Vom Vorrücken des Staates in die Fläche: Ein europäisches Phänomen des langen 19. Jahrhunderts 9783412505028, 9783412503697


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Vom Vorrücken des Staates in die Fläche: Ein europäisches Phänomen des langen 19. Jahrhunderts
 9783412505028, 9783412503697

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Jörg Ganzenmüller · Tatjana Tönsmeyer (Hg.)

Vom Vorrücken des Staates in die Fläche Ein europäisches Phänomen des langen 19. Jahrhunderts

Böhlau Verlag Köln Weimar Wien · 2016

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim ­Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein, des Herder-Instituts für historische Ostmitteleuropaforschung, Institut der Leibniz-Gemeinschaft, im Rahmen des Herder-Chairs der Herausgeberin, sowie des Verbandes der Osteuropahistorikerinnen und -historiker e.V.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Das Rathaus in Lemberg, Postkarte vor 1945. Das Titelbild wurde freundlicherweise vom Herder-Institut zur Verfügung gestellt. Die Unterstützung des Herder-Instituts erfolgte im Rahmen des Herder-Chairs, den die Herausgeberin Tatjana Tönsmeyer inne hat.

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Anja Borkam, Jena Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50369-7

Inhalt Jörg Ganzenmüller/Tatjana Tönsmeyer

Einleitung: Vom Vorrücken des Staates in die Fläche. Ein europäisches Phänomen des langen 19. Jahrhunderts  ........................ 

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I. Administratives Vorrücken in die Fläche  ............................................................ 33 Malte Rolf

Kooperation im Konflikt? Die zarische Verwaltung im Königreich Polen zwischen Staatsausbau und gesellschaftlicher Aktivierung (1863 – 1914) ..........................................  35 Werner Benecke

Über das Vordringen des russischen Staates in die Fläche. Das Beispiel des ausgehandelten Wehrdienstes 1874 – 1914  ........................  65 Nicole Immig

Der Staat und seine „Neubürger“: Territoriale Erweiterung und muslimische Minderheiten in Griechenland im 19. Jahrhundert  . . ...........  81 Norbert Franz

Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume der „letzten Rädchen im Staat“: Durchstaatlichung und Ausweitung der Staatstätigkeit in politisch-administrativen Landgemeinden Frankreichs und Luxemburgs im 19. Jahrhundert  .. .........................................................  111 Hedwig Herold-Schmidt

Staatsgewalt, Bürokratie und Klientelismus: Lokale Herrschaft im liberalen Spanien des 19. Jahrhunderts  ..................  131

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II. Infrastrukturelle Durchdringung und Stadtentwicklung  ......................................  163 Dirk Mellies

Infrastrukturpolitik in einer rückständigen Provinz Preußens. Das Beispiel Pommern im 19. Jahrhundert  . . ...............................................  165 Jana Osterkamp

Wasser, Erde, Imperium. Eine kleine Politikgeschichte der Meliorationen in der Habsburgermonarchie  .......................................  179 Christopher Hamlin

Agency and Authority in Nineteenth-century English Local Government  . . .........................................................................  199 Felix Heinert

Der Rigaer städtische Schlachthof, der (koschere) Fleischmarkt und die Aushandlungen des Schlachtzwanges um 1900, oder: Wie „der Staat“ gerufen wurde  ..........................................................  225 Christoph Augustynowicz

Ausgeweitete und verdichtete Raumnutzung in der kleinpolnischen Stadt Sandomierz im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts  . . ........................  253 III. Kulturelle Legitimationsangebote  . . ..................................................................  265 Gabriele B. Clemens

Die Stadt als Bühne. Kulturelle und politische Inszenierungen des italienischen Adels (1800 – 1914)  ............................................................  267 Raphael Utz

Der Staat als monarchisches Projekt: Maria Pavlovna und das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach um 1830  . . ...............  291 Autorenverzeichnis  .......................................................................................  311

Jörg Ganzenmüller/Tatjana Tönsmeyer

Einleitung: Vom Vorrücken des Staates in die Fläche. Ein europäisches Phänomen des langen 19. Jahrhunderts Dem modernen Staat fallen eine Vielzahl von Regelungs- und Gestaltungskompetenzen zu: Er schützt und garantiert die demokratische Rechtsordnung, bekämpft Kriminalität, führt Kriege und schließt Frieden. Er treibt Steuern ein und übernimmt als Sozia­lstaat die Fürsorge für Hilfsbedürftige sowie die Schaffung und Ausgestaltung sozia­ler Sicherungssysteme. Er ist zuständig für Kultur, Bildung und Infrastrukturmaßnahmen, formuliert gesundheit­liche Standards, kontrolliert Lebensmittel und setzt Grenzwerte fest. Er steuert die Wirtschaft und reguliert den Arbeitsmarkt. Wenn daher heute vom performing state gesprochen wird, so meint dies gleichermaßen die Fähigkeit zur Ausübung dieser Kompetenzen wie auch ihre tatsäch­liche Umsetzung. Dies setzt voraus, dass ein Staat die Kontrolle über sein Staatsgebiet ausübt. Nur dann ist er in der Lage, der dort lebenden Bevölkerung normative Güter wie Frieden, Rechtssicherheit, individuelle Freiheit und s­ ozia­le Wohlfahrt zur Verfügung zu stellen. Entsprechend werden als Kennzeichen moderner Staat­ lichkeit in der Politikwissenschaft vor allem vier Dimensionen diskutiert: die Ressourcen­dimension, die Rechtsdimension, die Legitima­tionsdimension sowie die Wohlfahrtsdimension.1 Zwar sind sich Politik- und Sozia­lwissenschaften dessen bewusst, dass die Ausprägung dieser Dimensionen historisch spezifischen Bedingungen unterlag, doch ihre Aufmerksamkeit gilt vor allem den Transforma­tionen von Staat­lichkeit in post- und suprana­tionalen Konstella­tionen.2 Im vorliegenden Band steht dagegen nicht die Zukunft, sondern das historische Werden von Staat­lichkeit im langen 19. Jahrhundert im Vordergrund. Die hier versammelten Beiträge befassen sich daher mit dem Vorrücken der euro­päischen Staaten in die Fläche und beleuchten, wie ihnen im Verlauf d ­ ieses Prozesses

1 Stephan Leibfried/Michael Zürn: Von der na­tionalen zur post-­na­tionalen Konstella­tion, in: dies. (Hg.) Transforma­tionen des Staates?, Frankfurt/Main 2006, S. 19 – 65, 23 – 32. 2 Siehe zu den Veränderungen in den vier Dimensionen die Beiträge in: Stephan ­Leibfried/ Michael Zürn (Hg.): Transforma­tionen des Staates, Frankfurt/Main 2006.

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neue Aufgaben zuwuchsen bzw. ihre Beauftragten ihnen neue Betätigungsfelder erschlossen. Die Autorinnen und Autoren d ­ ieses Bandes verstehen „Staat“ somit keinesfalls als etwas „immer schon Dagewesenes“, sondern suchen ihn räum­lich und zeit­lich zu verorten. Staatsausbau wird dabei als übergreifender Prozess sichtbar, der sich in je spezifischen, gleichwohl vielfach verwandten bzw. ähn­lichen Entwicklungen konkretisierte. Bevor der Band im Sinne einer integrierten Geschichte Europas diese Entwicklungen für ausgewählte Beispielregionen ­zwischen England und dem ehemals osmanischen Griechenland sowie z­ wischen Spanien und dem Rus­sischen Reich für das lange 19. Jahrhundert in den Blick nimmt, geht die Einleitung zunächst auf die bereits angesprochenen vier Dimensionen moderner Staat­lichkeit ein. Daran anschließend diskutiert sie den einschlägigen geschichtswissenschaft­lichen Forschungsstand. So gerüstet und unter Bezugnahme auf die hier versammelten empirischen Studien folgt dann eine erste Systematisierung in euro­päischer Perspektive. Sie geht dabei zunächst auf die Akteure der Staatsausbauprozesse sowie deren Staatsverständnis ein. Hinzu tritt, zweitens, eine Betrachtung der Modi: Wo war das Vorrücken in die Fläche mit Konflikten verbunden, wo dominierten partizipatorische oder kooperative Verfahren? Hiermit hängt die dritte Frage eng zusammen: Welche Ziele verbanden staat­liche wie nichtstaat­liche Akteure damit, wenn sie ein Vorrücken des Staates in die Fläche unterstützten oder sich dagegen stemmten? Schließ­lich, viertens, sollen die empirischen Beispiele im Hinblick auf die historischen Ausprägungen der Ressourcen-, Rechts-, Legitima­tions- und Wohlfahrtsdimension befragt werden: Was wirkte mit Blick auf deren Genese förder­lich, was hinder­lich? Unser Band möchte somit die These diskutieren, dass das Vorrücken des Staates in die Fläche nicht nur mit der Übernahme neuer Aufgaben einherging, sondern dass im Zuge dieser eng verbundenen Prozesse Staaten auch die Fähigkeit ausbildeten, für „ihre“ Bevölkerungen normative Güter bereitzustellen – ein Prozess, der die Transi­tion von „Untertanen“ zu „Bürgern“ (und mit einer gewissen zeit­lichen Verzögerung auch zu „Bürgerinnen“) widerspiegelt. Moderne Staat­lichkeit, so wurde es bereits angedeutet, kann durch die Gesamtheit der sich überlappenden Ressourcen-, Rechts-, Legitima­tions- und Wohlfahrtsdimension erfasst werden. Die Ausprägung der Ressourcendimension ist von der Ausbildung des Territorialstaates nicht zu trennen: Erst dem in die Fläche vorgerückten Staat, der „sein“ Territorium durchdrungen und erschlossen hat, ist die Kontrolle der Anwendung von Gewalt und der Verwendung von Finanzmitteln mög­lich. Moderne Staat­lichkeit entwickelte sich somit aus den military-­fiscal states der Frühmoderne und ging mit der sukzessiven Einbindung

Einleitung: Vom Vorrücken des Staates in die Fläche 

bzw. Entmachtung von Herrschaftsträgern eigenen Rechts, vor allem des Adels, aber auch der ­Kirchen, einher.3 Eng verbunden mit der Ausprägung der Ressourcendimension waren diejenigen des Rechts und der Legitimität, vor allem im Sinne der legitimen Gewalt­ anwendung. Die sukzessive Etablierung von Rechtsstaat­lichkeit und damit einhergehend die recht­liche Gleichstellung immer größerer Bevölkerungsgruppen als Bürger beförderte die Akzeptanz solcherart gebundener politischer Herrschaft, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts in vielen Regionen Europas zunehmend demokratisch verfasst war. Konkurrierende Quellen politischer Legitimität, etwa tradierte Herrschaftsrechte des Adels, mussten dessen Vertreter daher, wollten sie politisch weiterhin eine Rolle spielen, als sozia­les und kulturelles Kapital in zunehmend demokratisch verfasste Willensbildungsprozesse einbringen.4 Schließ­lich blickt auch die vierte Ausprägung moderner Staat­lichkeit, der Sozia­l- und Interven­tionsstaat, auf seine eigene Geschichte der Förderung von Wirtschaftswachstum und sozia­ler Gerechtigkeit zurück, zu der neben anderem die Aufhebung von Zunftordnungen und Marktbeschränkungen, die Vereinheit­ lichung von Maßen und Gewichten, Investi­tionen in Infrastruktur, Bildung und Industrieansiedlung gehören. Hinzu kam seit dem späten 19. Jahrhundert sukzessive der Aufbau sozia­ler Sicherungssysteme, doch auch die Etablierung von Tarifpartnerschaft oder eine sozia­lpolitisch intendierte Steuergesetzgebung sind in ­diesem Zusammenhang anzusprechen. Die Ausbildung dieser vier Dimensionen moderner Staat­lichkeit war in hohem Maße interdependent. Im Ergebnis verbindet sich moderne Staat­lichkeit mit dem Zur-­Verfügung-­Stellen normativer Güter wie Frieden, Sicherheit, Rechtsstaat­ lichkeit, individueller Freiheit und sozia­ler Wohlfahrt. Dieser Befund ist nicht zu verwechseln mit einer normativen Betrachtung des Staates. Das Zur-­Verfügung-­ Stellen normativer Güter ist als staat­liche Funk­tion Gegenstand analytischer Betrachtungen und kann zumindest im Hinblick auf manche der Güter anhand

3 Siehe dazu ausführ­licher die folgenden Ausführungen zum Forschungsstand. 4 Aus der jüngeren Forschung mit Blick auf England und Böhmen siehe z. B. Tatjana ­Tönsmeyer: Adelige Moderne. Großgrundbesitz und länd­liche Gesellschaft in England und Böhmen 1848 – 1918, Köln 2012. Tatjana Tönsmeyer/Luboš Velek (Hg.): Adel und Politik in der Habsburgermonarchie und den Nachbarländern ­zwischen Absolutismus und Demokratie, München 2011; Eckart Conze/Monika Wienfort (Hg.): Adel und Moderne. Deutschland im euro­päischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2004; Heinz Reif: Adel im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, S. 39 – 55 sowie als Pionierstudie mit Blick auf das 20. Jahrhundert Eckart Conze: Von deutschem Adel. Die Grafen von Bernstorff im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2000.

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von ganz unterschied­lich verfassten Staaten beobachtet werden, ließ doch auch das „Dritte Reich“ jenem als „Volksgemeinschaft“ verstandenen Teil der Bevölkerung normative Güter durch eine Sozia­lpolitik unter NS-Vorzeichen zukommen oder betrieb Infrastrukturförderung (etwa mittels Autobahnbau). Ferner wohnt den hier beschriebenen Prozessen keine teleolo­gische Komponente inne, auch wenn der sogenannten DRIS, der demokratische Rechts- und Interven­tionsstaat, den die hier referierten überlappenden Dimensionen von Staat­lichkeit prototypisch auszeichnen, in seinen wesent­lichen Zügen am Beispiel der west­lichen Staaten der OECD-Welt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts modelliert worden ist.5 Doch ist der DRIS nicht ein entwicklungslo­gisch angelegter Schlusspunkt der Genese von Staat­lichkeit, wie die gegenwartsorientierten Sozia­lwissenschaften zeigen, sondern er ist vielmehr das Ergebnis kontingenter Prozesse. Entsprechend widmen sich die in ­diesem Band versammelten Fallstudien dem Vorrücken von euro­päischen Staaten in die (nichtkoloniale) Fläche und untersuchen die dabei zu beobachtenden Ausprägungen von Staat­lichkeit. Lange Zeit wurde der Prozess des Staatsausbaus als eine fortschreitende Bürokratisierung beschrieben, die das jeweilige Beamtentum kontinuier­lich und unabhängig von Monarchen, Parlamenten oder kommunalen Selbstverwaltungen vorangetrieben habe. Damit einher ging die Vorstellung von einer „ra­tionalen Herrschaft“, die an die Stelle älterer Eigenrechte von Eliten und Untertanen getreten sei.6 Monika Wienfort kritisierte diese Perspektive als zu einseitig vom Staat aus gedacht. Vielmehr bilde sich Staat­lichkeit auch unter aktiver Beteiligung seiner Untertanen, Einwohner und Bürger aus, und das nicht erst dann, wenn politische Partizipa­tionsrechte diese Teilhabe institu­ tionalisieren.7 Auch Patrick Wagner operiert in seiner Studie zur lokalen Herrschaft in Ostelbien im 19. Jahrhundert mit dem Begriffspaar „Herrschaft“ und „Partizipa­tion“, wobei er Partizipa­tion als Teilhabe verschiedenster Akteure an Interak­tionen versteht, in denen Herrschaft zur sozia­len Praxis wurde, ohne allerdings eine Gleichrangigkeit dieser Akteure zu suggerieren.8

5 Seine „klas­sische“ Ausprägung hat der DRIS im sog. Goldenen Zeitalter (Hobsbawm) der 1950er und 1960er Jahre erfahren. Leibfried/Zürn, Konstella­tion, S. 21 ff. 6 Diese Vorstellung basierte auf Max Webers Herrschaftssoziologie, vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. rev. Auflage, Tübingen 1972, S. 29 und 821 f. 7 Vgl. Monika Wienfort: Patrimonialgerichte in Preußen. Länd­liche Gesellschaft und bürger­liches Recht 1770 – 1848/49, Göttingen 2001, S. 17. 8 Vgl. Patrick Wagner: Bauern, Junker und Beamte. Lokale Herrschaft und Partizipa­tion im Ostelbien des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2005, S. 20.

Einleitung: Vom Vorrücken des Staates in die Fläche 

Die Forschung ist sich inzwischen darüber einig, dass Herrschaft vor Ort nicht, oder wie Wolfgang Reinhard etwas vorsichtiger sagt, nicht nur durch Zwang nach dem Schema „Befehl und Gehorsam“ stattfand, sondern in komplexen Kommunika­tions- und Interak­tionsprozessen, die gern auf die Formel des „Aushandelns“ gebracht werden.9 Max Weber hatte Herrschaft einst als „die Chance“ definiert, „für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“.10 Alf Lüdtke sprach sich gegen eine s­ olche eindeutige Trennung in Herrschende und Befehlsempfänger aus. Auch Herrschende befänden sich mitunter in Abhängigkeiten, so dass die Beherrschten mehr als passive Adressaten von Befehlen s­ eien. Außerdem existierten Ungleichheiten und Widersprüche z­ wischen Herrschenden ebenso wie z­ wischen den Beherrschten.11 Herrschaft sei deshalb immer auch ein Aushandlungsprozess, im Zuge dessen Anordnungen durch die Betroffenen interpretiert und an die jeweiligen Verhältnisse angepasst würden.12 Bereits seit dem 16. Jahrhundert versuchten die frühneuzeit­lichen Staatswesen, durch Policeyordnungen zunehmend sämt­liche Aspekte des täg­lichen Lebens einer normativen Regelung zu unterwerfen und das Verhalten der Menschen auf diese Weise zu dirigieren. Diese frühe Ausweitung staat­lichen Handelns ist zunächst als staat­liche „Normdurchsetzung“ beschrieben worden. Inzwischen hat eine Reihe empirischer Studien dargelegt, dass Normen nicht einfach durchgesetzt werden konnten. Vielmehr war die s­ ozia­le Praxis ein Normsetzungsversuch, der vor allem durch Missachtung, Aushandlung, Instrumentalisierung, Variierung und ähn­liche Handlungen geprägt war. Für die Untertanen stellten die oktroyierten Policeyordnungen immer auch eine Herausforderung dar, mit diesen „kreativ“ – im Sinne von: eigenlo­ gisch – umzugehen. Policeyordnungen untersagten demzufolge nicht nur bestimmte Verhaltensweisen, sondern schufen in einem Aushandlungs- und

9 Wolfgang Reinhard: Staatsbildung durch „Aushandeln“? In: Ronald G. Asch/Dagmar Freist (Hg.): Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitima­tion von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln 2005, S. 429 – 438, hier 430. 10 Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 38. 11 Alf Lüdtke: Einleitung: Herrschaft als ­sozia­le Praxis, in: ders. (Hg.): Herrschaft als ­sozia­le Praxis, Göttingen 1991, S. 9 – 63, 12 ff. 12 Alf Lüdtke: Alltagsgeschichte: Aneignung und Akteure. Oder – es hat noch kaum begonnen! In: Werkstatt Geschichte 17 (1997), S. 83 – 91, hier 85; ders.: Geschichte und Eigensinn, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.): Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur ­Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 139 – 153, hier 146 f.

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Aneignungsprozess neue Handlungsop­tionen.13 Michael Frank hat am Beispiel eines westfä­lischen Dorfes im 17. und 18. Jahrhundert gezeigt, dass die Chancen des Staates, sein Normensystem in Konkurrenz zu tradierten Ordnungen zu etablieren, dort besonders groß waren, wo gesellschaft­licher Wandel die lokalen Besitz- und Machtstrukturen verflüssigte und Teile der länd­lichen Gesellschaft es als nütz­lich erachteten, sich auf das staat­liche Normenangebot zu berufen und den Staat als Schlichter ins Dorf zu holen. Der Erfolg des Staates bei der Implementierung seiner Normen hing also nicht zuletzt von einer lokalen Nachfrage nach diesen Normen und der Rolle des Staates als Normengarant ab.14 Staat­liche Herrschaft war somit auf Koopera­tion angewiesen: Anordnungen und Normen mussten an die Adressaten kommuniziert, Informa­tionen von und über Untertanen gesammelt und an die Herrschaft übermittelt, Soldaten ausgehoben, Steuern und Abgaben eingezogen und Dienste nutzbringend verwendet werden. Herrschaft bedurfte somit der regelmäßigen Zusammenarbeit z­ wischen den Inhabern von Herrschaftsrechten und den davon Betroffenen. Jedoch ist Verwaltungsgeschichte lange Zeit als Analyse der formalen Behördenorganisa­ tion und -struktur geschrieben worden. Die unterste Ebene der Verwaltung geriet dabei ebenso aus dem Blick wie der Verwaltungsalltag und das praktische Verwaltungshandeln. Erst deren Untersuchung – so ­Thomas Ellwein – könne aber erklären, wie sich Verwaltungsinstanzen in relativer Autonomie zum höheren Auftrag und Befehl mit ihrem sozia­len Umfeld arrangierten, ihre Tätigkeit mit d ­ iesem aushandelten, auf s­ ozia­le Beziehungen Rücksicht nahmen oder im Vollzug Anpassungsleistungen erbrachten, durch die eine politische Absicht erst praktisch mög­lich wurde.15 Das 19. Jahrhundert markiert den Übergang vom tradi­tionalen zum ra­tionalen Staat, der vom Aufbau von Bürokratien und einer deut­lichen Ausweitung 13 Vgl. Achim Landwehr: Policey vor Ort. Die Implementa­tion von Policeyordnungen in der länd­lichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Karl Härter (Hg.): Policey und frühneuzeit­liche Gesellschaft, Frankfurt/Main 2000, S. 47 – 70; André Holenstein: „Gute Policey“ und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Régime. Das Fallbeispiel der Markgrafschaft Baden (Durlach), 2 Bde., Tübingen 2003, Bd. 1, S. 43 f. 14 Michael Frank: Dörf­liche Gesellschaft und Kriminalität. Das Fallbeispiel Lippe 1650 – 1800, Paderborn u. a. 1995, S. 34 – 39 und 352 – 360. Siehe auch André Holenstein: Introduc­tion: Empowering Interac­tions: Looking at Statebuilding from Below, in: Wim Blockmans/ André Holenstein/Jon Mathieu (Hg.): Empowering Interac­tions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300 – 1900, Aldershot 2009, S. 1 – 31, hier 16 – 24. 15 Thomas Ellwein: Verwaltungsgeschichte und Verwaltungstheorie, in: Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft 3 (1989), S. 465 – 475, hier 469 – 473.

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von Staatstätigkeit geprägt war.16 Damit einher ging ein Ausbau der Verwaltung mit dem Ziel, auch die lokale Ebene mit Beamten zu durchdringen, um die Kontrolle der Zentralgewalt über jeden einzelnen Untertanen zu gewährleisten.17 Patrimoniale Verwaltungsstäbe wurden nun in ra­tionale Bürokratien umgewandelt, in denen „Staatsdiener“ professionell und im Idealfall unbestech­lich ihrer Tätigkeit nachgingen.18 Da der Aufbau umfassender Verwaltungsapparate allerdings ein teurer und langwieriger Prozess war, bediente sich die Zentrale parallel dazu weiterhin indirekter Herrschaftsausübung, in erster Linie durch die Einbindung regionaler Eliten in Klientelverbände der Zentrale.19 Moderne staat­liche Strukturen und tradi­tionelle Herrschaftspraktiken existierten im 19. Jahrhundert somit gleichzeitig. Und da sich die Entwicklung in den verschiedenen Ländern Europas in unterschied­lichem Tempo und in unterschied­ licher Gründ­lichkeit vollzog, lassen sich unterschied­liche Ausprägungen von Staat­lichkeit beobachten. Mögen die Ausprägungen auch überaus vielfältig sein,20 zu den großen verbindenden Entwicklungslinien gehört, dass das 19. Jahrhundert das Jahrhundert der sich entwickelnden modernen Staatsbürokratien war. Sie bildeten das Rückgrat der sich etablierenden Verwaltungsstaaten und waren Voraussetzung dafür, dass diese sukzessive zu abschöpfenden Steuerstaaten wurden, denen Geldmittel zur Verfügung standen, durch die sie zu Anbietern von öffent­lichen Gütern, etwa im Bereich von Sozia­lleistungen oder Infrastruktur, werden konnten. Als zunehmend dicht integrierte und reibungsarm funk­tionierende Kommunika­tionsagenturen ­zwischen „Bürger“ und „Staat“ waren ihre Apparate und Beauftragten in der Lage, Informa­tionen zu verarbeiten sowie mit einer den Mög­lichkeiten der Zeit angemessenen Geschwindigkeit Entscheidungen zu treffen und auszuführen.21 16 Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 878 f. 17 Wolfgang Reinhard: Geschichte des modernen Staates. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2007, S. 47 – 53. 18 Stefan Breuer: Der Staat. Entstehung, Typen, Organisa­tionsstadien, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 175 – 189. 19 Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungs­ geschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3., durchges. Auflage, München 2002, S. 205. 20 Entsprechend wies wohl kein anderes Jahrhundert eine derartige Vielfalt politischer Formen auf wie das 19. Osterhammel, Verwandlung, S. 818. 21 Siehe als Überblick in euro­päischer Perspektive Lutz Raphael: Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert, Frankfurt/Main 2000.

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Dies gilt auch und gerade vor dem Hintergrund, dass die Prozesse der administrativen Integra­tion von Flächenstaaten im Zuge des Vorrückens in die Fläche nicht auf die Spitzen der Hierarchien beschränkt blieben, sondern Herrschaftsapparate aus den Zentren von Na­tionalstaaten und Imperien im Rahmen einer zunehmenden „Durchstaat­lichung“22 auch s­ olche Regionen erschlossen, die bis dato als Peripherien gegolten hatten, wozu auch neu „gewonnene“ Territorien und andere zuvor eher staatsferne Räume – nicht zuletzt die Wohnquartiere städtischer Unterschichten und die Dörfer – gehörten. Im Zusammenwirken der Prozesse von territorialer Erschließung und institu­ tioneller Ausdifferenzierung auf der Ebene der Administra­tion wurden somit Staaten sukzessive in den Stand versetzt, dem „Staatsvolk“, das sich zunehmend als Bürger und Bürgerinnen verstand, Güter zur Verfügung zu stellen, die von der Bereitstellung von Bildungs- und Infrastruktureinrichtungen über Sozia­lleistungen bis hin zu Rechtsstaat­lichkeit, individuellen Freiheiten und Sicherheit reichten, was sich analytisch als überlappende Ressourcen-, Rechts-, Legitimitäts- und Wohlfahrtsdimension beschreiben und es angezeigt sein lässt, von vielen Staaten des 19. Jahrhunderts zunehmend als performing states im Sinne ihrer Zeit zu sprechen. Zweifellos erweisen sich die hier skizzierten Prozesse vielfach als kontin­gent, mit je spezifischen Weiterentwicklungen, Stagna­tionsphasen und Reorien­ tierungen, die sich zudem von Land zu Land unterscheiden. Auch kam Durch­ staat­lichung im 19. Jahrhundert keinesfalls zu einem Abschluss und erreichte vor dem ­Ersten Weltkrieg nicht jene Dichte, die den Umverteilungsstaat der Boomjahre des 20. Jahrhunderts auszeichnete. Gleichwohl, und zumal aus der Perspektive der Zwischenkriegszeit, spricht Jürgen Osterhammel mit Blick auf Europa im 19. Jahrhundert vom „Goldene[n] Zeitalter des Staates“, der „an Prinzipien des Gemeinwohls gebunden, ordnungskräftig und zugleich in Maßen partizipa­tionssichernd“ gewesen sei und dem es überdies bis 1914 gelang, sein militärisches Potential im Zaum zu halten.23 Die zu konstatierende Vielfalt sollte jedoch nicht den Eindruck erwecken, Staatsausbau sei ein von selbst ablaufender Prozess. Vielmehr gibt es klar benennbare Akteure, die den Prozess anstießen, steuerten, behinderten oder ausbremsten. Das größte Interesse, einen stärkeren Zugriff auf die Ressourcen des Landes zu gewinnen, hatten naturgemäß die hauptstädtischen Regierungen. Der zentralen Staatsgewalt ging es dabei nicht nur um das Eintreiben von

22 Ebenda, S. 23 und S. 146. 23 Osterhammel, Verwandlung, S. 820.

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Steuern und das Ausheben von Rekruten, sondern sie übernahm auch neue Aufgabenfelder wie den Ausbau der Land- und Wasserwege, die Trinkwasserversorgung, das Gesundheitswesen, die Armenfürsorge und das öffent­liche Schulwesen. Neben den hauptstädtischen waren auch regionale Behörden Agenten eines zügigen Staatsausbaus. In Frankreich setzten beispielsweise die Präfekten die na­tionalen Gesetze und Verordnungen in konkrete Maßnahmen um. Ihnen gegenüber standen die lokalen Gesellschaften. Als Broker agierten auch die Bürgermeister, die gleichermaßen Vertreter des Staates in den Gemeinden wie auch Vertreter der lokalen Gesellschaft gegenüber staat­lichen Verwaltungsebenen waren.24 Auf die Vermittlungsdienste solcher Broker war auch die zentrale Staatsgewalt angewiesen, wenn sie Einfluss auf die lokalen Gesellschaften gewinnen wollte, denn es gab im 19. Jahrhundert noch keine ausufernde Staatsbürokratie. Vielmehr war der unterverwaltete Staat der Regelfall. Der Blick in die Regionen zeigt, dass Broker offenbar ein gesamteuro­päisches Phänomen darstellten, insofern, als sich in den Provinzen durchaus Akteure fanden, die z­ wischen Zentralgewalt und lokalen Gesellschaften vermittelten. Ihnen kam eine zentrale Rolle beim Vorrücken des Staates zu, nicht selten entschied ihr Einfluss und ihr Geschick über einen erfolgreichen Interessenausgleich ­zwischen den konkurrierenden Ebenen. In Preußen waren es die Landräte, die als Ortsfremde nach Pommern oder Ostelbien kamen und sowohl ­zwischen staat­lichen Instanzen und lokaler Ebene als auch ­zwischen den verschiedenen Kreisinteressen untereinander vermittelten.25 Im rus­sischen Zarenreich standen die Adelsmarschälle an der Schnittstelle ­zwischen der staat­lichen und der lokalen Herrschaftssphäre und fungierten deshalb als Makler von Informa­tionen, Macht und Ressourcen. Als Wahlbeamte waren sie in der lokalen Gesellschaft verwurzelt und erfüllten wesent­liche politische und kulturelle Mittler- und Übersetzerfunk­tionen.26 Und im liberalen Verfassungsstaat Spaniens übernahmen die Kaziken diese Funk­tion. Hier beruhte die Machtstellung der lokalen Notabeln auf stark ausgeprägten Klientelstrukturen. Die Kaziken brachten ihr Klientel als Wählerschaft für die 24 Vgl. den Beitrag von Norbert Franz in ­diesem Band; zu den Präfekten grundsätz­lich auch Jacques Aubert: Les préfets en France, Genève 1978. 25 Zu Pommern vgl. den Beitrag von Dirk Mellies in ­diesem Band; zu Ostelbien vgl. Patrick Wagner: Bauern, Junker und Beamte. Lokale Herrschaft und Partizipa­tion im Ostelbien des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2005, S. 571. 26 Vgl. Jörg Ganzenmüller: Rus­sische Staatsgewalt und polnischer Adel. Elitenintegra­tion und Staatsausbau im Westen des Zarenreiches (1772 – 1850), Köln, Weimar, Wien 2013, S. 354.

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Parteien der Hauptstadt ein und erhielten dafür materielle Vergünstigungen und symbo­lisches Kapital. Diese Praxis und die Kurzlebigkeit der Regierungen in Madrid stärkten die Macht der Kaziken und damit auch deren Einfluss auf die lokale Verwaltung. Der Ausbau des liberalen Staates vollzog sich in dieser Konstella­tion zu einem guten Teil von der Peripherie aus.27 Die Unterverwaltung euro­päischer Staaten trat bei Herrschaftswechseln besonders eklatant zu Tage. In den hinzugewonnenen Gebieten war die Staatsgewalt noch stärker auf lokale Akteure angewiesen, da eigene Herrschaftsstrukturen überhaupt erst geschaffen werden mussten. Hier deutet sich als Muster an, dass zwar die höchste Verwaltungsebene durch Abgesandte des Zentrums ersetzt wurde, die regionalen und lokalen Amtsträger jedoch in ihren Stellungen blieben und in den Dienst der neuen Herrschaft gestellt wurden. Die besondere Schwäche der neuen Staatsgewalt bedingte eine Koopera­tion mit den lokalen Eliten, was Letzteren enorme Handlungsspielräume im Verwaltungsalltag einräumte.28 Der imperiale Staat unterschied sich vom Na­tionalstaat nicht zuletzt durch eine höhere Zahl von institu­tionellen Ebenen. Die Vielzahl an Institu­tionen und Akteuren bedingte eine Vielzahl von Interessen, die in Übereinstimmung zu bringen waren. Aushandlungsprozesse benötigten deshalb in Imperien mehr Zeit, weshalb der imperiale Staat häufig schwerfälliger wirkt als der Na­tionalstaat. Einen Ausweg bot die Dezentralisierung von Entscheidungsprozessen, die imperiale Regierungen nicht nur aus Personalmangel wählten, sondern auch um das Verwaltungshandeln zu flexibilisieren und zu beschleunigen.29 Nach Wolfgang Reinhard beansprucht der moderne Staat sowohl ein einheit­ liches Staatsvolk als sesshaften Personenverband als auch eine einheit­liche Staatsgewalt, die im Besitz der Souveränität ist. Das Prinzip der Einheit­lichkeit, das diesen beiden Eigenschaften innewohnt, ist der Inbegriff der politischen Modernität. Daraus speist sich allgemein der Wille zur Homogenisierung des modernen Staates.30 Die Absicht der Homogenisierung zielte auf die Zukunft.

27 Vgl. den Beitrag von Hedwig Herold-­Schmidt in d ­ iesem Band. 28 Vgl. den Beitrag von Nicole Immig in d ­ iesem Band zur griechischen Expansion nach Arta und Thessalien. Zum Herrschaftswechsel nach den Teilungen Polens vgl. ­Ganzenmüller, Rus­sische Staatsgewalt, S. 36 – 44. Zu Herrschaftswechseln in Europa grundlegend: Helga Schnabel-­Schüle/Andreas Gestrich (Hg.): Fremde Herrscher – fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa, Frankfurt/Main u. a. 2006. 29 Vgl. den Beitrag von Jana Osterkamp in ­diesem Band. 30 Vgl. Reinhard, Geschichte des modernen Staates, S. 12 f.

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Normierung, Verrecht­lichung und Standardisierung waren deshalb zentrale Ziele einer Durchstaat­lichung. Darüber, ­welche Aufgaben ein Staat zusätz­lich in der Fläche übernehmen sollte, herrschten allerdings recht unterschied­ liche Ansichten. Der Beitrag zum deutschen Zwergstaat Sachsen-­Weimar-­Eisenach zeigt, dass die beiden maßgeb­lichen Akteure recht unterschied­liche Staatsvorstellungen vertraten. Während die Großherzogin Maria Pawlowna ein rein funk­tionales Staatsverständnis hatte, in dem Menschen bestimmte Funk­tionen ausfüllten, sah Goethe im Staat eher ein Abbild des Hofes.31 Dies weist darauf hin, dass die Staatsvorstellungen der maßgeb­lichen Akteure nicht den künftigen Staat im Auge haben mussten, sondern häufig tradi­tionelle Herrschaftsauffassungen widerspiegeln. Nicht zuletzt in Russland war die Autokratie Leitbild jeg­licher Staat­lichkeit, auch einer „modernen“.32 Und auch die städtischen Repräsenta­ tionen deuten auf Staatsvorstellungen des 18. Jahrhunderts hin, in dem die Herstellung von Ordnung ein zentrales Leitbild von Staat­lichkeit war.33 Im kleinpolnischen Sandomierz spiegelten sich die Staatsvorstellungen in den Vorhaben der Stadtplaner wider, die die gewachsene Kleinstadt durch ein mög­ lichst rechtwinklig angelegtes Straßennetz ordnen wollten.34 Daneben finden sich allerdings auch Staatsvorstellungen, die bereits den interven­tionistischen und den vorsorgenden Staat der Moderne vorwegnehmen. Als zentrales Tätigkeitsfeld des Staates in der Fläche galt der Ausbau der Infrastruktur. Der Aufbau eines weit verzweigten Straßennetzes und eines intakten Kommunika­tionssystems sind Elemente von Staatsbildungsprozessen, im Zuge derer die Etablierung einer Verwaltung und der Ausbau von Infrastrukturen vorangetrieben wird.35 Infrastrukturen verbinden nicht nur Zentrum und Peripherie, sondern sind gesellschaft­liche Integra­tionsmedien, die Lebenswelten durch Vereinheit­lichung kolonisieren.36 Die Meliora­tionsprojekte in der 31 Vgl. den Beitrag von Raphael Utz in ­diesem Band. 32 Vgl. dazu den Beitrag von Malte Rolf in ­diesem Band. 33 Vgl. Jörg Ganzenmüller: Ordnung als Repräsenta­tion von Staatsgewalt. Das Zarenreich in der litauisch-­weißrus­sischen Provinz (1772 – 1832), in: Jörg Baberowski/David Feest/ Christoph Gumb (Hg.): Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsenta­tionen poli­ tischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt/Main, New York 2008, S. 59 – 80. 34 Vgl. den Beitrag von Christoph Augustynowicz in ­diesem Band. 35 Vgl. Dirk van Laak: Infrastrukturen und Macht, in: François Duceppe-­Lamarre/Jens Ivo Engels (Hg.): Umwelt und Herrschaft in der Geschichte/Environnement et pouvoir: Une approche historique, München 2008, S. 106 – 114, hier 107. 36 Vgl. Dirk van Laak: Infra-­Strukturgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 367 – 393, hier 368 und 375.

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­ absburgermonarchie zeigen, dass lokale Akteure, die sich einen Nutzen von H teuren Infrastrukturprojekten versprachen, aktive Befürworter eines Staatsausbaus sein konnten. Der Staat wiederum ließ sich nicht willfährig instru­ mentalisieren, sondern konnte seine Interven­tion durchaus an Bedingungen knüpfen, etwa eine Beteiligung an den Kosten.37 Der Bezug auf das Gemeinwohl ist bei Infrastrukturprojekten zwar stets Teil der technokratischen Hintergrundideologie,38 doch hatte nicht allein der Staat ein Interesse am Ausbau von Infrastrukturen, wie das Beispiel des Chausseebaus in Pommern zeigt.39 Dort produzierten die ökonomischen Eliten Überschüsse und profitierten bei deren Verkauf von intakten Verkehrswegen. Privates, gesellschaft­liches und staat­liches Interesse waren hier verschränkt. Auch Vorstellungen vom vorsorgenden Staat finden sich bei den Akteuren des Staatsausbaus. Im Zentrum steht dabei vielfach das Bestreben, die Volksgesundheit zu fördern. In Riga waren es Hygienevorstellungen, die den Stadtrat veranlassten, nach staat­lichen Vorschriften zu rufen.40 Auch die allgemeine Wehrpflicht konnte, so zum Beispiel in Russland, ein staat­licher Beitrag zur Volksgesundheit und zur Volksbildung sein, da alle Rekruten geimpft und ihnen elementare Lese- sowie Schreibkenntnisse beigebracht wurden.41 Doch während in Frankreich der Staat den Oberschichten die Wohltätigkeit als deren tradi­tionelles Betätigungsfeld aus der Hand nahm bzw. in Böhmen mit dem Adel um die Zuständigkeit rang, versuchte er in Russland, die Gesellschaft zu wohltätigem Handeln zu motivieren, da ihm selbst die Ressourcen für eine staat­liche Sozia­lpolitik fehlten, und ließ er in England den tradi­tionellen Oberschichten auf ­diesem Feld lange weitgehend freie Hand.42 Eine euro­päische Gemeinsamkeit scheint ebenso die Vorstellung zu sein, dass der Staatsausbau eine Entpersonalisierung von Herrschaft nach sich ziehe. Diese „Verstaat­lichung des Monarchen“ stand dem Selbstverständnis vieler gekrönter 37 Vgl. den Beitrag von Jana Osterkamp in ­diesem Band. 38 Vgl. Dirk van Laak: Garanten der Beständigkeit. Infrastrukturen als Integra­tionsmedien des Raumes und der Zeit, in: Anselm Doering-­Manteuffel (Hg.): Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2006, S. 167 – 180, hier 168. 39 Vgl. den Beitrag von Dirk Mellies in ­diesem Band. 40 Vgl. den Beitrag von Felix Heinert in ­diesem Band. 41 Vgl. den Beitrag von Werner Benecke in ­diesem Band. 42 Vgl. den Beitrag von Norbert Franz in ­diesem Band. Zum gemeinsamen Engagement von rus­sischem Staat und polnischem Adel im Gesundheitswesen des Zarenreiches vgl. Ganzenmüller, Rus­sische Staatsgewalt, S. 358 – 365; zur Wohltätigkeit als Arena, in der Staat und Hochadel ihr Verhältnis zueinander aushandelten, Tönsmeyer, Adelige Moderne, S.  225 – 231.

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Häupter entgegen, unmittelbar mit den Beherrschten verbunden zu sein. Ihnen schien es, dass die wachsende Bürokratie sich z­ wischen den Monarchen und das Volk schiebe, so dass die Klage über die angeb­liche Entfernung des Monar­chen vom Volk eine typische Begleiterscheinung des Staatsausbaus war.43 Lange Zeit ist die Geschichte des Staatsausbaus als eine Geschichte des Konflikts z­ wischen vorrückendem Staat und tradi­tioneller Gesellschaft beschrieben worden. Jeg­liche Form von Herrschaft ist jedoch, wie bereits dargelegt, auf Koopera­tion angewiesen und bedarf daher der regelmäßigen Zusammen­ arbeit ­zwischen den Inhabern von Herrschaftsrechten und den davon Betroffenen.44 Nicht anders verhält es sich mit dem Staatsausbau. Die lokalen Akteure waren nicht nur ausführende Organe. Sie entschieden letzt­lich, inwieweit sie zentralstaat­liche Initiativen mit Nachdruck verfolgten oder durch Passivität ins Leere laufen ließen. Sie konnten Initiativen ergreifen, wenn gesamtstaat­ liche Absichten mit lokalen Interessen zusammenfielen, oder Konflikte erfolgreich durchstehen, wenn die Politik der Zentrale ihren Interessen oder Vorstellungen zuwiderlief. Der Staatsausbau schritt insbesondere dann voran, wenn die Kommunen auf die Unterstützung der übergeordneten staat­lichen Ebenen benötigten.45 Der Staatsausbau fand überall in Europa in Form von Aushandlungsprozessen statt, weil die in der Fläche kaum präsenten staat­lichen Akteure auf die Koopera­tion mit den lokalen Gesellschaften angewiesen waren.46 Dabei erscheint der Staat nicht selten als der schwächere Part. Häufig nutzten die lokalen Akteure den Staat als Ressource und spannten ihn für ihre Zwecke ein. In der pommerschen Provinz waren infrastrukturelle Maßnahmen durchaus willkommen und im staat­lichen Engagement sah man die Mög­lichkeit, die dafür anfallenden Kosten nicht selbst tragen zu müssen.47 Die Musterung in Russland erweckt besonders den Eindruck, dass die regionalen Selbstverwaltungsorgane 43 Vgl. Johannes Paulmann: Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa z­ wischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn u. a. 1999, S. 78 – 86. 44 Vgl. Stefan Brakensiek: Herrschaftsvermittlung im alten Europa. Praktiken lokaler Justiz, Politik und Verwaltung im interna­tionalen Vergleich, in: Stefan Brakensiek/Heide Wunder (Hg.): Ergebene Diener ihrer Herren? Herrschaftsvermittlung im alten Europa, Köln, Weimar, Wien 2005, S. 1 – 21, hier 1 f.; ders.: Einleitung: Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit, in: Stefan Brakensiek/Corinna von Bredow/Birgit Näther (Hg.): Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit, Berlin 2014, S. 9 – 24, hier 9 f. 45 Vgl. die Beiträge von Norbert Franz, Dirk Mellies und Jana Osterkamp in d ­ iesem Band. 46 Vgl. Tatjana Tönsmeyer: Adelige Moderne. Großgrundbesitz und länd­liche Gesellschaft in England und Böhmen 1848 – 1918, Köln 2012. 47 Vgl. den Beitrag von Dirk Mellies in ­diesem Band.

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am längeren Hebel saßen und der zarische Staat damit leben musste, dass diese ihm vielfach ungeeignetes Personal für den Militärdienst zur Verfügung stellten.48 Allerdings bestand eine ganz wesent­liche Begleiterscheinung des staat­lichen Vordringens in die Fläche darin, dass der Staat Informa­tionen über seine Untertanen sammelte. Diese Wissensbestände wurden mittelfristig zu einer wichtigen Ressource der staat­lichen Bürokratie.49 Dass es dabei zu Konflikten kommen konnte, ist nicht erstaun­lich. So setzten zum Beispiel die rus­sischen Generalgouverneure im Königreich Polen zwar auf eine Koopera­tion mit der Warschauer Gesellschaft, beharrten jedoch aus ihrem autokratischen Staatsverständnis heraus stets auf der eigenen Entscheidungshoheit. Gesellschaft­liche Partizipa­tion hatte in ihrer Vorstellung dem Staat zu ­nutzen und zu den Bedingungen zu erfolgen, die der Staat vorgab.50 Nun dürfte in jedem Aushandlungsprozess ­zwischen staat­lichen und gesellschaft­ lichen Akteuren ein Machtgefälle existieren. Der mächtigere Verhandlungspartner mochte – wie auch die Warschauer Generalgouverneure – Formen der Partizipa­tion rein funk­tional verstehen. Auch konnte sich im Falle eines Konfliktes der stärkere Akteur (zumeist) durchsetzen: Der Staat mit seinen Macht- und Gewaltressourcen, die lokale Gesellschaft, indem sie die Partizipa­ tion schlicht verweigerte. Konflikte z­ wischen staat­lichen und lokalen Akteuren resultierten jedoch nicht allein aus der Konstella­tion, dass eine vordringende Staatsgewalt auf lokal Mächtige traf. Staatsgewalt und lokale Gesellschaft traten im 19. Jahrhundert einander häufig nicht in Form von Institu­tionen, sondern als Einzelpersonen gegenüber. In der alltäg­lichen Praxis war die Beziehung ­zwischen Staat und Gesellschaft nicht unpersön­lich, sondern an konkrete Menschen geknüpft. Bei deren Begegnung spielten Faktoren wie persön­liche Sympathie, private Interessen oder die Zugehörigkeit zu bestimmten Netzwerken eine ganz wesent­liche Rolle, die man bei einer Untersuchung der lokalen Verwaltung nicht unterschätzen darf. Aus d ­ iesem Grunde lassen sich politische und persön­liche Konflikte meist nicht voneinander trennen.51 Während sich die Modi somit unterschied­lich gestalteten, erweist sich das Bild im Hinblick auf die Ziele des jeweiligen staat­lichen Vorrückens als einheit­ licher. Varianten kommen hier vor allem durch die Beschaffenheit der Fläche 48 Vgl. den Beitrag von Werner Benecke in ­diesem Band. 49 Vgl. Holenstein, „Gute Policey“, S. 101 f. 50 Vgl. dazu den Beitrag von Malte Rolf in ­diesem Band. 51 Dazu grundlegend: Stefan Brakensiek: Fürstendiener – Staatsbeamte – Bürger. Amtsführung und Lebenswelt der Ortsbeamten in niederhes­sischen Kleinstädten (1750 – 1830), Göttingen 1999. Für das Zarenreich vgl. Ganzenmüller, Rus­sische Staatsgewalt, S. 354 – 358.

Einleitung: Vom Vorrücken des Staates in die Fläche 

ins Spiel, hatten doch die Größe eines Staates und die Frage, ob die Grenzen etabliert waren oder ob es aus der Sicht der Zentrale galt, „neue“ Gebiete einzugliedern und gegebenenfalls zu „pazifizieren“, enorme Konsequenzen, wie die im Band ausgebreiteten Beispiele zeigen. Für die sehr unterschied­lichen Größenverhältnisse stehen exemplarisch der Kleinststaat Sachsen-­Weimar-­Eisenach, der aufgrund seiner geringen Größe kaum Fläche zu erschließen hatte, und das Rus­sische Reich, für das die Schwierigkeiten der staat­lich-­administrativen Durchdringung zu den klas­sischen Topoi der Historiographie gehören.52 Mit Frankreich und Spanien finden ferner zwei Zentralstaaten Aufnahme. Griechenland und das Zarenreich wiederum stehen stellvertretend für na­tionalstaat­liche und imperiale Varianten der Inkorpora­tion „neuer“ Gebiete in die bestehenden Herrschaftszusammenhänge.53 Zu den staat­lichen Zielen des Vorrückens in die Fläche gehörte dabei in allen Vergleichsfällen der Zugriff auf die jeweiligen Ressourcen, verbunden zum Teil mit der vorausgehenden Aufgabe der Sicherung „neuer“ Territorien oder sogenannter Unruheprovinzen. Ersteres geschah in fast allen Fällen durch den Aufbau von Institu­tionen. Nur dort, wo sich dies aus staat­licher Sicht nicht anbot (wie im Falle der rus­sischen Rekrutenaushebung), erfolgte die Auswahl von Beauftragten, denen die betreffende Aufgabe übertragen wurde. Alle Beispielfälle zeigen, auch noch ex negativo, ­welche große Bedeutung der unteren Verwaltung bei diesen Zielen zukam. Hier konkretisierten sich Idealvorstellungen staat­licher Akteure, etwa in Frankreich die eines Räderwerks, das (mehr oder weniger) reibungslos die Spitzen der Regierung mit der Verwaltung der kleinsten Dörfer verband,54 auch wenn die Umsetzung von Idealvorstellungen eines liberalen Staates in der Provinz, wie in Spanien, Fik­tion bleiben konnte.55 Gerade dort, wo Na­tionalstaaten neu gewonnene Gebiete mit nichtkona­tionaler Bevölkerung zu integrieren suchten, wie dies zum Beispiel in Griechenland 52 Probleme der staat­lich-­administrativen Durchdringung stellten lange einen klas­sischen Topos der russlandbezogenen Historiographie dar. Siehe vor allem Dietrich Geyer: Gesellschaft als staat­liche Veranstaltung. Sozia­lgeschicht­liche Aspekte des rus­sischen Behördenstaats im 18. Jahrhundert, in: ders. (Hg.): Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolu­tionären Russland, Köln 1975, S. 20 – 52 und Hans-­Joachim Torke: Das rus­sische Beamtentum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1967. Dagegen jedoch Susanne Schattenberg: Die korrupte Provinz? Rus­sische Beamte im 19. Jahrhundert, Frankfurt/Main 2008. 53 Vgl. die Beiträge von Raphael Utz, Werner Benecke, Malte Rolf, Norbert Franz, Hedwig Herold-­Schmidt und Nicole Immig in ­diesem Band. 54 Vgl. dazu den Beitrag von Norbert Franz in ­diesem Band. 55 Vgl. dazu den Beitrag von Hedwig Herold-­Schmidt in d ­ iesem Band.

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der Fall war,56 bedurften sie dazu bereits einer funk­tionierenden unteren Verwaltung (etwa zur Bestätigung von Besitztiteln), die jedoch erst aufgebaut werden musste, so dass in der Dopplung der Aufgaben eine immense Herausforderung lag. Eine imperiale Integra­tion zeigt das Beispiel des Königreichs Polen: Für die zaristischen Beamten stand die Herrschaftssicherung in einem Ausmaß im Vordergrund, dass eine innere staat­liche Vereinheit­lichung der Verwaltung nicht so sehr aus Gründen der Effizienz betrieben wurde, sondern zwecks Beschreibung eines Reichszusammenhangs und damit aus Gründen der imperialen Herrschaftssicherung.57 Alle genannten Beispiele zeigen Bemühungen der staat­lich-­administrativen Durchdringung von Territorien durch Verwaltungsauf- und -ausbau. Wenn dies, wie weiter vorne bereits ausgeführt, gewissermaßen als „euro­päischer Regelfall“ im 19. Jahrhundert zu beschreiben ist, so ist doch auch diese Regel nicht ohne Ausnahme. Während zumeist zur „Erschließung“ der Ressource „Rekruten“ Wehrersatzämter geschaffen wurden, beschritt das zaristische Russland einen anderen Weg. Hier erfolgte die Übertragung der entsprechenden Zuständigkeiten an die Dorfgemeinden als Organe der Selbstverwaltung unter Festsetzung gewisser Spielregeln, wie der prinzipiellen Öffent­lichkeit des Verfahrens, und unter Wahrung ziviler Inte­ ressen bei der Ziehung der Rekruten. Obwohl es in der hohen Beamtenschaft nicht am Bewusstsein für die Fehlfunk­tionen der getroffenen Regelungen mangelte, gaben sich die Verantwort­lichen mit deren begrenzter Reichweite zufrieden. Die manifest dysfunk­tionalen Konsequenzen zeigten sich dann in den Waffengängen 1905 und 1914 bis 1917.58 Alle genannten Beispiele lenken in je eigener Weise den Blick auf untere Verwaltungseinheiten als Vermittlungsebene z­ wischen staatsbezogenen Zielvorstellungen politischer und administrativer Eliten und ört­licher Umsetzung. Zwei Aspekte in der Ausgestaltung der niederen Administra­tion erweisen sich dabei mit Blick auf die Entwicklung eines performing state als besonders wichtig: Wo lagen die Entscheidungskompetenzen für die Gemeindefinanzen? Und: Existierten rechtsstaat­lich gebundene Interpella­tionsinstanzen?59 Anders als 56 Vgl. dazu den Beitrag von Nicole Immig in ­diesem Band. Konkret gemeint ist mit „nicht kona­tionaler Bevölkerung“ die sog. muslimische Bevölkerung; der Begriff wird von der Autorin als Sammelbegriff für die nichtchrist­liche, nicht ethnisch oder sprach­lich griechische Bevölkerung der inkorporierten Regionen Arta und Thessalien verwendet. 57 Vgl. dazu den Beitrag von Malte Rolf in ­diesem Band. 58 Vgl. dazu den Beitrag von Werner Benecke in ­diesem Band. 59 Zur Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, besonders in Deutschland und Frankreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, siehe Raphael, Recht und Ordnung,

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zum Beispiel in Spanien verwalteten Gemeinden in Frankreich, aber auch in den habsbur­gischen Kronländern Böhmen und Galizien oder in England und Wales das Gemeindevermögen selbst und konnten somit auch investierend tätig werden, wobei häufig Infrastrukturprojekte im Vordergrund standen.60 Auch gab es in den genannten Ländern die Mög­lichkeit, gegen getroffene Entscheidungen wie auch gegen das beteiligte Personal gericht­lich vorzugehen. Gerade die jüngere Forschung zur Habsburgermonarchie zeigt, in welch hohem Maße auch dörf­liche Bevölkerungen diesen Weg beschritten, in dessen Folge sie selbst ebenso wie die Amtsträger Lernprozesse durchliefen, was bei Letzteren die Ausbildung eines eigenen Amtsverständnisses einschloss.61 Performing states entwickelten sich somit dort am ehesten, wo Top-­down- und Bottom-­up-­Perspektiven in Einklang zu bringen waren, mit anderen Worten, wo Lokalverwaltungen gemäß den Vorstellungen der Beamtenapparate in den Hauptstädten als Transmissionsriemen in die Provinzen und bis in die Dörfer funk­tionierten und ört­liche Bevölkerungen sich über die Verwaltungen an der Gestaltung der eigenen Belange beteiligen konnten, und sei dies in Form des recht­lich gebundenen Protests gegen getroffenen Entscheidungen oder Maßnahmen. In der Folge von Partizipa­tionsop­tionen veränderten sich auch Legitimitätseinschätzungen: Neben die Legitimierungsstrategien des Dorfes und/ oder der Klientelbeziehungen 62 traten Verweise auf die rechtsstaat­liche (und zunehmend demokratische) Bindung der entstehenden Leistungsverwaltungen sowie ihren ört­lich generierbaren Nutzen. Mittlerinstanzen zeigen sich dabei insofern als janusköpfig, als ihr Personal gleichermaßen der ört­lichen Gemeinschaft angehörte als auch über den Instanz­ enzug gesamtstaat­lich eingebunden war. Insofern kann die Prozesshaftigkeit S.  36 f. 60 Siehe dazu die Beiträge von Norbert Franz, Dirk Mellies und Jana Osterkamp in ­diesem Band. Zur Habsburgermonarchie nach wie vor essentiell Jiří Klabouch: Die Gemeindeselbstverwaltung in Österreich 1848 – 1918, München/Wien 1986. Auch Anbindungen an die entstehenden Eisenbahnnetze oder Maßnahmen zum Hochwasserschutz gehören in den Kontext von Infrastrukturmaßnahmen, die auf gemeind­liche bzw. regionale Bestrebungen zurückgehen. Vgl. Tönsmeyer, Adelige Moderne, S. 270 ff. 61 Eindrück­liche Beispiele stammen zum Beispiel aus dem Kontext von Gemeindewahlen, nicht zuletzt wenn dort Fragen der Wählbarkeit diskutiert wurden. Siehe mit Blick auf Galizien Keely Stauter-­Halsted: The Na­tion in the Village: The Genesis of Peasant Na­tional Identity in Austrian Poland 1848 – 1914, Ithaca/NY 2001, S. 87; zu Böhmen Tönsmeyer, Adelige Moderne, S. 274 f. und Jana Osterkamp in ­diesem Band. 62 Siehe dazu die Beiträge von Werner Benecke und Hedwig Heroldt-­Schmidt in ­diesem Band.

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zweier eng miteinander verbundener Lernprozesse, näm­lich der Etablierung eines professionellen Amtsverständnisses und der Figurierung von Erwartungshaltungen ört­licher Bevölkerungen im Hinblick darauf, was sie sinnvollerweise von Amtsträgern verlangen konnten, nicht hoch genug veranschlagt werden. Wohldokumentierte Beispiele etwa aus dem habsbur­gischen Galizien zeigen, dass dörf­liche Bevölkerungen sich vor Gericht wie in der auf ein bäuer­liches Lesepublikum ausgerichteten Presse erfolgreich dagegen wehrten, dass ihre Bürgermeister die Amtsgeschäfte von der Kneipe aus führten.63 Auch Polizeikräfte mussten sich vielfach erst Schritt für Schritt aus dörf­lichen oder regionalen Eigenlogiken lösen und ein professionelles Amtsverständnis entwickeln. Nicht zufällig stand bei solchen Konflikten häufig die Anerkennung von Besitztiteln im Mittelpunkt, sei es die Verteidigung muslimischer Großgrundbesitzer gegen aufrührerische Pächter, sei es die Unterbindung tradi­tioneller Nutzungsformen zugunsten moderner Eigentumsrechte.64 In Verfolgung ihrer „Dienstobliegenheiten“ sahen sich ört­liche Polizeikräfte andererseits nicht selten dörf­lichem Zorn ausgesetzt.65 Besonders spannungsreich gestalteten sich in dieser Hinsicht die Verhältnisse im länd­lichen England, wo die in adligen Diensten stehenden Wildhüter auch nach dem Police Constable Act von 1872 polizei­liche Aufgaben wahrnahmen und es noch vor dem ­Ersten Weltkrieg doppelt so viele Wildhüter wie Polizisten gab.66 Neben dem Schutz des Eigentums waren Moralkontrolle und Sozia­ldisziplinierung die Leitmotive der weitergehenden Polizeiaufgaben, und auch hierbei spielten wechselseitige Lern- und Anerkennungsprozesse in allen Ländern Europas eine kaum zu unterschätzende Rolle.67

63 Stauter-­Halsted, Na­tion, S. 81 – 84. 64 Hier sei stellvertretend auf Griechenland und Böhmen (auch in Abgrenzung zu England) verwiesen. Siehe dazu den Beitrag von Nicole Immig in d ­ iesem Band sowie Tönsmeyer, Adelige Moderne, S. 85 f. und S. 160 f. 65 Tönsmeyer, Adelige Moderne, S. 153 f. 66 Ausführ­lich zu den Gründen, warum die Wildhüter in der länd­lichen Gesellschaft so verhasst waren, bei Tönsmeyer, Adelige Moderne, S. 182 ff. Allgemein siehe Carolyn Steedman: Policing the Victorian Community. The Forma­tion of the English Provincial Police Forces 1856 – 1880, London 1984 und David Philips/Robert D. Storch: Policing Provincial England, 1829 – 1856. The Politics of Reform, London 1999 sowie die Studie zu Middleborough, das explizit als „frontier settlement“ interpretiert wird, so dass hier von Prozessen des Vorrückens in die (städtische) Fläche gesprochen werden kann. David Taylor: Policing the Victorian Town. The Development of the Police in Middlesborough c.  1840 – 1914, Basingstoke 2002. 67 Raphael, Recht und Ordnung, S. 131 f. und S. 141.

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Lernprozesse betrafen im Übrigen auch die Überwindung oder Modifika­tion von (tradi­tionalen) Eigenlogiken, sei es die Berufung auf Gewohnheitsrechte aus dem Kontext der Patrimonialverwaltung, die vielfach mit einer genauen Kenntnis der aktuellen Rechtslage einherging,68 ­seien es dörf­liche Logiken, Ehrenkodizes und Klientelbeziehungen 69. Eigenlogiken kamen ferner auch im Prozess der Demokratisierung zum Tragen, wenn Fragen der Wählbarkeit oder das Verständnis von (Wähler-)Stimmen als Besitz, das in der sogenannten property qualifica­tion wurzelte und deren gewinnbringender Einsatz (analog zu anderem Besitz) manchem Wahlberechtigten naheliegend erschien, verhandelt wurden.70 Schließ­lich mussten sich auch die Angehörigen des großgrundbesitzenden (Hoch-)Adels von zum Teil über Jahrhunderte verwurzelten eigenlo­gischen Vorstellungen, etwa der einer „Herrschaft über Land und Leute“, sukzessive lösen (wobei die Machtstellung adliger Großgrundbesitzer als lokal größten Arbeit­ gebern nicht selten an die vormals patrimonial gebundene Herrenmacht heranreichte). Die Ablösung von adliger Wohltätigkeit durch staat­liche Sozia­lpolitik ist eines der Felder, auf dem sich ­solche Zusammenhänge beobachten lassen.71 68 Dies ist zum Beispiel aus verschiedenen Regionen der Habsburgermonarchie belegt und schließt auch eine genaue Kenntnis der geltenden Steuergesetzgebung ein. Siehe z. B. Christoph Stölzl: Die Ära Bach in Böhmen. Sozia­lgeschicht­liche Studien zum Neoabso­ lutismus 1848 – 1859, München 1971, S. 26; Tönsmeyer, Adelige Moderne, S. 171 – 175; Stauter-­Halstedt, Na­tion, S. 86 f. 69 Siehe dazu Susanne Schattenberg: Die korrupte Provinz? Rus­sische Beamte im 19. Jahrhundert, Frankfurt/Main 2008, die Ehre als einen historisch wandelbaren Code zur Regulierung von Verhalten einer Gruppe interpretiert, sowie die Beiträge von Werner Benecke und Hedwig Herold-­Schmidt in d ­ iesem Band. 70 In einem Schreiben vom 24. 4. 1871 bat etwa der Wahlkampfmanager der Konservativen in Durham den Verwalter von Earl Vane, für einen Feuerwehrmann eine im Hinblick auf Bezahlung und Kohlenzuteilung gleichwertige Stellung in den Londonderryschen Kohlengruben zu finden, dann sei dieser bereit, für den konservativen, vom Earl geförderten Kandidaten, zu stimmen. „I shall feel obliged if you will attend it as we shall require every vote“, so der Wahlkampfmanager. County Record Office Durham: D/Lo/C 316. Fälle wie dieser waren mitnichten die Ausnahme, was seinen Ausdruck in den vielfältigen Verfahren gegen corrupt practises fand. Siehe z. B. die Ausführungen der parlamentarischen Untersuchungskommission bzgl. der Entsendung von Parlamentsabgeordneten aus dem borough Bridgewater von 1869, die feststellte, dass alle Wahlen seit 1861 davon betroffen s­ eien sowie alle politischen Parteien und alle Klassen und Stände, um zu dem Schluss zu gelangen: „It is the chronic disease of the place“. BBP 1870, Bd. XXX, 20. 12. 1869, S. 15. Siehe zu den unterschied­lichen property qualifica­tions auch den Beitrag von Christopher Hamlin in d ­ iesem Band. 71 Die frühe cisleithanische Sozia­lgesetzgebung schloss landwirtschaft­liche Beschäftigte systematisch vom Versicherungsschutz aus, wodurch sie auf Wohltätigkeit angewiesen

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Besondere Bedeutung kommt in den hier diskutierten Zusammenhängen der Literalität zu: Wo sie schon relativ früh auch die Dörfer erreichte, wie etwa in Frankreich oder Böhmen und Mähren, beschleunigte dies die weiter oben beschriebenen wechselseitigen Lernprozesse und somit auch die Professionalisierung der Amtsträger durch das Einfordern von Partizipa­tion; wo sie gering ausgeprägt war, lässt sich vielfach eine längere Persistenz tradi­tionaler Eliten beschreiben, wie etwa in Spanien oder Ungarn.72 Bürokratisierungsprozesse waren somit ebenso von staat­lichen Rahmen­ bedingungen wie von den gesellschaft­lichen Gegebenheiten vor Ort abhängig. Die Beispiele schildern dabei eindrück­lich die engen Interdependenzen ­zwischen staat­lichem Ressourcenzugriff und Prozessen der Verrecht­lichung sowie daraus und aus Partizipa­tion und Nutzenangebot resultierender Legitimität. In d ­ iesem Zusammenhang sei noch einmal auf die Beiträge zu Griechenland und dem Königreich Polen verwiesen, die die Kontingenz der beschriebenen Prozesse hervortreten lassen. Beim ersten Beispiel zeigt sich dies im Hinblick auf das Zur-­Verfügung-­Stellen eines normativen Gutes wie Sicherheit. Das zweite Beispiel illustriert die Kontingenz im Hinblick auf die Etablie­rung moderner Staat­lichkeit im Allgemeinen, zeigt es doch das Zarenreich als einen Staat, der in der polnischen Provinz Partizipa­tionsangebote in einem Ausmaß begrenzte, dass es die eigene Staat­lichkeit durch Effizienzverluste bzw. nicht realisierte Effizienzgewinne auf dem Weg zum performing state, durch Verknöcherung wegen der Nichtverarbeitung von „Aktualität“ und durch das nichtintendierte Umleiten von Aktivierung in ­sozia­le Parallelwelten schwächte. blieben, was wiederum dem reichen Adel die Konstituierung von Herrschaftsverhältnissen ermög­lichte, die nicht mehr patrimonial fundiert waren, sondern in seinen Mög­ lichkeiten zur Zahlung von Unterstützungen (mit-)wurzelten. Siehe Kurt Ebert: Die Anfänge der modernen Sozia­lpolitik in Österreich. Die Taaffsche Sozia­lgesetzgebung für die Arbeiter im Rahmen der Gewerbeordnung (1879 – 1885), Wien 1975 und Tatjana Tönsmeyer: Adel und Armenfürsorge in Böhmen (1848 – 1918), in: Bohemia 48 (2008), S. 480 – 491; zu Ungarn Susan Zimmermann: Armen- und Sozia­lpolitik in Ungarn im Vergleich zu Österreich, in: Helmut Rumpler/Peter Urbanitsch (Hg.): Die Habsburgermonarchie, Bd. IX: Sozia­le Strukturen, S. 1499 f. Verwandte Prozesse lassen sich mit Blick auf die Schulpolitik in England beschreiben, einen Bereich, den staat­liche Regelungen in der Habsburgermonarchie dem Adel als „Handlungsfeld“ entzogen. Tönsmeyer, Adelige Moderne, S. 218 – 224 und S. 259 f. 72 Siehe dazu den Beitrag von Hedwig Herold-­Schmidt in ­diesem Band sowie, mit Blick auf Ungarn, Ulrike Harmat: Magnaten und Gentry in Ungarn, in: Helmut Rumpler und Peter Urbanitsch (Hg.): Die Habsburgermonarchie, Bd. IX : Sozia­le Strukturen, S.  1051 – 1057.

Einleitung: Vom Vorrücken des Staates in die Fläche 

In der Folge erhielten jene Gruppen Zulauf, die an Aushandlungsprozessen kein Inte­resse (mehr) hatten, sondern auf Umsturz zielten und damit auf die ultimative Schwächung von (dieser) Staat­lichkeit. Das Vorrücken von Staaten in die (nichtkoloniale) Fläche im 19. Jahrhundert, so lautet der (Zwischen-)Befund an dieser Stelle, der sich über den Aufbau von (Leistungs-)Verwaltungen in interdependenten Prozessen vor allem des Ressourcenzugriffs, der Verrecht­lichung und daraus resultierend wachsender Legitimität vollzog, lässt sich als euro­päisches Strukturphänomen beschreiben; die Beispiele beleuchten die Vielfalt der Ausprägungen und somit die Kontingenz ­dieses Strukturphänomens. Die Genese der vierten Dimension moderner Staat­lichkeit, der Wohlfahrtsdimension, fand im 19. Jahrhundert ihren typischen Ausdruck in Infrastrukturprojekten. Auch wenn die Epoche des verstärkten Infrastrukturausbaus nicht mit der Zeit des Sozia­l- und Wohlfahrtsstaats zu verwechseln ist, sondern im Sinne der Schaffung von Ermög­lichungsstrukturen vielmehr auf das Werden dieser Dimension von Staat­lichkeit verweist, schoben sich Infrastrukturen doch als „Agenten des Wandels ­zwischen Armut und Wohlstand, aber auch ­zwischen entwickelte Industriegebiete und ‚rückständige‘ Regionen“.73 Exem­plarisch lässt sich dies am Chaussee- und Eisenbahnbau, der Stadtplanung sowie am Meliora­tionswesen zeigen.74 Maßnahmen der genannten Art erforderten hohe Investi­tionen, und die Fallstudien zeigen Zentralstaaten, die geneigt waren, Finanzmittel in bereits „entwickelte“ Provinzen fließen zu lassen, s­ eien dies die preußischen Rheinprovinzen,75 das österreichische Schlesien oder Böhmen,76 und die das Zur-­Verfügung-­Stellen von Mitteln an Auflagen banden: Gelder wurden als Kredite vergeben, Subven­tionen erforderten regionale Kofinanzierungen und die Schaffung von Institu­tionen, wie die Wassergenossenschaften. Ähn­lich wie bereits im Kontext des Verwaltungsausbaus beschrieben, zeigen die konkret gefundenen Lösungen eine große Bandbreite und reichen vom

73 Van Laak, Infra-­Strukturgeschichte, bes. S. 370 und S. 383. 74 Siehe dazu etwa die Beiträge von Dirk Mellies, Christoph Augustynowicz und Jana Osterkamp in ­diesem Band. 75 Dieter Ziegler: Eisenbahnen und Staat im Zeitalter der Industrialisierung. Die Eisenbahnpolitik der deutschen Staaten im Vergleich, Stuttgart 1996, Dirk Mellies: Modernisierung der preußischen Provinz. Der Regierungsbezirk Stettin im 19. Jahrhundert, Göttingen 2012 und Uwe Müller: Infrastrukturpolitik in der Industrialisierung. Der Chausseebau in der preußischen Provinz Sachsen und dem Herzogtum Braunschweig vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts, Berlin 2000. 76 Siehe dazu den Beitrag von Jana Osterkamp in ­diesem Band.

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Public Money Drainage Act, der 1846 für England und Wales erlassen wurde und ganz vom Geist des dezentral agierenden Staates durchdrungen ist,77 bis zu Zwangskörperschaften, wie sie in Brandenburg eingeführt wurden 78. Zentralstaat­liche Akteure mussten im Verlauf der Umsetzung ihrer Maßnahmen immer wieder erfahren, dass sie dabei auf das ört­liche Engagement angewiesen waren. So ließen sich die dezentralen Kräfte in Pommern nur äußerst schleppend aktivieren, und die Magistrate der Provinz verweigerten in Krisenzeiten gerne die Zahlung von Chausseegeldern. Ähn­lich zeigten sich die Körperschaften der habsbur­gischen Alpenländer wenig investi­tionsfreudig und erhielten infolgedessen auch nur selten Subven­tionszusagen. Im kleinpolnischen Sandomierz wiederum investierten wohlhabende Bürger durchaus eigene Mittel in die Anlage von Gehsteigen, erwiesen sich aber ebenso säumig in der Begleichung der Kosten von Nachtwachen wie ihre weniger gut gestellten Mitbürger.79 In den hier ausgebreiteten Beispielen geringer lokaler Aktivierung – eine Hypothese, die anhand von weiteren exemplarischen Regio­nen zu überprüfen wäre – reagierten die Zentralstaaten, ob imperial oder na­tionalstaat­lich orientiert, mit der Akzeptanz von Peripherisierungsprozessen, wohinter durchaus die Einschätzung stand, dass eine „Entperipherisierung“ nicht in ihren Mög­lichkeiten lag.80 Die Schaffung von „gleichwertigen Lebensverhältnissen“ gehörte damit erkennbar nicht zu jenen Leitbildern, die sich für die politischen und administrativen Eliten der Zeit mit einem performing state verbanden. Besonders deut­lich wird dies beim Blick nach England. Aus dem Mittelalter herkommend, bestand das local government aus Körperschaften höchst 77 David Spring: The English Landed Estate in the Nineteenth Century. Its Administra­ tion, Baltimore 1963, S. 148 – 158. 78 Rita Gundermann: Morastwelt und Paradies. Ökonomie und Ökologie der Landwirtschaft am Beispiel der Meliora­tionen in Westfalen und Brandenburg (1830 – 1880), Paderborn 2000. 79 Siehe dazu die Beiträge von Dirk Mellies, Christoph Augustynowicz, Jana Osterkamp und Christopher Hamlin in d ­ iesem Band. Hamlin verweist darauf, dass in jenen reichen Londoner Vierteln, in denen Anwohner Gehsteige auf eigene Kosten anlegen ließen, sie diese auch einem Publikum aus ihrer eigenen sozia­len Schicht vorbehalten wissen wollten. 80 Entsprechend ist die Normativität eines Begriffs wie dem der Peripherie herauszustellen, dem Konnotierungen von Rückständigkeit und Vernachlässigung anhaften, wobei seit einigen Jahren verstärkte Bemühungen um eine Dezentralisierung des Blicks durch Verfahren des provincialising zu beobachten sind. Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000.

Einleitung: Vom Vorrücken des Staates in die Fläche 

unterschied­lichen Zuschnitts mit je eigenen Wahlrechtsbestimmungen und Finanzierungsmodellen, die darüber hinaus auch nur in jenen Bereichen über Kompetenzen verfügten, die in ihrem begründenden parliamentary act festgehalten waren. Ein klas­sischer Instanzenzug entwickelte sich daher erst sehr spät. Vielmehr blieben Zuständigkeiten für das Regeln der ört­lichen Belange bei den localities, wenn ihnen auch mit dem Towns Clauses Act von 1846 der Erwerb neuer Kompetenzen erleichtert wurde, denn ­zwischen zentralen und lokalen Eliten bestand weithin Konsens, auch bei der Behebung der aus Industrialisierung und Urbanisierung resultierenden Missstände primär dem dezentralen cheap government treu zu bleiben. Die Auseinandersetzungen um Infrastrukturprojekte und neue Institu­tionen, um Neuzuschnitte von Kompetenzen wie auch von städtebau­lichen Maßnahmen gingen stets mit diskursiven Legitimierungsstrategien einher. Während pommersche Magistrate auf „Gerechtigkeit“ pochten (um keine finanziellen Eigenleistungen erbringen zu müssen), wurden Fragen des Anschlusses an Kanalisa­tionssysteme oder die Bündelung kommunaler Fleisch- und Viehmarktkompetenzen in der Sprache von „Gesundheit“, „Hygiene“, „Freiheit“, „Fortschritt“, auch „Kultur“ oder „Humanität“ verhandelt,81 wobei es grundsätz­ lich darum ging, Partikularinteressen in Gemeinwohlrhetorik zu präsentieren. Von entscheidender Bedeutung waren hierbei Experten, vor allem jene, die einer verwissenschaft­lichten Epidemievorbeugung das Wort redeten, so dass selbst für England pointiert zusammengefasst werden kann: „Bacteriology mandated centraliza­tion“.82 81 Siehe dazu die Beiträge von Dirk Mellies, Christopher Hamlin und Felix Heinert in ­diesem Band sowie grundsätz­lich auch Frank Trentmann/Vanessa Taylor: From Users to Consumers. Water Politics in Nineteenth Century London, in: Frank Tretmann (Hg.): The Making of the Consumer. Knowledge, Power and Identity in the Modern World, Oxford 2006, S. 53 – 80. 82 Siehe dazu den Beitrag von Christopher Hamlin in ­diesem Band sowie zu den Expertenkulturen im Kontext der Seuchenbekämpfung, wozu auch ­solche durch verunreinigte Lebensmittel gehörten, Christopher Hamlin: Sanitary Reform in the Provinces, in: Michelle Allen-­Emerson (Hg.): Sanitary Reform in Victorian Britain, London 2012, Bd. 2, Vera Hierholzer: Nahrung nach Norm. Regulierung von Nahrungsmittelqualität in der Industrialisierung 1871 – 1914, Göttingen 2010, Pierre Antoine Dessaux: Chemical Expertise and Food Market Regula­tion in Belle Epoque France, in: History and Technology 23 (2007), S. 351 – 368 und Anne Hardy: Food, Hygiene, and the Laboratory. A Short History of Food Poisoning in Britain, circa 1850 – 1950, in: Social History of Medicine 12 (1999), S. 293 – 311, Hedwig Herold-­Schmidt: Gesundheit und Parlamentarismus in Spanien. Die Politik der Cortes und die öffent­liche Gesundheitsvorsorge

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Das Vorrücken des Staates in die Fläche konkretisierte sich im langen 19. Jahrhundert vor allem im Aufbau zunehmend rechtsstaat­lich gebundener (Leistungs-)Verwaltungen und in Infrastrukturprojekten. Ob dabei auf die Generierung von Nutzen oder die Ermög­lichung von Partizipa­tion verwiesen wurde ‒ stets lassen sich die damit verbundenen Diskurse als Legitimierungsstrategien lesen. Dies gilt auch für den Bereich der Kultur. Repräsenta­tionen erscheinen hier als Einschreibungen in die Fläche und stellen bau­liche Verkörperungen des Staatsverständnisses dar. Im Falle des deutschen Kleinststaates Sachsen-­Weimar-­Eisenach diente die finanzielle Unterstützung der Wartburg und der Weimarer Memorialkultur dem Ziel, die Herrscherfamilie in das Narrativ der Kulturna­tion Deutschland einzuschreiben, wobei sie für sich selbst die Rolle einer Hüterin des protestantischen deutschen Na­tionalismus in Anspruch nahm.83 Ein Einschreiben in na­tionale Narrative bot im Übrigen auch adligen Gruppen die Chance, dem in die Fläche vorrückenden Staat eine neue Rolle für die eigenen Standesgenossen anzutragen: Der Blick auf die italienischen Adelslandschaften zeigt, wie dessen Vertreter mittels Mäzenatentum kommunizierten, dass sie sich nicht nur auf den Schlachtfeldern für Staat und Na­tion opferten, sondern auch durch ein großes finanzielles Engagement das kulturelle Erbe vor dem „Ausverkauf “ bewahrten.84 Kulturgüter aus der adligen Sphäre unterlagen dabei einem spezifischen Umcodierungsprozess, in dessen Verlauf sie mit na­tionalen Bedeutungszuschreibungen aufgeladen wurden. Strukturell verwandte legitimitätssichernde Strategien wandten Vertreter des Adels auch in vielen anderen Regionen an, zu denken ist hier nicht nur an Polen, sondern auch an Ungarn, Böhmen, Frankreich sowie England, auch wenn die Formen durchaus unterschied­lich sein konnten.85 in der Restaura­tionszeit, Husum 1999 sowie Jean-­Luc Pinol: Water and the European Cities, Leicester 1997. 83 Siehe dazu den Beitrag von Raphael Utz in ­diesem Band. 84 Siehe dazu den Beitrag von Gabriele B. Clemens in ­diesem Band. 85 Siehe etwa Gabriele B. Clemens/Malte König/Marco Meriggi (Hg.): Hochkultur als Herrschaftselement. Italienischer und deutscher Adel im langen 19. Jahrhundert, Berlin 2011; Gabriele B. Clemens: Die ruhmreiche Geschichte des Vaterlandes. Der italienische Adel als Meistererzähler, in: Petra Terhoeven (Hg.): Italien, Blicke. Neue Perspektiven der italienischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2010, S. 23 – 41; Muireann O’Cinneide: Aristocratic Women and the Literary Na­tion, 1832 – 1867, Houndmills 2008; Michael G. Müller: „Landbürger“. Elitenkonzepte im polnischen Adel im 19. Jahrhundert, in: Eckart Conze/Monika Wienfort (Hg.): Adel und Moderne. Deutschland im euro­päischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln

Einleitung: Vom Vorrücken des Staates in die Fläche 

Der moderne demokratische Rechts- und Interven­tionsstaat, der (bisher) seine differenzierteste Ausprägung in der zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte, ist durch die Überlappung der Ressourcen-, Rechts-, Legitimitätsund Wohlfahrtsdimension gekennzeichnet. In ihrer Entwicklung waren die Dimensionen, wie die in ­diesem Band versammelten Beiträge belegen, stark interdependent, wobei gerade die gesamteuro­päische Perspektive die Beschreibung eines überall auf dem Kontinent zu beobachtenden Strukturphänomens „Staatsausbau“ in der Vielfalt seiner Erscheinungsformen ermög­licht. Wenn auch die Performance dieser Staaten, ob na­tional oder imperial organisiert, (zumeist) nicht mit jener des ausgehenden 20. und frühen 21. Jahrhunderts vergleichbar ist (sofern Europa als Bezugsraum bleibt), so ist doch festzuhalten, dass diese Staaten ihren Bürgern sukzessive sich entwickelnde normative Güter wie Rechtsstaat­lichkeit, individuelle Freiheit, Frieden, Sicherheit, infrastrukturelle Erschließung und ­sozia­le Wohlfahrt zur Verfügung stellten. Die Geschichte moderner Staat­lichkeit reicht somit unzweifelhaft in das 19. Jahrhundert zurück, ja, sie wäre ohne ­dieses kaum verständ­lich. Das vorliegende Buch basiert in weiten Teilen auf einer Tagung, die die Herausgeber für den Verband der Osteuropahistorikerinnen und -histo­ riker e. V. gemeinsam mit dem Herder-­Institut für historische Ostmitteleuropaforschung Marburg – Institut der Leibniz-­Gemeinschaft im Februar 2013 in Marburg organisiert haben. Für den Band wurden noch zusätz­liche Beiträge eingeworben. Die Herausgeber bedanken sich bei der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften, dem Verband der Osteuropahistorikerinnen und -historiker sowie dem Herder-­Institut für die Förderung des Drucks. Das Titelbild wurde freund­licherweise vom Herder-­Institut zur Verfügung gestellt. Die Unterstützung des Herder-­ Instituts erfolgte im Rahmen des Herder-­Chairs, den die Herausgeberin Tatjana Tönsmeyer innehat.

2004, S. 87 – 105 (wobei der polnische Fall insofern heraussticht, als hier die Umcodierungen explizit gegen den (russländischen) Staat erfolgten); Jindřich Výbiral: Století dediců a zakladatelů. Architektura jižních Čech v období historismu, Praha 1999; David Cannadine: The Decline and Fall of the British Aristocracy, London 1992, S. 112 – 116, der allerdings betont, dass sich die Situa­tion in den 1880er Jahren mit der Auflösung mancher adeliger Kunstsammlungen schrittweise änderte.

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Kooperation im Konflikt? Die zarische Verwaltung im Königreich Polen zwischen Staatsausbau und gesellschaftlicher Aktivierung (1863 – 1914) Nach beinahe zehnjähriger Bauzeit sollte im Dezember 1913 die dritte Weichselbrücke in Warschau fest­lich eröffnet werden. Als die zarischen Behörden darauf bestanden, dass Repräsentanten der Staatsmacht und unter ihnen auch orthodoxe Geist­liche die Einweihung anleiten sollten, boykottierte die Warschauer Bürgerschaft die anberaumten Feier­lichkeiten. In ihren Augen kam diese Festchoreographie einer symbo­lischen Usurpa­tion gleich. Die Brücke sei – so ihre Argumenta­tion – mit Steuergeldern der Warschauer Bevölkerung gebaut worden, deren Abgesandten und Würdenträgern gebühre somit der Vorrang. Da die Petersburger Bürokratie aber keinesfalls gewillt war, auf diese Forderung einzugehen, verweigerten die Warschauer Honoratioren die Teilnahme an der Inaugura­tion. Die zarischen Staatsbeamten blieben bei der Brückeneröffnung somit weitgehend unter sich.1 Die Weichselbrücke war zweifellos ein Beleg für einen funk­tionierenden Interessenausgleich ­zwischen den zentralen Petersburger Instanzen und Teilen der polnischen Wirtschafts- und Technikelite. In dem Konflikt um die Eröffnungsfeier verdichtete sich aber zugleich der Antagonismus, der im Königreich Polen ­zwischen Vertretern der imperialen Staatsmacht und der lokalen Gesellschaft seit über einem halben Jahrhundert bestand. Kennzeichnete der Gegensatz von Staat und Gesellschaft das ausgehende Zarenreich insgesamt, so war diese Konfronta­tion in dessen polnischen Territorien nach dem Januaraufstand von 1863/64 zusätz­lich verschärft. Denn hier kam der Staat als Repräsentant der Petersburger Teilungsmacht von außen, hier erfolgte der Staatsausbau auf Kosten der Rechte der indigenen Bevölkerung, hier versuchten sich als allmächtig verstehende und gebende Staatsvertreter die Geschicke der polnischen Provinzen weitgehend ohne gesellschaft­liche Beteiligung zu steuern. Staat und Gesellschaft standen sich in den polnischen Provinzen entsprechend feindselig gegenüber.

1 Staatsarchiv der Hauptstadt Warschau (Archiwum Państwowe m. st. Warszawy = APW), t. 24 (WWO), sygn. 263, kart. 1 – 6 (Bericht über gesellschaft­liche und politische Entwicklungen in Warschau, 14. Januar 1914), hier kart. 5v.

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Diese Grundzüge staat­lichen Handelns und Machtausbaus im Königreich Polen sind oft beschrieben worden.2 Weit weniger jedoch ist zum Thema gemacht worden, dass auch die Vertreter des vermeint­lich starken Staates immer wieder gezielt die Koopera­tion mit Angehörigen der lokalen Gesellschaft suchten; dass sie Interak­tionsfelder nicht nur duldeten, sondern anstrebten und sich bewusst auf eine Aushandlung staat­licher und gesellschaft­licher Interessen einließen. Denn längst nicht alle zarischen Beamten im schier übermächtigen Staats­ apparat verschlossen sich dem Gedanken einer Zusammenarbeit mit Teilen der polnischen Elite. Eben diese Koopera­tionsbereitschaft einiger Repräsentanten der imperialen Staatsverwaltung in den polnischen Territorien steht im Mittelpunkt ­dieses Beitrages. Es sollen ihre Gesprächsangebote und die von ihnen tolerierten Partizipa­tionsräume beleuchtet und ihre Handlungsmotive herausgearbeitet werden. Dabei gilt es zugleich, deren tieferliegenden Staatsvorstellungen zu identifizieren. Inwiefern vertrug sich bei diesen staat­lichen Akteuren die Zielvorstellung des forcierten Staatsausbaus mit dem Gedanken einer „Einladung der Gesellschaft“, die an gewissen Steuerungsprozessen beteiligt werden sollte? Wie erfolgreich waren sie mit ihren Reformanliegen, auf ­welche Reak­tionen stießen sie in den zentralen Institu­tionen in Petersburg bzw. bei der polnischen und jüdischen Bevölkerung im Königreich? Welche zentralen Interak­tionsfelder lassen sich bei dieser Koopera­tion im Konflikt benennen und wie eng wiederum waren die Grenzen der Zusammenarbeit gezogen? Der vorliegende Beitrag fokussiert dabei vor allem auf die zentralen Vertreter der Staatsmacht vor Ort: die Warschauer Generalgouverneure. Im ersten Abschnitt werden einige der Besonderheiten dargelegt, die die Herrschaftsstrukturen im Königreich nach dem Januaraufstand prägten und die hier den institu­tionellen Staatsausbau bestimmten. Dabei geht es vor allem darum, den

2 Sie prägen u. a. die Gesamtdarstellungen zur polnischen Teilungszeit wie Andrzej Chwalba: Historia Polski 1795 – 1918, Krakau 2001; Norman Davies: God’s Playground. A History of Poland, Oxford 1981; Stefan Kieniewicz (Hg.): Polska XIX wieku: państwo, społeczeństwo, kultura, Warschau 1986; Rudolf Jaworski: Das geteilte Polen (1795 – 1918), in: Rudolf Jaworski/Christian Lübke/Michael G. Müller (Hg.): Eine kleine Geschichte Polens, Frankfurt/Main 2000; Stefan Kieniewicz: Historia Polski 1795 – 1918, Warschau 1975; R. F. Leslie/Antony Polonsky/Jan M. Ciechanowski/Z. A. Pelczynski: The History of Poland since 1863, Cambridge 1983; Jerzy Lukowski/Hubert Zawadzki: A Concise History of Poland, Cambridge 2001; Piotr S. Wandycz: The Lands of Parti­tioned Poland 1795 – 1918, Seattle 1974; Klaus Zernack: Polen und Rußland. Zwei Wege in der euro­ päischen Geschichte, Berlin 1994.

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Gestaltungsraum der Generalgouverneure als die wichtigsten Akteure der Staatsmacht in den polnischen Provinzen zu beschreiben. In einem folgenden Teil werden exemplarisch zwei Generalgouverneure vorgestellt: Anhand der Reformansätze von Petr Al’bedinskij und Aleksandr Imeretinskij lässt sich nachvollziehen, w ­ elche Mög­lichkeiten zum Dialog und zu Aushandlungsverfahren unter den Bedingungen eines staat­lich-­gesellschaft­lichen Antagonismus bestanden. Im dritten Abschnitt dienen die staat­lichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Cholera in Warschau dazu, mit Hilfe eines konkreten Interak­ tionsfeldes den Spielraum gesellschaft­licher Partizipa­tion in Krisensitua­tionen auszuleuchten. Abschließend gilt es aber ebenso, die Grenzen der Zusammenarbeit im Königreich Polen zu benennen. Hier ist zu diskutieren, inwieweit es tatsäch­lich gelang, den Gegensatz von Staat und Gesellschaft zu überwinden und damit einem der Grundprobleme des Staatsausbaus im ausgehenden Rus­ sischen Reich zu begegnen.

1. Strukturen: Der polnische Januaraufstand und der imperiale Staatsausbau nach 1863/64 Die Krise des polnischen Januaraufstands von 1863/64 wirkte zweifellos als Katalysator für den Ausbau rus­sischer Staatsmacht in den west­lichen Reichsprovinzen. Mit den Teilungen von 1772, 1793 und 1795 hatte das Rus­sische Imperium bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert einen Großteil der ehemaligen polnisch-­litauischen Adelsrepublik unter Zwang in den Staatsverbund eingegliedert.3 Gestand Petersburg zumindest den Territorien des 1815 geschaffenen „Kongresspolens“ zunächst erheb­liche Sonderrechte wie eine eigene Verfassung, ein eigenes Parlament und eine eigene Armee zu, so wurden diese im Zuge

3 Siehe zu den konfliktintensiven Prozessen der Reichsintegra­tion polnischer Gebiete vor 1863 u. a. Jörg Ganzenmüller: Zwischen Elitenkoopta­tion und Staatsausbau. Der pol­ nische Adel und die Widersprüche rus­sischer Integra­tionspolitik in den Westgouvernements des Zarenreiches (1772 – 1850), in: Historische Zeitschrift 291 (2010), S. 625 – 662; Jörg Ganzenmüller: Rus­sische Staatsgewalt und polnischer Adel. Elitenintegra­tion und Staatsausbau im Westen des Zarenreiches (1772 – 1850), Köln 2013; A. E. Getmanskij: Politika Rossii v pol‹skom voprose (60-e gody XIX veka), in: Voprosy istorii (2004), S. 24 – 45; Stefan Kieniewicz/Andrzej Zahorski/Władysław Zajewski: Trzy powstania naro­dowe: kościuszkowskie, listopadowe, styczniowe, Warschau 1994; Michael G. M ­ üller: Der polnische Adel von 1750 bis 1863, in: Hans-­Ulrich Wehler (Hg.): Euro­päischer Adel 1750 – 1950, Göttingen 1990, S.  217 – 242.

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des Januaraufstandes endgültig kassiert. In den polnischen Provinzen wurden nun alle Strukturen der Selbstverwaltung abgeschafft, bestehende Eigenarten im Verwaltungssystem nivelliert sowie die militärisch-­administrative Beherrschung des unruhigen Landstriches forciert. Aus dem ehemaligen Königreich sollte eine gewöhn­liche Reichsprovinz werden, die fest in den Zusammenhang des Imperiums eingebunden war.4 Selbst die amt­liche Titulatur repräsentierte diesen Einschnitt. Seit 1864 hieß das Territorium offiziell Weichselland (Privislinskij kraj). Die zarischen Behörden vermieden den Hinweis auf eine eigenständige polnische Staatstradi­tion.5 Die Reorganisa­tion des Verwaltungs- und Rechtssystems im Königreich Polen nach 1863/64 war dabei zugleich auch eine „Normalisierung“ im Sinne des inneren Staatsausbaus. Die vergeb­liche Revolte beschleunigte in den polnischen Provinzen einen Homogenisierungsprozess, der in späteren Jahren auch andere Reichsperipherien erfasste. Denn nach der Niederschlagung des Aufstands gab es keine Notwendigkeit mehr, auf überkommene Rechtstradi­tionen Rücksicht zu nehmen. Die Zentralregierung konnte nun eine Politik der radikalen Intensivierung staat­licher Verwaltung betreiben, ohne auf die Stimmen der lokalen Bevölkerung und vor allem der indigenen Elite Rücksicht nehmen zu müssen. Die administrative Reorganisa­tion des Weichsellandes mochte eine Strafmaßnahme gegen die rebel­lischen Polen sein, aber sie stellte ebenso eine Konsequenz der neuen Staatsräson unter dem Reformzaren Alexander II. dar. Im politischen Denken einflussreicher Amtsträger war die innere staat­ liche Vereinheit­lichung zu einem Wert an sich geworden. Die Homologie der Staatsstrukturen in allen Reichsteilen versprach Moderne und Fortschritt, ihre Divergenz erinnerte an die Zersplitterung und Behäbigkeit des Ancien Régime.6 4 Auch in der zeitgenös­sischen polnischen Wahrnehmung markierten die Jahre 1863 – 64 eine klare Zäsur. Vgl. z. B. Graf Leliva (Pseudonym von Anton Tyszkiewicz): Russko-­ pol’skie otnošenija. Očerk, Leipzig 1895, S. 220 – 221; S. Krzemiński: Dwadzieścia pięć lat Rosji w Polsce (1863 – 1888), Lemberg 1892, S. 10 – 16. 5 Allerdings wurde selbst von Regierungsbehörden die Bezeichnung Königreich Polen fortgeführt. Weichselland und Königreich Polen werden daher im Folgenden als Syno­nyme verwendet. Der Beitrag thematisiert dabei ausschließ­lich die Verhältnisse im Königreich Polen, nicht jedoch die eigenständige Entwicklung der „west­lichen Gouver­nements“, also der alten polnisch-­litauischen Ostgebiete. Vgl. grundsätz­lich zur Petersburger Herrschaft in den polnischen Provinzen demnächst auch Malte Rolf: Imperiale Herrschaft im Weichselland. Das Königreich Polen und das Rus­sische Imperium (1864 – 1915), München 2014. 6 Vgl. Dietrich Beyrau: Liberaler Adel und Reformbürokratie im Rußland Alexanders II., in: Dieter Langewiesche (Hg.): Liberalismus im 19. Jh., Göttingen 1988, S. 499 – 514; W.

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Für die Modernisierung und den Ausbau der Staatsverwaltung, die die Reformära kennzeichnete, markierten die polnischen Provinzen damit ein Experimentierfeld und zugleich einen Sonderfall. Denn hier ließ sich eine Monopolstellung der zentral gesteuerten Bürokratie etablieren, die in anderen Gebieten des Reichs undenkbar, ja nicht einmal mehr erwünscht war. Das Zeitalter der Großen Reformen wurde somit von einer gewissen Ambivalenz geprägt. Während es in den innerrus­sischen Gouvernements und einigen Peripherien des Imperiums zu einer „Einladung der Gesellschaft“ kam und neugeschaffene Selbstverwaltungsorgane und Schöffengerichte die Partizipa­tion von Bürgern an Verwaltungstätigkeit und Rechtsprechung ermög­lichten, kam es in den Territorien des Königreichs Polens zur weitgehenden Entmachtung der lokalen Standesvertreter. Die Hegemonie der Staatsverwaltung war hier erdrückend, Betätigungsfelder der Bürgergesellschaft unterlagen strengsten Reglementierungen, und eine Partizipa­tion der indigenen Bevölkerung an den Belangen öffent­lichen Lebens war nicht vorgesehen. Zudem achtete Petersburg nach 1863/64 streng darauf, dass die oberen Ränge der Staatsverwaltung durch externe, nichtpolnische Beamte gestellt wurden.7 Gleiches galt für die militä­ rischen Hierarchien, den Polizeiapparat sowie das Bildungssystem.8 Das Weichselland wurde somit durch eine ortsfremde, aus dem Reichsinneren importierte

Bruce Lincoln: The Great Reforms. Autocracy, Bureaucracy, and the Politics of Change in Imperial Russia, DeKalb 1990, v. a. S. 36 – 60. 7 Allerdings waren die Erfolge einer solchen Depolonisierungspolitik auf den unteren Ebenen der Verwaltung eher bescheiden. Noch 1897 waren fast 60 Prozent der tätigen Staatsbeamten Katholiken. Vgl. dazu auch Andrzej Chwalba: Polacy w służbie Moskali, Warschau 1999, S. 40; Łukasz Chimiak: Gubernatorzy rosyjscy w Królestwie Polskim 1863 – 1915. Szkic do portretu zbiorowego, Wrocław 1999, S. 70 – 87; L. E. Gorizontov: Paradoksy imperskoj politiki: Poljaki v Rossii i russkie v Pol‹še (XIX – načalo XX v.), Moskau 1999, S. 157 – 185; Malte Rolf: Russifizierung, Depolonisierung oder innerer Staatsaufbau? Konzepte imperialer Herrschaft im Königreich Polen (1863 – 1915), in: Zaur Gasimov (Hg.): Kampf um Wort und Schrift: Russifizierung in Osteuropa im 19. – 20. Jahrhundert, Göttingen 2012, S. 51 – 88; Katya Vladimirov: The World of Provincial Bureaucracy in Late 19th and 20th Century Russian Poland, Lewiston 2004, S. 51 – 52; Stanisław Wiech: Społeczeństwo Królestwa Polskiego w oczach carskiej policji politycznej (1866 – 1896), Kielce 2002, S. 54 – 61, 107 – 112 und 223. 8 Vgl. z. B. Leonard Szymanski: Zarys polityki caratu wobec szkolnictwa ogólnokształcącego w Królestwie Polskim w latach 1815 – 1915, Wrocław 1983; Werner Benecke: Militär, Reform und Gesellschaft im Zarenreich. Die Wehrpflicht in Russland 1874 – 1914, Paderborn 2006, Kap. 4.1; Dietrich Beyrau: Militär und Gesellschaft im vorrevolu­tionären Rußland, Köln 1984, S. 238 – 249.

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und in der Regel rus­sisch-­orthodoxe Beamtenschaft beherrscht. Diese Externalität der obersten Staatsdiener sollte die Loyalität der Provinzadministra­tion sicherstellen und einer Fraternisierung der Repräsentanten der Zarenmacht mit der lokalen Gesellschaft verhindern.9 Der im Selbstverständnis allmächtige Staat sollte weitgehend losgelöst von den Ansprüchen und Erwartungen der indigenen Bevölkerung operieren, die Bürokratie vor Ort hatte sich ausschließ­ lich an den Interessen des imperialen Zentrums zu orientieren. Die zentrale Figur in ­diesem neuen Gefüge einer Staatsverwaltung externer Beamter war im Königreich ab 1863/64 zunächst der kaiser­liche Statthalter (namestnik), seit 1874 der Warschauer Generalgouverneur.10 Diese wurden direkt vom Zaren ernannt und waren auch nur ihm gegenüber berichtspflichtig.11 Sie residierten im alten Königsschloss in Warschau, verfügten über eine eigene Kanzlei und standen der Verwaltung der zehn Gouvernements des Weichsellands vor. Zugleich waren sie die Oberkommandierenden der Armee im Warschauer Wehrbezirk und verfügten vor allem in Phasen des Kriegsrechts und des Ausnahmezustands über erheb­liche Sonderbefugnisse.12 So konnten sie 9 Ein von Tim Buchen und vom Autor entwickeltes Forschungsprojekt widmet sich d ­ iesem Muster imperialer Herrschaft durch externe Beamte und den durch die reichsweite Zirkula­tion erzeugten imperialen Biographien von Staatsbeamten. Vgl. Malte Rolf (Hg.): Imperiale Biographien, Themenheft Geschichte und Gesellschaft, Bd. 40:1 (2014); sowie Tim Buchen/Malte Rolf (Hg.): Imperiale Karrieren. Lebensläufe, Karrieremuster und Selbstbilder der Reichseliten in der Romanow- und der Habsburger Monarchie, Köln 2015. 10 Nach dem Tod des Generalfeldmarschalls Berg im Januar 1874 wurde das Amt des Statt­ halters nicht wieder besetzt und die meisten seiner Befugnisse in das neu geschaffene Amt des Warschauer Generalgouverneurs überführt. Staatsarchiv der Russländischen Födera­tion (Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii = GARF), f. 102, op. 254, d. 1, ll. 1 – 12 (Obozrenie mer Pravitel’stva, prinjatych po Carstvu Pol’skomu posle 1863 goda, Bericht des Innenministeriums 1880). 11 Die Berichte des Statthalters bzw. des Warschauer Generalgouverneurs (WGG) über die Lage in der „ihm anvertrauten“ Provinz (die Vsepoddannejšie otčety) waren umfangreiche Darstellungen der politischen, ökonomischen und kulturellen Entwicklungen im Kraj und seinen Gouvernements. Die otčety und ihre Anlagen finden sich fast vollständig in Russländisches Historisches Staatsarchiv (Rossijskij Gosudarstvennyj Istoričeskij Archiv = RGIA), Biblioteka (Lesesaal), op. 1. 12 Als Oberkommandierender im Warschauer Wehrbezirk befehligten der Statthalter bzw. der Generalgouverneur ca. 240.000 Soldaten, allein in Warschau waren nach 1900 mehr als 40.000 Soldaten sta­tioniert. Vgl. dazu Benecke: Militär, Reform und Gesellschaft im Zarenreich. Die Wehrpflicht in Russland 1874 – 1914, S. 63 und 66 – 68; Christoph Gumb: Die Festung. Repräsenta­tionen von Herrschaft und die Präsenz der Gewalt, Warschau (1904 – 1906), in: Jörg Baberowski/David Feest/Christoph Gumb (Hg.): Imperiale

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„bindende Beschlüsse“ (objazatel’nye postanovlenija) erlassen, um die staat­liche und öffent­liche Sicherheit zu garantieren. Verstöße gegen diese Bestimmungen wiederum waren von ihnen in administrativer Ordnung zu ahnden. Statthalter und Generalgouverneure waren damit die einflussreichste Instanz, wenn es um die konkrete Ausgestaltung imperialer Politik in den Provinzen ging.13 Das hieß nicht, dass die Machtfülle des regionalen Potentaten unbeschränkt oder unumstritten war. Die letzt­liche Entscheidungshoheit lag im autokratischen System beim Herrscher in St. Petersburg selber. Der Monarch gestaltete mit seinen Dekreten und seiner Personalpolitik die Ausrichtung des Regimes im Weichselland. Und dennoch fällt es schwer, von einer konsistenten Polenpolitik der rus­sischen Zaren zu sprechen. Der allgemein lavierende, reaktive Charakter, der die imperiale Herrschaftssicherung im Königreich Polen auszeichnete, zeugt davon, wie wenig der Autokrat über ein Konzept für den Umgang mit den polnischen Reichsprovinzen verfügte. Viel eher tendierte der Monarch dazu, in wichtigen Fragen das interministerielle Komitee für die Angelegenheiten des Königreichs Polen (Komitet po delam Carstva Pol’skogo) einzuschalten. Diesem gehörten außer dem Generalgouverneur auch Innen-, Kriegs-, Bildungs- und Wirtschaftsminister an. Diese ­Instanz sollte gewährleisten, dass die verschiedenen Ministerien eine einheit­ liche Politik in den polnischen Provinzen verfolgten.14 Sie beratschlagte dabei alle umfassenderen Reformprojekte, bei denen die Ressorts mehrerer Ministerien betroffen waren.15

Herrschaft in der Provinz. Repräsenta­tionen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt/Main 2008, S. 271 – 302. 13 GARF, f. 102, op. 254, d. 1, ll. 1 – 12 (Obozrenie mer Pravitel’stva, prinjatych po Carstvu Pol’skomu posle 1863 goda, Bericht des Innenministeriums 1880). Vgl. Sbornik administrativnych postanovlenij Carstva Pol’skogo. Vedomstvo vnutrennych i duchovnych del, Bd. 1, Warschau 1866; Sbornik cirkuljarov voenno-­policejskogo upravlenija v Carstve Pol’skom 1863 – 1866 godov, Warschau 1867. Ebenso Ivan A. Blinov: Gubernatory. Istoriko-­ juridičeskij očerk, St. Petersburg 1905, v. a. S. 238 – 245; Vladimir A. Istomin: Voennoe položenie v Carstve Pol’skom vo vremja mjateža 1863 goda i ego posledovatel’nyja vidoizmenenija, Moskau 1903, S. 15. 14 Zu den Tätigkeiten des Komitees siehe die umfangreichen Aktenbestände RGIA, f. 1270, op. 1 (Komitet po delam Carstva Pol’skogo). Vgl. auch V. Novodvorskij: Carstvo Pol’skoe, in: Enciklopedičeskij slovar’, hg. von F. A. Brokgaus und I. A. Efron, Bd. 37А, St. Petersburg 1903; Nikolaj M. Rejnke: Očerk zakonodatel’stva Carstva Pol’skogo (1807 – 1881 g.), St. Petersburg 1902, S. 116 – 117. 15 GARF , f. 215, op. 1, d. 76, ll. 1 – 43 (Bericht des WGG Al’bedinskij an Alexander II ., 27. Dezember 1880); GARF, f. 215, op. 1, d. 76, ll. 45 – 75ob (Schreiben des Vorsitzenden

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Allerdings gelang es dem Warschauer Generalgouverneur, die Bedeutung der zentralen Ministerien für die lokalen Geschicke im Königreich in Grenzen zu halten. In dem permanenten Aushandeln von Machtgefüge und -gefälle innerhalb des Staatsapparates waren zumindest die meisten Generalgouverneure in der Lage, sich einen erheb­lichen Entscheidungsspielraum in „ihren“ Provinzen zu erstreiten. Dabei verlangte das administrative Tagesgeschäft im Königreich das Eingreifen des obersten Staatsbeamten vor Ort in einer Vielzahl von Angelegenheiten. Auf eben ­diesem Einfluss auf die alltäg­lichen Praktiken der Staatsverwaltung fußte die Machtfülle des Generalgouverneurs. Der Zar, seine Minister und das Polenkomitee waren auch an der Weichsel weit weg.16 Es war vielmehr der Generalgouverneur, der staat­liches Handeln in den polnischen Provinzen konkret gestaltete. Seine Vorstellungen von den Aufgaben des Staates und seine Interpreta­tion des eigenen Amtsauftrages prägten daher die Begegnungs- und Konfliktsitua­tionen im Königreich ganz maßgeb­lich.17 Dabei ist auffällig, dass einige dieser obersten Repräsentanten eines allmächtigen Staatsapparates sehr gezielt anstrebten, jenen tiefen Graben zu überbrücken, der die Parallelwelten von staat­licher Bürokratie und lokaler Gesellschaft seit dem Januaraufstand trennte. Dem Selbstanspruch staat­licher Dominanz zum Trotz waren Generalgouverneure immer wieder bemüht, gesellschaft­liche Partizipa­tionsformen zu ermög­lichen und den Antagonismus z­ wischen den Vertretern der Zentralmacht und der indigenen Bevölkerung abzumildern. Ob

des Komitees für die Angelegenheiten des Königreichs Polen Michail Gorlov an den WGG Al’bedinskij, 12. März 1881). 16 So ursprüng­lich eine in Sibirien gebräuch­liche Formulierung. Vgl. z. B. George Kennan: … und der Zar ist weit: Sibirien 1885, Berlin 1975. 17 Dieser Befund deckt sich auch mit der Einschätzung von Studien zu anderen Reichsrandgebieten. Vgl. z. B. zu den Westgebieten und Finnland Mikhail Dolbilov: Russian Na­tionalism and the Nineteenth-­Century Policy of Russifica­tion in the Russian Empire’s Western Region, in: Kimitaka Matsuzato (Hg.): Imperiology: From Empirical Knowledge to Discussing the Russian Empire, Sapporo 2007, S. 141 – 158; Robert ­Schweitzer: Die „Baltische Parallele“: Gemeinsame Konzep­tion oder zufällige Koinzidenz in der rus­sischen Finnland- und Baltikumspolitik des 19. Jahrhunderts?, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-­Forschung 33 (1984), S. 551 – 576, v. a. 575 – 576; Darius Staliunas: Between Russifica­tion and Divide and Rule: Russian Na­tionality Policy in the Western Borderlands in the mid-19th Century, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 55 (2007), S. 357 – 373; Theodore R. Weeks: A Na­tional Triangle: Lithuanians, Poles and the Russian Imperial Government, in: Catherine Evtuhov/Boris Gasparov/Alexander Ospovat/Mark von Hagen (Hg.): Kazan, Moscow, St. Petersburg: Multiple Faces of the Russian Empire, Moskau 1997, S. 365 – 380.

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inspiriert durch ein Denken der Reformära, das von der Notwendigkeit einer gesellschaft­lichen Aktivierung geprägt war, oder ob aus der eigenen Erfahrung der Ohnmacht von staat­lichen Alleingängen ohne gesellschaft­liche Basis h ­ eraus – die Versuche der obersten Staatsbeamten, einen Modus Vivendi mit den lokalen Interessensvertretern zu finden, waren zahlreich. Am Beispiel zweier reform­ orientierter Generalgouverneure ­seien im Folgenden der Charakter, aber auch die Grenzen derartiger Koopera­tionsangebote diskutiert. Die Bereitschaft der imperialen Autoritäten, sich auf Aushandlungsprozesse mit der lokalen Gesellschaft einzulassen, gibt dabei zugleich einen Einblick in die Konzep­tionen von „guter Staatsverwaltung“ und die Vorstellungen vom Reichszusammenhang, die den Horizont der jeweiligen Generalgouverneure kennzeichneten.

2. Akteure: Petr Al’bedinskij und Aleksandr Imeretinskij – zwei Generalgouverneure im Königreich Polen Die erste Phase intensivierter Staatsherrschaft nach der Januarerhebung wurde vor allem durch den Statthalter Fedor Berg und den ihm nachfolgenden Generalgouverneur Pavel Evstafievič geprägt. In die von 1863 bis 1874 währende Amtsperiode Bergs fielen die meisten jener bereits vorgestellten Bestimmungen, die die Verwaltungsstruktur der Nachaufstandsperiode im Königreich etablier­ten.18 Bereits unter Kocebus Amtsleitung jedoch kündigte sich eine erste Entspannung der imperialen Politik an. Eine Dekade nach der Niederschlagung des Januaraufstands war die zarische Herrschaft gesichert genug, um dem öffent­lichen Leben im Weichselland gewisse Zugeständnisse zu machen. Die Ernennung von Petr Pavlovič Al’bedinskij zum Warschauer Generalgouverneur verlieh dieser Zuversicht Petersburgs Ausdruck. Denn mit ­Al’bedinskij entsandte Alexander II . einen Beamten in das Königreich, der sich in den vorausgegangenen Jahren den Ruf einer ausgesprochen provinzfreund­lichen Amtsführung erworben hatte.19 18 Zur Vita Bergs siehe Enciklopedičeskij slovar’, hg. von F. A. Brokgaus und I. A. Efron, Bd. 3, St. Petersburg 1891; Michail Polievktov: Nikolaj I. Biografija i obzor carst­ vovanija, Moskau 1918; Voennaja enciklopedia Sytina, hg. von Ivan D. Sytin, Bd. 4, St. Petersburg 1911. 19 Petr Al’bedinskij (1826 – 1883) hatte nach seiner Erziehung im Pagenkorps die militärische Laufbahn eingeschlagen und es bis zum General der Kavallerie gebracht. Die Ernennung zum Generalgouverneur in Warschau erfolgte in relativ jungem Alter: ­Al’bedinskij war zu dem Zeitpunkt nur 54 Jahre alt und damit mit Abstand der jüngste

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Abb. 1 

Petr Pavlovič Al’bedinskij (1826 – 1883). Generalgouverneur im Königreich Polen von 1880 bis 1883. Abbildungsnachweis: Aleksej A. Sidorov: Russkie i russkaja žizn’ v Varšave (1815 – 1895). Istoričeskij očerk, Band 3, Warschau 1900, S. 168.

Mit seinem Amtsantritt im Jahr 1880 begannen für die polnische Gesellschaft „Jahre der Hoffnung“,20 und tatsäch­lich war der neue Generalgouverneur von Anfang an bemüht, den Dialog mit Teilen der lokalen Eliten zu suchen. In einem Bericht, den Al’bedinskij kurz nach seiner Ernennung für Alexander II. verfasste, begründete er dies mit dem Umstand, dass seit den „Großen Reformen“ des Jahres 1864 inzwischen 16 Jahre vergangen ­seien. In dieser Zeit habe sich, so Al’bedinskij, das gesellschaft­liche Leben im Königreich grundlegend verändert. Allgemein ­seien die Fortschritte im Land beacht­lich: Nach vielen Jahren des „Fieberwahns“ sei in der polnischen Gesellschaft nun an die Stelle poli­tischer Leidenschaft die intensive Arbeit in ökonomischen und intellektuel­ len Bereichen getreten. Es sei also an der Zeit, auf die kompromissbereiten Kreise in der polnischen Gesellschaft zuzugehen.21 Al’bedinskij setzte bei seinen Bemühungen, den Kontakt zur indigenen Bevölkerung zu intensivieren, vor allem auf jene politischen Kreise, die bei einer recht­lichen Gleichstellung der Bewohner des Königreichs bereit zu sein

zarische Gesandte im Weichselland. Al’bedinskij wurde kurz vor seinem frühen Tod 1883 zum Mitglied des Reichsrats ernannt. Zu seiner Person vgl. Russkij biografičeskij slovar’, hg. von Aleksandr A. Polovcov, Bd. 2, St. Petersburg 1900; Voennaja enciklopedia Sytina, hg. von Ivan D. Sytin, Bd. 2, St. Petersburg 1911. Den Ruf „provinzfreund­licher Amtsführung“ hatte sich Al’bedinskij v. a. in den Ostseeprovinzen erworben. Siehe Gert von Pistohlkors: „Russifizierung“ in den baltischen Provinzen und in Finnland im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-­Forschung 33 (1984), S. 592 – 606, 604. 20 Vgl. Pil’c, Erazm I.: Russkaja politika v Pol’še. Očerk, Warschau 1909, S. 60 – 61. 21 GARF , f. 215, op. 1, d. 76, ll. 1 – 3. (Bericht des WGG Al’bedinskij an Alexander II ., 27. Dezember 1880).

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schienen, die Einheit Polens mit dem Imperium zu akzeptieren. Er hatte hier einerseits die Anhänger einer Bewegung, die auf den „Ausgleich“ (ugoda) mit der rus­sischen Herrschaft ausgerichtet war, sowie anderseits die Vertreter des sogenannten Warschauer Positivismus vor Augen. Die Ugoda-­Verfechter entstammten einem konservativ-­aristokratischen Milieu und waren der Überzeugung, dass ein Wandel der Verhältnisse in Polen nur in enger Anlehnung an Russland erfolgen könne.22 Gleiches galt für die Vertreter jener gesellschaft­ lichen Strömung, die unter der Bezeichnung „Warschauer Positivismus“ Karriere gemacht hat und die eine ausgesprochen einflussreiche Bewegung innerhalb der gebildeten polnischen Gesellschaft in den 1880er und 1890er Jahren darstellte.23 Von Auguste Comte beeinflusst, entwickelten die Warschauer Positivisten einen gesellschaftspolitischen Pragmatismus, der bewusst mit dem Pathos der romantischen Aufstandsperiode brach.24 Nicht die Forderungen nach Unabhängigkeit und Wiedervereinigung Polens, sondern höchstens nach einer ausgeweiteten Autonomie und partiellen Selbstverwaltung in Sprach-, Bildungs- und Wirtschaftsfragen standen auf ihrer Agenda.25 Mit dem von ihnen propagierten Konzept der „organischen Arbeit“ verband sich die Hoffnung, mit der „Arbeit an den Grundlagen“ in den Bereichen der Ökonomie, Bildung und Wissenschaft das Überleben einer Na­tion ohne Staat sicherstellen zu können.26

22 Siehe beispielsweise Russkaja imperija. Pol’skij vzgljad na russkie gosudarstvennye voprosy, anonym publiziert, Berlin 1882, S. 11 – 15. Die Ugodowcy, die sich 1882 zu einer eigenständigen politischen Gruppierung formierten, gingen 1905 in der Partei der Realpolitik (Stronnictwo Polityki Realnej) auf. Vgl. dazu Stronnictwo Polityki Realnej i jego myśli przewodnie, Warschau 1906; auch Pascal Trees: Wahlen im Weichselland. Die Na­tionaldemokraten in Rus­sisch-­Polen und die Dumawahlen 1905 – 1912, Stuttgart 2007, S.  110 – 112. 23 Zum Warschauer Positivismus vgl. z. B. Stanislaus A. Blejwas: Warsaw Positivism – Patrio­ tism Misunderstood, in: The Polish Review 27 (1982), S. 47 – 54; Stanislaus A. B ­ lejwas: Realism in Polish Politics: Warsaw Positivism and Na­tional Survival in Nineteenth Century Poland, New Haven 1984; Tadeusz Stegner: Polskie partie liberalne na mapie politycznej Królestwa Polskiego na początku XX wieku, in: Roman Benedykciuk et al. (Hg.): Tradycje liberalne w Polsce. Sympozjum historyczne, Warschau 2004, 49 – 67. 24 Vgl. Alix Landgrebe: „Wenn es Polen nicht gäbe, dann müsste es erfunden werden“. Die Entwicklung des polnischen Na­tionalbewusstseins im euro­päischen Kontext von 1830 bis in die 1880er Jahre, Wiesbaden 2003; Bronislaw Swiderski: Myth and Scholarship. University Students and Political Development in XIX Century Poland, Kopenhagen 1987. 25 Političeskie itogi. Russkaja politika v Pol’še. Očerk Varšavskogo publicista (Perevod s pol’skogo), anonym publiziert, Leipzig 1896, S. 33 – 41. 26 Vgl. Wandycz, The Lands of Parti­tioned Poland 1795 – 1918, S. 260 – 272.

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In ihrem erklärten antiaristokratischen Habitus unterschieden sie sich deut­ lich von den konservativen (hoch-)adligen Vertretern der Ugoda-­Konzep­tion. Sie alle teilten aber die grundsätz­liche Einsicht, dass eine Koopera­tion mit den Staatsbehörden unabdingbar sowohl für die lokalen Belange als auch für die polnischen Interessen sei. Dementsprechend stellten diese Strömungen wichtige Ansprechpartner für die zarischen Reichsbeamten dar. Der neue Generalgouverneur Al’bedinskij beabsichtigte nun ganz explizit, deren Bedeutung in der polnischen Gesellschaft durch einen Katalog an Konzessionen zu stärken. Dazu unterbreitete ­Al’bedinskij unmittelbar nach seinem Amtsantritt Alexander II. ein umfassendes Reformprogramm für das Weichselland. Es reichte von Nachbesserungen bei der Landgesetzgebung zugunsten der Bauern über die Rücknahme von diskriminierenden Bestimmungen gegen Personen polnischer Herkunft bis hin zu Fragen der Bildungspolitik und Selbstverwaltungspraxis.27 Al’bedinskijs Vorschläge in den beiden letzten Bereichen gingen am weitesten und waren höchst kontrovers. Mit Blick auf das staat­liche Schulwesen forderte der Generalgouverneur die Einbeziehung der lokalen Gesellschaft bei allen wichtigen Fragen der Schulorganisa­tion.28 Zudem solle das Polnische wieder als Pflichtfach in den Grundschulen eingeführt sowie an den Mittelschulen gleichberechtigt mit Deutsch und Franzö­sisch unterrichtet werden.29 Und schließ­lich gelte es, an der Kaiser­lichen Universität in Warschau einen Lehrstuhl für polnische Philologie einzurichten.30 Auch in Bezug auf die Verfassung der munizipalen Administra­ tion plädierte der Generalgouverneur für ein Umdenken: Nun, 16 Jahre nach dem Aufstand, sei das Stadtverwaltungsstatut von 1870 auch im Königreich zur Anwendung zu bringen.31 Bei der Einführung der städtischen Selbstverwaltungsorgane gelte es aber unbedingt, die „lokalen Bedingungen“ zu berücksichtigen: Das Stadtoberhaupt solle end­lich von der stimmberechtigten lokalen Bevölkerung ohne besondere Beschränkung des Wahlrechts gewählt werden.32

27 GARF , f. 215, op. 1, d. 76, ll. 1 – 43 (Bericht des WGG Al’bedinskij an Alexander II ., 27. Dezember 1880). 28 GARF, f. 215, op. 1, d. 76, ll. 15 – 16. 29 GARF, f. 215, op. 1, d. 76, ll. 23ob-24. 30 GARF, f. 215, op. 1, d. 76, l. 24. 31 GARF, f. 215, op. 1, d. 76, ll. 33ob-34ob. 32 GARF, f. 215, op. 1, d. 76, l. 35. Damit sprach sich Al’bedinskij auch eindeutig gegen jene im Umlauf befind­lichen Projekte aus, die mit einem von den Behörden ernannten Vorsitzenden eine Kontrollinstanz der städtischen Duma etablieren wollten. GARF, f. 215, op. 1, d. 76, ll. 35ob-36ob.

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Al’bedinskij warb in seinem Bericht damit für die Schaffung von Institu­tionen, die eine begrenzte Partizipa­tion der lokalen Gesellschaft bei Entscheidungen, die wichtige Belange des öffent­lichen Lebens berührten, ermög­lichten. Es war ein brisantes Reformprojekt, mit dem der Generalgouverneur auf eine Selbstbeschneidung der staat­lichen Allmacht drängte. Dabei berührten die geforderten Maßnahmen nicht einmal die Kernbereiche imperialer Machtausübung. Aber sie betrafen Felder, in denen die Konflikte ­zwischen Petersburg und lokaler Gesellschaft eine besondere Intensität angenommen hatten und damit zugleich auch Grundsatzfragen staat­licher Autorität verhandelt wurden.33 Ein Großteil der Vorschläge des Generalgouverneurs traf zunächst auf die grundsätz­liche Zustimmung des Kaisers, wenngleich Alexander II. die Fragen zur Ausarbeitung konkreter Bestimmungen an das Komitee für die Angelegenheiten des Königreichs Polen weiterleiten ließ.34 Bereits hier stieß Al’bedinskij aber auf massiven Widerstand vor allem von Seiten des frisch ernannten Oberprokurors des Heiligen Synods Konstantin Pobedonoscev, der die Beschlussfindung verzögerte.35 Die Ermordung Alexanders II. wenige Wochen s­ päter besiegelte das Schicksal d ­ ieses Projekts. In der angespannten Lage nach dem Attentat am 1. März 1881 war an eine weitreichende Reformtätigkeit im Weichselland nicht zu denken. Angesichts der Blockade der zentralen Behörden und der politischen Neuausrichtung, die Alexander III. betrieb, wurde Al’bedinskij schnell bewusst, dass weiterführende Reformen im Königreich nicht mehr umzusetzen waren. Bis zu seinem frühen und überraschenden Tod 1883 bemühte sich Al’bedinskij nicht weiter um eine Neugestaltung imperialer Herrschaft und staat­lichen Machtgebarens in den polnischen Provinzen.36 Dennoch ist der Stellenwert der Initiative des zarischen Generalgouverneurs nicht zu unterschätzen. Denn sie bewirkte in der polnischen Gesellschaft nicht nur eine zwischenzeit­liche Stärkung des positivistischen Lagers, sondern

33 GARF, f. 215, op. 1, d. 76, l. 36ob. 34 GARF, f. 215, op. 1, d. 76, ll. 43a-43g (Kopie der Kommentare und Beschlüsse des Kaisers, Brief Nr. 31, 6. Januar 1881]. 35 GARF, f. 215, op. 1, d. 76, ll. 45a-81 (Protokoll der Sitzung des Komitees für die Angelegenheiten des Königreichs Polen vom 13. Januar 1881, 10. Februar 1881); v. a. ll. 72 – 75ob (Beschlüsse des Komitees vom 13. Januar 1881, 10. Februar 1881). 36 Vgl. zu seinen letzten Lebens- und Dienstjahren auch Stanisław Wiech: Rządy warszaws­ kiego generała-­gubernatora Piotra Albiedynskiego – lata nadziei, lata złudzeń, in: Andrzej Szwarc/Paweł Piotr Wieczorkiewicz (Hg.): Unifikacja za wszelką cenę. Sprawy polskie w polityce rosyjskiej na przełomie XIX i XX wieku. Studia i materiały, Warschau 2002, S.  83 – 114, 100 – 114.

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Abb. 2 

Aleksandr Konstantinovič Bagra­tion-­Imeretinskij (1837 – 1900). Generalgouverneur im Königreich Polen von 1896 bis 1900. Photographie von J. Mieczkowski. Abbildungsnachweis: http://de.wikipedia.org/wiki/ Alexander_Konstantinowitsch_Imeretinski (letzter Zugriff: 25. 01. 2016).

schuf auch einen Präzedenzfall, an den die Befürworter einer Koopera­ tionspolitik in den 1890er Jahren anknüpfen konnten. Eben diese Langzeitwirkung hatten Al’bedinskijs Reformbemühungen auch innerhalb der zarischen Bürokratie. Es oblag dem Generalgouverneur Aleksandr Konstantinovič Bagra­tion-­ Imeretinskij, den Dialog ­zwischen Staat und Gesellschaft wieder aufzunehmen. Wenngleich Imeretinskij selbst das Amt nur vier Jahre lang ausübte, so fallen in die Periode von 1896 bis 1900 doch et­liche Entscheidungen, die zwar nicht die Grundstruktur, aber doch den Stil der Staatsverwaltung im Weichselland merk­lich ändern sollten. Trotz seiner persön­lichen Beteiligung an der Niederschlagung des Januaraufstands und der militärischen Absicherung der Petersburger Herrschaft in den 1860er und 1870er Jahren galt Imeretinskij schon zum Zeitpunkt seiner Ernennung zum Generalgouverneur als Verfechter einer rus­sisch-­polnischen Aussöhnung.37 Laut des Historikers Sergej Tatiščev formulierte Imeretinskij seine Mission mit folgenden Worten: „Wir wollen den Polen durch Taten beweisen, dass die rus­sische Staatsmacht für ihre Bedürfnisse und Vorteile Sorge trägt und jederzeit bereit ist, dafür – soweit sie zuständig ist – nicht nur die materiellen Interessen, sondern auch 37 Aleksandr Imeretinskij (1837 – 1900) war ein geor­gischer Prinz und General der zarischen Armee. Der Statthalter Berg erwirkte 1867 seine Ernennung zum Stabschef der Truppen in Warschau, 1873 erfolgte Imeretinskijs Beförderung zum Stabschef des gesamten Warschauer Wehrbezirks. Alexander III. schließ­lich beförderte ihn 1881 zum Generalstaatsanwalt und zum Leiter der obersten Direk­tion der Militärjustiz. 1892 wurde er vom ­Kaiser zum Mitglied im Reichsrat ernannt. Vgl. zu seiner Vita Enciklopedičeskij slovar’, hg. von F. A. Brokgaus und I. A. Efron, Bd. 12A, St. Petersburg 1894.

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ihre geistigen Belange zu ­schützen. Dies unter einer unabänder­lichen Bedingung: dass sie zu treuen Untertanen des Kaisers des Russländischen Impe­ riums werden und sich selbst als Bürger des einen und unteilbaren rus­sischen Zarenreichs erklären.“38 Damit waren die Grundsätze der Amtszeit Imeretinskijs benannt. Es ging dem neuen Generalgouverneur um die Intensivierung der Zusammenarbeit mit jenem Teil der polnischen Gesellschaft, der bereit war, den Tatbestand der endgültigen Inkorpora­tion Polens in das Rus­sische Reich zu akzeptieren. Denn grundsätz­lich war Imeretinskij von der Einsicht geleitet, dass eine langfristige Stabilisierung der polnischen Provinzen nur mög­lich sein könne, wenn zumindest gewichtige Gruppen der lokalen Bevölkerung sich affirmativ zur Petersburger Herrschaft verhielten. Die vom Generalgouverneur initiierten Reformen und Konzessionen zielten in die Richtung einer Rückgewinnung des „Vertrauens“ seitens der Polen.39 Es ging weniger darum, den Aufbau der Staatsverwaltung grundlegend zu ändern, als in den umkämpften Symbolfeldern Gesprächs- und Kompromissbereitschaft anzudeuten.40 Das zentrale Feld seiner Tätigkeit war die Bildungspolitik. Der General­ gouverneur hoffte, mit der grundsätz­lichen Respektierung gewisser „polnischer Besonderheiten“ und ihrer Berücksichtigung im Schulalltag zugleich eine engere Anbindung der polnischen Untertanen an die Staatsmacht zu bewirken.41 Aus diesen Grundsatzüberlegungen heraus strebte Imeretinskij vor allem die Aufwertung der polnischen Sprache in den Grund- und Mittelschulen an. Zweifellos sollte weiterhin allgemein die „Staatssprache“ die Unterrichtssprache sein, aber der Polnischunterricht müsse in seiner Stundenzahl deut­lich heraufgesetzt werden.42 Auch beim Religionsunterricht sei den Forderungen der polnischen Gesellschaft entgegenzukommen und es ­seien wieder Priester zur Unterweisung in die Gebote Gottes an den Schulen zuzulassen.43 Ebenso trat Imeretinskij im Bereich der höheren Bildungseinrichtungen für ein Umdenken ein. So protegierte er die polnische Forderung nach der

38 Zitiert nach Voennaja enciklopedia Sytina, hg. von Ivan D. Sytin, Bd. 10, St. Petersburg 1912. 39 GARF , f. 215, op. 1, d. 94, ll. 25 – 27 (Auszüge aus dem Bericht des WGG Imeretinskij zum Jahr 1897, 12. Januar 1898). 40 GARF , f. 215, op. 1, d. 94, ll. 7 – 38 (Bericht des WGG Imeretinskij zum Jahr 1897, 12. Januar 1898). 41 GARF, f. 215, op. 1, d. 94, l. 58 (Veröffent­lichungen der Beschlüsse des Ministerkomitees, 17. Februar 1898). 42 GARF, f. 215, op. 1, d. 94, ll. 55ob-58ob. 43 GARF, f. 215, op. 1, d. 94, ll. 55ob-58ob.

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Einrichtung eines Polytechnischen Instituts in Warschau.44 Der Generalgouverneur benannte die jahrelange, auch durch den Mangel an Bildungsinstitu­ tionen bedingte Abwanderung der polnischen Intelligenz ins Ausland als schwerwiegendes Problem für seinen Amtsbezirk. Er betonte den Stellenwert einer solchen Bildungsstätte auch für die „innere Beeinflussung“ der ortsansässigen Jugend, denn die ablehnende Haltung junger Polen gegenüber der zarischen Herrschaft entstehe beim Auslands- oder Untergrundstudium oder werde dort verstärkt. Dem sei nur mit einer legalen höheren Bildungseinrichtung im Weichselland entgegenzuwirken.45 Derartige Pläne für die Gründung eines Polytechnikums in Warschau wurden von den polnischen Zeitgenossen begeistert aufgenommen.46 Und so wurden Vertreter der Warschauer Bürgerschaft bei der tatsäch­lichen Eröffnung des Instituts zu einer treibenden Kraft. Sie koordinierten eine landesweite Spendenak­tion, die insgesamt eine Summe von mehr als einer Million Rubel erbrachte, und stellten das erste provisorische Gebäude für die Bildungsstätte bereit.47 Die rasche Eröffnung des Warschauer Polytechnikums im Jahr 1898 war dieser punktuellen Zusammenarbeit von Teilen der lokalen Gesellschaft und der zarischen Staatsverwaltung vor Ort zu verdanken. Die Einrichtung war neben der Kaiser­lichen Universität in Warschau die zweite Hochschule im Königreich überhaupt und spielte in den folgenden Jahren bei der Ausbildung von Modernisierungsträgern und einer lokalen technischen Elite eine wichtige Rolle. Hier wurde eine Kohorte von Ingenieuren und Spezialisten ausgebildet, die noch im Zarenreich und s­ päter auch in der Zweiten Polnischen Repu­blik der Zwischenkriegszeit eine zentrale Rolle bei Modernisierungsvorhaben einnehmen sollte.48 44 GARF , f. 215, op. 1, d. 94, ll. 11 – 12. [Auszüge aus dem Bericht des WGG Imeretinskij zum Jahr 1897, 12. Januar 1898]; GARF, f. 215, op. 1, d. 94, ll. 11 – 13, ll. 31 – 32; f. 215, op. 1, d. 94, l. 47 (Veröffent­lichungen der Beschlüsse des Ministerkomitees, 10. Februar 1898). 45 GARF , f. 215, op. 1, d. 94, ll. 11 – 12 [Auszüge aus dem Bericht des WGG Imeretinskij, 12. Januar 1898]; GARF, f. 215, op. 1, d. 94, l. 13. 46 Vgl. Katarzyna Beylin: W Warszawie w latach 1900 – 1914, Warschau 1972, S. 28 – 39. 47 GARF, f. 215, op. 1, d. 277, ll. 1 – 3ob (Brief des WGG Imeretinskij an den Marquis ­Zygmunt A. Wielopolski, 17. Mai 1897) und ll. 4 – 5ob (Brief des WGG an den Innenminister, ohne Datum); GARF , f. 215, op. 1, d. 277, ll. 49 – 51 (Abschlussbericht des Komitees, 20. August 1897); Hauptarchiv der alten Akten (Archiwum Głowne Akt Dawnych = AGAD ), KGGW , sygn. 6519, kart. 2 (Schreiben des WGG an das Innenministerium, 25. Januar 1900). 48 Siehe allg. zum Bildungssystem auch Józef Miąso: Szkolnictwo zawodowe w Królestwie Polskim w latach 1815 – 1915, Wrocław 1966; Janina Wołczukowa (Hg.): Rosja i Rosjanie

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Auch bei einem weiteren Vorhaben zeigte sich, dass die Staatsbürokratie unter der Leitung von Imeretinskij bereit war, Anliegen der polnischen Gesellschaft in gewissen Bereichen zu unterstützen. Kaum eine administrative Maßnahme des Generalgouverneurs beschäftigte die polnische Öffent­lichkeit derart wie Imeretinskijs Genehmigung eines Adam-­Mickiewicz-­Denkmals in Warschau. Die 1897/98 gebaute und eingeweihte Statue durfte direkt im Zentrum Warschaus am Krakowskie Przedmieście ihren Standort nehmen. Sie war derart voluminös, dass ihre Errichtung einer kompletten Neugestaltung ­dieses wichtigen Straßenabschnitts gleichkam.49 Dass der Generalgouverneur seine Einwilligung zum Denkmal gab, war als symbo­lischer Akt der Versöhnung gedacht, mit dem das polnische Vertrauen in die imperialen Autoritäten befördert werden sollte. Wie schwierig ein solches Unterfangen war, zeigt jedoch der Tatbestand, dass die polnischen Honoratioren aus Protest gegen die Vorzensur ihrer Redemanuskripte die Statue in kollektivem Schweigen der Öffent­lichkeit übergaben.50 Dennoch führte das Denkmal sichtbar vor Augen, dass nun im Königreich polnische Ansprüche zumindest auf kulturelle Repräsenta­tionsinsignien im öffent­lichen Raum umsetzbar waren. Sehr viel weniger Greifbares ergab sich aus Imeretinskijs Absichtserklärung, dass er eine Einführung der städtischen Selbstverwaltung nach den Statuten von 1892 im Königreich in Petersburg unterstützen werde. Zeitgenös­ sische Verfechter des Projekts, auch in den Städten des Weichsellands eine Stadtduma und ein Stadtoberhaupt per Wahl zu bestimmen und diesen wichtige Bestandteile der urbanen Administra­tion zu übergeben, begrüßten ­Imeretinskijs Ankündigung zwar mit Begeisterung.51 Es sollte hier jedoch bei einer grundsätz­lichen Befürwortung durch den Generalgouverneur bleiben. w szkołach Królestwa Polskiego 1833 – 1862. Szkice do obrazu, Wrocław 2005; Leszek ­Zasztowt: Popularyzacja nauki w Królestwie Polskim 1864 – 1905, in: Stanisław Brzozowski/Bogdan Suchodolski (Hg.): Historia nauki polskiej, Bd. IV, Wrocław 1987, 599 – 633. 49 APW, t. 151, cz. 3 (KGW), sygn. 543, kart. 24 – 29v (Bericht des Leiters des Warschauer Uezd Brinken, 10. November 1897). Siehe auch Wasilewski, Zygmunt: Pomnik ­Mickiewicza w Warszawie 1897 – 1898, Warschau 1899, S. 11 – 16. Ebenso Andrzej Szwarc: Manewry polityczne wokól odslonięcia pomnika Mickiewicza w Warszawie. Raport General-­ Gubernatora Królestwa Polskiego Alexandra Imeretyńskiego do Mikolaja II z stycznia 1899, in: Michal Kopczyński/Antoni Mączak (Hg.): Gospodarka. Ludzie. Władza, Warschau 1998, S. 265 – 276. 50 Vgl. dazu im Detail auch Patrice M. Dabrowski: Commemora­tions and the Shaping of Modern Poland, Bloomington 2004, S. 148 – 156. 51 Vgl. Suligovskij, Adol’f: Gorodskoe upravlenie v gubernijach Carstva Pol´skogo, in: Vestnik Evropy, 37:6 (1902), S. 675 – 697.

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Anders als sein Vorgänger Al’bedinskij unternahm Imeretinskij keinen Versuch, einen konkreten Entwurf gegen den Widerstand der zentralen Petersburger Instanzen durchzusetzen. Dennoch gab die Bereitschaft der Staatsmacht, zumindest in den Bereichen von Bildungs- und Symbolpolitik den Forderungen der lokalen Gesellschaft zu entsprechen und Institu­tionen gesellschaft­licher Partizipa­tion und Repräsenta­ tion in begrenztem Umfang zuzulassen, Hoffnung darauf, dass mit Imeretinskij ein neues Zeitalter der Versöhnung oder auch eine „Ära des Wandels“ angebrochen sei.52 Es war dies die letzte Hochphase der Ugodowcy, der konservativen Vertreter einer Ausgleichspolitik, sowie der Propagandisten des Warschauer Positivismus, die sich vor allem beim Zarenbesuch von 1897 fast euphorisch entlud.53 Wie brüchig ein derartiger Dialog jedoch war, zeigte sich schon daran, dass sich eine jüngere Genera­tion von regimekritischen Aktivisten nicht von derart vagen Reformversprechen und Akten symbo­lischer Politik überzeugen ließ. Jene Akteure, die sich in den 1890er Jahren an der Formierung von zahlreichen Untergrundorganisa­tionen und -parteien beteiligten, strebten eine grundsätz­liche Konfronta­tion mit den zarischen Autoritäten an und forderten eine gesellschaft­liche Umgestaltung, die den Rahmen des Imperiums und der Monarchie überhaupt sprengte.54 Aber auch im Lager der kompromissbereiten Ugoda-­Verfechter war der Glaube an Imeretinskijs Reformabsichten schnell aufgebraucht. Als 1899 Auszüge aus Imeretinskijs internen Einschätzungen über die Situa­tion im Königreich ins Ausland geschmuggelt und in London publiziert wurden, erschütterten die Dokumente selbst das konservative Meinungsspektrum.55 Denn hier wurde das grundsätz­liche Misstrauen des Generalgouverneurs gegenüber der polnischen Gesellschaft und seine allgegenwärtige Staats- und Kontrollfixierung 52 Siehe z. B. Pil’c, Erazm I.: Povorotnyj moment v russko-­pol’skich otnošenijach. Tri stat’i Petra Varty (E. I. Pil’ca). (Perevod s pol’skogo), St. Petersburg 1897. 53 Siehe dazu ausführ­licher Malte Rolf: Der Zar an der Weichsel: Repräsenta­tionen von Herrschaft und Imperium im fin de siècle, in: Jörg Baberowski/David Feest/Christoph Gumb (Hg.): Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsenta­tionen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt/Main 2008, S. 145 – 171. 54 Es gab hier ein breites Spektrum an derartigen Bewegungen, die sich in den 1890er Jahren als Parteien institu­tionalisierten: z. B. die Polnische Sozia­listische Partei (PPS), die Sozia­ldemokratie des Königreichs Polen und Litauens (SDKPiL), den Jüdischen Bund und die sich erst 1899 offiziell als „Partei“ definierende Na­tionaldemokratie. 55 Tajny našej gosudarstvennoj politiki v Pol’še. Sbornik sekretnych dokumentov, hg. v. Russian Free Press Fund, London 1899. Bis heute ist ungeklärt, wie die internen Dokumente der Russian Free Press im Londoner Exil zugespielt wurden.

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deut­lich. Zugleich offenbarten die Schriftstücke, dass Imeretinskij an dem Projekt der weiteren „Zusammenführung“ der polnischen Provinzen mit dem rus­sischen Kernland grundsätz­lich festhielt und seine Reformen letzt­lich als Vehikel für diese intensivierte staat­liche Einbindung betrachtete.56 All dies trug in den Augen der polnischen Öffent­lichkeit erheb­lich zur Diskreditierung des Generalgouverneurs bei. Zu einer mög­lichen Reparatur des angeschlagenen Dialogs z­ wischen Staats- und Gesellschaftsvertretern blieb Imeretinskij keine Zeit – bereits 1900 verstarb der Generalgouverneur. Imeretinskijs Amtszeit bietet damit ein wenig einheit­liches Bild. Auf der einen Seite standen Momente der Entspannung, ja euphorische Verkündungen einer neuen Epoche der Versöhnung und Koopera­tion. Auf der anderen Seite strebte Imeretinskij eine weiterführende Integra­tion der polnischen Untertanen in den Staatsverbund an und war wenig geneigt, das aus dem grundsätz­lichen Misstrauen gegenüber „den Polen“ gespeiste Kontrolldenken zarischer Administratoren aufzugeben. Dies hing auch damit zusammen, dass die innenpolitischen Spannungen im Weichselland seit den ausgehenden 1890er Jahren deut­lich zunahmen und sich seit der Jahrhundertwende immer mehr zu einer revolu­tionären Stimmung verdichteten. Bekannt­lich entluden sich die zahlreichen Konfliktebenen auch im Königreich Polen in der Revolu­tion von 1905, die gerade in den polnischen Provinzen durch ihre besondere Intensität und Gewalttätigkeit gekennzeichnet war.57 Aber nicht einmal diese blutige Konfronta­tion von Staatsmacht und Teilen der lokalen Gesellschaft führte zu einem völligen Zusammenbruch der Kollabora­tion. Denn es bestanden auch in den Zeiten von Revolu­tion und 56 GARF , f. 215, op. 1, d. 94, ll. 9 – 10 (Auszüge aus dem Bericht des WGG Imeretinskij, 12. Januar 1898). Es wurde auch deut­lich, dass sich der Generalgouverneur an die Spitze jener Bewegung gesetzt hatte, die den Bau der orthodoxen Aleksandr-­Nevskij-­Kathedrale im Zentrum Warschaus vorantrieb. Vgl. dazu im Detail Malte Rolf: Rus­sische Herrschaft in Warschau: Die Aleksandr-­Nevskij-­Kathedrale im Konfliktraum politischer Kommunika­tion, in: Walter Sperling (Hg.): Jenseits der Zarenmacht. Dimensionen des Politischen im Rus­sischen Reich 1800 – 1917, Frankfurt/Main 2008, S. 163 – 189. 57 Vgl. dazu v. a. Werner Benecke: Die Revolu­tion des Jahres 1905 in der Geschichte Polens, in: Martin Aust/Ludwig Steindorff (Hg.): Russland 1905. Perspektiven auf die erste Rus­sische Revolu­tion, Frankfurt/Main 2007, S. 9 – 22; Robert E. Blobaum: Rewoljucja. Russian Poland, 1904 – 1907, Ithaca 1995; Halina Kiepurska: Warszawa 1905 – 1907, Warschau 1991; Malte Rolf: Revolu­tion, Repression und Reform: 1905 im Königreich Polen, in: Lilia Antipow/Matthias Stadelmann (Hg.): Schlüsseljahre. Zentrale Konstella­ tionen der mittel- und osteuro­päischen Geschichte. Festschrift für Helmut Altrichter zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2011, S. 219 – 232.

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Gewalt Interak­tionsfelder, auf denen die Vertreter der Staatsverwaltung auf die Mitarbeit indigener Kräfte angewiesen waren. Um ein Fallbeispiel einer solchen Arena für partielle Zusammenarbeit und zugleich Aushandlungsprozesse soll es im Folgenden gehen.

3. Interaktionsfelder: Die Bekämpfung der Cholera in Warschau Besonders die wachsende Metropole Warschau stellte die zarischen Autoritäten im ausgehenden 19. Jahrhundert vor zunehmende Probleme. Hier galt es nicht nur, das politische öffent­liche Leben zu kontrollieren, sondern auch die sozia­len und hygienischen Zustände auf erträg­lichem Niveau zu halten. Dabei waren die Handlungsspielräume der staat­lichen Behörden durch knappe Budgets stark eingeschränkt. Insofern waren die Vertreter der Staatsbürokratie in Warschau tradi­tionell bereit, in begrenztem Rahmen und unter kontrollierter Aufsicht philanthropisch motivierte Investi­tionen durch die lokale Bürgergesellschaft zuzulassen. So wenig die Staatsmacht aus politischen Gründen bereit war, die munizipalen Selbstverwaltungsstatute auf das Weichselland auszudehnen, so sehr war sie angesichts der zunehmend schwieriger werdenden Aufgabe, den wachsenden urbanen Moloch zu regieren, doch auf die Koopera­tion der Warschauer Bevölkerung angewiesen; ein Umstand, der sich auch in den Zeiten der Revolu­tion von 1905 nicht grundsätz­lich ändern sollte.58 Die Bereitschaft zur begrenzten Zusammenarbeit auf lokaler Ebene zeigte sich besonders deut­lich in solchen Krisensitua­tionen, in denen der reibungslose Ablauf städtischen Lebens gefährdet schien. Sei es bei der Beseitigung von Schneemassen auf den Straßen Warschaus oder bei den regelmäßig notwendigen Maßnahmen zur Seuchenpräven­tion – die zarischen Behördenleiter ermög­lichten hier eine direkte Beteiligung der Warschauer Gesellschaft an den Arbeiten der einberufenen Sonderkommissionen ebenso wie ihre Partizipa­tion

58 Warschau war die drittgrößte Stadt des Rus­sischen Reiches und wuchs im ausgehenden 19. Jahrhundert in hohem Tempo: von 382.964 Einwohnern im Jahr 1882 über 683.692 zum Zeitpunkt der Volkszählung von 1897 auf 884.584 im Jahr 1914. Siehe Naselenie g. Varšava/Ludnošč m. Warszawy, Trudy statističeskogo Otdela Varšavskogo magistrata/Prace Sekcij Statystycznej Magistru m. Warszawy, 3 Bd., Warschau 1909 – 1914. Vgl. zur staat­ lichen Verwaltung der Metropole auch grundsätz­lich Malte Rolf: Imperiale Herrschaft im städtischen Raum. Zarische Beamte und urbane Öffent­lichkeit in Warschau (1870 – 1914), in: Bianka Pietrow-­Ennker (Hg.): Russlands imperiale Macht. Integra­tionsstrategien und ihre Reichweite in transna­tionaler Perspektive, Köln 2012, S. 123 – 153, v. a. 132 – 150.

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bei der Umsetzung der Beschlüsse.59 Dass eine derartige Einbindung gesellschaft­ licher Kräfte in die bürokratischen Strukturen mög­lich war, erklärt sich partiell aus der Misere der Staatsfinanzen. Es bestand ein enger Zusammenhang ­zwischen mangelnden Ressourcen zarischer Administra­tion und der Duldung, ja Initiierung einer Partizipa­tion der Warschauer Gesellschaft an den Angelegenheiten des städtischen Managements.60 Deut­lich wird ­dieses Zusammenspiel im Falle der Anti-­Cholera-­Maßnahmen, die beim Auftreten der Seuche im Rus­sischen Reich in regelmäßigen Abständen auch im Königreich Polen und vor allem in seiner Hauptstadt Warschau notwendig wurden. Grundsätz­lich stellte sich hier das Problem, dass die aufwändigen präventiven Vorkehrungen viel Geld kosteten. Immer wieder beklagten sich die Finanzverwaltungen der Kommunen über die finanzielle Bürde, die die Einrichtung von Seuchenbaracken, von Quarantänesta­tionen in Krankenhäusern oder an Bahnhöfen sowie von Labors für bakteriolo­gische Untersuchungen, aber auch der Erwerb von mobilen Desinfizierungsvorrichtungen und die Bezahlung der zusätz­lich beschäftigten Ärzte und Feldschere für die Budgets der jeweiligen Magistrate und Institu­tionen bedeutete.61 Angesichts der begrenzten Mittel, die den Staatsbehörden zur Verfügung standen, war die Bürokratie zwingend auf die Koopera­tion mit Teilen der städtischen Gesellschaft angewiesen. Und so wurden beispielsweise Freiwillige gesucht, die sich für die anfallenden Arbeiten zur Verfügung stellten. Studierende der Medizin, die sich für einen Einsatz bei den Anti-­Cholera-­Maßnahmen in Warschau meldeten, wurden dementsprechend vom Studium freigestellt und erhielten eine Aufwandsentschädigung für ihr freiwilliges Engagement bei der Seuchenbekämpfung.62 59 AGAD, KGGW, sygn. 5820, kart. 54 (Kommissionsbericht des Sonderbeauftragten G. Gjunter, 1. Dezember 1907). 60 AGAD , KGGW , sygn. 5820, kart. 22 – 23 (Brief des Stadtpräsidenten an den WGG , 5. ­Februar 1907); AGAD, KGGW, sygn. 6245, kart. 23 – 26 (Geheimer Bericht des Gehilfen des Stadtpräsidenten, 30 Juli 1909). 61 AGAD, KGGW, sygn. 6486, kart. 1 – 2 (Schreiben des Gouverneurs von Płock an den WGG, 25. August 1896); APW, t. 25, sygn. 125, kart. 16 (Schreiben des Bildungsministe­ riums an den Kurator des Warschauer Lehrbezirks, 10. Juli 1892); kart. 197 – 201 (Protokoll der Sanitätskommission der Warschauer Kaiser­lichen Universität, 19. April 1905). 62 APW, t. 25, sygn. 125, kart. 24 und kart. 25 (Briefe des Warschauer Oberpolizeimeisters (WOPM) an den Rektor der Kaiser­lichen Universität, 13. Juli und 28. Juli 1892); kart. 78 (Brief des Kurators des Warschauer Lehrbezirks an den Rektor der Kaiser­lichen Universität, 6. April 1893); APW, t. 151, cz. 1 (KGW), sygn. 471, kart. 171 (Bericht der Warschauer Krankenhäuser über den Verlauf der Cholera in Gouvernement Warschau, 14. September 1892).

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Dabei waren nicht nur die relativ ruhigen 1890er Jahre von einer derartigen Interak­tionsbereitschaft der staat­lichen Behörden gekennzeichnet, auch die Revolu­tion von 1905 änderte erstaun­lich wenig an dieser Konstella­tion. Selbst in Zeiten des politisch motivierten Ausnahmezustands waren diese Formen der gesellschaft­lichen Partizipa­tion erwünscht. 1908 und damit nur drei kurze Jahre nach der Gewaltexplosion der Revolu­tion stand wieder eine Cholera­ epidemie vor den Toren Warschaus. Aus St. Petersburg wurden bereits im August et­liche Tote gemeldet, am 12. September gab es den ersten Todesfall in Warschau.63 Die finanzielle Notlage der städtischen Kassen war jedoch, auch infolge der Revolu­tion, dramatisch: Der Stadtpräsident hatte noch im August an den Generalgouverneur Georgij Skalon geschrieben, dass derzeit keine weiteren Mittel für seuchenvorbeugende Maßnahmen zur Verfügung stünden.64 In dieser prekären Situa­tion erarbeitete das vom Generalgouverneur eingesetzte Komitee zur Cholerabekämpfung das Projekt der „Sanitären Pflegschaft“ (sanitarnoe popečitel’stvo). Die Mitglieder ­dieses letzt­lich vom Generalgouverneur zu akkreditierenden Ausschusses sollten von der Warschauer Hygienegesellschaft vorgeschlagen werden. Die Aufgaben der sogenannten Sanitärkuratoren (sanitarnye popečiteli) umfassten die hygienische Kontrolle der Stadtbezirke und damit die Überwachung von öffent­lichen Räumen, Schulen, Fabriken und anderen gesellschaft­lichen Einrichtungen. Sie sollten potentielle Gefahrenquellen identifizieren und bei der Stadtbevölkerung Überzeugungsarbeit für hygienische Verhaltensweisen leisten. Darüber hinaus war aber auch vorgesehen, dass sich die Kuratoren an polizei­lichen Kontrollmaßnahmen beteiligen würden. Damit sah das Partizipa­tionsangebot an die Gesellschaft vor, die Akteure als Hilfspolizisten an die staat­lichen Strukturen anzugliedern und so an einem hoch sensiblen Bereich staat­licher Autorität zumindest partiell teilhaben zu lassen.65 Zudem war der Generalgouverneur in d ­ iesem Krisenmoment auch bereit, die für staat­liche Amtsträger üb­lichen Berührungsängste zur katho­lischen ­Kirche zu überwinden. So kontaktierte der Vorsitzende des Komitees zur Cholera­ bekämpfung mit Billigung Skalons die Geist­lichen aller Religionsgemeinschaften in Warschau und eben auch den katho­lischen Klerus. Die geist­lichen Würdenträger sollten alle Verdachtsfälle von Choleraerkrankungen umgehend 63 AGAD, KGGW, sygn. 7709, kart 35 – 40v (Brief des WOPM an den WGG, 12. September 1908). 64 AGAD, KGGW, sygn. 7709, kart. 14 – 14v (Brief des Stadtpräsidenten an die Kanzlei des WGG, 23. August 1908). 65 AGAD, KGGW, sygn. 7709, kart. 74 (Brief des Vorsitzenden des Komitees an den WGG, 5 Oktober 1908).

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Abb. 3 

Georgij Antonovič Skalon (1847 – 1914, links stehend). Generalgouverneur im Königreich Polen von 1905 bis1914. Abbildungsnachweis: http://gallica. bnf.fr / Bibliothèque na­tionale de France (letzter Zugriff: 25. 01. 2016).

den Behörden melden. Sie wurden zudem beauftragt, die Hygienehinweise in ihren Gemeinden zu popularisieren.66 Angesichts der elementaren Bedrohung durch die Cholera war auch ein Kontakt z­ wischen staat­lichen Instanzen und niederem katho­lischen Klerus nicht mehr anrüchig. Knappe Kassen und eine drohende Seuche verhalfen damit dem Warschauer Generalgouverneur zur Einsicht, dass eine begrenzte gesellschaft­liche Beteiligung an den administrativen Präventivmaßnahmen trotz des herrschenden Ausnahmezustands unvermeid­lich war.67

66 AGAD, KGGW, sygn. 7709, kart. 22 – 23 (Brief des Vorsitzenden des Komitees an den WGG, 31. August 1908). 67 Der katho­lische Klerus gehörte ansonsten in der Wahrnehmung der zarischen Beamten zu den Hauptverdächtigen der „polnischen Meuterei“. Vgl. z. B. Nikolaj A. Miljutin: Issledovanija v Carstve Pol’skom (po vysochajšemu poveleniju), Bd. 5, St. Petersburg 1864, S. 65. Insofern handelten die zarischen Staatsbehörden 1908 nicht unähn­lich zu den Hamburger Stadtautoritäten, die bewusst die ansonsten verpönte Sozia­ldemokratie zur raschen und breitenwirksamen Kommunika­tion von seuchenvorbeugenden Maßnahmen instrumentalisierten. Vgl. Richard J. Evans: Tod in Hamburg: Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-­Jahren 1830 – 1910, Reinbek bei Hamburg 1991.

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Dass die Kommunika­tion ­zwischen engagierten Stadtbürgern einerseits und dem Generalgouverneur anderseits in derartigen Krisensitua­tionen zumindest in Teilen funk­tionierte, hatte viele Gründe. Gemeinsam war ihnen allen das Interesse an öffent­licher Ordnung und Stabilität. Die Bewahrung des inneren Friedens markierte für den Generalgouverneur die Kernaufgabe seiner Amtstätigkeit.68 Aber auch für die Ugoda-­Vertreter und die Positivisten aus der Warschauer Gesellschaft erschien eine allgemeine Stabilität als die Grundlage für jeden wirtschaft­lichen, gesellschaft­lichen und kulturellen Fortschritt. Choleraepidemien waren dabei nicht nur eine akute Gefährdung der eigenen Gesundheit, sondern bedrohten ganz grundsätz­lich das fragile Gleichgewicht öffent­lichen Lebens in der Metropole. Wenngleich somit große Unterschiede über die strate­gischen Fernziele und die Zukunftsvisionen der Reichsprovinz bestanden, so teilten doch all diese Akteure die Ansicht, dass eine Koopera­tion z­ wischen staat­lichen und gesellschaft­lichen Kräften in Zeiten der Krise unabdingbar war, um eine generelle Instabilität der Verhältnisse zu verhindern. In dieser Perspektive erscheint es dann auch wenig verwunder­lich, dass die Zusammenarbeit von Staat und Gesellschaft sogar im Schatten der Revolu­tion derart reibungslos funk­tionierte. Denn die revolu­tionären Wirren der Jahre 1905/06 waren von Staats- und Bürgervertretern gleichermaßen als Bedrohung für Leben und Besitz erlebt worden. Angesichts des Abgrundes eines unkontrollierten Sozia­lprotestes städtischer Unterschichten nahm auf beiden Seiten die Bereitschaft zu, zumindest punktuell aufeinander zuzugehen. Eine derart fundamentale Krise wie die Revolu­tion von 1905 konnte also auch als Katalysator für Koopera­tionsaktivitäten wirken. Die Anti-­Cholera-­Maßnahmen waren eines dieser Interak­tionsfelder, in denen der bestehende Antagonismus von Staat und Gesellschaft vorübergehend zweitrangig erschien und man sich der gemeinsamen Interessen besann. Der Staat war angesichts der Notlage bereit, seine eigene Schwäche einzugestehen und partiell auf Aufgaben zu verzichten, während Vertreter der lokalen Gesellschaft die Situa­tion dazu nutzten, sich als staat­liche Helfer ins Spiel zu bringen und damit zugleich Mitspracherechte einzufordern. Eine Krise konnte also durchaus auch Formen der Verständigung erwirken.69 68 Vgl. dazu ganz grundsätz­lich Jörg Ganzenmüller: Ordnung als Repräsenta­tion von Staatsgewalt: Das Zarenreich in der litauisch-­weißrus­sischen Provinz (1772 – 1832), in: Jörg Baberowski/David Feest/Christoph Gumb (Hg.): Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsenta­tionen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt/Main 2008, 59 – 80; Rolf, Russifizierung, Depolonisierung oder innerer Staatsaufbau? Konzepte imperialer Herrschaft im Königreich Polen (1863 – 1915), S. 86 – 87. 69 Siehe dazu ausführ­licher Malte Rolf: A Continuum of Crisis? The Kingdom of Poland in the Shadow of Revolu­tion (1905 – 1915), in: Felicitas Fischer v. Weikersthal/Frank

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4. Die Grenzen der Zusammenarbeit: Staatsvorstellungen, Kooperationsmuster und ihre Folgewirkungen im Königreich Polen Die Kommunika­tion z­ wischen Repräsentanten der Staatsmacht und der lokalen Gesellschaft war somit insgesamt durch eine grundsätz­liche Ambivalenz gekennzeichnet. Kommunika­tionsformen von Koopera­tion und Konflikt lagen oft dicht beieinander. Die Jahrzehnte nach dem Januaraufstand von 1863/64 g­lichen einem Wechselbad der Interak­tionsstile, in denen Momente der Kontaktaufnahme ­zwischen Staatsbehörden und lokaler Gesellschaft in schroffem Gegensatz zu den Konfronta­tionsphasen und -feldern standen. Nicht selten konnten heftige Auseinandersetzungen und produktive Zusammenarbeit sogar zeitgleich auftreten. Dennoch sind einige allgemeinere Handlungsmuster und Motive der Staatsbeamten deut­lich geworden, die bestrebt waren, mit Reformvorschlägen oder pragmatischen Ad-­hoc-­Lösungen die Mitarbeit lokaler gesellschaft­licher Kräfte anzuregen. Gerade die beiden hier ausführ­licher dargestellten Generalgouverneure wurden von der tieferen Einsicht angeleitet, dass auch der starke Staat ohne einen gesellschaft­lichen Unterbau wenig mehr als einen hilflosen und bewegungsunfähigen Giganten darstellte. Das entsprach durchaus dem Denken der Reformära, als eine reformorientierte Staatsbürokratie bewusst die Aktivierung der Gesellschaft in gelenkten Partizipa­tionsinstitu­tionen anstrebte, um die innere Modernisierung des Reiches voranzutreiben.70 Generalgouverneuren wie Al’bedinskij und Imeretinskij schwebte eine ähn­liche Steigerung der Effektivität staat­lichen Handels vor, die nur mit Hilfe gesellschaft­licher Unterstützung, auf keinen Fall aber gegen den zermürbenden Widerstand der lokalen Bevölkerung durchzusetzen war. Auch sie bemühten sich daher um die „Einladung der Gesellschaft“ in wohlkontrollierter Dosis und betrieben dementsprechend eine auf Versöhnung abzielende Symbolpolitik im konfliktintensiven Königreich.

Grüner/Susanne Hohler/Franziska Schedewie/Raphael Utz (Hg.): The Russian Revolu­ tion of 1905 in Transcultural Perspective. Identities, Peripheries, and the Flow of Ideas, Bloomington 2013, 159 – 174. 70 Vgl. dazu u. a. Beyrau, Liberaler Adel und Reformbürokratie im Rußland Alexanders II.; Lincoln, The Great Reforms. Autocracy, Bureaucracy, and the Politics of Change in Imperial Russia, v. a. S. 36 – 60; Matthias Stadelmann: „Die Einladung der Gesellschaft“ und ihre Ausladung. 1881 als Schicksalsjahr in Russlands politischer Geschichte, in: Lilia Antipow/Matthias Stadelmann (Hg.): Schlüsseljahre. Zentrale Konstella­tionen der mittel- und osteuro­päischen Geschichte. Festschrift für Helmut Altrichter zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2011, S. 185 – 201.

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Ihre Staatsvorstellungen waren dabei sehr viel stärker von interven­ tionistischen Leitlinien geprägt als die jener Widersacher im Staatsapparat, die vor den „gefähr­lichen Folgewirkungen“ einer konzilianteren Politik gegenüber den Polen warnten. Derartige Bedenkenträger wie der Oberprokuror des Heiligen Synods Konstantin Pobedonoscev oder auch der Generalgouverneur Iosif Gurko gaben sich näm­lich mit der Konservierung der Machtverhältnisse in einem besetzten Land zufrieden, ohne auch nur über eine mittelfristige Vision für die weitere Entwicklung der polnischen Territorien zu verfügen. Die Hauptfunk­tion der Staatsorgane war in ihren Augen die Gewährleistung von Ruhe und Ordnung sowie die Sicherstellung rus­sischer Dominanz. Eine Steigerung der Effektivität staat­lichen Handelns war in dieser Perspektive nicht notwendig. Solche Verfechter einer dauerhaften Fortführung der Polen diskriminierenden Gesetze waren in zahlreichen Institu­ tionen der Zentral- und Provinzverwaltung präsent und jederzeit bemüht, eventuelle Reformansätze zu unterbinden. Das Scheitern der Initiativen von Al’bedinskij und Imeretinskij zeugen von ihrer anhaltenden Machstellung im zarischen Staatsapparat. Dagegen mussten jene Staatsrepräsentanten, die von der Vorstellung eines intervenierenden Verwaltungsapparates angeleitet waren und die eine prägende und nachhaltige Einflussnahme staat­licher Agenturen vor Ort anstrebten, sehr viel stärker die Koopera­tion mit den lokalen Kräften suchen, sollten ihre Reformansätze Früchte tragen. Insofern ist es auch kein grundsätz­licher Widerspruch, dass Generalgouverneure wie Al’bedinskij und Imeretinskij die staat­liche Durchdringung des Weichsellandes voranzutreiben versuchten und doch zeitgleich den polnischen Interessenvertretern Dialogbereitschaft signalisierten: Die Einbeziehung der Gesellschaft war vielmehr ein Mittel des Staatsausbaus. Gleiches galt für das pragmatische Handeln eines Generalgouverneurs wie Skalon, dem es vor allem um die Stabilisierung des öffent­lichen Lebens im krisengeschüttelten Warschau ging. Aber auch eine ­solche Staatsräson hatte ihre Schwächen und stieß schnell an Grenzen. Denn Staatsbeamte wie Al’bedinskij, Imeretinskij oder Skalon betrachteten die Partizipa­tionsrechte, die sie bereit waren, der Gesellschaft zu gewähren, im Wesent­lichen als Mittel zum Zwecke staat­licher Effektivierung. Sie erachteten diese darüber hinaus als großzügig gewährte Freiräume, die der Staat jederzeit wieder entziehen durfte, sollten sich die „eingeladenen“ Vertreter der Gesellschaft nicht an die von der Bürokratie definierten Spielregeln halten. Wie bei den Großen Reformen auch waren zudem die Limitierungen gesellschaft­licher Aktivierung im Königreich zahlreich. Die begrenzten Zugeständnisse berührten nie die Kerngebiete politischen Handelns und mussten

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bei allem zurückstehen, was die Staatsmacht als Felder staat­licher Sicherheit markierte. Konzessionen waren alleine im Bereich der Sprach-, Bildungs- und Kulturpolitik oder auf der Ebene der Organisa­tion alltäg­lichen städtischen Lebens vorstellbar. Alle darüber hinausgehenden Forderungen von gesellschaft­ lichen Meinungsträgern nach einer Ausweitung der Mitbestimmung wurden als „polnische Anmaßung“ oder als illegitime „Betonung polnischer Eigenart“ angesehen und kategorisch verneint. Insofern traten die Generalgouverneure auch kaum als echte Vermittler im lokalen Kontext auf, die bereit gewesen wären, ihre eigene politische Agenda an zentrale Belange der Bevölkerung vor Ort anzupassen. Sie sahen sich selber als Vertreter der Staatsmacht, die, auch wenn sie sich kompromissbereit zeigten oder die begrenzte Koopera­tion mit der Gesellschaft suchten, auf ihrer alleinigen Entscheidungshoheit beharrten. Eine Vorstellung vom „Aushandeln“ von gleichberechtigten Interessen fügte sich nicht in ein solches Selbstbild, die Brücken, die so ­zwischen Staat und Bevölkerung gebaut wurden, blieben brüchig und der Zutritt zu ihnen streng reglementiert. Dagegen fanden sich Vermittler, die mehr waren als Repräsentanten zentraler Machtinstanzen und die ernsthaft den Ausgleich ­zwischen Staat und lokalen Anliegen anstrebten, eher auf den mittleren Ebenen der zarischen Bürokratie. So waren beispielsweise Beamte in der Warschauer Stadtverwaltung oder auch die zahlreichen vom Staat beschäftigten Spezialisten wie Ärzte, Ingenieure oder Landvermesser viel stärker bereit, staat­liche und gesellschaft­liche Bedürfnisse in Einklang zu bringen.71 Im Kontrast dazu herrschte bei den Generalgouverneuren ein klares Primat staat­licher Entscheidungshegemonie vor, das sich aus dem Auftrag 71 Vgl. grundsätz­lich zum Konzept der Vermittlung durch go-­betweeners in kolonialen Kontexten Simon Schaffer/Lissa Roberts/Kapil Raj/James Delbourgo: Introduc­tion, in: Simon Schaffer/Lissa Roberts/Kapil Raj/James Delbourgo (Hg.): The Brokered World. Go-­Between and Global Intelligence. 1770 – 1820, Sagamore Beach 2009, IX-XXXVIII. Siehe zu den (oft polnisch-­katho­lischen) Fachkräften im Staatsdienst Chwalba, Polacy w służbie Moskali, S. 40; Vladimirov, The World of Provincial Bureaucracy in Late 19th and 20th Century Russian Poland, S. 51 – 52. GARF, f. 215, op. 1, d. 94, l. 25 (Auszüge aus dem Bericht des WGG Imeretinskij, 12. 1. 1898). Vgl. zum Warschauer Magistrat und seiner Interak­tion mit der lokalen Bürgergesellschaft ausführ­licher Rolf, Imperiale Herrschaft im städtischen Raum. Zarische Beamte und urbane Öffent­lichkeit in Warschau (1870 – 1914), v. a. S. 132 – 141; Rolf, Imperiale Herrschaft im Weichselland. Das Königreich Polen und das Rus­sische Imperium (1864 – 1915), Kap. III. Diese Vermittler standen durchaus in der Tradi­tion der polnischen Adelsmarschälle. Vgl. dazu ­Ganzenmüller, Rus­sische Staatsgewalt und polnischer Adel. Elitenintegra­tion und Staatsausbau im Westen des Zarenreiches (1772 – 1850), S. 354.

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ihres Amtes ergab und das auch unabhängig von dem Grad ihrer jeweiligen Konzessionsbereitschaft und individuellen Präferenzen bestand. Als oberste Beamte des Zaren an der Weichsel repräsentierten sie eben vor allem den unbedingten Petersburger Machtanspruch. Bei den polnischen Gesprächspartnern führten die zahlreichen Grenzziehungen, die als Bedingungen allen staat­lichen Koopera­tionsangeboten vorgelagert waren, zur berechtigten Skepsis an den Reforminitiativen der höchsten staat­lichen Amtsträger. Zwischenzeit­lich aufscheinende Euphorie über neue reformwillige Generalgouverneure verflog in der Regel schnell, sobald die tieferliegenden Motive der Staatsbeamten aufschienen. Die breite Enttäuschung über Imeretinskijs interne Einschätzung über die Lage im Königreich erklärt sich aus der Ernüchterung darüber, dass auch ein scheinbar so konzilianter Generalgouverneur vor allem die Intensivierung einer staat­lichen Durchdringung der west­lichen Peripherie vor Augen hatte. Insofern blieben in der polnischen Gesellschaft die Kreise derjenigen, die bereit waren, sich auf staat­ liche Koopera­tionsofferten einzulassen, stets sehr begrenzt. Spätestens seit den 1890er Jahren machte sich eine jüngere Genera­tion daran, den Ausbau einer polnischen Gesellschaft jenseits staat­licher Strukturen und amt­lich gewährter Freiräume voranzutreiben. Der alte Antagonismus von Staat und Gesellschaft der Aufstandsperiode von 1863/64 trat hier wieder in den Vordergrund. Er wurde mit den kaiser­lichen Grundgesetzen von 1906 und den daraus folgenden bürger­lichen Rechten zunehmend in eine Parallelexistenz der staat­lichen und gesellschaft­lichen Sphäre überführt.72 Eine s­ olche Parallelität mochte das Konfliktpotential zwar entschärfen, das grundsätz­liche Problem einer weitgehenden Apartheit von Staat und Gesellschaft bestand jedoch auch im letzten Vorkriegsjahrzehnt fort. Zusammenarbeit war in dieser Konfliktkonstella­tion immer nur punk­tuell mög­lich. Es existierten kurzfristige Phasen der „Versöhnung“ und „Hoffnung“, gewisse Interak­tionsfelder, wie die Maßnahmen zur Bekämpfung der Cholera, sowie spezifische Institu­tionen, wie der Warschauer Magis­ trat, die einen intensiveren Austausch z­ wischen polnischer Gesellschaft und Staatsbehörden ermög­lichten. Aber dies waren nur verstreute Inseln der Koopera­tion in einer rauen See, geprägt durch gegenseitiges Misstrauen und Missverständnisse, Konfronta­tionen und Feindseligkeiten. Weite Teile 72 Nichts zeigt dies deut­licher als die parallele Existenz eines staat­lich-­rus­sischen und eines privat-­polnischen Bildungssystems nach 1906. Vgl. dazu u. a. Blobaum, Rewoljucja. Russian Poland, 1904 – 1907, Kap. 5; Rolf, Imperiale Herrschaft im Weichselland. Das Königreich Polen und das Rus­sische Imperium (1864 – 1915), Kap. V.

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Abb. 4 

Letzte Sitzung des Warschauer Magistrats unter der Leitung von Sokrat Starynkevič. Photographie von Konrad Brandel (18. September 1892). Abbildungsnachweis: Muzeum Historyczne m.st. Warszawy, Arch.Fot., Nr inw. V. 13691.

der lokalen Bevölkerung nahmen den zarischen Staat als fremde Institu­ tion war, die von außen unter Zwang importiert worden war und auf dessen Ende man insgeheim hoffte. Zusammenarbeit mit den Repräsentanten der Staatsmacht fand aus pragmatischen Gründen statt, eine grundsätz­liche Akzeptanz der staat­lichen Organe als das „Eigene“ blieb jedoch aus. Eine ­solche gesellschaft­liche Fremdheitserfahrung vom Staat wurde durch die regelmäßigen Demonstra­tionen, mit denen die Petersburger Beamten ihre Dominanz ausspielten, kontinuier­lich bestärkt. Denn diese sollten ja nicht nur die Superiorität des Staates allgemein manifestieren, sondern explizit die Hegemonie der „rus­sischen Sache“ verdeut­lichen. Im Zeitalter des erstarkenden rus­sischen Na­tionalismus und einer von der Zensur weitgehend ungebremsten Öffent­lichkeit propagierten na­tionalistische Scharfmacher auf rus­sischer Seite nach 1905 immer offener ein Apartheitssystem, in dem „den Russen“ ein privilegierter Platz in der Reichs- und Rechtsordnung einzuräumen sei, während der indigenen Bevölkerung des Weichsellands der Status von Bürgern zweiter Klasse zugewiesen wurde.

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All dies trug erheb­lich dazu bei, dass sich eine polnische Gesellschaft mög­ lichst autonom von staat­lichen Institu­tionen zu formieren versuchte, sei es in klandestinen Strukturen, sei es an Stätten der Emigra­tion oder sei es in einem nach 1906 legalisierten Paralleluniversum von Vereinen, Verbänden, Medien und Parteien. Diese weitgehende Verweigerung der Koopera­tion hemmte jedoch den Staatsausbau und hatte dramatische Folgewirkungen für die staat­ liche Handlungsfähigkeit. Angesichts der begrenzten Ressourcen, die der zarischen Bürokratie bereitstanden, kam der Staatsausbau im Weichselland schnell ins Stocken. Dem vermeint­lich starken Staat, der 1863 mit dem Allmachtanspruch angetreten war, das öffent­liche Leben des Königreiches ohne die Beteiligung der indigenen Bevölkerung zu organisieren, gelang es nicht, aus dieser selbstgewählten Isola­tion auszubrechen. Die fundamentale Fremdheit der Staatsbehörden konnten auch die punktuellen Koopera­tionsfelder und Interak­tionsmuster nicht überwinden. Dafür waren die Grenzen der Zusammenarbeit zu eng gezogen. Eine Staatsmacht ohne gesellschaft­lichen Unterbau aber blieb ein schwächelndes Gebilde, das nur über sehr begrenzte Steuerungsmög­lichkeiten vor Ort verfügte. Dieses Gefühl der eigenen Ohnmacht und Fremdheit in einem ausweglos erscheinenden Konflikt beschlich gelegent­lich auch die Staatsrepräsentanten selber. In seinem Bericht zum Boykott der Brückeneröffnung durch die Warschauer Bürgergesellschaft im Winter 1913 resümierte der zarische Beamte resigniert, dass die Auseinandersetzungen darum, wem die „Stadt gehöre“, wohl nie ein Ende finden würden. Die fest­liche Stimmung jedenfalls sei durch den polnischen Protest auch bei den anwesenden Staatsbeamten „doch sehr getrübt gewesen“.73 Vielleicht war es nicht nur der kalte Dezemberwind, der das Aufkommen von Festfreude verhinderte, sondern auch die Ahnung, wie fragil die Staatsmacht ohne gesellschaft­liche Stütze in dieser Grenzregion des Imperiums war.

73 APW, t. 24 (WWO), sygn. 263, kart. 1 – 6 (Bericht über gesellschaft­liche und politische Entwicklungen in Warschau, 14. Januar 1914), hier kart. 5v.

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Über das Vordringen des russischen Staates in die Fläche. Das Beispiel des ausgehandelten Wehrdienstes 1874 – 1914 1. Zur Relevanz Der Großmachtstatus Russlands war über Jahrhunderte hinweg nicht von seinem militärischen Potenzial zu trennen. Die Funk­tionsfähigkeit der Streitkräfte gewährleistete nicht nur Russlands Sicherheitsinteressen im interna­tionalen Zusammenhang, auch im Inneren blieb die Armee der wichtigste Garant für die Aufrechterhaltung der öffent­lichen Ordnung, denn in Russland, dem der Fläche nach größten Land der Welt, existierten vor dem ­Ersten Weltkrieg nahezu keine zivilen Polizeistrukturen.1 Daher war die Art und Weise, wie das rus­sische Militär seinen Personalbedarf deckte und die quantitativ größte Armee Europas Jahr für Jahr mit Rekruten versah, von erheb­licher Bedeutung für Russlands Rolle in Europa und der Welt. Wie effektiv der jähr­lich wiederkehrende Vorgang gestaltet wurde, in dem Hunderttausende junger Männer als Wehrpflichtige in die Armee aufgenommen und die Soldaten ausgedienter Jahrgänge gleichzeitig entlassen wurden, bedeutete viel sowohl für die Streitkräfte selbst als auch für die sie umgebende zivile Lebens- und Arbeitswelt, in die die Ausgedienten mit all ihren Erfahrungen und neu erworbenen Kenntnissen zurückkehrten. Ein Blick auf die Dimension der Wehrpflicht macht Ausmaß und Gewicht des Phänomens deut­lich: Im Untersuchungszeitraum berief das Zarenreich durchschnitt­lich 274.341 Männer pro Jahr als Wehrdienstpflichtige ein, das System funk­tionierte ohne Unterbrechung die gesamten 40 Jahre ­zwischen 1874 und 1914 hindurch. Was im Umfeld der Allgemeinen Wehrpflicht passierte, hatte zweifellos einen erheb­lichen Aussagewert über das Vordringen der Staatsmacht in die territoriale Fläche und in die Masse der Bevölkerung.

1 Istorija policii v Rossii. Kratkij istoričeskij očerk i osnovnye dokumenty. Učebnoe posobie (Geschichte der Polizei in Russland. Kurze historische Skizze nebst grundlegenden Dokumenten. Unterrichtsmaterial), Moskva 1998; W. C. Fuller: Civil-­Military Conflict in Imperial Russia 1881 – 1914, Princeton 1985.

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Ob ein junger Mann im Alter von 20 Jahren in die Armee eintrat oder der vielfach ungeliebten Pflicht entkommen konnte, hing dabei in erheb­lichem Maße von ihm selbst und von der Dorfgemeinschaft ab, der er angehörte. Die Staatsmacht – so wird zu zeigen sein – ließ in dem Prozess von Auswahl, Musterung und Rekrutierung erstaun­lich großzügig mit sich handeln. Sie glaubte generell, in ­diesem Falle große Nachsicht walten lassen zu können, war sie doch durchdrungen von der unerschütter­lichen Überzeugung, angesichts der riesigen Größe des Landes und der nirgendwo in Europa übertroffenen Bevölkerungszahl auf eine im Wortsinne allgemeine Mobilisierung der wehrfähigen Männer in Friedenszeiten verzichten zu können. Die Erkenntnis, dass ein gigantisches Territorium und ein großes demographisches Potenzial durchaus etwas anderes waren als eine einsatzbereite, professionelle militärische Reserve, brach sich nur sehr langsam Bahn. In gewisser Weise scheint diese verhängnisvolle Grundeinstellung das rus­sische Militär bis in unsere Gegenwart zu begleiten. Im vorliegenden Fall konzentriert sich die Darstellung auf die Jahre ­zwischen 1874 und 1914, auf jene Spanne also, in der im kaiser­lichen Russland die Allgemeine Wehrpflicht praktiziert wurde. Dabei war die Frage, ob und inwieweit der Staat seinen Zugriff auf die Provinz ausdehnen konnte, deshalb von besonderer Bedeutung, weil maßgeb­liche Befürworter der neuen Wehrpflicht und zahllose spätere Kommentatoren von der fixen Idee ausgingen, eben dort, aus den Dörfern Russlands, sei jene Personalressource am besten zu heben, derer die Armee bedürfe: Nicht in den übervölkerten, von vielen Minderheiten geprägten, von Industriearbeit, schlechter Hygiene und vielerlei verderb­lichen Ablenkungen deformierten Städten, sondern auf dem Land sollten Russlands Rekruten ausgehoben und zum Dienst verpflichtet werden. Im Geiste einer der gegenüber Moderne grundsätz­lich kritisch eingestellten Sozia­lromantik wurde das Dorf als die Quelle für Russlands militärische Zukunft interpretiert. Nur hier, so die gängige Lesart, lebten jene urgesunden, unverbrauchten, dem K ­ aiser und dem Vaterland loyalen, von keiner Kritik an der Orthodoxie angekränkelten, kernigen Bauernburschen, auf die die Armee rückhaltlos zählen könne. Abgesehen davon, dass diese Sicht einerseits vielfach wenig mit der Realität gemein hatte, war damit andererseits die eindeutige Aufgabe gestellt, das Vordringen der Staatsmacht auf das rus­sische Dorf voranzutreiben.

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2. Grundzüge der Allgemeinen Wehrpflicht à la russe Relativ spät, am 1. Januar 1874, war die Allgemeine Wehrpflicht in Kraft getreten und hatte jenen Zyklus von Reformen abgeschlossen, der 1861 mit der Verkündung der Bauernbefreiung begonnen hatte.2 Da die späten 1860er und frühen 1870er Jahre bereits von erheb­licher verwaltungsinterner sowie öffent­ licher Kritik an den angestoßenen Reformen gekennzeichnet waren, durchlief die Idee einer Allgemeinen Wehrpflicht viele Restrik­tionen. Die Befürworter mussten sich den Vorwurf gefallen lassen, es sei unverantwort­lich, ausgerechnet zu d ­ iesem Zeitpunkt an Russlands einziger noch verläss­licher Machtstütze herumzuexperimentieren. Das Zarenreich habe mit dem Ende der Leibeigenschaft, mit den Reformen der lokalen und regionalen Selbstverwaltung, der Universitätsreform, der Justizreform usw. bereits so viel von seiner Substanz gefährdet, dass eine Umstellung der Armee – gedeutet als unkontrollierbare Volksbewaffnung – nun das wohl Dümmste sei, was dem Land verordnet werden könne.3 So waren es nicht zuletzt auswärtige Ereignisse, nament­lich der auf der Basis einer Allgemeinen Wehrpflicht erfolgte Siegeslauf der preußischen Truppen in den Jahren der Einigungskriege, die am Ende doch die Reform als nötig und mög­lich erscheinen ließen. Dazu, von Preußen zu lernen, einer Russland in vielen Punkten strukturverwandten, mit dem Zarenreich verbündeten Monarchie, waren auch die reformkritischen Kreise noch am ehesten bereit. Was am 1. Januar 1874 als Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht verkündet wurde, war ein erstaun­lich modern anmutender, durch und durch von zivilen Interessen geprägter Ansatz, Zugriff auf Russlands militärisch nutzbare Personalressourcen zu nehmen. Was künftig darüber entschied, ob ein junger Mann im Musterungsalter von 20 Jahren des Kaisers Rock zu tragen hatte oder ob ihm ­dieses Schicksal erspart blieb, wurde von mehreren Faktoren bestimmt. Der erste dieser Faktoren war die Schulbildung, die der potenzielle Rekrut vor seiner Musterung erlangt hatte. Generell war die Dauer des Dienstes auf 15 Jahre angesetzt, wovon neun Jahre auf die Reserve entfielen. Rechnerisch war also von einer aktiven Dienstzeit von sechs Jahren auszugehen. Eine ­solche Frist diente aber nur derjenige ab, der vor seiner Musterung absolut keinerlei Kontakt zu einer Bildungseinrichtung gehabt hatte. Konnte ein Rekrut den 2 Werner Benecke: Militär, Reform und Gesellschaft im Zarenreich. Die Wehrpflicht in Russland 1874 – 1914, Paderborn 2006. 3 Als Übersicht zu den zeitgenös­sischen Diskussionen: P. A. Zajaončkovskij: Podgotovka voennoj reformy 1874 goda (Die Vorbereitung der Militärreform 1874), in: Istoričeskie Zapiski 27 (1948), S. 170 – 201.

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Nachweis erbringen, auch nur vier Klassen einer Elementarschule absolviert zu haben, so verkürzte sich sein Dienst automatisch auf vier Jahre. Hatte er das Zeugnis einer Schule vorzuweisen, die das Wehrpflichtgesetz in die Kategorie der „niederen Lehranstalten“ einstufte, so dauerte sein mög­licher Dienst nur drei Jahre. Das gesamte zivile rus­sische Bildungswesen wurde so zum Zweck der Festlegung der Wehrdienstdauer in ein gestuftes System eingeteilt – die Logik ­dieses Systems war denkbar einfach und einsichtig: Je höher die zuvor erworbene allgemeine Bildung war, desto kürzer fiel der aktive Wehrdienst aus. Bildeten die Elementarschulen die Basis, so standen an der Spitze dieser Pyramide die rus­sischen Hochschulen: Wer ein Universitätsexamen präsentieren konnte, hatte einen Wehrdienst von maximal sechs Monaten zu gewärtigen. Die Armee durfte den zivilen Qualifika­tionsweg der jungen Männer dabei nicht unterbrechen, so dass Studenten – wenn überhaupt – erst nach Abschluss ihrer Studien gemustert wurden. Die Spanne einer mög­lichen Wehrdienstdauer schwankte also ­zwischen sechs Jahren und sechs Monaten, bildete also eine Marge von 12:1 ab. Es sollte mithin in erheb­lichem Maße in der Hand des Rekruten liegen, wie lange sein potenzieller Dienst dauern sollte und für w ­ elchen Zeitraum er dem zivilen Leben entzogen wurde. Dieses System der Verschonung folgte klaren zivilen Inten­tionen. Die Reformer, an ihrer Spitze Dmitrij Alekseevič Miljutin, hatten erkannt, dass Russland zu seiner allseitigen Stärkung einer raren Ressource in ganz besonderem Maße bedurfte, näm­lich gebildeter junger Köpfe. Indem ihre Konzep­tion der Wehrpflicht so angelegt war, den Erwerb von zivil nutzbarer Allgemeinbildung über eine erheb­liche Verkürzung des Wehrdienstes zu honorieren, mochte das Dienstgesetz dem Vaterland gewiss einen unschätzbar großen Dienst erweisen. Gleichzeitig war ein solches System bestens geeignet, gebildete Schichten strukturell von der Armee fernzuhalten und dazu beizutragen, dass gerade nicht „alle ohne Unterschied des Berufes und Standes sich zu dieser heiligen Sache“ (der Verteidigung des Vaterlandes) vereinten, wie es die Präambel des Wehrpflichtgesetzes in feier­lichen Worten verkündet hatte.4 Das Konzept der „Allständischen Wehrpflicht“, um den rus­sischen Terminus genau zu übersetzen, strebte also keineswegs danach, den sozia­len Querschnitt des Landes abzubilden, zumal eine Vielzahl an konfessionell und na­tional definierten Ausnahmeregelungen existierte.

4 Die Allgemeine Wehrpflicht in Russland, enthaltend: Allerhöchstes Rescript, Manifest S. M. des Kaisers, Edikt an den Senat, Gesetz über die Wehrpflicht, Regeln für die Anschreibung, alphabetisches Sachregister, Dorpat 1874, S. 4 (im Folgenden AWR).

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Das zweite Auswahlkriterium war wesent­lich komplizierter. Es ließe sich beschreiben als die Größe der Lücke, die die Einberufung eines Wehrpflichtigen in seine familiäre Situa­tion und sein ziviles Arbeitsumfeld hätte reißen können. Es wurde ein komplizierter und kleinschrittiger Katalog von Abstufungen aufgestellt, der über die Abkömm­lichkeit oder Unabkömm­lichkeit eines jungen Mannes nach den Parametern seines Familienstandes vorentschied und für das ganze Land gültig war.5 Hatte zum Beispiel ein junger Mann zum Zeitpunkt seiner Musterung einen gesunden Vater im arbeitsfähigen Alter, einen oder mehrere Brüder, die ebenfalls als voll arbeitsfähig galten, darüber hinaus aber keine hilfsbedürftigen Familienmitglieder zu versorgen, so war er in die nie­ drigste aller Schutzkategorien, die Kategorie 4, einzustufen. Würde er unter die Wehrpflichtigen berufen, so ließ sich sein Fehlen in der elter­lichen Wirtschaft relativ leicht ausgleichen. Hatte sein ebenfalls musterungspflichtiger Nachbar zwar einen gesunden Vater, war dieser aber verwitwet und hatte der junge Mann statt arbeitsfähiger Brüder drei minderjährige Schwestern, so geriet er in die nächsthöhere Kategorie 3. Kamen zum Beispiel noch eine pflegebedürftige ­Mutter und ein nicht mehr arbeitsfähiger Großvater hinzu, so bedeutete dies die Zuweisung zur Kategorie 2, und in die Kategorie 1 gelangten all jene, deren Einberufung den völligen Ruin des zivilen Umfeldes des jungen Mannes und den Verfall eines in der Regel landwirtschaft­lichen Betriebes bedeutet hätte. Im Idealfall war ein Rekrutenjahrgang vorrangig aus Männern der Kategorie 4 aufzufüllen, erst, wenn dies nicht gänz­lich mög­lich war, sollten Personen der Kategorie 3 herangezogen werden, nur im Notfall Personen der Kategorie 2, und Männer, denen die Einstufung in die Kategorie 1 gelungen war, konnten relativ sicher davon ausgehen, gar nicht in den Dienst gezogen zu werden. Oftmals blieb ihnen sogar der Vorgang der Musterung komplett erspart. Die rus­sische Variante der Allgemeinen Wehrpflicht strebte also – neben ihrer Funk­tion als Bildungsstimulus – nach einem hohen Grad an ziviler Sozia­lverträg­ lichkeit, die das außermilitärische Leben Russlands nur so wenig wie mög­lich durch die Mobilisierung dringend benötigter ziviler Arbeitskräfte belasten sollte. Wie immer dieser Zugang zu bewerten war und w ­ elche gesellschaft­liche Wertschätzung für den Beruf des Soldaten auf Zeit er suggerierte, es stellt sich die Frage, wer denn eigent­lich über die bisweilen recht komplizierten Personenstandsdaten der Rekruten verfügte und im Sinne des Gesetzes diese auslegen konnte.

5 AWR § 45.

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3. Die Musterung An ein kontinuier­lich arbeitendes, landesweit etabliertes Netz an Wehrersatzämtern war nicht im Entferntesten zu denken. Berufsbeamte konnte der Staat für den Zweck der Rekrutierung bestenfalls punktuell abstellen und angesichts der oben genannten Überzeugung von der Zweitrangigkeit der Aufgabe galt hier ganz und gar keine Priorität. Dort, wo die dem Staatsnutzen verpflichtete Weisungsbefugnis des Beamten fehlte, setzte der Staat an deren Stelle die faktische Sachkunde der unmittelbar Betroffenen. Mit einem Wort, er übertrug die Musterung, und damit auch die komplizierte Entscheidung über die Kategorien 1 bis 4, denjenigen, die am ehesten Zugriff auf die nötigen Daten hatten, also den regionalen und lokalen Selbstverwaltungen, mithin den Dorfgemeinschaften.6 Eine rus­sische Musterungskommission bestand weitgehend aus Personen, die die lokalen Selbstverwaltungen hierzu wählten.7 Den Vorsitz führte der jeweilige Adelsmarschall des Aushebungsterritoriums, mithin des Kreises und des Gouvernements, aber vielfach verzichteten die Adelsmarschälle auf ihre Ämter und delegierten den zeitraubenden und unbeliebten Posten. Wohl fungierten zwei Ärzte in den Kommissionen, ein vom Militär, ein von den zivilen Behörden benannter. Das Wehrpflichtgesetz verlieh ihnen aber kein Stimmrecht im Auswahlprozess. So beschränkte sich ihre Aufgabe auf eine höchst oberfläch­liche und kurze phy­sische Untersuchung und auf das spätere Verfassen zahlreicher bisweilen kluger und scharfer Protestschreiben, ohne dass die Staatsmacht an dem beschriebenen Sachverhalt etwas änderte.8 Tatsäch­lich setzte die in ihren Ansätzen so wohl durchdachte Reform etwas fort, was auch schon vor 1874 zu den schlechtesten Zügen der rus­sischen Armee gehört hatte.9 Die nebenberuf­lichen Musterungskommissionen, deren Mitglieder natür­lich nie vergaßen, dass sie auch nach der lästigen Pflicht der Musterung einen weiterhin funk­tionsfähigen Modus Vivendi mit der Dorfbevölkerung brauchten, wählten nach wie vor vorrangig jene Personen unter die Soldaten, die sie im zivilen Interesse der Gemeinschaft für am ehesten entbehr­lich hielten. 6 AWR § 84 ff. Auch: Albert von Drygalski: Die Organisa­tion der Rus­sischen Armee in ihrer Eigenart und unter Vergleich mit den Streitkräften Frankreichs, Österreich-­ Ungarns, Italiens und Deutschlands, Leipzig 1902. 7 AWR § 84 ff. 8 V. Nikol’skij: Materialy k voprosu o smertnosti sredi nižnich činov russkoj armii (Materialien zur Frage der Mortalität unter den Mannschaftsdienstgraden der rus­sischen Armee), SPb 1908. 9 Dietrich Beyrau: Militär und Gesellschaft im vorrevolu­tionären Russland, Köln 1984.

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Alkoholkranke, notorische Schläger, körper­lich Versehrte, psychisch Auffällige, auch junge Männer, denen die Dorfgemeinschaft einmal eine richtige Abreibung gönnte, hatten nach wie vor weit überdurchschnitt­liche Chancen, in jenen Kategorien zu landen, die die Einziehung wahrschein­lich oder nahezu sicher erscheinen ließen. Den Musterungskommissionen fiel eine s­ olche Abstufung nicht zuletzt deshalb besonders leicht, da das Wehrpflichtgesetz diese für ihr Tun nicht haftbar machte. Worauf es ankam, war, die vom Staat zentral festgelegte Quote an Männern als vollzogen zu melden, mit den naheliegenden Folgen mochten sich ­später andere Instanzen auseinandersetzen. An dieser Stelle des Prozesses, der Einstufung in die so wichtigen Personenstandskategorien also, kam ein weiteres Grundprinzip einer rus­sischen Musterung hinzu, näm­lich jenes der Öffent­lichkeit des Verfahrens. Vor der Reform hatte die Auswahl der Rekruten zu einem prinzipiell lebensläng­lichen Soldatendienst jahrhundertelang unter dem Ruf gelitten, hier werde ohnedies nur ein abgekartetes, ebenso leichtfertiges wie korruptes Spiel mit dem Leben Abhängiger und Wehrloser getrieben. Solche Erfahrungen wirkten lange nach. Manche Wahrnehmungsmuster, mit denen die Bevölkerung dem Soldatendienst begegnete, erwiesen sich als überaus zählebig und dem tatsäch­lichen recht­lichen Stand der Dinge ganz und gar nicht konform. Dieser Gefahr eingedenk, wollte das neue Dienstgesetz allen nur denkbaren (und immer noch erhobenen) Korrup­tionsvorwürfen einen Riegel vorschieben und etablierte die Öffent­lichkeit der Musterung. Jeder Kandidat war berechtigt, eine beliebige Zahl von Zeugen an den Ort des Verfahrens mitzubringen, auf dass jeder Vorwurf der ungerechten Behandlung im Keim erstickt werde. Tatsäch­lich muss in ­diesem Lichte ein Musterungsverfahren eine sehr bunte Erscheinung im rus­sischen Leben gewesen sein, denn die Familien der jungen Männer machten von der ihnen eröffneten Op­tion durchaus Gebrauch. Nähere und weitere Angehörige, Nachbarn und Bekannte machten sich mit auf den Weg zur Musterung, belagerten die meist ohnedies viel zu kleinen, improvisierten Musterungslokale und warteten auf den entscheidenden Moment, da ihr Schützling vorzutreten hatte. Nun war der Augenblick gekommen, wortreich und lautstark der Kommission klarzumachen, w ­ elche schreck­lichen Folgen es haben werde, wenn ausgerechnet dieser junge Mann für mehrere Jahre seinem Dorf und seiner Familie verlustig ginge. Sehr farbenfroh waren sie wohl, die nun vorgebrachten Berichte über den drohenden Hungertod ganzer Familien, über den zu erwartenden Produk­tionseinbruch ganzer Dörfer, über das sichere Versteppen ganzer Landkreise, sollte die Kommission „unseren Ivanuška“ oder „unseren Petja“ unter die Soldaten einreihen. Ganz falsch und gar nicht aktuell s­ eien die Angaben, die der Kommission zur Einstufung vorlägen,

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vielmehr sei plötz­lich ein Bruder schwer verunglückt, sei völlig unerwartet der arbeitsfähige Vater zum Invaliden geworden, sei ohne jede Vorwarnung eine mittellose und schwer pflegebedürftige Cousine aufgetaucht, was – einzeln oder in Kombina­tion der Schicksalsschläge – eine radikale Überprüfung der Daten notwendig mache. Auf gar keinen Fall dürfe nun Rekrut X oder Rekrut Y angenommen werden, wolle die Kommission nicht entsetz­liche Schuld auf sich laden.10 Hatte die Kommission trotz dieser Umstände irgendeine Lösung im Konsens ausgehandelt und eine Rekrutenliste abgestimmt, erfolgte nun jener Schritt, der wieder alles auf den Kopf stellen konnte: die Losziehung. Ähn­lich wie das Prinzip der öffent­lichen Musterung ging die Anwendung eines Losverfahrens im Zuge der Musterung auf die Überzeugung zurück, über Zugeständnisse an das sehr tradi­tionelle Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung die nötige Akzeptanz einer im Grunde ungeliebten und noch immer als verhängnisvoll gedeuteten Pflicht erkaufen zu müssen. Denn die endgültige Entscheidung über Annahme oder Verschonung eines Kandidaten stand zu ­diesem Zeitpunkt noch aus, der junge Mann sollte sie selbst vollziehen. Hierzu hatte ein jeder bereits eingestufte Kandidat eigenhändig und vor aller Augen ein nummeriertes Stück Papier aus einer Trommel zu ziehen – im buchstäb­lichen und im doppelten Sinne des Wortes sollte er sein Los in der eigenen Hand halten. Wer auf diese Weise persön­lich die letzte Entscheidung über seinen Dienst vollzog, von dem erwartete das Gesetz – weitgehend zu Recht übrigens –, dass er das Entschiedene nicht mehr in Frage stellte. Über das Losverfahren konnte es durchaus passieren, dass Personen, die der Kategorie 3 zugeordnet waren, eingezogen wurden, obwohl junge Männer der Kategorie 4 durchaus in ausreichender Zahl zur Verfügung standen. Diese aber konnten beim Losziehen Glück gehabt haben. Das mochte die Logik des Rekrutierungsmechanismus zwar erheb­lich deformieren, trug aber dem Verfahren insgesamt eine ­solche Zustimmung ein, dass niemand vor 1914 diesen Mechanismus ernsthaft in Frage stellte. Und das System funk­tionierte – die kaiser­lich rus­sische Wehrpflichtarmee erfreute sich unter normalen Friedensbedingungen einer sehr geringen Deser­tionsquote.

10 Bildreich gerade für die frühe Phase der Reform: Pervyj prizyv vsech soslovij na voennuju službu (Die erste Einberufung aller Stände in den Militärdienst), Sankt Petersburg 1875; für eine spätere Phase: Priem, raspredelenie i otpravlenie v vojska novobrancev (Die Annahme, Aufteilung und Absendung der neuen Rekrutenjahrgänge in die militärischen Einheiten), in: Voennyj Sbornik 2 (1897), S. 282 – 306.

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4. Traditionelle Wahrnehmungsmuster der Rekrutierung Zwischen die Losziehung, also den letzten Akt der Musterung, und den eigent­ lichen Dienstbeginn schob sich ein spezifisch den jungen Wehrpflichtigen vorbehaltenes dörf­liches Fest, der rekrutskij razgul. Wört­lich mit „Rekrutengelage“ wiederzugeben, handelte es sich dabei um ein Ritual, das noch aus der Zeit stammte, da die Rekrutierung ein Abschied auf Nimmerwiedersehen war. Für mehrere Tage erlaubte es die Dorfgemeinschaft, dass die jungen zum Dienst angenommenen Burschen hemmungslos über die Stränge schlagen durften, sich verkleideten, auf geschmückten Bauernwagen mit lauter und schräger Musik durch die Dörfer zogen, Scheiben einschlugen, Passanten in Brunnen warfen und vor allem sich noch einmal gründ­lich kollektiv betrinken durften. Die rus­sische Folklore kannte das Genre der soldatischen Klagelieder, in denen in ritualisierter Form das schlimme Los der Eingezogenen beschrieben wurde. Nament­lich das Scheren der Rekruten hielt sich als ein Synonym für eine besonders ehrlose Behandlung. Ein Lied klagte zum Beispiel:11 Posmotrite tam otcy Schaut her, Ihr Väter Nas pogonjat kak ovcy Uns treibt man wie die Schafe Ovcy s poljugika domoj Die Schafe kommen von der Weide nach Hause A s nas kuderviški doloj! Aber uns schert man die Locken! Zavivalisʼ moi kudri Es kringelten sich meine Locken Ot vesny do oseni. Vom Frühling bis zum Herbst. A v soldaty zapisali Doch kaum wurde ich zu den Soldaten eingezogen Zavivat’sja brosili. Da ließen sie das Kringeln sein. Noch immer war die Überzeugung weit verbreitet, der Soldatendienst sei etwas so Einschneidendes und Trauriges, dass ein junger Mann wenigstens einmal zuvor noch das Leben in vollen Zügen genießen solle, und dort, wo für diese Art von Vergnügen die Mittel fehlten, stellten die Dorfgemeinschaften die nötigen Summen und Naturalien auch gern zur Verfügung. Wochen s­ päter sollten die die neuen Rekruten erneut untersuchenden Militärärzte in den Kasernen 11 Archiv Teniševa delo 546. Aus dem Gouvernement Kaluga, meščerskij uezd (1898). Wegweisend zu der Rezep­tion des Wehrdienstes auf dem rus­sischen Dorf: Ž. Kormina: Rekrutskij obrjad: Struktura i semantika (Der soldatische Ritus: Struktur und Semantik), Moskva 2000.

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lange Klageschriften über den körper­lichen Zustand verfassen, in dem sie die jungen Männer bei Dienstbeginn vorfanden.12

5. In den Kasernen angelangt Nach der Losziehung und dem rekrutskij razgul begann der Ernst des Soldatendaseins. Bis zu ­diesem Zeitpunkt war die Auswahl der Rekruten tatsäch­lich ein dreiseitiger Aushandlungsprozess gewesen: Zum ­Ersten setzte die Staatsmacht Jahr für Jahr die benötigten Personalkontingente fest und verlangte von den Musterungskommissionen die Überstellung der geforderten Zahlen an neuen Soldaten. Zum Zweiten vermittelten die Kommissionen einen – nach ihren Maßstäben und Prioritäten – sozia­lverträg­lichen, allgemein akzeptierten Kompromiss. Zum Dritten hatten die Rekruten unmittelbar über die Hebel der Schulbildung und der Losziehung sowie mittelbar über jenen der sozia­len Zuordnung erheb­lichen Einfluss auf eine der wichtigsten persön­lichen Fragen ihres Lebens, sie bestimmten aber auch maßgeb­lich über die Zusammensetzung der wichtigsten Machtstütze des Reiches mit. Das Kriegsministerium, die in den Kommissionen tätigen, noch mehr aber die in den Kasernen Dienst tuenden Ärzte, weite Teile der veröffent­lichten Meinung, abgebildet in einer sich schnell entwickelnden, interna­tional vergleichend argumentierenden Fachpresse, seit 1906 auch die Reichsduma erkannten die Fehlfunk­tionen ­dieses Deals genau, erachteten den ausgehandelten und durchsetzbaren Kompromiss aber als so wertvoll, dass sie daran keine prinzipielle Änderung vornahmen. Die Staatsmacht schien sich mit ihrer begrenzten Kompetenz zufriedengegeben zu haben. Ab dem Moment aber, zu dem ein angenommener Rekrut das Kasernentor durchschritten hatte, machte er gänz­lich andere Erfahrungen mit der Staatsmacht als bisher. Denn erst jetzt, nach der Annahme zum Dienst, stand er dem Staat nicht mehr als Teil einer zu verhandelnden, gegebenenfalls auszutauschenden Gesamtsumme gegenüber, sondern als Individuum mit einem Namen, einer Personalnummer und einer Personalakte. Diese Staatsmacht kam nun in erster Linie in Gestalt von Militärärzten auf ihn zu, die jetzt, nach der Musterung und Annahme, frei von allen Rücksichtnahmen, öffent­lichen Einblicken und dörf­lichen Hierarchien ihres Amtes walteten, die Soldaten untersuchten und nun ein Urteil sprachen, was für viele gar keine Überraschung war: Die

12 Benecke, Militär, Reform und Gesellschaft, S. 128 ff.

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Musterungskommissionen hatten sehenden Auges große Zahlen von offensicht­ lich Untaug­lichen rekrutiert. Diese zu sichten, ihren Dienst aufzuschieben oder zu erleichtern, sie zu heilen oder als unheilbar ins zivile Leben zu entlassen, in vielen Fällen aber auch zu resignieren und sie den gesunden Soldaten als Ballast aufzubürden gehörte zu den hauptsäch­lichen Entscheidungen, die die Militärärzte zu fällen hatten. Ihre Tätigkeit indes gehört in ihrer Gesamtheit zu den wichtigsten Elementen der Modernisierung, die die Wehrpflicht dem größten Land der Welt brachte.

6. Das Vordringen im medizinischen Bereich Die Rekruten wurden in den Jahren ihres Dienstes einem einheit­lichen System medizinischer Untersuchungen, Kontrollen, regelmäßiger Impfungen und Belehrungen, natür­lich auch gegebenenfalls für nötig erachteter Behandlungen unterzogen, und die Entlassung nach wenigen Jahren bewirkte, dass diese Segnungen der sich im späten 19. Jahrhundert sehr schnell entwickelnden angewandten medizinischen Wissenschaft den Weg in die Heimatdörfer der Rekruten fanden. Kein Zweifel, der vielgerühmte und von den zeitgenös­sischen Protagonisten mehr als selbstbewusst dargestellte Siegeszug der zemstvo-­Medizin, also des rasch wachsenden Netzwerkes von Ärzten, Sanitätern, Krankenhäusern und Präventivsta­tionen im Dienste der regionalen Selbstverwaltungen, war seit seiner Etablierung im Jahre 1864 ein wichtiger Zug der Modernisierung des rus­sischen länd­lichen Raumes im späten 19. Jahrhundert. Die modernisierte Wehrpflicht hatte an diesen Veränderungen indes ebenso einen erheb­lichen Anteil. Mittelbar drang der Staat also auch über den Umweg der Kasernen in das Feld der zivilen Gesundheitsversorgung in die Fläche vor. Es war die Armee, die unter den hier herrschenden idealen Versuchsbedingungen erstmals lückenlose Aufzeichnungen über die Anwendung und den Erfolg präventiver medizinischer Maßnahmen – etwa Schutzimpfungen und Aufklärung über venerische Krankheiten – anfertigte und ab 1887 für jeden Soldaten eine individuelle Gesundheitsakte, den medicinskij list, führte. Für die Entwicklung der landesweiten Statistik war die Armee ein Impulsgeber erster Ordnung, zumal in der Phase z­ wischen Reform und Erstem Weltkrieg militärrelevante Gegenstände in einer den späteren Beobachter frappierenden Atmosphäre von Transparenz, kritischem Dialog und na­tionaler wie interna­tionaler Öffent­lichkeit diskutiert wurden. Frei­lich gilt aber auch, dass der Militärdienst nicht nur medizinische Probleme registrierte und bekämpfte, sondern diese auch in erheb­lichem Maße begünstigte und zu ihrer Verbreitung beitrug. In beeindruckender Ehr­lichkeit

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diskutierten die rus­sischen Militärärzte im Zeitraum z­ wischen 1874 und 1914 Probleme wie den Alkoholismus in der Armee und die Gefahren venerischer Krankheiten. Auch hier wirkte die Funk­tionslogik der Wehrpflicht, also ihr Charakter als zu durchlaufende Zwischensta­tion, die nicht von der umgebenden zivilen Gesellschaft abgetrennt war, als Faktor der landesweiten Verbreitung problematischer Phänomene. Auch in dieser Hinsicht erlangte das Vordringen des Staates in die Fläche eine neue Qualität.

7. Das Vordringen der „Schule der Nation“ Noch in einer anderen Weise erbrachte die Armee einen enormen Schub an Modernisierung und Vereinheit­lichung, näm­lich in ihrer Rolle als vielzitierte Schule der Na­tion. Das galt weniger im übertragenen Sinne des Wortes als im direkten: In der Armee wurde hunderttausendfach das Lesen und Schreiben gelehrt und diese neu erworbenen Fertigkeiten in spezifischer Weise eingeübt. Wieder ist es ein Blick in die zeitgenös­sische Statistik, der die Dimension der Aufgabe umreißt: Bis zum Einberufungsjahr 1904 überstieg der Anteil der Analphabeten unter den Rekruten bei weitem den Prozentsatz jener, die zumindest des Lesens kundig waren. Noch 1908 lag das Verhältnis bei 61 Prozent Lesekundigen zu 39 Prozent Analphabeten. In totalen Zahlen ausgedrückt bedeutete dies im Stichjahr 1908, dass vor der Armee die Aufgabe stand, allein für ­dieses eine Jahr weit über 170.000 junge Männer mit den kulturellen Grundfertigkeiten vertraut zu machen; in den zurückliegenden Jahren war ihre Zahl wesent­lich höher gewesen.13 Auch in dieser Frage wurde das Vordringen des Staates in die Fläche zu einer quantitativ und qualitativ greifbaren Aufgabe. Die Armee stellte sich ihr. Wenngleich die Systematik, mit der die Alphabetisierung betrieben wurde, wenngleich die Einheit­lichkeit und Verbind­lichkeit des eingesetzten Schulungsmaterials, wenngleich auch die Qualifika­tionen des abkommandierten Lehrpersonals im Laufe des Untersuchungszeitraumes stark schwankten und erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Unterricht im Lesen und Schreiben standardisiert und als verpflichtend angeordnet wurde, so stand doch außer Zweifel, dass die modernisierte Armee auf solcherart Basiskenntnisse und

13 Die einschlägigen Daten wurden jähr­lich im Vsepoddannejšij Otčet o dejstvijach Voennago Ministerstva (Alleruntertänigster Bericht über die Tätigkeit des Kriegsministe­ riums) veröffent­licht.

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-fähigkeiten im eigenen Interesse nicht verzichten konnte. Spricht vieles dafür, dass der Unterricht zu Beginn nicht viel mehr hervorbrachte, als das Abschreiben einiger weniger vorgegebener Floskeln, die der Soldat zur Beruhigung seiner Angehörigen in die Heimat ­schicken sollte, so wuchs die rus­sische Kaserne gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem lukrativen Markt für billige, in hohen Auflagen produzierte Lesestoffe, die eigens für die Soldaten produziert wurden. Darunter befanden sich in volksverständ­licher Weise verfasste Ratgeber und Kalender, auch kommentierte Ausgaben wichtiger dienst­licher Anordnungen und Gesetze, ­welche den Soldaten nahezubringen im Sinne der Armeeführung lag. War es zu Beginn des Untersuchungszeitraumes noch die Armee selbst, die als Verleger auftrat – etwa in der Kolportage des Čtenie dlja soldat (Lektüre für die Soldaten), einer Zweimonatsschrift erbau­lich-­belehrenden Inhaltes ‒, so erfuhr ­dieses Geschäftsfeld mit Beginn des 20. Jahrhunderts einen Schub an Privatisierung und Professionalisierung. Fortan versorgten Produkte aus dem Hause des im militärischen Bereich sehr umtriebigen und erfolgreichen Verlegers Vladimir Antonovič Berezovskij sehr gezielt die nach Lesestoff verlangenden Wehrpflichtigen. Flaggschiff ­dieses Geschäftsmodells war eine seit 1896 erscheinende Serie unter dem Titel soldatskaja biblioteka (Die Soldatenbibliothek). Zu einem Preis z­ wischen zwei und acht Kopeken pro Exemplar zu haben, belieferte sie die rus­sischen Soldaten mit einer Vielfalt von ­kurzen, bisweilen illustrierten Geschichten, die niemals länger als 20 Seiten im Format 15 mal 12 Zentimeter waren. Ihr Themenkreis reichte von historisch-­ vaterländischen Gegenständen, etwa von den Siegen Peters des Großen, der Verteidigung Russlands gegen Napoleon oder den Triumphen der rus­sischen Truppen im Balkankrieg von 1878, über die Vermittlung zeitloser Tugenden, etwa des Kampfes gegen den Aberglauben, den Alkoholismus oder die Leichtgläubigkeit gegenüber zweifelhaften Frauen, die die Soldaten auf den Pfad der Untugend führten, bis hin zu volkstüm­lich-­landeskund­lichen, im Stil von Abenteuererzählungen verfassten Reportagen aus Mittelasien, Fernost und von der Westgrenze des Rus­sischen Reiches. Hier waren es vor allem Geschichten vom Kampf der wackeren rus­sischen Soldaten gegen Schmuggler und Betrüger, die ein bisweilen tendenziös antijüdisches und antipolnisches Stereotyp schufen und bedienten.14 Darüber hinaus kursierten eigens für den soldatischen Abnehmerkreis verfertigte Traktate aufklärerischen Inhaltes, etwa drastisch illustrierte Warnungen vor den Folgen des Alkoholkonsums und leichtfertiger sexueller Praktiken in

14 Benecke, Militär, Reform und Gesellschaft, S.185 ff.

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den Kasernen; ein eigener Untersuchungsgegenstand wären die ebenfalls in hohen Auflagen produzierten Schriften der Militärseelsorge. Schwer bis unmög­lich ist es, eindeutige Befunde über die Wirksamkeit dieser Medien zu formulieren. Was die Soldaten zum Kauf und zum (Vor-)Lesen dieser Schriften animierte, wie sie über das Gelesene diskutierten, w ­ elche anderen Faktoren mög­licherweise viel größeren Einfluss auf ihre Wahrnehmung der eigenen dienst­lichen Situa­tion ausübten, wird nicht mehr zu klären sein. Was es aber festzuhalten gilt, ist der Umstand, dass die rus­sische Armee nach der Etablierung der Allgemeinen Wehrpflicht ­diesem Bereich der Bildung und Ausbildung ihrer Soldaten keineswegs gleichgültig gegenüberstand, vielmehr erheb­liche Anstrengungen unternahm, auch die Vorstellungen ihrer einfachen Soldaten, ihre Bilder vom Vaterland und seiner Geschichte mitzuformen. Die reformierte Armee des Rus­sischen Reiches war ein in mehrerlei Hinsicht absonder­liches Phänomen: Sie war zugleich die größte und die kleinste Armee des zeitgenös­sischen Europas. Einerseits von keiner in den schieren Zahlen an eingezogenen Männern übertroffen, mobilisierte sie doch andererseits einen weit geringeren Prozentsatz ihrer zur Verfügung stehenden Personalreserve, als es irgendeine andere Streitmacht in Europa tat. Russland glaubte, sich diese Großzügigkeit ebenso leisten zu können wie den dritten Superlativ: Keine Armee wies einen strukturell und dauerhaft derartig hohen Anteil an Kranken und Untaug­lichen auf wie die rus­sische.15 War der Staat angesichts ­dieses Fallbeispiels tatsäch­lich in die Fläche vorgedrungen? Hatte er sie aufgeschlossen, nutzbar gemacht und in seinem Sinne verändert? Wie so vieles in unserer Wissenschaft hängt die Antwort von der Perspektive ab. Vieles spricht sehr wohl zugunsten dieser Annahme: Die Allgemeine Wehrpflicht, und gründete sie auf einer noch so merkwürdigen Musterung, brachte eine einzigartige, weitgehend landesweit funk­tionierende, jähr­lich verläss­lich aktualisierte Auskunftei zu solch wichtigen Fragen hervor, wie zu jenen des allgemeinen Volksbildungsstandes, zu regional oder saisonal auftretenden Krankheitswellen, auch zu den phy­sischen und psychischen Disposi­ tionen der so heterogenen Reichsbevölkerung, festgemacht an einem über Jahrzehnte immer gleichen Untersuchungskorpus, den 20-jährigen Rekruten. In gewisser Weise übernahm die Armee wichtige Funk­tionen eines landesweit agierenden Gesundheitsamtes: Nur hier in den Kasernen wurde in immer

15 V. Nikol’skij: Materialy k voprosu o smertnosti sredi nižnich činov russkoj armii (Materialien zur Frage der Mortalität unter den Mannschaftsdienstgraden der rus­sischen Armee), Sankt Petersburg 1908.

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wiederkehrenden Zyklen (und ohne ernstzunehmenden Protest der Betroffenen) vorbeugend geimpft und systematisch über den Gesundheitszustand jedes Soldaten individuell Buch geführt. Für die rus­sische Statistik, verstanden als die Erkenntnis dessen, was das eigene Land recht eigent­lich sei, war die modernisierte Armee ein unverzichtbar wertvolles Vehikel. Die reformierte Armee übernahm jahrzehntelang auch wichtige Funk­tionen in der Alphabetisierung der eingezogenen Massen, entwarf und praktizierte Lese- und Schreibunterricht und sorgte für die Kolportage von Lesestoff zur Formung der jungen Männer. Auf diese Weise trug sie ohne Zweifel zur Verbreitung grundlegender Kulturfertigkeiten bei, die die Männer nach Ende ihres Dienstes in das zivile Leben mitnahmen. Es existierte im ganzen Reich kein größerer Apparat, der diese Veränderungen ebenso unerbitt­lich wie kontinuier­ lich erzwang und damit seinen Beitrag zur Modernisierung des größten Landes der Welt leistete.16 Selbst an der über Jahrzehnte im Kern nicht angetasteten, eigenwilligen Musterung kommt der positive Befund, der das Vordringen in die Fläche bestätigt, nicht vorbei. Bei aller noch so merkwürdigen Schwäche, die die staat­liche Seite im oben beschriebenen Aushandlungsprozess kennzeichnete, hatte die Staatsmacht doch wichtige Posi­tionen auf den Dörfern markiert: Wo vor der Reform die ungebremste Willkür von Gutsherren und Dorfgemeinschaften geherrscht hatte, etablierte die neue Musterungsordnung ein zweifellos eigenwilliges, aber landesweit verbind­liches Maß an Mitsprache, Berechenbarkeit und Kontrolle. Das alte Schreckbild der vielfach nur zur Strafe eingesetzten Rekrutierung wurde von sorgsam konzipierten Gegenkräften konterkariert, von denen die prinzipielle Öffent­lichkeit des Verfahrens gewiss eine der wirksamsten war. Spricht diese Feststellung für die These des Vordringens des Staates in die Fläche, so ist ihr allerdings auch manches entgegenzuhalten. Erstens: Kein einziger Staat im Europa der Jahrhundertwende mobilisierte einen so geringen Prozentsatz seiner Jahr für Jahr zur Verfügung stehenden Personalressource wie das Rus­sische Reich. Frankreich zum Beispiel berief im Stichjahr 1896 78 Prozent aller jungen Männer im gestellungspflichtigen Alter zum Wehrdienst ein, in Deutschland traf 51 Prozent eines Jahrgangs ­dieses Los, in Russland hingegen waren es nur 29 Prozent.17 In keinem vergleichbaren 16 W. Benecke, a. a. O., S.176 ff.; S. N. Ljutov: Kniga v russkoj armii (konec XVII-nacalo XX veka(Das Buch in der rus­sischen Armee (Ende des 17. bis Anfang des 20. Jahrhunderts), Novosibirsk 2001. 17 Rossijskij Gosudarstvennyj Voenno-­Istoričeskij Archiv (Rus­sisches Staat­liches Militärgeschicht­liches Archiv) fond 401/opis’ 5/delo 513/19.

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e­ uro­päischen Land war es also derart wahrschein­lich, dem Wehrdienst auf völlig legale Weise zu entkommen, wie im Zarenreich. Im Lichte dieser Zahlen war das Vordringen der (militärischen) Staatsmacht auf das Land gerade kein Projekt, das mit Hochdruck vollzogen wurde. Zweitens ist die geographische Dimension der rus­sischen Wehrpflicht zu beachten: Überzeugt davon, dass die größte militärische Bedrohung für das Zarenreich aus Deutschland und Österreich-­Ungarn herrührte, konzentrierte das rus­sische Militär seine Hauptmacht in den west­lichen, an die Mittelmächte angrenzenden Wehr­bezirken. Während Regionen wie das ehemalige Kongresspolen und der Bezirk Kiev weit überdurchschnitt­lich stark vom dort sta­tionierten Militär geprägt, bisweilen absurd überlastet waren, gab es weite Zonen des mittleren Russland und der öst­lichen Peripherie, in denen Soldaten nur höchst selten anzutreffen waren. An der Wolga brauchte man sich nicht auf die Verteidigung des Vaterlandes vorzubereiten. Wenn also der Staat in die Fläche vordrang, so tat er es im hier beschriebenen Beispiel in einer sehr punktuellen Weise, deren Prägekraft nicht überschätzt werden darf. Drittens gilt zu beachten, dass die Staatsmacht Jahr für Jahr sehenden Auges den Zustrom offensicht­lich untaug­licher Rekruten in einem europaweit einzigartigen Übermaß akzeptierte und, jeder klar dokumentierten Einsicht zum Trotz, die Überordnung eines vor allem zivil motivierten Interessensausgleiches über die als notwendig erkannte militärische Professionalität praktizierte. Diese Dominanz des Zivilen über das Militärische war letzt­lich das wichtigste Charakteristikum der Allgemeinen Wehrpflicht in Russland. Sie hatte ihren Preis. Die militärischen Katastrophen der Jahre 1905 und 1914 bis 1917 ließen sich nicht zuletzt hieraus erklären.

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Der Staat und seine „Neubürger“: Territoriale Erweiterung und muslimische Minderheiten in Griechenland im 19. Jahrhundert Griechenland gehört zu denjenigen Staaten Südosteuropas, deren Na­tions- und Staatsgründungen in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts fallen, die aber zu eben ­diesem Zeitpunkt nur über einen kleinen Teil des heutigen Staatsgebietes verfügten. Erst im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts konnte Griechenland sein Herrschaftsterritorium sukzessive erweitern. So bestand das Griechische Königreich bei seiner Gründung 1830 ledig­lich aus der Halbinsel Peloponnes, Teilen Mittelgriechenlands mit der Region Attika und der späteren Hauptstadt Athen und einigen ägäischen Inseln. Erst 1864 kamen die Ionischen Inseln, 1881 Arta und Thessalien, nach den Balkankriegen 1912/13 Mazedonien und Teile Thrakiens im Norden und die Insel Kreta dazu, die Inseln der Dodekanes wurden Griechenland erst nach dem Zweiten Weltkrieg angegliedert.1 Dass diese Übernahmeprozesse, die territoriale Ausweitung der neuen zentralen Staatsgewalt und der damit verbundene politische Herrschaftswechsel in den wenigsten Fällen reibungslos vonstatten gingen, findet insbesondere in der griechischsprachigen, na­tionalkonservativen Forschung kaum Beachtung.2 Hier hält sich – im Sinne einer teleolo­gisch ausgerichteten Meistererzählung der griechischen Na­tion – die Annahme einer durchweg unproblematischen Eingliederung solcher Gebiete und ihrer Bewohner unter die staat­liche Zentralgewalt. Auch aufgrund fehlender Mikro- und Lokalstudien ist weniger von politischen Aushandlungsprozessen ­zwischen Agenten der Staatsgewalt und Vertretern der jeweiligen lokalen Gesellschaften in politischen Transforma­tionsperioden als vielmehr von einer

1 Zur Einführung siehe Richard Clogg: Geschichte Griechenlands im 19. und 20. Jahrhundert. Ein Abriß, Köln 1997 sowie immer noch Douglas Dakin: The Unifica­tion of Greece, London 1972. 2 Vgl hierzu die Ausführungen von Helga Schnabel-­Schüle; Herrschaftswechsel – zum Potential einer Forschungskategorie, in: Helga Schnabel-­Schüle/Andreas Gestrich (Hg.): Fremde Herrscher – fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechsel in Europa, S. 5 – 20 sowie aus vergleichender südosteuro­päischer Perspektive: Alina Mungiu-­Pippidi/Wim Van Meurs (Hg.): Ottomans into Europeans. State and Institu­tion Building in South-­East Europe, London 2010.

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reibungslosen Installa­tion staat­licher Organe und Verwaltungsinstitu­tionen nach dem Übergang von der osmanischen zur griechischen Herrschaft die Rede. An einer solchen Interpreta­tion bestehen jedoch begründete Zweifel. Dies zeigt auch das folgende Beispiel der territorialen Erweiterung Griechenlands um die Regionen Arta und Thessalien in Mittelgriechenland, die mit dem Vertrag von Konstantinopel im Mai 1881 an das Griechische Königreich angeschlossen wurden und die im Fokus dieser Untersuchung stehen.3 Untersuchungen zum griechischen Na­tions- und Staatsbildungsprozess im 19. Jahrhundert konzentrieren sich in der Regel auf die christ­lichen, orthodoxen, mehrheit­lich griechischsprachigen Akteure. Die Organe der neuen Ordnungsmacht trafen jedoch beim Aufbau staat­licher Institu­tionen in der Regel nicht nur auf homogene „griechische“ lokale Herrschaftseliten. Denn bei nahezu allen Gebietserweiterungen übernahm das Griechische Königreich Territorien, die keineswegs über eine einheit­liche Bevölkerung in Bezug auf die ethnische, religiöse oder sprach­liche Zugehörigkeit verfügten. In der Regel setzten sich die Bewohner aus unterschied­lichen religiösen, ethnischen und/ oder sprach­lichen Bevölkerungsgruppen zusammen, auch wenn die christ­ lichen, griechischsprachigen Bewohner in der Regel die relativen Mehrheiten in den anzugliedernden Territorien stellten. Dass diesen als „nichtgriechisch“ wahrgenommenen Bevölkerungsgruppen – wenn sie nicht vertrieben wurden oder abwanderten – seitens des Staates ebenso begegnet werden musste wie der griechischen Mehrheitsbevölkerung, dass sie inkludiert oder exkludiert, in jedem Fall aber ein Umgang mit ihnen gefunden werden musste, steht außer Frage. Schließ­lich waren all diese Menschen Teil der lokalen Gesellschaften und gehörten in vielen Fällen zudem den lokalen wirtschaft­lichen Eliten an. Wenn in d ­ iesem Beitrag das Vorrücken des Staates in die Fläche im 19. Jahrhundert am Beispiel Griechenlands diskutiert wird, so soll also das Augenmerk auf jenen Bevölkerungsgruppen liegen, die aufgrund ihrer religiösen, ethnischen und sprach­lichen Zugehörigkeit nicht automatisch zu den neuen griechischen Staatsbürgern gezählt wurden. Als Beispiel für eine s­ olche Bevölkerungsgruppe wurden die Muslime Artas und Thessaliens gewählt, die – grob gefasst – alle der oben angegebenen Kriterien erfüllen und die im Fokus dieser Untersuchung stehen. Dem liegen folgende Überlegungen zugrunde: Die Einwohnerschaft der zu integrierenden Gebiete Arta und Thessalien bestand zum Zeitpunkt der Angliederung im Frühsommer 1881 aus etwa zehn Prozent nichtchrist­lichen

3 Siehe dazu auch Nicole Immig: Zwischen Partizipa­tion und Emigra­tion. Muslime in Griechenland 1878 – 1897, Wiesbaden 2015.

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Bewohnern, davon war der größte Teil Muslime, und einem geringeren Anteil von etwa einem Prozent Juden.4 Die Muslime stellten also eine bedeutsame nichtchrist­liche, nichtgriechische Bevölkerungsminderheit dar, die zudem über einen erheb­lichen Anteil an Grund und Boden in Form von Großgrundbesitz verfügte. Damit gehörten Muslime zur lokalen wirtschaft­lichen Elite der Region und müssen bei der Analyse von politischen und sozioökonomischen Entwicklungen in der Region einbezogen werden, da sie wichtige Einblicke in politische und gesellschaft­liche Übernahme- und Transforma­tionsprozesse liefern können. Folgende Fragen sollen im Mittelpunkt ­dieses Beitrages stehen: Wie reagierte der griechische Staat auf die nichtchrist­lichen Neubürger? Wie und wo begegneten sich griechischer Staat und muslimische Bevölkerung nach dem Herrschaftswechsel? Welche Mög­lichkeiten der Teilhabe an politischen und gesellschaft­lichen Prozessen gab es für Muslime? Welche Formen der Koopera­tion existierten ­zwischen Vertretern der zentralen Staatsgewalt und den Muslimen in der lokalen und regionalen Verwaltung?

1. Der Vertrag von Konstantinopel 1881 Im Rahmen des Berliner Kongresses forderten die euro­päischen Großmächte das Griechische Königreich und das Osmanische Reich dazu auf, sich über die im Vorfeld des Kongresses entstandene Grenzfrage zu einigen. Griechenland hatte zwar im Rahmen der rus­sisch-­serbischen Auseinandersetzungen der Jahre 1876 bis 1878 im Januar 1878 griechische Truppen in das osmanisch-­griechische Grenzgebiet geordert und aktiv in das Kampfgeschehen eingegriffen, nach Auffassung der Großmächte aber nicht aktiv am Krieg teilgenommen.5 Auf Drängen 4 Vgl. Michel Sivignon: La Théssalie. Analyse géographique d’une province grecque, Lyon 1975, S. 120 ff.; Angeliki Sfika-­Theodosiou: Η προσάρτηση της Θεσσαλίας. Η πρώτη φάση στην ενσωμάτωση μίας ελληνικής επαρχίας στο Ελληνικό Κράτος (1878 – 1885) (Der Anschluss Thessaliens. Die erste Phase der Angliederung einer griechischen Provinz an den griechischen Staat), Thessaloniki 1989, S. 80 ff. 5 Zu den Entwicklungen im serbisch-­rus­sischen Krieg als Teil der „Orientfrage“ vgl. zusammenfassend immer noch Matthew S. Anderson: The Eastern Ques­tion, 1774 – 1923. A Study in Interna­tional Rela­tions, London 1966 sowie W. N. Medlicott: The Congress of Berlin and After. A Diplomatic History of the Near Eastern Settlement 1878 – 1880, London 1963. Aus griechischer Sicht vgl. Domna Dontas: Greece and the Great Powers, Thessaloniki 1966, S. 121 ff. sowie Evangelos Kofos: Πολιτικοστρατιωτικές επαναστατικές προετοιμασίες στη διετία 1876 – 1878 (Politisch-­militärische Vorbereitungen zur Revolu­ tion in den Jahren 1876 – 1878), in: Balkanika Symmeikta 3 (1989), S. 99 – 127, 105 ff.

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der britischen und franzö­sischen Regierung hatte die griechische Vertretung nach dem Einmarsch in Thessalien jedoch gegen den Abzug ihrer Truppen die Forderung durchsetzen können, die griechischen territorialen Ansprüche auf osmanisches Gebiet auf dem Kongress darzulegen.6 Diese schlossen Thessalien und Epirus auch Mazedonien und Kreta mit ein. Die Großmächte machten der Delega­tion jedoch keinerlei Zusagen bezüg­lich der griechischen Forderungen, sondern sprachen ledig­lich eine Empfehlung zur Regelung der thessa­lischen Frage aus, ohne aber in der griechisch-­osmanischen Territorialfrage Posi­tion zu beziehen. Nach langwierigen Verhandlungen z­ wischen Vertretern Griechenlands und des Osmanischen Reiches kam es schließ­lich am 24. Mai 1881 über die Vermittlung der Großmächte zu einer Einigung der beiden Staaten im Vertrag von Konstantinopel.7 Der Vertrag sah eine Vergrößerung des griechischen Staatsgebietes um 13.395 Quadratkilometer vor und beschloss die Abtretung ganz Thessaliens sowie der Stadt Arta im Epirus an das Griechische Königreich.8 Damit fielen auch die thessa­lischen Städte Larisa (türkisch Yenişehir/Yenişehr-­ı Fenar), Trikala (türkisch Tĭrhala/Terhala), Karditsa (türkisch Kardice), Farsala (türkisch Çatalca), Tyrnavos (türkisch Tĭrnova), Velestino (türkisch Velesin), Sykourio (türkisch Keşerli/Keşerlu), Domokos (türkisch Dömeke/Dömeki), Fanari (türkisch Fenar),

6 Hinsicht­lich der genauen Abfolge der Verhandlungen vgl. Roderic Davison: The Frontier Ottoman-­Greek Frontier Ques­tion, 1876 – 1882, from Ottoman Records, in: ­Praktika, Volos, S. 185 – 205; 197 – 198 sowie Anne Couderc: État, na­tions et territoires dans les Balkans au XIXe siècle. Histoire de la première frontière gréco-­ottomane 1827 – 1881 (= unveröffent­lichte Disserta­tion) Paris 2000. 7 Die Posi­tionen der Großmächte und deren politische Einflussnahme – besonders Großbritanniens und Frankreichs – auf die Verhandlungen sind von der diplomatiegeschicht­ lichen Forschung ausgiebig untersucht worden. Vgl. dazu Kofos, Greece, S. 16 – 18 sowie Sfika-­Theodosiou, Parartisi, S. 5 – 8. 8 Der Vertrag wird auch häufig als Konven­tion von Konstantinopel bezeichnet und kann in zahlreichen Dokumenten nachgelesen werden. Exemplarisch sei hier nur auf zwei franzö­sische Fassungen sowie die griechische Version verwiesen: Conven­tion du Constantinople du 24 Mai 1881 ­zwischen Großbritannien, Deutschland, Italien, Russland und dem Osmanischen Reich, in: Ministère des Affaires Étrangères. Documents diplomatiques, Affaires de Grèce 2, 1880 – 1881, Paris 1881, S. 131 ff. sowie in unter dem Titel Conven­tion du 24 Mai sur la délimina­tion des fontières Turco-­greques, in: G. Noradounghian: Recueil d’actes interna­tionaux, Bd. 4, Paris 1897, 292 ff. Eine offizielle griechische Übersetzung befindet sich in ΦEK (Φύλλα Εφημερίς της Κυβερνήσεως/ Regierungsblätter) 14 vom 13. März 1882, S. 59 – 62. Abdruck bei Sfika-­Theodosiou, ­Parartisi, Anhang (Parartima), S. 239 – 244.

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Karte 1 

Angegliedertes Territorium nach dem Vertrag von Konstantinopel 1881. Abbildungsnachweis: von der Autorin erstellt.

Agia (türkisch Yenice/Yenice-­ı Rum) und die Hafenstadt Volos (türkisch Kuluz) an Griechenland. Im Epirus hingegen hatten sich die beiden Staaten nur auf die Abtretung der Stadt Arta (türkisch Nardar/Nartar) geeinigt. Der Rest des Epirus, darunter auch die Städte Ioannina (türkisch Yanya, albanisch Janinë/a) und Preveza (türkisch Preveze, albanisch Prevezë/a) mit ihren großen albanischsprachigen Bevölkerungsanteilen, verblieb bei der Pforte.9 Zudem wurden der Verlauf der neuen Grenzlinie sowie der genaue Ablauf der Evakuierung durch osmanische Truppen und der Übernahme durch griechisches Militär und Verwaltung unter der Überwachung einer interna­tionalen Kommission von Vertretern der euro­päischen Großmächte festgeschrieben.10

9 Da die Untersuchung hauptsäch­lich auf griechischsprachigen Quellen basiert, werden hier die griechischen transkribierten Städtenamen verwendet. 10 Artikel 1, 15, 16 sowie Anhang Artikel 2 und Artikel 3. Alle Artikelangaben beziehen sich auf den Abdruck der griechischen Vertragsversion bei Sfika-­Theodosiou, P ­ rosartisi, S.  239 – 244.

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Die wichtigsten Städte und Siedlungen in der angegliederten Region. Abbildungsnachweis: von der Autorin erstellt.

Die muslimische Bevölkerung Artas und Thessaliens lebte zum Zeitpunkt der Übernahme der Region überwiegend in den urbanen Zentren der Region, insbesondere in der „Hauptstadt“ Thessaliens, in Larisa. Die Angaben zur Gesamtbevölkerung Thessaliens in den Jahren vor der griechischen Übernahme bewegen sich ­zwischen 350.000 und 400.000 Personen. Der größte Teil davon waren Christen. Je nach Schätzung schwanken die Zahlen der christ­lichen Bevölkerung z­ wischen 300.000 bis 350.000 Personen, während von etwa 40.000 bis zu 70.000 Muslimen sowie von 3000 bis 6000 Juden auszugehen ist.11 Im Gegensatz zu der in der allgemeinen Forschung akzeptierten Annahme, dass die Muslime aus Arta und Thessalien noch kurz vor oder aber direkt nach der Evakuierung der Region durch osmanische Truppen sowie Verwaltung und der militärischen sowie verwaltungstechnischen Übernahme der Region durch 11 Sivignon, Thessalie, S. 123 ff. Hier muss auf die Schwierigkeiten quantitativer Erhebungen und Angaben, unabhängig von deren Herkunft, hingewiesen werden. Auch wenn man davon ausgehen kann, dass offizielle Statistiken und Erhebungen auf der Basis einer offiziellen systematischen Zählung oder eines aktuellen Zensus erstellt wurden, sind die meisten Erhebungen des 19. und 20. Jahrhunderts als unzuverlässig oder/und problematisch einzuschätzen, weil häufig unterschied­liche Kriterien zur Bestimmung und Einteilung einer Bevölkerung angewandt wurden. Dahinter verbergen sich teils politische Motive wie bei der Zählung von Minderheitsbevölkerungen, aber auch praktische Gründe. Vgl. McCarthy, Popula­tion History, The Popula­tion of Ottoman Europe before and after the Fall of the Empire, 114 – 119, 136 sowie Halil Inalçik/Şevket Pamuk (Hg.): Osmanlı Devleti’nde Bilgi ve İstatistik (Data and Statistics on the Ottoman Empire), Ankara 2000; Kemal Karpat: Ottoman Popula­tion 1830 – 1914. Demographic and Social Characteristics, Wisconsin 1985, S. 27 – 28.

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den griechischen Staat emigrierten bzw. vertrieben wurden, deuten die Quellen jedoch zunächst auf einen Verbleib zahlreicher Muslime hin. Was die ethnische Identität dieser Muslime betrifft, so lassen sich hier nur schwer zuverlässige Aussagen treffen, auch wenn zumindest die ältere türkischsprachige Forschung in der Regel von Muslimen türkischer Ethnizität ausgeht.12 Dies ist zumindest im Falle von Arta und Thessalien jedoch mit einem Blick insbesondere in die erhaltenen Verwaltungsquellen der Region zu relativieren.13 Viel mehr spricht für die Annahme, dass es sich hier um türkisch- und albanischsprachige Muslime handelt, die wohl in der Regel mehrsprachig waren und zumindest über griechische Sprach- und in einigen Fällen auch über Lese- und Schreibkenntnisse verfügten.14 Da die religiöse Zugehörigkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer noch das bestimmende Unterscheidungsmerkmal darstellt, wird hier der Begriff „Muslime“ als Arbeitsbegriff beibehalten.15

12 So auch Karpat, Ottoman Popula­tion sowie Bilâl Şimşir: Rumeli’den Türk Göçleri (Türkische Emigra­tion aus Rumelien), 3 Bde., Ankara 1968 – 70. Ähn­lich die aus Anlass zum 70-jährigen Jahrestag der Gründung der Türkischen Republik erschienenen Veröffent­ lichungen von Nedim İpek: Rumeli’den Anadolu’ya Türk göçleri (1877 – 1890) (Türkische Emigra­tion vom Balkan nach Anatolien), Ankara 1994 und Ahmet Halaçoğlu: Balkan harbi sırasında Rumeli’den Türk göçleri (1912 – 1913) (Türkische Migra­tion während der Balkankriege), Ankara 1994. Beide Abhandlungen befassen sich schwerpunktmäßig mit der Ansiedlung der Muslime im Osmanischen Reich bzw. in der Türkei. 13 Die meisten zeitgenös­sischen Quellen nehmen keine Unterscheidung hinsicht­lich der ethnischen Kriterien vor, sondern subsumieren die Nichtchristen unter den Begriffen μουσουλμάνοι (mousoulmanoi) oder μοαμμεδανόι (moammedanoi), seltener auch τόυρκοι (tourkoi). Dies gilt sowohl für die konsularischen Akten der griechischen Vertretung, der euro­päischen Großmächte sowie für herangezogene Notariatsdokumente und die griechischsprachige Tages- und Wochenpresse. Sicher­lich bestand die muslimische Bevölkerung im südosteuro­päischen Raum aus unterschied­lichen ethnischen Gruppen wie Türken, Albanern, Tscherkessen, Koniaren, Jürüken und Roma. Vgl. dazu Alexandre Popvic: L’Islam Balkanique. Les Musulmanes du sudest-­européenne dans la période post-­ottoman (= Balkanolo­gische Veröffent­lichungen 11), Berlin 1986; Alexandre Tourmakine: Les migra­tions des popula­tiones musulmanes balkaniques en Anatolie (1878 – 1913), Istanbul 1995 (= Cahiers du Bosphore 13). 14 Vgl. die in den griechischen Lokalarchiven erhaltenen Verträge, in denen die Schreibund Lesekenntnisse des Griechischen vermerkt werden. Beachtenswert sind auch die Unterschriften von Muslimen in griechischen Lettern. GAK (Γενικά Αρχεία του Κράτους/ Allgemeine Staatsarchive) Trikala (Trik.), Archiv Agiopsychos (Nr. 672); GAK Trik., Archiv Agiopsychos (Nr. 9441); GAK Larisa (Lar.), Archiv Ioannidis (Nr. 862). 15 Quellenuntersuchungen zeigen, dass die Bezeichnung „Muslime“ für all diejenigen Bewohner verwendet wurde, die sich aufgrund ihres religiösen Bekenntnisses zum Islam von

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Für die muslimische Bevölkerung der Region waren im Vertrag von Konstantinopel diejenigen Artikel entscheidend, die sich auf den recht­lichen Status der Bewohner der „neuen Länder“ bezogen und die allen Einwohnern der anzugliedernden Provinzen den Schutz der Person, der Ehre, der Religion und der Religionspraxis sowie alle zivilen und politischen Rechte zusicherten.16 Im Gegensatz zu vorherigen Gebietsabtretungen des Osmanischen Reiches an Griechenland wie etwa bei der Staatsgründung 1830 garantierte Art. 4 des Vertrages zudem die Gültigkeit aller Besitztitel auch nach der Übernahme der Provinzen durch den griechischen Staat und der Eingliederung in das griechische Verwaltungssystem und garantierte damit die vollständige Erhaltung der Besitzverhältnisse.17 Die Tatsache, dass im Vertrag von Konstantinopel auch für die „osmanische“ Bevölkerung Garantien zur Sicherheit der Person, des Eigentums und zur freien Religionsausübung festgelegt wurden, entsprach dem allgemeinen politischen Klima des Berliner Kongresses. Dort waren in Einzelverträgen mit den am Kongress beteiligten südosteuro­päischen Staaten bereits weitreichende Garantien für religiöse Minderheiten verabredet worden, die auch darauf abzielten, eine Abwanderung der Muslime zu verhindern.18 den christ­lichen Bewohnern der Provinzen – und damit der Mehrheitsbevölkerung unterschieden. Vgl. M. Todorova: The Ottoman legacy in the Balkans, in: Carl Brown (Hg.): Imperial Legacy. The Ottoman Imprint in the Balkans and the Middle East, New York 1995, S. 45 – 77, 68. Ähn­lich McCarthy, der davon ausgeht, dass Muslime insbesondere durch ihre Zugehörigkeit zum Islam als eine Gruppe zu betrachten sind. McCarthy, Death, S. 3. Zur Bedeutung der Unterscheidungsmerkmale in osmanischer Zeit vgl. Suraiya Faroqhi: Kultur und Alltag im Osmanischen Reich. Vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert, München 1995, S. 51 – 52 sowie Karpat, The Civil Rights of the Muslims in the Balkans, in: Kemal ­Karpat (Hg.): Studies on Ottoman Social and Political History. Selected Articles and Essays, Leiden 2002 (= Social, economic and political studies of the Middle East 81), S. 523 – 543, 527. 16 Artikel 3, 4, 6, 8, 11, 13. Der Vertrag sah außerdem Entschädigungszahlungen für sogenannte na­tionale Güter (εθνικές γαίες) vor. Dabei handelte es sich um Güter, die Eigentum des osmanischen Staates waren und damit dem Sultan gehörten und in der Regel von religiösen Stiftungen (Vakuf) verwaltet wurden. Hering, Die Politischen Parteien Griechenlands, Bd. 1, München 1992, S. 533 – 534. Zur Bedeutung der unterschied­lichen Besitztitel im osmanischen Kontext vgl. William McGrew: Land and Revolu­tion in Modern Greece, 1800 – 1881. The Transi­tion in the Tenure and Exploita­tion of Land from Ottoman Rule to Independence, Kent 1985, S. 24 – 32. 17 Art. 4. Zur juristischen Tragweite des Artikels vgl. die angeführten Punkte bei G. Nakos: Το νομικό καθεστώς των εθνικών γάιων 1821 – 1912 (Der recht­liche Status der Na­tionalen Ländereien), Thessaloniki 1984, S. 243 ff. 18 Vgl. hierzu Karpat, Civil Rights, S. 529 sowie Holm Sundhaussen: Unerwünschte Staatsbürger. Grundzüge des Staatsangehörigkeitsrechts in den Balkanländern und Rumänien,

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2. Die Muslime und die griechische Zentralgewalt nach dem Herrschaftswechsel Bereits kurz nach der Unterzeichnung des Vertrages, aber noch vor der tatsäch­ lichen Übernahme Artas und Thessaliens durch griechische Militärs und Verwaltungsorgane, die erst im Spätsommer 1881 abschnittsweise und unter der Überwachung einer interna­tionalen Kommission durchgeführt werden sollte, kam es zu Kontakten z­ wischen der neuen griechischen Ordnungsmacht und Vertretern der muslimischen Bevölkerung. In den Augen vieler Muslime forderte die neue politische Konstella­tion ein neues, gemeinsames Vorgehen, da ein Herrschaftswechsel die politische Situa­tion für alle grundlegend veränderte. Nach Bekanntwerden der Annahme des Vertrages durch Konstantinopel trafen sich die angesehensten Türken der Region, darunter Großgrundbesitzer, aber auch Angehörige der muslimischen Geist­lichkeit in Larisa, der Stadt mit dem höchsten muslimischen Bevölkerungsanteil in Thessalien, um das weitere Vorgehen zu beraten. Wie ein Artikel der Athener Zeitung Palingenisia vermeldete, sprachen sich die versammelten Beys entschieden gegen eine Emigra­tion aus. Handlungsbedarf sah das Gremium insbesondere in Bezug auf die rest­liche muslimische Bevölkerung Thessa­ liens, um diese von einer Emigra­tion abzubringen.19 Dazu begaben sich die einzelnen Beys und Muftis selbst in die unterschied­lichen muslimischen Gemeinden in Thessalien, um diese von einem Verbleib in der Region und damit auch von einer Zukunft im griechischen Staat zu überzeugen.20 Die griechische Presse meldete, zahlreiche muslimische Beys und Großgrundbesitzer hätten bereits vor dem Eintreffen der griechischen Truppen erklärt, Thessalien und teilweise auch Arta trotz der schwierigen Sicherheitslage nicht zu verlassen. Offensicht­lich hegten sie die Hoffnung, dass eine Übernahme der Region durch die griechischen Behörden und die Verwaltung eine Verbesserung der Sicherheitslage zur Folge habe, was der Wirtschaft der Region und damit auch den Muslimen selbst zugutekomme. Diese Vermutung lassen zumindest die Äußerungen der „osmanischen und albanischen Großgrundbesitzer“ aus Thessalien und Ioannina zu, die sich Mitte Juli zu einem Besuch des griechischen Königs Georg I. und der Regierung Koumoundouros nach in: Christoph Conrad/Jürgen Kocka (Hg.): Staatsbürgerschaft in Europa. Historische Erfahrungen und aktuelle Debatten, Hamburg 2001, S. 193 – 215, 201. 19 Diese Haltung wird auch durch Berichte des britischen Vizekonsuls Longworth bestätigt. Foreign Office (FO) (1881) 286 342, Longworth an Plunkett, Larisa, 15. Juni 1881. 20 Palingenisia, 27. Mai 1881 sowie vom 4. Juni 1881.

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Athen begaben.21 Auch die Palingenisia berichtete, unter den Gesandten aus Karditsa ­seien die bekannten Beys Osman Bey und Ali Sami Bey nach Athen gekommen, „um sich selbst von der Integrität der griechischen Regierung zu überzeugen“. Nach einer Besichtigungstour in Athen mit Vertretern der Regierung habe man sich dem König vorgestellt. Überzeugt von der Tatsache, dass alle ihnen garantierten Sicherheiten eingehalten würden, kehre man nach Karditsa zurück, „um dort allen Osmanen zu versichern, dass man seitens der griechischen Regierung nichts zu befürchten habe, sondern in Ruhe und Frieden leben könne“.22 Daneben hielt es auch die griechische Führung ihrerseits für nötig, die muslimischen Bevölkerungsteile auf einen Herrschaftswechsel vorzubereiten. Hauptmotiv einer solchen Politik war dabei wohl die Befürchtung, viele Muslime Artas und Thessaliens könnten sich dem Abzug der osmanischen Truppen anschließen oder die Region kurz nach der Übernahme verlassen.23 Mittels einer intensiven Informa­tionsarbeit unter der muslimischen Bevölkerung zumindest in Thessalien versuchte die griechische Regierung, einer mög­lichen Emigra­ tion der thessa­lischen Muslime entgegenzuwirken. Zu d ­ iesem Zweck wurden griechische Agenten in die Gemeinden entsandt, die die Muslime über ihre Rechte aus dem Vertrag von Konstantinopel informieren sollten.24 Derartige Maßnahmen wurden bisher in der Forschung nicht zur Kenntnis genommen. Ein Beispiel aus Volos zeigt aber, dass die griechische Regierung hier mit den

21 Aion, 17. Juli 1881. 22 Palingenisia, 10. Juli 1881. 23 Ein Großteil der Forschung geht davon aus, dass die meisten Muslime die Region bereits vor, spätestens aber mit dem Einmarsch der griechischen Truppen im Sommer 1881 verließen oder aber nach der Übernahme der Region über unterschied­liche Modi politischer oder gesellschaft­licher Art gezwungen wurden zu emigrieren. Forschungen im Rahmen meiner Doktorarbeit weisen jedoch daraufhin, dass ein Großteil der Muslime zunächst in Thessalien verblieb bzw. nur vorläufig emigrierte, um nach der Übernahme wieder zurückzukehren. Vgl. Sivignon, Thessalie, S. 27; IEE, Bd. 13, S. 399; Thessalika Chronika 19, Athen 1935, S. 250, 367. In der Regel wird die Emigra­tion der Muslime aus Arta und Thessalien in einem breiteren Kontext der Emigra­tion der Muslime aus dem Balkanraum eingeordnet. Vgl. Justin McCarthy: Death and Exile. The Ethnic Cleansing of the Ottoman Muslims.1821 – 1922, Princeton 1995; Kemal Karpat: Ottoman Popula­ tion 1830 – 1914. Demographic and Social Characteristics, Wisconsin 1985; Bilâl Şimşir: Rumeli’den Türk Göçleri (Türkische Emigra­tion aus Rumelien), 3 Bde., Ankara 1968 – 70. 24 Koumoundouros über die Entsendung griechischer Agenten nach Thessalien auf Befehl des griechischen Königs gegenüber Ford, FO (1881) 32 530, Ford an Granville, Athen, 19. Juni 1881.

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wohlhabenden und einflussreichen Muslimen in Thessalien kooperierte. So begaben sich Ende August der griechische Konsul Tziotis aus Volos zusammen mit Naim Efendi, einem einflussreichen Bey aus Almyros, in die umliegenden Dörfer der Region Almyros, um die dortigen Muslime über die veränderte politische Lage und die daraus folgenden Konsequenzen zu informieren. Man versicherte den Bewohnern, dass sie trotz der neuen politischen Situa­tion in den Genuss zahlreicher Vorteile und Privilegien kämen, darunter freier Grenz­ übertritt auch ohne den Besitz eines „Passes“, unveränderte Steuern und die Garantie freier Religionsausübung. Zugleich garantierte man eine intensive Bekämpfung des Bandenunwesens durch die griechische Regierung.25 Tatsäch­lich scheint aber unter den länd­lichen muslimischen Bevölkerungsteilen nur wenig über den Inhalt des Vertrages sowie dessen Folgen für die Muslime in Arta und Thessalien bekannt gewesen zu sein. Denn der Vorwurf, die Muslime würden in erster Linie die Region aus Unwissenheit verlassen, wurde im Rahmen späterer Emigra­tionen zu Ende des Jahres fast gebetsmühlenartig von der griechischen Presse wiederholt.26 Ungewiss ist jedoch, ob die Entsendung griechischer Agenten, die den Muslimen versichern sollten, dass sie unter der griechischen Regierung nichts zu befürchten hätten, überall den gewünschten Erfolg erzielte, wenn keine muslimischen Vertreter wie im oben genannten Beispiel zugegen waren. Was die länd­liche muslimische Bevölkerung angeht, ist die Wirksamkeit eines solchen Vorgehens zumindest stark anzu­ zweifeln. Ob die von der griechischen Regierung entsandten Agenten jedoch überhaupt Zugang zu ­diesem Teil der muslimischen Bevölkerung hatten, und wenn ja, wie und in welcher Sprache Informa­tionen vermittelt wurden, ist allerdings frag­lich. Gleiches gilt für die Arbeit der griechischen Konsuln vor Ort, die die im Vertrag von Konstantinopel garantierten Rechte über schrift­ liche Zusicherungen Athens in türkischer Übersetzung unter den Muslimen bekannt machen sollten.27 Schon vor der militärischen und verwaltungstechnischen Übernahme der Region hatte die griechische Regierung als eines ihrer bedeutsamsten Ziele zukünftiger Politik sowohl gegenüber euro­päischen konsularischen Vertretern wie auch in der na­tionalen Presse den Verbleib der Muslime in der anzugliedernden Region benannt. Um einer Emigra­tion der Muslime Artas und Thessaliens 25 Aion, 17. September/29. September 1881. 26 Aion, 17. September/29. September 1881. 27 So auch vor der Übernahme Thessaliens Mitte Juni durch den griechischen Konsul Palamidis in Larisa. Palingenisia, 15. Juni 1881.

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vorzubeugen, erließ die griechische Regierung im Vorfeld der militärischen Übernahme strenge Maßnahmen, die eine Abwanderung der Muslime verhindern sollten und die sich direkt auf die militärische Übernahme bezogen. So wies die griechische Militärführung die Truppen an, die Abschnitte in äußerster Ruhe zu übernehmen, um keine Übergriffe oder Zusammenstöße zu provozieren und jede Provoka­tion der türkischen Seite zu missachten.28 Insbesondere in Arta befürchtete man aufgrund der vielen muslimischen ethnisch albanischen Bewohner der Stadt Auseinandersetzungen, sodass die Militärführung in allen Orten mit muslimischen Bevölkerungsanteilen auf sonst üb­liche Bekundungen zu Ehren der neuen Zentralgewalt verzichtete. In Arta erging der Befehl, die griechische Flagge auf der Festung zunächst ohne Kanonenschüsse und Militärmusik zu hissen, um die auf der anderen Seite des Flusses sta­tionierten osmanischen Soldaten nicht zu reizen.29 Auch in anderen Städten wurde die griechische Bevölkerung angemahnt, von größeren Feier­lichkeiten zumindest im Vorfeld der griechischen Truppenübernahme abzusehen und während des Einmarsches Ruhe zu bewahren, um die muslimische Bevölkerung nicht zu provozieren.30 Diesen Anordnungen wurde zwar nicht in allen Städten Folge geleistet, so dass zumindest in Larisa und in Trikala, beides Zentren mit muslimischer Einwohnerschaft, die Truppen unter großem Jubel begrüßt wurden. Im Gegensatz zu den jüdischen Gemeinden blieb die muslimische Bevölkerung in den meisten Ortschaften den Einmärschen jedoch fern. Allerdings begrüßten die muslimischen Bürgermeister die Truppen in ihrer Funk­tion als offi­zielle osmanische Amtsträger und damit als Repräsentanten der muslimischen Gemeinden. In Farsala hatte der muslimische Bürgermeister Yusuf Efendi vor der Übernahme der Stadt einen griechischen Kaufmann gebeten, griechische Fahnen zu bestellen, um für den Empfang der griechischen Truppen und der interna­tionalen Kommission vorbereitet zu sein.31 In Larisa hatte der muslimische Bürgermeister 28 Ethnikon Pnevma, 17. August 1881 sowie FO (1881) 286 342, Ford an Granville, Athen, 25. August 1881. Verbote diesbezüg­lich wurden auch von Vertretern der Interna­tionalen Kommission ausgesprochen wie vor dem Einzug in Trikala durch den italienischen Vertreter der Kommission. Palingenisia, 12. September 1881. 29 Aion, 30. Juni 1881. 30 Der Autor des Artikels berichtet über den Einmarsch der griechischen Truppen in Domokos und die Reak­tion der dort ansässigen griechischen Bevölkerung. Vgl. Spyridon K. ­Paganelis: Οι σεισμοί της Χίου Η στρατιωτική κατάληψις Άρτης και Θεσσαλίας (Die Erdbeben von Chios. Die militärische Besetzung Artas und Thessaliens), Athen 1882, S. 213. 31 Palingenisia, 3. August 1881. In Karditsa, berichtete der britische Konsul Longworth nach Konstantinopel, hätten sich die muslimischen Großgrundbesitzer ebenfalls entschlossen, notwendige Vorbereitungen für den Empfang und die Installierung der griechischen

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Hasan (Etem) Efendi dafür Sorge getragen, dass zwei der schönsten Häuser für den Empfang der griechischen Militärs und der euro­päischen Vertreter hergerichtet wurden, obwohl er von den Behörden angewiesen worden war, jeg­liche Empfangsvorbereitungen zu unterlassen.32 Nach Berichten der Presse erschienen auch die ortsansässigen muslimischen Beys der Stadt erst am Abend des Einzuges, bevor die obersten Militärs die Stadt verlassen wollten, und statteten dem obersten Befehlshaber der griechischen Truppen, Panagiotis Soutzos, einen Besuch ab, bei dem dieser ihnen nochmals den Schutz und die Sicherheit sowie die Gleichstellung aller Muslime vor dem griechischen Gesetz garantierte.33 Auch bei einem ersten Besuch des griechischen Ministerpräsidenten ­Koumoundouros und König Georgs I. nahmen Delega­tionen der muslimischen Gemeinden an den Feier­lichkeiten teil.34 In Trikala besuchte der König nach seinem Empfang erstmals die Synagoge und ­später die Moschee, wo jeweils ihm zu Ehren Reden gehalten wurden.35 In Larisa wurde Georg I. noch vor seinem Einritt in die Stadt von einer Delega­tion der einflussreichsten thessa­lischen Beys empfangen, die den König bis zum Stadttor geleiteten.36 Von hier aus wurde er unter dem Jubel der rest­lichen Bevölkerung von den Beys bis zu dem Haus Husni Beys gebracht, das mit den Ausgaben der muslimischen Gemeinde speziell für den Aufenthalt des Königs renoviert und ausgestattet worden war.37 Wie die Palingenisia meldete, richtete der König im Laufe seines Aufenthaltes einen Empfang für die anwesenden Offiziere, die muslimischen Beys und die höchsten griechischen Beamten aus.38 Während des ­Aufenthaltes fanden

Behörden zu treffen. FO (1881) 286 342, Blunt an Granville, Saloniki, 10. Juli 1881 bezugnehmend auf einen Bericht Longworth vom 5. Juli 1881. 32 Palingenisia, 3. August 1881. 33 Palingenisia, 14. September 1881. 34 Palingenisia, 9. September 1881. 35 Aus dem Bericht des königl. Gesandten Lymberakis im Ethnikon Pnevma, 2./3. Oktober 1881. 36 Abdruck der Rede des Bürgermeisters der Stadt Larisa zum Empfang Georg I. sowie dessen Antwort in der Palingenisia vom 9. Oktober 1881 sowie im Aion, 9. Oktober 1881. 37 FO (1881) 286 342, Blunt to Granville, Saloniki, 26. Oktober 1881. In gleicher Weise wurde auch Koumoundouros einen Monat ­später durch die Beys von Larisa empfangen, die diesen mit Blumenkränzen vor den Stadttoren im Empfang nahmen und ihn in die Stadt bis zum Haus von Haidar-­Effendi, einem Großgrundbesitzer der Gegend, begleiteten, in dem der Politiker auch übernachtete. FO (1881) 286 342, Longworth an Dufferin, Larisa, 12. Oktober 1881. 38 Palingenisia, 12. Oktober 1881. Wahrschein­lich ist, dass bei dem Besuch des Königs nicht nur die muslimischen Beys, sondern auch die muslimischen geist­lichen Vertreter bei

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z­ wischen den Beys und dem König ausführ­liche Gespräche statt, in denen der König wie auch s­ päter der griechische Ministerpräsident Koumoundouros den Muslimen persön­lich versicherten, die im Vertrag von Konstantinopel garantierten Rechte einzuhalten.39 Die Politik des griechischen Königs und der Regierung gegenüber der muslimischen Bevölkerung stieß bei einem Großteil der griechischen Öffent­ lichkeit auf völliges Unverständnis. Die Athener Presse warf den beiden vor, die muslimische Bevölkerung gegenüber der griechischen zu bevorzugen.40 Insbesondere die opposi­tionelle Presse vermutete überspitzt, die Reise des Ministerpräsidenten diene ledig­lich dazu, „sich mit Rabbinern, den Imamen und den ört­lichen Clanführern zu arrangieren, um sich auf diese Weise den eigenen politischen Thron zu sichern“.41 Eine s­ olche Wahrnehmung wurde in den Augen vieler einerseits durch die Auszeichnung zahlreicher muslimischer Würdenträger mit griechischen Orden, andererseits aber auch durch die unveränderte instabile Sicherheitslage verstärkt.42

3. Neue Herrscher – Neue Zeiten? Viele Thessalier hatten an den Herrschaftswechsel große Hoffnungen auf eine allgemeine Verbesserung der politischen und wirtschaft­lichen Situa­tion oder gar einen Aufschwung der gesamten Region geknüpft, die sich jedoch in den ersten Monaten kaum erfüllten. Insbesondere Presseberichte weisen darauf dem Κönig vorsprachen. Von dem Besuch des Königs in Velestino Ende November 1881 ist bekannt, dass der König im Hause des dortigen Hodschas empfangen und bewirtet wurde. Palingenisia, 24. November 1881. 39 FO (1881) 32 530, Ford an Granville, Athen, 24. Oktober 1881 sowie FO (1881) 286 342, Longworth an Dufferin, Larisa, 12. Oktober 1881. 40 Palingenisia, 15./17. Oktober 1881. 41 Palingenisia, 5. September 1881. Die Opposi­tion sah in der Unterzeichnung des Vertrages von Konstantinopel und damit auch in der Angliederung Artas und Thessaliens einen verfassungswidrigen Akt, da diese ohne eine Rücksprache mit dem Parlament erfolgt war und auch nachträg­lich dem Parlament nicht zur Abstimmung vorgelegt worden war. Ein Großteil der Abgeordneten hatte sich gegen die Unterzeichnung ausgesprochen, da die Forderung nach der Angliederung des gesamten Epirus inklusive der Stadt Ioannina nicht erfüllt wurde. Folg­lich lehnte die Opposi­tion auch die Beteiligung aller Bewohner der neuen Provinzen an den im Dezember notwendig gewordenen Parlamentswahlen ab. 42 Palingenisia, 7./14. Oktober 1881.

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hin, dass die Integra­tion der „neuen Provinzen“ erheb­liche Defizite insbesondere in den Bereichen der Jurisdik­tion und deren Implementierung sowie der Installa­tion einer neuen regionalen und lokalen Verwaltung aufwies. 3.1 Rechtssystem

Bereits kurze Zeit nach der Übernahme mokierte sich die Presse darüber, dass bisher weder die könig­lichen Gesandten in den Provinzen angekommen, geschweige denn ernannt, noch eine einzige Behörde eingesetzt worden sei oder ihren Dienst aufgenommen habe.43 Auch im Aion mahnte ein Autor aus Thessalien in einem mehrseitigen Leserbrief an, dass sich mit dem ersehnten Herrschaftswechsel in den Provinzen nur wenig verändert habe. Sei man noch vor der Übernahme in dem Glauben gewesen, nach der Befreiung werde in den Provinzen das griechische Rechts- und Verwaltungssystem eingeführt, so müsse man nun feststellen, dass sich die griechische Regierungs- und Verwaltungspraxis von der osmanischen kaum unterscheide. Während früher ein Rundschreiben des Wesirs nur die einzelnen Verwaltungsinstanzen über ein neues Gesetz oder eine Verordnung informiert habe, ohne die Bevölkerung vom Inhalt der Verordnung in Kenntnis zu setzen, unterscheide sich die derzeitige Regierungspraxis Koumoundouros’ nur wenig vom früheren Herrschaftssystem. Denn jetzt werde die Region unter fünf Nomarchen und vier Eparchen aufgeteilt, „die schalteten und walteten, ohne dass die Bevölkerung auch nur die geringste Ahnung von dem Inhalt der Verordnungen habe“.44 Mit den eben angeführten Anmerkungen spielte der Autor auf die absurden Zustände in Thessalien an, die durch die partielle Beibehaltung des osmanischen Rechts- und Verwaltungssystems entstanden waren. Zwar waren die höchsten osmanischen Verwaltungs- und Handelsbehörden offiziell abgeschafft und durch könig­liche Kommissare und Beamte ersetzt worden.45 Einige Ämter auf der unteren Verwaltungsebene, wie die Bürgermeistereien und Gemeindevertreter, wurden zunächst allerdings bei den Personen belassen, die diese Posten auch schon unter osmanischer Verwaltung ausgefüllt hatten. Insbesondere in mehrheit­lich muslimisch oder gemischt besiedelten Dörfern und Städten blieben diese Ämter zunächst bei Muslimen. Das Amt des Bürgermeisters 43 Palingenisia, 5. September 1881. 44 Aion, 15. Juni 1881. 45 Vgl. ΦEK 53 (26. Juni 1881) zur vorläufigen Verwaltung der neuen Provinzen. Die Kommissare hatten zwar nur vorläufige, aber deut­liche größere Verwaltungsbefugnisse. Sfika-­Theodosiou, Prosartisi, S. 43.

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konnte zwar nach einem vorherigen Gutachten des könig­lichen Gesandten auf einen Vorschlag des Innenministers hin neu besetzt werden, und in einigen Gemeinden erfolgte tatsäch­lich ein Wechsel im Bürgermeisteramt, so auch im gemischt besiedelten Domokos.46 In den Gemeinden mit größerer muslimischer Bevölkerung blieben aber viele muslimische Bürgermeister weiterhin im Amt.47 Zurückzuführen war dies auf die schwierige innenpolitische Situa­tion und die unveränderte Haltung der Opposi­tion, die die Übernahme als verfassungswidrigen Akt betrachtete. Da sowohl die Übernahme als auch die Unterzeichnung des Vertrags von Konstantinopel ohne die vorherige Zustimmung des Parlaments erfolgt waren, boykottierte die Opposi­tion unter der Führung von Charilaos Trikoupis alle Maßnahmen, die eine Eingliederung der Region gewährleisten sollten. So bestritt sie die Rechtmäßigkeit der Wahlen in den neuen Provinzen und weigerte sich, die thessa­lischen Abgeordneten als rechtmäßige Vertreter der Region anzuerkennen. Auch eine formale Einführung griechischer Gesetzgebung in den neuen Provinzen war so zunächst unmög­lich.48 Stattdessen wurden die Provinzen über eine Vielzahl von Verordnungen und könig­lichen Dekreten verwaltet, die ebenfalls nicht durch die Legislative abgesichert wurden.49 Zu diesen gehörte die vorläufige Beibehaltung des osmanischen Rechts in den neuen Provinzen, zumindest für die Bereiche, in denen das osmanische Recht mit dem griechischen nicht diametral kollidierte.50 Nach Meinung der Regierung war d ­ ieses als Übergangslösung dem gegenwärtigen Zustand der Provinzen angemessener als die sofortige Einführung des griechischen Rechtssystems. Allerdings gestaltete sich auch die Durchsetzung der Dekrete schwierig. So sollten anfangs diese schon drei Tage nach ihrer Veröffent­lichung an den Verwaltungsgebäuden der Eparchien in Kraft treten, eine Frist, die – wie sich herausstellte – aus verschiedenen Gründen viel zu knapp bemessen war. Denn in ­diesem k­ urzen Zeitraum war es kaum mög­lich, alle Einwohner 46 Ebenda, S. 43 ohne Quellenverweis. 47 Einige Bsp. sind die Städte Larisa, Trikala oder Almyros (Yusuf Aga) vgl. Aion, 11. September 1881 mit Verweis auf einen übern. Artikel aus dem Manchester Guardian vom 3./15. September 1881. 48 Ebenda. 49 Vgl. dazu die einzelnen König­lichen Verordnungen. Hier nur einige Beispiele: ΦEK 70 (7. August 1881); ΦEK 83 (16. September 1881); ΦEK 72 (18. August 1881), ΦEK 85 (18. September 1881); ΦEK 89 (3. November 1881); ΦEK 104 (10. November 1881). Im März 1882 verteidigte Koumoundouros seine Politik ausführ­lich in einer Parlamentsrede. Vgl. ΕΣΒ (Εφημερίς Συζητήσεων της Βούλης/Zeitung der Debatten des Parlaments) per. Θ’ syn. Α’ syn. Ι, 213 – 217. 50 Sfika-­Theodosiou, Prosartisi, S. 42 – 43.

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von den Inhalten der Dekrete in Kenntnis zu setzen. Außerdem fehlten zur Umsetzung der Dekrete die geeigneten Beamten und Funk­tionäre, die für eine reibungslose Einführung zuständig waren und die Durchsetzung der Inhalte der Dekrete gewährleisteten.51 3.2 Administration

Auf Defizite bei der Installa­tion der griechischen Verwaltung lässt auch die Durchführung der ersten Wahlen im November 1881 schließen. Hier wurde deut­lich, dass die Provinzen kaum auf die praktische Umsetzung eines solchen Unternehmens vorbereitet waren. Aus den vielfältigen Presseberichten geht hervor, dass zahlreiche Wählerlisten unvollständig und in et­lichen Wahlkatalogen häufig die Namen der Wähler falsch oder gar nicht verzeichnet waren. Insbesondere bei der Transkrip­tion nichtgriechischer Namen kam es hier zu Fehlern, die eine Wahlbeteiligung dieser Personen schließ­lich verhinderten. Einzelne entfernte Siedlungen wurden zu spät oder gar nicht über die Voraussetzungen zur Wahlbeteiligung informiert, Wahllokale waren teilweise auch durch die schlechten Wetter- und Straßenverhältnisse nur schwer oder nur nach mehreren Tagesreisen zu erreichen. An einigen Orten befanden sich die Wahllokale ausschließ­lich in christ­lichen Gotteshäusern, was Muslime mög­ licherweise daran hinderte, an der Wahl teilzunehmen.52 Dass die Durchsetzung der Zentralgewalt in den „neuen Ländern“ nur schleppend voranging, bestätigen auch konsularische Berichte über die Tätigkeit der Gerichte und die Missverwaltung griechischer Lokal- und Regionalbehörden.53 Dies betraf insbesondere muslimische Grundbesitzer, denen zwar über den Vertrag von Konstantinopel alle Eigentums- und Besitzrechte zugesichert worden waren, von denen aber nun verlangt wurde, die osmanischen Besitztitel durch griechische Gerichte bestätigen zu lassen. Noch drei Jahre nach der Übernahme der Region durch das Griechische Königreich sprach der deutsche Gesandte Brincken in Athen im April 1884 von chaotischen Zuständen und machte dafür die nachlässige griechische Verwaltung und Rechtspflege verantwort­lich. „Die Eigenthumsverhältnisse des Grund und Bodens sind innerhalb des Königreiches, aber ganz besonders in Thessalien und Epirus noch reich­lich verworren und unklar. Hinsicht­lich der meisten Liegenschaften beruht der Besitztitel 51 Sfika-­Theodosiou, Prosartisi, S. 44. Das Dekret selbst ist nachzulesen unter ΦEK 60 (8. Juli 1881). 52 Vgl. Berichte in Palingenesia, 1. Januar 1882 sowie in Aion, 25. Februar 1882. 53 Vgl. Palingenesia, 6. Februar 1882 mit Beispielen aus Trikala und Kalambaka.

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entweder auf einem ungenügend oder lückenhaft geführten Grundbuche, oder aber einfach auf münd­licher Überlieferung. Jede Art von Kataster im westeuro­ päischen Sinn mit nutzbrechender näherer Beziehung der Grundstücke und Angabe ihrer Grenzen ist hier zu Lande eine gänz­lich unbekannte Einrichtung.“54 Eigentümer, die sich auf einen Gerichtsprozess einließen, um die Gültigkeit ihrer Eigentumstitel zu erreichen, mussten jedoch oft mit langwierigen Verhandlungen rechnen, die sich fast immer über mehrere Jahre, oft auch bis zu zehn Jahre hinzogen, wie ein griechischer Rechtsanwalt gegenüber dem deutschen Gesandten in Athen betonte, „da die griechischen Gerichte nur äußerst langsam und mangelhaft funk­tionierten“.55 Zwar versicherte der griechische Ministerpräsident, dass unter ­diesem Zustand die griechischen Eigentümer genauso zu leiden hätten wie die muslimischen. Eine Besserung sei allerdings nur allmäh­lich und mit der „fortschreitenden Entwicklung und Befestigung der griechischen Verwaltung und Rechtspflege zu erwarten“.56 Hinsicht­lich der Einführung neuer Verwaltungsstrukturen stellt sich die Frage, wie sich der Herrschaftswechsel auf die Lebenswelten der Muslime in Thessalien und Arta auswirkte und wie die Muslime als Privatpersonen mit den neuen Strukturen umgingen. So war es durch den Herrschaftswechsel für Muslime unumgäng­lich geworden, sich sowohl in privat- und zivilrecht­lichen als auch in Fragen wirtschaft­lich-­recht­licher Art von ansässigen griechischen Notaren oder Rechtspflegern vertreten zu lassen, die sich nach der Abtretung der Provinzen in den größeren Städten Thessaliens und in Arta niedergelassen hatten. Dies setzte zum einen die Anerkennung der veränderten politischen Gegebenheiten und des griechischen Staates als Rechtsnachfolger voraus und war zum anderen schon allein deswegen erforder­lich, weil die osmanischen Behörden, die in solchen Angelegenheiten zuständig gewesen waren, die Region verlassen hatten. Auf griechische Rechtsanwälte mussten Muslime insbesondere dann zurückgreifen, wenn sie den Rechtsstatus ihres Besitzes, welcher sich auf griechischem Territorium befand, verändern wollten, das heißt ihren Besitz zum Beispiel veräußern, vermieten oder vererben wollten, denn dies erforderte die Bestätigung durch staat­liche Behörden bzw. ansässige griechische Notare. Dabei spielte die staatsbürger­liche Zugehörigkeit der Personen zunächst keine Rolle. Notare übernahmen in ihrer Funk­tion als Mittler z­ wischen Staat und Bürger die Ausstellung von Verträgen, aber auch die Abwicklung von Vorgängen

54 PA (Politisches Archiv) R 13 111, Brincken an Bismarck, Athen, 9. Mai 1884. 55 Ebenda. 56 Ebenda.

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wie Zwangsversteigerungen, die nötig wurden, wenn Muslime zum Beispiel ihren Zahlungsverpflichtungen aus Krediten nicht nachkommen konnten.57 So ließen sich Muslime auch über bevollmächtigte Personen in geschäft­lichen Angelegenheiten von griechischen Notaren vertreten. Häufig wurden aber auch durch Muslime Privatpersonen mit griechischer Staatsbürgerschaft und einem Wohnort in der Region für die Erledigung geschäft­licher Angelegenheiten bevollmächtigt. Auffällig ist dabei, dass sich Muslime selbst durch orthodoxe Geist­liche vertreten ließen, wenn diese ihr Vertrauen besaßen.58 Die angeführten Beispiele zeigen indes, dass die griechischen Gerichte bei Zivilrechtsprozessen, in denen Muslime involviert waren, auch auf die Zusammenarbeit mit Vertretern muslimischen Rechts zurückgreifen mussten. In den meisten Fällen war man auf die Koopera­tion mit den geistigen Führern der muslimischen Gemeinden, den Muftis, angewiesen. Deut­lich wird darüber hinaus, dass gerade in den ersten Jahren nach der Angliederung Artas und Thessaliens griechische Gerichte nicht nur auf der Basis griechischer Rechtsprechung argumentierten und entschieden, sondern zahlreiche Urteile auch auf islamischer Rechtsprechung basierten.59 3.3 Staatliche Verordnungen und Sicherheitslage

Nicht nur im Bereich der Rechtspflege lassen sich Mängel bei der Durchsetzung staat­licher Gewalt erkennen. Auch bei der Durchsetzung sowie der praktischen Umsetzung staat­licher Verordnungen lassen sich Defizite anführen. So waren regionale und lokale Behörden dazu angehalten, insbesondere bei Konflikten um Eigentumsrechte von Großgrundbesitzern, die sich im Rahmen der territorialen Erweiterung ergeben hatten, im Sinne der Eigentümer einzugreifen. 57 Nachweise finden sich in zahlreichen Notariatsakten, aber auch in der griechischen Presse, wo ört­liche Notare als Rechtsvertreter für die unterschied­lichen Rechtsparteien Anzeigen zu solchen Veröffent­lichungen schalteten. Vgl. z. B. die Anzeige des Notars Skamvougeras in der Salpinx vom 31. Juli 1890. 58 GAK Lar., Archiv Ioannidis Nr. 716, Bevollmächtigung, Lar., 15. September 1882. Unklar ist indes, ob Muslime auch bei Fragen des privaten häus­lichen Bereiches, wie z. B. der Festlegung von Mitgiften bei einer Eheschließung ­zwischen thessa­lischen Muslimen, die ebenfalls Landbesitz von Muslimen in Arta oder Thessalien betraf, auf griechische Rechtspfleger zurückgreifen konnten. Vgl. die erhaltenen Verträge in GAK Lar., Archiv Ioannidis Nr. 358 (Αρραβών), Lar., 7. April 1882, sowie Nr. 490 (Αρραβών), Lar., 27. Juni 1882. 59 Vgl. die Berichterstattung zum Mordfall Hatzi Ali Aga Hovotzopoulos in Velestino. Thessalia, 29. Oktober 1883/2. November 1883.

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Hier weigerten sich die in der Regel griechischen Pächter, die jähr­lichen Abgaben zu leisten oder betrachteten das gepachtete Land nach dem Herrschaftswechsel als ihr Eigentum, was insbesondere in der Gegend von Arta häufig zu Konflikten mit den größtenteils osmanischen Eigentümern führte. Zwar setzten sich lokale Behörden für die Eigentumsrechte der Muslime ein, indem die könig­lichen Gesandten die Bauern zur Rechenschaft zogen, sie in Gewahrsam nahmen oder sogar mit Unterstützung der ört­lichen Polizei oder von Militär­ einheiten gegen die rebellierenden Bauern vorgingen.60 Gleichzeitig verweisen Einzelbeispiele aber darauf, dass sich örtliche Behörden den Vorgaben aus Athen widersetzten. Denn immer wieder musste das griechische Justizministerium die staat­lichen Vertreter vor Ort dazu auffordern, sich für die Belange der Eigentümer einzusetzen.61 So schien die Durchsetzungskraft der Behörden in einigen Gebieten nur sehr eingeschränkt zu funk­tionieren, weil die lokale Gendarmerie, die zur Durchsetzung der Rechte der Eigentümer abgeordnet worden war, die Eigentümer vor den Schikanen der Pächter zu ­schützen, sich weigerte einzugreifen oder viel zu spät am Ort des Geschehens eintraf.62 Auch die instabile Sicherheitslage in der Region deutet darauf hin, dass die zentralstaat­liche Kontrolle über die Region auch Jahre nach der territorialen Eingliederung nur wenig gefestigt war. So kennzeichneten zahlreiche Übergriffe umherziehender Banden, andauernde Grenzkonflikte und eine wachsende Unsicherheit in der Bevölkerung die Situa­tion in den beiden Provinzen.63 Zahlreiche Beispiele machen zwar einerseits deut­lich, dass die Behörden kaum in der Lage waren, gegen das Bandenwesen vorzugehen, zeigen andererseits aber auch, dass einzelne administrative Stellen mög­licherweise in die Vorfälle verwickelt waren und/oder von dem Bandenunwesen profitierten.64

60 Aion, 20./22. Juli 1881. Vgl. auch die Berichte des deutschen und britischen Konsuls in PA 13 111, Gutschmied an Bismarck, Athen, 13. August 1881 sowie FO 32 541. Ford an Granville, Athen, 22. August 1882 61 FO 32 539, Griech. Justizm. an den königl. Regierungskommissar in Arta vom 14. Febru­ar 1882. 62 AYE (Αρχείο Υπουργείου Εξωτερικών/Archiv des Griech. Außenministeriums) (1887) A 14, Osman. Botschaft Athen an griech. Außenm., Athen, 23. Oktober 1886. 63 Palingenesia, 19. Februar 1882 sowie einen Bericht des griechischen Generals Sophianos zur Sicherheitslage AYE (1889) A 8, General Sophianos an osman. Konsul in Larisa, o. O., 31. Dezember 1888. 64 Vgl. die Untersuchungen von John Koliopoulos: Brigands with a cause. Brigandage and Irrenditism in Modern Greece 1821 – 1912, Oxford 1987, S. 318.

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3.4 Schutz osmanisch-muslimischen Kulturguts

Insbesondere bei dem Schutz muslimisch-­osmanischer Kulturgüter ist frag­ lich, inwieweit die griechischen Behörden ausreichend Mittel bzw. Personal besaßen, staat­liche Verordnungen auf der lokalen und regionalen Ebene überhaupt durchzusetzen.65 Jedoch verweisen Beispiele aus dem Bereich der materiellen Kultur auch auf die Frage, ob dieselben Behörden überhaupt gewillt waren, Maßnahmen zum Schutz und zur Erhaltung muslimischer Gebäude umzusetzen. Beispiele aus Larisa und Trikala zeigen zwar, dass die griechische Regierung und ihre lokalen Organe vor Ort die bestehenden Eigentumsverhältnisse offiziell anerkannten und vorgaben, diese zu respektieren. Der Bürgermeister von Arta versicherte zum Beispiel, dass man die Erhaltung und den Schutz der in Arta befind­lichen Moscheen und Friedhöfe als eine der wichtigsten Aufgaben der Stadtverwaltung ansah.66 So ­seien mit öffent­lichen Geldern zur Absicherung der verwaisten muslimischen Einrichtungen die Fenster und Tore der Moscheen mit festen Wänden aus Stein verriegelt worden.67 In Larisa wiederum wurde über die Stadtverwaltung sogar eine Moscheewache eingestellt.68 Allerdings drängt sich der Verdacht auf, dass bei der Durchsetzung der Anweisungen aus Athen, in denen immer wieder nachdrück­lich angemahnt wurde, dass die lokalen Behörden jeg­liche Beeinträchtigung osmanischen Eigentums zu verhindern habe, starke Defizite existierten, wenn lokale und regionale Behörden Anordnungen unterliefen, verzögerten oder gar nicht umsetzten. So deutet die Verwaltungspraxis der städtischen Behörden im Rahmen der Umsetzung der Modernisierungspläne eher darauf hin, dass man in vielen Städten hoffte, sich auf ganz pragmatische Art und Weise des osmanischen Erbes zu entledigen, indem man Tatsachen schuf und muslimische

65 Der könig­liche Kommissär in Arta, Plessa, musste nach Vorfällen in Arta zugeben, dass es aufgrund der hohen Anzahl der osmanischen Friedhöfe und Moscheen, die sich über die ganze Stadt verteilten und die sich in einigen Fällen nicht im Stadtzentrum befänden, kaum mög­lich sei, diese insbesondere in der Nacht und den frühen Morgenstunden ausreichend zu überwachen und zu s­ chützen. Ebenso schwierig sei dies bei verlassenen Gebäuden und dem Besitz muslimischer Emigranten aus Arta. AYE (1882) 7/1, Königl. Kommissär Plessa an osman. Kons. Arta, Arta, 21. Februar 1882. 66 AYE (1887) A 14, Osm. Botschaft Athen an griech. Außenm., Athen, 30. Mai 1887. 67 AYE (1887) A 14, Bürgermeister Arta an Nomarch Arta, Arta, 11. Juli 1887. 68 GAK Lar. (Πρακτικά Δημοτικού Συμβουλίου/Akten des Gemeinderates) (Prakt. Dim. Sym), 12. Februar 1887.

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Gebäude abreißen oder islamische Friedhöfe einebnen ließ, wenn diese den „Modernisierungsplänen“ der Gemeinden zuwider lief.69

4. Politische und gesellschaftliche Partizipation von Muslimen nach 1881 Inwieweit Muslime nach dem Herrschaftswechsel an politischen, sozioökonomischen und kulturellen Prozessen im Griechischen Königreich partizipieren konnten, war zum großen Teil von dem politischen Status der Muslime innerhalb des griechischen Rechtssystems abhängig. Dieser ergab sich zum einen aus den recht­lichen Implika­tionen der im Vertrag von Konstantinopel 1881 festgelegten Garantien für die Muslime der angegliederten Provinzen und zum anderen aus der nach der Übernahme geltenden Rechtsordnung. 4.1 Staatsbürgerschaft und Wahlrechte

Die im Vertrag von Konstantinopel enthaltenen Bestimmungen zur Op­tionspflicht von Muslimen ermög­lichten allen Osmanen der angegliederten Gebiete, sich innerhalb einer zeit­lichen Frist z­ wischen der griechischen oder osmanischen Staatsbürgerschaft zu entschieden, ohne dabei aber jeg­liche Eigentumsrechte in Griechenland zu verlieren. Große Unstimmigkeit herrschte jedoch – wie die Untersuchung der Staatsbürgerschaftspraxis nach der Übernahme zeigt – über die Frage, über ­welche politischen Rechte Muslime beziehungsweise Osmanen verfügten, falls diese noch nicht für die eine oder andere Staatsbürgerschaft optiert hatten. In Bezug auf die griechischen Parlamentswahlen im Dezember 1881 war demnach zunächst unklar, ob Muslime, die (noch) nicht den griechischen Bürgereid abgelegt hatten, überhaupt politische Ämter oder Posten in der Verwaltung bekleiden konnten, w ­ elche Voraussetzungen sie dafür mitbringen mussten und ob die muslimischen Einwohner der Provinz wahlberechtigt waren oder nicht. Noch bei seinem Besuch in den Provinzen kurz nach deren Angliederung hatte Koumoundouros die Übernahme öffent­licher Ämter und damit eine aktive und passive Wahlbeteiligung noch eindeutig an den Besitz der griechischen Staatsbürgerschaft geknüpft. Im Oktober verkündete 69 Vgl. die Korrespondenz ­zwischen griech. Innen- und Außenministerium bzw. mit den lokalen Behörden in Thessalien über den geplanten Abriss der Bayrakli Moschee in Trikala. AYE (1890) A 14, Griech. Innem. an griech. Außenm., Athen, 4. Jan 1889 sowie in der gleichen Akte Schreiben des Griech. Außenm. an osman. Botschaft, Athen, den 23. Januar 1889.

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die griechische Regierung jedoch, dass allen Muslimen eine grundsätz­liche Wahlbeteiligung mittels aktiven und passiven Wahlrechts zugebilligt wurde, auch ohne dass man sich für die griechische Staatsbürgerschaft entschieden habe.70 Wie Quellen zeigen, ließen sich zahlreiche Muslime auf Kandidatenlisten aufstellen und beteiligten sich mit ihrer Stimme an den Parlamentswahlen, bei denen auch zwei muslimische Abgeordnete aus Larisa in das griechische Parlament gewählt wurden.71 Auch aus den Gemeindewahlen, die wohl aufgrund des Verfassungskonfliktes im Parlament erst im Mai 1883 durchgeführt werden konnten, gingen muslimische Kandidaten erfolgreich hervor. 4.2 Regionale und kommunale Verwaltung

Aufgrund der schlechten Quellenlage lassen sich nur schwer Aussagen über das Personal der administrativen Ämter machen. Allerdings geben die erhaltenen Akten der Gemeinderäte in Einzelfällen Auskunft über die Besetzung und den Zuständigkeitsbereich verschiedener Gemeindeposten. So lassen sich auf regionalen und kommunalen Verwaltungsposten auch einige Muslime nachweisen. Diese waren – wie auch die Vertreter der jüdischen Bevölkerung – in den Gemeinderäten der einzelnen Siedlungen vertreten, wenn diese über eine muslimische bzw. jüdische Einwohnerschaft verfügten, und konnten so auf politische und sozioökonomische Prozessen Einfluss nehmen.72 In den Gemeindeakten existieren Hinweise darauf, dass zumindest in der Übergangszeit einzelne Muslime sowohl für recht­liche Fragen wie auch für Steuern zuständig waren oder als Gemeindebedienstete wie als „Briefträger“, öffent­liche Ordnungskräfte oder Hilfspolizisten beschäftigt waren.73 Im Gegensatz zu den Äußerungen von Koumoundouros und Trikoupis kurz nach der Angliederung Thessaliens und Artas in der Presse, insbesondere aber gegenüber den Vertretern der euro­päischen Großmächte, lassen sich darüber

70 Palingenisia, 19. Oktober 1881. 71 Serif Bey und Dervis Bey gehörten beide der gebildeten und wohlhabenden Schicht der Muslime Thessaliens an und kamen aus den großen Städten der neuen Provinzen. Beide hatten mehrere Jahre verschiedene osmanische Verwaltungsposten besetzt, ­darunter das Bürgermeisteramt in Larisa. Sie sprachen und schrieben Griechisch, Aion, 16. Januar 1882. 72 Vgl. z. B. die erhaltenen Akten des Gemeinderates der Stadt Larisa, in GAK Larisa (Prakt. Dim. Symv,) 1882 und 1883 sowie 1890 – 1892. 73 GAK Lar. (Praktika Dim. Symv.), 12. September 1884; GAK Lar., Archiv Ioannidis (Nr. 1184), Vereinbarung, Larisa, 24. Januar 1883.

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hinaus auf Regierungsebene jedoch kaum Hinweise dafür finden, dass auf verwaltungspolitischer Ebene besondere Schritte unternommen wurden, Muslime politisch oder gesellschaft­lich zu inkludieren. Zwar beteuerte die griechische Führung immer wieder, ein Verbleib der Muslime und ein fried­liches Mitein­ ander ­seien ausgesprochene Ziele der griechischen Regierung. Allerdings schien man es kaum für nötig zu halten, Maßnahmen zu ergreifen, die eine Akkultura­tion der Muslime an die neuen politischen Begebenheiten erleichtern und damit zu einem Verbleib der Muslime in Thessalien beitragen würden. Vor allen Dingen die Briten verwiesen immer wieder darauf, ein Verbleib der Muslime in Thessalien könne nur mit politischem Engagement der griechischen Regierung und der lokalen Behörden erzielt werden. Nach Meinung der Briten sei dazu allerdings eine aktive „Integra­tionspolitik“ erforder­lich. Die griechische Regierung müsse insbesondere einer ungerechten Behandlung der Muslime zuvorkommen, betonte der britische Konsul Blunt in Saloniki gegenüber dem britischen Botschafter schon im Mai 1881. Sie müsse dafür Sorge tragen, dass die lokale Verwaltung Beamten und Funk­tionären übertragen würde, die mit der türkischen Sprache, den S­ itten und Gebräuchen sowie auch den auf beiden Seiten existierenden Vorurteilen vertraut ­seien.74 Derartige Vorschläge widersprachen im Allgemeinen nicht den Vorstellungen der griechischen Führung. Den Vorschlag muslimischer Beys, Muslime in den neu zu formierenden Polizeidienst zu integrieren, bewertete Koumoundouros im Rahmen seines Besuches in Larisa im Oktober 1881 positiv und forderte die Beys auf, „to supply him with a list of Turkish officers and men willing to enter“.75 Koumoundouros hielt es sogar für mög­lich, den infrage kommenden Personen den gleichen Rang im griechischen Polizeidienst zu gewähren, den diese auch im Dienst der osmanischen Behörden innegehabt hatten. Zwar war der Ministerpräsident der Ansicht, dass sowohl die „unterschied­liche Rasse“ als auch der Glaube konfliktreiche Faktoren z­ wischen Griechen und Türken darstellten, hielt es aber für nötig zu untersuchen, wie man diesen entgegenkommen könne.76 Auch der spätere Ministerpräsident Trikoupis zeigte sich in Bezug auf die Eingliederung von Muslimen in den griechischen Polizeidienst offen, wo es Muslimen mög­licherweise auch erlaubt werde, einen Fez zu tragen.77 Es existieren jedoch keine Hinweise, dass ein solches Vorhaben in die Tat umgesetzt wurde. 74 FO (1881) 286 342, Blunt an Granville, Saloniki, 9. Mai 1881. 75 FO (1881) 286 342, Longworth an Dufferin, Larisa, 12. Oktober 1881. 76 Ebenda. 77 FO (1882) 32 539, Ford an Granville, Athen, 12. April 1882.

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4.3 Erziehungswesen

Die Frage, wie und wo sich der griechische Staat und die Muslime nach dem Herrschaftswechsel 1881 in Thessalien und Arta begegneten, lässt sich auch durch einen Blick in das thessa­lische Erziehungswesen nach 1881 beantworten. So lassen sich zum einen an den in Arta und Thessalien vorhandenen muslimisch-­osmanischen Bildungseinrichtungen für Muslime Aussagen über die gesellschaft­liche Teilhabe dieser Bevölkerungsgruppe treffen. Zum anderen geben insbesondere das Verhältnis dieser Institu­tionen zum griechischen Staat und deren Stellung im griechischen Erziehungswesen Aufschluss über die gesellschaft­liche Partizipa­tion von Muslimen in der Region. Sowohl über das osmanische Schulwesen in Thessalien zur Zeit der osmanischen Herrschaft als auch über türkische Schulen nach 1881 ist bisher nur wenig bekannt.78 Die eingesehenen Quellen zeigen jedoch, dass Muslime sowohl über eigene Bildungseinrichtungen als auch über Lehrpersonal verfügten und über die Zusammenarbeit mit staat­lichen Behörden am Bildungswesen in Thessalien partizipierten. In Larisa existierten zum Zeitpunkt der Übernahme mehrere türkische „Volksschulen“ (Mektep) und „Koranschulen“ (Medrese), die sich alle in der Nähe einer religiösen muslimischen Einrichtung befanden.79 Der im griechischen Militär beschäftigte deutsche Arzt Ornstein bezeugte bei seinem Besuch 1881, dass in der Stadt insgesamt zehn „ottomanische Schulen“ in Betrieb ­seien, davon sechs Elementarschulen, in denen nur Grundkenntnisse und ausschließ­lich die türkische Sprache unterrichtet würden.80 Ledig­lich eine weiterführende türkische Schule, „eine Art Gelehrtenschule“, führe zu einem

78 Zum osmanischen Bildungswesen im 19. Jh. allgemein vgl. Selçuk Akşin Somel: The Moderniza­tion of Public Educa­tion in the Ottoman Empire 1839 – 1908. Islamiza­tion, Autocracy and Discipline, Leiden 2001 (= The Ottoman Empire and Its Heritage 22). Somel beschäftigt sich allerdings nicht mit osmanischen oder türkischen Schulen, die sich in den abgetretenen Balkanprovinzen befanden. Zum Schulwesen während der osmanischen Herrschaft in Larisa siehe auch das Kapitel zu griechischen, türkischen und jüdischen Schulen bei Theodoros Palioungas: Η Λάρισα κατά την Τουρκοκρατία (1423 – 1881) (Larisa während der türkischen Herrschaft), Bd. 2, Katerini 2002, S. 439 ff. 79 Palioungas, Larisa, S. 458 – 459. 80 Dagegen existierten nach Ornstein an christ­lichen Bildungseinrichtungen neun Schulen, von denen sieben Elementarschulen, eine Mädchenschule, ein Gymnasium und eine Vorbereitungsschule für das Gymnasium waren. Ornstein, Larisa, S. 198. Eine Auflistung aller durch Quellen nachweisbarer ottomanischer Schulen, sowohl Mektep, Medrese und weiterführende Schulen befindet sich bei Palioungas, Larisa, S. 460 – 468.

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höheren Schulabschluss.81 Wahrschein­lich ist, dass mindestens eine weiterführende türkische Schule, eine rüstiye, bis mindestens zum Jahr 1892 in Larisa in Betrieb war, wie der griechische Gelehrte Zozimas Esfigmenitis schrieb.82 Die griechische Staatskasse übernahm nach der Abtretung der Gebiete für einige Schulen die Unterhaltung und bezahlte die dort angestellten Lehrer.83 Die Quellen deuten allerdings an, dass sich das griechische Erziehungsministerium vorbehielt, bei der Entsendung des Lehrpersonals mitzuwirken.84 Dies schien nicht nur für osmanisches Lehrpersonal zu gelten, welches an griechischen Schulen unterrichtete, sondern auch für Lehrer an türkischen Schulen. Unsicher ist, ob oder inwieweit die griechische Regierung auch auf Lehrinhalte türkischer und jüdischer Schulen Einfluss nahm. Denn einerseits ist davon auszugehen, dass die Schulen der autonomen Verwaltung der muslimischen Gemeinden angegliedert und in erster Linie dieser unterstellt waren, so dass man die Schulen unabhängig agieren ließ. Andererseits wurden die Lehrer und Schulen – zumindest teilweise – vom griechischen Staat finanziert.85 Dieser Praxis der auch von Teilen der griechischen politischen und gesellschaft­lichen Eliten gegenüber der muslimischen Bevölkerung vertretene Anspruch lag einer mission civilisatrice zugrunde. Diese forderte, die muslimische Bevölkerung der angegliederten Gebiete insbesondere mittels erzieherischer Maßnahmen in griechische Staatsbürger zu verwandeln.86 81 Ebenda, S. 198. Andere Quellen wie Grigoropoulos bezeugen eine weitere höhere Schule (İdadiye), deren Standort allerdings unbekannt ist. Vgl. Ausführungen von Palioungas, Larisa, S. 468. 82 Zozimas Esfigmenitis: Περί τού νομού Λαρίσις (Über den Nomos Larisa), in: Promithevs 4 (1892), S. 327 – 331, 327. Die Ausgaben der Schule wurden laut Esfigmenitis von der „reichen Şahoğlu-­Moschee“ getragen. 83 Vgl dazu auch die in den erhaltenen Akten des Gemeinderates verzeichneten jähr­ lichen Ausgaben für osmanische und jüdische Schulen in der Stadt Larisa GAK Lar. (Prakt. Dim. Symv.), 2. Januar 1886; 11. September 1886; 27. Januar 1888; 11. Februar 1890; 20. Dezember 1890. 84 Vgl die seit Mitte 1882 getätigten Bestimmungen und Gesetze, die vorsahen, Teile der Finanzierung oder aber die komplette Unterhaltung der Bildungseinrichtungen aus öffent­lichen Geldern zu übernehmen, wenn die einzelnen Gemeinden dazu nicht in der Lage waren. ΦΕΚ 53 (23. Juni 1882), 126 (4. Oktober 1882), ΦΕΚ 189 (9. Dezember 1882), ΦΕΚ 197 (18. Dezember 1882), ΦΕΚ 232 (14. Juni 1883). 85 Unklar ist allerdings, ob alle an den osmanischen Schulen beschäftigten Lehrkräfte ausschließ­lich vom griechischen Staat finanziert wurden. Aus dem Bericht Esfigmentitis aus dem Jahr 1892 ist bekannt, dass in Larisa ein Großteil der Ausgaben der osmanischen Schulen von der Burmalı-­Moschee getragen wurde, die über hohe Einkünfte verfügte. Esfigmenitis, Peri tou Nomou, S. 327. 86 Ethnikon Pnevma, 11. Februar 1882.

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Muslime waren ebenso wie Vertreter der jüdischen Gemeinde neben der Beschäftigung als Lehrpersonal auch in die vom Erziehungsministerium eingesetzten Schulkommissionen involviert. Diese waren zur Inspek­tion der Grundschulen sowie der weiterführenden Schulen der großen Städte gegründet worden. Hier waren jeweils ein Muslim und ein Vertreter der jüdischen Gemeinde einbezogen.87 4.4 Gedenkfeiern und außerpolitische Anlässe

Der Übergang von der osmanischen zur griechischen Herrschaft vollzog sich in Arta und Thessalien nicht nur über den Wechsel der Herrschaftssysteme. Die „Vereinigung“ der Provinzen manifestierte sich auch über die Einführung staat­licher Rituale und Zeremonien, die die Zugehörigkeit des Territoriums und seiner Bewohner zum Griechischen Königreich zum Ausdruck brachten.88 Auch Vertreter der muslimischen Gemeinden der Region partizipierten häufig aufgrund ihrer politischen bzw. gesellschaft­lichen Funk­tion an öffent­lichen Zeremonien und staat­lichen Ritualen. In Velestino und Farsala beteiligten sich die muslimischen Bürgermeister an den Fest­lichkeiten und den Gottesdiensten anläss­lich des offiziellen na­tionalen Gedenktages zum Beginn des griechischen Unabhängigkeitskrieges gegen die Osmanen am 25. März, die in den christ­ lichen Gotteshäusern abgehalten wurden.89 Als selbstverständ­lich wurde auch das Erscheinen muslimischer Gemeindevertreter bei der Einsetzung des neuen Bürgermeisters in Larisa am 22. Mai 1883 erachtet, bei der neben den christ­ lichen auch die „osmanischen Abgeordneten“ zum griechischen Parlament aus Larisa erschienen.90 Vertreter der muslimischen Gemeinden waren zusammen mit Mitgliedern der jüdischen Bevölkerung bei staat­lichen Feiern oder Veranstaltungen zugegen, die von politischer und gesellschaft­licher Bedeutung für die Region waren. Deut­lich wird dies bei den Einweihungsfeiern der unter Trikoupis propagierten

87 Thessalia, 29. Mai 1882; Palingenisia, 16. Juli 1882. Auch noch 1887 ist die Präsenz eines Muslims in der Schulkommission für die Stadt Larisa bezeugt. Vgl. GAK Lar. (Praktika Dim. Symv.), 15. Februar 1887. 88 Zur Bedeutung von Festen und Gedenkfeiern bei der Konstruk­tion von na­tionalen Gemeinschaften im deutschen Kontext vgl. Detlef Lehnert/Klaus Megerele: Politische Identität und na­tionale Gedenktage, in: dies.: Politische Identität und na­tionale Gedenktage. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1989, S. 9 – 30. 89 Thessalia, 30. März 1883 (Velestino) sowie 13. April 1883 (Fersala). 90 Anexartisia, 22. Mai 1883.

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Eisenbahnstrecke Larisa – Volos, die von der Regierung als Modernisierungsprojekt der Region gefördert und vorangetrieben wurde. Hervorzuheben ist hier, dass die zeremonielle Einweihung der Strecke nicht nur durch ein christ­ liches, sondern auch gleichzeitig durch ein islamisches und jüdisches Ritual vollzogen wurde.91 Repräsentanten der muslimischen Gemeinde waren in den folgenden Jahren bei allen Einweihungsfestivitäten der Teilabschnitte der Eisenbahn zugegen.92 Auch bei der Eröffnung der Agrarbank von Thessalien und Epirus in Larisa waren Repräsentanten der muslimischen Gemeinde geladen, da die Gründung der Filiale in Thessalien zum Teil auf die Initiative von Muslimen zurückging und zu deren Kunden zahlreiche muslimische Grundbesitzer zählten.93 Aber bei Gelegenheiten, die weniger politischen Zwecken dienten als vielmehr aus sozia­len Beweggründen gesellschaft­lich relevant waren, wurde deut­ lich, dass Muslime sich als Teil der Gesellschaft betrachteten und auch von den staat­lichen Behörden als s­ olche angesehen wurden. So hielt die muslimische Gemeinde Larisa es für angemessen, bei der Beerdigung des Direktors der Filiale der Agrarbank von Thessalien und Epirus, Konstantinos Travlos, einen Kranz niederzulegen und neben Vertretern der Stadt, dem Bürgermeister, einigen Händlervereinigungen und der jüdischen Gemeinde in aller Öffent­lichkeit sein Beileid auszusprechen.94 Andererseits erschienen Nichtmuslime wiederum zu muslimischen Gedenkfeiern. An der Beerdigung des in der Stadt Trikala bekannten und wohlverdienten Meddin Bey Souleiman, der im Alter von 70 Jahren verstorben war, nahmen der Berichterstattung der Akropolis zufolge im Januar 1893 nicht nur die gesamte muslimische Gemeinde, sondern auch Christen und Juden aus den unterschied­lichsten gesellschaft­lichen Schichten der Stadt und ein Teil der in Trikala sta­tionierten griechischen Truppen teil.95 Da ein Teil der verbliebenen Muslime in Arta und Thessalien über verhältnismäßig großen Reichtum verfügte, nutzten diese auch die Mög­lichkeit, über Sammel- und Spendenak­tionen für die notleidende Bevölkerung in Griechenland zum Beispiel nach Flut- oder Brandkatastrophen oder Erdbeben gesellschaft­lich präsent zu werden und so die Aufmerksamkeit auf die muslimische Gemeinde in der Region zu lenken.96 91 Ethnikon Pnevma, 2. Januar 1882. 92 Astir this Thessalias, 1. April 1884. 93 Anexartisia, 10. November 1882. 94 Salpinx, 3. Oktober 1890. 95 Akropolis, 1. November 1893. 96 Palingenisia, 16. November 1882; Anexartisia, 23. Oktober 1883.

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5. Fazit Die territoriale Erweiterung des Griechischen Königreiches und das staat­liche „Vorrücken in die Fläche“ – in d ­ iesem Fall nach Arta und Thessalien nach dem Vertrag von Konstantinopel 1881 – macht deut­lich, dass die Einführung einer neuen staat­lichen Zentralgewalt in „neuen Ländern“ in der Regel zunächst wohl kaum als erfolgreiches Übernahmeprojekt bezeichnet werden kann. Vielmehr war der Herrschaftswechsel mit zahlreichen Problemen verbunden. Deut­lich wird dies zum einen bei der Installierung der lokalen und regionalen Verwaltung, insbesondere aber in der Implementierung staat­licher Verordnungen auf lokaler und regionaler Ebene. Diese betrafen nicht nur die griechisch-­ christ­liche Mehrheitsbevölkerung, sondern auch die muslimische Einwohnerschaft der „neuen Provinzen“. Zwar versuchte die griechische Regierung über unterschied­liche Wege, den Muslimen zu begegnen, und gewährte ihnen sowohl politische wie auch gesellschaft­liche Partizipa­tionsmög­lichkeiten, von denen diese auch Gebrauch machten. Dass die griechische Regierung, trotz immer wieder beteuerter Vorhaben, Maßnahmen im Sinne einer – wie von den Briten geforderten – „aktiven Integra­tionspolitik“ der muslimischen Bevölkerung in Thessalien unternahm, ist allerdings nicht zu erkennen. Die angeführten Beispiele machen jedoch deut­lich, dass einerseits innenpolitische Auseinandersetzungen ­zwischen griechischer Regierung und Opposi­tion, andererseits aber vor allem die problematischen infrastrukturellen Rahmenbedingungen in Arta und Thessalien eine direkte Implementierung neuer Verwaltungsstrukturen und die Einführung effektiver Verwaltungsmaßnahmen zur Verbesserung der Lebensumstände aller Einwohner der Region erschwerten, wenn nicht sogar teilweise verhinderten. Die Auswirkungen dieser Entwicklungen sollten sich noch in den folgenden Jahrzehnten nach der Übernahme Thessaliens und Artas zeigen. Bis dahin hatten die meisten Muslime die Region jedoch schon verlassen. Der sechswöchige griechisch-­türkische Krieg 1897, der hauptsäch­lich in Thessalien ausgetragen wurde und mit einer Niederlage für das Griechische Königreich endete, trug schließ­lich dazu bei, dass mit Abzug der türkischen Truppen die meisten Muslime aus der Region emigrierten.

Norbert Franz

Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume der „letzten Rädchen im Staat“: Durchstaatlichung und Ausweitung der Staatstätigkeit in politisch-administrativen Landgemeinden Frankreichs und Luxemburgs im 19. Jahrhundert Unter der Herrschaft Napoleons I. wurden die Gemeinden zu den „letzten Rädchen“1 eines territorial weit ausgreifenden Staates, der nach dem Vorbild militärischer Befehlshierarchien durchorganisiert war.2 Diese besonders strenge Ausprägung des modernen bürokratischen Anstaltsstaates nahm den mittleren und unteren Ebenen der Staatsorganisa­tion ihre eigenen Verfassungskompetenzen und integrierte sie auf der Grundlage einer einheit­lichen Staatsverfassung. Eine in dieser Weise vollzogene „Durchstaat­lichung“3 diente der Sicherung der Staatsmacht nach innen und außen sowie der Mobilisierung der gesellschaft­lichen und wirtschaft­lichen Ressourcen des Grand Empire für die kriegerischen Auseinandersetzungen dieser Zeit.4 Dieser Prozess endete nicht mit dem E ­ rsten Franzö­sischen Kaiserreich, sondern wurde auch unter anderen politischen Vorzeichen fortgesetzt. Und er war ledig­lich ein Teilaspekt des wesent­lich umfassenderen „Wachstums der Staatsgewalt“5 im 19. Jahrhundert. Der Staat und seine lokalen Körperschaften reagierten auf politische, landwirtschaft­liche und industrielle Revolu­tionen, 1 Die Gemeinde als „ultime rouage de l’État“: Jean-­Luc Mayaud: La petite exploita­tion rurale triomphante. France XIXe siècle, Paris 1999, S. 144. 2 Gabriel Lepointe: Histore des institu­tions du droit public français au XIX e siècle 1789 – 1914, Paris 1953, S. 276 f. – Félix Ponteil: Napoléon Ier et l´organisa­tion autoritaire de la France, Paris 1956, S. 101 – 104. 3 Lutz Raphael: Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2000, S. 23, 146. 4 Jean Tulard: Frankreich im Zeitalter der Revolu­tionen 1789 – 1851 (Geschichte Frankreichs, Bd. 4), Stuttgart 1989, S. 184 – 265. 5 Samuel E. Finer: State- and Na­tion-­Building in Europe: The Role of the Military, in: Charles Tilly (Hg.): The Forma­tion of Na­tional States in Western Europe. Princeton (NJ) 1975, S. 84 – 163, 96. – Wolfgang Reinhard: Das Wachstum der Staatsgewalt. Historische Reflexionen, in: Der Staat 31 (1992), S. 59 – 75.

112 Norbert Franz

Kriege, Bevölkerungsexplosion, Massenarmut, Hungerkrisen, Abwanderung und Verstädterung, indem sie verstärkt in jene Bereiche eingriffen, in denen Politik und Öffent­lichkeit Lösungen für die Schlüsselprobleme dieser Zeit erblickten:6 Sie förderten den Ausbau der Land- und Wasserwege, der Trinkwasserversorgung, des Gesundheitswesens, der Armenfürsorge und des öffent­ lichen Schulwesens.7 Angesichts dieser „Ausweitung der Staatstätigkeit“8 wuchs langfristig der Finanzbedarf der öffent­lichen Hände, und der Zugriff des Steuerstaates verstärkte sich. Ob diese Durchstaat­lichung, verbunden mit einer Ausweitung der Staats­ tätigkeit, auch tatsäch­lich in „der Fläche“ ankam, war die Leitfrage des Forschungsprojekts, aus dessen Ergebnissen dieser Beitrag schöpft. Sie richtete sich auf Frankreich und auf s­ olche Gebiete und Staaten, die bis 1814 zum Grand Empire Napoleons gehört hatten,9 und wurde durch die exemplarische Erforschung der Verwaltungstätigkeit länd­licher Gemeinden des 19. Jahrhunderts beantwortet. Der vorliegende Beitrag gibt einen Einblick in die Ergebnisse dieser Forschungen. Er soll zeigen, dass die moderne Verwaltungsgemeinde eines der wichtigsten Instrumente des Staates bei „seinem Vorrücken in die Fläche“ war. Er fragt daher nach den Mechanismen der Integra­tion von länd­ lichen Gemeinden in die gesamtstaat­liche Organisa­tion, und er fragt nach

6 Adolph Wagner: Lehrbuch der politischen Ökonomie, 5. Bd., 2, Heidelberg 1877, S. 68. – Adam Smith: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Na­tions, 5. Aufl., London 1904, V.1.0, V.1.44, V.169. – Jean Baptiste Say: Vollständiges Handbuch der praktischen Na­tional-­Oekonomie, Bd. 5, Stuttgart 1829, S. 87 f. 7 Robert Delorme/Christine André: L’ètat et l’économie. Un essai d’explica­tion de l’évolu­ tion des dépenses publiques en France, 1870 – 1980, Paris 1983, S. 531. 8 Adolph Wagner: Die Ordnung des Österreichischen Staatshaushaltes, Neuausgabe Wien 1984, S. 31 f. 9 Ruth Dörner: Staat und Na­tion im Dorf. Erfahrungen im 19. Jahrhundert: Frankreich, Luxemburg, Deutschland (Forum Euro­päische Geschichte, Bd. 1), München 2006 (zugl. Diss. phil. Univ. Trier 2002). – Norbert Franz: Durchstaat­lichung und Ausweitung der Kommunalaufgaben im 19. Jahrhundert. Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume ausgewählter franzö­sischer und luxembur­gischer Landgemeinden im mikrohisto­ rischen Vergleich (1805 – 1890) (Trierer Historische Forschungen, Bd. 60), Trier 2006 (zugl. Habil. Schr. Univ. Trier 2005), vgl. hier insbesondere die Forschungsdiskussion auf S. 16 – 33. – Christine Mayr: Zwischen Dorf und Staat. Amtspraxis und Amtsstil franzö­ sischer, luxembur­gischer und deutscher Landgemeindebürgermeister im 19. Jahrhundert. Ein mikrohistorischer Vergleich (promt. Trierer Studien zur Neueren und Neuesten Geschichte, Bd. 1), Frankfurt am Main e. a. 2006.

Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume  113

der Ausweitung der Staatstätigkeit über den sogenannten Machtzweck des Staates hinaus in die Aufgabenfelder der sogenannten Leistungsverwaltung hinein. Er fragt weiter danach, wo die Akteure dieser Aushandlungsprozesse und Konflikte auf lokaler, regionaler und gesamtstaat­licher Ebene zu finden sind. Und er sucht nach den Handlungsspielräumen der kommunalen Akteure in den Aushandlungsprozessen und Konflikten mit den übergeordneten Verwaltungsebenen. Diese Fragen werden exemplarisch mit Hilfe einer Analyse der Verwaltungstätigkeit von drei länd­lichen Gemeinden untersucht – zwei franzö­sischen und einer luxembur­gischen. Dabei werden Entwicklungen vom Beginn des ­Ersten Franzö­sischen Kaiserreichs bis 1890 verfolgt. Die beiden Prozesse der Durchstaat­lichung und der Ausweitung der Staatstätigkeit auf kommunaler Ebene werden entlang eines vergleichenden mikrohistorischen Ansatzes teils qualitativ, teils quantitativ analysiert. Die qualitative Seite der Analyse stützt sich auf die Akten der Gemeindearchive der franzö­sischen Gemeinden Mogné­ville und Resson sowie der luxembur­gischen Gemeinde Wormeldingen. Darüber hinaus wurden die einschlägigen Bestände der Präfektur in Bar-­le-­ Duc und des luxembur­gischen Ministeriums für Gemeindeangelegenheiten ausgewertet. Dort finden sich auch die Bestände, die der quantitativen ­Analyse zugrunde lagen. Diese stützt sich auf eine vollständige Auswertung der lückenlos überlieferten Haushaltsabschlussrechnungen der beiden Gemeinden, die Auskunft über die finanzielle Seite der Gemeindetätigkeit geben. Das zentrale Analyseinstrument war ein dreistufiges Kategorienraster, mit dessen Hilfe die Quellen entlang der Fragestellung zunächst sehr konkret und quellennah ausgewertet wurden. Für die Beantwortung der leitenden Fragestellung war die Bündelung der Quellenbefunde auf einem hohen Abstrak­tionsniveau erforder­lich.10 Im Folgenden wird zunächst die Entwicklung der Durchstaat­lichungs­ prozesse in den drei Gemeinden betrachtet, zunächst im Überblick, dann konkret für die lokale „Feldpolizei“ am Beispiel der Gemeinde Mognéville. In einem zweiten Abschnitt wird die Ausweitung der Staatstätigkeit auf kommunaler Ebene anhand der Ergebnisse der quantitativen Analyse der Gemeindehaushalte vorgestellt. Im letzten Untersuchungsschritt werden die Handlungsspielräume der kommunalen Akteure im Umgang mit der mittleren und zentralen staat­lichen Verwaltungsebene ausgelotet.

10 Hierzu ausführ­lich: Norbert Franz, Durchstaat­lichung, S. 38 – 41.

114 Norbert Franz

1. Die Durchstaatlichung des „letzten Dorfes“ Die sogenannte „Durchstaat­lichung“ wirkte zunächst in der Praxis der hoheit­ lichen Gemeindeaufgaben. Die Gemeindeverwaltungen hatten auf der Grundlage der na­tionalen Gesetze und Verordnungen zu agieren. In Frankreich wurde dies von den Präfekten durchgesetzt, in Luxemburg von der Regierung selbst. Hauptakteure der lokalen Durchstaat­lichungsprozesse waren die Bürgermeister als Vertreter des Staates in der lokalen Gesellschaft. Umgekehrt agierten sie zugleich als Vertreter der lokalen Gesellschaft gegenüber den höheren staat­lichen Verwaltungsebenen.11 Als Träger der wichtigsten hoheit­lichen Gemeindeaufgabe, der kommunalen Polizei,12 hatten sie den inneren Frieden ihrer Gemeinden zu wahren. In ihren kommunalpolizei­lichen Ordnungen konkretisierten sie na­tionale Gesetze und Verwaltungserlasse für den lokalen Bedarf. Im Interesse der Wahrung der öffent­lichen Sicherheit und Ordnung forderten sie die Einhaltung von Mindeststandards beim Brandschutz, bei der Wirtshauspolizei, bei der Gewährleistung von öffent­licher Sicherheit und Moral, im öffent­lichen Verkehr, bei der Lebensmittelpolizei und dem Schutz insbesondere des landwirtschaft­lichen Eigentums. Bei der Durchsetzung dieser Ordnungen stützten sie sich auf Feldhüter, Wegewärter, Förster und die Feuer­wehr. Diese Gemeindepolizeiagenten im weiten Sinne standen dabei nicht nur im Brennpunkt latenter und offener Konflikte um die Interpreta­tion von Rechtstiteln und Gewohnheiten, sondern auch im permanenten Verdacht der Begünstigung und Vorteilsnahme. Wie „Durchstaat­lichung“ im Dorf konkret funk­tionierte, soll das Beispiel der Mognéviller Feldpolizei zeigen. Ihre Hauptakteure waren, wie in anderen Landgemeinden, die Feldhüter.13 Sie standen im Brennpunkt von Auseinandersetzungen einer länd­lichen Mangelgesellschaft im Umbruch, die sich zu Beginn des untersuchten Zeitraums seit drei Jahrzehnten in einem Prozess der Ablösung von Besitz- und Nutzungsformen des Ancien Régime bewegte. Insbesondere bei der Nutzung des Gemeindelandes, und hier wiederum vor 11 Hierzu besonders auch: Christine Mayr, Zwischen Dorf und Staat. 12 „Kommunale Polizei“ wird hier im weiten Sinne der Verwaltungswissenschaft als umfassende Zuständigkeit der Gemeinden für die Ordnungsverwaltung verstanden. Der franzö­sische Terminus police municipale entspricht im weitesten Sinne der in der deutschen Verwaltungswissenschaft üb­lichen Bezeichnung „Eingriffspolizei“. ­Hendrik Gröttrup: Die kommunale Leistungsverwaltung. Grundlagen der gemeind­lichen Daseinsvorsorge, Stuttgart, 2. Aufl. 1973, S. 28, 80 – 89, 167. 13 Hierzu ausführ­lich: Norbert Franz, Durchstaat­lichung, S. 128 – 132.

Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume  115

allem bei seiner Verwendung für die Armenfürsorge, ist mit dem Festhalten an alten Gewohnheiten zu rechnen. Gleiches gilt aber auch im Bereich des Wegerechts und tradi­tioneller Viehdriften. Von zentraler Bedeutung für die Amtsführung der Feldhüter war die Tatsache, dass sie in der Dorfgesellschaft lebten, die sie zu beaufsichtigen hatten. Im Juli 1851 nahm der Gemeinderat Mognévilles eine tiefgreifende Korrektur des Feldpolizeiwesens der Gemeinde vor. Anlass war ein Beschluss des Präfekten vom vergangenen Monat, der eine Reorganisa­tion bei den Feldhütern verlangte. Die Zahl der Feldhüter solle den Bedürfnissen und Ressourcen der Gemeinde angepasst, die alten Ernennungsurkunden eingezogen und durch neue ersetzt werden. Daraufhin schlug der Bürgermeister dem Gemeinderat vor, die Zahl der Feldhüter der Gemeinde auf zwei zu reduzieren. Sie sollten Jahresgehälter von jeweils 325 Franken beziehen. Angesichts der Tatsache, dass die beiden Kandidaten als ehrenwerte Männer bekannt waren und dass sich seit mehreren Jahren die Klagen über die Amtsführung der bisherigen Feldhüter häuften, stimmte der Gemeinderat sowohl deren Entlassung zu als auch der Ernennung der neuen Feldhüter durch den Bürgermeister.14 Bei d ­ iesem Vorgang ist nicht nur die Verkleinerung der Zahl der Feldhüter bemerkenswert, sondern auch die Höhe ihrer Gehälter: Es ist auszuschließen, dass die Feldhüter von ihren bislang bekannten Jahresgehältern, die sich ­zwischen 50 und 100 Franken bewegten, ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten. Sie waren also auf weitere Erwerbsquellen angewiesen, sei es aus eigener Landwirtschaft, als Tagelöhner oder durch andere Gemeindeämter. So übten sie gelegent­lich auch das Amt des Gemeindeförsters aus. Dies bedeutet wiederum, dass sie sich auf ihr Feldhüteramt nicht konzentrieren konnten. Anders war dies bei einem Jahresgehalt von 325 Franken, das als auskömm­lich zu bezeichnen ist. Durch zwei gut bezahlte Feldhüter konnte die Feldpolizei viel effizienter ausgeübt werden als durch drei schlecht bezahlte. Doch die Umstrukturierung der Feldpolizei ging noch weiter: Noch im November desselben Jahres konfrontierte der Mognéviller Bürgermeister seinen Gemeinderat mit einem Problem, das dringend einer Lösung bedurfte: Die Gemarkung Mognévilles sei sehr ausgedehnt und von zahlreichen Wegen durchzogen, die beinahe täg­lich ausgebessert werden müssten. Wenn diese zahlreichen kleineren Ausbesserungsarbeiten nicht durchgeführt würden, 14 Beschluss des Mognéviller Gemeinderats vom 10. 7. 1851; Ernennungsurkunde (commission de garde champêtre) für Hypolite Mordillat zum Feldhüter von Mognéville; ernannt am 10. 7. 1851, durch den Präfekten bestätigt am 6. 9. 1851; Archives Départementales de la Meuse, Bar-­le-­Duc (im Folgenden abgekürzt ADM), 2 O 788.

116 Norbert Franz

s­ eien die Aufwendungen der Gemeinde für den Unterhalt der Gemeindewege nicht sehr effizient. Die Bauern wiederum forderten lautstark, dass die Gemeinde ihnen gute Wege zum Transport ihrer Ernten und ihres Düngers zur Verfügung stellen solle. Die Schaffung des Amtes eines Wegewärters sei das beste Mittel, die Situa­tion zu verbessern. Da die Gemeinde jedoch bereits mit allzu zahlreichen Bediensteten belastet sei, solle einer der beiden Feldhüter sein bisheriges Amt mit dem eines Wegewärters vertauschen. Der Gemeinderat hielt einen Feldhüter für ausreichend und befürwortete die Ernennung des bisherigen Feldhüters Claude Charles Souchois zum neuen Wegewärter der Gemeinde.15 So – mit je einem Feldhüter und einem Wegewärter – verfuhr die Gemeinde wiederum nahezu zwei Jahrzehnte lang. Allerdings wurde der bisherige Feldhüter, der um seine Entlassung gebeten hatte, im Oktober 1861 durch einen 30-jährigen ehemaligen Soldaten ersetzt. Im November 1871 kam der Mogné­ viller Gemeinderat zu der Ansicht, dass die ausgedehnte Gemarkung der Gemeinde doch nicht von nur einem Feldhüter überwacht werden könne, und bat daher den Präfekten um die Erlaubnis, einen zweiten einstellen zu dürfen, wobei sich die beiden Feldhüter das im Budget bislang für nur einen vorgesehene Gehalt teilen sollten. Ende Januar wurden zwei weitere ehemalige Soldaten zu Feldhütern der Gemeinde ernannt. Der bisherige Feldhüter hatte seine Entlassung beantragt. Er war offenbar nicht bereit, für ein halbiertes Gehalt zu arbeiten. Angesichts der Kriegsverluste und der anstehenden Investi­tionen sah sich die Gemeinde zu drastischen Sparmaßnahmen gezwungen. Die wirtschaft­liche Lage der Feldhüter war damit jedoch wieder überaus prekär geworden, da sie erneut auf Nebentätigkeiten angewiesen waren, von denen die Unabhängigkeit und Unpartei­lichkeit ihrer Amtsführung beeinträchtigt werden konnte. Allerdings konnte es sich dabei nur um eine kurzfristige Maßnahme handeln, denn die Ausgaben der Gemeinde für die Feldpolizei stiegen in den letzten beiden Jahrzehnten des betrachteten Zeitraums stetig. Die Einkünfte der einzelnen Feldhüter lagen ­zwischen 250 und 300 Franken. Ihre ­sozia­le Herkunft bleibt allerdings weitgehend im Dunkeln, doch ist davon auszugehen, dass sie über ein kleines Zubrot aus Landwirtschaft oder Gartenbau verfügen konnten. Insgesamt verbesserte sich die wirtschaft­liche Lage der Feldhüter Mognévilles im betrachteten Zeitraum ganz erheb­lich. Auch Entlassungen wegen schlechter Amtsführung, die in der ersten Jahrhunderthälfte die Regel waren,

15 Beschluss des Mognéviller Gemeinderats vom 6. 11. 1852; ADM, 2 O 788.

Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume  117

wurden selten. Überhaupt waren die Dienstzeiten der Mognéviller Feldhüter, gemessen an ihrer schwierigen sozia­len und wirtschaft­lichen Lage, erstaun­ lich lange. Und bei allen Entlassungen wegen unzuläng­licher Amtsführung, die bei ihnen vorkamen, blieben größere Skandale offenbar aus. Daraus ist zu schließen, dass die Feldpolizei dieser Gemeinde offenbar vergleichsweise gut funk­tionierte und sich zunehmend professionalisierte.16 Doch nicht nur im Bereich der umfassenden kommunalen Polizeitätigkeit sind die Durchstaat­lichungsprozesse, verstanden als Integra­tion der Gemeinden in die gesamtstaat­liche Organisa­tion, fassbar: Die Analyse der gesamten Verwaltungstätigkeit der drei hier betrachteten Gemeinden hat gezeigt, dass die Durchstaat­lichung dann besonders rasch voranschritt, wenn die Kommunen auf die Unterstützung der übergeordneten staat­lichen Ebenen für den Ausbau von Infrastrukturen unterschied­lichster Art, für Armen- und Gesundheitshilfe angewiesen waren. Diese Integra­tionsimpulse wirkten daher weniger im Bereich der Gemeindepolizei und der kommunalen „Ordnungs“- oder „Eingriffsverwaltung“, aus dem das Fallbeispiel stammt, sondern vor allem in drei Bereichen der kommunalen Leistungsverwaltung: in den Tätigkeitsfeldern Sozia­les, Verkehr und Kultur. Im sozia­len Sektor der Gemeindetätigkeit wurde die Armenfürsorge reglementiert und nach den Regeln der Verwaltung organisiert. Auch die tradi­ tionelle „Wohltätigkeit“ der oberen Gesellschaftsschichten, deren Stiftungen in die kommunale Armenverwaltung integriert wurden, waren nun den Regeln der Verwaltung unterworfen.17 Auf dem Feld der kommunalen Verkehrsinfra­ struktur verbanden sich die eigens wieder eingeführten tradi­tionellen Wegebaufronen und -abgaben mit einer von höheren Verwaltungsebenen kontrollierten kommunalen Finanzverwaltung und einer professionellen Leitung der 16 Beschluss des Generalsekretärs der Präfektur in Vertretung des Präfekten vom 22. 10. 1861; ADM, 2 O 788; Beschluss des Mognéviller Gemeinderats vom 9. 11. 1871; Genehmigungsvermerk des Generalsekretärs der Präfektur in Vertretung des Präfekten vom 27. 11. 1871; Beschluss des Präfekten vom 25. 1. 1872; ADM, 2 O 788. 17 Norbert Franz, Durchstaat­lichung, S. 181 – 226; den Anstoß gaben für Frankreich folgende Gesetze und Verordnungen: das Gesetz vom 23. Vendémiaire des Jahres II (15. 10. 1793); der Erlass vom 16. 10. 1793 zur Einführung der öffent­lichen Armenhilfe, in: Alexander von Daniels: Handbuch der für die König­lich Preußischen Rheinprovinzen verkündigten Gesetze, Verordnungen und Regierungsbeschlüsse aus der Zeit der Fremdherrschaft, Bd. 2, Köln 1834, S. 473 f.; Gesetz vom 7. Frimaire des Jahres V (27. November 1796) über die Einrichtung der Bureaux de Bienfaisance; Christine André/Robert Delorme: L’évolu­tion des dépenses publiques en longue période et le rôle de l´état en France (1872 – 1971) – une interpréta­tion, Tome II, Paris 1979, S. 358, 371.

118 Norbert Franz

Erhaltungs- und Ausbauarbeiten durch die staat­liche Bauverwaltung.18 Die stärksten und wirkungsmächtigsten Durchstaat­lichungsschübe sind im öffent­ lichen Primärschulwesen zu beobachten. Von einer noch unter dem ­Ersten Kaiserreich als Nebensache behandelten Staatsaufgabe wurde es sowohl in Frankreich als auch in Luxemburg spätestens seit der Juli-­Monarchie und den Anfängen eines eigenen luxembur­gischen Staatswesens in den 1840er Jahren zu einer staat­lichen Kernaufgabe von strate­gischer Bedeutung. Dies ging einher mit einer zunehmenden „Entkirch­lichung“ des Unterrichts in Frankreich, weniger dagegen in Luxemburg.19 Doch grundsätz­lich wurde das Schulwesen in beiden Ländern, die hier betrachtet wurden, eine Angelegenheit des Staates und seiner kommunalen Ebene.

2. Die Ausweitung der Staatstätigkeit auf Gemeindeebene Diese Befunde berühren somit nicht nur die Durchstaat­lichung, sondern auch die Ausweitung der Staatstätigkeit – den zweiten Prozess also, der hier untersucht wurde. Sie erweisen sich besonders deut­lich bei der Analyse der kommunalen Finanzhaushalte und der Interpreta­tion ihrer Ergebnisse auf dem Niveau der stark abstrahierenden dritten Ebene des dreistufigen Kategorienrasters dieser Finanz­ analysen. Dabei hat sich gezeigt, dass der Schwerpunkt der Investi­tionstätigkeit der franzö­sischen Gemeinde Mognéville auf der Verkehrsinfrastruktur und dem Kultursektor lag. Ihre wachsenden Aufwendungen finanzierte diese Gemeinde in den ersten beiden Dritteln des betrachteten Zeitraums durch ihr Gemeindevermögen, insbesondere die Erträge des Gemeindewalds. Im letzten Drittel des betrachteten Zeitraums kamen Darlehen der Regierung hinzu. Auch die zweite betrachtete franzö­sische Gemeinde, Resson, finanzierte ihre Aufwendungen in den ersten beiden Perioden durch die Erträge ihres Gemeindewaldes, ­später auch

18 Erlass 9. Thermidor des Jahres X (23. Juli 1802), anschließend an die Gesetze vom 6. Oktober 1791, vom 16. Frimaire des Jahres II (6. Dezember 1793), vom 15. Frimaire des Jahres VI (5. Dezember 1797), vom 11. Frimaire des Jahres VII (1. Dezember 1798) ; vgl. auch Armand Husson: Traité de la législa­tion des travaux publics et de la voirie en France, 2 Bde., Paris 1841, Bd. 2, S. 505; vgl. Norbert Franz, Durchstaat­lichung, S. 237 – 283, u. v. a. die aufwändige Reparatur der Saulx-­Brücke in Mognéville in den Jahren 1831 – 39; ADM, E dépôt 256, 1 O 2. 19 Vgl. u. a. Gesetz vom 28. Juni 1833 (Loi Guizot), die Schulgesetze Jules Ferrys 1879 – 82, vgl. Félix Ponteil: Histoire de l’enseignement en France. Les grandes étapes, 1789 – 1965, Tours 1966, S. 285 f.; Norbert Franz, Durchstaat­lichung, S. 288 – 295.

Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume  119

durch Darlehen sowie Gemeindesteuern. In der Bilanz flossen die Überschüsse aus diesen Mitteln vor allem in den kulturellen Sektor der Gemeindetätigkeit. Auch in der luxembur­gischen Vergleichsgemeinde Wormeldingen diente der Gemeindewald, zumindest in den beiden ersten Dritteln des betrachteten Zeitraums, als wichtigste Finanzquelle der Gemeinde. Diese Mittel flossen zunächst vor allem in den kulturellen Sektor der Gemeindetätigkeit. Die durch ein ehrgeiziges Brückenbauprojekt verursachten hohen Verkehrsinfrastrukturkosten der letzten Vergleichsperiode – dies wird im dritten Teil ­dieses Beitrags als Fallbeispiel erläutert – wurden durch staat­liche Beihilfen und Verschuldung der Gemeinde finanziert. Die Gemeindesteuern blieben dagegen stabil. Wegen der Finanzierung des Schuldendienstes durch den Brückenzoll führte dies allerdings zu einer erheb­lichen Erhöhung der Gemeindelasten, die frei­ lich nicht ausschließ­lich die Einwohner Wormeldingens, sondern alle Nutzer dieser wichtigen Verkehrsverbindung trugen. Dies wird im Folgenden durch die Ergebnisse der Finanzanalysen begründet. Die erste der folgenden Tabellen gibt einen Überblick der Gesamtaus­ gaben im betrachteten Zeitraum. Dabei ist zu beachten, dass Saldoüberträge und von Jahr zu Jahr fortgeschriebene Forderungen oder Verbind­lichkeiten nicht thesauriert wurden. Tätigkeitsfeld

Mognéville

Resson

Wormeldingen

7,3

14,1

15,8

Belastungen

17,2

23,6

13,5

Herrschaft

17,1

15,5

17

Gemeindevermögen

Sozia­les

1,6

1,8

2,6

Verkehr

29,8

16,8

25,9

Kultur

27,0

28,2

25,2

Gesamt

100,0

100,0

100,0

Tabelle 1 

Relative Gewichtung der Gemeindetätigkeit: Verteilung der Ausgaben im Untersuchungszeitraum (1805 – 1890) pro Tätigkeitsfeld und Gemeinde (in Prozent der Gesamtausgaben). Die Daten dieser und der folgenden Tabellen aus: Franz, Durchstaat­lichung, S.  427 – 429.

Die zweite hier vorgestellte Tabelle gibt einen Überblick der Entwicklungstendenzen der Gemeindeeinnahmen. Das „21-jährige Mittel in Franken pro Einwohner und Jahr“ bildet das Tertium Compara­tionis dieser vergleichenden Finanzanalyse.

120 Norbert Franz Tätigkeitsfeld und Jahr

Mognéville

Resson

Wormeldingen

1830

5,35

3,88

1,99

1855

10,59

5,59

3,39

1880

15,80

6,19

6,66

1830

0,69

0,31

0,00

1855

0,22

0,29

0,49

1880

9,63

6,72

6,29

1830

0,51

0,32

0,99

1855

0,72

0,63

0,59

1880

1,62

3,63

1,60

1830

0,00

0,00

0,00

1855

0,00

0,00

0,00

1880

0,00

0,00

0,00

1830

0,79

0,08

0,10

1855

2,26

1,81

0,56

1880

3,22

3,08

1,33

Gemeindevermögen

Fremdmittel/Belastungen

Hoheit­liche Aufgaben

Sozia­les

Verkehrswesen

Kultur 1830

0,01

0,03

0,41

1855

0,77

1,02

0,75

1880

0,52

1,30

1,14

Gesamthaushalte 1830

7,36

4,62

3,49

1855

14,56

9,34

5,79

1880

30,80

20,92

17,02

Tabelle 2 

Schwerpunkte der Gemeindetätigkeit (1): Die Einnahmen der drei Untersuchungsgemeinden 1830, 1855 und 1880 (21-jähriges Mittel, in Franken pro Einwohner und Jahr).

Die dritte Tabelle gibt einen Überblick der Entwicklungstendenzen der Gemeindeausgaben im Untersuchungszeitraum. Die Ausgaben sind besonders geeignet, die (quantitativen) Schwerpunkte der Gemeindetätigkeit zu ermitteln.

Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume  121 Tätigkeitsfeld und Jahr

Mognéville

Resson

Wormeldingen

1830

1,06

1,24

0,45

1855

0,79

2,02

1,02

1880

2,06

1,56

2,58

1,08

1,22

0,67

1855

1,02

1,76

0,82

1880

7,68

5,31

1,88

1,99

0,86

0,46

1855

2,57

1,38

1,04

1880

3,33

2,56

2,69

1830

0,16

0,11

0,02

1855

0,14

0,04

0,07

1880

0,58

0,55

0,54

Gemeindevermögen

Fremdmittel/Belastungen 1830

Hoheit­liche Aufgaben 1830

Sozia­les

Verkehrswesen 1830

1,94

0,11

0,14

1855

5,26

1,79

0,86

1880

6,46

3,52

6,16

Kultur 1830

0,83

0,78

0,70

1855

3,94

2,38

2,05

1880

10,68

7,69

3,78

1830

-7,07

-4,32

-2,44

1855

-13,72

-9,37

-5,86

1880

-30,80

-21,20

-17,63

Gesamthaushalte

Tabelle 3 

Schwerpunkte der Gemeindetätigkeit (2): Die Ausgaben der drei Untersuchungsgemeinden 1830, 1855 und 1880 (21-jähriges Mittel, in Franken pro Einwohner und Jahr).

Interne Subven­tionen in den Gemeindehaushalten werden in der vierten Tabelle deut­lich. Sie gibt einen Überblick der Überschüsse und der Defizite der einzelnen Tätigkeitsfelder sowie der Gesamthaushalte der drei Gemeinden im Untersuchungszeitraum.

122 Norbert Franz Tätigkeitsfeld und Jahr

Mognéville

Resson

Wormeldingen

1830

4,29

6,24

1,54

1855

9,80

3,57

2,38

1880

13,74

4,63

4,07

1830

-0,39

-0,90

-0,67

1855

-0,81

-1,47

-0,33

1880

1,95

1,42

4,41

-1,47

-0,54

0,53

1855

-1,85

-0,76

-0,45

1880

-1,70

1,06

-1,10

1830

-0,16

-0,11

-0,02

1855

-0,14

-0,04

-0,07

1880

-0,58

-0,55

-0,54

Gemeindevermögen

Fremdmittel/Belastungen

Hoheit­liche Aufgaben 1830

Sozia­les

Verkehrswesen 1830

-1,14

-0,03

-0,04

1855

-3,00

-0,02

-0,29

1880

-3,24

-0,44

-4,82

1830

-0,82

-0,75

-0,29

1855

-3,17

-1,35

-1,29

1880

-10,16

-6,40

-2,64

Kultur

Gesamthaushalte 1830

0,29

0,30

1,04

1855

0,84

-0,04

-0,07

1880

0,00

-0,28

-0,61

Tabelle 4 

Interne Subven­tionen der Gemeindetätigkeit: Überschüsse und Defizite der einzelnen Tätigkeitfelder 1830, 1855 und 1880 (21-jähriges Mittel, in Franken pro Einwohner und Jahr).

Die Gesamtschau der Finanzanalysen zeigt, dass Primärschulen und Verkehrswesen im betrachteten Zeitraum die zentralen Felder der Ausweitung der Staatstätigkeit auf Gemeindeebene waren. Anders als die aufwändigen

Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume  123

Brückenbauvorhaben, die nur mit Hilfe von Zuschüssen aus den Budgets von Regierung und mittlerer Verwaltungsebene realisiert werden konnten, ruhten Erhalt und Ausbau des kommunalen Wegenetzes in hohem Maße auf Eigenleistungen und zweckgebundenen Abgaben der Einwohner. Wegen der vergleichsweise günstigen Ausstattung der betrachteten Kommunen mit Gemeindewaldungen war tendenziell eine überwiegende Finanzierung der Ausweitung der Gemeindetätigkeit aus dem Gemeindevermögen mög­lich. Die Verschuldung blieb in der Regel gering, oder sie wurde durch sichere neue Einnahmequellen, wie etwa eine Brückenmaut, refinanziert. Während die beiden franzö­sischen Gemeinden nennenswerte Hilfen aus Mitteln ihrer Regierung vor allem in Gestalt von Entschädigungsleistungen für Kriegslasten und als Beihilfen für den Ausbau des Primärschulwesens empfingen, profitierte die luxembur­gische Beispielgemeinde in hohem Maße von Regierungsbeihilfen für Schulen, für die Verkehrsinfrastruktur und in geringerem Maße auch für die Armenfürsorge. Diese Beihilfen aus Mitteln der zentralen Staatshaushalte zeigen sehr deut­lich die fortschreitende Einbindung dieser drei Landgemeinden in die gesamtstaat­liche Organisa­tion an.

3. Handlungsspielräume der Gemeindeverwaltungen Die potentiellen Handlungsspielräume der drei Kommunalverwaltungen wurden wesent­lich von den materiellen Bedingungen ihrer Tätigkeit beeinflusst. Das wirtschaft­lich vergleichsweise gut ausgestattete Mognéville agierte auf der Grundlage eines statt­lichen Gemeindewaldes. Durch dessen Vergrößerung in wirtschaft­lich äußerst schwieriger Zeit leitete die Kommunalverwaltung die nachhaltige Stärkung der wichtigsten finanziellen Basis ihres Handelns ein. Da sie hier gemeinsam mit den Eigentümern der Mognéviller Privatwälder agierte, stärkte sie die Forst- und Holzwirtschaft als vierte tragende Säule der lokalen Wirtschaft neben Ackerbau, Viehzucht und Weinbau. Dieser Prozess wurde durch den Anschluss der Gemeinde an das Eisenbahnnetz, den die Verwaltung ebenfalls unterstützte, weiter gefördert.20 Die Handlungsspielräume der zweiten franzö­sischen Gemeinde Resson wurden durch die schrumpfende lokale Wirtschaft, die unter der Weinschädlingsplage litt, erheb­lich gemindert. Die Gemeindeführung handelte überdies kontraproduktiv: Indem sie die Fläche des Gemeindewaldes durch Verkäufe

20 Vgl. Norbert Franz, Durchstaat­lichung, S. 77 – 84, 93 – 99.

124 Norbert Franz

verkleinerte, um kurzfristigen Finanzbedarf zu decken, schmälerte sie die wichtigste materielle Basis ihres Ak­tionspotentials nachhaltig. Auch die Führung der luxembur­gischen Gemeinde Wormeldingen konnte sich auf einen Gemeindewald stützen. Dies erlaubte ihr, den Ausbau von Primärschulwesen und Verkehrsinfrastruktur ohne massive Erhöhungen der Gemeindelasten durchzuführen. Nachdem die Zollunion mit Preußen und die Eisenbahnlinie auf der benachbarten Moselseite der lokalen Wirtschaft neue Perspektiven eröffnet hatten, führte die Gemeindeverwaltung das Großprojekt des Moselbrückenbaus durch. Dies ermög­lichte den Einwohnern Wormeldingens und seiner Nachbargemeinden, die neuen wirtschaft­lichen Chancen auch zu ­nutzen. Dabei erweiterte sie ihre Handlungsspielräume erheb­lich, indem sie öffent­liche und private Finanzmittel mobilisierte, die sie durch eine neue Zwangsabgabe absicherte. Die Handlungsspielräume der Gemeinden lassen sich an dem folgenden Fallbeispiel – dem Bau der Moselbrücke in Wormeldingen – besonders deut­lich aufzeigen. Dieses Großprojekt berührte nicht allein die Interessen dieser Ortschaft und der umliegenden Gemeinden, sondern auf gesamtstaat­licher Ebene jene des Großherzogtums Luxemburg und des Deutschen Reiches mit seinem Bundesstaat Preußen.21 Den Anstoß für das Projekt gab eine Peti­tion, die zahlreiche Einwohner Wormeldingens Anfang November 1880 an die luxembur­gische Abgeordnetenkammer richteten und der sich auch Einwohner benachbarter Dörfer anschlossen.22 Die insgesamt etwa 240 Petitenten wünschten sich nach dem Vorbild der Nachbarstädte Remich und Grevenmacher eine Brücke als sichere Verkehrsverbindung mit der preußischen Moselseite und ihrer Eisenbahnlinie. Sie begründen ihr Anliegen damit, dass die Moselfähre etwa die Hälfte des Jahres wegen ungünstiger Witterung, Hochwasser oder Eisgang nicht benutzbar sei. Die Verbindung mit dem rechten Moselufer sei jedoch aus zwei Gründen lebenswichtig: Zum einen hätten sie Ackerflächen und Wiesen auf dieser Moselseite. Zum anderen diene die landwirtschaft­liche Fläche Wormeldingens größtenteils dem Weinbau, so dass sie Vieh, Futter und Lebensmittel aus den preußischen Nachbargebieten beziehen müssten. Dies gelte auch für zahlreiche Nachbardörfer. Umgekehrt ­seien die überwiegend Ackerbau treibenden preußischen Orte der rechten Moselseite darauf angewiesen, ihre Erzeugnisse in Wormeldingen 21 Vgl. Norbert Franz, Durchstaat­lichung, S. 273 – 282; dort auch Quellennachweise der Einzelbelege in: Archives Na­tionales du Grand Duché de Luxembourg (im Folgenden abgekürzt ANLux), Bestand H 1024, Faszikel 314 b. 22 Peti­tion zahlreicher Einwohner Wormeldingens und benachbarter Ortschaften an die Regierung vom 3. 11. 1880, ANLux, H 1024/314b.

Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume  125

abzusetzen. Die preußische Moselbahn habe diesen regen Handel noch verstärkt, so dass es erforder­lich sei, die Mosel bei jedem Wetter und zu jeder Tages- und Nachtzeit überqueren zu können. Darüber hinaus hofften sie auf eine allgemeine wirtschaft­liche Belebung und die Ansiedlung von Handels- und Industrieunternehmen in Wormeldingen. Die Petitenten glaubten ein mora­lisches Anrecht auf die Finanzierung des Projekts durch die Regierung zu haben, da bereits andere Gemeinden in den Genuss derartiger Unterstützungen gekommen waren. Wenig ­später wandte sich auch der Gemeinderat an die Regierung mit der Bitte um finanzielle Hilfe für den Bau einer Moselbrücke. Er argumentierte auf der Linie, die die Petitenten vorgegeben hatten: Besonders betonte er, dass die Fährverbindung sehr unsicher sei, da Treibeis oder Stürme die Überfahrt behinderten und die Mosel im Winter bis zu vier Monate lang von gefähr­lichem dünnen Eis bedeckt sei, so dass es den Luxemburgern fast ein Drittel des Jahres unmög­lich sei, die Mosel auf dem Wasserweg zu überqueren. Notwendig sei die Brücke vor allem, um die Luxemburger Moselregion mit dem benachbarten Preußen zu verbinden und ihr einen Anschluss an die preußische Moselbahn zu verschaffen. Sie erlaube es Luxemburg, die „durch die Gelder einer fremden Na­tion gebaute Eisenbahn, zu der seinigen“ zu machen und von ihren Vorteilen zu profitieren.23 Die Initiative für den Bau der neuen Brücke ging also von der lokalen Bevölkerung und ihrer Kommunalvertretung aus. Sie erhofften sich einen wirtschaft­lichen Aufschwung ihrer Region, bessere Anbindung an die ökonomisch komplementär strukturierten Gebiete öst­lich der Mosel und leichten Zugang zu der wichtigen Eisenbahnverbindung auf der preußischen Moselseite. Das zentrale innenpolitische Argument der Wormeldinger stellte ihre „Benachteiligung“ gegenüber den Nachbarstädten Remich und Grevenmacher dar, denen die Regierung mit erheb­ lichen finanziellen Mitteln den Bau von Brücken über die Mosel ermög­licht hatte. Der Leiter der staat­lichen Baubehörde stimmte d ­ iesem Anliegen prinzipiell zu, wenn die Wormeldinger bereit ­seien, einen Großteil der finanziellen Lasten auf sich zu nehmen. Aus Kostengründen sprach er sich für die technische Ausführung der Brücke als Eisenkonstruk­tion aus. Eine erste Orientierung über die Größenordnung der zu erwartenden Kosten gab ein Kostenvoranschlag des Ingenieurs Worré aus Luxemburg, den dieser dem Gemeinderat von Wormeldingen am 30. April 1881 vorgelegt hatte. Demnach sollten die zu erwartenden Gesamtkosten 200.000 Franken erreichen. Zur Finanzierung dieser Summe, die das Volumen des Gemeindehaushaltes um ein Vielfaches übertraf, wurde die

23 Beschluss des Wormeldinger Gemeinderats vom 18. 11. 1880; ANL ux, H 1024/314b, Zitat ebenda.

126 Norbert Franz

Erhebung eines Brückenzolls erwogen, aus dem die staat­liche Bauverwaltung Einnahmen in Höhe der Erträge des bisherigen Fährbetriebs erwartete. Der Distriktkommissar, der als Mittelbehörde Regierungsbeschlüsse vorbereitete, unterstützte das Anliegen der Gemeinde Wormeldingen.24 Nachdem sich auch der Peti­tionsauschuss der luxembur­gischen Abgeordnetenkammer für das Projekt und für die Gewährung eines Regierungszuschusses ausgesprochen hatte, leitete der Innenminister erste Schritte im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens ein und nahm Verhandlungen mit der preußischen Regierung auf. Die preußischen Stellen in Trier, das Landesdirektorium der Rheinprovinz in Düsseldorf und das Innenministerium in Berlin erhoben keine grundsätz­lichen Einwände gegen das Projekt, lehnten aber eine finanzielle Beteiligung an den Baukosten ab. Gleichzeitig machten die preußischen Stellen technische Auflagen für den Brückenbau, die das „Durchflussprofil“ der Brücke und ihre Ausführung als Eisenkonstruk­tion betrafen.25 Nun trat das Projekt in die entscheidende Phase, in der sich die Fragen der Finanzierung des Projekts und, damit zusammenhängend, die Durchführung des Baus als Stein- oder als Eisenbrücke zuspitzten. Im September 1884 bat der Wormeldinger Gemeinderat seine Regierung um eine den Beihilfen für ­Grevenmacher und Remich entsprechende Zuschuss und um die Erlaubnis, die übrigen Baukosten durch eine Anleihe zu decken. Er hatte sich für die Bauvariante einer eisernen Brücke entschieden und verteilte die Kosten des Baus ­zwischen den beiden betroffenen Sek­tionen – Ortschaften – der Gemeinde nach den zu erwartenden Vorteilen: Wormeldingen sollte 95 Prozent der Kosten übernehmen, Ehnen nur fünf Prozent.26 Doch außerhalb des Gemeinderats erhob sich Widerstand gegen das Projekt, insbesondere in jenen Teilen der Gemeinde, die zwar an der Aufbringung der Kosten beteiligt wurden, deren Bewohner aber nur wenig von der Brücke zu profitieren meinten. Der entscheidende Punkt war daher die Kostenfrage:

24 Brief des Ingenieurs Worré an den Inspecteur en chef Sivering, beide Luxemburg, 15. 10. 1881; ANLux, H 1024/314b. 25 Brief der preußischen Regierung in Trier an den Generaldirektor des Inneren in Luxem­ burg vom 21. 3. 1883; ANLux, H 1024/314b. 26 Brief des Generaladministrators des Inneren an den Distriktkommissar in ­Grevenmacher vom 4. 8. 1884; Schreiben des Distriktkommissars an den Generaladministrator des Inneren vom 7. 10. 1884; zwei Beschlüsse des Wormeldinger Gemeinderats 21. 9. 1884; Brief des Generaladministrators des Inneren an den Distriktkommissar vom 8. 11. 1884; Antwort des Distriktkommissars am 10. 12. 1884, beiliegend der Beschluss des Wormeldinger Gemeinderats vom 4. 12. 1884; ANLux, H 1024/314b.

Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume  127

Anfangs habe man die Gesamtkosten auf 130.000 Franken geschätzt und den Regierungszuschuss auf 100.000 Franken. Nun werde das Projekt teurer. Man befürchtete, dass sich die Sek­tion Wormeldingen mit ­diesem Brückenbauprojekt finanziell für Jahrzehnte ruiniere, wenn sie die Hälfte der Gesamtkosten zu tragen habe. Die Befürchtungen dieser Wormeldinger hatten vielleicht damit zu tun, dass der Gemeinderat nun wieder die aufwändigere Variante des Baus einer Steinbrücke favorisierte. Da Grevenmacher seinen Brückenzoll für 5000 Franken jähr­lich verpachtet hatte, hoffte man auf entsprechend hohe Einnahmen für Wormeldingen nach Fertigstellung der eigenen Brücke. Und so war man nun wieder für den Bau einer steinernen Brücke.27 Anfang März 1885 brachte der Abgeordnete de Muyser – der Bruder des Greven­macherer Distriktkommissars – einen Entwurf des Gesetzes über den Bau der Wormeldinger Brücke in die Abgeordnetenkammer ein. Er wurde dabei von weiteren vier Abgeordneten unterstützt. Er schlug vor, dass die Regierung 50 Prozent der Baukosten der Moselbrücke übernehmen solle, höchstens jedoch 90.000 Franken. Er begründete seinen Antrag ausführ­lich: Die Bevölkerung habe erkannt, dass bequeme Verkehrsverbindungen eine der wichtigsten Ursachen materiellen Wohlstands ­seien. Sie bemühe sich darum ener­gisch um die Schaffung von Eisenbahnverbindungen und um Anbindung an das Eisenbahnnetz. In Wormeldingen wünsche man sich eine direkte, dauerhafte, leichte und ungefähr­liche Verbindung mit der Eisenbahnsta­tion auf der anderen Moselseite. Um dies zu verwirk­lichen, sei die Gemeinde bereit, große Opfer für den Bau einer Brücke auf sich zu nehmen, wenn der Staat auch seinen Beitrag leiste.28 Doch nun wandten sich einflussreiche Kreise gegen das Projekt Wormeldinger Moselbrückenbau: Mitte März 1885 ersuchte der Staatsminister den Staatsrat um seine Stellungnahme zu dem Brückenbauvorhaben. An der Spitze dieser Institu­ tion, die eher beratenden als beschließenden Charakter hatte, stand mit Emmanuel Servais einer der bedeutendsten luxembur­gischen Politiker dieser Zeit. Eine latente Gefährdung des Wormeldinger Projekts bedeutete Servais’ eher rhetorische Frage, ob angesichts der Nähe Wormeldingens zu den Brücken von Remich und Greven­ macher nicht andere Orte des Landes für vergleichbare Bauten eher Anspruch auf staat­liche Hilfen hätten. Vor allem bezweifelte der Staatsrat, dass der auf der rechten Moselseite gelegene Luxemburger Grundbesitz den Bau rechtfertige.29 27 Anonymer Brief an den Staatsminister vom 13. 3. 1885; Beschluss des Wormeldinger Gemeinderats vom 20. 3. 1885; ANLux, H 1024/314b. 28 Gesetzesinitiative des Abgeordneten de Muyser und vier weiterer Abgeordneter vom 3. 3. 1885; ANLux, H 1024/314b. 29 Sitzung des Staatsrates vom 1. 5. 1885; ANLux, H 1024/314b.

128 Norbert Franz

Der Distriktkommissar argumentierte dagegen gegenüber dem General­ direktor des Inneren ganz auf der Linie des Wormeldinger Gemeinderats. Insbesondere betonte er die Abhängigkeit der luxembur­gischen Moselseite von den Lieferungen aus den angrenzenden preußischen Dörfern. Bei der Finanzierung des Projekts rechne die Gemeinde zum einen mit einer hohen Beihilfe der Regierung. Zum anderen gehe sie davon aus, dass die Sek­tion Wormeldingen 100.000 Franken selbst zu tragen habe. Diese Summe sei durch Kredite zu finanzieren, deren Annuitäten durch die etwa 5000 Franken aufgebracht werden könnten, die der Brückenzoll einbringe. Die Bevölkerung sei über die künftigen Lasten der Gemeinde informiert und wolle den Bau.30 Im Dezember 1885 gab der Staatsrat nach. Er betonte jedoch, dass die Wormeldinger Brücke nicht in gleichem Maße von öffent­lichem Interesse sei wie die beiden Brücken von Remich und Grevenmacher. Daher votierte der Staatsrat für eine Regierungsbeihilfe, die mit 75.000 bis 80.000 Franken deut­lich unter den Hilfen für die beiden älteren Moselbrücken lag. Die Sec­tion Centrale der Kammer schloss sich dieser Einschätzung an. Daher fiel der Regierungszuschuss, den die Abgeordneten befürworteten, mit 75.000 Franken entsprechend niedrig aus. Und sie votierten für die billigere Bauvariante einer Eisenkonstruk­tion.31 Angesichts des geringer als erhofft ausgefallenen Regierungszuschusses folgte der Wormeldinger Gemeinderat der Empfehlung der Kammer, eine billigere Eisenbrücke zu bauen. Bei geschätzten 170.000 Franken Gesamtkosten ließ er sich ein Kreditvolumen von 100.000 Franken genehmigen. Die Brückenbauarbeiten wurden öffent­lich ausgeschrieben und versteigert. Entsprechend den endgültigen Plänen sollten der Unterbau der Brücke als Mauerwerk und der Oberbau als Stahlkonstruk­tion ausgeführt werden. Der ursprüng­lich vorgesehene Abschluss der Arbeiten zum 1. Mai 1888 verzögerte sich durch „höhere Gewalt“. Erst am 12. Februar 1890 konnte die Brücke offiziell für den Verkehr freigegeben werden.32

30 Stellungnahme des Distriktkommissars gegenüber dem Generaldirektor des Inneren vom 20. 7. 1885; bei ­diesem Aktenstück findet sich auch eine Aufstellung des Gemeindevermögens der Sek­tion Wormeldingen, die der Kommissar auf den 21. 6. 1885 datierte. Sie diente der Prüfung der Kreditwürdigkeit der Sek­tion und wurde in unserer Darstellung für die Analyse des Gemeindevermögens verwendet; ANLux, H 1024/314b. 31 Gesetz vom 28. April 1886, wodurch die Theilnahme des Staates an den Kosten der Erbauung einer Brücke über die Mosel zu Wormeldingen bestimmt wird; ANLux, H 1024/314b; Mémorial du Grand-­Duché de Luxembourg, Mercredi, 5 mai 1886, no. 26, S.  339 f. 32 Beschluss des Wormeldinger Gemeinderats vom 11. 5. 1888; Zahlungsanweisungen des Generaldirektors des Inneren, Kirpach, vom 25. 5. 1888 und der Rechnungskammer vom

Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume  129

Die Geschichte des Wormeldinger Brückenbauprojektes kann also als Musterbeispiel für die beiden Prozesse gelten, die im Zentrum dieser Untersuchung stehen: Ohne das Zusammenwirken aller staat­lichen Ebenen und der zuständigen Bauverwaltung wäre diese Brücke weder geplant noch gebaut noch finanziert worden. Und indem die Wormeldinger Gemeindeverwaltung diese Brücke als politisches Ziel wählte, weitete sie ihre kommunale Leistungsverwaltung in einem Maße aus, das bis dahin für eine solch kleine Gemeinde unvorstellbar erschienen war. Zusammenfassend ist für diesen Abschnitt festzuhalten, dass das Beispiel Mognévilles zeigt, dass eine ausgeprägte politische Stabilität günstig für die Nutzung potentieller Handlungsspielräume war. Wenn starke Führungspersön­ lichkeiten ihr Amt über Jahrzehnte hinweg ausübten und auf breite Zustimmung innerhalb der lokalen Gesellschaft zählen konnten, setzten sie sich im Konfliktfall auch gegen die mächtige Präfektur durch. War eine Gemeindeführung dagegen wie in Resson aufgrund innergemeind­licher Konflikte nicht in der Lage, die Kräfte der Gemeinde zu bündeln, wurde das Handlungspotential nur unzureichend ausgeschöpft; so auch im luxembur­gischen Wormeldingen. Erst als es der Führung dieser Gemeinde gelang, die innere Spaltung der lokalen Gesellschaft zu überwinden, war die Verwirk­lichung des wichtigsten Projekts der kommunalen Leistungsverwaltung der betrachteten Gemeinden – einer großen Moselbrücke – mög­lich. Dabei verbanden sich die Führungsgruppen mit großen Teilen der Gesamtbevölkerung. Sie erweiterten das Handlungs­ potential dieser Gemeindeverwaltung in nie gekannte Größenordnungen und schöpften es konsequent aus.

4. Fazit und Perspektiven Die exemplarische Untersuchung dreier Landgemeinden aus dem Bereich franzö­sischer oder stark von Frankreich geprägter Staat­lichkeit hat gezeigt, dass sich die Prozesse der Durchstaat­lichung und der Ausweitung der Staats­ tätigkeit auf kommunaler Ebene wechselseitig verstärkten. Der Schwerpunkt der Ausweitung der Staatstätigkeit lag eindeutig im schu­lischen Bereich und im Sektor der Verkehrsinfrastruktur. Eine kommunale Sozia­lfürsorge wird dagegen zwar durchaus sichtbar, bleibt jedoch nachrangig.

29. 5. 1888, ANLux, H 1024/314 b; Will Reuland: Wormeldingen und seine Brücken, in: An der Ucht 95 (1995), S. 194.

130 Norbert Franz

Was die Frage nach den Handlungsspielräumen betrifft, so waren die kommunalen Akteure keinesfalls nur ausführende Organe der höheren Verwaltungsebenen. Und in Krisenzeiten wuchsen ihnen weitere Handlungsspielräume zu, die sie in der Regel zum Ausbau ihrer Leistungsverwaltung nutzten. Die Spanne der Ausnutzung von Handlungsspielräumen beginnt bei einer weitgehenden Passivität oder reibungslosen Koopera­tion mit den übergeordneten staat­lichen Instanzen und ihren Fachbehörden. Sie reicht im Extremfall bis zum offenen Widerstand gegen die höheren Ebenen des Staatsapparates. Wenn Gemeindeführungen die politische Unterstützung der maßgeb­lichen Teile der Einwohnerschaft hatten, konnten sie die Schwerpunkte kommunaler Investi­tionstätigkeit in ihren Gemeinden entscheidend mitbestimmen. Sie konnten – wiederum im Extremfall – alle Ebenen der Staatsorganisa­tion in Bewegung setzen, um Projekte zu verwirk­lichen, die tiefgreifend und langfristig in die Lebensverhältnisse der lokalen Gesellschaften eingriffen. Und manchmal setzten sie sich bei Konflikten mit den Oberbehörden sogar durch. Die Prozesse der Durchstaat­ lichung und der Ausweitung der Staatstätigkeit gingen also nicht immer nur von den höheren Ebenen der Politik und der zentralen Staatsverwaltung aus: Bei besonderen Anlässen und großer innerer Geschlossenheit nahm das „letzte Rädchen“ des modernen Staates alle Ebenen der gesamtstaat­lichen Organisa­ tion für seine Interessen in Anspruch. In der Perspektive einer historischen ­Theorie der euro­päischen Staatsbildung im 19. Jahrhundert werden künftige Forschungen zeigen, ob sich die zentralen Ergebnisse dieser exemplarischen Untersuchungen auch für andere Gemeinden bestätigen lassen. Wünschenswert wären Arbeiten über Gemeinden in anderen Teilen Europas und der Welt, die kommunale, mittlere und Regierungsebene von Staaten entlang ähn­licher Fragestellungen analysieren. Auch die Bedeutung suprastaat­licher Organisa­tionen, des Phänomens politischer Herrschaft „ohne den Staat“33 und von Staatenbünden sowie die Erweiterung des Zeithorizonts für die Analyse der Konjunkturen von Staatsbildungs- und Staatsreduk­tionsprozessen bieten Verknüpfungsmög­lichkeiten für diesen Ansatz einer Erforschung des Staates „in die Fläche“.

33 So z. B. Thomas Risse/Ursula Lehmkuhl (Hg.): Regieren ohne Staat? Gouvernance in Räumen begrenzter Staat­lichkeit (Schriften zur Governance-­Forschung, Bd. 10), Baden-­ Baden 2007.

Hedwig Herold-­Schmidt

Staatsgewalt, Bürokratie und Klientelismus: Lokale Herrschaft im liberalen Spanien des 19. Jahrhunderts Der Bürgermeister von Madrid, Graf Romanones, hat seinen Rücktritt eingereicht. Morgen wird ein Sonderzug nach Guadalajara fahren für die heute in den Wartestand versetzten Angestellten dieser Stadtverwaltung, die durch ihn ernannt worden waren.1 Diese Bemerkung konnten die Madrider um die Jahrhundertwende in einer der großen Tageszeitungen lesen: Vor dem Hintergrund einer erregten Diskussion um Vetternwirtschaft und Korrup­tion wirft sie ein ironisches Schlag­licht darauf, wie sehr die Personalpolitik der Kommunen von Klientelismus und Patronage bestimmt war. Romanones hatte die Stellen in der Stadtverwaltung fast ausnahmslos mit Gefolgsleuten aus „seiner“ Provinz Guadalajara besetzt, in der alle wichtigen Klientelnetze beim Grafen zusammenliefen.2 Weit davon entfernt indigniert zu sein, bedankte sich Romanones vielmehr beim Autor für die positive Werbung, die er als Anerkennung seiner politischen Fähigkeiten betrachtete.3 Mit der Lokalverwaltung in Städten und Gemeinden ist eine äußerst wichtige Institu­tion für das Ausgreifen des Staates auf die Peripherie benannt. Dies geschah in Spanien seit dem beginnenden 19. Jahrhundert unter liberalen Vorzeichen, jedoch belastet durch endemische politische Instabilität, Putschversuche, Bürgerkriege und – bis zur „Glorreichen Revolu­tion“ (1868 – 1874) – unter beständigen Eingriffen von Militärführern.4 Europa erlebte eine Vielzahl paralleler Staatsbildungsprozesse mit teils sehr unterschied­lichen Verläufen. Giovanni Levi hat das franzö­sische Modell eines starken Zentralstaates mit einer organisierten und partizipa­tionsfähigen

1 Conde de Romanones: Notas de una vida, Madrid 1999, S. 63. Alle Übersetzungen stammen von der Autorin. 2 Javier Moreno Luzón: Romanones. Caciquismo y política liberal, Madrid 1998. 3 Romanones, Notas de una vida, S. 63. 4 Charles Esdaile: Spain in the Liberal Age. From Constitu­tion to Civil War, 1808 – 1939, Oxford 2000, S. 63 – 143. Hans Otto Kleinmann: Zwischen Ancien Régime und Liberalismus (1808 – 1874), in: Peer Schmidt/Hedwig Herold-­Schmidt (Hg.): Geschichte Spaniens, 3. erw. Aufl., Stuttgart 2013, S. 253 – 328. Josep Fontana: La época del liberalismo (= Historia de España, Bd. 6), Madrid 2007.

132 Hedwig Herold-­Schmidt

Zivilgesellschaft dem eng­lischen mit einem schwachen Staat und einer starken Zivilgesellschaft gegenübergestellt; das spanische bzw. italienische Modell habe sich durch einen schwachen Staat mit fragmentierter Zivilgesellschaft ausgezeichnet.5 Doch schon auf den zweiten Blick wird die Notwendigkeit weiterer Differenzierungen deut­lich. Manche zentralistischen Gebilde waren in der Praxis weit weniger zentralistisch, als es den Anschein hatte, sogar Frankreich. Im spanischen Fall haben wir es mit einem formal am franzö­sischen Beispiel ausgerichteten zentralistischen System zu tun, das allerdings seine Vorstellungen vor Ort nur sehr begrenzt durchsetzen konnte.6 Fragt man nach dem Zugriff der zentralen Staatsgewalt auf die lokale Ebene, nach dem Handeln der Amtsträger und ihrem Verhältnis zu den ortsansässigen Eliten und danach, wie sich der Aushandlungsprozess vor Ort gestaltete bzw. ­welche Amtsträger und Institu­tionen daran in welcher Weise beteiligt waren, so trifft man allenthalben auf die Institu­tion des caciquismo. Mit ­diesem Begriff wird im Spanischen ein politisches System bzw. eine Gesellschaft bezeichnet, die vorwiegend auf den Mechanismen von Patronage und Klientelismus beruhte und damit die Gleichheitspostulate der liberalen Verfassungen ad absurdum führte.7 Nun waren personalistische Gefolgschaftsverhältnisse im 19. ­Jahrhundert 5 Giovanni Levi: The Origins of the Modern State and the Microhistorical Perspective, in: Jürgen Schlumbohm (Hg.): Mikrogeschichte – Makrogeschichte. Komplementär oder inkommensurabel?, Göttingen 1998, S. 53 – 82, hier 76 f., in seinem Plädoyer für einen mikrohistorischen Zugang zu Staatsbildungsprozessen. Josep Maria Pons i Altés: Estado y poderes políticos locales en la España de mediados del siglo XIX: La construcción del centralismo bajo los moderados, in: Pedro Carasa Soto (Hg.): Ayuntamiento, estado y sociedad, Valladolid 2000, S. 29 – 42, hier 29. Allgemein: Lutz Raphael: Recht und Ordnung. Herrschaft und Verwaltung im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2000, der auf S. 60 kurz auf Spanien eingeht. 6 Concepción de Castro: La revolución liberal y los municipios españoles (1812 – 1868), Madrid 1979, S. 12. Eduardo García de Enterría: La administración española, 4. Aufl., Madrid 1985, S. 69 – 99 (Original 1961). 7 Javier Moreno-­Luzón: Political Clientelism, Elites, and Caciquismo in Restora­tion Spain (1875 – 1923), in: European History Quarterly 37 (2007), S. 417 – 444. Antonio Robles Egea (Hg.): Política en penumbra. Patronazgo y clientelismo políticos en la España contemporánea, Madrid 1996. Der Begriff selbst stammt aus dem ehemals spanischen Amerika und bezeichnete einen Dorfhäuptling. Vgl. auch: Hedwig Herold-­S chmidt: Gesundheit und Parlamentarismus in Spanien. Die Politik der Cortes und die öffent­liche Gesundheitsfürsorge in der Restaura­tionszeit, Husum 1999, S. 69 – 76. Armando García Schmidt: Die Politik der Gabe. Handlungsmuster und Legitima­tionsstrategien der politischen Elite der frühen spanischen Restaura­ tionszeit (1876 – 1902), Saarbrücken 2000.

Staatsgewalt, Bürokratie und Klientelismus  133

beileibe keine spanische Besonderheit.8 Süd­lich der Pyrenäen aber verlor der Klientelismus im Laufe des Jahrhunderts nicht an Einfluss, sondern verstärkte sich vielmehr und zeigte eine erstaun­liche Anpassungsfähigkeit.9 Dies hatte nachhaltige Auswirkungen auf den Staatsausbau, die Entwicklung eines „sauberen“ demokratisch-­parlamentarischen Systems und einer professionalisierten Staatsverwaltung auf allen Ebenen. Die spanische verwaltungsgeschicht­liche Forschung prägt bis heute der rechtsbzw. institu­tionengeschicht­liche Ansatz.10 Die lokalen und provinzialen Amtsträger haben zwar ihren sicheren Platz in den vielen Arbeiten, die die Wahlen und das politische System behandeln, doch verschleiern diese Betrachtungen eher das Eigengewicht und die Eigendynamik der Verwaltung. Neuere Studien zum caciquismo 11 hingegen fragen vor allem nach den Machtbeziehungen und Netzwerken vor Ort. Sie versuchen die vielgestaltige Mikrophysik der Macht zu entschlüsseln, wobei die „Beamten“12 in ­diesem komplexen Geflecht von Akteuren nur ein Mosaiksteinchen unter vielen darstellen. Macht konkretisiert sich nach d ­ iesem Ansatz zum E ­ rsten ­zwischen Patron und Klienten (von oben nach unten), zum Zweiten horizontal unter Gleichen und drittens von unten nach oben, so etwa in Parteien, aber auch in den Hierarchien der Verwaltung.13 8 Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungs­ geschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 130 – 132. Susanne Schattenberg: Die korrupte Provinz? Rus­sische Beamte im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York 2008, S. 29 – 37. 9 Allgemein: Robles Egea (Hg.): Política en penumbra; Ayşe Güneş-­Ayata: Clientelism: Premodern, Modern, Postmodern, in: Ayşe Güneş-­Ayata/Luis Roniger (Hg.): Democracy, Clientelism, and Civil Society, Boulder/London 1994, S. 19 – 28. 10 Eine spanische Verwaltungsgeschichte, die diesen Namen verdient, existiert nicht. Vgl. García Enterría: La Administración española. Carlos Carrasco Canals: La burocracia en la España del siglo XIX, Madrid 1975. Zur lokalen Ebene: Javier Tusell Gómez/Diego Chacón Ortiz: La reforma de la administración local en España, 2. Aufl., Madrid 1987. Concepción de Castro: La Revolución Liberal y los municipios españoles, Madrid 1979. Carlos Merchán Fernández: Los ayuntamientos constitucionales en España, 1876 – 1924, Madrid 1996. Enrique Orduña Rebollo: Municipios y provincias. Historia de la organización territorial española, Madrid 2003. Enrique Orduña Rebollo: Historia del municipalismo español, Madrid 2005. Vgl. Arturo Cajal Valero: El Gobernador Civil y el Estado Civil centralizado del siglo XIX, Madrid 1999, S. 17 – 21. 11 Zur Historiographie des Klientelismus: Moreno Luzón, Political Clientelism, S. 421 – 436. 12 Der Begriff wird im Folgenden im Sinne von Bediensteten der provinzialen und lokalen Ebene verwendet. 13 Pedro Carasa: Cambio de cultura política y poder local en la Castilla contemporánea, in: Pedro Carasa Soto (Hg.): El poder local en Castilla. Estudios sobre su ejercicio durante

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Alles in allem diente und dient in Spanien bis heute in der Regel der Idealtypus des modernen Weber’schen Beamten als Maßstab, dem die meisten Amtsträger allerdings nicht entsprechen konnten: Korrup­tion und Nichtbefolgung von Vorgaben werden hervorgehoben, als Ursachen strukturelle Mängel wie Unterverwaltung, Personalmangel und Bildungsstand benannt. Diesem Modell des modernen Beamten näherten sich im Übrigen auch die Staaten Mittel- und Westeuropas nur langsam an. Für das Spanien des 19. Jahrhunderts und noch darüber hinaus muss man daher von einer Verwaltungskultur ausgehen, in der die meisten Beamten die Ratio des modernen Verwaltungsstaates nicht oder nur teilweise verinner­ licht hatten – und dies ohne beständig anklagend auf die Rückständigkeitsthese zu rekurrieren. Ebenso wie es Schattenberg für Russland konstatiert, sind auch in Spanien Ämter zum Teil als Kristallisa­tionspunkte von „personale[n] Netze[n]“ zu sehen, „die staat­liche Strukturen adaptieren und als Relaissta­tionen ihrer Machtausübung benutzen“.14 Daher ist es nötig, genauer auf Patronage und Ehrkonzepte in der Verwaltungskultur einzugehen und die Beziehungen innerhalb der Verwaltung und das Normen- und Wertesystem der Amtsträger zu untersuchen. Einen hervorragenden Ansatz bieten hierzu Beamtenmemoiren, die die „Selbstkonstruk­tion einer Person im gegebenen System ihrer Kultur“15 offenlegen und damit auch Rückschlüsse auf die soziokulturelle Gruppe insgesamt zulassen.16 So gibt es für Spanien bislang kaum Untersuchungen aus kulturgeschicht­ licher Perspektive, die die Akteure vor Ort im Sinne von figures of authority hinterfragen. Es fehlen somit Studien, die sich nicht auf eine rein funk­tionalistische sozia­lwissenschaft­liche Interpreta­tion beschränken, sondern die Konstruktivität und Historizität der Rollen und ihrer Bedingungsfaktoren einbeziehen.17 Insbesondere die Kommunika­tionsformen der Verwaltung können hier sowohl la Restauración (1874 – 1923), Valladolid 2003, S. 7 – 25, hier 7 – 11. Salvador Cruz Artacho: Estructura y conflicto social en el caciquismo clásico. Caciques y campesinos en el mundo rural Granadino (1890 – 1923), in: Antonio Robles Egea (Hg.): Política en penumbra. Patro­ nazgo y clientelismo políticos en la España contemporánea, Madrid 1996, S. 191 – 228, hier 195. Pilar Calvo Caballero/José-­Vidal Pelaz López: Las estrategias de poder de una burguesía local urbana: Palencia, in: Pedro Carasa Soto (Hg.): El poder local en Castilla. Estudios sobre su ejercicio durante la Restauración (1874 – 1923), Valladolid 2003, S. 61 – 101, hier 61. 14 Schattenberg: Korrupte Provinz?, S. 23. 15 Ebd., S. 38. 16 Leider liegen nur sehr wenige in publizierter Form vor, vgl. Javier Moreno Luzón/Ramón Villares: Restauración y Dictadura (= Historia de España, Bd. 7), Barcelona 2009, S. 108. 17 Vgl. Peter Becker/Rüdiger von Krosigk (Hg.): Figures of Authority. Contribu­tions towards a Cultural History of Governance from the Seventeenth to the Twentieth Century, Brüssel 2008.

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Aufschluss über das Funk­tionieren des Verwaltungsapparates als auch über Staatsausbau und Herrschaft als ­sozia­le Praxis geben.18 In den folgenden Überlegungen möchte ich zwei Amtsträger bzw. Institu­ tionen genauer betrachten: zum einen die Provinzgouverneure, die das zentrale Bindeglied ­zwischen Madrid und der Peripherie darstellten, zum anderen auf lokaler Ebene die Gemeindesekretäre, die eine Schlüsselposi­tion in der Kommunalverwaltung innehatten. Vergleichende Blicke nach Frankreich und Italien sollen helfen, die spanische Entwicklung deut­licher zu konturieren. Hierfür sind zunächst einige Bemerkungen zu den politisch-­administrativen Rahmenbedingungen nötig.

1. Eine Art liberal-konstitutionelle Fiktion: Klientelismus, Politik und Bürokratie Im liberalen Spanien ging die Regierung nicht aus Wahlen hervor, sondern wurde von der Krone eingesetzt und schuf sich danach durch Wahlbeeinflussung und -fälschung ein ihr genehmes Parlament. Während bis 1868 Machtwechsel vor allem durch Eingriffe charismatischer Militärführer initiiert und im Nachhinein von der Krone sank­tioniert worden waren (pronunciamientos), wechselten sich in der sogenannten Restaura­tionszeit (ab 1876) die liberale und die konservative Partei in einer Art z­ wischen den beiden großen Parteien vereinbarten Rota­tionssystem regelmäßig an der Regierung ab. Nach den endemischen Bürgerkriegen des zweiten Jahrhundertdrittels und der Revolu­tion (1868 – 1874) konnten damit direkte Interven­tionen der Armee verhindert und eine begrenzte Stabilität erreicht werden. Der zentralistisch strukturierte Verwaltungsapparat wurde in den Dienst des Systems gestellt. Die lokalen Eliten mit ihren Gefolgschaften spielten dabei eine zentrale Rolle.19 Spanien kannte tradi­tionell ­solche Klientelstrukturen.20 Wesent­liche Voraus­ setzung für ihr Fortleben war die fortdauernd agrarische Prägung von

18 Einen Überblick bietet Peter Becker: Sprachvollzug: Kommunika­tion und Verwaltung, in: Peter Becker (Hg.): Sprachvollzug im Amt. Kommunika­tion und Verwaltung im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2011, S. 9 – 42. 19 Moreno Luzón/Villares, Restauración y dictadura, S. 96 – 120. Herold-­Schmidt, Gesundheit und Parlamentarismus, S. 62 – 75. García Schmidt, Politik der Gabe, S. 15 – 38. Moreno Luzón, Political Clientelism, S. 435 f. José Varela Ortega (Hg.): El poder de la influencia. Geografía del caciquismo en España (1875 – 1923), Madrid 2001. 20 Für das 18. Jahrhundert vgl. Christian Windler: Lokale Eliten, seigneurialer Adel und Reformabsolutismus in Spanien (1760 – 1808). Das Beispiel Niederandalusien, Stuttgart

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Wirtschafts- und Sozia­lbeziehungen. Daher blieb die Machtstellung der lokalen Notabeln lange Zeit nahezu unberührt. Sie waren sogar in der Lage, ihre Posi­ tion durch die neuen liberalen Verwaltungsstrukturen zu festigen, da nur sie in der Hauptstadt die Interessen ihrer Gemeinden und Provinzen erfolgreich vertreten konnten. Diese klientelistischen Praktiken prägten gleichermaßen Parteien, politische Institu­tionen sowie Verwaltungs- und Justizapparat – auf zentraler wie lokaler Ebene. Die Einheit von politischer und ökonomischer Dominanz auf lokaler und/ oder Provinzebene mit Rückversicherung bei der Bürokratie und den Parteiführern in Madrid bildete die Grundlage für die Machtposi­tion und den Einfluss der lokalen Großen. Von entscheidender Bedeutung war dabei die Vermittlerposi­tion als Broker gegenüber dem Zentralstaat, dessen Bürokratie zwar immer stärker auf die Städte und Gemeinden zuzugreifen versuchte, dem es jedoch ohne Koopera­tion der ört­lichen Eliten nicht gelang, seine fiska­ lischen und militärischen Forderungen und Zuständigkeiten durchzusetzen.21 Diese fungierten somit als Transmissionsriemen ­zwischen lokaler und zentraler Ebene. Und mit der Intensivierung von Staatsausbau und sozioökonomischen Transforma­tionsprozessen wurden diese Broker nicht etwa obsolet, sondern passten sich flexibel den neuen Rahmenbedingungen an.22 Die Notwendigkeit der Zentralregierung, bei einer meist ruralen analphabeten Wählerschaft entsprechende Wahlergebnisse zu erzielen, verhalf den lokalen Notabeln zu einer Schlüsselstellung. Ihre Koopera­tion zur Aufrechterhaltung der liberal-­ konstitu­tionellen Fik­tion war unverzichtbar. Eine oligarchische, politische Elite an der Spitze der Parteien in Madrid paktierte mit den tonangebenden 1992. Für die isabellinische Zeit: Juan Antonio Inarejos Muñoz: Ciudadanos, propietarios y electores en la construcción del liberalismo español. El caso de las provincias castellano-­manchegas (1854 – 1868), Madrid 2008. 21 Concepción de Castro/Javier Moreno Luzón: El gobierno de la ciudad, in: Francesc Bonamusa/Joan Serrallonga (Hg.): La sociedad urbana en la España contemporánea, Madrid 1994, S. 157 – 195, hier 177. José Alvarez Junco: Redes locales, lealtades tradicio­ nales y nuevas identidades colectivas en la España del siglo XIX , in: Antonio Robles Egea (Hg.): Política en penumbra. Patronazgo y clientelismo políticos en la España contemporánea, Madrid 1996, S. 71 – 94, hier 73. Salvador Cruz Artacho: Clientes, clien­telas y política en la España de la Restauración, in: Ayer 36 (1999), S. 105 – 129. Pons i Altés, Estado, S. 35. 22 Castro/Moreno Luzón, Gobierno, S. 183. Vgl. zur Brokerfunk­tion in Preußen bis mindestens zur Jahrhundertwende: Patrick Wagner: Bauern, Junker und Beamte. Lokale Herrschaft und Partizipa­tion im Ostelbien des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2005, S. 589 f.

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Personen auf lokaler und Provinzebene die Wahlergebnisse und die Politik insgesamt. Als Gegenleistung für die Wählerstimmen ihrer Klientel erhielten die Kaziken materielle und immaterielle Vergünstigungen. Dadurch wurden sie in die Lage versetzt, vor allem mittels Manipula­tion der Administra­tion und des Justizwesens sich Vorteile zu verschaffen und ihrerseits „Gefälligkeiten“ verteilen zu können. Damit wiederum konnten sie ihren Einfluss und ihr Sozia­lprestige stärken, also auch symbo­lisches Kapital anhäufen. Für die lokale Ebene gilt: Im Gegenzug zu den erwünschten Wahlergebnissen gestattete die Zentralregierung die Patrimonialisierung der Lokalverwaltung.23 Mit der Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts ab 1890 und mit der zunehmenden Zersplitterung der Parteien in personalistische Fak­tionen ab der Jahrhundertwende verlagerte sich das Gewicht stärker auf die provinziale bzw. lokale Ebene zuungunsten des Zentralstaates.24

2. „Für die Feinde das Gesetz, für die Freunde den Gefallen“: Klientelismus und die Verwaltung in der Peripherie Das Verwaltungssystem hatte seine Spitze im Innenministerium, von ­diesem hingen die Gouverneure der 49 Provinzen ab, w ­ elche sich wiederum in über 9000 Kommunen untergliederten. Alle Gemeinden – ob Großstadt oder Dorfgemeinde – wurden vom Munizipalgesetz gleich behandelt.25 Wichtigste Einrichtungen der Provinzverwaltung waren der Gouverneur und als konsultatives Organ die Provinzdeputa­tion.26 Die Kommune stellte die Basiseinheit des Verwaltungssystems dar, hatte eine Vielzahl von Aufgaben, aber wenig eigenständigen Handlungsspielraum, vor allem in Haushaltsdingen. Sie unterstand theoretisch der strikten Kontrolle des

23 Javier Moreno Luzón: Teoria del clientelismo y estudio de la política caciquil, in: Revista de Estudios Políticos 89 (1995), S. 191 – 224. 24 María Antonia Peña Guerrero: A rebelião das províncias. Poderes centrais e periféricos na Espanha da Restauração (1876 – 1923), in: Pedro Tavares de Almeida/Rui Miguel C. Branco (Hg.): Burocracia, estado e território. Portugal e Espanha (séculos XIX–XX), Lissabon 2007, S. 203 – 220, hier 213 f. 25 Castro/Moreno Luzón, Gobierno, S. 157. 26 Francisco Miguel Espino Jiménez: Administración territorial y centralismo en la España liberal: La Diputación Provincial de Córdoba durante el reinado de Isabel II (1843 – 1868), Córdoba 2009, S. 77 – 106. Heliodoro Pastrana Morilla: La Diputación Provincial de Valladolid 1875 – 1930. Política y gestión, Valladolid 1997.

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Provinzgouverneurs. Der Bürgermeister fungierte einerseits als Delegierter der Regierung, andererseits als exekutives Organ des Stadt- bzw. Gemeinderats. Neben dem Gemeinderat gab es die Junta Municipal, die sich aus dem Gemeinderat und einer gleichen Zahl von Repräsentanten der größten Steuerzahler zusammensetzte und für die Verabschiedung des Gemeindehaushalts sowie für Steuern und Abgaben zuständig war.27 Wer den Stadtrat kontrollierte, hatte das gesamte Leben der Gemeinde im Griff: Verteilung der Steuerlasten, Rekrutierung von Wehrpflichtigen, Erstellung von Wählerverzeichnissen, Polizeifunk­tionen, Infrastruktur, Gesundheit und Armenpflege, Erziehungswesen und nicht zuletzt die Vergabe städtischer Aufträge sowie von Stellen vom Stadtarzt bis zum Straßenkehrer.28 Die unterschied­lichen Parzellen der Macht waren hierarchisch strukturiert. Die sozioökonomischen Hierarchien wurden in der Regel von den politischen reproduziert; die „politischen Familien“ überlagerten dabei die natür­lichen. Ein komplexes Netz familiärer Beziehungen durchzog alle Ebenen. Die Bedeutung der Familie kann dabei gar nicht überbewertet werden. Man sollte daher nicht so sehr von handelnden Individuen ausgehen, sondern vielmehr von Familien bzw. Familienclans, denn über diese wurden Rechte und Privilegien verteilt und weitergegeben.29 Das Konnubium generierte 27 Javier Moreno Luzón: „El poder político hecho cisco“. Clientelismo e instituciones políticas, in: Antonio Robles Egea (Hg.): Política en penumbra, S. 171 f. Castro/Moreno Luzón, Gobierno, S. 177 f. Henri Puget: Le gouvernement local en Espagne, Paris 1923. Gabriele Ranzato: L’amministrazione locale nelle Spagna liberaldemocratica (1876 – 1898), in: Nicola Matteucci/Paolo Pombeni (Hg.): L’organizzazione della politica. Cultura, istituzioni, partiti nell’Europa liberale, Bologna 1988, S. 495 – 514. Esther Calzada del Amo: Germán Gamazo (1840 – 1901). Poder político y redes sociales en la Restauración, M ­ adrid 2011, bes. S. 199 f. María del Carmen García de la Rasilla Ortega: El Ayuntamiento de Valladolid. Política y gestión, 1898 – 1936, Valladolid 1991, S. 54 – 56, 89. Tusell Gómez/ Chacón Ortiz, Reforma, S. 32 f., 43 f. Valentín Merino Estrada: El marco jurídico-­legal de la Administración local (1876 – 1931), in: Pedro Carasa Soto (Hg.): Ayuntamiento, estado y sociedad. Los poderes municipales en la España, Valladolid 2000, S. 21 – 27, hier 22 – 23 28 Castro/Moreno Luzón, Gobierno, S. 177 – 179. Moreno Luzón, „El poder político hecho cisco“, S. 174 f. Calzada del Amo, Gamazo, S. 199 – 201. Moreno Luzón, Romanones, S. 70. 29 Juan Antonio Inarejos Muñoz: Los parientes del diputado: Las redes familiares del caciquismo liberal, in: Giovanni Levi/Raimundo A. Rodríguez Pérez (Hg.): Familia, jerarquización y movilidad social, Murcia 2010, S. 399 – 409. Beispielhaft für die Kleinstadt Ávila: Eduardo Cabezas Ávila: „Los de siempre“. Poder, familia y ciudad (Ávila, 1875 – 1923), Madrid 2000, bes. S. 244 – 248. Der Autor verweist auf die Schwierigkeit, diese Mechanismen nachzuzeichnen, da für Ávila (und viele andere Orte) keine Autobiographien, Familiengeschichten o. Ä. erhalten blieben und auch ein Großteil der lokalen Presse nicht überliefert ist.

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Verwandtschaftsbeziehungen,30 ­welche durch andere Beziehungsnetze überlagert und verstärkt wurden.31 Die tonangebenden Familien verfügten über die Macht und den Einfluss, ihre Entscheidungen durchzusetzen; sie verkörperten die Autorität(en). Alle anderen verwandelten sich in Klienten, in Empfänger von „Gefälligkeiten“. Diese Familien verteilten die kommunalen und provinzialen Ämter unter sich bzw. unter ihren Parteigängern. Somit waren in der Perzep­tion der Bevölkerung meist die politischen Amtsträger bzw. die Verwaltung und die sozioökonomischen Spitzen der Gesellschaft identisch. Vielerorts konkurrierten mehrere Familienclans um Macht und Einfluss. In jeder Familie gab es zum Beispiel einige Juristen, die sich sowohl für politische Ämter als auch für administrative Aufgaben besonders empfahlen. Der Aufstieg in diese Kreise ging einher mit Legitimierungsprozessen, die sehr viel mit symbo­lischer Politik zu tun hatten, etwa die Übernahme bestimmter Funk­tionen in religiösen Bruderschaften oder die Pflege eines ostentativen Lebensstils.32 Wichtig dabei war ein hohes Maß an Sichtbarkeit in der Öffent­lichkeit, eine gewisse Theatralität, die auf diese Weise allen in einer symbo­lischen Ordnung die herrschenden Machtverhältnisse – auch und vor allem in den Institu­tionen – vor Augen führte.33 Eine wichtige Rolle im Klientelnetzwerk spielte die Provinzdeputa­tion; sie war Repräsentativorgan der Provinz, Kontrollorgan der Kommunen und Konsultativorgan für Gouverneur und Regierung.34 Sie verteilte die Steuer­kontingente auf die Gemeinden und war für die Aushebungen – und vor allem Freistellungen vom Militärdienst – zuständig. Daher waren die Sitze im ständigen 30 Cabezas Ávila: „Los de siempre“, S. 252. 31 Ebd., S. 249. 32 Ebd., S. 250 f. 33 Ebd., S. 251. Vgl. auch: Manuel González de Molina: Ecología del poder político local durante el siglo XIX. Un estudio de caso, in: Pedro Carasa Soto (Hg.): Ayuntamiento, estado y sociedad. Los poderes municipales en la España, Valladolid 2000, S. 71 – 96, hier 81 – 84. 34 Manuel Martí: Las diputaciones provinciales en la trama caciquil: un ejemplo castellonense durante los primeros años de la Restauración, in: Hispania 179 (1991), S. 994 – 1041. Tusell Gómez/Chacón Ortiz, Reforma, S. 31. Es liegen einige Studien über Provinzdeputa­ tionen vor, die jedoch überwiegend deskriptiv recht­liche Vorgaben und zugewiesene Aufgabenbereiche abhandeln, z. B. Francisco Miguel Espino Jiménez: Administración territorial y centralismo en la España liberal: La Diputación Provincial de Córdoba durante el reinado de Isabel II (1843 – 1868), Córdoba 2009. Manuel Requena (Hg.): Historia de la Diputación de Albacete, Albacete 1993. Pastrana Morilla: La Diputación Provincial de Valladolid.

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Exekutivausschuss, der Provinzkommission, sehr begehrt.35 Es gibt zwar vereinzelte Hinweise, dass die Provinzdeputierten ihre Tätigkeit als „Verwaltung“ und nicht als „Politik“ betrachteten, tatsäch­lich aber war die „Politik“ überall – und nahm im Laufe der Jahre noch weiter zu.36 Da bis ins 20. Jahrhundert viele Verwaltungsstellen bei Regierungs- oder auch nur Ministerwechseln neu vergeben wurden und ein Heer von in den Warte­stand versetzten Beamten (cesantes) unablässig seine Wiederbeschäftigung betrieb, ging die Professionalisierung der Verwaltung nur langsam voran. Entsprechend der Logik des Klientelismus konkurrierte man in erster Linie um Beziehungen, nicht um Leistungen.37 Geregelte Zugangsbedingungen (Eingangsprüfungen, Abschlüsse) und damit administrativer Sachverstand setzten sich nur sehr langsam durch. Es fehlte die Sicherheit im Amt, ein geregelter, dem Anciennitätsprinzip gehorchender Aufstieg; alles Faktoren, die die Entwicklung einer gemeinsamen „Beamtenmentalität“, eines entsprechenden Korpsgeistes verzögerten. Erst 1919 wurden die höheren Ämter unkündbar, die kommunalen folgten 1924.38 In der Ideologie des Liberalismus sollte die Gemeinde ausschließ­lich Verwaltungseinheit sein, ihre autonomen Kompetenzen waren gering.39 Der Wildwuchs zentralstaat­licher Anordnungen, fehlende personelle und finanzielle Ressourcen und die Einflüsse des Klientelismus führten häufig zur Nichtbeachtung

35 Tusell Gómez/Chacón Ortiz, Reforma, S. 30 f. Moreno Luzón, „El poder político hecho cisco“, S. 175. Pastrana Morilla: La Diputación Provincial de Valladolid, bes. S. 154 – 157. Pilar Calvo Caballero/José-­Vidal Pelaz López: Las estrategias de una burguesía local urbana: Palencia, in: Pedro Carasa Soto (Hg.): El poder local en Castilla. Estudios sobre su ejercicio durante la Restauración (1874 – 1923), Valladolid 2003, S. 61 – 101, hier 72 – 74. 36 Pastrana Morilla, La Diputación Provincial de Valladolid, S. 155. Über die Sekretäre der Provinzdeputa­tion ist bislang kaum etwas bekannt. Für Valladolid wurden eine erheb­ liche Stabilität im Amt – in einem Fall 46 Jahre! – sowie umfassende Gestaltungsmög­ lichkeiten als eine Art Führungsfigur der Institu­tion hervorgehoben, S. 157. 37 Antonio Albuiera Guirnaldos: El cesante: análisis de un „tipo“ social del siglo XIX, in: Cuadernos de Historia Contemporánea 12 (1990), S. 45 – 66. Carrasco Canals, Burocracia, S. 101 f., 107, 117 – 120. Eliseu Toscas Santamans: Secretarios municipales y construcción del estado liberal en España, Valencia 2008, S. 147. Moreno Luzón, „El poder político hecho cisco“, S. 186. 38 Eliseu Toscas i Santamans: Autoridad del Estado y autonomía del municipio en la España liberal. En torno a la incidencia en el territorio de una norma sobre el nombramiento de secretarios municipales (1853 – 1868), in: Scripta Nova. Revista Electrónica de Geografía y Ciencias Sociales, Universidad de Barcelona 12 (2008), H. 256: Kapitel „Conclusiones“ (http://www.ub.edu/geocrit/sn/sn-256.htm vom 15. 2. 2014). 39 García de la Rasilla Ortega, El Ayuntamiento de Valladolid, S. 50 – 54.

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gesetz­licher Bestimmungen. So gab es viele Mög­lichkeiten, diese den lokalen Gegebenheiten anzupassen und der – nur theoretisch strikten – Kontrolle von oben zu entgehen. In der Tat hat die neuere Forschung die Handlungsspielräume von Bürgermeistern und Gouverneuren unterstrichen. Die Provinzgouverneure verhielten sich einerseits teilweise indifferent, andererseits griffen sie häufig auch bei lächer­lichen Anlässen ein, so dass alle Kommunalverwaltungen mehr oder weniger unter den negativen Folgen des Zentralismus litten. Genehmigungen aus Madrid dauerten lange oder kamen nie. Dies beeinträchtigte auch die ökonomische Entwicklung in den Provinzen, etwa kommunale Infra­strukturprojekte.40 Nicht selten sahen sich Provinzgouverneure aber in der Pflicht, Tatenlosigkeit auf dem Feld kommunaler Aufgaben zu kompensieren und auch die Interessen der Peripherie in Madrid zu vertreten. Die gesetz­liche Gleichbehandlung aller Kommunen stellte ein gravierendes Problem dar. Kleine Gemeinden hatten weder die finanziellen Ressourcen noch den nötigen personellen Sachverstand, etwa für die Aufstellung eines Haushaltsentwurfes. Größere konnten ihre durch das Städtewachstum potenzierten Aufgaben nur sehr begrenzt erfüllen; die Munizipalisierung einschlägiger Dienste gelang nur ansatzweise und spät. Deshalb verwundert es nicht, dass es in den knapp 50 Jahren der Restaura­tionszeit (1875 – 1923) über 20 Reformprojekte gab, die jedoch fast alle scheiterten.41

3. Zwischen Zentralstaat und lokalen Kaziken: Die Provinzgouverneure Als Chef der Verwaltung und Repräsentant der Regierung in der Peripherie fungierte der Provinzgouverneur. In der Literatur werden üb­licherweise die politischen Aspekte des Amtes unterstrichen. Als Gegenbeispiel dient in der Regel der franzö­sische Präfekt als professioneller Verwaltungsfachmann. In Spanien hingegen sei es die wichtigste Aufgabe des Gouverneurs gewesen, die Wahlen zu „machen“.42 Dazu hatte er in der Tat eine Vielzahl von ­Instrumenten 40 Pons i Altes, Estado S. 31 – 33. Herold-­Schmidt, Gesundheit und Parlamentarismus, S.  303 – 410. 41 Zu Reformprojekten und Gesetzesinitiativen im beginnenden 20. Jahrhundert Peña Guerrero, Rebelião das províncias, S. 215 f. Tusell Gómez/Chacón Ortiz, Reforma. Carrasco Canals, Burocracia, S. 299 ff. Francisco Villacorta Baños: Estado y poder corporativo en la España del siglo XX, 1890 – 1923, Madrid 1989, S. 58 f. 42 Cajal Valero, Gobernador Civil. García de Enterría, La administración española, S. 51 – 68. Manel Risques Corbella: El Govern Civil de Barcelona al segle XIX , Barcelona 1995.

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zur Verfügung, unter anderem die Absetzung von Bürgermeistern oder Gemeinderäten.43 Da an die Gemeinden zahlreiche Aufgaben delegiert wurden, ihre finanzielle Lage 44 aber chronisch schlecht war, fand sich immer irgendeine Gesetzesübertretung, um „unwillige“ Kommunen zu sank­tionieren. Allerdings standen angesichts der Machtverteilung z­ wischen zentraler und lokaler Ebene Aushandlungsprozesse mit den lokalen Notabeln, das Ausbalancieren von Interessen klar im Mittelpunkt. Gelang dies nicht, musste der Gouverneur nicht selten das Feld räumen.45 Bei der Besetzung von Gouverneursposten konnte es sich keine Regierung leisten, die Kräfteverhältnisse in der Provinz unberücksichtigt zu lassen, so dass man durchaus von einem Mitspracherecht der lokalen Notabeln sprechen kann.46 Ein ehemaliger Gouverneur drückte es so aus: „In den Auseinandersetzungen z­ wischen Gouverneuren und Kaziken hatten gewöhn­lich die Gouverneure recht, aber da die Kaziken nicht weggehen konnten, mussten die Gouverneure gehen.“47 Wer waren diese Amtsträger? Für die Restaura­tionszeit liegt eine sozia­l­ historisch-­quantitative Studie aus den 1970er Jahren vor. Ihr zufolge waren vor Manel Risques Corbella: L’Estat a Barcelona. Ordre públic i governadors civils, Barcelona 2012, S. 98 f. 43 Bernard Richard: Étude sur les gouverneurs civils en Espagne de la Restaura­tion à la Dictature (1874 – 1923). Origine géographique, fonc­tions d’origine et évolu­tion d’un personnel politico-­administratif, in: Mélanges de la Casa Velázquez 8 (1972), S. 441 – 474, hier 441 – 445. Moreno Luzón, „El poder político hecho cisco“, S. 172. Tusell Gómez/ Chacón Ortiz, Reforma, S. 30 f. 44 Merino Estrada, El marco jurídico-­legal, S. 23. Alvarez Junco, Redes locales, S. 73 – 75. Salvador Salort i Vives: Hacienda municipal y caciquismo, in: Pedro Carasa Soto (Hg.): Ayuntamiento, estado y sociedad. Los poderes municipales en la España contemporánea, Valladolid 2000, S. 97 – 133, hier 98. 45 Auch in deutschen Ländern wurde Herrschaft auf lokaler Ebene ­zwischen Amtmann und Honoratioren ausgehandelt, z­ wischen Allgemeinwohl und Partikularinteressen. Vgl. Joachim Eibach: Der Staat vor Ort. Amtmänner und Bürger im 19. Jahrhundert am Beispiel Badens, Frankfurt a. M. 1994, S. 9 f., 163 – 165, wo auch ein Fortjagen des Amtmanns vorkommen konnte. Die badischen Amtmänner passten sich ebenfalls in die lokalen Verhältnisse ein. Für Preußen konnte Patrick Wagner: Bauern, Junker und Beamte. Lokale Herrschaft und Partizipa­tion in Ostelbien des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2005, die (schlecht bezahlten) Beamten im Geflecht lokaler Interessengruppen beschreiben (z. B. S. 37 f., 47, 75). Viele Parallelen bestehen zu Italien, vgl. Randeraad, Authority, S. 30 – 44, 72, 188 f. Zu Frankreich: Chapman, Prefects, S. 75 ff. 46 Moreno Luzón, „El poder político hecho cisco“, S. 176 f. Richard: Étude, S. 462 f. 47 Juan de Madariaga, Conde de Torre-­Velez, in: Oligarquía y caciquismo, Bd. 2, S. 445, zit. nach: Moreno Luzón, „El poder político hecho cisco“, S. 177.

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ihrer Berufung 59 Prozent der Gouverneure politisch tätig gewesen, 20 Prozent in der Verwaltung und 13,5 Prozent hatten Erfahrungen in beiden Bereichen. Ledig­lich 4,4 Prozent kamen aus der Provinzverwaltung. Konnten in den Jahren vor 1900 noch 9 Prozent Erfahrungen in der Provinzbürokratie vorweisen, sank dieser Prozentsatz für die Zeit ­zwischen 1900 und 1923 auf 1 Prozent.48 Es gab teilweise sogar ein manifestes Desinteresse: Die Berufung wurde zum Beispiel abgelehnt, weil man befürchtete, das Amt könne der weiteren administrativen Karriere schaden.49 Dies wäre im Frankreich der Dritten Republik undenkbar gewesen. Dort stiegen 91 Prozent aus dem Amt des Subpräfekten auf.50 Ein weiteres Problem resultierte aus der Instabilität des Amtes; bei einem Regierungswechsel wurde neu besetzt, oft auch bei Ministerwechseln, bei Diffe­ renzen mit den Kaziken vor Ort oder auch auf Wunsch des Amtsinhabers. Für einige bedeutete die Provinzverwaltung eine Stufe auf der Karriereleiter; sie „wanderten“ durch verschiedene Provinzen, bis sie schließ­lich ein begehrtes Amt in der Hauptstadt ergattern konnten.51 Die Amtszeiten waren sehr kurz, sehr viel kürzer als bei den franzö­sischen Präfekten.52 Während sich die Amtszeiten nach 1875 zunächst wohl etwas stabilisierten,53 wurden sie im Laufe der Restaura­tionszeit wieder kürzer. Zwischen 1874 und 1899 gab es durchschnitt­ lich 24 Gouverneure pro Provinz, z­ wischen 1899 und 1923 waren es 35. Von der gesamten Amtsdauer ist diejenige pro Provinz zu unterscheiden. Auch hier sprechen die Zahlen eine deut­liche Sprache: 40 Prozent waren nicht mehr als ein halbes Jahr vor Ort.54 Hinzu kommt eine sehr hohe interprovinziale Mobilität, die die gesamte Halbinsel umfasste.55 48 Richard, Étude, S. 447 – 451. Vgl. auch: Cajal Valero, Gobernador Civil, S. 131 – 133. 49 Richard, Étude, S. 448 f. 50 Cajal Valero, Gobernador Civil, S. 132, 168. Jeanne Siwek-­Pouydesseau: Sociologie du corps préfectoral, in: Les Préfets en France (1800 – 1940), S. 163 – 172, bes. S. 169, 172. Zur franzö­sischen Subpräfektur vgl. Cajal Valero, Gobernador Civil, S. 19. Chapman, Prefects, S.  91 – 120. 51 Richard, Étude, S. 463 f. 52 Cajal Valero, Gobernador Civil, S. 134 f. Siwek-­Pouydesseau, Sociologie, S. 170, 172. ­Zwischen 1876 und 1918 im Durchschnitt 2,75 Jahre. Selbst im turbulenten ersten Jahrzehnt der III. Republik waren dies immer noch 13 Monate. Vgl. auch Chapman, Prefects, S. 43 f. Bologna hatte 20 Präfekten in 35 Jahren, vgl. Randeraad, Authority, S. 35. 53 Risques Corbella, Estat, S. 58, 97: mittlere Amtsdauer in Barcelona (1843 – 1868): 7,5 Monate, 1875 – 1899: 12 Monate, was dem na­tionalen Durchschnitt entsprochen habe. Vgl. Risques Corbella, Govern Civil, S. 601 – 622. 54 Richard, Étude, S. 465 – 471; Cajal Valero, Gobernador Civil, S. 134. 55 Richard, Étude, S. 471. Cajal Valero, Gobernador Civil, S. 164 – 167.

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Kurze Amtszeiten, schlechtes Gehalt, wenig finanzielle und personelle Ressourcen, Abhängigkeit von den Kaziken, das alles waren Faktoren, die die theoretische Machtposi­tion aushöhlten und ebenso die administrative Effektivität. So verwundert es nicht, dass die Vermeidung von Schwierigkeiten und die Beförderung der persön­lichen Interessen häufig im Mittelpunkt gestanden haben dürften.56 Dies konnte nicht selten zu Problemen führen. So äußerte ein Gouverneur Erleichterung darüber, vor den Wahlen abberufen worden zu sein, denn er fürchtete, die von ihm während einer längeren Amtszeit eingegangenen „Verpflichtungen“ könnten es erschweren, die Wahlanweisungen des Innenministeriums durchzusetzen.57 Wie in Frankreich und Italien gab es spezielle Uniformen und symbo­lische ­­Zeichen der Autorität, doch konnte sich unter diesen Bedingungen kein Korpsgeist wie nörd­lich der Pyrenäen entwickeln.58 Im Laufe der Restaura­tionszeit (1875 – 1923) nahm die Politisierung des Amtes zu und die administrativen Anteile verminderten sich. Zwar gehörten politische Aufgaben im gesamten 19. Jahrhundert auch zum Tätigkeitsbereich der franzö­sischen Präfekten – die Idealisierung als professionelle Verwaltungsbeamte trifft erst auf die spätere III. Republik zu und ist für die Jahrzehnte vorher oft retrospektive Idealisierung. Doch war in Frankreich die politische Funk­tion mit der administrativen Professionalisierung kompatibel. Auch wirkten sich die ebenso in Frankreich zahlreichen Regime- und Regierungswechsel weniger stark auf die Verwaltung aus als in Spanien.59 Die Gouverneure gehörten zwar der Beamtenschaft des Innenministeriums (Cuerpo de Administración Civil) an, das das Verwaltungspersonal von Zentralstaat und Provinzen umfasste, es existierten jedoch keine Eingangsprüfungen, kein geregelter Aufstieg nach dem Dienstalterprinzip, keine Stabilität im Amt, womit all diejenigen Sicherheiten fehlten, die die sogenannten Spezialkorps bereits genossen.60 Jedoch gab es ab dem letzten Jahrhundertdrittel

56 Olcese Alvear, Valladolid, S. 82 f. Pons i Altés, Estado, S. 31. 57 Federico Suárez: Einleitung zu: Antonio Guerola: Memoria de mi administración en la provincia de Málaga como gobernador de ella desde el 6 de diciembre de 1857 hasta el 15 de febrero de 1863, Bd. 1, Sevilla 1995, S. 29. 58 Cajal Valero, Gobernador Civil, S. 133, 159. Randeraad, Authority, S. 35 f. 59 Cajal Valero, Gobernador Civil, S. 140 – 144, 147 – 150, 211 – 213. Guy Thuillier/Jean Tulard: Conclusion. Pour une histoire du corps préfectoral français, in: Les Préfets en France (1800 – 1940), Genf 1978, S. 173 – 176. Chapman, Prefects, S.159, 200 – 205. 60 Cajal Valero, Gobernador Civil, S. 157 f.; zu den Spezialkorps, wie z. B. der Justiz- und Finanzverwaltung, Villacorta Baños, Profesionales.

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zahlreiche Initiativen, um die Professionalisierung voranzubringen.61 Juan de Madariaga, Conde de Torre-­Velez, etwa führte vor dem Hintergrund der regenera­tionistischen Klientelismuskritik erfolglos eine Kampagne für die Entpolitisierung des Gouverneursamtes und für stabile administrative Karrieren an.62 Im Gegensatz zum franzö­sischen Präfekten, der sich zum Zentrum der Verwaltung im Departement entwickelte, unterstanden dem spanischen Gouverneur nicht alle Zweige der peripheren Verwaltung, da zunächst Finanz-, s­ päter auch Wirtschaftsangelegenheiten von Spezialbeamten der jeweiligen Ministerien übernommen wurden, so dass man sogar von einer Balkanisierung der peripheren Administra­tion spricht.63 Die Provinzgouverneure werden in der Literatur bislang vorwiegend als politische Amtsträger gesehen und ihre administrativen Defizite im Dienste des Klientelismus angeprangert. Erst neuerdings findet ihre positive und komplexe Verwaltungsarbeit an der Schnittstelle z­ wischen Zentralgewalt und Kommunen Berücksichtigung und Würdigung.64 In dieser Funk­tion mussten sie ständigen Kontakt mit den Gemeinden, insbesondere mit deren Sekretären, halten. Zur Ausübung der umfangreichen Kontrollrechte versandten sie Rundschreiben, schickten Delegierte oder inspizierten die Kommunen persön­lich. Diese Besuche dienten dem Sammeln von Informa­tionen, der Erteilung von Instruk­tionen und einer Bekräftigung ihrer Autorität.65 Über ihre Selbstsicht, Auffassung vom Amt und die alltäg­lichen Aufgaben und Schwierigkeiten geben vor allem Beamtenmemoiren Aufschluss. Einer der fleißigsten Schreiber soll daher genauer vorgestellt werden.

61 Ab 1882 konkretisierte man die Posi­tion des Gouverneurs in der Verwaltungshierarchie und die Zugangsbedingungen zur Laufbahn, 1918 wurde ein Beamtenstatut erlassen, Risques Corbella, Estat, S. 97 – 101; Richard, Étude, S. 447 f. 62 Cajal Valero, Gobernador Civil, S. 132 f. Olcese Alvear, Valladolid, S. 84. 63 Cajal Valero, Gobernador Civil, S. 113, 210. Richard, Étude, S. 441 f. Ähn­lich in Italien: Randeraad, Authority, S. 35. 64 Eliseu Toscas Santamans/Ferran Ayala Domènech: De las relaciones centro-­periferia en el Estado liberal. Gobernadores civiles, ayuntamientos y secretarios municipales en la España del Ochocientos, in: El Consultor de los Ayuntamientos y de los Juzgados 5 (2010), S. 750 – 767. Auch in: Scripa Vetera. Universidad de Barcelona, Nr. 116 (www. ub.es/geocrit/sv-116.htm vom 22. 12. 2013). 65 Toscas Santamans/Ayala Domènech, Relaciones, S.751. Für Italien: Randeraad, Authority, S.  112 – 116.

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3. „Weniger Politik und mehr Verwaltung“: Der Provinzgouverneur Antonio Guerola y Peyrolón (1817 – 1901) Antonio Guerola 66 hinterließ über 10.000 Seiten Berichte über seine Amtsführung in 28 Heften. Diese wurden jeweils zeitnah nach seiner Versetzung schrift­lich fixiert, einige davon publiziert.67 Seinen Aussagen nach sollten sie nur der persön­lichen Erinnerung dienen, mög­licherweise aber auch der Rechtfertigung, vor allem da häufig ganze Dokumente im Wortlaut wiedergegeben wurden.68 Sie spiegeln seine Ansichten sowie kulturellen Werte und die Rolle, in der er sich als Repräsentant der Regierung in der Provinz sah.69 Guerola schlug nach dem Jurastudium die Verwaltungslaufbahn ein. Nach Tätigkeiten in verschiedenen Provinzregierungen sowie im Innenministerium übernahm er mit 35 Jahren erstmals das Amt des Gouverneurs 1853 in Huelva, danach in den Provinzen Zamora, Oviedo, Málaga, Cádiz, Sevilla, Granada, Barcelona und erneut Sevilla (bis 1878).70 Mandate als Abgeordneter oder Senator hatte er – im Gegensatz zu vielen anderen Amtskollegen – nie. Er war ein Verwaltungsmann, der sich von der Politik so weit wie mög­lich fernzuhalten suchte und auch Publika­tionen zum Verwaltungswesen vorlegte – insofern also eher ein Vertreter einer Minderheit unter den Gouverneuren.71 66 Federico Suárez: Las memorias del gobernador civil Antonio Guerola (1853 – 1878), in: Revista de Estudios de Vida Local 216 (1982), S. 609 – 626. Antonio Guerola: Memoria de mi administración en la provincia de Sevilla como gobernador de ella por segunda vez, desde 1 de marzo de 1876 hasta 5 de agosto de 1878 (= Sevilla en la segunda mitad del siglo XIX, hg. von Federico Suárez, Bd. 2), 2 Bde., Sevilla 1995. Antonio Guerola: Memoria de mi administración en la provincia de Málaga como gobernador de ella desde 6 de diciembre de 1857 hasta el 15 de febrero de 1863, hg. von Federico Súarez, Sevilla 1995. 67 Suárez, Memorias, S. 609 – 626. Publiziert wurden die Berichte zu Zamora (1985), Granada (1996), Sevilla (1993, 1995), Málaga (1995), Cádiz (1986). Diejenigen zu Barcelona sind bislang nicht veröffent­licht, wurden aber intensiv ausgewertet in den Studien von Risques Corbella, Govern civil und Estat. Guerolas Schriften wurden zwar oft als Faktensteinbruch verwendet, im Sinne einer kulturgeschicht­lich orientierten Verwaltungsgeschichte jedoch noch nicht zusammenhängend untersucht. 68 Suárez, Memorias, S. 619. 69 Toscas Santamans/Ayala Domènech, Relaciones, S. 754. 70 Suárez, Memorias, S. 609 f. In Cádiz und Granada verbrachte er nur zwei Monate, sein erster Einsatz in Sevilla dauerte gut vier Monate. Nach Barcelona wurde er gegen seinen Willen versetzt, suchte aber den Aufenthalt in dieser unruhigen Provinz kurz zu halten und gleichzeitig das Prestige ­dieses Einsatzes für die weitere Karriere zu ­nutzen, S. 614 f., 620. 71 Suárez, Memorias, S. 611. Dabei erschien ihm ein Verwaltungsamt in einem Ministerium in gewisser Weise erstrebenswerter als das Gouvernement einer Provinz.

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Guerola war es wichtig, seine Dienstorte genau kennenzulernen. Beim Amtsantritt in Sevilla 1876 erteilte er allen Bürgermeistern und Gemeindesekretären Reiseerlaubnis in die Provinzhauptstadt, um sich bei ihm vorzustellen.72 Auch hielt er regelmäßig öffent­liche Sprechstunden ab 73 und führte umfassende Inspek­tionsreisen durch. In der Provinz Málaga besuchte er von 109 Orten nur 38 der kleinsten nicht, in den größeren hielt er sich mehrmals auf. Und er listete auch auf, dass er dabei 257 Meilen auf Schiffen an der Küste entlang unterwegs war, 341 im Wagen, 401 zu Pferd und 4 Meilen zu Fuß. Er reiste meist mit einem Angestellten seiner Dienststelle und dem ört­lichen Kommandanten der kasernierten Polizei, die ihn bei der Erledigung seiner Dienstpflichten auch unterwegs unterstützten.74 Über die jeweils tonangebenden Eliten war Guerola bereits vor Amtsantritt gut unterrichtet. So waren ihm zufolge die wichtigsten Personen in der Provinz Málaga Antonio Cánovas del Castillo, der spätere konservative Ministerpräsident, der ebenfalls konservative Exminister Antonio de los Ríos Rosas und General Manuel de la Concha, wobei z­ wischen den beiden Erstgenannten seit jeher erbitterte Feindschaft geherrscht habe. Unter diesen Bedingungen zu arbeiten und ­zwischen den dreien zu lavieren sei extrem schwierig, aber meist erfolgreich gewesen. Der Einfluss des Hochadels in der Handelsstadt Málaga sei so gering, wie vielleicht sonst nirgendwo in Spanien. Neben der Familie ­Cánovas hatten dort die „großen Kapitalien“ das Sagen, allen voran der M ­ arqués 75 de Casa Loring, Parlamentsabgeordneter aus der „Handelsaristokratie“, Martín Larios, „Senator, sehr reich, Kaufmann, Fabrikant, Landbesitzer, Oberhaupt einer mächtigen Familie, ein wenig egoistisch“, und Tomás Heredia, der Schwager von Loring, der sehr wohlhabend sei, sich aber wenig für Politik interessiere. Um diese Personen sammele sich die zweite Garnitur.76 Die Beschreibungen seiner Inspek­tionsbesuche achteten genau auf die jeweiligen Kräfteverhältnisse und die Qualität der Kommunalverwaltung, teils auch auf die „Kultur“ der Bevölkerung. In Alhaucín de la Torre etwa herrschten seiner Meinung nach üble Zustande, dort habe man eine besondere Neigung zu kriminellen Dingen. Der Bürgermeister sei gut, habe aber resigniert, der Schreiber sei „gerissen und nicht sehr gut“. Der „Einfluss“ sei aufgeteilt 72 Guerola, Sevilla, Bd. 2, S. 30. 73 Guerola, Málaga, Bd. 1, S. 105. Suárez, Einführung, in: Guerola, Sevilla, Bd. 2, S. 30. 74 Guerola, Málaga, Bd. 2, S. 665. 75 Guerola, Málaga, Bd. 1, S. 61 f. Loring war mit Guerola befreundet und versorgte ihn in Zeiten ohne Amt in seiner Eisenbahngesellschaft, Guérola, Sevilla, Bd. 2, S. 59. 76 Guerola, Málaga, Bd. 1, S. 62 f.

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z­ wischen einem Verwalter des Fürsten von Fernán-­Núñez, einem Anwalt und dem stellvertretenden Vorsitzenden des Gemeinderats, die Verwaltung mise­ rabel.77 Cártama hingegen sei ein fried­liches Dorf. Das Sagen habe die Familie Salceda, die größten Landbesitzer, hinzu komme ein Bürger aus Málaga. Die Verwaltung sei gut und der Sekretär „schlau, einflussreich und Demokrat“.78 In der zweitgrößten Stadt Antequera ­seien sehr viele Hochadelige ansässig, doch der Adelseinfluss sei nicht sehr stark, da es beträcht­liche demokratische Strömungen wegen der zahlreichen Textilfabriken gebe, Adel und Großgrundbesitzer ­seien tief gespalten.79 Seine Beschreibung Archidonas zeigt beispielhaft die Netzwerke und Machtverteilung in einer Kleinstadt: Die Familie Lafuente stelle fast immer den Parlamentsabgeordneten, deren heftigster Gegner sei die Familie Cárdenas. José Lafuente gruppiere als Mitglied der Provinzdeputa­tion seine Klientel um sich, gestützt von seinem Cousin, dem Gouverneur der Provinz Segovia, und dem Parlamentsabgeordneten in Madrid. Cárdenas könne auf seinen einflussreichen Schwager bauen.80 Bei seiner Schilderung der einzelnen Kommunen beurteilte Guerola immer den Bürgermeister, gelegent­lich auch den Sekretär. Über die übrigen Gemeinderäte erfährt man hingegen kaum etwas, mög­licherweise weil diese ledig­lich als Marionetten der vorher genannten „wichtigen Männer und Familien“ fungierten. Häufig wird z­ wischen Nichtadeligen und adeligen Familien mit „Einfluss“ unterschieden, bei den Adeligen findet man Bemerkungen wie diese für Ronda: „sehr gute Leute, aber von wenig Engagement“,81 was ein Indiz dafür sein könnte, dass die bürger­liche Landbesitzerschicht, die durch die Desamortisa­ tionen reich geworden war, dem alten Adel den Rang streitig zu machen suchte. Guerola bemühte sich, ein umfassendes Bild über die politischen, sozia­len und wirtschaft­lichen Verhältnisse zu gewinnen. Seine Besuche waren systematisch geplant. Während der Inspek­tion bediente er sich einer Art Fragebogen, der die unterschied­lichen Bereiche der Kommunalverwaltung auflistete.82 Zur Vermeidung von Einflussnahmen vermied er es, in Privathäusern zu übernachten.83 Er führte ein Notizbuch mit Einträgen für jeden Ort; die Verwaltung wurde jeweils klassifiziert („gut“, „exzellent“, „vernachlässigt“, „mittelmäßig“, 77 Ebd., S. 63. 78 Ebd., S. 65. 79 Ebd., S. 66. 80 Ebd., S. 73. 81 Ebd., S. 75. 82 Toscas Santamans/Ayala Domènech, Relaciones, S. 758. Guerola, Málaga, Bd. 2, S. 665. 83 Toscas Santamans/Ayala Domènech, Relaciones, S. 758.

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„sehr schlecht“); die meisten Urteile fielen negativ aus. Das größte Hindernis war für ihn die „Politik“. Die meisten Städte und Gemeinden werden als „gespalten“ charakterisiert; die Vermittlungsversuche des Gouverneurs zeigten nur in einigen Fällen dauerhafte Wirkung.84 In manchen seiner Beurteilungen der länd­lichen Bevölkerung wird in der Wortwahl der bürger­liche Wertehimmel deut­lich, wenn er etwa ohne größere Sensibilität für die sozioökonomischen Verhältnisse von „Barbaren“ oder „Dieben“ sprach.85 Diese Art von Inspek­tionsreisen fand sich ebenso bei franzö­sischen und italienischen Präfekten.86 Auch der spanische Liberalismus wollte paternalistische Gouverneure – in der Tradi­tion der Aufklärung und der franzö­sischen Jahre –, die mit den „Verwalteten“ in Kontakt traten und die Entwicklung der Provinz umfassend förderten.87 In seinen Sevillaner Jahren (1876 – 1878) konzentrierte sich Guerolas Aufmerksamkeit auf die Provinzhauptstadt.88 Seine Aufzeichnungen geben inte­ ressante Einblicke in die Funk­tionsmechanismen der Provinzverwaltung. Das Personal der Provinzregierung sei – so der Gouverneur – das wichtigste Rädchen, das die Verwaltung in Gang halte. Gravierende Probleme habe es nicht gegeben, jedoch „leichte und häufige“. Nicht alle hätten den nötigen Fleiß gezeigt, einem „mangelte es vollständig an der Befähigung, doch er sei ein Verwandter des Ministers gewesen, und ich hatte keine andere Wahl, als ihn auszuhalten; all das, zusammen mit der ungenügenden Zahl der Angestellten, führte zu unangenehmen Konsequenzen“.89 Er selbst habe – so stilisiert er sein Pflichtgefühl – Sekretariatsarbeiten erledigen müssen, was ihm die Zeit für höhere Verwaltungs- und Leitungsaufgaben geraubt habe. Für seinen persön­lichen Sekretär, den er aus Cádiz mitgebracht habe, sei es unmög­lich gewesen, eine adäquate Anstellung zu bekommen – trotz mehrerer Empfehlungsschreiben.90 Immer wieder klagte der Gouverneur über Angestellte, die Lohn kassierten, aber nicht zum Dienst erschienen.91

84 Guerola, Málaga, Bd. 1, S. 64, 67, 73, 75 f. 85 Ebd., S. 63, 71, 73. 86 Bernard Le Clere/Vincent Wright: Les préfets du Second Empire, Paris 1973, S. 222. Randeraad, Authority, S. 122 – 116. 87 Risques Corbella, Govern Civil, S. 381 – 386. 88 Guerola, Sevilla, Bd. 2, S. 189. 89 Ebd., Bd. 1, S. 81. 90 Ebd., Bd. 2, S. 81, 87 f. Zitate, S. 81. 91 Ebd., S. 96.

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Die Zusammenarbeit mit der Provinzdeputa­tion sei problemlos verlaufen, so dass dort kein Anlass zum Eingreifen bestanden habe. Auseinandersetzungen um die Besetzung von Vakanzen führten aber beinahe zu einer Zerreißprobe, die eindrucksvoll die schwierige Posi­tion des Gouverneurs ­zwischen Erfordernissen der Verwaltung, persön­lichen Verpflichtungen gegenüber bestimmten Personen sowie Einflussnahmen der lokalen und zentralen Ebene illustrieren. Zu guter Letzt schaltete sich der ört­liche Parlamentsabgeordnete direkt zugunsten seines Cousins ein und veranlasste den Innenminister, Guerola die Anweisung zur Neubesetzung zu geben.92 Die Zustände in der Stadtverwaltung Sevillas – wie fast in allen Provinzhauptstädten – ­seien unhaltbar gewesen. Ein desaströses Finanzgebaren, die Vernachlässigung der administrativen Aufgaben, persön­liche Auseinandersetzungen der Stadträte um Stellenbesetzungen: Dies alles beschäftigte häufig den Provinzgouverneur.93 In Málaga, so Guerola, habe er daher auch viele Aufgaben des Bürgermeisters übernehmen müssen.94 In seiner Amtsführung in Málaga dürften administrative Tätigkeiten überwogen haben, während sich in Sevilla stärker die politische Dimension in den Vordergrund schob. Die Memoiren zeigen aber auch die Begrenztheit der Mög­ lichkeiten eines Gouverneurs, wobei Vermittlung und Konsensfindung deut­lich im Mittelpunkt standen. Hinzu kamen wirtschaft­liche und s­ ozia­le Initiativen, die Guerola zwar sehr herausstellt, was Aufschluss über sein Amtsverständnis gibt, die jedoch durchaus realistisch gewesen sein dürften.95 In d ­ iesem Sinne erscheint der Gouverneur nicht als der Abgesandte des Zentralstaates, der die Autonomie der Kommunen knebelte, sondern vielmehr als Initiator von Entwicklungsprojekten und wirtschaft­lichen Initiativen, der damit auch gelegent­lich seine Kompetenzen überschritt. Demgegenüber schnitten die Bürgermeister als Repräsentanten eines aus den lokalen Eliten zusammengesetzten Stadtrates meist schlecht ab.96 Insgesamt betrachtet dürften die immer kürzeren Amtszeiten und die immer stärker werdenden „politischen Notwendigkeiten“ ab der Jahrhundertwende die Verwaltungstätigkeit in die zweite Reihe verwiesen haben. Andererseits nahmen auch der Anspruch des Zentralstaates und die Intensität seines Ausgreifens in 92 Ebd., S.  105 – 110. 93 Ebd., Bd. 3, S. 373 – 382. 94 Toscas Santamans/Ayala Domènech, Relaciones, S. 766. Vgl. zu Italien: Randeraad, Authority, S.  96 – 121. 95 Toscas Santamans/Ayala Domènech, Relaciones, S. 766. 96 Ebd., S. 766 f.

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die Fläche zu. Die Regelungsdichte erhöhte sich; die Reichweite der Vorgaben bzw. die Durchsetzungsmög­lichkeiten vor Ort hingen jeweils von einer komplexen Verbindung verschiedener Einzelfaktoren ab, die kein grobschnittar­ tiges, allgemeines Urteil erlauben. Die neuere Forschung lässt nun allerdings das Verhältnis von zentraler und lokaler Ebene wie auch das Engagement und die Handlungsspielräume der Amtsträger teilweise in neuem Licht erscheinen.97 Da im 19. Jahrhundert die Gouverneure in manchem der Zentralregierung voraus waren, da sie eine flexible Anpassung der Normen an die lokalen Verhältnisse vornahmen, wird ihnen von einigen Autoren eine wichtigere Rolle für den Staatsausbau zugeschrieben als der Zentralregierung.98 Reformen wurden nicht nur im Sinne zentralstaat­licher Delega­tion umgesetzt, sondern auch auf eigene Faust hin erarbeitet und an die Situa­tion vor Ort angepasst.99 So fixierten Gouverneure zum Beispiel als Erste die Gehälter der Gemeindesekretäre und förderten mit der Verbreitung verwaltungswissenschaft­licher Literatur die Professionalisierung der kommunalen Verwaltung, während sie gleichzeitig uniformierende zentralstaat­liche Regelungen durchzusetzen suchten.100 Beacht­liche Ermessens- und Handlungsspielräume widersprechen so der Annahme, diese ­seien nur blinde Ausführende zentralstaat­licher Vorgaben gewesen; Ergebnisse übrigens, die die Forschungen zu Italien ebenso bestätigen. Allgemein betont wird ihre Rolle als „Filter“ z­ wischen Zentralstaat und Kommunen. In Italien wie in Spanien war die Lokalpolitik oft ein Pulverfass, weshalb der Gouverneur oder Präfekt eine sehr vorsichtige Taktik wählen musste. Sein Hauptziel musste in der Befriedung liegen, nicht in der Unterstützung einzelner Gruppen.101 Es stellt sich aber natür­lich die Frage, wie gut diese Vermittlung ­zwischen Madrid und der lokalen Ebene mit einem derart instabilen Personal mög­lich war. Die Lösung lag darin, dass die Verbindungen zu Madrid auch über andere Kanäle geknüpft und gepflegt wurden. In erster Linie waren dies die Parlamentsabgeordneten; zudem wurden auch direkt Abordnungen nach Madrid entsandt, oft der Bürgermeister und tonangebende Notabeln, um direkt in den

97 Diese Ergebnisse betreffen vor allem die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts; das beginnende 20. Jahrhundert mit seiner Erosion des politischen Systems wurde daraufhin noch nicht untersucht. 98 Toscas Santamans, Secretarios municipales, S. 312. 99 Toscas Santamans/Ayala Domènech: Rezension zu: Nico Randeraad: Autoritá in cerca di autonomía. I prefetti nell’Italia liberale, Rom 1997, in: Biblio 3 W 8 (2003), Nr. 424 (http://www.ub.edu/geocrit/b3w-424.htm vom 22. 12. 2013). 100 Toscas Santamans, Secretarios municipales, S. 312. 101 Peña Guerrero, Rebelião das províncias, S. 214 f. Randeraad, Authority.

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Ministerien, an den ihnen zugäng­lichen Stellen der klientelistischen Pyramide, zu intervenieren. Damit mediatisieren sie in gewisser Weise den Gouverneur – und einen Großteil des Stadt- bzw. Gemeinderats ebenfalls.102 Ein weiterer Aspekt darf bei der Herausarbeitung der spanischen Defizite im Vergleich zu den franzö­sischen Präfekten nicht außer Acht gelassen werden. Neben dem dauerhaften Mangel an finanziellen und personellen Ressourcen in Spanien war der Ausgriff auf die Fläche durch das grobmaschigere institu­tionelle Netz geprägt. 49 Provinzgouverneuren standen 85 Präfekturen im Nachbarland gegenüber; vor allem aber gab es auf Distriktsebene in Frankreich zahlreiche Subpräfekturen, für die süd­lich der Pyrenäen kein Äquivalent existierte.103 Neuere Studien betonen somit stärker die „Leistungen“ der Provinzgouverneure unter diesen Bedingungen und warnen davor, nur die Mängel hervorzuheben. Sie plädieren dafür, künftig Aspekten, wie etwa dem jeweiligen Amtsverständnis und seinen Praktiken in Verbindung mit den Verhältnissen vor Ort, mehr Aufmerksamkeit zu schenken. In seiner Amtsführung und Dienstauffassung ähnelte Guerola durchaus italienischen und franzö­sischen Präfekten der zweiten Jahrhunderthälfte.104 Doch da bislang kaum Forschungen vorliegen, stellt sich natür­lich die Frage, inwieweit man hier Verallgemeinerungen vornehmen darf. Studien zu Italien ergaben ein breites Spektrum an Haltungen und Verhaltensformen, die je nach den jeweiligen Rahmenbedingungen in der Provinz, dem unterschied­lichen Professionalisierungsgrad der Amtsträger oder Anforderungen des Ministeriums variierten. Ähn­liches ist wohl auch für Spanien zu vermuten, muss aber offen bleiben, bis eine breitere empirische Grundlage zur Verfügung steht.105

4. „Barfußbürokraten“? – Gemeindesekretäre als zentrale Schaltstelle in den Kommunen Mit Mikrostudien lässt sich ein weiteres wichtiges Rädchen im lokalen Machtgeflecht gut fassen, näm­lich der Gemeindesekretär, der jeder Kommune vorgeschrieben war. Für den Staatsausbau in der Peripherie spielte dieser 102 Auch in Italien v. a. ab 1880 und in geringerem Maße in Frankreich ist dies feststellbar. Cajal Valero, Gobernador Civil, S. 14 f. Randeraad, Authority, S. 57, 191. Chapman, Prefects, S.  200 – 205. 103 Cajal Valero, Gobernador Civil, S. 209. Chapman, Prefects, S. 91 – 120. 104 Le Clere/Wright, Préfets, S. 74 – 80, 222. Randeraad, Authority. Chapman, Prefects. 105 Toscas Santamans/Ayala Domènech, Relaciones, S. 765.

Staatsgewalt, Bürokratie und Klientelismus  153

eine kaum zu überschätzende Rolle. In kleineren Orten war er oft der Einzige, der die Gesetzeslage und die bürokratischen Prozeduren kannte, was ihm eine einflussreiche Posi­tion verschaffte, insbesondere dort, wo die Bürgermeister und Gemeinderäte des Lesens und Schreibens nicht oder kaum kundig waren.106 Zusammen mit dem Bürgermeister bildete er die zentrale Verbindungsachse ­zwischen Zentrum und Peripherie und garantierte oft dort eine gewisse Kontinuität, wo sich das politische Ämterkarussell besonders schnell drehte.107 Studien zu Italien haben hier die spanische Forschung inspiriert und ermög­ lichen Vergleiche.108 In beiden Ländern war der Sekretär einerseits mit genuin kommunalen Aufgaben betraut, andererseits führte er von oben delegierte Funk­tionen aus. Das Gemeindegesetz fixierte ein sehr breites Arbeitsfeld.109 Eine spezifische Ausbildung war nicht vorgeschrieben, doch da in den größeren Städten die Sekretäre an der Spitze einer immer komplexeren Verwaltung standen, wurden entsprechende Qualifika­tionen, in der Regel ein Studium der Rechte, immer wichtiger. Eliseu Toscas ist bislang der Einzige, der diese Munizipalbeamten in katalanischen Mittelstädten näher untersucht hat.110 Die Biographien einiger Gemeindesekretäre aus seiner Studie erlauben es,

106 Die Memoiren Guerolas verweisen immer wieder auf die Sekretäre in kleineren Gemeinden: So im kleinen Ort Cártama in der Provinz Málaga, wo er diesen als „schlau, einflussreich und als Demokraten“ bezeichnet, vgl. Guerola, Málaga, Bd. 1, S. 65. In der Provinz Zamora hingegen charakterisiert er sie als tumbe, minderbemittelte Hinterwäldler, die kaum lesen und schreiben konnten. Guerola, Zamora, S. 155, zit. nach: Pons i Altés, Estado, S. 31. Der Begriff „Barfußbürokraten“ stammt von Raffaele Romanelli: Sulle carte interminate. Un ceto di impiegati tra privato e pubblico. I segretari comunali in Italia, 1860 – 1915, Bologna 1989. 107 Eliseu Toscas/Ferran Ayala: Entre profesionales y burócratas. Los secretarios municipales en la España del siglo XIX, in: Scripta Nova. Revista Electrónica de Geografía y Ciencias Sociales 6 (2002), Nr. 119 (92) vom 1. August 2002, S. (5) (http://www.edu/ geocrit/sn/sn119 – 92.htm vom 15. 2. 2014). Toscas Santamans, Secretarios municipales, S. 39 f., 69 – 72, 184. Toscas Santamans/Ayala Domènech, Relaciones. Alvarez Junco, Redes locales, S. 74. Puget, Gouvernement local, S. 153 – 155. Moreno Luzón, „El poder político hecho cisco“, S. 172 f. 108 V. a. Romanelli, Sulle carte interminate. Zum Vergleich ­zwischen Spanien und Italien vgl. die Studien von Eliseu Toscas Santamans und Ferran Ayala Domènech. 109 Toscas/Ayala, Entre profesionales, S. (4 – 5). Romanelli, Sulle carte interminate, S. 15 – 66. 110 Toscas Santamans, Secretarios municipales. Die Grundlage bilden v. a. Stadtratsprotokolle und Notariatsakten, Quellen, die es nur ansatzweise erlauben, die Beziehungsnetze genauer nachzuzeichnen. Insbesondere fehlen Selbstzeugnisse.

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unterschied­liche Facetten der „Durchstaat­lichung“111 auf lokaler Ebene und den Professionalisierungsprozess ­dieses Personenkreises näher zu beleuchten. Zunächst werden drei aufeinander folgende Sekretäre in Vilanova i la Geltrú, einer etwa 13.000 Einwohner zählenden katalanischen Textilstadt, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgestellt.112 Josep M. Terraza Ochalvi trat sein Amt 1853 nach einer Tätigkeit in der zentralen Finanzverwaltung mit 30 Jahren an und behielt es bis zum Ausbruch der Revolu­tion von 1868. Die Übernahme weiterer Funk­tionen, etwa als Sekretär der ört­lichen Sanitätskommissionen, dürfte ihm wichtige Kontakte eingebracht haben wie auch sein Engagement während der Choleraepidemie von 1854 seinen Ruf in der Stadt stärkte. Seine Karriere spiegelt ein beträcht­ liches Maß an Kontinuität im Amt in einer Zeit großer politischer Instabilität wider. Terraza wurde im Laufe der Jahre ein breites Aufgabenspektrum übertragen; zudem war er für die Außenbeziehungen der Stadt, vor allem in der Provinzhauptstadt Barcelona, zuständig, er übernahm aber auch eine Mission nach Madrid in Steuerangelegenheiten. Er füllte damit die klas­sische Rolle des Brokers aus.113 Mehrere Hinweise sprechen für seine Zugehörigkeit zur lokalen Notabelnschicht, also zu den gleichen Kreisen wie die Stadträte. Im Stadtrat galt er zwar formell als einfacher Angestellter, allerdings mit vergleichsweise hohen Bezügen, der stets außerordent­lich gut informiert war und diese Tatsache konsequent zu ­nutzen wusste.114 Sein Nachfolger Hermenegild Pons i Puig zählte zu den größten Steuerzahlern des Ortes; sein Schwiegervater war im Kolonialhandel tätig. Pons i Puig stieg sukzessive im Munizipalsekretariat auf. An seiner Laufbahn während der Revolu­tion lässt sich erkennen, dass bei politischen Wechseln nicht notwendigerweise das gesamte Verwaltungspersonal ausgetauscht werden musste; häufig betraf dies nur die Spitze, den Sekretär. Ihn ersetzte in der Regel ein Vertrauensmann aus der zweiten Reihe, ein Großteil der Mitarbeiter blieb im Amt. Die „große Politik“ hatte also auf die kommunale Verwaltung nur begrenzte Auswirkungen. Wenn nach einer Neuwahl des Stadtrates 111 Norbert Franz: Durchstaat­lichung und Ausweitung der Staatstätigkeit im 19. Jahrhundert. Das Beispiel franzö­sischer und luxembur­gischer Landgemeinden, in: Franz Irsigler (Hg.): Zwischen Maas und Rhein. Beziehungen, Begegnungen und Konflikte von der Spätantike bis zum 19. Jahrhundert. Versuch einer Bilanz, Trier 2006, S. 223 – 246, hier 224 f. 112 Toscas Santamans, Secretarios municipales, S. 213. 113 Ebd., S.  217 – 222. 114 Ebd., S.  222 – 231.

Staatsgewalt, Bürokratie und Klientelismus  155

das Munizipalsekretariat unverändert weiterarbeiten konnte, weist dies auf eine Unterscheidung ­zwischen „Staatsdienst“ und Parteigängerschaft für eine bestimmte politische Gruppierung hin.115 Trotzdem war das in Zeiten extremer politischer Instabilität oft nicht leicht durchzusetzen. Puig i Pons blieb bis zur Ausrufung der E ­ rsten Republik im Februar 1873 im Amt, dann wurde der Stadtrat mitsamt allen Angestellten abgesetzt. Es ist leider nicht bekannt, wie „neu“ die „Neuen“ wirk­lich waren; aus anderen Orten weiß man, dass der Austausch nicht alle betraf.116 Ein erneuter politischer Wechsel ein knappes Jahr ­später brachte einen neuen Stadtrat, der Puig i Pons zusammen mit allen zuvor in den Wartestand Versetzten wieder einstellte – zunächst interimistisch, was einfacher und billiger für die Stadtkasse war. Aber auch ein Mann aus der Zeit der Republik konnte bleiben. Daran zeigt sich, dass die politische Instabilität die Ausbildung einer autonomen Verwaltung erschwerte, diesen Prozess aber nicht völlig verhinderte.117 Wenig ­später wurde Puig i Pons das Amt dauerhaft übertragen. Die sehr kurze Bewerbungsfrist von nur acht Tagen bewirkte, dass andere Interessenten nicht zum Zug kamen. Drei Jahre s­ päter gab er die Posi­ tion auf, zog nach Barcelona und agierte dort als Bevollmächtigter der Stadt (agente de negocios) bei den Provinzbehörden. Terrazas Brokerbeziehungen (als ehemaliger Beamter der zentralen Finanzverwaltung) reichten bis Madrid, die von Pons i Puig „nur“ bis in die Provinzhauptstadt.118 Angel Morros i Sierra stieg ebenfalls im Munizipalsekretariat auf und hatte bereits 14 Monate „interimistisch“ die Aufgaben des Sekretärs ausgeübt, als er das Amt 1878 für die kommenden 10 Jahre übernehmen konnte. Im Konflikt ­zwischen den Interessen der Kommune und den Vorgaben des Zentralstaates erwies sich in ­diesem Fall das lokale Interesse als ausschlaggebend. Obwohl Morros juristische Qualifika­tionen fehlten, konnte er sich nach langem Ringen durchsetzen: Der im Ort Geborene erhielt den Vorzug.119 An dieser komplizierten und langwierigen Personalentscheidung zeigen sich die Fortschritte der Professionalisierung der Munizipalverwaltung ebenso wie die zunehmende Reglementierung der peripheren Bürokratien. Vielerorts entstanden detaillierte Vorschriften für die Erledigung der Verwaltungsaufgaben und die jeweilige Personalausstattung. So auch in Vilanova i la Geltrú, wo man sich am Beispiel Barcelona orientierte (1886). Allerdings gilt es auch, die Persistenz der lokalen 115 Ebd., S.  232 – 236. 116 Ebd., S. 237. 117 Ebd., S. 238. 118 Ebd., S.  238 – 242. 119 Ebd., S.  243 – 249.

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Verwaltungsgewohnheiten zu unterstreichen.120 Stellenbesetzungen erfolgten nun immer öfter durch öffent­liche Ausschreibung, jedoch zunächst nur in Rahmen der Provinz, und fach­liche Qualifika­tionen gewannen an Bedeutung gegenüber politisch-­personalistischen Erwägungen.121 Als Morros nach 21 Jahren in städtischen Diensten zurücktrat, um sich seinen Geschäften als Limonaden- und Likörproduzent zu widmen, hatte dieser einflussreiche Jahre in der Kommunalpolitik hinter sich. Die Stadtratsprotokolle zeigen deut­lich seine Machtposi­tion; sein Verhalten g­lich nicht selten dem eines Bürgermeisters, nicht nur in rein technischen, sondern auch in politischen Angelegenheiten, obwohl den Sekretären nach dem Gesetz nicht einmal Rederecht zustand.122 Nach seinem Ausscheiden wurde er Vorsitzender der ört­lichen Unternehmervereinigung.123 Toscas führt diesen bemerkenswerten sozia­len Aufstieg – er stammte aus dem Kleinbürgertum – unter anderem auf seine langjährige Tätigkeit in der Stadtverwaltung zurück, die Mitte der 1860er Jahre begonnen hatte. Angesichts zunehmender Komplexität der kommunalen Verwaltungsangelegenheiten wurde zum einen der Sachverstand des Sekretärs immer wichtiger, zum anderen zeichnete sich seit den 1880er Jahren in den untersuchten Mittelstädten eine Art Allianz ­zwischen dem Staat (vertreten durch den Provinzgouverneur) und den Sekretären gegen die jeweiligen Kommunen ab. Reformprojekte nach 1900 versuchten den Sekretär dazu zu verpflichten, Gesetzesverstöße der Kommune – unter Androhung der Absetzung – zu melden.124 Einige Bemerkungen zu zwei anderen katalanischen Mittelstädten erlauben es, weitere Aspekte zu beleuchten: Domènec M. Alaix i Queralt stand in der agrokommerziell ausgerichteten Stadt Tortosa etwa 35 Jahre lang in Gemeindediensten. Auch sein Fall zeigt, wie ein Gemeindesekretär mannig­fache Regierungswechsel und vor allem die wirren Jahre der Revolu­tion überstehen konnte. Nach einer Absetzung 1859 kehrte er bei Ausbruch der Revolu­tion 1868 ins Amt zurück und schaffte es – was selten vorkam –, in einer langfristigen Strategie gezielt seine Pensionsansprüche durchzusetzen. Obwohl er in dieser Angelegenheit immer mit seiner schwachen Gesundheit argumentiert hatte, zog er nach seinem „Sieg“ noch weitere acht Jahre – aus der zweiten Reihe – die Fäden in der Kommunalpolitik.125 Diese Permanenz ist nicht nur 120 Ebd., S. 250 f. 121 Ebd., S. 253. 122 Ebd., S.  253 – 255. 123 Ebd., S. 242 f. 124 Ebd., S.  256 – 258. 125 Ebd., S.  259 – 279.

Staatsgewalt, Bürokratie und Klientelismus  157

durch den Sachverstand zu erklären, den er sich im Laufe der Jahre angeeignet hatte. Die familiäre Zugehörigkeit zu Juristen- und Notarskreisen verschaffte ihm vielmehr privilegierte Informa­tionen und wichtige Beziehungen. Da in den Familiennetzwerken parteipolitische Kriterien nur eine sekundäre Rolle spielten, halfen ihm diese, die politischen Wechsel zu überstehen.126 Als letzter Gemeindesekretär soll Celestí Mas i Abad (1819 – 1883) vorgestellt werden, dessen Vater ­dieses Amt ebenfalls 21 Jahre lang in der Textilstadt ­Igualada ausgeübt hatte. Der Sohn kombinierte somit Familientradi­tion mit guten Beziehungen, Landbesitz und Fachwissen und erreichte nach sechs Jahren in städtischen Diensten (1845 – 1851) einen fulminanten Aufstieg: 1851 wurde er Bürgermeister der Stadt, dann Parlamentsabgeordneter in Madrid und hatte einflussreiche Posi­tionen im Innenministerium inne. Darüber hinaus war er auch Gouverneur in sechs verschiedenen Provinzen in den 1850er und 1860er Jahren.127 Alle diese Ämter ermög­lichten auf unterschied­liche Weise „Vermittlung“ ­zwischen Zentrum und Peripherie und stellten somit verschiedene Mög­lichkeiten dar, an der Konstruk­tion des liberalen Staates mitzuwirken. Als Bürgermeister setzte sich Mas i Abad für verschiedene Infrastrukturprojekte ein. Noch wichtiger war aber sein Beitrag als Autor wissenschaft­licher Werke zur Kommunalverwaltung. Seine Publika­tionen wurden den Gemeinden vom Innenministerium zur Anschaffung aus Haushaltsmitteln empfohlen; darin wird das Sekretärsamt als „wichtigstes Amt der Lokalverwaltung“128 bezeichnet. Die weitere Professionalisierung der Munizipalsekretäre sollten auch einschlägige Zeitschriften ab der Jahrhundertmitte befördern, an denen sich Mas aktiv beteiligte.129 Was lässt sich über die angeführten Beispiele hinaus, die als relativ gut dokumentierte Fälle wohl nur begrenzt verallgemeinerbar sind, zusammenfassend festhalten? Vorgegebene Bildungsqualifika­tionen für die Gemeindesekretäre existierten nicht, doch in größeren Orten handelte es sich sehr häufig um Juristen, während in kleineren oft weitere Funk­tionen gleichzeitig ausgeübt wurden, wie etwa die des Schullehrers.130 Wie in Italien waren die Sekretäre der Gemeinden „private“ Angestellte, die vielfältige öffent­liche Funk­tionen ausübten, bevor sie im Gemeindestatut von 1924 bereits in der Diktatur des 126 Ebd., S.  279 – 293. 127 Ebd., S.  294 – 296. 128 Ebd., S. 299. 129 Ebd., S. 302 f. 130 Toscas/Ayala, Entre profesionales, S. (5 f.) Toscas i Santamans/Ayala Domènech, Estado liberal, S. (3 – 20). Toscas Santamans, Secretarios municipales, S. 40 – 43.

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Generals Primo de Rivera zu Staatsbeamten wurden.131 Viele hatten nur kurze Amtszeiten, ein bescheidenes Gehalt und keine Ruhestandsbezüge. Sie kamen eher aus kleinbürger­lichem Milieu, und die meisten stiegen nicht weiter in Verwaltungskarrieren auf. Für Einstellung und Karriere spielten vor allem drei Faktoren eine Rolle: politische Patronage, lokale „Verwaltungstradi­tionen“ und Fachwissen bzw. entsprechende erbrachte Leistungen. Erst ab dem letzten Jahrhundertdrittel wurden akademische Titel immer wichtiger, vor allem juristischer Sachverstand.132 Förder­lich für eine längere Amtsdauer waren eine gewisse Distanz zu den Auseinandersetzungen der Tagespolitik und die Konzentra­tion auf die Verwaltungstätigkeit. Zum Zweiten sind die familiären Netzwerke vor Ort zu nennen und zum Dritten halfen Beziehungen, die über die lokale Ebene hinausreichten. Diese wurden umso wichtiger, je mehr der Sekretär als „Beauftragter des Staates“ und je weniger er als Angestellter der Gemeinde agierte. Nicht zuletzt trug die Form der Amtsführung wie auch das Verhalten in Krisensitua­tionen, wie etwa den Choleraepidemien, zum Erhalt der Posi­tion bei. Obwohl häufig kurz, waren die Amtszeiten der Sekretäre in der Regel doch länger als die der Bürgermeister und Gemeinderäte, was eine gewisse Kontinuität trotz politischer Instabilität garantierte.133 In größeren Kommunen unterstanden ihnen weitere Mitarbeiter, zu deren Tätigkeit aber keinerlei zentralstaat­liche Vorgaben existierten. Dies verstärkte die Abhängigkeit ­dieses Verwaltungspersonals von der Kommune und den tonangebenden Familien. Häufig erfolgte aus diesen Beschäftigungen ein Aufstieg ins Sekretärsamt. Insbesondere ab den 1870er und 1880er Jahren zeigt sich auch bei den Gemeindeangestellten ein zunehmender Bürokratisierungsprozess: Es wurden interne Verwaltungsordnungen erlassen, mehr Stellen öffent­lich ausgeschrieben, die Rekrutierungsbasis erweitert. Objektive Zugangskriterien wie akademische Titel gewannen an Bedeutung, und die Kommunen konnten die Karrieren immer weniger allein intern regeln. Dennoch blieb die fundamentale Bedeutung der lokalen Ebene erhalten, von deren Koopera­ tion die Umsetzung zentralstaat­licher Normen abhing. Dies zeigte sich zum Beispiel an dem Versuch ab Mitte der 1850er Jahre, die Bevorzugung in den 131 Toscas Santamans, Secretarios municipales, S. 311.Toscas i Santamans/Ayala Domènech, Estado liberal, S. (4). Toscas Santamans/Ayala Domènech, Relaciones. 132 Toscas/Ayala, Entre Profesionales, (S. 2 – 5). Romanelli, Sulle carte interminate, S. 15 – 66. 133 Toscas Santamans, Secretarios municipales, S. 44. Toscas/Ayala, Entre profesionales, S. (7).

Staatsgewalt, Bürokratie und Klientelismus  159

Wartestand versetzter Staatsbeamter für die Sekretärsstellen durchzusetzen. Die Gemeinden interpretierten dies als Einmischung sowohl in kommunale Kompetenzen als auch in den ört­lichen Arbeitsmarkt und torpedierten d ­ ieses Ansinnen, wo immer sie konnten.134 Die Gemeindesekretäre standen somit an entscheidender Posi­tion z­ wischen Zentrum und Peripherie, sie waren oft bevorzugte Ansprechpartner der Provinzgouverneure. Damit wurden sie zu zentralen Agenten des na­tion building und des Ausgriffs des Staates in die Fläche, wobei ihr Bild z­ wischen dem des Opfers unter der Knute der Kaziken und dem des ört­lichen Despoten schwanken konnte.135 Sie waren zwangsläufig Teil der lokalen Beziehungsnetze, die der Staat zu disziplinieren versuchte.136 Im Laufe des letzten Jahrhundertdrittels mehrten sich Anzeichen dafür, dass der Zentralstaat sowie die Provinzgouverneure einen umfassenderen Schutz der Sekretäre gegenüber den lokalen Fak­tionen gewährleisteten. Der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzende Professionalisierungs- und Bürokratisierungsprozess zeigte sich auch auf symbo­lischer Ebene, wie etwa durch die Verleihung von Medaillen. Wie die Beispiele aus Katalonien unterstreichen, traten die administrative Sphäre der Sekretäre und die politische der gewählten Stadträte auseinander. Die Schullehrer übten in vielen Orten diese Funk­tion nicht mehr aus.137 Immer mehr Bewerber verfügten nun bereits über andernorts gewonnene Berufs­erfahrungen und immer häufiger wurde die Tätigkeit als eigenständiger Beruf und weniger als Zusatzaufgabe begriffen.138 Wie in Italien stärkte sich die Identität der Sekretäre mit der Schaffung von Interessenvertretungsorganisa­tionen, anfangs auf provinzialer und regionaler Ebene, s­ päter auch auf na­tionaler.139 So setzten sich ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sowohl der Staat als auch die Bewegung der Sekretäre für eine Entpolitisierung und strikt technische Ausrichtung dieser Gemeindebediensteten ein. Diese Bemühungen führten allerdings keineswegs geradlinig hin zur Umwandlung in ein staat­liches Amt, sondern waren vor allem eine Auseinandersetzung mit den jeweiligen kliente­ listischen Tradi­tionen vor Ort.140

134 Toscas Santamans, Secretarios municipales, S. 145. Toscas, Autoridad del estado. 135 Toscas Santamans, Secretarios municipales, S. 72 f. 136 Toscas Santamans/Ayala Domènech, Relaciones, S. 752. 137 Toscas i Santamans/Ayala Domènech, Estado liberal, S. (19). 138 Toscas Santamans, Secretarios municipales, S. 60 – 62, 309. 139 Ebd., S. 68, 296 – 306. Toscas i Santamans/Ayala Domènech, Estado liberal, S. (19). 140 Toscas Santamans, Secretarios municipales, S. 81 f.

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5. Fazit Der bisherige Forschungsstand lässt nur sehr vorsichtige Schlussfolgerungen hinsicht­lich des Staatsausbaus in der Peripherie im Untersuchungszeitraum zu. Wir haben ledig­lich kleine Mosaiksteinchen zur Verfügung, die allerdings – kontrastiert man sie mit Studien vor allem zu Italien und Frankreich – dabei helfen können, Hypothesen zu formulieren und weiterführende Forschungsfragen zu benennen. Weitgehender Konsens besteht darüber, dass die Vorstellung eines zentralistischen Staates, der seine Vorgaben bis ins kleinste Provinzdorf durchsetzte, obsolet geworden ist. Obwohl die Frage nach der Stärke oder Schwäche des Staates im Detail immer noch Gegenstand kontroverser Debatten ist,141 sollte dieser Beitrag das Gewicht der Peripherie, ihr Widerstandspotential und ihre Eigen­ dynamik im Kontext von Klientelismus und caciquismo deut­lich gemacht haben. Interessanter ist die Frage, w ­ elche Rolle die Vertreter der Bürokratie in den Provinzen und Kommunen dabei spielten. Es waren vor allem die Provinzgouverneure, die – teils unabhängig von der Zentralgewalt – die Normensetzung und -durchsetzung für die kommunale Ebene vorantrieben. Damit kommt den Provinzen in einer ersten Phase der Durchstaat­lichung eine Vorreiterrolle zu, ergänzt durch ein verstärktes zentralstaat­liches Engagement ab den 1870er Jahren.142 Die Zentralgewalt entwickelte in der Restaura­tionszeit zunehmend Kontrollmechanismen gegen die Manipula­tion ihrer Normen auf lokaler Ebene.143 Die wichtigste Schaltstelle hierfür bildeten Provinzgouverneure und Gemeindesekretäre. Dieser Prozess verlief aber keineswegs geradlinig. Das Gouverneursamt wurde allerdings ab der Jahrhundertwende immer poli­ tischer, während sich der Einfluss der Kaziken in der Peripherie, unter anderem bedingt durch immer instabilere und kurzlebigere Regierungen, verstärkte. Im Gegensatz zu den franzö­sischen Präfekten gelang unter diesen Umständen keine vergleichbare administrative Professionalisierung und Ausbildung einer korporativen Identität, was in ähn­licher Weise auch für die Gemeindesekretäre zutrifft, die – integriert in die Klientelstrukturen vor Ort – ­zwischen Staat und Kommune lavieren mussten.

141 José Alvarez Junco: Mater dolorosa. La idea de España en el siglo XIX, Madrid 2001, S. 533 – 545. Juan Pablo Fusi: Centralismo y localismo: la formación del Estado español, in: Guillermo Gortázar (Hg.): Nación y estado en la España liberal, Madrid 1994, S. 77 – 90. 142 Toscas Santamans, Secretarios municipales, S. 305 f. 143 Toscas i Santamans/Ayala Domènech, Estado liberal, S. (19).

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So kann man festhalten, dass sich der Ausbau des liberalen Staates zu einem guten Teil von der Peripherie und von unten aus gestaltete.144 Bei aller Vorsicht lässt sich wohl sagen, dass die „Verwaltung“ stärker als die „Politik“ zum Staatsausbau beigetragen hat. Dies stützt die Auffassung, Verwaltung nicht nur als Anhängsel der Politik zu begreifen und nicht einseitig die Perspektive von oben nach unten zu betonen. Eine mikrohistorische und kulturgeschicht­ liche Perspektive, die vom Strukturalismus der Großtheorien ebenso abgeht wie von einer rein institu­tionengeschicht­lich-­normativ orientierten Verwaltungsgeschichte Abstand nimmt, scheint besser geeignet, die Kontingenz und Komplexität der inneren Staatsbildung zu erfassen. Diese müsste allerdings auch die Vielfalt der regionalen Entwicklungen berücksichtigen, die bislang nicht einmal ansatzweise bekannt sind. So verdient Mikrostudien sind, die die Totalität der komplexen Machtbeziehungen vor Ort hinterfragen, so ist es doch nötig, stärker auf das Amtsverständnis, die Beziehungen, Werte und Normen der Verwaltungsakteure im Kontext der jeweiligen Institu­tionen einzugehen, damit die Besonderheiten und Eigenlogiken des administrativen Apparats und die Sinndeutungen und Handlungslogiken seiner Akteure nicht in der allgemeinen Analyse klientelistischer Netzwerke und Pyramiden verschwinden. Insbesondere das Ausloten der jeweiligen Handlungsspielräume und -alternativen verspricht weitere Aufschlüsse. Eine Kultur- und Sozia­lgeschichte der spanischen Verwaltung, die insbesondere die Peripherie berücksichtigt, stellt daher ein dringendes Desiderat dar.

144 Toscas Santamans, Secretarios municipales, S. 311 f.

Dirk Mellies

Infrastrukturpolitik in einer rückständigen Provinz Preußens. Das Beispiel Pommern im 19. Jahrhundert Infolge der Gebietsgewinne des Wiener Kongresses verfügte Preußen zu Beginn der 1820er Jahre über ein Chausseenetz von mehr als 531 Meilen Länge.1 Während hiervon allein jeder zweite Streckenkilometer auf die Rheinprovinz fiel, existierte in der Provinz Pommern bis dato ledig­lich ein rund 2453 Ruten (= 9262,5 Meter) langer Steindamm ­zwischen der Provinzhauptstadt Stettin und der Kleinstadt Damm.2 Alle anderen Straßen, das heißt auch die für den Fernverkehr elementaren Verbindungen Stettin – Schwedt – Berlin, Stettin – Gollnow – Naugard – Hinterpommern, Stettin – Prenzlau, Stettin – Anklam und die sogenannte Königsstraße von Berlin über Stargard nach Danzig waren unchaussiert und befanden sich in einem schlechten Zustand.3 Zeitgenös­sische Reiseberichte beschreiben eindrucksvoll die Beschwer­lichkeiten, die sich aus der pommerschen Straßenqualität ergaben.4 Zwar erlebte Pommern wie auch die anderen Ostprovinzen Preußens beim Ausbau der Verkehrsinfrastrukturen im Laufe des 19. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Aufholjagd. Der erheb­liche Rückstand gegenüber den west­lichen Provinzen konnte jedoch nie mehr überwunden werden. Immerhin verfügte Pommern 1870 schon über 4171,1 Streckenkilometer Chausseen. Setzt man jedoch die Streckenlänge mit der Fläche ins Verhältnis, lagen Pommern, Brandenburg und die Provinz Preußen mit rund 10,3 Kilometer pro 100 Quadratkilometer gegenüber 28,4 Kilometer pro 100 Quadratkilometer in der Rheinprovinz

1 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 77, Ministerium des Innern, Tit. 79, Nr. 98, Übersicht der gebauten Chausseen in Meilen, 10. 2. 1853. 2 Vgl. Thomas Schmidt: Die pommerschen Chausseen, Stettin 1853, unpaginiert. Der Damm selbst wurde offensicht­lich bereits schon um 1299 angelegt. 3 Vgl. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GS tA PK ), I. HA , Rep. 93 B, Ministerium der öffent­lichen Arbeiten, Nr. 33307, Memoire von Johann August Sack, Stettin vom 9. 8. 1816. 4 Vgl. Per Daniel Atterbom: Reisebilder aus dem romantischen Deutschland. Jugend­ erinnerungen eines romantischen Dichters und Kunstgelehrten aus den Jahren 1817 bis 1819, Stuttgart 1970, S. 33 – 45.

166 Dirk Mellies

deut­lich zurück.5 Gleiches gilt für die Netzdichte der Eisenbahnen: 1890 ergaben in Pommern 1422 Streckenkilometer Eisenbahn eine Netzdichte von 4,7 Kilometer pro 100 Quadratkilometer, während diese in der Rheinprovinz bei 12,6 Kilometer pro 100 Quadratkilometer lag. Zudem zählte in Pommern fast jeder zweite Streckenkilometer nur zu den sogenannten Sekundärbahnen.6 In beiden Fällen hatte der Spitzenreiter innerhalb des preußischen Staates – die um einiges weiter entwickelte und stärker bevölkerte Rheinprovinz – ein fast dreimal so dicht gewebtes Verkehrsnetz wie Pommern. Als ein Fallbeispiel des sukzessiven Eindringens der Zentralgewalt in die Provinz fragt dieser Aufsatz danach, wer die wesent­lichen Akteure dieser bemerkenswerten, am Ende jedoch vergeb­lichen infrastrukturellen Aufholjagd waren, über w ­ elche Strategien und Interessen sie verfügten und wie diese Akteure mit der Erkenntnis umgingen, dass man im innerpreußischen Vergleich letztend­ lich doch beständig zurückblieb.

1. Der schwierige Beginn einer staatlichen Infrastrukturpolitik (1820 – 1848/49) Im Versuch, den Ausbau des preußischen Chaussee- und Eisenbahnnetzes im 19. Jahrhundert in Phasen zu gliedern, bietet sich folgende Periodisierung an: Einer ersten Orientierungs-, Blockade- und Kick-­off-­Phase, die sich ungefähr bis 1848/49 erstreckte, folgte eine zweite Boomphase bis zur Reichsgründung, während danach die großen Investi­tionen und Entwicklungsschübe bei der Ausgestaltung des Verkehrsnetzes weitestgehend abgeschlossen wurden.7 In der ersten Orientierungs-, Blockade- und Kick-­off-­Phase sind die maßgeb­ lichen Entwicklungsakteure zuallererst in der Verwaltungsspitze der Provinz sowie im zuständigen Gewerbeministerium in Berlin, in Teilen aber auch schon auf der dezentralen Ebene zu finden. Die enormen Investi­tionen, die im Chausseebau erforder­lich waren, bedurften in der Startphase positiver

5 Vgl. Rudi Gador: Die Entwicklung des Straßenbaues in Preußen 1815 – 1875 unter der besonderen Berücksichtigung des Aktienstraßenbaus, Berlin 1966, S. 362 und Uwe ­Müller: Infrastrukturpolitik in der Industrialisierung: Der Chausseebau in der preußischen Provinz Sachsen und dem Herzogtum Braunschweig vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts, Berlin 2000, S. 462. 6 Dieter Ziegler: Eisenbahnen und Staat im Zeitalter der Industrialisierung, Stuttgart 1996, S. 550 und S. 556. 7 Vgl. Dirk Mellies: Modernisierung in der preußischen Provinz. Der Regierungsbezirk Stettin im 19. Jahrhundert, Göttingen 2012, S. 148 – 154.

Infrastrukturpolitik in einer rückständigen Provinz Preußens  167

Rahmenbedingungen seitens der Berliner Zentrale. Anstatt die weniger entwickelten Teile der Monarchie – wie eben Pommern – zu fördern, wurden frei­lich spätestens auf Grundlage des Staatsschuldengesetzes von 1820 die spär­lichen staat­lichen Mittel weiterhin dort eingesetzt, wo es schon Chausseen gab. Zwar versuchte der pommersche Oberpräsident Johann August Sack mit diversen argumentativen Kniffen und dem Hinweis auf die schlechten persön­lichen Reiseerfahrungen von Ministern und des Kronprinzen in Pommern, eine Förderung von Chausseebauprojekten zu erwirken,8 es dauerte aber bis ins Jahr 1823, bis mit einer Finanzierung über die Preußische Seehandlung wenigstens der Bau der wichtigsten Verkehrsachse z­ wischen der Provinzhauptstadt Stettin und Berlin initiiert werden konnte.9 Dieser Bau ging erstaun­lich konfliktfrei und schnell voran, so dass sich auch in breiteren Kreisen der Provinz der Wunsch nach weiteren Chausseeprojekten verbreitete. Ein nächster Bauschub sollte deshalb über eine Kofinanzierung durch den preußischen Staat und die Ritterschaft­liche Privatbank in Pommern eingeleitet werden.10 Hier zeigte sich jedoch bereits erstmals das pommersche Kernproblem, das auch in den nächsten Jahrzehnten immer wieder größere Infrastrukturprojekte zu blockieren drohte. Einerseits hatte die Ritterschaft­liche Privatbank mit erheb­lichen Finanzierungsproblemen zu kämpfen, andererseits konnten sich die aus dem Rittergutsbesitz rekrutierenden Ak­tionäre nicht auf den Einsatz der beschränkt vorhandenen Mittel einigen.11 Der Streit über die

8 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Geheimes Zivilkabinett, j. P., Nr. 16019, Zeitungsbericht für den Monat Juni 1820, Stettin vom 4. 7. 1820. Im September 1820 forderte der Oberpräsident Sack die Gewährung von jähr­lich 100.000 Taler für den pommerschen Chausseebau (vgl. ebenda, Zeitungsbericht für den Monat August 1820, Stettin vom 5. 9. 1820). 9 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Geheimes Zivilkabinett, j. P., Nr. 16021 bzw. Nr. 16022, Zeitungsbericht für den Monat November 1823, Stettin vom 4. 12. 1823 bzw. Zeitungsbericht für den Monat Dezember 1823, Stettin vom 4. 1. 1824. Vgl. auch Uwe Müller, Chausseebaupolitik und Herrschaft in Preußen vom Ende der Napoleonischen Kriege bis zum Beginn des Eisenbahnbaus, in: Ralf Pröve/Norbert Winnige (Hg.): Wissen ist Macht. Herrschaft und Kommunika­tion in Brandenburg-­Preußen, 1600 – 1850, Berlin 2011, S. 197. 10 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Geheimes Zivilkabinett, j. P., Nr. 28843, Gutachten des Staatsministers von Schuckmann, Berlin vom 20. 4. 1826 und Regulativ wegen der Maßgabe zur Aufhülfe der Provinz Alt-­Pommern (1826). 11 Vgl. ebenda, Pro Memoria des Finanzministers von Motz über den Chausseebau in Pommern, Berlin vom 30. 6. 1827. Zu den Finanzierungsproblemen der Bank vgl. ­Heinrich von Poschinger, Bankwesen und Bankpolitik in Preußen. Bd. 1: Von der ältesten Zeit bis zum Jahre 1846, Berlin 1878, S. 241 – 254

168 Dirk Mellies

konkrete Ausrichtung der einzelnen Routen, persön­liche Animositäten und Kontroversen über mög­liche kostenreduzierende Qualitätssenkungen blockierten die Projektierung. 1833 war „der Bau in einem so chaotischen Zustande, daß die fernere Ausführung der Bank abgenommen wurde“, und dem Landrat des Pyritzer Kreises von Schöning übergeben werden musste.12 Das Bewusstsein der lokalen Akteure für die Bedeutung des Chausseebaus erwachte erst ab Mitte der 1830er Jahre, als die Chausseebauproblematik zum einen in den beiden Kommunallandtagen von Neuvorpommern und Altpommern in einer wachsenden Zahl von Peti­tionen – zuerst vor allem von städtischen Vertretern, dann aber auch mehr und mehr von Vertretern des platten Landes – zum Thema gemacht wurde.13 Zum anderen sekundierten die 1835 in Stettin gegründeten, liberal ausgerichteten Börsennachrichten mit einer Fülle von Artikeln, ­welche die Notwendigkeit der Entwicklung der Kommunika­ tion für die pommersche Gewerbeförderung und für das Zusammenwachsen Preußens betonten sowie die Zurückstellung von partikularen Lokalinteressen gegenüber dem Gesamtinteresse der Provinz forderten.14 Die ersten Akteure der entstehenden Zivilgesellschaft meldeten sich somit lautstark zu Wort. Entsprechend unter Druck gesetzt, trugen der neue Oberpräsident von Bonin und der pommersche Landtagsmarschall Malte Fürst zu Putbus in der Folge umfassendes Zahlenmaterial zusammen, um bei der Berliner Zentrale zu verdeut­lichen, dass Pommern gegenüber den anderen Teilen der preußischen Monarchie ungerecht behandelt werde und die Provinz besonderer Staatsmittel bedürfe.15 Tatsäch­lich stellte das Staatsministerium nach einigem Hin und Her in Aussicht, dass ab 1839 insgesamt eine halbe Million Taler zum Bau von 12 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Geheimes Zivilkabinett, j. P., Nr. 28858, Pro Memoria des Landrats von Schöning über die Leitung des Chaussee-­Baus in Pommern, seit 1828, Stettin vom 26. 3. 1837. 13 Vgl. beispielsweise Vgl. die 5. Peti­tion zur Fortsetzung des Chausseebaus in Pommern, in: Verhandlungen des Provinzial-­Landtages im Herzogthum Pommern und Fürstenthum Rügen 6 (1837), S. 86 – 89. 14 Vgl. z. B. die Artikel Schnelligkeit der gewöhn­lichen Postkutschen in England, Chausseebau auf Aktien, Der Chausseebau in Hinterpommern und die Berlin-­Stettiner Eisenbahn und Bemerkungen über den projektierten Bau von Chausseen in einigen Kreisen Hinterpommerns in den Börsennachrichten Nr. 11 vom 18. 9. 1835, Nr. 95 vom 26. 11. 1838, Nr. 6 vom 20. 1. 1840 und Nr. 1 vom 1. 1. 1843. 15 Vgl. Archiwum Państwowe Szczecin (APS), Naczelne Prezydium Prowincji Pomorskiej w Szczecinie (NPPP ), Nr. 1943, Entschluss des Provinziallandtags im Schreiben des Landtagsmarschalls Malte Fürst zu Putbus an den Oberpräsidenten von Bonin, Putbus vom 25. 3. 1837.

Infrastrukturpolitik in einer rückständigen Provinz Preußens  169

50 Chausseemeilen investiert werden sollten, sofern von den „betheiligten Gutsbesitzer[n] und Gemeinden im geeigneten Maßen dazu thätig mitgewirkt wird“.16 Staatsministerium und Monarch hielten also ganz deut­lich an dem Prinzip der Kofinanzierung fest. Ziel des Gewerbeministeriums war es, dass in der Provinz mög­lichst „ein Wettlaufe“ zur gegenseitigen Anregung entstehe, da deut­lich gemacht worden war, dass zuerst die Routen eine Förderung erhalten sollten, deren Kofinanzierung abgesichert war. Trotz diverser Qualitätssenkungen hinsicht­lich Straßendicke, Bordsteingröße, Material beim Brückenbau, Zahl der Chausseehäuser usw., w ­ elche die Gesamtkosten einer Chausseemeile auf 20.485 bis 26.343 Taler reduzieren sollte,17 musste das Ministerium frei­lich erneut bald einräumen, dass d ­ ieses Vorhaben in Pommern nur schlecht umzusetzen war.18 Magistrate und Rittergutsbesitzer kämpften selbstverständ­lich weiter darum, dass mög­lichst ihre Stadt bzw. ihr Gut an eine Chaussee angebunden werden sollte und eben nicht die jeweilige Nachbarstadt oder das Nachbargut. Die Argumenta­tion verlief hierbei meist identisch, was bereits in einer Studie zum pommerschen Chausseebau in den 1850er Jahren treffend analysiert worden war: Kam es darauf an, die Staats-­Regierung für den Bau einer Strecke […] zu erwärmen, so legte man poetisch-­romantische Schilderungen von dem Reichthum der Gegend, der Rührigkeit ihrer Bewohner vor. Unterwarf die Regierung dann diese Darstellungen einer nüchternen Betrachtung, wurden die Gesuche abgelehnt, dann folgte im Contraste zur ersten Begründung eine die Gegend mit düstern Farben schildernde Beschreibung, die, zu schwach, um sich selber zu helfen, dann die Hülfe des Staates beanspruchte. […] Je mehr der moderne Staat dem Saturne gleicht, der seine eigenen Kinder vernichtet, um so weniger darf man sich wundern, daß an die Allmacht des Staates appellirt wird.19 Diese Praxis erschwerte jedoch die Bildung von finanzkräftigen Allianzen, die es vermocht hätten, eine ausreichende Finanzierung zu gewährleisten und verhinderte somit weitere Chausseebauprojekte. 16 Vgl. APS, NPPP, Nr. 1955, Finanzministerium an Oberpräsident von Bonin, Berlin vom 24. 4. 1838. 17 Vgl. APS, NPPP, Nr. 1955, Oberwegeinspekteur Neuhaus an von Bonin, Stargard vom 16. 5. 1838. 18 Vgl. ebenda, Pro Memoria des Hohen Ministeriums des Innern und der Finanzen (1839). 19 Vgl. hierzu ausführ­lich bereits zeitgenös­sisch Schmidt, Die pommerschen Chausseen, passim.

170 Dirk Mellies

Erst die implizite Drohung des Staatsministeriums, die bewilligten Mittel verfallen zu lassen, veranlasste die Akteure der beiden ständischen Vertreterversammlungen, sich auf eine Verteilung der staat­lichen Zuschüsse auf die beiden pommerschen Landesteile zu einigen. Diese Einigung kam allerdings wieder nur dadurch zustande, dass man nicht die Subven­tionierung von 50, sondern gleich von 71 Chausseemeilen einforderte und auch auf eine eigene Priorisierung der Routen verzichtete. Das solle doch lieber die Berliner Zentrale entscheiden.20 Auch hier verhielt sich das Staatsministerium allerdings lösungsorientiert. Über die Bewilligung eines zusätz­lichen Darlehens konnte ab 1843 der Bau der Chausseerouten (vgl. Grafik 1) entweder mit dem staat­ lichen Zuschuss von 10.000 Taler oder einer kombinierten Provinzial- und Staatsprämie von 8000 Taler begonnen werden.21 Dass sich hierfür in den ständischen Versammlungen Mehrheiten fanden, resultierte auch daraus, dass zur Finanzierung der Provinzialprämie und der sonstigen Chausseebaukosten unverhältnismäßig stark die Städte bzw. über die Klassensteuer die Bevölkerungsgesamtheit belastet wurde, während der Grundbesitz verhältnismäßig wenig zur Finanzierung beitrug. Zwar proble­ matisierten dies etwa die Stettiner Börsennachrichten 22 und die städtischen Vertreter des Kommunallandtags, da die Vertreter des Rittergutsbesitzes in den ständischen Gremien über ausreichende Mehrheiten verfügten, wirkten sich diese Proteste allerdings nicht auf die Bauvorhaben aus. In die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts fielen nicht nur die ersten bedeutenden Chausseebau-, sondern auch die ersten Eisenbahnprojekte. Ein maßgeb­licher Akteur in der Propagierung der neuen Verkehrstechnik waren erneut die Stettiner Börsennachrichten und bald auch die Stettiner Kaufmannschaft. Bereits in der Gründungsausgabe der Börsennachrichten im Jahr 1835 wurde mit wirtschaft­lichen Argumenten, aber auch ganz deut­lich aus na­tionalbewegter Motiva­tion heraus für eine Verbindung ­zwischen Berlin und Stettin geworben.23 In den nächsten Jahren fand sich kaum eine Ausgabe, in der nicht die Eisenbahn Thema war. So wurden etwa die Schriften von Friedrich List in der Zeitung abgedruckt.24 20 Vgl. Verhandlungen des Kommunal-­Landtags von Alt-­Pommern 12 (1840), S. 42 f. 21 Vgl. APS, NPPP, Nr. 1956, Innenministerium und Finanzministerium an von Bonin, Berlin vom 31. 8. 1842. 22 Vgl. Artikel Die Aufbringung der Kreis-­Kommunal- und Chausseebau-­Beiträge in den Börsennachrichten Nr. 78 vom 28. 9. 1846. 23 Vgl. den Artikel Eisenbahnen in den Börsennachrichten Nr. 1 vom 14. 8. 1835. 24 Vgl. Artikel Deutschlands Na­tional-­Transport System in den Börsennachrichten Nr. 25, Nr. 27 und Nr. 31 vom 26.3., 2.4. und 16. 4. 1838.

1.800

160

1.600

140

1.400

120

1.200 100 1.000 80 800 60 600 40

400

20

200 0

0 1823

1826

1829

Kgr. Preußen Grafik 1 

Chausseemeilen (Pommern)

Chausseemeilen (Kgr. Preußen)

Infrastrukturpolitik in einer rückständigen Provinz Preußens  171

1832

1835

1838

1841

1844

1847

1850

Pommern

Die Entwicklung des Chausseebaus in Pommern und Preußen (1823 – 1852). Nach:

GStA PK, I. HA, Rep. 77, Ministerium des Innern, Tit. 79, Nr. 98, Übersicht der gebauten Chausseen Meilen, 10. 2. 1853.

Erneut zeigte sich, dass außerhalb Stettins kaum pommersche Akteure dazu bereit waren, sich für das Projekt finanziell zu engagieren. Das Bemühen des Oberpräsidenten, über die Landräte die Bewohner der Provinz zu Aktienzeichnungen bewegen, stieß in den Regionen abseits der geplanten Trasse auf geringe Resonanz.25 Durch geschicktes Networking des pommerschen Oberpräsidenten 26 fand sich schließ­lich vor allem seitens der städtischen Elite Stettins eine ausreichende Zahl an Finanziers, die die Fertigstellung 1843 ermög­lichte.

25 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2045, dort z. B. die Berichte der Landräte der Kreise Naugard und Schievelbein vom 18. 9. 1839 und vom 8. 7. 1839. 26 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2045, Protokoll einer vom Oberpräsidenten anberaumten Konferenz, an der u. a. der Kommandierende General des II . Armee-­Korps von Dohna, der Landschaftsdeputierte von Puttkamer, der Oberlandesgerichtspräsident Bötticher, fünf Landräte, die Bürgermeister der Städte Stettin und Treptow an der Rega sowie der Polizeidirektor von Köslin teilnahmen, Stettin vom 17. 11. 1839.

172 Dirk Mellies

2. Die Konsolidierung der staatlichen Infrastrukturpolitik (1848/49 – 1870/71) Die zweite Boomphase von 1848/49 bis zur Reichsgründung setzte einerseits mit einem weiter steigenden Interesse der Bevölkerung am Ausbau der Infrastruktur ein und andererseits mit der Erkenntnis, dass die bisher bewilligten zusätz­lichen Staatsmittel wieder einmal aufgebraucht waren. Das zunehmende Interesse der Bevölkerung manifestierte sich unter anderem darin, dass das Thema des Chaussee- und Eisenbahnbaus etwa in den Diskussionen der politischen Klubs der Revolu­tionsjahre eine bedeutende Rolle spielte.27 Außerdem wuchsen sowohl die Zahl der Peti­tionen als auch die Zahl und das gesellschaft­ liche Spektrum der Petenten. Beim 19. Altpommerschen Kommunallandtag wurden mehr als 50 Tagesordnungspunkte zum Straßenbau angemeldet. Zum 10. Pommerschen Provinziallandtag im Jahr 1851 gingen 21 Peti­tionen ein, die Verkehrsthemen betrafen. Hierbei ragte insbesondere eine Peti­tion aus Hinterpommern heraus, die mit 839 Einzelunterschriften, darunter von Rittergutsbesitzern, Bürgermeistern, Kaufleuten und Dorfschulzen, versehen war. Kritisiert wurde erneut, dass Pommern in der verkehrstechnischen Erschließung hinter den anderen preußischen Provinzen zurückgesetzt, Hinterpommern nicht ans Eisenbahnnetz angeschlossen und die wenigen chaussierten Ost-­ West-­Verbindungen so angelegt ­seien, dass sie eher der schnellen Durchquerung und weniger der Erschließung der Provinz dienten. Aus d ­ iesem Grund forderte die Peti­tion eine Eisenbahnverbindung bis nach Kolberg, den Aufbau eines Chausseenetzes zur Erschließung Hinterpommerns und den Ausbau der lokalen Häfen mit Mitteln des preußischen Staates.28 Tatsäch­lich nahm sich der neue Oberpräsident von Senfft-­Pilsach dem Thema mit Verve an. Unter Missachtung des Dienstweges nutzte er seine persön­lichen Kanäle zu Friedrich Wilhelm IV., um erst die Förderpolitik des Staatsministeriums und schließ­lich auch konkret den Minister für Handel und Gewerbe, von der Heydt, anzugreifen.29 Unter dem stets wiederholten Hinweis, dass die Provinz „bei der Verbesserung des Verkehrs selbstthätig mitzuwirken habe“ 27 Vgl. Martin Wehrmann, Geschichte von Pommern, Gotha 1919/21 (Nachdruck Augsburg 1992), S. 299. 28 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2028, Wortlaut der 12. Peti­tion an den 10. Pommerschen Provinziallandtag inkl. der 839 handschrift­lichen Unterschriften vom 13. 9. 1851. 29 Vgl. Bärbel Holtz: Berliner Personalpolitik in einer „braven“ Provinz. Ernennungen zu den obersten Verwaltungsbehörden Pommerns (1815 – 1858), in: Thomas Stamm-­ Kuhlmann (Hg.): Pommern im 19. Jahrhundert. Staat­liche und Gesellschaft­liche Entwicklung in vergleichender Perspektive, Köln u. a. 2007, S. 55 f. Vgl. auch GStA PK, I.

Infrastrukturpolitik in einer rückständigen Provinz Preußens  173

und nicht immer „alles vom Staate verlangen dürfe“,30 konnte das Ministerium zwar die meisten dieser Angriffe abwehren, am Ende wurden jedoch bei mehreren hinterpommerschen Chausseebauprojekten zusätz­liche staat­liche Gelder bewilligt. Außerdem erwirkte der Oberpräsident die Genehmigung der Projektierung der Hinterpommerschen Eisenbahn,31 die umso wichtiger für die weitere Erschließung der Provinz war, nachdem klar war, dass die Streckenführung der Ostbahn Pommern umgehen würde. Bei der Umsetzung der Hinterpommerschen Eisenbahn agierte der Oberpräsident außerordent­lich geschickt. Da von vornherein zu erwarten war, dass die Strecke auf keinen Fall so profitabel wirtschaften würde, wie die Berlin-­Stettin-­Verbindung, musste ein Plan entwickelt werden, wie in der Ak­tionärsversammlung eine Mehrheit zum Weiterbau nach Hinterpommern erreicht werden konnte. Hierzu bediente sich von Senfft-­Pilsach wieder seiner persön­lichen und politischen Netzwerke in Pommern und Berlin. Konkret erteilte er den Landräten der Provinz den Auftrag, dafür zu sorgen, dass alle ört­lichen Ak­tionäre zur Versammlung kämen. In einem zweiten Schritt wurden die vorhandenen Aktienanteile in Anteilen zu je 1000 Taler an Vertrauenspersonen verteilt, dass auf der Versammlung die höchstmög­liche Stimmenzahl gesichert war.32 Zuletzt hielt der Oberpräsident telegraphischen Kontakt mit Vertrauten in Berlin, um etwa auch im Preußischen Herrenhaus für Zustimmung zum Projekt zu sorgen. Unter den Adressaten befand sich auch der Präsident des Herrenhauses, Eberhard Graf zu Stolberg-­Wernigerode, den er am Vorabend der Abstimmung instruierte, dafür zu sorgen, dass „die Vorlage der Regierung wegen der Hinterpommerschen Eisenbahn in ihrer ursprüng­lichen Fassung, also ohne Amendment angenommen werde“.33 Die Strategie ging auf: 1856 stimmte die Ak­tionärsversammlung der Berlin-­Stettin-­Eisenbahn mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit zu.34

HA, Rep. 77, Ministerium des Innern, Tit. 79, Nr. 98, Immediat-­Beschwerde Oberpräsident von Senfft-­Pilsach an Friedrich Wilhelm IV., Stettin 10. 2. 1853. 30 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Geheimes Zivilkabinett, j. P., Nr. 28852, Votum von der Heydt an das Staatsministerium, Berlin vom 2. 5. 1853. 31 Vgl. ebenda, Kabinettsordre Friedrich Wilhelm IV., Potsdam vom 7. 12. 1853. 32 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2062, Regierungspräsident Schüler von Senden an Oberpräsident von Senfft-­Pilsach, Köslin vom 23. 2. 1856 und etwa das Schreiben des Naugarder Landrats Bernhard von Bismarck (Bruder von Otto von Bismarck), Naugard vom 20. 2. 1856. 33 Vgl. z. B. das Telegramm an den Präsidenten des Hauses, Eberhard Graf zu Stolberg-­ Wernigerode, Stettin vom 21. 4. 1856. 34 Vgl. APS , NPPP , Nr. 2063, Protokoll der Generalversammlung der Berlin-­Stettiner Eisenbahn, Stettin vom 5. 11. 1856.

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1859 wurde die Linie eröffnet, wobei sie wenig überraschend bis 1877 19,9 Millio­ nen Mark an öffent­lichen Unterstützungsgeldern verschlang.35 Zu den größeren Eisenbahnverbindungen kam in Pommern ledig­lich noch die 1878 errichtete Berliner Nordbahn mit Anschluss an Stralsund hinzu. Regionalen Defiziten im Schienenverkehr begegnete man dann seit den späten 1870er Jahren mit diversen Kleinbahnprojekten, auf die an dieser Stelle jedoch nicht weiter eingegangen werden soll.36 Im Gegensatz zum Eisenbahnbau blieb der Chausseebau eine Angelegenheit der regionalen Tagespolitik: Der Etatposten zur Gewährleistung der weiterhin regelhaft aufgebrachten Provinzialprämien für den lokalen Chausseebau avancierte zur wichtigsten Haushaltsposi­tion des Kommunallandtags. Da weiterhin bei den kleineren, lokalen Straßenbauprojekten die Unterstützung durch lokale Geldgeber – das heißt vor allem die ständisch besetzten Kreistage – unerläss­ lich war, avancierten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Landräte zu den wichtigsten Agenten der weiteren infrastrukturellen Entwicklung.37 Patrick Wagner hat treffend festgehalten, dass sich die Zahl der gebauten Chausseekilometer zu einem der maßgeb­lichsten Indikatoren des Verwaltungserfolges eines Landrats entwickelte. Von den gebauten Chausseekilometern hing somit auch der Erfolg der weiteren Verwaltungskarriere eines Landrats ab.38 Die Landräte übernahmen damit mehr und mehr im Kleinen die Rolle, die in Pommern bei den größeren Infrastrukturprojekten bis in die 1850er Jahre hinein der Oberpräsident innegehabt hatte; näm­lich die Rolle des Impulsgebers, des Brokers 39 ­zwischen den verschiedenen ständisch artikulierten Kreisinteressen, des geschickten Verhandlers mit seinen Landratskollegen 35 Vgl. Dieter Grusenick/Erich Morlok/Horst Regling: Die Angermünde-­Stralsunder Eisenbahn, Stuttgart 1999, S. 13. 36 Vgl. hierzu ausführ­lich Andreas Geißler: Der Bau regionaler Bahnen in Pommern, in: Stamm-­Kuhlmann, Pommern im 19. Jahrhundert, S. 275 – 294. 37 In Pommern wird dies beispielsweise an den umfassenden Einsatz der Landräte des Naugarder und des Greifenberger Kreises, von Bismarck und von der Marwitz, für die Integra­tion der beiden Kreise ins pommersche bzw. preußische Verkehrsnetz deut­lich. Vgl. hierzu mehrere Schreiben in APS, Starostwo Powiatowe w Gryficach, Nr. 394. 38 Vgl. Patrick Wagner: Landräte, Gutsbesitzer, Dorfschulzen. Zum Wandel der „Basisposten“ preußischer Staat­lichkeit in Ostelbien im 19. Jahrhundert, in: Magnus Erikson/ Barbara Krug-­Richter (Hg.): Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunika­tion in der länd­lichen Gesellschaft, Köln u. a. 2003, S. 267. 39 Vgl. zur Verwendung des Begriffs „Broker“ ausführ­lich Patrick Wagner: Gutsherren – Bauern – Broker. Die ostelbische Agrargesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Journal of Modern European History 2 (2004), S. 254 – 279.

Infrastrukturpolitik in einer rückständigen Provinz Preußens  175

und die des Bittstellers an die höheren Instanzen. Diese Funk­tion als Broker wuchs in ihrer Bedeutung umso mehr, als mit der Reform der Kreis- und Provinzialordnung in den 1870er Jahren einerseits die lokalen Instanzen gestärkt wurden und andererseits auch die ständischen Mehrheitsverhältnisse sich etwas zulasten des Rittergutsbesitzes bzw. zugunsten der Magistrate änderten. Mit diesen Reformen nach der Reichsgründung begann auch die letzte Phase der verkehrstechnischen Entwicklung. Die großen Projekte waren in dieser Phase weitestgehend abgeschlossen, und die Infrastrukturpolitik (auf der Ebene der Chausseen- und Kleinbahnstrecken) wurde fürs Erste dezentralisiert.

3. Fazit Der schwierige Beginn der staat­lichen Infrastrukturpolitik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die spätere Konsolidierung stellten sich in Pommern als Ergebnisse eines fortlaufenden Lernprozesses der Berliner Zentrale dar, mit w ­ elchen (beschränkten) Mitteln eine Entwicklung der pommerschen Verkehrsinfrastrukturen am effektivsten zu befördern war. Wie auch anderenorts in Preußen setzte die Zentrale hierbei frühzeitig auf die Strategie, die pommersche Provinz zur Entfesselung der eigenen Kräfte anzustoßen. Dies gelang allerdings nur äußerst schleppend, da es die regionalen Akteure über einen langen Zeitraum hinweg nicht vermochten, ihre Interessen unter einen gemeinsamen Nenner zu bekommen. Nichtsdestotrotz kann man für den behandelten Betrachtungszeitraum des pommerschen Fallbeispiels hinsicht­ lich der Akteure davon sprechen, dass sich ein Top-­down-­Prozess mehr und mehr dezentralisierte. Sind anfäng­lich die Akteure der Berliner Zentrale bzw. der zentralen Provinzialverwaltung entscheidend, verlagerte sich die Zuständigkeit sukzessive in die Provinz, wobei vor allem den Landräten eine wichtige Funk­tion übertragen wurde bzw. diese sich selber bewusst ihrer neuen Rolle des Brokers annahmen. Nach den informellen Netzwerkabsprachen, die teilweise von den pommerschen Oberpräsidenten mit unterschied­lichem Erfolg insbesondere bei der Stettin-­Berlin- und der Hinterpommerschen Eisenbahn initiiert wurden, avancierten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ständischen Gremien, das heißt Kommunallandtag, Provinziallandtag und schließ­lich die Kreistage und der Provinzialverband zu den Institu­tionen, in denen die verschiedenen regionalen Interessen ausgehandelt wurden. Im Falle der diversen kleineren Verbindungschausseen, die noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erbaut wurden, konnte hierbei ein mangelnder Verhandlungserfolg der

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beteiligten Landräte weiterhin dazu führen, dass Chausseeprojekte über Jahre liegen blieben. Dazu wirkten sich die unterschied­lichen Mehrheitsverhältnisse und die Dominanz des Rittergutsbesitzes selbstverständ­lich maßgeb­lich auf den Erfolg von Projekten aus. Über 25 Jahre verschleppte sich beispielsweise der Bau einer Chaussee z­ wischen Stargard und Pyritz – auch aufgrund der im Kreis wahrzunehmenden „Unzufriedenheit“, dass die projektierten „Chausseen nur dem Interesse einzelner Gutsbesitzer dienten“.40 Als die Chaussee gemeinsam mit einer Kleinbahnverbindung 1881 fertiggestellt wurde, gab es gleich zwei Verkehrsverbindungen, die einerseits den Interessen der Stadtbevölkerung, aber auch den dazwischen liegenden Gütern entgegenkam.41 Die diversen im Zickzack verlaufenden Kleinbahnlinien visualisieren am eindrucksvollsten die politischen Kompromisse, die dann insbesondere ab den 1880/90er Jahren in Pommern ausgehandelt wurden.42 Man kann aber konstatieren, dass sich der extrem schleppende Abstimmungsprozess der ersten Jahrhunderthälfte in der zweiten Jahrhunderthälfte kontinuier­lich besserte. Dies stand einerseits damit im Zusammenhang, dass in der Öffent­lichkeit etwa über die Presse der Druck, etwas für die Provinz zu tun, stetig wuchs. Andererseits erkannten die dezentralen Akteure deut­lich, was es für die eigene Region bedeutete, wenn man den infrastrukturellen Anschluss an das preußisch-­deutsch-­euro­päische Verkehrsnetz verlor. Während sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch teilweise die Vertreter der Landgemeinden massiv gegen die finanziellen Belastungen von Chausseebauprojekten gewehrt hatten, war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts etwa in den zahlreichen Peti­tionen ein sukzessiver Stimmungswandel zu beobachten. Nichtsdestotrotz finden sich in den Akten fortwährend immer dann Proteste der ört­lichen Bevölkerung, wenn sich diese bei Straßenbauprojekten unverhältnismäßig belastet sah. In Krisenzeiten gehörten die Chaussee- neben den Schuldgeldern immer zu denjenigen Gebühren, deren Zahlung zuerst verweigert wurde.43

40 Vgl. APS, NPPP, Nr. 1996, Kreisbaumeister Tessel an Camminer Landrat, Cammin vom 11. 8. 1857. 41 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 89, Geheimes Zivilkabinett, j. P., Nr. 16047, Zeitungsbericht für die Monate Februar, März und April 1882, Stettin vom 22. 5. 1882. 42 Vgl. Anmerkung 36. Das pommersche Kleinbahnnetz wuchs von 675 Kilomter (1896) nach der Jahrhundertwende bis auf 1600 Kilometer (1924) an. Es wurde nach 1910 vollständig vom Pommerschen Provinzialverband getragen. 43 Dies wird beispielsweise in den sogenannten Zeitungsberichten der Regierungspräsidenten aus den Revolu­tionsjahren 1848/49 immer wieder angemerkt. Vgl. APS, Starostwo

Infrastrukturpolitik in einer rückständigen Provinz Preußens  177

Sucht man nach Zäsuren in der Akzeptanz gegenüber der Notwendigkeit, eigenständig an Infrastrukturprojekten mitzuwirken, ist eine ­solche am ehesten in den Revolu­tionsjahren von 1848/49 zu finden. Auch Zeitgenossen fiel bereits auf, dass in den politischen Diskussionen der diversen Vereine und Klubs stets auch über den Bau von Eisenbahnen und Chausseen gesprochen wurde. Hier zeigt sich, wie stark zeitgenös­sisch die Anbindung an die überregionalen Verkehrsnetze nicht nur eine gewerb­liche, sondern auch eine politische, na­tionalbewegte Komponente erhalten hatte. Somit kann festgehalten werden, dass auch in einer Provinz, die nicht im Ruf steht, im revolu­tionären Geschehen an vorderster Front gestanden zu haben, 1848/49 als Katalysator weiterer gesellschaft­licher und damit auch staat­licher Entwicklung diente. Die erwähnten zahlreichen Peti­tionen mit den teilweise in die Hunderte gehenden Unterschriften, stammen schließ­lich alle aus den frühen 1850er Jahren. Eine zweite Zäsur, mit der die weitere infrastrukturelle Entwicklung der Provinz Pommern in geordnete Bahnen gelenkt wurde, stellte schließ­lich die Reform der Kreis- und Provinzialordnung in den 1870er Jahren dar. Mit der Übergabe des Chausseenetzes in die Verantwort­lichkeit der Selbstverwaltungskörperschaft Provinzialverband wurde bis ins 20. Jahrhundert hinein ein Gremium regionaler Staat­lichkeit mit dem weiteren Bau und Unterhalt des pommerschen Straßennetzes beauftragt. Spätestens ab ­diesem Zeitpunkt wurden die maßgeb­lichen infrastrukturellen Entscheidungen nicht mehr von einzelnen prominenten Entwicklungsakteuren, wie etwa den Oberpräsidenten und gegebenenfalls seinen persön­lichen Netzwerken getroffen, sondern von den Vertretern des Provinzialverbandes und dessen eigenem wachsenden Verwaltungsapparat. Am Beispiel der infrastrukturellen Entwicklung lässt sich somit deut­lich die Ausbreitung des Staates in die Fläche darstellen. Die wachsende Staat­lichkeit wurde jedoch zu einem großen Anteil mehr und mehr von Akteuren aus der Dezentrale wahrgenommen.

Powiatowe w Ueckermünde, Nr. 1, Bericht des Landrats vom Kreis Ueckermünde an die Stettiner Regierung, Ueckermünde vom 3. 5. 1848 und GS tA PK , I. HA , Rep. 89, Geheimes Zivilkabinett, j. P., Nr. 16043, Zeitungsbericht für den Monat April 1848, Stettin vom 8. 5. 1848. Die gleichen Probleme ergaben sich frei­lich auch wieder in anderen länd­lichen Gebieten Preußens. Vgl. etwa für die Rheinprovinz Walter Rummel: Gegen Bürokratie, Steuerlast und Bevormundung durch den Staat. Anliegen und Ak­tionen der länd­lichen Gebiete der Rheinprovinz während der Revolu­tion 1848/49, in: Stephan Lennartz/Georg Mö­lich (Hg.): Revolu­tion im Rheinland: Veränderungen der politischen Kultur 1848/49, Bielefeld 1998, S. 126.

Jana Osterkamp

Wasser, Erde, Imperium. Eine kleine Politikgeschichte der Meliorationen in der Habsburgermonarchie Der Staat im 19. Jahrhundert weitete nicht nur seine Herrschaft über seine Untertanen aus, er strebte auch die Beherrschung der Natur an. Wasser, Erde, Imperium bezeichnen ein politisches Programm: An die Stelle von versumpften Flächen mit unrentablen Fischteichen sollten ertragreichere Viehweiden treten und aus trockenen Sommeräckern in den Gebirgen gut bewässerte Feldstücke für die Bergbauern werden. Schmelzwässer und starke Sommerregen sollten Wildbäche und Flüsse nicht mehr über die Ufer treten lassen. Dank Talsperren, Staudämmen und Kanalbauten sollte ihre Wasserkraft die Turbinen der alten Mühlen und der neuen Industrien antreiben. Flache, mäandernde Flussläufe mit breiten Aulandschaften sollten sich in begradigte Wasserstraßen verwandeln, die Schiffbarmachung der Flüsse Industrie und Handel ein neues Kommunika­tionsnetz in die Welt eröffnen. Zugleich sollte ein ausgeklügeltes Be- und Entwässerungssystem den nährstoffreichen Schwemmboden an den Flussufern regelmäßig erneuern und nachhaltig erhalten. Der Torf aus kultivierten Mooren sollte Brennstoff für die Einheimischen oder Heilmaterial für die Gäste in den Kurbädern liefern. Ein Entwässerungssystem der Städte sollte sanitäre Standards sichern und Epidemien verhindern. Kurz, die Zwecksetzung für Wasserbauvorhaben war so vielfältig wie widersprüch­ lich: für besseren Boden, für gesundes Trinkwasser, für mehr Energie und für Hochwasserschutz. Wasserbauprojekte sind die technische Visitenkarte des Staates in der Fläche. Sie stehen in einer Reihe neben der infrastrukturellen Erschließung des staat­lichen Territoriums durch Straßen, Eisenbahnen und Elektrifizierung. Der staat­liche Aufbau von grundlegenden, lebensnotwendigen oder das Leben verbessernden Infrastrukturen wird allgemein auf die Zeit z­ wischen der Mitte des 19. und des 20. Jahrhunderts datiert. In den natür­lichen Wasserkreislauf griff der Staat in Europa bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts mit neuartigen technischen Mög­lichkeiten ein. Wasserbauprojekte sind damit Vorgeschichte und immer schon Teil der modernen Infrastrukturgeschichte. Sei es mit der Gewinnung von Land durch Trockenlegung, etwa des Oderbruchs öst­lich Berlins, sei es mit der Begradigung großer Flüsse wie des Rheins oder der Elbe, der Nutzbarmachung der Moore oder dem Bau von Talsperren – die Umformung

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von wilder Natur zur nutzbaren Kulturlandschaft durch die Zähmung der Wasserkräfte wurde von den Zeitgenossen als ein Akt der Eroberung gefeiert.1 Diese Agrarprojekte fanden in ihrer Zeit viel Beachtung, in der Forschung wurden sie bislang stiefmütter­lich behandelt.2 Regelmäßig sind es technische Großvorhaben, die im Mittelpunkt der heutigen Umweltgeschichte stehen, vereinzelte Studien behaupten dabei sogar einen Zusammenhang von Bewässerungssystemen und der Herausbildung von staat­lichen Gebilden.3 Martin Zückert hat, im Anschluss an die infrastrukturhistorischen Studien Dirk van Laaks,4 für Ostmitteleuropa allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dass es daneben die alltäg­lichen Infrastrukturen sind, scheinbar profane Dinge wie Wasserleitungen und Kanalisa­tionen, die über Ausmaß und Inten­tion sowie die gesellschaft­liche Wirkung staat­licher Steuerungspolitik Auskunft geben. Denn, so Zückert, „fußend auf privaten Initiativen war es in erster Linie der Staat, der versuchte, seinen Einfluss mittels Administra­tion und infrastruktureller Erschließung in der Fläche durchzusetzen“.5 Bislang hatte die an Infrastrukturen interessierte Umweltgeschichte vorrangig den Na­tionalstaat des 20. Jahrhunderts im Blick, der als Akteur bei der Transforma­tion von Landschaften gesehen wird.6

1 David Blackbourn: The Conquest of Nature. Water, Landscape, and the Making of Modern Germany, New York u. a. 2006, S. 31; Frank Uekötter: Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, München 2007, S. 42. 2 Rita Gudermann: Morastwelt und Paradies. Ökonomie und Ökologie in der Landwirtschaft am Beispiel der Meliora­tionen in Westfalen und Brandenburg (1830 – 1880), Paderborn 2000, S. 3. 3 Siehe Arnošť Štanzel: Staudammbauten in den slowakischen Karpaten 1948 – 1975. Mit Wasserkraft zum „Neuen Menschen“?, in: Horst Förster/Julia Herzberg/Martin Zückert (Hg.): Umweltgeschichte(n). Ostmitteleuropa von der Industrialisierung bis zum Postsozia­lismus, Göttingen 2013, S. 51 – 66. 4 Vgl. dazu Dirk van Laak: Infra-­Strukturgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 3 (2001), S. 367 – 393; ders.: Imperiale Infrastruktur. Deutsche Planungen für eine Erschließung Afrikas 1880 – 1960, Paderborn 2004, S. 7 – 43. 5 Martin Zückert: Infrastrukturen und Umwelt in Ostmitteleuropa. Überlegungen zu einem wenig beachteten Forschungsfeld, in: Martin Zückert/Horst Förster/Julia H ­ erzberg (Hg.): Umweltgeschichte(n). Ostmitteleuropa von der Industrialisierung bis zum Postsozia­ lismus, Göttingen 2013, S. 31 – 50, 32. 6 Julia Herzberg: Ostmitteleuropa im Blick. Umweltgeschichte ­zwischen Global- und Regionalgeschichte, in: Julia Herzberg/Horst Förster/Martin Zückert (Hg.): Umweltgeschichte(n). Ostmitteleuropa von der Industrialisierung bis zum Postsozia­lismus, Göttingen 2013, S. 7 – 30, 11.

Wasser, Erde, Imperium  181

Thema ­dieses Beitrags ist die infrastrukturelle Durchdringung der Fläche am Beispiel des Meliora­tionswesens in einem Imperium: der Habsburgermonarchie. Gerade in imperialen Herrschaftsstrukturen stellt sich die Frage nach der Steuerungsleistung des Staates im Verhältnis zu anderen Akteuren. Die Habsburgermonarchie stieß näm­lich mit ihren technischen Wasserbauprojekten keineswegs in eine leere, unregulierte Fläche vor. Ihr Herrschaftsanspruch war vielmehr ein dezentraler. Administrative Regelungen des Reiches, der Kronländer und der Gemeinden konkurrierten miteinander. Auf der radialen Herrschaftsachse, die sich z­ wischen dem imperialen Entscheidungszentrum in Wien und den einzelnen Flächenpunkten des Reiches aufspannte, tummelten sich gleichermaßen öffent­liche und private Akteure. Gerade an den Maßnahmen zur Bodenmeliora­tion lässt sich zeigen, wie das Reich, die Kronländer, technische Büros, Wasserbaugenossenschaften, Gemeinden und (Groß-)Grundbesitzer nebeneinander, miteinander und gegeneinander in der Fläche tätig wurden. Hierbei kam es zu einer Vermischung von politischen Kriterien wie der Na­tionalitätenfrage mit Fragen der landwirtschaft­lichen Effizienz. Potentielle Nutznießer sahen sich zudem mit widersprüch­lichen Interessen und Vorgaben konfrontiert.

1. Dezentralisation als Steuerungsmodus. Zur Topographie von Wissen, Meliorationen und Finanzen im Habsburgerreich In der umwelthistorischen Pionierstudie zu Meliora­tionen hat Rita ­Gundermann am Beispiel Brandenburgs und Westfalens gezeigt, wie Meliora­ tionen zu einem überaus wichtigen Politikfeld im Zuge der Territorialisierung wurden.7 Es ist eine alte Kulturtechnik, den Boden durch die Ableitung oder die Zuführung von Wasser besser nutzbar zu machen. Wenn wasserundurchlässige Bodenschichten wie Lehm- oder Tonerden das Oberflächenwasser auf Felder, Wiesen und Weiden nicht abfließen lassen oder Hochwasser regelmäßig im Frühling oder Sommer die Nutzflächen überflutet, können Be- und Entwässerungs­anlagen einen Ausgleich schaffen, um den Nutzungsertrag zu erhöhen und den jähr­lichen Nutzungszeitraum der agrarischen Flächen zu verlängern. Die Modernisierungsgeschichte landwirtschaft­licher Meliora­tionen nimmt ihren Anfang in Großbritannien. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde dort von

7 Gudermann: Morastwelt und Paradies, S. 120, 129 f., 192, 479.

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schottischen und eng­lischen Landwirten mit der Drainage eine neue Wasserbautechnik entwickelt. Als eine der wenigen „echten Innova­tionen“ in der ra­tionellen Landwirtschaft verdrängte diese Erfindung frühere Entwässerungsmethoden rasch.8 Sie habe, so ein Zeitgenosse, „ihre Herrschaft als ein allgemeines höheres Agens der Fruchtbarkeit, über den gesammten Feldbau ausgebreitet“.9 Bei der Drainage wurden gebrannte Tonröhren in großem Maßstab in verdeckten Gräben verlegt. Das Material war kostengünstig, die Vorgehensweise vergleichsweise einfach. Die Mög­lichkeiten der Industrialisierung beschleunigten die Ausweitung der Drainagetechnik, weil die notwendigen Tonröhren in Fabriken genormt und billig hergestellt wurden. Meliora­tionen mithilfe von Drainagen wurden über kurz oder lang zu einem Staatsprojekt. Heute sind sie Grundbestand agrarischer Infrastrukturpolitik.10 Das war nicht immer so. Die Rolle des Staates bei Bodenverbesserungsmaßnahmen wurde ständig neu definiert und den sozia­len und wirtschaft­lichen Bedingungen angepasst. Gerade das Beispiel der Meliora­tionen zeigt zudem, dass die Anfänge d ­ ieses Staatsprojekts auf die Initiativen von Privaten, Vereinen und Genossenschaften zurückgingen.11 Für Meliora­tionsprojekte trifft deshalb der von Dirk van Laak auf die Infrastrukturgeschichte im Allgemeinen gemünzte Befund zu, es handle sich dabei um „einen Ausgreifprozeß, der mit den Kategorien des Herrschens nur unzureichend beschrieben werden kann. […] In den Infrastrukturen materialisiert sich vielmehr meistens einen Bewegung von oben und von unten.“12 Der Wissenstransfer über die neue Wasserbautechnik aus England fand zualler­erst innerhalb der Agrarwissenschaften und innerhalb von Fachgesellschaften statt. Das Forum bildeten europaweite landwirtschaft­liche Fachkongresse, aber auch regionale Fachgesellschaften wie die k. k. Landwirtschaftsgesellschaft in Wien.13 Eine große Verbreitung unter Landwirten 8 Ebenda, S. 126, 393. 9 Anton Doblhoff: Über die Drainage. Ein Beitrag zur wissenschaft­lichen Begründung und zur practischen Ausführung d ­ ieses Systemes andauernder Bodenverbesserung und vermehrten Pflanzenbaues, Leipzig 1851, S. 7. 10 Nicholas Orsillo: The Socioeconomic Factors Behind Agricultural Land Drainage’s Environmental Impact in Communist-­Era Czechia, in: Horst Förster/Julia Herzberg/ Martin Zückert (Hg.): Umweltgeschichte(n). Ostmitteleuropa von der Industrialisierung bis zum Postsozia­lismus, Göttingen 2013, S. 209 – 227. 11 Gudermann: Morastwelt und Paradies, S. 192. 12 van Laak: Infra-Strukturgeschichten, S. 387. 13 Doblhoff: Über die Drainage, Einleitung. – Niederösterreichischer Landesausschuss: Die Entwicklung und Förderung der technischen Bodenmeliora­tion und der länd­lichen

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erreichten populärwissenschaft­liche Schriften wie die Broschüre von Anton von Doblhoff, die als wichtiger Anstoß für Drainageprojekte in Deutschland gilt.14 In Pionierprojekten, die von Großgrundbesitzern auf eigene Kosten durchgeführt wurden, wurde die Umsetzbarkeit für die einzelnen Regionen geprüft. In Belgien wurde die Drainage zuerst von Baron von Mertens d’Ostin und anderen Gutsbesitzern durchgeführt, ehe sich die bel­gische Regierung vom Nutzen dieser Methode überzeugte.15 In Böhmen spielte Johann Adolph zu Schwarzenberg eine wichtige Rolle, dessen Erfahrungen von der Budweiser Handels- und Gewerbekammer weitergegeben wurden.16 In Niederösterreich war es Christian Graf von Kinsky, der auf eine Initiative der k. k. Landwirtschaftsgesellschaft in Wien erfolgreich die Drainage auf seinen Gütern erprobte.17 Erst danach gingen die regionalen Vereine daran, die neue Kulturtechnik auch unter den Kleinbauern populär zu machen. Damit verbunden war eine Vorstellung von der Vorbildfunk­tion des fortschritt­lichen Großgrundbesitzes für die ört­liche bäuer­liche Bevölkerung, die verschiedent­lich mit der Abwertung des bäuer­lichen Erfahrungswissens einhergehen konnte.18 Dazu heißt es in einem zeitgenös­sischen Handbuch für den österreichischen Großgrundbesitzer: Er „soll durch gute und praktische Beispiele auf landwirthschaft­lichem Gebiete versuchen, die in der Gegend lebende Bevölkerung zur Nachahmung aufzumuntern […]. Dies ist nicht nur die empfehlenswerte Aufgabe eines jeden edel denkenden Großgrundbesitzers, sondern die Erfüllung derselben ist sogar Pflicht; – er wird aber auf diese Weise obendrein auch noch seinen eigenen Zwecken dienen, denn eine civilisiertere und wohlhabendere Bevölkerung wird als Arbeiter und Consument der Erzeugnisse des Großgutes mehr zu leisten im Stande sein.“19

Wasserversorgung im Erzherzogtume Österreich unter der Enns in den Jahren 1857 bis 1917, Wien 1918, S. 3. 14 Ebenda, S. 4. 15 Doblhoff: Über die Drainage, S. 32 f. 16 Raimund Paleczek: Die Modernisierung des Großgrundbesitzes des Fürsten Johann Adolph II. zu Schwarzenberg, Beispiel einer deutsch-­tschechischen Symbiose in Südböhmen im Neoabsolutismus 1848 – 1860, München 2009, S. 239, 241. 17 Niederösterreichischer Landesausschuss: Entwicklung und Förderung, S. 4. 18 Gudermann: Morastwelt und Paradies, S. 115. 19 Franz Günther: Der Österreichische Großgrundbesitzer. Ein Handbuch für den Großgrundbesitzer und Domainebeamten, Wien 1883, S. 33.

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Auf die erfolgreiche Initiative von Privaten reagierte von staat­licher Seite am schnellsten England. Im Jahr 1846 stellte es Subven­tionen bereit, um die Kosten fertiggestellter Drainageprojekte in England und Irland im Nachhinein zu ersetzen.20 Das Vertrauen in das Potential der neuen Wasserbautechnik wurzelte hier „nicht in der Neigung und Meinung einzelner Landwirthe allein, sondern in der Na­tion und in der Regierung“, lesen wir in der Broschüre von Doblhoff.21 In Belgien schrieb die Regierung für die Ziegeleien des Landes einen Wettbewerb aus, um die bis dahin nur in England produzierten Maschinen für Drainage­ röhren kostengünstig im eigenen Land herstellen zu können. Auch Holland, Frankreich und s­ päter einzelne Bundesstaaten des Deutschen Reiches förderten mit Staatsmitteln und Agrarbanken das Meliora­tionswesen. Im Königreich Sachsen war in kurzer Zeit nahezu das ganze Land mit Drainagen durchzogen.22 Die Urbarmachungen unter Friedrich II. in der Mitte des 18. Jahrhunderts sind sprichwört­lich geworden.23 Die Steuerungspolitik in der Habsburgermonarchie überließ es demgegenüber für längere Zeit der Initiative von Kronländern, Kreisen, Gemeinden, Vereinen und Grundbesitzern, ob sie Bodenmeliora­tionen mit Drainagetechnik durchführen wollten oder nicht. Die kleineren Grundbesitzer investierten jedoch letzt­lich kaum in Wasserbauten. Ihr finanzielles Risiko blieb hoch, Subven­tionsmög­lichkeiten fehlten weitgehend. Weil der genossenschaft­liche Zusammenschluss das finanzielle Risiko nicht nennenswert verringerte, bestand unter den Betroffenen darüber hinaus eine tiefe Skepsis, die die Tätigkeit der Wassergenossenschaften in der Habsburgermonarchie erschwerte. Die obrigkeit­lich angeordnete Bildung von Zwangsgenossenschaften, die etwa in Brandenburg zum flächendeckenden Aufschwung der Bodenmeliora­tionen beigetragen hatte und eines der wichtigsten Steuerungsinstrumente der staat­ lichen Infrastrukturpolitik für Meliora­tionen im Deutschen Reich gewesen war, war in der Habsburgermonarchie zwar gesetz­lich mög­lich, in der Praxis aber offenbar so gut wie ausgeschlossen.24

20 An Act to authorize the advance of Public Money to a limited Amount to promotee the Improvement of land in Great Britain and Irland by works of drainage, 28. 8. 1846. 21 Doblhoff: Über die Drainage, S. 32. 22 Niederösterreichischer Landesausschuss: Entwicklung und Förderung, S. 4. 23 Gudermann: Morastwelt und Paradies, S. 193 – 205. 24 Ebd., S. 116, 119, 272; Carl Peyrer von Heimstätt/Ignaz Großmann: Das österreichische Wasserrecht. Mit Rücksicht auf die Entstehungsgeschichte und die Verwaltungspraxis, Wien, S. 487; Josef Kühnel: Volksernährung und Bodenmeliorationen. Ein Beitrag zur Ausgestaltung und Förderung des Meliorationswesens nach dem Kriege, Prag

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Aufgrund des mäßigen Erfolgs der Agrarmodernisierung in der Habsburgermonarchie und der damit kontrastierenden Subven­tionserfahrungen des Auslands setzte sich schließ­lich auf Reichsebene die Erkenntnis durch, dass sich ein lebhafteres Interesse unter der Bauernschaft nur dann einstellen würde, wenn sie für Meliora­tionsprojekte nicht nur Kreditvergünstigungen, sondern auch Subven­tionen gewährte.25 Das Meliora­tionsgesetz von 188426 sollte ­dieses Problem lösen. In finanzieller Hinsicht wurde die Agrarmodernisierung durch Meliora­tionen damit zu einer Reich-­Länder-­Angelegenheit.27 Nutznießer waren Gemeinden und Wassergenossenschaften. Großgrundbesitzer waren von der Förderung ebenso ausgenommen wie einzelne bäuer­ liche Besitzer kleinerer Gründe, wenn sie nicht in Wassergenossenschaften organisiert waren.28 Die technische Infrastruktur zur konkreten Entwicklung von Meliora­ tionsprojekten wurde dabei von den Kronländern und unteren administrativen Ebenen bereitgestellt. Nach dem Meliora­tionsgesetz war ein finanzieller Zuschuss davon abhängig, dass das projektierte Agrarvorhaben bereits durch ein Landesgesetz sank­tioniert worden war. Es musste daher von den Landesbaubehörden genehmigt worden sein und deren technischen Standards genügen. Noch im Jahr 1884 richtete der Landeskulturrat in Böhmen, der für Fragen der Landwirtschaft zuständig war, eine eigene technische Kanzlei für Meliora­tionsarbeiten ein.29 Dieser technische Dienst hatte eine beratende und projektierende Funk­tion und wurde zum Vorbild für ähn­liche Einrichtungen in anderen Kronländern. Deren Bedeutung lässt sich an der rasch steigenden Zahl der Angestellten ablesen. Der landwirtschaft­lich-­technische Dienst der Markgrafschaft Mähren etwa wuchs innerhalb von wenig mehr als zwei

1917, S. 80, 135 – 136; Niederösterreichischer Landesausschuss: Entwicklung und Förderung, S. 5. 25 Ebd., S. 20. 26 Gesetz vom 30. 06. 1884, RGBl. 116. 27 Grünwald, Paul, Zur Finanzstatistik der autonomen Selbstverwaltung in Österreich, in: Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozia­lpolitik und Verwaltung (19) 1910, S. 68 – 119, 76. 28 Niederösterreichischer Landesausschuss: Entwicklung und Förderung, S. 23; Kühnel: Volksernährung, S. 80. 29 Simon Kolařik: Landeskulturrat für das Königreich Böhmen, Sitzung vom 28. 10. 1912, in: Enquete der Kommission zur Förderung der Verwaltungsreform. Veranstaltet in der Zeit vom 21. Oktober bis 9. November 1912 zur Feststellung d. Wünsche d. beteiligten Kreise d. Bevölkerung in bezug auf d. Reform d. inneren u. Finanzverwaltung, Wien 1913, S. 278.

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Jahrzehnten von zwei Wasserbauingenieuren im Gründungsjahr 1887 auf 45 technische Mitarbeiter im Jahr 1912 an.30 Die Agrarförderung durch das Habsburgerreich setzte nicht nur in technischer Hinsicht eine funk­tionierende Infrastruktur voraus. Die ­Kronländer mussten ebenfalls über eine gute finanzielle Infrastruktur verfügen. Sie verpflichteten sich, einen wesent­lichen Kostenanteil durch Zuschüsse und zinsgünstige Darlehen selbst zu tragen. Das Finanzsystem der Habsburgermonarchie auf Kronländerebene war aber veraltet. Es beruhte auf zum Teil gänz­lich unabhängig voneinander verwalteten Haushaltsposten, den Fonds.31 Lange Zeit zahlten die Kronländer für Meliora­tionen deshalb ad hoc aus dem jeweiligen außerordent­lichen Landeshaushalt. Erst im Jahr 1891 richtete Dalmatien als erstes Kronland einen eigenen Landesmeliora­tionsfonds ein, dieser verfügte allerdings nicht über eigene Einnahmen.32 Im Kronland Böhmen gab es zwar bald den erwähnten technischen Dienst für Meliora­tionen, der Landesfonds zu deren Finanzierung hingegen, der mit bedeutenden Mitteln aus dem aufgelösten Grundentlastungsfonds ausgestattet werden sollte, scheiterte; ein ähn­liches Vorhaben in der Krain ebenfalls.33 Allein in Schlesien gelang es, nach der Ablösung der Grundentlastungsschuld von den Steuerzahlern eine Umlage für Flussregulierungen zu erheben, um ein einzelnes größeres Infra­strukturprojekt zu realisieren.34 Die alltäg­lichen Infrastrukturen wie die Bodenmeliora­tionen wurden weiterhin über die außerordent­lichen Landesausgaben bestritten. Vielen Kronländern gelang es über mehrere Jahrzehnte nicht, ihre eigenen Landesausgaben für die Bodenverbesserung gesetz­lich zu regeln, zu planen und eigene Steuern dafür zu erheben.35 Ein Vergleich mit 30 Meliorační svaz v markrabství moravském v Brně, Meliorační rádce. Pro podniky meliorační, regulační a hospodářské vodovody, Brno 1912, S. 1; zum Vergleich: Für das Deutsche Reich waren im Jahr 1899 neun Regierungs- und Bauräte sowie 35 Regierungsbaumeister für die Planung von Meliorationen tätig. Gudermann: Morastwelt und Paradies, S. 267. 31 Ferdinand Schmid: Das Fondsprincip in der österreichischen Landesverwaltung und seine Bedeutung für die Statistik der Landesfinanzen, Wien 1892; ders.: Finanzreform in Österreich, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1911, S. 1 – 149. 32 Ebd., S. 67 f. 33 Die Mittel hierfür sollten aus den aufgelösten Grundentlastungsfonds beider Länder bereitgestellt werden, die für die aus der Auflösung der Leibeigenschaft 1848/49 entstandenen Schulden aufkamen. Ebenda, S. 39, 61. 34 Ebenda, S. 58. 35 Vgl. zu Schlesien und Salzburg: Schle­sischer Landtag in Troppau: Offizielle stenographische Berichte über die Verhandlungen der XLIII. Session des schle­sischen Landtages

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den Finanzen der anderen Kronländer zeigt, dass die Aufschlüsselung des Kostenaufwands z­ wischen Reich, Kronland, Gemeinden und Privaten im Ländervergleich erheb­lich schwankte.36 Insgesamt stiegen Kosten und Kredite für das Meliora­tionswesen bis zum ­Ersten Weltkrieg zwar stark an,37 Transparenz und Erwartungssicherheit auf Seiten derjenigen, die die Meliora­tionen durchführten, fehlten aber. Eine Karte der Geldflüsse vom imperialen Zentrum in die Peripherien entspräche keineswegs dem realen Wasserfluss in Seen, Flüssen und Bächen. Sie ergäbe eine eigene Topographie politisch motivierter Finanzströme. Die Dezen­ tralisierung des Meliora­tionswesens, aufgrund derer sich das Herrschaftszentrum in Wien zuallererst auf die private und regionale Initiative verließ, und die imperiale Herrschaftslogik, die einzelnen Kronländern verschiedent­lich Sonderrechte und finanzielle Privilegien zustand, hatten zur Folge, dass sich die Subven­tionen für Wasserbauten ungleich verteilten. Dass bei den Zuweisungen aus dem staat­lichen Meliora­tionsfonds die einzelnen Kronländer eigent­ lich „tun­lichst gleichmäßig berücksichtigt“ werden sollten,38 entsprach nicht der gängigen Praxis. Weiße Flecken auf dem imaginären Kartenvergleich von Finanzflüssen und geographischen Wasserarmen lagen in den schwer zugäng­lichen landwirtschaft­ lichen Regionen der Alpenländer. Das Land Salzburg erwog erst in den Jahren 1906 bis 1907 die Einführung des Meliora­tionswesens und der damit einhergehenden Infrastruktur wie technischer Landesdienste.39 Kärnten und Vorarl­ berg waren ebenfalls vergleichsweise schlecht erschlossen. In den dortigen ausgedehnten Flussgebieten, Mooren und Alpenweiden wurde trotz des guten wirtschaft­lichen Potentials von der öffent­lichen Hand sehr wenig für die Verbesserung des Bodens getan; auch deshalb, weil diese Kronländer ohnehin nicht investi­tionsfreudig waren und Schulden im Landeshaushalt pein­lich mieden.40 in Troppau, 1. Sitzung am 27. 12. 1906, Troppau 1907; Salzburger Landesarchiv, Sign. SLA LA II 10/06 (allgemein). 36 Paul Grünwald: Zur Finanzstatistik der autonomen Selbstverwaltung in Österreich, in: Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozia­lpolitik und Verwaltung 19 (1910), S. 68 – 119, 76. 37 Kompert, Paul, Die Reform der Budgetierung in den österreichischen Landesfinanzwirtschaften, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 34 (1910), S. 139 – 150, 139 f. 38 § 3 des Meliora­tionsgesetzes. 39 Salzburger Landesarchiv, Sign. SLA LA II 10/06 (allgemein). 40 Ferdinand Schmid: Finanzreform in Österreich, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1911, S. 1 – 149, 47. – Im Landeshaushalt für 1905 sah z. B. Kärnten ledig­lich 70.000 Kronen für Fluss- und Bachregulierungen vor, in: k. k. Finanzministerium:

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Sie waren nicht zu jenen Subven­tionszusagen bereit, die sie in den Genuss von Zuschüssen des Reiches gebracht hätten. Und sie zählten nicht zu den von Wien ohnehin begünstigten Regionen. Finanzielle Vorteile genoss demgegenüber das Kronland Galizien. Wassergenossenschaften, Gemeinden und Grundbesitzer kamen hier aufgrund eines Übereinkommens mit Wien in den Genuss von zinsfreien Darlehen, die die Kreditformen anderswo gänz­lich in den Schatten stellten. Im Jahr 1905 hatte der Landtag Meliora­tionskredite in Höhe von fünf Millionen Kronen über einen Zeitraum von zehn Jahren bei der galizischen Landesbank genehmigt. Die Zinsen für diesen neuen Meliora­tionsfonds trug nicht das Land, sie wurden vom Reich übernommen.41 Im Übrigen verlief die Zusammenarbeit allerdings nicht immer glatt. Die Subven­tionsverfahren waren langwierig und kompliziert. So berichtete ein Mitglied der galizischen Flussregulierungskommission im Jahr 1912, dass das k. k. Ministerium für öffent­ liche Arbeiten den Generalplan für die Flussregulierungen in Galizien nach mehr als acht Jahren nicht bestätigt habe. Die Regulierungsarbeiten wurden in der Zwischenzeit ohne Genehmigung fertiggestellt, die Gelder vom Staat flossen offenbar trotzdem.42 Nach zwei schweren Hochwasserkatastrophen in Oberösterreich 1896 und 1899 sicherte auch hier das Reich eine höhere Unterstützung als üb­lich zu.43 Die imperiale Sonderbehandlung einzelner Kronländer wird auch anhand von schle­sischen Quellen deut­lich. Sie zeigen, dass das k. k. Ackerbauministerium verschiedent­lich ohne Vorliegen der gesetz­lichen Voraussetzungen Subven­tionen und Meliora­tionsdarlehen

Die Landeshaushalte der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder. Nach den Voranschlägen für das Jahr 1905, Heft: Kärnten, Wien 1907, S. 54. Für eine weitere Übersicht vgl. Kühnel: Volksernährung und Bodenmeliorationen, S. 83 – 84. 41 Schreiben der Landesbank des Königreiches Galizien und Lodomerien vom 7. 1. 1908 an k. k. Ackerbauminister Albín Bráf, in: Archiv Národního muzea v Praze, Sign. ANM Albín Bráf, K. 45, Heft 3604 „Meliorační práce na Moravě ‒ půjčky zemědělské bank“, 1907 – 1908. 42 Anton Ritter von Górski, Landtagsabgeordneter und Universitätsprofessor, Sitzung vom 5. 11. 1912, in: Enquete der Kommission zur Förderung der Verwaltungsreform. Veranstaltet in der Zeit vom 21. Oktober bis 9. November 1912 zur Feststellung d. Wünsche d. beteiligten Kreise d. Bevölkerung in bezug auf d. Reform d. inneren u. Finanzverwaltung, Wien 1913, S. 394. 43 K. k. Finanzministerium, Die Landeshaushalte der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder. Nach den Voranschlägen für das Jahr 1905, Heft: Österreich ob der Enns, Wien 1907b, S. 47.

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an die Kronländer auszahlte. Erst relativ spät, im Jahr 1907, kündigte das k. k. Finanzministerium an, dieser Verwaltungspraxis einen Riegel vorzuschieben.44

2. Fehlallokation und Vertrauensverlust. Die Agrarförderung in Böhmen unter dem Einfluss von Nationalitätenpolitik, Wahlkampf und mehrstufiger (Über-)Regulierung Damit stellt sich die Frage nach der Effektivität der imperialen Steuerungs­politik. Wurden die finanziellen Ressourcen des Reiches in den Kronländern gut angelegt, oder kam es zu Fehlentwicklungen? Wie sieht es mit den Finanzströmen von der Länderebene zu Kommunen und Privaten aus? Welche Auswirkungen hatten die verschiedenen gestuften Herrschaftsebenen auf die lokale Gestalt der zentralen Staatsgewalt? Diese Fragen sollen abschließend am Beispiel ­Böhmens beantwortet werden. Das Kronland Böhmen gab sehr viel Geld für Be- und Entwässerungsvorhaben und kleinere Bach- und Flussregulierungen aus und erhielt dementsprechend hohe Summen aus dem staat­lichen Meliora­tionsfonds. Für das Haushaltsjahr 1905 veranschlagte das Kronland für reine Meliora­tionen 256.000 Kronen und für kleinere Regulierungen 1,12 Millionen Kronen.45 Der Großgrundbesitz in Böhmen sah sich angesichts der vorrangigen Förderung von bäuer­lichen Landwirten und Häuslern dabei eher im Nachteil.46 Auch wenn die staat­lichen Instanzen äußerst rasch reagierten, sobald sie vom adligen Großgrundbesitz als administrative oder gericht­liche Vermittlungsinstanz zur Wahrung von dessen hergebrachten Besitzrechten in Hinblick auf das Wasserrecht angerufen wurden,47 bedeutete dies nicht, dass diese

44 Vgl. die Rede des Abgeordneten Hrubý, 27. 12. 1906, in: Schle­sischer Landtag in Troppau, Offizielle stenographische Berichte über die Verhandlungen der XLIII . Session des schle­sischen Landtages in Troppau, 1. Sitzung am 27. 12. 1906, Troppau 1907, S.  18 – 21. 45 K. k. Finanzministerium, Die Landeshaushalte der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder. Nach den Voranschlägen für das Jahr 1905, Heft: Böhmen, Wien 1907, S. 70 – 73. Für eine weitere Übersicht vgl. Josef Kühnel: Volksernährung und Bodenmeliora­tionen. Ein Beitrag zur Ausgestaltung und Förderung des Meliora­tions­ wesens nach dem Kriege, Prag 1917, S. 83 – 84. 46 Ebenda, S. 82. 47 Dazu Tatjana Tönsmeyer: Adelige Moderne, Großgrundbesitz und länd­liche Gesellschaft in England und Böhmen 1848 – 1918, Wien 2012, S. 159 – 162.

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den adligen Großgrundbesitz in gleicher Weise darin unterstützten, diese Besitzwerte weiter auszubauen. Böhmische Wassergenossenschaften klagten darüber, dass aufgrund der prekären Kreditlage auf Reichsebene viele Meliora­tionsprojekte liegenblieben. Sie müssten mit einer Wartezeit von bis zu 15 Jahren für Hilfen aus dem Meliora­tionsfonds rechnen.48 Der Aufwand des Reiches für diese bereits ausverhandelten Meliora­tionsprojekte wurde im Jahr 1917 vom Deutschen Meliora­ tionsverband für Böhmen auf etwa 80 Millionen Kronen bei einer Fertigstellungszeit von 20 Jahren veranschlagt, also auf ca. 4 Millionen Kronen jähr­lich.49 Diese Ansprüche erscheinen in einem anderen Licht, wenn man die Zahlen mit anderen Kronländern vergleicht. Die im Jahr 1909 beim Böhmischen Landtag von den Wassergenossenschaften beantragte Subven­tionssumme lag für tschechische Wassergenossenschaften in Böhmen bei über 3 Millionen Kronen, für die deutschen Wassergenossenschaften bei etwa 720.000 Kronen.50 Diese anvisierte Summe betrug nur etwas weniger, als der galizische Landesmeliora­tionsfonds für den Zeitraum von zehn Jahren vorsah. Schon die Aufschlüsselung der Subven­tionsempfänger nach na­tionalen Kriterien macht stutzig, richtete sich der Lauf der Gewässer doch nicht an vermeint­lichen na­ tionalen Grenzen aus. Eine Fehlalloka­tion öffent­licher Mittel war demnach vorprogrammiert. Für die Vergabe von Subven­tionen und Darlehen wurde zunehmend der na­tionale Schlüssel maßgeb­lich, nicht die Rentabilität und Effizienz der Meliora­tionsvorhaben.51 Diesen na­tionalisierten und politisierten Vergabemechanismus skizzierten die Landtagsabgeordneten Karl Zedtwitz und Karl Buquoy in einem Gutachten von 1906. Anlass war die Bitte des Böhmischen Landtags, Vorschläge zu unterbreiten, wie der völlig aus dem Ruder laufende Landeshaushalt zu 48 Simon Kolařik, Landeskulturrat für das Königreich Böhmen, Sitzung vom 28. 10. 1912, in: Enquete der Kommission zur Förderung der Verwaltungsreform. Veranstaltet in der Zeit vom 21. Oktober bis 9. November 1912 zur Feststellung d. Wünsche d. beteiligten Kreise d. Bevölkerung in bezug auf d. Reform d. inneren u. Finanzverwaltung, Wien 1913, S. 279. 49 Kühnel: Volksernährung und Bodenmeliorationen, S. 86. 50 Schreiben des Obersten Landesmarschalls für das Königreich Böhmen vom 2. 7. 1909 an k. k. Ackerbauminister Albín Bráf, in: Archiv Národního muzea v Praze, Sign. ANM Albín Bráf, K. 45, Heft 3604 „Meliorační práce na Moravě ‒ půjčky zemědělské banky“, 1907 – 1908. 51 Paul Kompert: Die Reform der Budgetierung in den österreichischen Landesfinanzwirtschaften, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 34 (1910), S. 139 – 150, 139.

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entschulden sei. Hoch politisierte Bereiche wie das Schulwesen oder die Agrarpolitik sprengten regelmäßig dessen Rahmen. Zedtwitz und Buquoy beschrieben das typische Verfahren bei der Haushaltsplanung für Meliora­tionen: Der Landesausschuss, der als geschäftsführendes Verwaltungsorgan für den Landtag den Haushalt ausarbeitete, legte die ordent­lichen und außerordent­lichen Ausgaben fest. Meliora­tionszuschüsse wurden im Bereich der außerordent­lichen Ausgaben berücksichtigt, hier folgte der Landesausschuss bereits lokalen und na­tionalen Interessen, die an ihn herangetragen worden waren. Der Na­tionalitätenkonflikt führte dabei regelmäßig zu einer Vermehrung der Ausgaben. In der Haushaltsdebatte im Landtag erhöhten sich die einzelnen Soll-­Posten noch einmal erheb­lich dadurch, dass die Budgetkommission des Landtags weitere Ausgaben für Meliora­tionsprojekte genehmigte – den Blick dabei starr auf ihre Wählerschaft gerichtet. Die politische Zusammensetzung des Böhmischen Landtags, die aufgrund der Wahlordnung agrarische Interessen überpropor­tional berücksichtigte, schlug sich im Subven­tionswesen nieder. Obwohl Böhmen zu den am stärksten industrialisierten Kronländern gehörte, hatten Gewerbe und Industrie vom Land nur weniger als ein Sechstel der für die Landwirtschaft vorgesehenen Fördersumme zu erwarten.52 Für die Fehlalloka­tion von Meliora­tionssubven­tionen und -darlehen war jedoch nicht allein die Ebene der Kronländer verantwort­lich. Das Reich hatte es versäumt, für die Subven­tionen eine klare finanzpolitische Infrastruktur vorzugeben. Weil die Agrarförderung durch das Reich abhängig war von der Agrarbürokratie der Kronländer, kam es zu einer Verflechtung und Aufsplitterung der für hydrotechnische Infrastrukturvorhaben zuständigen Stellen ­zwischen Reichs- und Kronländerebene. Eine Denkschrift vom Bund der Architekten und Ingenieure Böhmens weist darauf hin, dass für die Genehmigung von Wasserbauprojekten in Böhmen bis zu acht Instanzen durchlaufen werden mussten: Neben den einzelnen Landesbehörden wie der Abteilung für Wasserbauten bei der Statthalterei in Prag oder der k. k. Hydrographischen Landesabteilung entschieden zusätz­lich noch bis zu drei k. k. Ministerien, das k. k. Ackerbauministerium, das k. k. Ministerium für öffent­liche Arbeiten und das k. k. Handelsministerium.53 Da diese zum Teil entgegengesetzte Interessen 52 Karl Max Graf Zedtwitz; Karl Graf Buquoy, Gutachten vom 15. 4. 1906, Bericht des Landesausschusses mit Vorlage der von den einzelnen Landtagsabgeordneten erstatteten Gutachten in Angelegenheit der Sanierung der Landesfinanzen, LT -Drs. 962/1906, S.  43 – 64, 47. 53 Ingenieur Neumann, in: Enquete der Kommission zur Förderung der Verwaltungs­ reform. Veranstaltet in der Zeit vom 21. Oktober bis 9. November 1912 zur Feststellung

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und Ansichten verfolgten, verzögere sich das Genehmigungsverfahren oft erheb­lich.54 „Und was sagt die Wassergenossenschaft dazu? Sie sieht die wiederholten Kommissionen, sieht bei keiner ein greifbares Ende, wundert sich, daß die beteiligten Faktoren über die Sache untereinander selbst nicht einig sind, und verliert das Vertrauen zu ihrem mit guten Vorsätzen begonnenen Werke“.55 Diese Beschwerden sollten allerdings nicht die Gründe für diese mehrinstanz­liche (Über-)Regulierung aus dem Blick geraten lassen. Die Bürokratisierung und Verrecht­lichung von Wasserbauprojekten überführte die Initiative von Privaten in formaljuristische Verfahren einer modernen Leistungsverwaltung, was auch bei späteren wasserrecht­lichen Konfliktfällen ­zwischen den Akteuren vor Ort zu Deeskala­tion führen konnte.56 Für diese Leistungsverwaltung war es typisch, einerseits einen besonderen Sachverstand zur Verfügung zu stellen wie das Wissen der Wasserbauingenieure, andererseits den Ausgleich zu suchen z­ wischen Gemeinwohl und Privatinteresse, sei es nun das von Großgrundbesitzern, Bauern oder Industriellen. Nicht nur der Weg zu staat­lichen Subven­tionen war steinig, auch die von den Agrarbanken 57 vergebenen Meliora­tionsdarlehen auf Länderebene waren kompliziert zu beantragen. Eine informelle Umfrage des k. k. Ackerbauministeriums bei verschiedenen Landesbanken und Hypothekenanstalten in der west­lichen Reichshälfte kam im Jahr 1907 zu dem Ergebnis, dass die Darlehensmög­lichkeiten für Grundbesitzer oder Wassergenossenschaften, die sich aus dem Meliora­tionsdarlehensgesetz 58 ergaben, trotz der günstigen Zinsen nur wenig genutzt wurden. Initiiert wurde die Anfrage vom damaligen k. k. Ackerbauminister, dem tschechischen Na­tionalökonomen und Alttschechen Albín Bráf. Dieser hatte sich länger schon mit der Bedeutung des privaten Meliora­tionskredits auseinandergesetzt.59 Die Kommunal-­ Kreditanstalt Oberösterreich teilte ihm mit, dass von ihrer Seite noch gar kein d. Wünsche d. beteiligten Kreise d. Bevölkerung in bezug auf d. Reform d. inneren u. Finanzverwaltung, Wien 1913, S. 277. 54 V. Janský: O úpravách řek i potoků a melioracích v království českém, Praha 1904, S. 36; Kühnel: Volksernährung und Bodenmeliorationen, S. 112 – 121. 55 Kühnel: Volksernährung und Boedenmeliora­tionen, S. 117. 56 Vgl. dazu etwa Tönsmeyer: Adelige Moderne, S. 156 – 162, 190. 57 Vgl. Friedrich Kleinwächter: Die österreichische Enquete über die Landesfinanzen (März 1908), in: Jahrbücher für Na­tionalökonomie und Statistik (3, 38) 1909, S. 43 – 63, 62. 58 Gesetz vom 06. 07. 1896 über die zum Zwecke der Bodenverbesserung aufgenommenen Darlehen (Meliora­tionsdarlehen), RGBl. Nr. 144/1896. 59 Albín Bráf: Meliorační úvěr, Praha 1890.

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Meliora­tionsdarlehen gewährt worden sei.60 Die Communal-­Credit-­Anstalt des Landes Schlesiens, die Landeshypothekenanstalt von Niederösterreich oder die Landesbank von Galizien und Lodomerien wiederum hatten nach eigenen Angaben verschiedent­lich Meliora­tionsdarlehen vergeben.61 Das Meliora­tionsdarlehensgesetz mit seinen günstigen Bedingungen für Private kam jedoch auch bei ihnen nicht zum Einsatz. Die Landwirte nahmen stattdessen nach durchgeführter Meliora­tion auf die im Wert gestiegenen Grundstücke Hypotheken und Investi­tionsdarlehen auf. Diese waren zwar teuer, doch kam man dabei ohne die „für die Kreditwerber sehr beschwer­ lichen gesetz­lichen Förm­lichkeiten“ aus.62 Diese mit Unsicherheiten, langen Wartezeiten und Beschwernissen behafteten Subven­tions- und Kreditmög­lichkeiten blieben nicht ohne Rückwirkung auf die Akteure in der Fläche. Dem potentiellen Nutznießer der staat­lichen Förderung trat nicht der Staat als einheit­liches Gebilde gegenüber, sondern miteinander im Widerspruch liegende und mit öffent­lichen, allerdings divergierenden Interessen betraute Institu­tionen. Die Wassergenossenschaften, die nach dem Willen der Wiener Regierung eigent­lich der Träger der Agrarmodernisierung sein sollten, erfüllten die an sie gestellten Erwartungen nicht. Eine Studie zu Niederösterreich zieht eine nur vordergründig positive Bilanz, indem sie den Aufschwung der technischen Bodenmeliora­tionen beziffert, der ohne Förderung aus Staats- und Landesmitteln so nicht mög­lich gewesen wäre.63 Auch hier klingen z­ wischen den Zeilen die Probleme der Wassergenossenschaften an – unökonomische Bauweisen, ungerechte Verteilung der Lasten unter den Genossenschaftsmitgliedern sowie eine intransparente Rechnungslegung.64 Ein anderer Autor berichtet Ähn­liches:

60 Schreiben der Kommunal-­Kreditanstalt Oberösterreich vom 28. 12. 1907 an k. k. Ackerbauminister Albín Bráf, in: Archiv Národního muzea v Praze, Sign. ANM Albín Bráf, K. 45, Heft 3604 „Meliorační práce na Moravě ‒ půjčky zemědělské banky“ 1907 – 1908. 61 Schreiben der Communal-­Creditanstalt Schlesien vom 23. 12. 1907; Schreiben der Niederösterreichischen Landeshypothekenanstalt vom 28. 12. 1907; Schreiben der Landesbank des Königreiches Galizien und Lodomerien vom 7. 1. 1908 an k. k. Ackerbauminister Albín Bráf. Ebenda. 62 Stattdessen kamen die Fördermög­lichkeiten des Meliora­tionsgesetzes von 1884 zur Anwendung. Schreiben der Landesbank des Königreiches Galizien und Lodomerien vom 7. 1. 1908 an k. k. Ackerbauminister Albín Bráf. Ebenda. 63 Niederösterreichischer Landesausschuss: Entwicklung und Förderung, S. 24. 64 Ebenda, S. 22.

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„Geldmanipula­tionen bilden oft den Anlaß zu den schwersten Verdächtigungen, zu Streit und Hader in der Gemeinde.“65 Auch unintendierte schäd­liche Folgen für die Umwelt schränkten die Popularität der Wassergenossenschaften ein. Meliora­tionsprojekte wurden oft genug an einheimische Unternehmer vergeben, die nicht das notwendige technische Wissen besaßen. Unerwünschte Flutungen und Unterspülungen kamen deshalb immer wieder vor, auch bei Meliora­tionsbauten von geringerem oder mittlerem Umfang.66 Es sei an dieser Stelle nur kurz erwähnt, dass die zeitgenös­sischen Wasserbauexperten, die Hydrotechniker, diese schäd­lichen Umweltfolgen im Blick hatten. Sie monierten, dass aufgrund von technischen Fehlern bei der Meliora­tion Felder und Wiesen versumpften oder durch zu hohe Verdunstungen versalzten.67 Wegen ihres Vertrauens in die Mög­lichkeiten der technischen Expertise galten ihnen s­ olche Fehlentwicklungen allerdings als beherrschbar und vermeidbar.

3. Fazit Mit Meliora­tionen erschloss sich der Staat die Natur in der Fläche. Diese Art der Agrarmodernisierung durch Wasserbauprojekte steht in einer Reihe neben der Erschließung des staat­lichen Territoriums durch Straßen, Eisenbahnen und Elektrifizierung. Das Beispiel der Habsburgermonarchie zeigt die Ausweitung des Meliora­ tionswesens in einem Imperium. In d ­ iesem politischen Mehrebenensystem war die öffent­liche Gewalt auf mehrere Ebenen verteilt: das Reich, die Kronländer, die Bezirke und Gemeinden sowie die Wassergenossenschaften als privat-­öffent­liche Zwitterform.68 Typischerweise werden Imperien als vertikal-­radiale Herrschaftsordnung angesehen, in denen sich das Herrschaftszentrum die Hoheit über die wichtigsten Entscheidungen vorbehält:

65 Wilhem Wodička: Die Bodenmeliora­tionen. Ihre Durchführungsorganisa­tion und Finanzirung, Wien 1898, S. 7. 66 V. Janský: O úpravách řek i potoků a melioracích v království českém, Praha 1904, S. 36. 67 Adolf Friedrich: Die Bodenmeliora­tionen im Herzogthume Bukowina, Wien 1903, S. 31. 68 Carl Peyrer von Heimstätt/Ignaz Großmann: Das österreichische Wasserrecht. Mit Rücksicht auf die Entstehungsgeschichte und die Verwaltungspraxis, Wien, S. 488 – 489; siehe auch Rita Gudermann: Morastwelt und Paradies. Ökonomie und Ökologie in der Landwirtschaft am Beispiel der Meliora­tionen in Westfalen und Brandenburg (1830 – 1880), Paderborn 2000, S. 192.

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Die Metropole lenke die Entscheidungsströme „durch das imperiale Nadel­ öhr“.69 Infrastruktur- und damit auch Wasserbauprojekte in der Habsburgermonarchie nahmen in dieser Herrschaftslogik eine ambivalente Stellung ein. Einerseits waren sie ohne lokales Wissen und lokale Initiative nicht denkbar, andererseits versuchte das Reich durch Verrecht­lichung und Bürokratisierung den Interessenausgleich ­zwischen privat und öffent­lich, Privatnutzen und Gemeinwohl weiterhin entscheidend zu bestimmen. So oblag dem Staat und den Kronländern einerseits nicht die Hauptinitiative, wenn es um alltäg­ liche Infrastrukturprojekte wie die Urbarmachung sumpfiger Wiesen oder die Begradigung und Befestigung von Wildbächen zum Hochwasserschutz oder die Kanalisa­tion der Städte ging. Entscheidungen im Meliora­tionswesen wurden von Privaten, Vereinen und Genossenschaften mitbestimmt. Dem einzelnen Akteur in der Fläche, der Meliora­tionen durchführte, trat der Staat dabei andererseits nicht als ein einheit­liches Gebilde entgegen. Den Einzelnen konfrontierte trotz eines hohen Grads an Regulierung ein staat­liches Janusgesicht: eine Vielzahl an öffent­lichen Institu­tionen mit divergierenden Interessen. Alle Akteure – Beamte und Bauern, Genossenschaftler und Großgrundbesitzer, Techniker und Wissenschaftler – beackerten ­dieses Politikfeld gemeinsam. Auf den ersten Blick ergab sich damit nicht das Bild eines imperialen Durchherrschens, sondern, um noch einmal auf Dirk van Laak zurückzukommen, eine steuernde „Bewegung von oben und von unten“.70 Steuerungsmodus war Dezentralisa­tion. Die Dezentralisierung für politische Entscheidungen in der Landeskultur bildete das Gegenmodell der Habsburgermonarchie zu obrigkeitsstaat­lichen Territorialisierungsprozessen wie im Deutschen Reich, wo zwangsweise Zusammenschlüsse in Wasser­genossenschaften mit dem Zufluss staat­licher Fördermittel kombiniert wurden.71 Der politische Steuerungsmechanismus des Habsburgerreiches und der Kronländer griff über finanzielle Vergünstigungen wie Kredite und Subven­tionen erst dann ein, wenn auf lokaler Ebene Private bereits tätig geworden waren. Diese mussten sich mit anderen Interessenten in Wassergenossenschaften organisieren und einen Teil des notwendigen Kapitals selbst aufbringen. Erst dann konnte die Evaluierung ihres Bauvorhabens beim technischen Landesdienst beantragt werden, um schließ­ lich auf eine Förderung mit Landes- oder Reichsgeldern hoffen zu können. 69 Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 614. 70 van Laak: Infra-Strukturgeschichten, S. 387. 71 Gudermann: Morastwelt und Paradies, S. 268.

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Das verschwommene Janusgesicht des Staates in der Fläche und die damit verbundene Unsicher­heit, das ist der Widerstreit öffent­licher Interessen in einer Vielzahl öffent­licher Institu­tionen, führten zu ausweichenden Handlungsweisen. So konnten Landwirte auf Landesebene über partei- und na­tio­ nalpolitisches Lobbying im Landesausschuss ihres Kronlandes mitunter schneller und mehr erreichen als beim geduldigen Abschreiten der langwierigen recht­lichen Verfahrenswege. Das Habsburgerreich machte sich, indem es den Modus der Dezentralisierung gewählt hatte, in der Agrarmodernisierung stark von der lokalen Agrarbürokratie sowie den dortigen technischen, politischen und finanziellen Strukturen abhängig. Modernisierungsprojekte kumulierten in solchen Kronländern und Regionen, wo das jeweilige Kronland Wasserbauten ohnehin mit technischen Projektierungsdiensten und günstigen Agrarkrediten unterstützte – wie in Böhmen. Eine Fehlalloka­tion von öffent­lichen Mitteln in Wasserbauprojekten war hier auch deshalb vorprogrammiert, weil sich das Ausgabenvolumen für Infrastrukturinvesti­tionen durch die Na­tionalitätenstreitigkeiten vervielfachte. In einer der ärmsten Regionen der Habsburgermonarchie, in der Bukowina, waren die für die Meliora­tionsprojekte ausgegebenen Summen hingegen niedrig. Hier fehlte es an günstigen Krediten von Landwirtschaftsbanken, aber auch schon an den notwendigen hydrotechnischen und geolo­gischen Daten zur Projektierung.72 Diese Abhängigkeit von lokalen Infrastrukturen machte die Infrastrukturpolitik des Reiches ineffektiv: Gut entwickelte Regionen entwickelten sich weiterhin gut, unterentwickelte Regionen stagnierten. Diese Logik durchbrach das imperiale Zentrum in Wien erst spät. Es folgte dabei nicht dem deutschen Modell einer größeren Zentralisierung und stärkeren obrigkeitsstaat­lichen Lenkung. Vielmehr reagierte die Regierung in der cisleithanischen Reichshälfte mit einem imperialen Herrschaftsmuster: Um Missstände zu beheben, wurden einzelnen Länderregionen Sonderrechte und finanzielle Privilegien zugestanden. Letzt­lich wurde damit verschiedent­ lich doch vom Zentrum in einzelne Peripherien regiert – „durch das imperiale Nadelöhr“. Dieser Befund führt zu zwei abschließenden Bemerkungen. Erstens: Dass gerade dem Kronland Galizien finanzielle Vorteile und Sonderrechte bei der Umsetzung von Wasserbauvorhaben zukamen, die über die Mög­lichkeiten

72 Adolf Friedrich: Die Bodenmeliora­tionen im Herzogthume Bukowina, Wien 1903, S.  93 f.

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des Meliora­tionsrechts hinausgingen, war kein Zufall. Die Bevorzugung dieser Provinz kann als Teil einer imperialen Entwicklungspolitik interpretiert werden, die Galizien als innere Peripherie behandelte, bestrebt, die krassen wirtschaft­lichen Unterschiede zu den wirtschaft­lich weiter entwickelten Kernlanden abzubauen, ohne dabei die für Imperien charakteristische ungleiche überregionale Arbeitsteilung im Binnenmarkt als s­ olche anzutasten.73 Zweitens: Eine transna­tionale Vernetzung der Kronländer fand nicht statt und wurde weder von Wien noch von den Kronländern selbst initiiert. Die fehlende transna­tionale Verflechtung lag zwar in der imperialen Herrschaftslogik, den politischen Kontakt und Austausch ­zwischen den Peripherien nach Mög­lichkeit zu unterbinden 74 bzw. wie in der Habsburgermonarchie recht­lich zu untersagen 75, widersprach jedoch der überregionalen Eigenlogik von Landeskulturvorhaben wie den Bodenmeliora­tionen.76 Die imperiale Topographie des Habsburgerreiches schlug sich damit letzt­lich auch bei der Naturbeherrschung von Wasser und Erde nieder.

73 Zur Debatte über innere Kolonien resp. Peripherien in der Habsburgermonarchie vgl. Andrea Komlosy: Habsburgermonarchie, Osmanisches Reich und Britisches Empire, Erweiterung, Zusammenhalt und Zerfall im Vergleich, in: Zeitschrift für Weltgeschichte 9.2 (2008), S. 9 – 62. 74 Osterhammel: Verwandlung der Welt, S. 614. 75 Hans Peter Hye: Die „Länderkonferenz“ (1905 – 1907). Ein Versuch gemeinsamer politischer Willensfindung der politischen Eliten der Länder, in: Jan Janák (Hg.): Ústřední moc a regionální samospráva, Mikulov 1993, S. 281 – 289, hier 282. 76 Jana Osterkamp: Cooperative empires. Provincial initiatives in Imperial Austria, in: Austrian History Yearbook 47 (2016), im Erscheinen.

Christopher Hamlin

Agency and Authority in Nineteenth-century English Local Government 1. Introduction In 1905 the eminent legal scholar A. V. Dicey took stock of the transforma­tion of law and opinion in nineteenth century Britain in a work that would shape the historiography of nineteenth-­century British history.1 Discounting what was happening before 1830 as the horrific inertia of old Toryism, he sought to explain the enormous transforma­tion which followed in terms of the poles of individualism and collectivism. “Individualism” was philosophical liberalism – laissez-­faire, but particularly Benthamism. “Collectivism” was broader than socialism: it meant state oversight for the welfare of the popula­tion and concern with the collective implica­tions of condi­tions and practices. Dicey was only incidentally interested in local government. But around the same period, a number of historically minded constitu­tional theorists, far less influential than Dicey would be, were exploring changes in local government. Interested in the individual’s rela­tion to the state, their concerns were more normative than Dicey’s. They too saw an analogous trajectory, but emphasized the rela­tion of Dicey’s first phase (“ancient Toryism”) to the modern state. They too contrasted, and I have tried to capture the dominant antitheses in my title. By “agency” I mean participa­tion-­dependent government: governance is merely a term for the collective ac­tion of persons acting in small groups, which somehow acquires a legal sanc­tion. By “authority,” I mean the imposi­tion upon those groups of exogenous constraints or mandates, which are represented as statutory or administrative dictates of some distant center, justified in terms of expertise or procedural uniformity. This inquiry was normative inasmuch as it was usually a defense of the local: face-­ to-­face institu­tions would resolve communal matters ra­tionally and humanely, though there might be limits to their competence or matters of scale where effective ac­tion could only be undertaken by a large polity.

1 A. V. Dicey: Lectures on the Rela­tion between Law and Public Opinion in England during the Nineteenth Century, London, 1905.

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The concern then was the proper demarca­tion of the division between professional and amateur government, with “professional” including both career public administrators (i. e. bureaucrats), and experts with uncommon cognitive authority: doctors, engineers, or accountants. But in curious ways, Dicey’s collectivism, at least applied to the local sphere, retained (or reclaimed) elements of old Toryism: central to both was an imagined community. However much, the paternalism of that old Toryism had been repugnant to radicals in the 1830s and 1840s, the roots of that new (ostensibly democratic) collectivism were often found in the psychology of individualism, as Dicey appreciated. The tension between agency and authority persists in British political life. On issue after issue, groups of citizens battle unresponsive administrators, though these days, the BOAR (bureaucrat of administrative record), is more likely an EU official than a henchman of a successor of the Victorian-­Edwardian Local Government Board (LGB). I begin with five matters to be kept in mind. First, while local government institu­tions were vastly different in 1900 from what had existed in 1800, that change happened gradually and relatively smoothly. Second, in 1800 English (and Welsh) institu­tions differed significantly from Scottish and Irish, though uniformity increased over the century. I shall focus on England. Third, while nineteenth century English local government was often significantly democratic, the franchise was often tied to property rather than person: much governance concerned property; taxa­tion (rating) was based on property, and for certain franchises the number of votes one could cast was propor­tional to property owned or occupied. Fourth, much of the law affecting local governments was not ­statute but court-­sanc­tioned custom – common law. Last and most important, the common expecta­tion of administrative hierarchy, with a descending series of institu­tions from state down to parish, is inappropriate: more commonly the remit of local institu­tions is simply different than, rather than subordinate to, higher institu­tions. Local institu­tions execute their own policy, not that of a distant state. That had begun to change, but even by century’s end, there was nothing akin to a Colbertian system of intendents, implementing state policy through local mayors.2 Nor was there any single unit of local government at all, but rather an incoherent accre­tion of authorities responsible for particular services. In 1800, the chief services were: roads, bridges, policing and adjudica­tion, lighting, sweeping or scavenging, drainage, building regula­tion (with regard

2 Herman Finer: English Local Government, London 1933, pp. 19 – 20.

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to light, drainage, fire safety, and public space), animal control, support for the impoverished, maintenance of public buildings (churches), and regula­tion of commerce: docks, markets, and even the labor supply. These were likely to be in the hands of multiple public bodies. And, while we may think of the town as the obvious spatial unit of local administra­tion, the jurisdic­tion of these bodies ranged from counties to single streets. Not only did jurisdic­tions overlap, but they varied in modes for selecting members, in legal powers, and in finance through fees or rates. To these official func­tions should be added others undertaken by quasi-­official bodies. Civil society, through charitable corpora­tions, was typically responsible for hospitals and schools. Groups of investors often took on capital-­intensive public works: water, gas, turnpikes, canals, sometimes parks, and sometimes drainage or sewerage. Sometimes these latter represented situa­tions where risks and benefits could be sharply distinguished and appropriately allocated, but, as in the case of canal- and dock-­building, they might also represent a commitment to regional economic development.3 Usually any sharp distinc­tion between public and private will be misleading: both groups of investors and charitable undertakings operated under charter or private act of parliament and persons involved in such undertakings were often also active in local government. Ultimately public bodies would take over those services. Typically those persons were professional men, merchants, industrialists, or property owners.4 The higher aristocracy rarely involved themselves directly in local affairs. Still, it was wise for any local authority to consult them, through an agent or steward, before a major undertaking. These local government entities were the composites of centuries of statutes and customary practices, of uncoordinated evolu­tion. Ques­tions of conflicting jurisdic­tion were left to the courts, which had to reconcile not only the p ­ owers parliaments had granted various bodies, the immense heritage of common law precedent, but also the rights of citizens (understood usually as the rights of property). This situa­tion had implica­tions for the concentra­tion of power: that is, to a significant degree, power was in the hands of attorneys skilled in the utiliza­tion of precedent and sensitive to the workings of parliament. Such persons occupied a handful of niches. Most important were town or parish clerks. Though such persons were usually solicitors, their work was not narrowly

3 Phyllis Deane: The First Industrial Revolu­tion, 2d ed, Cambridge, 1979. 4 John F. Wilson: Lighting the Town: A Study of Management in the North West Gas Industry, 1805 – 1880, London 1991.

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legal; usually they were the nearest thing to a town manager. Rarely were their appointments political; many clerks had long careers of putting their immense experience in service of whatever elected fac­tion held power. Much of that experience was in assessing pending parliamentary legisla­tion. Large towns usually employed a permanent legal agent in Westminster whose task it was to promote, revise, or oppose bills affecting the town’s interests. Such agents, or members of the parliamentary bar were experts not only on local government law, but on procedural tactics and on the marshaling of expertise and publicity.5 Almost as important were local technical staffs: generally a municipal engineer or surveyor would take responsibility for all public works and for efficient delivery of local public services. Usually that person’s job included advising on future needs: such engineers were de facto town planners.6 By contrast, while civil servants in central government would become important as overseers or regulators in some aspects of local administra­tion, they were concerned mostly with ensuring modest uniformity (especially in cases like infectious diseases where local practices had na­tional implica­tions), with ­mediating conflict and collecting statistics. Even at the end of the century the great initiatives often came from towns, and towns, acting largely independently of the state, took most of the responsibility for executing policies.7 Though nineteenth century British government has a reputa­tion as an inspectorial state, the small number of inspectors and their modest powers meant that much power remained in the localities. Following Dicey, one can divide the century into three periods. For the first third, “unreformed” institu­tions held sway. The decades from the 1830s through the 1870s were a period of expansion of local government services, chiefly in public health, including burial. After 1870, while services continued to expand (i. e., educa­tion, transporta­tion, libraries, parks), coordina­tion was the concern – the search for a single system of comprehensive or in Robert Goschen’s term, “compendious” local governmental units.8 And, though “encroachment” may be too strong, by the 1890s much of the business of local government was ­responding to central mandates both for ac­tion and for informa­tion. 5 J. H. Balfour Browne: Forty Years at the Bar, London, 1916; William Ballantine: Some Experiences of a Barrister’s Life, new ed., being the 8th, London, 1883. 6 Christopher Hamlin: James Newlands and the Bounds of Public Health, Trans of the Historic Society of Lancashire and Cheshire 143 (1994), pp. 117 – 39. 7 Christine Bellamy: Administering Central-­Local Rela­tions, 1871 – 1919: The LGB in Its Fiscal and Cultural Context, Manchester, 1988. 8 Finer, English Local Government, pp. 8, 21.

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2. Local “self-government”: Toulmin Smith, the Webbs, and the Search for Genuine Democracy A common representa­tion of the story of nineteenth century British govern­ ment as the establishment of comprehensive and progressive central control through a benevolent inspectorate – Dicey’s collectivism – has raised ­important issues of historiography, both within Britain and beyond. In public health, for example, the sanitary movement that began in the 1840s has often exemplified the ideal rela­tionship between empirical inquiry into common communal problems and ra­tional science-­based response. But that statist story has often been challenged by an anti-­statist communitarian story, one initial­ly promulgated by an eccentric lawyer, geologist, and antiquarian, J­ oshua Toulmin Smith (1816 – 69), author of a series of critiques of centraliza­tion, particularly of public health institu­tions. His views are evident in his titles: Government by Commission illegal and pernicious (1849), or The Parish its powers and obliga­ tions at law, as regards the welfare of every neighbourhood, and in rela­tion to the state: its officers and committees: and the responsibility of every parishioner … (1857). Though Toulmin Smith has been credited with coining the term “local self-­government,” the ideology was not new: local rights, particularly of property, were a key feature of the English constitu­tional heritage, represented in the Magna Carta.9 Remarkably despite well founded worries about urban disorder and rural incendiarism during the Chartist years beginning in the late 1830s, there was great opposi­tion to a na­tionalized police: Westminster rule signified the surrender of liberties achieved over centuries.10 The critics came from opposite poles of the ideological spectrum. They included radicals for whom “government” implied corrup­tion – sine cures for the idle rich – and Anglican paternalist Tories, hostile to Whig reformism and loyal to ancient institu­tions of county and parish. Toulmin Smith united these wings.11 He represented English local institu­tions, particularly the parish and common law, as robust and flexible communal structures. Because they were the natural residue of communal problem solving, they would be able to meet 9 E. H. Hasluck: Local Government in England., 2d ed., Cambridge 1948, pp. 2 – 3. 10 Stanley H. Palmer: Police and Protest in England and Ireland, Cambridge 1988. 11 On the ambiguities of Toulmin Smith’s intellectual identity, see W. H. Greenleaf: ­Toulmin Smith and the British Political Tradi­tion, in: Public Administra­tion 53/1 (1975), pp. 25 – 44; Ben Weinstein: “Local Self-­Government Is True Socialism”: Joshua Toulmin Smith, the State and Character Forma­tion, in: English Historical Review CXXIII (2008), pp.  1193 – 1228.

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whatever problems might arise. Toulmin Smith accepted the legitimacy of Parliament, but he abhorred government by expert commission and was the nemesis of Edwin Chadwick’s technocratic Benthamism. He regarded such “empirical” or “experimental” legisla­tion as make-­work schemes for failed professionals. They wrested power from the people who best knew how to solve their own problems. Toulmin Smith was not uninfluential – his ideas led to reform (1854) and then aboli­tion (1858) of the Chadwickian General Board of Health and to the devolu­ tion of powers to localities in the 1855 amendment to the Nuisances Removal Act. But more importantly his ideas intrigued the next genera­tion of political theorists. To the Prussian Rudolf von Gneist (1816 – 95), author of a number of works on the English constitu­tion, and the Austrian Josef ­Red­lich (1869 – 1936), author of Local Government in England, 1901 (English 1903), ­­Toulmin Smith’s evoca­tion of an ancient age of local democracy and an organic dynamic by which free people equipped themselves with the institu­tions they needed, was an enchanting one.12 Nor was it lost on them that these had been Saxon institu­ tions: the folk mote was the ancestor of the parish. One might read English history then, as Romantic paternalists like Benjamin D ­ israeli and Charles Kingsley had done, as a long struggle between Saxon local democracy and Norman autocracy.13 But within fin-­de-­siecle utopianism there was fascina­ tion with communal polities which seemed to require neither laws nor kings.14 Toulmin Smith’s ideas intrigued the Fabians Beatrice and Sidney Webb, who saw in ancient local government a golden age of autonomy “amounting almost to anarchy.”15 Their multi-­volume work, The History of Local Government in England examined types of local government institu­tions, beginning with the parish and the county. While the conclusions of the Webbs (and the others) were mixed, all were moderate leftist constitu­tionalists. With faith in a modicum of human honesty and competence, they sought to understand the condi­ tions under which citizens could act collectively to secure common interests and provide for public needs.

12 Red­lich’s work appeared in English, as edited with addi­tions by Francis Hirst, and is often known as Red­lich and Hirst. 13 See Disraeli’s novel Sybil and Kingsley’s Hereward the Wake. 14 Peter C. Gould: Early Green Politics: Back to Nature, Back to the Land, and Socialism in Britain, 1880 – 1900, New York, 1988. 15 Sidney Webb/Beatrice Webb: English Local Government from the Revolu­tion to the Municipal Corpora­tions Act: Statutory Authorities for Special Purposes, London, 1922.

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They appreciated too the fragility of this achievement. By the interwar period commentators were bemoaning the loss of Victorian public spiritedness.16 In fact, local authorities were effectively providing many more services, but service provision was relying much more on technical staff than on the leadership of committed amateurs. The elected councillor’s only role was simply to let the technical staff “know both what the public will not stand and what it insists upon having, noted one.”17 In the wake of the second world war, as concern shifted toward the coordinated na­tional supply of services, even Victorian local government had come to be reviled – a failure unless coerced by the central state. To a group of Dicey-­inspired “revolu­tion-­in-­government” historians, the chief ques­tion was how the central state had grown up to solve England’s social problems. That it had solved them, and was the only entity that could have solved them, was rarely ques­tioned.18 Writing in the early 1950s, Edwin Chadwick’s great biographers, Samuel Finer and R. A. Lewis, largely endorsed Chadwick’s own view ‒ that local governments differed only in the depths of their venality and incompetence. Permeated by vested interests, it was impossible for them to aspire to any ra­tional impartiality, much less command the expertise needed for sound decision-­making. Even the new urban historians, emerging in the 1960s, rarely challenged that view directly, however impressed they might be by individual local leaders. They generally focused too on the largest towns, where there was much activity.19 As for Toulmin Smith, he was represented as a reac­tionary crank. While Thatcherite antistatism in the mid 1980s often ‒ as in the aboli­tion of the Greater London Council and devolu­tion of its powers to local ­boroughs ‒ involved a profound forgetting of the reasons coordina­tion had been so necessary, historians too had begun to re-­balance. Carefully examining the practices of the Victorian inspectorial state, the political scientist Christine Bellamy showed that

16 Thus, the celebratory A Century of Municipal Progress, 1835 – 1935 (Harold Laski et al. eds., London 1935) was followed by Half a Century of Municipal Decline, 1935 – 1985 (Martin F. Loughlin et al. eds, London 1985). See also Richard Trainor: The “decline” of British Urban Governance since 1850: A Reassessment, in: R. J. Morris/Richard Trainor (eds.): Urban Governance: Britain and beyond since 1750, Burlington 2000, pp. 28 – 46. 17 Finer, English Local Government. 18 See the debates in Gillian Sutherland: Studies in the Growth of Nineteenth Century Government, Totowa, N. J. 1972. 19 D. Fraser/A. Sutcliffe: The Pursuit of Urban History, London 1983; Derek Fraser: Urban Politics in Victorian England, London 1976; Derek Fraser: Power and Authority in the Victorian City, Oxford 1979.

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it had played a modest tutelary role in the 1870s, hoping to encourage ac­tions that it could not actually take.20 Others, like John Prest and David Eastwood, would refocus atten­tion on the local.21 A theme of my own work, beginning in 1988, was to emphasize the technical complexity of the problems local authorities were seeking to solve, and to suggest that center could help little.22 Others, like David Sunderland, reevaluated the performance of those local authorities that Chadwick had reviled, or, like James Hanley, clarified the legal challenges they faced.23 Finally, since the 1990s there has been much interest among urban historians in the Habermasian concept of the public sphere, a perspective that meshed with the Blairite “New Labour” emphasis on community-­building.24 As these references indicate, the history of English local government in the nineteenth century has had far-­reaching significance. In the case of public health in the developing world, both statists and anti-­statists have projected idealiza­tions of nineteenth-­century English history onto parts of the world with very different cultural and social tradi­tions. The great hopes for post-­colonial states were coupled with high water mark of welfare statism in the three decades after 1950; the more recent adula­tion of the “self-­governing” community, the supposed true locus of responsibility, ra­tionality, and equity, would have delighted Toulmin Smith.25 20 Bellamy, Administering Central-­Local Rela­tions, 1871 – 1919: The LGB in Its Fiscal and Cultural Context. 21 John Prest: Liberty and Locality: Parliament, Permissive Legisla­tion, and Ratepayers’ Democracies in the Nineteenth Century, Oxford 1990; David Eastwood: Governing Rural England: Tradi­tion and Transforma­tion in Local Government, 1780 – 1840, Oxford 1994. 22 Christopher Hamlin: Muddling in Bumbledom: Local Governments and Large Sanitary Improvements: The Cases of Four British Towns, 1855 – 1885, in: Victorian Studies 32 (1988), pp. 55 – 83; idem.: Edwin Chadwick and the Engineers, 1842 – 1854: Systems and Anti-­Systems in the Pipe-­and-­Brick Sewers War, in: Technology and Culture 33 (1992), pp. 680 – 709; idem.: Sanitary Reform in the Provinces, vol. II, 5 vols., Sanitary Reform in Victorian Britain, Ed. Michelle Allen-­Emerson, London 2012. 23 David Sunderland: “A Monument to Defective Administra­tion”? The London Commis­ sions of Sewers in the early Nineteenth Century, in: Urban History 26 (1999), pp. 349 – 72; James G. Hanley: The Metropolitan Commissioners of Sewers and the Law, 1812 – 1847, in: Urban History 33 (2006), pp. 350 – 68. 24 Richard Rodger: Cities of Ideas: Civil Society and Urban Governance in Britain 1800 – 2000: Essays in Honour of David Reeder, Aldershot et al. 2004. 25 Christopher Hamlin: Overcoming the Myths of the North, Forum for Applied Research and ­Public Policy 16 (2001), pp. 109 – 14. Cf. Clapperton Mavhunga/Wolfgang Dressler: On the Local Community: The Language of Disengagement?, in: Conserva­tion and Society 5 (2007), pp. 44 – 59.

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3. Order in Chaos? Parishes, Courts Leet, Counties, Improvement Commissions, and Corporations We can now look more closely at what English local government was and what it was becoming during the nineteenth century. Although there are plenty of instances of Toulmin Smith’s organic institu­tions emerging from practices of communal problem-­solving, statutes were also important. But even then it would be misleading to imagine the local as merely subsidiary of the central: more often there was a complex reciprocity among custom, common law, and royal decree or parliamentary ac­tion. As the Webbs recognized, at the beginning of the nineteenth century the two most important units of local government were still the parish and the county, though sometimes parishes were divided into townships, and counties in to hundreds or wapentakes. Usually all these were jointly juridical and adminis­ trative units.26 Following the Reforma­tion, the parish became responsible for poor relief. That responsibility, placed chiefly in the hands of an overseer of the poor, involved multiple associated responsibilities beyond doling out the necessaries of survival: it involved raising funds through fines, bequests, and rates, determining and enforcing residency (returning needy persons to their true parish of settlement), educating and apprenticing orphans, providing medical care, and sometimes housing. These duties were matters of law not charity, after the famous consolidating poor law of 1601. Those, including persons in need, who wished to challenge parish administra­tion could bring their complaints to the justices of the peace, royal appointees who served as the principal county-­based juridical officials. Depending on the seriousness of the matter, justices might act individually, or in pairs, or as part of a panel of county justices during quarter sessions. Parish officials might be fined for poor performance. Counties and parishes were also responsible for public physical structures, parishes for roads, counties for bridges. Under a series of highways acts male parishioners were obliged to turn out annually for a week’s work of highway maintenance, each bringing, according to his means, carts and draft animals. The work would be supervised by one of their number, whoever held the appointment of surveyor that year. For, like most parish offices (and there might be many: an ale taster, shepherds, cowherders, someone to muzzle 26 In a curious way both also loosely reflected royal power over the power of aristocracy and gentry. The key role of the justice of peace was a royal appointment; the major roads were to be kept open as king’s roads. By the seventeenth century county justice at quarter sessions was superseding manorial justice through courts leet and baron.

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dogs, or to ring the noses of swine lest they root up the crops), the offices of surveyor and overseer (and of constable) rotated, usually annually, among the male citizenry. While means of selec­tion varied, one could not refuse. Those who tried were fined. Coexisting with parishes and counties in some places was another ancient local institu­tion, the leet court. Leets were manorial courts, but where manors had evolved into towns as in Manchester, Preston, or Southampton, they carried out func­tions of municipal governments. Most importantly, like parishes, they relied on coopted amateurs. While procedures varied, a common task of a leet jury (usually of 24 members) was to perambulate its district and note transgressions, usually in the use of public space or common resources. As with parishes, leets often appointed specialist officers to keep track of trees, or ditches, or dogs.27 While it is easy to see how constitu­tional theorists and late century decentralist socialists might be enchanted by the prospect of self-­ordering communities in which central authority was superfluous, but cau­tions and qualifica­tions are in order. First, the viability of parish administra­tion depended on pervasive social control over wages, work, living condi­tions, and mobility. Since a spirit of co-­insurance characterized parish life, one’s habits and character were one’s neighbors’ business. Medieval legal structures, like Frank-­pledge made each legally responsible for his neighbor. If a thief escaped, the parish must redress the loss. Second, it is hard to assess the administrative effectiveness of these institu­tions. From records of quarter sessions, courts leet, or other local assize, it is easy to get an impression of well-­regulated affairs. Offenders are presented by constables or juries for judgment of a wide range of transgres­ sions of the common good. Magistrates dictate what seem to be stiff fines. But the records also suggest unevenness, spasms of enforcement interspersed with long periods of neglect. And it is hard too to interpret these episodes of activism: are we seeing robust defense of the public good or some ulterior agenda of selective enforcement? Third are the limita­tions of amateur administra­tion. Parish autonomy presumed that males who met a certain property qualifica­ tion were generally competent to do parish work. Doubtless such expecta­ tions went some way to create that competence. But, most conspicuously in the case of road-­mending, technical challenges often outstripped parishioners’

27 Walter J. King: Untapped Resources for Social Historians: Court Leet Records, in: Journal of Social History 15 (1982), pp. 699 – 705; Brodie Waddell: Governing England through the Manor Courts, 1550 – 1850, in: The Historical Journal 55 (2012), pp. 279 – 315.

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capacities. Nor was parish road-­making an efficient means of maintaining an important route, like a king’s highway, needed to move troops from one end of the island to the other.28 In 1831, notes Lipman, there were 15,635 poor law authorities, which included parishes and sometimes townships within them. Roughly 12,000 had fewer than 500 people; almost 2,000 fewer than 100.29 It is easy to see how hard it would have been for central government to impose uniform policy. The intermediary, the county, was more juridical than executive: Its lord lieutenant was generally active only on the gravest issues of civil order. Justices of the peace, who might be charged with transmitting occasional orders from the Privy Council, were likewise amateurs and part-­timers. They might know more or less about the laws they were to enforce, but usually their appointment reflected their solid status within the community. Legal expertise was not expected. In any case, they were usually too busy at quarter sessions to make policy. Only in the 18th century would counties begin to appoint executive technical officers – bridge surveyors or repairers.30 Accordingly, the first of the major reforms of local government, the famous Poor Law Amendment Act of 1834 (known as the new poor law), was remark­ able simply as a means of forging contact between central and local. By ­grouping parishes into unions (there were around 600, with the figure varying slightly over time) and by establishing full time administrative staff at e­ ither end – a Poor Law Commission (or Board after 1847) in London; clerks to the new boards of Guardians and a workhouse staff in the provinces ‒ it represented an important initiative from that standpoint alone, regardless of the famous Benthamite principles that were to make relief unpleasant and thus curb costs. But parishes still paid for their poor; laws of settlement still operated. Looking out from the center, or backwards from orderly systems of derivative local government, it is easy to see the municipal corpora­tion as the urban analogue of the county. Thus most seats in the House of Commons were either borough (corpora­tion) seats or county seats. But from the standpoint of urban service provision, the analogy breaks down. First, there was 28 Sidney and Beatice Webb: English Local Government: The Story of the King’s Highway, London 1913. 29 Vivian D. Lipman: Local Government Areas, 1834 – 1945, Oxford 1949, p. 41. 30 Sidney Webb/Beatrice Webb: English Local Government from the Revolu­tion to the Municipal Corpora­tions Act: The Parish and the County, London 1906; Hasluck, Local Government, pp.  6 – 9.

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often a mismatch between corporate borders and urbanized areas. Many early nineteenth-­century industrial towns did not even have corpora­tions. Moreover, even in corporate towns, entities other than the corpora­tion retained many powers. Thus only a tiny frac­tion of the metropolis was w ­ ithin the jurisdic­tion of the City of London Corpora­tion, and even within that, parish institu­tions remained important. Most importantly, the municipal corpora­tions, created over centuries, represented no single system of local government. A common mandate for their existence was profit. They were beneficiaries of the award of (or, more commonly, sale) by monarchs of monopoly rights to regulate local markets and industries.31 Indeed, municipal corpora­tions belong as much to the history of privatiza­tion as to that of local democracy. Besides powers to regulate the quality of commercial goods, they often acquired incidental responsibilities over charitable bequests lodged with them, and often held various juridical powers. But generally corpora­tions neither delivered comprehensive services nor were expected to do so. The immediate context of municipal corpora­tion reform in the early 1830s was political; the 1835 Municipal Corpora­tions Reform Act was of a piece with the 1832 Reform Act. Here, as with parliamentary reform generally, expansion of the franchise would make, the corpora­tion was being made more accountable to its propertied populace both with regard to its own affairs and to its elec­tion of MP s. Reform had incidental effects, however. Not only did the Act of 1835 reform charters in 178 English boroughs, it also provided a means by which new industrial towns, like Manchester and Birmingham, could become corporate, as they rapidly did. Sometimes the enlarged electorates of reformed corpora­tions did become interested in expanding their roles as providers of urban services. Some corpora­tions, like Liverpool’s (owner of docks) already had ambitious agendas, but many awakened only slowly to the new possibilities. In part, that agenda would develop as a pragmatic response to administrative chaos, but it involved also the promulga­tion of an ideology of municipal efficiency

31 See Sidney/Beatrice Webb: English Local Government from the Revolu­tion to the Municipal Corpora­tions Act: The Manor and the Borough, 2 vols., London/New York 1908; S. H. Rigby/Elizabeth Ewan: Government, Power and Authority, 1300 – 1450, in: D. M. Palliser (ed.): The Cambridge Urban History of Britain Volume 1. 600 – 1540, Cambridge, 2000, S. 291 – 312. Not only had medieval monarchs sold charters, their impecunious successors (particularly the later Stuarts) might revoke and re-­sell them in order to raise funds.

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and propriety.32 Thus reformers in the 1830s could contrast the many unmet needs in towns with the feasts, costly regalia, and gaudy guildhalls, financed by corporate surplus. But the ethos of general accountability of a public body ran headlong against the newly recognized constitu­tional principle of ultra vires (“beyond powers”) which prohibited a corporate entity from doing anything that exceeded the explicit powers allocated in its charter and in other acts under which it operated. It appears to be unique. Whereas in most other polities local governments may do whatever does not violate a constitu­tional provision in England they could do nothing that was not explicitly permitted.33 Its prominence makes clear too that English local authorities were less subordinate divisions of central administra­tion than independent entities. Its recogni­tion made clear too that much tradi­tional local government had been extra-­legal.34 As local authorities sought to do more, ultra vires became a common irritant. In principle it protected rights: only an act of parliament could subject a citizen to a new local tax, for example, but time and time again, Parliament would seek to equip local authorities to act only to find that some key element of that ac­tion had not been sanc­tioned, rendering the law inoperable. Or citizens would be told that their local authority had “no powers” to deal with an obvious pubic ­problem. Particularly problematic were provisions for purchasing land, borrowing money, rating property, and enacting by-­laws. The impact of ultra vires has been understudied, but arguably it reinforced the focus of urban local authorities on narrow and specific func­tions rather than broad responsibilities. That approach was well established even before articula­tion of the legal principle. Consider a problem like street lighting. Street lamps might seem a great idea, and command community support. But if no existing agency had powers, or could be persuaded to try to acquire them,35 it would be necessary for such 32 E. P. Hennock: Fit and Proper Persons: Ideal and Reality in Nineteenth-­Century Urban Government, London 1973. 33 The excep­tion would be any matters that came under common law, where custom not only allowed an authority to act but might require it to do so. Coming under this ­heading were the appointment of constables and ac­tion against public nuisances. 34 Hasluck, Local Government, pp. 9 – 17. Articula­tion of the doctrine began only in the 1840s with regard to railroad charters, but arguably the principle is evident in common law much earlier. 35 Acts of parliament were not cheap. Even to expend public funds in seeking expanded powers might bring complaint and legal ac­tion against a local authority. In such a case, members of the authority might be held personally liable for that expenditure. This was notoriously the issue in the Lower Thames Joint Sewerage Board T. J. Nelson: An

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citizens to create their own new local authority, solely for that purpose, through securing passage of a local act of Parliament. In the century after 1750, many groups of citizens began doing precisely that. The resulting authorities were usually known as “Improvement” or “police” commissions. Even though many were initially concerned only with some particular improvement (like lighting or watching), in many places, they acquired increasingly broader powers and often (as in Cheltenham, for example) become comprehensive local authorities.36 Though each authority required an initiating act of Parliament, as well as amending acts for further powers, such legisla­tion would become relatively standardized. The Webbs estimated that in the century from 1745 to 1845 Parlia­ ment passed around 10,000 such individual acts for 1,800 of local authorities. About 300 towns were significantly governed by improvement commissions.37 Improvement acts, expensive to acquire, may seem to represent the apotheosis of the self-­organiza­tion of citizens to meet communal need, of positive anarchy. But again we need to be careful. Often the improvements were not only limited in scope, but in extent. They might be efforts to protect wealthy neighborhoods more than to meet social needs; often they resemble the covenants which govern structures within a gated community more than any comprehensive program of public services. We see such concerns most clearly in paving commissions: provision of sidewalks may seem a trivial service, but to the residents of trendy Georgian developments such an amenity was a component of exclusivity. Participants in meetings to administer the Paving act covering a few streets in the chic Westminster parish of St. George’s, Hanover Square, included aristocrats and senior military officers: their concern was not merely with building and maintaining sidewalks, but with controlling their uses – what kinds of people would be walking these streets, what sorts of social business would be permissible?38 Incredible Story, Told in a Letter, to the Rt. Hon. Earl of Beaconsfield, Prime Minister, London 1879. Later edi­tions of Nelson’s work, chronicling ongoing efforts to solve this problem, are horrific. Passage of the Borough Funds Act of 1872 clarified matters signi­ ficantly but not entirely. 36 The authority remains Frederick H. Spencer: Municipal Origins: An Account of English Private Bill Legisla­tion Relating to Local Government, 1740 – 1835; with a Chapter on Private Bill Procedure, London 1911. 37 Sidney Webb/Beatrice Webb: English Local Government from the Revolu­tion to the Municipal Corpora­tions Act: Statutory Authorities for Special Purposes, London 1922, p. 7. The list presumably goes beyond improvement commissions to include paving and sewers commissions, and probably turnpike trusts. 38 Westminster Archives, C1003, St George’s Hanover Square Paving Committee Minute Book, 1813 – 19; C 2004, 1819 – 1826.

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Distinct from the improvement commissions, but likewise consumers of ad hoc local legisla­tion were the Sewers Commissions, few in number but seminal in the history of local government. An act of 1532 (23 Henry VIII, c5) a­ llowed forma­tion of districts to deal with the common problem of drainage and protec­ tion from flooding (“sewers” referred to drainage not of wastes disposal). It drew on precedents from the common law of property, however: drainage arrangements on one piece of land affected others nearby; the effectiveness of any dike rested on the willingness of adjacent landowners to maintain it: water itself brought conflict and mandated coopera­tion, which, as custom, became law. The 1532 act would stipulate membership in each “court of sewers” and standardize procedure. But as land uses changed, almost any active commission would need amending acts to carry out its work. Best known in nineteenth century local government were the eight metropolitan sewers courts, which dealt with the drainage and river banks in greater London. They were primary targets of Edwin Chadwick’s attack on existing local government. He would represent them as corrupt, technically backward, and uninterested in public health.39 In 1848 he would orchestrate their consolida­tion and ra­tionaliza­tion. Seven years later, after six more reorganiza­tions, they had evolved into the new Metropolitan Board of Works (MBW), which in turn would be superseded by the pioneering institu­tion of coordinated metropolitan government on matters far beyond sewerage, the London County Council (1889), itself superseded by the Greater London Council (1965).40 The MBW ’s magnificent achievement – universal water closets draining into a vast network of sewers, intercepted by huge trunk sewers beneath a beautiful embankment, has come to exemplify efficiency and ra­tionality in city planning, but the transi­tion from old to new modes of governance was by no means a simple matter of technological courage.41 For as James Hanley has pointed out, what had to change was a concep­tion of the public. While,

39 The Webbs, with greater faith in amateur government, generally concurred with Chadwick’s view. See English Local Government … Statutory Authorities. See also Christopher Hamlin: Public Health and Social Justice in the Age of Chadwick: Britain, 1800 – 1854, Cambridge 1998; Sunderland, “Monument to Defective Administra­tion.” 40 Webb/Webb, English Local Government from the Revolu­tion to the Municipal Corpora­ tions Act: Statutory Authorities for Special Purposes, 1922. The Webbs saw this as an example of an organic entity blossoming into full scale socialism. 41 Dale H. Porter: The Thames Embankment : Environment, Technology, and Society in Victorian London, Akron, Ohio 1998; Stephen Halliday: The Great Stink of London: Sir Joseph Bazalgette and the Cleansing of the Victorian Capital, Stroud 2001.

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if we are to believe the romantic constitu­tionalists, a sense of public (community) identity had developed with regard to the parish, it had not carried over to matters of urban infrastructure. There, property rights reigned: infra­structure costs were allocated according to direct benefit to property. It seemed far-­fetched that, on the ostensible grounds of improved health, one should be expected to pay for sewers on distant streets, perhaps even on the other side of one’s city. After mid-­century, that expanded concep­tion of common good would prevail, however – a result of judicial decisions, but also of changed concep­tions of sociality, rooted in acceptance of invisible modes of environmental harm.42 By 1880 this new ethos had become well accepted: the idea that rates should pay for common goods, like a library, a playground, or a garden was an expansion of precedent of paying for specific sewers with general rates. It is easy to reify: to imagine a sense of the public good – and with it, clean­ liness, health, communality, accountability ‒ as the new broom, sweeping away conflict, apathy, and selfishness. That would be wrong. Rarely were appeals to ultra vires invoca­tions of some abstract constitu­tional principle, as they perhaps were for Toulmin Smith. Instead, enlistments of common good, private right, community destiny or tradi­tion, and even public health and decency were ideological tools for use in the manifold conflicts that arose in solving problems or in translating generic principles of communal services into actual structures. Following Dicey, some historians have sought to understand conflict in terms of political philosophy, with the individualism-­collectivism opposi­tion manifesting as (clean versus “dirty” parties or as reform parties versus rate-­payers’ defense leagues). Others looked to class: struggling shopkeepers resisted whatever would raise rates. And yet, as Fraser suggested long ago, almost always the conflicts were rooted in the local.43 There their causes were overdetermined. Sometimes, as in educa­tion, welfare, or burial, religious practices were at stake. Personal networks were involved. The posi­tions one took might have less to do with the immediate issue than with past loyalties. It will be better to see conflict as norm rather than aberra­tion, especially in those matters of infrastructure that dominate mid- and late-­Victorian local government. The op­tion taken left behind some large number of plausible 42 James Hanley: Healthy Boundaries: Property, Law, and Public Health, 1815 – 1875, in press, University of Rochester Press. See also Roger Cooter: Anticontagionism and History’s Medical Record, in: Peter Wright/Andrew Treacher: The Problem of Medical Knowledge: Examining the Social Construc­tion of Medicine, Edinburgh 1982, pp. 87 – 108. 43 Fraser, Power and Authority in the Victorian City.

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op­tions not taken, each with advantages to particular persons: owners of land, engineers and architects, contractors offering tenders. A decision to build in one place affected the uses and values of property there and elsewhere. If grand and great issues supplied the language of controversy, the devil was in the details. Sanitary services may best exemplify the variety and depths of conflict. Public recogni­tion, even when made by an official inspector of nuisances, that longstanding arrangements for disposal of human wastes were problematic, did not necessarily imply that the problem was a public one. Most towns tried three solu­tions, and vacillated among them before adopting the third: householders or owners might be responsible for wastes disposal, with the public simply demanding satisfactory performance, or the town might contract for all wastes disposal, or it might employ its own workforce.44 All these op­tions all assumed that wastes were stored temporarily in some closet or pit within or nearby the dwelling. But there were innumerable means of storage, each with different features vis à vis length of storage, ease of use and of emptying, etc., each with its own advocates. Water closeting, often represented as the obvious solu­tion, was not. Beyond requiring acquisi­tion of an adequate public water supply, which itself entailed a host of technical, legal, and financial challenges, it involved an enormously costly retrofitting of existing dwellings as well as new networks of conduits for ingress and egress. While the design of piped systems was more controversial than one may expect, there was greater controversy about where to take the sewage: until the very end of the century there were no generally satisfactory means of sewage treatment.45 Both sewage pollu­tion itself, and the most common solu­tion to pollu­tion, to irrigate large quantities of agricultural land with that sewage, were likely to bring complaints, lawsuits and injunc­tions: local authorities might have resolved all ultra vires issues, and have right to discharge sewage, but have no right to create a nuisance for downstream neighbors.

44 Christopher Hamlin: Nuisances and Community in Mid-­Victorian England: The Attrac­ tions of Inspec­tion, in: Social History 38 (2013), pp. 346 – 79. 45 Hamlin, “Edwin Chadwick and the Engineers;“ idem., “Muddling in Bumbledom;” idem., Sanitary Reform in the Provinces; Daniel Schneider: Hybrid Nature: Sewage Treatment and the Contradic­tions of the Industrial Ecosystem Cambridge/Mass 2011.

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4. An Authoritative State? Even could strong local authorities with visionary municipal corpora­tions and superb technical staffs (Birmingham and Liverpool) struggled with these problems. For three decades after 1858, Birmingham, celebrated for local govern­ ment leadership, was in an impossible legal situa­tion, subject to sequestra­ tion of all corporate assets due to river pollu­tion nuisance suits by suburban landowners.46 The central state grew during the second half of the century. It has been easy to see that growth as a response to such situa­tions: the motley mix of common law and ancient or ad hoc units of government had failed, the state must act. But that view is misleading, especially when we compare what the state did with what it might have done. In responding to Birmingham’s plight, for example, a strong state would have seen that the health of a large city must not be held hostage to the whims of a single aristocrat. The masters of chancery had perhaps decided the case correctly, but the existence of great industrial towns and new sewerage technology simply showed how outdated was the common law of nuisances. The Victorian inspectorial state did issue mandates, though usually these were narrow (e. g., the welfare of children on canal boats, or in mines, or in cotton factories, or Plimsoll lines on the sides of ships), and under-­enforced.47 The much greater thrust of legisla­tion was to facilitate local government ac­tion through the gift of powers. Without directly eliminating ultra vires, such legisla­tion would gradually reduce the domain of its applicability. Public health was indeed the leading edge of state growth, though it was really only a proxy for effects of increasing urbaniza­tion and mobility. Mobility of labor, most familiar as the industrial revolu­tion, was also a mobility of infectious disease; of pauperism, as the cycles of capitalism failed to mesh with concentra­tions of popula­tion; and of crime: the hue and cry of the parish was simply not a viable approach to catching criminals in a great and anonymous cities. 46 Hennock, Fit and Proper Persons; J. T. Bunce: A History of the Corpora­tion of Birmingham with a Sketch of the Earlier Government of the Town, 2 Vols., Birmingham, 1878, 1885; Leslie Rosenthal: The River Pollu­tion Dilemma in Victorian England: Nuisance Law versus Economic Efficiency, Burlington/VT 2014. 47 For the views of the state as a pragmatic problem solver see Oliver MacDonagh: Early Victorian Government, 1830 – 1870, London 1977; Oliver MacDonagh: The Nineteenth Century Revolu­tion in Government: A Reappraisal, in: Historical Journal 1 (1958), pp.  52 – 67.

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Here the seminal figure is Edwin Chadwick (1810 – 1890). Having already been instrumental in creating a na­tional police and restructuring the poor law, he turned to public health in the late 1830s. His Report on the Sanitary Condi­ tion of the Labouring Popula­tion appeared in 1842; it prompted a follow-­up Royal Commission inquiry on sanitary and social condi­tions in 1843 – 45, and led ultimately to passage of a Public Health Act in 1848. Both partisans and detractors would see that act as one of centraliza­tion and state accountability: a problem had been disclosed that was not being adequately addressed by local authorities; the state must intervene. In fact, the act that passed Parliament was weaker than Chadwick had hoped for, and pretty sorry as the vanguard of a powerful central state. It did establish a General Board of Health (GBH) to concentrate expertise and impose procedural and technical standardiza­tion, but, with minor excep­tions, towns chose whether or not to adopt the act and how they would implement it. Resistance, both from towns which saw no need for comprehensive sanita­tion, as well as from large and progressive towns jealous to retain direct control of their own sanitary undertakings, was significant. The Board lasted only ten years.48 The act and its successors are better understood in terms of the heritage of I have been outlining of devolving power to (increasingly more coherent and robust) local authorities rather than bringing these directly into a ministerial hierarchy. Seen against the heritage of improvement acts, the Public Health Act is better understood as a procedural rather than a substantive reform. It was of a piece with a series of “clauses acts” for use in private bills. Thus the Towns Clauses Act (1846) provided pre-­existing local authorities with approved clauses they could use in tailoring a local bill to acquire particular powers. The 1848 Act allowed town to get broad powers over aspects of infrastructure only remotely connected to health, escape many ultra vires limita­tions, and avoid the cost of a local act, for only the cost (and indignity) of an inspec­tion. Adop­tion was costly (though much cheaper than a local act), and potentially divisive: the inspector who would sanc­tion the applica­tion a stranger to whom local condi­tions and conflicts must be exposed. But many localities found the tradeoff acceptable. Parliament benefitted too. Legisla­tion which shifted technical scrutiny to a bureaucracy freed it of the need to approve the minutiae of each local bill, a task of minor na­tional importance that took up inordinate

48 Christopher Hamlin: Public Health and Social Justice in the Age of Chadwick: Britain, 1800 – 1854, Cambridge 1998; Edwin Chadwick: Report on the Sanitary Condi­tion of the Labouring Popula­tion of Great Britain, ed. M. W. Flinn, Edinburgh 1965.

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time. Over the next decades the powers obtainable through public health acts would broaden far beyond public health: just as sewers authorities had evolved into general units of local government in greater London, public health boards would evolve into general authorities elsewhere. Chadwick and company had hoped that local boards would use their new powers for comprehensive sanita­tion. Gradually, central mandates for s­ upply of services did creep in, but it was nearly impossible to enforce them on defaulting authorities. Bellamy notes that 114 applica­tions for mandamus under the 1875 Public Health act led to only 5 orders.49 Mainly central power would be reactive and regulative; initiative lay with the locality. Nevertheless, powers to structure local authorities were significant: the center set the local authority’s boundaries (sometimes designating sub-­districts where different rating rules applied), and the character of its franchise (plural voting sometimes persisted in local boards elec­tions after it had been eliminated from municipal corpora­tions). The center sanc­tioned the undertaking of long-­term debt for public works (after a general determina­tion of project viability following an engineer’s inspec­tion), the appointment or dismissal of some officers. It standardized record-­keeping, reporting, and auditing; and mediated conflict. Local governments became more comprehensive as well as more ­accountable. By 1914, suggests Hasluck, the three pillars of central bureaucrats, local bureaucrats, and local elected officials had coevolved to work together reasonably harmoniously.50 Any eventual harmony overlooks much complexity and changing distribu­ tion of power. The Public Health Act was modestly popular, but establishment of local boards really began to pick up only in the late 1850s and 1860s, after Chadwick had lost power (1854) and the responsibilities of the General Board divided between a Privy Council Medical department concerned with epidemic response and a Local Government Act Office (LGAO), a division of the Home Office, concerned with the mundane business of local boards (1858).51 The latter

49 Finer, English Local Government, p. 116; Robert Gutchen: The Genesis of the Local Government Board, 1858 – 1871, Diss. Columbia University, 1966, pp. 66 – 79; Bellamy, Administering Central-­Local Rela­tions, pp. 218 – 19. 50 Hasluck, Local Government in England, pp. 17 – 19. 51 I count 173 local boards of health by 1857. “Local boards of health. Return showing the date of the constitu­tion of all local boards of health acting under the Public Health Act, 1848; the popula­tion of their respective districts according to the census of 1851; the amount of money, if any, borrowed or otherwise raised on the security of the several rates or revenues; the amounts of outlay incurred; the total income and expenditure

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absorbed oversight responsibilities for sanitary works but those concerns were consolidated within longstanding Home Office oversight of local authorities. The separa­tion of routine administra­tion from epidemiological surveillance allowed the Medical Department freedom to campaign for greater power to remedy local failings, but it had no very specific func­tions and little real power.52 But what has been seen as a retreat on public health was defensible as bureaucratic consolida­tion. Ironically, at least some towns adopted public health acts to escape central oversight. The 1861 Highway Act threatened to transfer parish road responsibilities into multi-­parish highway districts. How­ ever much road maintenance was complained of, parishes were loath to lose the responsibility. Opting to incorporate as a local board let them hold that power.53 While these parish-­turned-­local boards were acquiring powers, they were not necessarily using them. In any case, by 1870, prior to the next great wave of reorganizing legisla­tion, there were 224 boroughs, 117 improvement commissions still operating, 637 local boards (overlapping with corpora­tions in some cases), and 404 highway districts.54 Remarkably, it is more in the use of powers by these new local authorities than in the ac­tions of the state, that a coercive tone occurs, particularly with regard to minimal environmental condi­tions. The first-­genera­tion inspectors of nuisances I study were local authority appointees. They had negligible professional or cognitive authority, but the under-­defined category of “nuisances” allowed them broad discre­tion in creating higher standards of health, safety, or decency. From a state growth standpoint, the two acts of parliament which primarily sanc­tioned their work, the Nuisances Removal Act of 1855 and the Local Government Act of 1866, have been seen as unimportant, and the former as anti-­statist and retrogressive. From a local activism standpoint, these acts

of each local board, etc.,” House of Commons Sessional Papers, 1857 Session 2 (328). A few more places are listed in this return but without any indica­tion of forma­tion of a board, which may have been in process. 52 Gutchen, Genesis of the Local Government Board, pp. 65 – 66. Cf. Royston Lambert: Sir John Simon and English Social Administra­tion, London 1965; John Simon: English Sanitary Institu­tions, Reviewed in Their Course of Development, and in Some of Their Political and Social Rela­tions, London 1890. 53 The impact of this provision has been ques­tioned. See Gutchen, Genesis of the Local Government Board; Lipman, Local Government Area; Royston Lambert: Central and Local Rela­tions in Mid Victorian England, in: Victorian Studies 6 (1962), pp. 121 – 50. An 1863 amendment would deny that power to the smallest parishes, however. 54 Lipman, Local Government Areas, p. 73.

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were more important than the better known 1848 Act: they directly e­ mpowered local authorities suspicious of central oversight.55 The crea­tion of the Local Government Board (LGB) in 1871 – 72 is often seen as the final victory over administrative chaos. Finally a way had been found to round up the motley of local government units and transform them into a coherent system of subsidiaries of the central state. The LGB absorbed the Poor Law Board, the LGAO, and the Privy Council’s Medical Department, much to the displeasure of its chief, John Simon, who lost his independent voice as a health reformer. Henceforth an increasingly prominent part of the business of local government would be interacting with the center. Indeed, much of expertise that was coming to be expected of local government officers was expertise in coping with Whitehall – in conducing inspec­tions, executing policies, filling in reports. Macleod notes that in the quarter century after 1870 the annual number of letters dealt with by the Local Government Board rose from 58,000 to 160,000.56 The vast quantity of correspondence overwhelmed the LGB and brought great pressure for standardized decision-­making, one had to know what precedents to apply in particular cases. While it would be too much to say that the ra­tionaliza­tion was retrogressive, the LGB was a union of incompatible administrative cultures. The LGAO existed to encourage local initiative; the Poor Law Board to stamp it out through rigid applica­tion of an inherently punitive law. The medical department needed to react rapidly and flexibly to epidemic threats. But the poor law ethos dominated. The LGB, which was to be the centerpiece of the state’s response to the many and serious problems of urbaniza­tion, found itself regarded as a “bas­tion of conservatism, invincible incompetence, and ceaseless opposi­tion to the changing social needs of an urbanised, industrialised and enfranchised democracy.”57 The accusa­tion is understandable, but it is hard to see how things could have been different: the na­tion relied on the LGB for stability; the mountain of precedent could not quickly be shifted. Where innova­tion in municipal services occurred, that was usually the achievement of towns, particularly large 55 Hamlin, Nuisances and Community. 56 Roy M. MacLeod: Treasury Control and Social Administra­tion: A Study of Establishment Growth at the Local Government Board, 1871 – 1905, Occasional Papers in Social Administra­tion, London 1968. 57 Ibid., p. 8. Bellamy suggests, however, that even as the bureaucracy shifted from liberally educated civil servants to those with legal training, the LGB found it impossible to maintain its rigidity. Bellamy, Administering Central-­Local Rela­tions, pp. 137 – 39, 233 – 34.

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towns like Liverpool or London, which were largely free of LGB supervision: the LGB might incorporate those innova­tions, but usually only long after the relevant technical communities had done so.58 Two addi­tional factors encouraged centraliza­tion and conservativism: one was large-­scale debt. Before mid century local authorities had usually been limited to an annual budget cycle. Lacking significant borrowing powers, they could create public works only bit by bit. Perhaps the most revolu­tionary feature of the 1848 Public Health Act had been its sanc­tioning of debt: on the security of future rates, towns were suddenly able to borrow the huge sums needed for comprehensive sanita­tion and other capital-­intensive works. The main work of the engineering inspectors of the GBH, LGAO, and LGB was confirming technical viability of municipal projects. Their oversight would protect local authorities from promoters of unsound or fraudulent technologies. But with the rapid innova­tion in many fields of urban engineering, it was impossible for the LGB to distinguish wheat from chaff. Simply to maintain the confidence of the financial markets in the purchase of municipal debt, it was best to resist change:59 thus in sewage treatment the LGB would continue to require purchase of irriga­tion land at the rate of 1 acre per 100 persons well after new filtering technologies had obviated the need for such huge spaces.60 The second ra­tionale was infectious disease. While Britain was behind other European na­tions in appreciating the significance of interpersonal transfer of infectious disease, by the late 1870s the value of tracing the movement of infected persons had come to be recognized. The intrinsic advantage an island na­tion had in funneling immigra­tion through a few ports was considerable; not only might a new wave of cholera be blocked (it was in the mid-1880s and in the 1890s), but one might, by much the same means, surveil too the twin threats from Ireland: typhus and Fenianism. One task of local medical officers and their staffs would be to check recently arrived persons, who might have come ashore carrying some serious disease. To Finer, writing in 1933, bacteriology mandated centraliza­tion: “Every individual, every locality, was recognized to be a potential na­tional plague, a cause of disease, which, if not regulated by the minimum standards prescribed by science, might have na­tion-­wide effects.”61 58 Albert Shaw: Municipal Government in Great Britain, New York 1901. 59 Bellamy, Administering Central-­Local Rela­tions, pp. 79 – 107, 124, 234. The LGB leader­ ship did not even trust its own technical staff. 60 C. Hamlin: William Dibdin and the Idea of Biological Sewage Treatment, in: Technology and Culture 29/2 (1988), pp. 189 – 218. 61 Finer, English Local Government, p. 11, 90.

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Of necessity the rigidity of the central state infected the local state. Increasingly the letters exchanged between these entities, and those sent by local authorities to citizens, were form letters. By mid-­century publishers specializing in legal and government printing had recognized that most official correspondence is formulaic. How wasteful then for clerks to copy missives which differ in only a few details. The impact of the form letter, however subtle, was surely profound: it transformed the unique complaint or query that had once brought a thoughtful and often sympathetic response from an official into an object to be classified and cleared from one’s desk in the most expedient way. There is a change in tone. In my studies of inspectors of nuisances, I have found little that smacks of officiousness before 1890. Thereafter, officials often seem to be barricading themselves behind intimidating clusters of code viola­tions, local and na­tional. Respectful requests become legalistic demands. Not only was the LGB itself riven by conflicting administrative missions, the network of authorities it administered still resisted ra­tionaliza­tion. It did not integrate all local government func­tions. Police and judiciary remained separate. Educa­tion boards were integrated only in 1902.62 There remained embarrassing boundary anomalies: the legacy of ad hoc units was not easily repaired. To e­ stablish uniformity of powers, The Public Health Act of 1875 had designated existing local boards (whether they had originated under the public health acts, as improvement commissions, or as municipal corpora­tions) as urban sanitary districts (USD). Any remaining parts of a poor law union were designated a rural sanitary authority (RSD). In principle, the division may suggest recogni­tion that urban and rural places will need different kinds of services. In fact, because some small places had sometimes adopted the local government act, urban sanitary districts might be significantly rural, while due to industrial reloca­tion, urban sprawl, or suburban development, parts of rural sanitary districts might be significantly urban. But that was not all. In combining parishes into unions, the Poor Law Commissioners in the 1830s had been unconcerned with county boundaries: 181 of the 650 unions crossed county lines. Not all parishes were contiguous areas; hence a single rural sanitary authority might be disconnected spots on a map, in different counties.63 As unions acquired comprehensive func­tions beyond poor law administra­tion, this anomaly became increasingly serious. A series of restructurings culminated in 1894 with conversion of the sanitary districts simply into urban and rural districts. Multiple modes of franchise were replaced by directly elected councils.

62 Lipman, Local Government Areas, p. 167. 63 Ibid., p. 124.

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The technocratic flavor of such reform legisla­tion will be evident. Arthur ­Balfour and Joseph Chamberlain did serve briefly as LGB presidents, but generally that post was not an office for high flyers with prime ministerial aspira­ tions. Much decision-­making was the work of permanent professional staff, Kitson-­Clark’s famous “Statesmen in disguise.”64 In the last two decades of the century, however, politics and ideology did enter with regard to the two ancient units of local government, the county and the parish. Conservatives became intrigued that the largely rural county might serve to balance the liberal and radical power accumulating in large urban districts. Accordingly, cross county unions were not merely irritating embarrassments, they were problematic anomalies that undermined county integrity. Some were thinking of the county, and the parish (along with the new urban or rural districts), as a single coherent and system of local government: the county would be an intermediary between the overworked and doctrinaire LGB, and the more local units, both the urban and rural authorities, and the parish. Each embodied a distinct democratic ideal: the county would be the democracy of landowners, the parish that of the agricultural laborer.65 Oddly, despite all the ra­tionalizing of governmental units during the middle of the century, both county and parish had retained important func­tions. Their status as units of highway administra­tion led to parishes being designated sewer authorities in 1866. Through the magistracy and quarter sessions, counties remained important for juridical purposes. In fact, the County Councils Act of 1888 did not bring significant devolu­ tion of LGB powers. The parish, however did thrive, but as a very different entity than it had been at the beginning of the century. For many persons, through the accident of the place of birth, that parish had dominated one’s existence. That parish had been the primary unit of community, and even, for some, of a modest democracy, but hardly one of individual freedom. Yet to fin de siècle social thinkers, like the Webbs, William Morris, or the distributists G. K. ­Chesterton and Hillarie Belloc, searching for an alternative to industrial capitalism and class conflict, the parish was full of fascinating possibility, as the locus of face-­to-­face political life, the founda­tion equally of community 64 G. Kitson Clark: “Statesmen in Disguise”: Reflexions on the History of the Neutrality of the Civil Service, in: The Historical Journal 2 (1959), pp. 19 – 39. 65 Lipman, Local Government Areas, 1834 – 1945, pp. 159 – 64. Some felt, however, that responsible democracy could not be left to the people – in the name of effective government, it might sometimes be necessary to combine historical parishes with few residents into a modern consolidated parish – union making all over again.

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and democracy, the way to a revolu­tion-­free social renewal. Their hopes were illusory, though the illusion continues to sustain fascina­tion with local units of government. In most respects, however, the new parish was merely a decora­tion, the powerless bottom layer of a comprehensive system of local government. In fact there was no escaping na­tional (and global politics). The Local Government Board set the rules, rural or urban councils executed them, leaving the parish to dabble in its duck pond.

Felix Heinert

Der Rigaer städtische Schlachthof, der (koschere) Fleischmarkt und die Aushandlungen des Schlachtzwanges um 1900, oder: Wie „der Staat“ gerufen wurde Lange Zeit interessierten sich Forschungen zur Ausbreitung moderner 1 staat­ licher und obrigkeit­licher Herrschaftsstrukturen – in der Tradi­tion Max Webers – vor allem für die Implementierung oder das Scheitern (zentral-)staat­licher Herrschaftsansprüche. Diese idealtypisch-­verkürzende Perspektive ist spätestens mit der Forderung von Alf Lüdtke, „Herrschaft als s­ ozia­le Praxis“ zu denken und zu analysieren, konzep­tionell ins Wanken geraten.2 Dennoch bleibt das Plädoyer aktuell, ­dieses Forschungsprogramm sowie seine kommunika­ tions- und kulturhistorischen Weiterentwicklungen 3 empirisch umzusetzen, die Aushandlungen moderner Herrschaft und Staat­lichkeit in verschiedenen

1 Wenn im Folgenden von moderner Staat­lichkeit und Herrschaft die Rede ist, dann kann man diese (durchaus normative) Kategorisierung nicht zuletzt explizit auf den ausdrück­lichen oder implizierten Modernitäts- und Modernisierungsanspruch aus den zeitgenös­sischen Quellen beziehen. 2 Siehe Alf Lüdtke: Einleitung. Herrschaft als ­sozia­le Praxis, in: ders. (Hg.): Herrschaft als ­sozia­le Praxis. Historische und sozia­l-­anthropolo­gische Studien, Göttingen 1991, S.  9 – 63. 3 Aus der umfangreichen, stark ausdifferenzierten Literatur siehe exemplarisch die folgenden Arbeiten mit programmatischem Anspruch: Peter Becker: Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Verwaltung, in: Nico Randeraad (Hg.): Forma­tion und Transfer städtischen Verwaltungswissens, Baden-­Baden 2003 (Jahrbuch für Euro­päische Verwaltungsgeschichte, 15), S. 311 – 336; ders./Rüdiger von Krosigk: New Perspectives on the History of Bureaucratic and Scientific Subjects, in: dies. (Hg.): Figures of Authority. Contribu­tions towards a Cultural History of Governance from the Seventeenth to the Twentieth Century, Brüssel 2008, S. 11 – 26; Peter Becker: Sprachvollzug: Kommunika­tion und Verwaltung, in: ders. (Hg.): Sprachvollzug im Amt: Kommunika­tion und Verwaltung im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2011, S. 9 – 42; Stefan Haas/Mark Hengerer: Zur Einführung: Kultur und Kommunika­tion in politisch-­administrativen Systemen der Frühen Neuzeit und der Moderne, in: dies. (Hg.): Im Schatten der Macht. Kommunika­tionskulturen in Politik und Verwaltung 1600 – 1950, Frankfurt am Main, New York 2008, S. 9 – 22.

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„Kräftefeldern“,4 sektoralen Aushandlungsräumen sowie lokalen, regionalen oder auch na­tionalen und imperialen Kontexten 5 zu analysieren und dabei, was selten geschieht und im Folgenden versucht wird, verschiedene und auch vermeint­lich ‚stumme‘ oder ‚subalterne‘ Akteure in die Analyse einzubeziehen. So stellt Florian Schui nicht ganz zu Unrecht, wenngleich sicher­lich etwas pauschal, am Ende seines begriffshistorischen Beitrags zum Problem des (‚west­ lichen‘) Steuerstaates fest: „Bisher fehlt ,Kommunika­tion‘ noch gänz­lich in den Untersuchungskategorien der Steuergeschichtsschreibung.“6 Dies ist ledig­lich ein Beispiel dafür, dass unser Wissen über Herrschaft als ­sozia­le Praxis und als Aushandlungsprozess noch nicht befriedigend oder gar erschöpfend ist und viele grundsätz­liche Mechanismen, Aushandlungsgrammatiken sowie lokale/ regionale und sonstige Dynamiken noch auf ihre Erforschung und vergleichende sowie beziehungsgeschicht­liche Einordnung warten. Dieser Beitrag knüpft an diese und ähn­liche Überlegungen, Erkenntnisinteressen und Desiderata an. Der vorliegenden Fallstudie zum Rigaer Schlachthof geht es um die Verortung spezifischer Aushandlungen auf der soeben kurz entfalteten allgemeinen Erkenntnisfolie. War die Schlachthof- und Fleischmarktgeschichtsschreibung lange Zeit eher eine exotische Nischenveranstaltung mit beschränkter bis kaum vorhandener Anschlussfähigkeit an allgemeinere geschichtswissenschaft­liche Fragen und Diskurse,7 so hat sie sich inzwischen zu einem überschaubaren, aber dynamischen Feld entwickelt, in dem kultur-,

4 Siehe zum Begriff Lüdtke, Einleitung. Herrschaft als ­sozia­le Praxis, S. 12. 5 Für die russländische Geschichte siehe z. B. die empirischen Arbeiten von: Susanne Schattenberg: Die korrupte Provinz? Rus­sische Beamte im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main, New York 2008; David Feest: Den Staat in die Gemeinden bringen: Friedensvermittler und die Institu­tionalisierung von Staat­lichkeit auf dem rus­sischen Dorf nach 1861, in: Jörg Baberowski/David Feest/Maike Lehmann (Hg.): Dem Anderen begegnen. Eigene und fremde Repräsenta­tionen in sozia­len Gemeinschaften, Frankfurt am Main, New York 2008, S. 21 – 36; Jörg Ganzenmüller: Rus­sische Staatsgewalt und polnischer Adel. Elitenintegra­tion und Staatsausbau im Westen des Zarenreiches (1772 – 1850), Köln, Weimar, Wien 2013. 6 Florian Schui: Zum Begriff des Steuerstaats, in: Becker (Hg.): Sprachvollzug im Amt, S. 107 – 130, hier 128. Siehe dazu nun eine empirisch gesättigte steuerhistorische Darstellung von Aushandlungen in preußischen Städten in: ders.: Rebellious Prussians: Urban Culture under Frederick the Great and his Successors, Oxford 2013, S. 101 – 143 (Kap. 4 „Taxa­tion and ist Discontents“). 7 Exemplarisch für diese Art älterer Schlachthofhistoriografie: Stefan Tholl: Preußens blutige Mauern. Der Schlachthof als öffent­liche Bauaufgabe im 19. Jahrhundert, ­Walsheim 1995.

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sozia­l-, politik-, wissenschafts-, hygiene-, stadt-, umweltgeschicht­liche und andere Ansätze fruchtbar aufeinander treffen und neue geschichtswissenschaft­ liche Erkenntnisse weit über die Schlachthoffrage hinaus zu Tage fördern.8 Doch es gibt zahlreiche Desiderata und insbesondere fehlen fundierte Lokalund Regionalstudien, die grenzüberschreitende Diskurse und Entwicklungen auf ihre spezifischen Aushandlungen vor Ort hin befragen. Entsprechende Studien zu ost(mittel)euro­päischen Schlachthofdiskursen und Aushandlungen sucht man vergeb­lich und diese regionalen Perspektiven werden auch kaum in die interna­tionale Diskussion eingebracht.9 8 Siehe dazu exemplarisch die Beiträge in: Paula Young Lee (Hg.): Meat, Modernity, and the Rise of the Slaughterhouse. Durham, Hanover, London 2008 sowie den folgenden, vergleichend angelegten Aufsatz: Roger Horowitz/Jeffrey M. Pilcher/Sydney Watts: Meat for the Multitudes: Market Culture in Paris, New York City, and Mexico City over the Long Nineteenth Century, in: The American Historical Review 109/4 (2004), S. 1055 – 1083. Zur Frühen Neuzeit etwa: Sydney Watts: Meat Matters. Butchers, Politics, and Market Culture in Eighteenth-­Century Paris. Rochester 2006. Siehe auch die kurze arbeitshistorische Projektskizze von Lukasz Nieradzik: Butchering and the Transforma­ tion of Work in the 19th Century: The Viennese Slaughterhouse Saint Marx, in: Interna­ tional Journal of Humanities and Social Science 2/17 (2012), S. 12 – 16. 9 Zugleich muss sich aber die Historiografie zu ost(mittel)euro­päischen Städten in allgemeinen, auch kulturhistorisch inspirierten geschichtswissenschaft­lichen Diskussio­ nen über Stadtassanierung und stadthygienische Interven­tionen nicht den Vorwurf methodischer oder theoretischer Rückständigkeit gefallen lassen. Siehe insbesondere die anregenden stadthygienehistorischen Abschnitte in den folgenden Arbeiten, die, bei allen Unterschieden der Untersuchungsobjekte, Fragestellungen und Erkenntnisse, zum Teil durchaus in ähn­liche Richtungen wie der vorliegende Beitrag argumentieren: Anna Veronika Wendland: „Europa“ zivilisiert den „Osten“: Stadthygienische Interven­ tionen, Wohnen und Konsum in Wilna und Lemberg 1900 – 1930, in: Alena Janatková/ Hanna Kozińska-­Witt (Hg.): Wohnen in der Großstadt: 1900 – 1939. Wohnsitua­tion und Modernisierung im euro­päischen Vergleich, Stuttgart 2006, S. 271 – 295; Alexander M. Martin: Sewage and the City: Filth, Smell, and Representa­tions of Urban Life in Moscow, 1770 – 1880, in: Russian Review. An American Quarterly Devoted to Russia Past and Present 67/2 (2008), S. 243 – 274 sowie die Abschnitte zum Heumarkt in: Hans-­Christian Petersen: „… not intended for the Rich“. Public Places as Points of Identifica­tion for the Urban Poor ‒ St. Petersburg (1850 – 1914), in: ders. (Hg.): Spaces of the Poor. Perspectives of Cultural Sciences on Urban Slum Areas and Their Inhabitants, Bielefeld 2013, S. 71 – 95; speziell zu Fleisch- (und teilweise auch zu Schlachthof)Imagina­tionen aus einer eher literaturhistorischen Perspektive: Mieka Erley: Meat in Russia’s Modernist Imagina­tion, in: Olga Matich (Hg.): Petersburg. Novel and City, 1900 – 1921, Madison 2010, S. 262 – 282. Zu Schlachthausreformen im Moskau der spätimperialen Zeit siehe nun das Kapitel „Animal bodies for the human good? The public abbatoir and the slaughtering reform“

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Die Handlung in meiner Erzählung spielt in Riga, der livländischen Gouverne­ments-­Hauptstadt an der nordwest­lichen Peripherie des Russländischen Reiches. Insofern beansprucht das konkrete Sujet meiner Erzählung nicht, eine ‚Repräsentativität‘ für die Vielzahl anderer (kleinerer) Orte der Ostseeprovinzen des Russländischen Reiches oder des gesamten Imperiums. Herrschaft als „sozia­le Praxis“ im Allgemeinen und die Implementierung bestimmter herrschaft­licher und staat­licher Ansprüche im Besonderen sind vielmehr kontext- und ortsgebunden, außerdem akteurszentriert und darüber hinaus situativ zu verstehen, auch wenn es dabei um zum Teil grundsätz­lich ähn­liche und auch aufeinander bezogene Diskurszusammenhänge, Wissensbestände, Konfliktlagen und Aushandlungsgrammatiken gehen konnte und ging. Schon eher waren es im Falle der zeitgenös­sisch so genannten Schlachthausfrage,10 wie zu zeigen sein wird, bemerkenswert ähn­liche grenzüberschreitende Wissenszirkula­tionen, die lokal unterschied­lich instrumentalisiert und ausgehandelt werden konnten.

1. Aushandlungen des Schlachtzwanges (in und jenseits von Riga) um 1900, oder: Wie der Staat gerufen wird Städtische Schlachthöfe waren um 1900 nicht nur in Riga und nicht nur im Russländischen Reich Orte, an denen Kompetenzen des Staates sowie der lokalen Verwaltungen und ihrer Rolle darin neu vermessen und ausgehandelt aus der 2015, nach dem Abschluss der Arbeit an dem vorliegenden Aufsatz verteidigten Disserta­tionsschrift von Anna Mazanik: Sanita­tion, Urban Environment and the Politics of Public Health in Late Imperial Moscow. A Disserta­tion in History presented to the Faculties of the Central European University in partial fulfillment of the requirements for the Degree of Doctor of Philosophy, Budapest, S. 126 – 181. 10 Zur zeitgenös­sischen Verwendung des Begriffs siehe etwa den Titel der folgenden Publika­tion aus dem Kaiserreich: Die Schlachthaus-­Frage. Ein Versuch zur Nachweisung ihrer großen gemeinnützigen Bedeutung, zur Widerlegung der dagegen sich geltend machenden Bedenken und zur Darlegung der Ausführbarkeit der Errichtung allgemeiner öffent­licher Schlachthäuser auch für kleinere Städte, zur unbefangenen Prüfung und Beherzigung verstellt vom Vorstande des unter dem Protektorate Sr. Königl. Hoheit des Großherz. V. Mecklenb.-Str. stehenden Tierschutz-­Vereins zu Neubrandenburg, Neubrandenburg 1884. Zur lokalen Begriffsverwendung in den Rigaer (deutschsprachigen) Quellen siehe z. B. die Rigaer Ratssitzungsprotokolle aus dem Jahr 1877 in: Dokumentensammlung des Herder-­Instituts Marburg (im Folgenden: DSHI) 510 Riga, Publica, Bd. 363, Bl. 566, 618, 620 f.

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wurden. Aus der Perspektive der jahrzehntelangen Aushandlungen um die kommunalen Fleisch- und Viehmarktaufsichtskompetenzen sowie am Beispiel des 1897 – nach längerem Vorlauf – gegründeten Rigaer städtischen Schlachthauses lässt sich die Linearität einer etatistischen Erzählung vom Vorrücken des Staates in die Fläche besonders gut in Frage stellen. „Der Staat“ – ohnehin ein Abstraktum mit einer methodolo­gisch verbreiteten, hochproblematischen Subjektzuschreibung 11 – rückte nicht einfach vor und kam nicht, weil er kommen musste. Es war kein naturgegebener Prozess. In Riga jedenfalls (und vermut­lich auch an vielen anderen Orten) wurde der Staat gerufen, und zwar von ganz konkreten Akteuren in ganz konkreten Situa­tionen, mit je verschiedenen Interessen und auf je unterschied­liche Weisen. Diese Perspektivenverschiebung hat Konsequenzen für die Darstellung. Es geht um eine Erzählung von Aushandlungen und Konflikt, von Machtkampf, Interessenlagen und Kräfteverschiebungen, von Dominanzansprüchen und ihren sukzes­siven, konfliktreichen Durchsetzungen sowie von Staatsanrufungen und Aushandlungsstrategien der ‚Schwächeren‘,12 die oft genug in den zeitgenös­sischen und historiografischen Erzählungen vom Vorrücken des Staates entweder analytisch ganz ausgeblendet, als passive Zuschauer ohne Akteursstatus vorgestellt werden oder als potenzieller Störfaktor für die Durchsetzung moderner Staat­ lichkeit erscheinen. Außerdem sprechen inhalt­liche Gründe für die Umkehrung der etatistischen Perspektive. Nicht nur waren es, wie ebenfalls zu zeigen sein wird, lokale Eliten, die sich um den Rigaer Rat, die beiden Gilden und andere Institu­tionen und

11 Pierre Bourdieu hat in seinen Vorlesungen „Über den Staat“ das Problem treffend formuliert und auf den Punkt gebracht: „Sie werden in Büchern mit ‚theoretischem‘ Anspruch unglaub­lich viele Sätze finden, in denen der Staat das Subjekt ist. Diese Hypostase des Wortes Staat ist alltäg­liche Theologie. Aus dem Staat das Subjekt von Aussagesätzen zu machen ist jedoch praktisch sinnlos.“ Pierre Bourdieu: Über den Staat. Vorlesungen am Collège de France 1989 – 1992, Berlin 2014, S. 178 – 179. 12 Ich grenze mich mit dem Begriff „Schwächere“ konzep­tionell und begriff­lich bewusst von James C. Scotts einflussreicher und insgesamt durchaus fruchtbarer Studie Weapons of the Weak ab, weil bei Scott und in vielen Arbeiten, die an ihn anknüpfen, der Akteursstatus der „Schwachen“ auf der konzep­tionellen Ebene im Sinne der genannten Dichotomie analytisch reproduziert wird. Scott, so meine Bedenken, hat den Akteursstatus der subalternen Bauern in erster Linie auf Protest- und Widerstandsformen reduziert, so dass sie bei ihm als Akteure vor allem reagieren, und dies auf ihre subalterne Weise tun: James C. Scott: Weapons of the Weak: Everyday Forms of Peasant Resistance, New Haven 1985.

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seit der (verzögerten) Einführung der allrus­sischen Städteordnung 187713 um die neuen Organe der kommunalen Stadtverwaltung gruppierten und mit der Zentralisierung von Schlachtkompetenzen (so genannter Schlachtzwang)14 sowie der Bündelung von Fleischproduk­tions- und Viehmarktaufsichtskompetenzen bestimmte administrative und wirtschaft­liche Interessen verfolgten und dabei nach dem Eingreifen ‚des Staates‘ riefen. Die Geschichte, die im Folgenden nicht gleichmäßig und zum Teil nur skizzenhaft angedeutet und entfaltet werden kann, wird noch komplexer, wenn dabei kommunalpolitische Aushandlungen um (Sozia­l-)Hygiene, städtische Finanzen, polizei­liche Befugnisse, Fleischeinfuhr nach Riga und andere Aushandlungsfelder in den Blick genommen und mit den Expertisen von bestimmten Expertengruppen (Stadtveterinärärzten, Stadtkämmerern etc.) in Beziehung gesetzt werden. Auf dieser Analyseebene entsteht aus den breit gestreuten archivarischen und gedruckten Quellen ein Bild von einem hochkomplexen Geflecht von Interessen, teilweise kontingenten Aushandlungsdynamiken und Machtverschiebungen, so dass die konkrete Ausgestaltung von Schlachthauskompetenzen in Riga weder vom Petersburger ‚Zentrum‘ aus erfolgte noch von der Rigaer Stadtverwaltung nach einem von Anfang an klar konzipierten Plan umgesetzt wurde. Noch komplexer werden das Gesamtbild und das Zusammenspiel, wenn man in diese Aushandlungen (christ­liche wie jüdische) Metzger, aber auch jüdische Korbsteuerpächter,15

13 Vgl. hierzu zeitgenös­sisch die zweisprachige (rus­sisch-­deutsche) Ausgabe: Die Städte-­ Ordnung für die Baltischen Provinzen mit Einführungs- und Ergänzungs-­Verordnungen. Übersetzt und herausgegeben von Dr. J. Engelmann, Professor, Dorpat 1877 sowie die folgende Publika­tion des Rigaer Rats: Gutachten über die Theilung der Competenzen ­zwischen den bisherigen Organen der Stadtverwaltung und den durch die Einführung der Städteordnung zu schaffenden neuen Verwaltungs-­Institu­tionen. Auf Verfügen des Rigaschen Raths als Manuscript gedruckt, Riga 1878. 14 Zum Begriff Schlachthaus/Schlachtzwang siehe programmatisch die zeitgenös­sische Publika­tion aus dem Kaiserreich: Heinrich Anton Mascher: Wesen und Wirkungen des Schlachthauszwanges. Vortrag gehalten auf dem 13. Westfäl­lischen Städtetage zu Witten am 8. Juni 1888 von Dr. H. A. Mascher, Bürgermeister. Dortmund 1888. Vgl. außerdem den Titel der folgenden Ortsstatuten der Rigaer Stadtverwaltung: Ergänzungen zum Ortsstatut über den Viehhandel, den Schlachtzwang und die Fleischbeschau. Izdanie Rižskago Gorodskago Upravlenija, Riga 1898. 15 Die Korbsteuer (rus­sisch korobočnyj sbor) wurde im Zarenreich (im jüdischen Ansiedlungsrayon, in Riga und in Kurland) auf jedes geschlachtete bzw. in einer Ortschaft verkaufte Stück Koscherfleisch erhoben, wobei die Erhebung der Steuer und deren Abführung an die Obrigkeit in der Regel von einem wohlhabenden jüdischen Korbsteuerpächter vorgenommen wurde, der mit der Pachtung der Steuer bestimmte

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Koscherfleischmetzger und andere einbezieht, die ihre Interessen nicht nur ‚reaktiv‘ in diese Aushandlungen einbrachten, sondern die Aushandlungen bisweilen auch aktiv und zum Teil effektiv erst in Gang setzten. Letztere Aushandlungen können allerdings im ­kurzen Rahmen ­dieses Aufsatzes nur ausblickartig angedeutet werden. Das komplexe Zusammenspiel von Wissensbeständen, Interessen und Aushandlungsmodi im Rahmen einer Fallstudie in groben Zügen zu rekonstruieren ist das Ziel des Beitrags. Hierbei könnte man, wie im Folgenden deut­lich werden sollte, unter anderem vom Vorrücken der Stadt Riga in die Fläche sprechen, wobei dieser Prozess – trotz offensicht­licher partikularer Interessen – im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert argumentativ zunehmend nicht zuletzt durch die Berufung auf gesamtstaat­liche Interessen vorangetrieben wurde.

2. Der Ort des Schlachtens um 1900: Grenzüberschreitende Wissenszirkulationen, lokale Aushandlungen Wenn, wie bereits betont, städtische Schlachthöfe um 1900 nicht nur im Russländischen Reich Orte waren, an denen Kompetenzen des Staates bzw. der kommunalen Verwaltungen neu vermessen und ausgehandelt wurden, dann schöpften diese Wissensbestände, Zivilisierungsformeln 16 und Politiken zum

wirtschaft­liche Interessen verfolgte. Zugleich wurde die Steuer um 1900 und v. a. nach 1905 diskursiv zu einer hochpolitischen Angelegenheit. Zur Korbsteuer allgemein siehe Julij I. Gessen: K istorii korobočnago sbora v Rossii, in: Evrejskaja starina. Trechmesjačnik Evrejskago Istoriko-­Etnografičeskago Obščestva 3, 3/4 (1911), S. 305 – 47, 484 – 512. Vgl. auch meine Fallstudie zu Riga in: Felix Heinert: (Re)Locating Jewishness and Representing Jewish Community in Riga Before and After 1905: Urban Elites, Local Politics, Cultural Self-­Representa­tions, and Intracommunal Conflict, in: Felicitas Fischer von Weikersthal/Frank Grüner/Susanne Hohler/Franziska Schedewie/Raphael Utz (Hg.): The Russian Revolu­tion of 1905 in Transcultural Perspective. Identities, Peripheries, and the Flow of Ideas. Unter Mitarbeit von Gregory L. Freeze, S. 121 – 139, hier 133 – 139 sowie demnächst ausführ­licher in: Felix Heinert: Imagined Community and Beyond: Riga’s ,Kosher Revolu­tion‘ of 1905 (in Vorbereitung). 16 Der Begriff ist in ­diesem Verwendungszusammenhang begründungs- und erläuterungsbedürftig. Zum Begriff und Phänomen der (imperialen) Zivilisierungsmission vgl. die allgemeine historische Einordnung in: Jürgen Osterhammel: „The Great Work of Uplifting Mankind“. Zivilisierungsmission und Moderne, in: Boris Barth/Jürgen ­Osterhammel (Hg.): Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005, S. 363 – 425. Für die produktive Verwendungsmög­lichkeit

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Teil aus bemerkenswert ähn­lichen Argumenta­tionsmustern sowie aufeinander bezogenen Zita­tionssystemen und Referenzzusammenhängen. Auch in Riga wie an vielen anderen Orten (West-, Zentral- und Ost-)Europas reisten Experten im Auftrage der Stadtverwaltungen, der Sanitätskommissionen und anderer Organe durch Europa (und teilweise darüber hinaus),17 um Erfahrungen und Planungen abzugleichen, wenn es darum ging, kommunale Schlachthöfe zu gründen, Vieh- und Fleischmärkte neu zu ordnen, Schlachtzwang einzuführen,

im allgemeinen deutschbaltischen Kontext der Ostseeprovinzen siehe den weiterführenden Ausblick zum Problemzusammenhang von „Zivilisierung und Deutschbalten“ in: Mathias Mesenhöller: Ständische Modernisierung. Der kurländische Ritterschaftsadel 1760 – 1830, Berlin 2009, S. 447 – 472. Für den Kontext der rus­sisch(sprachig)en liberalen (opposi­tionellen) Intelligenzija des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und ihre (Selbst) Konzepte von ,Zivilisa­tion‘ (civilizacija), ,Kultiviertheit‘ (kul’turnost’), ,Rückständigkeit‘ oder ,geistiger Dunkelheit‘ (temnota) siehe etwa: Igor Narskij: Intellectuals as Missio­ naries. The Liberal Opposi­tion in Russia and their No­tion of Culture, in: Studies in East European Thought 62, 3/4 (2010), S. 331 – 352. Zu allgemeinen stadthygienischen Zivil­siierungsdiskursen in Ost(mittel)europa siehe noch einmal Wendland, „Europa“ zivilisiert den „Osten“, S. 271 – 295. Zu globalen Verflechtungen sowie Parallelen und Unterschieden z­ wischen der „Erziehung zur Arbeit“ in den Kolonien des Kaiserreiches auf der einen Seite sowie entsprechenden bürger­lichen Zivilisierungsmissionen gegenüber den Unterschichten, Arbeitslosen und anderen Subalternen in Deutschland auf der anderen Seite siehe Sebastian Conrad: „Educa­tion for Work“ in Colony and Metro­pole: The Case of Imperial Germany, c. 1880 – 1914, in: Harald Fischer-­Tiné/­Susanne G ­ ehrmann (Hg.): Empires and Boundaries: Rethinking Race, Class, and Gender in Colonial Settings, London 2009, S. 23 – 40. Speziell zum Zivilisieren des Schlachtens im (metropolitanen) Großbritannien siehe schließ­lich: Chris Otter: Civilizing Slaughter: The Development of the British Public Abbatoir, 1850 – 1910, in: Lee (Hg.): Meat, Modernity, and the Rise of the Slaughterhouse, S. 89 – 106. Meine These läuft darauf hinaus, dass in Riga generell und im lokalen Schlachtzwangdiskurs im Besondern sowohl grenzüberschreitende wie lokale/regionale Zivilisierungsformeln verhandelt wurden. Trotz der unterschied­lichen, auch polylingualen Kontexte, in die diese Zivilisierungsdiskurse vor Ort und durch die Mobilität von Akteuren und Medien eingebettet waren, waren sie für viele lokale Akteure als ­solche dechiffrierbar, verständ­lich oder selbstevident. 17 Zu reisenden kommunalen Experten, wandernden Technologien und Regelwerken und allgemein zur Transna­tionalisierung und teilweise auch Globalisierung von Wahrnehmungs- und Handlungshorizonten kommunaler Selbstverwaltungen im 19. Jahrhundert in Europa, Nordamerika und teilweise darüber hinaus siehe die weiterführende Diskussion in: Pierre-­Yves Saunier: Introduc­tion: Global City, Take 2: A View from Urban History, in: Pierre-­Yves Saunier/Shane Ewen (Hg.): Another Global City: Historical Explora­tions into the Transna­tional Municipal Moment, 1850 – 2000, New York 2008, S. 1 – 18, hier v. a. 9 – 10, 16.

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das heißt kommunale Schlachthauskompetenzen zu monopolisieren, um private Schlachtbetriebe einer Kontrolle zu unterwerfen oder zu schließen. Die umfangreichen Berichte dieser Experten zirkulierten grenzüberschreitend durch die einschlägigen Fachbibliotheken und wissenschaft­lichen Vereine. Wenn zum Beispiel Julius Hennicke 1866 im Auftrage des Magistrats der Stadt Berlin den Bericht über Schlachthäuser und Viehmärkte in Deutschland, Frankreich, Belgien, Italien, England und der Schweiz 18 erstattete, dann stand er – neben den Berichten aus anderen Orten – selbstverständ­lich auch in der Bibliothek des im selben Jahr ins Leben gerufenen Rigaer Sanitäts-­Comités.19 Im Frühjahr 1877 wurden schließ­lich dem Rigaer Magistrat und den Gilden der Stadt zwei nahezu gleichnamige Schriften vorgelegt,20 in denen es um die Stadtreinigung und Stadtentwässerung ging und die sich explizit auf grenzüberschreitende Diskurse, Expertisen und Reiseerfahrungen stützten.21

18 Julius Hennicke: Bericht über Schlachthäuser und Viehmärkte in Deutschland, Frankreich, Belgien, Italien, England und der Schweiz. Im Auftrage des Magistrats der König­ lichen Haupt- und Residenzstadt Berlin erstattet von Julius Hennicke, Baumeister, Berlin 1866. 19 Zu den Bibliotheksbeständen, der Bibliotheksgeschichte und der Bibliothekszielsetzung siehe Eugen von Bochmann: Bibliothek der Sanitäts-­Kommission zu Riga. Katalog. Zusammengestellt von Dr. med. Eugen v. Bochmann, Mitglied der Sanitäts-­ Kommission u. Bibliothekar, Riga 1890, S. VII ‒IX (deutschsprachige Einleitung) sowie S. 42 (Nachweis über das Vorhandensein des Buches von Hennicke in der Bibliothek). Die grenzüberschreitende wissenschaft­liche Vernetzung der Bibliothek, die sich in ihrem Katalog manifestierte, ist von Eugen von Bochmann, der uns noch im Folgenden begegnen wird, auf S. VIII ‒IX dokumentiert. 20 Eugen von Bochmann: Reinigung und Entwässerung der Städte. Eine hygienische Studie von Dr. med. E. Bochmann, Mitglied des Sanitäts-­Comité in Riga, Riga 1877. Die Publika­tion erschien in der Veröffent­lichungsreihe des Rigaer Sanitäts-­Comités. Im Falle der zweiten Schrift handelte es sich um: H. Malcher: Die Reinigung und Entwässerung der Stadt Riga. Denkschrift Einem Wohledlen Rath der Kaiser­lichen Stadt Riga überreicht von H. Malcher, Riga, Moskau, Odessa 1877. Biografische Informa­tionen zu Malcher bei Rudolf Mumenthaler: Im Paradies der Gelehrten. Schweizer Wissenschaftler im Zarenreich (1725 – 1917), Zürich 1996, S. 522 – 523. Malcher kam aus der Schweiz (über Mähren) nach Riga und bekam das zweite Lehramt für die Ingenieurwissenschaften am Rigaer Polytechnikum. Er war folg­lich für akademische Bereiche wie Straßen, Eisenbahn- und Wasserbau, aber auch niedere Geodäsie und Situa­tionszeichen zuständig. 21 Zur persön­lichen Übersendung der beiden Schriften an den Rigaer Rat im Frühjahr 1877 siehe die Ratsprotokolle in: DSHI 510 Riga, Publica, Bd. 363, Bl. 310 – 311, 364, 550. Die Vervielfältigung der Schrift von Malcher wurde schließ­lich durch den Rat „in Berücksichtigung der großen Wichtigkeit der Canalisa­tionsfrage für Riga“ subven­tioniert (ebenda,

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Der Autor einer der beiden dem Magistrat vorgelegten Schriften über Reinigung und Entwässerung der Städte war Dr. med. Eugen von Bochmann, seit 1866 zunächst einer der federführenden Mitglieder in dem erwähnten temporären ärzt­lichen Sanitäts-­Comité, seit 1867 eines der Gründungsmitglieder und Bibliothekar der magistratsnahen ständischen und seit 1878 Mitglied der städtischen Sanitäts-­Kommission. 1882 verfasste von Bochmann schließ­lich im Auftrage des neuen Stadtamtes das Programm zu einem Centralschlachthaus und Viehmarkt in Riga, das als Vorlage für die 1897 realisierten Pläne diente und sich „auf die aus persön­licher Anschauung einer grösseren Anzahl neuerer Schlachthausanlagen gewonnene Erfahrung“22 stützte. Die Wissenszirkula­tionsprozesse waren grenzüberschreitend,23 die Aushandlungen vor Ort dagegen – trotz gewisser Ähn­lichkeiten – durchaus spezifisch, vor allem auf der Akteurs- und Aushandlungsebene. Denn es ging, jedenfalls kann man das für Riga gut zeigen, nicht zuletzt auch um handfeste partikulare Interessen und die Frage, wer sie am geschicktesten mit dem „Gemeinwohl“ verschränken und wer „den Staat“ auf seine Seite ziehen konnte. Bl. 311). Die im Auftrag des (im Folgenden eingehend zu erwähnenden) magistrats­ nahen ständischen Sanitäts-­Comités veröffent­lichte Studie von Bochmanns wurde an die beiden Rigaer Gilden weitergeleitet (ebenda, Bl. 550). Der von Malcher befürwortete Vorschlag eines Ratsmitgliedes, Malcher möge auf der Kur- und Forschungsreise nach Mitteleuropa auch die mit der „Canalisa­tionsfrage“ eng verbundene und ebenfalls offene „Schlachthausfrage“ bautechnisch studieren und hierfür eine weitere Subven­tion erhalten, wurde jedoch schließ­lich abgelehnt, „da diese Frage durch die betreffenden Arbeiten des Stadtarchitekten Felsko bereits in jeder Beziehung erledigt wurde“, so jedenfalls die entsprechende Antwort im Sommer 1877, in dem das Rigaer Cassa-­Collegium das Projekt des Stadtarchitekten Felsko einzig in der Frage der Kostenberechnung nicht abschließend durchsehen und bewerten konnte (ebenda, Bl. 565 – 566, 618, 620 – 621). Zum Rigaer Stadtarchitekten Felsko siehe mit einigen biografischen und architekturhistorischen Informa­tionen: Daina Lāce: Die Tätigkeit des Rigaer Hauptarchitekten Johann Daniel Felsko, in: Lars Olof Larsson (Hg.): Studien zur Kunstgeschichte im Baltikum, Kiel 2003, S. 71 – 86 sowie dies.: Pirmais Rīgas pilsētas arhitekts Johans Daniels Felsko (1813 – 1902), Riga 2012. 22 Eugen von Bochmann: Programm zu einem Centralschlachthaus und Viehmarkt in Riga. Im Auftrage des Rigaschen Stadtamts entworfen von Dr. med. E. Bochmann, Mitglied der Sanitätskommission, Riga 1882, S. 6. 23 Zu den reisenden Verwaltungsbeamten siehe auch die Beobachtungen im Abschnitt „Reisende Experten – Kartographien der Schlachthäuser“ in: Alexandra Przyrembel: Verbote und Geheimnisse. Das Tabu und die Genese der euro­päischen Moderne, Frankfurt am Main 2011, S. 295 – 298 sowie noch einmal allgemein Saunier: Introduc­ tion: Global City.

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3. Civilizing Slaughter Die „Schlachthausfrage“ – bereits im 19. Jahrhundert, auch in Riga, als ­solche benannt und dramatur­gisch verdichtet – war vielerorts grundsätz­lich eine diskursive Frage der Aushandlungen der Deutungshoheit über „das“ Gemeinwohl 24 und zugleich eine Frage der Verwissenschaft­lichung, der Kontrolle, der Disziplinierung und der „Zivilisierung“ der Fleischproduk­tion und -versorgung. Es ging – mit lokalen und schwerpunktmäßigen Betonungs- und Gewichtungsunterschieden – auch in Riga um Hygiene, Epidemiologie,25 um öffent­liche Ordnung, die Regulierung des Viehtriebs zu den Schlachtstätten,26 um die, wenn man so will, (nicht nur) sichtbarkeitspolitische 27 sowie 24 Zum zeitgenös­sischen (Kampf)Begriff der „gemeinnützigen Bedeutung“ der Kommunalisierung von Schlachthauskompetenzen vgl. noch einmal den Untertitel in: Die Schlachthaus-­Frage. 25 Zu verwissenschaft­lichten Hygiene- und Epidemiologiediskursen, Diskursen über die öffent­liche Aufsicht über die Fleischproduk­tion und die Schlachthausreformen am Beispiel von Berlin siehe: Dorothee Brantz: Animal Bodies, Human Health, and the Reform of Slaughterhouses in Nineteenth-­Century Berlin, in: Lee (Hg.): Meat, Modernity, and the Rise of the Slaughterhouse, S. 71 – 85. 26 Dies sei hier kurz durch ein Beispiel exemplifiziert. Wie auch viele andere der hier genannten Aspekte materialisierte sich auch diese vielerorts verhandelte Frage schließ­lich als Bestimmung in den entsprechenden Rigaer Ortsstatuten. Siehe dazu: Vom livländischen Gouverneur erlassenes Ortsstatut über den Viehhandel, den Schlachtzwang und die Fleischbeschau, Riga 1909, hier § 2 (S. 50): „Der Viehtrieb zum und vom städtischen Viehhof und Schlachthaus darf nur auf denjenigen Straßen der Stadt erfolgen, w ­ elche von der Stadtverwaltung im Einvernehmen mit dem Polizeimeister bestimmt und öffent­lich bekannt gemacht werden.“ (Der deutsche Titel und die Seitenzahl der Publika­tion von 1909 beziehen sich auf eine dreisprachige (rus­sisch-­deutsch-­lettische) Parallelausgabe der offiziellen Ortsstatuten.) Die einschlägigen Archivakten der Rigaer Stadtverwaltung geben ein eindrück­liches Bild über die bezüg­lichen Diskussionen und Argumente ­zwischen den Unterorganen der Stadtverwaltung und dem Polizeimeister kurz vor der Eröffnung des kommunalen Schlachthofes im Jahre 1897. Siehe dazu Latvijas Valsts Vēstures Archīvs (Historisches Staatsarchiv Lettlands; künftig: LVVA), fonds (Bestand; künftig: f.) 2724, apraksts (Verzeichnis; künftig: apr.) 2, lieta (Akte; künftig: l.) 2502: Delo Rižskago Gorodskago Upravlenija. Sooruženie gorodskoj skotobojni (Ulica dlja prigona skota). 27 Mit Sichtbarkeitspolitik generell sowie mit sichtbarkeitspolitischer Umgestaltung des öffent­lichen Raumes meine ich mehr als etwa die weitaus besser untersuchte allgemeine „Straßenpolitik“, auch wenn beide Phänomene in meinem Verständnis durchaus gemeinsame Schnittmengen haben können. Zur Straßenpolitik (von oben wie von unten) aus einer sozia­lhistorischen Perspektive siehe etwa die klas­sische Studie von:

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geruchspolitische 28 Umgestaltung des öffent­lichen Raumes. Es ging um die öffent­liche Bildökonomie  29 und die Regeln der Sicht- bzw. Unsichtbarkeit der buchstäb­lichen Fleischwerdung der Tiere für den Massenkonsum der Städte, zugleich auch um die „Humanität“30 des seriellen Schlacht- und Schächtvorgangs und um die Entdeckung des Tierschutzes in den modernen Schlachtstätten Thomas Lindenberger: Straßenpolitik. Zur Sozia­lgeschichte der öffent­lichen Ordnung in Berlin 1900 bis 1914, Bonn 1995. 28 Mit Geruchspolitik meine ich Ähn­liches, was Alexandra Przyrembel über das Tabu und die Genese der euro­päischen Moderne allgemein als die „emo­tionale Codierung“ bezeichnet, „die dem hygienischen Diskurs über die Schlachthausfrage bis in das 20. Jahrhundert zugrunde lag“ oder, anders ausgedrückt, die „binäre Codierung von Reinheit und Unreinheit und die daraus resultierenden Gefühle, die den Prozess der (hygienischen) Modernisierung vorantrieben“. Przyrembel, Verbote und Geheimnisse, S. 277. Zur Geschichte des (modernen) Geruchs allgemein siehe auch die klas­sisch gewordene Studie von Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs, Berlin 1984. Zur allgemeinen Geruchs- und Geräuschgeschichte von Petersburg/Leningrad siehe auch den gelungenen, wenn auch teilweise essayistisch gehaltenen Versuch einer Annäherung in: Vladimir V. Lapin: Peterburg. Zapachi i zvuki, Sankt-­Peterburg 2007. 29 Auch mit dem Begriff der Bildökonomie meine ich ähn­liche allgemeine Phänomene und Praktiken starker emo­tionaler Codierung im Sinne von Przyrembel, Verbote und Geheimnisse, S. 277. Dennoch betone ich dabei nicht ausschließ­lich die emo­tionale Codierung dieser Diskurse und Aushandlungen. 30 In diesen Diskussionen ging es nicht nur in Riga keinesfalls nur und auch nicht immer primär um die (vermeint­liche, aber vor der Durchsetzung der Schlachthofdiskurse z. T. auch schlachttechnisch umstrittene) Differenz ­zwischen dem Schlachtvorgang und dem rituellen Schächtvorgang. Zu Großbritannien und dem langen, teilweise bis in die 1930er Jahre währenden (erfolgreichen) Kampf der (christ­lichen) Metzgerzünfte gegen die neuen Schlachttechnologien und Schlachthofreformen siehe Ian MacLachlan: Humanitarian Reform, Slaughter Technology, and Butcher Resistance in Nineteenth-­Century Britain, in: Lee (Hg.): Meat, Modernity, and the Rise of the Slaughterhouse, S. 107 – 126. Zum Kaiserreich, wo sich der allgemeine Schlachthauszwang qua Gesetz durchsetzte, siehe die anregende Diskussion in: Dorothee Brantz: Stunning Bodies: Animal Slaughter, Judaism, and the Meaning of Humanity in Imperial Germany, in: Central European History 35/2 (2002), S. 167 – 194. Auch hier gab es eine komplexe Gemengelage von Interessen und Argumenten. In Deutschland setzen sich die Tierschutzvereine für die „Humanität“ des Schlacht- und Schächtvorganges ein, Metzgerzünfte für ihre berufsgenossenschaft­lichen Rechte und Professionalitätsansprüche und Repräsentanten jüdischer Gemeinden für die Freiheit der Religionsausübung, wobei alle mit relativer „Humanität“ des Schlachtens/Schächtens argumentieren und unterschied­liche verwissenschaft­lichte Argumente bemühen konnten. Siehe auch die einschlägigen Abschnitte im Kap. 9 „Tierliebe: Medien und die Vermittlung von Wissen III“ in Przyrembel, Verbote und Geheimnisse, wo die emo­tionale Codierung dieser Diskurse stark gemacht wird.

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und -fabriken. Letzteres Argument wurde auch in dem Diskurs über die Rigaer „Schlachthausfrage“ im Rahmen der Projektierung des kommunalen Schlacht­ hofes artikuliert, dennoch war es im kommunalen Verwaltungs- und Expertendiskurs keinesfalls zentral, zumal die Regelung des Schächtens über die Korbsteuer 31 letzt­lich den imperialen Gesetzen unterlag und gar nicht in der Kompetenz der Stadtverwaltung lag. Von Bochmann schrieb dazu im Zusammenhang mit der Projektierung des Schlachthauses: Bei den Hebräern werden die Thiere zunächst ,geworfen‘, d. h. es werden denselben an beiden Beinen einer Seite Fesseln angelegt und die Thiere durch plötz­liches Anziehen derselben zu Boden geworden, worauf der Kopf von einer Person in eine ­solche Lage gebracht wird, dass der Hals sich frei präsentirt, der darauf von dem Schächter mit einem Messer, das ganz bestimmt vorgeschriebene Eigenschaften haben muss, in einem Zuge durchschnitten wird. Es liegt auf der Hand, dass in dem Werfen der Thiere sowol als in dem Unterlassen der vorhergehenden Betäubung eine grosse und unnütze Grausamkeit liegt, die wol abzuändern wäre.32 Zugleich wurde auch in Riga eine ähn­liche Diskussion über die sowohl in Riga wie auch im Ausland bei den Nichtjuden relativ verbreitete Technik bzw. Praxis der ähn­lichen Tötung des Kleinviehs und der Schweine ohne „Betäubung“ angemahnt.33 Auch in Riga sollte in der Vorstellung kommunaler Experten die als „human“ gedachte Betäubung durch einen kräftigen Schlag mit einem Beil auf den Kopf des Tieres erfolgen.34 Nicht weniger wichtig als Tierschutzfragen, sondern, wie es scheint, entscheidender waren in diesen kommunalen Debatten Fragen der Aufsicht über die Fleischproduk­tion und Steuereinnahmen sowie die neuen Professionalisierungsansprüche. Diese grenzüberschreitenden Topoi wurden auch in Riga – mit lokalen Varia­tionen und Betonungsunterschieden – zunehmend ganz konkret ausgehandelt. Die Einführung des Schlachtzwanges ging auch in Riga mit einer Zivilisierungsmission einher. Es war ein diskursiver Deutungskampf, der von verschiedenen Akteuren ausgetragen wurde. Es ging um „Gemeinwohl“ versus 31 Siehe dazu Anm. 14. 32 Siehe dazu von Bochmann, Programm zu einem Centralschlachthaus und Viehmarkt in Riga, S. 20. 33 Ebenda, S. 22. 34 Ebenda, S. 20.

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„Eigennutz“, um „Wahrheit“, „Wissenschaft“, „Humanität“, „Kultur“, „Zivilisa­tion“ und „Fortschritt“. Auch hier waren grenzüberschreitende Wissenszirkula­tionen, Argumenta­tionsfiguren und Referenzzusammenhänge handlungsleitend. Seiner 1877 verfassten Denkschrift über die Reinigung und Entwässerung der Stadt Riga stellte von Bochmann als Motto ein Zitat aus der von Dr. med. Karl ­Eigenbrodt wenige Jahre zuvor in Deutschland erschienenen Städtereinigungsschrift 35 voran, wobei der letzeren (Darmstädter) Schrift, wie Eigenbrodt wiederum selbst ausführte, einerseits die zu der Zeit in Deutschland wissenschaft­lich fortschrift­ liche, wenn auch schließ­lich irrtüm­liche miasmatische Choleratheorie Max von Petenkoffers zugrunde lag,36 und andererseits die zeitgenös­sisch ebenfalls einflussreiche Studie des deutschbaltischen Chemikers Carl Schmidt zur Wasserversorgung der Stadt Dorpat,37 die 1863 in der unweit von Riga gelegenen

35 Karl Eigenbrodt: Die Städtereinigung zur Verhütung der steigenden Verunreinigung des Erdbodens unserer Wohnorte, als wichtigste Aufgabe der Sanitätspolizei. Von Dr. med. Eigenbrodt, praktischem Arzt aus Darmstadt. (Mit Zusätzen vermehrter Separatabdruck aus dem ,Correspondenzblatt für die mittelrheinischen Aerzte, Organ für Epidemiologie und öffent­liche Gesundheitspflege‘), Darmstadt, Leipzig 1868. 36 Zur zeitgenös­sischen wissenschaft­lichen und städtebaupraktischen Bedeutung der miasmatischen Hygiene-­Theorie von Petenkoffers (v. a., aber nicht nur) im deutschsprachigen Zentraleuropa siehe etwa die weiterführende Diskussion Sarasins, in der er außerdem zu Recht darauf verweist, dass miasmatische Konzepte die Stadtassanierung im deutschsprachigen Raum (im Gegensatz etwa zu Großbritannien) bis zum Ende des 19. Jahrhunderts und teilweise darüber hinaus in praktischer Hinsicht weitaus nachhaltiger prägten als die neueren bakteriolo­gischen Theorien von Koch: Philipp Sarasin: Die moderne Stadt als hygienisches Projekt. Zum Konzept der ,Assanierung‘ der Städte im Europa des 19. Jahrhunderts, in: Vittorio Magnago Lampugnani/Katia Frey/Eliana Perotti (Hg.): Stadt & Text. Zur Ideengeschichte des Städtebaus im Spiegel theoretischer Schriften seit dem 18. Jahrhundert, Berlin 2011, S. 99 – 112, hier 105 – 109. Am Beispiel der Saratover Sanitärgesellschaft spricht Lutz Häfner für das Russländische Reich aus einer sozia­l- und modernisierungshistorischen Perspektive dagegen von einem „time lag“ und meint damit die im Vergleich zu anderen euro­päischen Referenzländern späte(re) Anerkennung der Bakteriologie ebendort: Lutz Häfner: Hygienediskurse und Sozia­lpolitik in der russländischen Provinz. Die Saratover Sanitärgesellschaft, in: Ortrun Riha/Marta Fischer (Hg.): Naturwissenschaft als Kommunika­tionsraum z­ wischen Deutschland und Russland im 19. Jahrhundert, Aachen 2011, S. 299 – 316, hier 308 – 309. 37 Gemeint ist die folgende Dorpater Studie: Carl Schmidt: Die Wasserversorgung ­Dorpat’s, eine hydrolo­gische Untersuchung von Prof. Dr. C. Schmidt. Aus dem Archiv für die Naturkunde Liv, Ehst- und Kurland’s erster Serie, Bd. III. (pag.  205 – 420) besonders abgedruckt. (Mit einer hydrognostischen Karte der Stadt Dorpat.), Dorpat 1863 (Hervorhebung so im Original der Titelpublika­tion.)

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livländischen Universitätsstadt erschienen war.38 Die Pointe Eigenbrodts, die von Bochmann als Motto für seine Schrift diente, lautete: Ein Fortschritt bedingt und fördert den anderen. Die Förderung der öffent­ lichen Gesundheitspflege hat nicht allein ein medicinisches Interesse, dieselbe ist zugleich auch auf das engste mit dem volkswirthschaft­lichen Gedeihen und auch mit dem sitt­lichen Fortschritt der Bevölkerung verknüpft. Nächst der Volksschule wird durch kein anderes Mittel die sitt­liche Hebung der niederen Klassen sicherer bewirkt, wie durch die Förderung der öffent­lichen und privaten Rein­lichkeit.39

4. Lokale Konfigurationen und Aushandlungen Wer in ­diesem Deutungskampf und Zivilisierungsdiskurs mitreden und mithalten wollte, musste, allerspätestens mit der Gründung des kommunalen Schlachthauses – und eigent­lich schon mindestens ca. zwei Jahrzehnte zuvor, im Zuge der praktischen Zentralisierungsbestrebungen im Bereich der Fleischund Viehmarktaufsicht seit den 1870er Jahren –,40 die zentralen Topoi und Kampfbegriffe ernst nehmen, um partikulare Interessen in eine Gemeinwohlrhetorik zu übersetzen. Die Frontstellungen und Machtasymmetrien waren nicht zufällig, sondern unter anderem durch eingangs zitierte Diskurse einerseits sowie lokale Konstella­tionen andererseits präfiguriert. Die Initiative zur Gründung des bereits erwähnten temporären ärzt­lichen Sanitäts-­Komitees ging zunächst vom Livländischen Gouverneur von Oettingen aus, wobei es hierbei um die Bekämpfung der drohenden Choleraepidemie ging, die bald abflachte.41 Anschließend bemühten sich die ärzt­lichen Mitglieder des temporären Komitees mit weitreichenden Professionalisierungs- und

38 Siehe Eigenbrodt: Die Städtereinigung zur Verhütung der steigenden Verunreinigung des Erdbodens unserer Wohnorte, S. 3 – 4. 39 Von Bochmann: Reinigung und Entwässerung der Städte, S. 1. 40 Siehe dazu etwa von Bochmann: Programm zu einem Centralschlachthaus und Viehmarkt in Riga, S. 5 – 6. Dieses Bild ergibt sich auch aus den bezüg­lichen Archivquellen der ständischen Rigaer Selbstverwaltungsorgane der Zeit. 41 Siehe dazu Eugen von Bochmann/N. Hess: Ueber oeffent­liche Gesundheitspflege und die Wirksamkeit des Sanitäts-­Comité‹s in Riga 1866. Von Dr. N. Hess und Dr. E. B ­ ochmann, Mitgliedern des ärzt­lichen Central-­Sanitäts-­Comité‹s. Auf Verfügen des Stadt-­Cassa-­ Collegiums gedruckt, Riga 1867, S. 4, 24.

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Verwissenschaft­lichungsansprüchen um dessen institu­tionelle Verstetigung und erhielten im November 1866 bereits eine informelle Zustimmung des Petersburger Innenministeriums.42 Diese Initiative der Ärzte bzw. Literaten 43 wurde jedoch vom Rigaer Rat und den beiden Gilden anscheinend als Konkurrenzveranstaltung zum eigenen ständisch-­kommunalen Führungsanspruch gesehen, jedenfalls kann man diese Enttäuschung z­ wischen den Zeilen der Darstellung der federführenden Ärzte aus dem temporären Sanitäts-­Comité deut­lich herauslesen: Nachdem näm­lich noch im November von Sr. Exc. dem Central-­Comité die Bestätigung der vorzustellenden Statuten durch S. Hohe Exc. den Herrn Minister des Innern in Aussicht gestellt worden war, kam dem Comité bald darauf die Mittheilung zu, daß die Stadtverwaltung die Absicht habe, selbst einen ,permanenten städtischen Sanitäts-­Comité‘ ins Leben zu rufen. So sehr nun einerseits auch diese Maassregel der Stadtverwaltung dem Principe nach Anerkennung verdiente, so sehr musste der Comité es andererseits bedauern, daß die genannte Verwaltung nicht früher die Initiative in der Sanitäts-­Angelegenheit ergriffen hatte, da der Comité es sich nicht verhehlen konnte, daß einerseits mit der Ausführung jener Absicht wahrschein­lich die bisherige pecuniäre Unterstützung der Stadt und damit eine sehr wesent­ liche Bedingung seiner Existenz in Wegfall kommen, andererseits bei zweien genau dieselben Zwecke verfolgenden Comité’s nothwendig die Existenz des einen früher oder ­später in Frage gestellt sein würde. Als d ­ arauf die oben erwähnte Absicht der Stadtverwaltung durch den Präses des Comité’s Sr. Exc. mitgetheilt wurde, äußerte derselbe jedoch den Wunsch, die Thätigkeit 42 Siehe die leicht verklausulierte, aber unmissverständ­liche, kritische und mit deut­licher, wenn auch diplomatischer Enttäuschung vorgetragene Darstellung der beiden federführenden Mitglieder des temporären ärzt­lichen Rigaer Central-­Sanitäts-­Comités in: ebenda, S.  24 – 25 sowie 39 – 40. 43 Zum besonderen kommunalpolitischen Status der baltischen Literaten in der ständischen und städtischen Selbstverwaltungsstruktur in den „deutschen“ Ostseeprovinzen des Russländischen Reiches siehe immer noch: Wilhelm Lenz: Der baltische Literatenstand, Marburg an der Lahn 1953. Siehe auch die folgende Erläuterung in: Gerhard Masing: Der Kampf um die Reform der Rigaer Stadtverwaltung (1860 – 1870), Riga 1936, S. 6, Anm. 17.: „Das Recht Bürger gr. Gilde zu werden, hatten die Literaten (akademisch Gebildeten) schon früh aufgegeben. Erst 1863 wurde eine grössere Anzahl Literaten in die grosse Gilde aufgenommen. Nach wie vor wurde ihnen aber die Aufnahme in der Brüderschaft verweigert; erst 1872 wurde sie ihnen dank dem ener­gischen Eintreten des Ältermanns Molien gestattet.“

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des Comité’s hierdurch für’s Erste wenigstens nicht unterbrochen zu sehen, ein Wunsch, dem auch bereitwillige Folge gegeben wurde: nur glaubte der Comité, den Entwurf von Statuten schon jetzt aufgeben zu können, und löste daher die zu ­diesem Zwecke ernannte Commission auf. Als aber E. W. Rath den Versammlungen der großen und kleinen Gilde am 18. und 19. December 1866 einen Entwurf zur Organisa­tion eines permanenten städtischen Sanitäts-­Comité’s vorgelegt hatte, sah sich der General-­Sanitäts-­Comité veranlaßt, mit Bezug auf die oben erwähnten Erwägungen am 28. Januar 1867 das Gesuch um Auflösung des Comité’s und um das Recht freier Disposi­tion der von ihm ausgegangenen Arbeiten an S. Exc. den Herrn Civilgouverneur zu richten […] und somit hatte der Bestand und die Thätigkeit der von Sr. Exc. ins Leben gerufenen Sanitäts-­Comité’s nach kaum einjähriger Dauer ein unerwartetes und schnelles Ende gefunden.44 Daraufhin beschlossen die Gilden und der Rigaer Rat noch im Dezember 1866 ein eigenes Projekt zur Institu­tionalisierung eines permanenten Sanitäts-­ Comités und setzten den Beschluss im Januar 1867 um, womit dem Parallelprojekt der Ärzte die Finanzierungsgrundlage entzogen wurde. Ärzte und andere Fachleute wurden in die neue Institu­tion durchaus integriert, wobei das neue Sanitäts-­Comité der Stadt Riga mit insgesamt acht ständischen und vier „fachverständigen“ Vertretern an der Spitze 45 eine dezidiert ständische Gestalt erhielt, die zunächst den weiteren Gang der kommunalen (Wirtschafts-)Politik im Bereich des Sanitätswesens und der öffent­lichen Hygiene nicht unbedeutend beeinflusste. Pläne zum Bau eines kommunalen Schlachthauses für Riga wurden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mehrmals entworfen, diskutiert, beschlossen und wieder auf Eis gelegt.46 Spätestens seit dem Ende der 1860er, Anfang der 1870er Jahre war aber klar, dass ein kommunales Schlachthaus für Riga gebaut werden würde. Die grundsätz­lichen diskursiven Frontstellungen, Machtasymmetrien und Aushandlungsgrammatiken gerieten nun in Bewegung, waren aber zugleich vorerst noch weniger zufällig, sondern unter anderem durch eingangs zitierte Diskurse einerseits sowie lokale Konstella­tionen andererseits präfiguriert. Nicht zuletzt wurden sie stark durch den (jedenfalls bis zur Einführung 44 Von Bochmann/Hess: Ueber oeffent­liche Gesundheitspflege, S. 24 – 25. 45 Bericht des Rigaschen Sanitäts-­Comité, in: Rigasche Stadtblätter 59 (8. 2. 1868), S.  37 – 41, hier 38. 46 Siehe dazu die Darstellung von Bochmanns aus dem Jahre 1882: von Bochmann: Programm zu einem Centralschlachthaus und Viehmarkt in Riga, S. 2 – 7.

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der allrus­sischen Städteordnung in Riga 1877) ständisch gerahmten Modernisierungs- und Reformeifer des kommunalen Sanitäts-­Comités sowie anderer Institu­tionen und Körperschaften der Stadt beeinflusst.47 Dieser ständisch gerahmte Modernisierungseifer begünstigte zunächst den allmäh­lichen diskursiven Frontwechsel der Rigaer Fleischmeister. Diese 47 Meine Thesen knüpfen teilweise an die Überlegungen von Ulrike Hirschhausen zum „deutschen Milieu“ in Riga des späten 19. Jahrhunderts angestellt hat an und gehen zugleich über diese hinaus. So hat sie unter anderem nicht ohne gute Gründe angedeutet, dass die Ausbildung und Tradierung der ausgeprägten (zivilgesellschaft­lichen) Gemeinwohlorientierung und des sozia­len Engagements im deutschbaltischen Stadtbürgertum durch Tradi­tionen ständischer Selbstverwaltung begünstigt worden s­ eien. Ulrike von Hirschhausen: Die Grenzen der Gemeinsamkeit. Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860 – 1914, Göttingen 2006, S. 105. Ich analysiere allerdings die diskursive Figur des ‚Gemeinwohls‘ noch stärker als ein Argument und einen Kampfbegriff in bestimmten kommunalpolitischen Aushandlungen. Es ergeben sich hier außerdem argumentative Anknüpfungs- und Diskussionspunkte zu der Hauptthese der ständischen Modernisierung, die von Mesenhöller für den kurländischen Ritterschaftsadel der „Sattelzeit“ eindrück­lich herausgearbeitet worden ist: Mesenhöller: Ständische Modernisierung. Außerdem knüpfe ich an die aus dem Vergleich mit dem kurländischen Ritterschaftsadel gewonnene Beobachtung und offene Frage Mesenhöllers an, der das bemerkenswerte Fortbestehen und wirken (deutschbaltischer) stadtständischer Eliten in Riga zu Recht als Forschungsdesideratum bezeichnet hat. Vgl. ebenda S. 149, Anm. 94. Mein Argument steht außerdem in einem gewissen, wenn auch nicht antagonistischen Widerspruch zum Topos des „Liberalismus“ von russländischen „Modernisierungsakteuren“ generell und russländischer Ärzte und Intelligenzija im Besonderen. Zum Forschungskonzept des „liberalen Milieus“ in rus­sischer Provinz siehe Manfred Hildermeier: Liberales Milieu in rus­sischer Provinz. Kommunales Engagement, bürger­liche Vereine und Zivilgesellschaft 1900 – 1917, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 51 (2003), 4, S. 498 – 548. Außerdem beziehe ich mich streng genommen auf die stadtständischen (deutsch-)baltischen Verhältnisse einerseits und die ständisch gerahmte Inklusion ganz bestimmter magistratsnaher Expertengruppen andererseits. Zum älteren Topos des Liberalismus (deutsch)baltischer Literaten des 19. Jahrhunderts siehe die klas­sische na­tionaldeutsch(baltisch)e Lesart in: Reinhard Wittram: Liberalismus baltischer Literaten. Zur Entstehung der baltischen politischen Presse, Riga 1931. Zu Figura­tionen des Experten allgemein siehe etwa Ronald Hitzler: Wissen und Wesen des Experten. Ein Annäherungsversuch ‒ zur Einleitung, in: ders./ Anne Honer/Christoph Maeder (Hg.): Expertenwissen. Die institu­tionalisierte Kompetenz zur Konstruk­tion von Wirk­lichkeit, Opladen 1994, S. 13 – 30; Eric J. Engstrom/ Volker Hess/Ulrike Thoms: Einleitung. Figura­tionen des Experten: Ambivalenzen der wissenschaft­lichen Expertise im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert, in: dies. (Hg.): Figura­tionen des Experten. Ambivalenzen der wissenschaft­lichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2005, S. 7 – 17.

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hatten bis zur Einführung der Gewerbefreiheit in den Ostseeprovinzen 1866 den Markt als Zunft monopolisiert und bis dahin faktisch bzw. aus der Sicht ärzt­licher Experten aus dem Sanitäts-­Comité auch zu den, wenn man so will, „Umweltsündern“ gehört,48 gegen die sich der neue hygienewissenschaft­liche, miasmatische Diskurs richtete. In individuellen Bittschriften, über kommunalpolitische Kontakte und auch öffent­lich über die lokale Presse bemühten sie sich nun, und dies alles nicht ganz ohne Erfolg, mit Argumenta­tionshilfe der neuen magistratsnahen Experten und mit expliziter Gemeinwohlbetonung, die beschlossene provisorische Zentralisierung der Fleisch- und Viehmarktaufsichten bis zum Bau des kommunalen Schlachthauses dazu zu ­nutzen, die neue hygienepolitische Kampfansage bis auf Weiteres rhetorisch zu neutralisieren und gegen ihre nichtgewerb­lichen Kollegen in Riga umzuformulieren. Es ging dabei offensicht­lich darum, Letztere in die Schranken zu verweisen, da sie sich seit der Abschaffung der Zünfte und der Einführung der Gewerbefreiheit 1866 sowohl der neuen Marktfreiheiten als auch des schnellen Bevölkerungswachstums bedienten, um Marktanteile zu gewinnen. Dieser diskursive Frontwechsel wurde in einer öffent­lichen Denkschrift der „Rigaschen Fleischer-­Innung“ aus dem Jahre 1880 folgendermaßen dramatur­gisch auf den Punkt gebracht: Das in letzter Zeit geradezu erschreckende Eindringen eines schlimmen Proletariats in das Fleischergewerbe muß ener­gisch bekämpft werden. […] Die Fleischer-­Innung wird demgemäß nicht ermangeln, dahingehende Maßregeln zu ergreifen und resp. die Mithilfe des Handelsamtes hierzu sich zu erbitten. Ein Weg hierzu aber steht dem Handelsamte schon jetzt jederzeit offen. Es ist näm­lich im öffent­lichen Interesse und speciell in sanitärer Hinsicht durchaus nicht gleichgiltig, ob die das Fleischergewerbe ausübenden Personen genügende Kenntnisse hinsicht­lich der sanitären Beschaffenheit des Schlachtviehes und des Fleisches haben. Auf die

48 Siehe das Expertengutachten des Rigaer ärzt­lichen Sanitäts-­Comités aus dem Jahre 1866, welches auf die Anfrage des Gouverneurs zurückging, in der eine Untersuchung der Ableitung von Lauge in die Düna aus einer Seifenfabrik in der Moskauer Vorstadt angemahnt worden war. Die beiden Ärzte hielten die Abfälle für weniger gefähr­lich oder umfangreich als etwa die in die Düna abgeleiteten Abfälle aus der Hess‹schen Schlächterei in Riga: von Bochmann, Hess: Ueber oeffent­liche Gesundheitspflege, S. 37. Die Fleischermeisterfamilie Hess gehörte, wie mehrere Quellen verschiedenen Ursprungs deut­lich machen, jedenfalls in den 1860 bis 1880er Jahren zu den wichtigsten Fleischermeisterfamilien der Stadt.

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Controlle allein darf die öffent­liche Gesundheit nicht gegründet werden, sondern jeder Gewerbetreibende ist verpflichtet, innerhalb seines Betriebes auch schon selbst über die sanitären Anforderungen hinläng­lich unterrichtet zu sein […].49 Es ging dabei nicht zuletzt darum, die eigenen Selbstverwaltungsansprüche zu zementieren und mit den neuen kommunalpolitischen Selbstverständnissen und Tradi­tionen lokaler (deutschbaltischer) Eliten zu versöhnen. In der Denkschrift der Fleischer-­Innung war daher folgerichtig die Rede von „unsere[m] altgeschulten privaten Selfgovernment [sic!]“.50 Doch die Aushandlungsdynamiken und Akteursposi­tionen konnten, vor allem in längerer Perspektive, kontingent sein und außerdem weitere Eigen­ dynamiken entfalten. Die sich allmäh­lich verselbstständigende Zivilisierungsmission richtete sich auch in Riga explizit gegen christ­liche Privatschlächtereien und jüdische Schächtbetriebe, die hier spätestens seit Ende der 1860er Jahre zunehmend ins Visier der Stadtväter und der neuen magistratsnahen Expertengruppen gerieten. Im ersten Halbjahresbericht über das neue kommunale „Schlachthaus und die Fleischbeschau in Riga in der Zeit vom 1. August 1897 bis 30. April 1898“ fasste von Bochmann einige der Punkte der zum kommunalen Gesetz gewordenen Kampfansage wie folgt zusammen: Die Einrichtung der öffent­lichen Schlachthäuser und der allgemeinen Fleischbeschau ist, wie wohl allgemein bekannt, ganz vorzugsweise veranlaßt durch Gründe sanitärer Natur, einerseits, um die vielfachen sanitären Schäd­ lichkeiten zu beseitigen, ­welche mit den im ganzen Stadtgebiete zerstreut liegenden Privatschlächtereien untrennbar verbunden sind, andererseits, um die Gesundheitsschädigungen, w ­ elche mit dem Genusse des Fleisches kranker Thiere vielfach verbunden sind, auszuschließen.51

49 Denkschrift der Rigaschen Fleischer-­Innung (Dem Rigaschen Handelsamt überreicht.), in: Rigasche Stadtblätter 71/12 – 13 (20.3./27. 3. 1880), S. 93 – 98, 101 – 104, hier 103 – 104. Mit dieser Denkschrift betrieben die Rigaer Fleischermeister Lobby- und Öffent­lichkeitsarbeit in eigener Sache kurz nach der Einführung der allrus­sischen Städteordnung in Riga und der (vorerst noch nicht vollständigen) Überführung der ständischen Institu­tionen in kommunale Organe. 50 Zitat ebenda, S. 94. 51 Eugen von Bochmann: Das Schlachthaus und die Fleischbeschau in Riga in der Zeit vom 1. August 1897 bis 30. April 1898. (Separatabdruck aus d. Rig. Rundschau Nr. 128 – 131, 1898.), Riga 1898, S. 4.

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Ganz ähn­lich, aber vielleicht noch etwas unverblümter formulierte diese Kampfansage der Bürgermeister der Stadt Hörde bei Dortmund, Dr. ­Heinrich Mascher, dessen Streitschrift aus dem Jahre 1888 ebenfalls in der von von ­Bochmann betreuten Bibliothek zu finden war: „Dieser Zwang wird schon dadurch zu einem wahren Segen für das gemeine Wesen, daß durch ihn die Privatmetzgereien beseitigt und die Fleischer genötigt werden, das Tödten und Zurichten der Schlachtthiere in einem einzigen, außerhalb der menschlichen Wohnsitze, trocken und luftig belegenen und zweckmäßig eingerichteten Schlachthause zu bewirken.“52 Es ging um einen „Kampf der Wahrheit mit den Gegnern des Schlachthauszwanges“.53 Im Abschlusskapitel mit der Überschrift „Abfertigung der Gegner des Schlachthauszwanges“ brachte Mascher das Grundproblem der Zivilisierungsmission auf den Punkt: „Das Licht der Wahrheit leuchtet nicht Jedermann!“54

5. „Das Licht der Wahrheit leuchtet nicht Jedermann!“ Auch in Riga leuchtete nicht jedermann das Licht der Wahrheit der kommunalen Eliten, die mit der Zentralisierung von Schlachthof- sowie Vieh- und Fleischmarktaufsichtskompetenzen nicht zuletzt bestimmte administrative und wirtschaft­liche Interessen verfolgten und nach dem Eingreifen des Staates riefen. Von Bochmann beschrieb die Entwicklungen, die sich nach der Eröffnung des Schlachthofes abspielten, wie folgt: [Es] fällt sofort die eigenthüm­liche Thatsache auf, daß die Stadt in der Zeit vom 1. November bis zum 30. April zum größeren Theil durch die Einfuhr vom Lande mit frischem Fleische versorgt worden ist. […] Hiermit dürfte es denn wol auch im Zusammenhange stehen, daß, wie allgemein bekannt geworden ist, im Laufe ­dieses Winters an den Grenzen des Stadtgebietes eine ganze Reihe von Privatschlachthäusern errichtet worden sind, in denen sehr stark geschlachtet werden soll.55 Die Überzeugungsprobleme der Zivilisierungsmission, die die Rigaer Stadtväter und Schlachthausexperten mit Schützenhilfe des Staates bzw. der kommunalen 52 Mascher: Wesen und Wirkungen des Schlachthauszwanges, S. 23. 53 Ebenda, S. VI. 54 Ebenda, S. 38. 55 Von Bochmann: Das Schlachthaus und die Fleischbeschau in Riga, S. 12 – 13.

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Regelwerke vorantrieben, waren nicht wegzuleugnen. Von Bochmann führte sie auf ähn­liche Erfahrungen aus Deutschland zurück, wo das Licht der Wahrheit ebenfalls nicht jedermann leuchtete: In Deutschland hat man fast überall bei der Eröffnung neuer Schlachthäuser die gleichen Erfahrungen gemacht […]. Es ist ja gewiß auch nicht zu leugnen, daß der Transport der Schlachtthiere zu den doch meist in größerer Entfernung angelegten Schlachthäusern, sowie der Rücktransport des Fleisches vieles Unbequeme hat und Zeitverluste mit sich bringt, daß es den Leuten der Fleischer sehr schwer sein mag, sich in die strenge Ordnung der Schlachthäuser zu fügen, daß durch die Confisca­tion kranker Thiere auch directe pecuniäre Verluste entstehen u. s. w., aber Schlachthäuser und Fleischbeschau werden ja doch nur im Interesse des Gemeinwohles angelegt und dem Interesse der Gesammtheit muß sich nun einmal das Interesse des Einzelnen unterordnen.56 Die Schlachthaus- und Stadtverwaltung begann um 1900 einen Prozess der Disziplinierung und Zivilisierung der Fleischer, bei dem es auch um die sukzessive Ausdehnung des Rigaer Schlachtzwang- und Fleischbeschausteuergebietes (unter Einbeziehung des Umlandes) ging. Doch nicht alle Metzger gaben sich kampflos geschlagen. Das galt auch für ihre Berufs- und Zeitgenossen andern­ orts, so etwa in England, wo kommunale Schlachtzwanginitiativen zum Teil bis weit ins 20. Jahrhundert hinein erfolgreich abgewehrt werden konnten,57 oder in Deutschland, wo sich der kommunale Schlachtzwang breitflächig durchsetzte. Viele von ihnen lernten schnell, die Sprache der Schlachtzwangbefürworter zu sprechen, deren ureigenen Argumente gegen sie zu wenden, die Deutungshoheit der Stadtväter über „das“ Gemeinwohl in Frage zu stellen und ebenfalls nach dem Staat zu rufen. Weniger als einen Monat nach der Eröffnung des städtischen Schlachthauses wandte sich eine Gruppe von Metzgern und Fleischhändlern aus dem (entlegenen) Mitauer Stadtteil Rigas an die Stadtverwaltung in einer (grammatika­lisch nicht einwandfreien rus­sischsprachigen) Bittschrift mit dem Ersuchen, ein zweites städtisches Schlachthaus in dem Stadtteil einzurichten, weil die Transportwege und die damit verbundenen Wartezeiten

56 Ebenda, S. 14. 57 Siehe dazu noch einmal: MacLachlan: Humanitarian Reform, Slaughter Technology, and Butcher Resistance.

Wie „der Staat“ gerufen wurde  247

unerträg­lich s­ eien und die hygienische Sicherheit des geschlachteten Fleisches zum Teil nicht mehr gewährleistet sei. Daher ­seien die Gelder für die geplante Erweiterung des Schlachthofs für ein Schlachthaus in dem Stadtteil auf dem anderen Ufer der Düna zu verwenden, um so die dortige Bevölkerung nicht zu benachteiligen und eine gleichmäßig einwandfreie Fleischversorgung sicherzustellen, wobei der Kommune somit keine zusätz­lichen Kosten entstünden. Das Stadtamt ließ sich auf die inhalt­liche Diskussion der vorgetragenen Argumente nicht ein und bat die Stadtverordnetenversammlung, das Gesuch mit dem Verweis auf die Schlachthauspraxis in den beiden flächenmäßig größeren Hauptstädten des Imperiums abzulehnen und den Gouverneur um Unterschrift zu bitten.58 Doch die Stadtväter konnten vielleicht nicht ahnen, dass dies erst der Anfang längerer Aushandlungen werden sollte. Knapp fünf Jahre ­später leitete der Gouvernements-­Veterinär-­Inspekteur die Bittschrift eines gewissen Ivan Ivanovič Manek an das Stadtamt, in der dieser die Eröffnung eines privaten Schlachthauses in dem Moskauer Stadtteil Rigas beantragte. Das vom Stadtamt eingeholte Rechtsgutachten kam zu dem Schluss, dass zwar gemäß dem Ortsstatut die Genehmigung eines privaten Schlachthauses nicht mög­lich sei, dass jedoch ein Beschluss des zwischenzeit­lich eingeschalteten Petersburger Regierenden Senats und eine entsprechende Erklärung des Innenministeriums vorlägen, demnach die Gründung von privaten Schlachthäusern nicht untersagt werden könne und dass die Stadtverwaltungen für diese entsprechende Regelungen ausformulieren müssten. Das Stadtamt beschloss, s­ olche Regelungen zu treffen, den Bittsteller darüber zu informieren und zugleich mit dem (teuren) Projekt einer Kühlanlage im kommunalen Schlachthaus zu beginnen.59

58 LVVA, F. 2724, apr. 2, l. 2552: Delo Rižskago Gorodskago Upravlenija. Prošenie mjasnikov o postrojke osoboj gorodskoj bojni v Mitavskoj časti. 59 LVVA, F. 2724, apr. 2, l. 2600: Prošenija častnych lic o razrešenii im oktrytija skotoboen.

248 Felix Heinert

6. ‚Schlachthausfrage‘ und ‚Fleischfrage‘ als Politika Trotz der ursprüng­lichen Beteuerungen, die auch an vielen anderen Orten Europas regelmäßig zu hören waren,60 und s­ päter, wenngleich oft genug halbherzig, in Rechtsvorschriften gegossen wurden (auch im Zarenreich),61 dass näm­lich die Schlachtzwanggebühren nur die Selbstfinanzierung der Anlagen bezwecken sollen bzw. dürfen, waren die Einnahmen der Rigaer Schlachthausverwaltung inzwischen ein beträcht­licher und außerordent­lich wichtiger Posten des Stadthaushaltes, wobei die Schlachthauseinnahmen den Erwartungen zwar nicht unbedingt entsprachen, dafür aber durch die inzwischen obligatorischen Fleischbeschaugebühren auf das eingeführte Fleisch bestens ausgeg­lichen wurden.62 Mit dem Bau der teuren Kühlanlage im Rigaer kommunalen Schlachthaus,63 die schließ­lich von der Kölner Humboldt AG geliefert wurde,64 zementierten die Stadtväter ihre Posi­tion handlungslo­gisch und programmatisch, weil nun die hierfür aufgenommene Anleihe refinanziert werden und die Anlage darüber hinaus einen zusätz­lichen Gewinn abwerfen musste. Somit musste die Disziplinierungs- und Zivilisierungsmission weitergehen, die kommunalen Schlachthauskompetenzen mussten ausgeweitet werden. Zugleich 60 Siehe dazu etwa die folgende, 1897 in Berlin erschienene, latent apologetisch argumentierende Publika­tion mit wissenschaft­lichem Anspruch: Gust Kjerrulf: Wird das Fleisch durch Schlacht- und Fleischbeschauzwang verteuert? Berlin 1897. 61 Siehe den Verweis auf das Urteil des Regierenden Senats in Petersburg, demnach die vielerorts üb­lichen kommunalen Fleischbeschaugebühren auf das außerhalb der Stadt geschlachtete und ins Stadtgebiet eingeführte Fleisch zweck- und gesetzeswidrig ­seien: E. A. Bogdanov/I. V. Sinicyn: Mjasnoj vopros v Rossii i sovremennoe položenie skotoi mjasopromyšlennosti v Rossii. Izdanie Komiteta Moskovskoj skotopromyšlennoj i mjasnoj birži, Moskva 1912, S. 114. Siehe auch ebenda, S. 210, die Forderung der beiden Autoren nach einer legislativen Interven­tion, demnach die Stadtverwaltungen Schlachthäuser und Fleischbeschausta­tionen nicht zu Geldmaschinen und Haushaltsaufbesserung missbrauchen dürfen. 62 Siehe z. B. die Einnahmen der beiden Einrichtungen für das Jahr 1907: Gorodskaja skotobojnja i gorodskija učreždenija dlja osvidetel‹stvovanija mjasa, in: Kratkij obzor dejatel‹nosti Rižskoj gorodskoj upravy za 1907 g., Riga 1908, S. 51 – 57, hier 53. 63 Zu den Kosten siehe LVVA , F. 2724, apr. 2, l. 2617: Cholodil’nik pri gor. skotobojne, S.  4 – 20. 64 Schlachthofkühlanlage der Stadt Riga. Ausgeführt von der Maschinenbau-­Anstalt Humboldt, Cöln-­Kalk. Sonderabdruck aus der Zeitschrift Die Kälte-­Industrie, Hamburg, Nr. 10, Oktober 1910. Offizielles Organ des ›Verband Deutscher Eis-­Händler und Fabrikanten, Hamburg 1910.

Wie „der Staat“ gerufen wurde  249

entdeckten die schlachthausnahen Experten, wie auch ihre Kollegen an vielen anderen Orten Europas, weitere Bereiche wie die Milchkontrolle, die mit wissenschaft­lichen und sozia­lpolitischen Wahrheitsansprüchen zentralisiert, zivilisiert und an die Schlachthausinfrastruktur angeschlossen werden sollten.65 Doch die „Fleischfrage“, die im Zarenreich zunehmend als s­ olche, als mjasnoj vopros,66 dramatur­gisch verhandelt und politisiert wurde, hatte Priorität. Hier brachte sich die Rigaer Stadt- und Schlachthausverwaltung argumentativ in die reichsweite Lobbyarbeit ein, die spätestens 1911 im Vorfeld der Ausarbeitung einer Gesetzesvorlage der Regierung zu den reichsweiten Schlachtzwanggesetzen begann und auf die entsprechende Aufforderung zur Beantwortung des Fragebogens der Veterinärabteilung des Innenministeriums zurückging. Interessanterweise waren es in den Entwürfen und Vorlagen für die entsprechenden Gutachten der Rigaer Stadtverwaltung vor allem die Stadtveterinärärzte, die in ihren Expertisen zunächst die kommunalfinanziellen Motive ins Feld führten und sogar überbetonten, während die Stadtväter durch Randnotizen, Korrekturen und Streichungen dieser Passagen die Endversion ihrer Gutachten konsequent auf das Motiv der verwissenschaft­lichten Epidemievorbeugung stützten und von den Stadtveterinärärzten entsprechende Nachbesserungen bzw. Zusatzinforma­tionen wünschten, um die Ministerialbeamten in Petersburg zu überzeugen.67 Auch die Gegner der kommunalen Schlachtzwanggesetze formierten sich auf der imperialen Ebene, etwa um die Moskauer Fleischbörse herum, die kurz darauf mit einer 250-seitigen, fachwissenschaft­lich argumentierenden und politisch ambi­tionierten Streitschrift über die Fleischfrage im Russländischen Reich (und darüber hinaus) implizit die Interessen der Fleisch- und Viehindustrie 65 C. Kangro: Über die Milchversorgung Rigas. Vortrag, gehalten am 21. Februar 1908 in der Gesellschaft für kommunale Sozia­lpolitik in Riga von Stadtveterinärarzt Mag. C. Kangro. Als Manuskript gedruckt für die Mitglieder der Gesellschaft für kommunale Sozia­lpolitik in Riga, in: Hefte der Gesellschaft für kommunale Sozia­lpolitik in Riga 1/3 (1908), S. 39 – 70. Unter anderem heißt es zum Schluss des Vortrags von Kangro: „Die Erziehung des Volkes zu hygienischer Milchproduk­tion ist mit allen Mitteln zu fördern; besonders durch den Unterricht in den Volks- und Elementarschulen, in deren Lehrplan ein Elementarkursus über Hygiene und speziell über Milchhygiene aufzunehmen wäre.“ Ebenda, S. 70. 66 Siehe etwa den Titel von: Bogdanov/Sinicyn, Mjasnoj vopros v Rossii. 67 Siehe dazu den Inhalt, den Verlauf und die Entwurfsvorlagen des Schriftwechsels in: LVVA, F. 2724, apr. 2, l. 2672: Vopros o predostavlenii zemskim i gor. obšč. učreždenijam isključit. prava ustrojstva i ėksploatacii skotoboen.

250 Felix Heinert

verteidigte und diese mit gesamtstaat­lichen Interessen und Gemeinwohlargumenten verknüpfte.68 Die Fleischfrage wurde zu einem Politikum mit ökonomischer und symbo­lischer Sprengkraft, nicht zuletzt in Riga.

7. (Un-)Koscherer Ausblick Als während der revolu­tionären Aushandlungen von 1905 die Rigaer Stadtverwaltung in Bedrängnis geriet, konnte sie, wie das Stadthaupt Armitstead 1906 einräumte, unter dem Druck der Umstände die Forderungen der Rigaer Markthändler nach der Halbierung der Stellplatzgebühren auf dem allgemeinen Lebensmittelmarkt bis auf Weiteres akzeptieren. Doch im Falle der Forderungen der Metzger nach der Halbierung der Schlachthausgebühren im „Interesse der Bevölkerung“ war die Verhandlungsbereitschaft trotz der heiklen Umstände nicht vorhanden.69 Ähn­lich erging es 1905 den jüdischen Koscherfleischmetzgern, die, wie aus breit verstreuten archivarischen Quellen wie Bittschriften und Verwaltungsakten hervorgeht, seit Jahrzehnten ein latentes bis offenes Konfliktverhältnis mit den jüdischen Korbsteuerpächtern pflegten, ­welche die zusätz­liche Besteue­ rung der jüdischen Gemeinden durch die Besteuerung des Koscherfleisches im Sinne der imperialen Gesetzgebung pachteten. Auch ihre Forderungen wurden abgeschmettert, woraufhin diese – im Rahmen der allgemeinen Unruhen auf den Märkten – in einen gewaltähn­lichen Konflikt mit den jüdischen Korbsteuerpächtern gerieten.70 Auch dieser Konflikt schwoll seit Jahrzehnten an, zumal im jüdischen Falle die imperiale Gesetzgebung die auf polnisch-­litauische Zeiten zurückgehende interne Besteuerungsform der jüdischen Gemeinden auf das geschächtete Fleisch noch lange vor der Einführung des allgemeinen Schlachtzwanges übernahm und diese zur wichtigsten jüdischen Gemeindesteuer umformulierte. In Riga waren es spätestens seit den 1860er Jahren Konflikte ­zwischen Koscherfleischmetzgern und jüdischen Steuerpächtern, die im Hinblick auf die Fleischproduk­tionsaufsicht einige ähn­liche Konfliktkonstella­tionen zu 68 Bogdanov/Sinicyn, Mjasnoj vopros v Rossii. 69 George Armitstead: Predislovie, in: Kratkij obzor dejatel’nosti Rizhskoj gorodskoj upravy za 1905 g., Riga 1906, S. 1 – 10, hier 3 – 4. 70 Vgl. dazu noch einmal meine Fallstudie zur „koscheren Revolu­tion“ von 1905 in: H ­ einert, (Re)Locating Jewishness and Representing Jewish Community, S. 133 – 139 sowie demnächst etwas ausführ­licher: Heinert, Imagined Community and Beyond.

Wie „der Staat“ gerufen wurde  251

den eben beschriebenen aufwiesen bzw. diesen zeit­lich und diskursiv teilweise sogar vorausgingen – und dies bei allen strukturellen und sach­lichen Unterschieden einerseits und trotz aller Unterschiede in dem Grad der Politisierbarkeit der Frage durch die zunehmende symbo­lische Verschränkung der Sonderbesteue­rung des Koscherfleisches mit der zeitgenös­sisch so genannten Judenfrage 71 andererseits.72 Schließ­lich waren allgemeine hygienewissenschaft­liche Diskurse, Gemeinwohlrhetoriken und grenzüberschreitende Wissenszirkula­tionsprozesse sowohl in der kommunalpolitischen Rigaer Konfliktkonstella­tion wie auch in der gerade sehr knapp angedeuteten Konfliktlage in Bezug auf die jüdische Gemeinde der Stadt von unüberhörbaren partikularen Interessen und Zivilisierungsformeln nicht bzw. nicht klar zu trennen. Jedoch war das Zivilisierungsvokabular der Stadtväter und anderer Akteure im Sinne einer politisierten Kampfansage zwar durchaus ernst gemeint, doch in der Praxis waren strate­gische und pragmatische Kompromisse, Frontwechsel und kontingente Eigendynamiken nicht minder wichtig. Um es auf den Punkt zu bringen: Der Staat rückte vor, weil er gerufen wurde.

71 Zum zeitgenös­sischen Begriff „Judenfrage“ auch in den Rigaer (deutschen) Quellen siehe etwa: Zur Judenfrage, in: Rigasche Neueste Nachrichten. Organ des liberalen Deutschtums 3/2 (22. 2. 1910) (Zeitungsseiten ohne Paginierung). 72 Zur besonders politisierten Verknüpfung von Korbsteuer und zeitgenös­sischer Judenfrage in der jüdischen Publizistik siehe etwa: S.-Peterburg, 26-go janvarja 1900 g. Finansovyj anachronizm, in: Voschod: žurnal učeno-­literaturnyj i političeskij 19/7 (27. 1. 1900), S. 2 – 4, wo die Korbsteuer sogar mit Besteuerungslasten der Leibeigenschaft aus der Zeit vor der Bauernbefreiung verg­lichen wird. Außerdem zur Korbsteuer und Judenfrage: Gessen: K istorii korobočnago sbora v Rossii; Michail M ­ orgulis: ­Korobočnyj sbor, in: ders.: Voprosy evrejskoj žizni. Sobranie statej M. G. M ­ orgulisa, Sankt Peterburg 1889, S. 225 – 293; B. Bogrov: K voprosu o zamene korobočnago sbora, in: Voschod: žurnal učeno-­literaturnyj i političeskij 14/2 (1894), S. 1 – 13; Moses ­Silberfarb: Die Verwaltung der jüdischen Gemeinden in Russland. Historisch und dogmatisch dargestellt. Inaugural-­Disserta­tion zur Erlangung der Doktorwürde der Hohen Juristischen Fakultät der Universität Bern, Pressburg 1911, S. 63 – 7 7; Abram D. Kiržnic: Kak i na čto raschodujutsja evrejskija narodnyja den‹gi, in: Vestnik evrejskoj obščiny 1 (September 1913), S. 21 – 28.

Christoph Augustynowicz

Ausgeweitete und verdichtete Raumnutzung in der kleinpolnischen Stadt Sandomierz im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts Die kleinpolnische Stadt Sandomierz, in Mittelalter und Früher Neuzeit ein politisches und geistiges Zentrum Polens,1 wurde durch die erste Teilung Polen-­Litauens 1772 nach einer k­ urzen Phase militärstrate­gischer Beachtung nachhaltig marginalisiert: Nunmehr in unmittelbarer Grenzlage zum Kronland Galizien und Lodomerien gelegen, wurde die Stadt wirtschaft­lich und verkehrstechnisch peripherisiert, zudem war sie in den Jahrzehnten um 1800 einer signifikanten geopolitischen Instabilität ausgesetzt, gekennzeichnet durch häufigen Wechsel von polnisch(-litauischer) (bis 1795) zu österreichischer (bis 1809), napoleonischer (bis 1815) und indirekt russländischer (seit 1815) Herrschaft. Einleitend sei eine Reihe topographischer Merkmale der Stadt hervorgehoben, um anschließend anhand eines unrealisierten Erneuerungsplanes von 1820 auf folgende drei konzeptanleitende Fragen des vorliegenden Bandes zum staat­lichen Vordringen in die Fläche einzugehen. Dabei wird es zunächst um Inten­tionen und Bedingungen von Stadtplanung in Polen im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts gehen. Daran schließen sich Ausführungen zu den Akteuren der Stadtbilderneuerung an, bevor schließ­lich infrastrukturelle Felder von Staat­lichkeit im Hinblick auf überregionale Anregungen und eine regionale Neuzentrierung diskutiert werden. 1 Vgl. zu Sandomierz Christoph Augustynowicz: Grenzen(n) und Herrschaft(en) in der kleinpolnischen Stadt Sandomierz 1772 – 1844 (=Europa Orientalis 16), Wien 2015; Christoph Augustynowicz: Lebenswelten, Topographien und Funk­tion an der gali­ zischen Grenze: Der Fall Sandomierz 1772 – 1844, in: Christoph Augustynowicz/Andreas Kappeler (Hg.): Die galizische Grenze 1772 – 1867: Kommunika­tion oder Isola­tion? ­(= Europa Orientalis 4), Wien, Münster 2007, S. 83 – 99; Christoph ­Augustynowicz: Religiöse Polyphonie in einer Stadt der polnischen Krone – Das Beispiel ­Sandomierz, in: Yvonne Kleinmann (Hg.): Kommunika­tion durch symbo­lische Akte. Religiöse Heterogenität und politische Herrschaft in Polen-­Litauen (= Forschungen zur Geschichte und Kultur des öst­lichen Mitteleuropa 35), Stuttgart 2010, S. 95 – 113; Christoph Augustynowicz: Individuum und Stadt an der galizischen Grenze: Dialog oder Monologe? Sandomierz und Jan Słomka als Grenzgänger, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011), S. 405 – 420.

254 Christoph Augustynowicz

Abb. 1 

Sandomierz um 1798 (Christoph Augustynowicz: Plan miasta Sandomierza z 1798 roku, in: Zeszyty Sandomierskie 15 (2002), S. 43 – 48, hier 46).

Zur Vermittlung der Topographie von Sandomierz s­ eien hier ein Stadtplan von 1798 zu Grunde gelegt und eine Reihe von typischen Merkmalen hervorgehoben: Zum einen ist die Stadt eine könig­liche Stadt mit Ummauerung, gegründet und angelegt nach Magdeburger Recht mit einflussreichem Magistrat, kennt­lich am rechteckigen Marktplatz mit zentralem Rathaus einerseits und dem könig­lichen Schloss im Süden andererseits.2 Zum anderen vereint die Stadt christ­liche und jüdische Lebensräume mit einer jüdischen, an der Synagoge vorbeiführenden Straße im Nordwesten und der wichtigsten ­Kirche der Stadt, der Marienkirche, seit der Schaffung des Bistums Sandomierz 1818 Kathedrale, im Süden. Auch für diese beiden Lebenswelten ist der Marktplatz zentral und verbindend.3

2 Vgl. dazu Winfried Schich: Stadt/Ostmitteleuropa, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 7. München 1995, Sp. 2204 f. 3 Thomas C. Hubka: Resplendent Synagogue. Architecture and Worship in an Eighteenth-­ Century Polish Comunity. Hanover 2003, S. 46.

Ausgeweitete und verdichtete Raumnutzung  255

Abb. 2 

Plan des Franciszek Reinstein zur Umgestaltung von Sandomierz 1820 (Wojciech Kalinowski/Tadeusz Lalik/ Tadeusz Przypkowski/Henryk Rutkowski/Stanisław Trawkowski: Sandomierz, Warszawa 1956, S. 69). Abbildungsnachweis: Archiwum Kapitulne w Sandomierzu.

Veranlasst durch die starke Zerstörung im Zuge der Napoleonischen Kriege 1809 lancierte der Baumeister Franciszek Reinstein im Jahr 1820 einen Plan zur grundlegenden Erneuerung der Stadt. Die Bausubstanz hatte unter den Einwirkungen der Auseinandersetzungen z­ wischen den Streitkräften Österreichs und des Herzogtums Warschau stark gelitten. Gebäude mit öffent­lichen, vor allem auf die in Sandomierz stark vertretenen Bereiche Bildung und Gesundheit konzentrierten Funk­tionen waren ebenso betroffen wie Wohn- und Wirtschaftsgebäude, ferner zahlreiche ­Kirchen.4

1. Stadtplanung in Polen im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts: Intentionen und Bedingungen Die städtebau­liche Hauptinten­tion der könig­lich-­polnischen Regierung bestand in der so genannten Regulierung der Städte, in der Behebung bau­licher Mängel und der Begradigung und Verbesserung von Straßen. Wie bereits unter

4 Tabelle der Kriegsschäden in Sandomierz, o. O., 1809 Dezember 11, Archiwum Główne Akt Dawnych (AGAD) Warszawa, Komisja Rządowa Spraw Wewnętrznych 2923, fol. 41r.

256 Christoph Augustynowicz

österreichischer Verwaltung wurden die Städte zunächst kartographisch erfasst. In den Allgemeinen Vorschriften der Baupolizei für die Städte (polnisch Przepisy ogólne Policji Budowniczej dla miast) vom 30. September 1820 wurden die diesbezüg­lichen Details geregelt: Insgesamt drei Exemplare der zu erstellenden Pläne sollten im jeweiligen Stadtamt, bei der jeweiligen Wojewod­ schaftskommission und bei der Regierungskommission für innere Angelegenheiten aufbewahrt werden. Der Maßstab sollte einheit­lich für verbautes Gebiet 1:1500 betragen, für sonstige Stadtgründe 1:5000. Innerhalb weniger Jahre war im Zuge dieser Initiative jede 4. der 454 Städte des Königreiches Polen kartographisch erfasst.5 Signifikante, augenschein­liche Veränderungen im Plan Reinsteins sind die vorgesehene freie Fläche auf dem Marktplatz sowie Plätze im Südosten vor dem ehemaligen Jesuitenkolleg und im Nordosten (vgl. die beiden Pfeile in Abb. 2). Beide projektierten Plätze zeigen, mit Hilfe welcher Institu­tionen der Staat seine räum­liche Präsenz und deren Repräsenta­tion zu implementieren intendierte. Sie spiegelten die städtebau­lichen Bedürfnisse zum einen des begonnenen 19. Jahrhunderts und zum anderen der neuen Lage der Stadt unmittelbar an der kongresspolnisch-­galizischen Grenze wider. Der Platz an der Straße im Nordosten sollte mit Geschäftsläden ausgestattet werden und somit eine ökonomische Verteilung in Richtung Norden, weg von der neuen Grenze entlang der Weichsel leisten; der zweite Platz gegenüber dem ehemaligen Jesuitengebäude unweit des Schlosses sollte die tradi­tionelle Schulfunk­ tion der Stadt repräsentieren und mit einer neuen Öffent­lichkeit ausstatten, aber auch administrative Funk­tionen abbilden, für die das Gebäude nun vorgesehen wurde. Über die gesamte Stadt sollte im Sinn einer „einheit­liche[n] Rasterung von Raum“6 ein System mög­lichst rechtwinkelig angelegter, stark verbreiteter und mit Plätzen und gelegent­lichen Grünflächen durchsetzter Straßen gelegt werden.7 Reinsteins Erneuerungsinten­tion konzentrierte sich auf den Norden der Stadt, dessen nun konzipierte Gestaltung einem plangemäß regulierten, dem Idealtyp eines auf Schachbrett- und Kreisform basierenden

5 Stanisław Marcinkowski: Miasta Kielecczyzny. Przemiany społeczno-­gospodarcze 1815 – 1869. Warszawa, Kraków 1980, S. 73. 6 Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2013, S. 457. 7 Stanisław Marcinkowski: Sandomierz w okresie Królestwa Polskiego (1815 – 1864), in: Jan M. Małecki (Hg.): Dzieje Sandomierza. 1795 – 1918. Tom III. Warszawa 1993, S. 37 – 104, hier 59.

Ausgeweitete und verdichtete Raumnutzung  257

Modell 8 entsprach. Reinstein diskutierte somit eine Schleifung des jüdischen Viertels im Nordwesten der Stadt, die bereits ganz zu Beginn des Jahrhunderts unter österreichischer Herrschaft Gegenstand von Erörterungen und Protesten gewesen war.9 Ferner sah Reinsteins Entwurf den Abriss des altertüm­lichen und desolaten Rathauses aus dem 16. Jahrhundert vor. Mitten auf dem Marktplatz gelegen, mit seinem Turm, der wiederholt durch Blitzschlag gebrannt hatte, sah Reinstein das Gebäude als eine Gefahr für die dortigen Geschäfte und Läden – auch hier sollten also Interessen ökonomischer Öffent­lichkeit geschützt und gefördert sowie einem allgemeinen Sicherheitsanspruch genügt werden. Für ein neues Rathaus gab es zwei Mög­lichkeiten: einerseits die Integra­tion in eine der Fassaden des Marktplatzes – Reinstein dachte in seinem Plan an die süd­ liche Hälfte der Westfassade.10 Diesem Modell folgte man etwa auch im neuen Verwaltungszentrum Kielce, wo im Jahr 1800 ein Brand das zentral gelegene Rathaus vernichtet hatte, das entsprechend diesen neuen Vorstellungen ersetzt und in den Jahren 1834 bis 1839 in die west­liche Fassade des Marktplatzes integriert wurde.11 Andererseits war ein Gebäude, das in Lage und Umfang den Anforderungen eines Rathauses entsprochen hätte und als solches adaptiert werden sollte, eben das Gebäude des ehemaligen Jesuitenkollegs im Südosten, das als Schule genutzt wurde. Die nötigen Kosten für die Restaura­tionsarbeiten hatten sich zu ­diesem Zeitpunkt bereits auf das fast Vierfache des geschätzten Wertes (40.000 złoty/11.075 złoty) aufgestaut.12 Jedenfalls wird klar, dass das Vorrücken des Staates in die Fläche zunächst vor allem mittels verdichteter Nutzung bereits existierenden Raumes geschehen sollte: Ein großes, exponiertes Gebäude in der Stadt sollte sowohl administrative als auch bildungspolitische Aufgaben erfüllen und repräsentieren. Auch ein systematisches Vordringen der Stadt und ihrer Funk­tionen in die Fläche

8 Vgl. dazu Wolfgang Reinhard: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004, S. 493 f. 9 Vgl. dazu Archiwum Państwowe w Kielcach, oddział w Sandomierzu (AP Sandomierz), Akta miasta Sandomierza (AmS) 20, Sandomir. 10 Leszek Polanowski: Kamienica Bartłomieja Sernego w Sandomierzu. In Zeszyty ­Sandomiersie 30 (2010), S. 24 – 29, hier 27. 11 Adam Massalski: Kielce w czasach kongresowych Królestwa Polskiego (1815 – 1831), in: Zenon Guldon/Adam Massalski (Hg.): Historia Kielc do roku 1945. Kielce 2000, S. 120 – 157, hier 125 – 127; ders.: Kielce w okresie międzypowstaniowym (1831 – 1863). Ebenda, S. 158 – 196, hier 163. 12 AP Sandomierz, AmS 265, Nr. 82.

258 Christoph Augustynowicz

über die Linie der Stadtmauer hinaus blieb – selbst in Reinsteins kühnem Plan – undiskutiert. Grundsätz­lich hatten bei der Umsetzung der Regulierungs- und Erneuerungsprojekte auf regionaler Ebene der Ausbau von Straßen und gegebenenfalls die Schleifung von Stadtmauern durchaus Vorrang. Lublin beispielsweise hatte ähn­lich wie Sandomierz im frühneuzeit­lichen Kleinpolen eine zentrale Rolle gespielt und war durch die Grenzziehungen der Teilungszeit ebenfalls regionalisiert worden; hier wurde versucht, die Mauern zwar nicht abzureißen, den administrativen Mittelpunkt der Stadt jedoch von Marktplatz und ummauerter Altstadt weg zu verlagern.13 Bereits an dieser Stelle wird die Diskrepanz z­ wischen Inten­tion und Umsetzung deut­lich, ­welche das gesamte hier untersuchte Themenfeld durchsetzt, denn die tatsäch­lich vorgenommenen Arbeiten in Sandomierz beschränkten sich schließ­lich auf den Einbau von Öfen im Gebäude des ehemaligen Jesuitenkollegs in den 1820er und 1830er Jahren.14

2. Akteure der Stadtbilderneuerung Dem verhaltenen Tempo der Lebenswelt am Rande des polnischen Staates und des russländischen Imperiums entgegen standen die Inten­tionen und Ambi­ tionen der Behörden auf Regional- und Staatsebene: Es war der Vorsitzende der Wojewodschaftskommission von Sandomierz, Ignacy ­Badeni, der 1820 nach einem Besuch der Stadt auf Veranlassung von Statthalter Józef Zajączek deren umfassende räum­liche Regulierung vorsah. Mit der Summe von 100.000 złoty bewilligte der Sejm eine mehr als umfangreiche Hilfe zu Umbau und Erweiterung der Stadt; Resultat war der hier untersuchte Plan von Baumeister ­Franciszek Reinstein. Die Regulierung, Erneuerung und Erweiterung von Sandomierz war somit ein Themenkomplex, der in Warschau durchaus an die Chefetage herangetragen und dort – allerdings ergebnisarm – diskutiert wurde; der Plan blieb unrealisiert, die vom Sejm zugesagte Summe unbezahlt.15 Ähn­lich wie etwa in der litauisch-­weißrus­sischen Provinz im Zuge der E ­ rsten Teilung Polen-­Litauens 1772 erfolgten die zahlreichen Herrschaftswechsel in 13 Jörg Gebhard: Ein problematisches Modernisierungsexempel: Lublin 1815 – 1914, in: Carsten Goehrke/Bianka Pietrow-­Ennker (Hg.): Städte im öst­lichen Europa. Zur Problematik von Modernisierung und Raum vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert, Zürich 2006, S. 215 – 251. 14 Marcinkowski, Sandomierz, S. 59 – 61. 15 Marcinkowski, Sandomierz, S. 57 – 61.

Ausgeweitete und verdichtete Raumnutzung  259

Sandomierz an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in erster Linie über symbo­lische Kommunika­tion und Repräsenta­tion, die in Treueeid, Umcodierung des Raumes und symbo­lischer Aneignung der Institu­tionen zum Ausdruck kamen. Anders als in den litauisch-­weißrus­sischen Gebieten, wo die russländische Herrschaftsaneignung auch eine Bauinitiative umfasste,16 drang das Königreich Polen nach 1815 letzt­lich nur in den neu aufzubauenden Zentren mittels Schaffung von Bausubstanz für die administrativen Raumanforderungen in die Fläche vor, zum Beispiel in Radom oder in Kielce, wie noch zu zeigen sein wird. In Sandomierz hingegen wurden sogar bestehende Wohnhäuser als Kreisamts- und Gerichtsgebäude genutzt,17 womit eine Persistenz der für das 17. und 18. Jahrhundert typischen Durchdringung privater und öffent­licher Lebensräume zueinander 18 deut­lich wird. Von den im Jahr 1818 gezählten 357 Häusern der Stadt waren ledig­lich 21 schwerpunktmäßig öffent­lichen Zwecken gewidmet und weitläufig über die Altstadt verteilt, wobei die Gebäude mit religiös-­rituellen Funk­tionen (Kirchen, Synagoge samt Bad) bereits enthalten sind. Ledig­lich das ebenfalls in eine ­Kirche integrierte Heiligen-­Geist-­Spital, das Rathaus, eventuell die Getreidespeicher entlang der Weichsel 19 und – mit der zunehmenden staat­lichen Kontrolle über das Bildungswesen – auch das Gebäude des Jesuitenkollegs können als Gebäude mit öffent­licher Funk­tion angesprochen werden. Breiteren gesellschaft­lichen Rückhalt als eine systematische Regulierung des Stadtbildes genoss bei den Bewohnern der Stadt der Gedanke staat­licher Durchdringung von Fläche mittels Verbauungsverdichtung des bereits erschlossenen Nutzraumes: Neben der Wojewodschaftskommission war auch der Magistrat merk­lich an einer Steigerung der Verbauung interessiert. 1825 wurden durch den zuständigen Kreiskommissar 18 unbebaute Stellen in der Altstadt und ihrer näheren Umgebung zum Verkauf angeboten. In den nächsten Jahren lässt sich

16 Vgl. dazu Jörg Ganzenmüller: Ordnung als Repräsenta­tion von Staatsgewalt: Das Zarenreich in der litauisch-­weißrus­sischen Provinz (1772 – 1832), in: Jörg Baberowski/David Feest/Christoph Gumb (Hg.): Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsenta­tionen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt a. M./New York 2008, S. 59 – 80, hier 59 – 63. 17 M(elchior) Buliński: Monografija Miasta Sandomierza. Warszawa 1879 (Neudruck ­Sandomierz 1999), S. 416. 18 Nicole Castan: Öffent­lich und privat, in: Philippe Ariès/Roger Cartier (Hg.): Geschichte des privaten Lebens. 3. Bd.: Von der Renaissance zur Aufklärung, Augsburg 2000, S. 411 – 449, hier 411. 19 Marcinkowski, Sandomierz, S. 56.

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eine Phase der Platzbeschaffung durch Schleifung von Häusern (1818 – 1827) und eine Phase des Aufbaus (1828 – 1837) unterscheiden: War in der ersten Phase die Anzahl der registrierten Häuser von insgesamt 357 auf 292 zurückgegangen, so konnte in der zweiten Phase mit 365 Häusern das Ausgangsniveau von 1818 überschritten werden. Bemerkenswert ist, dass in den Jahren 1828 bis 1837 insgesamt 73 Häuser errichtet wurden, also durchschnitt­lich ein Haus in knapp zwei Monaten.20 Im Bereich des zueinander noch nicht klar abgegrenzten Wohn- und Arbeitsraumes wurde die Notwendigkeit einer Erneuerung gesellschaft­lich breit erkannt. Gelegent­lich näm­lich war die Durchsetzung staat­licher Vorstellungen zur Durchdringung der Fläche mittels Stadterneuerung wegen funk­tionaler und räum­licher Distanz zum Zentrum zöger­lich, wurde dann aber durch private Initiativen kompensiert. Gesellschaft­lich oder wirtschaft­lich exponierte Stadtbewohner übernahmen die Anlage von Gehsteigen vor ihren jeweiligen Häusern;21 vereinzelt ließen Lehrer ihre Räume im Gebäude des Jesuitenkollegs auf eigene Kosten renovieren 22. Auch Handwerker begründeten Ansuchen um Anleihen manchmal mit ästhetischen Motiven: Im Jahr 1833 beantragte der Schustermeister Michał Młodziński 100 złp. zur Restaura­tion seiner Werkstatt mit dem ausdrück­lichen Hinweis, damit zur Verschönerung der Stadt (polnisch upiększenie miasta) beizutragen.23

3. Infrastrukturelle Felder von Staatlichkeit: Überregionale Anregungen und regionale Neuzentrierung Zur Erörterung der Frage, auf w ­ elchen infrastrukturellen Feldern Staat­lichkeit bei der Bewahrung und Erneuerung des Stadtbildes von Sandomierz ausgehandelt wurde, sei zunächst auf den überregionalen Vergleich, etwa mit London oder Paris verwiesen. Der mag kühn erscheinen, macht aber deut­lich, in welchem Ausmaß die dezentralen Räume Ostmitteleuropas im 19. Jahrhundert angesichts demographischer Entwicklungen und wachsender, unplanbarer 24 20 Marcinkowski, Sandomierz, S. 57, 59. 21 Marcinkowski, Sandomierz, S. 55, 60. 22 Adam Massalski: Collegium Gostomianum. Szkoła średnia w Sandomierzu w latach 1773 – 1914 (= Collegium Gostomianum Tom II), Sandomierz 2002, S. 120. 23 Renata Pawelska: Rzemiosło i handel w Sandomierzu w latach 1815 – 1864. Praca magisterska napisana pod kierunkiem prof. dr. hab. Wiesława Cabana, S. 65. 24 Osterhammel, Die Verwandlung, S. 458.

Ausgeweitete und verdichtete Raumnutzung  261

Urbanisierung damals aktuellen städtebau­lichen Impulsen folgten: Einerseits wurden europaweit infrastrukturelle Projekte wie Gasbeleuchtung, Transportsystem, Krankenhäuser und Grünanlagen 25 im Königreich Polen auch auf regionaler Ebene bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Angriff genommen oder zumindest thematisiert. Andererseits verzichtete der Staat etwa in Sandomierz auf sein Vordringen mittels so grundlegender Errungenschaften wie Kanalisierung und Trinkwasserzufuhr, wie sie in den rasch wachsenden deutschen Städten seit den späten 1840er Jahren vorangetrieben wurden.26 Selbst dort, wo sich rituelle Gebote etwa der jüdischen Gemeinde mit erneuernden Inten­ tionen der Regierung trafen, erwiesen sich religiös-­konfessionelle Gräben als tief: 1822 bot sich ein gewisser Mortka Rottenberg an, ein Badehaus zu bauen, verlangte dafür 980 złp. vom Magistrat und beantragte den Betrag schließ­lich bei der Regierungskommission für Religions- und Bildungsfragen.27 Über ­dieses Projekt ist weiter nichts bekannt, eine Realisierung war den Akteuren offensicht­lich nicht ausreichend relevant. Die Städte Kielce und Radom waren als neue Verwaltungszentren im Süden des Königreichs Polen vorgesehen. In der Frühen Neuzeit hatten beide Städte kaum zentrierende Funk­tionen wahrgenommen – Radom war in polnisch-­ litauischer Zeit Kastellanatshauptstadt und als ­solche der Wojewodschaftshauptstadt Sandomierz unterstellt gewesen. Sie hatten gegenüber dem tradi­ tionsreichen, jedoch peripherisierten Sandomierz allerdings zwei Vorteile, die unter den gegebenen Umständen ihre Aufwertung im administrativen System beförderten: Zum einen lagen sie seit der 1772 implementierten und 1815 etablier­ten Grenzziehung deut­lich weiter im Landesinneren als Sandomierz. Zum anderen waren sie ausgesprochen klein: Machte der unmittelbare, ummauerte Stadtkern von Sandomierz etwa 16 Hektar aus,28 so umfasste das bebaute Gebiet von Radom um 1820 nicht mehr als ledig­lich 9 Hektar 29.

25 Leonardo Benevolo: Die Stadt in der euro­päischen Geschichte. München 1999, S. 198. 26 Jörg Vögele: Sozia­lgeschichte städtischer Gesundheitsverhältnisse während der Urbanisierung (= Schriften zur Wirtschafts- und Sozia­lgeschichte 69), Berlin 2001, S. 254 – 256. 27 Rottenberg an Regierungskommission für Religions- und Bildungsfragen, Warschau, 1822 März 29, AGAD Warszawa, Akta Centralnych Władz Wyznaniowych Królestwa Polskiego 1506, k. 24. 28 Zenon Guldon: Terytorium, zabudowa i zaludnienie, in: Dzieje Sandomierza. XVI – XVIII w. Tom II Część 2 W czasach stagnacji i upadku. Pod redakcją Feliksa Kiryka. Warszawa 1993, S. 7 – 32, hier 11. 29 Wojciech Kalinowski: Rozwój przestrzenny i zabudowa, in: Radom. Dzieje miasta w XIX i XX w. Warszawa 1985, S. 38 – 47, hier 40.

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Kielce bot offensicht­lich die Mög­lichkeit, plantechnische Vorstellungen von Erneuerung ohne Berücksichtigung vorhandener Strukturen zu verwirk­lichen: Wie bereits aufgezeigt, wurde hier die Verlagerung des Rathauses weg vom Marktplatz umgesetzt. Ferner wurden bereits 1818 und 1821 die umfassende Stadtbeleuchtung und die Anlage eines Stadtparks zumindest diskutiert.30 In Radom wurden die Abtragung der Stadtmauern und die Begradigung der Straßen zügig vorgenommen, mittels klassizistischer Architektur sollten Altstadt und Vorstädte zu einer Einheit verschmolzen werden. Für die Zeit und ihre Verhältnisse ungewöhn­lich großräumig konzipiert war hier die Aktivierung der süd­lich gelegenen Lubliner Vorstadt durch Posi­tionierung des Wojewodschaftskommissionsgebäudes außerhalb der Stadtmauer, einen Kilometer vom Marktplatz entfernt,31 also eine Verlagerung des administrativen Zentrums aus dem Stadtzen­trum. Jedenfalls wurden auch am imperialen Rand in der Stadtbildgestaltung des frühen 19. Jahrhunderts Bemühungen um infrastrukturelle Erneuerung deut­lich. Unmittelbar in Sandomierz hieß das ganz grundlegend zum einen Verdrängung des Baumaterials Holz durch Stein und Ziegel und zum anderen Verbesserung der Straßen. Ledig­lich die Opatower Straße im Nordwesten der Stadt und die Straße der Jungfrau Maria vom südöst­lichen Eck des Marktplatzes zu Kathe­drale und Schloss waren zu d ­ iesem Zeitpunkt gepflastert. Weitere Straßen wurden nachlässig und in großen Zeitabständen geschottert. Die Pflasterung des zentralen Marktplatzes, dessen Modernisierung Reinstein so große Bedeutung beigemessen hatte, erwies sich als schwer durchsetzbare Aufgabe: Nicht, dass aktive Behinderungen nachweisbar wären, blieb in den späten 1830er Jahren die Umsetzung gegenüber den Vorgaben und Inten­tionen wohl wegen mangelnder Anreize seitens der Stadtverwaltung zurück. Der Anteil von Steinhäusern am Gesamtbaubestand stagnierte ­zwischen 1818 und 1837 bei 15 Prozent.32 War in den großen Städten des Westens wie Paris und London das 18. Jahrhundert das Zeitalter der Erleuchtung auch im buchstäb­lichen Sinn gewesen, in welchem sich die technischen Mög­lichkeiten zur großräumigen Beleuchtung entscheidend verbesserten,33 blieben die polnische Peripherie und somit ­Sandomierz auf Mechanismen dezentraler, mobiler und punktueller Beleuchtung angewiesen. Im Wesent­lichen galten hier Regelungen aus dem späten 30 Massalski, Kielce, S. 163. 31 Kalinowski: Rozwój, S. 41. 32 Marcinkowski, Sandomierz, S. 57. 33 Vgl. dazu Wolfgang Schivelbusch: Lichtblicke. Zur Geschichte der künst­lichen Helligkeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2004, S. 94 – 96.

Ausgeweitete und verdichtete Raumnutzung  263

18. Jahrhundert, gemäß denen ledig­lich vier Personen Nachtwache zu halten hatten,34 für deren Unterhalt marginale Kosten eingehoben wurden 35. Sowohl hinsicht­lich der praktizierten Zahlungspünkt­lichkeit seitens der Stadtbewohner als auch hinsicht­lich der vorgesehenen Betragshöhe seitens der Stadtverwaltung war das Problembewusstsein in ­diesem Bereich offensicht­lich schwach ausgeprägt: Eine geringe Summe (33 złoty 22 groszy) wurde in der Stadtkasse erst ab 1837 budgetiert;36 Beleuchtung blieb vorläufig offensicht­lich Privatsache. Eine flächendeckende Stadtbeleuchtung konnte nur durch gezielte Sammlungen finanziert und erst 1860 in Betrieb genommen werden.37 Die Elektrifizierung der Stadt wie übrigens auch ihre umfassende Kanalisierung schließ­lich sollten sich bis in die späten 1930er Jahre ziehen. Abschließend können die Ergebnisse zu den drei Abschnitten folgendermaßen zusammengefasst werden: 1)  In der dezentralen Verwaltungs- und Schulstadt Sandomierz sind es neben Relevanz in den Bereichen Administra­tion und Bildung auffallend stark Funk­ tionen der Steuerung von ökonomischer Verteilung, denen neuer Raum gewidmet werden sollte. 2)  Die Schaffung freier Räume blieb eine staat­lich-­obrigkeit­liche Inten­tion, die Verdichtung des verbauten Nutzraumes hingegen wurde auch an der gesellschaft­lichen Basis wahrgenommen. Vordringen des Staates in die Fläche heißt also vor allem Raumnutzungsverdichtung. 3)  Hinsicht­lich überregionaler Urbanisierungsparameter wurden Wasserversorgung, Baumaterial und Beleuchtung thematisiert, es lassen sich Phasenverschiebung/Verspätung zum einen, aber auch dezentrale Initiative zum anderen deut­lich herausarbeiten. Abschließend ­seien für das hier untersuchte Vordringen des Staates in die Fläche folgende Tendenzen hervorgehoben: Signifikant ist die persistent mangelnde Abgrenzung z­ wischen öffent­lichem und privatem Raum sowie ­zwischen Arbeitsund Wohnverhältnissen. Hinsicht­lich Städteplanung und -bau sind sowohl entwerfende (Reinsteins Regulierungsplan) als auch regulierende (gezielter 34 Postanowienia Komisji Dobrego Porządku dotyczące funkcjonowania władz miejskich i porządku w mieście z 1784 r, in: Dzieje Sandomierza. XVI‒XVIII w. Tom II Część 2 W czasach stagnacji i upadku. Pod redakcją Feliksa Kiryka. Warszawa 1993, S. 44 – 61, hier 52. 35 AP Sandomierz, AmS 326, k. 63. 36 AP Sandomierz, AmS 328, k. 18v. 37 Marcinkowski, Sandomierz, S. 63.

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Verkauf von Baugrund) Aspekte von Städteplanung erkennbar,38 wobei die regulierenden Aspekte deut­lich größeren und breiteren gesellschaft­lichen Rückhalt genossen. Schließ­lich ist zum einen auf die Diskrepanz ­zwischen Vorhaben/ Vorstellungen und Um-/Zuständen zu verweisen. Zum anderen hingegen mag vor dem Hintergrund einer anscheinend stark von oben geprägten Gesellschaft die deut­lich von unten initiierte Aktivierung in den Bereichen Verschönerung, Hygiene und Beleuchtung überraschen.

38 Vgl. dazu Osterhammel, Die Verwandlung, S. 456 f.

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Die Stadt als Bühne. Kulturelle und politische Inszenierungen des italienischen Adels (1800 – 1914) Überblickt man die vorliegende Literatur zum italienischen Adel für das lange 19. Jahrhundert, so stellt man fest, dass sich die Historiker lange vor allem für verfassungsrecht­liche, politische, wirtschaft­liche und gesellschaft­liche Frage­ stellungen interessiert haben. Ziel war es zu erklären, ob und inwieweit der Adel im stetigen Abwehrkampf gegen den modernen Verwaltungsstaat, die fortschreitende Industrialisierung und das aufstrebende Bürgertum Terrain behaupten konnte oder zunehmend Einfluss und Macht verlor.1 Fragen bezüg­lich der kulturellen Verhaltensmuster des Adels sind lange zweitrangig geblieben. Wenn es aber im 19. Jahrhundert noch etwas gab, was den Adel – zumindest nach außen hin – als homogene Gesellschaftsschicht erscheinen ließ und ihn zugleich von anderen sozia­len Gruppen abgrenzte, so war es die Persistenz des früheren Einflusses in Gestalt seines sozia­lnormativen Vorbildes – oder einfacher ausgedrückt: „noblesse oblige“. Adliger Lebensstil und adlige Kultur waren ein Konglomerat unterschied­lichster, seit Jahrhunderten tradierter sozia­ler und ethischer Verhaltensnormen und Denkweisen. Vermittelt wurden diese Spielregeln vor allem und eindrück­lich in den Familien. Der Familienverband als solcher blieb der primäre Bezugspunkt.2 Ein weiteres wichtiges Unterscheidungsmerkmal gegenüber den Bürger­ lichen war aber nicht nur der Titel, sondern die eigene Geschichte, die sich in Stammbäumen und Chroniken manifestierte. Der Adel hatte sich seit Genera­ tionen als ein wohlverbundenes Ganzes aus familiären Tradi­tionen und Erinnerungen entwickelt und in der Soziologie gilt er nicht umsonst als Grundpfeiler des Kollektivgedächtnisses.3 Darüber hinaus hat der Adel im langen 1 Alberto Mario Banti: Note sulle nobiltà nell’Italia dell’Ottocento, in: Meridiana 19 (1994), S. 13 – 27; Marino Berengo: Ancora a proposito di patriziato e nobiltà, in: Paolo Macry/Angelo Massafra (Hg.): Fra storia e Storiografia. Scritti in onore di Pasquale ­Villani, Bologna 1994; Carlo Capra: Borghesia/Nobiltà, in: Alberto Mario Banti/Antonio ­Chiavistelli/Luca Mannori/Marco Meriggi (Hg.): Atlante culturale del Risorgimento, Rom-­Bari 2010, S. 134 – 148. 2 Monique de Saint Martin: Der Adel. Soziologie eines Standes, Konstanz 2003. 3 Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozia­len Bedingungen, Berlin 1966.

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19. ­Jahrhundert neue Mythen kreiert, die in Adelssozietäten und Familienverbänden gepflegt wurden. An die Stelle der ständischen Qualität trat der Glaube an adlige Gemeinschaftswerte. „Adligkeit“ wurde umso wichtiger, je mehr der Adel als recht­liche Sonderqualität verblasste. Diese „Adligkeit“ wurde in der Öffent­lichkeit nicht nur, aber besonders eindrucksvoll im kulturellen Feld glänzend präsentiert. Arno J. Mayer zeigte schon zu Beginn der 1980er Jahre in seinem viel diskutierten Buch über den euro­päischen Adel, dass für die Regierenden die offizielle Hochkultur ein wichtiges ideolo­gisches Herrschaftsinstrument war. Nicht nur öffent­liche Bauten, Denkmäler und Plätze waren dazu bestimmt, das Loblied des Ancien Régime zu singen, zur Selbstinszenierung genutzt wurden auch Malerei und Musik, Literatur und Historiographie.4 Adlige Tradi­tionen forderten auch im 19. Jahrhundert immer noch große Leistungsbereitschaft bezüg­lich eines weiterhin ausgeprägten Mäzenatentums. Meisterhaft inszenierten Adlige ihr Prestige im Feld des Politischen.5 Studien über Monarchenbegegnungen, fürst­liche Feier­lichkeiten, historische Festzüge, Hochzeiten und Begräbnisse zeigen, wie der Adel den sich hier bietenden Raum formvollendet zur Autorepräsenta­tion nutzte.6 Gerade die Kulturgeschichte des Politischen öffnet jenseits scheinbar objektiver Machtstrukturen, schrift­ licher Verfahrensregeln und expliziter Diskurse neue Perspektiven auf konkurrierende Bedeutungszuschreibungen, Wahrnehmungen und Erfahrungen von Zeitgenossen. Die italienischen Hofgesellschaften würden hier ein inte­ ressantes Forschungsfeld bieten, denn selbst im postrisorgimentalen Italien war die ­sozia­le Schichtung nicht allein durch Besitzkriterien bestimmt.7 Obwohl Studien zu den einzelnen Hofgesellschaften Italiens bis heute zwar weitgehend

4 Arno J. Mayer: Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der euro­päischen Gesellschaft 1848 – 1914, München 1984. 5 Heinz Reif führte hierzu den prägnante Begriff des Adels als Meister der Sichtbarkeit ein; Heinz Reif: Der Adel im „langen 19. Jahrhundert“. Alte und neue Wege der Adelsforschung, in: Gabriele B. Clemens/Malte König/Marco Meriggi (Hg.): Hochkultur als Herrschaftselement. Italienischer und deutscher Adel im 19. Jahrhundert, Tübingen 2011, S.  19 – 39. 6 Vgl. etwa Johannes Paulmann: Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa ­zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn u. a. 2000; Daniel ­Schönpflug: Die Heiraten der Hohenzollern. Verwandtschaft, Politik und Ritual in Europa 1640 – 1918, Göttingen 2013. 7 Während die Fürstenhöfe und die adlige Gesellschaft des Ancien Régime schon früh in das Zentrum des historischen Interesses rückten, bestehen für das 19. Jahrhundert

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noch ein Desiderat bilden,8 lässt sich doch alles in allem festhalten, dass der Adel, anders als jener nörd­lich der Alpen, sich seit dem Mittelalter in einem ganz besonderen Maße auf die Stadt als Bühne zur Inszenierung gesellschaft­ lichen Prestiges und politischer Herrschaft konzentrierte. Will man das kulturelle Engagement und die symbo­lischen Praktiken des italienischen Adels analysieren, so gilt es hier vorab zu differenzieren. „Den“ italienischen Adel gab es natür­lich nicht. Es handelt sich vielmehr – wie in anderen euro­päischen Ländern – um sehr stark regional geprägte Adelsgruppen, die sich zum Teil erheb­lich hinsicht­lich des Vermögens sowie ihres kulturellen und politischen Einflusses unterschieden. Diese einzelnen regionalen Adelsgruppen ­seien im Folgenden kurz vorgestellt. Der Feudaladel des ­Mezzogiorno war aufgrund seiner Latifundien wohl der reichste auf der italienischen Halbinsel überhaupt, erst im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden seine Privilegien abgebaut, was aber nur wenig an seinem Reichtum und wohl kaum etwas an seiner sozia­len Stellung änderte.9 Welche Macht er hatte, verdeut­ licht ein kurzer Hinweis auf die Romanfigur des Gattopardo von Tomasi di Lampedusa. Der Autor, dem gleichnamigen Geschlecht entstammend, zeigt, wie dieser Adel seine s­ ozia­le Überlegenheit und Distink­tion verteidigte, die seit Jahrhunderten seine Machtstellung legitimierten.10 Ähn­lich verhielt es sich im nörd­lich angrenzenden Kirchenstaat. Klerus und Hochadel beherrschten hier die Szene. Kann man den Kirchenstaat bis zur napoleonischen Zeit noch als aristokratische Monarchie bezeichnen, so wurde der Adel durch die Reformen ab 1815 weitgehend aus der Staatsverwaltung verdrängt. Sein enormes Vermögen bezog er wie derjenige des benachbarten Südens aus seinem Großgrundbesitz.11 Anders verhielt es sich nörd­lich von Rom. In Mailand, Florenz, Genua, Venedig und in kleineren oberitalienischen Städten treffen wir auf das Patriziat. noch erheb­liche Forschungslücken; Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt am Main 1983. 8 Carlo M. Fiorentino: La corte dei Savoia (1849 – 1900), Bologna 2008, fokussiert die Frage, warum es den Savoyern im jungen Na­tionalstaat nicht gelang, wirk­lich populär zu werden. Pierangelo Gentile: L’Ombra del Re. Vittorio Emanuele II e le politiche di corte, Turin 2011, analysiert in seinem Buch die politischen Netzwerke und Machtposi­ tionen der „Hofpartei.“ 9 Paolo Macry: Ottocento, Famiglia, élites e patrimoni a Napoli. Bologna 1988; Giovanni Montroni: Gli uomini del re. La nobiltà napoletana nell’Ottocento, Rom 1996. 10 Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Il Gattopardo, Mailand 1974. 11 Giacomina Nenci: Aristocrazia romana tra ’800 e ’900. I Rospigliosi, Ancona 2004.

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Während der Renaissance dominierte es den Bank- und Handelssektor, zog sich aber in der Frühen Neuzeit zunehmend aus dieser Art von Geschäften zurück und investierte einseitiger in Grund und Boden. Der toskanische Adel wurde nach 1815 vom habsbur­gischen Großherzog systematisch aus Verwaltung, Militär, Diplomatie und Hof verdrängt.12 Das Schicksal des lombardischen und venezianischen Adels war vergleichbar. Auch er hatte keine Karrierechance am Hof oder im Militär – zumindest nicht in den von den Habsburgern regierten Regionen Italiens. Dem oberitalienischen Adel blieben aber sein enormer Reichtum in Form von Grundbesitz und sein Einfluss aufgrund von Verwandtschafts- und Klientelbeziehungen. Er versuchte den politischen Machtverlust im langen 19. Jahrhundert durch wirtschaft­lichen Erfolg und die geschickte Ausnutzung seiner gesellschaft­lichen Beziehungen zu kompensieren.13 Schließen wir unseren ­kurzen Überblick mit Hinweisen zum piemonte­ sischen Adel ab, welcher der einzige war, der in der Frühen Neuzeit die Mög­ lichkeit hatte, durch Dienste am Hof, beim Militär, in der Verwaltung und in dem diplo­matischen Korps von italienischen Monarchen Karriere zu machen: in der Zentrale aber auch in der Provinz. Anders als in den übrigen Regionen haben wir hier einen Dienstadel, der durch Nobilitierungen vor allem in der Frühen Neuzeit anwuchs. Im Gegensatz zu gängigen Thesen, die von einem allmäh­lichen Niedergang des Adels im 19. Jahrhundert ausgehen, der sich zunehmend mit bürger­lichen Eliten vermischte und so seine Identität preisgegeben habe, konnte hier der Adel verg­lichen mit anderen Regionen der Halbinsel seine Posi­tion als elitäre Führungsschicht weitgehend behaupten.14 Selbst nach der na­tionalen Einigung im Jahr 1861 behielt die italienische Aristokratie ihren fragmentierten und pluralistischen Charakter bei. Auf na­tio­ naler Ebene hatte das zur Folge, dass der Adel Mühe hatte, sich als geschlossene Gemeinschaft, als Einheit zu betrachten; er engagierte sich daher nicht in

12 Thomas Kroll: Die Revolte des Patriziats. Der toskanische Adelsliberalismus im Risorgimento, Tübingen 1999; Marion Lühe: Der venezianische Adel nach dem Untergang der Republik (1797 – 1830), Köln 2000. 13 Carlo Pazzagli: Nobiltà civile e sangue blue. Il patriziato volterrano alla fine dell’età moderna, Florenz 1996; Andrea Moroni: Antica gente e subiti guadagni. Patrimoni aristocratici fiorentini nell’800, Florenz 1997; Gabriele B. Clemens: Italienische Adlige als Unternehmer im langen 19. Jahrhundert: Zwischen Tradi­tion und Moderne, in: Anna Esposito u. a. (Hg.): Trier – Mainz – Rom. Sta­tionen, Wirkungsfelder, Netzwerke. Festschrift für Michael Matheus zum 60. Geburtstag, Regensburg 2013, S. 357 – 379. 14 Hierzu grundlegend Anthony L. Cardoza: Aristocrats in Bourgeois Italy. The Piemontese Nobility, 1861 – 1930, Cambridge 1997.

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einer „Adelspartei“ oder für ein politisches Projekt, das dem Erbadel wieder konstitu­tionell verankerte Privilegien verschaffen sollte. Wenn auch das Gewicht der alten Aristokratien auf der Ebene der zentralen politischen Institu­tionen (Parlament, obere Verwaltung, Heer) im italienischen Fall weniger wog als in anderen monarchischen Ländern des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, so scheint der materielle und symbo­lische Einfluss des Adels in den Städten weiterhin prädominant gewesen zu sein. Wie stark er das kulturelle und politische Leben in den Kommunen bestimmte, sei im Folgenden für die Bereiche Assozia­­tionswesen, Museen, Th ­ eater sowie Mäzenatentum in der bildenden Kunst dargelegt. Schon in den 1990er Jahren sind für zwei italienische Metropolen, Mailand und Neapel, Studien zu elitären Gesellschaften erschienen, die deut­lich die Dominanz des Adels in derartigen Assozia­­tionen belegen. Besonders auffallend war die massive Präsenz des Adels in historischen Gesellschaften.15 Dabei handelt es sich im Übrigen um ein europaweites Phänomen, was schon ein kurzer Blick auf die benachbarten Länder beweist. So war der Adel etwa in den bel­ gischen, deutschen, österreichischen, franzö­sischen oder eng­lischen Geschichtsund Altertumsvereinen sehr stark vertreten.16 Einzelne Untersuchungen zu deutschen Geschichtsvereinen verweisen ebenfalls auf die überpropor­tional hohe Mitgliedschaft von Adligen. Heinz Reif hat in seiner exzellenten Studie zum westfä­lischen Adel bereits Ende der 1970er Jahre auf d ­ ieses Phänomen 17 aufmerksam gemacht. Für den italienischen Adel gehörte es zum guten Ton, in mög­lichst v­ ielen Gesellschaften auf der Mitgliederliste zu stehen, wobei ausgeklügelte Koopta­ tionssysteme die Aufnahme regelten.18 Vor dem Hintergrund der ­tradi­tio­nell starken Präsenz des Mailänder Patriziats in den Sozietäten der Oberschicht bestätigt etwa der hohe Prozentsatz adliger Mitglieder im dortigen 15 Einen Überblick bietet Ilaria Porciani: Associarsi per scrivere la storia: uno sguardo di insieme sul contesto europeo, in: Luca Lo Basso (Hg.): Politica e cultura nel Risorgimento italiano, Genua 2009, S. 89 – 112. 16 Gabriele B. Clemens: Bulwark of Tradi­tions: The European Nobility and Regional and Na­tional Historiography in the Nineteenth Century, in: Ilaria Porciani/Jo Tollebeek (Hg.): Setting the Standards. Institu­tions, Networks and Communities of Na­tional Historiography, New York 2012, S. 330 – 350. 17 Heinz Reif: Westfä­lischer Adel 1770 – 1860. Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite, Göttingen 1979. 18 Vgl. hierzu grundlegend Marco Meriggi: Milano borghese. Circoli ed élites nell’Otto­ cento, Venedig 1992 sowie Daniela Luigia Caglioti: Associazionismo e sociabilità d’èlite a Napoli nel XIX secolo, Neapel 1996.

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Geschichtsverein, der Società Storica Lombarda, wiederum allgemeine Tendenzen. Jedes dritte Mitglied im mailändischen Geschichtsverein gehörte dem Adel an, woran sich im Laufe der Jahrzehnte kaum etwas änderte. Es handelte sich dabei fast ausschließ­lich um Vertreter des reichen, tradi­tionellen Patriziats der lombardischen Städte. Bei den insgesamt 297 adligen Mitgliedern, die der Società im Zeitraum von 1873 bis 1914 angehörten, gaben 241 keinen Beruf an, wobei wir davon ausgehen können, dass sie auch keinem nachgingen, sondern von ihrem Vermögen lebten.19 Natür­lich waren die ältesten und angesehensten Geschlechter der Stadt vertreten, genannt s­ eien hier nur die Porro-­Lambertenghi, Oldofredi-­Tadini und die Visconti-­Ermes, die alle lange Vorstandsmitglieder im Verein stellten. Nicht ganz so dominant, aber immer noch beacht­lich ist die Beteiligung des Adels in den Geschichtsvereinen zweier bedeutender Seestädte. Genua und Neapel weisen einen Adelsanteil von 17 bzw. 20 Prozent auf. In Süditalien traten dem Verein vor allem jene Adligen bei, die noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein ihren Reichtum aus den Einkünften ihrer weitläufigen Ländereien schöpften.20 – Auch in Genua erinnert das Mitgliederverzeichnis der Geschichtsgesellschaft an das Libro d’Oro der Superba. Hier ­seien ledig­lich die Vertreter der Familien Doria, Durazzo und Grimaldi erwähnt. Von den rund 800 Mitgliedern der Società Ligure waren allein 119 Marchesi und 32 Conti.21 Wie bei anderen Gesellschaften erfahren wir aus den Mitgliederlisten, dass die Adligen ebenfalls in zahlreichen weiteren Sozietäten engagiert waren, besonders häufig wird die Accademia Ligustica di Belle Arti genannt. – Aufgrund einer umfassenden Studie zum neapolitanischen Vereinswesen von Daniela Luigia Caglioti ist festzustellen, dass das Engagement des Adels im Geschichtsverein im Vergleich zu seiner Beteiligung an anderen kulturellen Sozietäten sogar über dem Durchschnitt lag.22

19 Diese und die folgenden Berechnungen beruhen auf detaillierten Analysen der Mitgliederlisten, ­welche die Vereine in ihren Zeitschriften abdruckten; vgl. Gabriele B. ­Clemens: Sanctus Amor Patriae. Eine vergleichende Studie zu deutschen und italie­ nischen Geschichtsvereinen im 19. Jahrhundert, Tübingen 2004, S. 65 – 81. 20 Ebenda, S. 77. 21 Dies.: Le società di storia patria e le identità regionali, in: Meridiana. Rivista di storia e scienze sociali 32 (1998) S. 97 – 119, hier 104. 22 Der Adel beteiligte sich mit durchschnitt­lich 13,7 Prozent an den Gesellschaften nach der na­tionalstaat­lichen Einigung, womit sein Interesse am Geschichtsverein, in dem er mit 20 Prozent vertreten ist, als besonders ausgeprägt bewertet werden darf; Caglioti, Associazionismo e sociabilità.

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Der piemonte­sische Adel befand sich, verg­lichen mit den anderen italienischen Adelslandschaften, aufgrund seiner Nähe zum Hof in einer besonderen Situa­tion. Ausgesprochen anziehend für diese Adelsgruppierung war gewiss die Geschichtsgesellschaft in Turin, die sich vor allem während ihrer Gründungsphase in den 1830er Jahren ausgesprochener könig­licher Protek­tion erfreute. So haben wir denn auch eine nur noch mit Mailand zu vergleichende Adelsbeteiligung von 30 Prozent bezogen auf die Gesamtmitgliedschaft. Dabei fanden weniger Vertreter des reichen Hochadels den Weg in den Verein als vielmehr jene oft erst im 19. Jahrhundert nobilitierten Adligen, die aufgrund ihrer Beamtenkarrieren eng mit dem Königshaus verbunden waren. Auch in Turin nutzte der Adel – angesichts des Verlusts von Privilegien und eines befürchteten zunehmenden Statusverlusts – neue Formen der Geselligkeit wie die Vereine geschickt zur Selbstdarstellung und Rekonstruk­tion der eigenen Werteordnung.23 Der monarchisch geprägte Geschichtsverein bot dem Adel darüber hinaus einen Raum, adlige Tradi­ tionen mittels der eigenen Historiographie gemeinsam zu rekonstruieren und zu repräsentieren. Nun wirkten die Adligen in den Geschichtsvereinen nicht nur durch ihre massive Präsenz, sie standen zudem meist an der Vereinsspitze, wobei ihnen bei der Außendarstellung wichtige Repräsenta­tionsaufgaben zukamen. Klar geregelt waren die Verhältnisse in Mailand; mit Ausnahme des renommierten Historikers Cesare Cantù standen bis 1900 immer Adlige an der Vereinsspitze. Adlige beeinflussten darüber hinaus ganz wesent­lich ­Themen und Inhalte der Publika­tionen. In den Gesellschaften wurden mit Verve genealo­gische Studien über die regionalen Adelslandschaften gefördert und finanziert. Die Mitglieder waren sich einig in ihrer hohen Wertschätzung der Aristokratie, und ein wesent­licher Schwerpunkt ihrer wissenschaft­lichen Arbeiten konzentrierte sich auf deren Erforschung.24 Was sich für die elitären Geschichtsvereine beobachten lässt, setzt sich in den italienischen Akademien fort. Da es bis zur na­tionalstaat­lichen Einigung im Jahr 1861 – abgesehen vom konstitu­tionellen Königreich Sardinien – kaum Mög­lichkeiten zur politischen Partizipa­tion gab, nutzte der Adel nicht nur die 23 Cardoza, Aristocrats, S. 155 ff. 24 Andrea Moroni: La nobiltà italiana nelle pubblicazioni araldiche e genealogiche di fine ottocento. Note per una richercha, in: Rassegna storica del risorgimento LXXXIV (1997), S. 375 – 400; Gabriele B. Clemens: Ancestors, Castles, Tradi­tion: The German and Italian Nobility and the Discovery of the Middle Ages in the Nineteenth Century, in: Journal of Modern Italian Studies 8/1 (2003), S. 1 – 15.

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Gesellschaften, sondern auch die Akademien als Ersatzforen.25 Das Akademiewesen Italiens war – anders als etwa das deutsche – durch ältere Tradi­tionen und eine viel größere Anzahl derartiger Assozia­­tionen gekennzeichnet. Noch um 1800 wurden Kultur und Wissenschaft süd­lich der Alpen weitgehend von den Akademien getragen, die schon während der Frühen Neuzeit in ganz Italien in überreicher Zahl existierten.26 Diese Institu­tionen boten den Eliten noch im 19. Jahrhundert einen glänzenden Rahmen, um über geistes- und naturwissenschaft­liche ­Themen zu diskutieren. Die gesellschaft­liche Bedeutung der Akademien ist nicht überzubewerten. Um aufgenommen zu werden, waren entsprechende familiäre Netzwerke erforder­lich. Die Mitgliedschaft in mög­lichst zahlreichen angesehenen Akademien erhöhte das s­ ozia­le und kulturelle Kapital beträcht­lich. Für Italien ist es zudem auffallend, dass die führenden adligen Historiker der elitären Geschichtsvereine zugleich die begehrten Plätze in den Akademien okkupierten. Allen voran in Turin war die Verzahnung ­zwischen dem könig­lichen historischen Verein und der könig­lichen Akademie so eng, dass Erstere partiell schon als Ableger der Akademie betrachtet wurde.27 In den ersten 45 Jahren der Vereinsgeschichte stehen zudem mit den eng befreundeten Conte Cesare Balbo (1833 – 1853) und Conte Federico Sclopis (1853 – 1878) zwei Spitzenbeamte des Risorgimento als Präsidenten sowohl der Akademie und der Turiner Geschichtsgesellschaft vor. Beide trugen zur Entstehung des italienischen Na­tionalstaats sowohl in ­Theorie und Praxis des Staatsaufbaus als auch zu seiner ideolo­gischen

25 Marco Meriggi: Der Adelsliberalismus in der Lombardei und in Venetien (1815 – 1860), in: Dieter Langewiesche (Hg.): Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im euro­ päischen Vergleich, Göttingen 1988, S. 367 – 377. 26 Zu den bedeutendsten zählten und zählen die römische Accademia dei Lincei oder die tradi­tionsreiche könig­liche Akademie in Turin. Diese landesfürst­lichen Prestigeobjekte unterschieden sich, was ihre finanzielle Ausstattung und den Ruf der Akademiker anbelangte, beträcht­lich von den kleineren meist privaten Ursprungs. Bedeutendere und größere Akademien achteten streng auf Wissenschaft­lichkeit, sahen sich als führende Forschungsanstalten und versuchten sich zugleich deut­lich von den Universitäten abzugrenzen, die sich der Lehre widmen sollten. Amedeo Quondam: L’Accademia, in: Alberto Asor Rosa: Letteratura italiana. Volume primo: Il letterato e le istituzioni, Turin 1982, S. 823 – 898. Die Studie beschränkt sich leider auf den Zeitraum des 16. bis 18. Jahrhunderts. Das mehrbändige Handbuch von Maylender bietet eine Übersicht über die große Vielfalt und Zahl der italienischen Akademien; Michele Maylender: Storia delle Accademie d’Italia, 5 Bde, Bologna 1926 – 1930. 27 Gian Paolo Romagnani: Storiografia e politica culturale nel Piemonte di Carlo Alberto, Turin 1985, S. 295.

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Legitima­tion Wesent­liches bei. Zudem hatten Balbo und Sclopis einen äußerst starken organisatorischen und ideolo­gischen Einfluss auf die piemonte­sische Geschichtswissenschaft.28 In Ligurien und in der Toskana verhielt es sich ähn­lich. Personelle Überschneidungen und Interessensübereinstimmungen kennzeichneten die Beziehungen ­zwischen der adlig dominierten Accademia ligus­tica di belle arti in Genua und dem städtischen Geschichtsverein.29 Marchese Gino Capponi, langjähriger Präsident der toskanischen Geschichtsgesellschaft, spielte ebenfalls eine entscheidende Rolle in den führenden geisteswissenschaft­lichen Akademien von Florenz. Diese Akademieplätze wurden in der Stadt am Arno wie ein Familiengut gehandelt. So wurde Capponi bereits mit 18 Jahren als Mitglied der Accademia Colombaria auf Drängen seines Vaters Pier Roberto aufgenommen und gleich zum Präsidenten gewählt. Diese Leitungsfunk­tionen in den Akademien wurden von Florentiner Adelsfamilien von Genera­tion zu Genera­tion weitergereicht.30 Kooptiert wurden in diese Gesellschaften partiell bürger­liche Intellektuelle und Wissenschaftler, die jedoch meist nicht über den Status des Juniorpartners hinauskamen.31 In der italienischen Forschung herrscht Konsens darüber, wie allen voran der piemonte­sische Adel die Historiographie und historische Inszenierungen nutzte, um seinen Prestigeverlust um 1900 auszugleichen. So besann er sich auf seine ruhmreiche Vergangenheit, öffnete seine Privatarchive oder übergab

28 Umberto Levra: Fare gli Italiani. Memoria e celebrazione del Risorgimento, Turin 1992; ders.: I soggetti, I luoghi, le attività della storiografia „sabaudista“ nell’Ottocento, in: Cheiron 13 (1996), S. 223 – 238. 29 Maria Elisabetta Tonizzi: Borghesi a Genova nell’Ottocento. Associazionismo ricreativo e culturale dell’élite tra la Restaurazione e l’Unità, in: Contemporanea 13/4 (2010), S. 609 – 633, hier 614 f. 30 Kroll, Revolte, S. 163. 31 Vor allem in jenen Akademien, die sich auf landwirtschaft­liche und technische T ­ hemen konzentrierten; hier diskutierten die versammelten liberalen Adligen über Fragen der Anbau- und Zuchtmethoden, neue Düngemög­lichkeiten – ein Thema, das von zen­ traler Wichtigkeit war –, über Manufakturen und Dampfmaschinen zur Verarbeitung der landwirtschaft­lichen Produkte sowie über Verbesserungen in der Infrastruktur, um die Erträge besser vermarkten zu können. Anders als in den gesellschaft­lich exklusiven Sozietäten des Adels waren hier Bürger­liche mit ihrem Expertenwissen hoch willkommen. Vor allem mit Ingenieuren und Chemikern diskutierten die Großgrundbesitzer gerne über agronomische Fragen. Zu den italienischen Agrargesellschaften s. die zweibändige Aufsatzsammlung von: Massimo M. Augello/Marco E. L. Guidi: Associazionismo economico e diffusione dell’Economia nell’Italia dell’Ottocento. Dalle società economico-­agrarie alle associazioni di economisti, 2 Bde. Mailand 2000.

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seine Nachlässe dem könig­lichen Haus- und Hofarchiv. Professionelle Historiker und adlige Dilettanten publizierten Unmengen von adliger Memoirenliteratur, Genealogien und Familiengeschichten. Motiviert waren diese Koopera­tionen von einem Ziel: die mög­lichst altadligen Wurzeln zu rekonstruieren und die Aristokratie als Wahrer von Prinzipien wie Treue gegenüber der Dynastie, Religion, Pflicht und Tugend zu stilisieren, um so den unverzichtbaren Beitrag des Adels für den Aufbau der piemonte­sischen Monarchie und letztend­lich auch für die Gründung des Na­tionalstaates 1861 zu postulieren. Dabei beließ er es aber nicht bei Denkmälern auf Papier, sondern inszenierte sich effektvoll in privaten Museen, und dies nicht nur im politischen Zentrum Turin, sondern auch auf den Landsitzen in Piemont. Der Adel machte im ausgehenden 19. Jahrhundert seine Paläste der Öffent­lichkeit zugäng­lich, um einem größeren Publikum genau diese historische Leistung zu vermitteln.32 Derartige Inszenierungen folgten vielfach dem Muster: von der privaten Reliquie zur öffent­lichen Repräsenta­tion. Da wäre zunächst die Musealisierung der Erinnerung der Familie des Grafen Camillo Benso di Cavour, dem „­Bismarck“ Italiens, von Interesse. Seine Nichte Giuseppina trug auf Santena, dem unweit Turin gelegenen Landschlösschen Cavours, familiäre Devo­tionalien zusammen, ­welche einst dem früh verstorbenen Gründer des Königreichs Italiens gehört hatten. Darunter befand sich unter anderem die Kugel, ­welche den geliebten Neffen Augusto in Goito im Alter von gerade 20 Jahren getötet hatte. Weiterhin wurde die blutgetränkte Offiziersuniform ausgestellt, die Augusto, der älteste Sohn des Bruders Gustavo, an ­diesem Schicksalstag getragen hatte.33 – Bei Asti sammelte die altadlige Familie Alfieri in ihrer Villa San Martino alte und neue Erinnerungsstücke und verwandelte mit diesen Zimelien und Reliquien den Palast, die ­Kirche und die Familiengrablege in ein regelrechtes historisches Museum.34 Andere adlige Familien in Piemont stifteten ihre privaten Familienreliquien städtischen und staat­lichen Museen. So gelangte die aristokratische Memoria in die Öffent­lichkeit und beeinflusste letztend­lich sogar die universitäre Lehre und Forschung in Turin nachhaltig. 32 Zu ­diesem Themenkomplex vgl. grundlegend Silvia Cavicchioli: L’eredità Cadorna. Una storia di famiglia dal 18° al 20° secolo, Rom 2001; dies.: Famiglia, memoria, mito. I Ferrero della Marmora (1748 – 1918), Rom 2004; Silvano Montaldo: Celebrare il Risorgimento. Collezionismo artistico e memorie familiari a Torino 1848 – 1915, Turin 2013. 33 In der Schlacht von Goito am 30. Mai 1848 besiegten italienische Truppen unter piemonte­ sischer Führung die österreichischen Verbände. 34 Laura Cerato: Vita privata delle nobiltà piemotese. Gli Alfieri e gli Azeglio, 1730 – 1897, Rom 2006.

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Geschichtsprofessoren wie Costanzo Rinaudo, Adolfo Colombo, Pietro Fedele und Paolo Boselli arbeiteten mit den adligen Nachlässen, publizierten Regesten und Monographien über die piemonte­sische Aristokratie.35 Dieses Phänomen beschränkte sich nun keineswegs auf den Norden des jungen Na­tionalstaates, Vergleichbares lässt sich auch für den äußersten Süden beobachten. Auch hier kam es zur „Musealisierung“ der familialen Memoria. So inszenierte der Adel Catanias seine Familiengeschichte in den Stadtpalästen und öffnete diese vorsichtig einem weiteren Publikum.36 Die Adligen gingen aber noch einen Schritt weiter. Gemeinsam mit bürger­ lichen Historikern kreierten sie die Risorgimento-­Institute, um ihren Beitrag zur Na­tionalstaatsgründung öffent­lich zu erforschen und zu manifestieren. Diese neuen Forschungseinrichtungen entstanden häufig anläss­lich des Staatsgründungsjubiläums 1911, wobei einige dieser Institu­tionen aber auf eine etwas ältere Entstehungsgeschichte zurückblicken konnten. Vorausgegangen war in den Jahren 1885 bis 1895 eine Reihe von Initiativen, regionale Risorgimento-­ Museen zu gründen, die auf privaten Sammlungen und Spenden basierten.37 Mit ganz besonders großem Eifer ging man abermals in Turin, der Wiege des Na­tionalstaates, ans Werk. Die adligen Historiker konnten die Verlagerung der Hauptstadt 1864 zunächst nach Florenz und dann 1871 nach Rom nie recht verwinden. Hatten sie sich doch, wenn überhaupt, einen starken piemonte­sischen Staat gewünscht, der sich über große Teile Italiens ausdehnen und unbedingt von ihrer Kapitale aus – dem Stammsitz der Monarchie – regiert werden sollte.38 Zudem mussten die staatstragenden Eliten Piemonts 1878 ohnmächtig hinnehmen, dass der erste italienische König in der neuen Hauptstadt im Pantheon

35 Silvia Cavicchioli: Erinnerung und Mythos: Familientradi­tionen und Selbstdarstellungen des piemonte­sischen Adels, in: Clemens/König/Meriggi (Hg.): Hochkultur als Herrschaftselement, S.  167 – 189. 36 Alfio Signorelli: Tra ceto e censo. Studi sulle élites urbane nella Sicilia dell’Ottocento. Mailand 1999; ders.: A teatro, al circolo. Socialità borghese nella Sicilia dell’Ottocento, Rom 2000. 37 Massimo Baioni: Cento anni di storia e memoria risorgimentali. 1895 – 1995. Il Comitato di Torino dell’Istituto per la Storia del Risorgimento, in: Rassegna storica del Risorgimento LXXXIX (1997), S. 195 – 208. 38 Genau wie in Preußen waren in Piemont nicht alle Konservativen glühende Anhänger der Na­tionalstaatsbewegung; vgl. hierzu Amerigo Caruso: „Räuberkönig“ oder „natür­ licher Bundesgenosse“? Rezep­tion und Funk­tionalisierung der italienischen Na­tionalstaatsgründung im konservativen preußischen Diskurs, in: Gabriele B. Clemens/Jens Späth, 150 Jahre Risorgimento – geeintes Italien?, Trier 2014, S. 49 – 72.

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und nicht in der Turiner Familiengruft bestattet wurde.39 Anläss­lich von staat­ lichen Feier­lichkeiten zur Na­tionalstaatsgründung und mittels der Historiographie sollte verlorenes Terrain wiedergewonnen werden. Bereits vier Jahre vor dem Jubiläum wurde in Turin eine na­tionale Geschichtsgesellschaft zur Erforschung des italienischen Risorgimento gegründet. Auffallend sind hierbei die personellen Überschneidungen mit der Deputazione di Storia Patria, denn wieder treffen wir auf zahlreiche Exponenten adliger königstreuer Familien. Dem Gründungskomitee stand 1907 der Marchese Cesare Ferrero di Cambiano vor. Das erste Mitgliederverzeichnis spricht für sich: Die alte Aristokratie Piemonts, die Militärs und Diplomaten, unter ihnen der führende Heraldiker und Chronist des Hauses Savoyen, Barone Alberto Manno, waren nahezu vollständig vertreten. Daneben engagierte sich auch – und dies unterscheidet die neue Initiative vom alten Geschichtsverein – eine stärkere Gruppe von Wissenschaftlern, Professoren und Lehrern.40 Wenn man sich aber die historiographischen Initiativen des piemonte­sischen Instituts anschaut, dann wurde genau die Art der Geschichtsschreibung in die Zeit des Risorgimento übertragen, die zuvor im Verein und in der Akademie gepflegt worden war. Gesammelt wurden Regesten und Dokumente zur regionalen Geschichte, wobei das zugrunde liegende Material von den beteiligten Adelsfamilien großzügig gestiftet wurde. Die darauf basierenden Publika­tionen wurden von den staatstragenden Eliten rezipiert und trugen dazu bei, die Adligen Savoyens als die eigent­lichen Protagonisten und Helden hervorzuheben, die alles auf dem Feld der Ehre geopfert hatten, um den Na­tionalstaat zu gründen.41 Neben dem „na­tionalen“ Institut in Turin und dem zentralen in Rom, das sich intensiv mit dem Projekt des größten Na­tionaldenkmals überhaupt, dem sogenannten Vittoriano, beschäftigte,42 gab es eine Reihe mit ihm locker verbundener 39 Bruno Tobia: Una patria per gli italiani: spazi, itinerari, monumenti nell’Italia unita, 1870 – 1900, Rom-­Bari 1991. 40 Silvia Cavicchioli: Le collezioni storico-­artistiche del Museo Nazionale del Risorgimento Italiano di Torino, Turin 2009; Umberta Levra: Il Museo Nazionale del Risorgimento Italiano di Torino, Turin 2011. 41 Das Turiner Risorgimento-­Institut ist derzeit besonders gut erforscht. So zeigt Silvia Cavicchioli eindrück­lich, wie es einen wichtigen Baustein in einer ganzen Reihe von Initiativen darstellte, die der piemonte­sische Adel nutzte, um sich mittels der Historiographie und historischer Inszenierungen zu präsentieren, um so sein Prestige zu mehren. Die Intensität des Engagement scheint, gemäß dem derzeitigen Forschungsstand, einzigartig zu sein; vgl. Cavicchioli, Erinnerung, S. 167 – 189. 42 Catherine Brice: Monumentalité publique e politique à Rome: le Vittoriano. Rom 1998.

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Risorgimento-­Institute in Mailand, Genua, Bologna, Florenz, Modena, Parma, Perugia sowie in vielen weiteren Städten in Nord- und Mittelitalien. Im Süden blieb ihre Anzahl aufgrund der geringeren Städtedichte kleiner. Es gab und gibt Institute in Cagliari, Consenza, Bari, Macerata, Neapel und Sassari. Diese Risorgimento-­Institute zogen partiell dieselben Mitglieder wie die Geschichtsgesellschaften, aber auch verstärkt die Zeitzeugen und Kombattanten der Einigungskriege an, allen voran adlige Offiziere. Mit den Publika­tionen der Institute und in Sonderheit mit den Ausstellungsstücken in den Museen (Uniformen, Waffen, Heldenportraits und Schlachtenbilder) wurde jeweils das eigene heldenhafte Opfer für den Einigungsprozess zelebriert. In den neuen städtischen Museen standen selbstverständ­lich immer der eigene regionale Adel und dessen heroische Taten auf dem Weg zur Na­tion im Fokus des Interesses. So erinnerte man in Mailand an die Märtyrer, die sich standhaft der österreichischen Herrschaft entgegengestellt hatten, teilweise lange Haftstrafen im Kerker des Spielbergs ertragen hatten sowie zu den führenden Köpfen der rechtsliberalen Società Nazionale Italiana gehörten.43 Als Beispiel sei hier nur der Märtyrer Marchese Giorgio Pallavicini erwähnt, der erste Präsident dieser Vereinigung, die einen beacht­lichen Teil des einheimischen Adels und des Bürgertums für eine Annexion der Lombardei durch Piemont-­Sardinien Ende der 1850er Jahre gewinnen konnte.44 Doch nicht nur wissenschaft­liche Gesellschaften, Akademien und Museen dienten der (Auto-) Repräsenta­tion im städtischen Raum, sondern auch exklusive Clubs. So wurde über die Società del Whist in Turin gemunkelt, sie repräsentiere eine Aristokratie innerhalb der Aristokratie.45 Für den Adel in Bologna boten sich das Casino dei Nobili und die Società del Quartetto im Palazzo des Conte Camillo Pizzardi als exklusive Treffpunkte an.46 In Neapel blieb die Aristokratie im Kasino ebenfalls unter sich.47 Und in Catania kam dem Caffè dei 43 In dieser Gesellschaft organisierten sich die na­tionalliberalen Eliten Nord- und Mittel­ italiens vor 1859, um einen vom König Savoyens regierten Na­tionalstaat durchzusetzen; Mark Gellert: Die „Società Nazionale Italiana“ und der „Deutsche Na­tionalverein“. Ein Vergleich der Organisa­tion und ihrer Rolle in na­tionaler Bewegung und Einigung. Aachen 1991. 44 Massimo Baioni: La „religione della Patria“. Musei e istituti del culto risorgimentale (1884 – 1918), Quinto di Treviso 1994, S. 42 45 Cardoza, Aristocrats, S. 157. 46 Pierfrancesco Morabito: Divertimento e élites sociali a Bologna nella prima metà dell’Otto­cento: La Società del Casino, in: Cheiron 5 (1988), S. 169 – 193; Axel Körner: Politics and Culture in Liberal Italy. From Unifica­tion to Fascism, New York 2009, S. 45. 47 Caglioti, Associazionismo e sociabilità, S. 10.

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Nobili zumindest in der ersten Jahrhunderthälfte eine vergleichbare Funk­tion zu, auf jeden Fall sahen die Bürger­lichen in ihm ein Symbol der adligen Privilegien. Den Adeligen garantierte ihr exklusives Caffè hohe Aufmerksamkeit und Imageaufwertung, was vor allem am Sitz der Lokalität im Erdgeschoss des Rathauses lag, welches der zentralen Piazza dell’università zugewandt war. Dieser Platz verwandelte sich im Sommer – ausgestattet mit Stühlen und Tischen – zu einem Parkett für die Privilegierten. Von dort aus konnten die Adligen an den ­Theater- und Musikaufführungen teilhaben. Gleichzeitig diente das Caffè ihnen als Bühne, auf der sie der Stadt tagtäg­lich das Bild einer geschlossen Kaste und einer vorherrschenden Schicht lieferten. Nach der schweren Beschädigung des Rathauses durch ein Erdbeben 1818 verlagerte man das Treffen in den zentral gelegenen Palazzo dei duchi di Caraci.48 Im Laufe des Jahrhunderts verlor das Caffé jedoch an Gewicht und Exklusivität. Der Adel Catanias setzte nun auf neue Formen des Engagements und dazu gehörte neben dem Aufbau von Bibliotheken und Museen vor allem das ­Theater. Ein größeres Publikum erreichte die Aristokratie zweifelsohne, wenn sie sich für die Repräsenta­tionsarchitektur von Theatergebäuden und Th ­ eaterbzw. Operninszenierungen als Mäzene engagierte. So entwickelte sich das seit Anfang der 1820er Jahre in Catania betriebene ­Theater der Oper zu einer neuen Bühne für den Adel. Noch im 18. Jahrhundert hatte sich der Adel exklusiv in den zahllosen privaten Theatern in seinen Palästen getroffen, nun bevorzugte er den öffent­lichen Raum, um seine Distinguiertheit zu demonstrieren. Alfio Signorelli konnte anhand der Analyse von Abonnements nachweisen, wie sich die adligen Familien gegenüber einer breiteren Öffent­lichkeit inszenierten. Dabei waren natür­lich die Logen am begehrtesten, die zentral und in unmittelbarer Nähe der könig­lichen Loge und jener Familien lagen, die am Hofe akkreditiert waren.49 Was für Catania eingehender untersucht wurde, spiegelt ein landesweites Phänomen. Jede größere Stadt Italiens besaß ein Th ­ eater. Es war der symbo­lische Ort, wo sich die „gute Gesellschaft“ traf. Folgt man Benedetto Croce, dann mutierte Neapel erst mit der Eröffnung des Theaters San Carlo von der Provinzstadt zur Kapitale.50 Es galt bis zur Na­tionalstaatsgründung als „Verlängerung“ des Hofes.51 48 Alfio Signorelli: Adelige Identität und kommunale Macht in Sizilien, in: Clemens/König/ Meriggi (Hg.) Hochkultur, S. 139 – 167. 49 Alfio Signorelli: A teatro, al circolo. Socialità borghese nella Sicilia dell’Ottocento, Rom 2000, S. 86. 50 Benedetto Croce: I teatri di Napoli. Secolo XV–XVIII, Neapel 1891, S. 334. 51 Paolo Macry: I Giochi dell’incertezza. Napoli nell’Ottocento, Neapel 2002, hier 18.

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Dabei spielten die in den Theatern inszenierten Opern im urbanen Leben eine kaum zu überschätzende Rolle. Während Italien seine kulturelle Anziehungskraft in Sachen Malerei und Skulptur verlor und sich Paris zum Zentrum der bildenden Künste Europas entwickelte, gewannen die in den italienischen Metropolen uraufgeführten sogenannten lyrischen Opern der Romantik interna­tionale Popularität und galten als die na­tionale Kunstform.52 Unangefochten an der Spitze des Renommees standen die großen fünf Häuser di Alto Cartello: die Scala in Mailand, das San Carlo in Neapel, das Tordinona in Rom, das könig­liche Th ­ eater in Turin sowie das La Fenice in Venedig.53 Adlige trafen sich in diesen Häusern bis zu dreimal wöchent­lich abends, um zu dinieren, Karten zu spielen und Musik zu hören. Da ein allgemeines Versammlungsverbot herrschte, nutzten sie diese Mög­lichkeiten des Zusammentreffens auch als politisches Ersatzforum.54 Dank der Arbeiten von Paola Magnarelli sind wir weiterhin gut über die Bedeutung des Theaterbaus für das Patriziat in den Marken informiert. Dessen Status basierte auf der Übernahme städtischer Ämter und seinem Grundbesitz vor den Stadttoren. In den zahlreichen Kommunen galt es für das Patriziat, mit großzügigen Finanzierungen öffent­licher Bauten, allen voran aufwendiger Theaterbauten, Prestige zu gewinnen und auch im jungen Na­tionalstaat nach 1861 Führungsqualitäten weiterhin zu beweisen. Hier wurden angesichts der Tatsache, dass die Städte mit Umland selten mehr als 15.000 Einwohner aufwiesen, völlig überdimensionierte Prachtbauten geschaffen. Eine 1868 durchgeführte ministerielle Umfrage kam zu dem Ergebnis, dass es in der kleinen Region Marken 91 aktive Th ­ eater gab, was einem Anteil von zehn Prozent in Gesamtitalien entsprach. Dieses Ergebnis belegt nicht nur die hohe Städtedichte in Mittelitalien, sondern auch die ausgeprägte Vorliebe des Patriziats für Theaterinszenierungen. Wie in Catania spiegelte die Hierarchie z­ wischen Loge und Parkett in den Marken

52 Auch dabei handelt es sich wiederum um ein euro­päisches Phänomen. Zum großen Engagement des Adels für das Operntheater in Dresden, Prag und Lemberg vgl. die instruktive Studie von Philipp Ther: In der Mitte der Gesellschaft. Operntheater in Zentraleuropa 1815 – 1914, München 2006. 53 Auf der zweiten Stufe standen die 19 Teatri di Cartello in Ancona, Bologna, Florenz (2), Genua, Livorno, Lucc, Modena, Neapel (3), Palermo, Parma, Pisa, Ravenna, Rom (2), Turin (2), Triest und Verona; Carlotta Sorba: I Teatri. L’Italia del melodrama nell’età del Risorgimento, Bologna 2011, S. 146 – 147. 54 John A. Davis: Opera and Absolutism in Restora­tion Italy. 1815 – 1860, in: The Journal of Interdisciplinary History 36/4 (2006), S. 569 – 594, hier 572.

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die städtischen Gesellschaftsstrukturen, und das luxuriöse Ambiente bestätigte die dominante Rolle des Adels erneut.55 Eine exzellente Fallstudie von Axel Körner liegt darüber hinaus für B ­ ologna, die Hauptstadt der Emilia Romagna, vor. Das Teatro comunale, eines der prächtigsten Opernhäuser Europas, wurde 1763 gleich neben dem Palast der Familie Bentivoglio errichtet. Deren Residenz mit 300 ausgeschmückten Räumen galt als einer der schönsten Stadtpaläste Italiens, und seine Eigentümer stellten seit der Frühen Neuzeit eine der mächtigsten Familien der Stadt. Dieses sogenannte kommunale ­Theater wurde noch unter der päpst­lichen Regierung erbaut, wobei die Bezeichnung kommunal für den gemeinsamen Besitz des Adels und nicht für die Stadtgemeinde als Ganzes stand. Unter der päpst­ lichen Herrschaft war es oft das einzige ­Theater, das Opern aufführen und wo während der Karnevalszeit Bälle stattfinden durften – ein ökonomisches und sozia­les Privileg für die adligen Besitzer der prächtigen Logen. Nach dem Untergang des Kirchenstaates wollten die Adligen ihre s­ ozia­le Exklusivität erhalten und finanzierten das Th ­ eater weiter aus ihren eigenen Reihen ohne staat­liche Unterstützung.56 Die bisherigen Ausführungen belegen, dass die Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten für Italien viele instruktive Arbeiten zum adligen Engagement in den Bereichen Gesellschaftswesen, Etablierung historischer Museen und in der Förderung der Theaterkultur geleistet hat. Im Hinblick auf das Engagement der italienischen Aristokratie im Bereich der bildenden Künste steht sie allerdings noch am Anfang. Leider gibt es hier für das lange 19. Jahrhundert bisher nur wenige Arbeiten zum Mäzenatentum oder zum Kunstmarkt. Während die Literatur zu diesen Themenkomplexen für die Renaissance und die Frühe Neuzeit ganze Bibliotheken füllen könnte, gestaltet sich die Suche 55 Paola Magnarelli: L’ottavo peccato capitale. Nobili e borghesi tra le Marche e Roma, in: Giacomina Nenci (Hg.): Nobili e borghesi nel tramonto dello Stato Pontificio, in: Roma moderna e contemporanea XVI (2008), S. 87 – 110; dies.: Tra il dovere e il piacere. Matri­monio e mésalliance nelle lettere della piccola nobiltà marchigiana, in: Maria Luisa Betri/Daniela Maldini Chiarito (Hg.): „Dolce dono graditissimo“. La lettera privata tra Settecento e Novecento, Mailand 2000, S. 157 – 185; dies.: Vecchia e nuova nobiltà: un ritratto di gruppo, in: Angela Montironi (Hg.): Nel segno di Napoleone. Ville e dimore marchigiane fra Settecento e Ottocento. Mailand 2002, 25 – 45; dies.: L’élite pontificia alla prova della politica. Continuità e cesure nel lungo Ottocento, in: Maria Luisa Betri (Hg.): Ripensare l’Ottocento. Risorgimento e nazione, Rom 2010, S. 357 – 370; dies.: Notabili e potere locale, in: Giovanni Sabbatucci/Vittorio Vidotto (Hg.): L’unificazione italiana, Rom 2011, S. 151 – 169. 56 Körner, Politics and Culture, S. 47 – 49.

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nach entsprechenden Hinweisen ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert recht schwierig. Dabei trat der Adel natür­lich in ­diesem Feld gemäß tradi­tioneller Muster weiterhin als Mäzen auf. Eine Analyse in den reichen Familienarchiven oder Auswertungen der vielen publizierten Sammlungskataloge böte hier mit Sicherheit reiches Material für weiterführende Untersuchungen. Derzeit ist der Forschungsstand zu Stiftungen, Sammlungen und mäzenatischem Handeln alter Familien bescheiden, etwas besser sind wir hingegen über nobilitierte Aufsteiger unterrichtet. Wie die reichen Kaufmanns- und Industriellenfamilien in Paris, London, Gent, Berlin oder Köln investierten italienische Aufsteiger, einmal zu Reichtum gekommen, denselben Logiken folgend enorme Summen in Kunst und Latifundien.57 Dies sei am Beispiel von vier Familien aufgezeigt: der Familie Costabili Containi in Ferrara, der Familie Torlonia in Rom, der Familie ­Ladarelle im Großherzogtum Toskana sowie der Familie De Ferrari aus Genua. Dabei gilt es auch einen Blick auf die Nobilitierungen und die Heiratspolitik zu werfen, weil erst das ganze Assemble: Reichtum, Grundbesitz, Kultur und Familienbeziehungen gesellschaft­lichen Aufstieg garantierten. Giambattista Costabili Containi gehörte um 1800 zu den entschiedenen Anhängern der Franzö­sischen Revolu­tion und des napoleonischen Systems, das ihm eine glänzende Karriere ermög­lichte. Er war Generalverwalter des Besitzes der Krone im Königreich Italien, wurde mit Ehrentiteln überhäuft und 1809 zum Conte des Empires erhoben.58 Nachdem Costabili erheb­liche Summen mit Heereslieferungen verdient hatte, nutzte er den Verkauf des säkularisierten Kirchenbesitzes, um in Ländereien zu investieren. Während seiner Zeit am napoleonischen Hof in Mailand verband ihn eine Freundschaft mit dem Vizekönig Eugen. Nach dem Zusammenbruch des Empire kehrte er in seine Heimatstadt Ferrara zurück und engagierte sich fortan im Stadtrat. 1836 erhob ihn Papst Gregor XVI. zum Marchese. Sein neuer Wohnsitz, der ehemalige Palast der aristokratischen Familie Bevilaqua in Ferrara, diente als Galerie. Jene Jahre des Umbruchs boten hervorragende Mög­lichkeiten für Kunstsammler. Auf den Markt kamen zum einen Bilder von alten aristokratischen Familien, die ausstarben oder in Not geraten waren, und zum anderen jene aus den zahlreich aufgehobenen kirch­lichen Institu­tionen. Neben Bildern aus Ferrara konzentrierte 57 Hierzu Gabriele B. Clemens: Händler, Sammler und Museen. Der euro­päische Kunstmarkt um 1900, in: Themenportal Euro­päische Geschichte (2014), http://www.europa. clio-­online.de/2014/Article=687 (vom 25. 11. 2015). 58 Zu seiner Biographie Gianni Venturi: Costabili Containi, Giovanni Battista, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 30, Rom 1984, S. 264 – 266.

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Costabili sich – wie andere Sammler auch – vorzugsweise auf Gemälde aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Am Ende seines Lebens war die Kollek­tion auf über 600 Bilder angewachsen. Nach seinem Tod wollten die Erben die ganze Sammlung an die Stadt verkaufen, diese lehnte das Angebot jedoch ab. Die Gemälde wurden sukzessiv versteigert, wobei die wertvollsten Stücke nach London in die Na­tional Gallery gingen. Costabili orientierte sich beim Aufbau seiner Sammlung an aristokratischen Vorbildern; beraten von dem Kunstexperten Conte Leopoldo Cicognara, baute er während weniger Jahrzehnte eine Galerie auf, wofür seine adligen Nachbarn Jahrhunderte gebraucht hatten.59 Ähn­lichen Handlungsmustern folgten die Torlonias, die als einfache Bürger im 18. Jahrhundert aus der Auvergne in die Ewige Stadt gekommen waren. Durch Tuch- und Getreidegeschäfte, Beteiligungen an Baumwollmanufakturen, Säge- und Bergwerken, ­später vor allem durch den Kunsthandel und das Bankgeschäft brachten sie es zu einem exorbitanten Vermögen.60 Nach 1800 waren sie die führenden Bankiers Roms. Sie akkumulierten Adelspaläste, Landgüter und Adelstitel, zunächst den eines Marchese di Romavecchia, dann den eines Principe. Mithilfe von Heiratsbeziehungen vernetzte sich die Familie geschickt mit dem römischen Hochadel, zu den Familien Colonna-­Doria und Borghese.61 Neben anderen wertvollen Immobilien ließ Alessandro Torlonia seine an der Via Nomentana gelegene Villa Colonna und den Stadtpalast an der Piazza Venezia kostbar ausstatten.62 Der Stadtpalast und die Villa waren neben anderen Landgütern sichtbare Symbole des Aufstiegs der Familie an die Spitze der römischen Aristokratie. Ihr Mäzenatentum stand ganz im Dienste der Selbstdarstellung und verfolgte ein Ziel, näm­lich die kurze Geschichte der Familie vergessen zu machen und das Geld als den Ursprung ihres Adels zu nobilitieren. Dabei waren weder Alessandro noch sein Vater Giovanni fanatische Kunstliebhaber. Nachdem die Residenzen standesgemäß ausgeschmückt waren, wandten sie sich öffent­lichen Aufgaben zu, wie zum Beispiel Kirchenrestaurierungen, die ein gewisses Renommee sicherten und als klas­sische Akte

59 Gian Domenico Romanelli: Cicognara, Francesco Leopoldo, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 25, Rom 1981, S. 421 – 428. 60 Allein schon der populäre Titel des Buches von Hans von Hülsen: Torlonia. „Krösus von Rom“. Geschichte einer Gelddynastie. München 1940, weist auf sagenumwobenen Reichtum hin. 61 Barbara Steindl: Mäzenatentum im Rom des 19. Jahrhunderts. Die Familie Torlonia, Hildesheim 1993, S. 3. 1902 wurde der Palazzo an der Piazza Venezia der Erweiterung des Platzes geopfert und abgerissen. 62 Adriana Campitelli: Villa Torlonia: l’ultima impresa del mecenatismo romano, Rom 1997.

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fürst­licher Magnificenza ausgewiesen waren. Ihre Stadtpaläste und Landsitze dienten nicht zuletzt dazu, den euro­päischen Hochadel zu empfangen, um ihn dort mit opulenten Festen und exquisiten Kunstsammlungen zu beeindrucken. Anläss­lich eines Empfangs im Jahr 1842 auf dem unter den 4000 geladenen Gästen neben Papst Gregor XVI. auch Ludwig I. anwesend waren, wurde das mäzenatische Handeln Torlonias sogar mit dem des bayerischen Königs verg­lichen.63 Alles in allem präsentierte sich der Prinz wie ein Fürst des Ancien Régime.64 Einen vergleichbar steilen Aufstieg schafften die ebenfalls aus Frankreich stammenden Larderels, Conte di Montecerboli in Livorno. Sie schufen Reichtümer mit der Gewinnung von Schwefel, Borsäure und Ammoniak in der Toskana. Auch sie erwarben wie die Torlonia Stadtpaläste in Livorno und Florenz sowie große Landgüter in der Umgebung.65 Als Beispiel für eine selbstreferentielle Ausgestaltung ­seien der Stadtpalast der Familie Larderel in Livorno und das Landgut Pomarance angeführt. Beide sind prunkvoll ausgestattet mit historisierenden Architektur- und Dekorstücken, dem omnipräsenten Familienwappen, opulenten Bilder- und Statuensammlungen sowie einer fiktiven Ahnengalerie. Nicht nur der Ankauf wertvoller Kunst, sondern auch der Kauf von Landgütern mit enormen Nutzflächen war nicht rein wirtschaft­lich motiviert. Die Neureichen folgten damit einem in Frankreich schon während des Ancien Régime üb­lichen Muster. Man kaufte ausgedehnte Landgüter, richtete einen Fideikommiss oder ein Majorat ein, was dann im Fall einer Standeserhebung die Erb­lichkeit des Titels und klangvolle Namen garantierte. Der Landkauf diente also in erster Linie der Standeserhöhung, es kam ihm ein nicht hoch genug zu veranschlagender Prestigewert zu. Erst der Besitz von Grund und Boden schaffte wirk­liches gesellschaft­liches Ansehen. Zudem war es ein weithin 63 Carlo Poppi: La nobiltà del censo: i Torlonia e Roma, in: Sandra Pinto/Liliana Barroero/ Fernando Mazzocca (Hg.): Maestà di Roma da Napoleone all’Unità d’Italia (Ausstellungskatalog), Mailand 2003, S. 407. 64 Daniela Felisini: „Quel capitalista per ricchezza principalissimo“. Alessandro Torlonia principe, banchiere, imprenditore nell’Ottocento romano, Soveria Mennelli 2004, dies.: Geld, Macht und politischer Einfluss: Der principe Alessandro Torlonia im Rom des 19. Jahrhunderts, in: Clemens/König/Meriggi (Hg.) Hochkultur, S. 211 – 231, hier 223. Vgl. zu ­diesem Typus die neuere Arbeit von Stefan Körner: Nikolaus II. Esterházy und die Kunst. Biografie eines manischen Sammlers, Wien u. a. 2013. 65 Raffaele Romanelli: Famiglia e patrimonio nei comportamenti della nobiltà borghese dell’Ottocento, in: Lucia Frattarelli Fischer/Maria Teresa Lazzarini: Palazzo de Larderel a Livorno. La rappresentazione di un’ascesa sociale nella Toscana dell’Ottocento, Mailand 1992, S. 9 – 27.

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sicheres Investment. Dasselbe gilt für die wertvollen Kunstsammlungen. Auch sie waren Investi­tions- und Spekula­tionsobjekte, stellten im Notfall eine finanzielle Reserve dar und dürfen nicht ausschließ­lich unter dem Aspekt der Prestigemehrung gesehen werden. Immobilien und Kunst stellten eine mög­liche Versicherung bei abflauenden Konjunkturen dar und konnten dabei in Einzelfällen sogar einen drohenden Konkurs abwenden. Doch nicht nur in den Jahren nach 1800 investierten Unternehmer hohe Summen in Grundbesitz, dieser Trend hielt während des gesamten Jahrhunderts ungebrochen an. Zu wenig wurde von der Forschung bisher auch beachtet, dass die neureichen Nobilitierten durch ihre Landkäufe und ihre Heiratspolitik den alten Adel stabilisierten. Viele Tradi­tionsfamilien gerieten durch die Umwälzungen und Reformen seit der Franzö­sischen Revolu­tion in finanziell schwierige Situa­tionen, da konnte es entlasten, einen Teil der Güter zu verkaufen, um das Familienerbe zu retten. Als viertes Beispiel ­seien die De Ferrari aus Genua angeführt. Deren Aufstieg und ihr mäzenatisches Engagement bieten eine weitere Parallelgeschichte. Andrea De Ferrari erwirtschaftete während der letzten Jahrzehnte des Ancien Régime in der Seerepublik ein großes Vermögen als Kaufmann. Für seine Verdienste wurde er 1787 geadelt. 1828 heiratete sein Sohn Raffaele de Ferraris Maria Brignole Sale, Tochter einer altadligen Familie, ­welche an der Spitze des sozia­len Ansehens in Genua stand. Sie war verwandt mit dem franzö­sischen Hochadel und ihre illustren Verbindungen öffneten Raffaele De Ferrari die Türen zur franzö­sischen und interna­tionalen High Society. Er vermehrte das mobile väter­liche Vermögen durch Investi­tionen in den franzö­sischen Eisenbahnbau und mit Bauspekula­tionen in Paris.66 Auch dieser Parvenü kaufte riesige Ländereien in der Region von Bologna mit einem Schloss aus dem 16. Jahrhundert, ­welche wiederum die Basis für seine Erhebung in den Prinzenrang bildeten.67 Der Titel eines Duca de Galliera wurde ihm 1838 vom Papst verliehen und 1843 nochmals von Karl Albert von Sardinien bestätigt. Auch im Falle der De ­Ferrari verbanden sich kapitalistische Geschäftspraktiken und das Streben nach „Aristokratisierung“. Obwohl sich die Familie meist in Paris in ihrem Hôtel de Matignon aufhielt, blieb sie dem heimat­lichen Genua wirtschaft­lich und als 66 Louis Bergerons: Le premier Duc de Galliera dans la Haute Banque parisienne du XIXe siècle, in: Giorgio Assereto u. a. (Hg.): I Duchi di Galliera. Alta finanza, arte e filantropia tra Genova e l’Europa nell’Ottocento, 2 Bde, Genua 1992, S. 329 – 341; Leo Morabito: Raffaele De Ferrari e la società promotrice di una ferrovia da Genova al Piemonte, in: ebenda, S.  511 – 537. 67 Stefano Retali: Un esempio di conduzione di un’azienda agraria della pianura bolognese: Galliera tra il 1837 e il 1851, in: ebenda, S. 537 – 551.

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Mäzen und Stifter verbunden. Der Spitzenfinanzmann spendete 20 Millionen Lire für den Ausbau des Hafens in Genua. Neben verschiedenen frommen Stiftungen finanzierten die De Ferrari drei Hospitalkomplexe und schenkten der Stadt zwei Barockpaläste: den Palazzo rosso mit seiner Bibliothek sowie den Palazzo Bianco mit einer wertvollen Bildersammlung. Noch heute werden in diesen beiden Häusern die Bildersammlungen Genuas gezeigt.68 Die Motiva­tion der neuadligen Sammler und Mäzene lässt sich wie folgt zusammenfassen: Sie investierten große Summen in Kunst aus der Renaissance und dem Barock sowie in alte Stadtpaläste und Landsitze, um wie Adlige präsentieren zu können. Dabei erfolgten die Investi­tionen in Kunst und Immobilien aufgrund einer komplexen Motiva­tion, die neben Prestigegewinn auch ganz dezidiert wirtschaft­lichen Logiken folgte. Die vom alten Adel erworbenen Palazzi und Sommerschlösser wurden in wenigen Jahr(zehnt)en mit Kunstsammlungen ausgestattet und boten eine Bühne, auf der die Sammler ihre kulturelle Praxis effektvoll inszenierten. Es erhöhte das Prestige beträcht­lich, wenn man als Kunstkenner galt, denn Mäzenatentum und „Kennerschaft“ bildeten ein wesent­liches Merkmal sozia­ler Distink­tion. Pierre Bourdieu betont, dass die Bedeutung von Machtkämpfen im ästhetischen Feld nicht auf die Sphäre der Kunst beschränkt bleibt, sondern dass diese immer auch sozia­l wirksam sind.69 Nun soll hier keineswegs der Eindruck erweckt werden, dass sich die adligen Tradi­tionsfamilien Italiens im 19. Jahrhundert darauf beschränkt hätten, notgedrungen ausschließ­lich als Kunstlieferanten zu dienen. Natür­lich gab es weiterhin Aristokraten, die mit außerordent­lichem Engagement ihre geerbten Sammlungen ausbauten oder neue schufen. Dabei leisteten sie viel, um das kulturelle Kunsterbe vor dem „Ausverkauf “ zu retten, da nicht nur euro­päische, sondern auch amerikanische Sammler bzw. deren Kunstagenten und -händler in immer größerer Zahl die italienische Halbinsel auf der Suche nach Kunstwerken für ihre Sammlungen bereisten.70 Verwiesen sei an dieser Stelle wieder nur auf vier herausragende Beispiele aristokratischen Mäzenatentums. So erwies sich etwa in Neapel der aus dem alten Feudaladel stammende Principe Gaetano Filangieri di Santriani als äußerst großzügiger 68 Giovanni Assereto: Raffaele de Ferrari, in: Dizionario Biografico degli italiani, Bd. 33. Rom 1987, S. 727 – 736. 69 Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, sozia­les Kapital, in: ­Reinhard Kreckel (Hg.): Sozia­le Ungleichheiten. Göttingen 1983, S. 183 – 198. 70 Rita Cervigni Troncone: Principi e quadri: Pasquale Villari e le gallerie romane, in: Archivio della Società Romana di Storia Patria 124 (2001), S. 277 – 325. Auch ­dieses Thema bedarf noch eingehender Studien.

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Mäzen von Kunst und Wissenschaft. In seinem Palazzo lebte er inmitten einer Sammlung klas­sischer Meister und lokalen Kunsthandwerks, wobei er über Letzteres Standardwerke publizierte.71 In Ravenna war es wiederum der Conte Cristino Raspini, der seit Beginn des 19. Jahrhunderts eine wertvolle Bildersammlung aufbaute.72 Für Mailand sei der Conte Gian Giacomo Poldi Pezzoli angeführt. Er vermachte der Stadt 1881 seinen Palazzo inklusive der Sammlungen mit der Auflage, den Namen und die komplette Sammlung für zukünftige Genera­tionen zu erhalten. So sollte sein Prestige sowie ein ehrendes Andenken an die Familie für alle Ewigkeit gewahrt werden.73 In Rom erinnert noch heute der Name eines Museums an den Altertumssammler Conte Giovanni Barracco. Er stammte aus dem süditalienischen Feudal­ adel und nutzte seinen Reichtum für Reisen, um als Privatgelehrter Antiken im Mittelmeerraum zu sammeln. Auch er schenkte seinen Stadtpalast samt Sammlung der Stadt Rom.74 Während die deutsche Geschichtswissenschaft spätestens seit den 1990er Jahren die Th ­ emen elitäres Gesellschaftswesen und Mäzenatentum im 19. Jahrhundert völlig einseitig als bürger­lich interpretiert hat und ­dieses Deutungsmuster partiell auch ohne Rücksicht auf das „Vetorecht“ der Quellen verfochten hat,75 ist es italienischen Forschern gelungen, das Thema offener zu diskutieren. In ­diesem Beitrag wurde vor allem das Mäzenatentum des Adels fokussiert, der sich in kulturellen Gesellschaften, in der städtischen Museums- und Theater­ szene und beim Aufbau von wertvollen Sammlungen mit persön­lichem Einsatz und großen Vermögen einsetzte. Alles in allem bleibt festzuhalten, dass d ­ ieses kulturelle Engagement durchaus politisch motiviert war. Der Adel demons­ trierte so seinen gesellschaft­lichen Status und aufgrund dieser herausgehobenen Posi­tion dominierte er Stadträte. Zudem wurde er überpropor­tional in das na­tionale Parlament nach 1861 gewählt.76

71 Museo Civico Gaetano Filangerie. Neapel 1888. 72 Matteo Benini: Primi appunti per la collezione di Cristino Rasponi, in: Romagna arte e storia 80 (2007), S. 87 – 98. 73 Rosanna Pavoni: Reviving the Renaissance. The Use and Abuse of the Past in Nineteenth-­ Century Italian Art and Decora­tion, Cambridge 1997. 74 Maddalena Cima (Hg.): Giovanni Barracco patriota e collezionista, catalogo della mostra Roma, Museo Barracco 19 settembre 2010 – 9 gennaio 2011. Rom 2010. 75 Gabriele B. Clemens: Auf Biegen und Brechen: Bürger­liches Mäzenatentum im urbanen Kontext des 19. Jahrhunderts, in: Informa­tionen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2008), S.  71 – 78. 76 Körner: Liberal Politics, S. 22 – 27.

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Während sich deutsche Untersuchungen zum bürger­lichen Mäzenatentum stapeln, wird weitgehend übersehen, dass die zahlreichen euro­päischen Höfe und der vermögende Adel weiterhin Unsummen in Kunst investierten.77 Die tradi­tionellen Mäzene hatten noch keineswegs abgedankt, und es bedarf zukünftig einer genaueren Überprüfung, inwieweit bürger­liches Mäzenatentum die tradi­tionellen Kunstförderer im ausgehenden Jahrhundert ablöste, oder ob es einfach hinzutrat, ferner wie das Verhältnis z­ wischen den verschiedenen adlig-­bürger­lichen Gruppen zu gewichten ist. Dies böte ein weiteres fruchtbares Untersuchungsfeld für Elitenkonflikte und -kompromisse, vielleicht sogar eines der Elitenbildung. Zu überlegen wäre ohnehin grundsätz­lich, ob man mit dem Begriff der Notabeln diese elitäre Gruppe in Europa nicht besser fassen könnte.78 Dass sich der italienische Adel seiner Bezeichnung als Meister der „Sichtbarkeit“ als würdig erwiesen hat, mögen die angeführten ­Themen gezeigt haben. Gewiss ist es dem italienischen Adel neben den öffent­lichen Arenen außerordent­lich effektiv gelungen, sich in der semiprivaten Sphäre seiner Häuser zu inszenieren. Bot ihm doch die prachtvolle jahrhundertealte Bausubstanz in der schier unüberschaubaren Zahl der städtischen Paläste und Sommerresidenzen eine besonders imposante Bühne.

77 Es sei hier ledig­lich verwiesen auf das außerordent­liche Mäzenatentums des bayerischen Königs, das ihm regelmäßig harte politische Konflikte aufgrund des Steuerbewilligungsrecht des Kammer brachte; Heinz Gollwitzer/Hans-­Christof Kraus (Hg.): Politik und Kultur unter Ludwig I. Studien zur bayerischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Regensburg 2011; Hannelore Putz: Das Königtum und Kunst. Die Kunstförderung König Ludwigs I. von Bayern, München 2013. 78 So sieht etwa Körner für Bologna die Thesen von Arno Mayer deut­lich bestätigt: „Former Papel States seems to show exactly that: the aristocratic élites continued to occupy the predominant role on all levels of social and political representa­tion, well after Unifica­ tion“. Körner, Liberal Politics, S. 21. Zum Begriff der Notabeln bzw. Honoratioren in der deutschen und italienischen Politik vgl. Renato Camurri: I tutori della nazione: i „grandi notabili“ e l’organizzazione della politica nell’Italia liberale, in: Ricerche di Storia Politica XV, NS (2012), S. 261 – 278; Monica Cioli: Le „Honoratioren“ nella Germania dell’Ottocento apogeo e declino, in: ebenda, S. 295 – 315.

Raphael Utz

Der Staat als monarchisches Projekt: Maria Pavlovna und das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach um 1830 Einleitung Monarchie, Staat und Provinz sind keine Gegensätze. Der Kleinstaat Sachsen-­ Weimar-­Eisenach mag als Untersuchungsgegenstand im euro­päischen Kontext mög­licherweise befremden – für Deutschland im 19. Jahrhundert stellt er jedoch eine Art Regelfall dar, und zwar gerade in seiner typischen Mischung aus souveränen Fürsten und tiefer Provinz. Der Staat war also bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Fläche präsent, wie auch die Monarchie und ihre Höfe, die ja, laut Wolfgang Reinhard, als Keimzellen des modernen Behördenstaates zu verstehen sind.1 Dieser für Deutschland um 1830 so charakteristischen Gemengelage soll sich der vorliegende Beitrag widmen und dabei die Fragestellung verfolgen, wie sich der Staat eigent­lich aus der Perspektive eines regierenden Monarchen ausnahm. Naturgemäß spielt dabei die Person des Monarchen eine entscheidende Rolle, und hier haben wir es in Sachsen-­Weimar-­Eisenach mit einer interessanten Besonderheit zu tun. Das mindermächtige Großherzogtum ohne geschlossenes Territorium und mitten im Thüringer Flickenteppich sieben weiterer souveräner Staaten liegend, wurde von 1828 bis 1859 de facto von einer Frau regiert: der rus­sischen Großfürstin Maria Pavlovna.2 Als eine der letzten Zentralfiguren der Weimarer Goethezeit ist sie noch immer weitgehend unbekannt, obwohl in erster Linie ihr umfangreicher Nachlaß Grundlage für die folgenden Beobachtungen ist.

1 Wolfgang Reinhard: Geschichte des modernen Staates. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2007, S. 47. 2 Zu Thüringen siehe Hans-­Werner Hahn: Fortschrittshindernis oder Motor des Wandels? Die thürin­gische Kleinstaatenwelt im 19. Jahrhundert, in: Thüringer Landtag/Historische Kommission Thüringen (Hg.): Vom Königreich der Thüringer zum Freistaat Thüringen, Erfurt 2000, S. 69 – 92. Zu Maria Pavlovnas Rolle siehe Gerhard M ­ üller: Landesmutter oder Regentin im Hintergrund? Die Zarentochter Maria Pawlowna und die oberste Regierungssphäre des Großherzogtums Sachsen-­Weimar-­Eisenach, in: ­Joachim Berger/ Joachim von Puttkamer (Hg.): Von Petersburg nach Weimar. Kulturelle Transfers von 1800 bis 1860. Frankfurt a. M. u. a. 2005, S. 159 – 171.

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Daher soll nach einigen ­kurzen Worten zu Maria Pavlovna selbst ihr Staatsverständnis umrissen werden. Anschließend daran steht die Frage im Mittelpunkt, was für eine Art Staat Maria Pavlovna denn überhaupt umgab, wie sich also sozusagen die Benutzeroberfläche des Staates für sie darstellte. Welche Repräsenta­tionsprojekte Maria Pavlovna mit d ­ iesem Staat verknüpfte, soll danach erörtert werden, bevor es an einige vorläufige Schlußfolgerungen geht.

1. Maria Pavlovna Großfürstin Maria Pavlovna von Rußland (1786 – 1859) war eine der vier Töchter des Zaren Paul I. und wurde 1804 nach Weimar verheiratet.3 Recht lange glaubte man, die Initiative zu dieser Eheschließung sei von Weimar ausgegangen, was zunächst auch vollkommen plausibel klingt, da eine Verbindung des latent existenzbedrohten Zwergstaates mit dem rus­sischen Kaiserhaus durchaus im Interesse Weimars lag. Die Arbeiten Franziska Schedewies lassen jedoch ein anderes Bild deut­lich werden: Die ersten Fühler streckte der rus­sische Hof aus.4 Warum? Zum einen war die männ­liche Erbfolge im benachbarten Dresden nicht gesichert und eine Thronbesteigung eines Sohnes Maria Pavlovnas dort eine nicht unwahrschein­liche Mög­lichkeit.5 Zum anderen wurden die Töchter Pauls recht zielstrebig um Preußen herum plaziert, so daß wir es hier von Anfang an mit einem politischen Projekt zu tun haben.6 Der Begriff der

3 Die einzige neuere, aber populärwissenschaft­liche Biographie Maria Pavlovnas greift nicht auf ihren umfangreichen und weitgehend vollständigen Nachlaß zurück: Detlef Jena: Maria Pawlowna. Großfürstin an Weimars Musenhof, Regensburg 1999. Aufschlußreicher ist der zweibändige Ausstellungskatalag der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen (Hg.): Ihre Kaiser­liche Hoheit. Maria Pawlowna – Zarentochter am Weimarer Hof, 2 Bde, München 2004. 4 Franziska Schedewie: Altesse Imperialissime! Die privaten politischen Briefe Carl Augusts an Maria Pavlovna 1805 – 1815, in: Lothar Ehr­lich/Georg Schmidt (Hg.): Ereignis Weimar-­ Jena. Gesellschaft und Kultur um 1800 im interna­tionalen Kontext, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 247 – 262. Zu den Motiven der rus­sischen Heiratspolitik siehe Joachim von ­Puttkamer: Kulturkontakte und Großmachtinteressen. Weimar im Blickfeld der rus­ sischen Heiratspolitik, in: Joachim Berger/Joachim von Puttkamer (Hg.): Von Petersburg nach Weimar. Kulturelle Transfers von 1800 bis 1860, Frankfurt a. M. u. a. 2005, S. 17 – 33. 5 Fritz Tröbs: Die weimarische Erbfolgepolitik in der Zeit Karl Augusts, Jena 1931, S. 1 – 16. 6 Siehe hierzu Martha Lindemann: Die Heiraten der Romanovs und der deutschen Fürstenhäuser im 18. und 19. Jahrhundert und ihre Bedeutung in der Bündnispolitik der Ostmächte, Berlin 1935.

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dynastischen Heirat greift in d ­ iesem Zusammenhang wohl zu kurz, eher sind dynastische Eheschließungen als eines der verschiedenen Instrumente der Außenpolitik zu beschreiben, und Maria Pavlovna begriff sich zeitlebens als freie Mitarbeiterin des rus­sischen Außenministeriums mit besonders privilegiertem Zugang zu ihren Brüdern Alexander I. und Nikolaus I.7 Im Zuge der fundamentalen Umwälzungen der euro­päischen Politik durch die Napoleonischen Kriege stand Maria Pavlovna allerdings vor der Aufgabe, sich in Weimar zumindest teilweise neu zu erfinden, da es größere Aufgaben für sie nicht gab. Dennoch – und dies ist das erste von drei Schlag­lichtern, die an dieser Stelle auf ihre Handlungsspielräume geworfen werden sollen – war sie 54 Jahre lang die Schwester des jeweils regierenden Zaren und als ­solche eine der am besten informierten und zeitweise einflußreichsten Persön­lichkeiten ihrer Epoche. Sie verfügte über ein beeindruckendes familiäres Netzwerk, das ganz Europa umspannte und als Korrespondenznetzwerk Wirkungsmacht entfalten konnte.8 Insbesondere der Briefwechsel ­zwischen Maria Pavlovna und Nikolaus I. sieht sie in der Rolle der älteren Schwester und Beraterin in allen Fragen, die Deutschland betreffen.9 Ein kaum zu überschätzender Faktor in der Bemessung ihrer Handlungsräume war das Verhältnis zu ihrem Ehemann, dem Großherzog Carl Friedrich, der ja eigent­lich Souverän und Herrscher war. Das Urteil der Zeitgenossen

7 Die Hofdame ihrer Nichte, der Königin Olga Nikolaevna von Württemberg, notierte vier Jahre nach dem Tod Maria Pavlovnas deren Bemerkung: „[…] man muß immer, selbst von Ferne, für Rußland arbeiten“, in: Robert Uhland (Hg.): Das Tagebuch der Baronin Eveline von Massenbach. Hofdame der Königin Olga von Württemberg. Stuttgart u. a. 1987, S. 173. 8 Den potentiellen Wert dynastischer Korrespondenzen zeigen etwa Großfürst Nikolaj Michailovič von Rußland (Hg.): Correspondance de l’Empereur Alexandre Ier avec sa Soeur la Grande Duchesse Cathérine, Princesse d’Oldenbourg, puis Reine de Wurtemberg 1805 – 1818, St. Petersburg 1910 und Sidney W. Jackman: Romanov Rela­tions. The Private Correspondance of Tsars Alexander I, Nicholas I, and the Grand Dukes ­Constantine and Michael with Their Sister Queen Anna Pavlovna, 1817 – 1855, London 1969. 9 Der vollständige beiderseitige Briefwechsel wird im Thürin­gischen Hauptstaatsarchiv Weimar aufbewahrt. Zum Verhältnis ­zwischen Maria Pavlovna und Nikolaus I. siehe auch Viola Klein: Das Jahrhundert der Verleumdung. Maria Pawlownas Rezep­tion von Publika­tionen über Rußland (1828 – 1848), in: Berger/von Puttkamer: Von Petersburg, S. 173 – 196. Auszüge des Briefwechsels besonders um 1830 auch bei Raphael Utz: Maria Pavlovna, die Revolu­tion, Goethes Tod und Epochenende. Innen- und Außenperspektive auf das Ereignis Weimar, in: Olaf Breidbach (Hg.): Vom Ende des Ereignisses, München 2011, S. 77 – 92.

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über ihn ist vernichtend.10 So beschreibt ihn etwa der franzö­sische Gesandte St. Aignan als „l’homme le plus nul et le plus insipide qui existe“.11 Es kann nicht überraschen, daß auch das Vertrauen seiner Ehefrau in ihn und seine politischen Fähigkeiten äußerst begrenzt war. Als Carl August am 14. Juni 1828 starb, waren sein Sohn und Nachfolger Carl Friedrich und dessen Frau Maria Pavlovna in St. Petersburg. Wohl ­diesem Umstand verdankt sich die Existenz zweier aufschlußreicher Schriftstücke, die Maria Pavlovna am 12. Juli vom litauischen Gut der Familie Radziwiłł an ihren nach Weimar vorausgereisten Mann sandte. Es handelt sich um zwei Denkschriften anläß­lich der Regierungsübernahme: Quelques observa­tions relativement à Vous même und Quelques observa­tions relativement à Votre mère.12 Insbesondere der erste Text ist von großer Bedeutung für das Herrschaftsverständnis Maria Pavlovnas. In fünf Punkten setzte sie ihrem Ehemann auseinander, was es für ihn nunmehr zu bedenken gelte: Erstens verweist sie ihn auf den christ­lichen Glauben als grundlegenden Leitgedanken, zweitens rät sie ener­gisch, in den ersten Verlautbarungen der neuen Regierung die Kontinuität zum verstorbenen Herrscher zu betonen und drittens erinnert sie ihn an die in der Vergangenheit geführten philosophisch-­politischen Gespräche mit ihr selbst. Am aufschlußreichsten sind folgende, das Dokument beschließende Punkte: 4o Veuillez veiller à Vos paroles, et à Vos habitudes: dans ces premiers momens tout est commenté plus que d’ordinaire: On cherche à s’éclairer sur le caractère du nouveau souverain, l’on veut primer de la crainte ou de l’espoir: – que l’on ne retrouve pas en vous des prédélec­tions et des aversions invétérées tant par rapport aux personnes qu’aux objets: – plus que jamais, Vous devez 10 Seit neuestem um eine Revision des negativen Bildes bemüht ist Detlef Jena: Carl ­Friedrich (1783 – 1853). Großherzog von Sachsen-­Weimar-­Eisenach, Regensburg 1999, das die im Thürin­gischen Hauptstaatsarchiv Weimar aufbewahrte und umfangreiche franzö­sischsprachige Korrespondenz ­zwischen Maria Pavlovna und ihrem Mann nicht auswertet. 11 Archives des Affaires étrangères Paris, Correspondance politique, Saxe ducale, Bd. 3, fol. 155, 1812, passim. 12 Thürin­gisches Hauptstaatsarchiv Weimar (ThHStAW), Großherzog­liches Hausarchiv (HA) A XXV, Korrespondenzen S 64, Maria Pavlovna an Carl Friedrich, Radziwilschky (sic), 30. Juni/12. Juli 1828, Bl. 24’–25’, 26’. In allen originalsprach­lichen Zitaten wird das Franzö­sisch Maria Pavlovnas ledig­lich mit behutsamen Korrekturen der Großund Kleinschreibung wiedergegeben, um die Lesbarkeit zu verbessern. Sowohl Maria Pavlovnas Tagebucheinträge als auch ihre Briefe sind fast immer mit dem Datum nach gregorianischem und nach julianischem Kalender versehen.

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chercher à Vous vaincre et à comander à Votre jugement la plus grande impartialité, et il vaut mieux que Vous Vous montriez impassible qu’agité par des souvenirs de quelque genre que cela soit: – En regardant Votre nouvelle posi­tion avec les yeux de la foi et de la consçiençe, Vous ne la vérez jamais que comme une fonc­tion publique, une haute magistrature dont vous êtes revetûs, et avec cette manière de l’envisager il naitra pour Vous l’impartialité de jamais vouloir ou pouvoir abuser de Votre autorité, de plus la néçessité de faire valoir Vos moyens pour les consacrer au serviçe public que vous devez actûellement remplir, enfin une tranquilité de consçiençe que l’on a toujours quand l’on sent que l’on fait tout ce que l’on peut dans le sens du devoir. – 5o Ne laissez pas prendre sur Vous, même à l’extérieur, par des personnes qui pourroient en avoir l’habitude: – Vos meilleures conseillers sont des ministres, qu’ils soyent les seuls consultés ou mélés des affaires. –13 Bei ­diesem Dokument handelt es sich offensicht­lich nicht um einige leicht dahingeschriebene Zeilen, sondern um wohlbedachte Ratschläge und Anweisungen. Die von Maria Pavlovna gewählte Strukturierung des Textes in einzelne Punkte und ihre Formulierungen deuten darauf hin, daß sie den ersten Schritten ihres Mannes nicht ohne Sorgen entgegensah. Diesen Eindruck verstärkt die zweite Denkschrift noch, denn in ihr setzte Maria Pavlovna dem neuen Großherzog auseinander, wie er sich jetzt seiner ­Mutter, der Großherzoginwitwe Louise gegenüber zu verhalten habe.14 Inhalt­lich sind besonders zwei Aspekte von Interesse. Zum einen wird deut­ lich, wie genau Maria Pavlovna die besondere politische Situa­tion eines Thronwechsels sah, wenn sie Carl Friedrich darauf hinwies, er stehe in der ersten Zeit unter besonderer Beobachtung. Daraus zog sie den Schluß, – zumindest öffent­lich – stets die Kontinuität zur Regierung Carl Augusts zu betonen. Zum anderen muß der unter Punkt 5 geäußerte Rat, sich Beeinflussungsversuchen von außen zu entziehen und alleine die verantwort­lichen Minister zu konsultieren, auch als Ermahnung an den neuen Großherzog gedeutet werden, die Verfassung des Landes zu achten und innerhalb ihrer Grenzen zu regieren. Was also auf den ersten Blick wie ein Ratschlag an einen unsicheren neuen Landesherrn wirkt, offenbart bei genauerem Hinsehen, daß Maria Pavlovna die landständische Verfassung als Grundlage des politischen Handelns auch

13 Ebenda, Bl. 24’–25’. 14 ThHS tAW , HA A XXV , Korrespondenzen S 64, Maria Pavlovna an Carl Friedrich, Radziwilschky (sic), 30. Juni/12. Juli 1828, Bl. 26’.

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des Souveräns voll anerkannte. Diese Verfassung ist deshalb auch Fundament ihres Staatsverständnisses, das sich damit abhebt von älteren Vorstellungen der Identität von Fürst und Staat. Diesem letzten Rat Maria Pavlovnas wohnt allerdings keine geringe Ironie inne, da sie die Minister selbst regelmäßig sah und sprach. Auch wenn dies in der Verfassung so gewiß nicht vorgesehen war, steht es doch in der Tradi­tion des dynastischen Auftrags, den sie von rus­ sischer Seite aus vor ihrer Heirat mit Carl Friedrich erhalten hatte: Sie solle, so schrieb die Kaiserin Maria Fëdorovna, die Carl Friedrich persön­lich kannte, ihren Mann anhalten, „sich auf seine künftige Bestimmung vorzubereiten“ und auf diese Gespräche bezog Maria Pavlovna sich ja auch ausdrück­lich in dieser Denkschrift.15 Maria Pavlovna war jedoch dankbar für die guten Eigenschaften ihres Ehemanns. So schrieb sie im Sommer 1833 an ihre ehemalige Gouvernante und Vertrauensperson Jeannette Mazelet aus Anlaß ihres Hochzeitstages über die Beziehung zu ihrem Mann, sie danke Gott für die Gnade der „sérénité individuelle qu’Il nous a accordé dans les vertus personnelles du Gr Duc“.16 Der Eindruck liegt nahe, daß gerade d ­ ieses gute Verhältnis z­ wischen Maria Pavlovna und Carl Friedrich die Voraussetzung für den politischen Einfluß und das politische Wirken der Großfürstin in Weimar war. Der dritte bestimmende Faktor war jedoch der Umstand, daß sie nicht nur Freiräume besaß, sondern über erheb­liche finanzielle Ressourcen verfügte, die ihr tatsäch­liche Gestaltungsmög­lichkeiten eröffneten. Dank ihrer gewinnbringend angelegten rus­sischen Mitgift und einer Erbschaft aus dem Nachlaß ihrer ­Mutter bezog Maria Pavlovna jähr­liche Zinseinkünfte von 130.000 Reichsthalern.17 Angesichts der chronisch zerrütteten Weimarer Staatsfinanzen, die mit dem Thronwechsel 1828 erneut offensicht­lich wurden, waren diese privaten Mittel Maria Pavlovnas ein erheb­licher Aktivposten ihrer Gestaltungsmög­lichkeiten.18 15 Franziska Schedewie: A chaque pas, je fais des comparaisons avec chez nous: Die e­ rsten Eindrücke der rus­sischen Prinzessin Maria Pawlowna in Weimar (1804 – 1806), in: ­Berger/ Puttkamer: Von Petersburg, S. 81 – 125, hier 89. 16 ThHStAW, HA A XXV, Korrespondenzen M 103, Maria Pavlovna an Jeannette Mazelet, Kissingen, 21. Juli/2. August 1833, Bl. 86. Zu Mazelet als Vertrauensperson, siehe ebenda, Korrespondenzen M 102, Maria Pavlovna an Jeannette Mazelet, Warschau, 9./21. Juni 1830, Bl. 21 – 21’, hier 21’: „[…] tu es toujours l’amie la plus fidèle et la plus parfaite“. 17 Ulrike Müller-­Harang: Der Goldregen aus St. Petersburg: Geldtransfer als Basis für Kulturtransfer, in: Berger/Puttkamer: Von Petersburg, S. 141 – 157, hier 143. 18 Marcus Ventzke: Kunstsinnigkeit als Problemverdrängung? Die Weimarer Hoffinanzen vom Ende des Alten Reichs bis zur Revolu­tion von 1848/49, in: Stiftung Weimarer Klassik: Kaiser­liche Hoheit, Bd. 2, S. 85 – 96, hier 87 – 88.

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Ihr persön­lich standen doppelt so viele Mittel zur Verfügung wie dem Weimarer Hof, dessen Jahresetat um 1830 etwa 65.000 Reichsthaler umfaßte – bei einem Gesamtvolumen der Staatseinnahmen in den 1830er Jahren von etwa 600.000 Reichsthalern im Jahr.19

2. Maria Pavlovna und der Staat Trotz der umfangreichen Aufzeichnungen Maria Pavlovnas findet sich in ihrem Nachlaß leider kein Text, in dem sie ihr Staatsverständnis bündig und schlüssig niedergeschrieben hätte. Tatsäch­lich benutzt sie das Wort Staat in keiner der drei Sprachen, die sie schreiben konnte. Dennoch lassen ihre Korrespondenzen und Tagebücher durchaus Rückschlüsse auf ihre Staatswahrnehmung zu. Es kann nur schwer­lich überraschen, daß Maria Pavlovna ausgesprochen dynastiezentriert dachte. In kristalliner Form wird dies in ihrem Tagebucheintrag nach Goethes Tod 1832 sichtbar, als sie dessen Leben bilanzierte: Ma visite de Jeudi 3/15 Mars à Goethe a été la dernière – ce grand homme, si illustre comme écrivain, nous a été enlevé le Jeudi 10/22 Mars, huit jours après celui où je l’avois trouvé plein de vie et de santé; causant et s’intéressant à tout: – que la volonté de Dieu soit faite, – la perte est bien sensible et bien grande – 56 années de résidençe dans ce lieu, d’une existençe commune avec notre famille, d’intérets divers et puissans discutés et poursuivis ensemble avec elle, lui avoient assuré une sorte d’immortalité.20 Es ist wohlgemerkt nicht die Dichtung, die Goethe in Maria Pavlovnas Augen unsterb­lich machte, sondern das gemeinsame Leben Goethes mit der großherzog­lichen Familie. Dieser habituelle Legitimismus wird bei Maria allerdings entscheidend modifiziert durch das Bewußtsein der Notwendigkeit einer gesetz­lichen Ordnung und Einsicht in deren höheren Wert. So bejahte sie, wie wir gesehen haben, ausdrück­lich die Verfassung von 1816, erklärte aber im Gespräch mit Goethe, angesichts dieser Konstitu­tionalisierung sei es notwendig, den „familles souveraines“ – also den regierenden Häusern – gewisse Spielräume, auch finanzieller Art, zu erhalten.21 19 Ebenda, S.  88 – 89. 20 Raphael Utz (Hg.): Besuch bei Goethe. Aus den Tagebüchern der Großherzogin Maria Pavlovna von Sachsen-­Weimar-­Eisenach 1829 – 1832, München 2011, Nr. 163. 21 Ebenda, Nr. 14.

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Am wichtigsten erscheint jedoch, daß Maria Pavlovna den Staat als ‚Menschen mit Funk­tionen‘ begriff. Ihr Tagebuch, das kein sentimentales oder gar intimes Journal ist, verzeichnet akribisch, mit wem die regierende Großherzogin sprach, w ­ elche Aufgaben ihren Gesprächspartnern zugedacht waren und ­welche Handlungen sich aus diesen Gesprächen ergaben. Wiederum läßt sich dies am Beispiel Goethes besonders deut­lich erkennen: Obwohl er stark an der Erziehung der drei Kinder Maria Pavlovnas beteiligt war, scheint es erst mit der Thronbesteigung Carl Friedrichs 1828 zu einem regelmäßigen Austausch ­zwischen ihr und Goethe gekommen zu sein. Als Oberaufseher aller wissenschaft­lichen und kulturellen Einrichtungen des Großherzogtums hatte Goethe Aufgaben, war also in erster Linie ein ‚Mensch mit Funk­tionen‘ für Maria Pavlovna, und es ist völlig selbstverständ­lich, daß sie dem sehr alten Mann im Verlaufe ihrer Gespräche Dienstanweisungen gab. Insgesamt jedoch dokumentieren die Gesprächsprotokolle in Maria Pavlovnas Tagebuch einen politischen Aushandlungsprozeß, der sich frei­lich nicht in der Öffent­lichkeit, sondern innerhalb der politischen Führung des Großherzogtums abspielte. Einerseits war Maria Pavlovna sehr wohl bewußt, und dies sagte sie Goethe auch, daß ohne seine Zustimmung nichts Bestand haben könne.22 Andererseits führte Goethe Maria Pavlovna, wie sich in ihrem Tagebuch nachverfolgen läßt, in alles ‚Oberaufsicht­liche‘ ein: die Bibliothek, die Universität, den Botanischen Garten, die Förderung von Wissenschaftlern, Künstlern und Ingenieu­ren. Welche Absichten Goethe damit verfolgte, deutete er selbst in einem Brief vom April 1830 an: Die Frau Großherzogin besonders weiß die mir noch anvertrauten Geschäfte, und was mich sonst berührt, auf die zarteste und sinnigste Weise zu fördern und mich dadurch zu überzeugen, daß manches von mir gestiftete Gute mich überleben soll.23 Am 17. Dezember 1831 faßte Maria Pavlovna diese Haltung wiederum in ihrem Tagebuch zusammen und brachte ihr Staatsverständnis auf folgende Formel: „[…] le véritable et meilleur intérêt de la maison et de la famille ne doit pas se perdre de vûe, il est identique avec celui du païs“.24 22 Ebenda, Nr. 67. 23 Goethe an Dorothea de Chassepot, geb. v. Knabenau (Konzept), 21. April 1830, in: Johann Wolfgang von Goethe: Sämt­liche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, hg. v. Karl Eibl et al., Bd. 38, Frankfurt a. M. 1993, Nr. 701. 24 Utz, Nr. 149.

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3. Der Staat Maria Pavlovnas Wie sah also nun dieser Staat aus, den Maria Pavlovna nicht beim Namen nennen wollte, aber dennoch regierte? An dieser Stelle sei ausdrück­lich auf eine Gesamtschau der ca. 3000 ‚Menschen mit Funk­tionen‘ verzichtet, die im Staats-­ Handbuch des Großherzogtums für 1830 mit Namen und Aufgabengebieten aufgelistet sind.25 Statt dessen sollen an drei Stellen kleinere Probebohrungen vorgenommen werden: erstens der Zentralregierung, zweitens der Finanzverwaltung und drittens der Regierungspraxis Maria Pavlovnas. Die Weimarer Regierung, das Staatsministerium, bestand aus exakt drei Ministern.26 Das erste Departement, geleitet von Carl Wilhelm von Fritsch, war zuständig für: a) Auswärtige Angelegenheiten – Angelegenheiten des Großherzog­lichen Hauses, Führung der Staats-­Korrespondenz, Leitung der Geschäfte in den deutschen Bundessachen, Schul- und Kirchenwesen, Gesammt-­Universität Jena, geheimes Haupt-­Staats-­Archiv b) Justiz-, Lehens-, Hoheits-­Sachen, Landesverwaltungs-, Polizey-, Militär-­ Ökonomie- und Bewaffnungs-­Angelegenheiten.27 Dem zweiten Department stand Ernst Christian von Gersdorff vor und es verwaltete die „Finanzen in ihrem ganzen Umfange“.28 Als drittes Mitglied des Staatsministeriums fungierte Dr. Christian ­Wilhelm Schweitzer, und zwar, wie ausdrück­lich festgelegt war, als Stellvertreter der beiden Minister im Falle „längerer Abwesenheit“.29 Unterstützt wurden alle drei von Geheimen Referendaren und der Geheimen Staats-­Kanzley, also von insgesamt 13 Personen, inklusive Kanzleidiener und Kanzleiboten.30 Es ist beinahe überflüssig zu erwähnen, daß der Großherzog selbst den Vorsitz im Staatsministerium führte, das seinen Sitz im „Großherzogl. Residenz-­Schlosse“ hatte.31

25 Staats-­Handbuch des Großherzogthums Sachsen-­Weimar-­Eisenach für das Jahr 1830, Weimar 1830. 26 Ebenda, S. 42. 27 Ebenda, S. 43. 28 Ebenda. 29 Ebenda., S. 42. 30 Ebenda., S. 43 f. 31 Ebenda., S. 42.

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Dieser erste Eindruck einer extrem kleinen Zentralverwaltung täuscht jedoch. Die zwei Kreise des Großherzogtums verfügten über ihre eigenen Behörden, die zumindest zum Teil Aufgaben erfüllten, die man aus heutiger Sicht eher in der Zentrale vermuten würde – diese Behörden hießen dementsprechend auch Landesregierungen. Insgesamt arbeiteten hier zusätz­lich 74 Personen.32 Das zweite Beispiel, die Finanzverwaltung, bietet Aufschlüsse, die über die Erkenntnis hinausgehen, daß wir es mit kleinen Behörden zu tun haben. Wie in vielen deutschen Fürstenstaaten war die Finanzverwaltung des Landes geteilt – und zwar in die „Kammer“ einerseits und in das „Landschafts-­Kollegium“ andererseits.33 Seit 1821 verwaltete die Kammer „die Regalien, die liegenden Güter und nutzbaren Rechte des Großherzog­lichen Hauses“.34 Darunter sind insbesondere zu verstehen die Domänen, Erträge der Forsten, Jagden und Fischereien, der Berg- und Salzwerke, „der Münze zu Eisenach und der Ilmflöße zu Weimar“, Zinserträge und Zehenten.35 Es handelte sich bei der Kammer also um die Vermögensverwaltung der Dynastie, und deren Einnahmen dienten denn auch „den Bedürfnissen des Großherzog­lichen Hauses und des Hofstaates“.36 Allerdings wurden aus dem Kammervermögen auch Verpflichtungen bestritten, die aus heutiger Perspektive eindeutig in die Zuständigkeit des Staates fallen würden – näm­lich ­solche, die etwa aus „Dominialbesitze und dessen Rechten“ hervorgingen.37 Die Kammer beschäftigte 46 Personen und stellte insofern eine Behörde von Gewicht dar, deren Mitarbeiter alle vom Großherzog berufen wurden.38 Es ist bezeichnend, daß der Großherzog als Oberhaupt der Familie keine persön­liche Finanzverwaltung bei sich hatte – ganz im Gegensatz zu Maria Pavlovna, deren Einkünfte zwar von der Kammer erhoben, aber von einer eigenen und nur ihr unterstehenden Schatullverwaltung verwahrt wurden. Dieser Zustand in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts veranschau­ licht sehr gut eine Etappe im Prozeß der Verstaat­lichung des Monarchen, den Johannes Paulmann beschrieben hat.39 Für Weimar sollte der nächste Schritt

32 Ebenda, S.  48 – 51. 33 Ebenda, S.  54 – 55. 34 Ebenda. 35 Ebenda. 36 Ebenda, S. 54 f. 37 Ebenda, S. 55. 38 Ebenda, S.  55 – 58. 39 Johannes Paulmann: Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa ­zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn et al. 1999, S. 78 – 86.

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im Zuge der Revolu­tion von 1848 folgen: Bereits vor den (insgesamt überschaubaren) Unruhen war im Landtag die Forderung erhoben worden, das Kammervermögen mit der Landschaftskasse zusammenzuführen und dem Großherzog im Gegenzug eine Zivilliste auszusetzen. Dies geschah nun zum 1. April 1848, und der Minister Christian Bernhard von Watzdorf erläuterte Maria Pavlovna, die großherzog­liche Familie mache damit gar kein schlechtes Geschäft, denn die Kammer erwirtschafte näm­lich seit fast einem Vierteljahrhundert ein Defizit.40 Watzdorf weiter: Von ­diesem Gesichtspunkt aus angesehen ist die Abtretung des Kammervermögens finanziell der Hofhaltung nur vorteilhaft, sogar höchst vorteilhaft, nachdem der Landtag eine Zivilliste von jähr­lich 280.000 Tlr. Verwilligt und daneben 26 – 29.000 Tlr. an Pensionen und Extragehalten auf die Staatskasse übernommen hat.41 Abgeschlossen ist die langsame Trennung und Unterscheidung von Staats- und Privatvermögen der Monarchie allerdings auch mit d ­ iesem Schritt noch nicht – für die Weimarer Dynastie sollte dies erst nach dem Ende der Monarchie vorläufig 1921 und endgültig 2005 der Fall sein.42 Der zweite Strang der Finanzverwaltung war das „Landschafts-­Kollegium“, das Steuern aller Art erhob, und zwar zum Zwecke der Erfüllung von „Staatsbedürfnissen“, wie zum Beispiel was die Stellung des Großherzogthums in dem deutschen Bunde, die Unterhaltung der Landes-­Kollegien, die allgemeine Sorge für ­Kirchen und Schulen, die Unterhaltung des Militärs, die Pensionen der Staatsdiener und ihrer Witwen, die Verzinsung und allmählige Tilgung des Landesschulden nothwendig erforden.43

40 Otto von Franke: Watzdorf, Christian Bernhard von, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 41 (1896), S. 258 – 270, hier 260 f. 41 Zit. n. Jena, Carl Friedrich, S. 242. 42 Siehe hierzu den einführenden Überblick mit weiterer Literatur bei Winfried Klein: Der Monarch wird Privatier. Die Rechtsfolgen der Abdankung für den Monarchen und sein Haus, in: Susan Richter/Dirk Dirbach (Hg.): Thronverzicht. Die Abdankung in Monarchien vom Mittelalter bis in die Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 152 – 174, hier 168 f. 43 Staats-­Handbuch, S. 55.

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Hier arbeiteten 70 Männer, und im Gegensatz zur Kammer, die nur vereinzelte Außenstellen jenseits der Weimarer Stadtgrenzen besaß, waren im Kollegium lokale Vertretungen über das gesamte Territorium verteilt.44 Hier griff der Staat aus in die Fläche und war in Landkreisen, Städten und Ämtern präsent – auf der untersten Ebene allerdings wiederum nur mit wenig Personal. In Jena zum Beispiel gab es zwei Herren, die für die Steuerzahlungen der knapp 6000 Einwohner zuständig waren und dem übergeordneten Kreis-­Landschaftskassierer in Weimar zuarbeiteten.45 Das dritte Beispiel führt uns zurück zu Maria Pavlovna und ihrer Perspektive auf die Verwaltung. Ihr wichtigster politische Partner war das dritte Mitglied im Staatsministerium, der schon erwähnte Christian Wilhelm Schweitzer, ein beinahe gleichaltriger Jurist, der als federführender Autor der Verfassung von 1816 deutschlandweites Ansehen genoß – gerade seine zentrale Rolle im Konstitu­tionalisierungsprozeß des Großherzogtums und seine enge politische Zusammenarbeit mit Maria Pavlovna belegen eindrück­lich die positive Grundhaltung der Großherzogin gegenüber der landständischen Verfassung. Nach Goethes Tod 1832 wurde er dessen Nachfolger als de facto Bildungs- und Kulturminister. Mit ihm setzte sie zahlreiche politische Initiativen um, von denen hier nur die Gründung der Weimarer Sparkasse, die Errichtung einer Handwerkerschule und der Ausbau der Frauenvereine zu einem bedeutenden Wirtschaftsförderungsinstrument genannt ­seien.46 Sie dachte also durchaus in Institu­tionen, die dem Gemeinwesen – oder Staat – Nutzen brachten und unterschied sich an dieser Stelle deut­lich von Goethe. Dieser übte an Maria Pavlovnas Politik im Juni denn auch 1830 scharfe Kritik. Kanzler Friedrich von Müller berichtete, Goethe habe die Pläne und Absichten der neuen Großherzogin zwar insgesamt „recht und löb­lich“ genannt, ihr aber gleichzeitig den Vorwurf gemacht, allen ihren Aktivitäten den „falschen Rus­ sischen Begriff einer Centralisa­tion“ zugrunde zu legen.47 Es ist b ­ ezeichnend, 44 Ebenda, S.  58 – 62. 45 Ebenda, S. 60 f. 46 Zur Gewerkschule siehe Bernhard Suphan (Hg.): Zum 24. Juni 1898. Goethe und Maria Paulowna. Urkunden, hg. im Auftrage des Erbgroßherzogs Wilhelm Ernst von Sachsen, Weimar 1898, S. 73 – 109; zum Frauenverein siehe Dirk Alexander Reder: Frauenbewegung und Na­tion. Patriotische Frauenvereine in Deutschland im frühen 19. Jahrhundert (1813 – 1830), Köln 1998; zur Sparkasse siehe Ludwig Preller: Ein fürst­liches Leben. Zur Erinnerung an die verewigte Großherzogin von Sachsen-­Weimar-­Eisenach Maria Paulowna, Großfürstin von Rußland, Weimar 1859, S. 36. 47 Ernst Grumach (Hg.): Kanzler von Müller. Unterhaltungen mit Goethe. Kritische Ausgabe, Weimar 1956, S. 191. Dieser Vorwurf findet sich ebenfalls bei Detlef Jena: Fürst­liche Wohltätigkeit z­ wischen autokratischem Paternalismus und politischem Kalkül. Das

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daß Goethe ihr Anfang Juni 1830 auseinandersetzte, was eigent­lich das Besondere am Geist von Weimar sei – näm­lich das Individuum –, und ihr dies in ­diesem Maße vorher wohl nicht bewußt gewesen war: Visite à Göthe le Lundi 26 May/7 Juin, pour lui dire adieu la veille de mon départ pour Varsovie: – nous avons eû une conversa­tion des plus intéressantes; je dirai même philosophique et fort instructive pour moi; Göthe a commençé par me dire qu’après avoir bien réfléchi à ce que je lui avois dit au sujet du cabinet littéraire et de la soçiété de lecture, il le croyoit impraticable içi parçe que tout y étoit basé sur l’isolement et la préeminençe individûelle, que cela ne pouvoit se changer, et que même le mérite prinçipal de Weymar avoit jadis consisté dans cette faculté distinctive ou éléva­tion des individûs comme tels par l’intelligençe et le savoir: –48 Gerade diese Betonung des herausragenden Einzelnen durch Goethe erklärt, warum er bei Maria Pavlovna eine angeb­lich rus­sische Zentralisierungstendenz zu erkennen glaubte, und es kann daher auch nicht überraschen, daß sie nicht immer einer Meinung waren. Tatsäch­lich aber markiert dieser Konflikt einen genera­tionellen Unterschied und damit eine Zeitenwende im Staatsverständnis bei Goethe einerseits und Maria Pavlovna andererseits. Goethe begriff den Staat in erster Linie als Hofstaat, der günstigerweise von bedeutenden Geistern bevölkert sein solle. Für sie war der Staatsausbau am Beispiel staat­licher Einrichtungen und Institu­tionen ein sinnvolles Projekt, das ein dauerhaftes Einverständnis ­zwischen Dynastie und Bevölkerung nur befördern könne – und genau deshalb war Minister Schweitzer für sie von so überragender Bedeutung. Das Tagebuch der Großfürstin weist Gespräche mit Schweitzer in der Regel mittwochs nach.49 Es ist eindeutig, daß sie mit ihm zum einen die dienstäg­liche Sitzung des Staatsministeriums erörterte und ihren eigenen, für Donnerstag geplanten, Besuch bei Goethe vorbereitete. Denn: Jeden Donnerstag Vormittag suchte Maria Pavlovna Goethe am Frauenplan auf und sprach mit ihm in erster Linie über Dinge, die seinen Geschäftsbereich betrafen, aber auch über allgemeine politische Angelegenheiten. Aus Goethes Tagebuch wiederum wissen wir, daß der Großherzog in der Regel ­später am Donnerstag bei ihm vorbeischaute, s­ ozia­le Engagement Maria und Katharina Pawlownas in Weimar und Württemberg im Vergleich, in: Stiftung Weimarer Klassik: Kaiser­liche Hoheit, Bd. 2, S. 111 – 120, hier 111. 48 Utz, Besuch, Nr. 61. 49 Siehe etwa in der beispielhaften Formulierung „pour activer les choses“ bei Utz, Besuch, Nr. 13.

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seine Frau aber nur selten begleitete. Am Freitag nun fand die zweite wöchent­ liche Sitzung des Staatsministeriums statt. Hier wird der Modus Operandi Maria Pavlovnas sehr deut­lich: Alle wichtigen Personen sprachen regelmäßig mit ihr, für die Öffent­lichkeit jedoch blieb dies weitgehend unsichtbar. Ein einziges Mal vermerkte sie im Tagebuch, daß sie einen Besuch bei Goethe vorzeitig habe abbrechen müssen, um ins Schloß zurückzueilen und dort an einer außerordent­lichen Sitzung des Staatsministeriums teilzunehmen: Ende August, Anfang September 1830 kam es im Zuge der Julirevolu­tion in Frankreich auch in Jena und Weimar zu kleineren Unruhen, und vor d ­ iesem Hintergrund schien es niemandem mehr wichtig, Maria Pavlovnas tatsäch­lichen Einfluß geheim zu halten.50

4. Repräsentation: Das Große im Kleinen Wie gerade geschildert, regierte und agierte Maria Pavlovna meist im Hintergrund. Dennoch war sie selbst natür­lich unerhört sichtbar und als Person bereits ein Faktor der Repräsenta­tion des Staates Sachsen-­Weimar-­Eisenach. Neben ihr sollen noch zwei weitere Beispiele für die Repräsenta­tionspraxis unter Maria Pavlovna Erwähnung finden, näm­lich die Dichterzimmer und die Wartburg. Alle drei sind Teile einer Strategie der Sichtbarkeit, die der latenten Existenzbedrohung des Kleinstaates entgegenwirken sollten. Sachsen-­Weimar-­Eisenach war in mehrfacher Hinsicht in seinem Bestand gefährdet. Es verfügte über keinerlei militärische Machtmittel und war von ­Napoleon nicht nur besetzt, sondern auch zum Eintritt in den Rheinbund gezwungen worden; für die Schwester Alexanders I. eine denkbar ungemüt­liche Situa­ tion, der sie sich zweimal durch Flucht zu entziehen wußte.51 Gleichzeitig war die recht enge Nachbarschaft zu Preußen ein zweischneidiges Schwert und alle Bestrebungen in Richtung einer deutschen Einheit warfen durchaus die Frage nach Sinn und Zweck kleiner Fürstenstaaten auf – das polemische Schlagwort von der „Kleinstaaterei“ hatte im Vormärz Hochkonjunktur. Und schließ­lich war Maria Pavlovna selbst mit der Julirevolu­tion klar geworden, daß die erste franzö­sische Revolu­tion eben kein bedauer­licher Betriebsunfall gewesen war, sondern daß Monarchien ganz allgemein unter einem neuen Rechtfertigungsdruck standen.52 50 Utz: Besuch, Nr. 75. 51 Siehe hierzu: Katja Dmitrieva/Viola Klein (Hg.): Maria Pavlovna. Die frühen ­Tagebücher der Erbherzogin von Sachsen-­Weimar-­Eisenach, Köln/Weimar/Wien 2000. 52 Siehe hierzu ausführ­lich Utz: Innen- und Außenperspektive, in: Breidbach, Ende, S.  77 – 92.

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Die Julirevolu­tion ist insofern auch eine Wasserscheide in der Repräsenta­ tionspolitik. Bis dahin wurde in der Person Maria Pavlovnas die Verbindung nach Rußland öffent­lich gefeiert, die ja durchaus eine Art Lebensversicherung war. Alle Geburtstage des rus­sischen Kaisers waren zum Beispiel Anlaß, dies ins öffent­liche Bewußtsein zu rufen, mittels großer Feste und beeindruckender Feuerwerke. Auch die Jubiläen der Ankunft Maria Pavlovnas in Weimar 1804 wurden gefeiert und die Verbindung nach Rußland entsprechend gewürdigt.53 Nachdem sich allerdings die Hoffnungen auf gewaltige territoriale Zugewinne im Verlauf des Wiener Kongresses nicht erfüllt hatten, verschob sich der Akzent: Maria Pavlovnas rus­sischer Hintergrund wurde jetzt zu ihrem persön­lichen Erbe und Beleg für die kulturelle Offenheit Weimars. Nach 1830 stand eindeutig die Aufgabe im Vordergrund, für Weimar im deutschen Kontext Relevanz zu sichern. Hier spielte Maria Pavlovna wiederum eine Schlüsselrolle, förderte Innova­tion und blieb gleichzeitig ihrem Verständnis von Staat als Verantwortungsgemeinschaft sehr treu. Die Dichterzimmer im Weimarer Schloß gelten gemeinhin als die bedeutendste Leistung der rasch nach Goethes Tod entstandenen Memorialkultur in Weimar.54 Es ist natür­lich kein Zufall, daß diese reich dekorierten und sehr teuren Räume im Residenzschloß eingerichtet wurden – dies entsprach genau dem dynastiezentrierten Ansatz Maria Pavlovnas, die treibende Kraft und Finanziererin des gesamten Unternehmens war. Ziel war es, die Herrscherfamilie als Ermög­licherin, Bewahrerin, und Fortschreiberin der höchsten Leistungen der Kulturna­tion Deutschland darzustellen. Oder, kurz gesagt: Ohne die Weimarer Fürsten hätte es die Weimarer Klassik nie gegeben.55 Dies ist allerdings nur ein Element der Repräsenta­tionsstrategie nach 1830. Die Wartburg mit ihren Assozia­­tionen des berühmten Sängerwettstreits und 53 Siehe hierzu ausführ­lich Franziska Schedewie/Raphael Utz: Russland, Deutschland und die Wartburg. Politische Op­tionen und Repräsenta­tionsstrategien in der Weimarer Festkultur, 1804 – 1836, in: Michael Maurer (Hg.): Festkulturen im Vergleich. Inszenierungen des Religiösen und Politischen, Köln, Weimar, Wien 2010, S. 139 – 158, hier 147 f. 54 Zur Geschichte der Dichterzimmer siehe Martin Steffens: „Sie feiern das Land und seine Fürsten, zumeist aber die Dichter.“ Maria Pawlowna und die Einrichtung von Dichtergedenkräumen in Weimar und auf der Wartburg, in: Stiftung Weimarer Klassik: Kaiser­liche Hoheit, Bd. 2, S. 215 – 235. 55 Ein populärwissenschaft­licher Beleg für die nachhaltige Durchschlagskraft dieser Repräsenta­tionsstrategie ist etwa Klaus Günzel: Das Weimarer Fürstenhaus. Eine Dynastie schreibt Kulturgeschichte, München/Zürich 2004.

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des Luther-­Aufenthaltes kommt ergänzend und in gewisser Weise beglaubigend hinzu. Denn: Für die Konstruk­tion eines Narrativs des schon immer so Gewesenen reichte die Weimarer Klassik in ihrer nahen Zeitgebundenheit nicht ganz. Gleichzeitig wird mit dem Emblem Wartburg der na­tionale Relevanzanspruch untermauert und die Dynastie so in die große Erzählung des protestantischen deutschen Na­tionalismus eingebunden – und eben wieder als Beschützerin und Hüterin. Auch den Wiederaufbau der Wartburg regte Maria Pavlovna an, indem sie ihrem Sohn Carl Alexander dazu ermunterte, und sie engagierte sich auch hier finanziell erheb­lich.56 Diese neue Doppelstrategie der Weimarer Repräsenta­tionskultur wurde in besonderer Weise bei der ersten großen Hoffeier nach der Thronbesteigung Carl Friedrichs deut­lich. Im Februar 1830 wurde sein Geburtstag im Weimarer Schloß gefeiert, und zwar mit einem Maskenball zum Thema „Der Sänger-­Wettstreit auf der Wartburg“.57 Die Geschichte der Vorbereitungen für ­dieses Fest ist kurz, aber interessant: Zur Auswahl standen näm­lich durchaus auch andere thematische Vorschläge, und erst nach Zustimmung Goethes entschied sich Maria Pavlovna endgültig für das Wartburgthema.58 In den programmatischen Texten des Festaufzugs, die – gelinde gesagt – von sehr unterschied­licher dichterischer Qualität sind, werden drei zentrale Botschaften vermittelt: die Bedeutung der Dynastie für die Künste, die Bedeutung Weimars für Deutschland und daß Maria Pavlovna die Hüterin dieser historischen Errungenschaften sei. Es traten also auf Walter von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach, Reinmar von Zweter, Heinrich von Rispach und Heinrich von Ofterdingen, während ein Sprecher deren dichterische Leistungen referierte und bereits hier erläuterte, jenes sagenumwobene Stelldichein der Minne sei ausschließ­ lich zustande gekommen, um „des Fürsten Blick mit heitrer Schau zu laben“.59 Die Verbindung ­zwischen Herrscherhaus und Künsten wurde explizit ausgesprochen, als der Sprecher die Wartburg zum einen zu „Wiege“ und „Thron“ der Vorfahren Carl Friedrichs erklärte, und zum anderen die Burg als „des

56 Zur Geschichte der Wartburgrestaurierung ausführ­lich: Angelika Pöthe: Carl ­Alexander. Mäzen in Weimars „Silberner Zeit“, Köln/Weimar/Wien, S. 297 – 344 mit weiterer Literatur. 57 Zur Vorgeschichte des Festes, siehe Schedewie/Utz: Repräsenta­tionsstrategien, in: ­Maurer, Festkulturen, S. 151 f. 58 Ebenda. 59 ThHStAW, HA, C, Drucke, Nr. 375, Der Sänger-­Wettstreit auf der Wartburg, Maskenzug zur Feyer des Zweyten Februars in Weimar, 1830, Bl. 3.

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Genius geweihter Stätte“ beschrieb.60 Ihren Höhepunkt erlebt die Darstellung allerdings mit dem Auftritt von Klingsor als oberstem Richter des Sängerkrieges. Angekündigt wurde er vom Sprecher anspielungsreich als „Meister in den freyen Künsten“ und „Meisterdichter“ – und Goethe selbst betrat die Szene, begleitet von seinen als Berggeistern kostümierten Enkeln.61 Allein durch die Präsenz des Achtzigjährigen, aber auch durch den von ihm gesprochenen Text verschwimmen die Zeitebenen und es entsteht die Illusion von Synchronität: eines der Schlüsselmerkmale der Weimarer Memorialkultur. Goethe im mittelalter­lichen Kostüm suggeriert eine Einheit von Minne und Dichtung der klas­sischen Periode, die noch dadurch verstärkt wird, daß zur gleichen Zeit der Thronerbe Carl Alexander in der Rolle des Landgrafen Ludwig zu sehen ist. An ihn richtete Goethe in der Rolle des Klingsor folgende Worte: Mich überrascht die kräft’ge Gegenwart: Ich sehe Blüth’ und Frucht von allen Zeiten Wie einen Frühling sich ringsum verbreiten: In That und Wissen, Dichtung, Kunst und Leben Mich neues Licht und neuer Tag umgeben.62 Nach einem weiteren Gedicht, das die schwierige Aufgabe hatte, die Eigenschaften Carl Friedrichs zu verherr­lichen, endete der Festaufzug mit dem Auftritt 24 junger Damen, die „24 Stunden des Tages darstellend“, während ein letztes Poem die Herrschaft von Großherzog und Großherzogin in den natür­lichen Lauf der Zeit und den Wechsel von Tag und Nacht einordnete. Pflichtgemäß wurde der Landesherr mit Helios assoziiert, aber die bemerkenswertesten Zeilen galten Maria Pavlovna: Die Landesmutter, Sie, die hohe, anmuthreiche, Dem Himmel zugewandt und jenem Sternenreiche, Was auch im Lauf der Stunden uns verläßt, S i e hält mit heil’gem Ernst das Edelste uns fest!63

60 Ebenda, Bl. 3‘. 61 Ebenda, Bl. 2‘. 62 Ebenda, Bl. 7. 63 ThHStAW, HA, C, Drucke, Nr. 374, Die Horen des zweiten Februars, Weimar 1830, Bl. 3‘.

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Maria Pavlovna verschenkte keine Zeit, diese Botschaft über Hofgesellschaft und Landesgrenzen hinaus bekannt zu machen. Eine Woche s­ päter wurde die Maskerade noch einmal wiederholt, vor 200 Personen. Anlaß war der Besuch des Herzogs von Sachsen-­Meiningen, der in Weimar Sta­tion machte – und zwar auf einer Reise nach Berlin.64 Ein Jahr s­ päter wurde die politische Dimension noch deut­licher. Inzwischen war es in Frankreich zur Julirevolu­ tion gekommen und in Polen ein Aufstand ausgebrochen, mit unabsehbaren Folgen für Deutschland. In ihrem Tagebuch hielt Maria Pavlovna folgendes Gespräch mit Goethe fest: Visite à Göthe le Jeudi 1/13 Janvier 1831; […] urgençe selon moi de reçevoir et trouver les personnes de mérite pour leurs qualités et par rapport à la classe où elles se trouvent et point par égard pour leurs titres; il faut trouver les condi­tions diverses et renonçer aux préven­tions et préjugés contraires: – j’aurois bien désiré célébrer le jour le naissançe prochain du Gr Duc par une réunion au château qui admit sous le nom de bal masqué und plus grande partie de ses sujets autour de lui, et qui cependant n’auroit pas offert la richesse ni la variété des costûmes du bals masqué de l’hyver dernier: Göthe aprouvoit ce plan, mais les tems sont trop orageux et les nouveaux troubles en Hannovre sont trop voisins pour disposer aux fétes.65 An ­diesem Gespräch ist vor allem bemerkenswert, daß Maria Pavlovna das höfische Fest als Gelegenheit begriff, eine große Zahl an Untertanten in die Repräsenta­tionspraxis unmittelbar einzubinden. Ihre Vorstellungen, den Kreis der Teilnehmer zu erweitern und auf Ränge und Titel weniger Wert zu legen, waren durchaus innovativ und dazu geeignet, das Weimarer Schloß zu einem gesamtgesellschaft­lichen Identifika­tionspunkt werden zu lassen. Die neuer­ lichen revolu­tionären Unruhen in Hannover bewogen die Großherzogin im Januar 1831 jedoch, auf große Feier­lichkeiten zu verzichten. Statt dessen gab man eine Mittagstafel für 103 Personen und veranstaltete am 3. ­Februar einen kleinen Hofball, einen thé dansant für 140 Gäste.66 Ihre Loyalität zu Weimar bedeutete, dass sie öffent­lich ihre enge Verbindung zu Rußland nur mehr sparsam darzustellen wünschte. Auch dies zeigte sich in der fest­lichen 64 ThHStAW, HMA, Nr. 4596, Fourierbuch zur Hofhaltung des Großherzogs Carl ­Friedrich, Bl. 44. 65 Utz: Besuch, Nr. 95. 66 ThHStAW, HMA, Nr. 4597, Fourierbuch zur Hofhaltung des Großherzogs Carl F ­ riedrich, Bl.  34 – 39.

Der Staat als monarchisches Projekt  309

Repräsenta­tion des Weimarer Hofes. 1836 veranstaltete Carl Friedrich zum 50. Geburtstag seiner Frau zwar wieder einen ‚rus­sischen Maskenzug‘ mit Kostümierungen verschiedener Völkerschaften des Zarenreiches. Der begleitende Text jedoch interpretierte diese Verbindung nicht mehr politisch, sondern präsentierte sie ledig­lich als Verweis auf Herkunft und Jugend der Großherzogin. Noch deut­licher wird die Unterordnung der rus­sischen Verbindung in ein Weimarer Narrativ durch den Austragungsort des Festes – es war die Wartburg.67

Schlussbemerkung Um 1830 spielte der Staat als eine vom Fürsten unabhängige Instanz in der Weimarer Repräsenta­tionspolitik keine Rolle. Gerade unter den Bedingungen der Kleinstaat­lichkeit kann dies nicht ausschließ­lich als reak­tionäres Beharren gedeutet werden – eine staat­liche Existenz ohne den Großherzog war in dieser Form kaum denkbar. Es ist kein Zufall, daß sich erst nach dem Ende der Monarchie 1918 die ehemaligen Fürstenstaaten in Thüringen zu einem Freistaat zusammenschlossen. Für das 19. Jahrhundert jedoch war die Existenz der Dynastie ein Aktivposten für den Staat. Dieser Staat war alles, aber kein bürokratisches Monster. Es erscheint ohnehin frag­lich, wie sinnvoll es ist, hier von ‚Bürokratien‘ zu sprechen, wenn es doch tatsäch­lich um Behörden und meistens nur um Ämter ging, die mit ausgesprochen wenig Personal auskamen. Durch die multizentrische politische Beschaffenheit Deutschlands war dieser Staat in der Fläche bereits präsent und mußte sich – zumindest in Sachsen-­Weimar-­Eisenach – auch keine neuen Terri­torien erschließen. Die staat­liche Behördenstruktur war also erfolgreich in der Fläche aktiv, aber klein. Um diesen deutschen Aspekt muß die eingangs zitierte Reinhardsche Expansionsthese des Staates vom Zentrum in die Peripherie ergänzt werden. Die Rolle des Fürsten kann dabei gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Er behielt die vollständige Personalhoheit, und die unklaren Abgrenzungen ­zwischen ihm und dem Staat erhöhten seinen Einfluß sogar unter Umständen. Und er regelte auch die Formen des Umgangs und ermög­lichte oder verhinderte Begegnungen ­zwischen Akteuren über den Zugang zum Hof. Wie in ­diesem

67 Hartmut Reck: Maria Pavlovna als Initiatorin der politischen Memorialkultur, in: Stiftung Weimarer Klassik, Kaiser­liche Hoheit, Bd. 2, S. 147 – 172, hier 163.

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Beitrag ausgeführt, machte Maria Pavlovna keinen Unterschied ­zwischen den Interessen der Dynastie und denen des Landes, und in dieser Schnittmenge ist auch ihr Staatsverständnis anzusiedeln. Gerade der Konflikt mit Goethe zeigt deut­lich, wie sehr sie Institu­tionen als Regierungsinstrument schätzte und insofern weit entfernt war vom genia­lischen Individualismus des Dichters und Ministers. Im Rahmen einer Monarchie – zumal vor 1848 – über Aushandlungsprozesse zu sprechen ist naturgemäß schwierig. Dennoch wäre es falsch, das Handeln Maria Pavlovnas als autokratisch zu denunzieren, indem man die Existenz solcher Prozesse rundheraus in Abrede stellte. Das entscheidende Problem scheint hier vielmehr das der Öffent­lichkeit bzw. Nichtöffent­lichkeit des politischen Willensbildungsprozesses zu sein. Hier ist der regierende Fürst, oder eben seine Ehefrau, naturgemäß eine Zentralfigur, um deren Zustimmung verschiedene Interessengruppen ringen. Die Gespräche Maria Pavlovnas mit Goethe, über die sie so gewissenhaft Tagebuch führte, sind ein Paradebeispiel für einen solchen Aushandlungsprozeß im Inneren des Staates selbst. So lange es Monarchen gab, auf deren Zustimmung es im politischen Prozeß ankam und die sich dabei die Beamten des Staates zunutze machten, kann man wohl von einem stetigen Wandel der Beziehungen ­zwischen Staat und Monarchie im 19. Jahrhundert sprechen, aber nur schwer­lich einen vollkommenen Bedeutungsverlust der regierenden Fürsten diagnostizieren. Wenn, wie bei Maria Pavlovna, dazu politisches Verständnis und diplomatisches Geschick in der Person des Monarchen vorhanden sind, kann die gezielte Förderung staat­ licher Institu­tionen als monarchisches Projekt dieser Monarchie vielmehr von bedeutendem Nutzen sein.

Autorenverzeichnis Prof. Dr. Christoph Augustynowicz ist außerordent­licher Universitätsprofessor an der Universität Wien und dort Vizestudienprogrammleiter der Studien­programmleitung Geschichte sowie Sprecher des Doktoratskollegs „Galizien und sein multikulturelles Erbe“. Ausgewählte Publika­tionen: Grenze(n) und Herrschaft(en) in der kleinpolnischen Stadt Sandomierz 1772 – 1844, Wien 2015; Die galizische Grenze 1772 – 1867: Kommunika­tion oder Isola­tion? Herausgegebenen zusammen mit Andreas Kappeler, Wien, Berlin 2007; Region und Stadt Sandomierz im Verwaltungskonzept Westgaliziens (1795 – 1809), in: Między Wisłą a Pilicą. Studia i materiały historyczne 14 (2013), S. 27 – 38. Prof. Dr. Werner Benecke ist Professor für Kultur und Geschichte Mittel- und Osteuropas an der Europa-­Universität Viadrina Frankfurt/Oder. Ausgewählte Publika­tionen: Militär, Reform und Gesellschaft im Zarenreich. Die Wehrpflicht in Russland 1874 – 1914, Paderborn 2006; Die Allgemeine Wehrpflicht in Russland: Zwischen militärischem Anspruch und zivilen Interesse, in: Journal of Modern European History 5 (2/2007), S. 244 – 263. Prof. Dr. Gabriele B. Clemens ist Professorin für Neuere Geschichte an der Universität des Saarlandes und Vorsitzende des Wissenschaft­lichen Beirates des Deutschen Historischen Instituts Rom sowie der Kommission für Saarländische Landesgeschichte. Ausgewählte Publika­tionen: Hochkultur als Herrschaftselement. Italienischer und deutscher Adel im 19. Jahrhundert, herausgegeben zusammen mit Malte König und Marco Meriggi, Berlin 2011; Bulwark of Tradi­tions: The European Nobility and Regional and Na­tional Historiography in the Nineteenth Century, in: Ilaria Porciani/Jo Tollebeek (Hg.): Setting the Standards. Institu­tions, Networks and Communities of Na­tional Historiography, New York 2012, S. 330 – 350.

312 Autorenverzeichnis

Prof. Dr. Norbert Franz ist apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier. Ausgewählte Publika­tionen: Die Stadtgemeinde Luxemburg im Spannungsfeld politischer und wirtschaft­licher Umwälzungen 1760 – 1890. Von der Festungs- und Garnisonsstadt zur multifunk­tionalen offenen Stadt, Trier 2001; Durchstaat­lichung und Ausweitung der Kommunalaufgaben im 19. Jahrhundert. Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume ausgewählter franzö­sischer und luxembur­gischer Landgemeinden im mikrohistorischen Vergleich (1805 – 1890), Trier 2006. PD Dr. Jörg Ganzenmüller ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Ettersberg in Weimar und lehrt an der Friedrich-­Schiller-­Universität Jena. Ausgewählte Publika­tionen: Rus­sische Staatsgewalt und polnischer Adel. Elitenintegra­tion und Staatsausbau im Westen des Zarenreiches (1772 – 1850), Köln, Weimar, Wien 2013; Zwischen Elitenkoopta­tion und Staatsausbau. Der polnische Adel und die Widersprüche rus­sischer Integra­tionspolitik in den Westgouvernements des Zarenreiches (1772 – 1850), in: Historische Zeitschrift 291 (2010), S. 625 – 662; Ordnung als Repräsenta­tion von Staatsgewalt: Das Zarenreich in der litauisch-­weißrus­sischen Provinz (1772 – 1832), in: Jörg ­Baberowski/­David Feest/Christoph Gumb (Hg.): Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsenta­ tionen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt am Main/New York 2008, S.  59 – 80.

Prof. Dr. Christopher Hamlin ist Professor für Euro­päische Geschichte an der University of Notre Dame. Ausgewählte Publika­tionen: Public Health and Social Justice in the Age of Chadwick: Britain, 1800 – 1854, Cambridge 1998; Sanitary Reform in the Provinces, ed. by Christopher Hamlin (= Sanitary Reform in Victorian Britain: A Primary Resource Collec­tion, vol. II), London 2012.

Autorenverzeichnis  313

Felix Heinert ist Wissenschaft­licher Mitarbeiter am Herder-­Institut für historische Ostmitteleuropaforschung (Marburg) im SFB/Transregio 138 „Dynamiken der Sicherheit. Formen der Versicherheit­lichung in historischer Perspektive“ mit dem Teilprojekt „Versicherheit­lichung vor Ort z­ wischen Diskurs und Praxis. Rechte von Minderheiten und Mehrheiten: Stanisławów, Pińsk und Užhorod, 1919 – 1938“. Ausgewählte Publika­tionen: Der Rigaer Kahal – Jüdische Moderne und Rigaer Gegenerzählung, in: Jahrbuch des Simon-­Dubnow-­Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 10 (2011), S. 449 – 472; zs. mit Alina Gromova und Sebastian Voigt: Jewish and Non-­Jewish Spaces in the Urban Context, Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne, Vol. 4, Berlin 2015. Dr. Hedwig Herold-­Schmidt ist Wissenschaft­liche Mitarbeiterin am Seminar für Volkskunde/Kulturgeschichte (Bereich Kulturgeschichte) an der Friedrich-­ Schiller-­Universität Jena. Ausgewählte Publika­tionen: Gesundheit und Parlamentarismus in Spanien. Die Politik der Cortes und die öffent­liche Gesundheitsfürsorge in der Restaura­ tionszeit (1876 – 1923). Husum 1999; Parlamentarios y élites políticas en la España contemporánea, in: Notas. Reseñas iberoamericanas. Literatura, sociedad, historia 5 (1998), S. 13 – 23; Geschichte Spaniens, herausgegeben zusammen mit Peer Schmidt, 3. erw. Aufl., Stuttgart 2013. Dr. Nicole Immig ist Postdoktorandin am DFG-Graduiertenkolleg 1412 „Kulturelle Orientierungen und gesellschaft­liche Ordnungsstrukturen in Südosteuropa“ an der Friedrich-­Schiller Universität Jena mit einem Forschungsprojekt zu „Visuellen Stereotypen von Osmanen/Türken in Griechenland 1821 – 1930“. Ausgewählte Publika­tionen: Zwischen Partizipa­tion und Emigra­tion. Muslime in Griechenland 1878 – 1897, Wiesbaden 2015; Ottoman Past, Na­tional Discourses on Muslim Popula­tions and their Architectural Legacy in Arta and Thessaly, in: Stamatopoulos, Dimitris (Hrsg.), Balkan Na­tionalism(s) and the Ottoman Empire, Bd. 1, Istanbul 2015, 143 – 158; The „New“ Muslim Minorities in Greece: Between Emigra­tion and Political Participa­tion, 1881 – 1886, in: Journal of Muslim Minority Affairs 29, 4 (2009), 511 – 522.

314 Autorenverzeichnis

Dr. Dirk Mellies ist Wissenschaft­licher Angestellter im allgemeinen Verwaltungsdienst der Freien und Hansestadt Hamburg und leitet derzeit das Fachamt Eingliederungshilfe. Ausgewählte Publika­tionen: Modernisierung in der preußischen Provinz. Der Regierungsbezirk Stettin im 19. Jahrhundert, Göttingen 2012; Das Stereotyp des rückständigen Pommerns – Neubetrachtung am Beispiel des Regierungsbezirks Stettin im 19. Jahrhundert, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 149 (2013), S. 25 – 39. Dr. Jana Osterkamp ist Wissenschaft­liche Mitarbeiterin am Collegium Carolinum in München und leitet dort eine Emmy Noether-­Nachwuchsgruppe „Vielfalt ordnen: Föderale Ordnungsvorstellungen in der Habsburgermonarchie und deren Nachfolgestaaten“. Ausgewählte Publika­tionen: Cooperative empires. Provincial initiatives in Imperial Austria, in: Austrian History Yearbook 47 (2016), im Erscheinen; Föderale Schwebelage. Die Habsburgermonarchie als politisches Mehrebenensystem, in: Gerold Ambrosius/Christian Henrich-­Franke/Cornelius Neutsch (Hg.): Föderalismus in historisch vergleichender Perspektive. Bd. 2: Föderale Systeme: Kaiserreich–Donaumonarchie–Euro­päische Union. Baden-­Baden 2015, S.  197 – 219. Prof. Dr. Malte Rolf ist Professor für Geschichte Mittel- und Osteuropas an der Otto-­Friedrich-­Universität Bamberg. Ausgewählte Publika­tionen: Imperiale Herrschaft im Weichselland: Das Königreich Polen im Rus­sischen Imperium (1864 – 1915), München 2015; Eliten im Vielvölkerreich: Imperiale Biographien in Russland und Österreich-­Ungarn (1850 – 1918) / Elites and Empire: Imperial Biographies in Russia and Austria-­ Hungary (1850 – 1918), herausgegeben zusammen mit Tim Buchen, Berlin 2015; Imperiale Biographien, Themenheft Geschichte und Gesellschaft, 40:1 (2014).

Autorenverzeichnis  315

Prof. Dr. Tatjana Tönsmeyer ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Ber­gischen Universität Wuppertal und Leiterin des Forschungsbereichs »Europa« am Kulturwissenschaft­lichen Institut in Essen. Ausgewählte Publika­tionen: Adelige Moderne. Großgrundbesitz und länd­ liche Gesellschaft in England und Böhmen, 1848 – 1918, Köln 2012; Adel und Politik in der Habsburgermonarchie und den Nachbarländern ­zwischen Absolutismus und Demokratie, herausgegeben zusammen mit Lubos Velek, München 2011; Herausgeberin des Themenhefts „Grenzen und Räume: Neue Forschungen und Forschungsimpulse“ der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-­Forschung 63/2014; Mitherausgeberin der Buchreihe „Adelswelten“ im Böhlau-­Verlag. Dr. Raphael Utz ist Wissenschaft­licher Geschäftsführer des Imre Kertész Kollegs „Europas Osten im 20. Jahrhundert“ an der Friedrich-­Schiller-­Universität Jena. Ausgewählte Publika­tionen: Rußlands unbrauchbare Vergangenheit: Na­tio­ nalismus und Außenpolitik im Zarenreich, Wiesbaden 2008; Besuch bei Goethe: Aus den Tagebüchern der Großherzogin Maria Pavlovna von Sachsen-­Weimar-­ Eisenach 1829 – 1832, München 2011; Rußland, Deutschland und die Wartburg: Politische Op­tionen und Repräsenta­tionsstrategien in der Weimarer Festkultur 1804 – 1836 (gemeinsam mit Franziska Schedewie), in: Michael Maurer (Hg.): Festkulturen im Vergleich: Inszenierungen des Religiösen und Politischen, Köln/ Weimar/ Wien 2010.

JÖRG GANZENMÜLLER

RUSSISCHE STAATSGEWALT UND POLNISCHER ADEL ELITENINTEGRATION UND STAATSAUSBAU IM WESTEN DES ZARENREICHES (1772–1850) (BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE OSTEUROPAS, BAND 46)

Die Teilungen Polens waren in der Geschichte des Russischen Reichs die größte territoriale Expansion nach Westen. Die Zaren standen fortan vor der Aufgabe, eine historische Region in ein autokratisch verfasstes Imperium einzugliedern. Dazu sollte der polnische Adel mit seinem ausgeprägten ständischen Bewusstsein in den russischen Dienstadel integriert werden. Zudem musste das unterverwaltete Zarenreich in den annektierten Gebieten eine staatliche Bürokratie etablieren. In beiden Fällen war man auf die Kooperation des polnischen Adels angewiesen. Die Studie nimmt eine russischpolnische Perspektive ein und versucht somit, die lange Zeit vorherrschenden nationalen Sichtweisen aufzubrechen und beiden Seiten gerecht zu werden. 2013. 425 S. 2 S/W-KARTEN. GB. 155 X 230 MM. | ISBN 978-3-412-20944-5

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DARIA SAMBUK

WÄCHTER DER GESUNDHEIT STAAT UND LOKALE GESELLSCHAFTEN BEIM AUFBAU DES MEDIZINALWESENS IM RUSSISCHEN REICH 1762–1831 (BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE OSTEUROPAS, BAND 48)

Mit ihrem Machtantritt im Jahr 1762 machte Russlands Kaiserin Katharina II. die Gesundheit ihrer Untertanen zu einem staatlichen Anliegen. Doch wie soll man Eliten dazu bewegen, den Bau von Krankenhäusern zu unterstützen und sich für die Pockenschutzimpfung zu engagieren? Wie soll eine Medizinalverwaltung in der Provinz Fuß fassen, wo die Staatsgewalt noch nicht präsent ist? Und wie überzeugt man die Bevölkerung vom Nutzen der akademischen Medizin? »Wächter der Gesundheit« untersucht die Entstehung des staatlichen Medizinalwesens in Russland bis zur Choleraepidemie der 1830er Jahre und gewährt Einblicke in den medizinischen Alltag des Riesenreiches. 2015. 442 S. 3 S/W-ABB. 4 S/W-KT. GB. 155 X 230 MM. ISBN 978-3-412-22461-5

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TATJANA TÖNSMEYER

ADELIGE MODERNE GROSSGRUNDBESITZ UND LÄNDLICHE GESELLSCHAFT IN ENGLAND UND BÖHMEN 1848–1918 (INDUSTRIELLE WELT, BAND 83)

Das 19. Jahrhundert gilt als bürgerliches Jahrhundert. Die vorliegende Studie zeigt jedoch, dass die Geschichte des europäischen Adels dieser Zeit nicht als Untergangsgeschichte zu lesen ist. Vielmehr vermochten sich gerade großgrundbesitzende hochadelige Gruppen erfolgreich zu behaupten. Diese Prozesse einer Stabilisierung auf dem Lande beleuchtet die vorliegende Untersuchung. Sie analysiert, aufgrund welcher Eigenlogiken, Sinnstiftungen und Praktiken Magnaten ein Obenbleiben in den Interaktionen mit nichtadeligen Gruppen auszuhandeln vermochten. Sichtbar werden dabei spezifische Mischungsverhältnisse aus Traditionalität und Modernität und somit ländlich geprägte Räume, die integraler Bestandteil von Gesellschaften auf dem Weg in die Moderne waren. 2012. 372 S. GB. 155 X 230 MM. | ISBN 978-3-412-20937-7

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CHRISTOF DEJUNG UND MARTIN LENGWILER (HG.)

RÄNDER DER MODERNE NEUE PERSPEKTIVEN AUF DIE EUROPÄISCHE GESCHICHTE (1800–1930) (PERIPHERIEN. NEUE BEITRÄGE ZUR EUROPÄISCHEN GESCHICHTE, BAND 1)

Die Disziplin der Europäischen Geschichte steht wohl vor der größten Herausforderung ihrer noch jungen Vergangenheit: Die globalhistorische Wende hat viele Grundannahmen der Europäischen Moderne in Frage gestellt und neue Anforderungen formuliert. Die Geschichte Europas soll polyzentrische Perspektiven aufzeigen, die sich als Teil einer globalen Geschichte verstehen. Die Beiträge dieses Buches nutzen transnationale, postkoloniale und globalhistorische Zugänge, um einen neuen Blick auf die Europäische Geschichte zu werfen. Zudem führt die Auseinandersetzung mit den geografischen und analytischen Rändern zu einem neuen Verständnis der Geschichte Europas. »Europa« wird so zu einer spezifischen sozialen und kulturellen Konstellation, die sich über innere Gemeinsamkeiten und Konflikte sowie über Interaktionen mit anderen Weltteilen konstituierte. 2015. 246 S. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-22535-3

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