpfeifen davon zu überzeugen, dass er keineswegs ein Geist, sondern quicklebendig ist: Wiederum wird das Bild des Todes mit einem genuinen Merkmal der Pantomime, hier der cascade, kontaminiert und so ironisch gebrochen.
387 Gautier, CEuvres VIII/III, S. 169. 388 38
Gautier, CEuvres VIII/III, S. 202.
? Gautier, CEuvres VIII/III, S. 174.
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als per se mit dem Implikat von körperlicher Desintegration und physischer Exzentrik versehene Motive tragen insofern ihrer artistischen Exploitation zu, weil sie eine Vielfalt frappanter Details garantieren. Das rein auf die äußeren Aspekte des Schreckens-Topos abstellende Augenmerk fuhrt konsequenterweise auch bei Gautier dazu, dass er eine die ethische Gegenindikation außer Kraft setzende Abscheidung von causa und äußerer Folge vornimmt. Wurde diese Trennung im Marrrchand-Beispiel dadurch vollzogen, dass die Verstümmelungen Pierrots von vorneherein als nur gespielte geoutet wurden und so auf das Nachahmungsprinzip der pantomimischen Darstellung daselbst referierten, so bedient sich Gautier in seinem eigenen Stück des Prinzips der Verkleinerung: In Pierrot Posthume verabreicht der verschlagene Arlequin dem armen Pierrot ein >Heilmittel< in Form einer lebendigen Maus. Dieser lächerliche Anlass, der zudem natürlich die gesamte folgende Sequenz als fantastisch-spielerische markiert, lässt das bedauernswerte Opfer in einen veritablen Grotesktanz ausbrechen: »PIERROT. Je la sens qui remue... et dans mon estomac Ses Evolutions font un affreux mic-mac... Comme dans une cage, eile tourne, eile tourne... ARLEQUIN. Quand un endroit lui plait, Iongtemps eile y sejourne. PIERROT Croire avaler la vie et boire une souris! ARLEQUIN. Sans doute vous avez chicane sur le prix... Le docteur mecontent d'une somme incomplfete Veut orner son armoire avec votre squelette. PIERROT. Vous etes consolant!...Oh! quel saut eile a fait!... A R L E Q U I N , riant. Ha ! ha! ha! l'elixir eut produit moins d'effet!... PIERROT. T u rallies, scelerat! tu ris de me tortures! ARLEQUIN. Hi! hi! vit-on jamais plus grotesques postures?390
Tortures - Postures: Nichts weiter mehr! Das Prinzip des Grotesken ist in dieser kleinen Szene deutlich ausgesprochen. Die Wahrnehmung fokussiert auf die Außenseite der Qual, des Schmerzes, was der jeweiligen spasmodischen Verrenkung den theatralischen Wert einer gleichsam eingesprungenen frappanten >Stellung< innerhalb eines grotesken Tanzes verleiht.
Gautier, CEuvres VIII/III, S. 191. 218
Das Körperbild bedient sich des narrativen inneren Anlasses als Absprungbrett und lässt es dann ob seiner exzentrischen Eigendynamik in den Hintergrund treten. Wiederum verweist Gautier an der Gestalt Arlequins auf den Doppelaspekt des Lachens, das hier evoziert wird: Es ist ein fragwürdiges, ferozes Lachen, in der sich die Lust an der rein äußerlichen Exzentrik mit der unmoralischen Auerachtlassung ihrer Schmerzenskonnotate und ihres körpersemantischen Wertes verbindet. Der Körper ist als Ausdrucksvehikel ernstzunehmender innerer Dispositionen wie Schmerz, Angst und Leid sowie als Projektionsfläche für moralische Einlassungen wie Mitleid, Betroffenheit und Erschütterung außer Wert gesetzt. Er ist in die Distanz des Komischen gerückt, in der Körperlichkeit als physisch erbrachte Phänomenalität und theatrale Bildlichkeit konvergieren. Es fragt sich zudem, ob diese Szene nicht als immanente Reflexion auf die ästhetische Struktur der komischen Darstellung, zumal der Pantomime, daselbst zu lesen ist: Zunächst einmal wird hier das klassische Prinzip einer inneren Motivation ironisch auf den äußeren Stimulus, eine verschluckte Maus, umgebogen und somit gleichsam verkörperlicht. Der in der Folge im wahrsten Sinne des Wortes >innerecausa< nur noch im Sinne eines winzigen äußerlichen Anstoßes, um von da in die Exzentrik von Gebärden abzuspringen, die ihr eigentliches Substrat abgibt. Der Beweggrund erscheint somit immer mehr als immanenter Grund der Bewegung selbst, als ein körperlich-motorischer Initialimpuls, dem keine außerkörperliche Quelle vorgeordnet werden kann. Dass und inwieweit pantomimische Bewegung sich somit vom inhaltsdramatischen Gesichtspunkt aus als >ursprungslose< gerieren kann, wird gerade in der Auseinandersetzung mit der Pantomime englischer Provenienz zu zeigen sein, die das beschriebene Prinzip gleichsam dialektisch radikalisiert. Es gilt jedoch zunächst, den szenisch und visuell offenbar so produktiven Zusammenhang von Schreckensmotiv und Pantomimenkomik historisch weiter zu verfolgen, und zwar in Anbetracht einiger ausgesucht makabrer Beiträge, die vom großen >Neuerer< der zeitgenössischen Pantomime, Jules Champfleury, geliefert wurden.
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8.2. Champfleury : »[...] toute mon ceuvre funambulesque est logique ä desesperer Aristote [...]« 8.2.1. Die >Logik< der Pantomime Jules Champfleury, dessen Erfolg als Autor der Funambules im Todesjahr Deburaus 1846 begann391, hat sich wiederholt sowohl gegen die Extravaganz einer pantomime anglaise, als auch gegen die wunderbare Spielart der pantomime-feerie sowie gegen das Prinzip einer clownerie pure ausgesprochen.392 Entsprechend eliminierte er aus seinen Szenaren den fantastischen motivierten Szenenwechsel sowie die übernatürliche Personnage der FeenPantomime und etablierte eine Form, der er den Namen pantomime-realiste gab. Nach eigenen Aussagen ging es Champfleury darum, mit der Reinigung des stummen Spiels von allem Wunderbaren eine bürgerliche Pantomimes parallel zu Diderots Vorbild einer bürgerlichen Komödie, zu etablieren.393 Auch wenn die unter dem Realismusetikett firmierende Programmatik ihrer Durchsetzung bis zum Jahre 1865 harrte (La Pantomime de l'Avocat) und Champfleury seine Gewogenheit gegenüber den ästhetischen Gepflogenheiten der anderen, auf das Wunderbare zielenden Funambules-Autoren, immer wieder - u.a. in motivischen Ubernahmen394 - zum Ausdruck brachte: In der Tat sind ein Plädoyer für nahezu klassisch anmutende Handlungs-Stringenz und eine versuchte Implementierung logischer Verlaufsmuster und
391
Die am Theätre des Funambules nach Deburaus Tod aufgeführten Champfleury-Szenare sind: Pierrot, Valet de la Mort (1846) [Pierrot, Valet de la Mort. Pantomime en 7 Tableaux. Paris 1846: Archives Nationales de France Paris. Document F18 1089 M S 7444/MS 7553] ; Pierrot pendu (1847) [Pierrot pendu. Pantomime en douze Changements. Paris undatiert: Archives Nationales de France Paris. Document F181089 M S 7585] ; Pierrot Marquis (1847) [Pierrot Marquis, Pantomime en 10 Tableaux. Paris undatiert: Archives Nationales de France Paris. Document F18 1090, MS unnumeriert]; Madame Polichinelle, ou les SoufFrances d'une Arne ä peine (1848) [Madame Polichinelle, ou les SoufFrances d'une Arne ä peine. Pantomime en 10 tableaux. Paris undatiert: Archives Nationales de France Paris. Document F18 1090 MS 8279]; La Reine des Carottes (1848, in Zusammenarbeit mit Albert Monnier); Trois Filles ä Cassandre (1849); La Cruche casse (1849). In den Galeries des Associations des Peintres et des Musiciens wurde aufgeführt: Les Deux Pierrots (1851), an den Folies-Nouvelles·. Pierrot Millionnaire (1857), und schließlich an den Fantaisies-Parisiennes: La Pantomime de l'Avocat (1865) [La Pantomime de l'Avocat (243-254) (Jules Champfleury) Paris 1865: Archives Nationales de France Paris. Document F18 1214 MS 7832] - mit Charles Deburau in der Rolle des Pierrot. Von den in Champfleurys Les bons Contes font les bons Amis (Paris o.J.) publizierten sog. Pikes funambulesques wurde in der jeweiligen Originalfassung nie eines aufgeführt.
392
Vgl. Champfleury, Souvenirs des Funambules, S. 249 und 252: »Je n'approuve pas la clownerie pure [...]« und 255. Vgl. Storey, Pierrots, S. 50. Der Pierrot pendu erinnert zum Beispiel stärkstens an den Marrchand d'habitsl·. Pierrot, der im Spiel betrogen hat, wird über den Verlauf des Stückes von einem Unbekannten verfolgt, der ihm in stereotyper Phrase den Tod am Galgen prophezeit: Pierrot, tu seraspendu! (— der einzige gesprochene Satz im Szenar). Dass Champfleury sowohl den Marrrchand wie auch Gautiers berühmten Essay gut kannte, belegen seine Einlassungen in Champfleury, Souvenirs des Funambules. Vgl. außerdem zu Champfleurys Hochschätzung »alogischen Verlaufsmuster, S. 255.
393 394
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nachvollziehbarer Motive die Charakteristika der Champfleuryschen Vorstöße. Dabei betont er nicht nur die Anstrengung:«[...] j'ai fait tout mon possible pour amener la logique dans la pantomime fran^aise«, sondern reklamiert auch das Gelingen: » [...] toute mon CEuvre funambulesque est logique a desesperer Aristote [..,].«395 Zuvorderst schien sich diese beanspruchte Einschreibung des logizistischen Prinzips in die Pantomime vorrangig in der Tendenz zu soziologischer Recherche und sozialkritischem Verweis zu erfüllen - Darstellungsfluchtpunkte, die den Zeitgenossen in Bezug auf die Pantomime nahezu revolutionär erschienen. In Bezug auf den Pierrotpendu schrieb z.B. Gautier: Cassandre desire marier sa fille, Colombine, au plus offrant et dernier encherisseur, - image de la civilisation actuelle [!]. U n ecriteau, portant la legende suivante: >Celui qui apporte 1,000 francs epousera Colombine.< formule ä tous les yeux le desir du pere Cassandre, plus avare qu'harpagon, qui se contenait du sans dot
Gautier stellte in seinen zwischen Bewunderung und Skepsis schwankenden Kritiken fest, dass Champfleury mit der bilderstürmerischen Emphase eines »Luther de la pantomime«397 eine konsequente rationalistische Außerkraftsetzung des fantastisch-überzeitlichen Wertes des pantomimischen Vokabulars zugunsten einer psychologisch-soziologischen Analyse betrieben hätte: O n le voit, la feerie ne tient ici peu de place [...]; l'etude du cceur humain, l'observation profonde des caracteres et la force comique tiennent lieu du merveilleux absent. Le philosophe et le moraliste ont remplace le poete. Tous les moyens employes peuvent etre avoues par la raison. 3 ' 8
In der Tat zeichnen sich die Champfleuryschen Texte durch eine Kontamination der überkommenen Motivik mit dem sozialrealistischen Implikat aus: In La Pantomime de l'Avocafi" zum Beispiel fungiert (der von Charles Deburau jr. dargestellte) Pierrot als Angestellter des Procureur Cassandre. Die Figuren erfahren eine dezidierte soziale Verortung innerhalb eines bürgerlichen Milieus, die im Gegensatz zu ihrer vormaligen archetypischen Allgemeinheit und Unbelastetheit von der realistischen Referenz steht. 400 Auch das Setting, auffällig minutiös und detailliert ausgearbeitet, ist auf Realitätsnähe angelegt: Le theatre represente l'interieur d ' u n cabinet d'avocat, h o m m e d'affaires. Bibliotheque, gros volumes. - Cartonnier avec de larges etiquettes voyantes: U S U F R U I T , RAPT, S E D U C T I O N . — Pupitre eleve ä hauteur d'homme, dit pupitre a cremailliere. - Table: tout ce qu'il faut pour ecrire. - Porte-manteau auquel sont accrochees une toque et une robe d'avocat.« 401
595
396 397 398 399 400 401
Champfleury, Souvenirs des Funambules, S. 249 und S. 255. In nämlichem Sinne beruft sich Champfleury übrigens auf die Hegeische Ästhetik: Vgl. z.B. Champfleury, Souvenirs des Funambules, S. 263. Gautier, L'Art dramatique V, S. 28. Zit. nach Champfleury, Souvenirs des Funambules, S. 99. Zit. nach Champfleury, Souvenirs des Funambules, S. I02f. In: Deburau, Pantomimes, S. 243-254. Vgl. Deburau, Pantomimes, S. 244. Deburau, Pantomimes, S. 246. 221
In der Folge wird der überkommene Ablauf der Pantomime unter sozialkritischer Perspektive rearrangiert: Pierrot ist nach wie vor triebhaft, er will nach wie vor an Colombine heran, u n d er hat nach wie vor riesigen Appetit, aber: Champfleury bettet das überkommene Repertoire an Motivationen, das bislang einfach zum Aktionsinventar der Figur gehörte u n d keinerlei Außenrechtfertigung bedurfte, in ein psychologisch u n d soziologisch nachvollziehbares Handlungsschema ein. Als Pierrot von Cassandre ein mageres Stückchen Brot erhält, reflektiert er - pantomimisch - über seine gesellschaftliche Minderstellung als kleiner Angestellter: Mais avant de travailler, il est utile de manger. Pierrot a faim! — Gourmand, toujours penser ä manger! s'ecrie Cassandre. II va au cartonnier, ouvre le carton sur lequel est ecrir: USUFRUIT, et en tire un morceau de pain sec. D&laigneusement Pierrot frappe la table avec le vieux morceau de pain dur et demande & Cassandre s'il est possible de s'engraiser avec une pareille nourriture. [...] Pierrot regarde son pain avec melancolie, en se disant quels maigres repas il est condamne ä faire dans la maison. 4 0 2
In der Konsequenz wird das ü b e r k o m m e n e Imitations- u n d Verkleidungsmotiv dazu genutzt, die gesellschaftliche Hierarchie in Frage zu stellen u n d die soziale Utopie zu projizieren: Pierrot wirft sich in Cassandres Abwesenheit in dessen Anwaltshabitus u n d m i m t vor d e m Spiegel den Advokaten, immer das Ziel vor Augen, er k ö n n e auf der sozialen Leiter promovieren u n d so endlich seine Colombine ehelichen. Das komische Verkleidungsspiel auf der Szene avanciert dermaßen zur symbolischen Einübung in eine neue soziale Rolle: »Tout ä coup une idee s'empare de Pierrot en apercevant la robe noire de Cassandre pendue ä un porte-manteau. Lui aussi pourrait plaider en public, gangner beaucoup d'argent, et mdriter la main de celle qu'il aime. — Certainement, dit Colombine qui l'encourage dans ce beau projet. Pierrot ayant endossd la robe noire, se promene fierement. II pose sur la tete la toque, prie Colombine de lui nouer le rabat, se regarde dans un miroir que lui prisente la fille de Cassandre, et s'admire avec complaisance. — Faudra-t-il prendre ce ton? demande-t-il α Colombine en bredouiilant ä l'aigu. — Plus bas! dit Colombine. Pierrot prend une voix grave et commence un discours. — Tres bien! dit Colombine.«4°3
Tatsächlich wird die Tendenz zur dynamischen Entfaltung eines komischen Motivs, wie sie als den Funambules-Vamomimen
genuine Technik bereits beschrieben wurde, auch
diesmal beibehalten: Die Advokats-Verkleidung f ü h r t dazu, dass schließlich Cassandre, nachdem er überwältigt wurde, von Pierrot angeklagt u n d aufgrund seiner Weigerung, ihm die H a n d seiner Tochter zu geben, zum T o d e verurteilt wird. 4 ° 4 Bei aller Ubertreibung in der Relation von >Vergehen< u n d Urteil: Die Logik des bereits in der Verkleidung motivisch vollzogenen sozialen Machtwechsels wird stringent weiter verfolgt, solange bis
402 403 404
222
Deburau, Pantomimes, S. 247 und S. 249^ Deburau, Pantomimes, S. 251. Deburau, Pantomimes, S. 254.
es schließlich zu Cassandres erzwungener Einwilligung und damit doch zum Happy End kommt. Die Emphase auf theatralem Rationalismus und sozial abgesicherter Darstellung mag verwundern, handelt es sich bei ihrem Verfasser doch um denselben Autor, der sich beispielsweise so eingenommen vom bezaubernden Charme und der >Magie< der cascade zeigte und der die eigentliche subversive Kraft der alogischen Gewaltkomik gegen ein überkommenes klassisches Dramenmodell in Anschlag brachte, scheinbar fernab des rationalistischen Arguments. Champfleurys Texte halten sich im Übrigen ausnahmslos an das szenische Erfordernis von Ohrfeigen, Prügeleien und Tohuwabohus. Gerade die Überwältigung Cassandres durch Pierrot und Arlequin in der Advokaten-Pantomime gibt ein sprechendes Beispiel far die Beibehaltung der funambulesken Jagdszene ab: D'abord, Cassandre reste surpris ä la vue de son clerc en robe noire. II veut la lui enlever et donne un soufflet ä Pierrot, qui le rend ä Arlequin. Colombine se jette au-devant de son pere pour apaiser sa colere. Cassandre furieux poursuit Pierrot qui se refugie sur une estrade. C o l o m bine, pour se menager un allie, laisse baiser sa main par Arlequin, ce qui redouble le fureur de Cassandre. T o u r ä tour il poursuit les deux adversaires. Pierrot excite Arlequin ä se venger, se joint ä lui, et Cassandre est renverse sur le banc d'accuse. 4 0 '
Auch hat Champfleury wiederholt auf die Vorbildfunktion der grotesken Kunst far seine eigenen Arbeiten verwiesen und einer ihm unterstellten Tendenz zur sozialistischen Literatur^ i.e. zur Bedienung eines weltanschaulich unterfatterten realistisch-soziologischen Fokus, die dezidierte Absage erteilt.406 Der damit angerissene Widerspruch löst sich erst auf, wenn man die eigentliche Stoßrichtung von Champfleurys Argument nachvollzieht: Seine Ablehnung bezieht sich weitaus weniger auf die deformative und groteske Tendenz der Pantomime als - wie die anfangs zitierte Kritik Gautiers bereits andeutet - auf deren Unterfttterung mit metaphysisch-mystischer und vor allem allegorischer Tiefensemantik, gerade auch in Gestalt des Wunderbaren. Champfleurys realistische Revolution kann als Versuch gewertet werden, die produktive Dimension des »Mythos Pierrot' durch dessen Anbindung an die temps modernes zu gewährleisten. Wie Pierre Albouy in Bezug auf die Arbeit am Mythos auch innerhalb der Romantik schreibt, gibt es keinen Mythos, »sans palingenesie qui le ressuscite une epoque dont il se revele apte ä exprimer au mieux les problemes propres.«407 Allerdings konnte bereits gezeigt werden, dass das Fantastisch-Wunderbare innerhalb der traditionellen Funambules-Pantomimen bereits in einer rein theatral- artistischen Exploitation des fantastischen Deformationsrepertoires bestand, in keinster Weise jedoch der naturphilosophischen Recherche oder der übernatürlichen Relativierung pragmatischer Diskurse (etwa durch eine beanspruchte inhaltliche Relation zu Traumgehalten und unbewussten Fonds) diente.408
405
Deburau, Pantomimes, S. 253.
406 v g l . den weiteren Fortgang der Argumentation. 407
Pierre Albouy: Mythes et Mythologie dans la Litterature fran$aise. Paris 1969, S. 10.
408
Storey liefert in seinem Buch eine stringente, jedoch aus unserer Sicht verfehlte weil - betrachtet man sich die generelle Luzidität und Wissensbreite, mit der er argumentiert - unnötig aufge223
Der Mythos der komischen Pantomimenfigur war ein genuin ästhetisch fundierter, nämlich theatraler Form- und Stilgrund einer besonderen, seit der Commedia dell' arte überkommenen Darstellungsweise, die ihren eigentlichen Wert für die zeitgenössische Kritik durch ihre Verortbarkeit innerhalb des Kontextes einer Modernisierung und Emanzipierung ästhetischer Vorgaben innerhalb der französischen Romantik erlangt hatte. Wenn dementsprechend bereits das Wunderbare als besondere theatrale Präsentationsform dieses Mythos erkannt war, dann zeugt die Euphorie der Zeitgenossen von einem modernen darstellungsästhetischen Bewusstsein, welches - Janins Emphase auf dem theätre ignoble als einer Exploitationsbühne belegt das hinreichend — generell metapoetisch strukturiert war: Als Bewusstsein, mit theatralen Texten und entsprechenden stilistischen Texturen umzugehen und damit prinzipiell einem zitativen Zusammenhang zu unterliegen, in dem das jeweils >Neue< dem gelungenen künstlerischen >Wurf< innerhalb eines motivisch und strukturell vorreglementierten Traditionsrahmens synonym ist. Mit anderen Worten: Jede Neubemühung des Überkommenen, und sei sie noch so revolutionär, ist nicht in erster Linie als Setzung neuer oder erweiterter Gehalte, sondern als stilistische Neuerung zu begreifen, als Arbeit an der Form, die der jeweiligen komischen narratio gegeben wird. Champfleury hat in diesem Sinne stets auch seinen Realismus unter den Vorzeichen einer literarischen Mode, einer formalen Strömung mitreflektiert.409 Als in diesem Sinne auf die eigenen ästhetischen Vorgaben transparentes Motiv darf eine Szene aus dem Pierrotpendu gewertet werden, die einen sarkastischen Schlussstrich unter die wunderbare Beglaubigung der Feen-Pantomime setzt: Als Pierrot vor einem Tribunal dazu aufgefordert wird, seine Taschen zu leeren, kommt auch der magische Stab von Arlequin zum Vorschein. Der Präsident des Tribunals besieht sich das seltsame Instrument, wendet es hin und her und gibt es schließlich an Arlequin zurück - als Gegenstand ohne jeglichen Wert. 410 Stets fungierte Arlequins Zauberstab als rein äußerlicher Generator des Szenenwechsels und der körperlichen Transformationen der Feerien der Funambules. Dieses wunderbare Requisit wird bei Champfleury also nicht nur hinsichtlich eines möglicherweise in ihm aufgesparten mythologischen Gehaltes, sondern als ästhetisches Inventar mit einer bestimmten formalen Funktion innerhalb der traditionellen Pantomime einer eiskalten Prüfung unterzogen und radikal verworfen. Champfleurys beanspruchte Objektivität ist hier in der Tat einem (explizit beanspruchten) archäologischen Interesse synonym, das die Werke der Vergangenheit nicht unter dem Kriterium ihrer etwaigen überzeitlichen ästhetischen Valeurs schätzt, sondern nur als Artefakte historischer Epochen und des in ihnen ausgesparten Zeitbewusstseins reflektiert.4"
setzten Lektüre der Pantomimenkunst unter psychoanalytischer Perspektive. Daher rührt auch die Titelgebung seines Buches. Vgl. Storey, Pierrots. 409 Vgl_ Champfleury, Souvenirs des Funambules, S. 97f. 410 Y g ] Archives Nationales de France Paris. Document F18, M S 7585, S. 12. 411
«L'art, tel que l'etudient les archeologues, n'a rien rien a voir avec le contröle des estheticiens.» Champfleury geht davon aus, dass alle vergangenen Kunstformen der analytisch-archäologischen Perspektive in dem Sinne dienen, dass sie »lui donnent peut-etre une idee plus exacte et plus vive
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Die Ablehnung des Wunderbaren hat vorrangig damit zu tun, dass der Autor dieses nicht nur als ein der modernen Bewusstseinslage inkompatibles semantisches Vehikel betrachtet (was nicht zuletzt der Sklerose geschichtsphilosophischer Sinnprämissen im Gefolge der französischen Revolutionen und der gesellschaftlichen Umwälzungen in Folge der Modernisierung Rechnung trägt), sondern dass er es als Element einer bestimmten dramatischen Schreibweise, einer technischen Verfahrensweise begreift, die im Kontext literarischer Strömungsbildung als abgelebt erscheint. Das Wunderbare als Motiv wie als Motivation erscheint nicht mehr zeitgemäß, das Figuren- und Handlungsarsenal der Pantomimen bedarf einer anderen auktoriellen Strukturierung. Bereits Gautiers ironische Einlassungen hatten zwar auf den archetypisch-allegorischen Wert des Pantomime-Personals hingewiesen, die Motive und Aktionsverläufe der Szenare aber bereits in eine offene Allegorese münden lassen, die prinzipiell die Möglichkeit zur Selbstreferentialität des szenischen Ereignisses im Kontext einer Ästhetik der reinen Sensation ernstnahm, ja, sie zum Wesenszug der Pantomime definierte. Diese Tendenz verstärkt sich bei Champfleury spürbar: Die schiere komische Aktionslastigkeit der Pantomimen wird als das ihr genuine Qualität begriffen und im Zuge dessen die Motivik des Wunderbaren - einschließlich der Gefahr einer in ihr implizierten mystisierenden Ladung verworfen. Die logizistische Hygiene der Pantomimen-Szene geht also nicht vordergründig auf die Ersetzung einer mystischen durch eine soziologische Referenz aus, in der die Figuren und Handlungen tatsächlich (!) auf die außerästhetische gesellschaftliche Realität hin transparent würden. Das verhindert schon die zitative Beibehaltung des überkommenen Personals einschließlich ihres expressiven Deformations-Habitus. Der Polichinelle des Pierrotpendu erschien z.B. auf der Bühne, wie Gautier belegt, stets als »ce double bossu, avec son nez avine, tout fleurete, de bubulettes, tout bourgeonnant de rubis, sa figure cramoisiee, aJlumee d'instincts brutaux« 412 . Außerdem die Nutzung überkommener Techniken: Generell sind die Requisiten vergrößert (in der Advokaten-Pantomime benutzt Pierrot z.B. eine riesige Schreib-Feder4'3), die Handlungen übertrieben, die Aktionsverläufe nach dem Prinzip der cascade organisiert. Wenn Champfleury die referentielle Bindung der komischen Motive so offensiv wechselt, vom Wunderbaren hin zum Realistischen, dann deshalb, weil sein Interesse zentral auf die literarische Arbeit am Motiv, besser: auf seine Neu-Bearbeitung ausgeht. Er fuhrt das Vokabular der Deformation hinsichtlich seines Materialaspektes vor. Das bedeutet aber, dass auch der >Realismus< Champfleurys dezidiert unter metapoetischen Vorzeichen zu sehen ist: Es geht dem Autor nicht darum, realistisch zu sein, d.h. die Wirklichkeit abzubilden, sondern eine absurde Logik des Wunderbaren, die durch willkürliche Brüche und phantastische Szenenwechsel gekennzeichnet ist, als poetische Technik zu entlarven und durch eine Logik und Technik des Realismus, i.e. durch den formalen Zwang Act realistischen Venture, zu ersetzen. Ganz explizit bemüht der Autor in
des moeurs, des coutumes et des usages du passe qu'un pur et noble contour.» Champfleury: Histoire la Caricature au Moyen-age. Paris 1870, S. X. Gautier, L'Art dramatique V, S. 30. 41 ' Deburau, Pantomimes, S. 247. 4,2
225
d i e s e m , u n d n u r in d i e s e m S i n n e , sogar das E t i k e t t d e r positivistischen
S c h r e i b w e i s e . 4 ' 4 Es
zielt a u f die l i t e r a r i s c h - k o n s t r u k t i v e H y g i e n e d e r K o m i k d e r P a n t o m i m e , a u f d e n R e i n g e w i n n an »force c o m i q u e « 4 ' 5 , d e n G a u t i e r i h m attestiert hatte, u n d d e r f ü r C h a m p f l e u r y n u r ü b e r die a b s o l u t e l o g i s c h - e x a k t e D u r c h s t r u k t u r i e r u n g d e r S z e n e z u g e w i n n e n ist: U n moment on a cru beaucoup me tracasser en tratant mon theatre de pantomime litteraire. Si on entendait par la pantomime de litterateur, je n'y vois pas de mal, mais on donnait a entendre que des idees philosophiques, des id^es mystiques, tenaient lieu de tout mes pieces, en remplacaient Γ action. Ces accusations de swedenborgianisme sont cres-niaises et de mauvaise foi. C'^tait le contraire qu'il fallait me reprocher; I'exactitude. Loin d'etre vagues, mes pantomimes sont arreties et exactes. Chaque scene a la nettete et la rigeur d'un trait de dessin lineaire. O n ne peut m'accuser que de positivisme en matieres funambulesques. 4 ' 6 D e r >Realismus< ist eine als solche reflektierte k o n s t r u k t i v e T e c h n i k der D u r c h r e g u l i e r u n g p a n t o m i m i s c h e r , sprich: körperlich vorgetragener H a n d l u n g s a b l ä u f e u n d visuelle markanter M o t i v k e t t e n , o h n e dass sich darin >des idees philosophiques,
des idees mystique»
manifes-
tierten. C h a m p f l e u r y hatte in der T a t u n t e r d e r P r ä m i s s e einer v ö l l i g e n V e r s a g u n g v o n Beurteilung u n d der W e i g e r u n g , zwischen den v o n ihnen präsentierten Details interpretative Z u s a m m e n h ä n g e z u s t i f t e n , f ü r seine T e x t e e i n e V a r i a n t e d e r A b w e s e n h e i t des Autors im W e r k proklamiert.417 G a n z e i n d e u t i g u n d f ü r d e n R e z i p i e n t e n e r k e n n b a r erhalten die d r a m a t i s c h e n S t r u k t u r e n d a m i t o b j e k t i v e n W e r t : S i e e n t s t e h e n als E n s e m b l e s m i t e i n a n d e r k o m b i n i e r t e r M a t e r i a l i e n . 4 1 8 D i e s e K o m b i n a t o r i k j e d o c h generiert a u f d e m f o r m a l ä s t h e t i s c h e n N i v e a u seiner S z e n a r e w i e d e r u m Effekt,
d . h . d e n theatralischen coup. D a s k a n n an dieser Stelle
d e s h a l b so explizit b e h a u p t e t w e r d e n , w e i l , w i e an d e n e n t s p r e c h e n d e n S z e n a r e n z u veri-
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Champfleury hat übrigens den Begriff des Realismus, für den er stand und unter dem er firmierte, immer ambivalent bis skeptisch betrachtet. Die im Zuge der historischen RealismusDebatte einsetzende Schul- und Strömungsbildung schien ihm geradezu dem künstlerischen Wahrheitswillen entgegengesetzt zu sein. Vgl. zum Begriff des Realismus bei Champfleury, seinen Ambivalenzen und seiner Verbindung zum Begriff der >sinceritewi , -Forderung unter ein gleichsam konstruktivistisches Licht: Nicht die Imagination eines völlig Neuen, sondern ganz entsprechend der Zitat-Tradition der Pantomimen, die besondere subjektive konstruktive Bearbeitung des Althergebrachten als eines Materials erbringt die Qualität des Vergnüglichen. Champfleurys Reform hält sich darin passgenau an die in Janins Auffassung vom ignoble der traditionellen Funam bules-S tücke anvisierten Kriterien. Entsprechend stehen alle Szenare Champfleurys unter einer doppelten Prämisse: Einerseits wird die überkommene Motivik hinsichtlich eines in ihr sedierten semantischen Gehaltes einer radikalen parodistischen Revision unterzogen. Z u m anderen aber wird diese Ridikülisierung ihrerseits wiederum als szenisches Spiel vollzogen·, d.h. das Motiv bleibt als formale Struktur spielbar, es wird weiterhin bemüht, nur ist es gereinigt von jeglichem ernstzunehmenden Sinn-Fundament. Es verwundert kaum, wenn, worauf bereits die Polichinelle-Schlachtung hindeutet, diese besondere parodistische Hygiene der Szene am Todes- und Gewaltmotiv festmacht. 8.2.3. Der Tod: »pretexte ä litterature« Champfleury hat nach eigenen Aussagen seine allererste Pantomime Pierrot, Valet de la Mort, die den Grundstein seiner Karriere als Funambules-Κ\ιχοτ legte, in der Tradition des Makabren verfasst. Er betont in der Rückschau die besondere gedankliche Ägide: Das Todesmotiv hätte zum Zeitpunkt der Abfassung nichts anderes als einen »pretexte ä litterature« abgegeben. Damit ist zum einen das rein formalästhetische Interesse an allem, was den T o d arrondiert, »son appareil, ses serviteurs et son mobilier« 437 auf den epochenspezifischen romantischen >goüt de macabre< zurückgeführt: [...] je voyais la chose ä travers le romantisme et le la voyais mal. La mort ne me semblait qu'un pretexte ä litterature, et surtout son appareil, ses serviteurs et son mobilier. Un peu trop enthousiaste de ballads allemands et de Frar^ais goguenards, je ne revais que croque-morts, que pompes funebres, que cercueils. C'est sous le coups de ces idees que j'ecrivis Pierrot, valet de la Mort, ma premiere pantomime, qui obtint un certain succes romantique.438
Zum anderen betont Champfleury den komischen, lachenerregenden Wert des Todes innerhalb eines, seiner literarischen Adoleszenz den zeitlichen Kontext bietenden, roman-
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437 438
Inwieweit dieses explizite Plädoyer fiir ein von Inhaltlichkeit gleichsam gereinigtes Groteskkomisches einer heillosen Verwirrung aller möglichen Unterarten des karikaturesken Komischen innerhalb der Epoche geschuldet ist, darüber kann an dieser Stelle nur spekuliert werden. Vgl. dazu: Jules Champfleury: Le Musee secret de la Caricature. Paris 1888, etwa S. 137. Champfleury, Souvenirs des Funambules, S. 51. Champfleury, Souvenirs des Funambules, S. 5if.
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tischen Umfeldes. Und zwar im Sinne eines fröhlich-verrückten Lachens, in dem eine radikaler Differenz zum Gehalt und zur eigentlichen Ernsthaftigkeit des Themas zu Buche schlägt: T O U T C E Q U I T O U C H E Α LA M O R T E S T D ' U N E G A I E T f i FOLLE. II est certain que la jeunesses s'amuse beaucoup a rire de la mort: les squelettes, les danses macabres, les tetes e morts viennent perpetuellement ä l'imagination [...]. 4 3 9
Hier ergibt sich - ähnlich wie im Falle Gautiers - der Konnex von schrecklicher Ikonographie und seiner komischen Kontamination als eigentlicher Fluchtpunkt einer auf caprice beruhenden Ästhetik des Grotesken: Der Tod wird rein als ästhetisch produktives Motiv bewertet. Die Imagination kann sich seiner aus dem Grunde zu freier Verfügung und im Dienste des ästhetischen Effekts bedienen, weil alles ihn Betreffende als formales Inventar begriffen wird und damit seine prekäre empirische und ontologische Gültigkeit verliert. Hier ist also eine besondere komische Distanz zum ernsten Thema gesetzt, die in der Konsequenz dazu fuhrt, dass jedes der den Tod tangierenden Motive aufgrund der von ihm garantierten Extravaganz exploitiert wird, unter offensiver Außerkraftsetzung jedes ethisch-inhaltlichen Dünkels. Das theatrale Spiel mit dem Tod ist vollends eröffnet: der Danse Macabrd Das dritte Tableau von Pierrot, Valet de la Mort mit dem Titel »Le Cabinet de la Mort« ist in diesem Sinne zu einiger Berühmtheit gelangt: »Le theatre devait reprdsenter un Souterrain garni de tetes et d'os de mort; sur la table etait un grand sablier. La Mort, habillee d'un grand manteau noir flottant, une toque ä plume sur la tete, une faux ä la main, ses pieds de squelette passant sous le manteau, itait assise sur un tröne. Necessairement l'horloge sonnait minuit. A u coup de minuit, trois cercueils descendaient des frises du theatre, deux grands et un petit.« 440
Champfleury ging es durchaus darum, mit der szenischen Inthronisation des Todes eine zitathafte Etüde zum mittelalterlichen Totentanz-Fresko zu verfassen.441 Das heißt auch, der schreckenerregende Aspekt, wenngleich in der hyperbolen Bildlichkeit stets ironisch gebrochen, sollte Teil des Szenars sein. Die triumphale Attitüde des Todes, die Masse an makabrer Zier und nicht zuletzt die Sequenz, in der die drei Särge herabgelassen werden, addieren sich zu einer grotesken visuellen Phantasmagorie, in der immer wieder auf die prekäre Grenzlage von ästhetischem Raum und Realität angespielt wird: Die Särge enthalten die Leichen Pierrots - die komische Figur, die dann ins Leben zurückentlassen wird - , eines Arztes, und diejenige eines Kindes. Vor allem das spürbare Interesse daran, den toten Körper in seinen empirischen Details gleichsam degradierend auszustellen und ihn zugleich zum Spielmaterial aufzuwerten, bezeugt die groteske Anlage der Szenerie: Das Trinken aus Totenschädeln: »Deux squelettes apportaient une bouteille et des cränes
439 440 441
232
Champfleury, Souvenirs des Funambules, S. 51. Champfleury, Souvenirs des Funambules, S. 5z. Vgl. dazu Champfleury, Souvenirs des Funambules, S. 58.
en forme des coupes.« 441 , die Öffnung der Särge und die Begutachtung und Beurteilung ihres Inhaltes 443 seitens des Todes, das sind motivische Kabinettstückchen, die die reale Geltung des Schreckens ridikülisierend außer Kraft setzen. Die Provokation, von der romantischen Kritik als gelungener W u r f gefeiert, wurde sehr genau wahrgenommen. Tatsächlich verweigerte die zeitgenössische Zensur die Auffiihrungslizenz für die Sargszenen: Es wurde lediglich ein großer Kasten vom Bühnenhimmel herabgelassen, womit die von Champfleury intendierte pointierte optische Relationierung von Erwachsenensärgen und kleinerem Kindersarg entfiel. 4 4 4 Die Empfindlichkeit der Zensoren einmal beiseite: In der Tat betreibt Champfleury relativ offen ein Spiel an der Grenze des Zumutbaren, und zwar insofern, als er in seinem Szenar auf die genuin groteske Mischung realistischer Elemente und ihrer phantastischen Uberdeterminierung abstellt. Besonders der Kindersarg blendet in das Spiel eine sehr delikate Ebene ein, die zum umgebenden komischen Spielfeld in kaum zu lösender Spannungsbezüglichkeit steht. Darin referiert aber das Champfleurysche Szenar auf den Abstand, den es beanspruchtermaßen von der Realität und ihrer moralischen Dimensionierung einnimmt. Es betreibt das Spiel mit dem Tod offensiv, als explizit-aggressiven ästhetischen Unernst gegenüber dem, was eigentlich die seriöse Einlassung erfordert. Der Double Bind von Realität und fantastischer Transgression wird von Champfleury immer wieder betont, auch was die Aufführung betraf. So lobt er beispielsweise den Darsteller des Todes, er sei »tres-bien grime« aufgetreten: »son masque rendait ä merveille la tete de Mort«, bedauert aber zugleich, dass die phantastische Überbietung in die Totentanz-Etüde, etwa qua Kostümierung mit wallendem Mantel etc., nicht stattgefunden habe. 445 Das Todesmotiv in seiner extremen moralischen Aufladung bietet sich offenbar besonders an, das transformative Potenzial der Bühne auszureizen: Der Tod selber wird zum formalen Motiv, dessen freie Verfügbarkeit in den Händen von Autor und Darsteller die ästhetische Grenze markiert, an der sich die Bühne dezidiert von der Verpflichtung auf die Realität emanzipiert. Hier ist in Form einer makabren Groteske eine Utopie des Ästhetischen eröffnet, die konsequenterweise im Szenar mit dem Tod des Todes endet: das sechste Tableau vor der Apotheose wurde von Champfleury »Mort de la Mort!« betitelt und zeigt die Ermordung des Todes. Gerard de Nerval hatte an Gautiers Stelle die Kritik zum Stück verfasst und es anhand der besonderen makabren Note zum Exempel moderner Bewusstseinslage bestimmt: Pierrot faisant danser les morts aus son d une violon enrouee, cetait une idee romanesque sans doute, mais d une valeur objective incontestable. Lä se reaJisait, ä priori, l'argument qui, selon l'auteur, devait amener, ä posteriori, cette audacieuse conclusion intitulee par lui »Mort le la Mort.< Du moment que la Mort s'amuse ä ecouter les violons, eile est vaincue [...]. Au reste, la philosophie moderne n'a rien formule de plus clair que cette pantomime en sept tableaux.446
442 443 444 445 446
Champfleury, Souvenirs des Funambules, S. 54. Vgl. Champfleury, Souvenirs des Funambules, S. Vgl. Champfleury, Souvenirs des Funambules, S. 55f. Champfleury, Souvenirs des Funambules, S. 57f. [Gerard de Nerval], in Gautier, L'Art dramatique IV, S. 342. Die Kritik ist den Gautierschen
2
33
Worauf die Tendenz dieser romantischen Modernität ausgeht, verrät Champfleury selber in der Broschüre zur Auffuhrung, ebenfalls von De Nerval zitiert: L'homme spirituel
[...] se debarrassera definitivement de la Mort; il tuera, il ecrasera la M o r t pour
arriver ä des destinees superieures: alors il sera delivre des conditions materielles et relatives qui arretent ses progres; les facultes psychologiques ou physiques, seules connues et etudiees jusqu'ici, se transformeront en facultis hyperphysiques; et l'esprit jouira de toute sa spontaneite creatrice. 447
Diese Selbstaussage entspricht passgenau dem Urteil, das Champfleury über das kreative Potenzial der grotesken Karikatur ä la Brueghel abgegeben hatte: Die dort veranschlagte Emanzipation des Komischen (als eines genuin ästhetischen Distanzierungsgestus) von der Realität erhält innerhalb des romantischen Kontextes dort ihre stärkste Emphase, wo sie auch ausgesprochen prekäre Gehalte zu transformieren in der Lage ist und sie zu Lachenerregendem umzuschreiben versteht. In der neuen Pantomime, der makabren Groteske, die Realität und Fantastik kontaminiert, betreibt Champfleury so eine konsequente Entpflichtung der Bühne von allen realen Vorgaben, seien sie psychologischer oder physischer Natur, zugunsten des freien Spiels der Kreativität. Dies aber in programmatischer Form: Champfleurys rationalistische Literarisierung der überkommenen Pantomime hat, das wird an dieser Stelle deutlich, vorrangig den Sinn, das überkommene Genre von seiner vormaligen Unbeschwertheit zu befreien und als Vehikel eines emanzipierten Bewusstseins zu etablieren. De Nerval hat dementsprechend die Frage, wer denn dieser von Champfleury so emphatisch herausgestellte ihomme spirituel· sei, ebenso zielsicher wie lapidar beantwortet: »C'est assurement l'auteur.« 448 Die von Champfleury erstrebte Reinigung der Pantomime vom Wunderbaren darf somit auch als Einspruch gegen ein groteskes Spiel gewertet werden, dass die Außerkraftsetzung realer und rationaler Zuschreibungen zwar konsequent, aber rein im Verlass auf überkommene genretypische Versatzmuster und damit unptogrammatisch betreibt. Wo Gautier der traditionellen Pantomime auf dem Wege der Interpretation bereits ein modernes Substrat extrahiert hatte, setzt sich bei Champfleury dieser Anspruch ins Offensive einer besonderen modernen Schreib- und Gestaltungsweise und ihrer emanzipativen Emphase um: Der szenische Raum, der hier konturiert wird, ist seiner pragmatischen und funktionalen Verrechnung nach Maßgabe von Sinn, Geschichte und Gehalt, aber auch unter der Perspektive von Natur und organischem Körper inkommensurabel. Er ist artifizieller Raum, der reine subjektive Bewusstseinsimplikate szenisch verwirklicht. Diese haben vorrangig im Motivrepertoire um den exzentrisch verunstalteten Körper ihren visuellen Fluchtpunkt, markiert dieser doch zum einen eine neue transgressive, tabubrechende Qualität, zum anderen lässt sich an ihm das Experimentierfeld für eine Umschreibung der Wirklichkeit ins Formalästhetische abstecken.
Kritiken subsumiert. Vgl. zur Verfasserschaft D e Nervals: Champfleury, Souvenirs des Funambules, S. 13 und 17; sowie Pericaud, Funambules, S. 298. 447
[Gerard de Nerval], in Gautier, L'Art dramatique IV, S. 339.
448
[Gerard de Nerval], in Gautier IV, S. 339.
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Deutlich bedient sich Champfleury ausgesprochen schockanter Reperspektivierungen des überkommen Szenenrepertoires. Bereits der Einsatz des Kindersarges verriet ein Interesse daran, eine komische Szene durch ein unter keinen Umständen mehr mit heiterem Lachen zu quittierendes heterogenes Element abzuschatten. Auch entlang einer traditionellen stereotypen Szenenlogik betreibt Champfleury diese makabre Überbietung. Die klassische Szene, in der die komische Figur versucht, ein schreiendes Baby zu beruhigen, gerät ihm in Monsieur et Madame Polichinelle, ou les Souffrances d'une Arne en peint*49 zu einem provokativ auf Verstörung zielenden Akt: Le pauvre petit fait ses dents; il souffre. A u lieu d'apaiser ses cris, le pere denature boit, chante et jette son fils le nez contre la muraille. 4 5 0
Im Konnex von literarischer Programmatik und makabrer Groteske zeichnet sich bei Champfleury bereits das Paradigma der »ästhetischen Lust an dem finsteren Moment der Kunst« als eigentliche Fähigkeit des Standhaltens< gegenüber der Realität ab, welches Adorno zum kritischen Impakt der Modernität bestimmt hatte. Auf die Frage, was seine Szenare auszeichne, antwortete Champfleury dementsprechend nicht nur mit der Absage an jegliche zeitliche und topographische Verortbarkeit: »ca ne se passe nulle part.«, sondern auch mit der Priorität des Fantastischen: hier nicht im Gegensatz zu seinem Rationalismus und Realismus, sondern als deren radikale Konsequenz, nämlich im Sinne eines strikt subjektiven, konstruktiven und vor allem gezielten ästhetischen Umbildungs- und Transformationsgestus gegenüber realen und natürlichen Parametern: mes personnages sont fantasque, tout ce qui est avec eux devient fantasque; [ . . . ] Si, dans la vie reelle, l'individu se moule sur la nature, dans la pantomime, c'est la nature qui se moule sur I'individu. 451
Deutlicher lässt sich der Wille zur auktoriellen Umschreibung der Realität und zur Vorrangigkeit des ästhetischen Raumes vor der Natur nicht formulieren. Es ist dabei hervorzuheben: Champfleury lässt sich nicht auf eine utopistische Argumentation ein, die in der szenisch vollzogenen Transformation zugleich die reale Möglichkeit entwirft. Es geht nicht um ästhetisch vermittelte Utopie, sondern um das Ästhetische als Utopos, dessen reine Artifizialität unter keinen Umständen mit der Realität abgeglichen werden kann. Während das auf die realistische Beglaubigung setzende zeitgenössische Theater »faux comme un jeton« sei, weil es Realität nachzuahmen sich anstrengt, sei die pantomimische Szene deshalb logisch und >wahrWahrheit des Unwahrem, um Adornos Diktum abzuwandeln, greift wiederum auf der doppelten Ebene: Er ist Einspruch gegen eine mimetische Verbindlichkeit des realen Faktums für die szenische Darstellung, zum anderen aber auch Aufweis des Defizits an metaphysischer und allegorischer Beglaubigung im Kontext des traditionellen Wunderbaren. Das lässt sich an der 1848 uraufgeführten Pantomime La Reine des Carotteveranschaulichen: Pierrot fungiert hier als Gärtner Cassandres, der zwar ein zärtliches Verhältnis zu seinen Zöglingen hat, diese aber nichtsdestotrotz - berufsbedingt - regelmäßig ausreißt, zerhackt und im großen Topf gart. Nicht verwunderlich, dass ihm im Traum die empörte Karottenkönigin erscheint und ihn vor den Folgen warnt, sollte er sein »metier d'assassin« fortsetzen. Und tatsächlich: Als er wieder einmal auf Cassandres Weisung Karotten kocht, ist das Maß voll... Es kann hier nicht die Pantomime in allen Einzelheiten analysiert werden. Sie bewegt sich in der Folge relativ konservativ entlang der von Champfleurys Vorgängern etablierten Linie von Irrungen und Wirrungen: Pierrot und Polichinelle geben die üblichen Verdächtigen (allerdings beutet Champfleury ihr Lastervokabular bis hin zur Anspielung auf eine versuchte Vergewaltigung, Mord und Totschlag aus454), Colombine und Arlequin sind das übliche Liebespaar, Cassandre kommt daher als der traditionelle komische Alte. Jedoch bei aller >TraditionalitätDämonischen< klingt an, dass diese angelsächsische Variante ästhetischer Transgression und Transformation eine >dunkle< Seite, deren allmähliches Heraufdämmern eine Änderung des Diskurses um die faszinierenden Aspekte eines gleichsam verabsolutierten Komischen einleitete. Die französische Kritik erkennt in der dieser gleichsam ans Absolute reichenden Hyperbolisierung immer mehr eine Tendenz, ästhetische Inkommensurabilien zu verfassen, die dem Zuschauer zwar Lust bereiten, deren zutiefst verstörende, weil nicht mehr sinnvoll rückprojizierbare Phänomenalität jedoch einem den Spielszenen immanenten Gewaltimpakt auf den Betrachter gleichkommen: Die clowneske tour deforce sans but et sans regle avanciert zum eigentlichen Paradigma des grotesken Zusammenhangs von Komik und Schrecken und zum Gegenstand von Lachen und Bestürzung. Die Relation von moderner Bühnendarstellung und ästhetischem Gewaltsubstrat konstituiert sich dabei am zunehmend stärker reflektierten Zusammenhang von technischer Zirkusclown-Perfektion und dem ebenso durch sie zustande kommenden schockanten Eindruck des Deformativen innerhalb der Pantomime. Was im Zirkus als akrobatische Meisterleistung betrachtet werden kann, stellt durch seine Implementierung in den narrativen Verlauf des stummen Spiels, das ja, trotz seiner hochabstrahiven Tendenz, immer auch an die Prämisse der wiederholenden Darstellung des Lasterhaften und Unmoralischen gebunden ist, einen Problemfall dar. Im Hinblick auf die Funambules-V&ntommitr\ konnte bereits eine strukturelle Tendenz zur Loslösung der deformativen Ausdrucksebene von ihrem Inhalt festgestellt werden. Das Laster avancierte zum performativen Kunststück. Diese Artifizialisierung, diese Veräußerlichung des Prekären erhält nun mit dem englischen Extrem eine ganz neue Dimension: Eine Theatralität der Gewalt, wie die Funambules-Szenen sie bereist grundgelegt haben, wird nun vollends etabliert. Der in der technischen Perfektion des akrobatischen Aktes indizierte Wille zur geplanten Übertreibung resultiert in einer offensiv zur Schau gestellten Unnatürlichkeit des Ausdrucks des jeweiligen Lasters, die die verweisende Referenz der komischen Verzerrung auf einen empirischen Gegenstand jedweder Art von innen aushöhlt. Gautiers eben analysierte Einlassungen zum Zirkus datieren aus den Jahren 1838 und 1844. Bereits in den 50er Jahren reflektierte er - angesichts der englischen Pantomime Harlequin et Hudibras - auf die wesentliche Differenzqualität des englischen Clowns innerhalb des stummen Spiels. Dieser unterscheide sich, wie Champfleury bereits kritisch vermerkt hatte, von seinen harmlos-lustigen Kollegen Harlequin, Hudibras und Colombine anhand der körperlichen Intensität, mit der er jede Bewegung und jede Handlung ins Unmögliche übertreibt: Ein Händeschütteln mit ihm bezahlt der oder die Unglückliche generell mit dem Ausrenken der Schulter; vor seinem Drang zum Fressen und
Es gilt darauf hinzuweisen, dass dies Form des Clownesken, bzw. der Impakt, den sie auf die ästhetische Theorie entfaltete, in England selbst so gut wie keine Entsprechung fand. Vgl. dazu Simon, Planere, S. 53.
242
Saufen - Erblaster der komischen Figur — sind auch Geschirr, Flaschen und Tafelmobiliar nicht mehr sicher.'3 Gautier spielt hier nicht mehr auf die reine Artifizialität der komischen Figur an, wie noch bei der Hymne auf Lawrence und Redisha, sondern seine Beschreibung stellt auf die extreme Spannung zum realen Vorbild ab, in die sich die clownseke Übertreibung qua Gewaltgeste begibt. Im englischen Stil wird die mimetische Forderung vollends unterlaufen: Die Verzerrung emanzipiert sich von der empirischen und der symbolischen Relation überhaupt, sie markiert eine mit dem Prinzip des Sinnvollen wie des Sinnlichen gleichermaßen nicht mehr in Einklang zu bringende > Lasterhaftigkeit!, die sich im Hyperbolen daselbst ergeht. Die traditionelle Fress- und Gewaltlust des Pierrot terminiert so in einem - vom Standpunkt des >komischen Zwecks< aus gesehen - völlig unökonomischen und durchaus erschreckenden Exzess. Darin formuliert sich als eigentliche ästhetische Sensation der größtmögliche Abstand von der empirischen Realität und der Pragmatik einer funktionalen Geste. Der traditionelle Trieb sowie die komischen Charakterzüge sind von inhaltlichen Beglaubigungsvehikeln zu formalen Generatoren avanciert, die die Dynamik der Szene garantieren und das Auge affizieren. Wenn der formale Bezug zur Mimese in dieser performativen Darbietung nicht völlig aufgegeben wird, dann deshalb, weil der Eindruck der aggressiven Aneignung und gewaltsamen Transformation realer Gehalte und Materialien zu einer ästhetischen Phänomenologie des Schrecklichen schlechthin erhoben wird. Edmont de Gouncourt, dessen eigene pantomimische Versuche eher harmlos (sogar im Vergleich zu denen des französischen Pierrot) wirken, hebt später dementsprechend den terreur-Aspekt der englischen Pantomimen besonders hervor: Elle n'est plus du tout l'ironie sarcastique d un pierrot ä la tete de plätre, un oeil ferme, et du rire dans un seul coin de la bouche; eile a meme rejete la fancastique hoffmannesque et le surnaturel bourgeois dont eile avait, un moment, habille ses inventations. Elle s'est faite terrifiante.'4
Neben dem mimetischen Zwang wird auch die herkömmliche metaphysische Beglaubigung des Unnatürlichen verabschiedet. Ebenso offenbar greift die noble Distanziertheit als Lizenz fur einen spielerisch-amüsierten Umgang mit dem Artifiziellen - etwa unter dem Etikett des Wunderbaren — nicht mehr. Aber auch die noble Raffinesse Deburaus ist aufgegeben. Stattdessen stellt sich in der extremem Vergrößerung der ästhetische Aneignungsgestus selber aus. Wie De Goncourt schaudernd schreibt: Im aggressiven Ausgriff auf die gesellschaftliche Realität sowie auf die empirischen Grenzen des menschlichen Verhaltens und des Körpers verkommen diese zur Beute (proie), des »humour de terribles caricaturistes«'5, werden sie artifiziell vergrößert und exzentrisch ausgestellt. Diese Transformation selbst gewinnt ästhetische Qualität und sie lässt zugleich einen immanenten Zynismus gegenüber realen Wertigkeiten verzeichnen. In der Konsequenz dieser ganz
13
Vgl. Theophile Gautier: Harlequin et Hudibras. In: La Presse, 8. August 1853.
14
E d m o n d de Goncourt: Les Freres Zemganno. Neaple 1981, S. H3f.
's
D e Goncourt, Zemgannon, S. 114.
243
spezifischen paradoxalen Relation von Restmimesis und Kreation entsteht der Eindruck einer ganz eigenen Realität des Theatralen, einer spezifischen »diabolique realitd«.16 Im Sinne einer irritierenden ästhetischen Gegen-Realität, in der die Delectare-Vlämisse des amuser l'oeil offensiv verabschiedet ist: Ihre genuinen Qualitäten sind die verstörende Überraschung, das Erschreckende und sogar der Schmerz. Wirkungs-Qualitäten, die keinerlei transitive, d.h. außerhalb des ästhetischen Eindrucks verwertbare Dimensionierung besitzen und auch nicht mehr unbedingt an die inhaltliche Schreckensmotivik gebunden sind.' 7 Der eigentliche theoretische Diskurs um eine der Pantomimenkunst immanente Gewaltdimension, die kaum noch eine außerästhetische Adressierung besitzt, wird — was nicht unbedingt verwundert - vom bedeutendsten Vertreter einer dunklen Romantik etabliert: Baudelaire. Für unsere Perspektive ist dabei von entscheidender Bedeutung, dass in diesem Zusammenhang zum ersten Mal explizit, dezidiert und systematisch die Kategorie des Grotesken bemüht wird. Sie dient einerseits zur ästhetischen Qualifizierung der pantomimischen Darstellung, wie sie andererseits an dieser eine Profilierung erfährt, die ihren theoretischen Reflex auch im Bezug auf andere künstlerische Genres verzeichnen lässt. Diesen komplexen Relationen sowie der Frage nach ihrer Wertigkeit fur eine moderne Ästhetik generell wie für eine groteske Theatralität im Besonderen soll im Folgenden nachgegangen werden.
2.
Baudelaires comic absolu und die englische Pantomime als dessen Paradigma
2.1.
Beitrag zur Pathologie der Moderne: Das satanische Lachen
Charles Baudelaire unternahm in einem für die ästhetische Theorie der Moderne hochbedeutsamen Beitrag den Versuch, eine moderne Form des Komischen und des ihm gemäßen Lachens von dem, was als traditionelle komische Übereinkunft zwischen Künstler und Rezipient gehandelt wurde, abzugrenzen. Der Fokus, den der Aufsatz De l'Essence du Rire verfolgt, steht dabei geradezu paradigmatisch für das vollständige Einmünden der französischen Romantik in das Konzept ästhetischer Modernität einschließlich der Selbstreflexion ihrer künstlerischen Mittel und Verfahrensweisen.'8 Die für den französischen Diskurs im engeren Sinne von Hugo initiierte und nicht zuletzt über Gautier tradierte Linie einer Ästhetik des Difformen wird bei Baudelaire erstmalig aus einer ihr immer schon impliziten Problematik systematisch heraus gefasst und in der Folge mit der eigenen modernistischen Programmatik zur Deckung gebracht. Dezidiert am Begriff
16 17 18
244
De Goncourt, Zemganno, S. 114. Vgl. Goncourt, Zemganno, S. 114 sowie S. 115. Adorno hatte Baudelaire entsprechend als diejenige Zentralgestalt der Ästhetik des 19. Jahrhunderts bestimmt, bei dem sich Moderne zum aller ersten Mal theoretisch artikuliert. Vgl. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 38.
des Komischen versucht Baudelaire nämlich nachzuweisen, dass und inwieweit genuin repulsive Gegenstände zugleich ästhetische Lust zu evozieren vermögen. Seine Eingangsperspektive ist denn auch die folgende: Chose curieuse et vraiment digne d'attention que l'introduction de cet element insaisissable du beau jusque dans les oeuvres destinies ä reprisenter ä l'homme sa propre laideur morale et physique! Et chose non moins mysterieuse, ce spectacle lamentable excite en lui une hilarite immortelle et incorrigible. Voilä done le veritable sujet de cet article. 15
Es fällt auf, wie eindeutig Baudelaire bemüht ist, die traditionelle Bestimmung des Schönen im Sinne einer angenehme Wirkungen erzeugenden Qualität gerade auch im Angesicht der Deformation beizubehalten. Die von ihm exemplarisch vertretene Modernität wird hier im Eigentlichen als eine Programmatik der Transposition hergebrachter Kategorien in den Wahrnehmungskontext der Moderne fassbar. 10 Es ist nur konsequent, wenn Baudelaire dermaßen zum wesentlichen Modus des ästhetischen Vergnügens angesichts des Hässlichen das Komische bestimmt. In der Tat fasst er so noch einmal den gesamten Kontext der bis dato bestehenden Theorien des Komischen und ihrer Schwierigkeiten zusammen: Die klassischen Bestimmungen, wie sie nicht zuletzt im Umkreis des deutschen Idealismus geliefert wurden, hatten den eigentlichen ästhetischen Reiz des Komischen in einem elevatorischen Impuls gegenüber dem Hässlichen bestimmt. (Baudelaire macht im Folgenden deutlich, dass er ein solchermaßen als Ausdruck der Nichtigkeit eines hässlichen Objekts gefasstes Komisches auch als eigentliches Charakteristikum der offiziellen französischen Lachkultur ansieht.21) Bereits Hegel war jedoch dort implizit in die theoretische Aporie geraten, wo er über die Sublimationsleistung des Komischen hinaus den wesentlichen Anteil künstlerischen Gestaltens am Zustandekommen der komischen Deformation allererst erklären und legitimieren musste. In der Tat hatte Hegel die am Komischen manifestierte subjektive Verfügungsgewalt über ein zum Spielmaterial gewordenes Objektives als wesentliches Indiz avancierten romantischen Bewusstseins gefasst, es dermaßen hochgewertet, zugleich aber darin das Ende der Kunst erblickt. Sein - im Kontext der Epochen-Systematik stimmiger - Argwohn, das Spiel einer substanzlosen Subjektivität münde in eine prekäre Emanzipation des künstlerischen Gestaltens mit einer Tendenz auf die Verfassung nicht mehr bewusstseinsmäßig integrierbarer Gegenstände hatte Hegel letztlich zum Verdikt über eine moderne Ästhetik des Grotesken verführt. Baudelaire setzt eine solche Reflexionslinie formal fort, erschließt aber verstärkt das eigentliche prekäre Moment einer avancierten Subjektivität: Ein Mehr an Reflexion bedeutet auch ihm generell eine gesteigerte Verfügungsgewalt, welcher er aber weitaus spezifischer das genuin grausame Moment unterstellt.
19
Charles Baudelaire: D e PEssence du Rire et generalement du Comique dans les Arts plastiques. In: Charles Baudelaire: CEuvres completes: Curiosites esthetiques. Paris 1923, S. 369—396, S. 370.
20
Vgl. dazu: Theodor W . Adorno: M i n i m a Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a.M. 1951, S. 316-321 (Extrablatt). Adorno verbindet hier Baudelaires Hässlichkeitsbegriff mit seinem Konzept ästhetischer Modernität.
21
Dabei zielt er vor allem auf eine satirisch-moralisierende Form des Komischen ab. Vgl. die folgende Argumentation.
2
45
Die Volte, die Baudelaire, um seine eigene moderne Version des Komischen abzugrenzen, zu Beginn seines Textes gegen eine klassische >Orthodoxie des Lachens< führt, macht denn auch zentral am Umstand der im Komischen geleisteten Uberhebung über einen deformierten Gegenstand fest: Die epochale Dimension gewinnt Baudelaire dieser Überhebung ab, wenn er sie, übrigens ganz parallel zu Hegels Theorem vom selbstreflexiven Subjekt wie zu Hugos Bestimmung des modernen Seele-Leib-Dualismus, als Ergebnis einer spezifisch modernen Reflexionsform mit dem Fortschritt des Geistes im Zuge der Christianisierung in Zusammenhang bringt. Das Surplus an Reflexion: »notre force intellectuelle generale«22, das mit dem christlichen Dualismus in die Welt gekommen sei, führe zu einem Gefühl der Überlegenheit angesichts jeglicher Abweichung vom itat normale·. Während die reine Freude ein einheitliches Gefühl sei, gerät das Lachen zum sprechendsten Indiz einer >Pathologie< der Moderne, weil es sich stets aus einer Kontradiktorik (von Subjekt und Objekt der Überhebung) herleite: Le rire n'est qu'une expression, un Symptome, un diagnostic. Symptome de quoi? Voilä la question. La joie est une. Le rire est l'expression d un sentiment double, ou contradictoire; c'est pour cela qu'il y a convulsion. 1 '
Baudelaire lässt im Laufe seiner Analyse keinen Zweifel daran, dass er das Lachen selbst unter der Perspektive des Hässlichen verzeichnet. Nicht nur aufgrund der körperlichen Konvulsionen in denen es sich manifestiert, dem leiblichen Ausbruch, der das Gesicht deformiert 24 , gilt es ihm generell als »monstrueux phenomene«25. Vielmehr spielt Baudelaire auf die prekäre moralische Disposition des Lachenden an: Lachen als Symptom einer Überhebung ist immer Ausdruck einer >bösenbösen< Etikettierung im Eigentlichen und zum ersten Mal innerhalb der Theorie des Komischen zu leisten versucht, ist nichts anderes als eine veritable Erschließung des Grausamkeits- und Gewaltsubstrats desjenigen Lachens, das sich klassischerweise als Vollzugsform einer avancierten, ihrer selbst bewussten Subjektivität positiv bestimmt hatte. Das Komische als satanisches Prinzip schlechthin ergibt sich als dunkle, genuin böse Seite einer Elevation des Geistes.
22 23 24 25 16 27 28
246
Baudelaire, Essence, S. 381. Baudelaire, Essence, S. 383. Vgl. Baudelaire, Essence, S. 373. Baudelaire, Essence, S. 376. Baudelaire, Essence, S. 37VIOLENCEsans gradation, sans transition sind die roten Flecken auf das weiße Gesicht aufgemalt und treten als solche hervor, der Mund ist zur Tangente des Mimischen verlängert. Das Enorme ihrer Teile fuhrt dazu, dass die physische Erscheinung des Clowns - als natürlicher Körper von vorneherein nicht mehr anwesend - vollends in einem abstrakten Gegeneinanderspiel einzelner Elemente wird und darin quasi verschwindet zugunsten in Bewegung gesetzter geometrischer Struktur-Koordinaten von Klein und Rund, Weiß und Rot, Wange und Mund etc. Innerhalb dieser Struktur zeichnet sich »Ausdruck« offensichtlich als jeweils frappanter Oberflächeneffekt ab: Das Lachen >jusqu 'aux oreilles< lässt die mimische Äußerung zu einem Querschnitt durch das Feld des >Gesichts< werden, an dem nichts mehr >natürlich< und nichts mehr wirklich >sinnlich< ist. Das Differenzprinzip ist nicht mehr im Sinne einer über die Figur integrierten Abfolge des Unterschiedenen, wie noch bei Deburau, realisiert, sondern es bestimmt sich weitaus radikaler: Der englische Clown erlaubt keine figurale Synthese mehr, er besteht nur noch aus intensiv auf den Betrachter wirkenden Differenzen, ja, er ist diese Differenz als dynamische Erscheinungsweise des Clownesken. Die Gewaltsamkeit, von der Baudelaire spricht, wird hier zum einen als Gewalt einer Transformation des Realen ins rein Artifizielle fassbar, als eine - im rein ästhetischen Sinne - Ver-Gewaltigung des menschlichen Körpers durch die ihm auferlegten nichtorganischen Kostüm- und Maskenteile sowie durch deren formale Relationen. Zum anderen aber hat das Gewaltsame der Struktur offensichtlich einen dynamischen Impakt auch auf den Zuschauer: Bereits das Auftreten des Clowns ist als explosiver, in seiner Lach-Exzentrik erschütternder Coup inszeniert. Baudelaire spricht konsequenterweise in Bezug auf das Zustandekommen des wahren Komischen an anderer Stelle von »emanation, explosion«94 und meint damit die Phänomenalität des Artifizellen als einer grundlegendem Abweichung von jeglichem Organischen, Natürlichen oder Realistischen. Dieses Desiderat löst die Clownsgestalt offensichtlich paradigmatisch ein. Baudelaire bringt diese theatrale Explosivität des englischen Clowns nicht nur gegen die Ruhe des französischen Pierrot in Anschlag, sondern auch gegen dessen »Mysteriöses«: Damit ist der Möglichkeit jeglicher außerästhetischen Relationierbarkeit und vor allem einer assoziativ-tiefensemantischen Befrachtung der englischen Figur eine Absage erteilt. Die > realite saississante· der englischen Pantomime entspricht einer völligen Eigenwertigkeit des hic et nunc Präsentierten, einer rein szenenimmanent sich vollziehenden Ereignishaftigkeit, die gerade darin, dass sie keinerlei satirische aber auch allegorische Adressierung besitzt, schockant wirkt: aggressiver Einbruch in das Wahrnehmungsfeld, ein sich fortlaufend potenzierender Einschnitt in die Pragmatik des Sehens, der unter keinen Umständen mehr bewusstseinsmäßig oder auf emphatischem Wege integriert werden kann. 95
94 95
Baudelaire, Essence, S. 395. Die Baudelairesche Auffassung von dieser besonderen szenischen
realite'beweist
übrigens stärkste
Affinität zu einer Bemerkung Theophile Gautiers, der im Hinblick auf den mittlerweile zum europäischen Vergleichsparadigma avancierten karikaturistischen Gestus
262
ä la £. T.A. Hoffinann
Diese Phänomenalität ist es, der die englischen P a n t o m i m e n auszeichnet u n d der das Gewaltsame ihrer Präsenz ausmacht. A n ihr manifestiert sich, auch w e n n ein mimetischer G r u n d d u k t u s nach wie vor resthaft zu verzeichnen ist - die Kunstkreaturen, sie fressen, sie saufen, sie stehlen - eine weitaus größere Abstandnahme von der Realität, als er der herkömmlichen französischen P a n t o m i m e beikommt. Gewann diese ihre komische W i r k u n g vor allem daraus, auf für die Darstellung tabuisierte Bereiche der Realität - mit einem W o r t : das Lasterhafte - auszugreifen, also die mimetische Lizenz auszudehnen, u m daraus ästhetischen Mehrwert für die virtuose Darstellung zu erschließen, so wird der englische Clown grotesk darin, dass er durch die unglaubliche Exzentrik seiner Verformung diese inhaltliche Beziehung zu einer heteronomen Realität weitaus radikaler aufkündigt. Was die W i r k u n g seiner im wahrsten Sinne monströsen Attitüden ausmacht, ist, dass die Ubertreibung nicht nur - der beschriebene Auftritt belegt das - des Lastermotivs gar nicht mehr bedarf, u m W i r k u n g zu erzielen, sondern es dort, wo es inszeniert wird, selbst in der Differenz aufgehen lässt. Es bricht sich als fokussierbare Größe u n d judizierbares T h e m a an der grandiosen theatralen Erscheinungsqualität. W o somit die Gewalt, die Baudelaire im Hinblick auf die englische Pantomime meint, an die nicht bewusstseinsmäßig integrierbare Dynamik der clownesken Erscheinung selbst gebunden ist, fuhrt sie zu einer besonderen Lachantwort als Ausdruck der Einlassung auf diese radikale ästhetische Distanz. Baudelaire hatte den Doublebind ν on ästhetischer Lust am Inkommensurabel-Clownesken u n d tiefgreifender Irritation in einer Erweiterung seines auf Intuition abstellenden Lachbegriffes gefasst: D e r »spasme involontaire« 9 6 , den er jedem Lachen unterstellt, steigert sich angesichts des Grotesken in ein »rire violent« 97 und in Ansicht der englischen P a n t o m i m e in eine »ivresse de rire, quelque chose de terrible et d'irresistible.« 98 Der - vom Hegeischen Standpunkt aus >haltlose< - Zwangscharakter des Lachens ist in seiner Konformität mit der Chaotik der Szene verabsolutiert u n d erhält eine prekäre Dimensionierung. Das Schreckliche des Lachens, seine katastrophische W i r k u n g auf Körper u n d Geist ist nicht nur Resultat der Konfrontation mit d e m Irritierenden des Pantomimentheaters, es tritt als desintegrierendes Phänomen in engste Strukturanalogie zu diesem. 9 9
von einer »monde inoui, impossible et cependant reel« spricht und darin einmal eine unhintergehbare Beziehung des Fantastischen zur vorgefunden Realität, wie zum anderen die verstörende Wirkung der deformierenden In-Szene-Setzung dieser Realität erfasst. Vgl. Gautier, hier zit. nach: Marcandier-Collard, Scenes capitales, S. zi8/Anm. 3. Auch Baudelaire analysiert nach seiner Beschreibung der englischen Pantomime die Texte Hoffmanns, und zwar ebenfalls unter der bei den Engländern veranschlagten Perspektive. Vgl. Baudelaire, Essence, S. 393fr. Baudelaire, Essence, S. 377. Baudelaire, Essence, S. 383. Baudelaire, Essence, S. 390. Dass dieses Lachen Baudelaires generellem Konzept von Wirkmächtigkeit des Künstlichen entspricht, zeigt sich, wenn er im Bezug auf die Gedichte Poes das strikt an den Verlauf von deren Rezeption gebundene enlevement de l'äme als einen »etat singulier« beschreibt »dans laquel l'äme 263
2.4.2. le vertige. Reine Dynamik als Strukturprinzip der englischen Szene mit Rückblick auf den deutschen Diskurs Nun zeichnet sich in Baudelaires Beschreibung ein weiterer gewichtiger Aspekt der englischen Pantomime ab: Ebenso, wie die Engländer durch ihre reine Erscheinung frappierende Wirkung erzielen, so implantieren sie den Pantomimen verstärkt ein akrobatisches Moment. Die auch hierin zu Tage tretende spezifische Relation von szenischem Hyperbolismus und gewaltsamem Impakt verdeutlicht Baudelaire, wo er den weiteren Fortgang der Pantomime beschreibt: Es kommt zu einem wahren Feuerwerk, einem Taumel an Bewegungen, die offensichtlich nicht mehr von Darstellungsabsicht getragen sind, sondern diese durch das Prinzip einer selbstwertigen Artistik ersetzten, in der der menschliche Körper wiederum als in unorganische Bewegung versetzte artifizielle Größe die wesentliche Rolle spielt: Aussitöt le vertige est entri, le vertige circule dans I'air; on respire le vertige; c'est le vertige qui remplit les poumons et renouvelle le sang dans le ventricule. Qu'est-ce que ce vertige? C'est le comique absolu; il s'est emparc de chaque etre. Leandre, Pierrot, Cassandre, font des gestes extraordinaires, qui demontrent clairement qu'ils se sentent introduits de force dans une existence nouvelle. Iis n'en ont pas l'air fache. Iis s'exercent aux grands d&atres et ä la destinee tumultueuse qui les attends, comme quelqu'un qui crache dans ses mains et les frotte l'une contre I'autre avant de faire une action d'eclat. Iis font le moulinet avec leurs bras, ils ressemblent ä des moulins ä vent tourmentes par la tempete. C'est sans doute pour assouplir leurs jointure, ils en auront besoin. T o u t cela s'opere avec des gros eclats de rire, pleins d'un vaste contentement; puis ils sautent les uns par-dessus les autres, et leur agilite et leur aptitude etant bien düment constatces, suit un eblouissant bouquet de coups de pied, de coups de poing et de soufflets qui font e tapage et la lumiere d'une artillerie; mais tout cela est sans rancune. Tous leurs gestes, tous leurs cris, toutes leurs mines disent: La fee l'a voulu, la destinee nous precipite, je ne m'en afflige pas, allons! elan^ons-nous! Et ils s'elancent ί travers l'oeuvre fantastique, qui, £t proprement parier, ne commence que lä, c'est-ä-dire sur la frontiere du merveilleux 1 0 0
Baudelaire betont, dass die gezeigten cascades ohne alle Bosheit (nans rancuneZweck< zu verstehen, sondern nur noch als Differenz wahrzunehmen, als Abweichung zu registrieren. Die von Baudelaire auch für den Betrachter veranschlagte >Uberhebung< über die Natur hat dementsprechend auch nichts mehr mit einer gesteigerten Erkenntnis, einem Durchdringen oder gar einer bewusstseinsmäßigen Aneignung des Heteronomen zu tun. Sie meint ausschließlich das Beharren auf einer absolut gewordenen Differenz zum Herkömmlichen, Normalen und Natürlichen als Modus des ästhetischen Genusses schlechthin. Paul de Man, der vom literaturwissenschaftlichen Standpunkt aus argumentiert und daher — nicht zu Unrecht - ein besonderes modernes Ironiekonzept bei Baudelaire verzeichnet sieht, hat ganz entsprechend auf den Umstand hingewiesen, dass der Baudelairesche Uberhebungsgestus seinerseits nicht transzendierbar ist, d.h. keinerlei inhaltliche Dimension, keine höhere Bedeutung mehr verzeichnen lasse: Wenn aber der Begriff der >Überlegenheit< auch noch dann verwendet wird, wenn das Ich nicht in einer Beziehung zu anderen Subjekten steht, sondern zu einem Ich, das kein selbstständiges Subjekt ist, dann ist die sogenannte Überlegenheit nur noch ein Zeichen der Distanz, die für alle Reflexionsakte konstitutiv ist. Überlegenheit und Unterlegenheit sind dann nur noch räumliche Metaphern [...]. 104
De Mans Interpretation lässt sich passgenau auf die von uns anvisierte Beziehung von theatraler Realität und Rezipient übertragen: Die angesprochene Distanz bedeutet die Konfrontation des Zuschauers mit Vorgängen, die vom diskursiv-pragmatischen Standpunkt aus sonderbar anmuten, er ist den Vorgängen auf der Bühne gegenüber- und ihnen zugleich ausgesetzt und kann sie nur noch als seinem Bewusstsein fremde Größe, als
103 104
266
Baudelaire, Essence, S. 396. Paul de Man: Allegorien des Lesens. Aus dem Amerikanischen von Werner Hamacher und Peter Krumme. Frankfurt a.M. 1988, S. 110.
radikale Abweichung wahrnehmen. Die in der Baudelairschen Pantomime konstituierte szenische Realität entspricht dermaßen einer, die »die Rückkehr zu der [...] Welt vermeidet, die die rein fiktionale Natur [ihres] eigenen Universums geltend macht und die radikale Differenz aufrechterhält, welche die Fiktion von der empirischen Realität trennt.«105 Entsprechend wird verständlich, dass auch für Baudelaire das resultierende Lachen nicht mehr lachendes Einvernehmen - im Hegeischen oder Bachtinschen Sinne - ist, sondern zwanghaften und durchaus auch hysterisch-krisenhaften Charakter hat. Es ist die impulshafte, das strukturelle Zusammenspiel von Affinität und Distanz, von Faszination und Irritation analogisierende, Reaktion auf die wahrgenommene Inkommensurabilität. Das absolute Komische reißt somit die Grenzen von Bewusstseinstatsachen und äußeren Sachverhalten ein: Alles vom Außen der Wahrnehmung ins Innere, sozusagen >vor das geistigen Auge< transportierte, bleibt dort als schiere Erscheinung erhalten und konfrontiert fortlaufend mit seiner Fremdartigkeit. Die konsequenterweise sowohl das äußere Geschehen als auch die Krise des Bewussteins beschreibende Figur des Taumels, ist dabei für Baudelaire offensichtlich von größter Bedeutung, projiziert sie doch das Differenz-Prinzip auf die zeitliche Verlaufsachse, nimmt dieser aber ihre klassische Finalität. De Man, der das Prinzip der modernen Ironie an seiner genuinen Temporalität, d.h. an der Instantialität und Transistorik des dauernden Bruchs bemisst106, hat daraufhingewiesen, dass die Ironie »[...] keine Figur der Erkenntnis und keine des subjektiven Bewußtseins [ist], denn sie erlaubt keinem Bewußtseinsinhalt und keiner Form des Vorstellens, sich in ihr auch nur fur die Dauer eines Augenblicks einzurichten.«107 Das wesentliche Prinzip des von Baudelaire beschriebenen szenischen Taumels ist die Erzeugung von >Überraschungvertige< anvisiert, kann so als Radikalisierung der Instantialität des komischen Falls angesehen werden, als dauernde Setzung von frappierenden Eindrücken, die dem apperzipierenden Subjekt nicht anders denn als äußeres Faktum der Irritation
'°s
D e M a i l , Allegorien, S. 115.
106
V g l . D e M a n , Allegorien, S. 11 (Einleitung von Werner Hamacher).
107
D e M a n , Allegorien, S. 12 (Einleitung von Werner Hamacher). sowie D e M a n , Allegorien, S. 118: »Hinsichtlich der Zeidichkeit gilt also hier, dass die Ironie eine zeitliche Folge von Bewusstseinsakten hervorbringt, die ohne Ende ist.« Diese ironische Transitorik ist bekanntermaßen bereits bei Schlegel dort anvisiert, w o er Ironie als >permanente Parekbase« bezeichnet.
108
V g l . dazu Horn, Komisches, S. 148fr.
•09 V g l . J e a n Pa u l in Horn, Komisches, S. 149.
267
zugänglich und damit genuin unaneigenbar ist. Diese Negativität »in der das Moment [...] der Authentizität unseres Weltgefiihls [...] in Frage gestellt«110 wird macht den absoluten und den gewaltsamen Charakter des Komischen aus, welches außer seiner eigenen selbstreferenten Dynamik keine weiteren äußeren Bezugspunkte hat. Wenn Baudelaire also den generellen Faden, der in der deutschen Romantik, bei Hoffmann und Jean Paul sowie bei Tieck, angesponnen wurde, aufnimmt, nämlich den Gedanken an ein (szenisches) Tempo-Prinzip, das den Betrachter ebenso fasziniert wie verwirrt und ihn so aus der Position eines Verstehend-Emphatisierenden gleichsam gewaltsam heraustreibt, dann besteht der wesentliche Unterschied zu den deutschen Gewährsleuten darin, dass er es dezidiert in Anbindung an eine Theaterform tut, in das > Wunderbarem Fantastische und auch >Schreckliche< der Komik nicht anders denn als Dynamik-Effekt daherkommt. Es ist in seiner Visualität diskursiv völlig unabgesichert und kein literarischer Kontext bietet dieser Form der szenischen Ironie mehr Halt. Das ironische Prinzip hat jedoch nicht nur die Größe des Sinns infiziert, es ist radikal auch in den Körper eingegangen, wie die unorganischen Metaphern Baudelaires belegen. Es verspielt im wahrsten Sinne die organische Realität des Leibes und mit ihr die Empirie von allem, was an außerästhetischem Material in den theatralen Raum eingeht. Es sei daran erinnert, dass die französische Rezeption einer deutschromantischen Schule des wunderbaren und fantastischen Komischen zentral über Mme de Stael eingeleitet wurde, die bereits im Jahre 1813 in De l'Allemagne von der dortigen »nouvelle ecole litteraire« gesprochen hatte, die sich dadurch auszeichnete, dass sie der fantastischen Imagination innerhalb ihrer Texte vorrangigen Platz gewähre, und zwar mit dem Ziel, die komischen Situationen zu vervielfältigen. Bereits dieses Komische war von jeder außerästhetischen Beglaubigung abgeschnitten, es handelte sich nach De Stael um ein »comique arbitraire a ce libre essor de toutes les pensees, sans frein et sans but determine«. Die entsprechenden Autoren seinen »frappes de la verve de gaiet^ [...] qui se joue de l'univers, au lieu de s'en tenir aux ridicules de telle ou teile classe de la societe. » m Aufs Stärkste ähneln diese Vorgaben Baudelaires Verve gegen ein signifikatives Komisches zugunsten eines Komischen als freiem Spiel ästhetischer Bezüge, das ersterem die fantastische, d.h. von jedem pragmatischen Bezug emanzipierte Note verleiht. Weiterhin: Bereits im Jahre 1814 war die Übersetzung von A.W. Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur erschienen. Schlegel wendet sich darin, wie gezeigt, dezidiert gegen eine didaktisch-moralistische Komik Molieres, von dem er nur die Farcen gelten lässt. Seine Version eines »selbstbewußten« Komischen »der Willkühr« hat stärkste Ähnlichkeit mit Baudelaires absolutem Komischen darin, dass es zum einen eine genuin denunziatorisch-satirische Signifikationstendenz verabschiedet und sich von ausgelassener Begeisterung herschreibt, zum anderen daran, dass Schlegel im Hinblick auf den - in diesem Fall literarischen - Urheber das Bild eines personalen Schismas verwendet, darin dessen ästhetische Spiel-Souveränität gegenüber der eigenen Realität verzeichnend. Die entsprechende Stelle sei nochmals zitiert:
110 111
268
de Man, Allegorien, S. 112. Madame de Stael: De l'Allemagne. Vol III. Paris nouv. ed. 1959. S. I97f.
Von dieser A n ist alles, was, ohne selbstische Anmaßung oder feindselige Neigungen, bloß aus dem Uebergewicht der Sinnlichkeit entspringt. Damit kann allerdings ein hoher Grad von Verstand verbunden seyn, und wenn die Person diesen auf sich zurückwendet, sich über sich selbst lustig macht, ihre Gebrechen gegen Andre eingesteht, aber durch scherzhafte Einkleidung sie damit auszusöhnen sucht, so entsteht das selbsbewußte Komische. Es setzt diese Art immer eine gewisse innere Verdoppelung in der Person voraus, und die überlegene Hälfte, welche die andre scherzhaft darstellt und verspottet, hat durch ihre Stimmung und ihr Geschäft eine nahe Verwandtschaft mit dem komischen Dichter selbst. Er überträgt seine Person zuweilen ganz an diesen Repräsentanten [...]. Dann entsteht daraus das Komische der Willkühr, das meist eine große Wirkung zu machen pflegt, wie sehr es auch die Kunstrichter herabsetzen mögen. 112
Auch Baudelaire setzt nun - im Sinne einer weiteren conditio sine qua non - für den komischen Autor die personale Doppelung in einen souveränen Teil und einen diesem unterworfenen Teil voraus, der letzterem zum spielerischen Anschauungsobjekt gerät: [...] il faut qu'il y ait deux etres en presence; - que c'est specialement le rieur, dans les spectateur, que git le comique; — que cependant, relativement ä cette loi d'ignorance, il faut faire une exception pour les hommes qui ont fait metier de developper en eux le sentiment du comique et de le tirer d'eux-memes pour le divertissement de leurs semblables, lequel phenomene rentre dans la classe de tous les phenomenes artistiques qui denotent dans l'etre humain l'existence d'une dualite permanente, la puissance d'etre ä la fois soi et un autre."'
Baudelaire äußert sich nicht explizit zu einer möglichen Einlösung dieser genuin selbstironischen Prämisse von Seiten des pantomimischen Akteurs: Es wurde aber bereits in der bisherigen Gesamtdiskussion klar, dass das stumme Spiel seit Deburau immer und in jedem Fall den technisch hochversierten und reflektierten Souverän voraussetzt, der seines akrobatisch bewegten Körpers und der entsprechenden gestischen, mimischen und kinetischen Verfahrenweisen Herr ist. Baudelaires unbedingte Voraussetzung, das Komische entstehe stets aus einem Schisma zwischen Leib und Seele/Geist, zwischen Subjekt und Objekt, gerät im Grotesken der Pantomime zum eigentlichen Fundament eines souveränen artistischen Einsatz des eigenen Körpers als Material und Ansatzobjekt für künstlerische Transformation. Dabei zielt Baudelaires Rede vom >divertissement darauf ab, den eigentlichen Zweck und das Ziel einer solchen Verfugung an deren >unterhaltende< Inszenesetzung daselbst zu delegieren, die einer - im engeren Sinne - darstellenden, d.h. verweisenden, narrativen Beglaubigung nicht mehr bedarf: Das deckt sich mit dem grundlegenden Darstellungsgestus der Pantomimen, die die jeweilige groteske Deformation als ästhetischen Eigenwert ausstellt, als Spiel, das auf seine eigene Artifizialität Bezug nimmt. Jedoch hatte Baudelaire auch den irritativen Charakter solcher Autonomie hervorgehoben, wenn er die Gewaltsamkeit des ästhetischen Eindrucks zum ersten Mal explizit als Impakt der artistischen Transformation des Körpers und der realen Materialien innerhalb des szenischen Raumes fasst, die schließlich in radikaler Differenz terminiert.
1,2
"5
A.W. Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Kritische Ausgabe eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Giovanni Vittorio Amoretti. Band I. Bonn und Leipzig 1923. S. 166. Vgl. A.W. Schlegel: Cours de litterature dramatique. 2 vol., Paris 1814, v.a. S. 298, S. 316, S. 315 und S. 330. Baudelaire, Essence, S. 395f.
269
Damit verifiziert er fiir die moderne Kunst und auch gerade die Theaterkunst eine ihnen genuine dimensione violentia. Diese wurde innerhalb des künstlerischen und des kunsttheoretischen Diskurses zumeist kaum reflektiert oder als prekärer Fond aufgearbeitet. Dieses Versäumnis gilt vor allem fair das 20. Jahrhundert und hängt damit zusammen, dass mit den Vorstößen der historischen Avantgarden und Pre-Avantgarden zumeist eine ideologische Aufladung - sozialkritischer, existentiell-anthropologischer oder metaphyischer etc. Art - des Modus ästhetischen Gestaltens und Abstrahierens betrieben wurde, der dessen genuine Gewaltsamkeit zumeist ausblendete oder weltanschaulich rechtfertigte. Demgegenüber gravitierte ein pantomimenspezifischer zeitgenössischer Diskurs des 19. Jahrhunderts, der sich mit der englischen Form der Pantomime befasste, ganz zentral um die Verbindung, die die Darstellung des Schrecklichen mit einer schrecklichen, d.h. in ihrer Differenzqualität hochbefremdlichen Darstellungsweise eingeht. In der Tat hat das exzentrische Beispiel der Engländer sowie der Deutschen innerhalb der französischen Theorie des Komischen generell Schule gemacht, was wohl auch auf Baudelaires Emphase zurückzuführen ist.114 Bereits im Jahre 1854, also im zeitlichen Umfeld der Aufführung, die von Baudelaire so euphorisch analysiert wurde, schreibt etwa Ratisbonne von einem genre de temperament sombre et fantastique, l'excentricite naturelle ou calculee qui passe sans transition d'un ordre d'iddes ä un autre, de la raison ä la deraison, du rire aux larmes, qui emploie les couleurs les plus disparates en prenant soin de ne pas les fondre et de les exagerer, la pensie detraque qui monte dans les nues, qui retombe par terre, qui se perd dans I'exstase, qui se cogne dans l'absurde, en un mot un pot-pourri de tristesse intemperante et de saillies folles, de profondeur et d'extravagances [...], les Anglais et les Allemands nous en effet donnd un des modeles du genre."5 Das, was Baudelaire in programmatischer Absicht, so luzide wie differenziert erfasst hat, musste jedoch zum Zeitpunkt der Abfassung des före-Textes in der Mitte des 19. Jahrhunderts seiner breiteren Rezeption und vor allem: seiner positiven Aufnahme im Hinblick auf das Theater noch harren. Die englische Pantomime avancierte zum eigentlichen >Export-Schlager< erst durch eine Truppe von Clown-Akrobaten, die seit den 70er Jahren Paris im wahrsten Sinne des Wortes unsicher machten: den Gebrüdern Hanlon-Lee. Erst im zeitgenössischen Diskurs um ihre Darbietungen entspann sich eine Diskussion nicht nur um die hohe Wertigkeit körperlicher Akrobatik innerhalb des pantomimischen Genres, sondern auch um das Prekäre einer selbstgenügsamen und dabei ganz zentral auf das Gewaltimplikat im Baudelaireschen Doppelsinn abstellenden clownesken Darstellung: Korporelle Extremakrobatik, Frappanz der Gesten und ein diabolisches Tempo werden zu ästhetischen Marken einer besonderen Pantomimenästhetik, in der das menschliche Element grundlegend verspielt wird. Dabei stellten diese monströsen Aufführungen ganz dezidiert auf die Ikonographie des Schrecklichen ab. Sie exponieren am Gewalt- Thema dessen formalästhetisches Gewaltsubstrat.
114 115
270
Ein möglicher Einfluss auf Bergson soll an entsprechender Stelle diskutiert werden. Louis Ratisbonne (Preface): P.-J. Stahl [Pierre-Jules Hetzel]: Contes et Etudes. Betes et Gens. Paris 1854, S. VIII.
3·
Die Hanlon-Lees: »les gens les plus interessantes que le siecle ait produit«" 6
Die berühmteste und ftir eine Theatralität des Grotesken wegweisendste Truppe englischer Clowns war die der irischstämmigen Gebrüder Hanlon-Lee, die im Jahre 1847 ihr Londoner Debüt in Madame Celeste's Adelphi Theater gegeben hatten und dann in wechselnden Abständen auch die Variete-Bühnen der französischen Hauptstadt bespielten."7 Erst an ihren Darbietungen wird der Zusammenhang von technisch perfektem Körperspiel und grotesker Deformation vollends als Trend ins Formale und damit in die theatrale Differenz reflektierbar. Gestiftet wird der Konnex nicht zuletzt über dasjenige Moment, das Adorno in der >Lust an den dunkelsten Momenten der Kunst< als entscheidendes Differenzkriterium moderner ästhetischer Entgrenzung verifiziert hatte: Die Pantomimen der Hanions zeichneten sich mehr als alles andere durch eine exzessive Ikonographie der Grausamkeit aus, die allerdings in einem ganz spezifischen Konvergenzverhältnis zu einem der theatralen Darbietung immanenten Potenzial an Intensität und Gewaltsamkeit stand. Dieser Aspekt bestimmt leitperspektivisch alle folgenden Ausführungen.
3.1.
Erste Annäherung an die Clown-Monster: D i e bedrohliche Erscheinung der theatralen Karikatur
Joris-Karl Huysmans, dessen Haltung zum Theater deutlich von der englischen Truppe beeinflusst ist" 8 , beschreibt in seinem Croquis Parisiens einen Auftritt der Hanions in den Folies-Bergere im Jahre 1879. Gespielt wurde die Pantomime Le Duel. Huysmans weist dezidiert die Auffassung, es handle sich bei der Darbietung der Hanions um eine bloße Variante des volkstheatfal-funambulesken und fröhlich-unbeschwerten Unterhaltungstheaters zurück und bringt dagegen die angelsächsische Vorliebe für das Makabre, die böse Karikatur sowie die sinistren Phantasien eines Hogarth oder eines Cruikshank als Referenzen ins Spiel." 9 Dass damit jedoch gar nicht vorrangig der finstere Inhalt des Stückes (es geht um ein tödliches Duell zweier Pierrots), sondern der besondere Zugriff der Hanions auf den menschlichen Körper und seine Gesten als eigentlichem künstlerischen Material gemeint ist, deutet Huysmans an, wenn er die Clown-Performance als »cruelle etude de la machine humaine«120 umschreibt. Hier klingt bereits der Konnex zweier wesentlicher, die zeitgenössische Kritik immer wieder umtreibender Charakteristika der Hanlonschen Pantomimen an. Zum einen taucht >der Mensch< in den Darbietungen der
116
Theodore de Banville: Preface. In: Freres Hanlon-Lees: Memoires et Pantomimes des Freres Hanion Lees. Avec une Preface de Theodore de Banville. (Ed. Richard Lesclide), Paris [1880], S. 5-18, S. 5. (Im Folgenden wird stets der Gesamtband zitiert als: >Hanlonsmythische< Zeitlichkeit überführt, d.h. eine zum Ort gewordene statische Zeit, in der sich alle möglichen satirischen und karikaturesken Allusionen auf epochales Geschehen unterbringen lassen. In Do Mi Sol Do werden die
161
Hanions, S. 103. Hanions, S. 170. ,6 3 Vgl. Hanions, S. 167-171. 164 Vgl. Hanions, S. 153-158. 162
283
Vertreter aller zeitgenössischen Musikrichtungen in einem Kampf vorgeführt16*, in Singes et Baigneuses stürzt Pierrot einen Fischer aufgrund dessen Ähnlichkeit mit Zola in die Seine 166 , und Le Duel endet damit, dass ein Pierrot von einem wildgewordenen Rind in den Himmel gestoßen wird um dann »dans les bras de Henri IV et de Napoleon qui se promenaient aux Champs-Elysees« 167 zu landen. Stets ist keinerlei kausale Logik, sondern nur ein akkumulatives Interesse zu verzeichnen: Nicht was die Figuren bedeuten, sondern dass sie innerhalb eines ästhetischen Raumes versammelbar sind, ist das Entscheidende. Dies terminiert folgerichtig im Unmöglichen, etwa wenn vertraute malerische Ikonographie und realistische Anspielung miteinander kontaminiert werden, wie es schon in der sentimentalischen Landschaft von Les quatres Pipelettes anklang: In der titelgebenden Sequenz der Pantomime Singes et Baigneuses etwa sehen sich - deutlich der bildenden Kunst abgeschaute - >Badende< mit den Affen des Pariser Zoos konfrontiert, die sich auf Freigang verlustieren.168 Auch hier dient die Kontamination einem nivellistischen Zugriff, der die Unterschiede der einzelnen Bezüge zugunsten ihrer szenischen Konjunktierbarkeit außer Kraft setzt. Insgesamt verwenden die Hanions örtliche und zeitliche Referenzen als reines Konstruktionsmaterial für ein szenisches Setting, das ins Surreale tendiert: Es werden durch die Vielfalt oftmals unvereinbarer Bezüge ästhetische Utopien, artifiziell aus Realitätsanspielungen konstruierte Nichtorte konstituiert, die das auf ihnen erscheinende Gesamtgeschehen von jeder sinnvollen Rück-Projizierbarkeit auf die zeitgenössische Realität abschneiden, und die radikal temporäre Anspielung selber zum rein theatralen SensationsMoment promovieren. In der Tat stellt diese Transformation des Empirischen eine gewichtige Komponente des von der zeitgenössischen Kritik diagnostizierten Zynismus der Darstellung dar. Der theatrale Raum, innerhalb dessen sich die Hanlon-Pantomimen vollziehen, resultiert aus einer gleichsam aggressiven Aneignung von Realitätsmomenten und der offensiven Außerkraftsetzung ihrer realpragmatischen Wertigkeiten und ontologischen Differenzen. Damit avanciert er zum Ort grotesker Transformation schlechthin: Alles, was die Spielwelt der Hanions an Zeichenmaterial konstituiert, ist zunächst der Realität gleichsam enteignet und in der Folge theatral neu gewichtet und geschichtet worden. Diese Reevaluierung jedoch, das ist deren zentrales Implikat, verläuft nicht ungerichtet, als frei flottierendes Zeichen- und Assoziationsgeschehen, sondern dezidiert nach Maßgabe der spezifischen Form der grotesken Mimesis des pantomimischen Theaters: sprich, nach Maßgabe der vom energetischen Prinzip getragenen Akrobatik. 3.2.4. Die Reorganisation natürlicher Handlungsverläufe: Le Duel Die Emphase auf dem Prinzip einer konstruktiv-abstrahierenden Reorganisation realer und natürlicher Vorgänge, wie sie die Mechanik-Metapher impliziert, ist als souveräne
l5
' Vgl. Hanions, S. 127-134. Vgl. Hanions, S. 154. 167 Hanions, S. 152. ,S8 Vgl. Hanions, S.ijyf. 156
284
theatrale Stilgeste zu werten. Die im zu Anfang des vorhergehenden Abschnittes gegebenen Zitat angesprochene Unbeschadetheit, mit der die Hanions aus d e m ihren Szenen charakteristischen Gewalttohuwabohu hervorgingen, ist das Synonym einer darstellerischen Raffinesse u n d einer Präzision der Akrobatik, die eine gewollte u n d als solchen offensiv ausgestellte Differenz der Schrecken erregenden Darbietung von der Realität des Schreckens und den anthropologisch-existenziellen Implikaten des ihnen unterworfenen menschlichen Körpers indizieren: Der Körper verwandelt sich bei den Hanions zu einem grotesken Präzisionsinstrument für die minutiöse Registratur u n d Reproduktion aller Arten von leiblichen Äußerungen, bevorzugt aber - ganz entsprechend der Pantomimen-Tradition - der Manifestationen von emotionalen u n d in der Folge körperlichen Extrem- u n d Grenzlagen. Das Spektrum reicht von der traditionellen Gier der komischen Figur über Angst, W a h n s i n n u n d Freude u n d endet bei einer narrativ u n d psychologisch nicht mehr nachvollziehbaren Lust an der Grausamkeit. Die Darstellungsästhetik der Hanions beruht dabei zentral auf d e m Prinzip der Analyse menschlicher Verhaltensweisen, sprich: ihrer vorgängigen analytischen Zerlegung in eine Abfolge einzelner M o m e n t e , die dann künstlerisch von N e u e m zu einem Ganzen synthetisiert werden. Genau dies macht den vielbeschworenen >Realismus< der Hanions aus, der aber ob seiner Exaktheit u n d der Vollständigkeit der zu einem Ganzen k o m p o nierten Momentaufnahmen geradezu in sein Gegenteil, zu einem hochartifiziellen Gebilde, tendiert. W o Zola angesichts einer Szene aus Voyage en Suisse ζ. Β. von einer »Psychologie de l'ivresse« 169 spricht, spezifiziert T h e o d o r e de Banville, der für die Hanions eine Beschreibung der nämlichen Pantomime verfasst hat: Ce n'est pas qu'il leur soit impossible de representer les actes les plus vulgaires de la vie; au contraire, leur scene d'ivresse est la seule vraie que nous ayons vu au theatre; mais ils se grisent avec tant de logique et avec une succession si exacte et complete de tous les developpements et de routes les nuances de l'ivresse, que le reve seul peut ainsi ne rien oublier et ne rien omettre, la vie terrestre etant, comme on le sait, pleine de tous [sie!], de sous-entendus et d'ellipses.'70
Das Erstaunliche der Darstellung, das D e Banville mit der Traum-Analogie fasst, liegt darin, dass das mimetisch-realistische Prinzip sozusagen aus seiner eigenen Logik heraus unterminiert wird. Die exakte Registratur beobachtbarer äußerer Einzelzüge u n d ihre vollständige Wiedergabe, mithin eine umfassende Aktualisierung der Mannigfaltigkeit der Realität, hebt das pantomimische Agieren über das Original hinaus. Die Ausdrucks-Synthese hinterlässt aufgrund der unnatürlichen Vollständigkeit ihrer Einzelmomente einen ganz eigentümlichen
ästhetischen Eindruck, den das Vorbild nicht bietet.
Dieses Prinzip wurde zur eigentlichen Sensation der A u f f ü h r u n g der Pantomime Le Duel, deren Beschreibung durch Huysmans bereits zitiert wurde. 1 7 1 Die »etude realiste prise sur le vif«, die die Hanions aus dem entsprechenden Szenar extrahieren, ist auch
169 170 171
Zola, Naturalisme, S. 332. Hanions, S. 178. Auch Coquelin Cadet hat die Auffuhrung von Le Duel beschrieben, was auf den besonderen Stellenwert der Pantomime für den zeitgenössischen ästhetischen Diskurs um die Pantomime und das Komische schließen lässt. Vgl. Coquelin Cadet: La Vie Humoristique, Paris 1883, S. 20lf. 285
hier dem »verre grossissant de la pantomime« 172 , der grotesken Überdeterminierung geschuldet, jedoch folgt die Vergrößerung einer besonderen formalen Logik: Le Duel spielt auf dem privaten Feld der Ehre, dem Duellplatz. Zwei ausgemachte Feiglinge stehen sich auf Leben und Tod gegenüber. Einerseits spekuliert jeder von ihnen darauf, zum Stadtgespräch zu werden, zum Helden des bürgerlichen Alltags und zum Gegenstand eines Artikels in den Faits divers. Auf der anderen Seite sterben beide fast vor Angst, die sich schließlich zur Panik steigert, als sie einen Grabstein erblicken, der fur den letzen Duellisten am Ort aufgestellt wurde. Das von Lesclide im Auftrag der Hanions in Rückschau verfertigte Szenar sieht nun vor, diese sich steigernde Angst pantomimisch zu manifestieren: Les mimes anglais ont mis deux poltrons en scene. O n voit leur paleur, on voit leur venette. Leur bonne contenance couvre un tremblement qui se communique jusqu'au basques de leur habit. Iis y vont comme des chines qu'on fouette.' 7 3
Die tatsächliche szenische Umsetzung der Anweisung beschreibt Huysmans: L'angoisse d'un visage qui se decompose passe sur leurs faces blafardes; cette maladie nerveuse terrible, la peur, les cloue, vacillants, sur place. Campes vis-ä-vis Tun de l'autre, les voilä qui, ä la vue des epees qu'on tire des serges, s'effarent davantage encore. Le tremblement de leurs mains s'accentue, les jambes flageolent, le cou suffoque, la bouche remue, la lange bat sans salive et cherche haieine, les doigts errent et se crispent sur la cravate qu'ils doivent defaire. Puis, la terreur grandit encore et devient si imperieuse et si atroce, que les nerfs dejä rebelles se ditraquent d'un coup et s'emportent sans qu'on puisse le tenir. U n e idee fixe surgit dans le cerveau bouleverse de ces hommes, prendre la fuite, et ils se precipitent, culbutant tout, poursuivis et ramenes par le temoins qui les remettent face ä face, et l'ipee au poing.' 7 4
Der innere Anlass, die Angst, wird hier zum motorischen Prinzip für die Abfolge visueller Eindrücke umgeschrieben, ja, die innere Disposition erscheint nur noch in Gestalt einer streng durchstrukturierten Steigerungsdynamik äußerer Momente. Huysman spricht in diesem Sinne von Auflösung, von Dekomposition des organischen Zusammenhangs - hier des Gesichts - in einzelne Expressionen. Ebenso ist der Körper einer Zerlegung in frappante Details unterworfen. Schließlich folgt auch die Bewegung, von der sich im Gesicht abzeichnenden Angst, über den von Furcht geschüttelten Körper bis hin zur panischen Flucht einem Nexus von: relativer Ruhe — Ansatz der Bewegung an einem Körperteil - Ausbreitung dieser Bewegung um den räumlich unbewegten Leib - hin zum kinetischen Crescendo des Hals-über-Kopf, die schließlich aus >narrativer< Erfordernis (d.h. im Dienste der Fortsetzung der Szene bis zum nächsten Kabinettstückchen) wieder in relative Ruhe überführt wird. Die Darstellung ist minutiös in einzelne korporelle Spasmen zergliedert und dennoch auf synthetische Art und Weise zur Kontinuität eines Gesamtablaufs integriert. Theodore de Banville wurde nicht müde, diese Integration der Einzelbewegungen in eine streng
171
Hanions, S. 147.
173
Hanions, S. 149.
174
Huysmans, CEuvres V , S. 2.2
286
durchstrukturierte Totale als Spezifikum der Hanlon-Szenen zu betonen, er verglich die Präzision im Anschluss der Gesten mit den Farbkorrespondenzen bei Delacroix und dem Reimschema bei Hugo. 175 Nun darf diese >artifizielle Organik« keinesfalls mit einer realistischen Geste oder mit einer Mimesis von Natürlichkeit verwechselt werden. Gerade der Umstand, dass der Zusammenhang der Bewegungen unter kompositorischen Vorzeichen gesehen wurde, belegt die abstrahive Tendenz: Da die einzelnen Ebenen innerhalb des Gesamtverlaufs - Huysmans Beschreibung belegt das - als solche identifizierbar und unterschieden bleiben, wird ein vormals organischer Zusammenhang zu einem technisch-konstruktiven Ensemble gegeneinander abgrenzbarer, einander differenter Teile transformiert, deren jeder für sich eine einzelne kleine strikt momentane Sensation bildet, die nicht mehr als auf Inneres transparente repräsentative gestische Gegebenheit fungiert, sondern als affektiver Eindruck intensiv wirkt. Die von Huysmans so frenetisch gefeierte schiere Bühnen-Präsenz der Hanions findet in der Tat ihr Pendant in der nunmehr bewegten pantomimischen Darstellung. Dabei ist zu betonen: Es ist nicht die bloße Materialität und Realität des Körpers, die diese spezifische Wirkung begründet. Vielmehr geht sie vom Körper in seinem Status als in die Szene gesetzter, als zur Erscheinung gebrachter aus. Sie rührt nicht nur aus der Differenz des Körpers zum Semiotischen, sondern aus der Differenz des Bühnenkörpers zu dem, was herkömmlicherweise mit Körperlichkeit identifiziert wird: Organische Stratifizierung, physiologische Ordnung, spontane Expressivität des Leibes, Unmittelbarkeit des Gefühls etc. Die Präsenz der Hanions ist keine von ihren Körpern ausgehende Qualität, die in natürlich-physiologischen oder materialiätstheoretischen Termini fassbar wäre, also keine, um mit Bachtin zu sprechen, leibliche Semiotiks sondern: Qualität des Körpers als eines anderen, radikal differenten. Die Hanions aktivieren unter der organischen, scheinbar einen natürlichen Funktionszusammenhang vermeinenden Oberfläche des Körpers gleichsam dessen verstecktes, nur ästhetisch erschließbares Potenzial zur Erzeugung von intensiver Präsenz-Wirkung. Im Sinne einer ungerichteten Ereignishaftigkeit, die sich an den und durchixt organischen Stratifizierungen des Leibes hindurch Bahn bricht und diese gleichsam von innen heraus aushöhlt. Ohne im Mindesten noch menschlich-expressiv, körperlich-kreatürlich oder organisch zu sein bzw. nach Maßgabe entsprechender Termini zu funktionieren. Das in diesem Sinne intensive Hervortreten der Teile fuhrt entsprechend dazu, dass ihr Zusammenhang nicht als organischer Fluss, nicht als Expressivität körperlichen Agierens, sondern als Faktum mechanischen Interferierens, als konstruktiv-serieller Zusammenschluss wahrgenommen wird. Das lässt den wesentlichen Unterschied zu Deburaus Kunst augenscheinlich werden. Zwar betont De Banville, wie sehr die Hanions hinsichtlich ihrer körperlichen Agilität dem großen Vorbild entsprochen hätten' 76 , jedoch lag das Spezifische von dessen Darstellung in der Eleganz und dem >natürlichen< Fluss der Bewegungen, dem die einzelnen Momente integriert waren. Der kontrastive Wechsel von expressiven Momenten, die auf das weiße Gesicht und den Körper gleichsam projiziert
175
Vgl. Hanions, S. 174 und S. iof.
176
Vgl. Hanions, S. 6.
287
wurden, erhielt seinen ästhetischen Wert darin, dass er, wie Champfleury meinte, wie in der >Realität< erfolgte. Das eigentlich Frappierende des Anblicks Deburaus resultierte mithin gerade daraus, dass das eigentlich Unvereinbare und Widersprüchliche im Prinzip der pantomimischen elegance in einen Gesamtkontext integrierbar wurde. Die synthetisierende Leistung, als Verwirklichung des Diderotschen Paradoxes, erbrachte in der Tat ein hochartifizielles Konstrukt, das jedoch noch den Vergleich mit einem Ideal von Natürlichkeit zuließ. Die Hanions präsentieren insofern den dialektischen Umschlag dieses delikaten Wechselspiels von Differenz und Ähnlichkeit, als ihnen das reflektierte Zusammenspiel von Analyse und Synthese zum technischen Prinzip wird, durch das sich das Fremde nicht des, sondern das Fremde am Körper, sein genuin Un-Natürliches und Heteronomes, ja: sein Unkörperliches freisetzen lässt. Sie zerlegen dazu - quasi in einem Akt irrer rationalistischer Vivisektion — offensiv den organischen Zusammenhang (was auch für den narrativen Verlauf gilt) und präsentieren seine Bruchstücke als Sensationen, als reine (maschinell verantwortete) Wirkungen. In diesem Sinne sind sie die eigentlichen Vollender der Deburauschen Vorstöße, die den pantomimischen Darsteller entlang des Kriteriums von sang-froid bereits zum veritablen Maschinisten seines Körpers hatten werden lassen. Eine solch radikale, sowohl das Sinnprinzip wie auch den Körper als expressive Größe betreffende Dekonstruktion des Zusammenhangs von Innen und Außen hat in der Tat auch Einfluss auf die Zeitlichkeit der Darstellung: Der Moment des Übergangs von einer Angst-Ebene zur nächsten tritt in Le Duel als plötzlicher Umschlag zu Tage. Die strukturelle Mechanik der Komposition findet somit in der Motorik des zeitlichen Verlaufs ihre Entsprechung. So hat die Einnahme der jeweils folgenden Ausdrucksmarke stets etwas Frappantes. Jedoch ist auch dieser besondere Momentanismus nicht ein frei flottierender: Er ist in einen zeitlichen Gesamtverlauf mit einzelnen Amplituden integriert, die Darstellung ist in diesem Sinne rhythmisiert. Die zeitgenössische Kritik belegt, wie eindeutig die Hanions auf das Prinzip einer rhythmisch gegliederten rapidite abgestellt haben: Der geforderten »justesse de Γ execution«'77 entsprach, wie Theodore de Banville schreibt, »la rapidite et [...] la justesse rhythmique de leurs mouvements.«'78 Ebenso wie die zeitliche Gliederung, entsprechend derer die jeweils neuen Stellungen, Gesten und mimischen Ausdrücke eingenommen wurden, hatte auch die optische Frappanz der Bewegungen, ihr sensationeller Erscheinungswert, rein gar nichts mit einer ungegliederten, in die Absurdität des Zusammenhanglosen abdriftenden Körperexzentrik und einer ungerichteten Entfesselung des Leiblichen (etwa im Bachtinschen Sinne) zu tun: Das die Faszination des Zuschauers evozierende groteske Potenzial der Grimassen und artistischen Körperkunststücke der Hanions war ebenfalls streng an den konstruktiven Gestus gebunden. De Banville bestimmte zum Spezifikum der Hanlon-Pantomimen, dass die Clowns alle Aktionen durch subtile Gesten vorankündigten:
177 178
288
Hanions, S. 174. Hanions, S. 6.
T o u t d'abord, d un geste net, d un clin d'oeil spirituel, ils indiquent ce qu'ils vont faire, parce que tout veritable artiste dedaigne et repousse la surprise, comme un moyen grossier d'etonnement, et il faut qu'il etonne le spectateur, apres l'avoir prevenu contre sa propre bienveillance, et apres avoir eveille en lui l'instinct critique. Puis, la chose annoncee, ils l'executent avec une perfection irreprochable, et les effets, les mouvements s'engendrent reciproquement, se repondent, naissent les uns des autres [ . . . ] 1 7 9
Zwei Dinge sind in dieser Auseinanderdifferenzierung von erstaunlicher Überraschung< und wahrhaft Erstaunlichem< impliziert: Zum einen ist der erstaunliche Akrobatik- Akt als solcher erwartbar.180 Nicht das Was, sondern das Wie, die formale Idiosynkrasie, sprich: die Besonderheit der performativen Ausführung, der virtuose artistische Vollzug ist das eigentlich Frappierende. In der Tat erschließt es sich, wie De Banville mitvermeint, vollständig nur dem Kenner. Die Pantomimenästhetik der Hanions ist damit als >hoher< artistischer Gestus nobilitiert und wird so zur Entsprechung einer artistischen Eliteattitüde der >Modemen< im Baudelaireschen Sinne. Zum anderen aber: Das Ankündigen der komischen Meisterleistung hebelt nunmehr völlig das narrative und semantische Prinzip komischen Gestikulierens und Grimassierens aus. Aufgrund des sie ankündigenden Winks ist die folgende Körperaktion nicht mehr als spontane Konkretisierung innerer Befindlichkeiten und dramatischer Konstellationen aufzufassen. Der Vorverweis legt einen Rahmen um das ihm Folgende, stellt es gewissermaßen als einem dramatischen Gesamtablauf nicht integrierbares Kunststück aus und belegt die völlige inhaltliche Unbeteiligtheit seines Vollbringers. Eine akrobatische Ästhetik der Sensation emanzipiert sich hier offensiv und explizit von jeder Inhaltästhetik und befreit die exzentrische Geste noch von der sublimsten semantischen Ökonomie. Adornos Verweis auf das >Wozu?poeme< definiert: Er ist, so lässt sich mit Recht annehmen, wiederum als rhythmisches Kompendium von exzentrischen Einzelgesten gefasst, die das Massaker zu einem hochartifiziellen Gebilde stilisieren, dessen ästhetische Relevanz die prekäre inhaltliche Dimension der überbordenden Gewaltszene gleichsam verspielt. Das Initial-Moment wird dabei bezeichnenderweise nicht nur als >Explosion< des Angstmotivs gefasst, sondern mit einer > intuition surnaturelle', der Akteure verglichen: Nicht eine metaphysische Motivation ist hier ironisch vermeint, sondern zunächst die Absage an Kausalpsychologie und das Prinzip psychophysischer Motivation. Weiterhin jedoch wird das körperlich ausgetragene Geschehen un-organisch reorganisiert, beginnend beim Anfang des Duells: Plötzlich, wie auf Knopfdruck beginnt der Gewalt-Taumel. Einmal in Gang gebracht setzt der Automatismus den Sinn als Instanz hinter allem Geschehen nicht nur außer Kraft, sondern: die Relation von Sinn und seiner äußeren Manifestation wird buchstäblich auf den Kopf gestellt. Ausgehend vom vorab gesetzten Anlass, der Duellsituation, übernehmen die Gesten nunmehr das Regiment in actu. Paradoxerweise bleiben sie mit dem Prinzip des Zwecks einer dramatischen Handlung in dem Maße verbunden, wie sie es im selben Moment unterminieren. Diese Subversion von Sinn durch seine Vehikel fuhrt dazu, dass die Szene nicht in den völligen Unsinn abdriftet, sondern selber in einer Pointe terminiert: Die panische Kampfgeste wird so selbstwertig, dass sie alle außer denjenigen, die vor Angst getötet zu werden, fast sterben, tötet!' 82 Die Pointierung bleibt somit streng auf den Nexus von Anlass und Manifestation bezogen, nur dreht sie ihn gleichsam um. Sie bildet entlang der hyperbolen Freisetzung der vormals dienenden Geste nicht eine absurde Alogik, sondern eine Eigen-Logik der Form aus, die eine Reversion der klassischen Wertigkeitsrelation von Innerem und Äuße-
181
Hanions, S. 150.
181
Vgl. Hanions, S. i 5 o f .
290
rem, von Inhalt und Ausdruck bedeutet. Es ist dabei auf der Oppositionsbegrifflichkeit ausdrücklich zu insistieren: Das Verhältnis von Form und Inhalt wird seiner Struktur nach gerade nicht verworfen, sondern im Foregrounding der Form als radikale Spannungsbezüglichkeit reformuliert. Helmuth Plessner hat - unter anderem im Rekurs auf Bergson - diese dekonstruktive Relationslogik zwischen Form und Inhalt, wie sie am Komischen zu Tage tritt, als Paradoxon gefasst, er spricht von einer »Gegensinnigkeit, die gleichwohl als Einheitlich vorstellt und hingenommen werden will«. 18 ' Ubertragen auf Le Duel\'isst sich sagen: Die eigentliche Pointe des Massakers entwickelt sich als konsequente Folge aus dem anfangs gesetzten situationalen Anlass (das Duell) und der ihn arrondierenden psychischen Lagen (die Angst, der Tötungswille), ist aber als formalistische Radikalisierung seiner Folgen einem in ihm implizierten logischen Handlungs-Nexus völlig konträr. Le Duel ist in seinem Verlauf paradigmatisch für einen großen Teil der Pantomimenszenare der Hanions und die Anlage einzelner grotesker Sequenzen darin: Eine inhaltliche z.B. über einen Anlass oder die Triebdisposition eines komischen Typus definierte Situation setzt ein Geschehen in Gang, das als synthetischer Zusammenschluss überdeterminierter Gesten organisiert ist. Mögen diese Gesten zu Anfang noch — als komische Vergrößerungen - transparent auf den jeweiligen initialen Inhaltsstimulus sein, so entfernen sie sich durch ihre in den Vordergrund gespielte Äußerlichkeit zunehmend von diesem und schließen sich zu einem rein formal-figuralen Verlaufsmuster zusammen, das durch seine dynamische Tendenz ins strukturierte Chaos gekennzeichnet ist. Nun kann mit dieser Diagnose nicht ein Endpunkt der Analyse gesetzt sein: Denn tatsächlich stellte gerade der Zusammenhang von gestischer Präzision, (welche die Inhaltsebene überlagert und schließlich ersetzt) und szenischem Dynamismus die zeitgenössische Kritik vor erhebliche interpretatorische Schwierigkeiten. Es leuchtet zwar durchaus ein, dass die formale Ausdrucksebene eine, ihre vermittelnde Funktion in den Hintergrund drängende, sensationelle Eigenqualität erlangen kann. Angesichts der strengen korpotechnischen Regulierung der Szenen jedoch frappierte die chaotische Wildheit und kinetische Exzentrik, in die die komische Darstellung der Hanions stets ausbrach. Zola zeigte sich beispielsweise ausgesprochen überrascht davon, wie strikt geregelte hyperbole Darstellungsstilistik und szenisches Chaos bei den Hanions nahezu bruchlos ineinander übergingen: C e qu'ils mettent dans tout, c'esc une perfection d'execution incroyable. Leurs scenes sont reglees ä la seconde. Iis passent comme des tourbillons, avec des claquements de soufflets qui semblent les tic-tac memes du mecanismes de leurs exercises. Iis ont finesse et la force. C'est lä ce qui les caracterise. Sous le masque enfarine de Pierrot, ils detaillent l'idee avec des jeux de physiognomie d'un esprit delicieux, puis un brusquement, un coup du vent semble passer, et les voilä lances dans une ferocite saxonne, qui nous surprend un peu, Iis bondissent, ils s'assommenc, ils sont ä la fois aux quatre coins de la scene [...]. 1 8 4
l8
'
Helmuth Plessner: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens. Bern/München 3. Aufl. 1961, S. 111.
184
Zola, Naturalisme, S. 333.
291
Offensichtlich stellte der Dynamismus der Hanlon-Szenen das Prinzip der formalen Durchstrukturierung keineswegs in Frage, sondern lag im Konnex von finesse und force geradezu in dessen Konsequenz. Die komische Deformation wurde von den Hanions als Prinzip von Bewegung schlechthin gewertet. Angesichts dieser im Hinblick auf eine Theatralität der komischen Deformation ausgesprochen bedeutsame Entwicklung gilt es, den Zusammenhang von grotesker Deformation und akrobatischer Dynamik (um die Darstellungsästhetik der Hanions auf zwei knappe Begriffe zu bringen) eingehender in theoretischer Stichhaltigkeit zu beleuchten. Es liegt auf der Hand, dass dies nur in Abhängigkeit von demjenigen Prinzip geschehen kann, dass als eigentliches Strukturmodell des hyperbolen >Realismus< der englischen Clowns verifiziert werden konnte, nämlich der synthetischen Reorganisation und formalistischen Restrukturierung realer und als solcher pragmatisclw/«»£r/w/&r Handlungsabläufe. Wir stehen somit an der Schwelle zu einem Exkurs zur Theorie des Komischen. Im epochalen Kontext kommt nur eine einzige ihrer Versionen in Betracht, diejenige, die Henri Bergson mit seinem berühmten, und ob der darin implizierten sozialen Kälte durchaus umstrittenen Werk Le Rire geliefert hat. Aus zwei Gründen: Le Rire erschien einmal im zeitlichen Umfeld der Pariser Hanlon-Auftritte. Zum anderen erinnert eine von Bergson beschriebene Clownsszene, in der er die Entwicklung einer komischen Situation hin auf ein dynamisches Crescendo beschreibt, so stark einigen Szenen der Hanions, dass der Gedanke an eine unmittelbare Vorbildfunktion der letzteren aufkommt. l8s 3.3. Die Hanlon-Pantomime unter Bergsonscher Perspektive: Mechanik und Dynamik Bergson ist der erste Theoretiker, der dezidiert auf eine systematische Phänomenologie des >komischen Bruchs< ausgeht. Seine Aufsatzsammlung Le Rire stellt den Versuch einer regelhaften Beschreibung der Struktur des Komischen dar, wobei die ihr oktroyierte und bis heute viel bemühte Metapher von komischem Automatismus und Mechanismus (» rideur de mfcanique«1*6) der nachhaltigen Rezeption der Theorie in all ihrer Komplexität wohl eher abträglich war. In der Tat wurde in der Folge für nahezu jede vom Natürlichen abstrahierende Wendung menschlichen Verhaltens, zumal im Hinblick auf das Theater, das Bergsonsche Etikett veranschlagt: Marionette, Automat, der mechanisierte Mensch - all diese Größen schienen mit der Perspektive von Le Rire abgleichbar.
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186
292
Simon geht mit einiger Berechtigung davon aus, dass Bergson in Le Rire auf einen Hanlon-Auftritt anspielt. Zugleich sieht er in den Hanlon-Szenen die perfekte Illustration der Bergsonschen Thesen zum Komischen, vor allem des berühmten Automatismus-Theorcms: »Cette exploitation comique de l'automatisme illustre a celebre formule de Bersgon qui fait d'ailleurs allusion ä un gag des Hanlon-Lees au premier chapitre du Rire.« Simon, Plan£te, S. 258f. Tatsächlich kommen auf jeden Fall zwei Szenen der Hanions als Vorbild fur Bergsons Analyse in Betracht. Es wird im Folgenden darauf verwiesen werden. Henri Bergson: Le Rire. Essai sur la Signification du Comique. Paris, 6. Aufl. 1910. S. 10.
Übersehen wurde dabei nicht nur, dass das Motiv des Automaten, zumal seit der deutschen Romantik, wesentlich auch dem Repertoire des Grotesk-Unheimlichen angehörte und somit hinsichtlich der Frage, wo das Komische aufhörte und das Unheimliche anfing, Erklärungsnotstand herrschte.'87 Weitaus schwerer wiegt, dass es Bergson im Begriff des Automatismus weitaus weniger um eine motivische Übereinstimmung geht, denn um eine auf der Strukturebene greifende Analogie. Der automatische Mechanismus ist strukturale Metapher. Er beschreibt eine relativ komplexe Generierungseigentümlichkeit des Komischen, die dessen Wesenhaftes ausmacht: Die komische »essence, toujours la meme«'88. In diesem Sinne weist Bergson zunächst das einfache dynamische Oppositionsschema von >komischem Unsinn vs. Sinn« zurück: »L'absurdite, quand on la recontra dans le comique, n'est done pas une absurdite quelconque. C'est une absurdite bien determinee.«'89 Der komische Bruch ist nicht Exempel des völlig Ungeregelten, das ins Geregelte einbricht und lachend beglaubigt oder verworfen wird. Vielmehr unterliegt die komische Devianz selber einer Regulierung. Zunächst verhandelt Bergson das Komische nicht unter ästhetischer und theatraler Perspektive, sondern als Fall sozialer Devianz. Das Komische ist demnach als Abweichung von der Normalität gefasst und in der Tat ist das von ihm evozierte Lachen ein Abwehrund Korrekturmechanismus gegenüber dieser Aberration.'90 Jedoch spielt Bergson ständig in den Bereich des Ästhetischen über, etwa dort, wo er die Moliereschen Typen als Paradebeispiele des Komischen in Gegensatz zur Personnage der tragischen Szene bringt oder dort, wo er zur Illustration seiner Thesen ausfuhrliche Beschreibungen von grotesken Clownsnummern gibt. ' 9 ' Dass Bergson mithin keinen klaren Unterschied mehr zwischen seinen ästhetischen und sozialen Thesen zum Komischen macht, hat seinen guten Grund. Gilt ihm doch die der ästhetischen Distanz verwandte Indifferenz gegenüber dem jeweiligen Gegenstand als conditio sine qua non des Komischen: Sein Zustandekommen ist immer und in jedem Fall an eine emotionale > Anästhesie« gebunden. Das Lachen im Angesicht des Komischen beruht so wesentlich auf völliger An-Empathie, dessen Entsprechung die Gleichgültigkeit komischer Nachahmung gegenüber den ontologischen bzw. inneren Implikaten seines Gegenstandes ist: Je voudrais signaler maintenant, comme un Symptome non moins digne de remarque, Γimensibilite qui accompagne d'ordinaire le rire. [ . . . ] L'indifference est son milieu naturel. Le rire n'a pas de plus grand ennemi que l'emotion. 1 9 2
•87 Vgl. zu einem möglichen Zusammenhang das Kapitel über Marguerittes Pantomimen in vorliegender Arbeit. 188
'8?
Bergson, Rire, S. 9. Bergson, Rire, S. 186. Vgl. Bergson, Rire, S. 20. Vgl. Bergson, Rire, S. i j f und S. i68f.
'9* Bergson, Rire, S. 4.
293
Was Bergsons Theorie dermaßen auszeichnet und sie zum Exempel moderner Reflexion auf den Gegenstand werden lässt, ist, dass er die traditionelle motivische >Kleinheit< des komischen Lasters im Sinne des >Fehlers, der nicht schmerzt< und als dermaßen ungefährlicher« lachend genossen werden kann, nahezu völlig in den Hintergrund treten lässt: Das Lachen wird rein an die Distanzierung vom Gegenstand als Folge einer an ihm zu Tage tretenden besonderen Struktur der Abweichung, nicht mehr aber an die moralischinhaltliche Groß- oder Kleingewichtung dieser Abweichung gebunden. Dem entspricht passgenau, dass Bergsons, wie Baudelaire, in dezidierter Absetzung von einer durch Hegel vertretenen Auffassung jeglichem identifikatorisch-emphatischen Zugang zum komischen Gegenstand die Absage erteilt. Wo Hegel das Zustandekommen des Komischen an die Einsicht der komischen Figur in ihren Fehler als selbstreflexiven, die Subjektivität wieder in Kraft setzenden Akt der Distanzierung von diesem Fehler bindet, betont Bergson die Außenleming der komischen Figur durch ihr jeweiliges Laster im Verbund mit ihrer völligen Unbewusstheit gegenüber dem eigenen Makel: 11 suffira [....] de remarquer qu'un personnage comique est generalement comique dans l'exacte mesure oil il s'ignore lui-meme. Le comique est inconscient.m
Dem Komischen, das Bergson meint, ist nicht mehr mit der Reflexion auf eine in ihr angezeigte Inhaltlichkeit des Lasters beizukommen, sondern das Laster, »le vice«194, fungiert als Etikett einer Struktur: nämlich der einer formalen Uberdeterminierung von Akten, die Sinn und Inhaltlichkeit dieser Akte aushebelt. Entsprechend dieser Tendenz zur Veräußerlichung setzt die berühmte Mechanik-Regel auch immer wieder im Verlaufe der Bergsonschen Untersuchungen dezidiert am Körperbild und seinem gegenüber dem Inneren der Person distraktiv-exzentrischen Wert an: Les attitudes, gestes et mouvements du corps humain sont risibles dans l'exacte mesure oü le corps nous fait penser a une simple micanique.I95
Damit ist jedoch nicht, wie bereits gesagt, das Maschinenbild per se, sondern die in ihm implizierte Reversion der herkömmlichen Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsbeziehung von außen nach innen gemeint: Est ainsi comique tout incident qui appelle notre attention sur le physique d'une personne alors que le moral est en caused6
In der Tat eignet sich damit die Bergsonsche Theorie ganz besonders für die Erfassung theatraler komischer Phänomene wie der Pantomime und der Clownsszene, die das Paradigma der Selbstreflexion: die sprachliche Äußerung, gänzlich verabschiedet oder
193 194 195 196
294
Bergson, Le Rire, S. 17. Bergson, Rire, S. 15 und S. 16. Bergson, Rire, S. 30. Bergson, Rire, S. 52. Vgl. S. 51: »Alors le corps deviendra pour l'äme ce que le vetement etait tout ä l'heure pour le corps lui-meme, une matiere inerte posee sur une energie vivante.«
zumindest als Medium von Sinntransport zugunsten einer optisch-körperlichen Überdeterminierung und ihres schieren Ereignischarakters außer Wert gesetzt haben. 197 Allerdings ist nun eine wesentliche Abgrenzung zu leisten: Es geht bei Bergson nicht um den Reingewinn an Materialität, um eine Ökonomie des Leiblich-Sinnlichen, sondern auch die komische Körper-Metapher fungiert, wie das Bild des Mechanischen, nur als Verdeutlichung für die eigentlich Grundstruktur des Komischen: die einer Entfremdung zwischen Inhalt und Form.' 98 Der eigentümliche und für unsere Perspektive zentrale Gedanke des Bergsonschen Textes ist es, dass er diese Entfremdung mit dem Implikat von Dynamik versieht: Zum einen begreift er die komische Deformation nicht als reinen Gegensatz zur Schönheit, d.h. nicht als grundlegende Opposition, sondern als Gegenbild vielmehr zur Grazie, was im Begriff der mechanischen raideur, der Starre oder besser: der Erstarrung ausgedrückt ist. Wenn, wie Bergson im Hinblick auf das Leben innerhalb der Gesellschaft räsoniert, stets eine geistige, seelische und auch körperliche Anpassungsfähigkeit: »Tension et elasticite« 1 " erforderlich ist, so markiert das Komische dagegen »inelasticite« 200 , Unflexibilität. Die komische Deformation im Sinne einer Erstarrung zeichnet sich nun gegenüber einer einfach nur hässlichen Deformation durch ihren prozessualen Charakter aus. Strukturell entspricht dies nicht einem schieren Gegensatz, sondern einer Wegbewegung
der
Form vom Inhalt, einer schrittweisen Entbindung aus der Transparenzfunktion. Bergson beschreibt diesen Aspekt anhand der Partizipkonstruktion: »le corps prenant l'äme. [...]
La forme
voulant primer le fond,
le pas sur
la lettre cherchant chicane α l'esprit.«101 Die
Deformation, wie sie im Komischen liegt, ist Übergang, Prozess und hat damit genuin dynamische Tendenz. Zum anderen, und das ist zentral, liegt diese dynamische Tendenz in dem Prinzip der Form (als Manifestation eines Inhalts) selber beschlossen: Jede Form gibt, als äußere Gestalt, prinzipiell Richtungsvektoren vor, die einen Inhalt veranschaulichen sollen, darin aber eine Bewegung implizieren und so immer auch die Möglichkeit eines Sich-Hinausbewegens ankündigen. Das Prinzip der Karikatur ist gemäß Bergson nichts anderes als die Überführung einer natürlichen Form in die Übertreibung, und zwar durch mouvement entlang der ihr eigenen Gestaltvektoren: C'est que la forme est toujours pour nous le dessin d un mouvement. Le caricaturiste qui altere la dimension d'un nez mais qui en respecte la formule, qui 1'allonge par exemple dans le sens meme oil l'allongeait dejä la nature, fait veritablement grimacer ce nez: desormais l'original nous paraitra, lui aussi, avoir voulu s'allonger et faire la grimace.« 2 0 2
197
Es muss darauf rückverwiesen werden, dass bereist Baudelaire, dessen Grotesk-Aufsatz stellenweise geradezu wie ein Vorbild für die Bergsonsche Theorie wirkt, ebenfalls das stumme Spiel eines durch äußere formale Parameter geleiteten Körperlichkeit zur eigentlichen Wesensausprägung des absoluten Komischen promoviert hatte.
198
Vgl. Bergson, Rire, S. 54.
199
Bergson, Rire, S. 18.
200
Bergson, Rire, S. 11.
201
Bergson, Rire, S. 54.
202
Bergson, Rire, S. 28.
295
Komische Bewegung ist also strukturell Alteration gemäß der Formel, eine Radikalisierung der vom Gegenstand vorgegebenen Gestaltlogik. Das entspricht dem bereits angesprochenen Plessnerschen Theorem von »Gegensinnigkeit, die gleichwohl als Einheit sich vorstellt.«203 Wenn damit jedem natürlichen Gegenstand seine eigene Grimasse bereits eingeschrieben ist, dann ist die damit initiierte Emanzipationstendenz nun geradezu als Gegensatz zur auf Innerlichkeit abgestellten Bewegungsform der elasticite gefasst: Sie entspricht einer Weg-Bewegung der Form vom Inhalt, ist damit zugleich formale Erstarrung (»activite qui s'endort«104) und (!) Eigenbewegung dieser Form, »activite qui s'isole, qui tend ä s'ecarter du centre [...], d'une excentricite enfin.«205 Zur Kennzeichnung dieser Eigendynamik der Form im Hinblick auf menschliche Verhaltensweisen fuhrt Bergson den Begriff der Geste ein, die er von dem der action im Sinne eines kausal und psychologisch nachvollziehbaren Handelns abgrenzt. Für vorliegende Zwecke ist es besonders bedeutsam, dass Bergson an dieser Stelle auf das theatrale Beispiel rekurriert, die Komödie. Diese kennzeichnet sich gegenüber dem Drama und vollends der Tragödie dadurch, dass sie »au lieu de concentrer notre attention sur les actes, [...] la dirige plutöt sur les gestes.«206: Ist die Handlung »volue, en tout cas consciente« so entschlüpft die Geste gewissermaßen automatisch (»le geste echappe, il est automatique«). Gemäß ihres formalen Charakters ist sie dermaßen frei von semantischreferentieller Ökonomie und besitzt keinen einsehbaren finalen Nexus von innerem Anlass und Ziel mehr: J'entends ici par gestes les attitudes, les mouvements et meme les discours par lesquels un etat d'äme se manifeste sans but, sans profit, par le seul effet d'une espece de d^mangeaison interieure. Le geste ainsi döfini differe profondement de Taction. 207
Statt als Verweis zu funktionieren, geriert sich die Geste als bloßes, aus der Relation von Innerem und Äußerem motiviertes, aber auf diese nicht mehr transparentes Symptom (»Symptome seulement«): In seinem bloßen Formalismus liegt einerseits eine Beunruhigung für den Betrachter (»quelque chose qui l'inquiete«), zum anderen aber kaum eine Bedrohung, weil sich die Geste eben nicht als ernstzunehmender, d.h. sinngeladener Einspruch gegen eine etablierte Ordnung (und damit auf demselben Sinn-Niveau wie diese) werten lässt, sondern über diese bereits hinaus ist.208
20J
Plessner, Lachen, S. in. Plessner selbst bezeugt an dieser Stelle explizit die Nähe seiner Gedanken zu Bergsons Theoremen. Bergson selber beschreibt diese Gegensinnigkeit übrigens anhand des typischen Verlaufsmusters des Vaudevilles als paradoxe Gleichzeitigkeit von Illusion und Mechanik: »Est comique tout arrangement dactes et d'evenements qui nous donne, inserees l'une dans l'autre, l'illusion de la vie et la sensation nette d'un arrangement mecanique. » Bergson, Rire, S. 70. 204 Bergson, Rire, S. 20. 105 Bergson, Rire, S. 20. 206 Bergson, Rire, S. 146. 2 °7 Bergson, Rire, S. 146. 208 Bergson, Rire, S. 20. 296
Bergson kommt noch nicht in den Sinn, dass gerade diese formale Distanz selber bedrohlich-irritativen Impakt entfalten kann, und zwar deshalb, weil er eine Theorie des Komischen, nicht des Grotesken verfasst hat. Allerdings deutet ein weiterer zentraler Gedanke bereits darauf hin, dass Bergson den gewaltsam-frappanten Eindruck, den eine entfesselte Geste zu evozieren in der Lage ist, bereits angedacht hatte: Der »point essentiel «2°9 der Differenz von Geste und Handlung, wie Bergson ausdrücklich betont, liegt nämlich in einer sowohl temporären und zugleich energetischen Markanz der Geste. Während die Handlung die sinnhafte Beglaubigung qua finallogischer Progression möglich macht, ist die Geste plötzlicher Ausbruch: »le geste a quelque chose d'explosif«210. Gerade darin evoziert sie die lachende Abstandnahme 111 , wohlgemerkt aber als Ausdruck der Wahrnehmung und Anerkenntnis einer Irritation. Rotzer hat - in seinem Fall allerdings in Auseinandersetzung mit Kant - auf die im Komischen stets mitimplizierte unangenehme, ja katastrophische Erfahrung hingewiesen. Für unsere Zwecke bedeutsam ist, dass er diese ebenso an der Differenz von innerer apperzeptorischer Prozessualität und einem Kollisionscharakter komischer Plötzlichkeit verortet, was insofern relativ genau der Perspektive Bergsons entspricht, als sich der komische Fall nicht als Inhalt, denn als schlechthin Opakes, das Gesetz der Inhaltlichkeit unterbrechendes Ereignis darstellt: Das Subjekt ist also in einem angenehmen Zustand, solange es befördert wird, von Sinn transportiert wird, nicht einhalten muss: solange nichts anderes auftaucht. Das Subjekt entspricht dem Trägheitsgesetz der Körper, die, einmal in Bewegung gebracht, sofern kein anderer Körper sie hindert, sich immerfort bewegen.
»Das Auftauchen des Unsinns wie des Lachens« hat, so Rötzer, gegenüber dieser ruhigen (an Bergsons elastiate erinnernden) Bewegung immer »Kollisionscharakter«, denn der einfallende Unsinn als das Andere der besonnenen Erfahrung ist eine schockierende Attacke, die kraft ihrer Geschwindigkeit die Kontrollmechanismen der Wahrnehmung durchschlägt. [...] In dieser Katastrophe stellt sich das Lachen als Reaktion auf den starren Schreck dar, der das eine Subjekt in seiner kontinuierlich fortschreitenden Verstandeshandlung freilich nicht vergnügen kann. 2 1 2
Wie auch immer man Bergsons geflissentliches Übersehen der prekären Dimension einer komischen Exzentrik für die Wahrnehmung veranschlagen mag: Die der komischen Formalisierung gemäße Reaktion ist für ihn auf jeden Fall nicht mehr die inhaltliche Frage nach dem Was oder Warum, sondern das Verharren bei der Wahrnehmung der Abweichung selber, die Justierung der Rezeption am schieren Phänomen des komischen Bruches. Dabei gewinnt nun laut Bergson das Komische in dem Maße an Intensität, je fundamentaler diese distraktive Formalisierung (»distraction fondamental&Alteration gemäß der Formel< in ihrem etat pur zelebrieren. U n d B e r g s o n findet diese Spielart ausgerechnet »dans l'art d u clown« 2 1 4 . Seine, nach S i m o n offensichtlich den H a n l o n - P a n t o m i m e n geschuldete Beschreibung einer gleichsam reinen K o m i k soll hier in ganzer L ä n g e zitiert werden: II faudrait, il est vraie, faire abstraction des faceties que Ie clown brode sur son theme principal, et ne retenir que ce theme lui-meme, c'est-ä-dire les attitudes, gambades et mouvements divers qui sont ce qu'il y a de proprement >clownique< dans l'art du clown. A deux reprises seulement j'ai pu observir ce genre de comique ä l'etat pur, et dans les deux cas j'ai eu la merae impression. La premiere fois, les clowns allaient, venaient, se cognaient, tombaient et rebondissaient selon un rythme uniformement accelere, avec la visible preoccupation de minager un crescendo. Et, de plus en plus, c'etait sur le rebondissement que l'attention du public etait attire. Peu ä peu on perdait de vue qu'on eüt affaire ä des hommes en chair et en os. En pensait ä des paquets quelconques qui se laisseraient choir et s'entre-choqueraient. Puis la vision se pr^cisait. Les formes paraissent s'arrondir, les corps se rouler et comme se ramasser en boule. Enfin apparaissait l'image vers laquelle toute cette scene evoulait sans doute inconscientement: des ballons de caoutchouc, lances en tous sens les uns contre les autres. - La seconde scene, plus grassiere encore, ne fut pas moins instructive. Deux personnages parurent, ä la tete enorme, au crane entierement denude. Iis etaient armes de grands batons. Et, ä tour de röle, chacun laissait tomber son baton sur k tete de l'autre. Ici encore une gradation etait observee. A chaque coup re?u, les corps paraissent s'alourdir, se figer, envahis par une rigidite croissante. La riposte arrivait, de plus en plus retardie, mais de plus en plus pesante et retentissante. Les cranes resonnaient formidablement dans la salle silencieuse. Finalement, raides et lents, droits comme des I, les deux corps se pencherent l'un vers l autre, les batons s'abattirent une derniere fois sur les tetes avec un bruit de maillets enormes tombant sur des poutres de chene. Et tout s'etala sur le sol. A ce moment apparut dans toute sa nettete la suggestion que les deux artistes avaient graduellement enfoncee dans l'imagination des spectateurs: >Nous allons devenir, nous sommes devenus des mannequins de bois massif«. 11 ' D i e als Vorbilder der zweiten Szene der Beschreibung in Frage k o m m e n d e n H a n l o n P a n t o m i m e n sind Do Mi Sol Do, eine ridiküle »pantomime sociale« 1 ' 6 , in der sich Karikaturen weltbekannter Repräsentanten verschiedener Musikstile mit ihren Taktstöcken gegenseitig auf den Schädel schlagen, als w ü r d e n sie ein Orchester dirigieren 1 ' 7 , sowie Les Cascades du Diable·.
D o r t erscheinen — völlig unmotiviert - »des gens qui j o u e n t ä se
casser des planches sur la tete«, ein Anblick, der Pierrot unwiderstehlich und augenblicklich zur T e i l n a h m e an diesem Spiel zwingt: Allerdings schlägt er so fest zu, dass ein ganzes Haus von einem »delirium tremens« erfasst wird u n d in sich zusammenfällt: »tombe en poussiere.« 2 ' 8
214
Bergson, Rire, S. 59 Bergson, Rire, S. 59ff. 216 Hanions, S. 128. 2I ? Vgl. Hanions, S. I28f. 2,8 Hanions, S. t 4 if. 215
298
Unabhängig von der Eindeutigkeit möglicher Vorbilder: Frappierend ist, wie nahezu alle wesentlichen theoretischen Annahmen Bergsons in den von ihm beschriebenen Clowns-Szenen ihr Pendant finden. Zum einen ist die Relation von Form und Inhalt als eine prozessuale Emanzipation des Formalen, als gradation gefasst. Ja, der eigentliche Inhalt der Szene besteht aus nichts anderem denn aus dem Vollzug der Wegbewegung der Form vom Inhalt: »Peu äpeu on perdait le vue...«; »Nous allons devenir, nous sommes devenus...« Sie manifestiert sich zweitens anhand von Gesten, deren innerer Motivation, deren Anlass, keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt wird. Was zählt, sind die Gesten, die automatisch entschlüpfen und dann entlang einer seriellen Reihe formal organisiert werden. Drittens und besonders wichtig: Die Unbelastetheit dieser clownesken Form der Komik von nachvollziehbaren Handlungsmotiven fuhrt dazu, dass die Organisation der freigesetzten Gesten in einem formalen Rhythmus zu einer sich steigernden Dynamik und einer temporären Beschleunigung tendiert. Die energetische Graduation erklärt sich daraus, dass die Gesten ohne Rückverpflichtung auf einen Inhalt rein an sich selbst anschließen, darin aber dem Prinzip der Explosivität, das das Komische nach Bergson wesentlich auszeichnet, verpflichtet bleiben müssen. Das fuhrt zu einer Überbietung, und zwar nach Maßgabe der reinen Äußerlichkeit der Gesten. Die ihr zur Verfügung stehenden äußerlichen Prinzipien sind die formale Expansion ins Hyperbole auf der einen, vor allem aber die Beschleunigung, der Platzregen an plötzlichen Bewegungen auf der anderen Seite. Bergson gibt für dieses Prinzip sich steigernder UnVerhältnismäßigkeit, in der ein Anlass völlig in den Hintergrund tritt, drei Beispiele, deren Zusammenschau die Tendenz des Komischen zur energetischen Expansion veranschaulicht: die Marionette, die das Prinzip der Mechanisierung des Natürlichen exemplifiziert, den Springteufel als Paradigma der Plötzlichkeit und Explosivität, mit der das Mechanische auftritt, und schließlich den einen Abhang herunterrollenden Schneeball, der zusehends an Umfang gewinnt. 2 ' 9 In allen drei Fällen wird die Relation von Inhalt und Form bzw. von Anlass und logischer Folge völlig auf den Kopf gestellt, aber immer entlang einer Entwicklungslogik der Form und einer ihr eigenen Bewegungsdynamik selber, die auf explosive Entladung und auf äußerliche Expansion drängt. Gerade im Schneeball-Beispiel impliziert ist dabei eine Logik des komischen Hyperbolismus: Eine Form, die einmal in exzentrische Bewegung weg vom Inhalt versetzt wurde, entfernt sich immer weiter von diesem und wird immer selbstwertiger und ihrer Bewegungstendenz nach dynamischer. Der Grund dafür ist, dass jede einmal erreichte Abstandsmarke vom Sinnvollen zugleich ein Surplus an Entbindung bedeutet, bzw. eine losere Referenz auf den Anlass. D.h. auf jedem einmal erreichten nächsten Entfernungsniveau ist die Sinnbindung schwächer und dermaßen die Möglichkeit, die Form auf den Sinn oder einen inneren Anlass erneut zurück zu verpflichten, geringer. Als eine entscheidende Realisation dieses Prinzips mag das Ende der Hanlon-Pantomime Le Voyage en Suisse gelten: Einer der Pantomimen fing an, mit allem Greifbaren zu jonglieren und infizierte seine Mitspieler buchstäblich mit dem Zwang zur kinetischen Nachahmung. Hierzu zuerst die Beschreibung von Zola:
2
"> Vgl. Bergson, Rire, S. 7 i f f , S. 79flF, S. 8iff. 299
Les Hanlon prennent les plats, les bouteilles, et se mettent ä jongier avec une furie croissante, si endiabl^e, que peu ä peu les convives, entrain^s, enrages, les imitent. D e fa$on que la scene se termine dans une demence generale. 1 1 0
Dazu spezifiziert De Banville: Remis d'alarme aussi chaude, le bourgeois veut raconter une histoire; a la seconde ligne, le gentleman son voisin, que cela ennuie, se met ä jongier avec deux oeufs, puis avec trois, puis avec les trois ceufs et son couteau, puis avec les trois ceufs, son couteau et son assiette. Obiissant ä l'instinct d'imitation qui est notre vie meme, ses voisins font comme lui et bientöt tous les objets qui garnissent la table, devenus les billes d'une jonglerie sans commencement ni fin, montent, descendent, remontent, habitent dans le vide, obscurcissent l'air [...]. 2 2 1
De Banville, der in diesem Fall anstelle von Lesclide die Beschreibung der Pantomime übernahm, verweist hier dezidiert auf das grundlegende Prinzip der Nachahmung als Fundament der dynamischen Szenen. Es wird aber ebenso klar ersichtlich, dass diese Nachahmung alles andere denn inhaltlicher Verweis, sondern eine rein formale Mimesis ist. Auch die motivatio für Pierrots Drang, am Schädelschlag-Spiel in Les Cascades du Diable teilzunehmen, könnte willkürlicher nicht sein: »Pierrot veut en etre«222 — reiner Drang zum Einstieg in ein einmal begonnenes Spielgeschehen, jenseits jeder Psychologie und jenseits vor allem auch jedes komischen Zweckes im klassischen (etwa Hegeischen) Sinne. Die körperliche Komik der Akrobaten ist dermaßen als Herstellung von Ähnlichkeiten über die Außenseite eines Gegenstandes zu begreifen und tendiert als komische Uberdeterminierung formaler Richtungsvektoren dementsprechend - wie in Bergsons Theorie verifiziert - zu einem sich in actu steigernden Dynamismus. Diese Tendenz zur energetischen Uberbietung veranschlagte Bergson bereits in Bezug auf das unbewegte karikatureske Motiv, die Hanions übertragen es augenscheinlich auf das Prinzip des Bewegungsbildes daselbst. Da Bewegung strukturell in die Einzelaspekte von Richtung, Kraft und Geschwindigkeit zergliederbar ist, setzt die komische Hyperbolisierung jeweils als deren Verlängerung und Überdeterminierung an. Was das oben zitierte /owgZsgtf-Beispiel anbelangt: Die Richtung der Bewegung wird überbietend imitiert in der Aufnahme der Jonglage-Gestik durch alle Beteiligten, die Kraft und das Tempo zusammen werden in eine sich selbst immer mehr beschleunigende Dynamik der akrobatischen Nummer gesteigert, die schließlich alles um sich herum erfasst und so immer weiter vom eigentlichen situationeilen Anlass weggravitiert. Die Pantomimen der Hanions können dem theoretischen Rüstzeug ä la Bergson in der Tat eindeutiger und analytisch schärfer erfasst werden. Allerdings sind nun im Hinblick auf die Ästhetik der Hanions sämtliche Ergebnisse Bergsons ihrerseits zu erweitern, und zwar genau an der Stelle, wo dieser die irritative und prekäre Dimension des Komischen ausblendet. Zumindest zwei der drei Bergsonschen Beispiele fur das Komische, nämlich
220
Zola, Naturalisme, S. 331.
221
Hanions, S. 177.
221
Hanions, S. 101.
300
der Springteufel und der zur Lawine werdende Schneeball, implizieren zumindest >Bedrohung< im weitesten Sinne: Der Springteufel den Schreck ob der Plötzlichkeit seines Auftauchens aus der Schachtel und ob der Nichtrückführbarkeit dieser Bewegung auf einen inneren Sinnanlass; der wachsende Schneeball die Überwältigung angesichts einer Entwicklung ins Hyperbole, die zu Anfang nicht absehbar war. Zudem sind beide Beispiele in besonders augenfälliger Weise mit dem Implikat einer aus der Deformation gleichsam freigesetzten Energetik und Dynamik versehen. Bergsons Theorie liefert also zumindest in der Wahl ihrer Motive einen wesentlichen Ansatzpunkt ftir einen auf den ersten Blick keineswegs selbstverständlichen Konnex von Komik und dem Eindruck von gewaltsamer Erscheinung. Ein heikles Gewaltimplikat, wie es die Pantomimen der Hanions immer und in jedem Fall verzeichnen und wie es paradigmatisch etwa an dem Massaker von Le Duel in Erscheinung tritt, kann jedoch nur über die Relationierung der Szenen auf das Motivrepertoire der Gewalt, aus dem sie schöpfen, vollständig geklärt werden. Der von der Kritik diagnostizierte Überschlag von zwar hyperboler, als solcher aber bis ins letzte Detail geregelter komisch-akrobatischer Darstellungsstilistik in szenisches Chaos ergibt sich bei den Hanions nahezu immer entlang des Motivs exzessiver Brutalität und Ferozität. An diesem Punkt muss also der Aspekt der Gewaltimagination wieder aufgenommen werden. Es liegt nahe, die für die Hanions charakteristische Exploitation des Schrecklichen mit der artistisch-akrobatischen Darstellungs-Prämisse zu konvergieren. Wie bereits an der Analyse der Funambules-Vantomimzti deutlich wurde, teilen sich die Ikonographien der Gewalt mit der körperlichen Exzentrik einen formalen point commun. Dieser ist die Nahtstelle, an der die Transformation von Realität in die groteske Unmöglichkeit auch bei den Hanions ansetzte. Aufgrund ihrer Herkunft aus der reinen Akrobatik jedoch stellen sie weitaus stärker auf den explosiv-dynamischen Aspekt der Gewaltszenen ab, als es noch die Funambules taten.
3.4. Akrobatik und Gewalt Aggression, Tod, Grausamkeit, Amoral und nicht zuletzt auch die grausige Körperdeformation implizieren prinzipiell eine hohe Intensität körperlicher Aktion sowie ein Höchstmaß an leiblicher Exzentrik. Als solches liefern sie die perfekten Ansatzpunkte für das, was Bergson zur inhärenten Dynamik des Komischen schlechthin bestimmt hatte: die Tendenz jeder natürlichen Form zur Mutation entlang der ihr eigenen Bewegungsrichtung. Je exzentrischer das Ausgangsmotiv, desto stärker muss diese Dynamis greifen. Ohne selber in Zynismus verfallen zu wollen, lässt sich sagen, dass gerade das, was in der Realität die inhaltliche, ethische und mitleidige Beglaubigung zwingend fordert, eine genuine formale Tendenz ins Komische und Groteske hat. Das Gesetz des Slapstick. Der frappierendste Zug an den Hanlon-Pantomimen, das, was von der zeitgenössischen Kritik als Spezifikum ihrer Darstellung erkannt wurde, war entsprechend die Kontamination höchst makabrer Gewalt- und Gräuelszenen mit dem Prinzip akrobatischer Übertreibung. Nun stellt sich jedoch die Frage, inwieweit die Gewaltdarstellung bei den Hanions sich wesentlich unterschied von dem Gebrauch der entsprechenden Motivik in den 301
Funambules-Yantomimen·.
Bereits dort wurde nicht nur geohrfeigt, getreten und geknufft,
sondern auf höchstem artistischen Niveau gemetzelt. Erst die Pantomime der englischen C l o w n s jedoch, und allen voran die der Hanions, wurde von der Kritik explizit unter der Gewalt-Perspektive verhandelt. Z u m einen ist von einer Verzögerung des theoretischen Interesses auszugehen. Volle theatrale Tragweite konnte der Gewaltstoff erst erlangen mit der Depression, die gesellschaftliche Vorgänge im Bewusstsein der Zeitgenossen auslösten. D i e Pantomime der Hanions bedienten in diesem Sinne sicher den > Zeitgeists zumal vor dem Hintergrund einer sich seit Mitte des Jahrhunderts konstituierenden und zunehmend radikalisierenden Decadence, deren ästhetische Beiträge zur Pantomimenkunst in den folgenden Kapiteln erörtert werden sollen. Z u m anderen jedoch, darauf deutete schon die Huysmansche Emphase auf der großartig-glazialen Optik der Clowns hin, evozierte die schiere Erscheinung der englischen Clowns und die an ihre Gesten zu T a g e tretende exzessive Ubertreibung einen seltsamen Eindruck von Gewaltsamkeit. Darin setzten die Hanions diejenige ästhetische Prämisse um, welche bereits bei Baudelaire, sogar unabhängig von der eigentlichen Aggressionsthematik, bezüglich der Pantomime der englischen C l o w n s veranschlagt wurde. W e n n mithin davon ausgegangen werden kann, dass der enge Konnex von K o m i k und Grauen sowie extremer, stets ins Massaker tendierender Gewalt bei den Hanions etwas mit der Exzentrik der clownesken Darstellung selber zu tun hat, dann lässt das auch den umgekehrten Gedanken zu: Das Gewaltmotiv in den Pantomimen der Hanions ist dem Prinzip grotesker Übertreibung nicht nur zuträglich, sondern das Gewaltmotiv könnte - ganz im Sinne der Baudelaireschen Reflexion — als strukturale Metapher f ü r einen gewaltsamen Z u g der pantomimischen Darstellung selber gewertet werden. Schließlich entsteht der Eindruck des Schreckens stets aus dem Bruch mit der Ordnung, in F o r m einer Abweichung v o m Normalen - strukturell nicht grundlegend anders als die Erscheinung und W i r k u n g des Komischen. Unter der gegebenen Doppelperspektive sind die folgenden Betrachtungen vorgenommen. 3.4.1. Pierrot terrible. D i e schreckliche Figur und ihre Spieldynamik Richard Lesclide, der autorisierte Transkriptor der Hanlon-Szenare, erläutert den Titel der Pantomime Pierrot Terrible (aka Viande et Far ine)225 folgendermaßen: Cette pantomime porte un titre inquietant, que ses auteurs ont doublt d un sous-titre explicatif: Viande et Farine. Contenons-nous de Pierrot terrible. Terrible doit s'entendre moitie dans les sens d'enfant terrible, moitie dans uns sens plus redoutable. On y voit le Pierrot anglais dechaini au travers des evenement de la vie reelle; il ne se content pas de les railler et d'en rire, comme nos Pierrots ä face pale, il les eclaire des etoiles de feu qui lui pourprent le visage; il les traverse comme un obus, les bat en breche comme un belier, les dimolit et les effondre, rien qu'en s'y melant.224 Eindeutig wird an dieser Passage auf den wesentlichen G r u n d z u g der v o n den Hanions dargestellten Figuren, seien es nun die im engeren Sinne Pierrots oder aber die komische
225 224
302
Hanions, S. 117. Hanions, S. 117.
Figur generell, hingewiesen: die offensive Kontaminierung der herkömmlichen TriebKomik, zu deren Repertoire immer schon zentral die brutale Geste gehörte, mit dem Hang zu extremer Gewalttätigkeit und Zerstörungslust. Und Lesdide macht ebenso klar, dass es sich nicht um eine dekadent verfeinerte Form von Aggression handelt, sondern um eine, zu deren sprechendster Metapher l'obus wird, die Granate: Krieg aller gegen alle, Massaker und Flächenbrand sind in der Tat die Szenen der Engländer arrondierenden Assoziationen. Man kann in dieser Hinsicht zwei komplementäre Tendenzen, das Figurenarsenal der Hanions betreffend, ausmachen: Einer Ausweitung des Aggressionspotenzials ins Tödliche entspricht die Verengung und Konzentration des Handlungsrepertoires auf dieses. Die traditionellen Spielereien um Liebemachen, Essen, Trinken und Faulenzen sind nur noch ein heiteres Nebenbei, das unbefangen um das eigentliche Spielzentrum quantitativ massierter und qualitativ ins Unerträgliche reichender Brutalität graviert. Der im Hinblick auf die qualitative Verschiebung auffälligste Unterschied zu den Pantomimen der Funambuleswix dabei die pantomimische Inkarnation der physisch-realen Aspekte von Gewalt und ihrer letalen Endgültigkeit. In vielen der Hanlon-Szenare kommt es zu MassakerSzenen, deren Opfer nicht mehr einfach wieder aufstehen kann, um dermaßen das komische Spiel als dezidierten Gegensatz zur Realität auszuweisen - wie noch in den Funambules-Vamomimcn und auch noch in der von Baudelaire so euphorisch beschriebenen englischen Darbietung. Der (massenhafte) Tod wird auf den Szenen der Hanions theatral veranschaulicht, ohne Abstriche: Voyage en Suisse inszeniert eine veritable Buskatastrophe. In Le Duel unterschiedlose Massakrierung. Der Jäger, Protagonist von Les quatres Pipelettes wird nach einer Horror-Lektüre von einem Blutrausch ergriffen, dem in der Folge nicht nur die Katzen der Hausdame, sondern auch alle Mitspieler zum Opfer fallen. 22 ' Die daran anschließende Szene fuhrt eine nautische Katastrophe vor, bei der Ertrinken eine Gnade ist: Diejenigen Schiffbrüchigen, welchen Rettung zuteil wird, werden zu den eigentlichen Opfern: II y a lä des sauveteurs pleins de devouement, que la fee Guignon a touche de sa baguette. Quand ils jettent ä un naufrage une bouee, c'est pour l'assommer; une corde, c'est pour l'etrangler; un croc, c'est pour le dechirer. 2213
Jeweils die schlimmstmögliche Wendung wird inszeniert. Vor allem der extreme Gegensatz von Rettungsvorhaben und Massaker im letzten Beispiel deutet darauf hin, dass sinnerfüllte Handlungsfolgen aufgrund ihrer Formalisierung ins rein Gegenteilige hinein manövriert werden können, wie es bereits bei Le Duel der Fall war. Allerdings ist im vorliegenden Exempel die zynische Perspektive ungleich größer, stehen doch Bergung und Tötungsfolge in einer weitaus extremeren wertmäßigen Spannung als Duell und Massaker. Der ontologische Gegensatz existiert für die Hanions nur noch als außerästhetische Folie, aus deren sarkastischer Destruktion ästhetischer Mehrwert in Form einer grotesk-makabren Pointe gezogen werden kann.
22
' Vgl. Hanions, S. i 7 o f .
226
Hanions, S. 171.
303
Bei all dem wird, auch darauf deutet Lesclides Einlassung zu Beginn des Pierrot-terrc'We-Szenars hin, zumeist ein Gegensatz aufgemacht, der die Hanlon-Pantomimen strukturell bestimmt: Die gewalttätige Figur wird als grotesker Antiheld etabliert und einer zumeist zahllosen Schar von relativ anonym bleibenden Opfern gegenübergestellt. Sie bildet gewissermaßen ein aggressives Gravitationszentrum, von dem aus und um das herum Gewalt-Geschehen in Gang gebracht wird, das aber die Haupt-Figur selber kaum negativ betrifft. Zola hatte diese ausgesprochen düstere Differenzierung in Verbrecher/ Aggressor und Opfer, diesen veritablen >Triumph des Verbrechens'< als weiteres Spezifikum der Hanlon-Szenen beschrieben: Rien n'est plus formidable, ä mon avis, que la gaiete des Hanion, s'ebattanc au milieu des membres casses et des poitrines troupes, triomphant dans l'apotheose du vice et du crime, devant la morale ahurie. Au fond, c'est la negation de tout, c'est le neant humain." 7
Im Begriff des neant spielt Zola nicht nur auf seine Skepsis bezüglich einer möglichen radikal-nihilistischen Perspektivierung der Hanlon-Pantomimen an. Die explizite Konvergierung von Hanlon-spezifischer gaiete und neant deutet vielmehr darauf hin, dass hier die Möglichkeit zu einer ästhetischen Negativität des Theatralen im Sinne einer radikalen und offensiven ästhetischen Distanzierung reflektiert wird, die ihre prekären Gehalte via grotesker Ausstellung völlig nivelliert. Geht es in der ästhetischen Wahrnehmung um die Transkription außerästhetischer Akte des Handelns wie ihrer Wiedererkennung, so werden sie in diesem Fall negativ transformiert bis sie als empirische und inhaltliche keinerlei Geltung mehr beanspruchen dürfen und von der Spielebene radikal angeeignet werden. Der komische Raum der Hanions geriert sich in der Beziehung von Leid und souveränem Täter nach Zola nicht als artistische Rücknahme und wunderbare Überwindung der Realität, sondern als Nichtbeachtung ihrer Wertigkeiten, zu deren Personifikation der clown ferox avanciert. In der Tat scheint somit nicht - wie Lesclide behauptet - die ironische Distanz zur Realität und ihren finsteren Aspekten aufgegeben, sondern diese Distanz wird geradezu fokussiert und thematisiert: als an der Figur des Gewaltclowns zur Schau gestellter Zynismus gegenüber der ethischen und human-existenziellen Dimension des Katastrophischen. Als auf diese eigenen dunklen Vorgaben transparente pantomimische Etüde kann Les Cascades du Diable gewertet werden, in welcher der Teufel höchstpersönlich das überkommene Pantomimenpersonal: Colombine, Arlequin, Pierrot, Leandre, Cassandre und Madame Comtesse de Pimbesche, erst in der Hölle versammelt, um es dann auf dem Jahrmarkt von Saint-Cloud freizulassen. In der Folge zerstören die zu ridikülen Monstren verkommenen Figuren, absichtlich und unabsichtlich, alles, was ihnen in den Weg kommt.228 Die Pantomime rekurriert auf die hergebrachte Motivik des Wunderbaren, allerdings wird, wo der Teufel in Person zum initiierenden Spielleiter promoviert und an die Stelle der traditionellen Fee gesetzt wird, der völlige Verzicht auf narrative ethische Limits und
217 128
304
Zola, Pantomime, S. 329. Vgl. Hanions, S. 135-141.
die Gleichgültigkeit gegenüber jeder moralischen Dimensionierung, die gegenüber der Zerstörungslust der Figuren in Anschlag zu bringen wäre, von vorneherein offensiv und aggressiv ausgespielt. Es handelt sich bei den aus der Hölle freigelassenen Kreaturen um Radikalisierungen der traditionellen komischen Kunstfiguren, die nunmehr alle unterschiedslos unter die Satanik der Pierrot-Figur subsumiert werden. Charakteristisch für die Hanions daher, dass sie zumeist mehrere Pierrots auf der Szene erscheinen lassen, die sich - was ihre zerstörerischen Ambitionen betrifft - nicht grundlegend voneinander unterscheiden. Ein etwaiger Gegensatz zwischen guten Figuren und solchen mit moralischer Schlagseite, wie er in der traditionellen Pantomime paradigmatisch durch die Opposition Arlequin/Colombine-Pierrot angelegt war, ist nicht mehr auszumachen. Diese Einebnung der Unterschiede dient augenscheinlich einer höchstmöglichen Massierung dynamischer Effekte: Eine Katastrophe jagt die nächste, an allen Ecken und Enden der Szene wird Tohuwabohu inszeniert, das aber aufgrund dieses Wegfalls von Oppositionen, die ja immer - wenn auch resthaft - der narrativen Strukturierung gelten, einen genuin abstrakten Wert gewinnt. Ahnlich wie auf den von Baudelaire analysierten Karikaturen von Cruikshank lösen sich die Gesamthandlung und die an ihr beteiligten Figuren in einen artifiziell organisierten Komplex einzelner schrecklicher Schlaglichter auf. Diese Reizüberflutung entspricht in der Tat passgenau dem Baudelaireschen Prinzip des Taumels und auch die grundlegende motivatio, die höllische Ausgangslage, kann als Parallele zu Baudelaires Emphase auf einem Aktionsfond gewertet werden, der von grundlegend anderer Natur als die traditionelle dramatische causa ist. Anders als in Baudelaires Beispiel wird jedoch verstärkt auf das Böse als struktureller Metapher dieser szenischen Dynamik abgestellt: Die feroze Gewalttätigkeit wird zum eigentlichen Darstellungssubstrat jeder auf der Szene anwesenden komischen Figur, die herkömmliche Triebhaftigkeit des Pierrot wird in die Energetik des rein Zerstörerischen überboten, ohne dass ein ethischer Einwand angesichts einer solchen Nivellierung überhaupt noch in Betracht käme. Die Unschuldsvermutung, die Baudelaire fur das Gewaltspiel der grotesken Pantomime in Anschlag brachte, greift also auch hier, nur in reversem Sinne: Die Hanions inszenieren Gewalt entlang einer als moralisch fragwürdig ausgewiesenen Disposition, die aber als solche nicht reflektierbar ist, und enteigentlichen das Böse als ontologische Größe. Es gerät ihnen vielmehr zum Synonym für Energetik schlechthin. Lesdide und De Banville hatten vor diesem Hintergrund in jeweils unterschiedlichen Metaphern auf den spürbaren Gegensatz von inkarnierter, d.h. der Realität gleichsam abgeschauter Gewalttätigkeit und artistischer Desinvolture bei den Hanions hingewiesen: De Banville bezog das weißgeschminkte Pierrot-Antlitz auf das Ideal ästhetischer Autonomie, Lesdide gebrauchte das Bild vom schrecklichen Kind, das in die destruktiven Ereignisse, die es in Gang bringt, kaum involviert sei. Die Antimoral der Hanions, die Zola mit dem Verweis auf das neant in impliziten Vorankündigungs-Zusammenhang mit einem sich abzeichnenden moralischen Skeptizismus der Decadence zu bringen scheint, geht jedoch, wie deutlich wurde, über die satirisch-zynische oder gar nihilistisch dimensionierte, inhaltlich-referentielle Perspektivierung ihrer Szenen hinaus. De Banville vermerkte ausdrücklich, dass das einzige artistische Interesse der Hanions auf die szenische Erzeugung von agitation ausgehe: eines intensiven,
305
vom Implikat der frappanten Bewegung durchdrungenen, szenischen Geschehens, das als strukturelles Analogon zur Dynamik des modernen Lebens zu werten ist, nicht aber als sozialkritischer oder auch sozialzynischer Wink.
3.4.2. Die Banalität und das Bestialische Der >realistische< Grundzug der Hanlons-Szenen, der angeblich bis zu einer - freilich karikaturesken - »photographie des moeurs« 229 reichte, wurde bereits als formale Reorganisation natürlicher Handlungsabläufe beschrieben, die das Heteronome sowohl am Sinnverlauf wie an seinem pantomimischen Vehikel, dem Körper, freilegten. Die charakteristische rhythmische Durchstrukturierung, die auch in Bergsons Beschreibung anklingt, ist dabei in jeder Hinsicht kompatibel mit den in Le Rire veranschaulichten Prinzipien der Mechanisierung. Die komische Sinnleere, die die Hanions qua Überführung des Natürlichen ins Mechanische erzeugen, hatte dabei immer eine Affinität zur Gewaltimagination. Dieser Umstand macht das eigentlich Groteske ihres >Realismus< aus. Ein gewichtiger Aspekt dieser Hybridisierung liegt darin, dass die Hanions das überkommene Typenpersonal der Pantomime - ähnlich wie Champfleury — mit wiedererkennbaren sozialen Attributen, vor allem beruflicher Art, ausstatten und den komischen Handlungen zunächst einen relativ banal-alltäglichen Rahmen verleihen: Pierrot in Pierrot Menuisier ist Sargmacher, die beiden Pierrots in Pierrot terrible spielen Schneidergesellen und der groteske Antiheld der Pantomime Le Frater de Village ist Friseur, Le Dentiste zeigt einen Zahnarzt bei der schier unlösbaren Aufgabe, einen widerspenstigen Zahn im wahrsten Sinne des Wortes mit aller Gewalt zu ziehen.
230
Eindeutig nun beziehen die angesprochenen Szenare ihre komische Wirkung aus der Transkription der den Berufen entsprechenden sinnvollen Handlungsmuster ins Gestische ä la Bergson, jedoch wird dieser Eindruck immer und in jedem Fall ins Groteske gesteigert, und zwar durch die Kontamination des Alltagsautomatismus mit den Attributen von Bestialität. Die zeitgenössische Kritik, die immer wieder auf die soziale Referenz der Hanlonschen Karikaturen abstellte, hat vor allem diese groteske Steigerung des Banalen ins Böse als veritable Erschließung des Gewaltsubstrats moderner Gesellschaften gelesen. Der Sargmacher Pierrot in Pierrot Menuisier e.twa besitzt ein eigenes Verkaufsgeheimnis: Er bringt einen potenziellen Kunden, der meint, keinen Sarg nötig zu haben, ganz einfach um - und beweist ihm auf diese Weise, dass er des Angebots doch, und zwar dringend bedarf. Die makabre Pointe ist hier also entlang einer Radikalisierung von Gewerbelogik organisiert: Der Sargmacher hat Geschäftsflaute und es ist Teil der der Berufsstrategie, dem abzuhelfen. Der Sargmacher >produziert< seine Kunden sowie deren Bedürfnisse. Das Motiv eines der Mechanisierung des Alltäglichen zu Grunde liegenden Substrats an Inhumanität wird immer wieder ganz konkret ausgespielt. Der Zahnarzt wird etwa
229
306
So im Bezug auf die Pantomime Une Soiree eti Habit noir. Hanions, S. 159. Vgl. Hanions, S. H4f.
mit Henker und Folterknecht assoziiert: »Un dentiste epris de son art, un bourreau affable, un totureur bienveillant«231, und die beiden Schneiderpierrots in Pierrot terrible sind so fervent darauf bedacht, einem noblen Herrn das entsprechende Outfit zu verpassen, dass sie ihn in arge Bedrängnis bringen. Die Komik der Szene wird dadurch ins Bedrohliche abgeschattet, dass sich die Pierrots in ihrem Eifer wild gewordenen Raubtieren assimilieren: Ce joli homme tombe mal. Le tailleur est absent, mais deux Pierrots obsequieux font les honneurs de sa boutique. Iis s'emparent du client que le sort leur jette, — donnez-vous la peine de vous asseoir! - et tournent autour de lui comme des lions prets ä le devorer. [...] O n n'y epargne rein. O n l'aligne, on l'arpente, on l'evalue au cordeau, au ροίηςοη, ä l'epingle, — non sans l'etrangler, le bousculer, le houspiller et lui planter des jalons dans les epaules. 2 ' 2
Die professionelle Maßarbeit verselbständigt sich zum inhuman-mechanischen Zusammenhang, der eine zwar ridikül vorgetragene, jedoch eindeutige Gewaltaffinität besitzt. Die Uberbietung in den Schrecken geht bei den Hanions so weit, dass etwa bei einem Streit der beiden Schneider-Pierrots mit einem Bäcker auch schon mal ein kleiner Junge in den Backofen geworfen wird - und zwar mehr oder weniger nebenbei, als Folge einer mechanisierten Bäckergeste235; demselben Prinzip folgen die Figur des Jägers in Les quatres Pipelettes oder die Duellanten, die alles töten, was ihnen in den Weg gerät Aus dem Zusammenhang von Realistisch-Banalem und Schrecklichem entwickelten die Hanions die eigentliche ästhetische Signatur ihrer Pantomimen: Die spürbare Diskrepanz beider Bereiche und der explosive Ausbruch des einen in das andere ist szenenkonstitutiv ftir alle Pantomimen der Hanions und intendierter Gegenstand des ästhetischen Plaisirs im Zusammenspiel von Repuls und Lachen. Die englischen Clowns stellen ihr Spiel dezidiert auf die Evolution des Alltags in die Katastrophe ab, die Pantomimen bestehen aus nichts anderem denn aus Momentaufnahmen solcher Überschläge. Die zumeist sehr kurzen, nur über wenige Seiten gehenden Szenare stellen immer Abbreviaturen des Sozialen dar: Sie sind konzentrierte Schlaglichter von gesellschaftlichen Relationen und menschlichem Verhalten, die stets entlang einer komischen Formalisierung und Mechanisierung in hyperbole Gewalttätigkeit oder das schreckliche Geschehen (Unfälle, Katastrophen etc.) ausbrechen, und dieser Ausbruch selber stellt das komisch-groteske Darstellungssubstrat dar. Er ist, abgesehen von wenigen Ausnahmen, der wesentliche und einzige Inhalt der Szenare. Die den Pantomimen paradigmatische >consecutio narrationis< besteht dermaßen aus dem Absprung des Normalen in den Schrecken und das daran anschließende exploitative artistische Spiel mit diesem entlang eines bloß additiven, die Finalkausalität durch energetische Uberbietung extrapolierenden Reihungsprinzips, das in den Szenaren zur explosiven Kürze drängt. Selbst da, wo die Vorlagen länger sind, wie etwa im Falle von Singes et Baigneuses, handelt es sich nicht um eine logisch entwickelte Erzählung, sondern um eine Folge loser, über das fur jede Situation konstitutive Gewaltund Schreckensimplikat assoziierter Szenen.
231
Hanions, S. 143.
232
Hanions, S. 119.
233
Vgl. Hanions, S. 120.
307
Zwar war dieser Ausbruch ins Gewalt-Chaos bereits unverzichtbares Element der Funambules-Pantomimen. Abgesehen davon, dass dort jedoch das Tohuwabohu zum einen - bis zu Champfleuiys Vorstößen - entweder wunderbar-komisch und nicht über Soziales motiviert war und/oder eine längere, wenn auch inhaltlich nicht tragfähige, consecutio narrationis von Flucht und Verfolgung, Trieb und Bestrafung im Kontext der von Melodram und Commedia vorgegebenen Verlaufsmustern bildete: Die Fokussierung und artifizielle Reorganisation von menschlichem Leid und Grausamkeit in konzentrierten Kurz-Szenen, die massierte Exploitation seiner äußerlichen Aspekte sowie eine zynisch zur Schau gestellte Gleichgültigkeit gegenüber den realen Implikaten, die die HanlonSzenare auszeichnete, wurde durch die traditionelle Pantomime und auch durch ihre makabre Reorganisation durch Champfleury keineswegs auch nur ansatzweise erreicht. In der Tat lösen die Hanlon-Pantomimen damit bereits vollends dasjenige, von Adorno erst am Surrealismus verifizierte Charakteristikum avancierter ästhetischer Gebilde ein: das nackte Hervortreten von ästhetischer Grausamkeit und der darin indizierte Wille »dass die finstersten Momente der Kunst so etwas wie Lust bereiten sollen« 234 . Konnten die Funambules-Pantomimen ihre Gräuelszenen und Gewaltorgien immer noch über das Groteskkomische von einer zynischen Perspektivierung auf die Realität freihalten, so transformiert sich bei den Hanions der Zynismus selber von einer sozialen und kritischen Attitüde zum ästhetischen Gestus. Zynismus als Negation des Humanen, wie ihn Zola an den Hanions diagnostizierte, ist damit jedoch selber keine ernstzunehmende, moralisch zu missbilligende Haltung mehr, sondern wird zum Substrat des Spiels. Die zynische Geste wird im wahrsten Sinne ausgespielt. Nirgends wird das so überdeutlich, wie am Ende der Pantomime Les quatres Pipelettes·. Gezeigt wird, wie bereits gesagt, ein makaber pointiertes Massensterben auf See: Ertrinkende werden von ihren Rettern versehentlich aufgespießt, aufgehängt, zerrissen etc. Nicht genug der Widerwärtigkeiten, rettet sich schließlich als einziger Uberlebender ein alter Mann ans Ufer: II Emerge de l'eau, s'accroche au rocher, atteint le rivage, et va s'ecrier: Sauvi, mon Dieu! quand on lui vide sur la tete une brouette d'immondices qui le renvoie ä jamais. 2 3 5
Das gegebene Beispiel ist zugegebenermaßen alles andere denn subtil, geschweige denn stilistisch raffiniert, und wurde ob seines kruden Sarkasmus sogar mit einem (ironischen) Einspruch moralischen Bedenkens von Lesclide quittiert. 236 Weitaus bedeutender ist, dass die Außerkraftsetzung bzw. Verunmöglichung einer humanen Perspektivierung in den Hanlon-Pantomimen unmittelbare Folge von deren besonderer ästhetischer Strukturierung ist: Die knappe, rasante Drängung von lose über die Deformations- und Gewaltassoziation verbundener Szenen, zielt auf nichts anderes als auf dynamisch-akrobatische Effektüberbietung. Die darin manifestierte ästhetische Prämisse, Lachen zu erzeugen, setzt, wie das folgende Kapitel zeigen wird, Empathie ihrer Möglichkeit nach außer Kraft.
234
Adorno, Ästhetische Theorie, S. 66.
235
Hanions, S. 171.
236
Vgl. Hanions, S. 171.
308
3·4·3· Verspieltes Mitleid, verspielter Schrecken: Die Subversion empathischer und mitleidiger Einlassung durch Tempo und Intensität Der Zolasche Scharfsinn hat als erster erkannt, dass von den englischen Clowns eine besondere Art gewalttätiger Darstellung geboten wurde, die nicht über ihre inhaltliche Attitüde, sondern über ihre formalästhetischen Implikationen zur radikalen Relativierung tendiert: Er spricht von der Mitleidlosigkeit der Szenen, davon, dass der angesichts des dargestellten Schreckens geforderte moralische Einwand prinzipiell durch die Faszination an der Intensität des Gesehenen unterlaufen werde. Die wesentliche Technik der HanlonLees (denn um eine solche handelt es sich hier, wie Zola betont) zur Erzeugung dieser Wirkung war eine überaus forcierte Geschwindigkeit. Der Kritiker weist dezidiert auf einen besonderen Zusammenhang von Tempo-Technik und emotionaler Anästhesie hin: Dans les accident reels, on rit d'abord, puis on s'apitoie; les Hanlon ont parfaitement compris qu'il ne fallait kisser ä l'apitoiement le temps de se produire. D e lä le gros effet comique. 2 ' 7
Die dem akrobatischen Pantomimentheater der Hanions genuine Effektdichte und artistische Schnellligkeit, die der notorisch gedrängten Kürze der Spielvorlagen entspricht, macht eine empathisch-mitleidige Einlassung aus dem Grunde unmöglich, weil letztere - als Bewegung des Inneren - Reflexionszeit und Besinnungsdauer zu ihren Voraussetzungen hat. Dieses offensive und zweckgebundene /4«spielen des zeitlichen Moments als eines eigentlich inneren Konstitutivums theatralen Geschehens führt n u n dazu, dass Verlauf selber als visuelle Größe erscheint. In ihrer AußengisvAx. als Tempo büßt Zeitlichkeit ihr menschlich, weil linear Verbindliches ein, sie wird transformiert zu einem sinnlich wahrnehmbaren dichten und dezentrierten Ereignis-Netz darin die Abfolge von Eindrücken wie die Differenz von Außenwahrnehmung und Bewusstseinstatsachen nivelliert ist: Groteske Zeit-Manifestation als durchgehende Präsenz des Plötzlichen. Im Gegenzug befördert das Ausbleiben der entsprechenden mitleidigen Haltung infolge der komischen Dynamik deren Wirkung ungemein: Eine fortgesetzte gegenseitige Infektion von szenisch Wahrgenommenem und Lachreaktion. Dieser szenisch-psychische Zusammenhang, das vom Mitleid reinigende und gereinigte Groteskkomische, verwandelt das, was an szenischem Material für den Verweis auf die außerästhetische Wirklichkeit vorhanden ist - einschließlich des Menschen - sowohl auf der Szene als auch im Bewusstsein zu reinem Spiel-Material. Dies der eigentliche Fluchtpunkt von Etikettierungen, die den theatralen Raum mit dem Psychisch-Pathologischen kurzschließen: Les Hanlon prennent les plats, les bouteilles, et se mettent ä jongier avec une fiirie croissante, si endiablee, que peu ä peu les convives, entraines, enrages, les limitent. D e fa^on que la scene se termine dans une demence generale. 2 ' 8
237
Zola, Naturalisme, S. 330.
238
Zola, Naturalisme, S. 331.
309
Ganz analog zu Bergsons Analysen hat man es in Theater und wahrnehmender bzw. verarbeitender Psyche mit einer steigenden Dynamik an Effekten zu tun, die sich schließlich ins Chaotische verabschiedet, was der Baudelaireschen Taumel-Figur entspricht. Die Gewalt der körperlichen Artistik resultiert ihrerseits aus einer - das ist entscheidend - erkennbar gemachten Perfektion im Umgang mit dem Körper: Jede Szene ist streng durchorganisiert, das szenische Tohuwabohu ergibt sich als Funktion eines streng konstruktiven Zuschnitts, das ihm etwas Mechanisches verleiht.*39 Inwieweit das humane Element in diesem Konnex von Mechanik, Tempospiel und taumelndem Bewusstsein absichtlich, offensiv und in makabrer Pointierung zu einer Nebensache degradiert wird, zeigt sich implizit in der verschriftlichen Fassung der Szenare, die das Gewaltmotiv, gerade dort wo es ausgesprochen prekär ist, in lapidarem Gestus abhandeln: Le boulanger d'en face a meilleure apparence. Cet homme bienveillant leur fait admirer son Installation; ses fours ronflent comme des orgues. Un petit gargon vient acheter un petit pain; on Ie met au four sans y songer — pas le pain, le petit garfon — c'est pure inadvertance, n'y faites pas attention. 240
Die >Leiden< der Mitspieler werden der abstrakten Aktionsfolge integriert als eine dem Gewaltmotiv komplementäre rein formale Korrespondenz - und sie werden nur noch als solche wahrgenommen. Dem entspricht das von De Banville (im Hinblick auf das in Voyage en Suisse dargestellte Omnibus-Unglück) betonte völlige Ausbleiben von Schrecken im Sinne eines emphatischen Betroffenseins angesichts der Faktizität des Gezeigten: Ebenso, wie Mitleid verunmöglicht wird in der rasanten Frappanz, mit der die akrobatischen Gewalt-Kunsttücke aufeinander folgen, entrealisierten die Hanions jeden genuin grausigen Vorgang so weit, dass er einem >wie ein Traum< vorkam und evozierten somit eine ästhetische Distanz, die einen inhaltlich-moralischen Einspruch nicht zulässt. Ganz entsprechend zu Zola weist De Banville als ästhetische Gründe dafür die Intensität und darüber hinaus die formale technische Präzision aus, mit der das Geschehen ins Artifizielle abstrahiert wird: C'est tout ä fait comme dans un reve, c'est-ä-dire beaucoup mieux que dans la realite, que l'omnibus se jette par terre avec une exactitude qui exclut toute terreur [...]. Comme dans le
239
Vgl. Zola, Naturalisme, S. 333. Wenn die Hanlon-Lees als »zynische Philosophen« des Fin de Siecle bezeichnet wurden, dann vor allem deswegen, weil ihre Pantomimen die mechanizistische Vergewaltigung des Menschen nicht inhaltlich referierten, sondern sie zur formalen Prämisse ihrer eigenen Darstellungen bestimmten. Das, was vorgeblich als modernistische Befreiung des Körpers und seiner adiskursiven Vermögen aus den symbolischen Ordnungen bestimmt wurde, ist in Wahrheit die analytisch-konstruktive Integration des Körpermaterials sowie der humanen Gehalte in einen entfesselten ästhetischen Ordnungswillen der modernen szenischen Imagination. Dass diese zwar eine Transformation, darin aber zugleich eine überbietende Prolongierung der rationalistischen Ordnung der modernen Gesellschaft darstellt, macht einen Teil dessen aus, was von Adorno als Partizipieren der Kunst an der »Schuld der Moderne< bestimmt wurde..
240
Hanions, S. 120 (Pierrot
310
terrible).
reve, ä force d'intensite et de decision, leurs actes sont mille fois plus reels que la realite, et surtout n'admettent aucune objection. >>14'
»beaucoup mieux que dans la realite, quel'omnibus se jette par terre« — eindeutiger lässt sich die Affinität von ästhetischer Unbeteiligtheit, technisch-virtuoser Perfektion und Grausamkeitsmotivik nicht ausdrücken. Zola hatte im Gegenzug zum aus ästhetizistisch-eskapistischer Perspektive argumentierenden Zeitgenossen De Banville durchweg auf den irritierenden und verstörenden, ja Angst einflößenden Zug dieser frostigen Relation von theatraler Artifizialität und chaotischer Intensität verwiesen. 142 Das >irre Lachen< (»fou rire«243), das sich nach Zola zwanghaft einstellte, macht fest an der ästhetischen Distanz, die zur Faktizität des empirischen Schreckens eingenommen wird. Da in dieser Distanz nichts anderes mehr als die aggressive Transformation ins Ästhetische angezeigt ist, lässt sie den Gedanken an eine souveräne Uberhebung gar nicht mehr zu: Das Lachen fällt gleichsam auf sich selbst zurück: Es wird mit dem schieren Faktum der Distanz als eigentlichem Gegenstand der Rezeption konfrontiert und findet aufgrund der visuellen Exzentrik und Dynamik, die ihre Textur ausmacht, keinen Anhaltspunkt mehr, der eine Selbstvergewisserung via subjektiver rationaler oder empathischer Vermögen zuließe. Lachen wird dermaßen zum Indikator der Überwältigung durch die transformative Kraft der Szene, einer Szene als »melange de cruaute et de gaiete«144: I d , il y a un de ces coups de folie epidemiques, dont on rit si fort, avec de sourdes inquietudes pour sa propre raison. 1 4 5
Zola war nicht der einzige, der die prekäre Dimension des Lachens als Symptom eines Bewusstseinbankrotts diagnostiziert hatte: Georges Rodenbach etwa beschreibt noch im Jahr 1899 das Spezifikum britannischer gaite entlang der Relation von clownesk-absurder Deregulierung des Gebotenen und dem daraus resultierenden Zwangscharakter des Lachens: une gaite plutot britannique, cette gaite maquille, desarticulee, qui rit comme chatouillee jusqu'ä devoir en mourir, et qu'on craint obligatoire ä la fa^on de celle des clowns 1 4 6
Die Hegeische Negatiwariante eines >haltlosen< Lachens, in dem »das Ideal verloren zu gehen droht< ist, entzündet an den großartigen Gestalten der englischen Clowns, zu einem Zielpunkt grotesker Theatralität geworden.
241
Hanions, S. 176.
242
Vgl. Zola, Naturalisme, S. 329.
243
Zola, Naturalisme, S. 332.
244
Zola, Naturalisme, S. 333.
245
Zola, Naturalisme, S. 331.
246
Georges Rodenbach: L'£lite. Paris 1899, S. 248.
3"
3·4·4· Strategien der Entnarrativierung des Schrecklichen: Befremdliche Bildsequenzen Lesclides einleitende Worte zu Pierrot terrible hatten die Gewaltprämisse ganz offensiv in den Vordergrund gerückt. Ins Auge fällt das Fehlen von psychologischen oder vernunftmäßig nachvollziehbaren Gründen fur die Gewalt 247 . Der Hinweis auf das Naive der Zerstörungslust bindet die Hanlonschen Pierrots durchaus zurück an die traditionelle komische Figur, die sich seit Deburau besonders durch ihre explizit zur Schau gestellte moralische Indifferenz auszeichnete. N u n intensivieren die Hanions jedoch zum einen die Ikonographie des Schreckens in ihren Pantomimen aufs Äußerste. Es wurde bereits festgestellt, dass diese Exploitation unmittelbar mit dem frappanten Wert des Materials zu tun hatte, die einer exzentrischen Groteskdarstellung unmittelbar zuträgt. Bereits Baudelaire beschrieb das Gewaltsame der englischen Clowns unter den Vorzeichen einer rein kunstimmanent sich vollziehenden Gewalttätigkeit, die nur noch eine äußerst lose Realitätsreferenz besaß und so aufgrund ihres hochautonomen Charakters frei von jeder >Bösartigkeit< war. Wenngleich Baudelaire in letzterem vor allem auf die anti-satirische Verfassung abzielte, so ist dennoch der Gedanke einer Befreiung des deformativen Moments von jeglicher ethischen Gegenindikation enthalten, die zur Folge hat, dass das eigentlich Repulsive zum Anlass von ästhetischem Vergnügen werden kann, ja: Das reine Plaisir am Hässlich-Bizarren avancierte fur Baudelaire zum Paradigma modernen Kunstgenusses schlechthin. Tatsächlich integrieren sich die Pantomimen der Hanions einer solchen Perspektive, sie stellten ob der Expliziertheit ihrer Gewalt- u n d Deformationsdarstellungen zum gegebenen Zeitpunkt deren bis dato unerreichten Extremfall dar. Allerdings haben die Hanions wohl genau verstanden, ohne dies freilich theoretisch zu explizieren, dass zur Reinhaltung ihrer grausamen Szenen von der moralischen Kontamination besondere Absicherungsstrategien nötig waren. Diese zielten sämtlich darauf hin, die Gesamthandlung, der sich die Gewaltszenen integrierten, als bloßen formalen Vorwand für die Erzeugung von intensiver agitation auszustellen. Stets klafft zwischen dem situationellen Anlass, also der eigentlichen causa der Handlung, und der Uberbietung in die Gewaltdynamik ein spürbar als solcher gesetzter Riss, eine Kluft, die offensiv und absichtlich erzeugt war und die Exzentrik der Handlung als artistischen Willkürakt auswies. Auch hierin prolongiert und extremisiert sich ein bereits die Funambules-^3i\toTaime.n charakterisierender Zug: Diese bedienten sich überkommener melodramatischer, tragischer aber auch komischer Verlaufsmuster in explizit zitierender Art und Weise, als rein formale Handlungs-Folien, auf deren Grundlage sich die artistische Grimasse und die akrobatische Qv^Ax-cascade als eigentliches Asthetikum entfalten konnte. Es geht im Folgenden um Szenen der Hanions, die paradigmatisch für eine derartige offensive Auseinanderdividierung von narrativem Anlass und Gewaltbild sind. Le Frater de Village zum Beispiel hat zum Ausgangspunkt eine verhinderte ^Mariage de Figaroc. Die Pantomime handelt von einem monströsen Barbier, der die H a n d seiner Geliebten, die ihm von deren Eltern verweigert wird, auf ebenso gewaltsame wie amüsante Art einfordert: Er bricht in die häusliche Szenerie ein, gerade als die Familie seiner Ange-
Vgl. Hanions, S. 117.
312
beteten zu Tisch sitzt, und tut das, was er am besten kann: Er rasiert - und zwar bis aufs Blut: Cassandre et sa famille dinent paisiblement dans un Interieur honnete, eclaire par les grands yeux de l'heroine. Au sein de ce calme bourgeois un orage soudain eclate. Un grand drole apparait, - tralala, tralala, comme dans le barbier de Seville. - C'est un coiffeur ä tous grins, poudre ä blanc, cire ä l'oeuf, arme d'une savonnette ecumante et d'un rasoir extravagant. Personne ne l'a fait demander, mais il arrive. De quel droit? Du droit imprescriptible de l'amant. II s'est dite: Comment ces gens dinent et m'ont refuse leur fille! Je vais les raser. II les rase en effet, avec une foule de circonstances aggravantes; il les rase jusqu'aux nerves; il les rase comme un poete de l'ecole du bon sens. Tant pis pour ceux qui se tiennent mal; on leur coupe la tete, quitte ä la recoller ensuite avec des pains ä cacheter. On oublie un peu d'embrasser Colombine, c'est le cant anglais qui veut cela, mais on soufflette les gens de si bon cceur qu'on n'a pas le temps de le regretter. L'intrigue se developpe au milieu d'un ensoleillement de gestes frenitiques d'ou les giffies et les coups de pied raionnent comme les etincelles d'un feu tournant.148 Der Text weist hier zum einen ganz explizit auf das Tempoprinzip hin: qa 'on n'a pas le temps de U regretter. Die Rasanz der Rasur macht eine innere empathische Beteiligung völlig unmöglich. Jedoch erfüllt die Szene diese conditio sine qua non noch auf eine andere Weise. Es besteht zwar in der Tat ein Konnex von Untat und Anlass, nämlich die Wut des abgelehnten Verehrers. Lesclides Beschreibung macht aber aufgrund der lapidaren Präsentation der Rechtfertigung deutlich, was für ein geringes Maß an Tragfähigkeit diese Motivation noch besitzt. Sie ist ein spürbar formaler Votwand für die groteske Rasurorgie. N u n muss diese Kluft jedoch auch in der aufgeführten Pantomime augenscheinlich werden: Einmal wird auch im Spiel sehr deutlich, dass zwei inhaltliche Reihen, die nichts miteinander zu tun haben und in einer rein äußerlichen und damit kontingenten Beziehung zu einander stehen, formal miteinander kombiniert werden, zum einen die Liebeswut des Helden, zum anderen sein professionelles Agieren, das zur stereotypen Geste reduziert wird. Damit wird die Inhaltlichkeit beider Motive ausgehebelt und ihre Funktion als hergebrachte Versatzstücke in den Vordergrund gespielt. Die Folie von Verschmähung und Wut ist das formale Spielfundament. Die Gewaltgeste selber ist zudem die mechanizistische Exploitation einer Berufshandlung: Das Banale der Profession wird an die Stelle eines heroischen Einspruchs gegen das Heiratsverbot gestellt und damit das (ohnehin komische) Pathos der Szene vollständig ridikülisiert. Die Gewaltrasur selber hat aufgrund dieser inhaltlichen Nivellierungen und Entleerungen nun als exzentrisches Spektakel gewissermaßen freie Bahn: Die Kontingente und banalisierende Beziehung auf das Liebesmotiv setzt sie frei für die dynamische Karikatur. Sie ist nur noch lose, d.h. rein formal mit dem eigentlichen Anlass verbunden und verstellt in ihrer Exzentrik auch noch den letzten Rest an inhaltlicher Transparenz auf diesen. Bereits besprochen wurde ein wesentliches Charakteristikum der Hanlonschen Artistik: nämlich jeden komisch-artistischen Bravourakt vorher durch eine körperliche oder mimische Geste einzuleiten und voranzukündigen und ihn so der narratio zu desintegrieren.
248
Hanions, S. nof. 313
Tatsächlich folgen die offensiven Trennungen von Anlass und Folge, von Sinnfolie und performativer Aktualisierung innerhalb der Szenarverläufe derselben Prämisse. Ganz eindeutig wird diese stilbildende Trennung von groteskem Akt und Motivation dort, wo die letztere selber als überkommener dramatischer Modus ausgestellt und ins Absurde überboten wird. In der Pantomime Singes et Baugneuses etwa geht Pierrot am Ufer der Seine entlang und beobachtet einen Fischer alles mögliche aus dem Wasser zieht, nur nicht Fische. In ihm keimt die Lust, den Angler ins Wasser zu schubsen, und der Motivationsgrund, den das von Lesclide transkribierte Szenar dafür angibt, lautet folgendermaßen: Pierrot trouve ce pcchcur obscene et constate entre lui et M . Emile Zola je ne sais quelle ressemblance qui l'engage ä. le flanquer ä l'eau. 2 4 9
Motivation tritt hier selber als komisches Spielgeschehen, als spielerisch-zitierende Ironisierung des dramatischen Grundmodus des Motivierens auf. Das Groteske als Prinzip, das sich gegen eine Ökonomie des Sinns richtet, ist gegenüber den beschriebenen Szenen in seiner moralischen Fragwürdigkeit durchaus steigerbar. Kommen die Opfer des Frater zwar wahrlich nicht ungeschoren und mit heiler Haut davon, aber eben zumindest davon, so endet Les quatres Pipelettes in einem Massaker: Ein junger hübscher Jäger wird von vier alten geschwätzigen Conciergen so lange aggressiv beschwatzt, bis er schließlich bei einer von ihnen Quartier nimmt. Um sich von dieser veritablen Überfrauung zu erholen, blättert er die neuesten Mordmeldungen im Petit Parisien durch, was in ihm einen makabren Rachegedanken keimen lässt. Er metzelt die Katzen der Damen: Le chasseur contrarie de ces changements de temps tire sur cette legion de matous et les reduits en poussiere. 250
Nach dem tierischen Massenmord werden die Halterinnen ebenfalls Opfer des einmal in Gang gesetzten Blutrausches, der in der Folge noch weitere Kreise zieht: Malheur! L'odeur du sang a grise l'assassin; la piece tourne ä la tragedie; il y a des scenes que Crebillon signerait. Les quatres portieres accourues aux cris de leurs angoras, sont tudcs a bout portant, L'enrage chasseur massacre par la meme occasion les notaires des maisons voisines et quelques huissiers. L'auteur a senti les besoins de diminuer l'horreur q u e son hcros inspire [ . . . ] 1 5 1
Die vom Szenar beanspruchte Entwicklung ins Tragische ist dabei doppelt motiviert - und beide Male hält die Motivation einer stichhaltigen Überprüfung nicht stand. Zum einen ist das Verbrechen an den Katzen über die Lektüre grausiger Vorfälle in Gang gebracht, eine psychologische causa, die zum bloßen Stimulus, zum sich in die perverse Gewaltimagination erhebenden Kitzel verkommen ist. Die zwischen Lektüre und Rache etablierte Beziehung ist in waghalsige Schräglage gebracht, die Untat selber als exzentrisches
Hanions, S. 154. 250
Hanions, S. 170.
251
Hanions, S. 170.
314
Gewaltspektakel tritt in Folge dieses Mankos an psychologischer Nachvollziehbarkeit als clowneskes Spektakel in den Vordergrund. Jedoch lässt Lesclides Rede vom
horreur
erahnen, dass das visuell Gebotene durchaus Schrecken zu erregen vermochte, was nicht zuletzt mit der Entbindung des Mord-Bildes von der narrativen Lizenz zusammenhängt. Das folgende Massaker an den Mitmenschen ist ganz dementsprechend als bloße Fortsetzung eines einmal in Gang gesetzten Tötungsautomatismus gestaltet: Der Blutgeruch, der zum grausamen Taumel fuhrt, ist als rein äußerliches Signal inszeniert, obwohl er zum dramatischen Prinzip des Konnex von causa und Folge eine formale, besser: eine zitierende (und darin zynisch ridikülisierende) Beziehung aufrechterhält. Inhaltlich steht jedoch die Exzentrik der Untat zu ihrem Anlass in keinem psychologisch sinnvoll aufschlüsselbaren Verhältnis mehr. Die Szene erscheint somit als Serie blutiger Bilder, die eben nur noch Bilder sind und sich rein in ihren optischen Intensitätsgraden unterscheiden. Der faktische Schrecken ist dem vom Visuellen ausgehenden horriblen Eindruck gewichen. Im Hinblick auf die Veranschlagung eines ästhetischen Zynismus für die Hanions ist jedoch die Tatsache weitaus schwergewichtiger, dass der Massen-Mord das
strukturelle
Pendant zu der Katzentötung abgibt. Ein grausiges Massaker ist hier in diminuitive Identität mit einem zwar entsetzenden, doch eigentlich banalen Motiv gesetzt. Die eine Handlung geht so bruchlos in die andere über, weil nur die transzendentalen ethischen Implikate, die keinerlei Gültigkeit mehr besitzen, die entscheidende Differenz beider Handlungen ausmachen. Formalstrukturell
aber sind sich Katzenschlachtung und Massa-
ker am Menschen prinzipiell ähnlich, ebenso, und vor allem: vom szenisch-performativen Wert her. In dieser offensiven Entleerung der inhaltlichen Unterschiede zweier oder mehrerer eigentlich unvereinbarter Geschehensequenzen und deren Annäherung und strukturelle Abgleichung in Sachen Energetik, Frappanz und körperlicher Exzentrik lag eine ganz wesentliche ästhetische Strategie der Hanions, ja das eigentliche Wesen dessen, was De Banville unter dem Stichwort agitation zum Ziel ihrer pantomimischen Darstellungen bestimmt hatte. Die einzelnen Szenen der Pantomimen werden nicht einfach ungerichtet addiert, sondern anhand von formalen Korrelationen kombiniert, die um das dynamische Darstellungsprinzip herum organisiert sind. Nachdem etwa die Duellanten in Le Dueld\es
um sich herum erschlagen haben, wird
diese Situation abgebrochen, und durch eine neue, inhaltlich der vorhergehenden völlig unverbundene ersetzt. Lesclide verwendet nicht zufällig die Deus ex
machina-Metapher:
L'heure sonne, d'ailleurs, oü le Deus ex machina va denuer Paction. II apparait sous la forme d'un bceuf qui semble etre une transformation mythique du gendarme. La bete saute en scene pour devorer Pierrot ou du moins pour I'encorner. Ne vous s'y trompez pas, c'est la grandissement du premier duel, c'est la lutte de Jacob et de I'ange. 252
252
Hanions, S. i j i .
315
Wiederum also das kontingente Prinzip der Reihung: Allerdings folgt es einer szenenimmanenten Logik darin, dass der Kampf mit dem Rind, wie Lesclide expliziert, als formales, jedoch dynamisch gesteigertes Analogon zu dem vorausgehenden Duell in Szene gesetzt ist. Zum einen auf der motivischen Ebene: Beide Sequenzen präsentieren veroutrierte Kampfszenen. Die damit etablierte assoziative Identität hat, wie im Falle des KatzenMenschen-Massakers, zur Folge, dass die Bedeutung des Duells als inhaltliches Konstrukt im Nachhinein völlig relativiert wird: Es hat genauso wie der clowneske Kampf des Pierrot mit dem Rindvieh rein formalen Wert. 253 Allerdings musste, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf Dauer zu fesseln, die Dynamik der so konstituierten Szenen fur die Dauer der Pantomimen gesichert werden. Das führte zu einer ständigen Effekt-Überbietung, die schlussendlich ins Seltsame tendierte - Tribut an das >Wunderbare< der Funambules-Feenen. Im Falle derjenigen Pantomimen, die als lose Reihung von eigenwertigen komischen Kabinettstückchen angelegt waren - wie etwa Singes et Baigneuses— fällt die Integration verinselter Szenen auf, von denen aufgrund ihrer fantastischen Anlage eine ganz besondere ästhetische Eindrücklichkeit ausgeht. Besonders frappierend ist diese Technik dort, wo ein szenisches Geschehen plötzlich in eine gänzlich unverbundene Szene hinein abbricht: Der ohnehin aufgesetzt wirkende Kampf Pierrots mit dem Stier in Le Duel endet seinerseits in einem völlig surrealen, alle räumlichen und zeitlichen Koordinaten der Szene aushebelnden Bild, in dem Pierrot erst steil in den Himmel geschossen wird, um darauf in den Armen von Henri IV und Napoleon zu landen. Ganz dem nämlichen Prinzip folgt der schlussendliche Hauseinsturz in Les Cascades du Diable. In Le Dentiste explodiert - nach der erfolgreichen Extraktion eines schmerzenden Zahnes durch ein Geschoss - das Bühnenbild in einem Gemüseregen. 154 Nur auf den ersten Blick kann angesichts dieser offenkundigen Effektüberbietung das Etikett von Alogik oder das der Absurdität bemüht werden: Genau besehen folgt dieses unmögliche und ins Surreale gehende Denoument immer derselben immanenten Prämisse. Es handelt sich um eine Substantialisierung des frappanten visuellen Wertes des Grotesken auf Kosten jeglicher anderweitigen Verrechenbarkeit: Die wesentliche, in jeder Szene aufs Neue herzustellende Qualität ist die des Unerwarteten und radikal Uberraschenden: »O joie! Ο peripetie inattendue!« heißt es im entsprechenden Szenar dort, wo das Haus in Schutt und Asche fällt. Und auf den Gemüseregen in Le Dentiste wird eine ähnliche Hymne gedichtet.255 Das jeweilige Endspektakel hebt damit endgültig das auf, was schon im Verlaufe der Pantomimen immer wieder ärgsten Angriffen unterlag: Die Wertigkeit von durch und am Menschen sowie am organischen Körper manifestiertem theatralen Handeln. Wo der szenische Mord an Katzen und der Kampf mit einem Stier, die Verfolgung von Badenden durch wild gewordene Affen und eine >vegetabile< Apotheose ob ihrer Exzentrik prinzi-
253
Weiterhin ist der groteske Endkampf als Neugenerierung von szenischem Geschehen zu verstehen: Die Ausreizung des Duellanten-Massakers bis ins Extrem läuft Gefahr, langweilig zu werden. Die Ablösung des einen Exzentrischen durch ein anderes, dem ersten assoziativ verbundenes exzentrisches Motiv hat somit auch funktionalen Charakter.
2
'4 Vgl. Hanions, S. 146.
2,5
316
Hanions, S. 142 und vgl. S. 146.
piell dieselbe, wenn nicht eine höhere ästhetische Wertigkeit besitzen, wie die Darstellung eines Massakers an Menschen oder der Verlust eines Babys, ist die grundlegende Differenz zwischen Mensch und Ding sowie alle an dieser Relation mitpräsentierten Gegensätze aufgehoben. Erstens der zwischen ontologisch-transzendentalen Schichten: Der Mensch als figurale Exemplifikation eines höheren Sinn-Prinzips ist - dies der >Zynismus< der Hanions - verabschiedet und auf das Maß eines Spiel-Dings verkleinert. Zweitens und ganz generell derjenige zwischen Organisch-Lebendigem und rein Gegenständlichem. Und drittens der zwischen Faktum, rein theatralem Bild und Bewusstseinstatsache. Aber eindeutig geht es den Hanions weitaus weniger um das Minus an humanistischer und ontologischer Perspektivierung, denn um das Surplus an theatralem Potenzial, das in dieser Nivellierung liegt. Alles auf der Bühne Präsentierte geht bei den Hanions schließlich - ebenso Unterschieds- wie gnadenlos - in einen nach Maßgabe von Intensität und Effektdichte organisierten Spielzusammenhang ein. Dabei ist diese Funktionalisierung nicht nur subkutan, als allem unterlegte Prämisse spürbar, sondern wird - zumindest in Lesclides Transkription - selber als Spielgestus reflektiert. In Le Duel kommen Feldarbeiter ihres Weges und geraten dummerweise in denjenigen der beiden enragierten Kampfer. Der Grund, den Lesclide angibt: Porquoi ces moissonneurs? Parce-que. « 2 ' 6
»parce-que«: Der Auftritt hat keine andere Funktion, als die Massakerszenen am Laufen zu halten. Es verwundert nicht, wenn in diesen Fällen Funktionalisierung der Mitspieler zu Effektobjekten und Gewaltgeste stets konvergieren. Noch deutlicher spricht Lesclide das Prinzip im Szenar von Pierrot Menuisier an. Pierrot versucht, den Geist des von ihm ermordeten Gentleman endlich zum Schweigen zu bringen - erinnert sei an den Marrrchand d'habits! - und gibt einen Schuss ab, der aber fehlgeht und eine schwangere Katze trifft. Das Tier zerplatzt buchstäblich und ein Regen an kleinen Katzen geht nieder. Ein ebenso grausiges wie köstliches Bild, dennoch: Es wird weiter exploitiert, um den Fortgang einer klamaukhaften Gefechtszene zu ermöglichen: II tire, et frappe un chat süperbe, qui ronronnait sur le toit voisin, en se chauffant au soleil. Or, ce chat etait une chatte, comme on en pouvait juger par la prodigieuse rotondite de son ventre. On en juge bien mieux par la pluie de petit chats qui tombent sur la scene; c'est une averse de minets. Precisement on manquait de choses a se jetter a la tete; les petits chats comblent une lacune. On se bombardent au moyen de ces innocent betes, qui onr une singulieres fafons d'entrer dans la vie. 257
Allerdings geht dieser Einsatz des Lebendigen als Ding und Versatzstück nicht in der Funktion der sequentiellen Anschlussbildung allein auf: Der >inhumane< Gebrauch von Lebendigem (im Sinne seines theatralen Abbildes) als bloßes Versatzstück lässt den bereits
^ 257
Hanions, S. 151. Hanions, S. 116. Hervorhebung J.v.B.
317
von Adorno beschriebenen Gewaltaspekt von Kunst schlechthin sinnfällig werden, ja, bekennt ihn ein und markiert sich damit selbst als modernistsicher Zugriff. Er terminiert in der Herstelllung surrealer und als solcher inkommensurabler, doch eben aus diesem Grund auch schöner Bilder: Dem Herausreißen der Gegenstände aus ihren herkömmlichen wertmäßigen Kontexten und ihre indifferente, die ontologischen Hierarchien missachtende Kontamination fuhrt bei den Hanions immer wieder zu Tableau-artigen, allerdings bewegten szenischen Bildern, von denen ob ihrer Befremdlichkeit eine ganz spezifische Faszinationswirkung ausgeht. Die Instrumentalisierung der jungen Katzen zu Spielbällen wie auch die Missachtung von menschlichem Leben wird ganz entsprechend am Ende der Pantomime Le Menuisier in ein hochpoetisches Bild überfuhrt, das ob seiner makabren Artifizialität nahezu enigmatische Züge annimmt. Die Katzen kreisen wie ein Schwalbenschwarm um den Kopf eines Skeletts: A u milieu de ce tohu-bohu indescriptible passe un squelette qui est comme un rapel de couleur. Couronnant ce faisceau des lignes brisies les petits chats tourbillonnent dans les airs comme des volees d'hirondelles. 258
Die surreal-poetische Konstruktion eines frappanten Bildes aus fliegenden Katzen und dem zum Linienbündel abstrahierten Skelett beweist: Das, was auf den ersten Blick ein zynischer Gestus der Provokation zu sein scheint, die Verwischung der Grenze von Mensch/Lebendigem und Ding ist im eigentlichen wesentliches Indiz des Willens zur ästhetischen Abstraktion. Das offensiv in die Gegenständlichkeit überführte Organische wird nicht nur ent-, sondern als artifiziell-dekoratives Element innerhalb eines artistischen Spielzusammenhangs neu bewertet. Das Schöne gerät damit zur eigentlichen Entsprechung des Fremden, welches sich in die transformative Nachbildung der Realität gewissermaßen einschleicht oder in der pantomimischen Wiederholung des Empirischen gleichsam freigesetzt wird. 3.4.5. Wahnsinnige Akrobatik und ästhetische Autonomie Das gerade beschriebene Prinzip hat stärksten Einfluss auf die stilistische Signatur der Hanlon-Pantomimen gerade dort, wo sie körperliche Deformation nicht nur akzidentiell, sondern dezidiert thematisch verhandeln und als Gegenstand des ästhetischen Interesses in den Mittelpunkt rücken. Le Dentiste, eine Pantomime, die »une des plus cruelles infirmites humaines«259 verhandelt, den Zahnschmerz nämlich, gibt dafür das beste Beispiel ab. Gezeigt wird die an eine Folterkammer gemahnende Praxis eines berühmten Zahnarztes. So Furcht einflößend die Instrumente, so grausig das Defild der vom Schmerz entstellten Patienten: »un defile de patients plus hideux les uns que les autres vient se ranger devant la maison du dentiste. Ce sont des abces prodigieux et des fluxions formidables.« l6 °
2 8
'
Hanions, S. 116. Hanions, S. 143.
260
318
Hanions, S. 144.
Die hier paradigmatisch zu fassende Schmerz- und Entstellungsaffinität der HanionSzenen verzeichnet zugleich ein implizites Interesse an Abstraktion. Nochmals ist darauf hinzuweisen, dass körperliche Entstellung auf der grotesken Szene nie als Index realer Körperlichkeit zu werten ist, sondern im Gegenteil: Die Desintegration, die in Wunden, Schmerzbildern und Missbildungen liegt, stilisiert den gezeigten Körper zur abstrakten Schreck-Figur, die das Andere des Körpers als Wirkung auf die Szene bringt. Die englischen Pantomimen lassen entsprechend die äußeren Anzeichen der Quai qua extremer Überdeterminierung ihres Ausdruckswertes in offensiver Entmenschlichung, sozusagen in die anthropologische Inhaltsleere terminieren. Der bedauernswerteste Patient — »Un malade exceptionnel [...], un malade trie sur le volet, dont la tete informe temoigne de souffrances inou'ies et de complications pathologiques deplorables«261 - hat dementsprechend gar kein menschliches Antlitz mehr, sondern dieses ist im schrillen Ausdruck einer Schmerzens- und Angstmaske erstarrt: »masque qui n'a rien d'humain« 202 . Doch nicht genug damit: Das Gesicht des Gequälten wird qua anatomischem Hyberbolismus zum Teil eines Mechanismus >KörperHandlungSchwarze< tendieren lässt, erhält hier ihre eigentliche Profilierung. Das repulsive Substrat einer als katastrophisch begriffenen Realität wird, wo künstlerisch-motivisch auf es referiert wird, zum Ansatzpunkt extremer imaginativer Überbietung und einer entsprechenden Kunsthaftigkeit, die in ihrer reinen Selbstbezüglichkeit jedoch immer, wie Adorno meinte, das prekäre Implikat trug. Ihre Opakizität und soziale Abgeschlossenheit ließ sie hochirritativ werden. Diese genuine »Entfremdung qua ästhetischer Verfremdung! lässt einen teleologisch-utopistischen Entwurf nicht mehr zu. Genau darauf spielt auch Gautier an, wenn er einen gleichsam völlig ungerichteten, auf einen nicht zu verifizierenden Gehalt hin tendierenden Stilgestus zur eigentlichen Folge der Entsprechung von Zivilisationspessimismus und dekadenter Kunst bestimmt: mais tel est bien Pidiome necessaire et fatal des peuples et des civilisations oil la vie factice a remplace la vie naturelle et developpe chez l'homme des besoins inconnus 1 8
16
Karl Heinz Bohrer: Naturgefühl ist kein G e f ü h l der Natur. Surrealistisches Naturbild und M e tropole. In: Karl Heinz Bohrer: Die Grenzen des Ästhetischen. München/Wien 1998, S. 89-115, S. 93.
17
Gerade Baudelaires Doppelpositionierung als später Schwarz-Romantiker ««^eigentlicher Begründer der Decadence belegt das hinreichend.
18
328
Baudelaire par Gautier, S. 124.
Wiederum war es Adorno, der am luzidesten die hierin zu Tage tretende moderne Krisis verifiziert hat: Die (dekadente) Moderne gerät angesichts einer in ihrer Untergangstimmung indizierten tief greifenden Sklerose von utopistischem Vermögen unter den besonderen Druck, als Verlängerung der romantischen Moderne nach wie vor das Neue vertreten zu müssen, ohne dieses jedoch eindeutig, d.h. im Sinne einer Substanz, eines Inhaltes oder einer Botschaft bestimmen zu können. Baudelaires berühmte Gleichung von Modernität und Kontingenz veranschaulicht das prägnant. Entsprechend avanciert jedoch der goüt de neant zum eigentlichen Ausdruck einer Novitätsemphase, die nichts mehr verbürgt: Er markiert das >Neue< als - im Gautierschen Sinne - inconnu, i.e. als ein vom pragmatischen Standpunkt aus Nichtiges, Inkommensurables, nicht auf eine historische Teleologie zu Projizierendes. Diese völlige Schwärze und leere Enigmatik entfaltet im Hinblick auf den Betrachter, wie Adorno explizit sagt, eine spezifisch beunruhigende Wirkung: die des »Grauenhaften«.19 Die Vorliebe der Dekadenz für die Motivik des Todes erhält erst in ihrer Anbindung an die irritierend-repulsive Wirkung einer ins Extrem des Bedeutungslosen getriebenen Artifizialität ihre eigentliche epochale Markanz. Dabei ist jedoch zu betonen, dass Künstlichkeit als solche positiv besetzt ist. In dem Maße, wie sie von jeglicher außerästhetischen Verrechenbarkeit befreit ist, verbürgt sie allererst ästhetische Lust. An dieser Demarkationslinie von Inkommensurabilität und Plaisir wird die groteske Signatur wieder deutlich, Lust und Unlust stehen in unauflöslicher Beziehung zueinander. So deutlich wie nirgends sonst ist dieses Prinzip in Baudelaires Gedicht Danse macabre in den Fleurs du Mal formuliert, in dem das düstere theatral-ludische Motiv auf die Realität projiziert wird. In der letzten Strophe heißt es En tout climat, sous ton soleil, la M o r t t'admire En res contorsions, risible Humanite, Et souvent, comme toi, se parfumant de myrrhe, Meie son ironie ä ton insanite ! z 0
Deutlich treten hier weltanschaulicher Pessimismus und anthropologisch-existentieller Zynismus zusammen. Entsprochen wird dieser offensiven Abwertung des Humanums jedoch durch die Exzentrik des Todesmotivs, das Baudelaire zum Inbegriff des Schönen schlechthin stilisiert: »Fiere, autant qu'un vivant, de sa noble stature, Avec son gros bouquet, son mouchoir et ses gants, Elle a la nonchalance et la desinvolture D ' u n e coquette maigre aux airs extravagants. [ . . . ] La ruche qui se joue au bord des clavicules, C o m m e un ruisseau lascif qui se frotte au rocher,
19
Adorno, Ästhetische Theorie, S. 40. Vgl. zum >Neuem< als dem >Schrecklichen< in Baudelaires Texten sowie schon bei Hugo: Stefan Schulze: Die Selbsreflexion der Kunst bei Baudelaire. Eine literaturgeschichtliche Untersuchung.
Heidelberg 1999, 26off und S. 276ft. 20
Charles Baudelaire: Danse macabre. In: Charles Baudelaire: CEuvres completes: Les Fleurs du Mal. Paris 1930, S. 1 6 8 - 1 7 0 , S. 170. 329
Defend pudiquement des lazzi ridicules Les funebres appas qu'elle tient a cacher. Ses yeux profonds sont faits de vide et de tenebres, Et son crane, de fleurs artistement coiffe, Oscille mollement sur ses freies vertebres. - Ο charme d'un neant follement attife! Aucuns t'appelleront une caricature, Qui ne comprennent pas, amants ivres de chairs, L'elegance sans nome de l'humaine armature. Tu rdponds, grand squelette, ä mon gout le plus eher!«21
Das groteske Totenbild ist als ridikül-spielerische Nachahmung des Lebendigen gefasst. Ridikül deswegen, weil es von jeder Lebensrealität befreit ist und sein Dekor daher völlig sinnlos erscheint. Gerade diese Differenz jedoch verleiht ihm den eigentümlichen Reiz, den Baudelaire als spezifischen Zusammenhang von Düsterkeit und ästhetischem Interesse fasst: Der Schädel, Symbol der völligen Nichtigkeit, Metapher des neant, ist >wahnsinnig< aufgeputzt. All der Zierrat sowie der durch ihn exponierte Gegenstand sind Marken des Antipragmatischen. Die Lust am morbiden Anblick ist reine visuelle Lust, es existiert keine Wahrheit mehr, die ihr eigentliches Substrat wäre. Das Makabre, der Tod als Ästhetisches und als bloße Spielerei, verbürgt keine tiefere metaphysische Semantik mehr, er ist schön, weil er nur Bild ist, reine und vom Sinn befreite Nachahmung und bizarre Hohl-Spiegelung des >normalen< Lebens: Der Zauber des Nichts, der von ihm ausgeht, etikettiert vortrefflich das Faszinierende eines eigentlich leeren Gebildes, das jedoch immer auch Schrecken erregt. Das Gesagte deutet darauf hin, inwiefern der schlussendliche Ubergang einer populärtheatralen Form wie der Pantomime ins Makabre und Grausige als spätes, jedoch gewichtiges Indiz dafür gelten kann, dass ihre emphatische Hochschätzung von Beginn an weniger mit dem Gedanken an eine tatsächliche Wiederbelebung des Naiv-Volkskunsthaften (und eines in ihm angenommen Substrats an Authentischem) als vielmehr mit Erwägungen zu tun hatte, die in ihr eine - wenn nicht die wesentliche - Ausprägung einer modernen Ästhetik des Hässlichen, einschließlich des moralisch Repulsiven, sehen ließen. Ganz entsprechend ist eine im Folgenden zu analysierende dekadente Überbietung einer pantomimischen Stilistik der Deformation entlang der szenischen Metapher des Bösen unter den genuin ästhetischen und theatralen Vorzeichen des Genres zu sehen. Das Morbide der dekadenten Pantomime etabliert sich dabei nur in seiner Relation mit dem ihm entsprechenden Aktions-Motiv: dem des Bösen. Bereits Bourgets zitierte Rede vom Anarchischen als Energetischem deutet daraufhin, dass die dekadente >Sklerose< nicht als passiv ablaufendes, sondern als aktiv in Gang gebrachtes Geschehen aufzufassen ist. In einer Sammlung von Aufsätzen hat Karl Heinz Bohrer darauf hingewiesen, dass eine Hermeneutik des Bösen als einer literarischen und ästhetischen Kategorie bis dato
Baudelaire, Danse Macabre, S. i68f. 330
daran krankt, dass sie »das Böse immer nur als Gegenstand einer bestimmten literarischen Schule, die grob markiert von Miltons Paradise Lost (1667) bis zu Baudelaires Les fleurs du mal (1857) reicht«, erkannt und darin stets die semantische Dimension in den Vordergrund gerückt hat. Die dunkle Thematik erhielt ihre Lizenz durch die Forschung im nachhinein nach Maßgabe zweier Perspektiven: Zum einen verifizierte man in den Darstellungen des Bösen die zwischen Pessimismus und Kritik schwankende mimetische Funktion einer »Widerholung der bösen Wirklichkeit, die nicht zu leugnen ist«22, übersah dabei aber geflissentlich das romantisch-moderne Prinzip »wonach die Dichter >erfindenGewalt< angetan. Zum anderen aber wird durch die im Komischen erreichte Distanzierung von der Inhaltlichkeit der Gräueltat der szenisch-ästhetische Eigenwert ihrer Manifestationen: der Gewalt, der Deformation und der Agonie betont. Es ist in an dieser Stelle ins Gedächtnis zu rufen, dass die komische Figur (wie das Komische als ästhetische Vergegenwärtigungsform) generell, wie insbesondere die des stummen, durch das Wort narrativ nicht abgesicherten pantomimischen Spiels im besonderen, konstitutiv auf der Strategie der hyperbolisch transformierenden und darin distanzierenden Nachahmung beruht (und darin den Grundzug alles Ästhetischen expliziert, weswegen Hegel dem Komischen auf seiner Stufenleiter die intrinsische Nähe zum Ästhetischen bescheinigt hat). Ebenso wie der Trieb als formalästhetische Prämisse fur die komische Figur konstitutiv ist, sie formal definiert, ist es in anderer Weise die Offenbarung des nachahmenden Gestus, auf den das Komische seit jeher wesensmäßig festgelegt ist: Das Vertraute wird in einem - wie auch immer gearteten - Akt formaler Umformung distanziert und dermaßen ausgestellt. Während aber herkömmliche Komik auf der referentiell-verweisenden Leistung dieser Distanzrelation besteht (sei es in satirischer, in persiflierender oder aber rein amüsierender Absicht), so wurde als Kennzeichen des Grotesken der Zusammenbruch der Verweisrelation zugunsten des Hervortretens der Differenz selber festgestellt. Entsprechend der Marguerittes Szenar inhärenten Selbst-Reflexion auf den ästhetischen DifFerenzmodus ergreift nun die komische Ausstellung in einem Akt der Autoreferentialität die komische Strategie selber: Die distanzierende Nachahmung als Bildungsprämisse des Komischen wird zugleich zum eigentlichen Inhalt der Pantomime. Anders aber als in komischen Stücken, in denen diese Nachahmung - so z.B. im Rollentausch, der Verkleidung etc. - nur die inhaltliche Metapher für den zu Grunde liegenden Prozess abgibt, besteht das, was auf der Margueritteschen Szene erscheint, nur noch als und in der vor-
Margueritte, Nos Treteaux, S. 101.
337
geblichen Nachahmung, also als genuin artifizielles Gebilde. Damit ist die komische Distanz, die in der Nachahmung selber begründet liegt, gleichsam völlig in die Selbstwertigkeit freigesetzt. Die Möglichkeit der Relationierung zu einem als Vergleich dienenden Vorbild, das die komische Transformation beglaubigen könnte, ist unterbunden, und zwar ironisch-offensiv. Die Referenz wird nur noch qua somnambuler Erinnerung beansprucht, das Schreckliche selber: der Mord, wird explizit als pantomimische Wiederholung vorgefahrt. In dieser Spannung von (unmöglicher, nur noch behaupteter) Mimesis und konstruktiv hergestellter Eigenwertigkeit erlangt alles Gezeigte eine rein gestische, performative Dimension und die Vergegenwärtigung des Schrecklichen, durch die somnambule Halluzination Pierrots mehr als beliebig motiviert, wird in der Pantomime als eigene hic et nunc-Realität der Szene referiert. An dieser Stelle muss darauf verwiesen werden, dass die Wahrnehmung des Komischen und besonders seiner farcenhaften Spielart, wie die Pantomime sie vertritt, zu der in Rede stehenden Zeit, also zum Ende des 19. Jahrhunderts, von prominenten Zeitgenossen wie Mallarme auf diesen Aspekt der Selbstreferenz als Synonym für das Ästhetische und die Phantasie schlechthin abstellt: Comrae je goüte, encore differement, la farce claire, autant que profonde sans prendre jamais un ton socieux vu que c'est trop si la vie l'affecte envers nous, rien n'y valant que s'enfle l'orchestration des coleres, du blame ou de la plainte! partition ici tue selon un rhythmique equilibre dans la structure, eile se repond, par opposition de scenes contrastees et retournees, d'un acte a l autre oü c'est une voltige, allees, venues, en maint sens, de la Fantaisie, qui efface d'un pincement de sa jupe, ou montre une transparence d'allusions a tout ridicule [...]. 4 2
Auch Margueritte bemüht das Bild einer gleichsam von allen außerästhetischen Gegenindikationen freigestellten und in diesem Sinne >unschuldigen< Spielatmosphäre der »Deguisements rapides, eclats de jeunes rires, notre seconde jeunesse [,..].«43 Auffallend ist, dass die spezifische Verwandlungs- und Kontrastkomposition der komischen Szenen als strukturelles Pendant ihrer ästhetischen Autonomie bestimmt wird: Der an der willkürlichen Kontrastierung zu Tage tretende konstruktive Wille befreit das Werk von jeder außerästhetischen Referenz. In genau diesem Sinne spricht auch Margueritte von der Welt des Theaters als »un monde imaginaire et pourtant reel«44 . Die irritierende Note erhält die komische Nachahmung des Schrecklichen in Pierrot Assassin nun zum einen darin, dass sie den radikal konstruktiven und willkürlichen Charakter alles auf der Szene Erscheinenden zu Bewusstsein bringt (und damit durchaus die
42
Stephane Mallarme: Kritische Schriften. Französisch und Deutsch. Hrsg. von Gerhard Goebel und Bettina Rommel. Mit einer Einleitung und Erläuterung von Bettina Rommel. Gerlingen 1989, S. 198. Ein gewichtiger Einfluss Mailarmes auf Margueritte ist anzunehmen, war letzterer doch der Vetter und Protege des ersteren. Vgl. Bettina Rommel: Subtext, Kontext, Perspektiven von Mallarmes Kritischen Schriften. In: Stephane Mallarme: Kritische Schriften. Französisch und Deutsch. Hrsg. von Gerhard Goebel und Bettina Rommel. Mit einer Einleitung und Erläuterung von Bettina Rommel. Gerlingen 1989, S. 315-380, S. 357.
43
Margueritte, Nos Treteaux, S. 19. Margueritte, Nos Treteaux, S. 10.
44
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von Adorno eingeforderte >äffende< Funktion des Clownesken erfüllt): Die entfesselte Eigenrealität der Szene unterminiert dementsprechend gnadenlos das, was an noblem Vorbild zitathaft in die Pantomime integriert wurde. So werden innerhalb der dem Mord vorausgehenden Abwägung - die formal nach dem Bild einer Reflexion im besten Macbethschen Sinne gestaltet ist - keinerlei Zweifel an der Tat selber oder an ihren moralischen Folgen manifest. Alles, was Pierrot interessiert, sind deren Verborgenbleiben sowie die ästhetischen Aspekte: Unerträglich fur ihn der Gedanke an das viele Blut beim Zersäbeln, an die hässlich herausbaumelnde Zunge beim Aufhängen, die Zuckungen beim Vergiften.45 Ebenso ergibt sich die zündende Idee, wie die eigene Frau um die Ecke zu bringen sei, aus einem dämlichen Missgeschick: Der in gravitätisches Nachdenken versunkene Clown stößt sich den Fuß, massiert die empfindliche Stelle, was einen Kitzel verursacht, der ihn fürchterlich zum Lachen bringt - et voilä, der perfide Plan ist geboren! Diese durchaus zufällige motivatio hat ihr verfasserisches Pendant daran, dass Margueritte mit dem folgenden Kitzel-Mord explizit auf ein Motiv aus Gautiers Pierrot posthume zurückgreift. 40 Dort heißt es: »Bon, m ' y voilä: j'ai lu dans un conte du temps, L'histoire d'un mari qui chatouilla sa femme, Et la fit, de la sorte, en riant rendre Tarne.« 4 7
Der gesamte Handlungskontext ist damit seinerseits als Exploitation eines bereits vorgegebenen und seinerseits nur erzählerisch referierten Motivs begründet, als Zitat eines Zitats also, und dermaßen narrativ auf das Zweidimensionale reduziert. Diese doppelte, einmal im Inneren des Szenars, einmal im äußeren intertextuellen Kontext vorgenommene radikale Relativierung des Anspruches auf eine ernstzunehmende inhaltliche Beglaubigung geht mit der Konstitution der verstörenden Eigenrealität des rein Künstlichen einher. Diese gewinnt umso mehr an irritativer Qualität, als sie sichtbar gebunden ist das verstärkte Interesse an der Darstellung des im Lachkrampf deformierten und agonierenden Körpers. Noch einmal sei die Mordstelle zitiert: Elle (il) se tord en un affreuse gaite. U n de ses bras devient libre et rend libre l autre bras. Et ces deux bras en demence maudissent Pierrot. Elle (il) eclate de rire vrai, strident, mortel; et se dresses ä mis-corps; et veut se jeter hors du lit; et toujours ses pieds dansent, chatouilles, tortures, epileptiques. C'est l'agonie. Elle (il) se souleve une ou deux fois — spasme supreme! - ouvre sa bouche pour une derniere malediction, et rabat en arriere, hors de lit, sa tete et ses bras pendants. 4 8
Nicht nur durch ihren abstrusen Anlass ist die übertriebene Sterbe-Spasmik Colombines ihrer Verankerung in einem Kontext dramaturgischer Plausibilität enthoben, denn: dieser Körper selbst ist gar nicht der Colombines, sondern der Pierrots! Um den grausigen Inhalt wird durch die komische - weil notwendigerweise über Pierrot unangemessene - Nachahmung gleichsam ein komischer Rahmen gesetzt, der den
45
Vgl. Margueritte, Nos Treteaux, S. 101.
46
Vgl. Margueritte, Nos treteaux, S. 15.
47
Gautier, Pierrot posthume, S. 194.
48
Margueritte, N o s Treteaux, S. I02f.
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einen Zweck erfüllt: das schreckliche Geschehen und die Deformation von der narrativen Beglaubigung zu distanzieren, um es ausschließlich an die körperliche Darstellung zu binden. Auf diesem Wege wird ihm die schockante Qualität erst gesichert. Man muss sich vor Augen halten, dass Margueritte hier auf eine ästhetische Tradition des Grausamen sowohl innerhalb des ernsten Dramas, nicht zuletzt der Tragödie, innerhalb des romantischen Dramas und innerhalb der überkommenen Pierrot-Szene gleichermaßen antwortet. In unterschiedlicher Weise wurden gerade im Tragischen und in der dramatischen Form des Melodramas die Schrecklichkeiten stets narrativ erklärt oder diskursiv gesichert. Sei es, dass sie eine Sinndimension eröffneten, in einer neurotischen Triebsphäre begründet waren, die reale Referenz auf das metaphysisch oder soziale Böse enthielten oder aber die Absage an die gesellschaftliche Moral als Botschaft transportierten - zumeist konnte Gewalt am Ende (zumindest alibihaft) eingeordnet und inhaltlich-ethisch oder emotional nachvollziehbar gemacht werden. Die über die komische Distanzierung erreichte Emanzipation des gewaltsamen Eindrucks aus dieser Relation fuhrt bei Margueritte dazu, dass die schiere Phänomenalität des spasmodierenden Körpers und der gewaltsam verformten Züge gleichsam rein in den Vordergrund treten: Durch den personalen Wechsel von Colombine zu Pierrot wird Gewalt als inhaltliche Größe ersetzt durch die Gewalt, die am optischen Eindruck des Verzerrten selber haftet. Die wesentliche Neuerung Marguerittes besteht aber darin, dass er diese Transponierung von Gewalt als Inhalt zur Gewalt als Bild qua komisierend-distanzierender Wiederholung offen ausspielt. Marguerittes Pierrot zeigt, dass das Schreckliche nur Spiel, ein körpertechnisch-artifiziell hergestellter optischer Eindruck ist. Die ständige Erinnerung Marguerittes an die pantomimische Nachahmung - »eile (il)« - lässt keinen Zweifel daran, dass das ästhetische Interesse an der körperlichen Desintegration und an dem gewaltsamen Eindruck weder auf Inhalt noch auf die Authentizität von Körperlichkeit abstellt, sondern sich am sensationellen Faktum der pantomimisch Wiederholung und ihrer Variationsmöglichkeiten entzündet. Das ebenso Beeindruckende wie Verstörende dieser Pantomime, über deren tatsächliche Realisierung keine Dokumente Aufschluss geben, ist sicherlich die von ihr geforderte ungeheure technische und körperliche Abilität des Pierrot-Pantomimen, der einerseits einen Todeskampf nachstellen muss, darüber hinaus aber noch den Kampf zweier Figuren miteinander. Die körperliche Desintegration in dieser Pantomime wird damit zum paradigmatischen Fall einer modernen Darstellungsästhetik, in dem die Ebene inhaltlicher Darstellung zurücktritt hinter der manifesten Spielebene. Diese Verschiebung ist ein Paradefall komischer Distanzierung, die jedoch nun nicht mehr rein lachend aufgearbeitet werden kann: Vielmehr wird die Gewaltdimension des Inhaltes an die nunmehr freigelegte konstruktiv-technische Ebene übertragen. Diese entfaltet alle Qualitäten des Schockanten. Auch wenn sich der Zuschauer über das Artifizielle der Darbietung bewusst war, so verhinderte gerade die mangelnde anderweitige Absicherung des gewaltsamen Eindrucks in einem dramatischen Sinngeftige seine problemlose bewusstseinsmäßige Integration. 45
49
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Es wäre verfehlt, angesichts des Todeskampfes an eine Befreiung des Körperlichen aus den
Wie stark die Konstruktionskomponente am Schreckbild selber zu Tag tritt, beweist seine hochästhetische Fügung: Die agonierende Gesamtgestalt wird in einer dynamisch zum Crescendo gesteigerten Abfolge einzelner exzentrischer Körper- und Bewegungsdetails erschlossen, besser: darin zerlegt, gleichsam seziert: »Un de ses bras devient libre et rend libre l'autre bras. Et ces deux bras en demence maudissent Pierrot. Elle (il) [...] et se dresses ä mis-corps; et veut se jeter hors du lit; et toujours ses pieds dansent, chatouilles, tortures, epileptiques.« Prinzipiell stellt dieser Detailismus eine ironische Pointe auf die ebenfalls am optischen Einzelaspekt festmachende Eingangsreflexion dar, in der Pierrot alle Arten grausiger Todesarten durchexerziert und wieder verwirft: II γ a bien le corde? O n serre, couic, c'est fait! oui, mais la langue qui pend, la figure rendue affreuse? non. - Le coteau? ou un sabre, un grand sabre? vlan! dans le coeur... oui, mais le sang coule, ä flots, ruiselle. - Heuh! diable!... Le poison? une petite fiole de rein de tout, et puis... oui! et puis les coliques, les douleurs, les tortures, ah! c'est horrible [
s'avale
]. s °
Wichtig ist: Auch diese Szene wird intendiertermaßen bereits pantomimisch dargeboten. Margueritte gibt in der rhythmischen literarischen Fixierung (die in der Pointe »puis... oui!« sogar assonant geschichtet ist) implizit Darstellungsanweisungen: Die Abfolge der Todesdetails folgt einem proxemischen und gestischen Rhythmus, der das Grausige zum durchstrukturierten Grotesktanz aus einzelnen exzentrischen Stellungen und Verrenkungen choreographiert, ganz genau wie den vollzogenen Mord selber. Dermaßen ist der Tod in einzelnen Phasen durchstrukturiert, die sich in ihrem energetischen Wert unterscheiden: Pierrot beginnt mit einem leichten Kitzeln, steigert dieses, >Colombine< wird epileptisch, schließlich der sowohl motivische als auch energetische Höhepunkt: »C'est l'agonie [...] spasme supreme!«, dem die Entspannung folgt: »sa tete et ses bras pendants«.
artifiziellen Ordnungsstrukturen zu denken. Im Gegenteil wird durch die Verabsolutierung der Mechanismen der komischen Transformation am körperlichen Bild ein nie gekannter Grad an Artifizialität offenbar. Diese betrifft das Verhältnis, in das der Körper via Nachahmung zu der szenischen Kunst-Realität gesetzt wird. Sinnfällig wird dies an der beibehaltenen Integration der pantomimischen Nachahmung in die dramatische Struktur: In einer unheimlichen Wendung wird der nunmehr ob des gelungenen Mordes an seiner Gattin zunehmend alkoholisch angeheiterte Pierrot erneut von dem Nachahmungswahn gepackt: Er verwandelt sich gegen seinen Willen erneut in Colombine, seine zuckenden Füße gehorchen ihm nicht mehr - unwillkürliche Reaktion auf eine von außen eingespielte Musik (Vgl. Margueritte, N o s Treteaux, S. 105O· Der dramatische Fortgang wird von nun an als unheimliche Geschichte inszeniert, die die dichterische Willkür und den auktoriellen gout de macabre nicht verbirgt, sondern geradezu ausstellt. W e n n dementsprechend das Etikett des ttragique* von Margueritte bemüht wird, dann in dem Sinne, dass das neurotische Agieren der Figur, das den herkömmlichen Begriff von tragischer Sühne ersetzt hat, ebenfalls nicht mehr als inhaltliches Element, sondern als Aufweis der Relation von Formzwang und Gewalt zu definieren ist: Tragik ist der Schrecken, den das über die arrifizielle Transformation erzeugte szenische Bild im Betrachter evoziert. Es hat in diesem Fall keinen anderen Motivationspunkt als die von außen eingespielte Musik, die als spürbar gesetztes poetisches Element das Unheimliche initiiert. Vgl. den Abschnitt über die Tragik im aktuellen Kapitel. Margueritte, Nos Treteaux, S. 101.
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Der Zusammenfall von endgültigem Sterben mit dem formal-energetischen Höhepunkt zeigt, wie deutlich hier darauf abgestellt wird, offensiv >Realität< in die ästhetische Abstraktion eines zeitlich und energetisch strukturierten Bewegungskomplexes mit einzelnen Spitzen und schlussendlicher Stasis zu überfuhren. Diese distanzierende Transkription bindet das Schreckliche nicht an die Leiche, an den mimetisch abgebildeten Kadaver, sondern an die Kontorsion, die dynamisch-rhythmische Abfolge körperlicher Veränderung und Verrenkung selber. Das Erleben des Mordes wie sein Ergebnis, der grauenhafte Tod, ist hier offensiv zur rein ästhetischen Erfahrung umgeschrieben worden, die sich am bewegten Bild des grotesken Spektakels entzündet. Mallarme nimmt in seinem Text Mimique explizit auf die Marguerittesche Pantomime Bezug und hebt dieses Moment der rein spielerischen Nachahmung seitens des Pierrot, die um sich herum einen genuin ästhetischen Raum konstituiere, in dem nichts mehr real ist, besonders hervor: >La scene n'illustre que l'idee, pas une action effective, dans un hymen [ . . . ] , vicieux mais sacri, entre le desir et l'accomplissement, la perpetration et son souvenir: ici devan^ant, la remimorant, au futur, au passe, sous une apparence fausse de prisent. Tel opere le M i m e , dont le jeu se borne ä une allusion perpituelle sans briser la glace: il installe ainsi, un milieu, pur, de fiction.artifiziell-perverse< Motivation Die doppelte Tendenz der grotesken Nachahmung ä la Margueritte, einerseits den grausamen Akt mit der Distanz des Artifiziellen zu kontaminieren um dadurch andererseits das Schreckbild des Artifiziellen zu erhalten, durchzieht sein Pantomimen-Werk wie ein roter, blutiger Faden. Im Ausgang von Pierrot Assassin konstituiert Margueritte eine Ästhetik des stummen Spiels, die in der Relation von komischer Distanzierung und Gewalt die ästhetische Wirkung der letzteren nicht nur auf Dauer sichert, sondern allererst bewerkstelligt. Dabei spielt eine spezifische Form der Wiederbelebung des Typenpersonals der traditionellen Pantomime eine große Rolle. Drei einander relationierte Züge stechen dabei ins Auge. Erstens: Die Typen verkörpern die traditionellen Relationen von Liebe und Eifersucht, von Laster und Abmahnung, und diese Beziehungen werden gewalttätig ausgetragen. Aber
51
Mallarme, Schriften, S. 186.
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all diese traditionellen Muster werden auf den Nukleus des privaten Zusammenlebens projiziert und stets ins Letale überdeterminiert. Pierrot gibt stets den Ehemann von Colombine und die Szenare veranschaulichen die tragisch-tödliche Ehehölle: Pierrot wird betrogen oder anderweitig vorgeführt, er rächt sich, meist in eifersüchtiger Mordlust. Aber auch Colombine und Arlequin stehen Pierrots mörderischem Interesse in nichts nach. Die Figuren werden ausnahmslos alle moralisch äußerst fragwürdig, wenn nicht rundheraus böse, ja satanisch. Darin ist durchweg eine Parallele zu den Szenen der Hanions verzeichnet, in denen die Hauptfiguren sich hinsichtlich ihrer Wildheit und Brutalität nicht mehr voneinander unterscheiden ließen und ein eigenes >personales< Profil nur noch in Abgrenzung von ihren >Opfern< erlangten. Zweitens: Die Typen verkörpern in dieser Bindung an das Letale immer das Extrem einer psychischen Disposition, das eigentlich nicht mehr ohne weiteres lachend beglaubigt werden kann: Sie sind - entsprechend der Margueritteschen Programmatik - ausgewiesene Amoraliker, Sadisten und pathologische Fälle. Drittens und zentral: Die ästhetische Distanzierung von diesen inneren psychischen Lagen, die das von ihnen vollzogene Szenengeschehen komisch kontaminiert, wird erreicht dadurch, dass diese als typische Züge der Figuren etabliert werden: Die Amoral sowie das Mord- und Quälinteresse der Figuren gehören strikt zum programmatischen Margueritteschen Neuentwurf ihres Typus und seiner formalen Anlage und sind nicht empathisch in einer psychologischen Analyse aufzubereiten oder einem identifikativen Zugriff zugänglich. All ihre Aktionen sind dem diesen Typus konstituierenden bösen Repertoire entnommen und nur auf dasselbe zurückzuführen, nicht aber auf eine tatsächliche innere Tiefendimension. Amoral wird zu einer rein theatralen Dimension, die ihre Explizierung in der Rückbindung an die traditionelle Maskerade erhält. Zu Beginn der Pantomime Au Cou du Chat zum Beispiel, einer veritablen Blut-Perle innerhalb der Margueritteschen Szenare, werden Arlequin und Colombine eindeutig als überkommene Kunstfiguren eingeführt, als Zitate einer mythisch-allegorischen Tradition ausgewiesen und dermaßen von vorneherein enteigentlicht. Ihr traditioneller Habitus, die schwarze Maske Arlequins und die Lieblichkeit Colombines werden jedoch detaillistisch überbetont und mit dem Pretiosenhaften dekadenter Ästhetik ausgestattet, was ihren moralischen Status bereits ambivalent werden lässt: Arlequin parait sinueusement. Masque du mysterieux loup noir, moule de losanges verts et jaunes dont la bigarrure ondoie comme les anneaux d'une coulevre, il protege, de l'ombre de son chapeau deploye en eventail, le visage exquis de Colombine que la clarte aveugle et qui rit, ayant bu au dejeuner doigts de champagne. Elle a l'air d'une fleur nue; ses epaules et ses bras sont en chair rose cuisse-de-nymphe emue; aussi ses jambes, sous un maillot dont la soie joue la peau; son corsage est un petit cornet d'azur, et une jupe de gaze, courte ainsi qu'aux danseuses, s'evase autour d'elle en palpitement de libellule. 52
In der Folge reichert Margueritte sein Personal, vor allem die grandiose Hauptfigur der Colombine, mit weiteren parodistischen Konnotationen an, die jedoch ebenfalls stets den dekadenten Abstand der Figur zur Sittlichkeit markieren. Colombine benutzt z.B. in
51
Margueritte, N o s Treteaux, S. 125.
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naiver Freude am Quälen Pierrots Leib als Trampolin, auf dem sie tanzt und springt - ein expliziter ridiküler Gegenentwurf zum erotischen Salome-Motiv einschließlich der Märtyrer-Attitüde ihres Gespielen. Ja, Colombine avanciert gleichsam zur perversen Heiligen der fiinambulesken Szene: [...] eile retombe, pied joints, sur la poitrine de Pierrot. Lä, tout ä l'aise, sur ce tremplin vivant, sans interrompre sa cadence, eile saute, saute encore, saute toujours, dans la corde lumineuse qui la cercle d'or. O n croirait qu elle danse dans sa propre aurdole. Et Pierrot, qu'elle foule et pietine si lagere soit-elle, connalt les affres d'un martyre extasiant. — >Encore!< crierait-il, tandis que de dos, de face, de profil, poupee preste, eile bondit haut et retombe ä fond, lui ecrase et lui petrit le cceur de son petit pied, chaud et souple comme une main. - >Encore!< crie-t-il, les larmes aux yeux, les cötes craquantes. Elle, cependant, sourit avec une perversity triomphale ä Arlequin dont les yeux s'allument sous le masque, dont es blanches dents de chien se herissent en un sourire qui vourdrait baiser et mordre. C'est pour lui, Salome funambulesque, qu'elle danse ainsi lascive [...] 5 3
Von Beginn an etabliert sich über diese offensive Zitation ein abstrahiver Spielraum, der alles im Folgenden Ablaufende strikt entwirklicht und - vor allem - von der moralischen Gegenindikation, die das im Salome-Motiv implizierte Grausamkeitspotential eigentlich strikt erfordert, befreit. Au Cou de Chat verhandelt Colombines fervente Bestrebung, mit Hilfe von Arlequin und Pierrot wieder in den Besitz eines wertvollen Schmuckbandes zu gelangen. Die unrechtmäßige Besitzerin des teuren Stückes ist die Hauskatze, die bezeichnenderweise den Namen »Mime« trägt: Nach allerlei makabren Abwägungen, wie am besten an das wertvolle Stück zu gelangen ist, kommt man - >SalomeHinrichtung< Mimes zitiert zum einen die epochale Metapher der Guillotine: »Atroce idee, qu'Arlequin trace d'un geste tranchant de guillotine!«55, entsprechend der prekären Lage fleht Pierrot sogar um Gnade für den Delinquenten, vollzogen wird das Ganze dann allerdings mit dem Küchenbeil und Margueritte bemüht für das durchaus grausige Ergebnis den ridikülen Vergleich: Arlequin bourreau Ιένε la hachoir, s'arcboute et se ditend: un hideux coup sourd! La tete du chat part comme un bouchon de champagne, et le collier, lance autour d'un jet pourpre, va rouler dans le gazon sanglant.' 6
Die Szene ist ihrerseits als diminuierende Variante einer Exekutionsszene angelegt: Der ernste Vorgang wird ins Banale verkleinert, das Grauen jedoch stets präsent gehalten.
53
Margueritte, N o s Treteaux, S. i i 6 f .
54
Vgl. Margueritte, N o s Treteaux, S. 129.
55
Margueritte, N o s Treteaux, S. 129.
si
Margueritte, Nos Treteaux, S. 129.
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Gemäß der komisch-pantomimischen Darbietung handelt es sich jedoch nicht mehr um den Repuls, wie er von emotional zu rezipierender, realer und realistischer Gewalttätigkeit ausgeht, sondern um eine spezifische erschreckende Dimension der Theatralität der Gewaltdarstellung, die dadurch zustande kommt, dass diese ob ihrer Einbettung in einen ins Lächerliche verkleinerten Geschehensverlauf und seine Delegierung an komische Typenfiguren gleichsam zum bewegten Schreckensbild umstilisiert wird. Die Details des tödlichen Schlages, des fliegenden Kopfes, des spritzenden Blutes werden in ihrem visuellen Wert und in ihrem formaldynamischen Aspekt merklich in den Vordergrund gespielt. Eine ganz ähnlich geartete Konvergierung von Grausamkeitsmotiv und Parodie stellt auch das kindlich-zärtliche Spiel Colombines mit der bedauernswerten Katze dar, welches für diese immer wieder zur Folter und für den Zuschauer zum grotesken Kabinettstück wird: Colombine fond sur lui, l'enleve au vol, le petrit, enboule, le cord en linge, le plie en diverses manieres, routes horrifiantes pour M i m e qui gigote; eile le couvre de baisers passionnes, le berce dans ses bras, Pappelle des noms les plus doux, se le met autour de cou comme une
fourrure
chaude, le niche au creux de ses seins oü la poudre de riz le fait eternuer, finalement l'accroche au bonnet de Pierrot qui sursaute et se ddbat sous les egratignures. M i m e s'enfuit en miaulant, horriblement vexe; Colombine delate de rire. [ . . . ] Elle le happe et, dans un elan de tendresse furieuse, jongle avec lui, le lance comme une pelote et le rattrape f . . . ] . 5 7
Erst in der parodistischen Verkleinerung des Quälgegenstandes kann das ganze Möglichkeitsrepertoire an torturhaften Kontorsionen detailliert ausgespielt und dementsprechend vom Zuschauer mit fröstelndem Lachen quittiert werden. Es konvergieren hier das genuin ästhetische Interesse am Schreckens-Detail und der sachliche Zynismus der komischen narratio: Die Attitüde des parodistischen Unernstes, die das gesamte Szenar atmosphärisch umgreift, bindet den Schrecken an das Spaßhafte. In der zitierten Sequenz von der Katzenjonglage wie in derjenigen vom >human trampoliri-Akt fällt die semantische Ambivalenz des Spielmotivs auf: Beide Szenen beginnen als lustig-unschuldige Spielerei Colombines, in deren weiterem Verlauf aber ein Umschlag der Heiterkeit in die — als solche vom Autor explizit gemachte — sadistische Perversion erfolgt. In der Tat ist gar nicht mehr unterscheidbar, wo Colombines salomehafter Sadismus beginnt, und wo ihre, dem Typus seit jeher anhaftende traditionelle dispositio als unschuldiges, ewig lächelndes, harmlos-spielvergnügtes Naivchen endet. Diese Verwischung der Grenzen von ludischer Ausgelassenheit (die deutlich auf den komischen Spielraum selbst verweist) und Bosheit macht das wesentliche Spezifikum der Margueritteschen Reform des traditionellen Typus aus. Erinnernt sei: Margueritte hatte seinen >neuen Pierrot« als dezidierte Radikalisierung des komischen Lasterrepertoires ins Böse etabliert, der ins dekadente > ultra- romantique
ewigesZwänge< selbst delegiert. > Tragique< wird entsprechend von Margueritte als metapoetisches Etikett für die formale Anlage und das Spielgesetz der komischen Figur gebraucht. Interessanterweise hatte Theodore de Banville bereits im Jahre 1857 eine lyrische Selbstbeschreibung der Pierrot-Figur verfasst, in der dieser sein überkommenes typenspezifisches Aktionsvokabular ebenfalls mit der entsprechenden Implikation versieht: »Tout en les fascinant d'un oeil tragique et pale, Boire, manger, dormir, tels etaient mes destins [...]« 7 S
Das von der Typen-Tradition diktierte Handeln der komischen Figur wird hier bereits im Sinne eines schicksalhaften formalen Genre-Zwangs verhandelt. Tatsächlich verfasst jedoch erst Margueritte Pantomimen, die diese metapoetische Reflexion im Sinne einer immanenten Ästhetik zum eigentlichen Thema und zum Selbstausweis der Darstellung der Pantomime einschließlich all ihrer morbiden Düsterkeit werden lässt: Nahezu immer verbindet Margueritte das Motiv des Schreckens und die darin implizierte tragische Perspektivierung dezidiert und explizit mit dem selbstreferentiellen Verweis auf die pantomimische Nachahmung. Dermaßen können bereits das Motiv des Zu-Tode-Kitzelns und das irr-agonisierende Lachen als korrektive Anspielungen auf die traditionelle Beglaubigung des komischen
73
Vgl. Bettina Rommel: Subtext, S. 358.
74
Margueritte, Nos Treteaux, S. 103.
75
Theodore de Banville: Ancien Pierrot. In : Theodore de Banville: Odes Funambulesques. Occidentales. Idylles Prussiennes. Paris 1896, S. 165-168, S. 165.
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Spielgeschehens gewertet werden, wobei die düster-tragische Markierung voll zum Tragen gelangt: Sowohl Colombine als auch Pierrot lachen nicht in freier Ausgelassenheit, sondern sie werden beide gleichsam zum Lachen gezwungen. Das Komische und das Lachen werden augenscheinlich zu entsetzlichen formalen Determinismen. Damit liefert Margueritte implizit die wohl düsterste Variante zum grotesken Zwangslachen, wie es bereits von Gautier, Baudelaire und Zola beschreiben wurde. Die sinistre Restrukturierung und Konvergierung von tragischem Zwang und pantomimischem Spiel wird auch in anderen Pantomimen offen betrieben: In Colombine pardonnt z.B., veritable Exploitation sowohl des Othello-Stoffes wie, vor allem am Ende, eines zentralen Macbeth-Motivs, fuhrt uns Margueritte ein von ernsten Spannungen getragenes Eheverhältnis vor: Pierrot gibt den gehörnten Ehemann, er verzeiht Colombine, die ihm ihrerseits ob seiner Verdächtigungen eine Szene macht, ihn demütigt, woraufhin er sie umbringen will, es aber dann doch nicht wagt etc. ... schließlich geht Colombine zu Bett: >allein!Unheimlichen< - unter Rekurs auf Diderot Margueritte bemüht, nicht nur in seinen Pantomimen, sondern auch in seiner Prosa, immer wieder das schwarzromantische Paradigma des Unheimlichen. Ein Einfluss Poes ist dabei genauso deutlich wie ein Rekurs auf überkommene Motive der deutschen Schauerliteratur, wie sie vor allem von E.T.A. Hoffmann vertreten wurde. Charakteristisch fiir Marguerittes, seinen Texten implizite Bestimmung des Unheimlichen ist vor allem das gesteigerte Augenmerk auf einer alogischen Suggestivkraft des Dinglichen, dem stets die Dimension des Bedrohlich-Unheilverkündenden zukommt. Im Falle des Romans La Force des Choses wird sie sogar titelgebend. Ein kurzes Zitat, zum Einstieg in den folgenden Abschnitt, macht das Zusammenspiel von Mensch und Ding im Sinne einer liaison fatale deutlich: Iis eprouvaient alors — sensation inattendue - au lieu de joie, une gene de leur trahison posthume, car le grand portrait de Claire les regardait. Des suggestions d'outre-tombe, la peur et la certitude de mourir ä leur tour, les emurent. 79
Die prominenteste Theorievorgabe, die sich mit dem unheimlichen, weil höchst ambivalenten Zusammenspiel des Eigenen und Fremden auseinandersetzt, hat Sigmund Freud mit seiner 1919 erschienenen Untersuchung Das Unheimliche geliefert. Auf der Suche nach dem, was »innerhalb des Ängstlichen ein >Unheimliches' [...] unterscheiden«80 lässt und dermaßen einen eigenen Begriff rechtfertigt, griff Freud zunächst auf die 1906 erschienene Abhandlung Zur Psychologie des Unheimlichen von Ernst Jentsch (1906) zurück. Dieser kam, ausgehend von der Ethymologie des Wortes >unheimlich< als Gegensatz zu >heimlichheimischvertraut< zu der Folgerung, der eigentliche Grund für das Gefühl des Unheimlichen liege in einer intellektuellen Unsicherheit8', die sich äußere als »Zweifel an der Beseelung eines anscheinend lebendigen Wesens und umgekehrt darüber, ob ein lebloser Gegenstand nicht etwa beseelt sei«82. Jentsch fuhrt dazu das Beispiel der Automatenpuppe Olimpia aus E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann (1817) an. Für unsere Zwecke bedeutsam ist, dass Freud zwar das Motiv anerkennt, die Wirkung des Unheimlichen jedoch anders als Jentsch bestimmt: Zum einen ist sie fiir Freud keinesfalls nur an das Exempel des Belebten-Unbelebten gebunden. Zum anderen aber unterscheidet er, das ist wesentlich, zwei Arten des Unheimlichen: Ein Unheimliches des realen Erlebens und eines, das sich in der Begegnung mit fiktionalen Texten, etwa dem Märchen, einstelle. Der Grund dafür, dass in der Literatur etwas nicht unheimlich sein
79 80
81 82
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Paul Margueritte: La Force des Choses. Paris [1890], S. 247. Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: Sigmund Freud: Studienausgabe. Psychologische Schriften. Hrsg. von Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey. Band IV. Frankurt a.M. 1970, S. 241.274, S. 243. Jentsch, zit. nach Freud, Unheimliches, S. 244. Jentsch, zit. Nach Freud, Unheimliches, S. 250.
kann, was im Leben unheimlich wäre, liegt für ihn in der »fingierten Realität«83, die der Leser mit allen UnWahrscheinlichkeiten akzeptiert: »[...] das Reich der Phantasie hat ja zur Voraussetzung seiner Geltung, daß sein Inhalt der Realitätsprüfling enthoben ist«84. Für das unheimliche Erleben aber sei »der Urteilsstreit erforderlich, ob das überwundene Unglaubwürdige nicht doch real möglich ist«85. Die psychoanalytische Unterfiitterung des Unheimlichen der Fiktion als eigentlichem Ort des Wiederauftauchens verdrängter Potenzen (Freud bezieht beispielsweise das Augenausreiß-Motiv in Hoffmanns Sandmann als Transkription des Kastrationskomplexes) kann hier nicht weiter verfolgt werden. Zentral ist jedoch, dass Freud mit der Scheidung zweier Arten des Unheimlichen, eines realen und eines innerhalb der Fiktion auftretenden, einen ganz wesentlichen Gedankengang verbindet. Nicht die innerhalb der Realität zu verortende Ambivalenzrelation animiert/organisch-automatisch/anorganisch wie bei Jentsch, sondern die Beziehung von Signifikant und Signifikat, von Form und Inhalt, mithin die semiotische Darstellungsrelation schlechthin wird von Freud mit dem Gedanken des Unheimlichen verbunden: Er geht so unter anderem davon aus, dass es »unheimlich wirkt, [...] wenn ein Symbol die volle Leistung und Bedeutung des Symbolisierten übernimmt [...].« 86 . In der Tat hat gerade dieses Theorem in der Literatur zum Unheimlichen einen gewissen Impakt hinterlassen. Schade etwa bestimmt Kunst im Sinne von 'Darstellung eines natürlichen Gegenstandes* selber zum Unheimlichen: »[...] das Unheimliche kann nicht repräsentiert werden, es nistet in der Struktur der Repräsentation selbst [,..].« 87 Schade spielt dabei dezidiert auf den Abstand an, den das einmal gemachte Bild vom Original einnimmt und der ihm als >Doppelgänger< eine seltsam-unheimliche Eigenwertigkeit verleiht. Auch bei Scholl wird eine solche irritierende Emanzipation der Darstellung vom Dargestellten »unheimlich«88 genannt: »[...] lösen sich die Erscheinungen von ihrem Gegenstand und gewinnen eine eigene Existenz, so stellt sich unmittelbar das Gefühl der Unheimlichkeit ein.«89 Innerhalb der theatertheoretischen Literatur lohnt an dieser Stelle der Rückgriff auf Diderot und seinen epochalen Text Paradoxe sur le Comedien, in der er bekanntermaßen die von ihm selbst einmal vertretene sensibilistische Einfiihlungsästhetik einer radikalen rationalistischen Revision unterzieht. Dergemäß gilt für den Akteur: »Ce dernier [le grand comedien; der Verf.] monte sur les epaules du precedent, et se renferme dans un grand
8
'
Freud, Unheimliches, S. 272.
84
Freud, Unheimliches, S. 271.
85
Freud, Unheimliches, S. 272
86
Freud, Unheimliches, S. 267.
87
Sigrid Schade: >Der Spuk ist durchschaut!* Rück-Sichten auf Darstellbarkeit von Kubin bis zur Abject Art. In: Martin Sturm/Georg Christoph Tholen/Rainer Zendorn (Hrsg.): Phantasma und Phantome. Gestalten des Unheimlichen in Kunst und Psychoanalyse. Linz 1995, S. 6 1 - 7 2 , S. 69.
88
Michael Scholl: Der unheimliche Schein der Erscheinung. In: Martin Sturm/Georg Christoph Tholen/Rainer Zendorn (Hrsg.): Phantasma und Phantome. Gestalten des Unheimlichen in Kunst und Psychoanalyse. Linz 1995, S. 95-103, S. 98.
89
Scholl, Schein, 1995, S. 97.
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mannequin d'osier dont il est l'ame;«. Der Akteur fuhrt seine Rolle vor, wie ein Puppenspieler eine Puppe, die er in diesem Fall von innen steuert. Diderot kommt nun dezidiert auf eine spezifische Wirkung zu sprechen, die die Darstellung seitens des reflektierten Akteurs auf den Zuschauer hat. Es ist eine des unheimlichen Schreckens: il meut ce mannequin d'une maniere effrayante, meme pour le poete qui ne se reconnait plus, et il nous epouvante, comme vous l'avez fort bien dit, ainsi que les enfants s'epouvantent les uns les autres en tenant leurs petits pourpoints courts eleves au-dessus de leur tete, en s'agitant, et en imitant de leur mieux la voix rauque et lugubre d'un fantöme qu'ils contrefont. Mais par hasard, n'auriez-vous pas vu de jeux d'enfants qu'on a graves? N'y auriez-vous pas vu un marmot qui s'avance sous un masque hideux de vieillard qui le cache de la tete aux pieds? Sous ce masque, il rit de ses petits camarades que la terreur met en fuite. Ce marmot est le vrai Symbole de l'acteur; ses camarades sont les symboles du spectateur.90
Die Wirkung des Schrecklichen, Bedrohlichen und Gespenstischen kommt nach Diderot in einer offensichtlich auf Wirkung angelegten Darstellung zustande, innerhalb derer der Akteur sich bewusst von seiner Rolle distanziert und zu ihrem souveränen Vorführer wird - grundlegend vergleichbar der Distanzrelation von komischem Akteur und komischer Figur, besonders im Spielraum der Pantomime. Damit ist von Diderot zum einen impliziert, dass das Ausbleiben einer emotionalen Identifikation mit dem Dargestellten dazu führen kann, dass die Inhalte, die das vor Augen Tretende >antreibenMimesis< ä la Margtieritte, umso mehr, als sie - wie gezeigt - auf ein psychologisch nicht verifizierbares Substrat des Bösen abstellt. Zum anderen macht Diderots Beispiel dezidiert am Imitieren per se >erschreckender< Vorbilder fest. Ein alter Mann, ein Gespenst. Es darf vermutet werden, dass das Erschreckende der Darstellung im Sinne eines Prinzips vor allem dort greift, wo bereits das imitierte Original einen Abstand vom Normalen oder besser: von der Normalität und dem natürlichen Habitus des Akteurs hat. In Diderots Beispiel ist dieser Abstand an der Relation Kind-Greis sowie Kind-Gespensterstimme beschrieben. Gerade dort, wo die Differenz zwischen Darsteller und Dargestelltem, jedoch auch zwischen Inhalt und Außenseite ins Extrem ausgereizt ist, kommt die bedrohliche, angsteinflößende Wirkung zustande. Der dekadente Pierrot als Kunst-Figur erfüllt diese Bedingung nicht nur darin, dass seine Antriebe als solche nicht >realistisch< zu beglaubigen sind, er die Bedingung einer psychologisierenden narratio also nicht erfüllt, sondern dass sie rein an ihren Vollzug auf offener Szene delegiert sind. Das gilt, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, nicht nur dort, wo er böse - im Poe-/Margueritteschen Sinne - ist, sondern auch dort, wo er andere psychische Extremlagen im wahrsten Sinne verkörpert. Die abschließende Analyse liest eine besondere
90
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Denis Diderot: Paradoxe sur le Comedien. In: Denis Diderot: CEuvres Esthitiques. Textes etablis, avec Introductions, Bibliographies, Notes et releves de Variantes par Paul Verniere. Paris 1965. 289-381, S. 376.
Pantomime Marguerittes: La Peur, vor dem gerade gegebenen theoretischen Hintergrund als eine auf die ästhetischen Implikationen pantomimischer Darstellung daselbst transparente Etüde. Es wird mithin im Folgenden darum gehen, zu zeigen, wie die Szenare Marguerittes, entlang des zum immanenten Reflexionsgegenstand gewordenen Paradigmas pantomimischer Wiederholung, das Unheimliche als Schreckensaspekt des über die komische Distanzierung freigesetzten Körperbildes mitimplizieren. Dass in dieser Relation eine besondere Spielart des Grotesken verzeichnet ist, so wie dieses in vorliegender Arbeit gefasst wurde, versteht sich. 3.4.2. La Peur. Die Angst vor dem Bild der Angst und die unheimliche Distanz zwischen Akteur und Rolle Pierrot Assassin de sa Femme beginnt mit einer Szenenanweisung, die rund um die unheimliche Wirkung des animierten Porträts als eines >belebten Unbelebten< angelegt ist, wobei der Rekurs auf H o f f m a n n explizit gemacht wird: Obscure ä la chambre avec ses cloisons de vieux chene assombrie; [...] et tirant et accrochant l'ceil dans le fond, lä-bas, un portrait de Colombine, un lit. Lit et portrait dans l'ombre se detachent avec un etonnant relief et donnent, bien que choses mort, l'impression de vie. La Colombine en son cadre d'or, tout en chair, les seins nus, rit ä belles dents, vivante; il y a de ces portraits dans H o f f m a n n . Le lit, lui, inquiete
par les draperies de ses rideaux clos comme aux
catafalques, et rougeatres. 9 '
Am Ende der Pantomime wird Pierrot vom Fluch dieses lebenden Bildes eingeholt: Mais voici, nouvelle et plus grande angoisse, le portrait cette fois s'animant. D'abord le cadre luit, phosphorescent, puis maintenant la Colombine s'eclaire: son rire eclat, rouge et blanc. Elle vit, vraiment eile vit er eile rit ä Pierrot... [ . . . ] ' *
W e n n auch, wie Karl Heinz Bohrer gezeigt hat, E.T.A. H o f f m a n n , den Margueritte motivisch zitiert, das Unheimliche durchweg metaphysisch fundiert und inhaltlich-semantisch auflädt 93 , so kann diese Geltung des Unheimlichen als einer mystisch-metaphysischen Substanz für Marguerittes Szenartext, der von einer ultra-romantischen dekadenten Perspektive her verfasst ist, nicht mehr angenommen werden: Bereits die Szenenanweisung weist das Colombine-Bild explizit als Zitat, als Nachahmung eines Vor-Bildes aus. Zudem ist das Unheimliche wie stets auf die Folie des komischen Figurenpersonals und ihrer Relationen projiziert. In der T a t schafft jedoch die Etablierung einer unheimlichen Klammer, die motivisch Beginn und Schluss der Pantomime verbindet, nicht nur einfach >AtmosphäreFriedhofschio gewandet. 101
Huysmans, zit. nach Gustave Coquiot: Le Vraie J . - K . Huysmans. Paris 1912. S. 110.
361
zu erinnern an den schieren Präsenzcharakter der Hanions, den Huysmans nicht nur begeistert attestiert, sondern gegen die »sordide chimere du theatre« ausgespielt hatte: »La vie seule se dresse devant nous, pantelante et süperbe.«101 Damit erteilte Huysmans, der die Darbietungen der Hanions als theatrales Gegenstück zur angelsächsischen Schreckenskarikatur Hogarths und Cruikshanks begriff, zugleich der Heiterkeit einer pantomimischen Vergnügungskunst ä la Funambules die Absage. Diese Refus schlägt sich in Huysmans eigenem Beitrag jedoch keineswegs zugunsten einer nachhaltigen Freisetzung der prekären Gewaltdimension des stummen Spiels nieder, anders als bei den Hanions. Zwar ist Huysmans einziges, jedoch unaufgefiihrtes Werk für das Theater, Pierrot sceptiqu^oi, das in Zusammenarbeit mit Leon Hennique entstand, eine eindeutig dem sinistren Vorbild der Hanions verpflichtete Etüde des Genres, wie auch Michel Lamart herausstellt104: »Le Pierrot huysmansien descend de la famille anglaise des Halon-Lees dont le principal merite consiste ä transposer la caricature ä l'anglaise dans la pantomime.»105 Stärker jedoch als bei den Hanions steht, wie zu zeigen sein wird, bei Huysmans das karikatureske Element im Dienste satirischer Denunziation sowie als existentiell-pessimistische Geste im Vordergrund: Von einer Baudelaireschen >Unschuldigkeit< der Karikatur, die die Hanions in die Grausamkeit artistischer Desinvolture hinein überboten, kann bei Huysman, dies der zentrale Fokus des aktuellen Kapitels, kaum noch gesprochen werden. Besonderes Augenmerk soll mithin auf eine Problematik gelegt werden, die bisher immer wieder theoretisch angeschnitten wurde, jedoch nirgends so deutlich wie an Huysmans' Text zu Tage tritt: Das Hässliche (einschließlich des Gewaltmotivs) bietet sich aufgrund seiner narrativen und formalen Eindrücklichkeit der Befrachtung mit ideolo-
101 103
104
105
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Huysmans, CF.uvres V , S. 21. Pierrot sceptique. In: Joris-Karl Huysmans: CEuvres completes de J.-K. Huysmans V: A VauL'Eau. Pierrot sceptique. Un Dilemme. Genf 1972 [Reprint], S. 95-132. Huysmans soll zu Hennique nach dem Besuch der Folies-Bergire-Aufführung gesagt haben: »Tiens, ce serait amüsant de faire quelque-chose dans ce gout-lä.« Zit. nach: O.R. Morgan: Huysmans, Hennique, et Pierrot sceptique. Bulletin de la Societe J.-K. Huysmans. 46/1963, S. 103. Vgl. auch Huysmans, CEuvres V, S. 130. Die Forschung hat das in Rede stehende Szenar des Pierrot sceptique so gut wie vollständig dem Werk Huysmans zugeschlagen, einer Verortung, der wir folgen werden, d.h. im Anschluss wird eine Lektüre auffälliger Merkmale des Stücks unter einer auf Huysmans fokussierten Perspektive versucht. Da das Stück jedoch innerhalb des umfangreichen Gesamtwerkes von Huysmans ausgesprochen vereinsamt dasteht, ist eine Konzentration auf wenige ausgewählte Aspekte sinnvoll. Vgl. dazu die Argumentation oben. Hennique selbst hat nur sehr wenige weitere Szenare verfasst, die zumeist auch nicht veröffentlicht wurden. Als Text zugänglich sind: Leon Hennique: La Redemption de Pierrot. Pantomime. Paris 1903; [James B. Sanders Ed.] Leon Hennique: Pierrot ä Stamboul. Pantomime inedite de Leon Hennique. In: Revue de la Societe d'Histoire du Theatre 1/1980, S. 232-247. Michel Lamart: Figures du Pierrot chez Huysmans: Une Voix blanche? In: Jean Pierre Bertrand/Sylvie Duran/Franfoise Grauby (Ed.): Huysmans ä Cotfi et Au-Delä. Actes du Colloque de Cerisy-la-Salle. Leuven 2001, S. 299-335, S. 301. Vgl. zum Rekurs Huysmans' auf die englische Karikaturtradition und die Hanlon-Lees: Pierre Glaudes: A rebours et le >Comique anglais·. Recherches et Travaux 41/1991, S. 141-161.
gisch-weltanschaulicher Semantik geradezu an. Baudelaires aus gutem Grund vorgenommene programmatische Entbindung der Deformation aus einem derartigen Verhältnis konnte nicht verhindern, dass die Kunst zum Ende des 19. Jahrhunderts und vor allem dort, wo sie an die naturalistischen und später symbolistischen Tendenzen anknüpft, das Difforme erneut und verstärkt zu funktionalisieren sucht und ihm eine referentielle Außenstabilisierung, entweder in sozialkritischer oder aber in metaphysischer Hinsicht, verschafft. Nämliches gilt für die Avantgarden des 20. Jahrhunderts.106 Huysmans' Szenar ist zwar, sowohl was seinen Umfang als auch was seine stilistische Qualität angeht, innerhalb seines Gesamtwerkes eigentlich vernachlässigbar, steht jedoch paradigmatisch fiir ein Einmünden der ästhetischen Deformation ins Tendenziöse.
4.2. Skepsis und Nihilismus - Die narratio von Pierrot sceptique Der Titel der Huysmanschen Pantomime deutet bereits auf den wesentlichen weltanschaulichen Fond hin, der ihrer narratio unterlegt ist: Eine dem moralischen und existentiellen Skeptizismus des Protagonisten von A rebourDes Esseintes, vergleichbare egozentrisch-zynische Perspektive, wird - und zwar in systematischer Form - zur zentralen semiotischen Markierung der im Stück inszenierten deformativen Strukturen. Huysmans ist in der Tat in allgemeiner Form von Schopenhauer beeinflusst108, der den Begriff des Skeptizismus (ablehnend jedoch) in engste Nähe zu einer Attitüde weltanschaulichen Egoismus bringt. Dieser manifestiert sich in einer polemisch-entwertenden und entwirklichenden Haltung gegenüber der Realität, deren Erscheinungen, einschließlich der Individuen, »als bloße Phantome«109 gewertet werden. Die Disponsibilität, in welche die Außenwelt damit dem betrachtenden Subjekt gegenüber gerät, gleicht in perspektivischer Hinsicht durchaus der radikalen Gleichgültigkeit der Hanions, die darin eine bereits seit den romantischen Vorstößen valente Ironie aufs artistische Maß brachten. Allerdings ist Huysman an rein ästhetischen Verfahren nicht interessiert, sondern subsu-
106
Dabei ist gerade in Bezug auf die historischen Avantgarden der enge Zusammenhang zwischen ihren ästhetischen Strategien und einer grundlegenden Gewaltemphase — und zwar auch und gerade in politisch-ideologischer Hinsicht - zu verzeichnen. Diese brisante Mischung ist jedoch erst in den letzten Jahren verstärkt hervorgehoben worden. Vgl. etwa die großdimensionierte Studie von H a n n o Ehrlicher: Die Kunst der Zerstörung. Gewaltphantasien und Manifestationspraktiken europäischer Avantgarden. Berlin 2000, etwa in Bezug auf (den bekanntermaßen mit grotesk-ironischen Mitteln arbeitenden) Dada: S. 175—248. Für die osteuropäische Avantgarde vgl. Jiri Stromsik: Avantgarde und Revolution. In: Birgit Lermen/Milan T v r d i k unter Mitwirkung von Michael Braun [u.a.]: Brücke zu einem vereinten Europa. Literatur, Werte und Europäische Identität. Dokumentation der Internationalen Fachtagung der Konrad-AdenauerStiftung und der Karls-Universität Prag, Prag 2003, S. 139-199.
107
Vgl. Lamart, Figures de Pierrot, S. 32if.
108
Vgl. Lamart, Figures de Pierrot, S. 3i8ff. Vgl. auch: F r a ^ o i s e Gaillard: Seul le Pire arrive. Schopenhauer ä la Lecture d' Α Vau
l'Eau,
In: Jean Pierre Bertrand/Sylvie Duran/Fran^oise Grau by (Ed.): Huysmans ä Cote et Au-Delä. Actes du Colloque de Cerisy-la-Salle. Leuven 2001, S. 65-84; Rudy Steinmetz: Huysmans avec Schopenhauer: Le Pessimisme d'A rebours. In: Romantisme 61/1988, S. 59-67. 109
Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Band I. Zürich 1988, S. 156.
363
miert diese als Instrumente radikaler Entwertung einem allgemein nihilistischen Konzept. Die besondere narrative Struktur von Pierrot sceptique ist einer derartigen Funktionalisierung deutlich verpflichtet: Das Stück zeigt einen radikal amoralischen Pierrot, der, soeben Witwer geworden, sofort eine neue Eroberung macht, nämlich eine wächserne Schaufensterpuppe namens Sidonie, die er jedoch, nachdem sie sich ihm erst verweigert und dann noch einem Stutzer schöne Augen gemacht hat, erst mit einem Säbel erschlägt und schließlich mitsamt dem ganzen Haus verbrennt, um sich in der Folge mit einer gemalten Kartonfrau aus dem Staub zu machen. Der Fortgang des Szenars ist entlang des Liebes- und Gewaltmotivs als steigende Abstraktion des Humanums organisiert: Der Tod Colombines, den Pierrot nur wegen des Verlusts an erotischer Gelegenheit bedauert, fuhrt zunächst zur umstandslosen Ersetzung der >realen< (immer in den Limits des pantomischen Raumes) Frau durch eine zum Leben erwachte Puppe. Diese wird eingeführt als madonnenhaftes, jedoch künstliches Wesen, ein animierter Automat: D e la lumiere l'encadre d'une auriole et eile apparait, immobile, la physiognomie placide, divine en son costume de marine, pareille ä ces madonnes qui, dominant les tabernacles dans les jour assombri des voütes, se ddtachent radieuses sur un fond d'or. 1 1 0
Das Mannequin-Madonnen-Bild trägt alle Merkmale dekadenter Pretiosen-Ästhetik, ist jedoch in der Spannung von sublimer Reminiszenz und Banalem zum Kitschigen entwertet. Diese sarkastische Pointierung erfährt zum Ende hin eine Uberbietung, wenn Pierrot Sidonie anzündet. Die assoziative Klammer Aureole-Feuersbrunst macht die Nichtigkeit der um das Liebesmotiv arrangierten Gesamthandlung mehr als sinnfällig.111 Doch nicht genug damit: Pierrot schnappt sich, während verzweifelte Löschversuche unternommen werden, eine neue Gespielin: Therese, eine gemalte Frau »de carton«.112 Pierrot wiederholt seine Avancen also, eine gleichsam mechanische Aneignungsbewegung vollführend, die von der >echten< Frau über die Puppe zur Kartonage, zur bloßen Leinwand fuhrt. Diese Dynamik einer fortschreitenden Nivellierung und Entleerung stellt den narrativen Nexus des Huysmanschen Textes und seine eigentliche semantische Dimension dar. Es ist De Palacio durchaus zuzustimmen, der von der Huysmanschen Etüde schreibt, sie beschreibe »un univers mort, exsangue, ddnue de substance, prive de l'epaisseur du corps. C'est en vain qu'on y chercherait une once de chair et de sang: la scene circonscrit un monde d'automates animes dans lequel prtxlominent le carton-päte et la cire.«"3 Mit dieser besonderen referentiellen Perspektivierung, die mal expliziter, mal allusorisch realisiert wird, ist jedes einzelne Motiv des Textes kontaminiert. In keiner Hinsicht stellt Huysmans innerhalb dieses Nexus dezidiert auf das akrobatische Element ab oder schafft, abgesehen von recht abgeschmackt daherkommenden Kabinettstückchen (zum Beispiel amüsiert sich Pierrot, die Trauergemeinde mit Colom-
110
Husymans> CEuvres V , S. 112.
111
Vgl. Huysmans, CEuvres V , S. I25f.
112
Vgl. Huysmans, CEuvres V , S. 127. D e Palacio, Pierrot, S. 138.
364
bines Klistier zu beschießen" 4 und natürlich allenthalben Schläge zu verteilen), besondere Ansatzpunkte f ü r eine theatral raffinierte Pantomimen-Darstellung.
115
Anders als bei
Marguerittes ausgefeilten selbstreferentiellen T e x t e n ist auch ein möglicher theatraler Mehrwert des Wechselspiels von Akteur und Gegenständlichkeit bei Huysmans kaum zu verzeichnen, die jeweiligen Bilder werden zu auf den Realitätspessimismus des Autors transparenten Vehikeln reduziert.
4.3.
D i e prekäre Liaison: Sozialsatire - Schauspielmetapher — G e w a l t m o t i v
D e r existentielle Nihilismus, der das komplexe Wechselspiel von Dekadenz-Ästhetik und Realitäts-Krisis ins vordergründig Philosophische verflacht, findet sein Pendant an einer satirischen Unterfutterung der inszenierten Karikaturen und weicht an dieser entscheidenden Stelle stärkstens v o m Vorbild der Hanions ab. Huysmans betreibt ein mit sarkastischer Uberzeichnung arbeitendes Foregroundingvoη
der Realität abgeschauten Motiven
und Handlungen, das im Dienste der Aufdeckung gesellschaftlicher Hypokrisie steht. D i e Begräbnis-Auslagen des Floristen werden etwa folgendermaßen beschrieben. Le magasin du fleuriste etale tous les ridicules embkmes des douleurs humaines: des cerceaux d'immortelles, des couronnes en perles avec des mains de platre enlaces au centre, des feuillages de taffetas, des medaillons oii les initiales des defunts, fabriquees avec des cheveux, semblent encore assouplies et poissees par les philocomes."6 Auch hier fällt der an der Einführung der Sidonie-Figur bereits verifizierte Konnex von dekadenter Pretiosenstilistik, die einen Eindruck in viele schillernde Details überhöht, und von radikaler Entwertung des einmal geschaffenen Bildes durch seine Anbindung an den Nichtigkeits-Diskurs auf. Diese Ridikülisierung setzt sich in die sozialkritische Referenz fort, etwa wenn die Kondolierenden zu Akteuren in einem zynischen Trauerspiel werden: Le premier groupe des invites entre par la droite, le second par la gauche; ils se saluent profondement, puis hommes et femmes, tous en deuil, se pressent les mains, s'essuient les yeux, et, quittant leur air afflige, ricanent.117 Bereits an der Explizitheit, mit der die szenischen Anweisungen zum kritischen Verweis organisiert sind, lässt sich ersehen, inwieweit Huysmans an einer theatralen Selbstwertig-
114
"s
1,6
"7
Vgl. Huysmans, CEuvres V, S. 110. Eigentlich verwundert das, denn nicht nur Huysmans' Beschreibung des Hanlonschen Le Duel zeugt von einer hohen Sensibilität gegenüber artistisch-pantomimischen Leistungen. Auch in Cheret findet sich eine begeisterte Besprechung von Pierrot-Karikaturen, die nach Huysmans von einer »joie dimentielle, presque explosible« gekennzeichnet wären. (Huysmans, CEuvres X, S. 50). Im Pierrot sceptiquekommt es zwar zu einer Jonglage-Nummer (Vgl. Huysmans, CEuvres V, S. 118), diese ist aber - sehr >zahm< . — in das Verfuhrungsspiel Pierrot-Sidonie integriert. Der szenische Taumel, der die Hanlon-Pantomimen auszeichnete, holt das Huysmansche Szenar höchstenfalls in der angesprochenen Klistier-Nummer sowie am Ende, als Pierrot das ganze Haus abfackelt, ein. Huysmans, CEuvres V, S. 99f. Hervorhebung J.v.B. Huysmans, CEuvres V, S. 109. Hervorhebung J.v.B.
365
keit des in Szene gesetzten Geschehens desinteressiert war. Entsprechend wird das mechanische Moment, das Huysmans den Pantomimen der Hanions abgeschaut hat, referentiell funktionalisiert. Wo es auftritt, ist es stets mit der Assoziation von menschlichem Makel jeder Art verbunden und terminiert in dieser Semantik: Pierrot erscheint bei einem Friseur, den er erst mal mit einem Besenschlag zu Fall bringt, woraufhin dieser - Berufsautomatismus und hündische Unterwürfigkeit des Geschäftemachers ineins - dem Besen die Borsten stutzt: Celui-ci sort precipitament de sa boutique; Pierrot le renverse d un coup de balai. Le coiffeur est un petit homme jaune comme un coing et velu comme un ours. II croit ä son notier; aussi, ä peine debout, encore tr£s ahuri, prend-il ä pleine main les poils du balai, et s'apprete-t-il ä leur faire subir une coupe raissonnde.«
118
In der Tat ist der Szene ihre Komik nicht abzusprechen, jedoch bleibt sie bloßes Kabinettstückchen, das in der Relationierung von Humanum und Mechanikum aufgeht, ohne dass ein Spiel-Mehrwert zu verzeichnen wäre, der über die rein literarische Fassung hinausginge. Ahnlich ridikül, jedoch weitaus sarkastischer gerät das Stück dort, wo ein erotisierter Stutzer Sidonie kaufen will, kaum dass er sie erblickt"9, gleichfalls in einer Szene, in der eine alte sturzbetrunkene Krankenpflegerin sich der Erschlagenen annimmt, obwohl sie eigentlich auf dem Weg zu einer anderen Patientin war. Das ist nicht etwa Folge von Mitleid und unmittelbarer Notwendigkeit, sondern Ausdruck einer formalen Berufslogik: »Celle-Ii ou une autre, qu'importe!«120 Egal— ein Wort, das als Synonym für die Gesamtanlage des Huysmanschen Textes genommen werden kann. Die sozialkritische Tendenz jedoch läuft genau hier ins Leere. Denn Huysmans konterkariert bzw. analogisiert sie mit einer seinem Pessimismus geschuldeten existentiell-zynischen Perspektive, einem gleichsam verabsolutierten >qu'importeh: Pierrot, der die allgemeine Hypokrisie durchschaut hat, bildet nicht etwa - wie sein Klistier-Angriff auf die Trauergäste vermuten lassen könnte - einen souveränen Gegenpart zur Sklerose des Zwischenmenschlichen, sondern er bedient sich ebenfalls und offensiv der Heuchelei, etwa beim Empfang der Trauergäste: »Pierrot pousse des hurlements de douleur, on se montre sa chambre d'un air navre; lui, l'effet produit, se tape les cuisses et rit aux larmes.«121 Ebenso schmierenkomödiantisch versucht er, Sidonies Wachsherz zu erweichen: »II l'implore, se tord ä ses pieds. Se livre ä toutes les grimaces de la passion.«122 Bei Huysmans avanciert der Pierrot, die Figur der nichtigen, substanzlosen, weil rein theatral-ästhetischen Nachahmung, zur kritischen Reflexionsfigur auf das Krisen-Paradigma >Realität als Schauspiel«: Alle äußeren Gefuhlsmanifestationen sind nur noch schauspielerische >effets produttsSzenar< in diesem Sinne weitaus
Lloyd spricht zu Recht von Huysmans Figur als »foncierement misanthrope«. Vgl. Lloyd, Huysmans, S. 372. 124
Huysmans, CEuvres V , S. 106.
367
stärker als literarische Assoziation und düster-identifikatorischer Kommentar zur PierrotFigur denn als Spielvorlage strukturiert. Die dekadente Literarisierung der Pierrot-Gestalt, die bei Margueritte zu einer Reflexion auf die Möglichkeiten des Genres schlechthin wurde, gerät im Falle von Huysmans zur subjektiven Funktionalisierung der traditionellen Figur, die mit der eigentlichen epochalen Ausgangslage einer Ästhetik des artifiziell verfassten Hässlichen nichts mehr außer die Vordergründigkeit der Motivik gemein hat. Das Ende der Pantomime kommt dementsprechend einer Purifikation via Gewalt gleich: Nachdem Pierrot Sidonie und das ganze Haus in Brand gesteckt hat, flieht er, von den verzweifelten Rettungsversuchen der Umstehenden völlig unbeeindruckt, mit der Kartonfrau »loin du sinsitre«125, weit weg von der Katastrophe. Der Befreiungsschlag wird - das ist ersichtlich - nichts grundlegend Neues erbringen, aber er ist eine gewalttätiganarchische Geste, die als Antwort auf das Finstere der Welt gehandelt wird. Tatsächlich ist es - was die reine Relationierung von Gewaltbild und Weltanschauung betrifft — kein allzu großer Schritt zur ideologischen Gewaltimagination z.B. des italienischen Futurismus aber auch zu Bretons berühmt-berüchtigtem Diktum vom Schuss in die Menge als ästhetischem Akt.
4.4. Die pessimistische Ver-Spielung des Ästhetischen: Pierrot als Chiffre des Todes Wie gesagt fällt die Abfassung des Pierrot sceptique noch in die naturalistische Phase Huysmans. Die Forschung hat jedoch bereits festgestellt, dass Huysmans Prosatexte dieser Zeit durch eine spürbare Ambivalenz von naturalistischer Referenz und karikaturesker Uberzeichnung, wenn nicht sogar durch die Präponderanz der letzteren, gekennzeichnet sind. 126 Die Schwierigkeit, die sich daraus ergeben hat, nämlich einem naturalistischen Autor die Tendenz zur artifiziellen Überbietung und damit Ent-Realisierung des jeweiligen Gegenstandes attestieren zu müssen, rückerinnert an das Zolasche Problem, die Szenen der Hanions angesichts ihrer Mechanizität und Auflösung des Humanums noch als karikatureske Mimesis beglaubigen zu können. Was Huysmans Prosa betrifft, so findet sich etwa in Le Drageoir aux Epices ein sprechendes Beispiel für eine Beschreibung, die die Realität ihres Gegenstandes ins Künstliche hinein verspielt: Je dessine sa figure en toute häte. Imaginez une tete falote, un front tres haut, velu et gras; un nez retrousse, malin, fureteur, s'agitant par saccades; une moustache en brosse, une bouche
125 126
368
Huysmans, CEuvres V, S. 127. Lucien Refort etwa zitiert etliche Passagen aus dem Huysmanschen Werk, gerade auch die von realistischem Ernst getragenen, als literarische Karikaturen. Vgl. Lucien Refort: La Caricature litteraire. Paris 193z, S. 8 } { . Vgl. auch: Leon Bloy: Sur Huysmans. Bruxelles 1986. S. 66: »Huysmans est surtout caricaturiste.« (geäußert im Jahre 1903). Vgl. auch: Daniel Grojnowski: Aux Commencement du Rire moderne: L'Esprit fumiste. Paris 1997, S. 221-234 (Le Rire d'Ä rebours); sowie Gilles Bonnet: Des Ombres au Tableau: Mimesis et Caricature. In: Jean Pierre Bertrand/Sylvie Duran/Fran^oise Grauby (Ed.): Huysmans ä Cote et Au-Delä. Actes du Colloque de Cerisy-la-Salle. Leuven 2001, S. 337—359.
lippue, couleur d'aubergine, et des oreilles enormes, plaquees sur les tempes, comme des oreilles d'Indou; un teint fantastique, vert pomme par endroits, jaune safran par d'autres; [ . . . ] . 1 1 7
Huysmans beweist in der Uberzeichnung ein ausgeprägtes vivisektorisch anmutendes Detailinteresse: Der Körper zerfällt, was durchaus mit der Ästhetik der Hanions kompatibel ist, in ein Ansammlung einzelner Teile, und zwar, indem die physiognomischen Aspekte überbetont, hyperbolisiert oder mit Gegenständlichem assoziiert, in den Vordergrund gerückt werden. 118 Das entspricht in der Tat der Detail- und Auflösungs-Stilistik der Dekadenz, die Bourget als >Anarchie der Teile< beschrieben und auf die Gesellschaftsund Bewusstseinskrisis im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts projiziert hat. 129 Diese genuine Entrealisierung des Objekts ins Artifiziell-Detaillistische, die zugleich einer selbstironischen Reflexion der naturalistischen Schreibweise gleichkommt' 30 , entspricht, so die These des folgenden Abschnittes, relativ passgenau der nihilistischen Attitüde Huysmans', der bereits seine Selbst-Positionierung innerhalb des Naturalismus unter genuin pessimistisch-eskapistischer Perspektive vorgenommen hatte, wenn er im Hinblick auf Ä rebours schrieb: »[...] je suis naturaliste, c'est-a-dire travaillant sur des documents et ecrivant le moins mal que je puis - je differe peut-etre des autres ecrivains compris sous la meme epithete, qui ne veut pas dire au fond grand-chose, en ce qui je n'aime guere le temps et que j'ai 5a et lä des echappees vers des au-dela.«'3' Wenn Zola schaudernd von der Hanlonschen Inszenierung des >niant humain« sprach, so kann die systematische Einlösung dieser Negativprämisse erst und vollständig für Huysmans verbucht werden.' 32 Die am Prosatext festgestellte Erzeugung von Gegenstandsqualität für den menschlichen Körper erfährt ihre Entsprechung im Pierrot sceptique, sie wird zum Inhalt einer ganzen Szene, in diesem Sinne also theatral transkribiert und ausgespielt, wobei der Doublebind von ästhetischer Spielerei und zynisch-herabwürdigender Perspektivierung dieses Spiels offen zu Tage tritt: Nach einer fehlgeschlagenen Vergewaltigung Sidonies geht Pierrot >zärtlicher< vor und beginnt, dem Fräulein den Kopfputz abzunehmen. Wird bereits an
127
Joris Karl Huysmans: CEuvres completes de J . - K . Huysmans I: Introduction de M . Lucien
128
Dass die karikatureske Überzeichnung innerhalb des französischen Naturalismus durchaus eine
Descaves. Le Drageoir aux fipices. Sac au Dos. G e n f 1972 [Reprint], S. 75. gängige Tendenz war, belegt nicht nur die Zolasche Emphase auf der >kalten Satire» der Hanions, die er als mögliches Vorbild ftir eine naturalistische Analyse sieht, sondern auch Brunetiere, der meinte, die Verfahrensweisen der Naturalisten, Huysmans eingeschlossen, »ne sont autres, en principe, [...] que ceux de la caricature. Ferdinand Brunetiere: Le Roman naturaliste. Paris 1896. S. 309. 129
Vgl. Bourget, Essais, S. 14. D e r dekadente Detailismus wurde von den Brüdern D e Goncourt als eigentlicher Aufweis eines modernen Stils gegen die überkommene literarische Ästhetik in Anschlag gebracht. Vgl. Edmond et Jules de Goncourt: Journal. Ed. Robert Ricatte. Band I. Paris 1989, S. 979.
•30 Vgl. j a z u Schopenhauerianer< deutlich ausgemacht.
presente Ä rebours de J . - K . Huysmans. Paris 1996, S. 159. Vgl. fimile Zola: Correspondance. Band V . Paris 1986, S. 108
369
der Liebes-Konstellation die Semantik der Entleerung des Humanums sinnfällig (Puppe ersetzt Frau), so wird die Nivellierung nunmehr vollends in die Intimität des Körperlichen getragen. Der an die Ouverture eines Liebesspiels erinnernde Akt wird am und mit dem Dinglichen vollzogen: Habituee par les exigences d u metier ä se laisser peigner et dipeigner, la sidonie s'assied avec tranquillite. Pierrot c o m m e n c e par lui cueillir les fleurs d'oranger de sa c o i f f u r e et va les piquer dans un pot des fleurs, sur la cheminee.
Mecaniquement,
elles s'epanouissent sous ses doigts; les
fleurs se transforment en oranges. 1 ' 3
Bereits hingewiesen wurde auf eine spezifische Konvergenz innerhalb der Huysmanschen Stilistik: die Erzeugung eines pretiosenheften Bildes und dessen entweder immanente oder explizit über einen Kommentar vorgenommene Entwertung. Das hochpoetische Bild der Transformation der Blüten in Orangen, komplexe Metapher von organischer Natürlichkeit und keimender Liebe, in dem an die idealistische Utopie des Ästhetischen schlechthin erinnert ist, wird schlussendlich offensiv zum bloß mechanischen Effekt herabstilisiert und dinglich kontaminiert. Entsprechend reißt Pierrot mit lapidarer Geste die Orangen aus und deponiert sie in einer Schublade. 1 ' 4 Er kann mit visuellen Lyrizismen dieser Art nichts anfangen. In der Folge wird das, was als Liebesspiel begonnen hat, zur grotesken Leibesvisitation, die vollends zur Desintegration des mechanischen Körpers führt: S a belle c o i f f u r e lui reste dans les mains, et son crane b o m b e , denude, pareil ä un d ö m e de Sucre rose. Pierrot l'epoussette, y ddcouvre une boite, en soul£ve le couvercle, y prend une ecrevisse, l'epluche et la gobe. II s'assure q u e la boite est vide et, mecontent, rajuste la perruque.' 3 5
Wiederum ein Bild, das ob seiner surrealen Seltsamkeit ästhetisch aufs Höchste frappiert und als solches ausgesprochen reizvoll ist - doch wiederum trägt es die eindeutige nihilistische Markierung: Pierrot klopft den hohlen Schädel ab — kaum ein Aufweis gesteigerten Interesses am Charakter der Dame, sondern in der Tat Neugier an ihrem Inneren als Gegenständlichem - und verschlingt das in ihm gefundene Schalentier. Der Körper hat hier nicht nur, wie bei den Hanions, seine natürlichen Implikate verloren, sondern auch seine ästhetische Abstraktion ist letztlich als radikal nihilistischer Gestus gefasst: Die Konvergenz des Poetisch-Surrealen mit rein taktiler Dinglichkeit weist ästhetische Transformation als ein mechanizistisches Hantieren im schlechtesten und düstersten Sinne des Begriffes aus, sie ist Manipulierung von Dingen, ihre instrumentalisierende Herabwürdigung aus einer - an Pierrot exemplifizierten - Aneignungsattitüde heraus. 1 , 6
1,3
H u y s m a n s , CKuvres V , S. 1 1 7 . H e r v o r h e b u n g J . v . B .
134
V g l . H u y s m a n s , CEuvres V , S. 1 1 7 .
135
H u y s m a n s , CEuvres V , S. 1 1 7 .
136
W e n n Gilles B o n n e t demgegenüber unter Rekurs auf Foucault das >Barocke< an solchen T r a n s formationen u n d grotesken H y b r i d b i l d u n g e n aus M e n s c h u n d D i n g in den T e x t e n H u y s m a n s ' betont, dann eröffnet er damit eine unzulässige, zumindest weitaus zu optimistisch markierte utopische D i m e n s i o n . D i e
»episteme baroque,
soumis ä la folie de l'analogie« ist bei H u y s m a n
ins gnadenlos Pessimistische überboten. D a s heißt, die Ästhetik selber als O r t einer Transgres-
370
War eine radikale artistische Souveränität das eigentliche Fundament der HanionPantomimen, so könnte man für Huysman die Aufdeckung des Substrats an Nihilismus veranschlagen, das der besonderen Struktur dieser Kunst zugrunde liegt und das ihr auch von Zola attestiert wurde. Seine Rezeption der Hanions wäre somit auch ein pessimistischer Reflex auf das an ihnen zugleich Favorisierte. Ein möglicher Beleg für eine solche ambivalente Haltung der Kunst gegenüber findet sich in Huysmans' Stück selber und zwar in der motivischen Abstraktion, die Pierrots >Jagd nach der Frau< auszeichnet, von der echten Colombine über Sidonie bis hin zur Kartonfrau 137 : Die Figur der Colombine ist seit jeher Teil des überkommenen Pantomimenpersonals (das auch Margueritte einer zitathaften Reevaluierung unterzogen hatte). Eine solche Zweidimensionalität des bloß Versatzstückhaften kann nun auch fur die beiden anderen Damen veranschlagt werden. De Palacio hat darauf hingewiesen, dass sowohl der Name »Sidonie« als auch der Name »Therese« Kodierungen der zeitgenössischen Kunstkritik waren: Es handelte sich um allgemein verständliche Bezeichnungen für die lieb- und leblosen Bildnisse der akademischen Malerei. 138 Husymans selbst schreibt anlässlich des Salons von 1879: »Apres Sydonie, nous passons maintenant ä Therese, la tete de carton qui sert ä essayer des bonnets dans les vieilles merceries.«139 Relativ eindeutig ist damit die gesamte narratio der Huysmanschen Pantomime über die im engeren Sinne gesellschaftspessimistische Attitüde hinaus in einen selbstreferentiellen Konnex mit vergesellschafteter Kunst, i.e. den Möglichkeiten und Grenzen des Ästhetischen innerhalb des sozialen Raumes gesetzt. Offensichtlich verbürgt die Kunst für Huysmans in ihrer zeitgenössischen Form alles andere denn die Möglichkeit zum Transport irgendeiner Utopie. Die Düsterkeit des Pierrot sceptique kann unter diesem Fokus auch als Einbekenntnis der Wirkungslosigkeit des Ästhetischen schlechthin gewertet werden. Nicht einmal mehr die in Szene gesetzte Deformation garantiert irgendein« >irgendwie< anders denn negativ
sion realer Zuschreibungen und gesellschaftlicher Gültigkeiten folgt bei Huysman einer an der Gesellschaft generell diagnostizierten mechanischen Aneignungsbewegung und Beherrschungstendenz. Huysmans löst u.U. gerade deswegen paradigmatisch die von Adorno an moderner Kunst diagnostizierte Verdüsterung ein: Als Bewusstsein darüber, dass das Ästhetische Teil hat an den Entfremdungen der Moderne. Vgl. Bonnet, Mimesis, S. 355; sowie Gilles Bonnet: L'Ecriture comique de J . - K . Huysmans. Paris 2003. Bonnet arbeitet hier minutiös sämtliche Unterarten der komischen Schreibweise bei Huysmans heraus, auch den schwarzen H u m o r , den er u.a. - und wohl nicht zu Unrecht — mit Baudelaires Hogarth-Analyse in Ubereinstimmung bringt. (Vgl. S. 159fr). Eine dezidiert postmoderne, von optimistischer Emphase getragene Lektüre von Huysmans' Pantomime leistet ebenfalls Brunella Eruli, ftir die Huysmans Text das Paradigma einer von allen kritischen Limits befreiten Imagination abgibt, die die Grenzen zwischen Realität und Kunst performativ verschwimmen lässt. Vgl. Brunella Eruli: Huysmans al circo: >Pierrot sceptiqueAmbivalenz< als attitüdischem Grundmuster der Decadence im Allgemeinen und bei Huysmans im Besonderen: Jürgen Sänger: Aspekte dekadenter Sensibilität. J . - K . Huysmans Werk von >Le Drageoir aux Epices< bis zu >A rebours«. Frankfurt a.M. u.a. 1987, S. 134.
138
D e Palacio, Pierrot, S. 139.
139
Joris-Karl Huysmans: L'Art moderne. Coli. 10/18, Paris 1975. S. 39.
371
anvisierbares Surplus. Im Grunde übt Huysmans eine radikal konservative Selbst-Kritik am Konzept des Dekadenten in der Baudelaireschen Prägung, das, wie gezeigt, mit der Emphase auf dem Neuen nichts mehr anderes als die zukunfts- und richtungslose Sensation meinte und dementsprechend die ästhetische Deformation als das den entsprechenden Kitzel affizierende Inkommensurablum zu inszenieren trachtete. Unter diesen Vorzeichen gelesen erwirbt sich der Huysmansche Text in der Tat Respektabilität. Als auf den eigenen Pessimismus im Hinblick auf das ästhetische Potenzial des Hässlichen transparente Studie kann der kleine Text Le Monstr/40 aus dem Jahre 1889 gewertet werden. Huysmans geht hier von einer tiefgreifenden und modernespezifischen Sklerose des Symbolwertes des Hässlichen aus. Er beschreibt in sehr reizvollen Bildern den Gürtel von Groteskgestalten, der Notre-Dame ziert, attestiert ihm aber einen nunmehr hieroglyphischen, d.h. unleserlichen Charakter: Notre-Dame est maintenant un hieroglyphe 011 les iconographes chretiens epellent des mots isoles et tristes, oü les alchimistes recherchent vainement la recette de la pierre philosophale
Die Schönheit des Schrecklichen: »cette beaute de l'epouvante«' 42 , die Huysmans in dieser Schrift als ästhetische Qualität der Deformation und des Monströsen von Neuem zu beglaubigen bzw. zu retten sucht, erfuhr gemäß seiner Argumentation ihren ersten und entscheidenden Einbruch bereits im Spätmittelalter, welches das Horrible mit dem Farcenhaften und Komischen zu kontaminieren begann143. Die moderne Version und die eigentliche Rückkehr zu solcher Schrecklichkeit im Modus des Schönen liegt fur Huysmans dagegen in den erstmals durch den Fortschritt der Naturwissenschaften zugänglichen Bereichen des Mikrobisch-Amorphen, dessen ästhetische Transkription er in den Bildern Odilon Redons erblickt.' 44 Es wird in dieser Argumentation relativ eindeutig, worauf Huysmans tendiert: nämlich auf eine vom Komischen (das er eigentlich nur noch als Negativ-Lächerliches wahrzunehmen im Stande ist) nahezu gänzlich gereinigte Version des natürlichen Schreckens als >Neo-Erhabenemabsolute Komische< als ein ernstzunehmender hochartistischer Modus ist aus Huysmans Text geschwunden und einer Denunziatorik des Lächerlichen gewichen, auf das es mit einem aggressiven Purifikations-Impuls zu antworten gilt. Uber eine vordergründige Faszination am Morbiden hinaus, die Huysmans gesamte Schriften durchzieht, kann die auffällige Relationierung der Pierrot-Figur zum Leichenhaften als ein offensiver Gestus dieses schlussendlichen Terminierens der groteskkomischen Kunst der Pantomime gewertet werden. Wenn Pierrot Sidonie erste Avancen macht, offeriert er ihr bezeichnenderweise »un bouquet d'immortelles«' 47 , einen Strauß mit Grabesblumen, die jemand achtlos auf den Boden hat fallen lassen. Auch die neue Eroberung steht von vorneherein unter negativen Vorzeichen. Darin impliziert ist — betrachtet man die Sidonie-Figur im beschriebenen Sinne als Anspielung auf den Gesamtkontext künstlerischen Gestaltens - die düstere Assoziation an die Todesverfallenheit jeglichen Neuerungsgestus.148 Die böse Pierrot-Figur gerät bei Huysmans dermaßen zur eigentlichen Chiffre des Todes, als Teilnehmer eines makaber-grotesken Spiels mit ihm jedoch hat er abgedankt: Wenn der von Pierrot zu Boden geworfene Friseur sich mit dessen Hilfe aufrappelt, hangelt er sich an einem »cadavre«149 hoch, die traditionelle Blässe und Dürre des von Deburau geprägten Typus wird als korporelle Semiotik des Verstorbenseins reinterpretiert. Huysmans hatte ihn ganz entsprechend in Schwarz gekleidet, was seiner generellen Ikonographie in Bezug auf die Figur entspricht: Wo immer der Pierrot bei Huysmans auftaucht, verbinden sich in ihm Assoziationen des Bösen und der Düsternis. So heißt es etwa in L'Oblat »[...] je confesse ma gaiete lorsque je vois ce grand diable qui a une calotte noire et une figure bleme de pierrot«'5°. Ganz explizit reflektiert dieser Totengräber seiner selbst auf seine Ähnlichkeit mit einer Leiche. Als der verzweifelte Friseur ihn rasieren soll und auf seinem kahlen weißen Schädel kein einziges Haar findet, entgegnet Pierrot sarkastisch: Que des gens voudraient etre ä ma place!... car enfin ä quoi servent les cheveux quand l'heure du deduit sonne?...Les baisers ne courent-ils pas mieux sur l'ivoire des cranes?'5'
Von einer >komischen< Figur dieser Un-art ist weder die heitere Relativität Bachtins noch die Utopie des Theatralischen, sprich: das seiner selbst genügsame absolut komische Spiel mehr zu erwarten. Pierrot flüchtet nicht im Eigentlichen >loin du sinistra·. Au contraire, il va dans le sinistre.
147
Huysmans, CEuvres V, S. 115. •48 Vgl z u m Zusammenhangvon morbide et artificielsk der Dekadenz-Signatur: Bourget, Essais, S. 16. 149 Huysmans, CEuvres V, S. 105. 150 Huysmans, CEuvres VII/I, S. 184. Vgl. »son allure de long pierrot noir«. Huysmans, CEuvres VII/IIS, S. 250; »ce Pierrot en habit noir«. Huysmans, CEuvres X, S. 49. 1,1 Huysmans, CEuvres V, S. io6f.
373
VIII. Schluss: ... mit Lustig?
»I never saw anything funny, that wasn't terrible. If it causes pain, it's funny; if it doesn't, it isn't.«
Das lapidare Statement des großen W . C . Fields taugt zur Formel für die groteske Ästhetik der Pantomime und offensichtlich auch darüber hinaus fur die liaison intime et fatale, die Komik und Schrecken miteinander verbindet. In den »noblerem Formen gepflegter Heiterkeit wird sie überspielt zugunsten einer Botschaft, die am Lachenerregenden vermittelt werden soll. Einer vom höheren moralischen Standpunkt aus ins Werk gesetzten Komik soll die Berechtigung gar nicht abgesprochen werden. Jedoch wäre ihr souveräner Gestus auf jeden Fall darauf hin zu befragen, inwieweit er sich nicht selber vom Primat der Überheblichkeit
herschreibt - zumal dort, wo er sich gönnerhaft als versöhnlicher Humor
gibt. Eine aggressive Überheblichkeit, die zumeist die unbewusste, verdrängte Seite desjenigen Vermögens ausmacht, das Mensch und Tier angeblich so wesentlich voneinander scheidet: der Fähigkeit, zu lachen. Das seinerseits durchweg souveräne Einbekenntnis dieses dunklen Fonds, wohlgemerkt im ambivalenten Sinne des Eingestehens von und des Bekenntnisses zu ihm, verschafft den im Verlaufe der vorliegenden Arbeit diskutierten Vorgaben ihre Respektabilität. Die eigentliche »moralische Sendung homemade-clip-Shows, nicht zuletzt die proliferierende, über die Spaßkultur abgesegnete Mode des Grotesken - all dies deutet auf ein breit geteiltes Interesse am Ridikulum als einem reinen Opfer, einer Beute: la proie. Es erklärt sich wohl nicht zuletzt aus Entgrenzungen, die die moderne Bewusstseinslage schon seit der Romantik bestimmen: Das Schreckliche ist, aus sicherer Distanz genossen, zum Schießen komisch. Die hochraffinierte und hochästhetische Groteskkomik jedoch, die das 19. Jahrhundert bot, scheint im Hinblick auf die gegebenen Beispiele einem rein vordergründigen Bedienen von physiologischem Lachinstinkt gewichen zu sein, der auf die schiere Komik des empirisch Repulsiven abstellt. Zum Fressen verkommenes Lachen. Allerdings, um Baudelaire zu bemühen: Nur wer unbefleckt von der Sünde des satanischen Lachens ist, der kann sich Zivilisationspessimismus guten Gewissens erlauben - der Verfasser gehört nicht dazu. Es wäre aber im Ausgang von solch allgemeinen Erwägungen zum derzeitigen Stand des Komischen von Interesse zu fragen, inwieweit die ästhetische Signatur der Pantomime als konstruktive Verbindung von Gewalt und Stil in andere Formen und Genres hinein evolviert ist. Ob also beispielsweise der frühe Stummfilm, der slapstickmovie und auch >verfemte< Formen des Theaters wie das nicht mehr existente großartige Spektakel des Grauens, das Grand GuignoL, als Reflexe der grotesken Pantomime aufzufassen wären.1 Darüber hinaus natürlich, ob der moderne Splatterfilm, dessen Gewaltorgien spätestens seit den 1980er Jahren den ironischen Gestus verzeichnen lassen und in ihren Bösewichten oftmals auffällig die Figur des monströsen Clowns variieren, sich in irgendeiner Weise auf frühere Vorbilder rückprojizieren ließe.2 Natürlich gälte es auch, dem Grotesken über den engeren Rahmen grausamer Unterhaltungskunst hinaus nachzugehen: im Theater der historischen Avantgarde etwa mit ihrer Affinität zu Zirkus, Music Hall und Variete. Außerdem der erschreckenden Komik in den Werken Becketts, Brechts und auch Heiner Müllers. Letzteres umso mehr, als damit eine kritische Einlassung auf den dort jeweils beanspruchten Mehrwert an Sozialkritik oder absurder Semantik sowie an utopistischer Qualität möglich wäre. Sind Brechts groteske Szenen komisch weil oder obwohl sie die politische Emanzipation anvisieren? Reizen Becketts Clowns vielleicht aus dem Grunde zum Lachen, weil die ästhetische >Grausamkeit< ihres Verfassers darin offen zu Tage tritt, die Dunkelheit der Welt also nicht indiziert, sondern unmittelbar ins Ästhetische hinein prolongiert wird? Ein solcher Fokus wäre insofern gefordert, weil dem an den Medien verifizierten aktuellen Willen zum unbedingten Lachen von Seiten der ästhetischen Theorie nicht oder nur unzureichend durch die Betrachtung der Relation von Komik und Gewalt entsprochen
1
z
Vgl. dazu allgemein: Mel Gordon: The Grand Guignol. Theatre of Fear and Terror. New York 1997. Vgl. Stefan Höltgen: Wenn es sich biegt, ist es komisch. Moderne Horrorkomödien. In: Splatting Image 53/2003, S. 6-10, S. 9f. 375
wird. Das Verhältnis hat sich — verständlicherweise, bedenkt man die Katastrophen des 20. Jahrhunderts - zugunsten des Brutalen verschoben. Dass ein geradezu intrinsischer Konnex zwischen moderner Kunst und Gewalt besteht, scheint — zumal im Angesicht eines manieristisch deformierten oder in seiner leiblichen Präsenz entfesselten Körpers auf dem aktuellen Theater - offenkundig. 3 Allerdings ist die Relation rechtfertigungsbedürftig: Der Zusammenhang von Kunst und Gewalt wird zumeist in der Referenzrelation, sei sie kritisch auf gesellschaftliche Einschreibungsmechanismen oder aber tiefschürfend auf Kreatürliches bezogen, begründet. Erst seit kurzer Zeit wird auch in der deutschsprachigen Forschung die prinzipielle Inadäquanz von ästhetischer Struktur und moralischer Norm sowie aufgeklärtem Diskurs verstärkt betont und das Problem ästhetischer Distanz - im Umkreis einer Reaktivierung des Erhabenen - selbst unter der Perspektive der Gewalt verhandelt.4 Die Aufarbeitung einer Tabugeschichte der modernen Kunst, die diese nicht nur als kritischen Reflex auf eine gesellschaftlich-historische Gewaltdimension liest, sondern - freilich unter wechselnden Bestimmungen - ihren Formtendenzen »jenseits anthropologischer Begründungen«5 daselbst den aggressiven Impuls diagnostiziert, kommt zunächst nicht an der Tatsache vorbei, dass mit dem Beginn der ästhetischen Moderne in der europäischen Romantik die Reflexion auf das Phänomen der Gewalt erst unter den nachweisbaren historischen, soziologischen und bewusstseinsgeschichtlichen Umwälzungen im Zuge der Französischen Revolutionen und der Napoleonischen Kriege eine neue und kritische Qualität erhält. Ebenso nicht, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts die durch das Grauen des Ersten Weltkrieges ausgelösten Depressionen sich thematisch in den makabren Gewaltphantasien der historischen Avantgarden reflektierten. Die mangelnde Legitimierbarkeit der geschichtlichen Gewalt in der Moderne (handele es sich im engeren Sinne um kriegerische Auseinandersetzungen oder um das, was Adorno als >grausames Ritual der Naturbeherrschung< identifiziert), zeichnet sich an der Divergenz von gesellschaftlichpolitischem Erfolgsversprechen und dessen mangelnder Einlösung ab. Die Rechtfertigung von Gewaltdarstellung, sei es in der bildenden Kunst, in der Literatur oder auf dem
3
Vgl. etwa Hans-Ulrich Seeber: »Both social history and the history of literary forms point to an affinity between modernim and violence. In: Hans-Ulrich Seeber: Modernization, Violence and Modern Poetry: Comments on Wolfried Owen, August Stramm und Lascelle Abercrombie. In: F.K Stanzel/M. Löschnigg, (Ed.): Intimate Enemies: English and German literary Reactions to the Great War 1914-1918. Heidelberg 1993. Vgl. zum Zusammenhang von Literatur und Gewalt auch: Jürgen Nieraad: Die Spur der Gewalt. Zur Geschichte des Schrecklichen in der Literatur und ihrer Theorie, Lüneburg 1994. Als Indiz für das bereits im Laufe der 1990er Jahre gestiegene Interesse der internationalen Theaterwissenschaft siehe z.B. die inhaltlich breit angelegte Kompilation: Gewalt im Drama und auf der Bühne: Festschrift für Günter Ahrends zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Hans-Jürgen Diller [u.a.] Tübingen 1998; sowie den schon 1991 erschienenen Band 13 von Themes in Drama: Violence in Drama. Cambridge 1991.
4
5
376
Vgl. dazu etwa Jürgen Wertheimer in der Einleitung des von ihm herausgegebenen Bandes: Ästhetik der Gewalt. Frankfurt a.M. 1986, S. 11. So der Untertitel eines Aufsatzes von Karl Heinz Bohrer: Ästhetik und Gewalt als Bedingungsverhältnis. Jenseits anthropologischer Begründungen. In: Karl Heinz Bohrer: Die Grenzen des Ästhetischen, München/Wien 1998, S. 138-159.
Theater ergab sich scheinbar - und diese Tendenz betrifft die Eigenaussagen namhafter Künstler wie die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Werken bis dato - proportional zu dem Grad an Enttäuschung, die eine als Gewaltzusammenhang reflektierte Geschichte zumutete. Nicht zuletzt auf der postmodernen Szene, der es - Erblast der historischen Avantgarden - um die Neustrukturierung von Wahrnehmungsgewohnheiten via verstörender Bilder und Eindrücke gingt, wurden im Zuge der Dekonstruktion konventioneller dramatischer Schemata oder überkommener Darstellungssemiotiken alternative Gewaltdramaturgien entworfen. Sie machten im Lichte einer umfassenden Diversifizierung der Gesellschaft prinzipiell an der skierotisierenden Verbindlichkeit kultureller Repräsentationsmuster fest. An die Stelle einer ästhetischen Aufarbeitung des Anderen von Aggression, Schrecken und Katastrophe tritt so eine Ästhetik selbstreferentieller Zeichensysteme: Ihre gewalttätige Dimension liegt im Entzug der Verbindlichkeit des diskursiven Materials selber, indem der Sinn des jeweils Gezeigten nur noch als temporärer (Sinn)Effekt, nicht mehr aber als Substanz wahrnehmbar wird. Der katastrophische Impakt verlagert sich so »von der Handlung zum Sinn, vom Prozeß der Interaktion zum Problem der Kommunikation« 6 zwischen Szene und Zuschauer. Allerdings bleibt der Brechungsmechanismus gerade innerhalb postmoderner Entwürfe funktionsbestimmt: Zum einen wird - vor allem in den 8oer Jahren - in einer nicht zuletzt an Brecht geschulten und über Beckett transformierten politischen Ästhetik sprachlicher und körperlicher Des- und Reintegration vor allem die Physis des Akteurs zum tortured body stilisiert, in dessen Leidens-Gesten sich soziale Strukturen als Mechanismen der Vergewaltigung des Subjekts manifestieren: Described through dramatic speech and represented onstage, the body in contemporary political theatre is a body tortured, disciplined, confinded, penetrated, maimed, extinguished. 7
Wo dermaßen die Subjektkonstitution via gesellschaftlich-symbolischer Ordnung als brutaler Vorgang reflektiert wurde, stellte die postmoderne Theatralität diesem Zwang einer »technokratischen Ideologie< das >revolutionäre< Potenzial dezentrierter, i.e. nicht symbolisch manifestierbarer Subjektpotenziale gegenüber, die sich selbst nicht zuletzt am frappanten Eindruck sprachlicher und körperlicher Uberdeterminierungen etc. äußern. Ja, der entscheidende Umstand ist, dass der ästhetisch vollzogene Ausbruch des Körpers und seiner Ausdrucksvehikel aus der symbolischen Ordnung unter dem Schlagwort einer »Vehemenz des Subjekts< ebenfalls als gewaltsamer begriffen und auf anthropologische Konstanten bezogen wurde.8
Hubert Zapf: Alltagstrauma und Psychodrama: zum Verhältnis von Katastrophe und Katharsis im amerikanischen Gegenwartsdrama. In: Gewalt im Drama und auf der Bühne: Festschrift fur Günter Ahrends zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Hans-Jürgen Diller u.a.Tübingen 1998. S. 2 0 7 - 2 2 7 , S. 208. Stanton Β. Garner: »Post-Brechtian Anatomies«. In: Theatre Journal Vol 42, N r . 2,5/1990. S. 147. Kristeva, Revolution, S. 92. Dieser Zusammenhang von gesellschaftlicher Gewalt und »gerechtfertigter· Gegen-Gewalt (die ihrerseits neue Ordnungsstrukturen herbeiführt), hat zu großangelegten theaterwissenschaftlichen Entwürfen wie dem von Kubiak geführt, in dem Theater generell als ein Ort des Terrors
377
Allerdings bleibt beim postmodernen Kurzschluss von anthropologisierter Szene und ästhetisierter Realität nicht nur die Frage nach einer genuinen Eigenwertigkeit des Ästhetischen und seiner Differenz zu der Realität außer Betracht. Weitaus schwerer wiegt der Umstand, dass Ästhetik als Teilbereich einer Anthropologie dem ständigen Irrationalismusverdacht ausgesetzt bleibt (typische 8oer-und 90er Jahre-Mythologeme wie die vom >erotisierten Körper* und von der lust- und schreckenvollen Besetzung der über deformative Überdeterminierungen ausgestellten Körperteile tun dabei ihr übriges9). Das Unsagbare und genuin Gewaltsame dezentrierter >vehementer Subjektpotenziale* entzieht diese prinzipiell ihrer diskursiven Verortung in einer Entwicklungsgeschichte moderner Kunst, in der sich Gewalt keineswegs als bloßes anthropologisches Faktum, sondern als Ergebnis einer ästhetischen Auseinandersetzung mit der Rationalität der gesellschaftlichen Moderne geriert.10 Polemisch ließe sich hier Adornos zärtlicher Vorwurf an Baudelaire und Poe bemühen, sie seien als Wegbereiter der modernen Kunst zugleich deren >erste Technokraten* gewesen, um den Zusammenhang von Uberbietungsemphase und einer auf rationalen Überlegungen beruhenden, gleichsam als Strategie reflektierten ästhetischen Aggression in der Prozessgeschichte der Moderne anzuvisieren und gegenüber der postmodernen >Befreiungsideologie< in Anschlag zu bringen. Freilich besitzt die moderne Verve gegenüber dem ebenfalls aggressiven Erneuerungspotenzial früherer Epochen eine neue Qualität: Die Souveränität, mit der die avancierte Bühne des 20. Jahrhunderts im Ausgang von Jarrys Ubu Roi und seiner romantischen
5
10
begriffen wird: als erschreckender »dialetical space«, auf dem über die in actu vollzogenen Konstitution und Destruktion scheinbarer Einheiten die genuin gewalttätigen Generationsmechanismen von Kultur schlechthin anvisierbar sind - freilich ohne dabei aussagbar zu werden. Vgl. Anthony Kubiak: Stages of Terror: Terrorism, Ideology and Coercion as Theatre History. Bloomington and Indianapolis 1991, S. 121; vgl. ebd. etwa S. 19 und am Beispiel Genets S. 135. Den prinzipiell progressiv-utopistischen Grundzug der Theorie Kristevas und anderer postmoderner Theoretiker, die ein mögliches Ende der Gewaltrelation innerhalb einer einmal erreichten umfassenden gesellschaftlichen Pluralität im Auge haben, kritisiert bereits Boris Groys im Hinblick auf die Avantgarde mit dem Verweis, dass diese »nicht nur unterschiedliche Formen der externen Gewalt demonstriert, sondern dass sie ihre eigene Gewalt ausübt, die keineswegs in einem ästhetischen Pluralismus friedlich aufgehoben werden kann.« Boris Groys: Die Gewalt der Bilder. In: Rolf Grimminger (Hrsg.): Kunst — Macht — Gewalt. Der ästhetische Ort der Aggressivität, München 2000, S. 65. Die Gefahr solcher Begrifflichkeit liegt nicht allein in ihrer Unscharfe: Das Problem zeigt sich in seiner Tragweite dort, wo die dezidiert einer realitätsbestätigenden und dermaßen versöhnlichen Kunstauffassung entgegentretenden Entwürfe im Ausgriff auf verschüttete Erfahrungshorizonte selber — zumeist ungewollt — einem kulinarischen Konsumverhalten zutragen. Der in den 1990er Jahren initiierte Hype von exzessiver Gewaltdarstellung auf dem europäischen Theater muss auch vor diesem Hintergrund gesehen werden, nicht zuletzt wohl in Relation zu einem verselbständigten Unterhaltungssektor innerhalb der Massenmedien. Der Widerspruch einiger junger Autoren und Theatermacher gegenüber der sozialen Unverbindlichkeit einer postmodernen Spiel- und Erlebnisästhetik können nicht nur als historischer Rückschritt in eine irgendwie sozial engagierte* oder zumindest die gesellschaftliche Situation reflektierende Kunst, sondern geradezu als Einspruch gegen die aufkommende Lethargie und Abstumpfung des >postmodernen Zuschauers* gewertet werden. Vgl. dazu Bohrer, Grenzen.
378
Vorgänger Mord und Totschlag praktiziert, lässt sich nicht einzig aus einer kulturgeschichtlichen Kontinuität von Tradition und Neuerungsimpuls erklären." Jarrys >moderne Satire< vom monströsen König U b u als eigentliche Beginn des modernen Theaters zu benennen, ist mittlerweile Platitüde. Unbestritten ist auch, dass das Stück den exzessiven Umgang mit Gewalt und Grausamkeit, mit dem die historischen Avantgarden die Kunstrevolution des 20. Jahrhunderts einläuteten und der eine, wenn nicht die epochale Signatur moderner Bühnenkunst werden sollte, souverän initiierte. Tatsächlich? Gerade bei Jarry dürfte eine Rezeption des Grotesken in der von uns beschriebenen Form zu veranschlagen sein. Er annonciert etwa seine Monstertragödie wie folgt.
Vgl. Ehlricher, Kunst der Zerstörung. Als Reflexion auf eine friedliche« Entsprechung zu der avantgardistischen Grotesk-GewaltTradition zu Beginn des 20. Jahrhunderts lohnt ein kurzer Seiten-Blick auf Meyerhold, der in seiner 1912 erstmals veröffentlichten Programmschrift Balagan (Wsewolod E. Meyerhold: Balagan. In: Wsewolod E. Meyerhold: Schriften: Aufsätze — Briefe — Reden — Gespräche. Band I: 1891-1917. Berlin 1979, S. 196-221) versuchte, über eine Integration der Spielprinzipien von Pantomime und Improvisation, Puppen- und Maskentheater, eine neue, auf A-Mimetik beruhende Darstellungsästhetik gegenüber dem realistischen und literarisierten Theater zu etablieren. Umfassend etikettiert wird diese schließlich mit dem Begriff der »Groteske«. Meyerhold begreift diese als anti-analytische Methode der Darstellung (vgl. S. 215), wenn er sagt »Ihre Methode ist streng synthetisch. Kompromisslos setzt sich die Groteske über alle Kleinigkeiten hinweg und erschafft (natürlich in »konventioneller Unwahrscheinlichkeit«) die Ganze Fülle des Lebens.« (S. 215). Darin ist wiederum über das Paradigma des Künstlichen das Proliferationsargument einer Ästhetik des Hässlichen eingeholt. Das Groteske wird nämlich vom rein abbreviaturischen Prinzip der »Stilisierung« abgegrenzt (vgl. S. 215) und zwar aus zweierlei Gründen: Letztere stellt eine abstrahive Schematisierung realer Gegebenheiten dar, die »den Reichtum der Erfahrung auf das Typisch-Einheitliche« (S. 215) reduziere, ist aber gerade darin noch einer Beziehung zum jeweiligen Gegenstand verpflichtet. Demgegenüber ist das Groteske zwar artifiziell hergestellt, das heißt, in ihm existiert keine Wahrscheinlichkeit mehr, aber gerade als solches ist es von der Verpflichtung auf das Faktische und empirisch Mögliche freigesetzt. Die Groteske ist in genau diesem Sinne »streng synthetisch«, d.h. sie ist konstruktive Kreation. In der Tat klingt hier Baudelaires Version eines selbstgenügsamen, rein artifiziell verfassten Hässlichen an. Meyerhold jedoch unterläuft die Baudelairsche Perspektive, wenn er den frappanten Wert eines solchen Gezeigten ausblendet und - unter anderem unter Rekurs auf Hoffmann und deutschromantische Mythologematik (das »Dämonische«) — seinen zunächst formalistisch daherkommenden Groteske-Begriff wiederum semantisch kontaminiert. So ist das Groteske als das »phantastische im Spiele durch seine eigene Originalität« rückgebunden an eine »stilisierte[r] Überhöhung«, und damit zielt Meyerhold wohl vorrangig auf die semantische Doppelbödigkeit ab: »das Lebensfrohe sowohl im Komischen als auch im Tragischen; das Dämonische in der tiefsten Ironie; das Tragikomische im Alltäglichen, das Streben nach »stilisierter Überhöhung«, nach geheimnisvollen Anspielungen, Unterschiebungen [von Bedeutung; der Verf.; vgl. S. 219] und Verwandlungen [...].« (S. 220). Nicht der schiere theatrale Erscheinungscharakter, sondern die in der Groteske eröffnete Möglichkeit der Brechung der Eindeutigkeit des Sinns sowie die Erzeugung von Polysemie sind augenscheinlich der Fluchtpunkt des hier entworfenen Theaters. In der Tat ist Meyerhold hier recht nahe an Bachtin, ein Einfluss ist aber wohl kaum anzunehmen. Inwieweit dieser frühe Ansatz in der folgenden Theorie der »Biomechanik« modifiziert wurde, kann jedoch — auch aus Gründen sprachlicher Barrieren - hier nicht weiter verfolgt werden.
379
Vraiment, il n'y a pas de quoi attendre une piece dröle, et les masques expliquent que le comique doit en etre tout au plus le comique macabre d un clown anglais ou d'une danse des morts.«' 1
Jarry selber benennt im obigen Zitat zumindest zwei ästhetische Quellen, der seine eigene, sowohl im Kontext des Symbolismus anzusiedelnde wie diesen überschreitende Szene sich verpflichtet: Zum einen und generell das Makabre, zum anderen und in der historisch engeren Perspektive die Figur des englischen Clowns. Die Jarrysche Zurückweisung der Erwartung eines »piece dröle«, eines harmlosen Schwanks, einer unverbindlich-wundersamen Komödie darf also gerade nicht dazu verfuhren, die intendierte Wirkung des Jarryschen Stückes auf die schiere Quantität an gewaltsamen Eindrücken oder auf die lustvoll zelebrierte Motivik des ins Grauen gesteigerten Grobianischen zu reduzieren. Vielmehr ging es Jarry wohl um die endgültige theatrale Erschließung - und das heißt ebenso: Fortschreibung - einer romantischen Ästhetik des Difformen und um die Etablierung davon abgeleiteter wirkungsästhetischer Prämissen. Das ergibt sich einmal über seine Absage an das vordergründig Satirische oder Persiflierende. Die Unzahl an möglicherweise verborgenen Anspielungen (»diverses satires«'3) setze, wie er betont, den verehrten Zuschauer frei »de voir en Μ. Ubu les multiples allusions que vous voudrez«14, und mache die Darsteller selbst »irresponsables«.'5 Dieser laxe Umgang mit einer möglichen, übrigens bis dato immer wieder (nicht zuletzt im Hinblick auf die großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts) bemühten Bedeutungsebene des Stückes, ist nicht nur symbolistische Polemik gegen zementierte Semantiken: An die freigewordene ästhetische Stelle des satirischen Außenverweises qua komisch-grausiger Deformation setzt Jarry explizit den die Deformation begründenden transformativen Gestus der Szene selbst: J'ai voulu que, le rideau leve, la scene fut devant le public comme ce miroir des contes de Mme Leprince de Beaumont, oil le vicieux se voit avec des comes de taureau et un corps de dragon, selon Pexageration des ses vices.' 6
Zumindest implizit rekurriert die Zerrspiegelmetapher auf die von Victor Hugo in seiner Preface du Cromwell unter dem Etikett des Grotesken vorgenommen Auseinanderdividierung der empirischen und der künstlerischen Realität. Demnach fungiert die Wirklichkeit gerade in der Totalität ihrer Elemente, einschließlich alles Difformen und Heterogenen, als maßgebliche Anregung und als unerschöpflicher Formenvorrat fiir den Künstler. Damit war aber nur die erste Volte gegen eine klassizistische Ästhetik geführt, welche die Nachahmung der Natur auf deren Veredelung qua Selektion beschränkte. Der tabubrechende Ausgriff gerade auf das Hässliche der Wirklichkeit war in Wahrheit einer modernistischen Emanzipation der künstlerischen Willkür synonym. Der Vorrang sub-
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Alfred Jarry: CEuvres competes I. Textes itablis, presentes et annotds par Michel Arrive, Paris 1972, S. 416. Jarry, CEuvres, S. 402. Jarry, CEuvres, S. 399. Jarry, CEuvres, S.. 402. Jarry, CEuvres, S. 416.
jektiver Gestaltungsfreiheit und einer als »originalite personnelle«17 etikettierten erweiterten Imagination terminierte in einer besonderen wirkungsästhetischen Prämisse, an der sich Modernität fur Hugo allererst erfüllt: Das moderne Genie (»genie moderne«'8) transformiert die Empirie sowie das vormalige ästhetische Material und: »le rend plus frappant.«'9 Es resultiert daraus ein moderner, zentral am Gestus der künstlerischen Gestaltung ansetzender Begriff von grotesker Deformation, der mit dem, was ihr an gewalttätigem Eindruck zukommt, zusammenfällt. Ein gewichtiger Teil der Jarryschen Reflexionen lässt sich nicht nur im Hinblick auf eine solche moderne Relationierung von Deformation und Gewalt lesen. Er bestimmt sie geradewegs zu einer neuen Form des Schönen. Selbst im Stück finden sich Hinweise: Als Mere Ubu angesichts einer Schlacht ums Gold ausruft »II est vrai que e'est horrible. [...]«, kontert ihr Gatten-Monstrum: »Quel beau spectacle!«10 Inwiefern damit auch auf das intensive Bewegungsbild, das szenisch vermittelte Gewaltsamkeit immer herstellt, angespielt ist, verdeutlicht die zu einiger Prominenz gekommene Jarrysche Bestimmung des performativen Wertes des Gestischen. Am Beispiel der Marionette erklärt Jarry die Universalität einer theatralen Geste durch den Zusammenhang von Einfachheit und Gewaltsamkeit: Exemple d un geste universel: la marionnette temoigne sa stupeur par un reeul avec violence et choc du crane contre la coulisse.21 Der in dieser Geste angezeigte Mangel an Zusammenhang von innerer Motivation mit ihrer äußeren Manifestation besitzt zum einen die Struktur komischer Distanzierung: Die Bewegung wird in dem Maße universal-gestisch, als sie als groteskkomische Übertreibung von der Referenz entbunden ist: Sie kann nunmehr alles bedeuten - und nichts. Aber dieser Mangel an innerer Konsistenz ist kein ironisches Verweisungsspiel, das als Wille zur Ridikülisierung einer Tradition lesbar würde. Vielmehr wird hier die hier frappante Wirkung als ästhetischer Zusammenhang eines selber gewalttätigen Bewegungsbildes (»recul avec violence« - » choc«) mit der gleichzeitigen komischen Emanzipation dieses Bildes aus dem dramatischen Kausalnexus verständlich. Genau damit scheint sich Jarry nun das modernistische Erbe der bereits angesprochenen Clownspantomime zu erschließen: Einer Kunst der Darstellung, die ebenso auf der auf dem makabren Relativierung wie auf dem Prinzip größtmöglicher Intensität beruhte und damit der Gewalt den Platz eines ästhetischen Zentral-Phänomens auf den Bühnen des 20. Jahrhunderts gesichert hat. Einerseits, das ist wohl nicht zu leugnen, schlägt in der Vorliebe moderner (Theater)Künstler fur das Amoralische und Grausame jeweils ein subjektiver Hang zum Schockanten und zur Provokation durch, in der künstlerische Avanciertheit nicht immer
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Hugo, Preface, S. 435. Hugo, Preface, S. 419. Hugo, Preface, S. 419. Jarry, CEuvres, S. 367. Jarry, CEuvres, S. 4o8f. 381
passgenau von der Lust an der Gewaltpornographie zu trennen ist. Die objektiv zu verifizierende Dimension ist dagegen in der Annahme enthalten, dass in der exzessiven Darstellung von Gewalt am Beginn der modernen Szene strukturelle Metaphern für den gewaltsamen Erscheinungscharakter der modernen szenischen Kunst schlechthin geliefert werden. Eine solche genuin brutale Tendenz der Moderne nimmt ihren Ausgang auch in der diskutierten modernen Entdifferenzierung von Kunst und Gesellschaft, die nur deshalb in eine gewünschte (Af) Frontstellung der Künstler zur Gesellschaft münden konnte, weil sie sich die Kunst in einem Prozess negativer Identifikation (Adorno) den der Gesellschaft abgeschauten Überbietungsdruck daselbst zu eigen macht: Baudelaires empathisch geforderte Orientierung der Moderne an den Qualitäten der sensation du neufund des imprevu bedeutet nicht zuletzt, eine sich von der Verpflichtung auf gesellschaftliche Pragmatik emanzipierende Ästhetik einem richtungslosen, dem Kriterium des Schockanten verpflichteten Beschleunigungsdiktat zu unterwerfen, dem seinerseits das Gewaltmäßige eignet. Insoweit können beispielsweise die mechanizistischen Verunstaltungen auf den Bühnen der historischen Avantgarden - paradigmatisch hier nicht zuletzt die grotesken Maschinenmenschen und humanotechnischen Hybriden des italienischen Futurismus — als Abschluss eines Prozesses gewertet werden, in dem gesellschaftlicher Technizierungsimpuls und ästhetische Überbietung schließlich konvergieren. Dergestalt, dass die erste, ihrer Verpflichtung auf Funktion und Entwicklung entkleidet, gleichsam nur noch zum Schauund Erlebnisobjekt ästhetisiert wird, und dass die ästhetische Veranstaltung ihrerseits nur noch nach Maßgabe quasi technisch-energetischer Prinzipien sowie nach dem Grad an in ihr vermittelter Intensität beurteilt wird. Zum anderen aber wird mit der Moderne die Selbstreferenz der ästhetischen Struktur und damit ihre Emanzipation von der Verpflichtung auf geschichtlichen Sinn und gesellschaftliche Funktion virulent: Offensichtlich ist die gerade auf dem Theater anhaltende Tendenz, Inhalte - und nicht zuletzt das Grausig-Gewaltsame — in Gestalt des Komischen und Grotesken zu präsentieren, nach wie vor dem modernen Vorstoß in die Ironie geschuldet, die eine Befestigung subjektiver Gewissheiten am ästhetischen Objekt qua Brechung des Aussagehaltes verunmöglicht. Bereits Hegel hatte, indem er die Komödie zur höchsten Form der Kunst und letztlich zum Paradigma ihrer Selbstüberwindung bestimmte, darin wesentlich eine zu sich gekommene, souveräne ästhetische Rationalität anvisiert, die die epochale Signatur des Ironischen trägt. Der mit der romantischen Moderne vollends Selbst-bewußt gewordene subjektive Geist hat sich soweit von seinem Material, der Realität, distanziert, dass sie ihm als frei verfugbarer Formenpool gilt. Damit ist die von Hegel für die klassische Kunst beanspruchte Form-Inhalt-Transparenz zugunsten höchstmöglicher Distanzierbarkeit unterlaufen. Dass Hegel im Komischen die Grenze der Kunst zu ihrer Selbstaufhebung bestimmte, hat folglich damit zu tun, dass er jenseits der Demarkationslinie die Möglichkeit zu einer gleichsam entfesselten und schrankenlosen Kunst, einer ars ferox, gewahrte. Das Surplus an Verfügbarkeit eröffnete die Möglichkeit zu einer gewaltsame Verformung und brutalen Aneignung realer Objekte und idealer Gehalte, die zum Selbstzweck tendiert und in der sich die Gestaltungswillkür als Thema, vor allem aber als Effekt ausweist. Die qualitative Schwelle zur Moderne kann dermaßen nicht nur an der Selbstreflexion und den ihr entsprechenden Emanzipationstendenzen 382
der Kunst abgelesen werden. Da diese zum Zwecke der Abgrenzung von der gesellschaftlichen Pragmatik auf die Freilegung der strukturellen Besonderheiten des Ästhetischen und Theatralischen zielten, müssen sie als Freisetzung von deren genuin gewalttätigen Implikate begriffen werden. Aber ist das alles noch zum Lachen? Der Verfasser gesteht, dass er in Auseinandersetzung mit seinem Forschungsgegenstand oft bis an die Schmerzgrenze gelacht hat. U m mit Gautier zu schließen: On rit comme on peut et non pas comme on veut. — Solventur risu tabulae, tu missus abibis.
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IX. A n h a n g
ι.
Pantomimen
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Margueritte-Pantomimen: Margueritte, Paul et Victor: Nos Treteaux: Charades de Victor Margueritte, Pantomimes de Paul Margueritte. Paris 1910. (Die Zahlen in Klammern markieren die Seitenzahlen im Band.) Pierrot Assassin de sa Femme (97-106). Pierrot Amoureux de la Lüne (107-112). Colombine pardonne (113-122). Au Cou de Chat (123-131). Pierrot mort et vivant (131—142). Pierrot Mormon (143-148). La Peur (149-154).
Hanlon-Lee-Pantomimen: Hanlon-Lees, Freres: Memoires et Pantomimes des Freres Hanion Lees. Avec une Preface de Theodore de Banville. (Ed. Richard Lesclide). Paris [1880]. (Die Zahlen in Klammern markieren die Seitenzahlen im Band.) Le Frater de Village (109-112). Pierro Menuisier (113—116).
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Pierrot terrible (Viande et Farine) (117—126). Do Mi Sol Do (127-134). Les Cascades du Diable (135—142). Le Dentiste (143-146). Le Duel (147-153). Singes et Baigneuses (153—158). Une Soiri en Habit noir (159-166). Les quatres Pipelettes (167—171). Le Voyage en Suisse (172-178).
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