Die Wiederentdeckung Lateinamerikas: Die Erfahrung des Subkontinents in Reiseberichten des 19 Jahrhunderts 9783964562531

In den Aufsätze dieses Sammelbandes geht es um das Verhältnis von Realität und literarischer Form der Reiseberichte, um

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German Pages 408 [406] Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Einführung in den Themenbereich
Dimensionen und Rezeptionen von Reiseberichten
Est-ce que l'on sait où l'on va? Dimensionen, Orte und Bewegungsmuster des Reiseberichts
Von Nutzen und Nachteil des Studiums älterer Reiseberichte: Zur Wiederentdeckung Hans Stadens im 19. und 20. Jahrhundert
Der Cono Sur
Britons in Brazil: Nineteenth Century Travellers Tales as a Source for Earth and Social Scientists
Rassen, Rassenmischung und die Zukunft des Landes: Französische Reiseberichte über Brasilien im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts
Europäische Forschungsreisen in den Cono Sur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Päpstliche Prälaten in Chile, 1823-1825 Giuseppe Sallustis Bericht (1827) einer gescheiterten und dennoch folgenreichen diplomatischen Reise
Der Andenraum und Panama
Deutsche Reiseberichte des 19. Jahrhunderts über Kolumbien als geographische Quellen
Lebensstile und "Distinktionen" in der städtischen Gesellschaft Bogotas des 19. Jahrhunderts. Zum Nutzen von Reiseberichten für die Sozialgeschichte Lateinamerikas
Ästhetik der Anden Europäische Reiseberichte im Zeitalter der Romantik
Panama im Spiegel der Reiseliteratur: 1821-1869
Die Karibik
"Von einem, der vorgab, die Karibik kennenzulernen und dabei das Empire zu retten versucht." Imperiale Rechtfertigungsmechanismen in James Anthony Froudes The English in the West Indies (1888).
Die Reise in die Abolition Europäische Reisende nach Cuba und die Anti- Sklavereidebatte zwischen 1820 und 1845
Reiseliteratur zwischen Klischee und historischer Quelle
Reiseberichte als historische Quellengattung für Mexiko im 19. Jahrhundert
Amerika für Jedermann: Reiseberichte über Lateinamerika in der Revue des Deux Mondes (1830-1876)
Das Brasilienbild in den künstlerischen Darstellungen des Prinzen Maximilian Wied zu Neuwied
Ins Land der Vorfahren und zurück: Juan Bautista Alberdi in Europa
Autorinnen und Autoren
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Die Wiederentdeckung Lateinamerikas: Die Erfahrung des Subkontinents in Reiseberichten des 19 Jahrhunderts
 9783964562531

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Lateinamerika-Studien Band 38

Lateinamerika-Studien Herausgegeben von Walther L. Bernecker Titus Heydenreich Gustav Siebenmann

Hanns-Albert Steger Franz Tichy Hermann Kellenbenz

Schriftleitung: Titus Heydenreich Band 38

Die Wiederentdeckung Lateinamerikas Die Erfahrung des Subkontinents in Reiseberichten des 19. Jahrhunderts

Walther L. Bernecker Gertrut Krömer (Hrsg.)

Redaktion: Kristina Bim

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main • 1997

Anschrift der Schriftleitung: Universität Eriangen-Nümberg Zentralinstitut (06) Sektion Lateinamerika Kochstraße 4 D-91054 Erlangen

Gedruckt mit Unterstützung der Friedrich-Alexander-Universität Eriangen-Nümberg

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die Wiederentdeckung Lateinamerikas : die Erfahrung des Subkontinents in Reiseberichten des 19. Jahrhunderts / Walther L. Bernecker ; Gertrut Krömer (Hrsg.). Red.: Kristina Birn. Frankfurt am Main : Vervuert, 1997 (Lateinamerika-Studien ; Bd. 38) ISBN 3-89354-738-X NE: Bernecker, Walther L. [Hrsg.]; G T

© b y the Editors 1997 Alle Rechte vorbehalten Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier Printed in Germany: Difo-Druck, Bamberg

Inhalt

Einführung in den Themenbereich Walther L. Bernecker Dimensionen

und Rezeptionen

9 von

Reiseberichten

Est-ce que l'on sait oü l'on va? Dimensionen, Orte und Bewegungsmuster des Reiseberichts Ottmar Ette

29

Von Nutzen und Nachteil des Studiums älterer Reiseberichte: Zur Wiederentdeckung Hans Stadens im 19. und 20. Jahrhundert Michael Harbsmeier

79

Der Cono

Sur

Britons in Brazil: Nineteenth Century Travellers Tales as a Source for Earth and Social Scientists John Dickenson

107

Rassen, Rassenmischung und die Zukunft des Landes: Französische Reiseberichte über Brasilien im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts Jänos Riesz

123

Europäische Forschungsreisen in den Cono Sur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Hans Vogel

149

Päpstliche Prälaten in Chile, 1823-1825 Giuseppe Sallustis Bericht (1827) einer gescheiterten und dennoch folgenreichen diplomatischen Reise Titus Heydenreich

169

Inhalt

Der Andenraum

und

Panama

Deutsche Reiseberichte des 19. Jahrhunderts über Kolumbien als geographische Quellen Günter Mertins

179

Lebensstile und "Distinktionen" in der städtischen Gesellschaft Bogotas des 19. Jahrhunderts. Zum Nutzen von Reiseberichten für die Sozialgeschichte Lateinamerikas Thomas Fischer

191

Ästhetik der Anden Europäische Reiseberichte im Zeitalter der Romantik Friedrich Wolfzettel

239

Panama im Spiegel der Reiseliteratur: 1821-1869 Friedrich von Krosigk

265

Die

Karibik

"Von einem, der vorgab, die Karibik kennenzulernen und dabei das Empire zu retten versucht." Imperiale Rechtfertigungsmechanismen in James Anthony Froudes The English in the West Indies (1888) Wolfgang Binder 291 Die Reise in die Abolition Europäische Reisende nach Cuba und die Anti-Sklavereidebatte zwischen 1820 und 1845 Thomas Bremer Reiseliteratur

zwischen

Klischee

und historischer

309

Quelle

Reiseberichte als historische Quellengattung für Mexiko im 19. Jahrhundert Walther L. Bernecker

325

Amerika für Jedermann: Reiseberichte über Lateinamerika in der Revue des Deux Mondes (1830-1876) Jochen Heymann

353

Inhalt

Der andere Blick: Künstler über Lateinamerika,

Lateinamerikaner

über

Europa

Das Brasilienbild in den künstlerischen Darstellungen des Prinzen Maximilian Wied zu Neuwied Eliana De Sa Porto De Simone

377

Ins Land der Vorfahren und zurück: Juan Bautista Alberdi in Europa Andrea Pagni

391

Autorinnen

405

und Autoren

WALTHER L . BERNECKER

Einführung in den Themenbereich Der vorliegende Sammelband enthält die überarbeiteten Referate, die im November 1995 auf einer internationalen und interdisziplinären Tagung an der Universität Innsbruck gehalten wurden. Die Tagung zum Thema "Die Wiederentdeckung Lateinamerikas. Die Erfahrung des Subkontinents in Reiseberichten des 19. Jahrhunderts" wurde gemeinsam von Zentralinstitut für Regionalforschung der Universität Erlangen-Nürnberg (Sektion Lateinamerika) und des österreichischen Lateinamerika-Instituts (Sektion Tirol) durchgeführt. Von Innsbruck aus zeichnete für die Organisation Frau Gertrut Krömer, von Erlangen-Nürnberg aus Walther L. Bernecker verantwortlich. Auf der Konferenz ging es darum, europäische und nordamerikanische Reiseberichte als historische Quellen aus der Perspektive der Ökonomie, Sozialwissenschaften, Geschichte, Literaturwissenschaften, Geographie und Ethnologie zur Diskussion zu stellen und auf ihre Aussagekraft für ein besseres Verständnis des "neuen" Lateinamerika in der Phase der Öffnung hin zu untersuchen. Die einzelnen Arbeitssitzungen hatten verschiedene Themenschwerpunkte: Zum einen ging es um die Komplexitätsebenen von Reiseliteratur, um das Verhältnis von Wahrhaftigkeit und literarischer Form, um intertextuelle Mechanismen der Topos-Bildung, um Generierung von Alteritätsvorstellungen und von interkulturellem Verstehen, um die Frage schließlich, wie Reiseliteratur als historische Quelle zu verwerten sei. Zum anderen ging es um die produktionsorientierte Untersuchung von Reiseliteratur als Ergebnis ihres konkreten nationalen, historischen, sozioökonomischen und kulturellen Hintergrundes. Dieser Hintergrund bestimmt zugleich den primären Rezeptionsbereich der zu untersuchenden Texte. Erwartungen über das fremde Land, Spezifik der Publikationsorgane und Funktion der Texte werden in ihrem Kontext gesehen, um die Tiefenschichtung der Berichte transparenter erscheinen zu lassen. Schließlich stand, nach einigen Destinationen gebündelt, die interdisziplinäre wissenschaftliche Auswertung von Reiseliteratur im Mittelpunkt.

Zu Bedeutung und Stellenwert von Reiseberichten Noch immer haben W.B. Stevensons Worte von 1825 kaum etwas von ihrer Gültigkeit verloren, nach denen die Länder Südamerikas zwar im 16. Jahr9

Walther L.

Bernecker

hundert entdeckt, doch bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts nahezu unbekannt geblieben sind. 1 Die für die nicht-iberoromanische Welt - mit wenigen Ausnahmen, wie etwa der Alexander von Humboldts - bis zur Erlangung der Unabhängigkeit unzugänglich und unerfahrbar gebliebenen lateinamerikanischen Territorien übten einen besonderen Reiz auf die nun auch dorthin vordringenden Reisenden aus. In den 1820er Jahren begannen britische, französische und deutschsprachige Reisende, die für sie exotischen Menschen und Landschaften, ungewohnten Kulturen und Lebensweisen zu erkunden. Vor dem Hintergrund ihrer eigenen sozialen und kulturellen Erfahrungswelt, verankert in gewachsenen Denkweisen und teilweise auch geleitet von unterschiedlichen Erkenntnisinteressen, erlebten sie eine für sie neue Realität und kamen in direkten Kontakt mit der lokalen Bevölkerung, aber auch mit anderen Reisenden. Ihre schriftlich formulierten Wahrnehmungen und Erfahrungen der lateinamerikanischen Fremde trugen dazu bei, in ihrer Heimat ein neues Bild des bislang einem größeren Lesepublikum beinahe völlig unbekannten Kontinents zu zeichnen. Ihre Aufzeichnungen bieten eine wertvolle Quelle für die interdisziplinäre wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kulturen und Gesellschaften sowie dem sozialen und politischen Wandel im Lateinamerika des 19. Jahrhunderts, insbesondere in den Jahrzehnten von 1820 bis etwa 1870, als schließlich technologischer Fortschritt und Logistik die Überbrückung von Entfernungen stark vereinfachten und Reisen ihren Pionier- und Abenteuercharakter zugunsten einer frühen Form von "Tourismus" einbüßten. Mit dem Einsatz von Dampfschiffen und Eisenbahnen wurden Reisen in die unbekannte Welt Lateinamerikas verbreiteter, Informationen zahlreicher und verläßlicher. Zugleich sank der Wert dieser Berichte als historische Quelle. Neben die Reiseliteratur treten umfangreiche Darstellungen von Personen, die jahrelang in amtlichen oder halb-offiziellen Stellen in Lateinamerika tätig waren. Insgesamt liegen in verschiedenen Sprachen viele, zum Teil hervorragende Werke von Zeitgenossen vor, die bei entsprechend vorsichtig-kritischer Auswertung Quellen ersten Ranges darstellen. Die Reiseliteratur ist vor allem für die Sozial-, Wirtschafts- und Ideologiegeschichte des Subkontinents von Bedeutung, da sich die Historiographie jahrzehntelang auf politische Geschichte konzentrierte. Die innenpolitischen Auseinandersetzungen, zumeist zwischen Liberalen und Konservativen, orientierten die Betrachtung der lateinamerikanischen Geschichte immer wieder auf die vielfältigen Fragen des Staates und der entstehenden Nation und ließen ökonomische und soziale Aspekte in den Hintergrund treten. Zur

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Sinngemäß zitiert nach W.B. Stevenson: An Historical and Descriptive Narrative Years Residence in South America. 3 Bde. L o n d o n l 8 2 5 , Bd. 1, S. VII.

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Einführung in den

Themenbereich

Vernachlässigung sozialer und ökonomischer Fragen tritt ein zweites historiographisches Gravamen: Historiker haben bisher mit Vorliebe einen Bogen um die ersten 50 Jahre der Unabhängigkeit des Subkontinents gemacht also gerade um jene Dekaden, in denen eine auffallend große Zahl von Reiseberichten geschrieben und veröffentlicht wurden. In historiographischen Überblicken wird daher immer wieder darauf verwiesen, daß die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts bisher am wenigsten untersucht worden ist. Eine systematische Analyse der Reiseliteratur kann wesentlich dazu beitragen, diese Forschungslücke zu schließen. Gerade für das erste halbe Jahrhundert staatlicher Unabhängigkeit stellen Reiseberichte eine Quelle dar, die als Ergänzung zu konsularischen oder diplomatischen Berichten, zu (zweifelhaften) Statistiken und Zeitungsberichten oder offiziellen Regierungsverlautbarungen von größter Bedeutung sind, da die Reiseberichte Themen behandeln, die in vielen anderen Quellen kaum oder höchst unzuverlässig abgehandelt werden. So lassen sich der Reiseliteratur wichtige Informationen zu Handel und Bergbau, zu Sitten und Lebensgebräuchen, zur religiösen Praxis und zu Alltagserscheinungen entnehmen. Reisende haben beispielsweise ausführlich die Veränderung der Lebensweise und der Kleidungsgewohnheiten nach der Öffnung des Subkontinents beschrieben. Diesen Beschreibungen lassen sich Form und Umfang des Eindringens ausländischer Einflüsse nach Lateinamerika entnehmen; es lassen sich Rückschlüsse ziehen auf die Zerstörung des einheimischen Handwerks und älterer Manufakturbetriebe, auf die Verdrängung lokaler Produzenten und Händler durch ausländische. Die Ergebnisse solcher Beschreibungen lassen sich in die umfassendere entwicklungstheoretische Debatte über die Möglichkeiten Lateinamerikas einreihen, nach der Unabhängigkeit einen "autonomen" Entwicklungsweg einzuschlagen. Eine ähnliche Bedeutung haben die Berichte von Agenten von Bergbaugesellschaften; ihnen sind wertvolle Informationen über den Niedergang der Minenindustrie während des Unabhängigkeitskrieges und danach zu entnehmen. Das Leben auf den Haciendas wiederum wird zumeist aus der Perspektive der Eigentümer, die fast immer die Gastgeber der Reisenden waren, geschildert; Mentalitätshistoriker können hervorragend mit solchen Berichten arbeiten, ist es ansonsten doch überaus schwierig, über Vorstellungen und Einstellungen der agrarischen Elite in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Informationen zu erlangen. Die Bedeutung der Reiseliteratur für wichtige historische Erkenntnisse kann exemplarisch an zwei Beispielen aufgezeigt werden. Gilberto Freyre hat im Hinblick auf das Thema Sklaverei in seinen Arbeiten über Nordostbrasilien ausführlich Reiseberichte als Quellen herangezogen. (Viele Reiseberichte beschäftigen sich mit dem Thema Sklaverei, besonders in Brasilien und der 11

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Karibik.) Und Ciro F. Cardoso greift in seinen Studien über die Entstehung der großen Kaffeepflanzungen auf Reiseberichte zurück, um aufzuzeigen, wie der Mangel an Arbeitskraft steigende Löhne nach sich zog. Insgesamt ist Reiseliteratur eine unverzichtbare, bisher bei weitem nicht ausgeschöpfte Quelle zu Arbeitsverhältnissen, Löhnen und Preisen, zu Handwerk und einsetzender Industrialisierung, zu Ackerbau und Viehzucht, Handel und Konsum, vor allem zu Änderungen in Kleidungs- und Verbrauchsgewohnheiten, zum Fortschritt in den Arbeitstechniken (Landwirtschaft und Industrie), kurzum: zu den vielfältigen Wandlungen, die die lateinamerikanischen Gesellschaften innerhalb weniger Jahrzehnte nach der Öffnung des Subkontinents durchliefen. Die Verwendung von Reiseberichten als historische Quelle ist allerdings nicht unproblematisch. Die Reisebeschreibung als Gattung ist gekennzeichnet in erster Linie durch ihren Anspruch, Wahres über ein fremdes Land zu vermitteln. Der Autor, so lautet die stillschweigende Übereinkunft zwischen ihm und dem Leser, berichtet getreulich über das, was er gesehen hat, und vermittelt es sprachlich adäquat. Das heißt, daß sein Bericht mit den Ausdrucks- und Beschreibungsmitteln der Sprache keine entscheidenden Verfälschungen der beschriebenen Wirklichkeit vornimmt. Diese Übereinkunft muß aber im Rahmen der wissenschaftlichen Untersuchung und Auswertung von Reiseberichten eingehend hinterfragt werden. In Reisebeschreibungen bestehen zwei konstitutive Ebenen nebeneinander, die in einem unaufgelösten Spannungsverhältnis stehen. Die erste ist die pragmatische Ebene und betrifft Inhalte, Interessen des Autors, Funktionen des Textes usf. Zu dieser gehören die faktischen Informationen ebenso wie die konkrete Funktion, die für den Text vorgesehen ist: Kaufmannsbuch, Kunstführer u. dgl. In diesem Bereich liegt der Wert von Reisebeschreibungen als historische Quelle begründet. Die sprachliche Form tritt demgegenüber in den Hintergrund und gilt lediglich als Instrument der Vermittlung von Information. Die korrekte Auswertung von Reisebeschreibungen als Quelle hängt aber in wesentlichem Maße davon ab, daß die mit dem sprachlich-literarischen Ausdruck verbundenen Deutungen dessen, was beschrieben wird, aufgezeigt werden. Das gilt insbesondere dann, wenn die untersuchten Texte nicht nur Fakten bereitstellen, sondern wenn sie darüber hinaus als Zeugnisse für die komplexen Prozesse der Erfahrung der Fremde, der Assimilierung und des Austausches von Kulturen dienen sollen. Um diese Auswertung leisten zu können, ist es nötig, die zweite Ebene, nämlich die literarästhetische Seite von Reisebeschreibungen zu berücksichtigen. Diese unterliegen bei ihrer Entstehung, ebenso wie andere Texte auch, den Gewohnheiten und Vorstellungen literarischer Gestaltung, die im Augenblick ihres Entstehens gültig

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Einführung in den Themenbereich

sind. Das hat nicht nur Auswirkungen in stilistischer Hinsicht. Die literarische Tradition, aus der Reisebeschreibungen sich herleiten, bestimmt darüber hinaus oftmals das, was als interessant und berichtenswert erscheint, auch was als schön gilt. Bei der Gestaltungsarbeit fließen Vorstellungen ein, die nicht vom tatsächlich erlebten Land hervorgerufen sind, sondern aus der literarischen Vorbildung und aus der Erwartung der Autoren hervorgehen, so daß der pragmatische Aspekt der Reiseberichte eine Filterung erfährt. Diese Filterung ist die Stelle, an der Vorurteile, Klischees und Assimilationen an bestehende Weltbilder mit der pragmatischen Information verbunden und durch den Anspruch auf Wahrhaftigkeit in den Rang von Tatsachen erhoben werden. An dieser Stelle kommt auch die Rezeption bereits bestehender Beschreibungen zum Tragen, wodurch die dargestellte Fremde ersichtlich nicht nur das Ergebnis eigener unmittelbarer Anschauung ist, sondern, gleichsam im Zuge einer Sekundärverwertung, bereits gestaltete Wahrnehmungen aufgreift. In letzter Konsequenz kann das bedeuten, daß die vermittelte Welt nicht mehr von der Wirklichkeit bestätigt werden kann, sondern allein aus einem Geflecht von Texten besteht. Demzufolge ist es unumgänglich, zusätzlich zur historischen Auswertung auch die literarischen Mechanismen aufzuzeigen, die in den Reisebeschreibungen aussagebildend eingesetzt werden. Zu den wichtigsten Verfassertypen der Reiseliteratur zählen Geschäftsleute, Wissenschaftler, Entdecker und Künstler, Soldaten, Seeleute und Abenteurer, Siedler und Ansiedlungsagenten, Diplomaten und andere Offizielle, Geistliche und Missionare. Ihre jeweils von spezifischen Interessen geleiteten und vor dem persönlichen kulturellen Hintergrund zu verstehenden Beobachtungen lassen ein facettenreiches Spektrum von Impressionen entstehen, dessen Details vor allem im Diskussionsprozeß sich ergänzender Fachdisziplinen zu einem Bild der Gesellschaft Lateinamerikas im 19. Jahrhundert vereint werden können. Die Autoren weisen, je nach Interessenlage, ihren Berichten unterschiedliche Funktionen zu: Anleitungen für Auswanderer, pragmatisch orientierte Reiseführer für Reisewillige, wissenschaftlich orientierte Darstellungen, die den Gegenstand systematisch zu gliedern versuchen, poetische Erlebnisberichte oder sogar pädagogische Vorhaben, die einem bildungsbeflissenen Leserkreis neue Welten näherbringen und selbst schon den jüngsten Lesern ein Weltbild vermitteln wollen. Diese unterschiedlichen Funktionen können verbunden werden mit 2

Zur Typologisierung vgl. Magnus Mörner: Europäische Reiseberichte als Quellen zur Geschichte Lateinamerikas von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis 1870. In: Antoni Maczak / Hans Jürgen Teuteberg (Hgg.): Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Aufgaben und Möglichkeiten der historischen Reiseforschung. Wolfenbüttel: Herzog August Bibliothek 1982, S. 284.

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den literarischen Traditionen und Konventionen, die in ihnen in Erscheinung treten. Aus beiden zusammen ist es dann möglich, die Entstehung "von konkreten, kulturell, national und historisch spezifizierbaren Vorstellungen über andere Kulturen" 3 aufzuzeigen, unter adäquater Berücksichtigung der verschiedenen Grade der Stilisierung bzw. Pragmatisierung, die beim Vorgang der Verschriftlichung des Reiseerlebnisses zum Tragen kommen. Die Erfahrung der Alterität, die der Reisebericht am unmittelbarsten zu formulieren gezwungen ist, erweist sich deshalb als mediatisiert, zum einen durch ihre Funktionalisierung, zum anderen aber auch durch die Mentalitätsgebundenheit von Wahrnehmung, Verschriftlichung und nicht zuletzt von Rezeption. So umfangreich der Korpus der Reiseliteratur auch erscheinen mag, erfaßt er doch nicht flächendekend ganz Lateinamerika, sondern ist an den großen Reiserouten des 19. Jahrhunderts orientiert. Diese verlaufen insbesondere in und über Brasilien, Mexiko und Argentinien, schließen aber auch Chile, Peru und Kolumbien ein. Venezuela, Ecuador, Bolivien und Uruguay fanden dagegen weniger Beachtung, und zu Kuba und Zentralamerika liegen überwiegend nordamerikanische Reiseberichte vor. Auf der Tagung wurde daher bewußt keine regionale Einschränkung der auszuwertenden Reiseliteratur vorgenommen. Vielmehr galt es, den durchaus überschaubaren Textkorpus unter Berücksichtigung des gegenwärtigen Forschungsstandes in seiner Vielfalt nutzbar zu machen. Zeitlich allerdings bot es sich an, nach der umfassenden Humboldt-Rezeption den Reiseberichten den Vorzug zu geben, die die ersten fünf Jahrzehnte der neuen Staaten zu beschreiben suchten. Gerade dieser Textkorpus wurde bis heute allenfalls punktuell gewürdigt, 4 eine fächer- und länderübergreifende Untersuchung steht dagegen für Reiseliteratur über Lateinamerika und die Karibik im 19. Jahrhundert 5 noch aus. Während in der Literaturwissenschaft gerade in den letzten Jahren zunehmend Interesse für die Erschließung und Verwendung

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Peter J. Brenner: Reisen in die Neue Welt. Die Erfahrung Nordamerikas in deutschen Reise- und Auswandererberichten des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1991, S. 3. Exemplarisch soll hier Gabriela Maria Gertrud Koch-Weithofers Dissertation über Peru im Spiegel deutschsprachiger Reiseberichte (1790-1860) (Tübingen 1993) genannt werden. Uber das 18. Jahrhundert liegen die Beiträge eines Symposiums des Bremer Forschungsschwerpunkts "Literatur der Spätaufklärung" vor: W o l f g a n g Griep / HansW o l f Jager (Hgg.): Reisen im 18. Jahrhundert. Neue Untersuchungen. Heidelberg 1986. Über allgemeine Probleme des Reisens, Reisen in Europa und Reisen nach Übersee liegen die Vorträge des 9. Wolfenbütteler Symposions vor: Antoni Maczak / H a n s Jürgen T e u t e b e r g ( H g g . ) : Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Aufgaben und Möglichkeiten der historischen Reiseforschung. Wolfenbüttel 1982.

Einführung

in den

Themenbereich

von Reiseberichten als Primärliteratur zu verzeichnen ist, 6 ziehen andere Disziplinen Reiseberichte noch immer gerne eklektizistisch, manchmal auch nur zufällig zu Rate, wenn andere Überlieferungen und Quellen nicht aufgeboten werden können. Dies ist um so erstaunlicher, als anläßlich der 500Jahr-Feiern dem Lateinamerika des 16. Jahrhunderts, der "Entdeckung" Lateinamerikas also, bemerkenswerte Beachtung geschenkt wurde. Seiner "Wiederentdeckung" in der Öffnungsphase des 19. Jahrhunderts ist sie jedoch bislang noch weitgehend versagt geblieben. Dieser Hintergrund bestimmt zugleich den primären Rezeptionsbereich der zu untersuchenden Texte. Erwartungen über das fremde Land, Spezifik der Publikationsorgane und Funktionen der Texte werden in ihrem Kontext gesehen, um die Tiefenschichtung der Berichte transparenter erscheinen zu lassen.

Zum vorliegenden Band Die folgenden Beiträge geben inhaltlich und in ihrer aufeinanderfolgenden Anordnung im wesenlichen die Referate der Innsbrucker Tagung wieder. Den einleitenden Festvortrag hielt Ottmar Ette (Potsdam). In diesem Eröffnungsbeitrag über "Dimensionen, Orte und Bewegungsmuster des Reiseberichts" erklärt Ette die Faszination des Reiseberichts mit den in der Reiseliteratur allgegenwärtigen Verstehensbewegungen; Verstehen wird dabei als "Er-Fahrung" in ihrer je spezifischen Prozeßhaftigkeit nachvollziehbar vorgeführt. Reisen siedeln sich (nach Claude Lévi-Strauss) in zumindest fünf Dimensionen des Raumes an: Die beiden ersten werden in der kartographischen Erfassung und Auswertung der untersuchten Reisen anschaulich; die dritte macht sich der Reisebericht zueigen, Bild und Text durchdringen sich wechselseitig; die vierte wird von der Zeit gebildet; die fünfte meint die soziale Dimension. Ette fügt eine sechste Dimension hinzu: jene der Imagination und Fiktion, die den Reisebericht gerade im Rückgriff auf fiktionale literarische Muster für den jeweiligen zeitgenössischen Leser attraktiv und lesbar macht. Der Potsdamer Literaturwissenschaftler arbeitet die vielfältigen Beziehungen zwischen Literatur und Reisen heraus, an-

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Stellvertretend hierfür sind z.B. Peter J. Brenner: Reisen in die Neue Welt. Die Erfahrung Nordamerikas in deutschen Reise- und Auswandererberichten des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1991 oder auch Wolfgang Neuber: Fremde Welt im europäischen Horizont. Zur Topik der deutschen Amerika-Reiseberichte der Frühen Neuzeit. Berlin 1991.

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schließend geht er dem Zusammenspiel von wissenschaftlicher Genauigkeit und dichterischer Einbildungskraft im Reisebericht anhand von Überlegungen zur "Friktionalität" des Genres nach. Der Reisebericht ist eine Gattung des Ortswechsels und der ständig neuen Ortsbestimmung. Bei der Frage nach jenen Orten, an denen der Reiseschriftsteller seinen Bericht in besonderer Weise semantisch auflädt und markiert, filtert Ette einige Grundmuster reiseliterarischer Orte heraus (etwa: Abschied vom Eigenen, Höhepunkt und "Herzstück" der Reise, "Inszenierung" neuer Orte, Ankunft am Ziel, Rückkehr zum Eigenen), um anschließend das Problem zu untersuchen, "innerhalb welcher Bewegung sich diese Orte ansiedeln und welche Bewegung ihre eigene Modellierung selbst wiederum auslöst". Ette betrachtet Reisen als "Bewegungen des Verstehens im Raum" und arbeitet fünf Grundtypen heraus (kreisförmige Reisebewegung und hermeneutischer Zirkel, Pendeln zwischen mehreren Orten, lineare Reise von einem Ausgangspunkt zu einem Zielpunkt, sternfömige Erweiterung des erfaßten Raumes, Fehlen eines konkreten Ausgangspunktes sowie eines Zielpunktes der Reise). Er macht deutlich, daß die Reiseberichte des 18. und 19. Jahrhunderts ihre Anziehungskraft keineswegs allein aus ihrem Bezug zu einer außersprachlichen Wirklichkeit oder zu kultureller Alterität entwikkeln; der Erfolg von Reiseberichten beruht vielmehr "vor allem auf einer Spatialisierung von Denkstrukturen und Verstehensbewegungen, deren Hermeneutik vom Leser anhand bestimmter für seine Wahrnehmung stilisierter Orte leicht nachvollzogen werden kann. Versuche, aus dieser itinerarischen Struktur auszubrechen, können als Experimente verstanden werden, die darauf abzielen, den Leser aus der von Lévi-Strauss beobachteten passiven Rolle zu befreien, die ihm das simple Nachvollziehen bestimmter dargestellter Erfahrungen konsumträchtig nahelegt. Der Leser soll damit nicht bloßer Nachvollzieher hermeneutischer Bewegungen sein, sondern zum aktiven Leser werden, dessen Dialog mit dem Text die eigentliche Reisebewegung erzeugt." Die Rezeptionsgeschichte eines einzelnen deutschen Reiseberichts aus dem 16. Jahrhundert ist Gegenstand des Beitrags von Michael Harbsmeier (Kopenhagen). Er dokumentiert die wechselvolle Aufnahme einer "Abenteuergeschichte" durch vier Jahrhunderte bis zur Neuzeit anhand der Erlebnisse von Hans Staden. Der aus Homberg in Nordhessen stammende Schiffskanonier geriet Anfang des 16. Jahrhunderts als Schiffbrüchiger an der brasilianischen Ostküste in die Gewalt der Tupi(nambä)-Indianer und erlernte in den zwei Jahren seiner Gefangenschaft nicht nur deren Sprache, sondern erhielt auch tiefe Einblicke in ihr Leben und ihre Kultur, die er in seinem 1557 veröffentlichten Buch der europäischen Leserschaft weitergab. In den folgenden dreihundert Jahren wurde das Werk in zahlreiche Sprachen über-

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Einführung

in den

Themenbereich

setzt und mehrfach neu aufgelegt; bei der deutschen Leserschaft scheint das Buch allerdings zwischen 1665 und 1859 vorübergehend in Vergessenheit geraten zu sein. Diese "Sendepause" kennzeichnet für Harbsmeier eine Interessenverschiebung in der Rezeption von Reiseberichten, deren genauere Ausprägung er an den Verfechtern ebenso wie den Kritikern des Stadenschen Werkes herausarbeitet. In der ersten Phase war sicherlich die Neugier das bestimmende Element; alle Reiseberichte über die "Newe Welt" erfuhren eine rege Verbreitung; die Popularität von Stadens "Wahrhaftig Historia" läßt sich wohl in erster Linie auf seine detaillierten Beschreibungen kannibalischer Praktiken der Tupi zurückführen. Vor allem im späten 19. und im 20. Jahrhundert aber entzündeten sich die Gemüter am heftigen Streit um die übergeordnete Bedeutung der "Wahrhaftig Historia"; Harbsmeier liefert einen Abriß der wichtigsten Staden-Forscher und ihrer Positionen: Während Stadens Anhänger, allen voran die Hans Staden-Gesellschaft in Säo Paulo, in ihm nicht nur eine bemerkenswerte Persönlichkeit, sondern auch einen Wegbereiter der modernen Geographie und Ethnologie sahen, brandmarkten seine Gegner ihn als Plagiator und Phantasten. Harbsmeier zeigt, daß bei diesem Streit nicht nur verschiedene Standpunkte, sondern auch unterschiedliche Erkenntnisinteressen aufeinanderprallten. In einer "historiologischen" Analyse identifiziert er verschiedene historische Erzählweisen und Rezeptionsformen und erklärt damit auch die anfangs konstatierte "Umwälzung des historischen Bewußtseins" im 18. Jahrhundert. Durch sie tritt der Wahrheitsgehalt eines Berichts in den Hintergrund zugunsten der "eigentümlichen Vorurteile und Interessen, Ambitionen und Aversionen, Wünsche und Bedürfnisse, Traumen und Träume des Reisenden" sowie der sie bedingenden Kultur und Mentalität. Die folgenden vier Beiträge beschäftigen sich geographisch mit dem Cono Sur. Eine Zusammenstellung der Brasilien-Darstellungen britischer Reisender des 19. Jahrhunderts ist das Anliegen von John Dickenson (Liverpool). Er greift dabei auf "pioneer adventures and accounts" von den in erster Linie weißen männlichen Reisenden zurück, deren Interesse in der Regel nicht der Eroberung neuer Gebiete galt, sondern der Reise auf bereits bestehenden Routen zu bekannten Orten vor allem in Amazonien und Rio/Minas Gerais, mit jeweils spezifischen, insgesamt aber breit gestreuten Forschungsschwerpunkten. Dickenson spekuliert darüber, was diese Männer zu ihren Expeditionen bewogen haben könnte, "since they seemingly found abroad unutterably bloody, and complained bitterly about the experience". Er stellt fest, daß die englischen Reisenden aufgrund dieses Unwohlseins nach Parallelen zu ihrer Heimat suchten und andernfalls ihrer Antipathie und viktorianischen Vorurteilen häufig freien Lauf ließen. Aus diesem Grund sieht Dickenson in den Reiseberichten auch mehr einen Schlüssel zur

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britischen Einstellung gegenüber Religion, Rassen, Politik und Gesellschaft und erst in zweiter Linie "an outsider's view of nineteenth Century Brazil" oder gar eine Dokumentation der Veränderungen und Kontinuitäten in der Entwicklung Brasiliens. Darüberhinaus schreibt er allerdings zum Beispiel H.W. Bates eine wichtige Rolle als Wegbereiter der zeitgenössischen "Green Literature" zu, die sich heute mit dem Problem der verschwindenden Regenwälder befaßt. Als eine der wenigen Frauen des viktorianischen Zeitalters widmete sich Marianne North, als "botanical globe-trotter", hauptsächlich einer lebhaften Schilderung des Lebens bei den Goldminen von Minais Gerais mit ausführlichen Erläuterungen von Flora und Fauna. Ihre Zeichnungen und Bilder gelten heute als wichtiges Dokument der damaligen Landschaft. Sodann skizziert Dickenson weitere Themenbereiche der Reiseberichte - indianische Kultur, Sklaverei, Gesellschaftsstudien -, um in einem letzten Abschnitt auf die wechselvolle Geschichte wirtschaftlicher Zusammenarbeit zu kommen. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts war Großbritannien der wichtigste Handelspartner Brasiliens, und aus diesem Grund dienten viele Forschungsreisen dem Ziel, die englischen Wirtschaftsaktivitäten vor Ort zu fördern. Allerdings scheiterten einige Projekte an den klimatischen, sozialen oder infrastrukturellen Bedingungen; aus Sicht der britischen Reisenden waren ausländische und in erster Linie britische Kolon.ien nötig, sollte das wirtschaftliche Potential Brasiliens zur vollen Blüte gebracht werden. Die ethnische Vielfalt ist ein prägendes Merkmal der brasilianischen Gesellschaft. In seinem Aufsatz geht Jänos Riesz (Bayreuth) der Frage nach, wie diese Tatsache in der Brasilien-Literatur und insbesondere in französischen Reiseberichten des 19. Jahrhunderts ihren Niederschlag fand. Als "Gründungsepos der brasilianischen Nation" stellt Riesz zunächst Gilberto Freyres Casa grande e senzala vor, das 1933 bei seiner Veröffentlichung einen Skandal verursachte: Es erklärte (im Unterschied zur kolonialen Geschichtsschreibung) die Rassenmischung als überlebenswichtig für die Gesellschaft und zeichnete ein Bild der harmonischen Koexistenz aller Ethnien. Freyre stützte sich für sein Buch ausdrücklich auf (in erster Linie französische) Reiseberichte, die er als die wohl sicherste sozialgeschichtliche Quelle bezeichnete, da sich in ihnen die kulturelle Prägung des jeweiligen Autors widerspiegelt und sie darüberhinaus auch das Selbstbild der brasilianischen Intellektuellen beeinflußt haben. Das von Riesz näher untersuchte zweite Drittel des 19. Jahrhunderts war eine Phase des Umbruchs: Das französische Kolonialreich begann zu expandieren, der Sklavenhandel wurde verboten und schließlich abgeschafft, 1889 wurde in Brasilien die Republik ausgerufen. Riesz stellt Reiseberichte aus dieser Periode vor. Sein spezielles Interesse gilt der Art und Weise, wie die kulturelle Prägung und die jewei-

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Einführung

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lige Ausbildung der Reisenden deren "Sicht des Landes und seiner Bevölkerung beeinflußte und orientierte". Er zeigt anhand von vier sehr unterschiedlichen Werken auf, wo trotz des Anspruchs, einen umfassenden und objektiven Eindruck des Landes zu vermitteln, das Eigeninteresse und die Erziehung der Autoren in der Schilderung der brasilianischen Gesellschaft deutlich zutage treten: Während Max Radiguet bei der Beschreibung der schwarzen Bevölkerung seine Ablehnung und Verachtung nur ungenügend verbergen kann, ist Horace Says Bericht ein deutliches Plädoyer für die Abschaffung der Sklaverei und die Eingliederung der Schwarzen in das Wirtschaftsleben - allerdings aus rein ökonomischen Gründen, wie aus seiner Akzeptanz der Unterdrückung der indianischen Urbevölkerung und einer Verurteilung der frühen portugiesischen Einwanderer deutlich wird. Einig waren sich alle Autoren in der Tatsache, daß die entscheidenden wirtschaftlichen Impulse von der weißen Bevölkerung ausgehen mußten. Adolphe d'Assier vertrat zudem die Meinung, daß sich die anderen Rassen nur durch eine Vermischung "aufwerten" und damit ihr Überleben sichern konnten. Im letzten vom Autor untersuchten Bericht des Arztes Alphonse Rendu wird der Konflikt zwischen Moral und Eigennutz, zwischen Rassismus und wissenschaftlicher Distanz besonders deutlich. Riesz kommt in seinem Beitrag aber auch zu dem Ergebnis, daß die berufliche Vorbildung die Einstellung gegenüber den Ethnien nicht wesentlich beeinflußte. Dem "wahren" Brasilien kann man sich, seiner Meinung nach, nur durch den Vergleich mehrerer Reiseberichte nähern. In seiner Analyse der Berichte europäischer Forschungsreisender in den Cono Sur schlägt Hans Vogel (Leiden) zunächst einen allgemeinen Bogen von der Person der Reisenden selbst über ihre Organisation in Geographischen Gesellschaften und Zeitschriften bis zur Wahl der zu erforschenden Gebiete und beleuchtet so konstituierende Elemente eines Reiseberichts. In einem weiteren Schritt skizziert er die bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts noch unerforschten Gebiete des Cono Sur und greift unter diesen den Chaco exemplarisch heraus. Anhand von zwei Beispielen illustriert er hier die wichtigsten Beweggründe der damaligen Zeit für die Erforschung und "Bezwingung" des Chaco: die Erschließung neuer Handelswege und die Schaffung neuen Wohnraums. Die Suche nach einem Meerzugang lockte zahlreiche europäische Forscher und Abenteurer in den Gran Chaco. Vogel bezeichnet die in diesem Gebiet lebenden Indianerstämme als das Haupthindernis einer wirtschaftlichen Entwicklung Boliviens, da sie die Passage durch ihre "heimtückischen" Überfälle bis ins 20. Jahrhundert hinein zu einem gefährlichen Risiko werden ließen. Er belegt dies mit dem Schicksal von Europäern, die bei dem Versuch, den Chaco zu durchdringen, ums Leben kamen, wie zum Beispiel die Expedition Dr. Jules Crevaux', deren

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Teilnehmer 1882 fast alle von Indianern getötet wurden. Suchaktionen nach den Überresten jener Expedition verliefen größtenteils erfolglos. Aus diesem und anderen Gründen scheiterte der Versuch, einen zweiten Zugang zum Meer für Bolivien zu finden. Am Beispiel Südbrasiliens stellt Vogel demgegenüber den Kolonisationsprozeß dar, der die "Frontier" unaufhaltsam von den Tälern ausgehend ins Landesinnere vorschob. Die Indianerstämme in diesem Gebiet wurden "erbarmungslos" gejagt und waren bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fast vollständig verschwunden. Vogel geht schließlich noch auf den eigentlichen Forschungszweck ein, das wirtschaftliche Interesse, das für die Europäer wie für die südamerikanischen Regierungen die Hauptantriebsfeder darstellte. Das Streben nach persönlichem Ruhm führte zu einer rücksichtslosen Zerstörung der Natur und der nachhaltigen Erschütterung althergebrachter Bevölkerungs- und Gesellschaftsstrukturen. Titus Heydenreich (Erlangen-Nürnberg) konzentriert sich in seinem Beitrag auf einen einzelnen Reisebericht: In einem fünfbändigen Werk schildert der Geistliche Giuseppe Sallusti seine Erlebnisse als Begleiter des päpstlichen Nuntius Giovanni Muzi auf einer zweijährigen diplomatischen Reise nach Chile 1823-1825. Dieser Reisebericht ist unter vielen Aspekten interessant: Erstens war die Reise aus kirchenpolitischer Sicht ein Mißerfolg, da das geplante Konkordat mit Chile nicht zustande kam. Zweitens wurde ein weiterer Reisebegleiter, Giovanni Maria Mastai, zwanzig Jahre später als Pius IX. Papst; man bediente sich eines Extrakts von Sallustis Bericht, um seinen Status als Gottgewählter zu mystifizieren. Zum dritten schließlich bedienten sich auch weltliche Größen des umfangreichen Werkes. Alejo Carpentier verwendete einige Episoden in seinem mehr als 150 Jahre später erschienenen Kolumbus-Roman. Das für Sallusti Tragische war also, daß letzten Endes andere von seinem Werk profitierten, während er, der den Bericht doch einzig zur Beschleunigung seiner klerikalen Karriere verfaßt hatte, sein Leben gewissermaßen "strafversetzt" in einer kleinen Pfarrei beschloß. Heydenreich zeigt in seinem Beitrag auf, welch vielfältige Auswirkungen ein Reisebericht haben kann; sie können weit über die ursprüngliche Intention des Autors hinausgehen oder ihr sogar zuwiderlaufen. Auf den Cono Sur folgen der Andenraum und Panama. In seiner Analyse systematisiert Günter Mertins (Marburg) deutsche Reiseberichte des 19. Jahrhunderts über Kolumbien im Hinblick auf ihre Eignung als geographische Quelle. Dabei unterteilt er diese Berichte in drei Gruppen gemäß ihrer ursprünglichen Intention: Reine Erfahrungsbeschreibungen mit Unterhaltungsanspruch, naturwissenschaftliche Forschungsberichte sowie eher populärwissenschaftliche Aufsätze, Bücher und Briefe von Geographen und Geologen. Allen gemeinsam ist die Intention, ihre Erkenntnisse einem breiteren

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Publikum zugänglich zu machen. Allerdings stellt nach Mertins Einschätzung nur die zweite Gruppe eine relevante wissenschaftliche Quelle für die Geographie dar. Berichte von Forschungsreisenden leisteten einen Beitrag zur Erschließung des damals noch weitgehend unbekannten Kontinents, seiner Flora und Fauna und natürlich der Bewohner. Trotz unterschiedlicher Zielsetzungen (je nach beruflicher Vorbildung des Forschers) behandeln sie auch andere Aspekte der kolumbianischen Wirklichkeit und sind damit interdisziplinär angelegt, was die rege Nachfrage vor allem von Seiten des Bildungsbürgertums und die hohen Auflagen erklärt. Während die Beiträge der ersten Gruppe aufgrund des hohen Maßes an Subjektivität und Emotionalität als Analysematerial weitgehend ungeeignet erscheinen, bringt die dritte Gruppe aufgrund ihres in erster Linie deskriptiven Charakters und der Beschränkung auf jeweils einige wenige Aspekte kaum neue Erkenntnisse für die geographische Forschung. Für alle von Mertins untersuchten Berichte gilt jedoch, daß der kulturelle "Filter", die 'typisch deutsche Sichtweise' ihre Brauchbarkeit einschränken: So sind sie vor allem deshalb interessant, weil sich an ihnen ein Stück deutscher Wissenschaftsgeschichte verfolgen läßt und hier die Wurzeln der heute noch anzutreffenden Einstellung vieler Europäer gegenüber der lateinamerikanischen Bevölkerung liegen. In seiner Untersuchung von Lebensstilen und kulturellen Abgrenzungsformen der bogotanischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts erbringt Thomas Fischer (Erlangen-Nürnberg) den Nachweis, daß auch auf diesem Forschungsgebiet Reiseberichte eine wichtige Informationsquelle darstellen. 17 Berichte aus den Jahren 1820 bis 1880 liefern über die kolumbianische Metropole detaillierte Beschreibungen zu Geographie und Klima, Architektur, wirtschaftlichen Strukturen als Randbedingungen des täglichen Lebens und anschauliche Schilderungen verschiedener Aspekte der städtischen Gesellschaft selbst. Fischer zeigt, daß sich die Klassen bzw. Stände sowohl untereinander als auch in ihren einzelnen Gruppen durch Kleidung, Verhalten, Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche und nicht zuletzt durch die ethnische Zugehörigkeit deutlich voneinander abgrenzten: Während sich die weiße Oberschicht in ihrer kostspieligen Lebensweise explizit am europäischen (und vor allem Pariser) Vorbild orientierte, war der Alltag der Mittelschicht von der permanenten Notwendigkeit geprägt, den Lebensunterhalt zu sichern. Exemplarisch stellt Fischer die Handwerker dar, die in der Unterstadt Bogotas zusammen mit ihrer 'Großfamilie' auf engstem Raum lebten und arbeiteten und deren äußeres Erkennungsmerkmal die ruana, eine Art Wollponcho, war. Das breite Fundament der städtischen Bevölkerungspyramide stellte die gente del pueblo: Dienstboten, Kaffepflücker, Tagelöhner und Prostituierte; ihr gemeinsames Merkmal war die indianische Herkunft. In dieser Bevölkerungsschicht war das Problem der Landflucht am gravie-

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rendsten. Viele europäische Reisende sahen in der ausgeprägten Klassengesellschaft der kolumbianischen Hauptstadt eine natürliche Notwendigkeit, bedingt durch die den jeweiligen Ethnien zugeschriebenen Eigenschaften. So verwunderte es sie auch nicht, daß die vertikale Mobilität in beide Richtungen gleich null war, zumal innerhalb der gesellschaftlichen Gruppen eine starke Solidarität herrschte. Fischer betont, daß die Darstellungen der Reisenden, da sie stark vom jeweiligen Forschungsinteresse geprägt waren, auf viele Fragen keine Antworten liefern; er zieht den Schluß, daß für eine geschlossene Darstellung des städtischen Lebens Reiseberichte um andere Informationsquellen ergänzt werden müssen. Mit europäischen Reiseberichten der Romantik befaßt sich Friedrich Wolfzettel (Frankfurt am Main). In seinem Beitrag untersucht er Beschreibungen der andinen Bergwelt auf ihre Wirkung auf und (übergeordnete) Bedeutung für den jeweiligen Autor. Dabei kristallisiert sich immer wieder ein Konflikt heraus: Das gewissermaßen "profane" wissenschaftliche oder wirtschaftliche Erkenntnisinteresse, das in der Regel der ursprüngliche Anlaß der Expeditionen war, wird überlagert durch die "schreckliche Schönheit des Erhabenen", welche die vertraute "pittoreske" Landschaftserfahrung zurückdrängt. Im Ringen um Vergleichsmöglichkeiten (mit z.B. den heimischen Alpen) stoßen die Autoren schnell an die Grenze der Superlative. In manchen Berichten wird den Anden darüberhinaus eine metaphysische, religiöse, "theologisch-kosmische" Bedeutung beigemessen; "Bergsteigen wird zur ästhetischen Flucht aus dem Reich des Nützlichen und zum säkularisierten Gottesdienst." Im romantischen Weltbild schließen sich Natur und menschliches Alltagsstreben gegenseitig aus; der Mensch wird als störendes oder sogar zerstörendes Element in einer elementaren Unberührtheit gesehen. Die Überwindung dieser Hindernisse wird denn auch als "mystische Vereinigung der Seele mit Gott" empfunden, weit entfernt von den Lasten des südamerikanischen oder europäischen Alltags. Die südamerikanische Bergwelt widersetzt sich gleichsam jeder, auch ästhetischen Instrumentalisierung. Letztlich tragen deshalb die literarisch eindrucksvollen romantischen Reisebeschreibungen nur indirekt zum Verständnis des besuchten Landes bei, indem sie die Fremdheit und Andersheit einer kaum kolonialisierbaren Natur in den Mittelpunkt rücken. Friedrich von Krosigks (Erlangen-Nürnberg) Themengebiet sind die Reiseberichte über Panama seit der Sezession von Spanien 1821 bis zum Abebben des kalifornischen Goldrauschs 1869. Er unterteilt diese Zeit in zwei Prozesse der "Wiederentdeckung": eine "prämoderne" Phase, in der sich Panama von der spanischen Herrschaft befreite und seine Wirtschaft dem Handel mit Nordamerika öffnete, und eine Periode des Umbruchs im Zuge des Goldrauschs 1849-1869, in der amerikanische und britische Ge22

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schäftsleute und Abenteurer auf der Durchreise eine forcierte Modernisierung des Landes einleiteten. Die Beschreibungen der ersten Phase, meist verfaßt von "professionellen" Reisenden, Kaufleuten und Politikern, die auch mit anderen Ländern Südamerikas vertraut waren, zeichnen sich durch eine detailliertere und präzisere Berichterstattung aus. Das Interesse der Schreiber galt in erster Linie den veränderten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen nach der Unabhängigkeit von Spanien und der Angliederung an Gran Colombia. Die Erzählungen der zweiten Phase stammen zumeist aus der Feder der sogenannten Forty Niners, Yankees auf der Durchreise nach Kalifornien, die in Panama oft nur wenige Tage verbrachten. Entsprechend sind letztere Berichte oft stark emotional geprägt und unreflektiert. Krosigk identifiziert hier vor allem drei große Themenkomplexe: "die Dekadenz Panamas, das Abenteuer Panama im Zeichen der kalifornischen Migration und schließlich den Prozeß der Amerikanisierung Panamas und seine Folgen". Stellvertretend für den erbärmlichen Zustand der Infrastruktur wird in vielen Berichten der Camino Real beschrieben, vor der Fertigstellung der Eisenbahnverbindung 1855 die einzige Transitstrecke durch Panama. Allgemein liegt der Schwerpunkt der Berichte auf der Beschreibung von Verkehrswegen und Handelslinien sowie den Reisebedingungen; Äußerungen über Land und Leute beschränken sich meist auf den sowohl physischen als auch moralischen Verfall von Panama-Stadt. Allerdings attestiert Krosigk allen Reiseberichten eine wichtige Rolle als ergiebige Informationsquelle für "den fortschreitenden Amerikanisierungsprozeß am Isthmus", der Panama aus seinen traditionellen wirtschaftlichen wie kulturellen Bindungen zu der spanischsprachigen Welt löste. Zwei Beiträge beschäftigen sich mit der Karibik. Wolfgang Binder (Erlangen-Nürnberg) stellt in seinem Aufsatz einen der umstrittensten Reiseberichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts vor, in dem der Engländer James Anthony Froude von seinen Erfahrungen in der Karibik berichtet. Binders Hauptinteresse geht dahin, den stark eingeschränkten und mit Vorurteilen belasteten Horizont Froudes als typisches Beispiel imperialer Rechtfertigungsmechanismen aufzuzeigen. Die geistige Unbeweglichkeit des Engländers verwundert umso mehr, als er als einer der berühmtesten Historiker seiner Zeit gilt. Froude bereiste 1886/87 den karibischen Raum mit der festen Absicht, einen Beitrag zum Erhalt des britischen Empire zu leisten. Dementsprechend sanktioniert er in seinen Berichten die in den Kolonien herrschenden Machtstrukturen, vor allem das System der Sklaverei mit für den heutigen Leser zum Teil haarsträubenden Argumenten. In der festen Überzeugung, daß die schwarze Rasse von Natur aus nur zu harter Arbeit tauge, propagierte er energisch die Rassentrennung. An Froudes Reaktion offenbart Binder die unterschwelligen Ängste der Kolonialherren, die,

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durch den haitianischen Aufstand und die Sezession Irlands traumatisiert, jegliche Tendenz zur Unabhängigkeit in den Kolonien bereits im Keim rigoros unterdrücken. Hinzu kommt die Furcht vor dem mystischen Kult der Schwarzen, von dessen angeblich kannibalischen Ritualen auch Froude mit einer Mischung aus Horror und Faszination berichtet. Einzig Kuba vermag der Engländer ob dessen Ähnlichkeit mit Spanien auch positive Seiten abzugewinnen; hier stellt er Vergleiche zwischen dem spanischen und dem englischen Kolonialsystem an. Alles in allem wird aber in dem Reisebericht deutlich, wie wenig diese Unternehmung Froudes Sicht der Dinge beeinflussen konnte: "Es gibt in der Tat Autoren, die überhaupt keine beschwerliche Reise antreten müßten, um zu dem Ergebnis zu kommen, mit dem sie bei Lichte betrachtet als Prämisse oder gar als Quintessenz ihrer Bemühungen vor Ort bereits gestartet sind." Die Auseinandersetzung mit der kubanischen Sklaverei steht im Mittelpunkt des Beitrags von Thomas Bremer (Halle-Wittenberg). Bereits Humboldt prangerte in seiner Relation Historique die Sklaverei als "das größte aller Übel, welche die Menschheit gepeinigt haben," an und setzte sich ausführlich mit ihrer kubanischen Spielart auseinander. Hier wurde der Grundstein zur "politisch-moralischen" Funktion von Reiseberichten gelegt, die besonders beim Thema Sklaverei und Abolition deutlich wird. Sklavenhandel war aufgrund eines Abkommens zwischen England und Spanien seit dem Wiener Kongreß offiziell verboten; Anfang des 19. Jahrhunderts erfuhr aber Kuba, bedingt durch die politischen Wirren auf Haiti und den Zusammenbruch der dortigen Landwirtschaft, einen beispiellosen Zuckerboom, der es für Händler lukrativ werden ließ, das Verbot trotz harter Strafen zu umgehen. So wurde noch Jahrzehnte später ein schwunghafter Sklavenhandel betrieben. Bremers zentrale Überlegung hinsichtlich der Reiseberichte geht dahin, daß Reisen zwischen 1825 und 1845 in erster Linie "Reisen in die Abolition" waren: "Sie thematisieren stets die Sklaverei und spiegeln den Stand der Debatte um ihre Abschaffung, ihre Verwerflichkeit und ihren Nutzen, und es sind - neben allen Statistiken und allen pittoresken Details, die sich natürlich ebenso finden - tendenziell immer auch politische Reisen." Allerdings zeigt sich, daß bei der Rezeption des kubanischen Sklavereisystems die kulturelle Prägung und die Nationalität der Reisenden eine erhebliche Rolle spielten: Während sich nordamerikanische Reisende in erster Linie auf einen Vergleich der beiden Systeme beschränkten und aufgrund der eigenen Erfahrungen oft keine klare Position für oder wider die Sklaverei bezogen, war für britische Forschungsreisende ein wesentliches Motiv die "Kontrolle des zwischenstaatlich ausgehandelten Verbots des Sklavenhandels und die Anklage und Anprangerung seiner etwaigen Verletzungen". Im britischen Fall kam allerdings unter der vermeintlich ethisch-altruistischen Fassade

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gelegentlich auch nackte Sensationsgier zum Vorschein. Einen Reisebericht über Kuba, den des Briten Richard Madden von 1840, stellt Bremer besonders vor, da dieser "praktisch wie eine abolitionistische Collage" neben eigenen Erfahrungen des Autors auch erstmals die Autobiographie eines kubanischen Sklaven veröffentlichte - die bis heute einzige ihrer Art. Dennoch gilt für diesen Reisebericht wie für viele andere, daß er mehr über seinen Verfasser und dessen politische Überzeugungen aussagt als über das beschriebene Land. Die Rubrik "Reiseliteratur zwischen Klischee und historischer Quelle" enthält zwei Beiträge: Walther L. Bernecker (Erlangen-Nürnberg) untersucht Reichweite und Grenzen von Reiseberichten als historische Quellengattung für das Mexiko des 19. Jahrhunderts. Nach einer Einteilung der vorhandenen Reiseliteratur anhand zeitlicher und systematischer Kategorien greift er drei Beispiele heraus, mittels derer die Bedeutung von Reiseliteratur als historische Quelle dargelegt werden kann. Das erste Beispiel illustriert die enorme Wirkung von Reiseliteratur im Hinblick auf den im damaligen Europa grassierenden Mythos vom mexikanischen Reichtum. Dieser Mythos dürfte, ausgehend von Alexander von Humboldt, in entscheidendem Ausmaß von den Reiseschriftstellern zu Beginn des 19. Jahrhunderts geschaffen worden sein. Die Wirkungen der Reiseliteratur waren außerordentlich groß, beeinflußte die Vorstellung eines schier grenzenlos reichen Mexiko doch die Politik der europäischen Staaten dem unabhängig gewordenen lateinamerikanischen Land gegenüber. Das zweite Beispiel verweist auf eine für Mexiko katastrophale Wirkung von Reiseliteratur: Die ständige Betonung des potentiellen mexikanischen Reichtums gehört als erklärendes Moment zur Vorgeschichte des amerikanisch-mexikanischen Krieges von 1846-1848 sowie des US-Expansionismus gegenüber Mexiko. Wird in den nordamerikanischen Reiseberichten bereits ein möglicher Faktor der US-Intervention gesehen, so gilt dies in noch größerem Maße für die französische Reiseliteratur und die Intervention Napoleons III. im Mexiko der 1860er Jahre, nachdem die zahlreich vorhandene französische Reiseliteratur großen Einfluß auf die öffentliche Meinung Frankreichs ausübte und womöglich auch die kaiserliche Regierung bei ihrer Entscheidung beeinflußte. Das dritte Beispiel diskutiert anhand von Reiseliteratur die Frage, inwieweit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Mexiko ein für europäische Textilien großer und aufnahmefähiger Markt war; es wird deutlich, daß Reiseliteratur für den Sozialhistoriker eine wichtige ergänzende Quelle in all jenen Fällen darstellt, in denen Statistiken und amtliche Berichte wegen offensichtlicher Mängel oder Manipulationen versagen. Vorsichtig und überlegt eingesetzt, kann somit Reiseliteratur als Quellengattung einen Beitrag zur Versachli-

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chung einer in den letzten Jahrzehnten höchst ideologisiert geführten Diskussion leisten. Jochen Heymann (Erlangen-Nürnberg) untersucht in seinem Beitrag französische Reiseberichte im Hinblick auf die Beziehung zwischen Anspruch auf sachliche Informationsvermittlung einerseits und Unterhaltungswert oder literarischen Ambitionen andererseits. Er stellt einleitend Jules Vernes Reiseroman Les Enfants du Capitaine Grant als besonders typischen "Grenzgänger" vor, dessen Landschafts- und Naturbeschreibungen allein auf Sekundärliteratur und Hörensagen beruhen und dessen Handlung rein fiktional ist, der aber dennoch Anspruch auf Authentizität und Sachlichkeit erhebt. Heymann betont, daß in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts die Übergänge "zwischen dem nüchternen Beobachtungs- und Inventarisierungsprotokoll einerseits und der literarischen Genreszene oder dem Reiseroman fließend" sind und "selbst notorischen Fällen von literarischer Freizügigkeit ein Wahrheitsgehalt zuerkannt" wurde. In einem nächsten Schritt geht Heymann der Frage nach, wie das ursprüngliche Wissen um die beschriebenen Kulturen, an das gemäß dem Erwartungshorizont der Leserschaft fiktionale wie nicht-fiktionale "Erlebnis"-Berichte angeglichen wurden, seine Verbreitung gefunden hat; er schreibt vor allem den Massenmedien, im 19. Jahrhundert somit den Printmedien, eine Hauptrolle zu. Exemplarisch für die damals so wichtigen Zeitschriften stellt er die Revue des Deux Mondes speziell der Jahre 1831-1874 vor, da diese Zeitspanne sowohl für das Blatt im besonderen als auch für Frankreichs Geschichte im allgemeinen eine ereignisreiche Periode darstellte. Nach einer politischen und gesellschaftlichen "Standortbestimmung" der Revue geht Heymann auf das in ihr vermittelte Lateinamerika-Bild ein. Anhand der hierzu veröffentlichten Beiträge gelingt es ihm, das eingangs erwähnte Dilemma zwischen Nützlichkeit und Unterhaltungsanspruch aufzuzeigen. Er kommt aber zu dem Ergebnis, daß diese scheinbar widersprüchlichen Zielvorgaben letztlich doch einem gemeinsamen Endzweck dienten: Während die sachlicheren Beiträge Forum "einer expliziten Aufforderung zu politischem Handeln" gemäß der liberalen Grundhaltung der Zeitschrift waren, hatten die stilisierten Reisebilder die Aufgabe, die "nicht-sachliche, nichtkausale, immaterielle und sogar irrationale Dimension des Fremden" zu vermitteln, um so für "anvisierte politische und wirtschaftliche Entscheidungsprozesse operativ eingesetzt werden" zu können. Die letzte Rubrik enthält zwei Beiträge, die einen jeweils "anderen Blick" thematisieren: Zum einen geht es um die Sichtweise eines Künstlers, zum anderen um die "umgekehrte" Perspektive, nämlich die Sicht reisender Lateinamerikaner von Europa. Eliana de Sä Porto De Simone (Heidelberg) stellt in ihrem Beitrag die Reiseberichte des Prinzen Maximilian Wied zu 26

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Neuwied vor, der Anfang des letzten Jahrhunderts beide Amerikas bereiste. Auf seiner im Mittelpunkt des Aufsatzes stehenden zweijährigen Expedition durch Brasilien 1815-1817 widmete sich der Laienforscher insbesondere der schriftlichen und zeichnerischen Beschreibung der indianischen Ureinwohner sowie der tropischen Natur. 1820/21 veröffentlichte er seine Erlebnisse unter dem Titel "Reise nach Brasilien in den Jahren 1815-1817". Für die Illustration des Buches und des dazugehörigen Atlas ließ Prinz Maximilian seine Zeichnungen und Aquarelle allerdings von professionellen Künstlern überarbeiten. De Simones besonderes Interesse gilt den Veränderungen an den Originalzeichnungen, die für die "offiziellen" Radierungen vorgenommen wurden. Sie stützt sich bei ihrem Vergleich unter anderem auf den schriftlichen Bericht des Prinzen, der die Entstehungsgeschichte vieler Bilder liefert und weniger den Künstler als vielmehr den Naturforscher und Anthropologen Maximilian erkennen läßt. Anhand einiger ausgewählter Beispiele arbeitet De Simone die damaligen, von Romantik und Klassizismus geprägten künstlerischen Ideale heraus und zeigt, wie nach diesen Regeln aus den detailgetreuen und realistischen Darstellungen Maximilians das verklärte Bild des "beau sauvage", dem Geschmack der Zeit entsprechend, entstand. Maximilian selbst bemängelte bereits damals den Verlust an Authentizität und Information seiner Momentaufnahmen zugunsten einer künstlich geschönten und sorgfältig komponierten Szenerie. Er unterschätzte seine künstlerischen Fähigkeiten - zumindest nach Meinung der Autorin, die des Prinzen letzte Aquarelle und Zeichnungen mit der naiven Malerei Henri Rousseaus vergleicht. Im letzten Beitrag des Buchs befaßt sich Andrea Pagni schließlich mit einer in der wissenschaftlichen Literatur bisher weitgehend unberücksichtigten Art von Reiseberichten: der Beschreibung Europas aus der Sicht lateinamerikanischer Reisender. Sie löst sich bewußt von der bis weit in das 20. Jahrhundert verbreiteten Sichtweise, Südamerikaner hätten weder über ihren eigenen Kontinent noch über die "Alte Welt" Interessantes zu berichten. "Was Lateinamerikaner im Laufe der Jahrhunderte und bis heute über Europa gesagt haben, ist kaum Teil der Realität Europas geworden aus dem einfachen Grund, daß es überhört oder nicht ernst genommen wurde." Zwei Reisende werden exemplarisch für diese Art von Berichten vorgestellt: Juan Bautista Alberdi, ein argentinischer letrado im uruguayischen Exil, und Domingo Faustino Sarmiento, ein Gesandter der chilenischen Regierung, bereisten in den 1840er Jahren Europa, um für das lateinamerikanische "Staatsbegründungsvorhaben" das Modell und Vorbild der Staaten Europas zu studieren. Alberdi hatte zudem den Anspruch, das bis dahin in seiner Heimat weitgehend unbekannte Europa einer breiten Leserschaft zugänglich zu machen, und daher schrieb er ganz bewußt als Hispanoamerikaner für

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seine Landsleute. Pagni schildert die "Pilgerreise" Alberdis nach Genua auf den Spuren Columbus', des fast mystisch verehrten "marino inmortal", und zu den Wurzeln seiner "europäischen Abstammung". Doch Alberdis Tagebuchaufzeichnungen machen auch deutlich, wie die anfängliche Begeisterung und Faszination durch die teilweise enttäuschenden Begegnungen mit der europäischen Wirklichkeit und die aufkeimende Sehnsucht nach der südamerikanischen Heimat gedämpft wurden. So kam der Argentinier bei seiner Abreise zu dem Schluß, daß die Vorbildfunktion Europas in Lateinamerika überbewertet und demgegenüber die Schönheit Amerikas auf europäischer Seite auch nach Humboldt zu gering geschätzt wurde. Er forderte die Schaffung einer (süd-)amerikanischen Literatur, eines eigenen "Aussageortes" für den Dialog mit Europa. Zusammenfassend hält Pagni fest, daß die Selbsteinschätzung und Einstellung lateinamerikanischer Reisender nach ihrer Rückkehr sehr viel einschneidendere Veränderungen erfahren hatte als die europäischer Forscher, die größtenteils in ihren althergebrachten Ansichten bestärkt zurückkehrten und auch in den bereisten Ländern einen nachhaltigen Eindruck hinterließen. ***

Zum Abschluß einige Worte des Dankes: Dank sage ich allen Referentinnen und Referenten, die in Innsbruck (in einem höchst angenehmen Ambiente) eine niveauvolle und angeregte Diskussion möglich gemacht und sich anschließend bereiterklärt haben, ihre Beiträge für die Drucklegung zu überarbeiten. Dank sage ich Frau Kristina Bim, die die mühevolle redaktionelle Arbeit am Band übernommen hat. Dank gebührt der Universität ErlangenNürnberg, die durch einen stattlichen Zuschuß den Druck des Bandes ermöglicht hat. Last but not least danke ich Frau Margit Boscher, die das Layout besorgt und die reproduktionsfähige Vorlage erstellt hat.

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Est-ce que l'on sait où l'on va? Dimensionen, Orte und Bewegungsmuster des Reiseberichts "Que serait le récit d'un voyage où il serait dit que l'on reste sans jamais dit qu'étant parti, on arrive ou n'arrive pas? Ce récit serait un scandale, l'exténuation, par hémon-agie, de la lisibilité." (Roland Barthes, S/Z)

Annäherung »Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hoffe, Sie hatten eine gute Reise.« So oder doch in ähnlicher Weise pflegen (zumindest in der zwischenmenschlichen Kommunikation) Kolloquien und Tagungen, nicht nur zur Reiseliteratur, zu beginnen. Derartige Veranstaltungen bauen, ob gewollt oder ungewollt, auf einer Vielfalt von Reiseaktivitäten auf, und man könnte sehr wohl die These wagen, daß es nicht nur in geographisch-reisetechnischer, sondern auch in semantischer, interkultureller Hinsicht gelungene Reiseprozesse sind, welche die Grundlage für Erfolg oder Mißerfolg dieses Veranstaltungstyps bilden, der Menschen aus unterschiedlichen Regionen und Kulturen in einem ganz wörtlichen Sinne an einen gemeinsamen Tisch und zu einem direkten, wenn auch zeitlich begrenzten Dialog führt. Tagungen sind - und deren Veranstalter wissen im allgemeinen ein Lied davon zu singen - eingebettet in ein komplexes Netz von Reisen und Reiseanschlüssen, in eine wahre Logistik, die es erlauben soll, letztlich ebenso die Reisenden wie auch deren Themen auf den Punkt zu bringen. Diese Tatsache ist - soweit ich sehe - bislang kaum theoretisch reflektiert, geschweige denn für die Abläufe von Tagungen über jenes Maß hinaus berücksichtigt worden, das sich der puren Chronologie (und Choreographie) der Reiseverbindungen verdankt. Wie schnell reist der Mensch? Stimmt der alte Spruch, demzufolge die Seele mit nicht mehr als 35 Stundenkilometern zu reisen in der Lage sei, so sind zu Beginn eines internationalen Kolloquiums - der jet lag ist dabei nur das deutlichste Symptom - nicht immer alle Teilnehmer schon wirklich angekommen, um gemeinsam mit anderen eine Reise durch verschiedenste Wissensgebiete anzutreten. Unsere persönlichen wie wissenschaftlichen Kontakte sind auf ganz selbstverständliche Weise von Reisen durchzogen - und genau dies dürfte das

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Reisen in diesem Kontext zu einer kaum noch bewußten Aktivität degradiert haben, die nur mehr in Antragsformularen für Dienst-, Kongreß- und Forschungsreisen ihren Ausfluß findet. Das wissenschaftliche Leben beruht auf einer immensen Zahl an Ortsveränderungen, die weitgehend ausgeblendet werden, weil sie uns scheinbar den Zugang zu unserer eigentlichen Beschäftigung erschweren. Ob Bahn oder Flugzeug, Internet oder WorldWideWeb: alles zielt auf die Überwindung des als störend gedachten Raums. Es ist durchaus kein Zufall, daß ich mich jener Thematik, die uns bei dieser Tagung beschäftigen wird - Die Wiederentdeckung Lateinamerikas. Die Erfahrung des Subkontinents in Reiseberichten des 19. Jahrhunderts -, über die Frage nach dem Ort und nach den Ortsbewegungen annähere. Es mag paradox erscheinen, doch ist in der Beschäftigung mit dem Reisebericht die Frage nach dessen Orten überraschend selten gestellt worden. Damit meine ich nicht vorrangig die Problematik der Referentialität des Reiseberichts, also etwa dessen Klassifizierung entweder nach dem Herkunftsland bestimmter Reisender (die Untersuchung französischer, spanischer, chilenischer oder chinesischer Autoren) oder nach deren geographischem Ziel (im Sinne des uns gestellten Tagungsthemas die Reisen nach Lateinamerika). Es ist weniger die Referentialität der Reisen und der Reiseberichte, der ich im folgenden mit Hilfe des Begriffs »Ort« nachgehen will, als vielmehr der literarische, philosophische, rezeptionsfördernde, topische Aspekt von Reiseliteratur. Mir scheint, daß gerade auf dieser gattungstheoretischen und schreibpraktischen Ebene die Problematik des Ortes - vielleicht weil sie so allgegenwärtig ist, überschwemmt uns der Reisebericht doch förmlich mit einer Vielzahl topographischer bzw. astronomischer Ortsbestimmungen - erstaunlich unreflektiert blieb. Bei meinen Überlegungen möchte ich mich dabei nicht auf das 19. Jahrhundert beschränken, sondern vielmehr die Grundlegung des modernen Reiseberichts im 18. Jahrhundert in herausgehobener Weise einbeziehen sowie einige wenige Ausblicke auf die Reiseliteratur des 20. Jahrhunderts geben.

Die Faszination des Reiseberichts Die Faszination, die von Reiseberichten des 18. und 19. Jahrhunderts auf ihre zeitgenössischen Leser ausging, ist beeindruckend und selbst über lange historische Zeiträume mehr oder minder konstant geblieben. Auch im 20. Jahrhundert hat der literarische Reisebericht - wie die breite und intensive Beschäftigung mit dieser Gattung vor allem während der letzten 25 Jahre im allgemeinen und diese Tagung im besonderen zeigen mögen - nichts von seiner Ausstrahlungskraft verloren, und zwar nicht nur als Gegenstand eines

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wie auch immer bestimmten (literar-) historischen oder wissenschaftsgeschichtlichen Interesses, sondern zugleich als lebendige literarische Ausdrucksform, auch wenn der Reisebericht nun auf den verschiedensten Ebenen mit neuen Konkurrenten und neuen Medien kämpfen muß. Es ist bekannt, wie ein Reisebericht des 18. Jahrhunderts - Bougainvilles Voyage autour du monde von 1771 - im Verbund mit weiteren mehr oder minder literarisch geschickten Reiseberichten eines Anson oder eines Byron, die gebildete französische Gesellschaft (und nicht nur diese) in seinen Bann schlug und geradezu eine »tahitianische Mode«, gepaart mit der Sehnsucht nach anderen gesellschaftlichen Formen und Zeiten, auszulösen vermochte. Noch Georg Forster, der auf James Cooks zweiter Reise auf den Spuren Bougainvilles die von diesem so beziehungsreich getaufte Nouvelle Cythere betrat und später in seinem eindrucksvollen und für die deutsche Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts vorbildgebenden 1 Reisebericht darstellte, konnte sich dem Reiz der seinen Zeitgenossen bekannten Schöpfung des Franzosen nicht entziehen, war doch auch er nicht ganz frei von jener »Südseetrunkenheit«, die das europäische Publikum im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erfaßt hatte. Zweifellos ist die durch Reiseberichte gerade über weit entfernte Kulturen erzeugte Faszination nicht zuletzt von der Wahrnehmung kultureller, gesellschaftlicher und politischer Alterität geprägt, doch zeigt unser Beispiel, wie hoch der Anteil des Eigenen an der vermeintlichen »Wahr-Nehmung« des kulturell Anderen sein kann. "Als nun Forsters begeisternde, durch ihre Poesie eindrucksvolle Schilderung des Ensembles von landschaftlicher Schönheit, freigebigem Reichtum der Natur, gesundem Klima mit naiver Sittlichkeit, Liebenswürdigkeit und gefälliger Körperbildung der Bewohner dieser Insel erschien, las ein südseetrunkenes Publikum aus der »Reise um die Welt« fast nur das heraus, was sich in die bereits liebgewonnenen Vorstellungen einfügte.'^

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Im zweiten Band seines Kosmos hat Alexander von Humboldt seinem "Lehrer und Freund Georg Förster" ein literarisches Denkmal gesetzt, ließ er doch mit ihm "eine neue Aera wissenschaftlicher Reisen, deren Zweck vergleichende Völker- und Länderkunde ist", beginnen und erblickte in ihm jenen Schriftsteller, der aufgrund seiner Phantasie und Ausdruckskraft in der deutschen Sprache den dargestellten Gegenständen gerecht zu werden vermochte: "Alles, was der Ansicht einer exotischen Natur Wahrheit, Individualität und Anschaulichkeit gewähren kann, findet sich in seinen Werken vereint." Alexander von Humboldt: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Zweiter Band. Stuttgart/Tübingen 1847, S. 72. Die europäische Perspektive dieser Äußerungen ist unübersehbar. Gerhard Steiner: Georg Forsters »Reise um die Welt«. In: Georg Forster: Reise um die Welt. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Gerhard Steiner. Frankfurt am Main 1983, S. 1029.

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Deutlich erscheint hier das komplexe Spiel zwischen dem Berichteten und von der zeitgenössischen Leserschaft noch nicht Gewußten einerseits und vorhandenen Wissensbeständen wissenschaftlicher wie literarischer Provenienz andererseits, welches das Nicht-Gewußte oftmals unbewußt, bisweilen aber auch wohlkalkuliert in Strukturen des Vor-Gewußten zu überführen fähig ist. Es handelt sich hierbei um Funktionsweisen der Wahrnehmung kultureller Alterität, die gerade im Verlauf der zurückliegenden Jahrzehnte immer differenzierter herausgearbeitet und dargestellt worden sind 3 , so daß sich eine Erörterung ihrer Mechanismen an dieser Stelle erübrigt. "La Géographie a des avantages si considérables qu'il est peu d'honnêtes gens et de personnes d'esprit qui ne se fassent un plaisir de la savoir. Elle est belle, utile et aisée tout ensemble. On peut dire même qu'elle est nécessaire a tout le monde, puisque sans son secours on ne saurait soutenir les plus simples conversations, ni entendre bien une gazette." 4 Diese Aussage, die Martineau im Jahre 1700 seiner Nouvelle Géographie ou Description de l'Univers voranstellte, ist zwar auf die Geographie gemünzt, welche für alle erreichbar sei, "les enfants comme les personnes faites, le vulgaire comme les savants, les femmes comme les hommes" 5 ; doch läßt sie sich gewiß auf den Reisebericht und dessen unterschiedliche Rezeptionsweisen bei einem breiten und daher auch sehr heterogenen Publikum übertragen. Reiseberichte üben auf die verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen eine Faszination aus, die sich auch darin niederschlägt, daß sie - wie unser Zitat, aber auch die Einbettung von Diderots Supplément au voyage de Bougainville in den Rahmen einer Konversation zwischen zwei fiktiven Dialogpartnern zeigt - rasch zum beliebten Tagesgespräch werden können. Liegen die Gründe für die Ausstrahlungskraft, ja Faszination, die von der (literarischen, wissenschaftlichen und wahrnehmungsspezifischen) Gattung des Reiseberichts ausgeht, allein in der Beschäftigung mit bestimmten Gegenständen, der Auseinandersetzung mit kultureller Andersartigkeit etwa, oder - wie uns das vorangegangene Zitat nahelegt - in der vermeintlich leichten Aneignung des Textes durch eine (zeitgenössische oder historisch rückblickende) Leserschaft? Beide Aspekte scheinen mir gleichermaßen und aus zwei unterschiedlichen Perspektiven auf eine tieferliegende Begründung zu verweisen, die den in der Folge entfalteten Überlegungen als Ausgangsthese zugrunde liegt. Die Faszination des Reiseberichts - so meine These - beruht

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Bezogen auf das Spannungsfeld Europa - Lateinamerika tat dies u.a. Tzvetan Todorov in seiner längst klassischen Studie: La Conquête de l'Amérique. La question de l'autre. Paris 1982. Zit. nach Numa Broc: La Géographie des Philosophes. Géographes et voyageurs français au XVIIIe siècle. Paris 1975, S. 231. Ebda. Die Parallelisierungen dieses Zitats sind aufschlußreich.

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in grundlegender Weise auf den in der Reiseliteratur allgegenwärtigen Verstehensbewegungen, verstanden als Bewegungen des Verstehens im Raum, das die Bewegungen zwischen menschlichem Wissen und Handeln, zwischen Vor-Gewußtem und Nicht-Gewußtem, zwischen den Orten des Lesens, den Orten des Schreibens und den Orten des Berichteten räumlich konkretisiert oder, um es plastischer zu sagen, in ein vom Leser leicht nachvollziehbares Raummodell überführt. Verstehen wird als abgeschlossener und dennoch für den Leser offener Vorgang, als Er-Fahrung in ihrer je spezifischen Prozeßhaftigkeit nachvollziehbar vorgeführt. Jeder Reisebericht präsentiert damit seinen Lesern anschauliche Modelle des Verstehens, die in ihrer raum-zeitlichen Dimension entfaltet werden. Der Reisebericht ist ein inszeniertes Erfahrungsmodell, das auf die Aneignung von Wahrnehmungsformen fremdkultureller Elemente - und nicht primär auf diese selbst - zugeschnitten ist.

Dimensionen des Reiseberichts In Rückgriff auf eine Bemerkung von Claude Lévi-Strauss, der in seinen Tristes Tropiques betont hat, daß sich Reisen in zumindest fünf Dimensionen ansiedeln 6 , gilt es zunächst festzuhalten, daß die beiden ersten Dimensionen des Raumes gerade in der kartographischen Erfassung und Auswertung der untersuchten Reisen anschaulich werden. Der Reisende bewegt sich gleichsam innerhalb eines zweidimensionalen Koordinatensystems entlang einer Linie, die sich vor allem in den ersten handschriftlichen Aufzeichnungen und darauf beruhenden ersten kartographischen Ausarbeitungen mit aller wünschenswerten Deutlichkeit niederschlägt. Der vielleicht bekannteste deutschsprachige Reisende des 19. Jahrhunderts und sicherlich berühmteste Lateinamerikaforscher seiner Zeit, Alexander von Humboldt, hat in seine Reisetagebücher kartographische Aufnahmen der von ihm bereisten Flüsse eingezeichnet, welche das linienhafte Vordringen des Reisenden - und teilweise auch des Reiseberichts, wo er dieser Achse folgt - vor Augen führen. Humboldts Zeichnungen vom Rio Magdalena im heutigen Kolumbien beschränken sich auf eine vielfach gewundene Linie und einen scharf begrenzten schmalen, durch angedeutete Gebirgsschraffen vom Fluß aus sichtbaren Höhenzügen ergänzten Saum rechts und links des Flusses, den der preußische Naturforscher aus eigener Anschauung eintragen konnte (fig. la und 6

Im folgenden entwickle ich Vorstellungen weiter, die bereits kurz anklingen in Andrea Pagni / Ottmar Ette: Introduction. In: dies. (Hgg.): Crossing the Atlantic: Travel Literature and the Perception of the Other. Sondernummer der Zeitschrift Dispositio (Ann Arbor) XVII, 42-43 (1992), S. iii f. Diese Sammelpublikation richtet sich vorwiegend

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Ottmar Ette b) 7 . Schriftliche Notizen ergänzen die optischen Zeichen, die belegen, wie tunnelartig doch die Perspektive blieb, die sich dem Reisenden vom Fluß aus geboten haben muß. Eine abgeschlossene topographische Karte überspielt eine solche Perspektive des langsamen Abtastens einer Linie, inszeniert sie doch stets einen alles erfassenden Blick von oben, ein Schweben über den Dingen aus einem Blickwinkel, der nicht mehr der eines konkreten Subjekts ist. Die Erstellung einer topographischen Karte ist daher gleichbedeutend mit einer Überführung linienhafter individueller Erfahrung über verschiedene Zwischenstadien in flächenhaft ausgebreitete Überschau, die auf einem (Karten-) Netz beruht, das eine vom Reisenden allein nie erzeugbare Vollständigkeit suggeriert. Zugleich muß sie doch stets ausschnitthaft bleiben und gibt gerade dadurch einen (diegetischen) Rahmen vor, innerhalb dessen sich der eigentliche Reisebericht situiert. Humboldts Tagebücher bieten das faszinierende Schauspiel, wie sich Rahmen und Inhalt seines so oft beschworenen »Naturgemäldes«, wie sich Linie und Fläche gegenseitig hervorbringen. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Materialität seiner Eintragungen. Den in Humboldts Tagebüchern auf dem Papier freibleibenden Raum füllen - nicht nur aus Gründen eines gezwungenermaßen haushälterischen Umgangs mit dem kostbaren Material - ausführliche schriftliche Zusätze, welche sich der Form des Flußverlaufs anpassen und die leergebliebenen großen Flächen füllen. Man darf hierin nicht nur den Ausdruck jenes horror vacui erkennen, der die unbekannten Gebiete frühneuzeitlicher Karten mit allerlei Monstern und Fabelwesen schmückte. Dem Ineinanderwirken von Bild und Schrifttext ist vielmehr ein epistemologischer Status zuzuerkennen, insoweit der vom Auge erfaßte Bereich durch jene Informationen erweitert wird, die der Forscher während seiner Reise aus anderen Quellen bezog und zusammentrug. Das Gesehene verbindet sich hier mit dem Gehörten und Gelesenen, das Nicht-Gewußte mit dem Vor-Gewußten bzw. mit zugänglichen Wissensbeständen, Auge und Ohr 8 verknüpfen sich hier miteinander, um die Leere des Unbekannten aus dem definitiven Kartenbild - wenn auch keineswegs immer vollständig - zu verdrängen. In einem Tagebucheintrag hat der

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am Problem der Wahrnehmung des Anderen aus und verfolgt die Topik des Reiseberichts nicht weiter. Vgl. die Reproduktion seiner Karten von der Kolumbienreise in Alexander von Humboldt: In Kolumbien. En Colombia. Auswahl aus seinen Tagebüchern, herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik und der Kolumbianischen Akademie der Wissenschaften. Bogotá 1982, S. 29a - 34a. Dem Band sind die Abbildungen la und lb entnommen. Zur epistemologischen Dimension von Auge und Ohr im Horizont von Niederschrift, Sammlung und Auswertung von Reiseberichten vgl. Ottmar Ette: La puesta en escena

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preußische Gelehrte gegenüber ersten skeptischen und ablehnenden Reaktionen von seiten kolonialspanischer Behörden selbst auf die Prozeßhaftigkeit seiner kartographischen Arbeit hingewiesen, ohne es freilich am notwendigen Selbstbewußtsein fehlen zu lassen: "Les détails en sont très justes, les plus petites Laderas y sont indiqués, c'est le premier Plan qui jamais a été levé de cette Rivière, malgré tant d'Ingénieurs qui l'ont remonté depuis 300 ans. J'ai le malheur d'être étranger [...] Quelque exacte que j'ai raison de croire mon travail, il sera toujours trouvé mauvais parceque c'est un Prussien qui l'a fait. D'ailleurs ma Carte n'est un premier Essay, + je ne doute pas que l'on puisse la rectifier." 9 Noch in der großartigen Doppelseite von Humboldts Atlas géographique et physique du Nouveau Continent, die den Magdalenenstrom bzw. einen Ausschnitt aus dem heutigen Kolumbien zeigt (fig. 2) 1 0 , sind Flächen ohne Eintragungen vorhanden, doch füllen auch hier kartographische Detailaufnahmen einzelner Flußabschnitte die Lücken. Der Bereich des Wissens ist bedeutend ausgeweitet, weit über das vom Auge des einzelnen Reisenden Erfaßbare hinaus. Der Übergang vom Reisetagebuch zum Reisebericht verläuft parallel zu dieser Entwicklung, wenn auch gemäß den eigenen Regeln dieses literarischen Genres. Die dritte Dimension des Raumes ist jene, die gerade der Reisebericht des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts sich zu eigen macht und erforscht. Kaum ein Reisebericht jener Zeit, in welchem sich nicht auch eine Bergbesteigung findet. Exemplarisch und auch literarisch vorbildhaft sind bereits die Bergbesteigungen in Bernardin de Saint-Pierres Voyage à l'île de France, die ganz in der Traditionslinie Rousseaus vom Berggipfel aus Klarheit und Transparenz suchen und zu einer ersten -sthetisierung nicht-europäischer Bergwelten überleiten. Bezogen auf den Bereich spezifisch wissenschaftlicher Forschungsreisen und ihrer Ergebnisse ist einmal mehr Alexander von Humboldts Leistung zu nennen. Sie erschöpfte sich keineswegs in der berühmten Ersteigung des Chimborazo 11 , sondern führte zu neuartigen Formen kartographischer Höhendarstellungen und Aufrisse, die relationstreue wie schematisierte Profile der bereisten Gebiete zeigen. Erneut ergänzen sich Auge und Ohr, werden die vom Reisenden selbst gesammelten Er-

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de la mesa de trabajo en Raynal y Humboldt. In: Cuadernos Americanos VIII, 46 (Juli/August), México 1994, S. 29-68. Humboldt (Anm. 7), S. 31. Ebda. Diese Karte findet sich leicht zugänglich in Wolfgang-Hagen Hein (Hg.): Alexander von Humboldt. Leben und Werk. Frankfurt am Main 1985, S. 244.

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fahrungen und Ergebnisse durch Resultate anderer Forscher und Reisender, durch Quellenstudien in Archiven und Bibliotheken komplettiert. Das zweifellos berühmteste Ergebnis dieser Arbeit ist das Tableau physique des Arides et pays voisins, das Humboldt noch auf der Reise 1803 während seines Aufenthaltes in Guayaquil entworfen hatte (fig. 3) und später in Paris zu einem auch künstlerisch beeindruckenden Werk umgestaltete (fig. 4 ) . 1 2 Naturgemälde und Idealprofil in einem, präsentiert es eine Zusammenschau von Forschungsergebnissen, die sich auf einen weiten geographischen Raum in Abhängigkeit von den jeweiligen Höhenstufen beziehen und weit über den Gesichtskreis eines einzelnen Reisenden hinausgehen. Auch hier durchdringen sich Bild und Text wechselseitig und verweisen auf die epistemologischen Grundlagen von Humboldts Reiseauswertung. Parallel zur Zweidimensionalität der topographischen Karte zeigt auch die Profildarstellung einen Übergang von der Skizze im Reisetagebuch zu der wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Darstellung im Idealprofil, das emeut die bereits behandelte Ausweitung von Perspektive und Blickfeld präsentiert. Zugleich treten zwei verschiedene Orte des Schreibens einander gegenüber: ein erster während der Reise - der nach Humboldts eigenen Angaben in späteren Kupferstichen und Gemälden dargestellt wurde - und ein zweiter, der sich im Herkunftsland des Reisenden ansiedelt, auch dies ein Ort, der in der Ikonographie des preussischen Gelehrten mehrfach »ausgemalt« wurde. 1 3 Die vierte Dimension des Reiseberichts im Sinne von Lévi-Strauss wird von der Zeit gebildet. Der Reisende bewegt sich dabei zum einen in der Zeit seines Herkunftslandes: Vergessen wir nicht, daß erst die immer zuverlässigeren Uhren des 18. Jahrhunderts es den Seefahrern erlaubten, eine präzisere Längenbestimmung vorzunehmen, die in einem ganz materiellen Sinne rückgebunden an die Ausgangszeit des Längengrads des jeweiligen Herkunftslandes war. 1 4 Raum und Zeit sind so nicht nur aufs engste miteinander verbunden, sondern zugleich an die Zeit des eigenen Raumes rückgekoppelt. Zum anderen bewegt sich der Reisende auch innerhalb der Chronologie seiner Reise, die zweifellos ihre eigene Zeitlichkeit schafft. Darüber hinaus springt er bei seiner Zeitreise aber auch zwischen verschiedenen histori11 12 13 14

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Vgl. hierzu neuerdings den Band (sowie den dazugehörigen Film) von Paul Kanut Schäfer / Rainer Simon: Die Besteigung des Chimborazo. Eine Filmexpedition auf Alexander von Humboldts Spuren. Köln 1990. Eine Wiedergabe beider Darstellungen findet sich ebda., S. 105 bzw. 56. Vgl. Eue (Anm. 8) Zur Technik der »horloges marines« und ihrer Bedeutung für die Seefahrt vgl. Broc (Anm. 4), S. 280 ff. Eine Abweichung um nur zwei Minuten nach sechswöchiger Schiffsreise (ein Ziel, dem sich die Präzisionsinstrumente des 18. Jahrhunderts annäherten) brachte einen Fehler von einem halben Längengrad hervor (S. 282), eine

Est-ce que l'on sait où l'on va? sehen und kulturellen Zeiten hin und her. So versucht etwa Du Tertre 15 in seinen Überlegungen zum bon sauvage, Erkenntnisse über die Entwicklung des Menschengeschlechts ausgehend von Beobachtungen in der Fremde zu gewinnen, so daß es möglich wird, Wissen über die Vorgeschichte des Eigenen durch eine Art rückwärtsgerichtete Zeitreise zu erhalten. Doch ist die Reise nicht nur rückwärts, sondern auch vorwärts in der Zeit möglich. Die eigene Gegenwart kann durch die Beschäftigung mit dem Anderen als künftige Vergangenheit beleuchtet werden. Beispielsweise erkundete Alexis de Tocqueville in seinem grundlegenden Werk De l'Amérique, das auf einer Nordamerikareise des Jahres 1831 beruht, jene Möglichkeiten, welche die demokratische Verfassung Nordamerikas für die europäischen Staaten und insbesondere Frankreich bereithielt, welches also jene künftigen Aspekte seien, die man erhoffen dürfe oder befürchten müsse. 1 6 Einen wichtigen Ausgangspunkt stellt dabei eine schlichte Frage dar: »Wohin führt unsere Reise?« "Pense-t-on qu'après avoir détruit la féodalité et vaincu les rois, la démocratie reculera devant les bourgeois et les riches? S'arrêtera-t-elle maintenant qu'elle est devenue si forte et ses adversaires si faibles? Où allons-nous donc? Nul ne saurait le dire; car déjà les termes de comparaison nous manquent: les conditions sont plus égales de nos jours parmi les chrétiens qu'elles ne l'ont jamais été dans aucun temps ni dans aucun pays du monde; ainsi la grandeur de ce qui est déjà fait empêche de prévoir ce qui peut se faire encore. [...] Il n'est pas nécessaire que Dieu parle lui-même pour que nous découvrions des signes certains de sa volonté; il suffit d'examiner quelle est la marche habituelle de la nature et la tendance continue des événements". 17 Die epochenspezifische Erfahrung einer historischen Entwicklung, die sich zunehmend den bekannten Vorbildern entzieht und gerade im nachrevolutionären Frankreich der Historia als Magistra Vitae jegliche Legitimation abspricht, 18 führt hier - die Formel "Où allons-nous donc?" scheint es bereits anzudeuten - zu einer Ausweichbewegung im Raum: Eine Untersu-

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gewaltige Distanz, die kartographische Verortung und späteres Auffinden von Inseln noch immer erheblich erschwerte. Vgl. hierzu Hans-Günter Funke: «Barbare cruel» o «bon sauvage»? La funcionalizaciön ambivalente de la imagen del indio en la «Histoire générale des Antilles» (16671671) del Padre du Tertre. In: Dispositio XVII, 42-43 (Ann Arbor) 1992, S. 73-105. Vgl. hierzu auch Sebastian Neumeister: Alexis de Tocqueville. In: Wolf-Dieter Lange (Hg.): Französische Literatur des 19. Jahrhunderts. Bd. II. Heidelberg 1980, S. 85. Alexis de Tocqueville: De la démocratie en Amérique. Première édition historicocritique revue et augmentée par Eduardo Nolla. Bd. I. Paris 1990, S. 8. Vgl. hierzu auch Reinhart Koselleck: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1984, S. 38-66.

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chung der Demokratie in den Vereinigten Staaten soll Aufschluß geben über deren Entwicklung in Europa. Die Reise gen Westen wird hier zu einer politischen Zeitmaschine, die Alexis de Tocqueville wohl als erster in einer langen, bis heute andauernden Reihe von Reisenden in Gang gesetzt hat. Sind deutsche oder italienische Reiseberichte der Nachkriegszeit aus den und über die Vereinigten Staaten in dieser Traditionslinie nicht auch häufig Erkundungsreisen gewesen, welche sich weniger um ein Verständnis der aktuellen Bedingungen des Fremden als um eine Reflexion der künftigen Möglichkeiten des Eigenen bemühten? So kann die Reise im Raum - ganz so, wie der kubanische Romancier Alejo Carpentier dies in seinem Orinoco-Roman Los pasos perdidos ausdrückte - zu einer Reise in verschiedenen Zeiten und zu verschiedenen Epochen werden, eine Reiseform, die ähnlich wie beim Umspringen der Utopie in die Uchronie dem Reisenden des ausgehenden 18. Jahrhunderts in ihren Möglichkeiten bezüglich der hier nur angedeuteten Offenheit der Zukunft wesentlich bewußter geworden war. Der europäische Reisende des 18. und wohl auch noch jener des 19. Jahrhunderts glaubte allerdings an eine gemeinsame Zeit der Menschheit, eine Zeitachse also, auf die sich die von ihm konstatierten verschiedenen Zeitebenen linear beziehen lassen. Bei einer derartigen Vorstellung wird die Zeitreise notwendigerweise zur Bewegung des Reisenden zwischen verschiedenen Stufen kultureller, historischer, ökonomischer und sozialer Entwicklung, unabhängig davon, ob diese Entwicklung positiv oder negativ eingefärbt wird, das heißt, ob die Entwicklung als Höherentwicklung oder als Degradation gelesen wird. Die Entdeckung voneinander unabhängiger, partikulärer Zeiten gewinnt (soweit ich sehe) erst in der Reiseliteratur des 20. Jahrhunderts an Raum. Auch Flora Tristans Reise nach Peru (Pérégrinations d'une paria) läßt die Erfahrung der Zeitreise nicht vermissen, glaubt sie sich doch etwa angesichts der von ihr dargestellten »Mysterienspiele« in Arequipa ins europäische Mittelalter versetzt: "C'était chose neuve pour moi, enfant du XIXe siècle, arrivant de Paris, que la représentation d'un mystère joué sous le porche d'une église, en présence d'une foule immense de peuple; mais le spectacle, plein d'enseignements, était la brutalité, les vêtements grossiers, les haillons de ce même peuple, dont l'extrême ignorance, la stupide superstition reportaient mon imagination au Moyen Age." 19 Notiert sie auch sehr genau, wie schnell die französische Mode die Toilette der peruanischen Frauen diktiert, kommt sie doch nicht umhin, aus dem, 19

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Flora Tristan: Les pérégrinations d'une paria 1833-1834. Paris 1983, S. 143. Im Titel dieser leicht zugänglichen, aber leider gekürzten Ausgabe wird fälschlich der bestimmte Artikel verwendet. Die zweibändige Originalausgabe (Paris) erschien 1838 unter dem Titel Pérégrinations d'une paria 1833-1834.

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was sie als Aberglauben bezeichnet, den Schluß zu ziehen, daß das peruanische Volk noch in seiner Kindheit verharrt 20 und lange der Kirchenmacht ausgeliefert bleiben wird. Der literarische Bezugspunkt für Tristans Darstellung eines Mysterienspiels blieb freilich nicht ungenannt: Die Erzählerin selbst verweist auf Victor Hugos Notre-Dame de Parisi, das nur wenige Jahre zuvor erschienen war. Alexis de Tocquevilles Reise von 1831 in die USA führt den Franzosen in die Zukunft, Flora Tristans Reise von 1833 nach Peru die Französin dagegen in die Vergangenheit. Bei beiden jedoch wird das Andere, die Zeit des Anderen, auf die eigene Zeit und deren Chronologie bezogen - ein interessantes chassé-croisé, das noch dadurch an Reiz gewinnt, daß beide höchst unterschiedlichen, an der Vergangenheit bzw. der Zukunft orientierten Wertvorstellungen anhingen. Die von Lévi-Strauss angesprochene fünfte Dimension der Reise meint die soziale Dimension. Der Reisende bewegt sich durch die verschiedenen sozialen Gruppen und Schichten des von ihm bereisten Landes oft mit einer Leichtigkeit, die dem Einheimischen insbesondere in den stärker hierarchisierten Gesellschaften des 18. und 19. Jahrhunderts weitgehend unzugänglich bleibt. Flora Tristan, die im Gegensatz zur vorherrschend naturkundlichen Ausrichtung des Reiseberichts über Lateinamerika eine wesentlich politischere Orientierung verfolgte und ihrerseits durch ihre familiären Beziehungen Zugang auch zu den höchsten Schichten der jungen peruanischen Republik erhielt, kann in dieser Hinsicht aus dem Vollen schöpfen und macht nicht von ungefähr ein breites soziales Panorama zur Vorbedingung jedweder Darstellung, die legitimen Abbildanspruch erheben will. 22 Fray Servando Teresa de Mier lernte Angehörige unterschiedlichster Schichten der spanischen Gesellschaft ebenso intensiv kennen wie sein Zeitgenosse Alexander von Humboldt bei seiner Reise durch Neu-Spanien. 23 Der Reisebericht rückt damit in die Nähe eines literarischen Genres, das auch den Berichten des mexikanischen Dominikanermönches Fray Servando nicht fern ist: Ich meine den Schelmenroman, die novela picaresca. Das ständige Auf und Ab in der fremden Gesellschaft bietet dem Reisenden des 19. Jahrhunderts die Möglichkeit, in Konkurrenz zum historischen Roman eines Walter Scott oder zum realistischen Romanmodell eines Honoré de Balzac 20 21 22 23

Ebda., S. 130: "C'est ainsi que sont les peuples dans l'enfance". Ebda., S. 144. Ebda., S. 85: "poru dépeindre une ville, pour peu qu'elle soit importante, il faut y faire un séjour prolongé, converser avec toutes les classes de ses habitants". Vgl. hierzu Ottmar Ette: Transatlantic Perceptions: A Contrastive Reading of the Travels of Alexander von Humboldt and Fray Servando Teresa de Mier. In: Dispositio XVII, 42-43 (Ann Arbor) 1992, S. 165-197.

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zu treten und eine gesellschaftliche Totalität einzufangen. Zugleich kann der Roman insoweit überboten werden, als der Abbildanspruch durch den Verweis auf den Augenzeugenstatus des Berichtenden durch die Faktizität nachprüfbarer Reisewege untermauert werden kann: Leicht referentialisierbare örtlichkeiten und beigegebene Karten verschaffen dem Leser einen sicheren, Faktentreue vorspiegelnden Rahmen für die Lektüre des Textes. Kein Zweifel kann freilich darüber bestehen, daß diese fünfte durch eine sechste Dimension24 ergänzt wird, jene der Imagination und Fiktion, welche den Reisebericht gerade im Rückgriff auf fiktionale literarische Muster für den jeweiligen zeitgenössischen Leser attraktiv und lesbar macht. Auch Humboldt sah am Ende seines historischen Rückblicks auf die »Anregungsmittel zum Naturstudium« in seinem Kosmos im Jahre 1847 keinen Gegensatz zwischen der wissenschaftlichen und einer spezifisch poetischen Dimension und Funktion des Reiseberichts: "Naturbeschreibungen, wiederhole ich hier, können scharf umgrenzt und wissenschaftlich genau sein, ohne daß ihnen darum der belebende Hauch der Einbildungskraft entzogen bleibt. Das Dichterische muß aus dem g e a h n d e t e n Z u s a m m e n h a n g e des Sinnlichen mit dem Intellectuellen, aus dem Gefühl der Allverbreitung, der gegenseitigen Begrenzung und der Einheit des Naturlebens hervorgehen." 2 5 Dem Zusammenspiel von wissenschaftlicher Genauigkeit und dichterischer Einbildungskraft im Reisebericht soll vertieft in den Überlegungen zur Friktionalität des Genres nachgegangen werden. Zunächst jedoch gilt es, die vielfältigen Beziehungen zwischen Literatur und Reisen genauer herauszuarbeiten.

Literatur und Reisen Eine Grenzlinie zwischen fiktionaler Literatur und Reiseliteratur läßt sich nicht bestimmen. Wir können allerdings Kategorien von historisch sich jeweils wandelnder Pertinenz angeben, die uns Gründe dafür bereitstellen, einen bestimmten Text der (historisch jeweils unterschiedlich zu definierenden) Reiseliteratur zuzuordnen oder nicht. Von großer Bedeutung ist dabei die Berücksichtigung der Tatsache, daß die sechste Dimension des Reiseberichts in grundlegender Weise auf den Leser bezogen ist und von dessen Verhältnis zu kollektiven Annahmen und Überzeugungen bezüglich des historisch Wahren abhängt. Viele Texte, die wir heute der fiktionalen 24 25

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Vgl. Pagni/Ette (Anm. 6), S. iv. Humboldt (Anm. 1), S. 74.

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Literatur zuordnen, sind aus der Perspektive des Reiseberichts oder gar als Reiseberichte gelesen worden. Umgekehrt wurden »faktenorientierte« Berichte fiktional gelesen und gedeutet. Beispiele für beide Formen »abweichender« Lektüre ließen sich häufen; Wolfgang Neuber hat daraus den folgenden Schluß gezogen: "So gesehen bedeutet Fiktionalität nicht das intentionale Abweichen vom Faktischen einer vorgegebenen Realität, sondern vielmehr von dem, was einer Gesellschaft an einem bestimmten geschichtlichen Ort als das Glaubhafte erscheint. Die Kriterien »fiktiv« vs. »realitätskonform« werden damit als literaturwissenschaftliche analytische Kategorien der Poetik des Reiseberichts obsolet." 26 Wir lösen uns damit von einer produktionsästhetisch und schematisch nach der Intentionalität des Autors fragenden Betrachtungsweise und gelangen zur Problematik einer die Lesefunktionen miteinbeziehenden Sichtweise des Reiseberichts. Das zuvor angeführte Zitat aus Humboldts Kosmos verdeutlicht, daß die poetische Funktion keineswegs ornamentales Beiwerk oder gar Störfaktor, sondern wesentlicher Bestandteil auch der abendländischen Reiseliteratur in ihrer modernen Formprägung ist (und dieser darf man Humboldts Relation historique, die eine gewisse Scharnierstellung zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert innehat, hinsichtlich der Grundlegung des modernen Reiseberichts über Lateinamerika zurechnen). Der von einem Text jeweils erzielte effet de réel darf keineswegs naiv an einer angenommenen »Realitätstreue« gemessen werden; der tatsächlich erreichte Realitätseffekt ist vielmehr an historisch wirksame und sich wandelnde Schreibformen und deren »Glaubhaftigkeit« bei einem soziohistorisch und wissenssoziologisch bestimmbaren Publikum rückgebunden. Die Beziehungen gerade zwischen Reisebericht und Roman sind ebenso intensiv wie komplex. Bei beiden Gattungen, die jeweils in eine Vielzahl von Subgattungen zerfallen, handelt es sich um literarische Hybridformen, welche die verschiedensten literarischen und nicht-literarischen Textsorten und Fragmente aufzunehmen in der Lage sind. Stellvertretend für in den Reisebericht integrierte Gattungen und Textsorten seien an dieser Stelle nur das Tagebuch und die Statistik, Bild- und Kartenmaterial, politisches Traktat und literarische Erzählung, philosophischer Essay und wissenschaftliche Erörterung, Legende und Autobiographie, aber auch geographische Abhandlung und ethnographische Feldforschung genannt. Es fällt daher nicht schwer, in Rückgriff auf Bachtin nicht nur den Roman, sondern auch den 26

Vgl. Wolfgang Neuber: Zur Gattungspoetik des Reiseberichts. Skizze einer historischen Grundlegung im Horizont von Rhetorik und Topik. In: Peter J. Brenner (Hg.):

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Ottmar Ette Reisebericht als Kosmos der "Redevielfalt" zu verstehen, 27 kommt in ihm doch nicht selten parallel zu den unterschiedlichsten eingebauten Texten eine Vielzahl (narrativer) Instanzen und teilweise versteckter fremder Rede zum Ausdruck. Die »Mehrstimmigkeit« des Wortes bleibt nicht auf den Roman beschränkt, sie darf auch für den Reisebericht Geltung beanspruchen. Gerade für diesen sollte die Dialogizität als eine Grundbedingung aller Erfahrung und allen Schreibens angesehen werden, wird hier doch das Andere in einen wie auch immer hierarchisierten Bezug zum Eigenen und damit zum Sprechen gebracht. Der Reisebericht ist eine übersetzende Gattung, insoweit die je individuellen Erfahrungen in kollektive Wissensbestände überführt oder doch zumindest mit diesen in Beziehung gesetzt werden. Er ist dies aber auch, weil kulturelle Ausdrucksformen des Anderen als Fremdes in die eigene Sprache, in die Sprache des Eigenen übertragen werden müssen. Die Berichte europäischer Reisender nach Lateinamerika sowie lateinamerikanischer Reisender nach Europa im 19. Jahrhundert sind somit als sprachliche und soziokulturelle Übersetzungsprozesse zu begreifen. Dem räumlichen ¿/¿ersetzen in die Neue Welt entspricht bei den europäischen Reisenden das semantische Übersetzen des Erfahrenen in die Alte Welt. Ob sich dies im 19. Jahrhundert im Sinne einer »Wiederentdeckung« vollzieht, werden die folgenden Beiträge zeigen. Stets jedoch wird dem die Erkenntnis zugrunde liegen, daß geographisches Wissen nicht als Ergebnis eines linearen Fortschritts, einer ständigen Anhäufung und Ausweitung der Kenntnisse, zu verstehen ist, sondern daß es sich sprunghaft vollzieht, indem regionale Wissensbestände verloren gehen und - wenn überhaupt - erst später wieder zugänglich und nutzbar gemacht werden. Die zweifellos vorhandene Ausweitung geographischer Kenntnisse im 19. Jahrhundert bedeutet durchaus nicht, daß sich eine solche Wissenserweiterung in allen Regionen des Subkontinents beobachten ließe. Kehren wir zur poetologischen Dimension unserer Fragestellung zurück. Der Literatur selbst ist die Bewegung des Reisens eingeschrieben. Es ist bekannt, daß der (nicht nur im Bachtinschen Sinne) erste Roman der Moderne, Cervantes' Don Quijote, auf der Grundstruktur der Reise beruht. Der Roman greift nicht nur auf Reisestrukturen zurück, er versucht auch, den Leser an dieser Reise aktiv teilnehmen zu lassen (im Don Quijote etwa durch die Mancha, die Geographie, die Geschichte und Gesellschaft Spaniens, aber auch kreuz und quer durch literarisch und volkskulturell tradierte Imagina-

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Der Reisebericht. D i e Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt am Main 1989, S. 51 f. Vgl. Michail M. Bachtin: Das Wort im Roman. In: Ders.: Die Ästhetik d e s Wortes. Herausgegeben und eingeleitet von Rainer Grübel. Aus dem Russischen übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese. Frankfurt am Main 1979, S. 154 ff.

Est-ce que l'on sait où l'on va? tionsmuster). 28 Der Reisebericht ist in dieser Hinsicht potenzierte Literatur, da er die Reisestruktur des Romans als kommunizierbare Erfahrungsstruktur mit der (bisweilen auch vorgegebenen) Faktizität einer referentialisierbaren Reiseroute doppelt. Es kann daher nicht verwundern, daß Honoré de Balzac in seinem berühmten »Avant-propos« zur Comédie humaine den Romancier mit einem Reisenden verglich: "Comme la critique ignorait le plan général, je lui pardonnais d'autant mieux qu'on ne peut pas plus empêcher la critique qu'on ne peut empêcher la vue, le langage et le jugement de s'exercer. Puis le temps de l'impartialité n'est pas encore venu pour moi. D'ailleurs, l'auteur qui ne sait pas se résoudre à essuyer le feu de la critique ne doit pas plus se mettre à écrire qu'un voyageur ne doit se mettre en route en comptant sur un ciel toujours s e r e i n . " 2 9 Der Vergleich des Autors mit dem Reisenden betrifft nicht nur Notwendigkeit und Gefahren des se mettre en route - womit der Schreibprozeß selbst als räumliche Bewegung versinnbildlicht wird -, er bezieht sich auch auf die Beziehung zwischen der jeweiligen Route und dem großen Plan, dessen Verständnis für die Kritik (und damit auch für den einzelnen Leser) Voraussetzung für ein Verstehen von konkreter Reisebewegung wie umfassendem Erfahrungsprojekt darstellt. Wenn das »Feuer« der Kritik mit den Naturgewalten verglichen wird, denen der voyageur ausgesetzt ist, so zeigt dies, daß nicht nur die inhaltliche Dimension des Geschriebenen, sondern vielleicht mehr noch die Schreiberfahrung des Autors als eine Bewegung verstanden wird, die wohl einem großen Plane, dem der Comédie humaine, folgt, zugleich aber dem Zufall ausgesetzt ist, der für Balzac bekanntlich "le plus grand romancier du monde" war. 3 0 Zufall und Plan aber bilden auch im Reisebericht sich wechselseitig verstärkende Pole. Auch das Lesen ist eine Art des Reisens. Die peruanische Schriftstellerin Clorinda Matto de Turner etwa hat die Reise der Protagonisten ihres Romans Aves sin nido (1889) mit der Lektüre recht eindrucksvoll dadurch verknüpft, daß ihre Reisenden das Lesen einer Betrachtung der andinen Landschaft vorziehen, die sie auf dem Weg nach Lima durchqueren müs-

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Es ist bekannt, daß die Tourismusstrategen der spanischen Regierung diese Aktivität so sehr pragmatisch und devisenbringend konkretisierten, daß der heutige Spanientourist einer präzisen Route des Ritters von der traurigen Gestalt folgen kann und so die Reisebewegungen des Romanhelden in eine eigene Reisebewegung - wenn auch nicht mehr zu Pferde - umsetzt. Auf diese Problematik komme ich zurück. Honoré de Balzac: Avant-propos. In: Ders.: La Comédie humaine. Bd. I. Edition publiée sous la direction de Pierre-Georges Castex. Paris 1976, S. 15. Ebda., S. 11: "Le hasard est le plus grand romancier du monde: pour être fécond, il n'y a qu'à l'étudier."

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sen. 3 1 An die Stelle der Reise als Lektüre tritt hier unverkennbar die moderne Reiselektüre, welche den angenommenen Wahrnehmungsleerlauf des Reisens überbrücken soll. Hundert Jahre später findet sich die nicht nur mentalitätsgeschichtlich aufschlußreiche Verbindung von Reisen und Lesen in noch wesentlich radikalerer Form in Gestalt der Flugreise. Das Lesen kann nun das Reisen völlig ausschalten, wenn dieses - wie beim Fliegen - nur mehr ein möglichst kurzer Zeit-Raum zwischen Start und Landung ist. So heißt es im neunten Kapitel von Italo Calvinos Se una notte d'inverno un viaggiatore, ein Roman, in welchem die ständigen Reisebewegungen schon im Titel evoziert werden: "Intanto cosa fai? Come occupi quest'assenza tua dal mondo e del mondo da te? Leggi; non stacchi l'occhio dal libro da un aeroporto all'altro, perché al di là della pagina c'è il vuoto, l'anonimato degli scali aerei, dell'utero metallico che ti contiene e ti nutre, della folla passeggera sempre diversa e sempre uguale. Tanto vale tenerti a quest'altra astrazione di percorso, compiuta attraverso l'anonima uniformità dei caratteri tipografici: anche qui è il potere d'evocazione dei nomi a persuaderti che stai sorvolando qualcosa e non il nulla." 3 2 Das beziehungsreiche und augenzwinkernd vorgetragene Spiel zwischen Reisen und Lesen, zwischen Fliegen und Überfliegen führt uns zurück zur Materialität der Schriftzeichen auf der Seite, die der Lesende in linearer Bewegung mit den Augen entlanggehen muß. Die dabei nachvollzogene und ihrerseits entstehende Bewegung ist in ihrer Linearität sowohl den Handbewegungen des Schreibenden als auch den Körperbewegungen des Reisenden analog. Die Reisebewegung ist so der Literatur doppelt eingeschrieben. Literatur und Reisen sind auf vielfältige Weise innig miteinander verklammert. Sie potenzieren sich nicht nur wechselseitig, sie können auch miteinander in Konkurrenz treten, ja einander negieren: Die Lektüre von Reiseliteratur kann nicht nur - wie dies bei vielen deutschen Reisenden der Fall war, die den Spuren Humboldts nach Lateinamerika folgten 3 3 - neue, eigene Reisen erzeugen, sondern auch an deren Stelle treten. Lektüre kann dann auch das Ende des Reisens als Erfahrung im geographischen Raum markieren.

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Vgl. Clorinda Matto de Tumer: Aves sin nido (novela peruana). Lima 1889, S. 264. Italo Calvino: Se una notte d'inverno un viaggiatore. Presentazione dell'autore. Milano 1994, S. 247. Vgl. hierzu u.a. Estuardo Nünez: La estela de Humboldt. Viajeros alemanes en el Peru durante el siglo XIX. In: Cultura Peruana (Lima) 175-178 (Januar-April 1963), o.S.

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Reiseliteratur als friktionale Literatur Der Reisebericht, als Hybridform dem Roman eng verwandt, unterscheidet sich doch von diesem durch seinen anderen historischen Ort innerhalb des Gattungssystems, durch seine ihm zugewiesene Position im Spektrum von fiktionaler und nicht-fiktionaler Literatur sowie durch spezifische Formen der Institutionalisierung seiner Lektüre. 3 4 Diese produktionsästhetischen, gattungsspezifischen und rezeptionsästhetischen Differenzen sind auch im 20. Jahrhundert nicht vollständig eingeebnet, wenn auch Lesen und Schreiben die noch fortbestehenden Schwellen alter Gattungsgrenzen leichter passieren. Bis heute hat der Reisebericht seinen Anspruch, als empirisches, realitätsverhaftetes Dokument, als narratio vera gelesen zu werden, nicht aufgegeben. 3 5 Im Gegensatz zum mittelalterlichen Reisebericht, dessen vordringliches Ziel keineswegs der Zugewinn an empirisch iiberprüftem Wissen ist, scheint der neuzeitliche Reisebericht, zumal jener, der sich der sogenannten »Neuen Welt« zuwendet, an Erfahrungsgewinn und -weitergäbe orientiert. Dies rechtfertigt eine Lektüre, welche die Reiseberichte als historische, soziologische oder geographische Quellen betrachtet und auswertet. Die Nützlichkeit des Reiseberichts für bestimmte akademische Disziplinen und Fächer ist durch die Institutionalisierung der Gattung seit den frühen Berichten und Chroniken des 16. Jahrhunderts »garantiert«, die den Informationsfluß von Amerika nach Europa sicherzustellen versuchten, freilich stets (und unhinterfragbar) orientiert an eben der Utilität für die europäischen »Mutterländer«. Viele Reiseberichte des 19. Jahrhunderts siedeln sich in dieser Tradition einer Informationsübermittlung an, die an den (kolonialen) Interessen jener Auftraggeber ausgerichtet ist, in deren Dienst und Sold die Reisenden s t e h e n . E i n e derartige Institutionalisierung des Reiseberichts gilt im übrigen auch für manche Reisende in umgekehrter Richtung, reiste doch etwa S a r m i e n t o 3 7 in den vierziger Jahren nicht als Privatmann nach Europa,

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Diese betreffen auch die jeweilige Lektüregeschwindigkeit in Abhängigkeit von der gelesenen Gattung. Zu vermuten wäre, daß zwischen Lyrik, Erzählung, Roman und Reisebericht eine aufsteigende Linie der Lesegeschwindigkeit feststellbar sein könnte. Vgl. Neuber (Anm. 26), S. 55 sowie 56: "Die Bestimmung des Reiseberichts als Historiographie im Sinn einer narrativen Darbietung von Geschehenem kann im wesentlichen für die gesamte Neuzeit Gültigkeit beanspruchen." Vgl. hierzu Mary Louise Pratt: Humboldt y la reinvención de América. In: Nuevo Texto Crítico (Stanford) 1 (1987), S. 35-53. Vgl. hierzu Roberto Hozven: Domingo Faustino Sarmiento. In: Luis Iñigo Madrigal (Hg.): Historia de la literatura hispanoamericana. Bd. II: Del neoclasicismo al modernismo. Madrid 1987, S. 431 f.; zur Wichtigkeit der europäischen Reiseberichte für Sarmientos Denken und Schreiben vgl. auch Roberto González Echevarría: Redes-

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sondern im Auftrag der chilenischen Regierung, die sich davon praxisorientierte Hinweise für ihr eigenes Handeln erhoffte. Gleichwohl liegt diesen Beziehungen nicht nur eine ökonomische oder soziale, sondern auch eine interkulturelle Asymmetrie zugrunde, 3 8 welche die lateinamerikanischen Reisenden nicht nur vom Gedanken der Beherrschung des besuchten Landes fernhält, sondern die literarische Ausgestaltung des Reiseberichts selbst anderen Funktionen und Ausdrucksformen zuführt. Gewiß mag der Beginn des 19. Jahrhunderts auch aus dieser Perspektive transatlantischer Informationsübermittlung von einer Aufspaltung zwischen fachwissenschaftlich ausgerichteten und nicht fachspezifisch gebundenen Formen gekennzeichnet sein,39 doch gilt es, auch hierbei Formen und Funktionen der Lektüre nicht zu vernachlässigen, sondern in unsere Überlegungen miteinzubeziehen. Fachwissenschaftliche Beglaubigungsstrategien sind keineswegs in der Lage, die literarischen Verfahren bzw. die jeglichem, auch dem historiographischen Schreiben inhärenten »Tropen des Diskurses« auszublenden, um damit den Text vor nicht-fachlichen Lektüremustern zu »schützen«. Eine fachspezifische Auswertung derartiger Reiseberichte als Quellen ist legitim; nicht weniger legitim aber ist es, pragmatisch bzw. expositorisch stilisierte Texte nach ihren literarischen Verfahren, nach ihren metaphorischen und metonymischen Bewegungen zu befragen, kurz: das Literarische an der Reiseliteratur herauszuarbeiten und die poetische Funktion gleichrangig neben andere Funktionen treten zu lassen. So beruht, wenn auch in jeweils unterschiedlicher Weise, die Gattung des Reiseberichts stets auf einem Auseinandertreten zwischen erzähltem Ich und erzählendem Ich. Gerade die fachspezifisch auswertbaren Aussagen beruhen hinsichtlich ihrer Beglaubigungsstrategien auf einer Stärkung der (literarischen) Figur des erzählten Ichs, da nur diese als direkter Augenzeuge und Gewährsmann des Berichteten glaubhaft auftreten kann, eine Funktion, die im Reisebericht des 19. Jahrhunderts durch den ständigen Verweis auf das eigene Sehen der dargestellten Gegenstände unterstrichen wird und den Übergang von der Dominanz des Ohres zur Vorherrschaft des Auges dokumentiert. Dies aber verbindet den Reisebericht strukturell mit der Autobiographie und deren Beglaubigungsstrategien, die auf einem nicht weniger

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cubrimiento del mundo perdido: el «Facundo» de Sarmiento. In: Revista iberoamericana (Pittsburgh) LIV, 143 (April-Juni 1988), S. 385-406. Vgl. Ottmar Ette: Asimetría intercultural. Diez tesis sobre las literaturas de Latinoamérica y Europa. In: Casa de las Américas (La Habana) XXXV, 199 (April-Juni 1995), S. 36-51. Wenn auch sicherlich nicht in einer so absoluten Trennung, wie sie Neuber anzunehmen scheint; vgl. Neuber (Anm. 26), S. 57.

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komplex strukturierten Spiel zwischen erzähltem und erzählendem Ich basieren. Die Parallele zwischen Autobiographie und Reisebericht ist häufig bemerkt worden. Ralph-Rainer Wuthenow hat von ihr ausgehend darauf hingewiesen, daß jedoch im Gegensatz zur Autobiographie "eine Typologie der Reiseliteratur am ehesten noch nach der Typologie des Reisenden" entwickelt werden könne. 4 0 Einige Jahre zuvor schon hatte Numa Broc eine derart ausgerichtete Typologie vorgeschlagen, die zwischen voyageur pur, voyageurcompilateur und compilateur pur unterscheidet. 41 Angesichts der Tatsache, daß sich eine Aufspaltung zwischen erzähltem und erzählendem Ich selbst in Laperouses Voyage autour du monde findet, obgleich dieser Bericht noch während der Reise verfaßt und später nicht mehr überarbeitet werden konnte, da sein Autor unter mysteriösen Umständen ums Leben kam, ist es allerdings fraglich, ob die von Numa Broc vorgeschlagene Einteilung mehr sein kann als eine brauchbare schematische Klassifikation, die bestenfalls die Grundtendenz eines individuellen Reiseberichts andeutet. Denn der »reine Reisende«, der nur von dem berichtet, was er selbst gesehen hat und jegliche andere Information außer acht läßt, ist aus hermeneutischer Sicht gar nicht vorstellbar. Das Vorwissen des Reisenden fließt stets in seine Wahrnehmung (und damit auf der Ebene des Textes in die Perspektive des erzählten Ichs, auf den die Erzählfunktion des »unmittelbaren Erlebens« übertragen wird) ein. Die Funktion des erzählenden Ichs besteht in der Regel darin, die Informationsübermittlung zu gewährleisten und so mit den existierenden (bzw. bei der angezielten Leserschaft vermuteten) Wissensbeständen zu korrelieren. Der »reine Reisende« entpuppt sich daher auf der Ebene des Textes als eine vom Autor modellierte Figur, die nicht zuletzt der Beglaubigung (und späteren Nutzbarmachung) des Berichteten dient, während bei dieser singulären Arbeitsteilung dem erzählenden Ich die Aufgabe eines literarischen Transmissionsriemens für Übermittlung und Aufnahme der transportierten »Informationen« zufällt. Die Beglaubigung durch das unmittelbare Erleben und Sehen (erzähltes Ich) wird wirkungsvoll ergänzt durch die Perspektive des erzählenden Ichs, zu dessen Beglaubigungsverfahren die distanzierte Deskription, quellenkritische Absicherung und eine die jeweilige Verbreitung von Wissen über die Gesellschaft berücksichtigende diskursive Vermittlung gehören. Aus der Spannung zwischen erzähltem und erzählendem Ich entsteht darüber hinaus die Möglichkeit, Formen und Probleme der 40 41

Ralph-Rainer Wuthenow: Die erfahrene Welt. Europäische Reiseliteratur im Zeitalter der Aufklärung. Frankfurt am Main 1980, S. 417. Broc (Anm. 4), S. 187 f. Die beiden Pole dieser Typologie werden vom Reisenden, der nur das von ihm selbst Gesehene berücksichtigt, und dem géographe de cabinet

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Wahrnehmung des Anderen im Dialog mit dem Leser zu reflektieren, ja den Leser selbst in diese wahrnehmungstheoretische Problematik zu verwickeln und folglich den Bewegungen des Verstehens nicht nur auf narrativer, sondern auch theoretisch-diskursiver Ebene auszusetzen. Dem Leser wird auf diese Weise die Chance geboten, seine eigenen Wahrnehmungsgewohnheiten zu überdenken und neue Formen der Aneignung fremder Wirklichkeiten zu erproben. Unsere Überlegungen zur Aufspaltung zwischen (mindestens) zwei IchInstanzen im Reisebericht zeigen, daß auch aus dieser Perspektive eine Trennung zwischen »fiktiv« und »realitätskonform« bezüglich einer theoretisch überdachten klassifizierenden Analyse der Reiseberichte nicht haltbar ist. Der Reisebericht ist wie der Roman eine Hybridform. Jedoch ist er im Unterschied zu diesem sowohl in rezeptions- als auch in produktionsästhetischer Hinsicht im Spannungsfeld zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Textformen nicht an den fiktionalen Pol gebunden. Wenn wir den Roman generell dem Pol der Fiktion zuordnen können, dann erhebt sich die Frage, wie nun der Reisebericht einzuordnen sei. Aus dem Vorangegangenen sollte deutlich werden, daß eine Lektüre, die den Reisebericht dem nicht-fiktionalen Pol zuordnet und damit die von ihm transportierten Informationen als Dokumente und Quellen liest, zweifellos legitim ist, die Gattung als solche aber nicht ausschöpft (und auch niemals ausschöpfen kann). Vielmehr hat sich gezeigt, daß der Reisebericht - und keineswegs »nur« in seiner phantastischen Variante - fiktionale wie nicht-fiktionale Lektüremuster anzieht und beide oftmals unauflöslich miteinander verquickt. Wo aber ist der Reisebericht dann einzuordnen? In einer wegweisenden Studie hat Gérard Genette eine Unterscheidung zwischen Fiktion und Diktion eingeführt und beide Terme wie folgt definiert: "Fiktionsliteratur ist die, die wesentlich durch den imaginären Charakter ihrer Gegenstände gekennzeichnet ist, während Diktionsliteratur wesentlich durch ihre formalen Qualitäten beeindruckt - wieder ungeachtet der Amalgame und Mischformen." 4 2 Versucht man, die von Genette angebotenen Definitionen auf den Reisebericht anzuwenden, so zeigt sich, daß sie für dessen Analyse nicht pertinent sind. Der »imaginäre« Gegenstandsbereich ist dem Reisebericht generell ebenso wenig zuzuordnen wie ex negativo - denken wir an die Parallelen zur

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gebildet, der sein Arbeitszimmer nicht verläßt, sondern ausschließlich die Berichte anderer auswertet. Gérard Genette: Fiktion und Diktion. Aus dem Französischen von Heinz Jatho. München 1992, S. 31 f. Die französische Erstausgabe erschien ein Jahr zuvor in Paris.

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Autobiographie - eine nicht-imaginäre Diktionsliteratur. Ihn kennzeichnet vielmehr ein eigentümliches Oszillieren zwischen Fiktion und Diktion, ein Hin- und Herspringen, das es weder auf der Produktions- noch auf der Rezeptionsseite ermöglicht, eine stabile Zuordnung zu treffen. Zwischen den Polen von Fiktion und Diktion führt der Reisebericht vielmehr zu einer Friktion, insoweit klare Grenzziehungen ebenso vermieden werden wie Versuche, stabile Amalgame und Mischformen herzustellen. Im Gegensatz zum Roman bildet der Reisebericht eine Hybridform nicht nur bezüglich der aufgenommenen Gattungen und seiner Redevielfalt, sondern auch hinsichtlich seiner Eigenschaft, sich dem Gegensatz zwischen Fiktion und Diktion zu entziehen. Der Reisebericht schleift die Grenzen zwischen beiden Bereichen ab: Er ist einem literarischen Gebiet zuzuordnen, das wir als friktionale Literatur bezeichnen dürfen.

Die Orte des Reiseberichts Der Reisebericht ist eine Gattung des Ortes, genauer: des Ortswechsels und der ständig neuen Ortsbestimmung. Dies klingt selbstverständlich, ja banal, und doch scheint mir dieser Aspekt in seinen spezifisch ästhetischen Auswirkungen noch nicht ausreichend durchdacht worden zu sein. Die Orte des Reiseberichts sind bislang vorwiegend unter ihrem referentialisierbaren Aspekt untersucht worden. Dieser betrifft vorwiegend den im Genetteschen Sinne diktionalen Charakter von Reiseliteratur; so ließ sich im Sinne der Terminologie Brocs zu Recht fragen, ob ein im Reisebericht erwähnter Ort vom Schriftsteller nicht nur dargestellt, sondern tatsächlich auch besucht, gesehen wurde. Zwischen einer auf diese Weise institutionalisierten Lektüre einerseits und der Lektüre phantastischer Reiseberichte andererseits aber läßt sich ein Lektüremodus denken, der zwischen dem »Realitätskonformen« und dem »Fiktiven« ständig pendelt, um die Polysemie des untersuchten Textes nicht durch textexterne Referentialisierung oder innerliterarische Fiktionalisierung zu vermindern und zu fixieren, kurz: die Bewegungsvielfalt und Unbestimmtheit des Reiseberichts einzuschränken. 1. Fragen wir nach jenen Orten, an denen der Reiseschriftsteller seinen Bericht in besonderer Weise semantisch auflädt und markiert, fragen wir also nach spezifischen Formen der Dispositio, so können wir aus der großen Zahl von Möglichkeiten einige Grundmuster reiseliterarischer Orte herausfiltern. Ein in diesem Sinne erster Ort betrifft den Abschied vom Eigenen. Dies kann - wie etwa in dem Voyage ä l'ile de France des jungen Bemardin de Saint-Pierre - in der Form des Abschieds von geliebten Menschen oder von liebgewonnenen Formen der Natur inszeniert werden, so daß hier die

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Dimension intensiven menschlichen Erlebens (die Position des erzählten Ichs) in den Vordergrund gerückt wird: "Voici le dernier coup de canon. Nous sommes sous voile; je vois fuir le rivage, les remparts et les toits du Port-Louis. Adieu, amis plus chers que les trésors de l'Inde!... Adieu, forêts du nord, que je ne reverrai plus!"^ 3 Genaugenommen findet sich in Bernardin de Saint-Pierres Buch eine Verdoppelung dieses reiseliterarischen Ortes, insoweit der Abschied von Europa nicht nur in der präsentischen Form des Briefes, sondern ein zweites Mal in jener des unmittelbar im Anschluß eingerückten Journal, des Schiffstagebuchs also, dargestellt wird. Hier sind es die nautisch relevanten Angaben, aber auch ein Unfall, bei dem drei Mann der Besatzung kurz nach der Abreise noch an der bretonischen Küste den Tod finden, welche die Darstellung des Verlassens Europas prägen. Saint-Pierres Bericht ist hier insoweit aufschlußreich, als er eine Doppelperspektive entwickelt, die es erlaubt, über die Form des (literarischen) Briefes die Innenwelt des Reisenden und über die vorgeblich nüchternere Form des Schiffstagebuchs das auf die Außenwelt gerichtete Erleben jeweils des erzählten Ichs darzustellen. Die Hybridität des Reiseberichts erlaubt nicht nur den bloß flüchtig miteinander verbundenen Einsatz zweier sehr unterschiedlicher Gattungen, sondern auch die zweifache Perspektivierung schmerzhafter Trennung und gefährlichen Aufbruchs zu einer langen Reise in die außereuropäische Welt. Die Doppelung führt gleichsam nebenbei ein eigentümliches Oszillieren zwischen der literarischen Darstellung individuellen Erlebens und referentialisierbaren, vorgegebenermaßen an Faktentreue sich orientierenden Schreibformen, die den friktionalen Charakter des Textes unterstreichen, ein. Der Abschied vom Eigenen kann aber auch eine weitergehende Reflexion miteinschließen, die das Eigene in neuer Weise perspektiviert: "Vers les neuf heures, nous vîmes la lumière d'une cabane de pêcheurs de Sisarga: c'était le dernier objet que nous offraient les côtes de l'Europe. A mesure que nous nous éloignions, cette foible lumière se confondoit avec celle des étoiles qui se levoient sur l'horizon, et nos regards y restoient involontairement attachés. Ces impressions ne s'effacent point de la mémoire de ceux qui ont entrepris des navigations lointaines à un âge où les émotions de l'ame sont encore dans toute leur force. Que de souvenirs réveille dans l'imagination un point lumineux qui, au milieu

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Bernardin de Saint-Pierre: Voyage à l'île de France. Un officier du roi à l'île Maurice 1768-1770. Introduction et notes d'Yves Bénot. Paris 1983, S. 36.

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d'une nuit obscure, paraissant par intervalles au-dessus des flots agités, désigne la côte du pays natal." 44 Alexander von Humboldt hat an dieser Stelle seines Reiseberichts ein schwaches und bald schon verschwindendes Lichtzeichen der spanischen Küste eingeführt, das den Ort der Trennung vom Eigenen markiert. Dabei wird das Eigene insoweit neu perspektiviert, als die spanische Küste zur Küste des eigenen »Geburtslandes« wird, Spanien sich also zum größeren Europa hin öffnet. Zugleich führt dies eine erste, noch implizite Reflexion über die eigene Wahrnehmung ein, wird doch nun der Reisende als Europäer, als Bewohner der Alten Welt, die sogenannte Neue Welt er-fahren und darstellen. 4 5 So wird im Reisebericht nicht nur die Ebene individuellen Erlebens aus der Perspektive des erzählten Ichs markiert, sondern gleichzeitig aus der Distanz des erzählenden Ichs, das auf sein Gedächtnis (mémoire) und das dort für immer Aufbewahrte zurückgreifen kann, ein Oszillieren zwischen Erleben und distanziertem Erzählen eingeführt, welches Humboldt in der Folge immer wieder eine Spiegelung der Wahrnehmungsbedingungen sowie eine Kommentierung auf abstrakterer, »philosophischer« Ebene erlaubt. Faktizität und Referentialisierbarkeit der Fischerhütten von Sisarga rücken angesichts einer derart vieldeutigen semantischen Aufladung weitgehend in den Hintergrund, ohne allerdings gänzlich zu verschwinden, geben sie dem Leser doch die eingeschlagene Route des Schiffes bekannt. Bei Reisen nach Amerika bzw. zusammen mit dem Übergang Seereise. Ein solcher Wechsel gehoben und nicht selten auch 44

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nach Übersee fällt der Abschied von Europa von einer Land- oder Binnenreise zu einer wird im Reisebericht in aller Regel hervorwahrnehmungstheoretisch reflektiert. Georg

Alexander von Humboldt: Relation historique du Voyage aux Régions équinoxiales du Nouveau Continent. Neudruck des 1814-1825 in Paris erschienenen vollständigen Originals, besorgt, eingeleitet und um ein Register vermehrt von Hanno Beck. Bd. I. Stuttgart 1970, S. 62. Vgl. hierzu auch Ette (Anm. 38), S. 175. Eine Variante dieses reiseliterarischen Ortes und seiner philosophischen Implikationen findet sich in Raynals umfangreichem »Bestseller«der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts über die koloniale Expansion Europas. Dort erscheint das Passieren der Äquatorlinie - das von Mannschaften und Passagieren im übrigen stets in einer teilweise ritualisierten Form gefeiert wurde - als entscheidender Punkt einer keineswegs schmeichelhaften Veränderung von Bewußtsein und Verhalten: "Passé l'équateur, l'homme n'est ni Anglois, ni Hollandois, ni François, ni Espagnol, ni Portugais. Il ne conserve de sa patrie que les principes & les préjugés qui autorisent ou excusent sa conduite. Rampant quand il est foible; violent quand il est fort; pressé d'acquérir, pressé de jouir; & capable de tous les forfaits qui le conduiront le plus rapidement à ses fins. C'est un tigre domestique qui rentre dans la forêt. La soif du sang le reprend. Tels se sont montrés tous les Européens, tous indistinctement, dans les contrées du Nouveau-Monde, où ils ont porté une fureur commune, la soif de l'or." Guillaume-Thomas Raynal: Histoire philosophique et

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Forster hat in seinen Ansichten vom Niederrhein - die in mancherlei Beziehung zu den Ansichten der Natur Humboldts stehen, der im übrigen den früheren Weltumsegler bei dieser Reise begleitete - den Anblick des Meeres zum Anlaß genommen, nicht nur auf seine gut zwölf Jahre zurückliegende Weltumrundung mit James Cook zurückzublicken, sondern daran auch philosophische Reflexionen zu knüpfen 4 ^, von denen der Reisebericht des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Deutschland wie in Frankreich so gesättigt ist. Land und Meer markieren hier eine Grenze, der auf der Ebene des Reiseberichts, selbst bei Reisen innerhalb Europas (man denke nur an Goethes Überfahrt nach Sizilien in der Italienischen Reise) ein eigener reiseliterarischer Ort zukommt. Doch auch der Wechsel des Fortbewegungsmittels deutet oft einen Wechsel der Wahmehmungsperspektive an, der wie beim Übergang von der Landreise zur Flußfahrt in La Condamines Voyage sur l'Amazone - stets vom erzählenden Ich dazu benutzt wird, die spezifisch referentielle narrative Ebene des Berichtens zu verlassen. 47 Die referentialisierbaren Bewegungen des Reisenden entsprechen so in komplexer Weise Bewegungen des Verstehens und Vermitteins, die aus dem Zusammenspiel von erzähltem und erzählendem Ich an den Leser weitergegeben werden. Dem Aufbruch zur Reise auf der Textebene entspricht die Bewegung des Lesers, der sich darauf einläßt, das Eigene zu verlassen und sich der Reise im fremden Text anzuvertrauen. Auch aus diesem Grunde ist die Markierung dieses Ortes häufig sehr prägnant, wobei ihr nicht selten wie auch in Bemardin de Saint-Pierres Reisebericht - eine ausführliche Darstellung des Eigenen, in diesem Falle der Bretagne, vorgeschaltet wird. 2. Ein im Reisebericht zweifellos nicht weniger wichtiger Ort betrifft jenen Abschnitt der Reise, der vom Reiseschriftsteller als Höhepunkt und eigentliches Herzstück inszeniert wird. Eine recht spektakuläre Inszenierung findet sich in der Amazonasfahrt des Mitglieds der französischen Académie des Sciences, Charles-Marie de la Condamine, der 1745 in seinem Vortrag vor dieser Institution seine Reise nach Peru und den mehrjährigen Aufenthalt in der Andenregion fast vollständig ausblendete, da ein anderes Mitglied dieser Expedition, Pierre Bouguer, mit dem er noch jahrelang im Streit liegen sollte, bereits ein Jahr zuvor der Académie darüber berichtet hatte. La Condamine besaß also gute Gründe, gerade jenen Teil seines Aufenthalts in

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politique des établissemens et du commerce des européens dans les deux Indes. Tome cinquième. Genève 1781, livre neuvième, S. 2. Vgl. hierzu Wuthenow (Anm. 40), S. 388. Die eigene Position ist bei der Flußfahrt als eine sich in Bewegung befindliche, nirgends länger verweilende Perspektive eines "voyageur qui ne voit les choses qu'en passant" gekennzeichnet; vgl. Charles-Marie de la Condamine: Voyage sur l'Amazone. Introduction et notes de Hélène Minguet. Paris 1981, S. 62.

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Lateinamerika hervorzuheben, bei dessen Darstellung er keine unliebsame Konkurrenz fürchten mußte. So erscheint die Reise durch die Anden, die einen langen Forschungsaufenthalt in dieser Region abschloß, wie eine Einleitung, wie ein Vorspiel zu jenem Abschnitt seiner Rückreise nach Frankreich, die ihn stromabwärts auf dem Amazonas bis zu dessen Mündung ins Meer den zentralen Teil Südamerikas in west-östlicher Richtung durchqueren ließ. Der Eintritt in diese neue, herausgehobene Phase seiner Reise erfolgt durch den Pongo de Manseriche, einen letzten Riegel der Anden, den der obere Maranön durchqueren muß, bevor er ins tropische Tiefland hinaustritt. Dabei vergißt La Condamine nicht, die Akademiemitglieder darauf aufmerksam zu machen, daß der Begriff "Pongo" wohl am besten mit Tor zu übersetzen sei. So tritt sein eigener Reisebericht selbst durch dieses "Tor" in eine neue Phase ein: "Arrivé à Borja, je me trouvais dans un nouveau monde, éloigné de tout commerce humain, sur une mer d'eau douce, au milieu d'un labyrinthe de lacs, de rivières et de canaux, qui pénètrent en tous sens une forêt immense qu'eux seules rendent accessible. Je rencontrais de nouvelles plantes, de nouveaux animaux, de nouveaux hommes. Mes yeux, accoutumés depuis sept ans à voir des montagnes se perdre dans les nues, ne pouvaient se lasser de faire le tour de l'horizon, sans autre obstacle que les seules collines du Pongo qui allaient bientôt disparaître à ma vue."48 Der Reisende ist durch das bald schon verschwindende Eingangstor aus einer Welt des Dreidimensionalen in eine Welt der Zweidimensionalität eingetreten. Der neue Flußabschnitt wird als neue Welt im emphatischen Sinne, mit neuen Pflanzen, Tieren und Menschen, apostrophiert, und präsentiert sich so dem europäischen Entdeckerblick als ein Kosmos, der zugleich von Europa und der andinen Welt Amerikas radikal getrennt ist. Die Augen treffen auf kein Hindernis mehr, eine Situation hermeneutischer Transparenz (in geradezu extatischer Erfahrung), die nicht wie später bei Rousseau dem Panoramablick vom Berg, sondern der Zweidimensionalität der Flußlandschaft geschuldet ist. Und doch präsentiert sich diese als Labyrinth, in dessen Unermeßlichkeit der Forscher eindringen und dessen Plan er dechiffrieren muß. Die Stilisierung des Ichs zur einsamen Forscherpersönlichkeit - La Condamine wurde nicht nur von indianischen Ruderern und einem Führer, sondern auch von einem kolonialspanischen Gelehrten sowie später bisweilen hinzukommenden Mitreisenden begleitet - schafft eine literarische Figur, die auf dem Fluß der Amazonen und im freiwillig betretenen Labyrinth gefangen an die Stelle mythischer Figuren der Antike tritt und an deren Größe anknüpft. Die auf die außersprachliche Wirklichkeit

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La Condamine (Anm. 47), S. 60.

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verweisenden, von späteren Reisenden auch überprüften Landschaftselemente wie etwa der Pongo de Manseriche werden im Verbund mit spezifisch literarischen Techniken von Inszenierung und intertextuell potenzierter Semantisierung in eine unabschließbare oszillierende Bewegung gebracht, die nicht auf das Dokumentarische reduziert werden kann, sondern den friktionalen Status dieses Textes unterstreicht. Das Ich ist in dieser Passage zugleich auf einer referentialisierbaren Ebene der Reisende und Naturforscher, auf einer historisch-literarischen Ebene der Erbe des Christoph Kolumbus, der einst vor der Mündung des Orinoco von einem Süßwassermeer gesprochen hatte, auf einer Ebene der griechischen Mythologie der Nachfolger des Theseus, diesen darin überbietend, daß er mit Hilfe seiner von ihm selbst gezeichneten Flußkarte den Faden finden wird, der ihn aus dem Labyrinth siegreich wieder herausführen kann, und schließlich auf einer psychoanalytischen Ebene jenes Ich, das das Eintauchen ins Wasser wie eine Extase und die aquatische Landschaft der mer d'eau douce wie eine pränatale Wiedervereinigung mit der Mutter feiert. Eine Einebnung des Textes auf die erste, referentialisierbare Ebene würde dem friktionalen Textstatus nicht gerecht. Eine nicht weniger spektakuläre Inszenierung eines neuen Ortes und zugleich eines neuen Abschnitts des eigenen Reiseberichts findet sich in LouisAntoine de Bougainvilles Voyage autour du monde, in welcher der Darstellung Tahitis - wie bereits erwähnt - eine besondere Bedeutung zukommt. Die Annäherung an Tahiti, noch vor der Landung auf der Insel und der Erwähnung jenes Greises, der sich um die Europäer kaum zu kümmern schien und zum intertextuellen Ansatzpunkt für Diderots philosophisches Supplement wurde, bietet dem Reiseschriftsteller Gelegenheit, ein anspielungsreiches Bild des angesteuerten Eilands zu entwerfen: "L'aspect de cette côte élevée en amphithéâtre nous offrait le plus riant spectacle. Quoique les montagnes y soient d'une grande hauteur, le rocher n'y montre nulle part son aride nudité: tout y est couvert de bois. A peine en crûmes-nous nos yeux, lorsque nous découvrîmes un pic chargé d'arbres jusqu'à sa cime isolée qui s'élevait au niveau des montagnes dans l'intérieur de la partie méridionale de l'île. [...] on l'eût pris de loin pour une pyramide d'une hauteur immense que la main d'un décorateur habile aurait parée de guirlandes de feuillages." 49 Zweifellos vereint Bougainville in seinem ausführlichen Panoramabild von See aus alle Bestandteile des locus amoenus, dessen unvermitteltes Erscheinen nach der mühsamen Schiffahrt auf den Leser überraschend wirken muß, 49

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Louis-Antoine de Bougainville: Voyage autour du monde par la frégate du Roi «La Boudeuse» et la flûte «L'Etoile». Paris 1982, S. 223.

Est-ce que l'on sait où l'on va? eine Überraschung, die auf der Ebene des unmittelbaren Erlebens im Text verankert wird, hätten doch die Reisenden selbst ihren Augen kaum zu trauen gewagt. Die Besonderheit dieser Passage liegt darin, daß Bougainville auf das kaum Glaubbare des Landschaftsbildes in ebenso paradoxer wie effizienter Weise nicht wie an anderen Stellen mit der Beglaubigungsstrategie naturwissenschaftlicher Messung und Beobachtung, sondern gerade mit der Betonung des Künstlerischen, Theatralischen, Artifiziellen antwortet. Den Reisenden bietet sich ein Naturschauspiel, in welchem sich die Natur der künstlerischen Mittel des Theaters bedient. Am Ende dieser ersten Darstellung Tahitis wird die Ebene des Schauspiels mit dem wirkungsvollen, stummen Auftritt eines Mädchens zum das gesamte Schauspiel erotisierenden Höhepunkt geführt: "Malgré toutes les précautions que nous pûmes prendre, il entra à bord une jeune fille qui vint sur le gaillard d'arrière se placer à une des écoutilles qui sont au-dessus du cabestan; cette écoutille était ouverte pour donner de l'air à ceux qui viraient. La jeune fille laissa tomber négligemment une pagne qui la couvrait et parut aux yeux de tous, telle que Vénus se fit voir au berger phrygien. Elle en avait la forme céleste. Matelots et soldats s'empressaient pour parvenir à l'écoutille, et jamais cabestan ne fut viré avec une pareille activité." 50 Hier greift das Schauspiel aus der Distanz auf die Nähe über: Der natürlichen, paradiesischen Schönheit des Landes entspricht die natürliche, schamlose Schönheit einer seiner Bewohnerinnen. Das Schauspiel ist von der Natur auf den Menschen und von der Küste auf das Schiff der Reisenden übergesprungen. Der begehrliche Blick auf das verheißene Land wird zum begehrlichen Männerblick auf die paradieshaft unschuldig sich den Augen der Männer darbietende Frau. Diese doppelte Bewegung, welche das Amphitheater der Küste in der Tat nur zum Hintergrund, zum geschickt arrangierten Dekor des weiblichen Auftritts degradiert, führt zugleich die Zuschauerposition vor Augen, die nur durch eine dargebotene Öffnung, durch eine Luke, des Schauspiels (voyeurhaft) teilhaftig werden kann. Ähnlich ist die Funktion des an dieser Stelle abbrechenden, die Reize des Mädchens nicht weiter ausführenden Reiseberichts, so daß ein weiteres Überspringen von den ersten Zuschauern auf die zeitgenössische Leserschaft - und damit auch der immense Erfolg dieses Textes - vorprogrammiert ist. Bougainville entwirft hier ein Theater der Bilder, in welchem das Mädchen nicht zu Wort kommt und so letztlich dem Reich der Natur zugeordnet bleibt; und doch ist es gerade das Stummbleiben, das es dem Erzähler erlaubt, die Körper-

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Ebda., S. 226. 55

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spräche der schönen Unbekannten mit den Codes antiker Göttinnen in Deckung zu bringen. Es wäre geradezu absurd, wollte man nach der Referentialität dieser letzten Passage fragen. Längst hat die Textualität ihre Stellung eingenommen. In kaum einem Reisebericht erscheinen die erwähnten sechs Dimensionen in so dicht gedrängter Reihung wie in Bougainvilles literarisch ausgefeilter Darstellung von Tahiti. Die Zweidimensionalität des Meeres wird eindrucksvoll um die dritte Dimension der Höhenstufen erweitert, in einer gegenüber La Condamine umgekehrten Bewegung, die nicht den Übergang aus der Bergwelt zum »Süßwassermeer«, sondern jenen vom Meer zum Land unterstreicht. Die Reise in der Zeit schließt sich unmittelbar an, wird das Gesehene doch mit den abendländischen Hochkulturen (Pyramide, Venus und der phrygische Hirte, das neue Kythera, Bougainvilles nouvelle Cythere51 der tahitianischen Aphrodite) in Verbindung gebracht. Der Reisende selbst tritt in eine Welt antiker Monumentalität ein, die - wie das Beispiel der Tahitianerin zeigt - vor seinen Augen zu leben beginnt, wobei unverkennbar Strukturen des Pygmalion-Mythos sich auf die Textebene durchpausen. Dieser vierten Dimension folgt in einer sich anschließenden Passage die Reise durch die sozialen Dimensionen der nur kurz besuchten tahitianischen Gesellschaft. Das gesamte Tableau aber ist eingebettet in die Dimension der Einbildungskraft, die durch bekannte Anspielungen und Verweise eindrücklich auf die Imagination des Lesers wirkt. Im Zusammenlaufen dieser Dimensionen ergibt sich einer der am raffiniertesten gestalteten reiseliterarischen Orte, so daß der auf der referentiellen Ebene nur kurze TahitiAufenthalt, der innerhalb des Reiseablaufs eine verschwindend kleine Etappe ausmachte, zum eigentlichen Höhepunkt der Reise stilisiert werden konnte. Bougainvilles bis heute beliebter Reisebericht weist geradezu idealtypisch ein nicht fixierbares Oszillieren zwischen fiktionalem und diktionalem Pol auf. Hierin liegen Spannung und Faszination, die von diesem Reisebericht ausgehen. Reiseliteratur erscheint in den angeführten Passagen, aber auch bei anderen Autoren und Texten als Literatur auf Reisen (Aphrodite auf Tahiti), als Literatur, die den Leser reisen läßt, und schließlich als Literatur, die sich an einem doppelten Ort des Schreibens - etwa in der Form des Reisetagebuchs und dessen Überarbeitung am Ursprungsort des Schriftstellers, in wessen Auftrag dieser auch immer auf Reisen ging 52 - vollzieht.

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Ebda., S. 247. Auch hier wäre eine klassifizierende Unterscheidung von Reisen und Reiseschriftstellern möglich zwischen jenen Reisenden, die aus frei gewähltem Entschluß ohne Auftraggeber reisen (Humboldt), Reisenden, die im Auftrag offizieller Institutionen reisen (La Condamine, Bougainville, aber auch die britischen Lateinamerikareisenden des 19. Jahrhunderts), und schließlich Reisenden, die von ihren Reiseberichten leben

Est-ce que l'on sait où l'on va?

3. Ein im Reisebericht stets herausragender Ort ist die Ankunft des Reisenden am Ziel seiner Reise. Waren in den Texten La Condamines und Bougainvilles der Eintritt ins Amazonastiefland und das Erreichen Tahitis eingebettet gewesen in eine sich räumlich fortsetzende Reisebewegung, die fast übergangslos zur Heimkehr des Reisenden überleitet, so ist die Ankunft in einem emphatischen Sinne an das Erreichen eines bestimmten Ziels, dem ein längerer Aufenthalt gilt, gebunden. Dieser reiseliterarische Ort der Ankunft ist, häufig stärker noch als der Ort der Abreise, herausgehoben als ein Ort der Selbstvergewisserung, der Wahrnehmung des Anderen und der Problematisierung bereits vorgeprägter eigener Wahrnehmungsraster. In besonders klarer Form findet sich dies bei Richard Gordon Smith, einem viktorianischen Reisenden, der Japan zwischen 1898 und 1907 mehrfach besuchte. So heißt es in seinen Berichten aus dem »Land der Götter«: "At daybreak I found myself in Nagasaki Harbour, Japan at last. One of the ambitions of my life had been to see it and here I was. Hills loomed around [...] The coal boats came alongside and then the Japan of my imagination came suddenly to life. The coalers were girls and women all, of course, of the lower labouring classes but it was at once visible in their faces that this was a land of good humour, a land where even the low-class labouring women looked up at you, smiling." 53 Interessant ist in dieser just auf den 24. Dezember 1898 datierten Bemerkung nicht allein, daß sich das fremde Land erneut in Gestalt einer sich dem männlichen Reisenden gegenüber freundlichen Unbekannten zeigt 5 4 oder daß auch hier, noch von Bord des Schiffes aus, die verschiedenen räumlichen und sozialen Dimensionen des Ziellandes eingeführt werden; aufschlußreich ist vor allem die Tatsache, daß das Vor-Gewußte, das »Japan meiner Einbildungskraft«, plötzlich zum Leben erweckt wird. Der Übergang

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wollen und in ihrem schriftstellerischen Visier ein anonymes Publikum ihres Herkunftslandes haben. Travels in the Land of the Gods (1898-1907): The Japan Diaries of Richard Gordon Smith. Hg. von Victoria Manthorpe. New York 1986, S. 14; hier zitiert nach Rolf Goebel: Japan and the Western Text: Roland Barthes, Richard Gordon Smith, and Lafcadio Hearn. In: Comparative Literature Studies (University Park, Pennsylvania) XXX, 2 (1993), S. 193 f. Goebel macht hier überzeugend auf Bezüge zwischen der klaren, durch keinen Nebel getrübten Sicht auf den Hafen und einer generellen hermeneutischen Klarheit aufmerksam, die diesem Reisebericht zugrunde liege. Friedrich Wolfzettel hat in seinem grundlegenden Buch das Rebecca-Motiv der unbekannten Schönen in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts verfolgt und mit Baudelaires Großstadtmotiv der unbekannten Passantin verbunden (Ce désir de vagabondage cosmopolite. Wege und Entwicklung des französischen Reiseberichts im 19. Jahrhundert. Tübingen 1986, S. 33 ff. und 40 ff.). Bereits die Reiseberichte und Chroniken des 16. Jahrhunderts zeigen freilich, daß das fremde Land, das in Besitz genommen werden soll, unter dem männlichen Blick stets weiblich metaphorisiert wird. Die

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zwischen dem Vorwissen, das der britische Reisende vor allem seinen Lektüren verdankt, und der empirisch erfahrenen Realität vollzieht sich erstaunlich harmonisch. Die hermeneutische Erfahrung der Konfrontation mit dem Anderen erscheint in dieser Passage als spannungsfreies Kontinuum, indem sich gleichsam die in Gedächtnis und Einbildungskraft gespeicherten und fixierten Figuren zu bewegen beginnen. Das ersehnte Ziel wurde so vorgefunden, wie es erwartet worden war. Dies muß nicht immer der Fall sein. In Richard Gordon Smith's Reisebericht jedoch wird gerade diese hermeneutisch reflektierte Beobachterposition dazu benutzt, die Standortbestimmung sowohl auf der Ebene des erzählten Ichs (etwa in der Form der kursiv gesetzten erlebten Rede) als auch auf der Ebene des erzählenden Ichs (das die Ankunft als zurückliegende Erfüllung eines lang gehegten Kindheitstraums bezeichnet) gegenüber dem Leser deutlich zu markieren. Die Ankunft bezeichnet oft weniger den Ort erster Erfahrungen mit dem Anderen (diese werden bei Smith gerade nicht gemacht) als den Ort einer Selbstvergewisserung, einer Klärung der eigenen Motive, der eigenen Herkunft, des eigenen Standorts. Auch bei Richard Gordon Smith sind es vorgewußte Elemente, die - wie wir sehen konnten - schon bei anderen Reisenden zum Leben erwachten. So ließe sich sagen, daß der Reisebericht das Vor-Gewußte, die individuelle wie kollektive memoria in (lebendige) Bewegung (ver)setzt. 4. Abschließend sei als ein weiterer reiseliterarischer Ort die Rückkehr zum Eigenen benannt. Sie kann als schlichter Ausklang des Reiseberichts, als erneuerte Selbstbestimmung, bisweilen aber auch als eigentlicher Höhepunkt des gesamten narrativen Zyklus gestaltet sein. Ein besonders anschauliches Beispiel bietet Bernardin de Saint-Pierres Reisebericht: "On se hâta de préparer un dernier repas; mais on se levait, on se rasseyait, on ne mangeait point, nous ne pouvions nous lasser d'admirer la terre de France. Je voulais débarquer avec mon équipage; on appelait en vain les matelots; ils ne répondaient plus. Ils avaient mis leurs beaux habits: ils étaient saisis d'une joie muette; ils ne disaient mot: quelques-uns parlaient tous seuls. [...] De tous côtés je ne voyais que des gens émus. J'appelai un pêcheur et je descendis dans sa barque. En mettant pied à terre, je remerciai Dieu de m'avoir enfin rendu à une vie naturelle." 55 Die emotionale Rückkehr zum Eigenen öffnet sich im achtundzwanzigsten und letzten Brief auf dessen neue Sichtweise. Dieser Brief ist auf den ersten Januar 1773 in Paris datiert, womit nicht nur ein neuer Ort des Schreibens die französische Hauptstadt -, sondern auch der Beginn eines neuen Lebenslibidinöse Struktur von Ent-deckung und In-Besitz-Nahme wird in der Gestalt, im begehrten Körper der unbekannten Frau, manifest.

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zyklus symbolisiert werden. In diesem Brief beklagt der Reisende nicht nur das Fehlen literarischer Vorbilder bei dieser »so interessanten Gattung« 56 , insoweit die großen Autoren des Jahrhunderts keine Reiseliteratur verfaßt hätten, er macht nicht nur auf das schmerzliche Fehlen eines adäquaten Vokabulars für literarische Darstellungen tropischer Landschaften aufmerksam, sondern erhebt gegenüber den französischen Reiseschriftstellern seiner Zeit vor allem den Vorwurf, das Glück außerhalb der Grenzen ihres Heimatlandes angesiedelt zu haben. 57 Hatte auch Saint-Pierre die Reise in die Kolonien (vergeblich) mit der Hoffnung auf finanziellen Gewinn verbunden, einer Hoffnung, die auch im Reisebericht bisweilen durchscheint, so steht am Ende dieses letzten Briefes eine Entmythisierung der Tropen als Ort materiellen Reichtums, hofft der Erzähler doch, durch die Beschreibung der Schrecken der Sklaverei auf der Ile de France das Mitleid der europäischen Tyrannen erweckt zu haben und auf diese Weise mit seinem Reisebericht einen immateriellen Gewinn für die Menschheit in Sachen Menschlichkeit zu erzielen. 5 ^ Die Rückkehr zum Eigenen entwickelt sich zu einer Anrufung, ja Beschwörung des lieu natal,59 des Geburtsortes, den der Philosoph nicht mehr zu verlassen brauche, um Gegenstände für seine Meditationen zu finden. Die gesamte Bewegung des Reiseberichts, die Beschäftigung mit der exotisierten Alterität, kommt so in einer Versöhnung mit dem Eigenen zum Stillstand. Der reiseliterarische Ort der Ankunft situiert sich damit innerhalb einer hermeneutischen Bewegung, die den gesamten Text erfaßt und bei Bernardin de Saint-Pierre in der Erkenntnis des berühmten Schlußteils gipfelt.

Reiseliterarischer Ort und hermeneutische Bewegung Sicherlich wäre es wünschenswert, die hier genannten reiseliterarischen Orte weiter zu differenzieren und innerhalb ihrer Anlage historisch und komparatistisch eingehender zu untersuchen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann dies nicht geschehen. Doch soll auf die Notwendigkeit verwiesen sein, eine möglichst große Zahl von Reiseberichten bezüglich ihrer je spezifischen reiseliterarischen Orte zu analysieren, um davon ausgehend zu 55 56 57 58 59

Saint-Pierre (Anm. 43), S. 238 f. "Il nous manque un modèle dans un genre si intéressant" (Ebda., S. 251). Ebda., S. 255. "Pour toi, Nègre infortuné qui pleure sur les rochers de Maurice, si ma main, qui ne peut essuyer tes larmes, en fait verser de regret et de repentir à tes tyrans, je n'ai plus rien à demander aux Indes, j'y ai fait fortune." Ebda., S. 258. "Il est dans le lieu natal un attrait caché, je ne sais quoi d'attendrissant qu'aucune fortune ne saurait donner et qu'aucun pays ne peut rendre." Ebda.

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verstehen, welch vielfältige Funktionen diesen Orten innerhalb der Reiseberichte jeweils übertragen werden. Die Friktionalisierung des Referentialisierbaren dürfte dabei gerade im 19. Jahrhundert stets ein Grundmuster bleiben. Wir dürfen jedoch nicht bei der Analyse der jeweiligen reiseliterarischen Orte eines Textes stehenbleiben, sondern sollten danach fragen, innerhalb welcher Bewegung sich diese Orte ansiedeln und welche Bewegung ihre eigene Modellierung selbst wiederum auslöst. Verschiedene Möglichkeiten einer Typisierung des Reiseberichts sind bereits erwähnt worden, etwa eine Einteilung nach dem Herkunftsland des Reisenden, nach seinen Zielländern, nach einer Dominanz bestimmter Gattungsmuster, nach einer Typologie des Reisenden selbst, nach Möglichkeiten der Fortbewegung und des Transports (Land- oder Seereise) oder auch nach einer vorherrschend objektzentrierten Reiseform wie der Forschungsreise oder einer dominant subjektzentrierten Form wie der Bildungsreise. Doch lassen sich Reisen aus der in dieser Arbeit gewählten Perspektive als Bewegungen des Verstehens im Raum erfassen. Es scheint daher möglich, ausgehend von der je spezifischen Inszenierung bestimmter Orte und der dazwischenliegenden Vektoren einige Grundfiguren reiseliterarischer Bewegung zu unterscheiden, die im folgenden in fünf Grundtypen kurz skizziert seien. Diese Figuren können einen gesamten Text, oftmals aber auch nur einzelne Teile und Abschnitte eines Reiseberichts erfassen. 1. Bereits der Schlußteil von Bernardin de Saint-Pierres Voyage ä l'tle de France hat gezeigt, in welcher Weise reiseliterarische Orte ein Bewegungsmodell des Verstehens - hier im Sinne einer veränderten Rückkehr als Bekenntnis zum Eigenen - zu kontrollieren vermögen. In Saint-Pierres Reise ist geradezu idealtypisch die Grundfigur einer kreisförmigen Reisebewegung zu erkennen, in welcher der Reisende am Ende zum Ausgangspunkt seiner Fahrt zurückkehrt. Dieses Grundmuster herrscht bei Reisen des 18. und 19. Jahrhunderts nach Übersee bzw. nach Lateinamerika vor. SaintPierres Modellierung des Endpunkts der Reise zeigt dabei, daß die vielfältigen Beobachtungen naturgeschichtlicher Art, die im Reisebericht in Form von Briefen, Schiffstagebüchern, botanischen oder geschichtsphilosophischen Abhandlungen vorgestellt und diskutiert werden, letztlich am Endpunkt der Reise, am Mutterland Frankreich, ausgerichtet sind. Die Vermehrung des Wissens über das Andere, über dessen Lebensbedingungen und Kulturformen, wird rückgebunden an einen Gewinn des Wissens in Europa. Dies betrifft ebenso die Verbesserung des Kolonialsystems wie die intendierte Abschaffung der Sklaverei, die durch Veränderungen im Mutterland bewirkt werden soll. Dies betrifft aber auch die Aneignung des Textes durch den Leser, die vom Text nicht in der Form eines Vorwortes - an dessen

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Est-ce que l'on sait où l'on va? Wirksamkeit Saint-Pierre zweifelte 60 sondern vielmehr einer nachgestellten Reflexion im letzten Brief vorgeprägt und kanalisiert wird. Die Reise folgt somit der Bewegungsform des hermeneutischen Zirkels, indem sie das Vor-Gewußte schon zu Beginn des Textes einblendet, durch neue Erfahrungen und Wissenszuwächse kontrolliert, ergänzt oder auch (wie in SaintPierres sphärenartig sich um ein Zentrum anordnendem naturgeschichtlichen Schema) neu systematisiert, um schließlich in einer letzten Bewegung (die sich auf neue hin öffnen kann) dieses so veränderte und erweiterte Wissen wieder mit den Wissensbeständen über das Eigene zu verknüpfen. Der hermeneutische Zirkel ist in diesem Beispiel keineswegs ein circulus vitiosus. Durchaus im Sinne einer mise en abyme enthält Saint-Pierres Reisebericht im siebzehnten Brief die Darstellung einer Fußreise, die von Port-Louis ausgehend dem Küstenbereich der Ile de France beständig folgt, um so zum Ausgangspunkt zurückzukehren und die zuvor existierenden Wissensbestände in dieser hermeneutischen Zirkelbewegung bewußt zu überprüfen und zu aktualisieren, damit daraus neue Erkenntnisse und Einsichten abgeleitet werden können. Vor-Gewußtes und Noch-Nicht-Gewußtes werden anhand empirischer Erfahrung oder Informationen aus dritter Hand wechselseitig aufeinander bezogen und an den Reiseweg geknüpft. Der Reiseweg wird damit buchstäblich Schritt für Schritt zum Weg des Verstehens, der Reisende zum Orientierungspunkt einer hermeneutischen Bewegung, die der Leser anhand seiner Lektüre beständig nachvollziehen kann. Das Vor-Gewußte wird auf die Reise mitgenommen, so daß der voyageur pur, der »reine« Reisende, nur eine Abstraktion sein kann. Diese Mitnahme des Vorgewußten wird bei jenen Weltumsegelungen augenfällig, welche die Zeitgenossen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Atem hielten und in ihrer Reiseroute bereits die Hermeneutik des gesamten (V)er-fahrens offenbaren. Laperouse etwa nahm auf seine Weltumsegelung nicht nur eine verblüffende Vielzahl und Menge zum Tausch geeigneter Gegenstände, sondern auch eine Unzahl wissenschaftlicher Instrumente, umfangreiche Instruktionen und vor allem eine mehr als tausendbändige Bibliothek nebst vollständiger Kartensammlung 61 mit, anhand derer er die auf der Reise erzielten Ergebnisse mit anderen Resultaten bzw. den in Europa zum damaligen Zeitpunkt verfügbaren Daten überprüfen konnte. Reiseberichte anderer Reisender, deren Angaben sorgfältig kontrolliert wurden, machten dabei einen gewichtigen Anteil der mitgeführten Bibliothek aus. Die angestrebte Präzision eines derartigen hermeneutischen Verfahrens mag an einer von

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Ebda., S. 251. Vgl. Broc (Anm. 4), S. 290.

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Lapérouse berichteten Anekdote deutlich werden, welche die Faktizität der Gattung Reisebericht herauszustellen bemüht ist: "A peine avions-nous mouillé que nous vîmes monter à bord le bon curé de Paratounka, avec sa femme et tous ses enfants. Dès lors, nous prévîmes que nous pourrions voir paraître et qu'il nous serait facile de remettre sur la scène une partie des personnages dont il est question dans le dernier voyage de Cook." 6 2 Nicht nur der Reisebericht, sondern schon die eigene Reise selbst wird zu einem beständigen Dialog mit anderen Reiseberichten. Die Ankunft auf der Halbinsel Kamtschatka wird dabei zu einem ¿e/d-vM-Erlebnis, da die im Bericht von Cooks letzter Reise dargestellten »Figuren« Gestalt annehmen, lebendig werden und gar an Bord kommen. Lapérouse, der wenig später im Südpazifik ein mit seinem großen Vorbild James Cook vergleichbares Ende finden sollte, betont in dieser Passage in bemerkenswerter Weise die Metamorphose aus einem Text bekannter und dort »inszenierter« Persönlichkeiten in real existierende Menschen, die er am Ende seines Aufenthalts im übrigen mit dem Cookschen Reisebericht und so mit ihrer eigenen Verwandlung in Figuren der Reiseliteratur beschenken kann. Diese Szenerie, in welcher einige der in Cooks dritter Reise dargestellten Personen die Faktentreue des Reiseberichts (und gleichsam ihre eigene literarische Existenz) bestätigen, ist außergewöhnlich und wäre der Feder eines Romanciers des 20. Jahrhunderts nicht unwürdig: "Nous le priâmes d'accepter la relation du troisième voyage de Cook, qui paraissait lui faire grand plaisir; il avait à sa suite presque tous les personnages que l'éditeur a mis sur la scène, M. Schmaleff, le bon curé de Paratounka, le malheureux Ivaschkin; il leur traduisait tous les articles qui les regardaient, et ils répétaient à chaque fois que tout était de la plus exacte vérité." 6 3 Das Vor-Gewußte, in Form einer Bibliothek auf die Reise mitgenommen, wird der hermeneutischen Kreisbewegung folgend auf die empirisch erfahrene Realität übertragen, die für den voyageur pur neu wäre, nicht aber für den voyageur lecteur. Lapérouse folgt dieser Bewegung und ergänzt einige Vorfälle, die den Menschen, welche der Herausgeber von Cooks Bordbuch in Szene gesetzt hatte, in der Zwischenzeit widerfahren waren. Das Empirische verschmilzt mit dem Vor-Gewußten, die literarische Erfahrung etwa 62 63

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Jean-François de Lapérouse: Voyage autour du monde sur l'Astrolabe et la Boussole (1785-1788). Choix des textes, introduction et notes de Hélène Minguet. Paris 1987, S. 278. Ebda., S. 307 f. Interessant an dieser Passage ist nicht zuletzt die Tatsache, daß der Prozeß der Übersetzung, der jedem Reisebericht zugrunde liegt, hier in umgekehrter Richtung wieder rückübersetzt, ja gleichsam in die »Realität« zurücktransportiert wird.

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in Gestalt des "bon curé" wird beständig nachvollzogen. Gleichviel, ob es sich um Venus, eine unbekannte Japanerin oder um bereits literarisch porträtierte »reale« Personen handelt: Stets geht in die Zirkelhaftigkeit der hermeneutischen Reisebewegung das Vor-Gewußte ein und perspektiviert den Blick auf das Andere. 6 4 Daß in dieser Bewegung das Vorgewußte die empirische Erfahrung vollständig überdecken kann, zeigt sich in Reiseberichten des 18. wie des 19. Jahrhunderts, etwa in jener Reise Friedrich Nicolais, der 1781 eine Fahrt durch Deutschland und die Schweiz unternahm, die er in enzyklopädischer Manier in ein zwölfbändiges Werk goß. Von dieser Reise sagt Ralph-Rainer Wuthenow zu Recht, daß sie ein "Kreislauf', "eine durchgehaltene Unruhe ohne Ankunft, eigentlich doch auch ohne Abfahrt" und letztlich "ohne eine andere als die meßbare Bewegung" gewesen sei. 6 5 Hier wird der hermeneutische Zirkel zu einem Leerlauf, der die Reise im Sinne eines Zugewinns an empirischer Erfahrung ad absurdum führt und nur mehr als Vorwand und Legitimation des Autors dient. 6 6 Ein derartiger hermeneutischer circulus vitiosus liegt oftmals der modernen touristischen Reise zugrunde, bei der sich der Reisende einem Führer anvertraut und dessen trouvailles pflichtbewußt nach-kommt. Die interkontinentale Flugreise, die - folgen wir Calvinos »Reiseroman« - das Gegenteil einer Reise verkörpert, steht hier mit ihren Videofilmen, die dem Reisenden kurz vor der Landung ein farbenprächtiges, vor allem aber beruhigendes Bild der bereisten Alterität präsentieren, nur für die massenkulturelle Nutzung derartiger Verstehenskreisläufe. Der beunruhigenden Wirkung fremdkultureller Alteritätserfahrung wird noch an Bord mit der Verwandlung der Reisenden in Zuschauer entgegengewirkt: Das Fremde wird als buntes Bild zugleich vor Augen geführt und neutralisiert. Scheuten wir nicht den Neologismus, so könnten wir hier vom okzidenteilen Reisenden sprechen, der akzidentell mit fremdkulturellen Phänomenen in Berührung kommt und diese stets nach unreflektierten okzidentalen Mustern (nicht ohne gewisse Betriebsunfälle) wertet und beurteilt. Das Kreisschema des Reiseverlaufs findet sich ebenfalls in den bereits erwähnten Pérégrinations d'une paria Flora Tristans, auch wenn ihr Reise64

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Vgl. zur Perspektivierung von Humboldts Reisebericht durch literarische Bezugstexte Ottmar Ette: Der Blick auf die Neue Welt. In: Alexander von Humboldt: Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents. Bd. 2. Frankfurt am Main - Leipzig 1991, S. 1563-1597. Wuthenow (Anm. 40), S. 360. Ein weiteres Beispiel für eine Reise, in welcher nur eine räumliche, nicht aber eine Verstehensbewegung stattfindet, indem Erkennen immer nur als Wiedererkennen des Vor-Gewußten stattfindet, bietet laut Friedrich Wolfzettel der französische Germanist und Reiseschriftsteller Jean-Jacques Ampères; vgl. Wolfzettel (Anm. 54), S. 154 f.

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bericht vor der Rückreise nach Frankreich abbricht. Hier freilich ist es worauf bereits Friedrich Wolfzettel hinwies - eingebettet "in ein quasimythisches Schema der Suche (nach dem erhofften Erbe und nach familiärer Geborgenheit)". 67 Schon zu Beginn des Textes wird darauf verwiesen, daß der Reisebeginn mit dem dreißigsten Geburtstag der kämpferischen Französin zusammenfällt: So drängt sich der Suche zugleich die Betonung des Bruchs und eines magischen Neuanfangs, einer vita nova, auf, die jedoch im weiteren Verlauf der Reise zunehmender Desillusion Platz machen muß. Die Suche nach dem Neuanfang wird schon am reiseliterarischen Ort der Ankunft in der »Neuen Welt«, im Hafen von Valparaiso, untergraben - die Nachricht von der Ankunft eines französischen Schiffes hatte viele Franzosen zum Hafen geführt: "Ils étaient tous réunis sur le môle quand nous mîmes pied à terre. Je fus surprise de l'aspect du quai. Je me crus dans une ville française: tous les hommes que je rencontrais parlaient français; ils étaient mis à la dernière mode." 68 Wie sehr unterscheidet sich diese Ankunft in Valparaiso von jener Ida Pfeiffers, die - ebenfalls als Frau alleine reisend - ein gutes Jahrzehnt später im selben chilenischen Hafenstädtchen anlangte und alles abwertend, ja despektierlich und herablassend mit Europa verglich. 69 Die Überraschung bei der Ankunft wird gerade nicht durch die Begegnung mit dem Anderen, sondern mit dem Gleichen, ja dem Selben, ausgelöst. Die »neue« Welt zeigt sich hier paradoxerweise als »alte« Welt, gerade weil sie auf der Höhe der französischen Mode und damit der Zeit des Herkunftslandes der Reisenden ist. Die Reisebewegung erscheint geheimnisvoll arretiert: Die Erzählerin glaubt sich nach der langen Seereise in einer französischen Stadt. Die räumliche Bewegung erscheint als Trug, die Flucht ist schon vor Erreichen des Ziels zum Scheitern verurteilt. So heißt es am Ende des dritten Kapitels, unmittelbar vor der Ankunft in Valparaiso: "J'étais restée anéantie. Paria dans mon pays, j'avais cru qu'en mettant entre la France et moi l'immensité des mers je pourrais recouvrer une

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Ebda., S. 139. Tristan (Anm. 19), S. 80. Vgl. den 1850 erstmals unter dem Titel Eine Frauenreise um die Welt. Reise von Wien nach Brasilien, Chili, Otaheiti, China, Ost-Indien, Persien und Kleinasien (3 Bde. Wien) veröffentlichten Bericht der Österreicherin, der seit kurzem in einer neuen Ausgabe zugänglich gemacht wurde: Eine Frau fährt um die Welt. Die Reise 1846 nach Südamerika, China, Ostindien, Persien und Kleinasien. Herausgegeben von Gabriele Habinger. Wien 1992.

Est-ce que l'on sait où ion va? ombre de liberté. Impossible! Dans le Nouveau-Monde, j'étais encore paria comme dans l'autre." 70 Die materielle Reisebewegung führt nicht zum erhofften Neubeginn, wohl aber zu einer Auseinandersetzung mit dem im Anderen gespiegelten Eigenen und damit zur Selbsterkenntnis als einsames Individuum, als Frau, die ihren eigenen Weg gehen muß und gehen wird. Flora Tristans Reisebericht endet daher mit einem neuerlichen Aufbruch, wobei aus einem neuen Bewußtsein heraus der Rückweg zum nunmehr veränderten Eigenen angetreten wird: "Vers cinq heures, on leva l'ancre, tout le monde se retira; et je restai seule, entièrement seule, entre deux immensités, l'eau et le ciel." 71 Damit wird das Subjekt auf sich selbst, auf seine inneren Bewegungen zurückgeworfen. Gerade aufgrund der Desillusion, der Ent-täuschung, hat der hermeneutische Zirkel der Reisebewegung zu einer neuen Erkenntnis - und nicht etwa zu einer Rückkehr zum Alten, in die Alte Welt - geführt. Die Reise geht im autobiographisch modellierten Bewußtwerdungsprozeß auf. 2. Eine weitere räumliche Grundfigur der Reisebewegung ist das Pendeln zwischen zwei oder mehreren Orten. Bei diesem Modell liegt der Schwerpunkt nicht auf der Reise selbst, auf Abfahrt oder Ankunft, sondern auf der Existenz an räumlich und zeitlich voneinander getrennten Orten. Im 19. Jahrhundert dürften derartige Erfahrungen in bezug auf Lateinamerika eher die Ausnahme bilden, wenn es hier auch interessant wäre, Berichte saisonal tätiger Kontraktarbeiter etwa im karibischen Raum oder - zu Beginn des 20. Jahrhunderts - zwischen Italien und Argentinien pendelnder Erntehelfer auszuwerten. Es handelt sich um ein Reiseschema, das wie kein anderes an die Schnelligkeit der Verkehrsmittel und damit an die technologische Entwicklung gebunden ist, so daß es überwiegend um ein dann allerdings massiv auftretendes Phänomen des 20. Jahrhunderts geht, dessen aktuelle Inkarnation der zwischen zwei Orten hin- und herpendelnde Turbo-Prof ist. Im lateinamerikanischen Roman des 20. Jahrhunderts finden sich viele dieser Reisenden zwischen zwei Welten. Vergleich, aber auch Überlagerung verschiedenster Strukturen bilden dabei das häufige Grundmuster einer Verstehensbewegung, welcher die Erfahrung des Gleichzeitigen und Heterogenen, des nicht miteinander Vereinbaren und doch sich Überlagernden vertraut ist. Verstehen erweist sich innerhalb dieser Raumstruktur als diskontinuierlicher, sich aus verschiedenen Perspektiven wechselseitig beleuchtender Vorgang, der ohne Zentralperspektive auskommt, ja auskommen will. Es 70 71

Ebda., S. 77. Ebda., S. 377. Es wäre durchaus möglich, strukturelle Parallelen zwischen den Pérégrinations d'une paria und Saint-Pierres Reisebeschreibung nachzuweisen; zur Reiselektüre der Ich-Erzählerin zählt nicht von ungefähr vor allem der Schöpfer von Paul et Virginie (ebda., S. 72).

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wäre verlockend, im Oszillieren zwischen zwei oder mehreren Punkten nach einer Grundform nicht nur der Reise, sondern auch des Reiseberichts in der Postmoderne zu suchen. Im übrigen dürfte es sich hierbei auch um jene Verstehensbewegung handeln, die der Arbeit und den Verstehensprozessen internationaler Kolloquien zugrunde liegt. Insbesondere den lateinamerikanischen Theoretikern unseres Jahrhunderts sind derartige Verstehensprozesse so vertraut und selbstverständlich, daß sie auf ihre Theoriebildungen selbst nicht ohne Auswirkungen geblieben sein dürften. Es wäre durchaus möglich, manche kulturtheoretischen Texte der achtziger und neunziger Jahre gegen den Strich als Reiseberichte zu lesen. 3. Eine dritte Grundfigur räumlicher Verstehensbewegung ist die lineare Reise von einem Ausgangspunkt zu einem Zielpunkt. Dabei ist sekundär, ob es sich bei dieser Bewegung um eine aufsteigende oder absteigende handelt. In der mystischen Literatur aller Zeiten findet sich das Grundschema einer solchen Reise als Annäherung an das Absolute, an das Göttliche, angetrieben vom Wunsch nach transzendentaler Erfüllung und Aufgehobensein. Diese Reise führt zu einer Verschmelzung mit dem ersehnten Ziel, ein Rückweg ist nicht vorgesehen oder doch angesichts des zu erreichenden Reiseziels zweitrangig. Derartige Raummodelle finden sich häufig in der spanischen Mystik, insbesondere bei Santa Teresa de Jesús, deren Camino de perfección die Metaphorik des Weges für das rationale wie das nicht-rationale Verstehen, die mystische Gotteserfahrung, nutzt. Auch ihre Moradas del castillo interior sind an diesem strikt hierarchisierten sakralen Raumschema orientiert und führen eine Bewegung entlang eines Stationenweges ein, wie er auch der Prozession als räumlich-körperliches Nachvollziehen geistig-spiritueller Prozesse in den verschiedensten Religionen zugrunde liegt. Dem entspricht die mittelalterliche Pilgerreise insoweit, als zum einen der Weg selbst als Bewußtwerdungsprozeß und als Auseinandersetzung mit verschiedensten Abschnitten und deren Bedeutung erfahren wird, über der Erfahrung des Weges aber doch stets die des Ankommens steht, insofern das Ziel nicht nur den Höhepunkt, sondern den eigentlichen Sinn, die Erfüllung der Pilgerreise, darstellt. Daher bildet der reiseliterarische Ort der Ankunft, neben anderen Stationen der Lösung vom Eigenen, der Prüfung oder erwiesener göttlicher Gnade, das zentrale, sinnbildende und sinngebende Element des Pilgerberichts. Säkularisierte Formen dieser Reise- und Verstehensbewegung finden sich auch in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts - denken wir nur an die berühmte Zwischenform der »Prière sur l'Acropole« aus den Souvenirs d'enfance et de jeunesse von Ernest Renan -, bilden jedoch zumeist nur einzelne Abschnitte innerhalb eines umfassenderen Reiseverlaufs. Flora Tristans Pérégrinations d'une paria, die schon im Titel an den Erfahrungs66

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modus und die Verstehensbewegung der Pilgerreise anknüpfen, nehmen sehr wohl Ausdrucksformen mystischer Gottesschau in sich auf. Der Stationenweg der Erzählerin durch die Wüste von Arequipa weist Formen der Prüfung, transzendentaler Körpererfahrung und göttlicher Gnade auf, 7 2 die in linearer Abfolge dem Erreichen des eigentlichen Ziels, der Stadt Arequipa, vorgeschaltet sind. Auch hier mag gelten: un voyage peut en cacher un autre! Alexander von Humboldts gescheiterter Versuch einer Besteigung des Chimborazo, der damals als höchster Berg der Erde galt, mag als ein weiteres Beispiel für einen linearen, an einem mythischen Ort der Erfüllung orientierten Reiseweg dienen, zumal hier zugleich die Möglichkeiten und die Grenzen menschlicher Erfahrung symbolhaft zum Ausdruck kommen. Umgekehrt dürfte auch die säkularisierte kulturelle Pilgerreise nach Paris einer Verstehensbewegung zuzuordnen sein, welche dem magischen Glauben an einen bestimmten, räumlich lokalisierbaren Ort der Erfüllung anhängt. Auch Joachim Heinrich Campes Reise im Sommer 1789 in das revolutionäre Paris gehorcht einer solchen Bewegung, wobei in der im folgenden Jahr erschienenen Reise des Herausgebers von Braunschweig nach Paris im Heumonat 1789 die Annäherung an die französische Hauptstadt in besonderer Weise gestaltet ist, kommen dem Reisenden und seinen Begleitern - zu denen auch Wilhelm von Humboldt zählte - doch ständig eine Vielzahl anderer, vor der Revolution fliehender Reisender entgegen: Adlige, die "dem Rachschwerte des richtenden Volkes entkommen waren".73 Im Gegensatz zur Pilgerreise, deren aufsteigende Reiserichtung vorgegeben ist, wird die Reise in das Paris unmittelbar nach der Einnahme der Bastille als ein Schwimmen gegen den Strom bewußt inszeniert: Allenthalben schüttelt man den Kopf und warnt vor den Folgen der Weiterreise. 74 Damit wird die intellektuelle Herausforderung, welche von der Französischen Revolution ausgeht und von Campe vermittelt werden will, schon in der Reisebewegung bis zur Ankunft an den Rändern und schließlich im strahlenden Zentrum der Stadt markant hervorgehoben. Dort erst, nach dem Durchqueren der

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Tristan (Anm. 19), S. 112: "L'infini frappait tous mes sens de stupeur: mon âme en était pénétrée, et, comme à ce pasteur du mont Oreb, Dieu se manifestait à moi dans toute sa puissance, dans toute sa splendeur." Die Gottesschau geht einher mit einer Ästhetisierung der gottgeschaffenen andinen Vulkanlandschaft, die mehrfach im Reisebericht Flora Tristans in Szene gesetzt wird. Joachim Heinrich Campe: Reise des Herausgebers von Braunschweig nach Paris im Heumonat 1789. Braunschweig 1790, hier zitiert nach Hanno Schmitt: Joachim Heinrich Campes Reise ins revolutionäre Paris (1789). In: Die Deutsche Schule (Weinheim) LXXXI, 1 (1989), S. 91. Ebda.: "Wohin wir kamen, schüttelte man über unsere Unvorsichtigkeit, zu einer Zeit, wo Tausende aus Frankreich flohen [...] nach dem Mittelpunkt alles Gräuels, nach Paris selbst, mutwilliger Weise hinreisen zu wollen, mißbilligend den Kopf."

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dunklen und abstoßenden Vorstädte, öffnet sich der Blick des Reisenden und macht helleren Visionen Platz: "Hier dehnte sich unser Horizont auf einmal, wenigstens stromauf- und abwärts, zu einer unbeschreiblich schönen und großen Perspektive aus; und der widerliche Eindruck, den der bis dahin von uns gesehene Theil der unförmlichen Riesenstadt auf uns gemacht hatte, löste sich hier plötzlich in Bewunderung und Erstaunen auf." 75 Die Frage, ob diese Bewegung faktentreu ist und sich an der tatsächlichen Reise Campes orientiert, kann dabei nur einen Aspekt dieser Passagen und des gesamten Textes ausschöpfen. Die geschickte Inszenierung als hermeneutische Annäherung an ein strahlendes Zentrum, aus dem viele andere fliehen, deutet auf den zugleich vieldeutigen und friktionalen Status ebenso des Reiseberichts wie auch seiner Briefe aus Paris76, die sich so sehr von Campes anderen Schriften abheben. 4. Eine weitere Grundfigur der Reise als Verstehensbewegung ist der Stern. Es ist aufschlußreich, daß Alexander von Humboldt bei seiner Reise durch die spanischen Kolonien in Amerika zweimal vom itinerarischen Schema des Reisewegs abwich und in beiden Fällen Texte entstanden, die in die Relation historique, den »eigentlichen« Reisebericht, nicht mehr zu integrieren waren. Versuchte Humboldt noch im dritten und letzten Band seiner Fragment gebliebenen Relation, den später separat publizierten Essai politique sur l'île de Cuba dem fortlaufenden Text anzugliedern, so hatte er schon zuvor seinen Essai politique sur le Royaume de la Nouvelle Espagne als unabhängiges Werk veröffentlicht. Bislang wurden eher pragmatische oder wissenschaftsgeschichtliche bzw. länderkundliche Gründe dafür angeführt, daß es nicht zur Schaffung eines zusammenhängenden Reiseberichts, sondern zu voneinander unabhängigen Teilpublikationen kam. In der Humboldt-Forschung wurde bislang noch nicht gesehen, daß es sich in beiden Fällen um gänzlich andere Raumstrukturen handelt, insoweit Humboldt mit Havanna und Mexico zwei städtische Zentren fand, deren Archive und Bibliotheken er nutzen konnte, Städte, die ihm zugleich aber auch als Ausgangspunkte für mehr oder minder kurze Reisen und Exkursionen dienten. Dieser vierte Typus einer Bewegung im Raum geht von einem bestimmten Zentrum aus, das als Ausgangspunkt für mehr oder minder kreisförmig verlaufende »Ausflüge« dient, und führt zu einer sternförmigen Erweiterung 75 76

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Ebda., S. 92. Joachim Heinrich Campe: Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution geschrieben. Braunschweig 1790; diese Briefe erschienen ursprünglich zwischen Oktober 1789 und Februar 1790 im Braunschweigischen Journal und entwerfen eine beeindruckend visionäre Schau der frühen Phase der Französischen Revolution.

Est-ce que l'on sait où l'on va?

des erfaßten Raumes. Die Dialektik von Fläche und Zentrum verläuft analog zu bestimmten politisch zentralisierten Strukturen, so daß es durchaus verständlich ist, daß Humboldt derart erkundeten (politischen) Räumen separate Buchveröffentlichungen widmete. In Lateinamerika entspricht eine solche Bewegung der Dialektik von Stadt und Land, von schriftkulturell geprägten Stadtgesellschaften und weiten nicht-städtischen Regionen, innerhalb derer sich die unterschiedlichsten kulturellen Systeme ansiedeln. Domingo Faustino Sarmiento hat in seinem Facundo diesen Gegensatz 1845 bekanntlich formelhaft auf die Antithese von Zivilisation und Barbarei zugespitzt. Ein sternförmig ausgreifendes und an die Stadt rückgebundenes Raummodell hat in Lateinamerika durchaus eine Reihe sehr spezifischer Konsequenzen für den Reisenden und Forscher. Benutzt er die Stadt als ständigen Ausgangspunkt, so sind die nicht-städtischen Regionen nur Bereiche, die der Forschungsreisende kurzfristig durchzieht, um Informationen zu sammeln, die von der Stadt aus - und aus der kulturellen Perspektive städtischer, an Europa orientierter Kultur - gesammelt, kategorisiert und bewertet werden. Längerfristige Aufenthalte in nicht-städtischen Regionen, die dem Reisenden als Ausgangspunkte dienen, sind im Lateinamerika des 19. Jahrhunderts deutlich in der Minderzahl. Eine wichtige Ausnahme freilich bilden die Missionarsberichte, deren Ort des Schreibens in der Mission selbst eine Art schriftkulturelles Mikroklima innerhalb in der Regel nicht-europäischer Kulturformationen bildet. Es wäre zweifellos eine lohnende Aufgabe, die Berichte von Missionaren nach den hier skizzierten Grundfiguren der Bewegung im Raum zu untersuchen, um festzustellen, inwieweit sie gegenüber den Berichten europäischer (Durch-) Reisender andere hermeneutische Raumstrukturen und Verstehensbewegungen bevorzugen. Dabei wäre vor allem zu erkunden, ob Modelle in ihr Schreiben Eingang fanden, die sich nicht den hier vorgestellten Typen zuordnen lassen und auf spezifisch christliche Muster der Exegese verweisen. Kehren wir zur Sternform räumlicher Bewegung zurück. Bei Reisebewegungen, die sich überlagernd zumindest tendenziell die Form eines Sternes erzeugen, handelt es sich natürlich auch um eine Grundfigur menschlicher Erfahrung und menschlichen Lernens. Diese Grundfigur findet sich etwa beim Kleinkind, das vom sicheren Zentrum der Mutter aus - und ähnlich bilden auch die großen Städte in Lateinamerika für den europäischen Reisenden kulturelle Stützpunkte ihrer Mutterländer - immer weitere Ausflüge macht und immer größere Gebiete seinem eigenen Wissen erschließt, um nach seinen Erkundungen zur Mutter zurückzukehren. Dies ist allerdings nicht nur eine vom Kleinkind befolgte Verfahrensweise, können wir hierin doch auch das Erfahrungs- und Expansionsmodell abendländischer Wissenschaft erkennen, die immer größere Bereiche - durchaus mit der Unregel-

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mäßigkeit eines Tintenfleckes - dem Eigenen einverleibt. Roland Barthes hat in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France im Januar 1977 ein derartiges Verstehensmodell im Raum vorgestellt: "Et je me persuade de plus en plus, soit en écrivant, soit en enseignant, que l'opération fondamentale de cette méthode de déprise, c'est, si l'on écrit, la fragmentation, et, si l'on expose, la digression, ou, pour le dire d'un mot précieusement ambigu: l'excursion. J'aimerais donc que la parole et l'écoute qui se tresseront ici soient semblables aux allées et venues d'un enfant qui joue autour de sa mère, qui s'en éloigne, puis retourne vers elle pour lui rapporter un caillou, un brin de laine, dessinant de la sorte autour d'un centre paisible toute une aire de jeu, à l'intérieur de laquelle le caillou, la laine importent finalement moins que le don plein de zèle qui en est fait." 77 Die diskursiven Bewegungen, etymologisierend versinnbildlicht in den allées et venues des Kindes, erzeugen einen sich ausweitenden Bereich der Kenntnis, den wir auch bereits für das Kleinkind als den je eigenen Forschungsbereich definieren können. Bei dieser sternförmigen Raum- und Verstehensstruktur gilt es freilich immer zu berücksichtigen, daß es sich um (zumindest zeitweise) zentrierte Wissensstrukturen handelt. Der Leser folgt derartigen Exkursionen und Digressionen stets in dem Bewußtsein, wohlbehalten wieder an den Ausgangsort zurückkehren zu können. Die hermeneutische Bewegung ist die eines stetigen und mehr oder minder regelmäßigen Alternierens zwischen der Aufnahme neuer Phänomene und deren Eingliederung in vorhandene Wissensbestände. Die Beliebtheit dieser Grundfigur in der Reiseliteratur mag sich daraus erklären, daß sie Denkstrukturen und Formen der Wissensexpansion in den verschiedensten Gebieten anschaulich spatialisiert. 5. Die fünfte und letzte Grundfigur, die hier vorgestellt und diskutiert werden soll, ist, zumindest auf den ersten Blick, von etwas diffuser Natur. Sie betrifft einen Reisebericht, in welchem weder ein konkreter Ausgangspunkt noch ein konkreter Zielpunkt der Reise angegeben werden. Es ist nicht einfach, für das 18. oder 19. Jahrhundert Beispiele für derartige Reisebewegungen anzugeben. Ich möchte daher auf ein literarisches Beispiel, einen Roman aus dem 18. Jahrhundert zurückgreifen, Denis Diderots Jacques le fataliste et son maître. In der berühmt gewordenen Eingangsszene, in welcher der Erzähler mit dem Leser ein fiktives Zwiegespräch über die Protagonisten dieses Textes führt, treten die spezifischen Grundstrukturen der Reisebewegung im Roman deutlich vor Augen: 77

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Roland Barthes: Leçon. Leçon inaugurale de la Chaire de Sémiologie littéraire du Collège de France prononcée le 7 janvier 1977. Paris 1977, S. 42 f.

Est-ce que l'on sait où l'on va? "Comment s'étaient-ils rencontrés? Par hazard, comme tout le monde. Comment s'appellaient-ils? Que vous importe? D'où venaient-ils? Du lieu le plus prochain. Où allaient-ils? Est-ce que l'on sait où l'on va? Que disaient-ils? Le maitre ne disait rien, et Jaques disait que son Capitaine disait que tout ce qui nous arrive de bien et de mal ici bas était écrit lahaut." 78 Die Erwartungsklischees der fiktiven Leserfigur werden ein ums andere Mal enttäuscht, ihre Fragen führen nur zu Gegenfragen. Der Zufall erscheint von Beginn an als eigentlicher Motor des Geschehens, und doch ist es, wie Erich Köhler in einer denkwürdigen Studie herausarbeiten konnte, ein Zufall, der im dialektischen Spiel mit der geschichtlichen Notwendigkeit ein in der jeweiligen historischen Situation angelegtes Mögliches entfaltet. 79 Dem Geschehen liegt ebenso wenig ein göttlicher Heilsplan zugrunde wie der Reise ein genau bestimmbarer Fahrplan. Herkunft und Zielort entziehen sich der Kenntnis des Lesers. Ein genau bestimmbarer Ort der Ankunft wird durch die Betonung einer radikalen Offenheit der Zukunft und des weiteren Reisewegs ersetzt: Weiß man denn, wohin die Reise geht? Ist dem Menschen die Verfügbarkeit über Anfangs- und Endpunkt seines irdischen Lebensweges entzogen, ist ihm also der bewußte und reflektierte Zugang zum Augenblick seiner Geburt - deren Spuren der Körper tragen kann, ohne daß dies doch mehr als eben Spuren wären - wie zum Augenblick seines Todes verwehrt, so bietet ihm der Roman kompensatorisch die Verfügbarkeit über ein gesamtes Leben, über vollständige Lebensläufe an. Dieser Zugriff auf eine Totalität an Leben und Lebenserfahrung aber wird dem fiktiven Leser in der Eingangspassage von Diderots Roman gerade verwehrt. Diese Ent-täuschung prägt die gesamte Handlungsstruktur des Romans, der sich an seinem »Ende« auf verschiedene, teilweise intertextuell zurückverweisende Varianten öffnet. Don Quijotes Reiseweg und die experimentelle Romanform von Sternes Tristram Shandy führen das itinerarische Schema mit seinen Digressionen, Exkursionen und Unterbrechungen zugleich vor und ad absurdum. Der Roman entzieht sich ostentativ der Verfügungsgewalt seines Lesers. Analog zum Roman offeriert auch der Reisebericht seinem Leser gattungskonform eine Totalität, die Verfügungsgewalt über eine Reise in ihren

78 79

Denis Diderot: Jacques le fataliste et son maître. Edition critique par Simone Lecontre et Jean Le Galliot. Genève 1977, S. 3. Vgl. Erich Köhler: Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit. München 1973, sowie ders.: »Est-ce que l'on sait où l'on va?« Zur strukturellen Einheit von »Jacques le Fataliste et son Maître« In: Ders.: Vermittlungen. Romanistische Beiträge zu einer historisch-soziologischen Literaturwissenschaft. München 1976, S. 219-239.

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Wegeplänen und Abweichungen, aber auch bezüglich ihres Anfangs wie ihres Endes gewährt. Unsere Beleuchtung reiseliterarischer Orte hat gezeigt, wie wichtig die topische Modellierung von Abfahrt, Ankunft oder Rückkehr ist. Oft sind den Reiseberichten des 18. und 19. Jahrhunderts einführende Bemerkungen vorangestellt, in denen der Leser paratextuell nicht nur über den Beginn, sondern auch über die »Konzeption«, die »Empfängnis« des Reiseprojekts und dessen spätere »Austragung« und Realisierung, in Kenntnis gesetzt wird. Damit gewährt der Reisebericht des 18. und 19. Jahrhunderts seinem Leser freien Zugang zu einem gesamten Lebensweg, den der Leser buchstäblich nach-gehen und in seinen wahmehmungsspezifischen Aspekten nach-vollziehen kann. Die Faszination des Reiseberichts geht nicht zuletzt auf die libidinöse Besetzung der Verfügungsgewalt über Gedankenbewegungen zurück, die unbegrenzt wiederholt werden können. Vielleicht wäre dies eine mögliche Antwort auf das Rätsel, vor das Lévi-Strauss im Anfangskapitel seiner Tristes Tropiques seinen Text wie seinen Leser in paradoxer Weise stellte: "Pourtant, ce genre de récit rencontre une faveur qui reste pour moi inexplicable. L'Amazonie, le Tibet et l'Afrique envahissent les boutiques sous forme de livres de voyage, comptes rendus d'expédition et albums de photographies où le souci de l'effet domine trop pour que le lecteur puisse apprécier la valeur du témoignage qu'on apporte. Loin que son esprit critique s'éveille, il demande toujours davantage de cette pâture, il en engloutit des quantités prodigieuses." 80 Unter der Kapitelüberschrift La fin des voyages macht der französische Anthropologe und Mythenforscher in der angeführten Passage seiner Tristes Tropiques nicht nur auf das Faszinosum Reisebericht, sondern auch auf dessen rezeptionsästhetische Aporien aufmerksam. Das Verschlingen von Reiseberichten erzeugt gerade nicht den kritischen Leser, sondern führt vielmehr zu einer fast im Wiederholungszwang vollzogenen Lektüre immer neuer Berichte. Auf unsere Argumentationslinie bezogen bedeutet dies, daß die »unerklärliche Gunst« des Reiseberichts beim Publikum in der Spatialisierung hermeneutischer Prozesse liegt, die vom Leser qua Lektüre nachvollzogen werden können, daß aber gerade dieser Nachvollzug, dieses bloße Nachgehen bestimmter vorgegebener Reisewege, nicht den kritischen, sondern nur den konsumierenden, den Text verschlingenden Leser anzuziehen scheint. Einer solchen Lektürehaltung aber stemmt sich die fünfte und letzte der hier genannten Grundfiguren von Verstehensbewegungen im Reisebericht entgegen. Die radikale Offenheit von Herkunft und Zukunft, die sich gattungskonformen Erwartungshaltungen aktiv und kreativ wider80

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Claude Lévi-Strauss: Tristes Tropiques. Paris 1984, S. 10.

Est-ce que l'on sait où l'on va?

setzt, öffnet hier unsere Modellbildung auf Formen, die nicht mehr als kohärente und abgeschlossene Bewegungen verräumlicht werden können. Wohin aber geht dann die Reise des Reiseberichts?

Ein Reisebericht ohne Reise? Was geschieht, wenn dem Leser des Reiseberichts - wie in Diderots Jacques le fataliste dem Leser des Romans - der Zugang zur Totalität durch Fragmentierung und radikale Offenheit narrativer Strukturen entzogen wird? Kann ein solch offener, dem Stationenschema des neuzeitlichen Reiseberichts mit seiner Inszenierung reiseliterarischer Orte sich entziehender Text überhaupt noch Reisebericht genannt werden? Stoßen wir hier nicht an die Grenze der Gattung, ja an die Grenze der Lesbarkeit? Roland Barthes hat sich vor einem Vierteljahrhundert dieser Frage gestellt: "Que serait le récit d'un voyage où il serait dit que l'on reste sans être arrivé, que l'on voyage sans être parti, - où il ne serait jamais dit qu'étant parti, on arrive ou n'arrive pas? Ce récit serait un scandale, l'exténuation, par hémorragie, de la lisibilité." 81 Die »fundamentale Forderung des Lesbaren«, so heißt es im selben Abschnitt von S/Z, zielt auf die Vollständigkeit, die funktionale Abgeschlossenheit eines Textes, dessen einzelne Teile funktional miteinander verbunden sein müssen. Vier Momente eines solchen Textes hebt Barthes hervor: partir / voyager / arriver / rester,82 Meines Wissens gibt es keinen Text, der ähnlich programmatisch und poetologisch radikal wie Diderots Jacques le fataliste dies für die Gattung des Romans tat - bereits im 18. Jahrhundert experimentelle Formen des Reiseberichts entwickelt hätte. Man könnte deshalb von einer poetologischen »Verspätung« des Reiseberichts gegenüber der Gattung des Romans sprechen, was nicht zuletzt im gattungstheoretischen Ort der Reiseliteratur und ihrer traditionellen Anbindung an diktionale Ausdrucks- und Lesemuster begründet sein dürfte. Roland Barthes hat bisweilen in seinen theoretischen Schriften, häufiger aber in seinen eigenen Reiseberichten auf dieses theoretische Defizit reagiert. Die Reisefragmente von einer Griechenlandreise aus dem Jahr 1938, die Barthes 1944 veröffentlichte, die auf Erfahrungen der sechziger Jahre zurückgehenden marokkanischen Skizzen, die postum unter dem Titel Incidents erschienen, und das zeitgleich mit S/Z im Jahre 1970 veröffentlichte Japanbuch L'Empire des signes weisen eine fortschreitende Auflösung traditioneller Grundstrukturen 81 82

Roland Barthes: S/Z. Paris 1970, S. 112. Ebda.

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des Reiseberichts auf. Während in den Incidents noch Reisebewegungen in verschiedenen Fortbewegungsmitteln erscheinen, sind in L'Empire des signes bis auf wenige, allerdings präzise ausgestreute Spuren die Elemente partir, voyager und arriver getilgt. So verschwindet die materielle Reisebewegung weitgehend aus dem Text, der sich allein noch seinen eigenen Bewegungen anvertraut. Damit rückt Barthes' Schreiben von einem für ihn wichtigen Bezugsautor, Montaigne, ab, der "sein Schreiben dem Wandern oder Spazierengehen" verglich und "im Unterwegs-Sein schon den Sinn und das Ziel des Reisens" erblickte. 83 Den Marokko und Japan gewidmeten Texten liegen zwar in der Realität mehrfache Reisen und mehr oder minder kurze Aufenthalte in beiden Ländern zugrunde, so daß in bezug auf die realen Reiseaktivitäten Barthes' von der Grundfigur des Oszillierens zwischen zwei oder mehreren Ländern und Kulturen gesprochen werden kann; doch weist vor allem der Japan gewidmete literarische Text in seiner Anlage keine Strukturen mehr auf, die dem Leser bereitwillig das Oszillieren zwischen zwei Welten als hermeneutisches Grundschema präsentieren würden. Der Reisebericht entzieht sich hier dem Zwang, einen klaren Anfang und ein klares Ende zu bestimmen, reiseliterarische Orte zu modellieren und in einen wie auch immer gestalteten narrativen Ablauf einzubeziehen. Und doch ist - wie der Erfolg von L'Empire des signes zeigt - das Faszinierende des Reiseberichts bei diesem Experiment nicht verloren gegangen. Die Reiseberichte des 18. und 19. Jahrhunderts entwickeln ihre Anziehungskraft keineswegs allein aus ihrem Bezug zu einer außersprachlichen Wirklichkeit, zu einer wie auch immer bestimmten kulturellen Alterität oder zur historisch verbürgten Figur des Reisenden selbst. Daß es nicht primär der Realitätsbezug ist, der das Publikum begeistert, mag auch durch den derzeitigen Erfolg touristischer Reiseangebote belegt werden, die dem Reisenden nicht nur die Reisewege bestimmter historischer Gestalten (etwa Martin Luthers), sondern auch erfundener Figuren (wie Cervantes' Ritter von der traurigen Gestalt) anbieten. Der Reisende eignet sich nicht so sehr einen historischen Reiseweg an als eine hermeneutische Bewegung, welche die (materiellen wie wahrnehmungsspezifischen) Bewegungen beim Lesen des Textes verdoppelt. Dabei kann auch die Reise »auf den Spuren« einer historischen oder literarischen Figur zu einer Erfahrung des Friktionalen werden, wenn dem Reisenden nicht widerfährt, was auch dem Leser von Reiseberichten widerfahren kann: diese ausschließlich an eine bestimmte (zweifellos hypostasierte) außersprachliche »Realität« rückzubinden. Der im 18. und 19. Jahrhundert beobachtbare und auch im 20. Jahrhundert noch anhaltende Erfolg der hybriden Gattung des Reiseberichts beruht vor 83

74

Wuthenow (Anm. 40), S. 84.

Est-ce que l'on sait où l'on va?

allem auf einer Spatialisierung von Denkstrukturen und Verstehensbewegungen, deren Hermeneutik vom Leser anhand bestimmter für seine Wahrnehmung stilisierter Orte leicht nachvollzogen werden kann. Versuche, aus dieser itinerarischen Struktur auszubrechen, können als Experimente verstanden werden, die darauf abzielen, den Leser aus der von Lévi-Strauss beobachteten passiven Rolle zu befreien, die ihm das simple Nachvollziehen bestimmter dargestellter Erfahrungen konsumträchtig nahelegt. Der Leser soll damit nicht bloßer Nachvollzieher hermeneutischer Bewegungen sein, sondern zum aktiven Leser werden, dessen Dialog mit dem Text die eigentliche Reisebewegung erzeugt. Ein Reisebericht ohne Reise? Es gibt ihn, insofern er weniger auf die nachzuvollziehenden Bewegungen des Verstehens als auf ein dialogales Verstehen in Bewegung abzielt.

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Ottmar Ette

fíg la: A. v. Humboldts Skizze vom Río Magdalena (Ausschnitt)

svilii,/

fíg. Ib: A. v. Humboldts Skizze vom Río Magdalena (Ausschnitt)

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Est-ce que l'on sait où l'on va?

fig. 2: Karte des Magdalenenstromes

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Ottmar Ette

fig. 3: Schematische Skizze des Chimborazo

fig. 4: Pflanzengeographisches Profil der Andenkette

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MICHAEL HARBSMEIER

Von Nutzen und Nachteil des Studiums älterer Reiseberichte: Zur Wiederentdeckung Hans Stadens im 19. und 20. Jahrhundert Die Wiederentdeckung Lateinamerikas im 19. Jahrhundert war auch eine Wiederentdeckung der älteren Reiseberichte, die Jahrhunderte zuvor die "newe Welt" einem europäischen Publikum vorgestellt haben. Ich möchte dies im folgenden anhand der Rezeptionsgeschichte eines deutschen Reiseberichts aus dem 16. Jahrhundert etwas genauer verfolgen. 1

Sendepause Daß man sich mit älteren Reiseberichten aus sehr verschiedenen Gründen beschäftigt hat, macht das Beispiel Hans Stadens ganz besonders deutlich. Sein Buch mit dem Titel Warhaftig Historia und beschreibung eyner Landtschafft der Wilden / Nacketen / Grimmigen Menschfresser Leuthen / in der Newenwelt America gelegen / vor und nach Christi Geburt im Land zu Hessen unbekant / biß uff diser nechst vergangene jar / Da sie Hans Staden von Homberg auß Hessen durch sein eygne erfarung erkant / und yetzo durch den truck an tag gibt kam erstmals im Jahre 1557 auf den Markt 2 . Daß es noch im Erscheinungsjahr drei weitere Nachdrucke erfahren und es bis zum Ende des 16. Jahrhunderts auf insgesamt vierzehn verschiedene Nachdrucke sowie lateinische und holländische Übersetzungen gebracht hat, läßt auf ein reges Interesse bei zeitgenössischen Käufern und Lesern schließen. Die Tatsache, daß Hans Stadens Gefangenschaftsbericht auch in die Reisesammlungen von Feyerabend (1567) und de Bry (Dritter Band, lateinisch 1592, 1

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Für eine mentalitätsgeschichtliche Deutung der Stadenschen Reisebeschreibung siehe Michael Harbsmeier: Wilde Völkerkunde. Andere Welten in deutschen Reiseberichten der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1994, bes. S. 97-121. Nicht mehr berücksichtigen konnte ich dort oder in diesem Aufsatz die Arbeit von Annerose Memminger: Die Macht der Augenzeugen. Neue Welt und Kannibalen-Mythos 1492-1600. Stuttgart 1995 (=Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte, Bd. 64). Zu den bibliographischen Angaben zu den verschiedenen Ausgaben bis 1944 siehe Karl Fouquet: Bibliografía da "Verdadeira Historia" de Hans Staden. Boletín Bibliográfico Nr. 4, Säo Paulo 1944, S. 7-31. Weitere Angaben sind der sogenannten "großen Ausgabe" zu entnehmen, die 1964 von Reinhard Maack und Karl Fouquet in Marburg herausgegeben worden ist.

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Michael Harbsmeier

deutsch 1593) aufgenommen worden ist, bezeugt, daß die rege Nachfrage ebenso anderen zeitgenössischen Reiseberichten über die Neue Welt gegolten hat. Dennoch lassen auch die nachfolgenden 31 Nachdrucke und Neuausgaben, die der Beschreibung seines Aufenthalts bei den Indianern an der brasilianischen Ostküste bis 1736 zuteil geworden sind, kaum Schlüsse auf die Art der Motive und Interessen zu, die so viele Käufer, Leser und Verleger dazu bewogen haben, sich dieses Buches anzunehmen. Sicher ist nur, daß das Buch in der Zeit von 1557 bis 1736 viel gekauft und wohl auch gelesen worden ist. Zwar wurden von Hans Stadens Reisebericht von 1665 bis 1736 noch zwölf weitere holländische Ausgaben aufgelegt, aber zwischen 1665 und 1859 hat sich anscheinend kein deutscher Verleger für den Reisebericht gefunden. Diese fast zweihundert Jahre anhaltende rezeptionsgeschichtliche "Sendepause 1 ^ markiert einen Wendepunkt zwischen dem zeitgenössischen oder zeitgeschichtlichen Interesse an Stadens Buch als Informationsquelle über Verhältnisse und Ereignisse in der Neuen Welt auf der einen Seite und verschiedenen Formen des historischen Bemühens um einen "älteren Reisebericht" andererseits. Auf bibliographischer Grundlage läßt sich über die frühen Leser des 16. bis 18. Jahrhunderts und deren Interessen nur wenig ausmachen. Mehr läßt sich über die historischen Bemühungen des 19. und 20. Jahrhunderts in Erfahrung bringen.

Ein älterer Reisebericht Als Henri Ternaux 1837 Stadens Buch in die Sammlung Voyages, Relations et Mémoires Originaux pour servir à l'histoire de la découverte de l'Amérique aufnahm und Karl Klüpfel es im Jahr 1859 zusammen mit Nikolaus Federmanns ebenfalls ursprünglich 1557 erschienener Reisebeschreibung Indianische Historia4 in der Serie Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart ein weiteres Mal herausgab, ging es nicht länger in erster Linie um die "Neue Welt", sondern um Geschichte: um, wie bei Ter-

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Wenn man holländische und französische Ausgaben mitrechnet, ergibt sich eine entsprechende "Sendepause" von nur etwas mehr als hundert Jahren: von der holländischen Ausgabe aus dem Jahr 1736 bis zu der französischen Übersetzung aus dem Jahr 1837. Ulrich Schmiedel: Indianische Historia. Ein schöne kurtzweilige Historia Niclaus Federmanns des Jüngeren von Ulm erster Raise so er von Hispania und Andolosia ausz in Indias des Oceanischen Mörs gethan hat, und was ihm allda ist begegnet bisz auff sein Widerkunfft inn Hispaniam, auffs kurtzest beschriben, gantz lustig zu lesen. Hagenaw 1557.

Vom Nutzen und Nachteil des Studiums älterer Reiseberichte

naux-Compans, europäische Entdeckungsgeschichte, oder, wie bei Klüpfel, um deutsche Literaturgeschichte. Im 19. und 20. Jahrhundert taucht der Name Hans Staden häufig in Zusammenhang mit der Geschichte der Geographie und Völkerkunde auf. Im Buch des Geographen und Ratzel-Schülers Viktor Hantzsch über Deutsche Reisende des 16. Jahrhunderts heißt es zum Beispiel, daß "sich Staden einen dauernden Namen in der Geschichte der Geographie, namentlich der Völkerkunde erworben" 5 habe. Der Göttinger Völkerkundler Hans Plischke nennt in seinem Werk Von den Barbaren zu den Primitiven. Die Naturvölker durch die Jahrhunderte Stadens Buch "eines der besten völkerkundlichen Quellenwerke aus der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts über Brasilien", 6 und ähnlich positiv lauten die Urteile bei Max Pannwitz in seinem Bericht über Deutsche Pfadfinder des sechzehnten Jahrhunderts in Afrika, Asien und Südamerika,7 in Karl Heinrich Panhorsts Deutschland und Amerika. Ein Rückblick auf das Zeitalter der Entdeckungen,8 oder in Erich Mindts Ein Deutscher war der Erste. Kämpfer und Forscher jenseits der Meere? Nicht immer allerdings waren in ähnlich durchschaubarer Weise nationale oder nationalistische Interessen in der geographiegeschichtlichen Würdigung Stadens im Spiel. In Siegmund Günthers Geschichte der Erdkunde (1904) werden Stadens "lebensvolle Erzählungen" eher nur beiläufig als Quelle zur Kenntnis der brasilianischen Küste erwähnt. 1 0 Und Julius Pistor meinte 1920 entschieden verneinen zu können, daß "das geographische Wissen der damaligen Zeit durch Stadens Reisen wesentlich gefördert worden" sei. 11 In Horst Ebersohls Zulassungsarbeit zum Staatsexamen für das Lehramt am Gymnasium mit dem Titel Hans Staden von Homberg als Vorläufer der modernen Geographie - Analyse seiner geographischen Auffassung wird Stadens Werk zwar als "ein Glied in der Kette, welche die Entwicklung der Landschaftsidee [...] an der Wende des Mittelalters zur Neuzeit darstellt" 12 , gewürdigt, aber Staden habe nur einen Anfang gemacht, "den Charakter 5 6 7 8 9 10

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Viktor Hantzsch: Deutsche Reisende des sechzehnten Jahrhunderts. Leipzig 1895 (=Leipziger Studien aus dem Gebiet der Geschichte, Erster Band, viertes Heft), S. 59. Leipzig 1926, S. 73. Stuttgart 1911, S. 35-77. München 1928. Berlin/Ulm 1942. Auf S. 237, zit. nach Horst Ebersohl: Hans Staden von Homberg als Vorläufer der modernen Geographie - Analyse seiner geographischen Auffassung (ungedruckte Zulassungsarbeit zum Staatsexamen für das Lehramt am Gymnasium). Saarbrücken 1965, S. 117. Ich möchte an dieser Stelle Horst Ebersohl dafür danken, mir eine Kopie seiner Arbeit zur Verfügung gestellt zu haben. Zit. nach Ebersohl (Anm. 10), S. 117. Ebda., S. 115.

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Michael Harbsmeier einer Erdgegend, die 'Landschaft' darzustellen", 13 und müsse somit als ein Vorläufer der Geographie angesehen werden: "Zum eigentlichen Geographen fehlte ihm noch das Bewußtsein seines Tuns, die Grundvoraussetzung der Wissenschaft". 14 Wesentlich positiver sind die Urteile im Bereich der (Vor-) Geschichte der Völkerkunde ausgefallen: "Die Schilderungen Stadens sind bei aller Kürze und Anspruchslosigkeit gründlich und genau" urteilt Friedrich Ratzel in seinem schon zitierten Staden-Beitrag in der Allgemeinen Deutschen Biographie,, und fügt hinzu: "Der ethnographische Abriss, den er [i.e. Staden] im zweiten Theile unter dem Titel 'Warhafftiger Bericht' gibt, ist lehrreicher als manches Buch, das späterhin gebildetere Beobachter über Brasilien geschrieben haben. Staden hatte Gelegenheit, alle Sitten und Gebräuche der Indianer während seiner langen Gefangenschaft kennen zu lernen, er beobachtet unbefangen und schildert ungeschminkt und vorurtheilslos. Fast könnte man sagen, sein 'Warhafftiger Bericht' sei das Muster einer gedrängten, alles Wesentliche widergebenden Völkerschilderung." 15 Ratzels Vorbehaltlosigkeit wird allerdings nicht von allen Kommentatoren geteilt. Bei Viktor Hantzsch heißt es, daß Staden zwar "ein anschauliches und lebenswahres Bild von den Ländern und Völkern, die er geschaut hat", entwerfe, und sich überall als gewissenhafter Beobachter zeige, daß er aber auch "in den Irrtümern seiner Zeit befangen" sei. 16 Und Hans Plischke moniert, daß Staden "besonders gern bei der Schilderung von Menschenfressereien und grausamen Sitten" verweile: "Man hatte eben das Bestreben, die Völker ferner Länder möglichst wild und roh darzustellen." 17 Nicht nur in Deutschland hat man sich für Staden interessiert. Im 17. und frühen 18. Jahrhundert sind viele lateinische, französische und insbesondere holländische Übersetzungen von Stadens Bericht erschienen, auf englisch aber ist das Buch erst 1874 erstmals von Richard F. Burton für die Hakluyt Society herausgegeben worden, während Malcolm Letts 1928 eine zweite englische Version in der Serie Broadway Travellers herausgab, die dann 1929 auch in den USA in der Argonaut Series veröffentlicht wurde, ohne damit viele Kommentare hervorgerufen zu haben. In Frankreich hingegen hat sich insbesondere Alfred Metraux in den zwanziger Jahren für die Indianer der brasilianischen Ostküste des 16. Jahrhunderts interessiert, die Hans 13 14 15 16 17

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Ebda. Ebda., S. 116. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 35, 1893, S. 366. Hantzsch (Anm.5), S. 65. Plischke (Anm. 6), S. 74.

Vom Nutzen und Nachteil des Studiums älterer Reiseberichte

Staden so ausführlich beschrieben hat. In seinem Buch La religion des Tupinamba et ses rapports avec celle des autres tribus Tupi-Guarani beurteilt Métraux die Quellenlage im allgemeinen äußerst positiv: "Depuis 1499 jusqu'au milieu du XVIIe siècle, ils ont été visitées par un grand nombre de voyageurs et de missionnaires de nationalités diverses qui nous ont laissé de leur vie et de leurs mœurs des tableaux extrêment fidèles. Plusieurs de ces avaient un grand talent d'observation et un souci de la vérité que l'on ne retrouve que dans les œuvres des savants modernes. Nous sommes donc placés pour l'étude des Tupinamba dans des conditions très favorables." 1 8 Aber obwohl Métraux im Laufe seiner Darstellung ausgiebig Staden als Quelle ganz besonders zum rituellen Kannibalismus der Tupinamba auswertet, wird Staden in seiner Präsentation der Quellen nicht erwähnt. Auch spätere französische Behandlungen des Themas Kannibalismus im sechzehnten Jahrhundert machen übrigens von Staden nur eher beiläufigen Gebrauch, um sich statt dessen auf die ungefähr gleichzeitigen französischen Quellen, auf André Thevet und insbesondere Jean de Léry, zu stützen. 19 Es kann kaum verwundern, daß sich in Brasilien ein ganz besonders intensives, wenn auch vergleichsweise spätes Interesse an Hans Staden entwickelt hat. Die erste portugiesische Version, die 1892 in Rio de Janeiro erschien, war nur eine stark gekürzte Übersetzung aus dem Französischen, so daß eigentlich erst mit der 1900 in Säo Paulo anläßlich der Vierhundertjahrfeier der Entdeckung Brasiliens erschienenen Ausgabe 20 von einem portugiesischen Staden die Rede sein kann. 1920 folgte dann aber eine weitere, deutsche Ausgabe in Buenos Aires als Sonderdruck der Zeitschrift des Deutschen Wissenschaftlichen Vereins, die aus diesem Anlaß auch drei Aufsätze zum Thema Staden veröffentlichte. 21 Bis 1942 erschienen sieben weitere portu18 19

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Alfred Métraux: La religion des Tupinamba et ses, rapports avec celle, des autres tribus Tupi-Guarani. Paris 1928 (=Bibliothèque de l'École des Hautes Études, Sciences Religieuses, Bd. 45), S. 1. Zuletzt und zusammenfassend Frank Lestringant: Le Huguenot et le sauvage. L'Amérique et la controverse coloniale, en France, au temps des Guerres de Religion (1555-1589). Paris 1990; Frank Lestringant: L'atélier du cosmographe ou l'image du monde à la Renaissance. Paris 1991. Siehe auch Michel de Certeau: Ethno-graphie. L'oralité ou l'espace de l'autre: Léry. In: Michel de Certeau, L'écriture de l'histoire. Paris 1975, S. 215-273; Bernadette Bûcher: La sauvage aux seins pendants. Paris 1977. Karl Fouquet: Hans Staden von Brasilien aus gesehen. In: Hessische Heimat Nr. 5, 1956/57, S. 7-11. Artikel von Klaudius Bode, Robert Lehmann-Nitsche und Julius Pistor in der Zeitschrift des Deutschen Wissenschaftlichen Vereins, 6. Jahrgang, Heft 4-6, 1920.

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giesische Ausgaben in Brasilien, hierunter 1927 auch eine Fassung für Kinder. 2 2 Nicht zuletzt die in Brasilien lebenden Deutschen und die aus Deutschland stammenden Brasilianer haben sich seit der Zwischenkriegszeit intensiv mit Staden beschäftigt. So erschien 1941 auf deutsch eine weitere Version als erster Band der Publicagöes da Sociedade Hans Staden und, ein Jahr später, eine portugiesische Übersetzung als dritter Band derselben Serie, herausgegeben von dem späteren Direktor des Hans Staden-Instituts in Säo Paulo, Karl Fouquet. Eine Hans Staden-Gesellschaft soll schon 1916 in Säo Paulo gegründet worden sein, während das Hans Staden-Institut in Säo Paulo angeblich am 12. Oktober 1946 aus der Taufe gehoben wurde. 23 Mehr Glauben als dieser Darstellung wird man aber wohl den Worten des schon genannten späteren Direktors dieses Instituto Hans Staden de Ciencias, Letras e Intercämbio Cultural Brasileiro Alemäo Karl Fouquet schenken dürfen: "Im Vergleich hiermit [mit den Aktivitäten brasilianischer Verfasser] haben die hier [in Brasilien] ansässigen Deutschen und die Brasilianer deutscher Herkunft sich bis in die dreißiger Jahre hinein dem hessischen Pionier gegenüber gleichgültig gezeigt. Als erster unter ihnen wies seit dem Ende des ersten Weltkrieges der unermüdliche Erforscher der deutschen Einwanderung, Friedrich Sommer, mit Nachdruck auf Staden hin. Ein weiteres geschah 1935, als auf Anregung des Verfassers dieser Zeilen der damalige deutsche Lehrerverein und Schulverband für den Staat Sao Paulo den Namen des Hombergers annahm, und als 1938, nach Auflösung dieses Vereins, das jetzige Hans Staden Institut an die Überlieferung anknüpfte.'^ Fouquet selbst hat dieses Institut als eine Art Denkmal aufgefaßt: "Ein Denkmal in Stein oder Erz fehlt allerdings noch, aber das wollen wir gern entbehren, da 1938 in dem nach ihm benannten Institut ein Denkmal anderer Art geschaffen worden ist. Es dient der Erforschung der Beziehungen und dem Austausch kultureller Güter zwischen Brasilien und den deutschsprachigen Ländern." 25 Seit 1953 hat das Hans Staden-Institut, dessen nacheinanderfolgende Vorsitzende und Leiter Carvalho Franco, Egon Schaden und Karl Fouquet alle zur 22 23 24 25

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Fouquet (Anm. 20), S. 8. Gerhard Jacob: Zur Geschichte der Hans-Staden-Literatur. In: Hessische Heimat Nr. 5, 1956/57, S. 36f. Fouquet (Anm. 20), S. 8. Ebda., S. 10.

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Staden-Forschung beigetragen haben, auch ein Staden-Jahrbuch herausgegeben. Aber auch die Stadt Säo Paulo selbst hat sich zu einem ihrer Jubiläen des frühneuzeitlichen Reiseschriftstellers erinnert: "In der Ausstellung zur Vierhundertjahrfeier der Stadt Säo Paulo, 1954, waren mehrere Holzschnitte aus der Warhaftigen Historia in Lebensgrösse auf einer Wand wiedergegeben; neben jedem Bild befand sich eine Fotografie, die den entsprechenden Vorgang darstellte, aufgenommen bei Stämmen, die noch im Urzustand leben. Und die Übereinstimmung zwischen den vierhundert Jahre auseinanderliegenden Darstellungen wirkte, wie von den Veranstaltern beabsichtigt worden war, überzeugend." 26 Auch sind nach Staden Straßen und Wege nicht nur in Säo Paulo, sondern auch in Rio de Janeiro, dem Städtchen Ubatuba an der Küste Säo Paulos, von dem man früher meinte, es sei aus dem von Staden erwähnten Ubatuba hervorgegangen, sowie auf der Insel Santa Amaro benannt worden. 27 Diese letztgenannte Namensgebung war nur eine unter vielen Feierlichkeiten und Veröffentlichungen anläßlich der Vierhundertjahrfeier für die Ersterscheinung des Reiseberichts, die eifriger noch als in Brasilien in der hessischen Heimat des Verfassers begangen wurde. Das heimatkundliche Interesse an Hans Staden in Hessen kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Schon am 19. Dezember 1858 hielt der Marburger Professor der Philologie und Unterbibliothekar an der Universitätsbibliothek Carl Cäsar vor den Mitgliedern der Marburger Sektion des Hessischen Geschichtsvereins einen Vortrag über Hans Staden; 28 am 20. September 1913 hielt der Lehrer Wilhelm Neuhaus aus Hersfeld auf der Hauptversammlung des Knüllgebirgsvereins zu Hamburg über den "Amerikafahrer Hans Staden aus Homburg" eine Rede, die in der Zeitschrift Mein Heimatland auch veröffentlicht wurde; der schon genannte, in Brasilien ansässige Friedrich Sommer veröffentlichte 1925 einen Artikel unter der Überschrift Der Festungskommandant von Bertioga in der Zeitschrift Heimatschollen-, der Sanitätsrat Dr. C. Stolzenbach erwähnt Staden im Kreisblatt Nr. 179 vom 2. 8. 1925 in einem Aufsatz mit dem Titel Erinnerungen und Gedanken eines Hombergers; Taubstummenlehrer Heinrich Ruppel, Homberg, schrieb ebenfalls in den Jahren 1926 und 1927 über Hans Staden, den Brasilienfahrer im Heimatkalender des Kreises Homberg;29 Gustav Dittmar veröffent26 27 28 29

Ebda., S. 9f. Ebda. Hilmar Milbradt: Zu einem bisher unbekannten Brief des Hans Staden von Homberg in Hessen an den Grafen Wolrad von Waldeck. In: Hessische Heimat Nr. 5, 1956/57, S. 27-29. Karl Meers: Stadenforschung - Stadenehrung. In: Hessische Heimat Nr. 5, 1956/57, S. 29.

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lichte 1936 im Darmstädter Tageblatt einen Artikel über Hans Staden und 1942 schließlich zeichnete der Gewerbeoberlehrer Georg Gustav Löns aus Kassel ein Bild Hans Stadens in der Zeitung Hessenland. In den 50er Jahren hat das hessische Interesse an Staden einen weiteren Aufschwung genommen: Stadens Geburtsstadt Wolfhagen hat 1950 die Kastanien- und Lindenallee vor dem Obertor in "Hans Staden-Allee" umbenannt; Rektor Werner Ide aus Remsfeld bei Homburg gab 1950 eine Neufassung des Buches in dreizehn Folgen in der Zeitschrift Deine Heimat spricht heraus; Heinrich Ruppel schrieb 1950 und 1951 im Heimatkalender des Kreises Fritzlar-Homberg über Staden; von dem in Stalingrad gefallenen Pfarrer Heinrich Winter aus Wolfhagen wurde 1952 posthum der Aufsatz Ein deutscher Landsknecht beschreibt die Neue Welt im Heimatkalender des Kreises Wolfhagen veröffentlicht: der Lehrer und Stadtarchivar Wilhelm Hellwig hielt 1953 einen Lichtbildvortrag über Staden im Waldeckischen Geschichtsverein zu Korbach; Heinrich Ruppel schrieb nochmals im Gustav Adolf Kalender für 1955 den Artikel Hans Staden, der erste Lutheraner in Brasilien, und aus seiner Hand stammt auch das Gedenkblatt des Kasseler Sonntagsblatts vom 20. Mai 1956: Hans Staden aus Homberg; am 27. März 1956 fand in der Gesellschaft für Familienkunde für Kurhessen und Waldeck in Kassel eine Gedenkfeier für Hans Staden statt, mit Vorträgen von Kirchenrat Eduard Grimmel (Kassel), Lehrer Wilhelm Hellwig (Korbach) und dem Vermessungstechniker Karl Meers (Homberg); der Landwirt Wilhelm Winter aus Wolfhagen veröffentlichte im Mai 1956 einen Aufsatz mit dem Titel Hans Staden schreibt vor 400 Jahren über die Bienen in Brasilien in der Fachzeitschrift Die Biene; Karl Meers berichtete im Juni 1956 im sechsten Heft der Zeitschrift Vermessungstechnische Rundschau, Zeitschrift für das Vermessungswesen über Stadens Wirken in technischer Sicht. Ebenfalls im Jahre 1956 bildeten einige Mitglieder der Gesellschaft für Familienkunde für Kurhessen und Waldeck eine Arbeitsgemeinschaft mit dem Ziel einer "systematischen genealogischen sowie soziologischen Erforschung der Sippe Staden"30. Mit Heft 5 der Neuen Folge der Zeitschrift Hessische Heimat. Organ des Heimatbundes für Kurhessen und Waldeck und des Museumverbandes für Kurhessen, Waldeck und Oberhessen aus den Jahren 1956 und 1957 erreicht die hessische, heimatkundlich inspirierte Staden-Forschung ihren Höhepunkt. Die neun verschiedenen Artikel dieses Heftes geben erschöpfende Auskunft über die allerdings recht spärlichen Ergebnisse der intensiven

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Alle Daten stammen aus Meers (Anm. 29).

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Anstrengungen der eben genannten Arbeitsgemeinschaft in den verschiedensten Archiven. Alle diese archivalischen Befunde haben die hessische Staden-Forschung zu der Annahme bewegt, daß Gemand Staden der Vater und Joseph ein Bruder Hans Stadens war und daß Korbach seit der Mitte des 16. Jahrhunderts zum Hauptsitz der Familie Staden wurde. In den Korbacher Archiven wiederum hat Wilhelm Winter nicht weniger als 40 Träger des Namens Staden nachweisen können und in genealogischen Zusammenhang zu bringen versucht. Von diesen dürften nach den Annahmen Wilhelm Winters "fünf als Geschwister unseres Hans und über 20 als seine Neffen und Nichten angesetzt werden und vielleicht drei als seine Kinder". 31 Wilhelm Winter und die 1956 gebildete "Arbeitsgemeinschaft zur systematischen genealogischen sowie soziologischen Erforschung der Sippe Staden" sowie Karl Fouquet und das Instituto Hans Staden haben mit diesen Funden, Ergebnissen und Vermutungen also nicht unwesentlich zur Staden-Forschung im Sinne der Rekonstruktion der Lebensgeschichte und Familienverhältnisse des berühmten Reisenden beigetragen. Aber auch nach der Vierhundertjahrfeier seines Buches ist Staden als berühmtester Sohn der Stadt Wolfhagen in Ehren gehalten worden. Paul Görlichs aus Anlaß des 750-jährigen Bestehens der Stadt 1980 erschienene Geschichte der Stadt Wolfhagen räumt in dem Abschnitt "Bedeutende Persönlichkeiten und verdiente Bürger" Hans Staden bei weitem den größten Platz ein. 3 2 Und die Wolfhager Allgemeine berichtet am Freitag, dem 1. April 1981, nicht nur von einer Ausstellung über Hans Staden in der Kreissparkasse Wolfhagen, sondern kündigt sogar eine 86., dänische Ausgabe seines Buches an. Das nicht entdeckungs- und wissenschaftsgeschichtliche, sondern eher heimatkundliche, sowohl brasilianische als auch hessische, Interesse gilt dem Verfasser selbst fast mehr als seinem Bericht. Bei Karl Fouquet heißt es nicht nur: "Von Brasilien aus gesehen ist seine [Stadens] Gestalt die eines Wegbereiters, eines Pioniers", sondern noch nachdrücklicher: "Staden war ein schlichter, aber sittlich großer Mensch". Fouquet zitiert auch "den verstorbenen Direktor des Paulistaner Staatsarchives, Joäo Lelis Vieira", der "sein Urteil in die Worte zusammenfaßte: das Buch ist eine Schule, die den 31 32

Karl Fouquet: Hans Staden und sein Reisewerk. Einige Bemerkungen anläßlich der Vierhundertjahrfeier 1957. In: Staden Jahrbuch Nr. 5, 1957, S. 7-21. Paul Görlich Wolfhagen: Geschichte einer hessischen Stadt. Kassel 1980.

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Menschen zu aufrechter, würdiger und vornehmer Gesinnung und Haltung erzieht". 33 Friedrich Ratzels Urteil über die Persönlichkeit des Verfassers war noch eher zurückhaltend: "Uebrigens war St. allem Anschein nach zwar ein Mann von klarem Verstand, der das Herz auf dem rechten Fleck hatte, aber ohne gelehrte Bildung, ohne Sprachkenntnisse, der auch nach der Rückkehr sehr unvollkommene Begriffe von der Geographie Amerika's besaß, und aus einigen Eigenthümlichkeiten der Diction möchte man fast schließen, daß er die beiden Berichte nicht selbst geschrieben, sondern vielleicht dictirt habe." 34 Schon zwei Jahre später hebt der Ratzel-Schüler Viktor Hantzsch dahingegen die "tiefe Frömmigkeit" und "fromme Gesinnung" des "eifrigen Lutheraners" hervor. 35 Bei Karl Heinrich Panhorst 1923 macht Staden "den Eindruck eines sehr gewissenhaften und verständig beobachtenden Mannes". 36 Karl Fouquet konnte 1957 auf andere Darstellungen des Charakters unseres Helden verweisen: "Stadens Charakter ist oft von berufener Feder dargestellt worden: seine männliche, kameradschaftliche Haltung, Selbstlosigkeit, Wahrheitsliebe, scharfe Beobachtungsgabe, sein erfinderischer Geist, seine echte, mit einem schlichten, bescheidenen Wesen gepaarte Frömmigkeit und manche weitere Züge, die ihn achtens- und liebenswert erscheinen lassen." 37 Bei Heinrich Ruppel verdichtet sich das Lob, das schon in Johannes Dryanders Empfehlung in seiner Vorrede zur Erstauflage seinen Anfang genommen hat, zu weiteren hagiographischen Höhen. Ruppel schreibt von Stadens "fast kindliche[r] Frömmigkeit und [...] starkem Gottvertrauen", "Geduld und Leidensfähigkeit", davon "daß sich mit seiner Frömmigkeit eine praktische weltliche Klugheit verbindet", "eine[r] echt kameradschaftliche[n] Haltung", von "starke[n] Nerven", "bewundernswerte^] Selbstbeherrschung", "raschefr] Auffassungsfähigkeit", "Selbstlosigkeit", "Mannhaftigkeit", "Wahrheitsliebe" und "Bescheidenheit": "Alle Gefahren zu Wasser und zu Lande besteht er mit dem Mut und der Zuversicht eines gläubigen Christen, der seinen Kameraden Halt und Ermutigung bietet. [...] Er ist so stark im Ertragen von Schmerzen und 33 34 35 36 37

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Fouquet (Anm. 20), S . l l . Allgemeine Deutsche Biographie 1893, S. 366. Hantzsch (Anm. 5), S. 59f. Zit. nach Jacob (Anm. 23), S. 36. Fouquet (Anm. 20), S. 17.

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Leid, daß wir ihm eine bewundernswerte Gesundheit und Kraft zugestehen müssen. [...] Hans Staden war ein Mann, der es verdient, in dem grossen Lande Brasilien hochgeehrt zu werden, und auch würdig ist, daß ihn seine Heimat, das kleine Hessenland, in einem guten Gedächtnis behält und damit sich selbst ehrt." 38 Erst gegen Ende der 70er Jahre nahm das Interesse an Hans Staden nach diesem vorläufigen Höhepunkt einen neuen, nicht so sehr heimatgeschichtlichen als vielmehr wiederum entdeckungs- und wissenschaftsgeschichtlichen Anfang. In Urs Bitteriis 1976 erschienenem und seither mehrmals neuaufgelegtem Buch Die Wilden' und die 'Zivilisierten'. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung heißt es: "In völkerkundlicher Hinsicht interessanter und in manchen Passagen von bleibendem dokumentarischem Wert sind dagegen die beiden Reiseberichte von Ulrich Schmidel aus den La Plata-Ländem und von Hans von [sie!] Staden aus Brasilien [...] Gewiß fällt es sowohl Schmidel wie Staden noch recht schwer, von Klischeevorstellungen der südamerikanischen 'Wilden' loszukommen. [...] Wenn Staden davon berichtet, wie er in die Gewalt der Eingeborenen geraten sei und in höchster Gefahr geschwebt habe, verspeist zu werden, scheint die Lust am Fabulieren nicht ganz unbeteiligt gewesen zu sein." 39 Und Bitterli fährt fort: "Doch trotz solchen Mängeln, die beim zeitgenössischen Leser völlig phantastische Vorstellungen wecken mochten, boten sowohl Schmidel als auch Staden eine durch ihre naive Spontaneität und Detailfreudigkeit wichtige Darstellung der portugiesisch-indianischen Kulturberührung, deren Wert gerade der moderne Ethnologe zu schätzen weiß." 40 Eben diese Wertschätzung Stadens als Ausdruck einer sozusagen frühreifen Ethnographie, die von Ratzel bis Bitterli so oft wiederholt worden ist, 4 1 wurde 1979 erstmals von dem amerikanischen Anthropologen William

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Heinrich Ruppel: Lebens- und Charakterbild Hans Stadens. In: Hessische Heimat Nr. 5, 1956/57, S. 7. Urs Bitterli: Die 'Wilden' und die 'Zivilisierten'. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung. München 1976, S. 255. Ebda. Ratzels dictum, der zweite Teil von Stadens Buch sei "das Muster einer gedrängten, alles Wesentliche widergebenden Völkerschilderung", findet sich mit oder ohne Quellenangabe in vielen Kommentaren, Vor- und Nachworten zu Stadens Werk, z. B. bei Fouquet.

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Arens nachdrücklich angefochten, um kurz danach in direkter Polemik mindestens ebenso nachdrücklich wiederholt und begründet zu werden. William Arens versucht in seinem Buch The Man Eating Myth. Anthropology and Anthropophagy42 den Nachweis zu führen, daß es rituellen Kannibalismus trotz all der zahlreichen ethnographischen Zeugnisse nirgendwo jemals gegeben habe. Hans Staden ist als eine der angeblichen "first hand tales of cannibalism" das erste Opfer seiner kritischen Anstrengungen: "Less credible examples of cannibal tales are available and could be more deftly dealt with. Admittedly some of them creep into later chapters for the sake of comic relief, but it would not do to start with them." 43 - Arens erhebt erstens den Einwand, daß das Buch gar nicht von Staden selbst geschrieben worden sei. Ein gewisser "Dr. John Dryander" habe da mitgearbeitet, "a collaboration of some sort between the two" 4 4 habe stattgefunden, und da darüberhinaus auch die Holzschnitte von einem weiteren "specialist" verfertigt worden seien, charakterisiert Arens Stadens Reisebericht mit folgenden Worten: "At best the final product was produced under Staden's supervision. [...] Therefore we are not dealing with the work of a single individual trained in the craft of ethnography, but rather with a committee, only one of whom was on the scene". - Staden habe zweitens seinen Bericht erst neun Jahre nach seiner Heimkehr verfaßt. - Staden habe sich drittens weniger als zwölf Monate bei den Tupinamba aufgehalten und könne sich deswegen kein Urteil darüber erlauben, was mit den Kindern von Kriegsfangenen als Erwachsenen geschehe. - Die lakonische Bemerkung über die Unfähigkeit der Tupinamba, bis mehr als fünf zählen zu können, die sich am Schluß von Stadens Beschreibung des kannibalistischen Rituals befindet, zeuge viertens von Stadens ethnozentrischer Haltung: "What the author is attempting to convey in his simple way with this addendum is that the Tupinamba lack culture in the sense of basic

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William Arens: The Man Eating Myth. Anthropology and Anthropophagy. New York 1979. Über die Vorgeschichte des Buches wird der Leser im Vorwort unterrichtet: Als Arens eines Tages mitten im Semester von einem Studienanfänger gefragt wurde, warum er denn nicht lieber über Hexerei, Feldarbeitserfahrung und Kannibalismus unterrichte, anstatt über Verwandtschaft, Politik und Ökonomie zu lesen, erinnerte er sich seiner eigenen Interessen als Student und faßte den Plan, eine Vorlesungsreihe über Menschenfresser vorzubereiten. Während dieser Vorbereitungen hatte Arens ein Bekehrungserlebnis, das schließlich zu vorliegendem Buch geführt habe (Arens 1979: S. v). Arens (Anm. 42), S. 22. Ebda., S. 25.

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intellectual abilities. The inability to count is to him supportive documentation for the idea that these savages would resort to cannibalism". - Darüberhinaus bezweifelt Arens fünftens die angeblichen Sprachenkenntnisse Stadens. Aus dem Text gehe hervor, daß Staden zwar nicht mit einem Franzosen sprechen könne, wohl aber vorgibt, mit den Tupinamba in deren eigener Sprache gesprochen zu haben: "Apparently he had no facility in the language of his fellow European. However, Staden is able to provide the details of numerous conversations among the Indians themselves, even though he was with them for a relatively limited period". - Sechstens habe Staden die angeblichen Wortwechsel der Indianer untereinander und mit ihm selbst erst nach seiner Heimkehr rekonstruiert. "He is particularly adept at recounting verbatim the Indian dialogue on the very first day of his captivity. [...] Obviously he [...] was reconstructing the scene as he imagined it nine years before. The later dialogues in the text must also have been a reconstruction, since there is no indication he kept notes, even if he could write". - Siebtens habe Staden den Tupi-Indianem Deutschkenntnisse zugesprochen, die sie wohl kaum besessen haben: "In one scene, which stands as a testimony to Staden's memory and piety, he repeats the psalm 'Out of the depths have I cried unto thee.' The Indians respond: 'See how he cries; now he is sorrowful indeed'. One would have to assume that the Indians also had a flair for languages in order to understand and respond to Staden's German so quickly". - Achtens kommt noch eine "more subtle objection" hinzu, die nämlich, daß Staden den Kannibalismus ganz besonders den Frauen anlaste und eben dadurch ein weiteres Mal seine diskriminierenden Vorurteile unter Beweis stelle: "The females are represented [...] as the most savage of the savages." Eben diese Tatsache bringt Arens auf den Kern seines Anliegens: "As we are all too well aware [...] prejudices depicting the unsavory nature of a minority have little if any bearing on empirical reality. Instead, such caricatures function as ideological props in a system of repression in the service of the majority". 45 Alle diese Einwände, die bei Arens noch durch die nicht näher begründete Behauptung vervollständigt werden, daß andere Augenzeugen wie André Thévet, Jean de Léry und Anthony Knivet von Staden abgeschrieben hätten (oder umgekehrt), können als ein Versuch der Systematisierung derjenigen Vorbehalte aufgefaßt werden, die sich auch schon in früheren Staden-Kom-

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Ebda., S. 23-26.

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mentaren, zum Beispiel bei Hantzsch, Plischke oder Bitterli nachweisen lassen. Aber Arens' Argumente blieben alles andere als unwidersprochen. Marshall Sahlins charakterisierte in seiner Rezension in der New York Review of Books Arens' Buch insgesamt als einen des Verlags unwürdigen Skandal, ohne allerdings näher auf den Fall der Tupinamba einzugehen. Gründlicher hat sich ein anderer amerikanischer Anthropologe und Kannibalismus-Experte des Falles Hans Staden angenommen. In einem Aufsatz mit dem vielsagenden Titel Three Cheers for Hans Staden: the case for Brasilian Cannibalism kam Donald W. Forsyth zu dem Schluß: "Arens's negation of the occurrence of customary cannibalism among the Tupinamba, and particularly of Hans Staden's reliability concerning cannibalism, cannot be taken seriously." 46 Forsyth hat allerdings Arens immerhin so ernst genommen, daß er auf den vorhergehenden zwanzig Seiten ausführlich auf Arens' kritische Einwände einging, um sie Punkt für Punkt zurückzuweisen: Natürlich habe Staden selbst sein Buch geschrieben; nicht neun, sondern drei Jahre nach seiner Heimkehr habe Staden das Buch in den Druck gehen lassen; auch moderne Ethnologen erlauben sich Aussagen über den Lebenszyklus, an dem sie selbst natürlich nicht von Anfang bis Ende als Beobachter haben teilnehmen können; auch andere, unabhängige Quellen belegen, daß die Tupinamba nur bis vier zählen konnten; Staden habe zwar nicht französisch sprechen können, wohl aber auf seiner ersten Reise immerhin als Schiffsbrüchiger zwei Jahre lang mit Tupi-Indianem verkehrt und damit die Sprache der Tupi erlernen können; die vielen wortgetreu wiedergegebenen Dialoge in Stadens Bericht seien in der Tat erst nach der Heimkehr rekonstruiert worden, was aber dem Realitätsgehalt der Darstellung ebenso wenig Abbruch tue wie andere, vergleichbare Formen der ethnographischen Darstellung; Sexismus könne man Staden keinesfalls auf Grundlage seines Reiseberichts zuschreiben; der Vorwurf des Plagiats schließlich ließe sich insbesondere in Anbetracht der vielen von Arens gar nicht erst erwähnten übrigen Quellen keinesfalls aufrechterhalten. Hätten die hessischen Stadenforscher und die Leser der Publikationen des Instituto Hans Staden davon Kenntnis gehabt, hätten sie sich sicher nicht wenig über den saloppen Stil und die Unverfrorenheit in dieser amerikanischen Anthropologendiskussion gewundert. Auch die ansonsten ja im Sinne einer Stadenforschung äußerst wohlgemeinten Three Cheers for Hans Staden wären ihnen wohl nicht zu Unrecht ebenso befremdlich vorgekommen wie die

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Donald W. Forsyth: Three Cheers for Hans Staden: the case of Brasilian Cannibalism. In: Ethnohistory 32 (1), 1985, S. 31.

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Resultate ihrer eigenen Anstrengungen sich in den Augen der amerikanischen Anthropologiestudenten ausnehmen müssen, die vielleicht Arens' Buch auf ihren Regalen nicht weit von zum Beispiel Edward Saids Orientalism stehen haben... Holländische Anthropologiestudenten haben heutzutage eine noch bessere Möglichkeit, sich mit Hans Staden auseinanderzusetzen. Anton Bloks 1978 erstmals auf holländisch erschienene Einführung in die Anthropologie hat Hans Staden gleichsam zu einem Sinnbild des Faches selbst erhöht. 47 Fünf aus der Erstausgabe von Stadens Werk stammende Holzschnitte zieren das Buch am jeweiligen Übergang von einem Abschnitt zum nächsten, und in der Einleitung wird an Lob nicht gespart. "Im Jahre 1557 erschien in Marburg eine der ersten ethnographischen Studien", heißt es auf Seite 9 der deutschen Übersetzung, und auf der folgenden Seite kommt Blok zu der Behauptung, Stadens Buch sei nicht nur "die erste deutsche Ethnographie", sondern werde gar "noch immer als die wichtigste und zuverlässigste Quelle über fremde Kulturen aus der Anfangszeit der europäischen Eroberungen betrachtet". 48 Der frühe verlegerische Erfolg des Stadenschen Buches, heißt es weiter bei Blok, sei dadurch bedingt, "daß der Erfolg der Kolonisierung mit abhängig von der Zuverlässigkeit ethnographischer Beschreibung" 49 gewesen sei. Auf der nächsten Seite wird Stadens Bericht dann auch noch zu einem Gleichnis für die prekären Bedingungen ethnographischer Tätigkeit in der heutigen Welt: "Stadens Studie gibt nicht nur ein zusammenfassendes Bild der Tupinambä-Kultur, sondern auch verschiedener Aspekte anthropologischer Forschung, vor allem der zufälligen Bedingungen ethnographischer Arbeit und ihres zum Teil ungeplanten Verlaufs, der Bedeutung von Vorstellungsvermögen und Begriffsbildung, der Zuverlässigkeit der gesammelten Daten und der unterschiedlichen Absichten, mit denen Forschungsergebnisse präsentiert und verwendet werden." 50 Für den Staden-Forscher ist die Lektüre des Blokschen Buches über die nachfolgenden fast zweihundert Seiten allerdings eher enttäuschend. Zwar kann man sich an den durchgängigen Illustrationen trösten, aber nur an zwei 47

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Anton Blok: Anthropologische Perspektiven. Einführung, Kritik und Plädoyer. Stuttgart 1978. "Die Person Stadens, seine Arbeit und die Art und Weise, wie sie zustande gekommen ist, bilden den Ausgangspunkt der hier folgenden Betrachtungen über die Entwicklung der anthropologischen Forschung", heißt es dort (S. 13). Ebda., S. 10. Hervorhebung durch den Verf. Ebda., S. 12. Ebda., S. 13.

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Stellen kommt der Verfasser auf die Sache selbst zurück: Hans Staden sei der erste gewesen, heißt es auf den Seiten 11 bis 12, der die Einsicht, die systematisch erst William H. McNeill in Plagues and Peoples (1976) formulierte, zum Ausdruck gebracht habe: daß nämlich die Masern entscheidend zur Niederlage der neuen Welt im Konflikt mit der alten beigetragen hätten. An zwei weiteren Stellen 51 wird Staden dann noch als Zeuge dafür angeführt, daß eine (in seinem Falle charakteristischerweise übrigens nur sehr bedingt existierende) koloniale Schutzherrschaft eine Garantie für jede wohlgeglückte, im Falle Stadens eben nur unfreiwillige, "Feldarbeit" gewesen sei. 52 Auch andere, meist von Anthropologen stammende Äußerungen zu Hans Staden aus den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts bezeugen ein eher mehr- und vieldeutiges Verhältnis zu Hans Staden und seinem Buch. Elisabeth Luchesi hebt in ihrem Hans Staden gewidmeten Beitrag zu dem Ausstellungskatalog Mythen der Neuen Welt. Zur Entdeckungsgeschichte Lateinamerikas$3 wiederholt hervor, daß "Stadens Aufmerksamkeit überhaupt der materiellen Kultur" der Tupinamba gegolten habe. 5 4 In Übereinstimmung mit Friedrich Ratzel stellt sich auch für Elisabeth Luchesi der zweite, deskriptive Teil des Buches als besonders exemplarisch dar: "Der nüchterne Ton Stadens im deskriptiven Teil, der die kannibalistischen Szenen auch im Bild zeigt, vermeidet im wesentlichen ein persönliches Urteil, womit - anders als die reißerischen Bemerkungen verschiedener Autoren über die 'Menschenfresser' - fast ein Eindruck von Selbstverständlichkeit des geschilderten Geschehens vermittelt wird." 55 Dieser "Eindruck von Selbstverständlichkeit des geschilderten Geschehens" unterscheidet Stadens ursprünglichen Bericht deutlich nicht nur von "reißerischen Bemerkungen" anderer Verfasser seiner Zeit, sondern auch von den von de Bry mit klassizistischen Kupferstichen versehenen späteren Versionen und den etwa zur gleichen Zeit erschienenen französischen Beschreibungen der Tupinamba: "Stadens Möglichkeiten waren im Vergleich zum Bildungsniveau etwa der Theologen Lery und Thevet, in deren Veröffentlichungen (1578 und 51 52 53 54

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Ebda., S. 28, 44. André Thevet wird dann auch noch zu einem Hugenotten ernannt (S. 10). Der Katalog erschien anläßlich des 2. Festivals der Weltkulturen zu den "Berliner Festspielen 1982", hg. von Karl Heinz Kohl. Elisabeth Luchesi: Von den "Wilden / Nacketen / Grimmigen Menschfresser Leuthen / in der Newenwelt America gelegen". Hans Staden und die Popularität der "Kannibalen" im 16. Jahrhundert. In: Karl Heinz Kohl (Hg.): Mythen der Neuen Welt. Zur Entdeckungsgeschichte Lateinamerikas. Berlin 1982, S. 71. Ebda., S. 72.

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1557) über das gleiche Gebiet gelehrte Reflexionen einfließen, eher begrenzt, doch gelten seine Informationen und Abbildungen größtenteils noch heute als Dokumente für die Rekonstruktion der historischen Tupinamba. Dabei sind Thevet und Léry weitaus ergiebiger, was den mythischen und gesellschaftlich-politischen Bereich angeht. Staden dagegen ist derjenige, der die meisten unmittelbaren Informationen zur rituellen Anthropophagie liefern kann." 56 Staden habe die Tupinamba nicht "von oben" oder "von außen" studiert, sondern "als potentielles Opfer" der von ihm so ausführlich beschriebenen Zeremonie. Und eben dies erklärt, "daß Staden als Gefangenem der Tupinamba die Beschreibung seiner 'Herrn' weitaus präziser gelungen ist als diversen gelehrten Europäern die Darstellungen der unterworfenen Bevölkerungsgruppen der Neuen Welt." 57 Auch Mark Münzel ist in seinem Beitrag zu demselben Ausstellungskatalog voll des (wenn auch nicht vorbehaltlosen) Lobes für Hans Staden. Münzel zitiert zu Beginn seines Aufsatzes über die Religion der Tupinamba nur einen Satz aus Stadens Beschreibung ihrer Religion: "Sie gleuben an eyn ding, das wechst wie ein kürbis, ist so groß wie ein halb maß döppen. Ist inwendig hoel, stecken eyn stecklein dardurch, schneiden eyn löchlein darein wie eyn mundt, und thun kleyne steynlein darein, das es rasselt." (Cap. XXIII der Erstausgabe) Nicht ohne Ironie meint Münzel auf dieser Basis Staden mit folgenden Worten beurteilen zu können: "Staden [...] beschrieb deren Kultur mit neugierigem Interesse und großer Detailfreude. Sicher ist auch seine Darstellung nicht 'ideologiefrei'. Doch geht es ihm nicht um den Nachweis einer Theorie oder Handlungsanweisungen, sondern schlicht darum, eine erstaunliche Sache wahrheitsgetreu zu berichten und Neugier zu befriedigen. Auf die Frage der Religion der Indianer erzählt er, was er gesehen hat: Daß sie ein Stöcklein durch ein kürbisartiges Ding stecken. Stadens genaue, detaillierte, dabei freilich nicht viel nach Hintergründen fragende Beschreibung [...] hat mit sicherem Gefühl einen zentralen Punkt indianischer Religion erfaßt. [...]

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Staden hat 1557 den Nagel auf den Kopf getroffen, auch wenn er nicht wissen konnte, welchen Nagel." 58 Mit weniger Ironie kommt der Literaturwissenschaftler Christian Thomsen aus, wenn er in seinem - allerdings an sich schon in gewissem Sinne ironischen - 1983 erschienenen Werk Menschenfresser in der Kunst und Literatur, in fernen Ländern, Mythen, Märchen und Satiren, in Dramen, Liedern, Epen und Romanen. Eine kannibalische Text-Bild-Dokumentation seiner Bewunderung für Staden Ausdruck verleiht: "Er schildert, sich dabei wertender Urteile weitgehend enthaltend, Sitten und Gebräuche der Indianer mit einer Beobachtungsgabe, die Bewunderung abnötigt und ihn als einen der ersten empirischen Ethnologen ausweist." 59 Auch der letzte der hier zu besprechenden Staden-Forscher, Eberhard Berg, fühlt sich in seinem Beitrag zu dem von Peter J. Brenner 1989 herausgegebenen Buch Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur bei Staden an die moderne Ethnologie erinnert. Nicht nur, weil "Stadens Beschreibungen angesichts der Suche nach distanzierter Ausgewogenheit und der Verbindung von soziokultureller und materieller Ordnung vielfach an die Konventionen der modernen Ethnographie" 60 erinnerten, sondern mehr noch, weil Stadens Buch das moderne Genre der ethnographischen Monographie vorweggenommen habe: "Das besondere Muster, nach dem die Verarbeitung der gesammelten Fremderfahrung im Falle Hans Stadens erfolgt, indem sie im Gesamttext die persönlich gehaltene Erzählung von der unpersönlichen, distanzierten Beschreibung deutlich getrennt hält, antizipiert u.a. das erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufkommende ethnographische Genre." 61 Diese Parallele hat sich übrigens auch, worauf Berg in einer Fußnote hinweist, der amerikanischen Expertin für frühe Reiseberichte, Mary Louise Pratt, aufgedrängt, die in ihrem Beitrag zu der vielzitierten Anthologie Writing Culture: The Poetics and Politics of Ethnography Staden als Bei-

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Mark Münzel: Juppiters wilder Bruder. Der Versuch der Missionare, den Tupinambä und Guarani einen christlichen Gott zu bringen. In: Kohl (Anm. 54), S. 100. Christian W. Thomsen: Menschenfresser in der Kunst und Literatur, in fernen Ländern, Mythen, Märchen und Satiren, in Dramen, Liedern, Epen und Romanen. Eine kannibalische Text-Bild-Dokumentation. Wien 1983, S. 92f. Eberhard Berg: "Wie ich in der tyrannischen Völcker Gewalt kommen bin": Hans Stadens Reisen in die Neue Welt. In: Peter J. Brenner (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt 1989, S. 178-196, hier S. 188. Ebda., S. 180.

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spiel für "the practice of combining personal narrative and objectified description" anführt: "I use the example of Hans Staden deliberately to underscore the point that this discursive configuration I am talking about is the product neither of an erudite tradition nor of the rise of modern science, despite its similarities with contemporary ethnography. Hans Staden was a ship's gunner with little formal education; his book was a very popular one, and it predates the rise of "natural history" in the eighteenth century." 62 Darüber hinaus unternimmt Berg auch den Versuch, Hans Stadens Bericht historisch einzuordnen: "Während der zweifelsohne dominante Wesenszug seines Denkens mit dem Interesse am möglichst Krassen und Monströsen bei den barbarischen Heiden noch der abgelebten mittelalterlichen Welt zugehört, gelangt in seinem Bericht durchaus, wenngleich noch gänzlich unsystematisch, eine Art neuzeitliches Erkenntnisinteresse zum Vorschein." 63 Trotz dieser Neuzeitlichkeit und aller Parallelen zur modernen Ethnologie kann für Berg kein Zweifel an der noch völlig mittelalterlichen Absicht bestehen, in der Hans Staden selbst sein Buch geschrieben und veröffentlicht habe: "Denn seine Absicht ist nicht, etwa den Zielen der modernen Ethnologie gemäß, ein differenziertes, möglichst umfassendes Bild von einer Fremdkultur zu entfalten. Sein Anliegen resultiert noch aus dem abgelebten mittelalterlichen Weltbild, das so deutlich zwischen Christenwelt und heidnischer Barbarei zu scheiden wußte. Es besteht vornehmlich darin, der Leserschaft mit seiner Erfahrung von den indianischen Menschenfressern eindrücklich vor Augen zu führen, daß wir, der christlichen Religion teilhaftig, Gott dafür zu loben und zu preisen haben, daß wir keine barbarischen, heidnischen Menschenfresser sind." 64 Nun stellt sich allerdings die Frage, wer eigentlich mit diesem "wir" gemeint sein kann. Eberhard Berg würde es sicherlich weit von sich weisen, selbst noch an dem "abgelebten mittelalterlichen Weltbild" teilzuhaben, das allein es möglich machen würde, Hans Staden in Übereinstimmung mit seinen eigenen Absichten und Intentionen lesen zu können. Berg nimmt statt dessen den Standpunkt des modernen Ethnologen ein, um von da aus Parallelen und Antizipationen wahrnehmen und damit die mittelalterliche Spreu vom neuzeitlichen Weizen trennen zu können. Aber Berg will sich 62 63 64

Ebda., S. 34. Ebda., S. 180. Ebda., S. 193.

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auch nicht die Möglichkeit entgehen lassen, Stadens Bericht als eben das gelten zu lassen, was er für Staden selbst und für seine zeitgenössische Leserschaft aller Wahrscheinlichkeit nach in erster Linie war. Die Leserschaft Hans Stadens ist, mit anderen Worten, bei Berg ein ziemlich kompliziertes "wir". Wir sind diesem "wir", der Leserschaft Stadens und der Staden-Forschung, nunmehr so ausgiebig durch Raum und Zeit gefolgt, daß wir in der Lage sein sollten, uns einen zusammenfassenden, analytischen Überblick über die Vielfalt der referierten und zitierten Positionen der Staden-Rezeption zu verschaffen.

Fiat veritas Trotz aller Verschiedenheiten haben alle genannten Herausgeber, Übersetzer, Kommentatoren und Leser Stadens zumindest eines gemeinsam: daß sie sich über ihre eigene Herkunft und Zugehörigkeit mit dem Verfasser auf die eine oder andere Weise identifizieren. Geographisch kann man in diesem Sinne zwischen einem Wolfhagener, einem (nord-)hessischen, einem deutschen, einem brasilianischen, einem deutsch-brasilianischen, einem europäischen (holländischen, französischen, englischen...) und vielleicht auch einem allgemein westlichen, also auch nordamerikanischen Interesse an Staden unterscheiden. Diese jeweiligen Horizonte schließen einander zwar nicht notwendigerweise aus, beinhalten aber jeweils sehr verschiedene Formen des Umgangs mit dem ihnen gemeinsamen Gegenstand. Nur in Wolfhagen mit Umgebung und in und um Säo Paulo hat der Name Hans Staden zur Taufe von Straßen, Wegen und einem Institut Pate stehen können, nur hier sind Buch und Verfasser mit eigens dazu hergerichteten Ausstellungen gefeiert worden, nur hier ist ihm die Ehre zugekommen, regelmäßig in Kalendern und Almanachen aufzutauchen. Das Interesse an Hans Staden selbst, an seiner Biographie, seiner Abstammung und seinen persönlichen Fähigkeiten und Eigenschaften war hier besonders ausgeprägt. Auf nationaler und internationaler Ebene hingegen stand eher das Buch als der Verfasser im Mittelpunkt des Interesses. Auch auf den Berliner Festspielen 1982 wurde Staden nicht zuletzt aufgrund der Illustrationen in seinem Werke ausgestellt, aber schon auf dieser nationalen Ebene spielt Stadens (wenn auch noch so prekäre) Zugehörigkeit zu einer Zunft, zum Beispiel zur Gattung der Entdecker (bei Plischke, Panwitz, Mindt) oder der Geographen (bei Ratzel, Hantzsch, Ebersohl) und Ethnographen eine viel wesentlichere Rolle als die genealogische Herkunft, die zu erforschen sich die Arbeitsgemeinschaft der Gesellschaft für Familienkunde

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für Kurhessen 1956 zum Ziel gesetzt hatte. Auf internationaler Ebene schließlich ist kaum noch vom Verfasser selbst die Rede, umso mehr aber von seinem Buch und seinen - nunmehr auch umstrittenen (Arens, Forsyth) - Qualifikationen und Leistungen als Geograph oder Ethnograph avant la lettre. Staden-Forschung und Staden-Ehrung befinden sich also in einem scheinbar unausweichlichen Dilemma: Je enger die Gemeinsamkeit von Herkunft und Zugehörigkeit Forscher und Verehrer mit ihrem Gegenstand verbindet, desto beschränkter ist das potentielle Publikum. Erweitert man den Horizont im geographischen Sinne des Wortes, so ist man, kompensatorisch sozusagen, genötigt, sich einer der akademischen Disziplinen wie zum Beispiel der Ethnographie zuzuwenden, deren Ansprüchen Hans Staden unfreiwilligerweise und verfrüht Genüge getan haben soll. Der horizontale Gewinn kann mit anderen Worten nur mit einem vertikalem Verlust erkauft werden. Und umgekehrt. Aber ganz unabhängig von der jeweiligen Gemeinsamkeit an Zugehörigkeit und Herkunft mit Hans Staden kann man auch nach anderen Kriterien zwischen verschiedenen Formen des historischen Interesses an diesem "älteren Reisebericht" unterscheiden. Wenn von Staden als einem Wolfhagener, hessischem, deutschem oder europäischem Helden und Entdecker die Rede ist, könnten wir mit Friedrich Nietzsche von einem antiquarischen oder mit dem Historiker Jörn Rüsen von einem traditionalen historischen Interesse sprechen. In den Fällen, in denen die Vorbildlichkeit seiner Taten als Entdecker oder seines Berichts als geographischer oder ethnographischer Darstellung hervorgehoben wird, würde man dementsprechend eine monumentalische (Nietzsche) oder exemplarische (Rüsen) Funktion konstatieren können. Wenn schließlich darauf hingewiesen wird, daß auch Staden ein Opfer der Vorurteile und Irrtümer seiner Zeit gewesen sei, seine Erzählung also nicht der Wahrheit entspreche, wäre in den Worten sowohl von Nietzsche als auch von Rüsen ein Vorherrschen der kritischen Funktion von Historie und historischem Erzählen zu konstatieren. Kaum einer der genannten Staden-Forscher läßt sich eindeutig nur einer dieser Funktionen zuordnen, aber die heimatgeschichtliche Staden-Forschung ist - relativ gesprochen - von einem Übergewicht an antiquarischtraditionalen Interessen gekennzeichnet, die nationalen Bemühungen um Staden dahingegen entsprechen eher der monumentalisch-exemplarischen Funktion von Geschichte, während auf internationaler Ebene schließlich der Konflikt zwischen der monumentalisch-exemplarischen und der kritischen Art des historischen Erzählens in den Vordergrund tritt.

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Historisch gesprochen war die erste Phase nach der rezeptionsgeschichtlichen "Sendepause" des 18. Jahrhunderts von monumentalisch-exemplarischen Bemühungen gekennzeichnet. Das in Stadens Heimatstadt und -land und in Brasilien besonders im 20. Jahrhundert aufblühende - in je eigener Weise "heimatverbundene" - Interesse an Staden war hingegen in erster Linie antiquarisch-traditionaler Natur, während die Diskussionen und Darstellungen der neuesten Zeit, also der späten 70er und 80er Jahre, erstmals von einem erstarkenden kritischen Interesse zeugen, das eher an die früheren monumentalisch-exemplarischen als an die unmittelbar vorhergehenden antiquarisch-traditionalen Bestrebungen anknüpfte. Nietzsches Kritik war gegen den historischen Sinn insbesondere seines eigenen Zeitalters gerichtet, also gegen den Historismus, gegen Geschichte als Forschung und als Wissenschaft, gegen die Historie, die nicht länger dem Leben dient, sondern umgekehrt das Leben dazu zwingen will, in einer "Art angeborner Grauhaarigkeit" 65 der Geschichte zu dienen, vor der "Macht der Geschichte" den Rücken zu krümmen und zuletzt "chinesenhaft-mechanisch sein 'Ja' zu jeder Macht" 6 6 zu nicken: "Der historische Sinn, wenn er ungebändigt waltet und alle seine Konsequenzen zieht, entwurzelt die Zukunft, weil er die Illusionen zerstört und den bestehenden Dingen ihre Atmosphäre nimmt, in der sie allein leben können." 67 Eben dieser ungebändigte historische Sinn mit seiner Auflösung der antiquarisch, monumentalisch oder kritisch verankerten Herkunft in eine Entwurzelung der Zukunft ist in der Staden-Forschung vielleicht am deutlichsten bei Eberhard Berg und dessen Versuch zum Ausdruck gekommen, Staden einerseits als - wenn auch unfreiwilligen - Helden in der Kunst ethnographischer Darstellung zu feiern, um ihn andererseits aufgrund seines Interesses "am möglichst Krassen und Monströsen bei den barbarischen Heiden" und seiner "noch aus dem abgelebten mittelalterlichen Weltbild" entstammenden Absichten historisch einzuordnen und abzulegen. Berg stellte die These auf, Stadens eigentliches Anliegen sei es gewesen, "der Leserschaft mit seiner Erfahrung von den indianischen Menschenfressern eindrücklich vor Augen zu führen, daß wir, der christlichen Religion teilhaftig, Gott dafür zu loben und zu preisen haben, daß wir keine barbarischen, heidnischen Menschenfresser sind". 6 8 "Eigentlich" ist Staden also 65 66 67 68

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Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: Karl Schlechta (Hg.): Werke in drei Bänden. München 1966, Bd. 1, hier S. 258. Ebda., S. 263. Ebda., S. 252. Berg (Anm. 60), S. 193.

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einem abgelebten Mittelalter zuzuschreiben. Dennoch gehören auch "wir", ganz wie Stadens Zeitgenossen zu eben jener Leserschaft, die Staden erreichen wollte und im Falle Bergs zumindest auch noch erreichen konnte. Auch "wir" entstammen eben jenem Mittelalter, mit dem "wir" uns historisch auseinandersetzen, indem wir uns mit seinen Zeugen einerseits zwar identifizieren, von denen wir andererseits aber auch kritisch Abstand nehmen. Mit Nietzsche kann man hier von einer allgemeinen Verwissenschaftlichung und Entartung, einer Entwurzelung sowohl von Herkunft als auch von Zukunft sprechen. Halten wir uns hingegen an Jörn Rüsen und dessen Typologie historischen Erzählens, die sich, wie gesagt, von der Nietzsches nur in der Terminologie zu unterscheiden scheint, haben wir es mit Eberhard Berg weder mit einer traditionalen, einer exemplarischen noch einer kritischen, sondern einer vierten - mindestens ebenso, wenn nicht noch legitimeren genetischen Form des historischen Erzählens zu tun. Rüsen definiert genetisches Erzählen als dasjenige, das sich in Geschichten formiere, die "die Strukturveränderungen eines Systems als notwendige Bedingung dafür erinnern, daß es sich im Zeitfluß auf Dauer stellen kann"; in denen "zeitliche Veränderungen als Modi der Kontinuierung selber interpretiert" werden; in denen "der Schrecken, anders zu werden [...], als Chance sichtbar gemacht [wird], derjenige zu werden, der man immer schon gewesen sein wollte"; in denen "erfahrene Veränderungen sozialer Systeme als Prozesse, in denen sie sich selbst transzendieren und eben dadurch auf Dauer stellen", erfahren werden. Durch genetisches Erzählen wird Rüsen zufolge "Zukunft [...] als Überbietung von Herkunft erwartbar". 69 Eberhard Bergs scheinbar so paradoxales "wir", für das Hans Staden "zwar noch" dem abgelebten Mittelalter verhaftet ist, "aber auch schon" eine Darstellungsweise vorwegnimmt, die sich erst im 20. Jahrhundert zu einer wissenschaftlichen Gattung stabilisieren konnte, ist ganz im Sinne Rüsens ein der genetischen Erzählweise verpflichtetes, ein "dialektisches" "wir": "Genetisches Erzählen ist also 'dialektisch'. Es erinnert die Vergangenheit als ein 'zwar schon, aber auch noch nicht' dessen, was das gegenwärtige Handeln als leitende Absicht in die aktuellen Veränderungen einbringt, in denen es sich vollzieht und dies vollzieht, und es eröffnet dem Handeln dadurch eine Zukunftsperspektive, in der es über die Vergangenheit hinausgelangt und doch nicht von ihr abgeschnitten wird." 70

69 70

Jörn Rüsen: Die vier Typen des historischen Erzählens. In: Reinhart Koselleck, Heinrich Lutz, Jörn Rüsen (Hgg.): Formen der Geschichtsschreibung. München 1982 (= Beiträge zur Historik 4), S. 514-606, hier S. 555. Ebda., S. 555f.

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Für Rüsen bilden die vier Typen des historischen Erzählens auf allgemeiner Ebene "jede für sich eine notwendige und alle vier zusammen eine hinreichende Bedingung dafür [...], daß das historische Erzählen seine Funktion der Zeitorientierung erfüllen kann". 71 Dennoch ist das Aufkommen des genetischen Erzählens oder zumindest der Übergang zu einer Dominanz dieser Erzählweise auch für Rüsen ein geschichtliches Ereignis, das in die Zeit um den Ausgang der Spätaufklärung und den Beginn des Historismus anzusiedeln ist: "Seitdem die Aufklärung von der kritischen Depotenzierung vorgegebener historischer Herrschaftslegitimationen und entsprechender Identitätsdefinitionen zur Ausführung eigener Kontinuitätsvorstellungen übergegangen ist, prägt die genetische Erzählweise die Historiographie." 72 Auch für Rüsen bedeutet die genetische oder wissenschaftliche Form der Geschichtsschreibung eine Form der Auflösung und Entwurzelung von "vorgegebenen" Identitäten. Aber statt diesen Prozeß wie Nietzsche als Entartung oder gar Katastrophe anzuprangern, verweist der Historiker Rüsen auf die positiven Leistungen einer Identitätsbildung, die sich nicht wie die traditionale in der Zeit oder wie im exemplarischen Erzählen über oder wie im kritischen Erzählen gegen die Zeit vollzieht, sondern "mit der Zeit mitgehend zur Sprache gebracht, also durch eine innere zeitliche Dynamisierung gebildet" 73 wird. Für Rüsen ist die genetische, historistische oder wissenschaftliche Erzählweise ein sozusagen natürliches Produkt einer sich zwischen den vorgehenden Erzählweisen und besonders aufgrund der kritischen Anstrengungen der Aufklärung entfaltenden Dialektik. Für Nietzsche hingegen ist mit diesem Prozeß "durch die Wissenschaft, durch die Forderung, daß die Historie Wissenschaft sein soll [...], ein mächtig feindseliges Gestirn" zwischen Leben und Historie getreten: "Jetzt regiert nicht mehr allein das Leben und bändigt das Wissen um die Vergangenheit: sondern alle Grenzpfähle sind umgerissen und alles, was einmal war, stürzt auf den Menschen zu. So weit zurück es ein Werden gab, soweit zurück, ins Unendliche hinein, sind auch alle Perspektiven 71 72

73

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Ebda., S. 539f. Ebda., S. 571. "Wenn diese Auflösung nicht die Identität derjenigen zerstören soll, die ihr Leben in der Tat nach diesen Mustern organisieren, dann muß die Auflösung selber als Bedingung ihrer weiteren Geltung interpretiert werden, und dann organisiert sich das historische Erzählen so um, daß sein genetisches Moment dominant wird. Dieser Vorgang kennzeichnet die grundlegende geschichtliche Veränderung, die unter dem Titel "Entstehung des Historismus" diskutiert wurde und heute als 'Sattelzeit' im Zentrum der historischen Semantik steht". Rüsen (Anm. 69), S. 590. Ebda., S. 557.

Vom Nutzen und Nachteil des Studiums älterer Reiseberichte

verschoben. Ein solches unüberschaubares Schauspiel sah noch kein Geschlecht, wie es jetzt die Wissenschaft des universalen Werdens, die Historie zeigt; freilich aber zeigt sie es mit der gefährlichen Kühnheit ihres Wahlspruches: fiat veritas pereat vzia."74 Wenn auch aus diametral verschiedenen Perspektiven, weisen sowohl Rüsen als auch Nietzsche auf eine Veränderung hin, die entscheidend auf die Geschichte der Bedingungen eingewirkt haben müßte, unter denen "ältere Reiseberichte" wie zum Beispiel der Hans Stadens im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts wahrgenommen wurden. Aber in Wirklichkeit lassen sich in der Staden-Forschung nur erstaunlich wenige Spuren derjenigen "Wissenschaft des universalen Werdens" oder der "genetischen Erzählweise" nachweisen, die Nietzsche als Charakteristikum seines Zeitalters diagnostizierte und die Rüsen als im 19. und 20. Jahrhundert "dominante Form" verzeichnet hat. Zwar entspricht die von Rüsen und Nietzsche einstimmig konstatierte Umwälzung des historischen Bewußtseins der rezeptionsgeschichtlichen Schwelle, die im Falle Stadens das 16. und 17. vom 19. und 20. Jahrhundert trennt. Aber gerade erst nach dieser Schwellen- oder Sattelzeit haben sich, wie wir sehen konnten, antiquarisch-traditionale, monumentalisch-exemplarische und kritische Tendenzen in der Staden-Forschung weit besser durchsetzen können. Weitaus bedeutender scheint allerdings der Umstand zu sein, daß die Gattung des Reiseberichts selbst sich nicht nur der genetischen, sondern auch den drei übrigen von Rüsen beschriebenen Formen des historischen Erzählens grundlegend zu verweigern scheint. Ein Reisebericht bezieht sich zunächst einmal nicht auf eine dem Reisenden und seinem Publikum gemeinsame Vergangenheit, über die man sich traditional, exemplarisch, kritisch oder auch genetisch verständigen und auseinandersetzen könnte, sondern ganz im Gegenteil auf eine dem Reisenden allein zugehörige Vergangenheit, die erst durch den Bericht selbst denen, die an dieser Vergangenheit keinen Anteil gehabt haben oder auch nur haben konnten, mitgeteilt wird. Sowohl für Nietzsche als auch für Rüsen sind die eine oder andere Form der Gemeinsamkeit an Herkunft und Zugehörigkeit eine gegebene Voraussetzung aller Formen von Historie oder historischem Erzählen, die sich eben nur auf verschiedene Weise zu dieser grundlegenden Gegebenheit verhalten. Ein Reisebericht hingegen setzt zwar auch eine spezifische Gemeinsamkeit zwischen dem Reisenden und seinem Publikum als Bedingung für Verständigungsmöglichkeit voraus, beinhaltet aber auch eine Überschreitung der Grenzen dieser Gemeinsamkeit, indem er eben von Erfahrungen, Erlebnis74

Nietzsche (Anm. 65), S. 231.

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sen, Ereignissen und Verhältnissen handelt, die per definitionem nur dem Reisenden, nicht aber seinem Publikum zugänglich sind, dem er es durch seinen Bericht erst zugänglich macht. Und dies gilt nicht etwa nur in den offensichtlichen Fällen einer Reise in die "Newe" oder auch nur "andere" Welt, sondern für die Gattung des Reiseberichts überhaupt, die eben nicht eine irgendeiner Gemeinschaft gemeinsame, sondern eine nur dem Reisenden zugehörige Vergangenheit beinhaltet. In der abendländischen Tradition sind Reisende und ihre Berichte schon seit jeher der Lüge, Unwahrheit, Übertreibung und Prahlerei bezichtigt worden. Von Herodot und Ktesias bis auf den heutigen Tag haben sich die Verfasser von Reiseberichten nicht nur von anderen Reisenden, sondern auch von ihrem Publikum - mehr oder weniger wohlbegründet - als Lügner schelten lassen müssen. Diese Bezichtigungen begleiten die Geschichte der Gattung der Reiseberichte mit einer Regelmäßigkeit, die darauf schließen läßt, daß man angesichts eines Reiseberichts weniger nach antiquarischen, exemplarischen, kritischen oder gar genetischen Verhaltensweisen unterscheiden, sondern vielmehr von einer historisch konstanten Rezeptionsform sprechen sollte, die sich ausschließlich für den Wahrheits- und Wirklichkeitsgehalt der Darstellung der nur dem Reisenden bekannten Wirklichkeit interessiert. Aber auch in der Geschichte der Rezeption von zeitgenössischen oder als zeitgenössisch aufgefaßten Reiseberichten kann man einen Bruch und eine Diskontinuität ausmachen, die dem Einbruch der genetischen oder wissenschaftlichen Erzählweise in der Geschichtsschreibung sowohl logisch als auch historisch zu entsprechen scheint. Die mehr oder weniger "kritischen" Bezichtigungen der Lüge scheinen zwar historisch in fast konstanter Häufigkeit und Form aufzutreten, aber gegen Ende des 18. Jahrhunderts hat sich neben dieser Rezeptionsform eine andere Form entfaltet, eine Form, die programmatisch gesprochen - der Geburt der Kategorie des "älteren Reiseberichts" entspricht. Während bis zu dieser rezeptionsgeschichtlichen Schwellen- oder Sattelzeit in der Hauptsache nur zu der Frage Stellung genommen wurde, ob nun der eine oder andere Bericht wahr oder erlogen sei, hat man seit dieser Wende darüberhinaus auch eine dritte Möglichkeit gehabt, die nämlich, zu behaupten, ein gegebener Bericht sage mehr über seinen Verfasser als über die darin zur Sprache gebrachten Ereignisse und Verhältnisse aus. Zunächst scheint diese Formel bloß eine ironische Vertiefung der altbekannten Lügenbeschuldigung zu sein. Bei näherem Zusehen aber stellt sich heraus, daß damit sehr viel mehr gemeint sein kann (und gemeint worden ist) als nur der Verweis darauf, daß der Reisende sich die beschriebenen Ereignisse und Verhältnisse nur ausgedacht und also erlogen habe. Vielsagend

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ist ein Reisebericht nämlich nach dieser Lesart nicht so sehr, weil damit der Berichterstatter als Lügner und Betrüger entlarvt wird, sondern vielmehr deshalb, weil in seinem Bericht die eigentümlichen Vorurteile und Interessen, Ambitionen und Aversionen, Wünsche und Bedürfnisse, Traumen und Träume des Reisenden zur Sprache kommen. Daß wir es bei dieser Formel mit der Entdeckung einer "neuen Welt", mit einer der Entstehung des Historismus entsprechenden Umwälzung der Rezeptionsbedingungen der Gattung der Reiseberichte zu tun haben, wird noch deutlicher, wenn man die vielen Fälle bedenkt, in denen nicht nur von den Vorurteilen und Interessen, Ambitionen und Aversionen, Wünschen und Bedürfnissen, Traumen und Träumen des Reisenden selbst die Rede ist, sondern auch von jenen seiner Zeit und Epoche, also von der Kultur und der Mentalität, die in seinem Bericht unfreiwilligerweise zum Ausdruck kommen.

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Britons in Brazil: Nineteenth Century Travellers Tales as a Source for Earth and Social Scientists The role of the British in nineteenth century Brazil is well documented their pre-eminence early in the century by Alan Manchester, their role in the abolition of slavery by Leslie Bethell, and their contribution to the onset of modernisation by Richard Graham. 1 More prosaically Gilberto Freyre, in his "Ingleses do Brasil", could acknowledge his country's debt to the English for the introduction 'do cha, do pao de trigo, da cerveja e depois do whisky, do gin e do rum, do beef, ou bife com batatas, do rosbife..., do pijama de dormir, do gorro de viagem, ate do water closet'...and many other essentials of civilization.2 It is the purpose of this paper to draw together some themes on Brazil which derive from the observations of British travellers in the country in the nineteenth century. The inspiration for this approach comes from the writings of the geographers David Lowenthal, Yi Fu Tuan and Hugh Prince, in their explorations of the past, past landscapes, and of outsiders' views of 'far places'. 3 Prince, for example, commented that 'The ways in which people at different times have seen their surroundings [...] reflect diverse, often conflicting motives, attitudes and tastes'.4 In seeking such a perspective on Brazil, there are numerous published accounts by British visitors in the nineteenth century which we might use. There are a number of bibliographic, and a lesser number of critical, reviews of such 'traveller's tales' by British, American, and Brazilian authors, of which the most significant are those by Freyre, Hamilton, Leonardos, Naylor, Tjarks, and Welch and Figueras. 5 From such sources it is possible

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A.K. Manchester: British preeminence in Brazil. New York 1972. L. Bethell: The abolition of the Brazilian slave trade. Cambridge 1970. R. Graham: Britain and the onset of modernization in Brazil, 1850-1914. Cambridge 1968. G. Freyre: Ingleses no Brasil. Rio de Janeiro 1948, p. 56. D. Lowenthal: The past is a foreign country. Cambridge, 1985. Y-F. Tuan: Topophilia. Englewood Cliffs 1974. H.Prince: Real, imagined and abstract worlds of the past. In: Progress in Human Geography, vol. 3, 1971, p.1-86. Ibid., p. 32. Freyre 1948. G. Hamilton: English-speaking travellers in Brazil, 1851-87. In: Hispanic American Historical Review, vol. 40, 1960, p. 533-47. O. Leonardos: Geociéncias no Brasil: a contribuido Britanica. Rio de Janeiro 1970. B. Naylor: Accounts of nineteenth century Latin America. London 1969. A.V. Tjarks: Brazil: travel and description 1800-1899. A selected bibliography. In: Revista de Historia de América,

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to identify at least four dozen nineteenth century tales told by British travellers in Brazil [Fig. 1], Such reports are invaluable to us as sources on Brazil in the nineteenth century. They are commonly a record of routes followed, and their terrain and wildlife, comments on places visited, and trivial detail of weather, health, and food. They also provide detailed descriptions of the land and its resources, observations on the society of native peoples, Luso-Brazilians, and free and enslaved Africans, and on economic activity and potential. In addition to factual information, many also contain more complex and subtle reflections and speculations upon nature and people in Brazil. Of this corpus of material, a number of basic questions may be asked. Its dating is relatively straight forward, since the Portuguese were fairly effective in keeping non-Iberians out of their colony until the British-induced opening of the ports in 1808. Our record thus dates from the pioneer adventures and accounts of Lindley (1805), Koster (1816) and Luccock (1820) and spreads across the century, though with peaks in the 1820s and 1850s. 6 This band of Britons-abroad-in-Brazil a century ago was predominantly masculine. Though feminist critics have recently suggested there is a gendered construction of history, the various bibliographic sources reveal few women who left published records of their travels. A major exception is Maria Graham (1824)7 with Marion Mulhall (1881), May Frances (1890), and Marianne North (1892) as other figures to be noted, 8 along possibly with 'Helena Morley's' account of Diamantina in the 1890s. 9 Most of these travellers were thus single white males. With the exception of the landfall of the 'Beagle' and Charles Darwin, there were no British 'expeditions' to compare with French parties which included Debret and Castelnau, the Austro-Germans Pohl, Natterer, Spix and Martius, or the Americans Agassiz and Hartt. Even in comparison with their contemporaries engaged in 'the scramble for Africa', these Britons were not concerned with the acquisition of territory (at least, not de jure), nor were they trail-blazers

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vol. 83, 1977, p. 209-47. T.L. Welch and M. Figueras: Travel accounts and descriptions of Latin America and the Caribbean 1800-1920. Washington 1982. T. Lindley: Narrative of a voyage to Brazil. London 1805. H. Koster: Travels in Brazil in the years from 1809 to 1815. London 1816. J. Luccock: Notes on Rio de Janeiro and the southern parts of Brazil. London 1820. M. Graham: Journal of a voyage to Brasil and residence there during parts of the years 1821, 1822, 1823. London 1824. M.M. Mulhall: Between the Amazon and the Andes. London 1881. M. Frances: Beyond the Argentine: or, letters from Brazil. London 1890. M. North: Recollections of a happy life. 2 vols. London 1892. E. Bishop: The diary of 'Helena Morley'. New York 1977.

Britons in Brazil: Nineteenth Century Travellers

Tales

or pioneers; they tended to travel along established routes, to visit established places, and mainly to use established modes of transport. They could, though, be said to be a somewhat motley crew, including diplomats, naval officers, naturalists, railway and mining engineers, clerics, and businessmen. Most were 'regional specialists'; few travelled widely. There is a concentration of interest, particularly in Amazonia and Rio/Minas Gerais, with few accounts of the Northeast, the South, or the Centre-West. The bases from which these travellers sallied forth were the principal cities, and the early foci of British activity identified by Freyre - the seats of consul, cleric, and commerce. 1 0 There were also broad historical and geographical accounts such as those of Henderson (1821) and Scully (1866), not necessarily based on first hand experience of Brazil. 11 The objectives of these travellers varied. Some wrote accounts as incidental to their activities as officers in the Brazilian navy, 1 2 tutor to the Imperial family, 1 3 railway builders, 14 missionaries, 15 or businessmen. 1 6 The naturalists (including Darwin, 1839; Gardner, 1846; Wallace, 1853; Bates, 1863; Spruce, 1908; and Fox-Bunbury, 1981) made a significant group, 1 7 as did those seeking the chimera of a Pacific - Atlantic route via the Andes and the Amazon (Maw, 1829; Smyth and Low, 1836; Mathews, 1879). 1 « The Schomburgks strayed frequently over vague frontiers in the service of Queen Victoria and the Royal Geographical Society to secure the GuianaBrazilian border. 1 9 Inevitably, that inveterate traveller Sir Richard Burton 10 11 12 13 14 15 16 17

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Freyre 1948, p. 395. J. Henderson: A history of Brazil. London 1821. W.Scully: Brazil: its provinces and chief cities. London 1866. T. Cochrane: Narrative of services in the liberation of Chile, Peru and Brazil from Spanish and Portuguese domination. London 1859. Graham 1824. T.P. Bigg-Wither: Pioneering in south Brazil. London 1878. R.S. Clough: The Amazons. London 1872. W. Hadfield: Brazil, the River Plate and the Falkland Islands. London 1854. C. Darwin: Journal and remarks 1832-36. Vol. 3 of Narrative of the surveying voyages of His Majesty's Ships 'Adventure' and 'Beagle' between the years 1826 and 1836. London 1839. G. Gardner: Travels in the interior of Brazil. London 1846. A.R. Wallace: A narrative of travels on the Amazon and Rio Negro. London 1853. H.W. Bates: The naturalist on the River Amazons. London 1863. R. Spruce: Notes of a botanist on the Amazon and the Andes. London 1908. C.J. Fox-Bunbury: Viagem de um naturalista Ingles ao Rio de Janeiro e Minas Gerais, 1833-35. Rio de Janeiro 1981. H.L. Maw: Journal of a passage from the Pacific to the Atlantic. London 1829. W. Smyth and F. Lowe: Narrative of a journey from Lima to Para, across the Andes and down the Amazon. London, 1836. E.D.Mathews: Up the Amazon and Madeira rivers. London 1879. R. Schomburgk: Journey from Fort San Joaquim, on the Rio Branco, to Roraima and thence by the Rivers Parima and Merewari to Esmeraldas on the Orinoco. In: Journal of the Royal Geographical Society, vol. 10, 1841, p. 191-247.

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floated down the Sao Francisco, 'the mighty river here called the Brazilian Mississippi' - because it was there. 20 One might, however, speculate why these men, as with so many British travellers before or since, ever left their sceptred isle, since they seemingly found abroad unutterably bloody, and complained bitterly about the experience. John Mawe, at Bandeira de Coelho in Minas Gerais, commented: 'A more dirty and slovenly place, in a finer situation, we never visited'. 21 Twenty five years on, Sir Charles Fox-Bunbury advised the traveller that he 'must certainly carry with him a good supply of biscuits or crackers, wine or aguardente - and tea', for 'the gente do pais feed themselves principally upon farinha, beans, dried meat and bananas'. 22 In addition to his own need for home comforts of tea, biscuits and a brolly, the English traveller, in seeking to convey this alien land to his armchair compatriot back home, sometimes resorted to familiar images. Thus FoxBunbury observed that 'the nature of the scenery around Ouro Preto is in no way tropical, but such that, if I did not pay particular attention to the details of the vegetation, I could easily imagine myself in Caernarvonshire'. 23 Similarly Marianne North, at Santa Luzia, wrote 'looking over a long stretch of the winding Rio das Velhas, again reminded me of the Tweed, and except for a few palm-trees looked not a bit more tropical'. 24 It is perhaps unsurprising that a latent Victorian Anglo-centricism lies not far below the surface of many of these commentaries. The 'deplorable apathy' of the Mineiros led Mawe to 'reflect that the advantages of the English system of agriculture might go far towards raising them from their slothful statel 25 Having 'signified to the people [of Vila Rica - the Rich Town of Black Gold] my wish to instruct them in the management of a dairy after the English mode', he concluded that they were 'highly satisfied' by his demonstration, but that he had 'strong doubts that they would pursue it after my departure, as they must naturally dislike the trouble and care which it required'. 26 He was similarly pessimistic as to whether the inhabitants of Tejuco would follow up on his efforts to introduce them to the brewing of English real ale. 27

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R. Burton: Explorations of the highlands of Brazil. New York 1969, vol. I, p. 19. J. Mawe: Travels in the interior of Brazil. London 1812, p. 157. Fox-Bunbury 1981, p. 63. Ibid., p. 67. M. North: Recollections of a happy life. Charlottesville 1993, p. 177. Mawe 1812, p. 184. Ibid., p. 184 and 187. Ibid., p. 234.

Britons in Brazil: Nineteenth Century Travellers Tales

Given such antipathy and prejudice we might be inclined to draw a discreet veil over such sources, and leave them to gather dust in the recesses of our libraries. Indeed, such travellers have recently been dismissed by one Hispanist as the 'capitalist vanguard', engaged in the 're-invention of America', 28 while my colleague John Fisher has suggested that 'such literature is a valuable source for understanding British attitudes towards religion, race, politics, and society rather than actual conditions in the sub-continent'. 29 However, an earlier generation of Brazilian scholars such as Freyre and Pinto regarded these writers as meriting attention, 30 and the scientist Othon Leonardos describes nineteenth century British travellers as 'revealing to the world the peculiarities of Brazil'. 3 1 More recently a younger generation of Brazilian earth scientists have commented positively upon the tremendous contribution made by the many foreign scientific travellers who came to the country before 1900. 32 More broadly, an Organization of American States survey of travel literature on Latin America notes that, in consequence of studies by writers not native to the continent 'we are beneficiaries of that elusive gift which the poet Burns longed for [...] to see ourselves as others see us'. 33 It is suggested, therefore, that these sources have utility to us, on a number of grounds. Firstly they provide an outsider's view of nineteenth century Brazil; as Tuan observed, 'the visitor's judgement is often valid. His main contribution is the fresh perspective'. 34 These travel narratives afford us material on Brazil as it was - or as it was perceived by outsiders - a century ago; they can be seen as an historical record of sorts. Moreover, in a prephotographic age (the earliest photos of Brazil appear to date from circa 1840) these pen-portraits are important. 35 Secondly, we can use them with the wisdom of hindsight, not merely with reservations about their Victorian Anglo-centricity, but aware of the comparisons and contrasts between their visions of Brazil and our own. Thirdly they provide a record of change and stability - of things which have since been transformed, or which have remained much the same; in a few cases the more enduring travellers even 28 29 30 31 32 33 34 35

M.L. Pratt: Imperial eyes: travel writing and transculturation. London 1992, p. 14648. J. Fisher: Britons and America. In: J. Fisher and J. Higgins: Understanding Latin America. Liverpool 1989, p. 19. Freyre 1948. O.M.Pinto: Viajantes e naturalistas. In: S. Buarque Holanda: Historia geral da civilizaijao Brasileira. Sao Paulo 1960, p. 444-66. Leonardos 1970, p. 324. M.J. Pires-O'Brien: An essay on natural history in Brazil. In: Archives of Natural History, vol. 20, 1993, p. 37-48. V.T. McComie: Foreward. In: Welch and Figueras 1982, p. ii. Tuan 1974, p. 65. G. Ferraz: Photography in Brazil. Albuquerque 1990.

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provide their own record of change. Following Lowenthal, we may also exploit them, to sustain our nostalgia for a vanished world - or to bolster our particular arguments about a natural or cultural world we believe we may be in danger of losing.36 It is obviously impossible to fully explore the range of these travellers, their activities, and what may be gleaned from their writings. What follows, therefore, are examples which illustrate some specific themes in the Earth and Social Sciences which can derived from these sources.

H.W. Bates and the natural history of the River Amazons Voyaging along the Amazon more than two centuries after Orellana and Raposo Tavares, the British were scarcely pioneers in the region. Indeed, several were more concerned with its commercial exploitation than its pristine nature. Yet some of these Victorian voyagers evoked, and their writings perpetuate, a potent image of unsullied Nature. We should not be surprised that naturalists such as Henry Bates, A.R. Wallace, Richard Spruce and others created powerful and lingering images of the cornucopia of Amazonian wildlife - not only the flora, but animals, insects, fish, and birds. In this natural Paradise Bates writes of 'the leafy banks of the rivulet and its clean sandy margins, where numbers of scarlet, green,and black tanagers and brightly coloured butterflies sport about in the stray beams. Sparkling brooks, large and small, traverse the glorious forest in every direction, and one is constantly meeting, whilst rambling through the thickets, with trickling rills and bubbling springs'.37 In the opening paragraph of The naturalist on the River Amazons Bates wrote: 'To the westward we could see a long line of forest rising apparently out of the water; a densely packed mass of tall trees, broken into groups, and finally into single trees, as it dwindled away in the distance. This was the frontier, in this direction, of the great primeval forest characteristic of this region, which contains so many wonders in its recesses, and clothes the whole surface of the country for two thousand miles from this point to the foot of the Andes'.38 Such potent contemporary images 150 years old have

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Lowenthal 1985. H.W. Bates: The naturalist on the River Amazons. London 1864 (2nd.ed.), p. 447. Ibid., p. 1-2.

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made mention of Bates almost mandatory in the current 'Green' literature concerned with the fate of the rain forest since 1970. 39

Wallace and the geology of northern Amazonia A.R. Wallace was a contemporary entomological collector with Bates in the Amazon. His Narrative has similar themes to Bates' book, but given Wallace's previous employment as a railway surveyor, he gives greater reference to geological phenomena. Thus he comments on the clays, sandstones, conglomerates and volcanic materials encountered at various points on his travels, and gives some more detailed accounts of serras he explored, in which there is not merely description but speculation on the differential impact of tropical weathering and granitic folding.40 Most significantly, however, he provides an appendix on The physical geography and geology of the Amazon Valley, which is not only descriptive of the valley form, but speculates on tidal phenomena etc. Similarly, his discussion of the geology is not merely of rock types and topography, but contains speculation on the geological history of the region, as 'the last stage of a process that has been going on during the whole period of the elevation of the Andes and the mountains of Brazil and Guiana', in which the Amazon basin was infilled by sediments eroded by rapid streams running from the mountains. 41 Also, given then current geological debates on evolution, he makes reference to the fossil record and differing environmental conditions in the geological past. 42

Marianne North and the landscape of Minas Gerais in words and pictures If Amazonia was, and indeed continues to be, perceived of as an unspoiled wilderness, Minas Gerais in the nineteenth century was already well settled and exploited. The British visitors were certainly not pioneers. They showed little originality in their routes or destinations. They had two principal and related goals - to visit the gold mines and their British kith and kin who 39 40 41 42

See, for example, A. Gheerbrant: The Amazon: past, present and future. London 1972, p. 69. A.R. Wallace: A narrative of travels on the Amazon and Rio Negro. New York 1972, p. 102-6 and 152-4. Ibid., p. 294-5. Ibid., p. 71-2.

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managed them. Though the colonial gold towns of Ouro Preto, Mariana, and Sahara lay en route, their prime goals were the Morro Velho gold mine of the St. John d'el Rey Mining Co., and that of the Imperial Brazilian Mining Association at Gongo Soco. In addition to the narrative of these travellers, the illustrations of their books, in a pre-photographic age, are potentially important sources of material on the nature and external perception of nineteenth century Brazil. A number of British artists - Henry Chamberlain, Charles Landseer, W.G. Ouseley and Henry Koster - have left some impressions of the country, but the flower painter Marianne North provides the double bonus of a series of pictures of south-east Brazil, and a narrative description of her adventures. Miss North was a 'botanical globe-trotter' between 1871 and 1885 and visited Rio de Janeiro and Minas Gerais in 1872-3. Her principal base was the gold mine at Morro Velho, and she provides a vivid portrait of this English community, with its 'Cornish village', roses, and fair c h i l d r e n . 4 3 Given her botanical interest, her narrative is rich in comments on plants, birds and insects, but her records of her journeys are also rich in landscape detail 'the green plateau of Cata Branca, with its groups of iron-rocks, piled most fantastically [...] and so full of metal that the compass does not know where to point'; 44 the old gold diggings near Ouro Preto 'some deep, some shallow, but all deserted'; 45 or the 'delicate blues and greens and creamy whites' of the limestone caves of Curvelho. 46 Marianne North's paintings are also a potential source for us, of the landscapes of the past. Though many of her pictures were purely of plants, a few were topographic, and some of the botanical art also contain identifiable elements of landscape. When these pictures were installed in Kew Gardens in 1882, the then Director of the garden, J.D. Hooker, wrote that they recorded 'scenes already disappearing before or [...] doomed to disappear before the ax and the forest fires, the plough and the flock, of the ever-advancing settler or colonist'. 47 Indeed, the whole field of painting and early photography in Latin America remains a rich and under-explored source of material for us. In a major review of Latin American art, Dawn Ades notes that traveller-artists were particularly important in the landscape portrayal of the continent. 48

43 44 45 46 47 48

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North 1892, p. 149. Ibid., p. 152. Ibid., p. 161. Ibid., p. 172. J.D. Hooker: Preface. In: Official guide to the North Gallery. London 1914 (6th. ed.), p. iii. D. Ades: Art in Latin America. New Haven 1989, p. 63.

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English travellers and native peoples The utility of these sources for our knowledge of native peoples is clearly illustrated in John Hemming's magisterial two volume study of the conquest and defeat of the Brazilian Indians. 49 The second volume (Amazon Frontier), which covers the period from 1755, draws heavily on the narratives of European travellers who came in to contact with the Indians, and Hemming has been punctilious in extracting contemporary portraits of the diminished and retreating Indians. Hemming's English sources include Waterton, Burchell, Maw, Gardner, Bates, Wallace, Spruce, Chandless and Burton. For example, he quotes the 1823 observations of Lt. Maw on the enslavement and ill-treatment of Indians along the Amazon, George Gardner on the efficiency of the hunter-gatherer economy of the Kraho, and William Chandless on the beauty of Munduruku women. 50 H.W. Bates' descriptions of the Parauates as intractable savages, who 'had no fixed abode, and of course made no plantations, but passed their lives like the wild beasts, roaming through the forest, guided by the sun' captures the simplicity of Indian life. 51 Conversely he also vividly portrays the complexity of a Tucuna feast, with dancing 'for three of four days and nights in succession, drinking enormous quantities of caysuma, smoking tobacco, and sniffing parica powder'. 52

Charles Darwin and slavery Like all good converts, the British, having seen the error of their ways, became active in seeking the abolition of slavery in Brazil. There is a substantial directly abolitionist literature on the issue, but many of the travel narratives also contain observations on the position of blacks in Brazilian society. 53 For example, despite the brevity of the visits of the "Beagle" to Salvador and Rio de Janeiro, Charles Darwin makes reference to the existence of a "quilombo" of runaway slaves near Lagoa Marica, where an elderly negress 'dashed herself to pieces from the summit of the mountain', rather than be recaptured. 54 Elsewhere he offers a contrast between his 49 50 51 52 53 54

J. Hemming: Red gold. London 1978. J. Hemming: Amazon frontier: the defeat of the Brazilian Indians. London 1987. Ibid., p. 223-4, 141-2, 246-7. Bates 1863, p. 271. Ibid., p. 453. Bethell 1970. C. Darwin: The voyage of the Beagle. New York 1958, p. 16.

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presumption that 'the slaves pass happy and contented lives', after hearing them singing the morning hymn at the beginning of their daily work, with witnessing 'one of those atrocious acts which can only take place in a slave country' where male slaves were to be separated from their women and children, and sold at public auction in Rio. 5 5

Maria Graham and the ladies of Salvador The rise of gender studies in the social sciences means we might also explore these traveller sources for insights into the position of women in Brazil in the 1800s, although the number of narratives by women is limited. Effective use of such sources has, however, been made by Miriam Moreira Leite, in her A condigäo feminina no Rio de Janeiro, seculo XIX,^ in which she uses extracts from them to convey a wide range of facets of women's lives. Her themes include family life, education, employment, and social activities, as well as the position of free and enslaved black women. Maria Graham, who lived in Brazil in the early 1820s, and served as tutor to the daughter of Dom Pedro I, has left an interesting record of the period around independence, and of the social domesticity and social round of 'polite society' of the time. She could, however, be arrogantly English in her attitudes. She describes some 'gentlewomen' of Salvador as having hair that was 'ill-combed, and dishevelled, or knotted unbecomingly, or still worse, en papillote, and the whole person having an unwashed appearance'! 5 7 She was, though, prepared to concede at a social function a few days later, that these now well-dressed women were unrecognisable from 'the slatterns of the other morning'. 5 8

Bigg-Wither and an English economic failure in Brazil Britain's role in the economy of nineteenth century was such that A.K. Manchester could assert a neo-colonial hegemony in which 'until 1914 British capital, British enterprise, British shipping and British goods predo55 56 57 58

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Ibid., p. 20-1. M. Moreira Leite: A condifäo feminina no Rio de Janeiro: seculo XIX. Säo Paulo 1993. Graham 1824, p. 136. Ibid., p. 142.

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minated in the economic life of Brazil'. 5 9 Many of the travellers who wrote of Brazil at this time were engaged in fostering British economic activities in the country, and describe their mining and railway building projects, as well as commenting, not always favourably, on domestic economic activities. The splendidly-named Thomas Plantagenet Bigg-Wither was in fact a railway surveyor, but his account of his explorations in Paraná provide an unusual description of the failure of an English project, a colony of settlement at Assungui, near Curitiba in the 1870s. 6 0 This scheme caused some debate in the English press, as to whether its failure was due to the ineptitude of the Brazilian government or the unsuitability of the settlers. BiggWither describes the crude shacks of the colonists, and the rudimentary agriculture they had undertaken. In his view, 'Assungui cannot be said to be a suitable spot for the establishment of any English Colony'. 6 1 In fact, BiggWither suggests that failure was due to a combination of factors - the site was too steep for plough agriculture and lacked pasture land; the price of land was too high; the location was remote and the government failed to build promised roads; Brazilian agents in Britain had misled would-be migrants about condition - but also deceived the Brazilian government by sending 'town roughs' rather than 'agriculturalists, well acquainted with improved modes of farming'; 6 2 the journey from Rio to Assungui took three months, rather than the three weeks in which it could have been accomplished, so that colonists became ill or demoralised. Elsewhere, BiggWither indicates that the prospectus for another colony 'calculated seriously to deceive', by portraying railways which did not exist, insignificant villages as towns, and 'vile and often impassable mule-tracks' as grand carriage roads, all serving to create 'the scandal under which Brazil now labours in respect of English colonization'. 63

Britain and the exploitation of Brazil The nineteenth century has been described as the 'English century' in Brazil, and it is worth noting that these writers also saw the potential of Brazil in economic terms. Much of the British activity in Amazonia, for example, was concerned with commercial development of natural resources, land, steam 59 60 61 62 63

Manchester 1972, p. ix. T.P. Bigg-Wither: Pioneering in south Brazil. New York 1968, vol. II, p. 179-91. Ibid., p. 191. Ibid., p. 186-7. Ibid., p. 309-12.

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navigation etc. Even Bates could write with enthusiasm of the economic potential of Manaus - healthy climate, absence of insect pests, fertile soil capable of growing all kinds of tropical produce, and with good transport access via its rivers - it wanted only labour - 'before this glorious region can become what its delightful climate and exuberant fertility fit it for - the abode of a numerous, civilised, and happy people'. 6 4 One suspects that some contemporary sources felt that this was not long enough. John Mawe wrote 'situated in one of the finest climates in the world, with rich lands full of the finest timber, abounding in rivulets and waterfalls in every direction, containing, besides precious metals, iron ores, and almost every other useful product, the inhabitants of Brazil, though secured from absolute want, remain in indigence'. 6 5 Indeed, there are also evident views that what Brazil really needed was foreign, and preferably English, settlers. A.R. Wallace, noting the rich agricultural potential of the Tocantins, commented that 'the indolent disposition of the people, and the scarcity of labour, will prevent the capabilities of this fine country from being developed till European or North American colonies are formed'. 6 6

Conclusion This survey has scarcely scratched the surface of the topic - case studies from a limited number of authors does not begin to do justice to the wealth of material available in these travellers' tales - jaundiced perhaps, a little pro-British, but containing a great variety of detailed observations on the society, economy and landscapes of Brazil a century ago. There are also other themes; there were British travellers elsewhere in the continent - and of course the visits and visions of other travellers - from France, Germany, Austria, Russia, and the United States.

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Bates 1863, p. 201. Mawe 1812, p. 361. Wallace 1972, p. 55.

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Map showing the visits of English travellers to various parts of Brazil. Dates in brackets refer to the publication date of books; others to the actual date of arrival in Brazil. The graph shows the decades in which the books were published.

NINETEENTH CENTURY BRITISH TRAVELLERS IN BRAZIL DECADES OF PUBLICATION

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Sidney Wamton Ash. Graham Handaraon Cochrane Darwin Gardner Amtftage Wllbericrea Ouaaley Dundaa Marjarlbanka Candlar Hadflefd ManalleJd Christie Scully Dam Kennedy A J Mulhail Edgecumbe Ball Frances Atchison Kennedy W R

1809 1812 (1812) 1821 (1821) 1823 1832 1836 (1836) 1851 (1852) (1852) (1853) (1853) (1854) 1856 1859 (1866) (1866) (1869) (1877) (1877) (1887) (1890) (1891) (1892)

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Original Publication of Travel Texts Bates, H.W.: The naturalist on the River Amazons. (2 vols.) London 1863. Bigg-Wither, T.P.: Pioneering in south Brazil. (2 vols.) London 1878. Burton, R.: Explorations of the highlands of the Brazil. (2 vols.) London 1869. Clough, R.S.: The Amazons. London 1872. Cochrane, T.: Narrative of services in the liberation of Chile, Peru and Brazil from Spanish and Portuguese domination. London 1859. Darwin, C.: Journal and remarks 1832-36. Vol. 3 of Narrative of the surveying voyages of His Majesty's Ships 'Adventure'and 'Beagle' between the years 1826 and 1836. London 1839. Fox-Bunbury, C.J.: Viagem de um naturalista Ingles ao Rio de Janeiro e Minas Gerais, 1833-35. Belo Horizonte 1981. Frances, M.: Beyond the Argentine: or, letters from Brazil. London 1890. Gardner, G.: Travels in the interior of Brazil. London 1846. Graham, M.: Journal of a voyage to Brasil and residence there during parts of the years 1821, 1822, 1823. London 1824. Hadfield, W.: Brazil, the River Plate and the Falkland Islands. London 1854. Henderson, J.: A history of Brazil. London 1821. Koster, H.: Travels in Brazil. In the years from 1809 to 1815. London 1816. Lindley, T.: Narrative of a voyage to Brazil. London 1805. Luccock, J.: Notes on Rio de Janeiro and the southern parts of Brazil. London 1820. Mathews, E.D.: Up the Amazon and Madeira rivers. London 1879. Maw, H.L.: Journal of a passage from the Pacific to the Atlantic. London 1829. Mawe, J.: Travels in the interior of Brazil. London 1812. Mulhall, M.M.: Between the Amazon and the Andes. London 1881. North, M.: Recollections of a happy life. (2 vols.) London 1892.

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Schomburgk, R.: 'Journey from Fort San Joaquim, on the Rio Branco, to Roraima and thence by the Rivers Parima and Merewari to Esmeraldas on the Orinoco'. In: Journal of the Royal Geographical Society, vol.10, 1841, p. 191-247. Scully, W. Brazil: its provinces and chief cities. London 1866. Smyth, W. and Lowe, F.: Narrative of a journey from Lima to Pará, across the Andes and down the Amazon. London 1836. Spruce, R.: Notes of a botanist on the Amazon and the Andes. London 1908. Wallace. A. R.: A narrative of travels on the Amazon and Rio Negro. London 1853.

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Rassen, Rassenmischung und die Zukunft des Landes: Französische Reiseberichte über Brasilien im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts Problemstellung In einem Artikel der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 17. November 1995 über den "Tag des schwarzen Bewußtseins", den Tag, an dem die afrobrasilianische Bevölkerung ihres vor 300 Jahren am 20. November 1695 getöteten Helden Zumbi, eines von der portugiesischen Kolonialmacht hingerichteten Anführers aufständischer Sklaven gedenkt, ironisiert Martin Merz das "Märchen von der 'ethnischen Demokratie' Brasiliens, ohne Rassendiskriminierung und Rassenkampf, wie es 1933 Gilberto Freyre im Buch Herrenhaus und Sklavenhütte gesponnen hat": "Es ging ihnen gut hier, erzählt das große brasilianische Märchen, erzählt von Harmonie zwischen Herrenhaus und Sklavenhütte, von Sklavenkindem, die in die weiße Familie aufgenommen worden seien. [...] Rassismus, sagt das Märchen, sei ein Problem der anderen [...] 'Es gibt keine Rassendiskriminierung in Brasilien', sagt der - weiße - Direktor des Industrieverbandes von Säo Paulo, Carlos Uchoa Fagundes. 'Es gibt nur kulturelle Unterschiede: Die Japaner sind geschickt in heiklen Geschäften, die Schwarzen erledigen mit Leichtigkeit schwere körperliche Arbeit'." Für den Autor des ZEIT-Artikels ist es ein leichtes, gegen diese idyllische Version eines harmonischen Mit- und Nebeneinanders der Rassen in Brasilien die "Wahrheit" der historischen Fakten zu setzen: ein über 300 Jahre institutionalisiertes grausames Unterdrückungs- und Bestrafungssystem gegen Indios und Schwarze, die hohe Sterblichkeitsrate der Sklaven in den ersten Jahren nach ihrer Ankunft, die große Zahl der Selbstmorde, die Kinderarbeit auf den Fazendas, die sexuelle Ausbeutung der schwarzen Frauen. Als letztes Land der westlichen Welt schaffte Brasilien erst 1888 die Sklaverei ab; die Zahl der aus Afrika nach Brasilien eingeschleppten Sklaven wird auf runde fünf Millionen geschätzt; allein im 19. Jahrhundert, nachdem der Wiener Kongreß den Sklavenhandel der europäischen Mächte verboten hatte, wurden noch 1,7 Millionen afrikanischer Sklaven in den brasilianischen Häfen ausgeladen. Gegen das "Märchen" von der Rassenharmonie in Brasilien spricht nicht zuletzt auch die wachsende Bedeutung des "movi-

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mento negro", der Emanzipationsbewegung der Afrobrasilianer, die sich auf eine ebenfalls schon jahrhundertealte Tradition des Widerstandes und Befreiungskampfes berufen kann. Außer als "Märchen" von der "ethnischen Demokratie" Brasiliens kann man Gilberto Freyres Casa grande e senzala freilich auch noch anders lesen; es wäre sonst schwer verständlich, weshalb das Buch in Brasilien zunächst als skandalös und schockierend empfunden wurde, insbesondere in Kreisen der katholischen Kirche. Man kann Freyres Buch als Gegendarstellung zu einer kolonialen Geschichtsschreibung lesen, die einseitig den weißen, europäischen Anteil an der brasilianischen Zivilisation betonte, als Rehabilitierung und Valorisierung des indianischen und des afrikanischen Anteils an der brasilianischen Nation und ihrer Kultur, als "wissenschaftliches" Gründungs-Epos der brasilianischen Nation, das gerade die Rassenmischung (miscegenaçao, mestiçagem) betont und hervorhebt, derzufolge der moderne Brasilianer als Produkt einer Mischung erscheint, welche erst das Überleben aller drei beteiligten Rassen auf Dauer gesichert hat: die eingeborenen Indios und besonders die Indianerinnen mit ihrer Sinnlichkeit, ihrer Vertrautheit mit der tropischen Natur, zugleich introvertiert und kriegerisch, labil und unbeständig, als Nomaden stets bereit zu einem neuen Aufbruch; dagegen die seelische Wärme und Extrovertiertheit der Schwarzen, ihre physische Stärke und Ausdauer, ihre Fähigkeit zur Fröhlichkeit und Ausgelassenheit. Und schließlich Portugiesen, die schon aufgrund ihrer Geschichte am äußersten Rande Europas halb "afrikanisch" und deshalb am besten unter allen Europäern für die Tropen prädestiniert sind, wo sie ihre Fähigkeit zur Vermischung (statt mit Jüdinnen und Maurinnen mit Indianerinnen und Schwarzen) und ihre Fähigkeit zur Vermittlung kultureller Antagonismen (als "trickster") für den Aufbau der neuen Nation einsetzen konnten. Gilberto Freyre verschweigt nicht den Anteil von Gewalt und Unterdrückung in der brasilianischen Geschichte, aber er legt den Akzent auf die Bereitschaft zur Vermischung der Rassen (von hier stammt die starke Betonung der Sexualität, die man ihm u.a. vorgeworfen hat) und Kulturen, was auch heißt: Lernfähigkeit und Einsatz der komplementären Stärken und Tugenden der Rassen. Lucien Febvre nennt das Buch Freyres "noble d'inspiration, et courageux en tout ce qui touche au racisme, à la sexualité, à l'esclavage". Gilberto Freyre seinerseits bekennt im Vorwort zur ersten französischen Übersetzung seine Dankesschuld gegenüber den vor allem französischen "bons et honnêtes voyageurs", aus deren Berichten er reich-

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lieh geschöpft hatte und die für ihn "la source peut-être la plus sûre" der Sozialgeschichte seines Landes sind.1 Gilberto Freyres Rückgriff auf französische Reiseberichte läßt sich mit zweierlei Erkenntnisinteresse begründen, und zwar aus einer französischen und einer brasilianischen Perspektive. Zur französischen Sicht: Nur vier Jahre nach der "Entdeckung" Brasiliens durch Pedro Alvares Cabrai (1500) landete der aus Honfleur an der Seinemündung, damals neben Dieppe der bedeutendste Hafen der Normandie, stammende Capitaine Binot Paulmier de Gonneville mit der Espoir und einer Besatzung von etwas über 60 Mann nach einer siebenmonatigen Reise (davon sechs Monate auf hoher See über Lissabon, die Kanaren und die Kapverdischen Inseln) an der Küste Südbrasiliens (im heutigen Bundesstaat Santa Catarina), wo sie sich sechs Monate aufhielten und nach einer abenteuerlichen Rückreise, bei der sie kurz vor ihrer Landung noch von Piraten geplündert wurden, erschöpft und dezimiert am 20. Mai 1505 wieder in Honfleur ankamen. Das einzige "Mitbringsel" war das indianische Patenkind Gonnevilles, Essomericq, der unter dem Namen Essomericq Binot 1521 die Nichte des kinderlosen Gonneville heiratete, mit der er 14 Kinder zeugte und 1583 im Alter von 95 Jahren starb. Der kurze Reisebericht - die Tagebücher waren verloren gegangen - , "Déclaration du Voyage du Capitaine Gonneville et ses Compagnons és Indes", der vom 19. Juni 1505 datiert, ist der erste einer langen Reihe von französischen Reiseberichten über Brasilien, die seit der Entdeckung des südamerikanischen Kontinents die Erinnerung an diese "verlorene Kolonie" wachhalten und unter denen sich, von André Thévet und Jean de Léry im 16. Jahrhundert bis Lévi-Strauss' Tristes Tropiques, eine Reihe von Meisterwerken der Reiseliteratur befinden. 2 Wie Jeanine Potelet schreibt: "Depuis sa découverte le Brésil est inscrit dans l'histoire de la France. Chaque siècle connaît une flambée de fièvre brésilienne, des espoirs de conquêtes et des rêves de fortune" (S. 7). Von brasilianischer Seite her sind die europäischen Reiseberichte nicht nur, wie von Freyre bestätigt, als sozialgeschichtliche Quellen von Interesse, sondern auch aufgrund der Rückwirkungen der europäischen Darstellungen auf das Selbstbild brasilianischer Schriftsteller und Intellektueller. 3 In der Einleitung zu seiner über tausend Seiten umfassenden Abhandlung über das öffentliche Unterrichtswesen, die 1889 in französischer Sprache erschien,

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Zit. nach Potelet 1993, S. 7; Lucien Febvre in der Einleitung zur französischen Ausgabe, Maîtres et Esclaves (1974), S. 18. Vgl. die Einleitung von Perrone-Moisés 1995. Vgl. Link-Heer 1995 und Ventura 1986 und 1987.

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erinnert der Autor Pires de Almeida daran, daß sich die junge Nation seit ihrer Unabhängigkeit (in Wahrheit schon einige Jahre früher) den ausländischen Wissenschaftlern und Forschungsreisenden geöffnet hatte, deren Interesse und Bewunderung für das Land auf die brasilianische Intelligentsia und ihre Werke zurückwirkten: "Eveillaient dans l'esprit national le véritable amour de la patrie. Ce que nous regardions jusqu'à cette époque avec une certaine indifférence, prit tout-à-coup une haute valeur par l'estime qu'en faisaient les étrangers, et l'on y découvrit de puissants éléments de vitalité autonome." (S. 156) Auch die für diesen Aufsatz ausgewählte Epoche - das zweite Drittel des 19. Jahrhunderts - ist in doppelter Hinsicht von Interesse. Zum einen können sich die Brasilienreisenden dieser Epoche auf eine umfangreiche Brasilienliteratur aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts stützen. Insbesondere in dem von Jeanine Potelet untersuchten Zeitraum zwischen 1816 und 1840 wurde eine erste umfangreiche Bestandsaufnahme des zu Brasilien Wissenswerten geleistet. Seit den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts beginnt im übrigen die systematische koloniale Ausdehnung Frankreichs, die um 1900 ihren Höhepunkt und zugleich ihre Krise erreicht, und die Ausarbeitung einer kolonialen und imperialen Doktrin. In dieser Zeit des kolonialen und imperialen Rausches (nicht der französischen Nation insgesamt) wird auch jene "nostalgie d'une Amérique perdue et le sentiment d'un empire avorté" 4 wieder lebendig, die sich u.a. in der umfangreichen Abhandlung des Kolonialhistorikers Paul Gaffarel, Histoire du Brésil Français au 16ème siècle (1878), artikuliert, der aus den Fehlern und Versäumnissen der Vergangenheit Lehren für die Gegenwart ziehen möchte: "L'expérience du passé nous mettrait en garde contre les erreurs de l'avenir. En apprenant comment nous avons su conquérir, mais non garder, nous trouverions sans doute le secret d'organiser et de conserver" (Préface, unpaginiert). Zum anderen wird die Zeit - im Hinblick auf unser Thema - von der Tatsache bestimmt, daß seit 1850 der Sklavenhandel verboten war; die Sklaverei selbst wurde allerdings erst 1888 abgeschafft; ein Jahr später löste die Republik das Kaiserreich ab. Um zu einer präzisen Einschätzung der Spezifik der französischen Reiseberichte über Brasilien im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts - insbesondere des hier interessierenden Themas der Rassenmischung - zu gelangen, sind mehrere Wege denkbar: Einmal lassen sie sich zu den Berichten der Reisenden der vorausgehenden Periode in Bezug setzen; zum zweiten wäre ein Vergleich mit französischen Reiseberichten über andere Weltgegenden 4

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Morisset 1993, S. 61.

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(z.B. die zeitgleichen über Afrika) möglich; drittens könnte man sich Parallelen zu Brasilien-Reiseberichten anderer Nationen (z.B. aus England oder Deutschland) vorstellen; und schließlich wären auch Gegenüberstellungen mit Werken anderer literarischer Gattungen vorstellbar (z.B. fiktionale Werke, Romane u.a.), in denen ebenfalls von Brasilien die Rede ist. Nachfolgend werden wir uns weitgehend darauf beschränken, die Reiseberichte der gewählten Periode mit früheren Berichten in Beziehung zu setzen, wobei die Grenzen nicht immer deutlich zu ziehen sind, u.a. deswegen, weil die Zeit der Reise(n) nicht immer mit der Abfassung und Veröffentlichung des Reiseberichts übereinstimmte.

Reisende im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts Von den französischen Reisenden der von ihr untersuchten Periode 18161840 sagt Jeanine Potelet, daß sich unter ihnen eine große Anzahl außergewöhnlicher Persönlichkeiten befand: "A la fois par leur esprit scientifique, leur vaste culture et leur humanisme. Fils des Lumières du XVIII siècle et de l'Encyclopédie, mais également animés de la foi dans le progrès et des nouvelles aspirations du XIX siècle, les savants naturalistes [...], officiers de marine [...], explorateurs [...], commerçants [...], artistes [...] donneront du Brésil une vision lucide et cordiale à la fois, dynamique et rénovatrice." (S. 7f.) Für die Zeit zwischen 1816 und 1840 zählt Jeanine Potelet nicht weniger als 41 Reisende und Seeleute, die 119 gedruckte Berichte und zahlreiche noch unveröffentlichte handschriftliche Quellen hinterlassen haben. Kann man deshalb schon (mit Potelet) sagen, daß die "fundamentalen Interessen" der Reisenden den "spezifischen Problemen des Landes entsprechen"? Eroberung und Durchdringung eines gewaltigen Raumes, ein genaues Inventar seiner natürlichen Reichtümer und deren zukünftiger Nutzung; ein genaues Eingehen auf die verschiedenen Bevölkerungsgruppen: die Schwarzen, die über die Hälfte der Bevölkerung ausmachen und von denen 48% Sklaven sind; die Indianer, für deren Kultur man sich mehr und mehr interessiert, die man aber als Rasse über kurz oder lang für zum Aussterben verurteilt hält; die Weißen schließlich, in deren Händen, wie man glaubt, die Zukunft des Landes liegt? (Ebda.) Besonders optimistisch ist Jeanine Potelet, was die Einstellung der von ihr untersuchten Reisenden zum Thema der Rassenmischung und der besonderen Eigenschaften eines jeden von ihnen angeht:

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"Les voyageurs ne dévalorisent pas pour autant les métis d'Indiens ni n'instaurent aucune hiérarchie entre eux. Les stéréotypes, les généralisations tranchées, les louanges excessives ou les critiques inexorables, les prétendues supériorité ou infériorité des uns par rapport aux autres, résistent mal à l'observation de la réalité que fait l'homme de science." (S. 308) Wenn trotzdem Unterschiede im Verhalten und in der Intelligenz der einzelnen ethnischen Gruppen festzustellen seien, dann ließen sie sich - aus der Sicht der Reisenden - auf unterschiedliche Lebensbedingungen wie Ernährung und Ausbildung zurückführen. Eine der Grundthesen des Buches von Gilberto Freyre ist, daß die Mischung der Rassen die Anpassung an das Land und das Überleben seiner Bewohner unter schwierigen Bedingungen begünstigt und erst ermöglicht habe. Sie findet sich auch schon in früheren Reiseberichten. So schreibt Auguste de Saint-Hilaire von den Cariocas (Mischlingen von Schwarzen und indianischen Frauen), sie seien physisch stärker und intellektuell besser gerüstet, um die europäische Kultur zu assimilieren. 5 Debret vertritt die These, daß sich die indianische Rasse durch Mischung mit der weißen deutlich verbessere, und Alcide d'Orbigny ist ebenfalls der Meinung, daß die brasilianischen Mischrassen den "reinen" Ausgangsrassen überlegen seien. Im Unterschied zu den rassistischen Thesen vom Ende des Jahrhunderts seien die Äußerungen der frühen Reisenden unbefangener und objektiver. Sie hätten mit ihrer Sicht der Rassenbeziehungen die Auffassung der heutigen Wissenschaft ("science moderne") vorweggenommen und die Einschätzung der Intellektuellen und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts (wie Gilberto Freyre) antizipiert, für die der Mischling zum Symbol der neuen Nation wird und die Lösung des Problems der Rassenintegration darstellt. Die neue Sicht der wissenschaftlichen Reisenden erscheint als präziser und mithin wahrer als die verklärende oder abstoßende der Literatur. Die "Bodenhaftung" der Naturwissenschaftler und ihr Realitätsbezug erscheinen als Garanten, um mit überkommenen Ideen und Vorurteilen aufzuräumen und zu einem besseren Verständnis der Lebensweise zu gelangen, auf dessen Grundlage das humanistische und humanitäre Engagement (vor allem gegenüber den Indianern) der Reisenden nachvollziehbar wird: "Les voyageurs montrent une portion d'humanité estimable et déshéritée, et, essayant de faire comprendre aux Blancs responsables - car ils refusent de la voir s'éteindre sans lui porter secours - comment la solution du problème que pose la civilisation des Indiens est nécessaire à la dignité d'un peuple et à l'épanouissement d'une nation." (S. 311) 5

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Vgl. das Kap. "Le Métissage" bei Potelet 1993, S. 307-311.

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Auch wenn man das positive Gesamtbild Jeanine Potelets nicht grundsätzlich in Frage stellen möchte und an "Aufklärung" und Erkenntnis-"Fortschritt" durch Wissenschaft und Forschung glaubt, so wird man doch nicht umhin können, die diskursiven Verankerungen der Brasilien-Reiseberichte genauer zu berücksichtigen und das jeweilige Erkenntnisinteresse präziser in Betracht zu ziehen. Wenn Potelet schreibt: "En 1815, l'Eldorado des commerçants et des savants conquérants est au Brésil" (S. 24), dann gibt sie damit gleichzeitig zu erkennen, daß die Forschungsreisenden außer wissenschaftlicher Erkenntnis und der Mehrung des Wissens über Brasilien möglicherweise noch andere Ziele im Blick hatten. Was die Tatsache nicht berührt, daß die unmittelbare Begegnung mit der Realität und die genaue Beobachtung in vieler Hinsicht tatsächlich eine Überwindung älterer Vorstellungen und der Mythen eines effekthaschenden Exotismus und Sentimentalismus, unüberprüfbarer Thesen und Glaubenssätze bedeutete. 6 Nachfolgend soll an einigen Beispielen aufgezeigt werden, in welcher Weise eine je spezifische Vor-Einstellung und Vor-Bildung in den Reiseberichten die nachfolgenden Generationen der Brasilien-Reisenden des 19. Jahrhunderts und deren Sicht des Landes und seiner Bevölkerung beeinflußte und wie bei aller Mehrung des Wissens und einem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit das Ergebnis doch nicht frei von ideologischen Determinierungen und einer deutlichen Parteinahme war. Zur Schärfung des Blicks und besseren gegenseitigen Abgrenzung wurden vier Werke ausgewählt, die sich schon nach der Programmatik ihrer Autoren und deren beruflich-wissenschaftlicher Vorbildung deutlich voneinander abgrenzen lassen: Max Radiguet wendet sich betont gegen eine zu starke "Verwissenschaftlichung" des Reiseberichtes und will seine Aufmerksamkeit gerade auf die "pittoresken" Seiten der bereisten Länder und Gesellschaften richten; Horace Say ist als Wirtschaftswissenschaftler (sein Vater Jean-Baptiste Say war Verfasser eines sechsbändigen Cours Complet d'Economie Politique Pratique) bekannt geworden; Adolphe d'Assier hat neben und vor seinem Brasilienbuch Werke zur Allgemeinen und Vergleichenden Sprachwissenschaft veröffentlicht; Alphonse Rendu schließlich war Arzt und Naturwissenschaftler. Keiner der vier Autoren hat sein Werk nur für Fachleute geschrieben,bei jedem läßt

Dies gilt vor allem für ethnographisch-deskriptive Werke wie den zweibändigen L'Homme américain (1839) von Alcide d'Orbigny, der am Ende der von Jeanine Potelet untersuchten Periode steht und eine systematisch-enzyklopädische Darstellung der Indianer Südamerikas versucht.

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sich eine Intention der Ganzheitlichkeit feststellen, d.h. der Versuch, der Komplexität des Landes und seiner Bewohner gerecht zu werden. 7

Reiseberichte aus dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts (1) Max Radiguets Souvenirs de l'Amérique Espagnole (1856) beruhen auf einer Reise, die zwischen 1841 und 1845 mit der Fregatte La Reine Blanche unternommen wurde; der Autor war während dieser Zeit Sekretär des Admirais Dupetit-Thours, der die französische Marineeinheit im Pazifik kommandierte. Teile des Reiseberichts waren zuvor schon in der Revue des Deux Mondes veröffentlicht worden. Der größte Teil des Buches geht über Chile und Peru, erst die letzten 40 Seiten behandeln "la Ville et la Campagne de Rio de Janeiro". Wie bereits angedeutet, wendet sich der Autor in seinem Vorwort gegen eine zu starke Verwissenschaftlichung der Reiseberichte, die mit ihren Zahlen und Statistiken die spezifischen Unterschiede zwischen den Ländern ("le côté intime et original des nations") verwischt. Vor allem andern, noch vor den humanitären und industriellen Fortschritten der Länder, geht es Max Radiguet um den "esprit particulier de chaque peuple" (S. X); von der Lektüre des Buches solle ein "souvenir poétique" bleiben. Was darunter zu verstehen ist, erfährt der Leser gleich zu Beginn nach der Landung in Rio: der Eindruck der Schönheit der Landschaft - das herrliche Panorama der Bucht, die Farben und Töne der Stadt aus der Ferne kontrastiert eigentümlich scharf mit der Ärmlichkeit und dem Schmutz der Menschenwelt (S. 253): "Si l'on débarque à Rio l'esprit encore charmé, le regard encore ébloui par le magique aspect de la baie, on éprouve un désenchantement pénible. Peut-il en être autrement, sur cette terre où la nature étale toutes ses magnificences, déploie toutes ses féeries? L'oeuvre des hommes semble triste, mesquine, sordide et peu en rapport avec les splendeurs du paysage". Der Topos "Schönheit und Pracht der Natur vs. Armut und Häßlichkeit des menschlichen Bereichs", der sich auch in anderen Reiseberichten (nicht nur) über Brasilien findet, gibt in mehrfacher Hinsicht zu denken: Er macht zu-

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Man könnte in diese Reihe auch noch Just-Jean-Etienne Roy: L'Empire du Brésil (1868) stellen, der ebenfalls kompilatorisch vorgeht und seine Informationen aus den vorhergehenden Reiseberichten schöpft, die er im Sinne katholischer Propaganda für ein jugendliches Publikum zurichtet, dem er "le plus vaste empire catholique du monde, appelé, j'en ai la conviction, à de hautes destinées" (S. 177) nahe zu bringen sucht.

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nächst deutlich, daß die Aussagen über die Menschen und die Gesellschaft nicht ohne Bezug zu den Darstellungen der Natur gesehen werden können. Möglicherweise ist hier zugleich eine Ästhetik des Kontrasts am Werke, die in den beiden Bereichen (Natur - Mensch) auf je unterschiedlichen ästhetischen Kanones und literarischen Traditionen fußt und die in einem Sinne fortentwickelt und pointiert werden kann, daß sie die Unterschiede noch verschärft und ideologisch auflädt, indem sie über die bloße Beobachtung hinausgeht und dem Beobachteten weiterreichende (verborgene) Bedeutungen unterlegt oder zu Generalisierungen tendiert. Beim Fest des Hl. Sebastian beobachtet und kommentiert der Autor: "Un nombreux public aux vêtements bariolés [...]; il se composait entièrement de noirs et de mulâtres, qui semblaient venus là moins pour prier que pour admirer la splendide illumination du lieu saint." (S. 254) An die Beobachtung von fast nackten Schwarzen, die zum Strand gehen und augenscheinlich irgendwelche Waren (die sie auf dem Kopf tragen) ausrufen, schließt sich die Beschreibung an: "Les nègres du Brésil, comme tous les nègres du monde, ont l'habitude de chanter pour tromper la fatigue pendant un travail quelconque; mais leurs improvisations sont peu variées, ils répètent à l'infini les mêmes paroles. Ceux-ci allaient tout simplement déposer sur la grève les immondices de la ville." (S. 255) Über das rein Beobachtete und Beobachtbare hinaus enthält der Abschnitt Aussagen und Assoziationen, die in eine andere Richtung weisen. Etwa: "Alle Neger sind gleich". - "Ihre künstlerischen Ausdrucksformen sind wenig entwickelt." Die Verbindung der schwarzen Bevölkerung mit unangenehmen Sinneseindrücken (Aussehen, Geruch, Stimme), die Ekel und Abwehr hervorrufen, setzt sich auch in der Darstellung des Treibens in den engen Straßen fort: "Des noirs presque nus y circulent incessamment chargés de lourds fardeaux, ou conduisant des cabrouets dont les roues, pareilles à une table ronde percée au centre, agacent les nerfs de leurs criaillements aigus; aux exhalaisons de certains poissons conservés, vient se joindre l'odeur infecte et particulière à la classe nègre, rendue encore plus écoeurante par une chaleur de trente-cinq degrés; enfin leurs cris, leurs jurons, leurs chansons, leur mauvaise humeur s'épanchant d'ordinaire en monologues prolixes, complètent une série d'ennuis et de contrariétés pour l'étranger qui s'aventure dans ce quartier turbulent." (S. 256f.) Aus den vornehmeren Vierteln, wo Diplomaten und reiche Brasilianer wohnen, ist aller Lärm und Unrat verbannt, die Landschaft wird wieder "déli131

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deux», die Natur zeigt sich von ihrer schönsten Seite ("les sites les plus pittoresques») und wird - einschließlich der Kaffee-, Mais-, Maniok- und Bananenkulturen - in einem wahren Anthologiestück tropischer Naturbeschreibung zum Gegenstand der Bewunderung und des kenntnisreichen Genusses. Die Lage der Sklaven wird als durchaus erträglich beschrieben, weniger schlimm jedenfalls, als eine auf Mitleid und Tränenseligkeit bauende abolitionistische Literatur glauben machen wollte. Bemitleidet werden denn auch nicht die Sklaven, sondern diejenigen, die als Opfer ihres Berufes (des Sklavenhandels) zahlreichen "barbarischen" Akten der Repression ausgesetzt waren. Selbst da, wo die Sklaven ihre Lage für einen Moment zu vergessen scheinen, wenn sie sich dem Tanz zur Musik einer Art Mandoline hingeben, gewährt ihnen der Autor keine Schonung, sondern scheint eher ihren Status mit ihrer unzulänglichen Intelligenz und ihrer Eignung für schwere körperliche Arbeit bei großer Hitze rechtfertigen zu wollen, während ihre Träume von Freiheit als "süße Illusion", welcher das Auftauchendes Aufsehers ein Ende setzt, zurückgewiesen werden. (S. 261) Die Verurteilung der Sklaverei wirkt nachfolgend nur halbherzig ("eigentlich verdienen sie nichts Besseres, aber...") und eher wie eine pflichtgetreue Zustimmung zu einem allgemein anerkannten Prinzip: "Quoi qu'il en soit, et malgré le peu de sympathie que nous ont inspirée les nègres chaque fois que nous avons été à même de les voir, libres, dans leur pays, nous n'en considérons pas moins la traite comme indigne, surtout chez un peuple chrétien." (S. 262) Trotz dieser prinzipiellen Ablehnung der Sklaverei dominieren die Argumente für ihre Beibehaltung, die man in zwei Bündel zusammenfassen kann: Zum einen seien allein die Schwarzen zur Arbeit bei einem so mörderischen Klima fähig; zum anderen verdienten sie aufgrund ihrer geistigen und moralischen Veranlagungen kein Mitleid. - Die Anekdote von dem schwarzen Bettler, der sich in einer Sänfte von zwei schwarzen Sklaven bei seiner "Arbeit" tragen läßt und auf das Ansinnen des Autors, doch seine Sklaven zu verkaufen, hochmütig antwortet: "Ich bitte um Geld, nicht um guten Rat", beweist hinlänglich, daß auch die Neger das System der Sklaverei für gerechtfertigt halten. Die Zukunft des Landes könne demnach auch nicht in der Befreiung der Sklaven und in einer Zusammenarbeit und Mischung der Rassen liegen, sondern einzig in einer verstärkten Förderung der weißen Einwanderung. Nur so könne auf Dauer das zahlenmäßige Übergewicht der schwarzen Rasse ausgeglichen werden. (S. 280) Der Bericht von Max Radiguet ist ein klares Beispiel dafür, wie ein vermeintlich unvoreingenommener Beobachter auf verschiedenen Registern sei132

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und die Zukunft des Landes

ner (selektiven) Wahrnehmung eine Rasse verächtlich macht und erniedrigt und darauf aufbauend ihre Ausbeutung und das ihr angetane Unrecht zu rechtfertigen sucht. Unter einer Oberflächen-Rhetorik des Mitleids und der Prinzipientreue liegen andere Schichten der Abwehr, der Erniedrigung und der Demütigung der fremden Rasse, die gerade gut genug ist, um einen dunklen Kontrast zur Pracht der tropischen Landschaft und dem Wohlleben der herrschenden Klasse herzugeben. (2) Die Histoire des Relations Commerciales entre la France et le Brésil von Horace Say erschien 1839. In dem vorangestellten Widmungsbrief an den damaligen Abgeordneten und Präsidenten des Handelsgerichts von Le Havre erinnert der Autor seinen "cher cousin" daran, daß er 1815 im Auftrag und auf einem Schiff des von ihm geleiteten Handelshauses nach Brasilien aufgebrochen war und seither die Beziehung zwischen beiden Ländern genauestens verfolgt habe. Nach einem kurzen historischen Abriß, einer Darstellung der politischen Verhältnisse Brasiliens und der Entwicklung der Handelsbeziehungen zwischen beiden Ländern sowie einer Reihe eher "technischer" Kapitel über Import und Export, Finanzwesen, Währungsfragen u.a. kommt der Autor erst im 15. von 18 Kapiteln explizit und ausführlich auf die Bevölkerung des Landes zu sprechen: "De la population du Brésil Indiens - Nègres - Gens de Couleur - Hommes de Race Blanche - Nouveaux Emigrants". Das Thema wird aber bereits am Ende des 14. Kapitels vorbereitet, als erstmals der Zusammenhang von Sklavenbefreiung und Emanzipation der Schwarzen mit der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes angesprochen wird: Über Recht und Unrecht, Nutzen oder Nachteil der Sklavenwirtschaft zu diskutieren erübrige sich inzwischen; deren Abschaffung sei - aus politischen wie aus moralischen Gründen - unabweisbar, und es gelte nun, den Wandel vorzubereiten, um nicht unvorbereitet von ihm getroffen zu werden. Nach der Abschaffung des Sklavenhandels und der Befreiung der Schwarzen würde es mindestens eine Generation brauchen, um die ehemaligen Sklaven zur Selbständigkeit und zur Wiedereingliederung in einen Familienverband zu erziehen. Die Frage nach den Folgen der Aufhebung der Sklavenwirtschaft wird im wesentlichen auf ihren wirtschaftlichen Kern reduziert: Wird die schwarze Rasse nach Aufhebung der Sklaverei weiterhin zur Arbeit fähig und willens sein? Wird sie die ihr zugedachte Rolle und Bedeutung im Wirtschaftsleben neben der weißen Rasse spielen können? (S. 216) Über die als unvermeidlich angesehene Abschaffung der Sklaverei hinaus wird bereits die Mischung der verschiedenen Rassen Brasiliens als entscheidendes Zukunftsproblem des Landes angesehen, das als allgemeines ökonomisches Problem auf den Punkt gebracht wird: "l'influence que doit avoir sur le pouvoir productif de chaque pays la nature de sa population" (S. 217).

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Die nüchterne Betrachtung der Bevölkerung als Produktions- und Produktivitätsfaktor hindert freilich Horace Say nicht an einer engagierten kritischen Darstellung der kolonialen Eroberung durch die Portugiesen und des von ihnen an den Eingeborenen im Namen von Christentum und Zivilisation begangenen Unrechts (S. 220ff.). Die Schnörkel- und umstandslose Folgerung wirkt schockierend: "la race d'origine indigène ne compliquera pas pendant longtemps encore les problèmes sociaux de l'Amérique; elle est destinée à reculer devant la civilisation et à s'éteindre" (S. 224). Wie das Beispiel Nordamerikas lehrt, konnte keine der getroffenen oder ins Auge gefaßten Maßnahmen zum Schutz der eingeborenen Bevölkerung diese vor dem Untergang bewahren. Allenfalls könne man helfen, ihre Anlagen (heute würde man sagen: ihren genetischen Reichtum) durch Mischung mit den anderen Rassen zu bewahren und sie darin aufgehen zu lassen. Man kann hier nicht (wie bei Max Radiguet) von einem originären Rassismus im Sinne einer tendenziösen Darstellung, die ihren Gegenstand erniedrigt, sprechen. 8 Der Verfasser bringt die Beobachtungen und Aussagen früherer Reisender auf den Punkt und verzichtet zugleich auf alles philanthropische Beiwerk bei der Darstellung der Indianer im Hinblick auf ihre Eignung für ein künftiges, alle Bevölkerungsgruppen einschließendes (kapitalistisches) Wirtschaftssystem, dessen Logik und dessen Zwängen sich die Indianer verweigerten: "Le race indigène d'Amérique ne peut se plier à la civilisation européenne; ces Indiens restent enfants en quelque sorte jusqu'à la vieillesse; ils conservent dans la vie sociale les qualités comme les défauts qui les distinguaient dans les forêts. Ils sont patients, gais, adroits, souvent même spirituels; mais insouciants de l'avenir, paresseux; aimant passionnément les liqueurs spiritueuses, ils sont prêts à tout sacrifier pour la satisfaction du moindre de leurs désirs. Ils répugnent aux travaux agricoles; ils n'aiment point à attendre long-temps le résultat de leurs efforts; mais se soumettent volontiers à remplir une tâche pénible au bout de laquelle on leur fait voir la récompense." (S. 222f.) Dem Autor geht es nicht in erster Linie darum, durch seine Darstellung der Indianer deren Unterdrückung und Ausbeutung zu rechtfertigen, er zieht vielmehr aus dem bisherigen Verlauf ihres Kontaktes mit der europäischen Zivilisation seine Schlüsse als Wirtschaftshistoriker und -theoretiker, die im gleichen Maße wie Aussagen über die Indianer auch Aussagen über die Etwa im Sinne von Albert Memmi: Le racisme (1982, 1994), der den Rassismus zugleich als "Discours" und als "Expérience Vécue" beschreibt: "Le racisme est la valorisation, généralisée et définitive, de différences, réelles ou imaginaires, au profit de l'accusateur et au détriment de sa victime, afin de justifier une agression" (S. 181).

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"Zivilisation" und Kategorien wie "Arbeit", "Fortschritt" und "Entwicklung" sind. Man kann dem Autor allenfalls vorwerfen, daß er diese Kategorien nicht reflektiert (jedenfalls nicht in dem hier angesprochenen Zusammenhang) und - angesichts ihrer sichtbaren inhumanen Folgewirkungen - in Frage zu stellen bereit ist. So sprechen aus der Sicht des Ökonomen nicht in erster Linie humanitäre oder ideologische Gründe (wie Menschenrechte oder Christentum) für die Abschaffung der Sklaverei, sondern wirtschaftliche Überlegungen: Das Land würde auch ohne die Sklavenhaltung wirtschaftlich prosperieren und sich entwickeln; je länger sich deren Abschaffung hinauszögere, desto höher würden die Folgekosten, beispielsweise die Entschädigung, die man den Sklavenhaltern für jeden befreiten Sklaven würde zahlen müssen. Auch der historische Abriß der Sklavenhaltung in Brasilien hält sich im wesentlichen an die wirtschaftlichen Faktoren: Verwiesen wird auf die Begünstigung des Sklavenhandels durch die geographische Nähe zur afrikanischen Westküste und die Leichtigkeit der Schiffsverbindungen; auf die Entwicklung einer Sklavenhalter-Anthropologie, welche die zur Arbeit auf den Plantagen geeigneten afrikanischen Rassen von den dazu weniger geeigneten zu unterscheiden weiß; auf die Verteilung der schwarzen Bevölkerung auf die verschiedenen Provinzen des Landes, je nach den Arbeitsanforderungen; schließlich auf die Fortsetzung des illegalen Sklavenhandels - jedes dritte Schiff, das in Rio anlegt, hat sich vorher seiner Ladung Sklaven entledigt -, der unverzüglich abgeschafft werden müsse. Anders als Max Radiguet, der aus (dünnlippig vorgetragenen) "prinzipiellen" Gründen gegen die Sklaverei ist, sie aber implizit durch seine Art der Darstellung und Diskriminierung rechtfertigt, lehnt Horace Say die Sklaverei unsentimental und als Resultat einer Kosten-Nutzen-Rechnung ab, die keiner übergeordneten "Prinzipien" bedarf. Ebenso wird die Mischlingsbevölkerung vorrangig in ihrer Rolle im Arbeits- und Produktionsprozeß gesehen. Ihre Trennung von der weißen Bevölkerung ist für Horace Say weniger markant als etwa in den USA, die Übergänge seien fließend, Rassenvorurteile weniger ausgeprägt als anderswo. Eine Art Kritik oder moralische Verurteilung (bzw. Diskriminierung) der brasilianischen Zustände kann man allenfalls darin sehen, daß die frühen portugiesischen Einwanderer als Abenteurer beschrieben werden, die häufig mit dem Gesetz in Konflikt gekommen seien, die sich vor körperlicher Arbeit scheuten und sich alsbald und ohne Scheu mit den einheimischen Frauen mischten. Ein zum Nichtstun verführendes Klima, die Unterdrückung der Eingeborenen und die Abwälzung aller schweren Arbeiten auf die schwarzen Sklaven sowie ein mehr als nachsichtiger - weil selbst korrupter - katholischer Klerus hätten die "natürlichen" Anlagen der portugiesischen Kolonisten noch verstärkt. Doch hält sich Horace Say auch hier 135

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nicht bei einer moralischen Verurteilung auf (das Beispiel des religiösen Puritanismus der nordamerikanischen Einwanderer wird nur en passant gestreift), sondern er versucht die - aus ökonomischer Sicht - positiven Aspekte der brasilianischen Bevölkerung hervorzuheben, die an Formulierungen Gilberto Freyres erinnern: "les Brésiliens montrent une rare facilité pour un développement remarquable des facultés intellectuelles [...], ils semblent unir à la profondeur des peuples du Nord la vivacité naturelle aux méridionaux." (S. 233) Worin aber Horace Say mit fast allen Autoren des 19. Jahrhunderts übereinstimmt, ist die Auffassung, daß die entscheidenden Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung und den Fortschritt des Landes von der weißen Bevölkerung ausgehen. Erst seit dem Jahre 1831, als jeder direkte europäische Einfluß auf die brasilianische Regierung aufgehört habe, könne man im vollen Wortsinn von Unabhängigkeit sprechen; gerade die Langsamkeit der Entwicklung ermöglichte es dem brasilianischen Volk, sein Schicksal selbst ganz in die Hand zu nehmen. Zum wiederholten Male wird die indianische Rasse von jeder Entwicklung ausgeschlossen und zum Untergang verurteilt: "êtres faibles, paresseux, sans prévoyance, refusant d'accepter la civilisation, reculant devant le progrès, abandonnant le sol sur lequel ils étaient nés et qu'ils n'avaient pas su cultiver, se retirant de plus en plus vers le centre du continent pour y mourir enfin misérablement." (S. 239) Die schwarze Rasse ihrerseits habe Gewicht durch ihre große Zahl und durch ihre Mischung mit den anderen Rassen. Ihre Befreiung, Emanzipation und Integration in das brasilianische Wirtschaftsleben ist für Say einer von drei Faktoren, von denen die Zukunft des Landes abhängt - neben der Entwicklung der Verkehrswege und der Sanierung der öffentlichen Finanzen in einem funktionierenden Währungssystem. Erst im folgenden Kapitel geht der Autor über eine bloße ökonomisch-technische Betrachtung der Sklavenbefreiung und Integration der schwarzen Bevölkerungsmehrheit als Faktoren der wirtschaftlichen Entwicklung hinaus und räumt ein, daß es letztlich um günstige Lebensbedingungen für die arbeitende Bevölkerung selbst geht: "le but final de cette mise en valeur, est de procurer l'existence et le bien-être aux travailleurs eux-mêmes." (S. 247) Bei dem Ökonomen Horace Say sind Überlegungen und Schlagworte anzutreffen, die im Rahmen der französischen Kolonisation erst um die Jahrhundertwende und verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg auftauchen werden. In gewisser Weise kann die französische Literatur über Brasilien (das den Kolonialstatus bereits hinter sich hatte und für Frankreich vorrangig als Handelspartner interessant war) als Erprobung und Erarbeitung von Diskur-

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sen angesehen werden, die in Frankreich selbst mit Blick auf die Zukunft und das eigene Kolonialreich erst Jahrzehnte später aktuell wurden. Die Forderung nach Abschaffung des Sklavenhandels und der Sklavenwirtschaft wird mit um so mehr Nachdruck vertreten, als sie auf dem afrikanischen Kontinent als eine der Rechtfertigungen (neben "Zivilisation", "Fortschritt" usw.) für die Eroberung und "Pazifizierung" großer Teile des kolonialen Imperiums dient. 9 (3) Obwohl das Buch von Adolphe d'Assier, Le Brésil Contemporain (1867), den Eindruck zu erwecken sucht, der Autor habe es aufgrund eigener Kenntnisse und Reisen geschrieben, handelt es sich doch sichtlich um eine Kompilation früherer Reiseberichte anderer, deren "Lücken" der Autor gelegentlich durch Produkte seiner Phantasie oder Extrapolation des in der Reiseliteratur Berichteten schließt. 10 Doch gerade in seinem hybriden Charakter - als Reisebericht aus Reiseberichten - ist das Buch für uns von Interesse, weil es zeigt, wie die in einer umfangreichen Literatur über Brasilien verstreuten Informationen und Wertungen transformiert und in ein "wissenschaftliches" Weltbild integriert wurden und welche ideologischen Verformungen und diskursiven Disziplinierungen sie dabei erfahren haben. Indirekt werden diese Prozesse bereits auf den einleitenden Seiten vom Autor angesprochen, der als sein Ziel benennt, auf der Basis der vielen wissenschaftlichen Berichte der Spezialisten die Frage zu untersuchen, wie weit in diesem Riesenreich die "Arbeit der Zivilisation" inzwischen fortgeschritten sei, d.h. eine ideologische Meßlatte an die Informationen der Reisenden anzulegen. Ebenso soll die Komplexität des das Land bestimmenden Nebeneinanders der Rassen und ihrer zahlreichen Mischungen in der Weise reduziert werden, daß (gut cartesianisch, möchte man sagen) jedes Element einzeln beschrieben und analysiert wird, um dadurch zu einer präzisen Einschätzung der politischen und wirtschaftlichen Zukunft des Landes zu gelangen. Gerade der Mangel an eigener Beobachtung und Kenntnis verleitet den Autor häufig dazu (in genauer Entsprechung einer "Linguistik der Lüge"), seinen Bericht mit Anekdoten zu würzen, deren Wahrheitsgehalt meist mehr als fraglich ist, die aber gerade deshalb dem mittleren Erwartungshorizont eines französischen und europäischen Lesers hinsichtlich Brasiliens entspre9 10

Das Plädoyer für die Entwicklung des Handels mit Brasilien von Edouard Gallès (1861) geht nicht über die von Horace Say 1839 vorgetragenen Auffassungen hinaus. Das mir vorliegende Exemplar der Königlich Preußischen Berliner Bibliothek enthält zahlreiche handschriftliche Anmerkungen am Rande, in denen sich ein Leser des Buches - in französischer Sprache - öfter über den mangelnden Wahrheitsgehalt des Berichteten empört, mit Eintragungen wie: "anecdote mensongère" (S. 40), "mensonge" (S. 45), "inintelligible et mensonger" (S. 54), "féroce mensonge" (S. 84); gelegentlich aber auch zustimmend wie "ceci est vrai" (S. 49), "très bien" (S. 67).

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chen dürften: So die Geschichte der Affenmutter, die dem Jäger ihr Baby entgegenstreckt und ihn dadurch zu Mitleid rührt und vom Schießen abhält (S. 70); die (Wander-)Anekdote der Indianer, die aus ihrer Bekehrung zum christlichen Glauben ein - mehrfach wiederholtes - gutes Geschäft machen (S. 78); die Versuche, mittels von Kranken getragener Kleider die Blattern auf die Indios zu übertragen (S. 83f.) oder die andere oft berichtete Geschichte von dem indianischen Geistlichen, den der unwiderstehliche Drang zum freien Leben in der Wildnis wieder in die Wälder zurückkehren läßt. Der ideologische Mehrwert dieser und anderer Anekdoten ist offenkundig; er läßt sich am leichtesten mit einer "Animalisierung der Wilden" umschreiben, der zugleich eine "Anthropomorphisierung der Tiere" (bes. Affen) entspricht: der Affe (macaco), den der Schwarze wie einen persönlichen Feind (S. 35) ansieht, genießt den Ruf großer Intelligenz und Listigkeit (S. 36) und rächt sich bei Gelegenheit für die Streiche, welche ihm die Kinder der Schwarzen spielen (S. 38); dagegen hat er Respekt vor den weißen Kindern, besonders vor denen, die zum Herrenhaus gehören! 1 1 In bezug auf die Indianer wiederholt der Autor im wesentlichen, was bei anderen Autoren zu lesen ist: Sie sind unzivilisierbar und mithin zum Untergang verurteilt. Als eigenen Beitrag des als Sprachwissenschaftler ausgewiesenen Autors darf man seinen "linguistischen Rassismus" ansehen, der aus der Sprache der Indios auf die "Primitivität" ihrer sozialen Beziehungen und die "Bestialität" ihrer Veranlagungen schließt: "L'analyse de leurs mots révèle de la manière la plus claire l'enfance de leur état social. [...] la bestialité, qui semble être leur code unique, ressort surtout des mots composés." (S. 85) Da der Autor aber aus verschiedenen Quellen schöpft, verstrickt er sich öfters in Widersprüche, die verschiedenen Argumentationslinien entsprechen und die er nicht in einen kohärenten Diskurs einbinden kann. Einerseits reproduziert er den physiologischen Rassismus, der auf die von anderen Rassen ausgehenden Sinneseindrücke mit Ekel und Widerwillen reagiert 12 ; er rekapituliert die Argumente der Befürworter der Sklaverei (S. lOOff.), stellt sie aber zugleich wieder in Frage (und damit auch seinen eigenen Rassismus), wenn er einräumt, daß die Sklaverei nicht nur den Verstand, sondern auch den Charakter des Negers verdorben habe (S. 103). Andererseits ist seiner Meinung nach auch nicht zu leugnen, daß bereits aus der physischen Konstruktion der schwarzen Rasse (stärkere Entwicklung des Unterleibs auf Kosten der oberen Teile!) ein "défaut d'activité cérébrale" (S. 103) Zu dieser Motivik als allgemeinem Verfahren der Kolonialliteratur vgl. Riesz 1995, S. 77ff.

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abgeleitet werden könne. Eine letzte "Aufhebung" finden alle diese Widersprüche in der mit Pathos und Emphase - in Form einer direkten Ansprache an die schwarze Rasse - vorgetragenen Darwinschen Theorie vom Recht des Stärkeren: "Infortuné Paria! tel est ton bilan; tu le vois, il n'y a pas lieu d'être fier. Je ne parle pas de ton épiderme huileux et rance, qui bien des fois m'a chassé de ta case. Ce que je te reproche, c'est ton insouciance de la dignité humaine que tes ennemis considèrent comme une abdication à leur profit. Ta tête manque d'énergie; ce n'est pas ta faute, je le sais; ta force est ailleurs; le cerveau qui sommeille sous ton crâne cotonneux ne rêve qu'amour, farniente et cachaça. Depuis plus de trois siècles de servitude, tu attends encore un Spartacus pour briser tes chaînes; et cependant quels sont les droits de tes superbes dominateurs? Il n'en est qu'un, mais terrible, irrésistible, celui de l'aigle dans les airs, du lion dans les forêts: le droit du plus fort, le seul que daigne employer la nature notre institutrice commune, le seul que l'on rencontre dans l'histoire des hommes et des sociétés, le seul qui ne soit pas un mot destiné à orner une charte ou à équilibrer un code." (S. 204) Wie in anderen Bereichen der Kolonialliteratur (und hier möglicherweise sogar etwas früher als in der Kolonialliteratur zu Afrika) ist ein Korrelat dieses Triumphgeschreis des weißen Mannes, der seine koloniale Überlegenheit aus dem unveränderlichen Naturrecht des Stärkeren ableitet, die Angst. Im brasilianischen Kontext ist es die Angst vor der wachsenden numerischen Überlegenheit der Schwarzen, die sich aus dem historischen Beispiel der Negeraufstände auf Haïti (S. 199f.) und aus zahlreichen Beispielen von durch die Hand ihrer Sklaven ermordeten oder vergifteten Herren (S. 97f.) nährt. 13 Vor diesem Hintergrund gewinnt das Plädoyer zugunsten der Rassenmischung noch eine andere Bedeutung. Neben dem schon zur Genüge bekannten Argument der besseren Eignung der Mischlinge für das heiße Klima und die schwere Arbeit (S. 105) ebenso wie für den Militärdienst (S. 106), führt d'Assier hier Überlegungen für eine langfristige Strategie ein, um die schwarze Bevölkerungsmehrheit durch die Mischung mit europäischem Blut in ein Verhältnis der (Bluts-)Verwandschaft zur dominanten weißen Rasse zu setzen und auf dieser Grundlage die Antagonismen zwischen den Rassen zu mindern, die "niederen" Rassen zur Zivilisation zu führen und gemeinsam mit ihnen von den gewaltigen Naturräumen Besitz zu ergreifen:

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So beispielsweise S.8: Gerüche der Neger; S. 88: Aussehen der alten Indianerfrauen. Zum kolonialliterarischen Kontext vgl. Riesz 1995.

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"Ce n'est donc que par une infusion incessante de sang européen, par la réhabilitation du travail s'accomplissant dans les idées et les moeurs, enfin par l'action vivifiante que les chemins de fer exercent partout sur leur passage, que la civilisation poursuivra ses conquêtes et prendra possession de ces espaces immenses encore livrés aux seules forces de la nature." (S. 116f.) Wir haben hier quasi ein Dreistufenmodell: auf einer ersten Ebene die biologische Mischung, die eine Optimierung der "natürlichen" Anlagen der beteiligten Rassen zur Folge haben soll; danach die Hoffnung auf einen kulturellen Lernprozeß, der die Wiederaufwertung moralischer Werte wie der Wertschätzung der Arbeit beinhaltet, die durch das Institut der Sklaverei für die ganze Gesellschaft (mithin auch für die Weißen) verächtlich geworden und der Geringschätzung anheimgefallen ist; schließlich die zivilisatorische Eroberung und Nutzbarmachung der Natur, die dann ihrerseits wiederum der neuen Gesellschaft dient. In diesem Sinne sei der Begriff der colonisaçao dabei, den lange dominanten der escravatura als Leitidee der brasilianischen Gesellschaft zu ersetzen. (S. 272) Doch die Zukunftsaussichten des Landes bleiben ebenso ungewiß und widersprüchlich wie die Ratschläge, die der Verfasser glaubt, der Nation in seinem Schlußkapitel erteilen zu müssen: Muß man zuerst die europäische Einwanderung befördern und alle Initiativen von ihr erwarten, oder liegt die Zukunft in den Händen der Mischrassen? Reicht es, die Sklavenwirtschaft abzuschaffen oder müssen vorher die Arbeit rehabilitiert und alte Vorurteile überwunden werden? Muß man den Brasilianer loben, weil ihm (angeblich) der Rassendünkel der Nordamerikaner fremd ist, oder muß man ihm gerade die Vereinigten Staaten als Vorbild geben, weil dort die religiöse und moralische Reform des Landes der politischen Organisation vorausgegangen ist? Sind es letztlich die religiösen Glaubensvorstellungen, die einem Land sozialen Zusammenhang und Antrieb zu weiterer Entwicklung geben, oder tötet gerade der fromme Glaube jegliche Tatkraft und Initiative, weil er die Menschen Askese lehrt und sie auf eine Rolle von gehorsamen "Automaten" reduziert? Ist nicht gerade die mangelnde Bildung und Ausbildung - vor allem im Landesinnern - das Haupthindernis (nach der Sklavenwirtschaft) für die Entwicklung des Landes? Soll Brasilien eher die Rolle einer Großmacht spielen und sich die kleineren Staaten des Kontinents unterwerfen oder eher auf Koalitionen ausgehen, im Blick auf eine zukünftige, für unvermeidlich gehaltene Auseinandersetzung mit dem großen Nachbarn im Norden? - So viele Fragen, so viele Antworten, so viele Widersprüche. Das Buch von Alphonse d'Assier ist gerade wegen seines kompositen Charakters von Interesse, und es zeigt so die Schwierigkeit, die divergierenden

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und die Zukunft des Landes

Auffassungen über Brasilien, seine Menschen und seine Zukunft auf einen Nenner und in einen kohärenten diskursiven Zusammenhang zu bringen. Nicht weil man zu wenig über das Land weiß, sondern vermutlich weil zuviele Berichte und Informationen über Brasilien vorliegen, wird es zunehmend schwieriger, diese auf einfache Wahrheiten zu reduzieren. Zwar herrscht Einigkeit über einige Grundsätze: Die Sklaverei muß abgeschafft werden; die Indianer (und zum Teil auch die schwarze Rasse) haben nur eine Zukunft, wenn sie sich mit den anderen Rassen vermischen; die "niederen" Rassen gewinnen durch Vermischung mit den "höheren"; die weiße Einwanderung sollte forciert werden; das Land braucht eine kulturelle Revolution im Sinne einer Umwertung der Werte und eine Aufbruchstimmung, wie sie die Vereinigten Staaten auszeichnet. Es mutet wie eine Flucht aus all diesen verwirrenden Fragen und ihren Widersprüchen an, wenn sich die Reisenden (die wirklichen und die BuchReisenden) vor diesen Widersprüchen in die Exaltation der Beschreibung prunkvoller tropischer Landschaften flüchten. Dabei können sie sich auch der Zustimmung kritischer Leser erfreuen. Am Ende einer langen Naturbeschreibung findet sich in der von mir verwendeten Ausgabe der handschriftliche Eintrag (S. 26): "Jusqu'ici c'est magnifique". (4) Die Etudes topographiques, médicales et agronomiques sur le Brésil (1848) von Alphonse Rendu verdanken ihre Entstehung dem französischen Erziehungsminister, in dessen Auftrag der Autor in den Jahren 1844 und 1845 eine Studie über die Krankheiten anfertigte, welche insbesondere Europäer, aber auch Einheimische in Brasilien befallen. Wie die zuvor analysierten Werke beschränken sich aber auch Rendus Etudes nicht auf den rein medizinisch-naturwissenschaftlichen Teil seiner "Mission", sondern enthalten darüberhinaus auch Aussagen zum Verhältnis der verschiedenen Rassen untereinander und der erhofften oder befürchteten Wirkungen der Rassenmischung. Wie bei den anderen Reisenden geraten öfter moralische Prinzipien in Widerstreit mit ökonomischen (oder gesundheitlichen) Nützlichkeitserwägungen, ethische Grundsätze mit bevölkerungspolitischen Überlegungen, Philanthropie mit nationalem Eigennutz. Einerseits verurteilt der Autor mit starken Worten die "Libertinage" und die sexuelle "Zügellosigkeit" der (männlichen) Brasilianer, die diese schon früh physisch und moralisch degradiere und pervertiere; andererseits zeichnet er doch ein recht harmonisches (wiederum an Freyre erinnerndes) Bild der sexuellen Promiskuität und des daraus resultierenden "Métissage" in den patriarchalischen Großfamilien: Kinder aller Hautfarben finden sich im gleichen Haushalt und wachsen zusammen auf; die Herrin des Hauses duldet nicht nur die Kinder ihres Mannes aus anderen Verbindungen (gewöhnlich mit schwarzen Sklavinnen), sie läßt auch zu, daß ihre "Rivalinnen" im gleichen Hause mit

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ihr wohnen; im Unterschied zum brasilianischen Mann sei ihr Eifersucht fremd. "Avec de pareilles moeurs, il est difficile que le libertinage ne s'introduise pas au sein même de la famille. Les jeunes Brésiliens sont souvent pervertis presque au sortir de l'enfance; outre l'exemple de leurs pères qu'ils ont sous les yeux, garçons et filles, maîtres et esclaves, passent ensemble la plus grande partie de la journée à demi vêtus; la chaleur du climat hâte le moment de la puberté, les désirs excités par une éducation vicieuse et le mélange des sexes sont souvent provoqués par les négresses, et ne rencontrent jamais d'obstacles; la débauche s'empare peu à peu de ces enfants et les précipite bientôt dans un abattement physique et morale." (S. 19) Hauptschuldig an diesem moralischen Verfall ist die Sklaverei, das Krebsübel der brasilianischen Gesellschaft, "la plaie du Brésil, la calamité qui pèse sur ce beau pays" (S. 31). Doch hält der Autor die sofortige Abschaffung der Sklaverei für eine ebenso große "Kalamität" für Brasilien wie für die Schwarzen selbst. Wir begegnen hier wiederum dem gleichen Widerspruch wie bei den anderen Reisenden, nämlich zwischen rassistischen Zuschreibungen einerseits (Faulheit, Unfähigkeit zur "Zivilisation" usf.), welche den Sklavenstand der Afrikaner gemäß ihrer "Natur" für gerechtfertigt und geradezu unumgänglich hält (sie würden anders nicht arbeiten), und der Einsicht andererseits, daß bestimmte Einstellungen und Verhaltensweisen, die man der schwarzen Rasse in toto zuschreibt, sich sehr präzise von ihren Lebensbedingungen als Sklaven herleiten lassen. Als Arzt ist Alphonse Rendu für solche Zusammenhänge besonders sensibel: Die unzulängliche Ernährung und die harten Arbeitsbedingungen, vor allem in den Bergwerken, haben eine hohe Sterblichkeitsrate zur Folge; auch die knappe Bekleidung, die nicht gegen Feuchtigkeit und Kälte schützt, sei schuld an zahlreichen Krankheiten; die Besitzer der Sklaven weigerten sich in aller Regel, Erkrankungen ihrer Sklaven als solche anzuerkennen, was meist eine Verschlimmerung von deren Zustand und häufig den Tod zur Folge habe. Aus dieser Situation leitet Alphonse Rendu eine "Psychologie" des Sklaven ab, die im Grunde keiner weiteren "rassischen" Begründungen mehr bedürfte: Desinteresse an jeder Arbeit, auch bei Aussicht auf persönlichen Gewinn; radikale Verweigerungshaltung, die nur mit Gewalt und Androhung von Strafen überwunden werden kann; niedrige Geburtenrate und große Zahl von Abtreibungen in den Verbindun-

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Rassen, Rassenmischung und die Zukunft des Landes gen zwischen Sklaven. 14 Wenn dennoch, im Widerspruch zu diesen "materialistischen" Erklärungen der "Sklaven-Mentalität", rassistische Erklärungsmodelle weiter zur Rechtfertigung der Sklaverei vorgebracht werden, dann läßt sich dies am ehesten aus einer spezifisch französischen Interessenlage - als einer Kolonialmacht, in deren überseeischen Besitzungen bis 1848 noch eine Sklavenwirtschaft betrieben wurde - und Rechtfertigung der zurückliegenden wie der noch bevorstehenden kolonialen Eroberung und Ausbeutung erklären: Die französischen Besitzungen in Senegal hätten bislang (nach fast 200 Jahren) keinerlei "zivilisatorischen" Einfluß auf die Bevölkerung des Landes ausgeübt; das Beispiel Haitis (die ehemals französische Kolonie Saint-Domingue) zeige, wohin es führt, wenn man die Schwarzen zu früh in die Unabhängigkeit entläßt, ebenso die von den Engländern mit freigelassenen Sklaven besiedelten Länder wie Sierra Leone; die abolitionistische Propaganda der Engländer sei im übrigen nur ein philanthropisches Deckmäntelchen, um sich das Monopol für koloniale Erzeugnisse zu sichern. Die Hypothese einer französischen Interessenkollision beim Thema "Sklavenwirtschaft und schwarze Rasse" könnte sich bestätigt sehen durch den anders gearteten Diskurs Alphonse Rendus über die Indianer, die differenzierter und mit mehr Empathie dargestellt werden als die schwarze Rasse: Die Indianer längs des Amazonas sind physisch unansehnlich, neigen zu übermäßigem Alkoholgenuß, der oft in Orgien sowie Mord und Totschlag endet. Sie werden von der Regierung zur Zwangsarbeit fern von ihren Wohnorten gezwungen, wodurch die alleine zurückgelassenen Frauen in die Prostitution getrieben werden. Die Indianer an den Ufern des Rio Branco halten sich dagegen der Zivilisation ferne und leben von Jagd und Fischfang. In der Provinz Santa Catarina gibt es ein Indianervolk (genannt Bugres), das so wild und jeder Zivilisation unzugänglich ist, daß selbst Säuglinge, die man früh ihren Eltern wegnahm und in zivilisierter Umgebung erzog, später unfehlbar wieder in ihre angestammte Umgebung zurückdrängten. Die Wildheit und Grausamkeit dieser Indianer hält die weiße Bevölkerung von einem weiteren Vordringen ins Innere des Landes ab. Von den Bugres unterscheiden sich die gutgewachsenen Goatos des Mato-Grosso, zu deren Anwalt sich der Autor macht und die er gegen die Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten der Regierung verteidigt. Anders als fast alle anderen Reisenden sieht Rendu gerade in der indianischen Bevölkerung einen Garanten für die Entwicklung des Landes:

Dabei macht der Autor aber einen Unterschied zwischen brasilianischen Sklavenhaltern, unter denen das Los der Sklaven erträglich sei, und Ausländern, die nur nach raschem Gewinn strebten und die Sklaven rücksichtslos ausbeuteten.

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"La race indienne habilement ménagée, serait bien plus profitable au pays que ne le sera jamais la race noire, si difficile à acclimater dans beaucoup de localités. En cherchant à civiliser les Indiens dans les contrées qu'ils occupent, on verrait le pays se peupler rapidement et ses ressources augmenter avec sa population." (S. 55f.) Statt diese im Lande selbst gegebene Möglichkeit der Bevölkerungsmehrung zu nutzen, wende man sich an fragwürdige Spekulanten und Menschenhändler, die mit falschen Versprechungen mittellose europäische Immigranten ins Land lockten, welche man nachher ihrem Schicksal überlasse: "on les jette sans ressources, sans abris, sur les plages du Brésil où la misère et les maladies les déciment." (S. 56f.) Alphonse Rendu scheint einer der wenigen Autoren zu sein, der der europäischen Einwanderung nach Brasilien kritisch gegenübersteht, sie für eine "traurige Parodie von Kolonisation" hält und die Zukunft des Landes in einer verstärkten und entschlossenen Beteiligung der indianischen Bevölkerung sieht, die mehr noch als die schwarzen Sklaven als Opfer und vom Leben und der Gestaltung der Zukunft des Landes ausgeschlossen erscheinen. Damit Brasilien den Rang unter den großen zivilisierten Nationen einnehmen kann, der ihm gebühre, müsse man von unten - bei der Erziehung der Kinder - und bei einer Veränderung der materiellen Lebensbedingungen Ernährung, Hygiene, Neubewertung der körperlichen Arbeit - beginnen. Der ärztliche Standpunkt ist unüberhörbar: "Le physique exerce une grande influence sur le moral et un corps détérioré et affaibli est moins apte au développement de l'intelligence qu'un corps qui accomplit ses fonctions dans toute leur intégrité." (S. 63) Dennoch steht auch für Alphonse Rendu die "moralische Energie" an oberster Stelle unter den Werten, derer das Land für seine Genesung bedarf und die er den nach Brasilien kommenden Europäern ans Herz legt, um mit den Schwierigkeiten und Gefahren des Landes fertig zu werden und seinen Lockungen und Verführungen besser zu widerstehen. 15

Es wäre interessant, den Reisebericht von Alphonse Rendu mit dem eines anderen Arztes, Jules-Nicolas Crevaux, der 1883 posthum erschien (Crevaux war 1882 auf einer Expedition in Argentinien umgekommen), zu vergleichen. Auch Crevaux nähert sich den Rassen und der Rassenmischung als Arzt und Naturwissenschaftler (was so weit geht, daß er für Indianer, Schwarze und Europäer eine je andere Spezies von Flöhen identifiziert (S. 171f.), auch er hat mehr Sympathie für die Indianer als für die Schwarzen.

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Schluß Wie das Beispiel von Alphonse Rendu noch einmal gezeigt hat, ist die wissenschaftlich-berufliche Vorbildung der Reisenden nicht ohne Einfluß auf das Bild, das sie vom Land Brasilien und seiner Gesellschaft zeichnen. Dennoch wird man nicht sagen können, daß sie einen entscheidenden Einfluß ausübt. Wie das Beispiel anderer Reiseberichte von Ärzten zeigt, kann man als Mediziner und Naturwissenschaftler zu ganz verschiedenen Auffassungen gelangen. Grundentscheidungen hinsichtlich des "Wertes" der einzelnen Rassen für das Land oder der Ergebnisse ihrer sozialen und/oder biologischen Mischung scheinen in einem vor- oder außer-wissenschaftlichen Bereich zu fallen und sich wissenschaftlicher Argumente und Terminologien erst im nachhinein zu bedienen. Außer als Militärs, Ökonomen, Sprachwissenschaftler und Ärzte sprechen die Reisenden auch als Weiße (Europäer), Franzosen, Angehörige einer Klasse und Träger persönlicher und historischer Erfahrungen. Dadurch ergeben sich oft Widersprüche zwischen ihrem wissenschaftlichen Ethos und ihrem ideologischen "parti pris", es kommt zu Überlagerungen und Verschränkungen widerstreitender Diskurse, öfter entsprechen die vorgetragenen "Prinzipien" nicht den zurückgehaltenen (oder gar "hinterhältigen"?) Meinungen, die Anekdoten und berichteten Erfahrungen erzählen andere Geschichten als der Autor propagiert, ihre Moral ist eine andere als die explizit formulierte und affichierte. Die "Wahrheit" über Brasilien erscheint in vielen Brechungen und muß bei vielen Autoren gesucht werden. 16

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Zu den am Ende unserer Einleitung angedeuteten Möglichkeiten einer Erweiterung des hier behandelten Korpus ließen sich folgende nächste Schritte planen, die wir uns für weitere Untersuchungen vornehmen: Die Parallelisierung der Brasilien-Reiseberichte mit solchen über Afrika verspricht am ehesten Ergebnisse bei den Autoren, die beide Erdteile bereist haben (z.B.: Jean-Baptiste Douville); ein erster vergleichender Blick auf deutsche Brasilienbücher der Zeit (z.B. Oscar Canstatt, 1877; Carl Friedrich Philipp von Martius, 1867) legt die Vermutung nahe, daß hier die Trennung der Rassen noch schärfer und 'unnachsichtiger' erfolgt als in den französischen Werken (auf welche schon die sich ausbildende "Assimilations"-Doktrin abfärbt) und daß die Rassenmischung von dem Gedanken der "Reinhaltung" des deutschen Bevölkerungsanteils in Brasilien bestimmt wird. Ein Blick auf einen Roman des erfolgreichen Emile Carrey (Les Métis de la Savane, 1872) zeigt, wie rassische Unterschiede und Gegensätze zu Elementen der Romanhandlung und des Beziehungsgeflechts der Personen des Romans werden.

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Europäische Forschungsreisen in den Cono Sur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Reisen und Geographie im ausgehenden 19. Jahrhundert Anfang 1877 wurde in Paris eine besondere Reisegesellschaft gegründet: La Société des voyages d'Études autour du Monde. Für etwa 20.000 Francs wurde die Möglichkeit geboten, sich an einer 320-tägigen Weltreise zu beteiligen, mit Aufenthalten zunächst in verschiedenen afrikanischen Häfen, später in Rio de Janeiro, Buenos Aires, Valparaiso, Callao und Panama, dann in einer Reihe von exotischen asiatischen Hafenstädten, schließlich in Neapel. Die Reise, eigentlich eine weltweite "Grand Tour", war gedacht, um "Studirenden aus wohlhabenden Häusern die Gelegenheit [zu] bieten, richtige Anschauungen der Verhältnisse und Zustände in den verschiedenen Reichen und Ländern der Erde [zu] vermitteln."1 Eine starke Wanderlust, verbunden mit einer Sehnsucht nach fernen, unentdeckten Gebieten, hatte im ausgehenden 19. Jahrhundert die Europäer fest im Griff. In einer Zeit, da es für praktisch jeden möglich war, sich eine überseeische Reise zu leisten; in einer Zeit, da auch die entferntesten Orte des Erdballs in den Horizont der sogenannten zivilisierten Welt einbezogen wurden, strebten manche Angehörige der Oberschicht danach, sich von ihren Mitmenschen zu unterscheiden. Es gab also zwei grundsätzlich verschiedene "Sorten" von Reisenden: die "eigentlichen" Reisenden und Leute, die auf der Suche nach Arbeit eine Reise unternahmen. Letztere Kategorie bestand in ihrer großen Mehrheit aus Millionen hauptsächlich transatlantischer Auswanderer, die hofften, sich in den riesigen, noch größtenteils menschenleeren Kolonisationsgebieten Nord- und Südamerikas eine bessere Zukunft aufzubauen. Selbstverständlich wurden diese Passagiere von den damaligen Dampfschiffahrtsgesellschaften entsprechend behandelt. Ohne Ausnahme reisten sie im Zwischendeck in der dritten Klasse. Die Kosten der Reise waren durchaus erschwinglich, zumal in verschiedenen Gebieten (den La Plata-Staaten) vor allem in der Erntezeit der Bedarf an Arbeitskräften stark anwuchs. Ein armer italienischer Tagelöhner konnte sich, falls er einen gu-

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In: Mittheilungen der kaiserlichen und königlichen geographischen Gesellschaft zu Wien, Bd. 20, 1877, S. 231 f.

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ten Arbeitsplatz gefunden hatte, zum Beispiel innerhalb von zwei Wochen seine Rückreise verdienen. Von den Einwanderungsbehörden in den amerikanischen Staaten wurden übrigens nur Zwischendeckpassagiere als Einwanderer eingestuft. Passagiere der ersten und zweiten Klasse galten nicht als Einwanderer, auch wenn sie einen längeren Aufenthalt beabsichtigten. Vor allem unter den Passagieren der ersten Klasse gab es solche, die sich eine überseeische oder sogar eine Weltreise als Erholung oder Zeitvertreib leisten konnten. Es waren diese wohlhabenden Reisenden, bei denen sich der Antrieb zum Reisen am stärksten offenbarte. Es waren auch diese Leute, die Zeit und Gelegenheit hatten, ihre Erlebnisse aufzuschreiben und zu publizieren. Erzählungen von abenteuerlichen Reisen in ferne Länder wurden in auflagenstarken, populären Zeitschriften veröffentlicht, oft illustriert mit aussagekräftigen Holzschnitten und Photogravuren. Dank dieser illustrierten Zeitschriften, wie zum Beispiel Das Ausland und Globus im deutschsprachigen Gebiet, und die Pariser Le Tour du Monde, konnte die allgemeine Leserschaft gewissermaßen die Abenteuer miterleben. Es stellt sich aber die Frage, inwieweit sich das "allgemeine Publikum" wirklich eine Vorstellung von der außereuropäischen Welt machen konnte. Noch 1914, also mehr als ein halbes Jahrhundert, nachdem die meisten Illustrierten gegründet worden waren, ließen die geographischen Kenntnisse vieler Deutschen nach der Meinung von Zeitzeugen noch sehr zu wünschen übrig. So wird berichtet, daß ein "Militärkapellmeister im Rheinland sogar Montenegro mit Argentinien verwechselte". 2 Das Interesse am Ausland kam auch in hunderten von geographischen Gesellschaften zum Ausdruck, von denen die erste, die Société de Géographie, 1821 in Paris gegründet wurde. Die Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, 1828 gegründet, wurde allgemein als die Zweitälteste angesehen. 1830 wurde die Londoner Royal Geographical Society ins Leben gerufen. Auch die anderen Großmächte, Rußland und Österreich, erhielten bald ihre eigenen geographischen Gesellschaften (Sankt Petersburg 1845 und Wien 1856). 3 Des weiteren gab es solche Gesellschaften auch in den übrigen Hauptstädten, in vielen Handelsstädten, in wichtigen Provinzstädten, kurzum in fast allen Kulturstaaten Europas, den europäischen Kolonien und in jenen Staaten, wo der europäische Einfluß stark war, das heißt in den südamerikanischen Staaten Argentinien, Brasilien, Chile, usw. Diese geographischen Gesell2 3

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A. Boerger: Sieben La Plata-Jahre (Arbeitsbericht und wirtschaftspolitischer Ausblick auf die Weltkornkammer am Rio de la Plata). Berlin 1921, S. 16-19. Dr. Freiherr von Reden: Verfassung und Leistungen der geographischen Gesellschaften in Europa. In: Petermanns Mittheilungen, Jg. 1856, S. 108-113.

Europäische Forschungsreisen in den Cono Sur

Schäften versuchten, die weitere Erforschung von unbekannten Gegenden zu fördern, allerdings nicht immer zu eindeutig wissenschaftlichen Zwecken: Hintergründig spielte fast immer auch der Gedanke eine Rolle, wie am besten wirtschaftlicher Nutzen aus den erworbenen Kenntnissen gezogen werden könne. Was die Tätigkeiten der französischen wie der spanischen, portugiesischen, niederländischen und belgischen geographischen Gesellschaften anbelangt, so waren sie durchgehend verknüpft mit der Verfolgung territorialer Ansprüche. Ihr Hauptinteresse galt jeweils dem eigenen Kolonialreich. Bei den deutschen und österreichischen Gesellschaften erstreckte sich das Interesse über alle Teile der Welt, aber im Fall der Deutschen mit einer klaren Vorliebe für solche Gebiete, in denen sich für deutsche Bürger die besten Entfaltungsmöglichkeiten boten, also zum Beispiel dem Süden Brasiliens. Die wissenschaftlichen Ergebnisse von Reisen nach Südamerika wurden in den von den geographischen Gesellschaften herausgegebenen Zeitschriften, in Bulletins, Abhandlungen, usw. veröffentlicht. Zusammen mit den populären Illustrierten bilden sie eine hervorragende Quelle für die Erforschung der europäischen Reisetätigkeit im 19. Jahrhundert. Die Entdecker und die im fernen Ausland tätigen Wissenschaftler wurden oft kurzweg und mit Respekt "Reisende" genannt. Auf den mit großer Häufigkeit organisierten geographischen Tagungen und Konferenzen trafen sie sich und hielten Vorträge.

Forschungsreisen in technischer Hinsicht Eine Forschungsreise erforderte einen großen Aufwand an Finanzmitteln, einschlägigen Kenntnissen und Ausrüstung, und mußte deswegen gründlichst vorbereitet werden. Aus dem Erscheinen verschiedener Handbücher für "Entdeckungsreisende" darf man die Schlußfolgerung ziehen, daß Forschungsreisen eine ziemlich alltägliche Angelegenheit waren. Die englische Royal Geographical Society veröffentlichte schon in den sechziger Jahren einen von einem Spezialausschuß verfaßten Führer für den Entdeckungsreisenden, die sogenannte Hintsfor Travellers. Diese Publikation war derart erfolgreich, daß sie wiederholt überarbeitet und neu aufgelegt werden mußte. 4 1879 erschien das Manuel du Voyageur, verfaßt von dem Schweizer D. Kaltbrunner. Drei Jahre später, 1882, verfaßte Kaltbrunner zusammen mit E. Kollbrunner ein dickes Handbuch: Der Beobachter. Allgemeine An4

Vgl. z. B. Hints for Travellers. In: Proceedings of the Royal Geographical Society, London, session 1871-72.

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leitung zu Beobachtungen über Land und Leute für Touristen, Exkursionisten und Forschungsreisende. Darin wurde klar erörtert, welche Eigenschaften der erfolgreiche Reisende haben mußte: 1) Beobachtungsgabe; 2) Forschungstrieb; 3) kritischen Sinn, und dazu noch eine gewisse Abhärtung, Takt und gute Umgangsformen. Auch sollte er "an Einfachkeit gewohnt sein und Comfort entbehren können".5 Gerade die Erwähnung dieser letzten Eigenschaft deutet darauf hin, daß von vornherein angenommen wurde, daß die Mehrzahl der Forschungsreisenden wohlhabenden Schichten entstammte. Auf die Reise mußte eine ganze Reihe wissenschaftlicher Instrumente mitgenommen werden, um allerhand Beobachtungen durchzuführen. 6 Aus der ausführlichen Ausrüstungsliste ist Folgendes hervorzuheben: Lockere und bequeme Bekleidung aus Wolle oder Flanell wurde empfohlen, natürlich gute Schuhe "nach Mass angefertigt", ein breitrandiger Filzhut mit Halsschirm (gegen Sonnenstrahlen) und Sturmband, alles vervollständigt mit einem Poncho und starken Lederhandschuhen. Ein Feldstecher sei unentbehrlich, ebenso ein Revolver für Schutz und Sicherheit. Als Mundvorrat wurden kondensierte Milch, Schokolade, Kaffee und Tee empfohlen, und wer in Gebiete reiste, die von primitiven Stämmen bewohnt wurden, sollte nicht vergessen, "zu Tausch und Geschenken geeignete Gegenstände" mitzunehmen. 7 Ein halbes Jahrhundert später wurde Forschungsreisenden im Gran Chaco von einem niederländischen Geologen besonders empfohlen, khakifarbige baumwollene und hautnahe Kleidung zu verwenden. 8

Warum Süd-Amerika? Seitdem die ersten Berichte über die von Columbus und seinen Nachfolgern in Amerika entdeckten Schätze in Europa die Runde machten, hatte Amerika den Ruf, ein Land von unerschöpflichen Reichtümern zu sein. Im 18. Jahr5

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D. Kaltbrunner / E. Kollbrunner: Der Beobachter. Allgemeine Anleitung zu Beobachtungen über Land und Leute für Touristen, Exkursionisten und Forschungsreisende. Zürich 21888, S. 3-7. Die Ratschläge galten für alle Weltteile, auch für Afrika. Siehe diesbezüglich z.B. Francesco Surdich (Hg.): L'esplorazione italiana dell'Africa. Mailand 1982, S. 47-84. Die Instrumente waren folgende: Theodolit, Meßband und Meßkette, Taschenkompaß, Chronometer, Thermometer, Federbarometer, Cyanometer (zur Messung der Himmelsbläue), Taumesser und ein Ozonmeter. Kaltbrunner/Kollbrunner (Anm. 5), S. 1321. Kaltbrunner/Kollbrunner (Anm. 5), S. 149-156. H.E. Althaus: Information and Practical Advice for Explorers in the Argentine Republic. In: H.A. Brouwer (Hg.): Practical Hints to Scientific Travellers. Bd. 4, Den Haag 1926, S. 69.

Europäische Forschungsreisen in den Cono Sur

hundert wurde der ibero-amerikanische Subkontinent als Objekt für wissenschaftliche Studien entdeckt. Berühmte Reisende, wie Condamine (1736-43) und Alexander von Humboldt haben in diesem Prozeß der Wiederentdeckung beziehungsweise der wissenschaftlichen Entdeckung Pionierarbeit geleistet. Im 19. Jahrhundert wurden die bis dahin noch unbekannten Gegenden des Subkontinents "entdeckt", das heißt, bereist, untersucht, beschrieben und auf Karten festgelegt. Der Süden des Kontinents war interessant für viele Wissenschaftler, z. B. Biologen, Ethnologen, Geographen, Geologen, Meteorologen, Astronomen, Archäologen, Paläontologen, usw. Eine größere Anzahl verdienstvoller Reisende spielte dabei eine wichtige Rolle, unter anderen der Engländer Charles Darwin (1831-36) mit seinen Untersuchungen in Patagonien und auf den Galapagos-Inseln sowie seine Landsleute Wallace und Bates in Amazonien (1848-58), der deutsche Ethnograph Karl von den Steinen in Peru (1887-88), aus Frankreich der Paläontologe Alcide D'Orbigny (1830-33), Graf Castelnau (1843-47) und der Forscher Jules Crevaux (1877-82). Mitte des 19. Jahrhunderts gab es angeblich noch vier größere zu entdeckende Gebiete in Südamerika, nämlich: 1) das Stromgebiet des Orinoco und das Binnenland beider Guyanas, 2) das obere Stromgebiet des Amazonas, 3) den Gran Chaco, 4) Patagonien und Feuerland. 9 Südamerika war, im Vergleich zu anderen Erdteilen, aus verschiedenen Gründen besonders interessant für wissenschaftliche Reisende: wegen der Artenvielfalt der Pflanzen- und Tierwelt (wie z.B. in Amazonien), wegen der ausgedehnten Lage auf der südlichen Halbkugel, die für astronomische Beobachtungen sehr geeignet war, wegen der Vielfalt von ursprünglichen Bewohnern, schließlich wegen der Möglichkeit, sich durch gezielte Untersuchungen an der Erschließung größerer Gebiete zu beteiligen. Innerhalb von Südamerika sind fünf große Reisegebiete zu unterscheiden: 1) Amazonien; 2) die Anden; 3) Patagonien und Feuerland; 4) der Gran Chaco; 5) Südbrasilien. Die beiden letzteren Gebiete befinden sich im Cono Sur, genauer gesagt, am Rio de la Plata. Die Staaten in diesem Gebiet bemühten sich, durch Hinzuziehung ausländischer Sachverständiger ihre wirtschaftliche Entwicklung zu fördern. So kamen auf Initiative und Einladung der argentinischen Regierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche ausländische Gelehrte nach Argentinien, um mit ihren Erkenntnissen, Entdeckungen und Beschreibungen den Aufbau des Landes zu unterstützen. Darunter waren Franzosen (Emile Daireaux, Victor Martin de Moussy), die dem Beispiel ihrer verdienstvollen Landsleute D'Orbigny und Aimé Bonpland, dem Rei9

L. Gallois: L'état de nos connaissances sur l'Amérique du Sud. In: Annales de Géographie, Bd. 2, 1892-93, S. 65-91.

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segefährten Humboldts, folgten, und viele Deutsche, allen voran die Naturforscher Hermann Burmeister, Gustav Niederlein und Paul Lorentz, der Geologe Ludwig Brackebusch, der Anthropologe Robert Lehmann-Nitzsche und der Ingenieur Arthur von Seelstrang. 10 Ferner beteiligten sich Italiener (der Arzt Paolo Mantegazza), Skandinavier, Niederländer (der Ethnologe Herman Ten Kate und der Zoologe Hendrik Weyenbergh) und Amerikaner (der Astronom Gould). Auch die brasilianische und die bolivianische Regierung luden Gelehrte für zielgerichtete Tätigkeit in ihrem Lande ein. Abgesehen von den Wissenschaftlern, die ihre Tätigkeit auf der Grundlage eines längeren, offiziellen Aufenthaltes im Land entfalteten, gab es noch eine große Anzahl anderer Reisender, die nur kurze Zeit am Rio de la Plata verweilten, zum Beispiel als Etappe einer größeren Reise. Der Süden von Brasilien, Uruguay, Argentinien und Paraguay wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts von mehreren Weltumseglern besucht, von denen Darwin wohl der bekannteste, aber nicht der erste war. In diesem Zusammenhang muß auch die Weltumsegelung der österreichischen Fregatte "Novara" in den Jahren 1857-59 erwähnt werden, ebenso die nicht weniger wichtigen Weltreisen der italienischen Dampfkorvette "Magenta" (1865-68), der schwedischen Fregatte "Eugenie" (1851-53), vielleicht auch die der dänischen Korvette "Galathea" (1845-47). Es handelte sich bei diesen Weltumsegelungen um Reisen, die, wenn auch von gewisser und unverkennbarer wissenschaftlicher Bedeutung, an erster Stelle im Dienste von wirtschaftlichen Interessen standen. H Selbstverständlich konnte während eines kurzen Aufenthaltes an einem bestimmten Ort keine systematische Forschungsarbeit geleistet werden. Trotzdem konnte etwa der junge italienische Zoologe Enrico Giglioli Hillyer, der an Bord der "Magenta" mitreiste, in Uruguay innerhalb einiger Wochen eine bis dahin unbekannte Vogelart und eine Reptilienart entdecken und beschreiben. 12 Dieses Beispiel deutet an, daß die jeweilige Umgebung der Hafenstädte verhältnismäßig gründlicher als die abgelegeneren Gebiete im weiteren Umkreis erforscht wurde. In den La-Plata-Staaten gab es 10 11

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Siehe dazu auch, obwohl er eine spätere Periode behandelt, Lewis Pyenson: Cultural Imperialism and Exact Sciences: German Expansion Overseas 1900-1930. New York 1985. Siehe u. a. Karl von Scherzer: Statistisch-commerzielle Ergebnisse einer Reise um die Erde, unternommen an Bord der österreichischen Fregatte Novara in den Jahren 18571859. Leipzig und Wien 1867; Steen Bille: Bericht über die Reise der Corvette Galathea um die Welt in den Jahren 1845-47, 2 Bde., Leipzig 1852; C. Skogman: Fregatten Eugenies resa omkring jorden ären 1851-1853, 2 Bde., Stockholm 1854-55. Es handelte sich um die Leptoptila chloroauchenia und die Hydromedusa Defilippii; vgl. Enrico Gigliolo Hillyer: Viaggio intorno al globo della regia pirocorvetta "Magenta". Mailand 1870, S. 67.

Europäische Forschungsreisen in den Cono Sur eigentlich zwei verschiedene Arten wissenschaftlicher Forschung: die häufige und vorübergehende Tätigkeit in unmittelbarer Küstennähe und die aufwendigere und planmäßige Erforschung des Landesinneren. Natürlich bestand ein klarer Zusammenhang zwischen diesen beiden Varianten der Naturforschung. Beide waren eigentlich nur dank der Hauptverkehrsader, dem Rio de la Plata, möglich. Kaum ein anderes Gebiet in Südamerika konnte sich damals solch hervorragender Verbindungen mit Europa erfreuen wie die Anrainerstaaten des La Plata-Flusses. Besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden diese Verbindungen ausgebaut und intensiviert. Alle wichtigen europäischen Hafenstädte unterhielten regelmäßige Schiffahrtslinien nach Montevideo, Buenos Aires und den Südstaaten Brasiliens. Die Schiffahrtslinien wurden wegen der schnell wachsenden Handelsbeziehungen mit West-Europa ausgebaut. Daraus läßt sich die Schlußfolgerung ziehen, daß etwa Expeditionen in das Landesinnere, wenn auch nicht billig, so doch schnell und bequem ausgestattet werden konnten. Der Antrieb, gerade in dieser Region die noch unbekannten Gebiete zu erforschen, wurde um so stärker, als dadurch weitere Gebiete für die Kolonisation erschlossen werden konnten. Dabei galt das Interesse insbesondere zwei unterschiedlichen Gebieten: dem schon erwähnten Gran Chaco und dem mit Urwäldern bedeckten Hochland im Süden Brasiliens. Diese zwei Gebiete waren relativ leicht zugänglich, und die Forschungsergebnisse waren von unmittelbarer Bedeutung für deren wirtschaftliche Weiterentwicklung.

Der Gran Chaco Schon während der spanischen Kolonialzeit war von Seiten der Behörden und der Wissenschaft ein stetes Interesse am Gran Chaco zu verzeichnen. Der Gran Chaco, eine mehr als eine halbe Million Quadratkilometer große Tiefebene, bewohnt von nicht von den Spaniern unterworfenen Indianervölkern, stellte das Haupthindernis für die Verbindung zwischen dem unteren La Plata-Gebiet und dem hochperuanischen Bergbaurevier dar. Indianervölker wie die Chiriguanos und die Mocovies machten einen ungestörten Verkehr über die schnellste Route (durch den Gran Chaco) durch heimtückische Überfälle unmöglich. Außerdem gab es noch eine Reihe natürlicher Hindernisse, an erster Stelle große Flüsse, die plötzlich furchtbare Überschwemmungen verursachen konnten, ausgedehnte Sümpfe, im Sommer eine schreckliche Trockenheit, schließlich eine gefährliche Tierwelt mit Pumas und Vampiren, Klapperschlangen, Moskitos und anderen hartnäckigen Insekten.Von den zwei großen Flüssen, Bermejo und Pilcomayo, hätte der letztere, wäre er befahrbar gewesen, eine großartige Verbindungsstraße nach Potosi gebildet. Von der Mündung im Paraguayfluß bis zum

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Ursprung unweit der Stadt Sucre in Bolivien ist der Pilcomayo ungefähr 1500 Kilometer lang. Die natürlichen Hindernisse waren erheblich, aber da es auch in anderen Gebieten Südamerikas ähnliche gab, welche die Spanier nicht abzuschrecken vermochten, muß man annehmen, daß der Grund für die Undurchdringlichkeit des Gran Chaco ein anderer war, und zwar die Feindseligkeit der Indianer. Es waren gerade ihr Freiheitssinn und ihre unablässige Kampfbereitschaft, welche das Vordringen der Spanier in den Chaco verhinderten. In drei Jahrhunderten gab es nur vereinzelte Versuche, den Chaco zu durchkreuzen. Dabei fanden viele den Tod, sei es durch Indianerüberfälle, sei es, weil sie vor Durst und Hunger starben. Seit Juan de Ayolas 1537 mit 250 Männern spurlos verschwunden war, hatte der Chaco den Ruf, lebensgefährlich zu sein. Noch im 16. Jahrhundert wurden Alejo García, Jorge Sideño und Andrés Manzo bei ihren Versuchen, den Chaco zu durchqueren, von Indianern getötet, im 17. Jahrhundert erlitt der spanische Padre Arce das gleiche Schicksal. 13 1741 wurde der Jesuitenpater Castañares von Indianern ermordet, als er den Lauf des Pilcomayo erforschen wollte. 14 Bis Ende des 19. Jahrhunderts blieb der Chaco zum größten Teil unbekannt und wurde noch als genauso gefährlich betrachtet wie zu Anfang der Kolonialzeit. Dieser Umstand machte das Gebiet, besonders seit der von General Roca 1879 angeführten "Wüstenkampagne" (die Campaña del Desierto) gegen die Pampas-Indianer, zur letzten Wildnis am Rio de la Plata. In den Worten eines argentinischen Marineoffiziers war der Chaco eine Art Frontier (im Turnerschen Sinn des Wortes) für das argentinische Volk, ein Sicherheitsventil für ihr Übermaß an Energie. 15 Nicht einmal die von der argentinischen Regierung befohlenen militärischen Expeditionen in den 70er und 80er Jahren waren im Stande, die Indianer zu bezwingen. Das gelang erst 1911, als von der argentinischen Armee unter der Leitung von Oberst Enrique Rostagno eine Offensive unternommen wurde, die zur endgültigen Unterwerfung der Indianer führte. 16 Die besondere Bedeutung des Chaco in verkehrstechnischer Hinsicht lag vor allem darin, daß er für Bolivien ein

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Arthur Thouar: Compte Rendu de la Société de Géographie, 1884, Sitzung vom 7. November, S. 495f.; J. de Brettes / P. Lacabanne-Courrège: Compte Rendu de la Société de Géographie, 1885, Sitzung vom 6. März, S. 155-157. Ein gewisser Luke Cressol durchquerte 1826 als erster Europäer den Chaco. Der Bolivianer Dr. José Arce machte eine Reise von Bolivien nach Corrientes, die acht Monate dauerte; hierbei erschossen die Indianer zwei seiner Gefährten. Vgl. Die neuesten Forschungen in Südamerika. In: Das Ausland, 1888, S. 586. John Page: The Gran Chaco and its Rivers. In: Proceedings of the Royal Geographical Society, 1889, S. 129-152. Félix Best: Historia de las guerras argentinas. Bd. 2, Buenos Aires 1960, S. 415-418; siehe auch S. 365f.; 392-95; 405; 409-415.

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möglicher alternativer Ausgang zum Meer war. Der Pilcomayo wurde allgemein als der günstigste Verkehrsweg angesehen, nur war noch immer nicht bekannt, ob dieser Fluß befahrbar war. 1882 richtete der französische Entdeckungsreisende Dr. Jules Crevaux seine Aufmerksamkeit auf den Pilcomayo. 17 Nach fünfjähriger Tätigkeit entlang den Flüssen Orinoco, Paru und Guayaberu im Norden Südamerikas, teilweise in offiziellem Auftrag seiner Regierung, die Grenze zwischen der französischen Kolonie Cayenne und dem Kaiserreich Brasilien festzulegen, entschloß sich Crevaux, einen der rechten Nebenflüsse des Amazonas zu befahren. 1 8 Jedoch genau zu dieser Zeit erfuhr Crevaux, daß Bolivien gerade in der Folge des Salpeterkriegs gegen Chile seinen Hafen Antofagasta an der Pazifikküste endgültig verloren hatte. Dies machte die Suche nach einer alternativen Hafenstadt um so dringender und finanziell interessant. Für Bolivien wäre ein alternativer Hafen von allergrößter Bedeutung gewesen, denn laut dem bolivianischen Minister Reyes Córdoba mußte sein Land bei fortwährender Benutzung des von Chile überlassenen kleinen pazifischen Vertragshafens Cobija den doppelten Wert der Wareneinfuhr an Transportkosten aufwenden. Bolivien hätte also Millionen sparen können, falls ein alternativer Zugang zum Meer gefunden worden wäre. 1 9 Diese Tatsache veranlaßte Crevaux, den Pilcomayo zu erkunden, insbesondere auf die Frage hin, ob und in welchem Maß er schiffbar und damit ein gutes Tor zu Bolivien w a r . 2 0 Crevaux reiste mit dem Zug nach Nordwest-Argentinien und von dort weiter nach Bolivien. Er hatte vor, mit Booten den Pilcomayo hinabzufahren. Am 19. April 1882 begann die eigentliche Expedition, bestehend aus Crevaux, vier anderen Franzosen und einem Dutzend Gehilfen. Trotz langer Erfahrung im Dschungel und mit Indianervölkern machte Crevaux jedoch einige Fehler, die sich bald als verhängnisvoll erwiesen. Die Boote, die er aus mitgebrachten Bestandteilen zusammengesetzt hatte, waren untauglich für die Flußfahrt. Vielleicht auch deswegen war Crevaux ge-

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Crevaux war ursprünglich Marinearzt und hatte sich auch am Deutsch-Französischen Krieg beteiligt. Nach der Niederlage widmete er sich der Entdeckung außereuropäischer Gebiete. Ch. Maunoir: Rapport sur les travaux de la Société de Géographie et sur les progrès des sciences géographiques pendant l'année 1885. In: Bulletin de la Société de Géographie, 7e Serie, Bd 7, Nr. 1, 1886, S. 5-131. A. Baguet: L'expédition argentine à la recherche des restes du Dr. Crevaux. In: Bulletin de la société royale de géographie d'Anvers, Bd. 10, 1885-86, S. 106-122. A. Thouar: Voyage dans le Chaco Boréal. In: Le Tour du Monde, 1889, Band 2, S. 166; das französische Parlament votierte für eine Sonderfinanzierung für das Unternehmen unter der Leitung von Crevaux; vgl. Jean-Georges Kirchheimer: Voyageurs francophones en Amérique hispanique au cours du XIXe siècle: répertoire bio-bibliographique. Paris 1987, S. 56. Crevaux wurde 1847 geboren; er war also 35 Jahre alt, als er die Pilcomayo-Expedition begann.

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zwungen, oft an Land zu gehen, und dies ermöglichte es den im nördlichen Stromgebiet des Pilcomayo wohnenden Tobas-Indianern, die genaue Anzahl und Ausrüstung der Expeditionsteilnehmer festzustellen. Daß es sich hier um eine ganz besondere Expedition handelte, wurde den Tobas schon bald klar, sofern es ihnen nicht schon vorher bekannt war. Die Franzosen verfügten über einen erheblichen Vorrat an englischen Goldmünzen, die sie mit großer Freigiebigkeit unter den Indianern austeilten. 21 Nach einigen Tagen wurden Crevaux und seine Gefährten von den Tobas zu einer Mahlzeit am Ufer eingeladen. Bei dieser Gelegenheit wurde fast die ganze Gruppe ermordet. In den folgenden Jahren tauchten regelmäßig Gegenstände auf, die Crevaux und seinen Männern gehört hatten, z.B. die hölzerne Pfeife des zusammen mit Crevaux ermordeten Astronomen Billet, derer sich eine argentinische Expedition 1885 bemächtigen konnte. 1887 wurde von dem französischen Forscher Arthur Thouar ein Stück eines Sonnenschirms, von dem angenommen wurde, er habe dem Maler Ringel gehört, dem französischen Unterrichtsministerium geschickt. Das Ministerium bekam auch das Barometer, das Crevaux bei seinen metereologischen und geographischen Messungen verwendet hatte. In bezug auf den ebenfalls zugesandten Schädel aber, der angeblich der Crevaux' war, mußte festgestellt werden, daß es sich um einen Indianerschädel handelte. 2 2 Der Tod Crevaux' war Anlaß zu erneuten Gerüchten über die Blutrünstigkeit der Indianer, die Gefahren des Chaco und die Wildheit des Pilcomayo. Es lag nahe, die Indianer des Mordes zu beschuldigen. Sie galten als falsch und heimtückisch, aber auch als stark und kampfbereit. Ein belgischer Geograph beschrieb sie in folgender Weise: "Die Tobas sind von herkulischer Gestalt, proportioniert, grausam und schlau; ihre Frauen sind intelligent und haben eine edle und majestätische Haltung."23 i n solchen Aussagen klingt neben Angst auch ein gewisser Respekt an. Nicht alle Reisenden waren übrigens dieser Meinung, so zum Beispiel auch nicht der österreichische Marineoffizier Tobias von Österreicher, der den Rio de la Plata 1876 besuchte. Die Indianer, so behauptete er, seien "Widersacher der Civilisation" und "verkommene Abkömmlinge viel kräftiger

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A. Baguet: Emouvant récit d'une expédition mercantile sur la rivière Bermejo. Quelques détails inédits sur la mort de l'explorateur Crevaux. In: Bulletin de la société royale de géographie d'Anvers, Bd. 9, 1886-87, S. 97-116. Compte Rendu de la Société de Géographie, 1887, Sitzung vom 4. Februar, S. 90f. A. Baguet: L'expédition argentine à la recherche des restes du Dr. Crevaux. In: Bulletin de la société royale de géographie d'Anvers, Bd. 10, 1885-86, S. 118f.

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R a c e n . " 2 4 Jedoch empfanden manche gebildete europäische Reisende tatsächlich eine Achtung für die Indianer, denen oft auch gute Eigenschaften zugeschrieben wurden. Der Bericht vom Tod Crevaux' und seiner Gefährten, den die drei Expeditionsmitglieder, die entweichen konnten, lieferten, war Anlaß zur Veranstaltung von Suchexpeditionen. Die bekannteste von diesen Expeditionen auf der Suche nach dem "Stanley von Südamerika" 2 5 war die schon 1883 von Arthur Thouar geleitete, der aber nichts Wesentliches über die genauen Umständen, unter denen Crevaux und seine Leute den Tod fanden, in Erfahrung bringen konnte. Dieses Unternehmen, das am 1. Juli 1883 im bolivianischen Tarija startete und erst am 12. November in Asunción seinen Abschluß fand, wäre beinahe vollkommen gescheitert. Die Expedition war "nahe daran, durch Hunger, Wassermangel, Krankheit und Erschöpfung zu Grunde zu g e h e n " . 2 6 Mit dieser ersten Expedition gewann Thouar erheblichen Ruhm, der aber in den Augen mancher völlig unverdient war. Thouar war so klug, wenigstens am Anfang seiner Tätigkeit seine Unternehmen im Zeichen des Gedächtnisses an Crevaux zu gestalten. In seinem Briefwechsel mit dem französischen Unterrichtsministerium und mit der Pariser Société de Géographie machte er immer sorgfältig Meldung von etwaigen Spuren der Crevaux'schen Expedition. Und immer, wenn er dazu Gelegenheit hatte, sandte er Gegenstände nach Paris, von denen angenommen wurde, sie hätten Crevaux und seinen Gefährten gehört. So erwarb sich Thouar sehr geschickt den Ruf, der legitime Nachfolger von Crevaux zu sein. Als Thouar 1884 nach Frankreich zurückkehrte, wurde er auf dem Pariser Gare d'Orléans von einer Delegation der Société de Géographie empfangen. In der folgenden Woche wurde er eingeladen, vor der Vollversammlung der Société im Rahmen einer Sondersitzung im großen Hörsaal der Sorbonne von seiner ersten Reise zu erzählen. 2 7 Nicht alle waren von der Selbstlosigkeit und der Leistung von Thouar überzeugt. Ein gewisser M. Mano schrieb der Société de Géographie aus Panama, daß er nicht verstehe, warum soviel Wert auf die Erschließung eines Verkehrsweges von Bolivien nach Paraguay gelegt wurde. Schließlich sei 24

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T.L. von Österreicher: Aus fernem Osten und Westen, Skizzen aus Ostasien, Nordund Südamerika. Wien 1879, S. 382. Freiherr von Österreicher war Kommandant Sr. Majestät Korvette "Erzherzog Friedrich", mit der er v o m 16. Mai 1874 bis 21. Juni 1876 eine Weltumsegelung machte. Manche Kapitel des Buches wurden in der Wiener Abendpost vorab veröffentlicht. L. Gallois: L'état de nos connaissances sur l'Amérique du Sud. In: Annales de Géographie, Bd. 2, 1892-93, S. 65-91. Besprechung von H. Polakowsky des Thouarschen B u c h e s "Exploration dans l'Amérique du Sud". In: Petermanns Mittheilungen, 1891, S. 136f.

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die Reise durch das Pilcomayotal gar nicht schwierig: "C'est un voyage relativement facile, voyage que j'ai fait et qui bien souvent a été fait avant et après moi." Von Mano wurde auch darauf hingewiesen, daß während des Paraguaykrieges zahlreiche Deserteure der der argentinischen Armee angegliederten belgischen Legion entlang dieser Route aus Asunción geflüchtet seien. Das Hauptargument Manos war einfach: Allein oder mit einer kleinen Gruppe sei die Durchquerung des Chaco eigentlich gefahrlos. Wer aber mit einer zahlreichen Gesellschaft sich in den Chaco wage, lade den Verdacht auf sich, Böses vorzuhaben, und werde also von den Indianern als Feind betrachtet. Außerdem war eine große Gruppe nur mit großer Mühe mit Verpflegung und Wasser zu versorgen. Eine große Gruppe konnte also ohnehin nicht freundlich von den Indianern empfangen werden, da sie ein zu großer Anschlag auf die spärlichen Nahrungsmittel darstelle. 2 8 Thouar fühlte sich offenbar angegriffen und reagierte verärgert mit der Frage, warum Herr Mano nicht über seine Reise durch das Pilcomayotal berichtet habe. 2 9 Unerschüttert von solcher Kritik und in der festen Überzeugung, daß der Pilcomayo befahrbar sei, setzte Thouar seine Tätigkeit fort, mit der Hilfe und finanziellen Unterstützung von den Behörden in verschiedenen Staaten. 1885 erforschte Thouar das Delta des Pilcomayo (31. Juli-15. Dezember), unter Aufsicht der argentinischen Regierung. Das folgende Jahr reiste er von Buenos Aires nach Sucre teilweise durch den Chaco (28. Februar-20. Juli 1886), und schließlich, beauftragt von der bolivianischen Regierung, erforschte er den Chaco Boreal, den nördlichen Chaco (2. Dezember 188618. November 1887). Auf diesen Reisen machte Thouar eine große Anzahl von Skizzen, Zeichnungen und Karten; außerdem sammelte er systematische Daten über Himmelskörper, Wetterverhältnisse, die Natur und die Bewohner des Chaco. 3 0 Über seine zweite, dritte und vierte Expedition ins Chaco-Gebiet und das Pilcomayotal schrieb Thouar ein unterhaltsames Feuilleton in Le Tour du Monde. Alle herkömmlichen und vertrauten Elemente von Reiseerzählungen und abenteuerlichen Geschichten werden von Thouar verwendet. Die Hindernisse scheinen unüberwindlich, die Expeditionsteilnehmer blicken dem Tod ins Auge, aber dank der guten Führung und mit einem gewissen Maß 27 28 29 30

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Compte Rendu de la Société de Géographie, 1884, Sitzung vom 1. Februar, S. 87; Sitzung v o m 12. Februar. Mano an die Société de Géographie. In: Compte Rendu de la Société de Géographie, 1884, Sitzung vom 18. Juli. Compte Rendu de la Société de Géographie, 1884, Sitzung vom 7. November. A. Thouar: Report an das Unterrichtsministerium. In: Compte Rendu de la Société de Géographie, 1888, Sitzung v o m 15. Juni.

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an Glück erreicht die Expedition am Ende doch ihr Ziel. Besonders während seiner folgenden Unternehmen versuchte Thouar, den Chaco in seiner Verschiedenheit zu erforschen. Wie in Le Tour du Monde dargestellt, handelt es sich dabei immer um den harten Kampf des Menschen mit der Natur, letztere repräsentiert von einer feindlichen Tierwelt, Hitze und Regen, Hunger, Durst, usw. Was die menschlichen Chacobewohner betrifft, so ist Thouar im allgemeinen freundlich gestimmt und tolerant, was freilich darauf zurückzuführen ist, daß er im Grunde genommen an die Idee des "guten Wilden" glaubt. Es wird nur wenig Information über technische Aspekte gegeben, mit einer wichtigen Ausnahme, nämlich den Verlust von fast allen wissenschaftlichen Dokumenten, Instrumenten und Notizen. Kein Wunder, daß die oft sehr genauen Beschreibungen Thouars von seinen Abenteuern vielerorts Mißtrauen erweckt haben, denn wie war so etwas möglich, wenn er nur über spärliche Notizen verfügte? 3 1 Tatsächlich muten manche Einzelheiten von Thouars Berichten höchst unwahrscheinlich an, so z. B. die wunderbare Rettung eines Feldwebels: Während der Siesta, als Thouar in seiner Hängematte lag, bemerkte er, daß eine übergroße Klapperschlange sich um den Körper des unter ihm auf dem Boden schlafenden Feldwebels geschlungen hatte; mit Hilfe eines Grashalms gelang es Thouar, die Schlange unterm Hals zu kitzeln und das Untier so etwas vom Gesicht des schlafenden Mannes wegzulocken. In der Zwischenzeit hatte der Autor einen Knoten in eine dünne Schnur gemacht, zog die Schlinge über den Schlangenkopf und konnte das lebensgefährliche Tier schnell erwürgen, womit er dem Feldwebel das Leben rettete.32 Außer Thouar bereisten in den 80er Jahren auch andere Franzosen den Chaco, unter ihnen Baron Louis-Joseph de Brettes (1884-89), der vergebens nach Spuren von Crevaux suchte. De Brettes erreichte jedoch einen gewissen Ruf aufgrund seiner 44-tägigen Durchquerung zu Fuß des südlichen, argentinischen Chaco im Jahr 1885. Während seiner Expedition kam De Brettes in Berührung mit Indianerstämmen, die seiner Aussage zufolge in demselben Zustand der Barbarei lebten wie vor der spanischen Eroberung. Ganz ohne Gefahr sei der Kontakt mit diesen Leuten übrigens nicht, denn sie seien "hypocrites et cruels."33 Auf seiner Reise, die er gründlichst vorbereitet hatte, sammelte De Brettes eine große Zahl wissenschaftlicher Daten. Die von ihm mitgebrachten Instrumente umfaßten 31 32

Z. B. Hauptmann Juan Rohde: Die Expedition des General Victorica nach dem Gran Chaco (Argentinien). In: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, Bd. 21, Nr. 1, 1886, S. 50-79, Fußnote auf S. 64. A. Thouar: Voyage dans le delta du Pilcomayo. In: Le Tour du Monde, 1889, S. 154.

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unter anderen: "compas de route; chronomètre, horizon artificiel, podomètre, tables astronomiques et nautiques de Caillet, éphémerides, Connaissance des Temps pour l'année 1885, baromètre, thermomètre, sonde, mètre, etc."34 Die linguistischen Daten, die von De Brettes gesammelt wurden, veranlaßten ihn zur Veröffentlichung einer Grammatik der Topii-Sprache. 35 Aus dieser umfangreichen wissenschaftlichen Tätigkeit ließe sich übrigens ableiten, daß für De Brettes die Suche nach Crevaux nebensächlich und lediglich Anlaß war, den Chaco zu bereisen. Dies gilt auch für seinen Landsmann Fouaillet, der 1886 den Pilcomayo hinabfuhr und dem es auch nicht gelang, den Ort zu finden, an dem Crevaux den Tod gefunden hatte. Von den Tobas erfuhr Fouaillet nur, daß dieser Ort eine heilige Stätte geworden war und deswegen keinem Ausländer gezeigt werden konnte. Nach dem Tode Crevaux' war Thouar von den französischen Entdeckungsreisenden im Chaco zwar der bekannteste, aber nicht der einzige, der sich mit der Erforschung dieses Gebietes befaßte. Noch 1883 befuhren zwei argentinische Armeeoffiziere, Amadeo Baldrich und Oberst Ybazeta, den Pilcomayo stromaufwärts bis zur bolivianischen Grenze. Dabei wurde eindeutig festgestellt, daß dieser Fluß wegen des im Jahresdurchschnitt ungleichmäßigen Wasserstandes nicht befahrbar und somit nutzlos für den Verkehr war. 1890 wurde diese Feststellung von den Reisenden John Page und Storm unabhängig voneinander bestätigt, und seit 1898 wurde der Pilcomayo allgemein für nicht befahrbar erklärt.37 Am Ende des Jahrhunderts galt auch der Chaco Boreal noch immer als unbekanntes und unerforschtes Gebiet. Bis damals war es auch noch niemandem gelungen, den Chaco zu Fuß zu durchqueren, auch Thouar nicht, der dies 1887 vergebens versucht hatte. Auch in dieser Hinsicht mußte der Franzose seine Bestrebungen also als mißlungen b e t r a c h t e n . 3 8 Nach seinem Tod wurde Crevaux eine Heldenverehrung zuteil. Auf einem Friedhof in Buenos Aires wurde ein "bescheidenes Monument aus Granit" errichtet, mit seinem Namen i n G o l d b u c h s t a b e n . 3 9 i m Dezember 1883 33 34 35 36 37 38 39

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Compte Rendu de la Société de Géographie, Sitzung v o m 8. Januar 1886, S. 15f. Ebda. D e Brettes: Vortrag über seine Reise im Chaco. In: Compte Rendu de la Société de Géographie, 1886, Sitzung vom 19. Februar, S. 166f. A. Baguet: M. Fouaillet, explorateur français. In: Bulletin de la société royale d e géographie d'Anvers, Bd. 11, 1886-87, S. 95f. Wilhelm Sievers: Die geographische Erforschung Südamerikas im 19. Jahrhundert. In: Petermanns Mittheilungen, Bd. 46, 1900, S. 121-142, bes. S. 133. Ebda., S. 134. F. Femandez: La République argentine. In: Bulletin de la société de géographie, 7 e Série, Bd. 4, Nr. 4, 1883, S. 4 4 9 - 4 7 9 , bes. S. 477.

Europäische Forschungsreisen in den Cono Sur

wurde Crevaux in einer Sondersitzung des Geographischen Instituts zu Buenos Aires geehrt, in Anwesenheit des jungen argentinischen Armeeoffiziers und Chacoforschers Amadeo Baldrich und Thouars. Bei dieser Gelegenheit wurde eine Porträtbüste jenes "Märtyrers der Wissenschaft" enthüllt. 4 0 Einige Jahre danach erfuhr Thouar, daß der Schädel eines TobaIndianers, eines gewissen Cuserai, den er nach Paris gesandt hatte, einem der Mörder von Crevaux gehört hatte. 41

Südbrasilien Während der 80er Jahre war der Chaco noch nicht "zivilisiert". Man könnte sagen, daß hier die Rede von einer Frontier war, einer breiten Grenze zwischen Barbarei und Zivilisation. Auch im Süden Brasiliens gab es so eine Frontier, aber hier verlief der "Aufmarsch" der Zivilisation ähnlich wie im mittelalterlichen Europa: Zuerst wurden die sich manchmal tief ins Landesinnere erstreckenden Täler kolonisiert, danach die mit dichtem Urwald bedeckten Berghänge. Das Vordringen der zumeist aus Europa eingewanderten Siedler geschah planmäßig, und auch die Erforschung der noch nicht kolonisierten Gebiete verlief systematisch. In Südbrasilien waren es überwiegend Deutsche, die diese Arbeit leisteten. Die drei Südstaaten Paraná, Santa Catarina und Rio Grande do Sul wurden intensiv von deutschen Wissenschaftlern bereist und beschrieben. Rio Grande do Sul war das bevorzugte Arbeitsgebiet von Max Beschoren, während Santa Catarina von Odebrecht, Stutzer, Soyaux, von Jhering und anderen untersucht wurde. 4 2 In deutschen geographischen Zeitschriften erschienen ausführliche Berichte über die noch zu kolonisierenden Gebiete mit genauen Angaben, wo und wie am besten vorzugehen sei. Die Forschungsreisen, die manchmal auf längere Aufenthalte hinausliefen, wurden durchwegs von Kolonisationsgesellschaften in Hamburg und Bremen finanziert. Vielleicht haben die Berichte dieser Entdeckungsreisenden auch deshalb eine recht "praktische" Prägung. Beabsichtigt war, die weitere Kolonisation anzuregen. Neben Beschreibungen der noch "jungfräulichen" Gebiete findet man auch Berichte über bereits bestehende Siedlungen, die manchmal den Eindruck erweckten, "ein Stück Altdeutschland im fernen Urwald" zu sein. 43 Manchmal spürt man auch eine 40 41 42 43

A. Baguet: L'expédition argentine à la recherche des restes du Dr. Crevaux. In: Bulletin de la société royale de géographie d'Anvers, Bd. 10, 1885-86, S. 106f. A. Thouar: Voyage dans le Chaco Boréal. In: Le Tour du Monde, 1889, 2. Bd., S. 206f. Sievers (Anm. 37), bes. S. 140. Wilhelm Breitenbach: Die ersten Jahre eines deutschen Kolonisten in Südbrasilien. In: Das Ausland, Wochenschrift für Länder- und Völkerkunde, Jg. 1888, S. 49.

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gewisse Traurigkeit wegen der unaufhaltsamen Zerstörung der wilden Natur, wo Waldriesen der Axt und dem Pflug des Bauern weichen mußten. Reuevoll wird dann festgestellt, daß die Zerstörung des Urwaldes nicht unbedingt zur Besserung des Bodens führt. Sehr oft führt der Kolonisationsprozeß sogar zu Bodenerosionen, und am Ende bleibt dann oft nur Ödland. Sehr früh war mancher Beobachter also schon durchdrungen vom einmaligen Wert der ursprünglichen Natur, von der üppigen Artenvielfalt der Pflanzen- und Tierwelt und von der vernichtenden Wirkung der Zivilisation. Im Vergleich zur Chaco-Forschung sind die Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit in Südbrasilien reich an genauen Angaben über Wetter, Bodensorten, Bodenschätze und an präzisen Hinweisen für die wirtschaftliche Entwicklung. Das Leben der deutschen Kolonisten inmitten der Wildnis galt als gesund. Schon von frühester Jugend an mußte man sich in der wilden Natur behaupten: "Solch ein ungebundenes Leben, das oft genug mit Gefahren aller Art verknüpft ist, stählt Geist und Körper der Jünglinge, macht sie mutig und unerschrocken und lehrt sie, mehr auf sich selbst und ihre eigene Kraft zu vertrauen als auf andere". 44 Ganz Südbrasilien schien für die deutsche Kolonisation geeignet. Manchmal wurden hervorragende Siedlungsgebiete besonders empfohlen, so z. B. von Max Beschoren, der 1880 darauf hinwies, daß am oberen Uruguayfluß "mehr als 10,000 Quadratkilometer des prächtigsten Urwaldes unberührt" lagen. 45 Das Gebiet sei fruchtbar, reich an Edelmetallen und Mineralien, die Lage sei äußerst verkehrsgünstig und außerdem gebe es fast keine Indianer mehr, "die diese Waldungen einst als ihr Eigentum und als ihre Jagdgründe betrachteten". 46 Die damals eher mitleiderregenden "Coröado"-Indianer wußten ganz genau, zu welchem Zweck sich die ausländischen Entdeckungsreisenden in ihrem Land aufhielten. Als sich herausstellte, daß Beschoren und seine Gruppe Landmessungen durchfühlten, drohten sie, ihn anzugreifen. 47 Es blieb aber bei Drohungen, und die Coroados mußten dulden, daß die ersten Schritte zur Vernichtung ihrer Heimat unternommen wurden. Für Beschoren hatte der "jungfräuliche" Wald gerade in jenem Augenblick den größten Reiz: Es war ein "merkwürdig beruhigendes Gefühl, sich fern vom 'Hader der

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Ebda., S. 75f. Max Beschoren: Das Waldgebiet des oberen Rio Uruguay in der brasilianischen Provinz Säo Pedro do Rio Grande do Sul. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, Bd. 15, 1880, S. 195-211, bes. S. 197. Ebda., S. 209. Max Beschoren: Beiträge zur nähern Kenntnis der brasilianischen Provinz Säo Pedro do Rio Grande do Sul. Reisen und Beobachtungen während der Jahre 1875-1887. In: Ergänzungsheft Nr. 96 zu Petermanns Mittheilungen. Gotha 1889, S. 15.

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in den Cono Sur

Parteien', von den oft recht kleinlichen Skandalen der zivilisierten Welt [...] zu wissen". 48 Von großer Wichtigkeit für die Erschließung und Parzellierung eines neuen Gebiets war die Erstellung verläßlicher Karten. In der Regel war es für die südamerikanischen Staaten nicht leicht, gute und verläßliche Karten herzustellen. Präzise astronomische und geographische Messungen waren daher eine der Hauptaufgaben der Forscher beim Betreten eines noch "jungfräulichen" Gebiets. Es mußten dafür ausländische Experten herbeigerufen werden, da es an einheimischen Fachleuten mangelte. So wurde laut Beschoren 1876 eine kleine Gruppe deutscher Astronomen unter der Leitung von Dr. Weinelt mit der Erstellung einer Reisekarte Brasiliens beauftragt. Es scheint allerdings, daß gegen diese Gruppe intrigiert wurde, nur weil es Ausländer waren. Das Unternehmen scheiterte nach zwei Jahren. 4 9 Erst seit 1886, und zwar zuerst von Säo Paulo aus, beteiligten sich auch brasilianische Wissenschaftler an der Erschließung ihrer Heimat. 5 0 Märtyrer der Wissenschaft hat es in Südbrasilien nicht gegeben, wenigstens nicht als Opfer von Auseinandersetzungen mit Indianern. Die wenigen überlebenden Ureinwohner, zum Beispiel die Bugres, wurden von Kolonisten erbarmungslos gejagt und ermordet. 1867 konnte Dr. Reinhold Hensel noch das Leben der Waldindianer beobachten. In der Nähe der Militärkolonie Caseros, im Hochland von Rio Grande do Sul, befand sich ein Dorf der Coroados, der "Gekrönten". Ihr Kazike namens Doble war ein Verbündeter der brasilianischen Regierung, der seine "wilden Stammesgenossen" jagte, sie gefangennahm und den brasilianischen Behörden auslieferte. 5 1

Schlußbetrachtung Es stellt sich die Frage, was eigentlich von den vielen europäischen Forschungsreisenden entdeckt wurde. Gewiß wurden bis dahin unbekannte Gebiete "entdeckt" oder wurde mit ihrer Erschließung begonnen. Aber mancher Reisende, zum Beispiel Thouar auf seiner schwierigen Chaco-

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Max Beschoren: Beitrage zur nähern Kenntnis der brasilianischen Provinz Säo Pedro do Rio Grande do Sul. Reisen und Beobachtungen während der Jahre 1875-1887. In: Ergänzungsheft Nr. 96 zu Peternianns Mittheilungen. Gotha 1889, S. 15. Ebda., S. 43. Max Beschoren: Zur Geographie der Provinz Rio Grande do Sul. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, Bd. 13, 1878, S. 4 1 7 - 4 3 1 , bes. S. 4 1 8 . Sievers (Anm. 37), bes. S. 140. Reinhold Hensel: Die brasilianische Provinz Säo Pedro do Rio Grande do Sul. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, Bd. 2, 1867, S. 362f.

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Expedition, entdeckte vielleicht auch sich selbst, die Schwächen und Stärken seiner Person. Andere, unter ihnen Crevaux, entdeckten freilich den Tod. Man sollte auch fragen, für wen Südamerika erforscht wurde. Etwa für die europäische Zivilisation? Der Eindruck, daß die intensive Forschungsarbeit selbstlos war, trügt. Fast immer ging es um persönliche Bereicherung oder Ruhm. Deswegen sind viele Forschungsreisen verknüpft mit deutlichen wirtschaftlichen Interessen. Mancherorts war auch das romantische Bewußtsein, in die Fußstapfen der spanischen Conquistadores zu treten, mit im Spiel. In Europa wurde die Forschungsarbeit von manchen als eine Art Konkurrenzkampf betrachtet. 1884, bei der Huldigung von Thouar nach seiner ersten Reise, nannte Ferdinand de Lesseps, der Vorsitzende der Pariser Société de Géographie, die Entdeckungsreisenden "l'avant-garde des idées et du progrès, les champions de la France, dans une espèce de tournoi entre les États civilisés." 52 Was bedeutete die Forschungsarbeit für die entdeckten Gebiete? Die meisten Reisenden waren sich der Folgen ihrer Tätigkeit durchaus bewußt. Sie lieferten einen Beitrag zur Vernichtung der Natur und der ursprünglichen Bewohner des Landes. Dieser Umstand betrübte sie jedoch kaum. So stieß Hermán Ten Kate 1897 bei Villa Encamación in Südparaguay auf die verwesende Leiche einer von Kolonisten ermordeten Guayaqui-Frau. Ten Kate und seine Helfer zergliederten die Leiche und steckten Glieder, Kopf und Rumpf in einen großen Sack, froh, daß ihr Museum in La Plata bald um eine kostbare Neuigkeit bereichert sein würde. 5 3 In demselben Jahr schrieb Ten Kate jedoch an die niederländische Geographische Gesellschaft, daß eine gewisse Skepsis der Zivilisation gegenüber gerechtfertigt sei, wobei er einen Artikel in der Courrier de la Plata zitierte: "Après avoir vu, au Musée de la Plata, cette armée de squelettes d'Indiens, vous croiriez que la civilisation tant vantée n'est qu'une danse macabre plutôt qu'un progrès de l'humanité". 5 4 Mitleid also mit den Indianern. Dagegen wurden insbesondere die HispanoAmerikaner und europäischen Einwanderer eher gering geachtet. Von Österreicher schrieb über sie: "Die Landesangehörigen sind aus Abenteurern aller Länder zusammengewürfelt; die harte Arbeit wird gescheut; der Volksunterricht ist fast null." 5 5 Ein paar Zeilen weiter urteilte er über die 52 53 54

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Compte Rendu de la Société de Géographie, 1884, Sitzung v o m 12. Februar. H.F.C. Ten Kate: Over land en zee. Schetsen en herinneringen van een wereldreiziger. Amsterdam 1925, S. 255f. H.F.C. Ten Kate: Aan het bestuur van het Koninklijk Nederlandsch Aardrijkskundig Genootschap. In: Tijdschrift van het aardrijkskundig genootsehap, 2de serie, Bd. 14, 1897, S. 132-137. Österreicher (Anm. 24), S. 385.

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in den Cono Sur

Gauchos: "Der Schmutz der spanisch sprechenden Menschen auf der Pampa steht unübertroffen auf der Welt da." 5 6 In bezug auf seine Reise nach Paraguay 1897 schrieb der niederländische Ethnologe Ten Kate von den Einwanderern: "Wie Argentinien scheint Paraguay ein auserkorener Zufluchtsort für europäische Unzufriedene zu sein, für sozialpolitische Träumer und psychisch Minderwertige, um nicht von flüchtigen Verbrechern zu sprechen". 57 Schließlich geht es auch darum, ob die Reiseerzählungen verläßlich sind oder nicht, und, wenn sie es sind, in welchem Maß? Man kann behaupten, daß viele Reiseberichte ein schon bestehendes, schablonenartiges Bild von Südamerika nur verstärkt haben. Dazu tragen auch die vielen Illustrationen bei. Der europäische Reisende wird darin fast immer als einsam, überwältigt von der Natur und bedroht von den größten Gefahren, dargestellt, und wenn andere ihn umringen, sind es dunkelhäutige Diener und Gehilfen. Selbstverständlich wurde auch in den Reiseberichten Nachdruck auf die überlegene europäische Kaltblütigkeit und Handlungsfähigkeit gelegt, ohne die keine Expedition erfolgreich sein könne.

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Ebda., S. 387. Ten Kate (Anm. 53), S. 247f.

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TITUS H E Y D E N R E I C H

Päpstliche Prälaten in Chile, 1823-1825 Giuseppe Sallustis Bericht (1827) einer gescheiterten und dennoch folgenreichen diplomatischen Reise Ein Mißerfolg war die Reise in vielfacher Hinsicht. Das angestrebte Konkordat des Heiligen Stuhls mit dem jungen, 1818 proklamierten Staat Chile kam nicht zustande. Giovanni Muzi (1772-1849), zuvor bei der Wiener Nuntiatur tätig und für die delikate Mission eigens zum Erzbischof und Apostolischen Vikar befördert, mußte nach zwei Jahren beschwerlicher Fahrten, vergeblichen Wartens auf Verhandlungstermine und vergeblicher Verhandlungen die Rückreise nach Europa antreten.1 Der Geistliche Giuseppe Sallusti, Jahrgang 1778 oder 1779, Verfasser des nachfolgend zu betrachtenden Reiseberichts, mit dessen Publikation er Aufstiegshoffnungen in der kirchlichen Hierarchie verband, ging nach Heimkehr und Publikation leer aus. Schlimmer noch: Sallusti wurde, nachdem 1827 vier der geplanten fünf Bände in Rom erschienen waren, in seine Ursprungspfarrei San Vito di Palestrina zurückdelegiert, wo er 1858 starb. 2 Der angesichts der verfahrenen diplomatischen Situation offenbar viel zu brisante, weil Wege und Ziele der Mission nicht unkritisch darlegende Band fünf verschwand in den Archiven des Vatikans. Der Text erschien erst in der 1939 abgeschlossenen, 1970 gedruckten Dissertation von Avelino Ignacio Gömez Ferreyra. 3 Längerfristig jedoch lassen sich unerwartet positive, historisch gleichsam kompensierende Nachwirkungen ausmachen: 1. Niemand konnte in jenen Jahren voraussehen, daß 1846 einer der damaligen Muzi-Begleiter den Stuhl Petri besteigen würde. Giovanni Maria Mastai 1

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Vgl. insgesamt Pedro de Leturia y Miguel Batllori SJ: La primera misión pontificia a Hispanoamérica 1823-1825. Relación oficial de Möns. Giovanni Muzi. Città del Vaticano, Biblioteca Apostolica Vaticana 1963 (Studi e Testi, 229); Alberto Serafini: Pio Nono. Giovanni Maria Mastai Ferretti. Dalla giovinezza alla morte nei suoi scritti e discorsi editi e inediti. Volume I: Le vie della divina Provvidenza (1792-1846) [alles], Rom, Tipografia Poliglotta Vaticana 1958, S. 242-405. Populärwissenschaftlich, aber nützlich Lillian Cairn: El Chile de Pio IX: 1824. Santiago de Chile, Editorial Andrés Bello 1987. S. auch die unter Anm.6 genannte Literatur. Über Sallustis Vita am ausführlichsten Avelino Ignacio Gómez Ferreyra: Viajeros pontificios al Río de la Plata y Chile (1823-1825), Córdoba 1970, S. 34-51 und Carlo Falconi: Il giovane Mastai. Il futuro Pio IX dall'infanzia a Senigallia alla Roma della Restaurazione, 1792-1827. Milano, Rusconi 1981, S. 530-555 mit S. 777, Anm.17. Gómez Ferreyra (Anm.2).

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(1792-1878), nunmehr Pius IX., in den Geschichtsbüchern oft einseitig zum großen Risorgimento-Verlierer abgestempelt, war de facto der erste Papst, der interkontinentale Politik, Weltpolitik betrieb. In den 40er und 50er Jahren des 19. Jahrhunderts gelang ihm in kurzer Folge eine ganze Reihe von Übersee-Konkordaten - auch mit Chile (1847), das er einst bereist hatte. 4 Er gründete und förderte die Weltmission. Auch seine nicht immer einfühlsamen Enzykliken und Dogmenverkündungen der 50er und 60er Jahre, ferner das glücklose, rasch bereute Engagement für Napoleons III. Intervention in Mexiko (1863ff.) sind vor diesem Hintergrund zwar nicht zu rechtfertigen, aber doch zu erklären. 2. Mastai blieb auch als Papst ein Reisender zu Wasser und zu Lande. Er ließ die ersten Eisenbahnen des Stato Pontificio anlegen und nutzte sie für seine Besuchs- oder Inspektionsfahrten. Zu Wasser bewegte sich Mastai, wann immer er Zeit hatte, vor Civitavecchia auf dem Flaggschiff seiner 1860 aufgebauten schütteren Kriegsmarine, getauft auf den Namen "Immacolata Concezione" (eine militärische Nebenwirkung der Dogmenverkündung von 1854 und der Vorgänge von Lourdes 1858).5 3. Die dritte Spätfolge der Chile-Reise von 1823-25 führt uns in unser Jahrhundert und in die Bibliothèque Nationale, somit auch zurück zur Literatur. Denn vieles spricht dafür, daß Alejo Carpentier in Paris auf die 1906 in Santiago gedruckte Übersetzung von Sallustis Bericht stieß und für Teil I des Columbus-Romans El arpa y la sombra (1978) nutzte, des letzten, den Carpentier noch schreiben konnte. 6 Pius IX., so die Schlußszene dieses Teils I, überlegt in seinem Arbeitskabinett, ob er eine Kanonisierungspetition zugunsten des Entdeckers unterschreiben soll oder nicht, und die Erinnerung

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Zu Chile vgl. Cairn (Anm.l), S. 35. Vgl. u.a. P. Negri: Le ferrovie dello Stato Pontificio (1844-1870). In: Archivio economico dell'Unificazione italiana 16, 1967, fase. 2, S. 1-164; Historiáis [Ps.]: Roma nera (Dentro e fuori Porta Pia). Milano, Le edizioni del Borghese o.J., Kap. 2, mit Photo. Die "Immacolata Concezione", auch "bucintoro papale" genannt, wurde 1873 von Staatssekretär Antonelli nach Marseille veräußert; vgl. Benny Lai: Finanze e finanzieri vaticani tra l'Ottocento e il Novecento. Da Pio IX a Benedetto XV. Milano, Mondadori 1979, S. 57, Anm. 3. José Sallusti: Historia de las misiones apostólicas de Monseñor Juan Muzi en el estado del Chile. Santiago [de Chile] 1906 [ein Expl. in BN Paris].- Vgl. Vf. "El arpa y la sombra" (1979): Alejo Carpentiere Roman vor dem Hintergrund der Columbus-Wertungen seit den Jahrhundertfeiern von 1892. In: Wolfgang Bader/János Riesz (Hg.): Literatur und Kolonialismus I. Die Verarbeitung der kolonialen Expansion in der Europäischen Literatur. Frankfurt am Main-Bern, Peter Lang 1983 (Bayreuther Beiträge zur Literaturwissenschaft, 4), S. 291-321; ders.: Il viaggio in Cile (1823-1825) di Giovanni Maria Mastai (1846-78 Papa Pio IX): conseguenze politiche e letterarie, in: La letteratura di viaggio. Storia e prospettive di un genere letterario. A cura di M. Enrica D'Agostini. Milano, Guerini e Associati 1987, S. 161-169.

Päpstliche Prälaten in Chile, 1823-1825

führt ihn von der Gegenwart (um 1866) in die Jahre zurück, da er selbst die Neue Welt entdeckt und bereist hatte. Im folgenden soll es zwar abermals um die politisch-literarischen Aspekte der Reise von Nuntius Muzi gehen, aber auch um die von Sallusti beschriebenen Etappen und Beobachtungen. Hier zunächst der komplette Titel des Werks: Storia delle missioni apostoliche dello Stato del Chile, colla descrizione del viaggio dal vecchio al nuovo mondo fatto dall'autore. Opera di Giuseppe Sallustj [sie]. Roma, Presso Giuseppe Mauri 1827.7 Kann man - so unsere Frage - Sallustis Storia auch mit säkularisierendem Blick lesen, also unabhängig vom apostolischen Reisemotiv, um zu erkennen, was der geistliche Autor von Land und Leuten sieht oder sehen will? Zumal die Forschung, soweit ersichtlich, vorwiegend die kirchenhistorisch, diplomatisch, ferner die - auf Mastai bezogen - biographisch relevanten Dinge stärker hervorhebt als die landeskundlichen. 8 Hier zunächst die einzelnen Reise-Etappen. 3. Juli bis 5. Oktober 1823: Abreise von Rom nach Genua und ebendort unvorhergesehener Aufenthalt von mehreren Wochen, weil Pius VII. gestorben, folglich in Rom ein neuer Papst zu wählen, sodann die Weisung des Gewählten (Leo XIII.) abzuwarten war. 5. Oktober 1823 bis 4. Januar 1824: dreimonatige Überfahrt auf einem Segler mit dem schönen Namen "Hélo'fse" (zu Carpentiers späterer Freude) nach Buenos Aires, mit unliebsamem Zwangsaufenthalt auf Palma de Mallorca, weil mißtrauische Behörden Ferdinands VII. den Zweck der Reise ergründen wollten - und Kolonien ungeachtet der Phasen der Emancipación nur mit Madrids Placet angesteuert werden durften. 16. Januar 1824: schon zwölf Tage nach der Landung in Buenos Aires (4.1.) Weiterreise auf dem Landweg nach Santiago, wo die Gruppe am 5. März, also nach fünfzig Tagen eintraf. Nun aber folgte - bis zum 19. Oktober 1824 - ein enervierender, fruchtloser Aufenthalt in der chilenischen Metropole, bis Muzi aufgab und sich zur Rückreise entschloß. Die Rückreise dauerte 34 Tage und führte - auf dem Seeweg über Kap Horn - von Valparaiso nach Montevideo. Dort zwang man die Gruppe zu einem weiteren, schikanösen Immobilismus von zweieinhalb Monaten. Am 18. Februar 1825 konnten Muzi und die Seinen Montevideo endlich verlassen. Die Überfahrt bis Gibraltar beanspruchte weitere zweieinhalb Monate. Nach zwanzig Tagen Rast in Gibraltar ging es weiter nach Genua, wo die Gruppe am 5. Juni eintraf. Und am 7. Juli 1825,

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Zitate und Ortsangaben im folgenden nach dieser Ausgabe. Wir sind glücklich über ein eigenes, 1988 von einem Antiquar in Bari angebotenes Exemplar; ein weiteres befindet sich in der Staatsbibliothek Berlin. So z.B. Serafini (Anm. 1) sowie Falconi ( Anm. 2), S. 525ff., dem wir aber trotzdem für die nachfolgende Skizze des Reiseverlaufs verpflichtet sind.

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fast auf den Tag zwei Jahre nach dem Aufbruch, war die päpstliche Delegation wieder in der Urbs. Die Delegation: Das waren, wie gesagt, vor allem Vikar Muzi sowie, als Begleiter, Mastai und Sallusti, der spätere Chronist. Reisenotizen hatte sich neben Sallusti auch der junge Mastai gemacht; 9 ein Buch wurde daraus nicht, wohl weil der profilsüchtig flinke Sallusti ihm zuvorkam. Zum Zweck der Reise: 1822 war ein Geistlicher aus Santiago, José Ignacio Cienfuegos, in Rom eingetroffen und hatte versucht, Verhandlungen für ein Konkordat mit dem - vier Jahren jungen - Staat Chile in Gang zu bringen. Tatsächlich oder angeblich handelte er im Einvernehmen mit der Regierung - und in jedem Fall ohne Rücksicht auf den Madrider Hof, der die "gobiernos de hecho" abgefallener Kolonien nicht anerkannte, somit Konkordatsinitiativen, wann immer er davon erfahren mochte, nicht hinnahm. Zur Enttäuschung Cienfuegos' blieb Rom - zumal nach dem Repressionserfolg der Heiligen Allianz - vorsichtig. Pius VII. zog es vor, nach Buenos Aires und Santiago eine eigene Delegation zu entsenden, anstatt Cienfuegos Gehör zu schenken und ihn diplomatisch-hierarchisch aufzuwerten. Auf der Reise nach Santiago mußten Muzi und Mastai, die sich gut verstanden, nicht nur mit einem unbequemen, pedantischen, karriereversessenen Sallusti zurandekommen, sondern auch mit einem enttäuschten, ja verbitterten Cienfuegos. Vor den Behörden auf Mallorca und auch sonst unterstrich Muzi den pastoralen, nicht politischen Charakter seiner Mission. Man wollte, Cienfuegos' erste Fühlungnahme nutzend, in Gebieten nach dem Rechten sehen, zu denen durch die Emanzipationswirren seit zehn Jahren kaum noch Verbindung bestand. Unbestreitbar blieb jedoch das eigentliche Ziel: ein Konkordat mit dem unter O'Higgins sich festigenden neuen Staat. Vor diesem Hintergrund wird deutlicher, wie heikel Muzis Auftrag war. Madrid beäugte argwöhnisch alle diplomatischen Alleingänge - nicht nur Roms - mit den abtrünnigen Kolonien. In den abtrünnigen Kolonien wiederum hielt ein Teil der hohen Geistlichkeit weiter zu Madrid, so auch und gerade der Erzbischof von Santiago. Regierende in Buenos Aires und Santiago wiederum konnten, mochten vielleicht auch nicht die Position des Hl. Stuhls ergründen: Solidarität mit Madrid oder Einverständnis mit den Gegebenheiten der Emancipación. Wir erinnern uns: 1823 und 1824 sind die Jahre von Ayacucho einerseits, der gewalttätigen Beendigung des "trienio liberal" in Spanien andererseits - "liberal" auch im Sinne der Bereitschaft, Kolonien in die Freiheit zu entlassen. Erschwerend für Muzis Bemühungen: die unvorhersehbaren Machtwechsel im La Plata-Gebiet und die damit einhergehende 9

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Falconi (Anm. 2), S. 537 mit S. 779, Anm. 35.

Päpstliche Prälaten in Chile, 1823-1825

Verschärfung des antiklerikalen Klimas in Regierungskreisen, u.a. mit gesteuerter Pressehetze gegen die päpstliche Delegation. In Buenos Aires wurde Muzi schon nach wenigen Tagen bedeutet, die Stadt unverzüglich wieder zu verlassen. Auch durch Sallusti erfahren wir: Kutschen und Geleit brachen in gestrecktem Galopp auf, als gelte es, die Flucht zu ergreifen. In Santiago erging es den Delegierten nicht besser; nolentes volentes wurden sie sogar Zeugen (und Opfer) antiklerikaler Personalpolitik des wenige Wochen nach ihrer Ankunft an die Macht kommenden Generals Freire. Weitere Aspekte können im vorliegenden Zusammenhang im Hintergrund bleiben, darunter Muzis Versuche, von Santiago aus sein diplomatisches Glück im Norden des Halbkontinents zu suchen, Demarchen, die Freires Apparat prompt erkannte und abblockte. Wesentlicher ist es, angesichts der bisher skizzierten Sachlage die in Sallustis Storia für einen geistlichen Verfasser auffallend uneindeutige Schwerpunktsetzung, besser: das oft unverbundene Nebeneinander heterogener Themen und Anliegen zu erkennen, auch zu würdigen. Die Reise Muzis und der Seinen war keine Bildungsreise, keine Handelsunternehmung, auch keine wissenschaftliche Expedition. 10 So liegt dem Priester Sallusti verständlicherweise daran, dem frostigen Gebaren der Regierenden die ungebrochene Herzlichkeit des frommen Volkes entgegenzustellen. In Buenos Aires und Mendoza z.B. ließ es sich die Bevölkerung nicht nehmen, den Apostolischen Vikar mit anhaltendem Jubel zu begrüßen (Bd. 2, S. 32ff. und 189ff.). In manchen Städten erwirkte sie, daß Muzi Firmungen vollziehen konnte, erstmals nach jahrelanger politischer Unterbindung (Bd. 2, S. 103f., 110, 206 u.ö.). Sallustis Leser finden den Wortlaut von Leos XII. Breve, das anläßlich des prachtvollen, aber folgenlosen Begrüßungszeremoniells im "Palazzo Direttoriale" verlesen wurde (Bd. 3, S. 6ff.). Zwei komplette Kapitel widmet Sallusti dem desolaten Zustand der "case delle Missioni Apostoliche nelle Stato del Chile" (Bd. 3, Kap. 4; Bd. 4, Kap. 2), unter Beigabe eines "Mapa del país qaue habitan los Araucanos en Chile, de Poncho chileno, Y De Las Misiones Apostólicas".11 Andererseits, weltlicherseits fällt der Reichtum an reisetechnischen und landeskundlichen Informationen auf: in Anhängen die Poststationen auf italienischem Gebiet (Hin- und Rückfahrt Bd. 4, S. 251 ff.) sowie der Parcours

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Reizvoll wäre u.a. ein Vergleich der Intentionen und Beobachtungen von Muzis Reisegruppe einerseits und Darwins andererseits. Charles Darwin bereiste den Cono Sur nur wenig später (1832). Faltkarte am Ende von Band 3. Auffallend die teils spanischen, teils italienischen Titel und Beitexte. - Am unteren Rand links: "José Sallustij del."; rechts: "Juan Olivieri Inc.".

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Buenos Aires-Santiago und Santiago-Valparaiso (Bd. 2, S. 257ff bzw. Bd. 4, S. 118), ein "Prospetto delle attuali popolazioni esistenti nel Nuovo Mondo" (Oberflächen und Bevölkerungszahl: Bd. 2, S. 42), ein Kapitel über "Santiago, e di tutto lo Stato Chileno secondo i suoi noti confini", ein weiteres, besonders ausführliches "Delle terre, e dei costumi degl'indiani infedeli" (Bd. 3, S. 31ff. und 96ff.). Daß Santiago, Schauplatz diplomatischer Mißerfolge und Demütigungen, auch Erfreulicheres bot, belegt eine Begrüßungsfeier durch die "Monache Recollette di S.Chiara": "Durante il sontuoso rinfresco, divertirono i due Prelati, e tutta la comitiva con dei scelti pezzi di musica al suono di più violini, e della chitarra francese modulata divinamente da una delle loro educande: e fu chiusa la gustosissima festa con un grazioso intreccio di musica Italiana, composta dal celebre Rossini sul seguente FARSETTO." (Bd. 3, S. 49) Es folgt der Farsetto-Text mit den Anfangsversen "Agitata mi par di sentire / Nel mio seno un gentil campanello". Rossini-Musik (aus welcher Oper?) in einem chilenischen Nonnenkloster... Sallustis Euphorie blieb auch in der Erinnerung lebendig: "Questa Farsetta [...] cantata all'Italiana colla grazia Spagnuola da giovani educande di una somma vivacità formò il più gustoso divertimento del mondo: nel quale, per esser cosa del tutto semplice, ed innocente, io risi, e godei moltissimo. Evviva l'America." (S. 50) 1 2 Dem heutigen Leser gefällt auch die lebendige, detailfreudige, stellenweise witzige Schilderung der Beschwerlichkeiten zunächst an Bord, sodann auf den Landstrecken, der Zustände in den Postgasthäusern, der Straßenverhältnisse, der Qualität der unterwegs gebotenen Speisen, bis hin zu Überfällen von Araucanos, von denen die Gruppe nur zufällig verschont blieb (Bd. 2, S. 106f.). Ein Gastzimmer mit eingestürztem Dach wird rückblickend mit einer "Specola Astronomica" verglichen, "[...] per notare dal letto tutto il giro de' Pianeti. I muri poi colle loro grandi aperture formavano una specie di vedette collaterali, particolarmente verso il Nord, dove una crepatura di più di un palmo scopriva anche la coda dell'Orsa Maggiore." (Bd. 2, S. 95) Den Verzehr gerösteter "locuste" durch Ansässige nimmt unser Chronist, so gut er kann, gelassen hin: 12

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Wer denkt hier nicht an die von Charles de Brosses erwähnten Konzerte der Waisenmädchen in Venedigs "Hôpital de la Piété", die Alejo Carpentier in Kapitel 5 seines Romans Concierto barroco (1974) nutzen wird? (Le Président de Brosses en Italie. Lettres familières écrites d'Italie en 1739 et 1740. Paris, Club des Libraires de France 1957, S. 96f.).

Päpstliche Prälaten in Chile, 1823-1825

"Gli Americani ce le suppongono molto buone, e deve essere realmente così; perchè anche S. Giovanni Battista se ne cibava nel deserto, e gli Ebrei facevano lo stesso. Io tentai di farne l'esperimento, ma in quella mattina non ressi alla prova per l'idea schifosa, che ne abbiamo. Peraltro ne feci raccogliere alcune vive, e nel pranzo mi riuscì di mangiarne la metà di una, la quale non era disgustosa." (Bd. 2, S. I ) 1 3 Drastisch hebt Sallusti das wilde Gebaren der Gauchos hervor, auch deren Fähigkeit, unglaubliche Fleischmengen zu verzehren. Aber just der GauchoAbschnitt kann auch als einer von mehreren Belegen für des Autors morbösen Hang zur Ausbreitung literarischer Bildung dienen. Denn mit der ausgelassenen Selbstzufriedenheit der Pampa-Hirten seiner Gegenwart assoziiert der Geistliche aus Mittelitalien das Menschenglück im mythischen Goldenen Zeitalter. Als Zeugen bemüht er jedoch nicht Vergil, mit dem er sonst nicht geizt, sondern Metastasio (Bd. 2, S. 75ff.). Mit der Ausschüttung von Zitaten - italienischen Originalen oder Übersetzungen im Haupttext, lateinischen in Fußnoten - hat es aber nicht sein Bewenden. Daß Sallusti die Reise nicht um ihrer selbst willen bzw. mit Betonung des kirchenpolitischen Auftrags beschreibt, sondern mit Blick auf illustre Leser, die seine Karriere fördern sollen, veranschaulicht im vierbändigen Werk eine Vielzahl moralistischer, politischer Exkurse. Hierzu einige beliebige - Beispiele: 1. Bei der Landung in Buenos Aires empört sich der Priester beim Anblick von Männlein und Weiblein, die am Ufer ungeniert nebeneinander und miteinander baden: Die Regierung solle dieses Treiben unterbinden, denn es untergrabe die Moral der Badenden und der Zuschauer, und eine bedrohte Moral bedrohe die Grundfeste des Staates. Schon Machiavelli habe dies betont, und für Regionen, die jüngst ihre Freiheit errungen hätten, gelte dies in besonderem Maße: "[La libertà] di fatti riconosce la sua fermezza nel sano costume, e nella buona disciplina: non potendo un popolo libero mantenersi unito, se non che colla bontà del costume. Giacché il libertinaggio, e la sfrenatezza dei cittadini non si combinano affatto col buon'ordine delle leggi, che devono riunirli: e l'amore delle passioni è totalmente diverso dall'amore, che

13

Ein wenig erinnert die Szene an Sancho Panzas mißtrauisches Herumkauen auf "bellotas", nachdem sein Herr im Angesicht der gastfreundlichen "hermanos cabreros" die Genügsamkeit im Goldenen Zeitalter gelobt hatte, mit Anleihen u.a. aus Lukrez (Don

Quijote, Teil I, Kap. 11).

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unisce tra loro gli uomini socievoli, e che mantiene la libertà degli Stati." (Bd. 2, S. 55)14 2. Beim Anblick einer unermeßlichen Viehherde in der Pampa plädiert Sallusti für Reduzierung des Tierbestands und Entwicklung der "agricultura", und zwar nicht nur aus ökonomischen Gründen, sondern abermals aus moralischen: Landwirtschaft fördere den Fleiß der Einwohner (Bd. 2, S. 80ff.). 3. Ungeschoren kommt auch die Aufklärung nicht weg. In Mendoza habe ein "Collegio di giovani" Schaden genommen durch "un Maestro espulso dalla Francia, il quale v'insegnava il Materialismo, e ne aveva di già guastata la maggior parte de' suoi disgraziatissimi allievi; le Autorità, che vi presiedono, tosto che se ne avvidero, esiliato il pessimo Maestro, chiusero il Collegio, e lo riaprirono dopo qualche tempo con altri regolamenti, e col chiamarvi nuovi studenti: riamettendovi alcuni soltanto degli antichi i più esemplari, e non attaccati dal contagioso morbo della diabolica dottrina del Materialismo, che come una vera peste ha in oggi depravato gli animi di tanti disgraziati giovani." (Bd. 2, S. 199) Folgerung: "Interessa tanto la sana morale, e la buona condotta della gioventù, quanto interessa la conservazione degli Stati, ai quali essi appartengono" (S. 200). 4. Vorsätzliche Digressionstaktik zur Einflechtung von Betrachtungen und Postulaten veranschaulicht besonders ein zunächst harmlos einsetzender Etappenbericht. Erschöpft und abgestumpft von monotoner Wegstrecke erreicht die Gruppe Esquina de la Guardia. Rosario (Bd. 2, S. 101: "un paese di circa sette mil'anime") wurde bereits passiert, danach Stationen wie La Candelaria, Orquetas, Desmochados. "Dal Rosario in poi" - heißt es - "la campagna poco diverte". Einzige Ablenkung: "Le sole Civette, quelle bestie deformi, le quali sono sempre in guardia della strada sulle loro cave, abbondano in tutto il cammino" (S.109). Die ubiquitas der im Werk auch anderenorts erwähnten Pampa-Eulchen samt ihrer ehrwürdigen Symbolträchtigkeit verleitet zu einem prognostischen, politisch eindeutigen Exkurs: "Sembra, che sia questo l'animale più comune, e più sparso tra i volatili in tutta l'America: e potrebbe essere un felice preludio, se gli Americani sapessero imitarne la vigilanza: e procurassero di acquistare nella Politica, e nella Diplomazia specialmente quella sapienza, di cui è simbolo la Civetta. Giacché questa soltanto manca all'America, per divenire uno Stato il più rispettabile del mondo: mentre la sua terra abbonda di ogni 14

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Den Exkurs beschließt ein passendes Zitat aus Metastasios Galatea

[1722].

Päpstliche Prälaten in Chile, 1823-1825

genere di prodotti minerali, vegetabili, ed animali, e la natura stessa li difende all'intorno coll'immenso pelago, che tiene addietro gli stranieri, e ne impedisce le invasioni. Perfezionandosi pertanto gl'ingegnosi Americani nella scienza difficilissima del Regime dei popoli, e della Politica Diplomatica per rapporto a tutte le Corti delle Nazioni civilizzate del Vecchio Mondo (col tenere presso di ognuna delle primarie i loro attenti, e perspicaci Ministri, e collo studio di una profonda critica sulla Storia, in cui sopra tutto basa il Macchiavelli il suo gran Sistema della Politica); i loro stati saranno felicissimi, acquisteranno ciò che ad essi manca, si avanzeranno rapidamente ad avere un posto ragguardevole in tutte le cose, e diverranno oggetto di ammirazione al mondo intero, senza che alcuno ardisca di andarli a turbare." (Bd. 2, S. 109f.) Sallusti war es, wie gesagt, nicht vergönnt, aus den vier Bänden seines Reiseberichts berufliches Kapital zu schlagen. Über Band 5 lesen wir am Ende von Band 4, er bilde "un corpo a parte, in cui non si fa altro, che rispondere a tutte le critiche contro la Missione di M. Muzi: con un'Appendice in fine sul carattere in generale degli Americani, le cui opinioni Politiche, e Morali si rilevano dai fatti sparsi in tutto il Tomo." (S. 254) Muzi freilich blieb weitere geistliche Fortüne ebenso versagt wie dem Verfasser der Storia. Der in Südamerika erfolglose Apostolische Vikar "fu deviato dalla carriera diplomatica e mandato vescovo a Città di Castello", 15 und zwar schon im Dezember 1825, wenige Monate nach der strapaziösen Rückkehr. Karriere machte längerfristig einzig Mastai. Und anläßlich seiner Wahl zum Pontifex erschien noch im Jahr 1846 in Broschürenformat ein anonymer, auf kaum fünfzig Seiten verknappter reader's digest von Sallustis vierbändigem Opus. 16 Ausgerechnet. Mastais einstiger Begleiter, der wieder in San Vito di Palestrina amtierende Pfarrer, mag das Bändchen mit Wehmut registriert haben. Der Schwerpunkt der Synthese liegt auf äußeren - wagemutigen, abenteuerlichen - Begebenheiten der See- und Landetappen. Aber sie mündet aus gegebenem Anlaß in die teleologische Schlußfolgerung, Gott habe Mastai vor den Gefahren jener Weltreise bewahrt, weil er ihn ausersehen hatte für die cathedra Petri (S. 53).

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Falconi (Anm. 2), S. 775, Anm. 10. II Viaggio al Chili del canonico Don Giovanni Maria Mastai, oggi sommo Pontefice Pio Papa IX. Vellern, nella Tipografia di Domenico Ercole 1846 [Expl. u.a. in UB Bologna]. Ein Zweitdruck erschien 1847 in Bologna.

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Auf d e m Frontispiz des ( 1 8 5 8 in Paris gebauten) L u x u s w a g g o n s v o n Pius' privatem E i s e n b a h n z u g prangt der Leitspruch (frei nach Mk 1 6 , 1 5 ) : ITE PER T O T U M U N I V E R S U M . 1 7

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Heute im Museo di Roma (seit Jahr & Tag "chiuso per ristauri", Pius-Fans dringen aber durch). Abb. u.a. in: Roma dei fotografi al tempo di Pio IX. 1846-1878. Fotografie da collezioni danesi e romane. Roma, Multigrafica Editrice 1978, Nr.163. - Es mutet tragisch an, daß in den 70er Jahren, als die päpstlichen Waggons längst auf Abstellgleisen der nationalen Hauptstadt rosteten, und Pius IX. in seinem 0,7 qkmStaat sich als "Gefangener in Rom" empfand, der einstige Weltreisende gichtgepeinigt an eine von der Gioventù Cattolica Italiana geschenkte "sedia a rotelle" gefesselt (Abb. in Roma nera, Kap. I, vgl. Anm. 5) auf den Tod wartete.

GÜNTER MERTINS

Deutsche Reiseberichte des 19. Jahrhunderts über Kolumbien als geographische Quellen I

In der deutschsprachigen Geographie ist die Auswertung von Reiseberichten über Lateinamerika als Quellen für vor allem kulturlandschaftshistorisch ausgerichtete Untersuchungen bislang vernachlässigt worden. Wohl gibt es in den von Hanno Beck herausgegebenen Quellen und Forschungen zur Geschichte der Geographie und der Reisen die Bände mit den Ergebnissen der epochemachenden großen Lateinamerika-Reise Alexander von Humboldts, der ersten eigentlichen Forschungsreise überhaupt, oder die Reiseskizzen Friedrich Ratzels aus Mexiko; aber es handelt sich lediglich um Neudrucke der Erstausgaben, manchmal geringfügig erweitert, die jeweils mit einer Einführung versehen sind. 1 Eine Ausnahme bildet die disziplinhistorische Interpretation der populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen Alfred Hettners durch Ute Wardenga 2 , vor allem mit Bezug auf das sogenannte länderkundliche Schema, das methodisch über Jahrzehnte hinweg die gesamten länderkundlichen Darstellungen und die Schulgeographie prägte.

II Die von mir durchgesehenen und analysierten deutschsprachigen Reiseberichte des 19. Jahrhunderts über Kolumbien habe ich nach ihrer Zielausrich-

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Hanno Beck (Hg.): Alexander von Humboldt, Mexico-Atlas (Atlas géographique et physique de la Nouvelle Espagne). Stuttgart 1959. (Neudruck der Ausgabe Paris 1812). Ders.: Alexander von Humboldt. - Relation historique du voyage aux Régions Equinoxiales du Nouveau Continent. 3 Bde., Stuttgart 1965-1969 (Neudruck der 1814-1825 in Paris erschienenen Texte). Vgl. auch ders. (Hg.): Alexander von Humboldt - Studienausgabe. 7 Bde., Darmstadt 1989-1993. Ders.: Friedrich Ratzel: Aus Mexico. Reiseskizzen aus den Jahren 1874-1875. Stuttgart 1973 (Neudruck der Ausgabe Breslau 1878). Ute Wardenga: Die beiden Südamerikareisen Alfred Hettners 1882-1884 und 18881890 im Spiegel seiner Reiseaufzeichnungen und Briefe in die Heimat. In: Ernst Plewe / Ute Wardenga: Der junge Alfred Hettner. Studien zur Entwicklung der wissenschaftlichen Persönlichkeit als Geograph, Länderkundler und Forschungsreisender. Stuttgart 1985 (= Erdkundliches Wissen, Heft 74), S. 27-80.

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Günter Mertins tung und ihrem Inhalt in drei Gruppen eingeteilt und damit für diesen Beitrag gewissermaßen eine "Typologie der Reiseliteratur" aufgestellt. a) Die Gruppe der "reinen" Reiseberichte und Zustandsschilderungen wird durch die Bücher von Ernst Röthlisberger (1898), Max von Thielmann (1879) und Georg Wegener (1903) repräsentiert. 3 Typisch für sie ist vielleicht die Bemerkung von Röthlisberger: "Für mich wurde Columbien [...] eine reiche Quelle von Beobachtungen und Erfahrungen, die mit mir zu teilen ich die geneigten Leser einlade", denen damit eine "kleine Gabe" geboten werden sollte, "zwar keine gelehrte Abhandlung, aber ein Buch mitten heraus aus dem vollen Leben".4 b) Eine zweite Gruppe bilden die Berichte oder Mitteilungen über Reisen, die einen bestimmten, nach damaligem Verständnis sicherlich wissenschaftlichen Zweck verfolgten oder sogar von einer wissenschaftlichen Fragestellung ausgingen. Zu nennen sind hier: - Reisen zum Sammeln von tropischen Pflanzen und Tieren sowie ethnographischen Gegenständen (Therese von Bayern 1908).5 Die Verfasserin gab als ersten Zweck ihrer Reise an, "meine Kenntnisse der neotropischen Flora und Fauna zu vervollständigen, mit weiteren, namentlich mit kultivierten Indianerstämmen bekannt zu werden und die physiognomischen Landschaften des südamerikanischen Westens und Südens in Augenschein zu nehmen". Der zweite, zwar "unpersönliche", aber "maßgebendere Zweck meiner Reise war, möglichst viel botanische, zoologische, anthropologische und ethnographische Gegenstände für die bayerischen Staatsmuseen zu sammeln".6 - Informationen über geologisch, besonders montangeologisch wichtige, aber auch über physiogeographische (geomorphologische, klimatologische) Fakten bzw. Prozesse, "eingepackt" in Landschaftsschilderungen, in die Beschreibung der Schiffahrtsverhältnisse (auf dem Rio Magdalena), der Landwege, der Lebensweisen der dortigen Bewohner etc. (Friedrich von Schenck 1880, 1883).7

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Ernst Röthlisberger: El Dorado. Reise- und Kulturbilder aus dem südamerikanischen Columbien. Bern 1898. Max von Thielmann: Vier Wege durch Amerika. Leipzig 1879. Georg Wegener: Reisen im Westindischen Mittelmeer. Fahrten und Studien in den Antillen, Colombia, Panama und Costarica im Jahre 1903. Berlin 1903. Ebda., S. IX. Therese von Bayern: Reisestudien aus dem westlichen Südamerika. 2 Bde., Berlin 1908. Ebda., S. VII. Friedrich von Schenck: Reisen in Antioquia. In: Petermanns Geographische Mitteilungen, Bd. 26, 1880, S. 41-47. Ders.: Reisen in Antioquia im Jahre 1880. In: Petermanns Geographische Mitteilungen, Bd. 29, 1883, S. 81-93 und S. 213-220. Ders.:

Deutsche Reiseberichte des 19. Jahrhunderts Über Kolumbien - Reiseberichte von Naturforschem, z.B. von Otto Bürger 8 , die eine klare wissenschaftliche Fragestellung verfolgten und die die entsprechenden Ergebnisse dann einzugliedern versuchten in eine "Schilderung von Land und Leuten der wunderbaren Gegenden", um "ein Bild von ihrer Tierund Pflanzenwelt zu entrollen, mit besonderer Berücksichtigung der biologisch interessanten Erscheinungen".^ Allen genannten Berichtsarten gemeinsam ist das Ziel, neue, noch nicht bekannte bzw. weitestgehend unbekannte Spezies oder Vorkommen/Formationen aufzufinden und zu beschreiben, gewissermaßen zu "entdecken" und damit zu wissenschaftlichen Grundkenntnissen über Kolumbien beizutragen, also "weiße Flecken" in der jeweiligen Disziplin zu tilgen - ein seinerzeit allgemein anzutreffendes Vorhaben bei derartigen Reisen, nicht nur in Südamerika. c) In der dritten Gruppe sind die populärwissenschaftlichen Bücher und Aufsätze der drei Geographen Alfred Hettner, Friedrich Regel und Wilhelm Sievers zusammengefaßt 10 sowie die Reisebriefe der beiden, ihrerzeit international führenden Geologen für den nördlichen Andenraum, Wilhelm Reiss und Alphons Stübel. 11 Die Autoren betonen deutlich, daß ein derartiges Buch "nur unterhalten" soll und "keinerlei Anspruch auf wissenschaftliche Bedeutung" erhebt, "wohl aber darauf, den Thatsachen durchaus entsprechende Schilderungen zu bieten" 12 oder daß "die rein wissenschaftlichen Beobachtungen in dieses Buch nicht aufgenommen worden" sind, es vielmehr "die Erlebnisse und

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Reisen in Antioquia und im Cauca im Jahre 1880 und 1881. In: Petermanns Geographische Mitteilungen, Bd. 29, 1883, S. 441-453. Otto Bürger: Reisen eines Naturforschers im Tropischen Amerika (Fahrten in Columbien und Venezuela). 1. Band: Zum westindischen Mittelmeer, auf dem Magdalena, Streifzüge in den Kordilleren. Leipzig 1899. Ebda., S. IVf. Alfred Hettner: Reisen in Kolumbien. In: Mitteilungen des Vereins für Erdkunde zu Leipzig 1884 (1885), S. 34-39. Ders.: Reiseskizzen aus Columbien. In: Globus, Bd. 48, 1885, S. 86-89, 103-106, 119-121, 135-136, 150-152, 166-170. Ders.: Die Bogotaner. In: Globus, Bd. 50, 1886, S. 69-71, 86-89, 105-107, 118-120. Ders.: Reisen in den columbianischen Anden. Leipzig 1888 (Neudruck: Stuttgart 1969, mit einer Einführung durch Ernst Plewe). Fritz Regel: Reisebriefe aus Columbia. In: Naturwissenschaftliche Wochenschrift, Bd. 12, 1897, S. 1-4, 37-39, 231-234, 265269, 289-291, 301-304, 349-352. Ders.: Kolumbien. Berlin 1899. Wilhelm Sievers: Reise in der Sierra Nevada de Santa Marta. Leipzig 1887. Wilhelm Reiss: Reisebriefe aus Südamerika 1868-1876. Aus dem Nachlasse herausgegeben und bearbeitet von Karl Heinrich Dietzel. München-Leipzig 1921 (= Wiss. Veröffentlichungen der Gesellschaft für Erdkunde zu Leipzig, Bd. 9). Ingrid Hönsch: Die Forschungsreisen Alphons Stübels in Südamerika (1868-1877) im Spiegel seiner Reisebriefe. In: Andreas Brockmann / Michaela Stüttgen (Hgg.): Spurensuche. Zwei Erdwissenschaftler im Südamerika des 19. Jahrhunderts. Unna 1994, S. 21-40.

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Eindrücke meiner Reisen in Columbien für einen weiteren Leserkreis darstellen" und dabei "wie ich hoffe, Land und Leute zur besseren Anschauung" bringen soll. 13 Hinter diesen Bemerkungen standen sicherlich auch Befürchtungen, derartige Veröffentlichungen könnten, wenn nicht ihre Zielrichtung deutlich angegeben ist, der wissenschaftlichen Karriere des jeweiligen Autors schaden. Entscheidender ist jedoch die seinerzeit weit verbreitete, z.B. auch von Alfred Hettner vertretene Auffassung, daß der Wissenschaftler seine Ergebnisse "nicht nur in dem abgeschlossenen Zirkel wissenschaftlicher Zeitschriften einem speziell interessierten Leserkreis vorstellen darf, sondern er hat damit an die Öffentlichkeit zu treten, eine solche Sprache und Publikationsform zu wählen, daß er ein breites Publikum erreicht". 14 Damit wurde bewußt das damalige Bildungsbürgertum angesprochen, und mehrere Auflagen derartiger Reiseberichte 15 oder Länderkunden16 belegen eindeutig die Nachfrage einerseits nach sachbezogenen, allgemeinverständlich dargestellten wissenschaftlichen Informationen sowie andererseits nach damit verbundenen Schilderungen über (fast) abenteuerliche Reisen mit Entdeckungsfunktion.

III Fast alle genannten Kolumbien-Reisenden kamen über Barranquilla ins Land, nur wenige über Santa Marta. Da die Mündung des Rio Magdalena und damit die Einfahrt nach Barranquilla von der Mitte des 19. Jahrhunderts an immer mehr versandete, übernahmen ab 1871 Puerto Salgar mit der Reede von Sabanilla, ab 1888 Puerto Colombia die Seehafenfunktionen für Barranquilla. Die Schilderungen des Ausbootens auf der Reede von Sabanilla oder des Anlegens an der Landungsbrücke von Puerto Colombia 12 13 14 15 16

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Sievers (Anm. 10), Vorwort. Hettner (Anm. 10), Vorwort. Wardenga (Anm. 2), S. 73. Vgl. die drei Auflagen (1900, 1919, 1923) der "Reisen eines Naturforschers im Tropischen Amerika" von Otto Bürger (Anm. 8). Hier ist vor allem die Allgemeine Länderkunde "Süd- und Mittelamerika" von Wilhelm Sievers zu nennen, die nach der ersten Auflage 1891 bereits 1914 in der dritten Auflage erschien. "Sievers Länderkunde" (nicht nur über Lateinamerika), so die damals gebräuchliche Bezeichnung, "hatte rasch einen großen Leserkreis gefunden und machte ihn zu einem der seinerzeit bekanntesten deutschen Geographen"; vgl. Günter Mertins: Wilhelm Sievers (1860-1921)/Geograph. In: Hans Georg Gundel u.a. (Hg.): Gießener Gelehrte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (= Lebensbilder aus Hessen, Bd. 2, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 35,2). Marburg 1982, S. 877.

Deutsche Reiseberichte des 19. Jahrhunderts über Kolumbien

sowie der anschließenden, 22 bzw. 30 km langen Eisenbahnfahrten nach Barranquilla füllen dann auch stets die ersten Seiten der entsprechenden Berichte. Obligatorisch war ebenfalls die - wegen der wechselnden Wasserstände nicht ungefährliche, 7/9-16 Tage dauernde - weite Reise von Barranquilla aus den Rio Magdalena aufwärts bis La Dorada (783 km), bei hohen Wasserständen auch bis Honda (1.030 km). 17 "Standesgemäß" logierte man auf dem Oberdeck der meistens auf dieser Strecke verkehrenden Heckraddampfer. Von Honda aus wurde dann in einem 3-4tägigen Ritt die Hauptstadt Bogotá erreicht. Beschreibungen der für die Reisenden fremden Hora (Palmen) und Fauna (Krokodile!) und Berichte über das Laden von Feuerholz, die Insektenqualen, den Zustand der angelaufenen Flußhafenplätze, über die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen etc., seltener auch über geologisch-geomorphologische Erscheinungen nehmen einen mehr oder weniger breiten Raum ein. Allen Berichten ist zu entnehmen, daß seinerzeit - von mehr punktuellen Eingriffen abgesehen - die naturräumlichen Verhältnisse auf großen Flächen noch weitgehend ungestört waren: eine zu erwartende Aussage. Überraschend waren für mich die Angaben über den damals noch hohen Anteil der indianischen Bevölkerung in den feuchtheißen Tiefländern der Departamentos Magdalena, Bolívar und Santander. 18

IV Der erste Typ von Reiseberichten kann für die Geographie kaum als wissenschaftlich relevante Quelle bezeichnet werden. Die Grundlage für die Bücher bildeten oft Beiträge für Zeitungen, gewissermaßen Reportagen über weitestgehend unbekannte Länder, die in lockerer Folge veröffentlicht wurden, z.B. im Fall von Georg Wegener 1904 in der "Täglichen Rundschau" in Berlin. Es handelt sich generell um die Schilderung von Lebensverhältnissen und -gewohnheiten in den durchreisten Landschaften, um die Schilderung eigener Erlebnisse, wobei natürlich die oft emotional geprägten, individuel17 18

Es sei denn, die Reiseroute zweigte vorher ab, z.B. bei Puerto Berrio nach Antioquia (Friedrich von Schenck) oder bei Puerto Paredes nach Santander (Max von Thielmann). Vgl. Therese von Bayern 1908, S. 57ff., 74ff. Max von Thielmann 1879, S. 275f. sprach sogar von "wilden Indianerstämmen, noch jetzt ebenso unbekannt wie zur Zeit der spanischen Eroberung", zwischen dem Rio Magdalena und der Ostkordillere, ein "Hindernis", das "den Verkehr hiermit hemmte". Es muß also in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu einer relativ starken und raschen Dezimierung oder auch Vermischung der dortigen Indianer gekommen sein, ein Prozeß, der weitestgehend unbekannt ist.

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len Einstellungen bzw. Sichtweisen und Interpretationsarten überwogen und die Aussagen "okzidental" einfärbten. Wohl sind sicherlich, je nach Ausbildung/Ausrichtung der Verfasser, einige Buchkapitel als Quellen für andere Disziplinen brauchbar, wie z.B. die vegetationskundlichen Beobachtungen Max von Thielmanns oder aber die kulturgeschichtlich sehr wertvollen, exakten Angaben von Emst Röthlisberger über das Bildungswesen (Schulen, Universitäten, Bibliotheken, wissenschaftliche Gesellschaften), die Tagespresse in Bogotá sowie über die kolumbianische Literatur etc., zumal der Verfasser von 1882 bis 1885 an der National-Universität von Bogotá den Lehrstuhl für Philosophie und Geschichte einnahm, also fachlich kompetent war. 1 9 Gleiches gilt für das historischsoziologisch höchst interessante Kapitel "Leben und Treiben in Bogotá" und die dort zu findende Schilderung der damaligen sozialen Schichtung. 2 0 Ein gutes Beispiel dafür liefert die treffende Beobachtung der Gamines, (zumindest verbal) die Vorgänger der heutigen obdachlosen, stark kriminalisierten Straßenkinder. 21

V Der zweite Typ der Reiseberichte ist auf eine weitaus höhere Stufe zu stellen als der erste: Entweder handelt es sich um Reisebeschreibungen, die nach oder parallel zu den wissenschaftlichen Veröffentlichungen entstanden und deren Ergebnisse z.T. stark einbezogen, also deutlich auf einen anspruchsvolleren, entsprechend vorgebildeten Leserkreis ausgerichtet waren 22 oder die sogar direkt in Fachzeitschriften publiziert wurden. 2 3 Dabei muß angemerkt werden, daß gerade in "Petermanns Geographischen Mitteilungen", einer der international führenden geographischen Zeitschriften, bis Anfang

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Röthlisberger 1898, S. 115ff. Ebda., S. 85ff. "Besonders sympatisch ist als einer der Typen von der niedersten Klasse der Gamin oder Chino von Bogotá aufgewachsen [...], der macht sich zu schaffen als Schuhputzer, oder dann als Zeitungsverkäufer, als Ausläufer und schließlich als Soldat. Äußerst aufgeweckt und unbekümmert, von großer Schlauheit und Intelligenz, gäbe er ein prächtiges pädagogisches Material ab, wenn man sich seiner Schulung annähme [...] In den Revolutionen wird der Gamin meist zu den Soldaten gesteckt. Ich sah ein ganzes Bataillon dieser armen, elf- bis siebzehnjährigen Burschen und Bürschchen unter ihrer schweren Bewaffung dahinmarschieren". Röthlisberger 1898, S. 97f. Gamines gab es also schon vor ca. 100 Jahren, wenn auch unteren anderen, weitaus positiveren Parametern als heute. Vgl. Therese von Bayern 1908 und Otto Bürger 1899. Z.B. Friedrich von Schenck 1880, 1883.

Deutsche Reiseberichte des 19. Jahrhunderts über Kolumbien

dieses Jahrhunderts Berichte über Forschungsreisen in "weiße" oder "fast weiße" Gebiete der Erdkarte einen wichtigen Platz einnahmen. Die Vorbereitungen zu derartigen Reisen waren sehr intensiv; Therese von Bayern gab zu jener ins westliche Südamerika, die ihre dritte "Expedition" darstellte, "ein volles Jahr für Vorstudien und Vorbereitungen" an. Die Durchführung erfolgte dann hochadelig-standesgemäß, nämlich "in Begleitung einer Dame, eines Kavaliers und eines Dieners". 24 Daß sie ihre "Reisestudien" erst zehn Jahre später veröffentlichte, begründete sie folgendermaßen: "Das Bearbeiten der gesammelten Objekte und die Veröffentlichung über dieselben in Fachschriften haben mehr als fünf Jahre beansprucht". 2 5 Ihr Reisebericht ist eine Mischung von landeskundlichen, z.T. sehr exakten Beobachtungen und teilweise ausgesprochen detaillierten botanischen, pflanzengeographischen, zoologischen und ethnographischen Angaben, wobei die Diskussion in wissenschaftlicher Form mit Literaturzitaten abwägend erfolgte: eine für Reiseberichte sicherlich eher ungewöhnliche Form. Von daher hat diese "Reisestudie" auch heute noch einen gewissen Quellenwert, vor allem durch die Einbindung der wissenschaftlichen Fundangaben in standortbezogene Beschreibungen und ergänzende landschaftskundliche Beobachtungen. Ähnlich ist der Reisebericht von Otto Bürger zu bewerten. Wie bereits angeführt, hatte seine Reise ein klares Ziel: "Es war zu untersuchen, ob sich den bereits von Humboldt unterschiedenen Floren entsprechend Faunen in verschiedenen Höhen abgrenzen ließen, und wieweit diese etwa die Tierwelt der geographischen Zonen widerspiegelten". 26 Diese wissenschaftliche Fragestellung, zu der noch das Sammeln vor allem von Invertebraten kam, die nach der Rückkehr zur Bestimmung an Fachleute und danach zur Aufbewahrung an Museen übergeben wurden, erkannten sowohl die Königliche Preußische Akademie der Wissenschaften in Berlin als auch die Königliche Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen an und gewährten entsprechende Reisebeihilfen. So sind denn auch die Tabellen der vertikalen Verbreitung der Invertebraten und Vertebraten sowie "wichtiger Kultur- und Charakterpflanzen" in den kolumbianischen Anden die herausragenden Ergebnisse dieser Reise und stellen noch heute nutzbare tier- und pflanzengeographische Quellen dar. Darüber hinaus zeichnet sich der Reisebericht Bürgers durch reichhaltige, gut formulierte landeskundliche und historische Kapitel aus 2 7 - ein Faktor, 24 25 26 27

Therese von Bayern 1908, S. VIII bzw. IX. Ebda., S. IX. Bürger 1899, S. III. Vgl. z.B. das Kapitel "Vom Staat der Chibchas", in: Bürger (Anm. 8), S. 146-154.

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der wohl auch für die drei Auflagen seines Buches von entscheidender Bedeutung war. Außer dem Magdalenatal, der Sabana von Bogotá und der Sierra Nevada de Santa Marta ist nur die Region des damaligen Departamento Antioquia, mit Medellin als Hauptstadt, öfter von deutschen Reisenden aufgesucht worden und dementsprechend stärker in den Reiseberichten vertreten. 2 8 Die intensiven "Reisen in Antioquia" Friedrich von Schencks hatten neben den Erhebungen zum Edelmetall-, hauptsächlich zum Goldbergbau, auch den Zweck exakter Höhenbestimmungen. 2 9 Diese sind in seine Karten und Profile über Antioquia übernommen worden, ebenfalls Angaben über neue Verkehrsverbindungen und Siedlungen sowie über Edelmetall- und Steinkohlevorkommen. Damit wurden bestehende Karten, die als Ausgangsbasis dienten, erheblich verbessert. Aus den Berichten sind die Bemerkungen über die Antioqueños erwähnenswert, die bestimmte Merkmale und Verhaltensweisen dieser Bevölkerung sicherlich etwas übertrieben - charakterisieren, die sich aber bis heute in der allgemeinen wie wissenschaftlichen Literatur finden 3 0 und die das Bild des Antioqueño nicht nur in der kolumbianischen Öffentlichkeit prägen, wie z.B. folgende: "Unbeirrt von fremden Einflüssen, gleichgültig gegen das, was außerhalb seiner Berge vorgeht, lebt der Antioqueño nach der Väter Weise, conservativ in Gesinnung, Sitten und Trachten [...] Das Unionsgefühl ist gering; das Vaterland ist Antioquia, nicht Colombia [...] Trotz dieser Abneigung gegen das Fremde hat sich der Antioqueño doch vielfach entschließen müssen, jenseits der Grenzen seines Geburtslandes eine neue Heimat zu suchen, weil bei der großen Fruchtbarkeit der Ehen (15-20 Kinder sind eben keine Seltenheit), die Bevölkerung einzelner Gegenden sich allzu sehr vermehrte". 3 1 Über "Land und Leute" ergänzte Friedrich von Schenck an anderer Stelle: "Die Antioqueños sind ein kräftiges, arbeitssames und ernstes Volk; ihnen gehört die Zukunft Kolumbiens [...] Sparsamkeit ist der hervorragende Charakterzug der Antioqueños, der ihnen von den Nach28 29 30

31

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Vgl. z.B. von Schenck 1880, 1883 (Anm. 7). von Schenck 1883 (Anm. 7), S. 451 ff. Vgl. die Diskussion über den "kooperativen, risiko- und innovationsfreudigen Unternehmergeist" der Antioqueños oder über den "spezifischen Unternehmergeist der Initiatoren der Medelliner Industrie" bei Wolfgang Brücher: Probleme der Industrialisierung in Kolumbien unter besonderer Berücksichtigung von Bogotá und Medellin. Tübingen 1975 (= Tübinger Geographische Studien, Heft 61), S. 26ff. Vgl. von Schenck 1880, S. 42f. Dabei wird hier die von Antioquia ausgehende Binnenkolonisation angesprochen, die seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zeitlich parallel zu dem sich ausdehnenden Kaffeeanbau - vor allem nach Süden, ins spätere Departamento Caldas, und nach Südosten (Departamento Tolima) verlief; vgl. James J. Parsons: Antioqueño Colonization in Western Colombia. Berkeley - Los Angeles 1949 (= Ibero-Americana 32), S. 136ff.

Deutsche Reiseberichte des 19. Jahrhunderts über Kolumbien

barn oft genug als Geiz ausgelegt wird und - wie auch die unleugbare kommerzielle Begabung - einer angeblich im 17. Jahrhundert erfolgten starken Einwanderung jüdischer und maurischer Elemente aus Spanien zugeschrieben wurde". 3 2 In diese Charakterisierung mischen sich aber auch rassistische Züge: "Gegen die Neger- und Mulatten-Bevölkerung der Nachbargebiete hegt er entschiedene Antipathie (was Niemand Wunder nimmt, der z.B. die verthierte Negerrace des Cauca kennt); ihnen gegenüber fühlt er sich als Weißer". 3 3 Auch an anderen Textstellen wird deutlich, daß der Verfasser - vielleicht unreflektiert - diese Antipathie teilte und sie möglicherweise deswegen bei den Antioquenos besonders betonte.

VI Bei der dritten Gruppe handelt es sich um international anerkannte Fachwissenschaftler mit eindeutigen Forschungsschwerpunkten in Südamerika: Die Geographen Alfred Hettner und Wilhelm Sievers sowie die Geologen Wilhelm Reiss und Alphons Stübel. 3 4 Es geht hier aber nicht um die wissenschaftlichen Publikationen dieser Forscher, sondern um deren Reisewerke bzw. -briefe, die "für einen weiteren Leserkreis" (Alfred Hettner) geschrieben wurden und die "nur unterhalten" sollten (Wilhelm Sievers). Da die wissenschaftlichen Veröffentlichungen dominant naturwissenschaftlich ausgerichtet sind (Geologie, Mineralogie, Geomorphologie, Klimatologie etc.) und wirtschafts- wie sozialwissenschaftliche Mitteilungen darin nur eine marginale Stellung einnehmen, ist die Frage interessant, ob sich in den allgemeinverständlichen (?) Reiseberichten wissenschaftlich relevante Angaben z.B. über wirtschaftliche, siedlungsstrukturelle sowie sozial- und gesellschaftsbezogene Aspekte finden. Alle diese Reiseberichte enthalten vor allem (meist langatmige) Landschaftsschilderungen, verbunden mit Routenbeschreibungen, Angaben zu Flora und Fauna, über Verkehrswege, -mittel und Reisestrapazen, zum Wetter, manchmal auch gelungene Beschreibungen von Siedlungen und deren Geschichte. Nur selten finden sich Hinweise auf wirtschaftliche (hauptsächlich bergbauliche) und landwirtschaftliche oder Handelsaktivitäten. Differenzierende Beobachtungen über die Bewohner der entsprechenden Regionen fehlen meistens. Ausnahmen bilden hier die subtilen Äußerungen von Alfred Hettner 32 33 34

von Schenck 1883, S. 86f. von Schenck 1880, S. 42. Nur der Geograph Fritz Regel fällt hier etwas aus dem Rahmen: Er bereiste ca. ein Jahr lang Kolumbien und hat dann - außer seinen "Reisebriefen" - über dieses Land nur eine stark kompilatorische Länderkunde verfaßt; vgl. Regel 1899.

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über die Bereiche Wohnen, Arbeiten, Versorgung, Bildung etc., gerade für Bogotá, 3 5 wobei gewissermaßen schon "Indikatoren der Unterentwicklung" aufgezeigt werden.36 in diesem Zusammenhang sind auch die deutlichen Hinweise auf die damalige sozialräumliche Gliederung von Bogotá (ohne diesen Terminus freilich zu gebrauchen) 3 7 bzw. die differenzierten Beobachtungen zur Entstehung kolonialer und postkolonialer Siedlungen bzw. Siedlungstypen und deren Ausstattungs"katalog"38 z u nennen. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls Wilhelm Sievers zu nennen, der ein noch später oft zitiertes Kapitel seines Reisebuches ausschließlich den Lebensformen der Arhuaco-Indianer widmete 3 9 sowie darüber hinaus eine beachtenswerte völkerkundliche Abhandlung über die unter diesem Sammelbegriff zusammengefaßten Indianerstämme der Sierra Nevada de Santa Marta schrieb. 40 Als (zusätzliche) geographische Quellen bieten also auch diese Reisebeschreibungen und Reisebriefe kaum Neues, sieht man von der historiographischen, gewissermaßen standortbezogenen Dokumentation ab. Jedoch liefern sie für die seinerzeit herrschenden Denkweisen und Denkrichtungen der überwiegend dem gehobenen Bürgertum angehörenden Wissenschaftler sowie für die dahinterstehenden Wahrnehmungsparameter höchst interessante Hinweise. Alle Forscher legten bei der noch wenig differenzierten Betrachtung und Beschreibung, vor allem bei der Beurteilung und Wertung der einheimischen Bevölkerung und deren Wirtschafts- sowie Verhaltensweisen eine europäische, z.T. typisch deutsch-protestantische "Leistungsmaxime" bzw. einen sich an westeuropäischen Normen orientierenden, als allgemeingültig angenommenen "Tugendkatalog" von Fleiß, Zuverlässigkeit, Pflichterfüllung, Ehrlichkeit, Sauberkeit, Zukunftsorientierung etc. als Maßstab an. 41 Sie wiesen dabei'die zu jener Zeit wohl übliche "herablassende Haltung des Westeuropäers gegenüber der einheimischen Bevölkerung" auf, und Unrechtsbewußtsein in ihrem Handeln, vor allem gegenüber der indianischen und der Mischlingsbevölkerung, war ihnen fremd. 4 2

35 36 37 38 39 40 41 42

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Hettner 1888, S. 66, 75ff„ l l l f f . , 173ff„ 210f„ 221. Vgl. Wardenga (Anm. 2), S. 77. Vgl. Hettner 1886, S. 70; aber auch bereits 1885, S. 38. Vgl. Hettner 1888, S. 214ff. Vgl. Sievers 1887, S. 80-100. Vgl. Mertins (Anm. 16), S. 883 sowie Wilhelm Sievers: Die Arhuaco-Indianer in der Sierra Nevada de Santa Marta. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, Bd. 21, 1896, S. 387-400. Vgl. Gabriele M.G. Koch-Weithofer: Peru im Spiegel deutschsprachiger Reiseberichte (1790-1860). Mannheim 1993 (Diss. Tübingen, Geschichtswissenschaftliche Fakultät, 1992), S. 193ff. Vgl. Wardenga (Anm. 2), S. 77.

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Allerdings sind besonders zwischen Alfred Hettner und Wilhelm Sievers auf der einen sowie Wilhelm Reiss und Alphons Stübel auf der anderen Seite deutliche Unterschiede zu konstatieren. Die beiden Geographen gingen wahrscheinlich aufgrund der seinerzeit gerade einsetzenden anthropogeographischen "Betrachtung" (obwohl spezielle Methoden der Materialerhebung und Beobachtung noch nicht existierten) - auch auf wirtschafts- und sozialgeographische Strukturen und Prozesse ein, wobei sie auch historische Komponenten miteinbezogen; sie waren dabei weniger "vorurteilsbeladen" in der Beschreibung sowie abgewogener in ihren Urteilen. Hingegen fanden Wilhelm Reiss und Alphons Stübel "zu den Bewohnern der von ihnen besuchten Länder keinen Zugang", es konnte kein "annähernd vorurteilsfreies Bild dieser Menschen entstehen", was sich u.a. darin äußerte, daß die "Hautfarbe zu einem gängigen Abgrenzungsmerkmal" und Bewertungskriterium wurde. 4 3 Die Abneigung gegenüber den Bewohnern der Länder, in denen sie fast ein Jahrzehnt ununterbrochen lebten und forschten, verwundert sehr. Es offenbart sich dabei eine große innere Diskrepanz zwischen dem Forscher, der sich um des wissenschaftlich Neuen wegen jahrelang in den ungeliebten Ländern aufhält, und dem Menschen, der subjektiv deren Einwohner ablehnt, ja sogar verachtet: "Die Einwohner von Santa Marta sind Mischlinge von Schwarzen, Weißen und Indianern, mit einem Worte Lumpengesindel und von unglaublicher Faulheit. Jeden Dienst muß man sehr teuer bezahlen, weil es die Leute eine zu große Überwindung kostet, irgend etwas zu tun". 4 4 Konsequent bezeichnet Achim Schräder, der über die Mentalität Stübels "erschrickt", diesen "als eine xenophobe, vorurteilsvolle Persönlichkeit" 45 , bescheinigt ihm aber dann eine im Laufe der Zeit festzustellende Lernfähigkeit und eine daraus resultierende differenziertere Betrachtungsweise, d.h. sogar den Indianern "begegnete er gelegentlich mit Sympathie". 46

VII Die analysierten Reiseberichte sind als geographische Quellen oder als Quellen für geographische Forschungen heute von zu vernachlässigender 43 44

45 46

Vgl. Andreas Brockmann: Die lateinamerikanischen Gesellschaften aus der Sicht von Stübel und Reiss. In: Brockmann / Stüttgen (Anm. 11), S. 160-173. Brief Stübels v o m 12.02.1868; zitiert von A c h i m Schräder: Alphons Stübel - der "Fachmensch". Bemerkungen zu seinen Eindrücken von den Menschen in Südamerika. In: Brockmann / Stüttgen (Anm. 11), S. 175-181. Vgl. ebda., S. 175. Vgl. ebda., S. 176.

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Bedeutung, abgesehen von den kulturlandschaftshistorisch ausgerichteten. Sie sind aber wichtig als "Quellen der Erforschung" sowie als Quellen für die Entwicklung von Wahrnehmung und Interpretation wirtschaftlicher und sozialer Verhaltensweisen, Strukturen und Prozesse in jenen Ländern Lateinamerikas. Die in den zitierten Reiseberichten geäußerten Meinungen, Ansichten und Urteile spiegeln sich - abgeschwächt und/oder modifiziert - bis heute in den Einstellungen vieler Europäer gegenüber der lateinamerikanischen Bevölkerung bzw. gegenüber einzelnen Bevölkerungsschichten oder -gruppen w i d e r . 4 7 Sind sie nicht Quelle und Anlaß zugleich, auch über unsere Einstellung zu reflektieren?

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"Wir sitzen alle in einem Boot, aus dem wir noch nicht ausgestiegen sind": Bemerkung von Hanns-Albert Steger während dieses Symposiums bei einer Diskussion am 24.11.1995 über die "westliche" Einstellung, gerade auch europäischer Lateinamerikaforscher, gegenüber den einheimischen Verhaltensweisen, Wirtschafts- und Sozialstrukturen in Lateinamerika.

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Lebensstile und "Distinktionen" in der städtischen Gesellschaft Bogotas des 19. Jahrhunderts. Zum Nutzen von Reiseberichten für die Sozialgeschichte Lateinamerikas für Adriana Seit einiger Zeit beschränken sich die Gesellschaftswissenschaften bei der Einteilung der sozialen Welt nicht mehr auf die traditionelle Klassenanalyse und die Schichtungsforschung, sondern haben ihr Augenmerk auf die Wahrnehmungsformen und Erfahrungsschemata gesellschaftlicher Gruppen gerichtet. Vor allem die Rezeption von Werken des französischen Soziologen Pierre Bourdieu verstärkte die Einsicht, daß historisch-qualitative Analysen von Alltagsverhalten, Handlungsmustern, Denkformen und Verständigungsweisen die Information über soziale Akteure verbessern können. Insbesondere die kulturellen Abgrenzungsformen, von Bourdieu "Distinktionen" genannt, gerieten in den Brennpunkt des Interesses. 1 In der europäischen Sozialgeschichte bildete sich unter dem Begriff "Kulturgeschichte" sogar ein eigener Zweig heraus, der die Operationalisierung der Erforschung von Lebensweisen zum Ziel hat. 2 Kennzeichnend für kulturgeschichtliche Untersuchungen ist, daß sie meist die explizite Bezugnahme auf eine Großtheorie vermeiden und die Ergebnisse sich auf einen eng beschränkten Raum beziehen. Von besonderer Fruchtbarkeit ist der Kulturansatz als Erklärungsmodell des langsamen Wandels der vom ständischen

1

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Unter "Distinktion" (Abhebung) wird nach Bourdieu die Wahl eines stilistisch als 'überlegen' geltenden alltäglichen Lebensstils verstanden, kraft dessen sich soziale Gruppen von anderen abzugrenzen versuchen. Für Bourdieu sind "Distinktionen" der Schlüssel für das Verständnis der in der Alltagskultur bestehenden Klassen. Vgl. v. a. Pierre Bourdieu: La distinction. Critique sociale du jugement. Paris 1979. [Dt.: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1982], Die Sekundärliteratur über Bourdieu ist umfangreich. Zur Begrifflichkeit vgl. neuerdings Ingo Mörth/Gerhard Fröhlich (Hgg.): Das symbolische Kapital der Lebensstile. Zur Kultursoziologie der Moderne nach Pierre Bourdieu. Frankfurt am Main 1994, v. a. S. 7-54. Zum Stand der Debatte vgl. Richard van Dülmen: Historische Kulturforschung zur Frühen Neuzeit. Entwicklung - Probleme - Aufgaben. In: Geschichte und Gesellschaft Bd. 21, 1995, S. 403-429.

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Prinzip g e f o r m t e n G e s e l l s c h a f t s h i e r a r c h i e zur m o d e r n e n schaft. 3

Klassengesell-

D i e Nützlichkeit des kulturgeschichtlichen A n s a t z e s soll in den f o l g e n d e n Ausführungen über Lebensstile und "Distinktionen" innerhalb der G e s e l l schaft B o g o t a s des 19. Jahrhunderts a u f g e z e i g t werden. Forschungen über die Einwohner der Städte in Lateinamerika beschränkten sich bislang weitgehend auf die Urbanen Zentren in der Kolonialzeit s o w i e auf die Großstadt des 20. Jahrhunderts. 4 Trotz des gesellschaftlichen, ö k o n o m i s c h e n und politisch-administrativen Wandels, der mit der Erlangung der U n a b h ä n g i g k e i t einherging, ist die Stadtgesellschaft in den Republiken des 19. Jahrhunderts bisher kaum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen g e w o r d e n . Immerhin hat Tulio Halperin-Donghi in e i n e m Handbuchartikel über die soziale Entwicklung des postkolonialen Iberoamerika auf den Funktionswandel und die gesellschaftlichen Umgruppierungen in den größeren B e v ö l k e r u n g s agglomerationen h i n g e w i e s e n . 5 Auch Herbert W i l h e l m y und A x e l Borsdorf

3 4

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Lothar Gall: Vom Stand zur Klasse? Zu Entstehung und Struktur der modernen Gesellschaft. In: Historische Zeitschrift Bd. 261, 1995, S. 1-21. Alan Gilbert: The Latin American City. Latin American Bureau New York 1994. Vgl. die Sondernummer der Zeitschrift Problèmes d'Amérique latine, Bd. 14, Juli-September 1994; Jürgen Bähr/Günter Mertins: Die lateinamerikanische Gross-Stadt. Verstädterungsprozesse und Stadtstrukturen. [=Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Erträge der Forschung Bd. 288]. Darmstadt 1995. Halperin-Donghi zufolge kann man neben der Großstadt des 20. Jahrhunderts und der Kolonialstadt für das 19. Jahrhundert von einem eigenen Typus, der "bürokratischkommerziellen Stadt", sprechen. Kennzeichen für diesen Typus war der Aufstieg der Kreolen als Hauptnutznießer der politischen Emanzipation, indem sie die peninsulares aus den höchsten Ämtern verdrängten und - zusammen mit ausländischen Kaufleuten in den Schlüsselpositionen der Wirtschaft ersetzten. Allerdings büßten lateinamerikanische Städte wegen des abnehmenden Zentralismus und des Wegfalls der ideologischen Ausrichtung auf die Kolonialherren an Bedeutung ein, ein Manko, das die neuen Eliten durch zunehmenden Hang zum Intellektualismus kompensierten. Das lokale Handwerk hatte sich nach der Erlangung der Unabhängigkeit zunächst noch ausgedehnt; aber die städtische Produktion wurde zunehmend durch ausländische Importe bedroht. Dies führte zu sozialen Spannungen. Lateinamerikanische Städte verzeichneten während der ersten Jahrhunderthälfte ein langsames Bevölkerungswachstum oder sogar Stagnation. Erst im letzten Jahrhundertdrittel war eine deutliche Zunahme erkennbar, nachdem das exportorientierte Entwicklungsmodell Erfolg zeitigte. In den Städten wuchsen nun auch die Gruppen der Beamten und freien Berufe sowie der Arbeiter. Die Modernisierung drückte sich unter anderem in der Einführung der Gasbeleuchtung und im Bau von Theatern aus. Vgl. Tulio Halperin Donghi: Economy and Society. In: Leslie Bethell (Hg.): Spanish America after Independence c. 1820- c. 1870. Cambridge 1987, S. 28-31, 45f. Vgl. ähnlich, allerdings ohne Bezugnahme auf die Städte, Reinhard Liehr: Sozialstruktur und soziale Mobilität der lateinamerikanischen Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. In: Knud Krakau (Hg.): Lateinamerika und Nordamerika. Gesellschaft, Politik und Wirtschaft im historischen Vergleich. Frankfurt am Main 1992, S. 97-106.

Lebensstile und "Distinktionen" in der städtischen Gesellschaft Bogotas haben Wandlungen in der Sozialstruktur beobachtet. 6 Die Erforschung der städtischen Gesellschaft der kolumbianischen Hauptstadt im 19. Jahrhundert hinsichtlich ihrer beruflichen Zusammensetzung, der Einkommens- und Statusverteilung sowie der Lebensstile ist aber noch eines der großen Forschungsdesiderate in der Geschichte des Andenlandes.7

Zu den Quellen Als Quellen dieses Aufsatzes dienen Berichte von insgesamt 17 Reisenden, die die kolumbianische Hauptstadt besucht haben. 8 Ihre Veröffentlichungen werden zwar von fast allen Historikern, die über das 19. Jahrhundert arbeiten, verwendet; der methodologische und inhaltliche Nutzen für die Analyse der städtischen Gesellschaft ist aber bislang nicht erkannt worden. Häufungen von Aufenthalten in Bogotá haben in den 1820er (7) und den 1880er Jahren (4) stattgefunden. Je zwei Reiseschriftsteller besuchten die kolumbianische Kapitale in den 1870er Jahren und in der Dekade vor der Jahrhundertwende, je einer berichtete über seine Erlebnisse in der Andenstadt in den 1830er, 1850er und 1860er Jahren. Es existiert kein einheitliches Profil des Reiseschriftstellers: In der ersten Jahrhunderthälfte veröffentlichten vor allem junge englischsprachige Bildungsbürger und Offiziere, deren Interesse schwerpunktartig auf der politisch-militärischen Entwicklung des Landes lag, ihre Eindrücke. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominierten unter den Reisenden deutschsprachige Gelehrte. Sie waren meist von einer Wissenschaftsdisziplin - etwa Geographie oder Zoologie - geprägt; in ihre Beschreibungen ließen sie aber immer auch allgemeine Überlegungen über die politische und ökonomische Entwicklung des Landes sowie über die Sitten der Bevölkerung einfließen. Mit Ausnahme des Werkes des Deutschen Max von Thielmann betrug im letzten Jahrhundertdrittel die zeitliche Distanz zwischen Aufenthalt und Veröffentlichung meist mehrere Jahre, was es 6 7

8

Herbert Wilhelmy/Axel Borsdorf: Die Städte Südamerikas, Teil 1. Wesen und Wandel. Berlin/Stuttgart 1984, S. 132. Bislang sind lediglich Teilbereiche wie das politische Handwerkertum, das Unternehmertum in den 1820er und 1830er Jahren sowie die Anfange des Bankenwesens untersucht worden. David Sowell: The Early Colombian Labor Movement. Artisans and Politics in Bogotá, 1832-1919. Philadelphia 1992; Frank Safford: Innocents in Enterprise: Organization, Capital, and Technical Culture in the Faetones of Bogotá 18141850. Mimeo 1985; Zoilo Pallares: Apreciaciones preliminares sobre el origen de los empresarios bogotanos. In: Memorias IV Congreso de Investigadores en Administración. Barranquilla, 1984, S. 231-250; Benjamin Villegas Jiménez (Hg.): Historia de Bogotá, Bd. 3, Siglo XIX. Bogotá 1988; Carlos Eslava u. a. (Hgg.): Banco de Bogotá, 114 años en la Historia de Colombia. Bogotá 1984. Vgl. den Anhang.

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ermöglichte, Aussagen zu überprüfen und ein abgewogeneres Urteil zu fällen. Bei den früheren Schriften über Kolumbien stand dagegen weniger der Wunsch nach Vollständigkeit als das Erlebnis und das Bemühen um Authentizität im Vordergrund. Generell waren Ausländer, die längere Zeit in Bogotá verbrachten, eher als die Durchreisenden bereit, sich auf das 'Fremde' einzulassen, es als etwas 'Anderes' wahrzunehmen und als solches zu bewerten. Sie wußten den diskreten Charme der Hochlandstadt zu schätzen und fällten - wie etwa der in den 1870er und 1880er Jahren dort weilende US-amerikanische Diplomat William L. Scruggs - ein differenziertes Urteil: "Our first impressions of Bogotá are those of surprise and admiration, surprise at finding so large a city perched up in the heart of the Andes fully 'six hundred miles from anywhere', and admiration of the surpassing natural beauty of the localty. Our next impressions are that it is one of the most quiet, conservative, slothful, and restful places on the face of the earth, conditions which one appreciates all the more after hard experiences of the long journey from the coast. After a day or two we discover that the climate is simply perfect, and that the matchless scenery never palls upon us. In the course of a few days more, we discover that many highly educated and accomplished people live here; that there is an inner circle or society equal to the best in Washington; and that the inhabitants are generally kind, considerate, and hospitable. And so is it that strangers generally like the place, leave it with more or less reluctance, and rarely fail to cherish the most pleasant memories of it." 9 Andere, die nur kurz in der kolumbianischen Hauptstadt verweilten, fühlten sich demgegenüber in ihren Vorurteilen über die angeblich faule, unpünktliche und unsaubere lateinamerikanische Mentalität vollauf bestätigt. Typischer Vertreter einer solchen durch protestantisch-puritanische Wertvorstellungen verursachten "kognitiven Dissonanz" 10 ist Freiherr Max von Thielmann, der bei seiner Visite in Kolumbien so ziemlich alles (außer seine eigene Wahrnehmung) in Frage stellte. Der weitgereiste Diplomat und Doktor der Jurisprudenz war mit Pauschalurteilen wie dem folgenden rasch zur Hand: "Die Stadt selbst mit ihren vierzig bis funfzigtausend Einwohnern ist 9 10

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Scruggs 1900, S. 63f. "Kognitive Dissonanz" liegt nach der Theorie L. Festingers dann vor, wenn zwei oder mehrere einander widersprechende Erfahrungen oder Meinungen in einer dissonanten Beziehung stehen. Länger andauernde Dissonanz wird von Individuen als unangenehm empfunden und erzeugt Druck, den spannungsvollen Zustand zu verringern oder zu beseitigen, sei es durch Änderung des eigenen Verhaltens, durch Beeinflussung der Umwelt oder durch Zufügen eines dritten kognitiven Elementes. L. Festinger: A Theory of Cognitive Dissonance. New York 1957.

Lebensstile und "Distinktionen" in der städtischen Gesellschaft Bogotás eine Ansammlung elender Gassen um einen etwas besseren Kern." 11 Die in seinen Ausführungen über die kolumbianische Hauptstadt zum Ausdruck körnende ethnozentrische Blickverengung dürfte damit zusammenhängen, daß es ihm - vermutlich wegen seines ungehobelten Charakters - trotz seiner Empfehlungsschreiben des Fürsten von Bismarck nicht gelang, von den obersten Schichten der Stadt empfangen zu werden. Zwei Ausländer, der deutsche Geograph Alfred Hettner und der Schweizer Theologe und Pädagoge Ernst Röthlisberger, die sich beide über einen längeren Zeitraum in der kolumbianischen Hauptstadt aufhielten, regte die Kombination von wirtschaftlicher Rückständigkeit und kultureller Dynamik, die sich so stark von den industrialisierten Gesellschaften ihrer Heimatländer unterschied, zu ausführlichen Betrachtungen an. Hettner, der 1882 in der kolumbianischen Hauptstadt weilte, stand in Diensten des englischen Gesandten Harriss-Gastrell. Röthlisberger verbrachte die Jahre 1883 bis 1886 als Dozent an der Universidad Nacional. Mit ethnographischem Blick beschrieben beide unterschiedliche Lebensstile in der städtischen Gesellschaft Bogotás hinsichtlich Architektur, Möbel, Kleidung, ästhetischer und intellektueller Äußerungen, Arbeits- und Geschäftsmoral, politischer Meinungen, Musik und Tanz, sozialer Anlässe, Tischsitten, Eß- und Trinkgewohnheiten, Konversationsformen, physischer Konstitution und Hautfarbe, Körpersprache sowie des Rollenverhaltens von Männern und Frauen. Beide Autoren versuchten, der sozialen Wirklichkeit mit dem Mittel der Stilisierung und der exemplarischen Darstellung gerecht zu werden. Allerdings hatten sie vor allem Einblick in die Oberschichten, d. h. in die Kreise, in denen sie verkehrten, während die übrigen Bevölkerungsgruppen weniger gut ausgeleuchtet wurden. Zweifellos sind die Aussagen Röthlisbergers wegen seines längeren Aufenthaltes, seiner Integration in den illustren Kreis liberaler Gelehrtenfamilien (etwa der Ancizar und Samper) und täglicher Diskussionen mit Studenten an der Universidad Nacional verläßlicher als diejenigen Hettners, der sich vorwiegend im ausländischen Diplomaten- und Gelehrtenmilieu bewegte und sich in seinen Darstellungen folglich auf gefilterte und bewertete Informationen stützen mußte. Trotz der Bemühungen beider Autoren um Objektivität und der deutlichen Kennzeichnung des Fiktionalen ist ihr Urteil stark von der bürgerlich-industriellen Ausgangskultur geprägt, in der Werte wie Ordnungssinn, Pünktlichkeit, Sauberkeit, Arbeitsdisziplin, protestantische Askese und Sparsamkeit hochgehalten wurden. Ihre Kritik erfolgte vor dem Hintergrund der zeitgenössischen liberalen Ideologie.

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Thielmann 1879, S. 346.

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Während Hettner seinen ausgearbeiteten Text 1888 unter dem Titel "Reisen in den columbianischen Anden" veröffentlichte, brauchte Röthlisberger, der nach der Rückkehr in die Schweiz eine Stelle als Sekretär des Internationalen Amtes für Geistiges Eigentum antrat, zehn Jahre für die Publikation seines Werkes "El Dorado". Die ursprüngliche Vorlage des Schweizers ist unbekannt; doch geht aus dem Vorwort hervor, daß er die zeitliche und räumliche Distanz zum Thema nutzte, um Äußerungen, die ihm im nachhinein als allzu kritisch erschienen, abzumildern und um vom Genre verlangte Gestaltungselemente anzufügen. Ohne dies einzugestehen, orientierte sich Röthlisberger in seinen Ausführungen über Bogotá konzeptuell und thematisch an Hettner. Auch wenn ihm eine Verbesserung der Vorlage seines Vorgängers gelang, war der Spezialist für geistiges Eigentum streckenweise nicht weit von einem Plagiat entfernt. Zu seiner Entlastung kann allerdings angeführt werden, daß die explizite Bezugnahme auf das Schrifttum anderer Reisender auch bei anderen Autoren selten war, obwohl sich insbesondere Europäer vor ihrer Abreise nach Südamerika anhand der gedruckten Schilderungen häufig gründlich über das, was sie erwartete, informierten. Die nachfolgenden Ausführungen orientieren sich konzeptionell an den Publikationen von Hettner und Röthlisberger. Zur Überprüfung von Sachverhalten, zur Differenzierung von Zusammenhängen und zur Illustration von Aussagen wird aber immer auch auf Beobachtungen anderer Reiseschriftsteller zurückgegriffen.

Lage, räumliche Gliederung, Klima, Wirtschaftsweise und Bevölkerungsentwicklung Bogotás im 19. Jahrhundert Sowohl Hettner als auch Röthlisberger begannen - mit heutigen Reiseführern durchaus vergleichbar - ihre Ausführungen mit einer Schilderung von Klima, Lage, räumlicher Gliederung und wirtschaftlicher Produktion der Stadt. Ihrem Publikum beschrieben sie zunächst die geographischen Gegebenheiten: 12 Bogotá liegt auf einer Hochebene auf 2.610 bis 2.700 Meter ü. M. Im Westen und Nordwesten fällt die Sabana de Bogotá zur feuchtheißen Tiefebene des Rio Magdalena ab. Im Nordosten wird das Territorium Cundinamarcas durch grabenartige Hindernisse von Boyacá getrennt. Von Süden nach Norden begrenzen zwei schroff ansteigende Gebirge (Montserrate und 12

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Hettner 1888, S. 56-66; Röthlisberger 1989, S. 59-68. Vgl. auch Bürger 1900, S. 140-144. Zum Stadtaufbau in der ersten Jahrhunderthälfte vgl. Bache 1827, S. 226232; Cochrane 1825, Bd. 2, S. 1-47.

Lebensstile und "Distinktionen" in der städtischen Gesellschaft Bogotas

Guadalupe), die Teil der Cordillera Oriental sind, die Stadt. An den Berghängen entspringen die beiden die Stadt durchfließenden Bäche San Francisco und Agustín. Steile Pfade winden sich zu den Bergkapellen auf dem Montserrate und der Guadalupe hinauf, wohin die Bevölkerung einmal jährlich einen Bittgang unternimmt. Entlang der Berghänge breitet sich nach kolonialspanischem Vorbild ein schachbrettartiges Netz von ungefähr 30 (in den 1820er Jahren 20) Häuserblöcken (cuadras) aus. Hinsichtlich der räumlichen Anordnung änderte sich im republikanischen Bogotá im Vergleich zur Kolonialzeit nur wenig. Die parallel zur Cordillera Oriental verlaufenden Straßen heißen Calles, die von der Ebene gegen das Gebirge hin ansteigenden Gassen Carreras.

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Abbildung 1: Stadtplan von Bogotá in den 1820er Jahren

Quelle: Bache 1827, S. 222.

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In der Straßenmitte befinden sich, mit Ausnahme der gepflasterten Calle Real und der Calle Floriän, übelriechende Rinnen, in denen sich Unrat ansammelt, der bei den ebenso häufigen wie heftigen Wolkenbrüchen (aguaceros) in die Bäche geschwemmt wird. An den Ufern der beiden Gewässer kreisen unaufhörlich Aasgeier (gallinazos oder chulos), die nach Abfallresten Ausschau halten. Die engen Gassen sind beidseitig mit Gehsteigen versehen, die aber so schmal sind, daß man entgegenkommenden Personen auf die Straße ausweichen muß. Dem Fremden bietet sich daher in der Innenstadt ein sonderbares Schauspiel von (meist gut gekleideten) Menschen, die entlang den Bürgersteigen ständig auf- und absteigen, während auf der für den Waren- und Personentransport gedachten Straßenfläche kaum Betrieb herrscht. Wer nicht zu Fuß unterwegs ist, kann sich auf sogenannten Omnibussen, d. h. Ochsengespannen mit Platz für mindestens zehn Personen, oder in wenig eleganten Kutschen und Sänften transportieren lassen. Im nördlichen Teil der Stadt liegen die eleganteren Läden und die Residenzen der Oberschicht. Im Westen befinden sich die Zwischenhändler sowie Hotels und Büros. Das Zentrum ist die in Plaza de Bolivar umbenannte, ehemalige Plaza Mayor, auf der des öfteren Militärparaden abgenommen werden. In der Platzmitte erhebt sich, umrahmt von Blumenanlagen, ein von Tenerani in Europa modelliertes Standbild des Libertador, der in seiner Rolle als Mentor für die junge Republik seinen Blick auf das Regierungsgebäude (Capitolio) gerichtet hat. Obwohl mit dem Bau des monumental konzipierten Gebäudes nach Plänen des Dänen Thomas Reed bereits 1849 begonnen worden war, wurde es bis zur Jahrhundertwende nicht vollendet. Für eine schnellere Gangart fehlte es an Geld und an Konsens innerhalb der kolumbianischen Eliten über die Dringlichkeit des Vorhabens. Das brökkelnde Fragment im klassizistischen Stil betrachteten die Reiseschriftsteller durchwegs als symptomatisch für die innere Verfaßtheit des Landes. In Richtung der Cordillera Oriental befand sich die aus der Kolonialzeit stammende Kathedrale, die im Gegensatz zum Regierungssitz gut erhalten war. Daran grenzte ein ebenfalls in der Kolonialzeit errichtetes Gebäude mit Laubengängen, die Schutz vor Sonne und Regen boten. Das Erdgeschoß des Portales genannten Hauses diente nun als Magazinraum, die oberen Stockwerke wurden teils von der Stadtverwaltung, teils von einem Hotel genutzt.

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Abbildung 2: Plaza de Bolívar mit Statue und Kathedrale (1883)

Quelle: Röthlisberger 1898.

Außer dem Bolivar-Platz wurden von den Reiseschriftstellern noch die Plazas Santander (mit einer Statue Francisco de Paula Santanders, der Bolívar in der Regierung ablöste), Los Mártires (mit einem Denkmal und einem Blumenbecken aus spanischer Zeit) sowie Centenario und San Diego erwähnt. Auf diesen zum Teil umbenannten Plätzen fanden zuweilen öffentliche Veranstaltungen statt. Sie bevölkerten sich insbesondere an den Sonntagen nach dem Kirchgang. Ein weiteres herausragendes Bauwerk war das damals außerhalb der Stadt gelegene, der US-Gefängnisarchitektur nachempfundene Zuchthaus Panóptico, das von 1874 bis 1881 erbaut wurde. Zuvor waren die Häftlinge im Regierungsgebäude untergebracht. Ein markantes Gebäude war sodann das aus der Kolonialzeit stammende Observatorium, das allerdings kaum Instrumente für die Himmelsforschung enthielt und in sehr baufälligem Zustand war. Weitere Orientierungspunkte waren eine größere Anzahl Kirchen und Klöster, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts teilweise für profane Zwecke genutzt wurden. War somit hinsichtlich der öffentlichen Gebäude und der Raumgestaltung während des 19. Jahrhunderts eine Umnutzung und - ansatzweise - sogar Neuorientierung im Gange, so verharrten der Baustil und die räumliche 200

Lebensstile und "Distinktionen" in der städtischen Gesellschaft

Bogotás

Anordnung der Privathäuser in traditionellen Mustern. Die entlang der Calles und Carreras aneinandergereihten, weißgetünchten Häuser der Stadtbewohner wirkten, anders als die wenigen öffentlichen Bauten und Plätze, von außen schmucklos. Im Unterschied zu vielen europäischen Regionen war das Prinzip der Nachbarschaft in der Stadtarchitektur Bogotás nicht verankert; das wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Leben spielte sich weitgehend im Innenraum der Bürgerhäuser ab. Die Mauern der wegen der Erdbebengefahr höchstens zweistöckigen 'besseren' Häuser bestanden aus luftgetrockneten Ziegeln (adobes), diejenigen der Hütten an der Stadtperipherie aus gestampfter, getrockneter Erde. Für die abgeschrägten Dächer der Residenzen der Reichen wurden helmartige rote Ziegel verwendet, während die Wohnstätten der ärmeren Bevölkerungschichten in den Außenquartieren mit Stroh gedeckt waren. Obwohl die Sonne häufig schien, wurde die Temperatur, die meist zwischen 6°C und 22°C schwankte, von den Besuchern weder als heiß noch als sehr kalt empfunden. Nur wenige, darunter Thielmann, störten sich an den Wetterverhältnissen: "Der ewige Frühling ist nämlich ein Aprilmonat, und zwar ohne jede Heizvorrichtung in den Häusern." 1 3 Rund um Bogotá lagen verstreut Dörfer, deren Bewohner auf den fruchtbaren Böden Gemüse, Früchte und Getreide anbauten. Zweimal jährlich wurde geerntet. Aus Mangel an Transportmöglichkeiten konnte das reiche Potential auf der Hochebene allerdings nur für die Selbstversorgung und den Verbrauch in der Hauptstadt genutzt werden. Deshalb blieb ein Großteil der landwirtschaftlichen Fläche der extensiven Viehzucht vorbehalten. Die Zahl der Manufakturbetriebe blieb während des ganzen 19. Jahrhunderts gering. Man fabrizierte dort seit den 1870er Jahren Tücher und Stoffe minderer Qualität aus Schafswolle, Fayence-Artikel und Töpferwaren sowie Seife und Kerzen. Industrielle Unternehmungen gab es nur wenige. In den 1880er Jahren nahm der deutsche Kaufmann Leo Kopp erfolgreich die Bierproduktion auf. Seine Bemühungen um den Aufbau einer Glasindustrie scheiterten jedoch nach kurzer Zeit. Außerhalb Bogotás entstand im letzten Dezennium eine Schuhfabrik. Der Großteil der Fertigwaren wurde allerdings während des gesamten Jahrhunderts aus dem Ausland eingeführt, weshalb die Behauptung Röthlisbergers, wonach Bogotá "im Grunde genommen eine Konsumstadt, die nichts produziert und nur verzehrt", war, der Tendenz nach richtig ist. 1 4 Erwerbsmöglichkeiten bestanden im politisch-administrativen Bereich, im Finanzsektor, im Import-/Exportgeschäft, im Zwischenhandel, im Gewerbe, im Bildungswesen und im kulturellen Bereich.

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Thielmann 1879, S. 345; vgl. ähnlich Bürger 1900, S. 142. Röthlisberger 1898, S. 81.

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Thomas Fischer

Obwohl Bogotá im 19. Jahrhundert in der wirtschaftlichen Produktion wenig innovativ war, blieb die Stadt das mit Abstand größte Ballungszentrum des Landes. Der US-Amerikaner Richard Bache, der 1823, also wenige Jahre nach der Beendigung der Unabhängigkeitskriege, in Bogotá weilte, bezifferte die Zahl der Einwohner auf 22.000, der Schwede Carl August Gosselman, der Kolumbien in den Jahren 1825/26 besuchte, sogar auf 35.000. 1 5 Der Zensus von 1843 führte 40.086 an. 16 Folgt man den Angaben der Regierung von Cundinamarca, so dürfte sich rund 40 Jahre später die Bevölkerung mit über 90.000 Personen mehr als verdoppelt haben, eine Angabe, die von Röthlisberger übernommen, von Hettner, der die Einwohnerzahl auf 50.000 bis 60.000 Personen schätzte, aber angezweifelt wurde. 1 7 Selbst wenn die Einschränkungen von Hettner berechtigt sein sollten, läßt sich aufgrund der Reiseberichte schlußfolgern, daß Bogotá im Verlauf des 19. Jahrhunderts einen zwar nicht gravierenden, aber kontinuierlichen Bevölkerungszuwachs erlebte. Da das Wachstum zu keinem Zeitpunkt ein dramatisches Ausmaß annahm, wurde es von den Zeitgenossen kaum kommentiert. Hettner und Röthlisberger geben Hinweise, daß der Bevölkerungszuwachs sowohl auf natürliches Wachstum als auch auf Wanderungsgewinn zurückzuführen war. 1 8 Unter den Zuzüglern befanden sich Angehörige aller Schichten: Elitenangehörige verlegten ihren Wohnsitz aus anderen Landesteilen in die Hauptstadt, um für ihre Geschäfte von der institutionellen und 15 16 l7

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Bache 1827, S. 225; Gosselman 1827, S. 150; vgl. ähnlich wie Gosselman, Mollien 1992, S. 209, der von einer deutlichen Zunahme der Einwohnerzahl ausging. Hettner 1888, S. 70. Röthlisberger 1898, S. 59; Hettner 1888, S. 70. Hettner nimmt an, daß die Zählungen der 1880er Jahre beschönigt wurden, damit die kolumbianische Hauptstadt mehr Deputierte in den Kongreß entsenden und damit ihren politischen Einfluß vergrößern konnte. Er geht außerdem davon aus, daß einige frühere Erhebungen wegen des Mißtrauens der Bevölkerung unvollständig waren. (Hettner 1888, S. 70f.) Dies dürfte vor allem für den Zensus von 1851 gelten, bei dem sich lediglich 29.649 Personen registrieren ließen. Auch die Angabe von 40.083 für das Jahr 1870 ist wenig wahrscheinlich. Weit eher dürfte die Angabe von 51.980 (1869) zutreffen. (Archives du Ministère des Affaires Etrangères, Paris, Correspondence Commerciale [AMAEP CC] Bogotá Bd. 8, Bericht Generalkonsul und Geschäftsträger Théodore-Charles Goepp an den Quai d'Orsay vom 6. 6. 1870, Bl. 54). Hettners Schätzung für die 1880er Jahre dürfte zu tief gegriffen sein. Nach der Volkszählung von 1884 lebten 95.813 Personen in der kolumbianischen Hauptstadt. (AMAEP CC Bogota Bd. 9, Übermittlung des in einer Frühjahrsausgabe der Zeitschrift El Comercio veröffentlichten Zensus von 1884, Brief von Generalkonsul und Geschäftsträger Louis-Charles Lanen, Bogotá, 21. 5. 1884, Bl. 241f.). Es ist anzunehmen, daß Ende des 19. Jahrhunderts mindestens 100.000 Menschen in der Kapitale lebten. Unter den Landesteilen, aus denen die größte Zuwanderung registriert wurde, dominierten 1884 die benachbarten Staaten Boyacá mit 2.879, Santander mit 1.618 und Tolima mit 1.634 Personen. (AMAEP CC Bogota Bd. 9, Übermittlung des in einer Frühjahrsausgabe der Zeitschrift El Comercio veröffentlichten Zensus von 1884, Brief

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finanziellen Infrastruktur zu profitieren, ihr Prestige zu erhöhen, am Freizeitangebot zu partizipieren sowie die Bildungschancen für die Kinder zu optimieren. Handwerker zogen in die Stadt, weil sie das größte Absatzzentrum im Lande war. Unterschichtangehörige reisten auf der Suche nach Arbeitsmöglichkeiten an, weil sie auf dem Land keine Erwerbsperspektiven sahen.

Hettners und Röthlisbergers Konzepte zur Analyse gesellschaftlicher Ungleichgewichte Bei der Ermittlung der gesellschaftlichen Ungleichheit, d. h. der ungleichen Verteilung von Herrschaft, Besitz und Prestige, bedienten sich sowohl Hettner als auch Röthlisberger eines hierarchischen Modells, mittels dessen sie die Bevölkerung in eine obere, mittlere und untere Gruppe dreiteilten. 19 Beide Autoren waren in der Wahl der Begriffe unsicher. Hettner unterschied "drei große Schichten", die er in den Teilkapiteln in "Die höheren Stände" und "Die mittleren und niederen Volksklassen" untergliederte. 20 Für Röthlisberger scheinen "Klasse" und "Stand" kongruente Begriffe gewesen zu sein. 21 Zur Beschreibung der Oberschichten ("der oberste Stand") und der mittleren Gruppe zog er den Stände-, zur Beschreibung der Unterschichten ("niederste Klasse") den Klassenbegriff vor. 22 Die erwähnte Tendenz bei Hettner und Röthlisberger, die Oberschichten als Stände und die Unterschichten als Klassen zu bezeichnen, entsprang einem Kulturverständnis, das das Monopol im kulturellen Bereich den Führungsschichten zuordnete; beeinflußt vom zeitgenössischen Zivilisationsdiskurs in Kolumbien 2 3 wurde das Vorhandensein einer "Volkskultur" nicht in Be-

19 20 2l 22 23

vern Generalkonsul und Geschäftsträger Louis-Charles Lanen, Bogotá, 2 1 . 5 . 1884, Bl. 241 f.). Zum folgenden vgl. v. a. Hettner 1888, S. 66-90 und Röthlisberger 1898, S. 85-116. Hettner 1888, S. 70. Einmal verwendete er auch den Ausdruck "sociale Kategorie". Röthlisberger 1898, S. 85. Röthlisberger 1898, S. 97. Daneben verwendet er für die Oberschichten auch den Kasten- und den Aristokratiebegriff. Ebda. Vgl. hierzu Frank Safford: Race, Integration and Progress: Elite Attitudes and the Indian in Colombia, 1750-1870. In: Hispanic American Historical Review Bd. 71, H. 1, 1991, S. 1-33; Jaime Urueña: La idea de heterogenidad racial en el pensamiento político colombiano: una mirada histórica. In: Análisis Político, Nr. 22, Mai-August 1994, S. 6-16; Thomas Fischer: Staat und ethnische Gemeinschaften Kolumbiens in historischer Perspektive. In: Stefan Karlen/Andreas Wimmer: "Integration und Transformation": Ethnische Gemeinschaften, Staat und Weltwirtschaft in Lateinamerika seit ca. 1850. Stuttgart 1996, S. 118 f.

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Thomas Fischer tracht gezogen. Eine Minderheit eignete sich das "symbolische Kapital" 24 an und verfügte über Macht und Werte. Die unterste Schicht wurde negativ durch das Nichtvorhandensein von Kultur definiert. Der Rückgriff auf den Ständebegriff zur Bezeichnung der Oberschichten hatte lediglich heuristischen Charakter; für die kolumbianischen Eliten des 19. Jahrhunderts traf zwar die für Ständegesellschaften charakteristische Verbindung von Herkunft und Beruf sowie von Geburt und ständischer Lebensführung weitgehend zu, doch hatten sich die formale Rechtsgleichheit und die Teilhabe an politischer Macht für alle Schichten schon relativ weit entwickelt. 25 Andererseits war Kolumbien keine arbeitsteilig strukturierte Klassengesellschaft, in der die jeweilige Position auf der individuellen Leistung gründete. 26 Wie Röthlisberger feststellte, bestimmte die ethnische Zugehörigkeit als essentielles Distinktionskriterium weitgehend die soziale Position innerhalb der Bevölkerung Bogotas. 27 Zur Verbesserung der Ausgangslage von Mestizen und Indianern forderten die von zeitgenössischen liberalen Vorstellungen geprägten Hettner und Röthlisberger die Einführung eines obligatorischen Schulsystems, das durch die Ausrichtung des Fächerkatalogs auf praktische Bildung und die Einhaltung strenger Disziplin auf das spätere Berufsleben vorbereiten sollte. Eliten sollten sich nicht durch ihre (weiße) Abstammung, sondern durch Leistung legitimieren. Röthlisberger formulierte außerdem die Vision einer Mestizengesellschaft, der er komparative Vorteile zuschrieb und in ihrer Alterität zu europäischen Gesellschaften vorsichtig positiv bewertete: 24

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Unter "symbolischem Kapital" versteht Bourdieu die Summe an kultureller Anerkennung, die ein einzelnes Individuum oder eine soziale Gruppe durch geschickte Anwendung des gesellschaftlichen Symbolgefüges für sich gewinnen kann. Es ist mehr oder weniger identisch mit gutem Ruf, Ehre oder Prestige. Unter "Stand" wird hier nach Jürgen Kocka eine "gesellschaftliche Großgruppe" verstanden, "deren Mitglieder sich durch spezifisches Recht und eigene Gerichte, ein bestimmtes Maß der Teilhabe an der politischen Herrschaft, durch eine besondere Form des Einkommens bzw. des Auskommens und vor allem durch besondere Lebensführung und Kultur von Mitgliedern anderer Stände oder von nichtständischen Schichten unterscheiden." Jürgen Kocka: Weder Stand noch Klasse. Unterschichten um 1800. Berlin 1991, S. 34. Klassen sind nach Kocka "gesellschaftliche Großgruppen, deren Angehörige die ökonomische Stellung und, daraus folgend, gleiche Interessen teilen, sich - der Tendenz nach - auf dieser Grundlage als zusammengehörig begreifen und entsprechend handeln, und zwar im Unterschied, in Spannung und im Konflikt mit den Angehörigen anderer Klassen, die eine andere ökonomische Stellung und, daraus folgend, andere, entgegengesetzte Interessen besitzen. [...] Hier und im Folgenden ist die Stellung auf dem Markt - besser auf den Märkten - gemeint, also 'Eigentum' im Sinne des Verfügungsrechtes über Produktionsmittel, Arbeitskraft oder spezifische Leistungskompetenz, die im ungleichen Tausch auf dem Markt angeboten und verwertet werden." Kocka 1991, S. 34. Röthlisberger 1898, S. 85.

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"Nach und nach wird sich durch die Macht der Verhältnisse ein gemeinsamer Columbianertypus herausbilden. Steuert der Weiße zu demselben in überwiegender Weise bei mit seiner Intelligenz, seinem energischen Willen, seinen vielen hereditären Veranlagungen, giebt der Neger dazu in einigen, aber nicht zu vielen Tropfen seine Anpassungskraft an die wilde tropische Natur, seine Fruchtbarkeit und seinen poetischen Sinn, kommt dazu noch die Statur und die Beharrlichkeit der Ureinwohner, so würde sich eine ziemlich homogene Rasse herauskristallisieren, welche, mit dem Lande verwachsen, demselben zum Wohle gereichen müßte." 28 Neben der Schichtenzugehörigkeit untergliederten Hettner und Röthlisberger die Bevölkerung Bogotás weiter nach Geschlecht, Alter sowie "Typen der Bevölkerung", worunter sie das äußere Erscheinungsbild von Menschen in den Gassen Bogotás verstanden.

Die Oberschichten Der "oberste Stand" umfaßte nach Röthlisberger die "Geldaristokratie" (Kaufleute, Finanziers und agiotistas), die "Beamtenaristokratie" ("politische Emporkömmlinge" und "untere Beamte"), die "Noblesse" der freien Berufe (Ärzte, Anwälte und Professoren), der Großgrundbesitzer, die es vorzogen, in der Stadt zu leben und ihre Renten zu verzehren, sowie die aus anderen Landesteilen zugezogenen Familien, die in der Metropole ihren Lebensabend verbrachten und den Kindern eine optimale Ausbildung zukommen lassen wollten. 2 9 Zur Oberschicht zählten fast ausschließlich Weiße, wobei die Einschätzung in der Öffentlichkeit ausschlaggebend war. Röthlisberger fügte erklärend bei: "Ich habe oft lächeln müssen, wenn mir in Bogotá eine Familie den weissen Stammbaum vordozierte, plötzlich aber irgend ein Familienmitglied eintrat, welches eine offenbar indianische Gesichtsfarbe oder Haarschat28 29

Ebda., S. 201. Nach dem Zensus von 1884 bezeichneten sich 5.567 Personen als Kaufleute und Händler, 1.962 als Großgrundbesitzer, 324 als Anwälte, 841 als Beamte, 31 als Schriftsteller, 185 als Ingenieure, 128 als Ärzte, 325 als Maultierbesitzer, 311 als Professoren, 153 als Eigentümer und 74 als Rentner. (AMAEP CC Bogota Bd. 9, Übermittlung des in einer Frühjahrsausgabe der Zeitschrift El Comercio veröffentlichten Zensus von 1884, Brief von Generalkonsul und Geschäftsträger Louis-Charles Lanen, Bogota, 21. 5. 1884, Bl. 241f.). Die Berufsstatistik ist bei den Oberschichten etwas ungenau, weil sie ihren Lebensunterhalt zumeist aus mehreren Quellen bestritten. Oberschichtangehörige waren fast immer gleichzeitig Kaufleute, Guts- und Bodenbesitzer, Teilhaber an Minen sowie Manufakturbetreiber. Unter die Rubriken Kauf-

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tierung aufwies und die Theorie des weißen Blutes Lügen strafte. Die weitaus größte Zahl der in den Hauptstraßen Bogotas verkehrenden Bewohner sind eben Mischlinge zwischen Indianern und Weißen; doch tritt der Mischungsgrad nicht so schroff hervor, denn die Hälfte der Gesichter, die man hier sieht, sind ziemlich oder ganz weiß, von unsereren europäischen, im Grunde ja auch recht nuancierten Gesichtern nicht verschieden.'^ Gemäß dem in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsenen Schweizer zeichnete sich der "oberste Stand" vor allem durch seinen Hang zu Luxus und Vergnügung sowie durch seine Lust an destruktiver Kritik in öffentlichen Angelegenheiten aus. Als luxuriös erschien dem Fremden zunächst der Wohnstil. 31 So nüchtern die Häuser von außen erscheinen mochten, so pompös war das Innere ausgestattet. Röthlisberger und Hettner entdeckten fast in jedem der von Oberschichtangehörigen bewohnten Gebäude einen blumengeschmückten, mit Statuen verzierten, gepflasterten Innenhof (patio), in dem ein Springbrunnen plätscherte. Der Innengarten erschloß die übrigen Räume des Hauses und führte (wenn vorhanden) zur Treppe ins Obergeschoß. Um den patio, der als architektonische Entsprechung zu den öffentlichen Plätzen gesehen werden konnte, waren die wichtigen Räumlichkeiten angelegt, darunter das Empfangszimmer (salön). Daran reihten sich die Wohnzimmer (salas), ein dekorierter Speisesaal (comedor), an den ein zweiter Hof anschloß, der die Tafelrunden mit zusätzlichem Licht versorgte. Dahinter folgten die Küchen und Abstellräume. Da sie lediglich der Frau des Hauses und den Bediensteten offenstanden, war ihr Komfort auf das nötigste beschränkt. 32 In den zweistöckigen Häusern, die bei den führenden Gruppen in den letzten beiden Dekaden des 19. Jahrhunderts zur Regel wurden, befanden sich diese Räumlichkeiten im ersten Stock, während die feuchteren Zimmer im Parterre als Laden und Warenlager (almacenes) gebraucht oder wenn kein Eigenbedarf bestand - an ärmere Familien vermietet wurden. Meist gab es noch einen dritten Hof mit Stallungen für die Pferde, die man für den Ausritt aufs Land benutzte, sowie Fruchtgärten und eine Spielwiese für die kleinen Kinder. Im Unterschied zum übrigen Kolumbien bestanden seit dem letzten Jahrhundertdrittel die Fenster der Wohnsitze der gente decente aus Glas und waren mit Gitterstäben geschmückt. Damit hielten die 'feinen' bogotanos nicht nur die nächtliche Feuchtigkeit fern, sondern hoben

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leute und Beamte wurden auch Kleingewerbetreibende, Ladenbesitzer, Commis und subalterne Beamte subsumiert, die dem Kleinbürgertum zuzuordnen sind. Röthlisberger 1898, S. 70. Vgl. Hettner 1888, S. 76-78; Holton 1967, S. 65f.; Scruggs 1900, S. 67f. Zum Wohnstil nach der Unabhängigkeit vgl. Mollien 1992, S. 211-213; Gosselman 1827, S. 161f.

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sich auch von den als rückständig empfundenen Eliten der übrigen Landesteile ab. Abbildung 3: Grundriß der Residenz einer vornehmen Familie in Bogotá

Second Story

Dining Room.

Sitting Room.

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ButUr-í ' Room.

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Paved Court

Second, Pared Court

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Quelle: Bache 1827, S. 109.

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Holton 1967, S. 68-70.

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In der Gestaltung des salón brachten die Eliten des republikanischen Bogotá vielleicht am deutlichsten zum Ausdruck, wie weit sie sich vom kolonialen Vorbild entfernt hatten und ihren Geschmack nun nach dem bürgerlichen Europa ausrichteten. Schwere Möbel aus Damast und hohe Spiegel zierten den Raum, der das Herz des gesellschaftlichen Lebens darstellte. Seit den 1860er Jahren wurde das Interieur fast immer durch einen in schweißtreibender Arbeit auf Menschenriicken von Honda nach Bogotá geschleppten Flügel, das Kernstück der Residenz der vornehmen Familien, ergänzt. 33 in den Abendstunden spendeten bis Mitte der 1870er Jahre teure französische Kerzen Licht. Danach setzten sich Gasleuchter als Lichtquelle durch. Teppiche dämpften die Schritte, und kostbare Vorhänge aus importierten Stoffen schwächten das helle Sonnenlicht. Röthlisbergers Urteil über die Salons der Vornehmen lautete: "Wir schlagen wohl kaum fehl, wenn wir sagen, daß die Mehrzahl dieser feinen Bogotaner Salons den unsrigen in der Schweiz an Reichtum überlegen sind. Nur eines beweist noch den Rückstand hinter unserer Kultur; es ist selten, in diesen Salons wirklich gute Gemälde oder Stahlstiche, die fast immer den Maßstab zur Beurteilung des geistigen Wertes der Besitzer geben, hängen zu sehen. Oft sind die Wände einfach nackt gelassen oder mit jenen chromolithographischen Bildern älterer Fabrikation, deren Kunstwert so gering ist, behangen; auch sind mehr Nipp- als Kunstsachen da". 34 Zu den Vergnügungen der gente decente gehörten die spontan oder auf Einladung stattfindenden Bälle, die jeweils im salón einer der respektablen Familien stattfanden. Bei diesen Gelegenheiten floß reichlich Champagner. Seit den 1840er Jahren genoß man auch französischen und spanischen Wein sowie Liqueurs und Schnäpse jeder Art. 3 5 Konversation, Musik, Tanz, Brandy und Cognac standen auch bei den häufigen Soireen (tertulias) im Vordergrund, bei denen die Söhne der vornehmen Familien die Herzen der Töchter gleichen Standes zu erobern versuchten. Die Bedeutung dieser privaten Anlässe war angesichts des Mangels an sonstigen Zerstreuungsmöglichkeiten wie etwa dem Wirtshaus oder Tanzbuden, dem Theater oder öffentlichen Konzerten eminent, ja das gesellschaftliche Leben im salón präsentierte sich als identitätsstiftendes Element par excellence für die Oberschichten Bogotás. Bei wichtigen Ereignissen, etwa bei Hochzeitsfeiern, bei Empfängen von Politikern auf Stimmenfang oder bei Einladungen von um die Gunst der Etablierten ringenden, neu hinzugezogenen Familien wurde 33 34 35

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Saffray 1872, S. 259. Röthlisberger 1898, 87f. Röthlisberger 1898, S. 80; Cochrane 1825, S. 117-121.

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der Prunk noch übertroffen, und die lokale Presse kommentierte diese Anlässe ausführlich. In den 1880er Jahren wurden einige Restaurants eröffnet, und für Nachtschwärmer gab es zahlreiche Bars sowie Spielhöllen. Glücksspielen - sei es dem Lotto oder dem "nationalen Geldspiel", dem tresillo - gaben sich fast alle kolumbianischen Männer mit Leidenschaft hin. 3 6 Eine besondere Belustigung, bei der auch von gutsituierten Familienvätern viel Geld verwettet wurde, bestand in den sonntagnachmittäglichen Hahnenkämpfen. Der schwedische Marineoffizier Carl August Gosselman studierte dieses Phänomen bei seinem Besuch im Jahr 1825/26 am gründlichsten: "Außer diesem haben die Bewohner Bogotás kein anderes Schauspiel, denn obgleich es dort ein sehr großes und wohlgebautes Theater gibt, so wird doch höchst selten darauf gespielt". 37 Den Reiseberichten nach zu schließen nahmen Frequenz und Qualität der aufgeführten Theaterstücke im Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht zu. In der Regel war der Sonntag dem Familienleben zugedacht: Frühmorgens ging man zur Kirche, und anschließend gab sich die elegante Welt auf der Plaza de Santander bei einem meist in klassischem Stil aufgeführten Konzert ein Stelldichein. Eine Besonderheit in der Freizeitgestaltung der Oberschichten stellte die Weihnachtszeit dar. In den Monaten Dezember und Januar begaben sich die wohlhabenderen Familien für einige Zeit entweder in die tierra templada oder die tierra caliente, etwa zu den heißen Schwefelquellen bei Coachí oder den Thermen bei Villeta. Hettner schrieb über diesen Brauch: "Man sucht für einige Wochen einen möglichst nahe gelegenen Ort wärmeren Klimas auf, badet im Flusse, veranstaltet gemeinsame Spazierritte mit Pikniks, versammelt sich in den Abendstunden zu Konversation, Spiel und Tanz". 38 Die vom US-Amerikaner Richard Bache aus der Zeit unmittelbar nach der Unabhängigkeit geschilderte Sitte der wohlhabenden Einwohner Bogotás, auf ihren Landsitzen (quintas) in der Umgebung der Hauptstadt orgiastische Feste zu feiern, scheint sich im republikanischen Bogotá nach und nach verloren zu haben. 39 Auch beim Essen bewies die Oberschicht Qualitätsbewußtsein. In den vornehmsten Familien aß man vorzüglich, und der Speisezettel war reichhaltig. Die Grundbestandteile der Mahlzeiten waren Fladenbrot, Mais, verschiedene Sorten Kartoffeln, Erbsen, Kichererbsen, Eier, Hähnchen, Schweine- und Rindfleisch sowie das unvermeidliche Kakao-Getränk (das meist vermischt mit Quarkkäse geschlürft wurde). Besonders schmackhafte Gerichte waren 36 37 38 39

Röthlisberger 1898, S. 116; Gosselman 1827, S. 156. Gosselman 1827, S. 158. Hettner 1888, S. 84; vgl. auch Bürger 1900, S. 164. Bache 1827, S. 233-235.

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Thomas Fischer die o/iaco-Gemüsesuppe und der in Bananenblätter eingewickelte, mit Hühnerfleisch vermischte Maisbrei tamal. Ausländer konnten von den vielfältigen Nachtischen, die sich aus eingemachten (dulces) und frischen Früchten zusammensetzten, kaum genug bekommen. 40 Das Frühstück wurde seit der zweiten Jahrhunderthälfte um 10 Uhr, das Mittagessen zwischen vier und sechs Uhr nachmittags eingenommen. In der ersten Jahrhunderthälfte waren die Essenszeiten früher. 41 Guten Geschmack attestierten die ausländischen Beobachter den Oberschichten Bogotás auch in bezug auf die Kleidungssitten. Die Männerwelt bis hin zu den Studenten und Zöglingen imitierte die europäische Mode. Auf Bällen erschienen die señores im Frack und weißer Halsbinde, auf die Straße begaben sie sich im schwarzen Anzug und mit Zylinder. Ein unentbehrliches Utensil war dabei wegen der häufigen Platzregen der Regenschirm. Auch sonst war das Erscheinungsbild des bogotanischen Kreolen, wie Röthlisberger anerkannte, von großer Eleganz und dem Hang zu Formalität geprägt: "Unter den Kreolen (criollos) finden sich viele edle, schöne Erscheinungen, Männer von starker und doch zierlicher Statur, mit durchsichtiger, etwas gebräunter Haut, schöner Nase, reichem schwarzen Haar und dunklem Bart; hie und da auch hellblonde oder fatalblonde, normannenähnliche Leute {monos). Ihr Schritt ist elegant, ihre Stimme angenehm, ihre Diktion lebhaft und doch etwas nachlässig. Die ganze Erscheinung hat etwas Ruhiges, Offenes, Kordiales, Sympathisches."42 Abbildung 4: Bogotanischer Kreole

Quelle: Röthlisberger 1898, S. 71.

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Röthlisberger 1898, S. 78. Mollien 1992, S. 222; Cochrane 1825, S. 37. Röthlisberger 1898, S. 72.

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Der Oberschichten-iwgo/a/io liebte es, seine Intellektualität mit einer umfangreichen Bibliothek, die Werke aller herausragenden zeitgenössischen europäischen Publizisten und Literaten enthielt, unter Beweis zu stellen. Seine von esprit und manieristischer Überhöhung geprägte Schlagfertigkeit war sprichwörtlich. Der argentinische Diplomat Miguel Cañé, der sich 1881/82 in Bogotá aufhielt, brachte dies am deutlichsten zum Ausdruck: "El esprit chispea en la conversación; una mesa es un fuego de artificio constante; el chiste, la ocurrencia, la observación fina, la cuarteta improvisada, la décima escrita al dorso del menú, el aplastamiento de un tipo en una frase, la maravillosa facilidad de palabra... no tienen igual en ninguna otra agrupación americana." 43 Die Sprachbegabung der Oberschichten drückte sich weiterhin darin aus, daß sie kaum eine Gelegenheit zum Verfassen eines Epigramms oder sonstigen lyrischen Erzeugnisses ausließen. Auch in Kommentaren zum politischen Geschehen kam der Sprachwitz der Kreolen zum Ausdruck. In Presseartikeln, Flugblättern und Plakaten veröffentlichte Anfeindungen des politischen Gegners und Polemiken, die dem persönlichen Rivalen schaden sollten, waren besonders in der 'liberalen Phase' (1850er Jahre bis 1879) an der Tagesordnung. Seit der Machtübernahme der Staatsgewalt durch die Konservativen in den 1880er Jahren unterlagen regierungskritische Artikel zusehends der obrigkeitlichen Zensur. Ernsthafte Gespräche mit akademischem Charakter waren zum Bedauern von Hettner, Röthlisberger und Bürger selten; die Wissenschaft wurde vornehmlich aus Liebhaberei betrieben. Gleichwohl brachte das Land einige hervorragende Gesellschaftsforscher, Nationalökonomen, Historiker, Philologen und Philosophen hervor, darunter Liborio Zerda, Francisco Bayón, Santiago Pérez, Manuel Ancizar, Miguel Samper, Miguel Antonio Caro und Salvador Camacho Roldán. 44 Auffallend bei dieser Aufzählung ist das Fehlen von Namen der quellenorientierten Geschichtsforschung und naturwissenschaftlicher Disziplinen. 45 Der Schwerpunkt in Forschung und Lehre lag eindeutig auf der Sprachwissenschaft sowie der damit verbundenen Rezeption von französischen, spanischen und englischen Romanen, Gedichten und Zeitschriften. Das akademische Gehabe innerhalb der Oberschicht ging so weit, daß, wer etwas auf sich hielt, sich Doktor nannte, selbst wenn die in Europa erforderlichen Leistungen nie erbracht worden waren. 46

43 44 45 46

Cañé 1992, S. 158. Röthlisberger 1898, S. 135f. Hettner 1888, S. 117; Röthlisberger 1898, S. 119f. Hettner 1888, S. 82; vgl. Scruggs 1900, S. 96.

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So unerreicht sich der Sprachsinn der Oberschichten-feogoianos bezüglich seiner Schärfe (bei öffentlichen Auseinandersetzungen) und seiner Feinheit (bei schöngeistigen Diskussionen) dem Ausländer darstellte, so hohl und unpräzise erschienen ihre Äußerungen aber bei konkreten Abmachungen im alltäglichen Leben. Daran störte sich vor allem Hettner: "Geliehene Bücher werden erst nach öfteren Mahnungen zurückgegeben, Einladungen gar nicht oder erst am letzten Tage beantwortet, Rechnungen vielfach nicht bezahlt; die Unpünktlichkeit geht so weit, daß ein hochgestellter Columbianer selbst zur Audienz beim Papste zu spät kam." 47 Wer gut informiert über die neuesten Gerüchte und Indiskretionen sein wollte, fand sich nach Einnahme der Hauptmahlzeit zwischen vier und fünf Uhr abends oder auch nach dem Frühstück um 11 Uhr auf dem Altisano, einer Terrasse vor der Kathedrale, ein, um die Neuigkeiten des Tages zu erfahren. Cañé, der diesen Treffpunkt besonders zu schätzen wußte, schrieb darüber: "Una bolsa, un círculo literario, un areópago, una coterie, un salón de solterones, una coulisse de teatro, un forum, toda la actividad de Bogotá en un centenar de metros cuadrados: tál es el altizano."4% Auch auf den Gehsteigen im "Zentrum" bildeten sich spontan Gruppen von Fußgängern, die den neuesten Klatsch austauschten, und selbst das Geschäft eines Freundes in der Calle Real oder der Calle Florián betrat man zu einem Plauderstündchen, wie der Franzose Charles Saffray, der 1869 in Kolumbien weilte, feststellte: "En los más de los almacenes se forma una tertulia entre los amigos de la casa y los desocupados, que hablan de política, critican a los transeúntes y murmuran del prójimo." 49 Ein Cognac {trago) durfte dabei nicht fehlen. Wenn ein kaufwilliger Kunde den almacén eines Oberschichtangehörigen betrat, so wurde er in der Regel vom Commis bedient. Hettner, der wohl von der Meinung deutscher Kaufleute geprägt war und sich als einziger ein Urteil über die merkantilen Fähigkeiten der Oberschichten anmaßte, hatte eine sehr geringe Meinung über deren Geschäftspraktiken. 50 Seiner Ansicht nach nahm der Abschluß von Geschäften wegen der Verhandelbarkeit jedes Preisvorschlags zu viel Zeit in Anspruch. Weitere Erschwernisse für die Umsatzsteigerung waren die schlechte Zahlungsmoral der kolumbianischen Kaufleute, deren zweifelhafte Solidität sowie die große Anzahl an Händlern und Kaufleuten. Die almacenes kolumbianischer Kaufleute, die lediglich von 9.00 bis 11.00 und von 13.00 bis 17.00 Uhr geöffnet waren, glichen eher Krämerläden als großartigen Kontoren, wie sie in

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Hettner 1888, S. 82. Cañé 1992, S. 155. Saffray 1872, S. 296. Hettner 1888, S. 79.

Lebensstile und "Distinktionen" in der städtischen Gesellschaft Bogotas

Europa üblich waren. Spezialisierung gab es mit Ausnahme der Hutläden, Apotheken, Eisenwarenfirmen, Büchergeschäfte und Papierläden nicht. Die geringen Umsätze sowie die europäischen Geschäftsbräuchen widersprechenden Usancen waren die Hauptgründe, weshalb sich auf dem Platz Bogotá nur wenige ausländische Kaufleute durchsetzen konnten. Gleichwohl wurden infolge der Konsumgewohnheiten der kolumbianischen Oberschichten in den almacenes mit Ausnahme der weißen Strohhüte von Suaza, fast ausschließlich europäische Waren angeboten, die teilweise von kolumbianischen Geschäften in Paris und New York direkt geliefert wurden. Neben Textilien waren Chemikalien, Seife, Wäsche, Wein, Champagner, Messer, Lampen und Glaswaren in der Auslage. 51 Die Preise nahmen wegen der hohen Transportkosten astronomische Dimensionen an. Die scharfe Kritik einiger ausländischer Beobachter an den ihrer Meinung nach geringen unternehmerischen Fähigkeiten der bogotanischen Oberschichten erklärt sich sowohl aus ihren eigenen moralischen Werten als auch aus dem von Europa und den USA objektiv verschiedenen Entwicklungsstand des Andenlandes. Die zunehmende Diskrepanz zwischen reichen Industriestaaten und armen Agrar- und Bergbauländern schien den Fremden, je länger das Jahrhundert dauerte, desto erklärungsbedürftiger. Ihre Wertung war ebenso eine Rechtfertigung der wirtschaftlichen Überlegenheit der transatlantischen industriellen Welt als auch eine Anklage gegen die Eliten des Andenlandes, denen sie unterstellten, die rechtlichen Voraussetzungen für den Übergang zum Freihandel zwar eingeleitet zu haben, als Führungsgruppe aber zu versagen. Die bogotanischen Oberschichten partizipierten gewissermaßen als Schmarotzer an der nationalen Entwicklung, ohne die notwendigen wirtschaftlichen, politischen und administrativen Vorbildfunktionen im Dienste der gesamten Nation zu übernehmen. Am deutlichsten hat dies Thielmann ausgedrückt: "Der einzige Gedanke des Mannes, der lesen und schreiben kann, ist die Politik, wenn man darunter Ränke, Phrasen und Aufstände verstehen will. Wer nie arbeitet, sondern sein ganzes Leben hindurch nach Aemtern und Stellen trachtet, nach öffentlichem Einfluss strebt, seine persönlichen Feinde als Verräther brandmarkt und gelegentlich erschiessen lässt, der gilt als vivo - als feiner Kopf. Wer nicht Politiker oder Beamter ist, muss entweder Kaufmann oder Grundbesitzer sein." 52 Thielmanns Landsmann, der Zoologieprofessor Otto Bürger, der sich 1896 einen Eindruck von den Verhältnissen verschaffte, bestätigte dies: 5l 52

Bereits in den 1820er Jahren war bei den Eliten die Neigung zu allem Ausländischen, besonders zu englischen Waren, zu erkennen. Cochrane 1825, S. 108. Thielmann 1879, S. 348.

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"Der Bogotaner ist oberflächlich, eitel, dünkelhaft und sanguinisch-optimistisch. Er ist schlau und gewinnsüchtig, ohne weiten Blick, aber ohne Verständnis für kleine Mittel, sondern immer auf das Neueste und Grossartigste erpicht. Seine Geschäftsmoral ist gewissenlos." 53 Mangel an bürgerlichem Leistungsbewußtsein und Ablehnung manueller Tätigkeit waren Wesenszüge der Oberschichten, die von extranjeros immer wieder moniert wurden. Die Abneigung des Elitenangehörigen gegenüber der Handarbeit und strenger Disziplin rührte laut Scruggs 1900, der sich im Unterschied zu seinen Schriftstellerkollegen auch über die Ursachen Gedanken machte, daher, "that he considers it degrading, and therefore beneath his station as a 'gentleman"'. 54 Aus dieser Einstellung resultierte zum einen zwangsläufig eine geringe ökonomische Innovationsfahigkeit. Der Hang zum Konsum und der Zwang zur Repräsentation, wie ihn die gesellschaftliche Etikette erforderte, hatten aber darüberhinaus zur Folge, daß dem Reichtum der meisten Oberschichtfamilien enge Grenzen gesetzt waren. Das Borgen und das Leben auf Pump hatten demzufolge, wie Scruggs hervorhob, nichts Anrüchiges: "His pride is phenomenal, and runs into strange freaks. He is not ashamed to ask and accept alms, for that, according to his way of thinking, is merily an evidence of some misfortune; whereas he would feel humiliated were you to offer him service as a laborer, since to accept that would be to forfeit his position as a 'gentleman'. With him, there is no such thing as 'dignity of labor', and the gulf between gentility and honest toil is wide and impassable. [...] Ostensibly, he is seldom a mendicant; he usually frames his petition in the form of a corteous request for a small 'loan', which of coarse he never expects to pay. In all probability he would not ask for it if he thought you expected him to return it, or if he really thought you were unable to lose it, or would ever afterwards remind him of it. But if by some unforeseen turn of fortune's wheel, your relative position should become reversed, he will quite as readily advance you a 'loan' as he now solicits one. 'Once a gentleman always a gentleman' seems to be his motto; for no matter how reduced in circumstances, his associates never cut his acquaintance, nor address him other than as 'Senor'." 5 5 In der äußerlichen Erscheinung imitierten die Söhne aus reichen Häusern bereits früh ihre Väter: Die Jugend als Phase im Lebenszyklus schien in der

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Bürger 1900, S. 169f. Scruggs 1900, S. 95. Ebda., S. 95.

Lebensstile und "Distinktionen" in der städtischen Gesellschaft Bogotas Andenstadt nicht zu exisiteren. 56 Unter den Jünglingen der Oberschichten Bogotás stachen zwei "Typen", der cachaco und der pepito, hervor. Der cachaco zeichnete sich durch seine Schlagfertigkeit, sein "freies, fröhliches, sorgloses Junggesellen- und Jünglingselement mit seinem sprudelnden Witze" aus. 5 7 Er tat sich mit Gleichgesinnten gerne zu einer Art Bierreise {parando) zusammen, wo das alkoholische Getränk in für Europäer besorgniserregender Geschwindigkeit getrunken wurde. In ihm vereinigten sich Anstand und Würde mit dem Drang nach Streichen und unbändiger Lebensfreude. Hettner erwähnt, daß unter den cachacos die "Mätressenwirtschaft", d. h. Verhältnisse mit einer etwas älteren Frau, sehr verbreitet war. 5 8 Für die anderen Autoren scheint dieses Phänomen ein Tabuthema gewesen zu sein. Der pepito stellte sich im Unterschied zum cachaco als der sentimentale, gelangweilte, blasierte Dandy dar, "der nur in der Mode und im raffiniertesten Pariserluxus noch einige Zerstreuung findet und nach Parfüm duftet". 59 Gosselmann beschrieb zwei von ihnen: "Der eine stolzirte im Ueberrock mit Pelzkragen, gefutterter Mütze und Stiefeln, während der andere in seinem Frack, leinenen Pantalons, seidenen Strümpfen und Schuhen einherschritt. Wenn sie nicht laut und fliessend Spanisch gesprochen, und mit großer Grazie ihre Cigarre geraucht hätten, hätte man beinahe glauben müssen, daß es ein Russe und ein Franzose gewesen wären, die den Einfall bekommen hatten, hier die Kleiderpracht ihrer repectiven Nationen zu zeigen." 60 Der Aufenthalt in der französischen Hauptstadt war für den pepito graler Bestandteil seiner Sozialisierung. 61

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Nach dem Besuch der Volksschule wurden die Oberschichtensöhne entweder in öffentlichen oder privaten Anstalten ausgebildet. Der Colegio San Bartolomé, ein Internat für Zöglinge, deren Eltern außerhalb Bogotás wohnten, und der Colegio de Nuestra Señora del Rosario dienten als Vorstufe für das Universitätsstudium an der Universidad Nacional. Die Politisierung des kolumbianischen Bildungswesens hatte zur Folge, daß im letzten Jahrhundertdrittel mit der Universidad Católica eine Bildungsalternative für die Anhänger des konservativ-nationalen Lagers errichtet wurde. 6 2 Als Fächer wurden spanische Grammatik, Französisch, Englisch, Rechnen und Geographie gelehrt. Nach Absolvierung aller Kurse standen der Eintritt in den 56 57 58 59 60 61

Bürger 1900, S. 150. Röthlisberger 1898, S. 88; vgl. Holton 1967, S. 72f.; Cañé, 1992 S. 159f. Hettner 1888, S. 82f. Röthlisberger 1898, S. 89. Gosselman 1827, S. 163. Hettner 1888, S. 84.

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Colegio Militar (seit 1884 an die Universidad Nacional angegliedert), die medizinische Fakultät oder eine Spezialisierung in geisteswissenschaftlichen Fächern oder in Jurisprudenz offen. Bis zu den liberalen Reformen standen auf dem Unterrichtsprogramm der colegios einzig Latein, Mathematik, Philosophie und Theologie. 63 Die Lehrer waren bis zur Regierungsübernahme der Liberalen um 1850 Ordensangehörige, danach rekrutierten sie sich meist aus dem Juristenmilieu. Die Motivation der Lehrer war wegen der schlechten Entlohnung gering. 64 Gestaltete sich der Tagesablauf der Männer und Jünglinge verhältnismäßig abwechslungsreich, so beschränkte sich die tägliche Routine der verheirateten Frauen, der señoras, auf den Messebesuch, das Einkaufen, die Kindererziehung und den gesellschaftlichen Verkehr mit unverheirateten oder verwitweten Damen aus dem Familien- oder Freundeskreis. Einzig in der abendlichen ía/ón-Konversation sowie bei Festen kam es zu erweiterten Kontakten. Lediglich Lord Charles Stuart Cochrane, Kapitän der englischen Marine, der auf seiner Reise 1824 in Bogotá anlangte, schien als echten Kavalier der Tagesablauf der señoras zu interessieren: "The women keep the house during the day, attending to domestic concerns, or lounging on their sofas. About half-past five they attend the Alameda, whence they return to receive visits until nine or ten o'clock, at which time they retire to bed. The usual amusements for the ladies are tertullias, balls, masquerades, and the numerous processions of the saint and feast days, which latter tend not little to render the people idle, their number, including Saturdays, amounting to one hundred and eighty". 65 Selbst wenn das Leben der bogotanischen Frauen wegen der geschlechtsspezifischen Rollenteilung und dem Etikettenzwang von den ausländischen Männern als eher langweilig eingestuft wurde, zog das 'andere Geschlecht' doch in hohem Maße die Aufmerksamkeit auf sich. Es ist allerdings auffallend, daß sich das Reiseliteratur-Genre bei der Beschreibung der Frauenwelt in der Regel in der ausführlichen Beschreibung der Rolle als Gastgeberin und Herrin der salones und der Schmink- und Kleidungsgewohnheiten erschöpfte. Bogotanerinnen waren klein, aber von elegantem Wuchs. Der Teint der señora war laut Röthlisberger häufig "bleich, undurchsichtig und matt", ein Eindruck, der durch das exzessive Lippenschminken und Pudern noch verstärkt wurde. Die Augen waren laut der gleichen Quelle aber "stets gefährlich schön, liebenswürdig und etwas neckisch, dunkelbraun oder 62 63 64 65

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Röthlisberger 1898, S. 122-135. Cochrane 1825, S. 16. Hettner 1888, S. 112f. Cochrane 1825, S. 43f.

Lebensstile und "Distinktionen" in der städtischen Gesellschaft Bogotas schwarz und von hohem Glanz". 66 Die Alltagskleidung der vornehmen Bogotanerin bestand aus einem schwarzen Shawl, der mantilla, die oft mit Spitzen gesäumt war und manchmal sogar noch den Kopf umhüllte. Die raffiniertesten Konfektionen, von denen Cañé mit Kennerblick schrieb, "parecen salidas la víspera del reputado taller de una modista de París, nadie creería que se encontraba en la cumbre de un cerro perdiendo en las entrañas de la América" 6 7 , gehörten zwar ebenfalls zur Garderobe der vornehmen Damenwelt, aber sie waren für Auftritte bei festlichen Anlässen reserviert. Das Bedürfnis, die ausländische Herkunft der Galakleider sichtbar zu machen, ging dabei, wie der deutsche Reisende Eduard Steinheil ungläubig feststellte, so weit, daß die von der Verpackung herrührende Zerknitterung beibehalten wurde, "weil sie den Import aus Europa bekundet[e]".68 Der Hang zum Neuen, Exklusiven und 'Exotischen' innerhalb der Oberschicht förderte nicht nur den Zusammenhalt in diesem sozialen Kreis; da nicht jede Kolumbianerin über die finanziellen Ressourcen verfügte, um entsprechende Kleidung zu besorgen, trug die französische Mode auch zur Abgrenzung gegen andere Gruppen bei. 6 9 Im Streben nach Schmuck und Auszeichnung kam der europäischen Kleidung der höchste Stellenwert zu. Die Pariser Mode hatte auf dem bevölkerungsreichen Altiplano der Anden beinahe Fetischcharakter.

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Röthlisberger 1898, S. 73. Cañé 1992, S. 163. Steinheil 1874, S. 185. Das schichtenbildende Element der Mode infolge "Zusammenschluß" und "Absonderung" hat bereits der deutsche Philosoph Georg Simmel erkannt: "Wo von den beiden sozialen Tendenzen, die zur Bildung der Mode zusammenkommen müssen, nämlich dem Bedürfnis des Zusammenschlusses einerseits und dem Bedürfnis der Absonderung andererseits, auch nur eines fehlt, wird die Bildung der Mode ausbleiben, wird ihr Reich enden." Georg Simmel: Zur philosophischen Psychologie. In: Philosophische Kultur. Über Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais. Berlin 1983, S. 32.

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Abbildung 5: Bogotaner in aus der Oberschicht

Quelle: Röthlisberger 1898, S. 74.

Röthlisberger und Saffray fällten ein insgesamt sehr positives Urteil über die señoras in Bogotá und bestätigten damit die in Europa verbreiteten Stereotypen bezüglich der Schönheit der Frauen in Lateinamerika. 70 Was die äußere Erscheinung betraf, konnte sich auch der Engländer John Hankshaw, der Neu-Granada Anfang der 1820er Jahre bereiste, dem positiven Urteil anschließen; das Benehmen ("conduct") und die Ausbildung des Geistes ("endowment of mind") fand er aber unvollkommen. 71 Uneingeschränktes, geradezu schwärmerisches Lob zollte dagegen Cañé: "Las mujeres bogotanas no desmerecen por cierto de sus hermanas de América. Son generalmente pequeñas, muy bien formadas, atrayentes por pureza de su color y sobre todo, para uno de nosotros, por el encanto irresistible de la manera de hablar. Tienen una música cadenciosa en la voz, menos pronunciada que la que se observa en nuestras provincias del Norte. El idioma, por otra parte, tan distinto del nuéstro en sus giros y locusiones, produce en aquellos labios frescos una impresión indecible. Hay entre ellas tipos de belleza completos, pero en la colectividad, es la gracia la condición primordial, el suave fuego de los ojos, la elegante ondulación de la cabeza, el movimiento, el entrain continuo, que convierte una pequeña sala en un foco de vida y animación." 72

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Röthlisberger 1898, S. 73; Saffray 1872, S. 296f. Hankshaw 1824, S. 154. Cañé 1992, S. 163.

Lebensstile und "Distinktionen" in der städtischen Gesellschaft Bogotas

Nur Hettner ließ sich nicht einmal vom Augenspiel einnehmen. Sein lapidares Verdikt lautete: "Mit vierzehn Jahren sind sie ganz erwachsen, mit dreißig sind sie meist schon wieder verblüht." 73 Im Unterschied zu ihren männlichen Altersgenossen blieb die weibliche Oberschichtjugend der Öffentlichkeit außer beim Kirchgang und beim Einkaufsbummel vorenthalten. Wie die verheirateten und alleinstehenden Damen verließen die Mädchen ihre Wohnung in einfacher schwarzer, aber als elegant empfundener Kleidung. Nur im salon oder im Theater wurde die "Prachttoilette" ausgeführt. 7 4 Ansonsten war ihr Leben, zumindest wenn man dem in den 1850er Jahren in Kolumbien weilenden US-amerikanischen Pädagogen Isaac Holton Glauben schenken will, gleich wie dasjenige der erwachsenen Frauen von Langeweile geprägt: "The young lady is, in fact, almost a prisoner", lautete sein hartes Urteil. "Her sole enjoyment and employment seems to be seat herself in the window, and exchange salutations with those who pass. Should I ask her to take a walk with me, it could be little less than an insult. She can never go out but with her parents and brothers. In fact, she scare ever enters the street except to go to church. Her school was a prison to her, her house is a prison, and who does she lose if she betake herself to a nonnery, as a prison from which she shall go no more out? In fact, the nunnery receives no prisoners without a respectable dowry, and perhaps it secures her as much happiness as she might find in the married state." 75 Trotz der sozialen Kontrolle innerhalb der Führungsschichten sowie den durch die katholische Kirche propagierten rigiden Geschlechterrollen dürfte der Nordamerikaner den Handlungsspielraum, der bei Einhaltung der Etikette noch verblieb, falsch eingeschätzt haben. Wie Stuart Cochrane in den 1820er Jahren ironisch bemerkte, wurde etwa der Kirchgang von den Mädchen der Oberschichten zu 'Liebeständeleien' benutzt: "On these occasions a lover watches his opportunity for following close after his fair enslaver, and kneeling beside her, their ideas partake rather more of terrestrial, than celestial subjects. Soft whispers convey tender sentiments and mutual wishes, and these places of devotion become the medium of assignations, by no means likely to improve the morals of the country." 76

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Hettner 1888, S. 67. Ebenfalls kritisch äußerte sich Cochrane 1825, S. 121f. Röthlisberger 1898, S. 73. Holton 1967, S. 78. Cochrane 1825, S. 89.

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Auch zu Hause blieben die Töchter aus gutem Hause nicht ganz von den Zuneigungsbezeugungen ihrer Anbeter isoliert. Saßen sie am Fenster, konnten sie mit ihren Bewunderern begehrliche Blicke austauschen, wobei diese zuweilen ihren Gefühlen durch Zettelchen oder Musikeinlagen Ausdruck verliehen. 77 Bei Einladungen und spontanen Anlässen pflegten die Töchter des Hauses auf dem Flügel vorzuspielen. Röthlisberger empfand beim Anhören schwieriger klassischer Stücke "Marterpein", während Cane an den privaten nächtlichen Serenaden Gefallen fand. Auch die Salonmusik par excellence, die bambucos, sowie die valse- und pa«7/o-Kompositionen begeisterten ihn gleichermaßen wie die dazu von der Jugend gezeigten Tänze. 7 8 Von der "nationalen Musik" mit ihrem "bald sanften, bald wild anstürmenden, bald wieder melancholischen und wehmütigen Charakter", den Weisen, die einheimische Musiker ihren Saiteninstrumenten, den bandolas, tiples und guitarras entlockten, war jedoch auch Röthlisberger fasziniert. 79 Ihre schulische Ausbildung erhielten junge Oberschichtfrauen in den Kollegien. Abgesehen vom Zeichen- und Nähdrill überzeugten diese Institute Holton, der sie als einziger besichtigte, weder inhaltlich noch didaktisch. 80 Ob der von Holton benutzte Vergleich mit einem Gefängnis für den Schulunterricht in den Mädchenkollegien zutreffend war, kann mangels weiterer Quellen nicht überprüft werden. Fest steht aber, daß das Ausbildungsniveau der Mädchen, die vor allem auf ihre spätere Rolle als Hausfrau vorbereitet wurden, auch andere ausländische Beobachter wenig überzeugte.

Die artesanos und "Kleinbürger" Weit größere Probleme als die Analyse der obersten Schicht bereitete den Ausländern die Identifikation einer mittleren Bevölkerungsgruppe. Dies hängt zum einen damit zusammen, daß diese Schicht in Kolumbien völlig anders als in Europa zusammengesetzt und somit mit den in der Alten Welt entwickelten Kategorien nur schwer zu erfassen war. Zum anderen ergaben sich für die Reisenden, wie sie selbst zugaben, mit dieser Schicht wenig Berührungspunkte im Alltagsleben, weshalb die Möglichkeiten zum vertiefenden Studium gering waren. Über die Zusammensetzung der Mittelschicht vertraten Hettner und Röthlisberger unterschiedliche Auffassungen: Während Hettner eine Gruppe von "Kleinbürgern" ausmachte, zu denen er Hand77 78 79

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Hettner 1888. Cané 1992, S. 146f. Röthlisberger 1898, S. 114.

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werker, Commis, Krämerladenbesitzer, Offiziere und Subalternbeamte zählte, war für Röthlisberger lediglich das Handwerkertum eine ausführlichere Beschreibung wert. 8 1 Röthlisberger bezeichnete die artesanos sogar als einen "besonderen Stand". Dies läßt sich damit begründen, daß sie die zahlenmäßig größte Berufsgruppe in Bogotá darstellten. 82 Die Schuhmacher, Schneider, Gerber, Sattler, Teppichmacher, Schmiede, Schreiner, Töpfer und Tischler genossen die volle Sympathie des Schweizers. Sie definierten sich durch manuelle Arbeit, und ihr Berufsethos beruhte auf Ehre, Heiß und Qualität, auf Werten also, die den in Europa gewonnenen Anschauungen des Universitätsprofessors entsprachen. 83 Trotz ihrer meist mestizischen Herkunft betrachteten sich artesanos-Familien als Weiße. Weitere Merkmale, die die Mittellage dieser Bevölkerungsgruppe unterstrichen, waren die Fähigkeit, etwas lesen und schreiben zu können, ein mittleres Einkommen sowie der Haus- und Ladenbesitz. Röthlisberger erkannte an, daß Handwerker nach praktischer Bildung strebten, wenngleich sie nie den neuesten Stand der Technik erlangten. Auch Saffray konstatierte, daß es den artesanos in der kolumbianischen Hauptstadt zwar an dem Willen, neue Artikel zu imitieren, nicht mangelte, Produktinnovation aber äußerst selten war. 84 Aus der weiter oben gegebenen Beschreibung der Magazine der Oberschichten sowie von deren Kauf- und Kleidungsgewohnheiten läßt sich ableiten, daß die Existenz des lokalen Handwerks nicht nur seiner eigenen Trägheit wegen, sondern auch infolge der Importkonkurrenz gefährdet war. Das nach außen gerichtete Entwicklungsmodell war einseitig nach den Interessen der Eliten modelliert. Der Boykott der einheimischen Artikel und die allgemeine Geringschätzung des Handwerkertums bewirkten sowohl eine ökonomische Entwertung als auch eine symbolische Diskreditierung dieses Berufsstandes. Röthlisbergers Meinung, daß sich die artesanos der Hauptstadt ohne große Schwierigkeiten an die neuen Bedingungen anpassen k o n n t e n , m u t e t

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Er hatte Einblick in den Unterricht der Kollegien de la Merced und Rosario. Holton 1967, S. 116f. Vgl. Hettner 1888, S. 85; Röthlisberger 1898, S. 96. Im Zensus von 1884 wurden 24.397 artesanos aufgeführt. Eine eigene Kategorie bildeten mit 230 Personen die Kunstgewerbetreibenden. (AMAEP CC Bogota Bd. 9, Übermittlung des in einer Frühjahrsausgabe der Zeitschrift El Comercio veröffentlichten Zensus von 1884, Brief von Generalkonsul und Geschäftsträger Louis-Charles Lanen, Bogotá, 21. 5. 1884, Bl. 241f.). Zu den Werten des europäischen Handwerkertums vgl. Heinz-Gerhard Haupt: Die radikale Mitte: Aussagekraft eines Widerspruchs. In: Ders. (Hg.): Die radikale Mitte. Lebensweise und Politik von Handwerkern und Kleinhändlern in Deutschland seit 1848. München 1985, S. 7-31. Saffray 1872, S. 297. Röthlisberger 1898, S. 96

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daher naiv an und zeigt, daß europäische Ansichten nicht ohne weiteres als Rezept für Kolumbien Verwendung finden konnten. Der Lebensstil der Handwerker unterschied sich deutlich von demjenigen der Oberschichten. Die Häuser der artesanos lagen zwischen dem vornehmen Stadtteil und den Vorstädten in der "unteren Stadt". 86 Sie waren wie die Oberschichtenhäuser aus adobes gebaut und getüncht, aber einstöckig und - weil neben Familienmitgliedern oft auch Verwandte Unterschlupf finden mußten - von zahlreichen Personen bewohnt. 87 Die Kinder blieben auch nach der Heirat bei ihren Eltern. Die soziale Not der Handwerkerfamilien drückte sich weiterhin dadurch aus, daß sich Arbeits-, Verkaufs- und Wohnstätte meist im selben Gebäude befanden. Die Werkstatt und der Wohnraum bildeten die wichtigsten Räumlichkeiten. Die Werkstatt wurde dadurch erweitert, daß man einen Großteil der Arbeit unter freiem Himmel verrichtete, denn vor der geöffneten Tür wurde "geschustert, geschneidert, gesattlert und geklempnert wie in Altneapel". 88 Als Läden dienten die Hauseingänge. Das Innere des Handwerkerhauses offenbarte sich dem Ausländer als schlicht, geräumig und sauber. Handwerkerhaushalte benutzten oft einen einzigen Raum als Küche, Eßzimmer, Wohnstube und Schlafzimmer. Manchmal fehlte die Toilette, und die Notdurft mußte draußen verrichtet werden. 8 9 Türen dienten als Ersatz für die fehlenden Fenster. Die Böden legte man aus ungebrannten Ziegel, weshalb permanent Feuchtigkeit in die Räume eindrang. Handwerker kleideten sich mit der ruana, einem aus Wolle hergestellten Poncho. Das im Land hergestellte Kleidungsstück war geradezu die optische Scheidelinie zwischen dem Handwerker und dem Oberschichtangehörigen, weshalb man zuweilen auch von gente de ruana sprach. Typisch für die Kleidungsgewohnheiten der artesanos war außerdem ein hoher, ebenfalls im Land hergestellter Palmstrohhut sowie als Schuhwerk traditionellerweise aus Bastfasern gefertigte Sandalen (alpargatas). Die Frauen trugen - ähnlich wie die Damen der Oberschicht - ein schwarzes Tuch, allerdings ohne Spitzen und aus gröberem Stoff, was ihre gesellschaftliche Zwischenposition unterstrich. Handwerker stellten eine wichtige Stütze des stehenden Heeres und der im Kriegsfall ad hoc zusammengestellten Armeen dar. Aus ihren Reihen wurden die mittleren Dienstgrade rekrutiert. Handwerkersoldaten in Bogotá

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Bürger 1900, S. 147. Hettner 1888, S. 85. Bürger 1900, S. 147. Scruggs 1900, S. 68.

Lebensstile und "Distinktionen" in der stcidtischen Gesellschaft Bogotas

tragen, mit Ausnahme der Mütze, Zivilkleidung; im Dienst hängten sie sich zusätzlich den Säbel um. 9 0 Abbildung 6: Teppichmacher in Bogotá

Quelle: Röthlisberger 1898, S. 95.

Zur Freizeitgestaltung dieser Bevölkerungsgruppe gehörte das ausgiebige Trinken in den Schenken sowie an Sonntagen nach dem Kirchgang die Teilnahme an Hahnenkämpfen. 91 Eine Ball-Kultur gab es in dieser Schicht nicht; die Handwerker zerstreuten sich meist außer Haus. Zahlenmäßig weit geringer, in ihren Interessen deutlich von denjenigen der Handwerker abgrenzbar, war die kleine, von Hettner erwähnte Gruppe der kaufmännischen Angestellten und niederen Funktionäre. Die subalternen Beamten und Commis imitierten unverkennbar die Oberschichten, wenngleich ihre Anzüge meist abgeschabt und ihre Zylinder zerknittert waren. Der soziale Aufstieg entsprach allerdings eher dem Wunschdenken als real vorhandenen Chancen. 92 "Kleinbürger" verdienten wenig und mußten sogar oft auf die Lohnzahlungen warten. Im Unterschied zu den Handwerkern und Angehörigen der Oberschichten waren sie meist nicht Hausbesitzer, sondern mußten Wohn- und Büroräume mieten.

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Hettner 1888, S. 70. Holton 1967, S. 70. Hettner 1888, S. 85f.

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Die "unteren Volksklassen" Die sozial am schlechtesten gestellte, zahlenmäßig aber größte Bevölkerungsgruppe war die im Volksmund gente del pueblo genannte, von Röthlisberger abwertend mit "Pöbel" übersetzte Gruppe des Dienstpersonals, der Boten, Knechte und Hausangestellten, Maultiertreiber, Kaffeepflücker, Chinarindensammler, Maurer-Tagelöhner, Träger, Eckensteher, Ammen, Dienstmädchen und Prostituierten. 93 Röthlisberger hob als gemeinsames Merkmal dieser Gruppe die indianische Herkunft hervor. Nach zeitgenössischer Auffassung galten die Chibchas genannten Nachkommen der Muiscas Zentralkolumbiens als "zivilisiert"; darunter verstand man, daß sie zum Christentum bekehrt worden waren, einen festen Wohnsitz hatten und die ursprünglichen Kleidungssitten aufgegeben hatten. 94 Die Indianer Bogotas lehnten allerdings wegen der Stigmatisierung der Urbevölkerung die Bezeichnung indio ab und betrachteten vielmehr die Leute vom Land als solche. Jene wiederum verwendeten den Terminus für die "unzivilisierten" Indianer in den Tiefebenen. Ein Großteil der gente del pueblo wohnte abgetrennt von den artesanos und den Oberschichten am Stadtrand oder an den beiden Flußufern in kleinen, aus Lehm gebauten Hütten (ranchos). Einige der Unterschichtenfamilien mieteten sich in den feuchten Parterre-Räumlichkeiten der casas altas ein. 9 5 Die Angehörigen dieser Gruppe heirateten früh. Wenn sie einer Erwerbstätigkeit nachgingen, mußten sie mit ihrem Geld zumeist noch weitere Familienmitglieder unterstützen, obwohl die von ihnen verrichtete Arbeit hart und schlecht bezahlt war. Aus der geringen Entlohnung erklärt sich auch der hohe Anteil der erwerbstätigen Frauen. Die Unterschichten unterschieden sich von den mittleren Schichten auch dadurch, daß sie sich den Schulunterricht nicht leisten konnten und keine Berufsausbildung genossen. Das folgende Zitat zeigt, daß Röthlisberger das Schicksal der Unterschichten bedauerte: "Sie sind es, welche mit ihrer Hände Arbeit das Land bestellen; sie sind die Vermittler des materiellen Verkehrs, aber auch die Lasttiere der oberen Klassen [gemeint war vor allem das Wasser- und Holzschleppen]; sie 93

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Zur gente del pueblo gehörten im Jahr 1884 12.246 Hausangestellten und der Großteil der unter "andere" aufgeführten 12.722 Personen sowie der 22.726 Beruflosen, ferner ein Großteil der Soldaten. (AMAEP CC Bogota Bd. 9, Übermittlung des in einer Frühjahrsausgabe der Zeitschrift El Comercio veröffentlichten Zensus von 1884, Schreiben von Generalkonsul und Geschäftsträger Louis-Charles Lanen, Bogotá, 21. 5. 1884, Bl. 241f.). Röthlisberger 1898, S. 74. Hettner 1888, S. 86.

Lebensstile und "Distinktionen" in der städtischen Gesellschaft Bogotás

müssen alle die niedrigsten Verrichtungen übernehmen, und die Weiber haben an diesen Anstrengungen einen vollen Anteil, ja sie arbeiten an manchen Orten schwerer als die Männer." 96 Wie bei fast allen Schilderungen von Ausländern war aber auch beim Schweizer die Berührungsangst mit dieser Bevölkerungsgruppe, die als schmutzig sowie übelriechend und daher als inferior galt, unübersehbar. Er nahm die Indianer wie alle seine Schriftstellerkollegen stereotypisch als "dumpf dahinbrütende amorphe Masse" wahr; bei dieser Bevölkerungsgruppe begann Röthlisbergers Rassenekel, wenngleich er deren angebliche Apathie gemäß der zeitgenössischen Auffassung der Liberalen auf die jahrhundertelange Ausbeutung und Unterdrückung zuerst durch die Spanier, dann durch die einheimischen "Großgrundbesitzer und Politiker" zurückführte. 9 7 Die meisten Ausländer waren sich mit Röthlisberger darin einig, daß diese Bevölkerungsgruppe aus eigener Kraft nicht in der Lage sein würde, ihr Los zu verbessern, denn ihr politisches und religiöses Verhalten widersprach ihren Interessen völlig: "The masses are not readers", bemerkte Scruggs, "and the common people never bother with theological creeds or political platforms. In matters of religion, they accept the doctrines of the Church without question; in politics they vote as they are directed by their party leaders or 'bosses'." 98 Um den Status der Unmündigkeit zu überwinden, bedurfte es nach Scruggs und Röthlisberger deshalb eines fördernden Paternalismus. Die Unterschichten Bogotas trugen laut Hettner, ähnlich wie die Handwerker, aus groben Tüchern hergestellte dunkle Hosen und Hemden, die sie wuschen, darüber, bis zur Hüfte, die ruana: "Statt des Federschmuckes tragen sie einen Strohhut, über dem Hemd hängt die bunte Ruana, an den Beinen haben sie ganz gewöhnliche, vielleicht in Deutschland verfertigte, Hosen, die Füße sind, wenn überhaupt, mit Strohsandalen bekleidet, und über das Ganze breitet sich ein harmonischer Schmutz." 99

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Röthlisberger 1898, S. 97f. Ebda. S. 97. Scruggs 1900, S. lOlf. Lediglich 34.504 Personen konnten laut Angaben aus dem Jahr 1884 lesen und schreiben. (AMAEP CC Bogota Bd. 9, Übermittlung des in einer Frühjahrsausgabe der Zeitschrift El Comercio veröffentlichen Zensus von 1884, Brief von Generalkonsul und Geschäftsträger Louis-Charles Lanen, Bogotá, 21. 5. 1884, Bl. 241f.). Hettner 1888, S. 69; vgl. ähnlich Scruggs 1900, S. 97; vgl. auch Cañé 1992, S. 142.

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Abbildung 7: Hochlandindianer in Zentralkolumbien

Quelle: Prinzessin von Bayern 1908, S. 141.

Die jüngeren Indianerinnen schienen Hettner und Röthlisberger natürlich und wohlgestaltet zu sein. Meist kleideten sie sich lediglich mit einem einfachen Hemd und einer groben schwarzen mantilla, über die sie - im Unterschied zu den señoras - noch einen weißen, breitrandigen Strohhut stülpten. Das lange schwarze Haar wurde gescheitelt und zu zwei Zöpfen gebunden. Als abstoßend empfanden Ausländer, daß die älteren Frauen dieser Schicht Zigarren rauchten, wobei sie sich manchmal, um den Genuß zu erhöhen, das brennende Ende in den Mund steckten. Das Essen der bogotanischen Unterschichten bestand aus Kartoffeln, Mais, Kochbananen {plátanos) und Gerste, die Bestandteile von diversen Suppenbreis sowie etwas Fleisch. Als Getränke dienten Bier und der altindianische c/zic/za-Schnaps, ein gelbliches, aus geschrotenem Mais unter Zusatz von Zuckerrohr zubereitetes alkoholisches Getränk, das den meisten Ausländern

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Lebensstile und "Distinktionen" in der städtischen Gesellschaft Bogotás ekelerregend schien. 1 0 0 Der häufige Genuß von chicha trug nach Ansicht der Reiseschriftsteller zur Apathie dieser Bevölkerungsgruppe bei. Den sozialen Charakter des c/iicAa-Trinkens verkannten sie völlig, obwohl ihnen nicht entging, daß die Angehörigen der Unterschichten abends stundenlang in den barähnlichen chicherías der Vorstädte verbrachten, sich unterhielten, lachten, den tiple- und bandola-Klängen lauschten oder sangen. Männer und Frauen hatten an diesem Geschehen gleichermaßen Anteil. Auch am Sonntag ließen sie die chica-Becher (totumas) kreisen. Besonders bei übermäßigem Alkoholkonsum zankten sich die sonst friedlichen Leute. Das Betreten der vornehmen Schenken der Plaza de Bolívar der Calle Florián und der Calle Real blieb den Unterschichten verwehrt. Ohne eine entsprechende Ausbildung zu besitzen, verdienten die Unterschichtenfrauen Bogotás ihren Lebensunterhalt zumeist als Dienstmägde, Wäscherinnen und Glätterinnen. Manche verdingten sich auch als Ammen, wobei sie der Notwendigkeit, Geld zu verdienen, ihre eigenen Kinder opferten und sie ins Findelhaus steckten. Indianer und Indianerinnen beherrschten auch den täglichen Markt im Stadtteil San Francisco, der in den 70er Jahren in drei offene Hallen in die Calle San Miguel verlegt wurde, sowie den bis dahin üblichen Freitagsmarkt auf der Plaza de Bolívar, wo sie Holz, Kohlen, Hühner und Naturalprodukte jeder Art feilboten. 101 Die ansonsten mehr am Tierreichtum interessierte Wissenschaftlerin Therese Prinzessin von Bayern, die 1898 das Land bereiste, zollte in ihren Aufzeichnungen dem Gewerbefleiß der Chibchas auf der Sabana Rechnung: "Es lagen allerhand von Indianern gefertigte Gegenstände zum Kauf aus, welche Zeugnis ablegten von der industriellen Geschicklichkeit, vom Formen- und Farbensinn der einheimischen Rasse. Da gab es rotgemusterte, quadratische Feuerwedel aus geflochtenen Bambushalmen, Alpargates, d. h. aus den Blattfasern von Agavoiden hergestellte Sandalen, welche die Fußbekleidung der Indianer bilden, flache, runde Mehlseier aus verschiedenfarbigen, gespaltenen Monocotylensproßachsen in gefälligen Mustern geflochten, Taschen, wie solche die Peones auf ihren Reisen zu tragen pflegen, einfache, unglasierte, dunkel und hellrot angestrichene Tonkrüge und anderes mehr." 1 0 2 Die größten Geschäfte wurden am Donnerstag und Freitag, besonders aber an Feiertagen abgeschlossen, wenn Indianer aus der Sabana, aus den Bergtälern sowie aus der tierra caliente ihre Waren zum Kauf anboten. Die Haus100 101 102

Hettner 1888, S. 86f. Mollien 1992, S. 220; Hankshaw 1824, S. 151f.; Gosselman 1827, S. 176f.; Cochran 1825, S. 27-30. Therese von Bayern 1908, S. 152.

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Abbildung 8: Markthalle in Bogotá

Quelle: Scruggs 1900, S. 62.

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frauen aus der Mittel- und Oberschicht kamen an diesen Tagen auf den Wochenmarkt. Die dort vorherrschende Geräuschkulisse verglich Röthlisberger mit dem Summen eines Bienenstockes. 103 Damit deutete er den geschäftigen Charakter an, der sich stark vom marktschreierischen Erscheinungsbild europäischer Marktplätze unterschied. Die hygienischen und sanitären Verhältnisse in den ranchos waren ungesund, worauf vor allem Röthlisberger hinwies. Die gente del pueblo wurde deshalb am meisten von schweren Infektionskrankheiten wie Dysenterie, Pokken, Syphilis und Lepra heimgesucht. 104 Aus dieser Schicht kamen die meisten Patienten des im Norden gelegenen Spitals, das seiner Klientel wegen einem Siechenhaus für die Armen glich, sowie der von französischen Nonnen geführten Irrenanstalt. Medikamentöse Behandlung war aus Mangel an Geld selten. 105 Ein Punkt, den Ausländer höchstens andeuteten, vor dem sie aber offensichtlich Abscheu hegten, war der in der untersten Bevölkerungschicht häufige nichteheliche Geschlechtsverkehr, bei dem die Grenze zur Prostitution fließend war. Einzig Holton wurde deutlich und wies entrüstet auf den "Mißstand" hin, dessen Folge zahlreiche illegitime Geburten waren. 1 0 6 Die guarichas, die Prostituierten Bogotas, waren in den Augen des nordamerikanischen Moralisten weit entfernt von der Intelligenz und Moral der Pariser grisettes. Die ökonomisch bedingte Erwerbsform der Prostitution wurde auch von den anderen Ausländern, wenn sie es überhaupt wagten, dieses Thema aufzugreifen, als moralische Bedrohung für die Gesellschaft angesehen. Die Mitbeteiligung der Mittel- und Oberschichten, die Tatsache, daß Weiße und mestizische Männer oftmals zu den Freiem gehörten, ließen sie unerwähnt. Einzig Hettner fand es erwähnenswert, daß die unteren Schichten der Hauptstadt als Folge der Landflucht ständig zunahmen: "Von allen Seiten strömt besonders die männliche Jugend hier zusammen, weil sie hier einen besseren Verdienst und einen größeren Lebensgenuß als in den kleineren Ortschaften und den einsamen Hütten findet oder wenigstens zu finden glaubt. Aus dem altgewohnten Kreise patriarchalischen Lebens herausgerissen, den Verführungen der großen Stadt preisgegeben, das wenig gute Beispiel der gebil103 Röthlisberger 1898, S. 75. 104 Ebda. S. 81f. 10 5 Vgl. hierzu die Beschreibung Holtons, der das in einem ehemaligen Kloster eingerichtete Spital San Juan de Dios besuchte. Holton 1967, S. 103-105. 106 Von den 187 Neugeborenen im März 1884 waren 105 unehelich. (AMAEP CC Bogota Bd. 9, Übermittlung des in einer Frühjahrsausgabe der Zeitschrift El Comercio veröffentlichten Zensus von 1884, Brief von Generalkonsul und Geschäftsträger LouisCharles Lanen, Bogotá, 21. 5. 1884, Bl. 241 f.).

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deten Jugend vor Augen, macht der Einwanderer hier eine Umwandlung durch, welche nicht gerade zu seinem Vorteile dient." 107 Vor diesem Hintergrund läßt sich das Phänomen der Gassenjungen, der elternlosen Straßenkinder des 19. Jahrhunderts, erklären. Der elf- bis 17jährige gamin oder chino verdiente seinen Lebensunterhalt im letzten Jahrhundertdrittel als Schuhputzer, Austräger, Zeitungsverkäufer oder Soldat. Die gamines wurden wegen ihrer Tapferkeit, natürlichen Schlauheit und Intelligenz neben den Handwerkern im Krieg häufig als Soldaten zwangsrekrutiert. 108 Röthlisberger schilderte die wenig zimperliche Vorgehensweise bei der Aushebung, wenn Bürgerkriege ausbrachen: "Bei einbrechender Dämmerung ziehen Soldaten pelotonweise durch die Straßen und greifen jeden armen Teufel auf, der arglos ihnen in die Arme läuft und nicht gerade einen Cylinder oder eine feine Kleidung trägt. Der so Aufgegriffene wird zwischen zwei Reihen Bajonette hineingestellt, und der Zug geht weiter, bis 20, oft 40 bis 50 dieser Unglücklichen beisammen sind. So werden sie, manchmal wie Schlachtvieh zusammengebunden, in die Kaserne geschleppt, um dort gefangen gehalten und zum Kriege gepreßt zu werden. Nur selten giebt es für einen solchen gewaltsam Rekrutierten irgend eine Rettung, denn Not geht über Gebot, und selbst mächtige Protektoren können ihre Diener, ihre Handwerker, ihre Kutscher etc. nicht wieder vom Militärdienst losmachen. Ja es kommt oft genug vor, daß Soldaten in die armen Häuschen der Vorstadtbewohner dringen und dort den Mann aus dem Bett reißen, Frau und Kinder hilflos zurücklassend." 109 Die Uniform war der französischen nachgebildet, aber in schlechtem Zustand. Da die Käppis nicht genügend vor der Sonne schützten, wurde darunter noch ein Strohhut getragen. Anders als für die gamines brachte Röthlisberger für die Situation der Bettler, die vor den Kirchtüren liegend den Vorübergehenden ihre Wunden entgegenstreckten, um ein Almosen zu erbetteln, wenig Sympathie auf. Geprägt vom bürgerlichen Diskurs über die Ursachen der Armut betrachtete er die nicht arbeitenden Bevölkerungsteile als arbeitsscheue Parasiten und ihr Los als selbstverschuldet. 110 Er verkannte dabei völlig, daß im vorindustriellen 107 108

Hettner 1888, S. 88. Der Zensus von 1884 registrierte in Bogotá 1.625 Soldaten. Darunter waren viele Indianer. (AMAEP CC Bogota Bd. 9, Übermittlung des in einer Frühjahrsausgabe der Zeitschrift El Comercio veröffentlichten Zensus von 1884, Brief von Generalkonsul und Geschäftsträger Louis-Charles Lanen, Bogotá, 21. 5. 1884, Bl. 241f.). 109 Röthlisberger 1898, S. 113. 110 Zur Diskussion in Europa vgl. Wolfram Fischer: Armut in der Geschichte. Göttingen 1982. Die harte Haltung gegenüber Bettlern und pauperisierten Gruppen gelangte auch

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Kolumbien Unterbeschäftigung herrschte. Bereits der französische Finanzspezialist Gaspard-Théodore Mollien, dem die Toleranz der einheimischen Oberschichten unbegreiflich war, hatte sich bei seinem Aufenthalt im Jahr 1823 am Bettlertum, das er als Plage empfand, gestoßen: "Hay una plaga verdaderamente espantosa que aflige a Bogotá: los pobres. Estos, los sábados irrumpen en la capital como hordas en una ciudad tomada por asaltos; asedian todas las puertas, y para que la piedad les abra, exhiben las llagas y las dolencias más repulsivas; grupos de ancianos conducidos por niños obstruyen durante todo el día las calles y las entradas de las casas. Se les suele ver especialmente delante de las de los ministros. La vista de sus andrajos, los lamentos que eyhalan al implorar la caridad, son otras tantas lecciones que no parecen molestar a aquellos a quienes van dedicadas, ya que toleran que se les dirijan todos los días." 111 Auch Bürger entrüstete sich über den Anblick der Massen von "Kranken und Krüppeln", die am Samstag, dem "Tag der Bettler", die Gassen füllten, ohne allerdings aufdringlich zu sein.112 Solche toleranzlosen Aussagen zeigen deutlich, daß europäische Bürger im 19. Jahrhundert kaum in der Lage waren, zwischen Sittenverfall und tatsächlicher materieller Not zu unterscheiden. Auch Delinquenz war nach Röthlisberger lediglich eine Folge der angeblichen moralischen Verkommenheit. In den von Armut und Elend gezeichneten Unterschichten entbehrte demzufolge ein Verbrechen wie Totschlag im Affekt nicht einer gewissen Logik. Fast alle Strafgefangenen des Zuchthauses stammten aus der Unterschicht. Von Soldaten bewacht ließ sie die Oberschicht, falls sie nicht gerade Kokosschalen mit Schnitzereien verzierten, zum Straßenbau, zum Reinigen der Abwasserrinnen, zum Unkrautjäten auf öffentlichen Plätzen und zu Bauarbeiten, kurz: zu allen Täigkeiten der öffentlichen Hand, für die sonst keine billigen Arbeitskräfte gefunden werden konnten, antreten. 113 Dabei ging es, den Schilderungen von Hettner und Röthlisberger nach zu schließen, recht lustig zu. Angehörige der Oberschichten liefen lediglich in Bürgerkriegen, wenn sie sich auf der 'falschen Seite' exponiert hatten, Gefahr, eingekerkert zu werden. Ansonsten gingen sie weitgehend straffrei aus, obwohl Korruption und Betrug im Wirtschafts-

in der liberal-radikalen Publizistik Kolumbiens zum Ausdruck. So führte etwa Miguel Samper das "Parasitentum" bei Teilen der Oberschicht und der untersten Schichten auf das koloniale Erbe zurück. Miguel Samper: La miseria en Bogotá. Bogotá 1985, v. a. S. 8f. [Erstauflage 1867]. 111 Mollien 1992, S. 230; vgl. Cochrane 1825, S. 12. 11 2 Bürger 1900, S. 146. 113 Hettner 1888, S. 61.

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Thomas Fischer leben und in der Politik gang und gäbe waren. 1 1 4 Empfand Holton beim Anblick des Inneren des alten, im Kongreßhaus untergebrachten Bezirksgefängnisses noch Abscheu, 115 so stand im letzten Jahrhundertdrittel mit dem Panóptico ein der modernen US-amerikanischen Gefängnisarchitektur entsprechendes Gebäude zur Verfügung.

Schlußbetrachtung In der Sekundärliteratur wird oftmals der fiktionale, propagandistische, subjektiv-impressionistische und punktuelle Charakter von Reiseberichten betont und damit deren Verwendbarkeit für die Rekonstruktion der "objektiven Welt" in Zweifel gezogen. 116 In der Tat müssen beim Quellenwert der meisten Berichte über Bogotá erhebliche Einschränkungen gemacht werden. Die vorangehenden Ausführungen haben aber auch gezeigt, daß ein Teil des Schrifttums, besonders wenn es auf langjährigen Erfahrungen der Verfasser beruht, hervorragende sozialgeschichtliche Quellen darstellt, deren Aussagen freilich nach quellen- und ideologiekritischen Gesichtspunkten überprüft werden müssen. 117 Hettner und Röthlisberger, zwei in diesem Aufsatz vielzitierte Autoren, haben sich nicht mit einer Aneinanderreihung von Fakten begnügt, sondern ihren Beobachtungen einen konzeptuellen Rahmen zugrundegelegt, der angesichts der damals noch jungen Gesellschaftswissenschaften von einem hohen Reflexionsniveau zeugt. Beide Reiseschriftsteller entwikkelten große Neugier für die fremde Gesellschaft, der sie, im Unterschied etwa zu Thielmann, einen gewissen Eigenwert zugestanden. Zur Darstellung wählten die beiden Bogotá-Experten das Mittel der Stilisierung. Auch wenn sie als teilnehmende Beobachter nicht immer ganz systematisch zu Werke gingen und die Terminologie eklektische Tendenzen aufwies, sind "Reisen in den columbianischen Anden" und "El Dorado" Publikationen, die wissenschaftlichen Ansprüchen teilweise genügten. Ein wichtiges Ergebnis von Hettners und Röthlisbergers Forschungen ist zweifellos die Hervorhebung des Lebensstils, der als Distinktionsmittel zwi-

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Röthlisberger 1898, S. 100. Holton 1967, S. 106. Vgl. stellvertretend für viele Peter J. Brenner: Reisen in die Neue Welt. Die Erfahrung Nordamerikas in deutschen Reise- und Auswandererberichten. Tübingen 1991, S. 9. Zu den methodischen Problemen vgl. Magnus Mörner: Europäische Reiseberichte als Quellen zur Geschichte Lateinamerikas von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis 1870. In: Antoni Maijak/Hans Jürgen Teuteberg (Hgg.): Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Aufgaben und Möglichkeiten der historischen Forschung. Wolfenbüttel 1982, S. 284-289.

Lebensstile und "Distinktionen" in der städtischen Gesellschaft Bogotás

sehen den Bevölkerungsgruppen Bogotás diente. Besonders eindrucksvoll dokumentieren Hettners und Röthlisbergers Bücher den Führungsanspruch der weißen Oberschichten durch Monopolisierung des gesellschaftlich anerkannten Symbolgefüges, des Bildungswesens und der intellektuellen Kultur. Wenngleich etwa beim Essen und Tanzen Traditionen bewahrt wurden, war die Lebensweise der gente decente Bogotás doch für neue Einflüsse offen; ihr war etwas Rezeptives eigen, denn trotz ihrer räumlichen Abgeschiedenheit blieb der Referenzpunkt der 'feinen Gesellschaft' stets Europa mit seiner "Hauptstadt" Paris. In der wirtschaftlichen Produktion rückständig, im Konsum der feinen Gesellschaft der französischen Metropole jedoch in nichts nachstehend, in der Konversation auf hohem Niveau und im gesellschaftlichen Leben dynamisch - auf diese Formel läßt sich das von Hettner und Röthlisberger gezeichnete Bild der Elite Bogotás, das in den Grundzügen von den meisten übrigen Schriftstellern bestätigt wird, reduzieren. Die beiden Autoren zeigen letztlich auf, daß die von den Oberschichten oft als Leitbild für die nationale Entwicklung bemühte Mestizengesellschaft in der Praxis nicht mehr als eine leere Worthülse war. Die reicheren Bürger Bogotás trugen ausländische Textilien und schmückten ihre Residenzen mit eingeführten Manufakturwaren. Sie verachteten generell die Handarbeit und liebten dagegen schöngeistige Gespräche. Sie lebten geographisch und sozial von den artesanos und der gente del pueblo abgetrennt und pflegten einen anderen Lebensstil. Abgrenzung, nicht Homogenität prägte das Handeln der Oberschichten in der kolumbianischen Hauptstadt. Soziale Differenzierung, Machterweiterung und -erhaltung erfolgten aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit und äußerten sich in Unterschieden hinsichtlich des Einkommens und des Lebensstils. Die rigide gesellschaftliche Hierarchie gestand Unterschichten indianischen Ursprungs und mestizischen Handwerkern kaum Aufstiegsmöglichkeiten zu. Der europäisch-städtische Lebensstil diente den Oberschichten aber nicht nur zur Reproduktion sozialer Ungleichheit, sondern er war auch eine Manifestation des kulturellen Führungsanspruchs der Hauptstadt gegenüber den als rückständig empfundenen Elitengruppen im übrigen Land. Der Forscherdrang der Reiseschriftsteller ließ bei der Erforschung von Sitten und Bräuchen der Mittel- und Unterschichten sowie in anderen Punkten zu wünschen übrig: Das generative Verhalten sowie die Sterblichkeit und das Heiratsmuster der sozialen Gruppen wurden nicht untersucht. Wie stand es beispielsweise mit der Mestizisierung der kolumbianischen Gesellschaft? Worauf waren die häufig illegitimen Geburten zurückzuführen? Welche Geburten- und Heiratsmuster praktizierten die Eliten? Dies sind nur einige der im Schrifttum in diesem Zusammenhang nicht behandelten Aspekte. Über die Gründe für diese 'Leerstellen' kann lediglich spekuliert werden, doch

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dürften auch gesellschaftliche Tabus für Auslassungen in der Berichterstattung über Geschlechterbeziehung und Sexualverhalten eine Rolle gespielt haben. Nach Hinweisen über eine eventuell existierende soziale Mobilität zwischen Unterschichten und Mittelschichten sucht man vergeblich. Die Form der Eingliederung von Neuzuzüglern wurde - ebenso wie der Aufstieg neuer Akteure in Führungspositionen, etwa der Bankiers und Finanziers sowie der freien Berufe, und der Abstieg alter Gruppen (Handwerker) - kaum erwähnt. Hier zeigt sich, daß die Untersuchungen der Autoren lediglich einen Querschnitt vermitteln; ihr Modell ist zu statisch und kann weder den prozeßhaften Wandel wiedergeben noch die Frage nach dem Ausmaß individueller Mobilitätschancen klären. Die Rolle der katholischen Kirche als kultureller Orientierungspunkt und herrschaftssichemdes Instrument, besonders seit den 1880er Jahren, wird zu wenig gründlich erforscht. 118 Auch die gesellschaftliche und politische Bedeutung der Armee bleibt letztlich unklar. Das Aufkommen neuer Wirtschaftszweige wie der Banken und Versicherungen sowie der allmähliche Ausbau der Infrastruktur durch den Übergang zur Gasbeleuchtung, den Bau von Abwasserkanälen und die Verbesserung des Transportsystems dank des Einzugs gut gefederter Kutschen und - um die Jahrhundertwende - der Fahrräder ließen sie zwar nebenbei anklingen, die weitreichende Bedeutung für die ökonomische Modernisierung der Stadt sowie für das Erleben der Urbanität erkannten die Verfasser des Schrifttums über Bogotá aber nicht. Ein erheblicher Mangel ist sodann das Fehlen einer präzisen Untersuchung des politischen Verhaltens der seit den 1850er Jahren in Konservative und Liberale geteilten Einwohnerschaft Bogotás. 1 1 9 Dazu gehören die mit großer Härte geführten Konfrontationen zwischen den ultraliberalen gólgotas und den gemäßigten draconianos zu Beginn der 1850er Jahre, die mit einer Niederlage des protektionistisch geschützten Handwerks endeten und den Übergang zum ökonomischen laissez-faire vorbereiteten. Auch die Machtablösung der Liberal-Radikalen durch die Katholisch-Konservativen in der Phase der regeneración seit den 1880er Jahren müßte als Epochenzäsur für die Stadt Bogotá gesondert analysiert werden. Schließlich verdienten der "Brotaufstand" von 1879 und der soziale Protest der Handwerker von 1893 eine Erwähnung. Für die Beseitigung der erwähnten Forschungslücken müssen somit andere Quellen konsultiert werden.

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Einige diesbezügliche, wenn auch nicht sehr systematische Betrachtungen stellten Röthlisberger und Bürger an. Immerhin können Röthlisbergers bemerkenswerte geschichtliche Betrachtungen über Kolumbien teilweise auch auf Bogota bezogen werden. Röthlisberger 1898, S. 281348.

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Literaturliste und Personendaten Richard Bache; 1784-1884; Offizier der US-Armee; Schwiegersohn und Begleiter von William Duane. Notes on Colombia, taken in the Years 1822-3. With an Itinerary of the Route from Caracas to Bogotá; and Appendix. Philadelphia 1827 Otto Bürger; 1865-1945; Zoologieprofessor; 1896/97 Reise nach Kolumbien, um die "vertikale Verbreitung der Tiere in einem tropischen Hochgebirge zu studieren"; Unterstützung von der Königl. Preussischen Akademie der Wissenschaft in Berlin und der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Reisen eines Naturforschers im tropischen Südamerika. Leipzig 1900 Miguel Cañé; 1851-1905; Politiker und Diplomat aus Argentinien; 18811882 Bevollmächtigter Minister Argentiniens für Kolumbien und Venezuela; weilte sechs Monate in Bogotá; seit 1882 Gesandter Argentiniens in Deutschland, Österreich-Ungarn, Spanien und Frankreich. Notas de Viaje sobre Venezuela y Colombia. Bogotá 1992 [Neuauflage des 1907 in Bogotá erschienen Textes; "En Viaje (1881-1882)" lautete der Titel der ersten, um einige Kapitel über andere Länder erweiterten Veröffentlichung im Jahr 1884 in Paris] Charles Stuart Cochrane; Lord, Kapitän der englischen Royal Navy; widmete sein Buch Simón Bolívar; verbrachte einige Wochen in Bogotá. Journal of a Residence and Travels in Colombia, Düring the Years 1823 and 1824. Bd. 2, London 1825 William Duane; 1760-1835; US-amerikanischer Journalist und Politiker; 1787 in Indien; wurde wegen der Anprangerung der Methoden der East India Comp, und der Armeeoffiziere verhaftet; in die USA zurückgekehrt stellte er sich publizistisch auf die Seite Thomas Jeffersons; nach dem Tod seiner ersten Frau 1800 Heirat mit Margret Bache, der Witwe eines ehemaligen Partners in der Zeitung Aurora; fünf Kinder; leidenschaftlicher Vertreter der Unabhängigkeit Lateinamerikas; 1821 vom Kongreß in Cúcuta für seine Verdienste geehrt; reiste im Auftrag der US-Regierung nach Kolumbien, um Klagen wegen Eigentumsverletzungen von US-Bürgern nachzugehen; verbrachte einige Wochen in

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Bogotá; nach seiner Rückkehr Tätigkeit am Supreme Court of Pensylvania. A Visit to Colombia in the Year 1822 & 1823 by La Guaira and Caracas, over the Cordillera to Bogotá, and thence by the Magdalena to Cartagena. Philadelphia 1826 Carl August Gosselman; 1799-1843; Leutnant bei der Flotte der königlichen Majestät Schwedens. Reise in Columbien in den Jahren 1825 und 1826. Stralsund 1827 John Hankshaw Letters Written from Colombia, During a Journey from Caracas to Bogotá and thence to Santa Marta, in 1823. London 1824 Alfred Hettner; 1859-1941; Magister in Geographie; 1882 in Diensten des englischen Gesandten J. P. Harriss-Gastrell in Bogotá; 1882-1883 Anstellung für ein Jahr; danach Rundreise; 1884 Rückkehr; 1894 Professur in Leipzig. Reisen in den columbianischen Anden. Leipzig 1888 Isaac F. Holton; 1812-1874; Pädagoge, Theologe, Missionar; Maine, Illinois, Mississippi; 1852-1854 in Kolumbien; verbrachte 1853 einige Monate in Bogotá. New Granada: Twenty Months in the Andes. Carbondale/Edwardsville 1967 [Erstauflage 1857] Gaspard-Théodore Mollien; 1796*; Staatsmann und Finanzier aus Rouen; Studien in England; 1814-1820 Reise in den Senegal; 1823 Reise nach Kolumbien; verbrachte einige Wochen in Bogotá. Viaje por la República de Colombia en 1823. Bogotá 1992 [Neudruck der 1944 in Bogotá in zwei Bänden veröffentlichten spanischen Version. Die Erstausgabe erschien 1824 in Paris und London unter den Titeln "Voyage dans la République de Colombie" und "Travels in the Republic of Colombia, in the Years 1822 and 1823"] Ernst Röthlisberger; 1858-1926; Studium der Theologie und Sekundarlehrerpatent an der Universität Bern; 1882 auf Anfrage des Kolumbiani-

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sehen Gesandten in Madrid und London, Carlos Holguin, vom Schweizerischen Bundesrat als Dozent an die Universidad Nacional in Bogotá entsandt; Aufenthalt in Bogotá von 1883-1886; Rückkehr in die Schweiz nach dem Bürgerkrieg von 1885, aus dem die konservativnationalistische Allianz als Sieger hervorging und die Verbreitung Röthlisbergers liberaler Ideen zunehmend unmöglich machte; 1888 Sekretär (1912 Vizedirektor, 1921 Direktor) des Internationalen Amtes für Geistiges Eigentum in Bern; 1888 Heirat mit Inés Ancízar, einer Tochter des berühmten kolumbianischen Philosophen Manuel Ancízar; aus dieser Ehe gingen drei Kinder hervor. El Dorado. Reise- und Kulturbilder aus dem südamerikanischen Columbien. Bern 1898 Charles Saffray; Dr.; 1869 in Kolumbien. Viaje a Nueva Granada. Bogotá 1948. Das französische Original erschien unter dem Titel Voyage a Nouvelle Grenade. Paris 1872 (= Le Tour du Monde 1872, 2ème semestre, S. 81-144). William L. Scruggs; 1836-1912; Diplomat und Publizist aus Knoxville (Texas); Unionist; 1858 Heirat; 1858-1865 Herausgabe der Columbus Daily Sun; 1870-1872 Herausgeber der Atlanta Daily New Era; 18721876 Außerordentlicher Gesandter und Bevollmächtigter Minister der USA in Kolumbien; 1876-1882 Konsul in Chin-Kang und Kanton (China); 1884 bis 1889 Außerordentlicher Gesandter und Bevollmächtigter Minister der USA für Venezuela und Kolumbien; 1884-1889 Wohnsitz in Bogotá, dann Übersiedlung nach Caracas; 1892 zurück in die USA; 1894 Berater Venezuelas im Grenzkonflikt mit Großbritannien. The Colombian and Venezuelan Republics. With Notes on Other Parts of Central and South America. London 1900 Eduard Steinheil; weilte von Oktober 1872 bis März 1873 in Kolumbien, wobei der Aufenthalt in Bogotá beinahe zweieinhalb Monate dauerte; Steinheils Interesse galt hauptsächlich der Fauna. Reisen in Columbien von Eduard Steinheil. In: Mittheilungen aus Justus Perthes' Geographischer Anstalt Bd. 22, 1876, S. 393-395 und Bd. 23, 1877, S. 184-188 sowie 222-227

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John Steuart; verbrachte elf Monate in Kolumbien; sein Ziel bestand in der Beschreibung von "Men and Things". Bogotá in 1836-7. Being a Narrative of an Expedition to the Capital of New-Granada, and a Residence there of Eleven Months. New York 1838 Freiherr Max von Thielmann; 1846-1929; Studium in Heidelberg und Berlin; Promotion zum Dr. jur. 1866; ab 1871 diplomatischer Dienst in St. Petersburg, Kopenhagen, Bern, Brüssel, Washington, Paris, Konstantinopel; 1877 in Kolumbien; verbrachte kurze Zeit in Bogotá. Vier Wege durch Amerika. Leipzig 1879 Therese Prinzessin von Bayern; 1850-1925; Dr. phil. H.C.; hielt sich 1898 in Kolumbien auf. Zweck der Reise war die Erforschung der Flora und Fauna, die Landschaften kennenzulernen und mit "kultivierten Indianerstämmen bekannt zu werden". Dabei sollten möglichst viele Gegenstände für das bayrische Staatsmuseum gesammelt werden; verbrachte kurze Zeit in Bogotá. Reisestudien aus dem westlichen Südamerika. Bd. 1, Berlin 1908.

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Ästhetik der Anden Europäische Reiseberichte im Zeitalter der Romantik Die "Deutungsgeschichte" des Berges in der europäischen Neuzeit ist geschrieben. 1 Die am Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts relativ rasch voranschreitende Ästhetisierung des Gebirges und gleichzeitige Ablösung von einem älteren kosmographisch-moralphilosophischen Paradigma der Dämonisierung bzw. Sakralisierung vollzieht sich im Zeichen der Umwertung des Schreckens zur Kategorie des schrecklich Erhabenen, die - zunächst in der englischen physikotheologischen Bewegung 2 , später auch in Deutschland und Frankreich - "den im 17. Jahrhundert beheimateten theologisch-kosmischen Enthusiasmus grenzenloser Räume" 3 auf konkrete Phänomene der Weite und Höhe, des Meeres und der Berge, konzentriert und so anschaulich macht. Der "enthusiastick Terror" eines John Dennis, das "angenehme Schaudern" in den Theorien des Erhabenen von Shaftesbury, Addison und Burke 4 begründet jene neue religiös-ästhetische Anschauung der Berge, die, in Malerei und Dichtung verbreitet, alsbald auch die ergänzende Kategorie des Malerischen (Pittoresken) 5 auf den Plan ruft. Mit ihr gelingt es, den Gesamtprospekt und Panoramablick ebenso wie die schöne Wildheit und Unregelmäßigkeit der Bergwelt und in wachsendem Maße auch die Einheit von Naturszenerie, Menschen und Sitten anschaulich zu machen. Als Inbegriff unverfälschter, zu andächtiger Träumerei einladender Natur gerät 1

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Jacek Wozniakowski: Die Wildnis. Zur Deutungsgeschichte des Berges in der europäischen Neuzeit. [Warschau 1974] Frankfurt am Main 1987. Stärker ästhetikgeschichtlich orientiert und nach wie vor unverzichtbar ist Maijorie Hope Nicolson: Mountain Gloom and Mountain Glory. The Development of the Aesthetics of the Infinite. Ithaca 1959. Hierzu und zum Kontext des Erhabenen der Berge siehe auch Ruth und Dieter Groh: Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur. Frankfurt am Main 1991, bes. S. 92 ff. Wozniakowski (Anm. 1), S. 226. Zur Ästhetikgeschichte des Motivs vgl. Carsten Zelle: "Angenehmes Grauen". Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, 10). Hamburg 1987; sowie dessen nützlichen "Abriß": Das Schreckliche als ästhetischer Begriff. In: Archiv für Begriffsgeschichte Bd. 33, 1990, S. 125-135. Vgl. Christopher Hussey: The Picturesque. Studies in a Point of View. [1927], Neudruck London / New York 1983; der Verfasser begreift "the picturesque phase" als "a prelude to romanticism" (S. 4). Den französischen Bereich beleuchtet Wil Münsters: La poétique du pittoresque en France de 1700 à 1830 (Histoire des idées et critique littéraire, 297). Genève 1991. In bezug auf unser Thema vgl. Wozniakowski (Anm. 1), Teil III, S. 169 ff. ("Pittoreske Berge").

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die Bergwelt zusehends zur Gegenwelt der Zivilisation und beerbt zuletzt auch die Idylliksehnsucht der alten bukolischen Tradition. Die Vertikalität des erhabenen Berges steht jetzt der Horizontalität der nützlichen Einheit von Stadt und Land gegenüber; Bergsteigen wird zur ästhetischen Flucht aus dem Reich des Nützlichen und zum säkularisierten Gottesdienst. Die einzelnen Phasen dieser hier gerafft skizzierten Entwicklung sind bekannt und müssen nicht interessieren. Geht man von der Bedeutung der religiös und ästhetisch begründeten Kontrastfunktion aus, so ist die Tatsache kaum verwunderlich, daß die eigentlich auslösende, paradigmatische Funktion den Alpen 6 zukam und erst von hier ausgehend auch andere Gebirgsund Hochgebirgsregionen Europas erfaßte. Natürliche Gegenbildlichkeit, das Geheimnis des noch Unerforschten, Einsamkeit und Ursprünglichkeit konnten wohl an keinem anderen Gebirgszug mit derartiger Intensität erlebt und vorgestellt werden. Auch nach der Entdeckung des schottischen Hochlands, der Pyrenäen, des Südbalkans oder des Kaukasus behielten die Alpen ihre Stellung als Parameter des pittoresk-erhabenen Naturschönen, das für das ganze 19. Jahrhundert verbindlich blieb. Auch dieser Aspekt ist, wenigstens in bezug auf Frankreich, ausführlich erforscht. 7 Umso erstaunlicher ist dann freilich, daß die Verbindung dieser neuen Sehgewohnheit mit exotistischen, außereuropäischen Eindrücken nur geringes Interesse gefunden hat. Ja, es scheint, als sei hier nicht nur die Forschung im Rückstand, sondern auch die einschlägige Reise-Literatur selbst. Auf das Rahmenthema "Südamerika im 19. Jahrhundert" bezogen, heißt das: Wie wurden die Anden von den Reisenden mit europäischen "Sehgewohnheiten" wahrgenommen? Wurden sie überhaupt in ihrer Andersartigkeit wahrgenommen, und spielten sie die Rolle, die man - ausgehend von der zentralen ästhetischen Stellung des Paradigmas - vermuten könnte? Welche Funktion kommt der Beschreibung und Erforschung der Andenregion im europäischen Reisebericht des 19. Jahrhunderts zu? Unsere Enquête fußt dabei auf der Auswertung einschlägiger Reiseberichte des gesamten Zeitraums; 6

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Vgl. Claire-Eliane Engel: La littérature alpestre en France et en Angleterre aux XVIIIe et XIXe siècles. Chambéry 1930; und Claudine Lacoste Veysseyre: Les Alpes romantiques. Le thème des Alpes dans la littérature française de 1800 à 1850 (Bibliothèque du Voyage en Italie, Etudes, 4). 2 Bde., Genève 1981. Einen geistes- und mentalitätsgeschichtlichen Abriß bietet Kap. IV, bes. S. 238 ff., bei Wozniakowski (Anm. 1 ). Zur Entwicklung in Deutschland siehe auch Petra Raymond: Von der Landschaft im Kopf zur Landschaft aus Sprache. Die Romantisierung der Alpen in den Reiseschilderungen und die Literarisierung des Gebirges in der Erzählprosa der Goethezeit (Studien zur deutschen Literatur, 123). Tübingen 1993. Zu den Pyrenäen siehe Jean Fourcassié: Le Romantisme et les Pyrénées. Paris 1940; zum Schottlandthema J. Margaret Bain: Les voyageurs français en Ecosse et leurs curiosités intellectuelles (1770-1830) (Bibliothèque de la Revue de littérature comparée, 79). Paris 1931.

Ästhetik der Anden aus sowohl praktischen als auch epistemologischen Gründen bleibt die Textanalyse freilich auf die erste, romantisch geprägte Jahrhunderthälfte beschränkt. Die vorgestellen Autoren bzw. Reiseberichte haben in diesem Kontext paradigmatischen Charakter. Eine vorab zusammenfassende Antwort auf diese sehr allgemeinen Fragen ist zumindest im europäischen Kontext nicht so einfach zu geben, nicht zuletzt deshalb, weil hierzu auch genauere quantitative Erhebungen notwendig wären. 8 In bezug auf den französischen Reisebericht, dessen vollständige Erfassung und Auswertung Gegenstand eines seit längerem in Frankfurt laufenden Projekts ist, 9 liegen die Daten vor. Sie lassen vermuten, daß Südamerika allgemein und die Andenregion im besonderen, anders als bei den Engländern und Deutschen, gerade in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht zu den bevorzugten Reisezielen französischer Reisender gehörten. Und noch etwas ist hier auffällig: Sieht man von den monumentalen Forschungsreisen eines Alcide d'Orbigny durch Südamerika, dem nicht minder umfassenden Expeditionsbericht von Francis de Castelnau und der sozialpolitischen Reise von Gaspar Théodore Mollien 10 durch Kolumbien ab, so stellt man fest, daß insgesamt der Vorrang weniger dem gebirgigen Kemland als den Küsten- und Flußlandschaften gilt; außer dem großen Voyage dans les provinces de Rio de Janeiro et de Minas Geraes (1830) von Auguste de Saint-Hilaire situieren sich aber auch hier die entsprechenden Beispiele alle in der zweiten Jahrhunderthälfte, ja am Ende des Jahrhunderts, 11 und selbst in diesem Zeitraum haben sie im Bereich der Anden kaum ein Äquivalent. 12 Selbst wenn man die zweite Jahrhunderthälfte einbezieht, wäre die 'Aus8 9 10

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In bezug auf Argentinien verfügen wir freilich über die Arbeit von Susanne Santos Gómez: Bibliografia de viajeros a la Argentina. Buenos Aires 1983. DFG-Projekt "Répertoire bibliographique et thématique du récit de voyage de langue française au XIXe siècle", betreut durch Dorothee Baxmann, unter der Leitung des Verfassers. Alcide d'Orbigny: Voyage dans l'Amérique méridionale ... exécuté pendant les années 1826 ... et 1833. 9 Bde., Paris 1834-1847; Francis de Castelnau: Expédition dans les parties centrales de l'Amérique du Sud. 6 Bde., Paris 1851-1852; Gaspar Théodore Mollien: Voyage dans la République de Columbia en 1823. 2 Bde., Paris 1825. Erwähnt seien der kleine Voyage sur le Rio Parahyba (1861) des Conte de la Hure, die umfangreichen Forschungsreisen von Henri Coudreau um die Jahrhundertwende: Voyage au Rio Branco (1896), Voyage au Tapajoz (1897), Voyage au Xingu (1897), Voyage en Tocatins-Araguaya (1897); der Voyage au Rio Curua (1903) von Marie Octave Coudreau; und schließlich die Beschreibungen einer Orinoco-Expedition von Jean Chaffangean: Voyage aux sources de l'Orénoque (Paris 1888) und L'Orénoque et le Caura (Paris 1889). Eine Ausnahme bilden der Voyage dans les républiques de l'Amérique du Sud (Paris 1851) des Comte de Partiges und Sud-Amérique (Paris 1879) von Charles d'Ursel. Diese Tradition wird - von dem genannten Francis de Castelnau abgesehen - erst am Ende des Jahrhunderts von André Bellessort: La jeune Amérique (Paris 1899) wieder aufgenommen.

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beute' also nicht vergleichbar mit der langen Tradition englischer und deutscher Forschungsreisender. 13 Zu berücksichtigen ist ferner in epistemologischer Hinsicht, daß die wissenschaftliche Forschungsreise in Fortführung der älteren aufklärerischen Tradition wenig oder keinen Raum für subjektive ästhetische Wertungen läßt. Dies gilt etwa für die wegweisenden Arbeiten der bereits erwähnten Gelehrten Auguste de Saint Hilaire, Alcide d'Orbigny oder Francis de Castelnau. D'Orbigny, ein Bewunderer Humboldts und Cuviers, strebt in dem monumentalen Voyage dans l'Amérique méridionale14 von 1834 bis 1847 eine Gesamtdarstellung der Rassen, der Flora und Fauna Südamerikas an, wobei der Autor in bezug auf Brasilien auf die bereits von Saint-Hilaire, Spix und Martius und von Prinz Maximilian von Neuwied unternommenen Forschungen hinweisen kann. Besonders deutlich ist das Beispiel von Charles Darwin. The Geological Observations on the Volcanic Islands and Parts of South America, seit 1838 fortlaufend publiziert und 1846 in Buchform zusammengefaßt, stellen eine geologische Pionierleistung von betonter Präzision und Objektivität dar. Die wissenschaftliche Prosa schließt alle jene subjektiven Elemente aus, die in dem begleitenden autobiographischen Journal of Researches, dem Tagebuch der Weltumseglung, durchaus zu ihrem Recht kommen. 15

Wissenschaftlicher und ästhetischer Vergleich: Alexander von Humboldt Wissenschaftliche und pittoreske Reisetradition sind offensichtlich so weit auseinandergetreten, daß eine Vermittlung kaum noch möglich erscheint. Die aufgrund des notwendigen Aufwands primär wissenschaftlich motivierte Andenreise bleibt folglich zunächst von dem ästhetischen Paradigma ausgeschlossen, in dessen Wahrnehmungsbereich sie erst mit großer Verspätung rückt. Eine Ausnahme machen freilich bereits die Pittoresken Ansichten der 13

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Letztere sind zusammengestellt in dem nützlichen Auswahlband von Hubert Scurla: Im Banne der Anden. Reisen deutscher Forscher im 19. Jahrhundert. Berlin-Ost 1979. Zu ergänzen wären W. Sievers: Reise in der Sierra Nevada de Santa Marta (Leipzig 1897) und Ernst Röthlisberger: El Dorado (Bern 1898). Alcide d'Orbigny: Voyage dans l'Amérique méridionale (le Brésil, la République orientale de l'Uruguay, la République Argentine, La Patagonie, la République du Chili, la République de Bolivia, la République du Pérou), exécuté pendant les années 1826 . . . et 1833. Großformat, 9 Bde. Paris 1834-1847. Charles Darwin: Geological Observations on the Volcanic Islands and Parts of South America visited during the Voyage round the World of H. M. S. 'Beagle'. New York 1846; und der Tagebuch-Reisebericht unter dem Titel: Journal of Researches into the Natural History and Geology of the Countries Visited During the Voyage of H. M. S. 'Beagle'. London 1902.

Ästhetik der Anden Cordilleren und Monumente amerikanischer Völker (1810) von Alexander von Humboldt, dem als "l'exemple et le modèle des voyageurs philosophes" der Homme américain von D'Orbigny 16 gewidmet ist. Zu Recht, da Humboldt die "rohen Denkmale der Ureinwohner" und "die mahlerischen Ansichten des Gebirgslandes" im Zeichen des beide Bereiche verbindenden "Gepräge(s) der wilden Natur der Cordilleren" von Anfang an zusammensieht. 17 Daß er nicht der erste ist, der das wissenschaftliche mit dem empfindsamen frühromantischen Paradigma verbindet, zeigt das Beispiel des von Herbert Scurla an den Anfang seiner Anthologie deutscher Andenreisen gestellten Botanikers Thaddaeus Haenke, der als Teilnehmer der Expedition von Alexander Malaspina 1790 den Andenbereich zwischen Mendoza und Quito ein Jahrzehnt vor Humboldt kennenlernte. 18 Die Briefe des Autors, der das Studium der Region zu seinem Lebenswerk machte und sich 1796, ohne nach Europa zurückzukehren, bei La Paz ansiedelte, zeigen bereits ähnlich wie die Arbeiten Alexander von Humboldts - eine ganzheitliche, wissenschaftliche und ästhetische Wahrnehmung, wie sie später zumindest zum Teil problematisch wird. Durchgehender Stilzug dieser Zusammenschau ist der Vergleich, der den Anden die Funktion zukommen läßt, an europäischen Studienobjekten gewonnene Erkenntnisse und Maßstäbe zu überbieten. Aus Lima schreibt z. B. Haenke 1790 an die Eltern: "Am 17. März erreichte ich die Stadt Mendoza, schon im Angesicht der himmelansteigenden und mit ewigem Eis und Schnee bedeckten Kette der Cordillera. Da Alpenwiesen und die Flora der Alpen von jeher immer meine Lieblingsneigungen waren, so bereitete ich mich nun mit allem Ernste und mit aller Ehrfurcht vor zur Reise über die höchsten Alpen, die man unter der Sonne kennt. Wenige Menschen dürften dem Himmel so nahe kommen und die reine Lebensluft dieser Höhen atmen." 19 In der Humboldtschen Relation historique du Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continenfl0 der Reisen von 1799 bis 1804 bildet der 16

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Bd. IV 1 und 2 des oben genannten Voyage dans l'Amérique méridionale, als selbständige Publikation mit dem Titel: L'Homme américain (De l'Amérique méridionale), considéré sous ses rapports physiologiques et moraux. 2 Bde., Atlas im Großformat. Paris 1839. Alexander von Humboldt: Pittoreske Ansichten der Cordilleren und Monumente amerikanischer Völker. Tübingen 1810, Heft 1, S. 4. Scurla (Anm. 13), S. 47-79. Ebda., S. 57. Die Relation historique du Voyage aux régions équinoxiales du Noveau Continent wurde 1814 bis 1825 in drei Bänden in Paris publiziert und schildert, in klassischer Form nach Itinéraire und Tableaux de la nature et des hommes getrennt, die von 1799 bis 1804 mit Aimé Bonpland unternommene Südamerikareise. Das Werk bildet die abschließenden Bände XXVIII - XXX der Edition monumentale in folio et in quarto du voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent, fait en 1799, 1800, 1801,

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Vergleich ebenfalls das beherrschende Muster und die Grundlage auch des ästhetischen Urteils. Erst durch diese Mittel der wechselseitigen Perspektivierung wird das je Eigene bestimmbar: Teide und Vesuv im Verhältnis zum Cotopaxi und Chimborazo, der Etna als Bezugspunkt für Tungurahua und Popocatepetl, die Steppenlandschaften Eurasiens im Vergleich mit der Pampa. Gerade hier liegt aber auch das Problem. Abgesehen davon, daß die kolossalen Dimensionen den an europäischen Maßen geschulten ästhetischen Blick gleichsam überfordern ("que les sommets des montagnes très élevées présentent rarement une vue aussi belle et des effets pittoresques aussi variés que les cimes dont la hauteur n'excède pas celles du Vésuve, du Rigi et du Puy-de Dôme", Bd. I, S. 137), scheint die Schwierigkeit der ästhetischen Beschreibung überhaupt in ihrer mangelnden Differenzierungsmöglichkeit zu liegen, d. h. die angestrebte Vergleichbarkeit mit dem Ziel der besseren Unterscheidung schlägt in das Gegenteil des Immergleichen um: "Le voyage au sommet du volcan de Ténériffe n'est pas seulement intéressant à cause du grand nombre de phénomènes qui se présentent à nos recherches scientifiques; il l'est beaucoup plus encore par les beautés pittoresques qu'il offre à ceux qui sentent vivement la majesté de la nature. C'est une tâche difficile à remplir que de peindre ces sensations: elles agissent d'autant plus sur nous, qu'elles ont quelque chose de vague, produit par l'immensité de l'espace comme par la grandeur, la nouveauté et la multiplicité des objets au milieu desquels nous nous trouvons transportés. Lorsqu'un voyageur doit décrire les plus hautes cimes du globe, les cataractes des grandes rivières, les vallées tortueuses des Andes, il est exposé à fatiguer ses lecteurs par l'expression monotone de son admiration." (Bd. I, S. 137) Größe und Gewalt der Eindrücke, die ästhetische Dimension des Enthusiasmus stehen hier im umgekehrten Verhältnis zur Bildhaftigkeit. Zwar benützt der Autor den Begriff pittoresque - übrigens gerade in bezug auf Szenerien, die das 18. Jahrhundert deutlich als "sublim" eingestuft hätte; er beschränkt diese malerische Qualität aber auf die unmittelbare Ebene der sensations und bezeichnet das daraus resultierende Gefühl - nicht unähnlich der frühromantischen Ästhetik des Unbestimmten bei Chateaubriand - als "quelque chose de vague", das gerade dem eigentlichen Ziel, "d'indiquer le caractère particulier qui distingue chaque zone", "à en désigner les traits individuels, à les comparer entre eux" (Bd. I, S. 137), nicht gerecht wird. Das hier ange1802, 1803 et 1804 par Alexandre de Humboldt et Aimé Bonpland, rédigée par A. de Humboldt. Grande Edition, Paris 1807 - 1825. Zitate nach der Neuausgabe von Hanno Beck, 2 Bde. Stuttgart 1970. Vgl. auch Charles Minguet: Alexandre de Humboldt, historien et géographe de l'Amérique espagnole (1799-1804) (Travaux et Mémoires de l'Institut des hautes études de l'Amérique latine). Paris 1969.

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Ästhetik der Anden deutete vergleichende Vorgehen soll schließlich dazu dienen, "les sources des jouissances que nous offre le grand tableau de la nature" (Bd. I, S. 137) kenntlich zu machen. Die Lust der Erkenntnis erscheint dem großen Gegenstand angemessener als die "peinture des sensations". Zahlreiche Stellen des Werkes lösen diesen Anspruch auf einen aus dem Vergleich resultierenden Genuß der Erkenntnis ein. Und doch hat umgekehrt auch diese Methode ihre Probleme. "On ne compare avec justesse que ce qui tient aux dimensions et aux formes extérieures; on peut mettre en parallèle la cime colossale du MontBlanc et les montagnes de l'Himalaya, les cascades des Pyrénées et celles des Cordillères: mais ces tableaux comparatifs, utiles sous le rapport des sciences, ne font guère connoître ce qui caractérise la nature dans la zone tempérée et la zone torride. Au bord d'un lac, dans une vaste forêt, au pied de ces sommets couverts de glace éternelle, ce n'est point la grandeur physique des objets qui nous pénètre d'une secrète admiration. Ce qui parle à notre âme, ce qui nous cause des émotions si profondes et si variées, échappe à nos mesures, comme aux formes du langage. Lorsqu'on sent vivement les beautés de la nature, on craindrait d'affoiblir ces jouissances, en comparant des sites d'un caractère différent." (Bd. II, S. 67) Damit schließt sich gleichsam der Kreis der Überlegungen. Die wissenschaftliche Erkenntnis wird überholt durch die "émotions si profondes et si variées", an die die Sprache aber nicht heranreicht. Letztlich bleibt auch da, wo das unverwechselbare Erlebnis beschworen wird, der vergleichende Duktus bestimmend. Mont Blanc und Himalaya, Pyrenäen und Cordilleren - die häufigen Doppelungen betonen das bei allen Unterschieden Gemeinsame, wie ja auch die ästhetische Reflexion an dem Gemeinsamen festgemacht ist. Die Anden werden immer wieder gemeinsam mit anderen Hochgebirgen als Beispiele kosmischer Größe und der Herausforderung des Reisenden genannt. Anders in den schon genannten Pittoresken Ansichten der Cordilleren von 1810.21 Der Vergleich ist hier ebenso selbstverständlich wie dort, aber er dient jetzt eher dazu, die Einzigartigkeit, ja Unvergleichlichkeit der Anden zu betonen. Gleich zu Beginn erscheinen sie als Zusammenfassung aller anderen Formationen: "Die Anden verhalten sich zu der Gebirgskette der Hochalpen wie diese sich zu den Pyrenäen. Was ich romantisches und grandioses an den Ufern der Saveme, im nördlichen Deutschland, in den euganeischen Gebirgen, auf der Centraikette von Europa, auf dem jähen Abhang des Vulkans von

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Teneriffa gesehen habe, das Alles findet sich in den Cordilleren der neuen Welt vereinigt." (S. 5) In solcher Perspektive evozieren der Komparativ und der Superlativ die Andersartigkeit dieses Naturphänomens: "Tiefer und enger, als die Alpenund Pyrenäen-Thäler, enthalten die Thäler der Cordilleren Ansichten, die den wildesten Charakter tragen, und die Seele mit Bewunderung und Schauder füllen."(S. 13) Die religiösen Konnotationen der aufgeklärten Diskussion um die "schreckliche Schönheit" des Erhabenen klingt hier noch nach. Der Begriffsbereich des Majestätischen entspricht dieser Gestimmtheit, so etwa beim Sonnenaufgang und -Untergang in Neu-Granada, der "ein prächtiges Schauspiel" bietet und -"nur mit weit imposanteren Dimensionen" - "an die Alpenansichten in der Schweiz" erinnert. (S. 17) Den Chimborazo vergleicht der enthusiastische Betrachter mit einem "majestätischen Dom, das Werk von Michelangelo", das sich über die antiken Denkmale erhebt wie diese Vulkankette über die Gebirge Europas. Cotopaxi und Ilinissa erscheinen als "eine der majestätischsten und imposantesten Ansichten, die mir auf beiden Hemisphären vorgekommen sind". (S. 62). Gerade der Cotopaxi, mit Vesuv und Canigou verglichen, wird als vollkommene ästhetische Manifestation der Natur gefeiert: Er hat "die schönste und regelmäßigste Form unter allen colossalen Spitzen der Anden. Er ist ein vollkommener Kegel, welcher, mit einer ungeheuren Lage Schnees bedeckt, bei Sonnenuntergang in blendendem Glänze strahlt und sich auf dem azurnen Himmels-Gewölbe mahlerisch heraushebt."(S. 59) Auch hier gehen übrigens das Großartige und das Malerische eine ästhetikgeschichtlich auffällige Verbindung ein. Diese Begriffsverschiebung hindert das Adjektiv, besonders in seiner französischen Form pittoresque, aber nicht, auch im herkömmlichen Sinn die interessante, vielfältige und in die Tiefe gestaffelte, von Bergen gerahmte Landschaft zu bezeichnen. Als "eine sehr pittoreske Gegend" bezeichnet Humboldt die folgende Szenerie: "Der abgestumpfte Kegel des Tolima, der mit ewigem Schnee bedeckt ist, und durch seine Form an Cotopaxi und Cayambe erinnert, wird über einer Masse von Granitfelsen sichtbar. Der kleine Fluß Combeima, [...] schlängelt sich durch ein enges Thal, und bahnt sich seinen Weg durch ein Gebüsch von Palmbäumen. Im Hintergrund sieht man einen Teil der Stadt Ibague, das große Thal vom Magdalenenfluß und die östliche Kette der Anden. Von vorne erblickt man einen Trupp Cargueros, welche den Weg in das Gebirge nehmen." (S. 33) Die fein abgestuften Effekte, die klare Unterscheidung von Vorder-, Mittelund Hintergrund und der Einbezug auch noch der "cargueros" erinnern an italienische Landschaften der Epoche. Bildhaft malerisch in diesem Sinn ist

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Ästhetik der Anden auch der Blick von Yuga-Chungana, die "herrlichste Aussicht auf die Tiefe des Thals von Gulan" (S. 83), und geradezu idealtypisch im Hinblick auf die genannte malerische Tradition scheint die Beschreibung des Wasserfalls von Regia inmitten einer romantischen Felslandschaft. Die "Contraste der Vegetation" und "das wilde Ansehen und die Einsamkeit des Orts", urteilt der Betrachter, "machen diese Kaskade höchst mahlerisch" (S. 98). Wurden die Anden im Zeichen eines malerisch Erhabenen zunächst von Europa weggerückt, so werden sie hier, wo eine Ästhetik der Landschaft gefragt ist, offensichtlich doch wieder von den Sehgewohnheiten des romantischen Reisenden eingeholt. 22

Das Erlebnis des Unvergleichlichen: Captain J. Andrews Verglichen mit den europäischen Bergbeschreibungen sind die Andenreisen im frühen 19. Jahrhundert nicht gerade zahlreich, belegen aber ein kontinuierliches Interesse. Daß nach Humboldt zunächst zwei Jahrzehnte lang kaum nennenswerte Reisebeschreibungen zu verzeichnen sind, hängt sicher auch mit den politischen Ereignissen der Unabhängigkeitskriege zusammen, die den südamerikanischen Kontinent als Ganzes erst Mitte der 20er Jahre wieder sicher bereisbar machten. Dies gilt grosso modo auch für die Andenstaaten, auch wenn Argentinien schon 1816 und Chile 1818, deutlich vor Peru (1821) und Bolivien (1825), die Unabhängigkeit erlangten. Englische Hilfe hat dabei eine z. T. erhebliche Rolle gespielt, und so verwundert es nicht, daß die Andenreisen, auch im Zusammenhang mit anderen geographischen Zielen, zunächst von Engländern initiiert wurden, deren Reiseberichte numerisch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegenüber anderen Nationen deutlich zu überwiegen scheinen. 23 Einen Anfang macht - besonders in bezug auf den südlichen Teil des Kontinents, in der Reihenfolge der Publikationsdaten - der nordenglische Reisende Peter Schmidtmeyer mit seinen

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Auf den Spuren Humboldts erhebt Max Freiherr von Thielmann: Vier Wege durch Amerika. Leipzig 1879, in Teil III: "Ein Ritt durch die Cordilleren" den Vergleich mit den Schweizer Alpen geradezu in den Rang eines Paradigmas. An "landschaftlichem Reize und malerischer Hoheit" muß die Andenkette meist "weit hinter unseren heimischen Alpen" zurückstehen. (S. 426) Vgl. Samuel Trifilo: La Argentina vista por viajeros ingleses 1810-1860. Buenos Aires 1959. Die Geschichte der Andenroute über den Uspallata-Paß untersucht Elena Duplancic de Elgueta: Across the Andes through the Uspallata Pass (In the view of some nineteenth-century travelers). In: Space and Boundaries. Proceedings of the XHth Congress of the International Comparative Literature Association. Bd. II, München 1988, S. 378-383; ich verdanke der Autorin auch inhaltliche Anregungen.

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Travels into Chile over the Andes in the Years 1820 and 1821 (1824). Es folgen Robert Praetor (Narration of a Journey across the Cordillera of the Andes 1825), Alexander Caldcleugh (Travels in South America during the Years 1819-20-21, 1825), John Miers (Travels in Chile and La Plata, 1826) sowie Samuel Haigh mit den Sketches of Buenos Ayres and Chili (1829). Für unser Thema sind die meist pragmatisch und handelspolitisch orientierten Berichte von unterschiedlichem Interesse. Praetor etwa, "as agent to the contractor for the Peruvian loan", 24 kommt über einige Klischees ("huge mountains", "sublime heads", "fantastic rocks") zur Bezeichnung der unfruchtbaren Wildheit der Anden nicht hinaus. 25 Alexander Caldcleugh ringt sich in seinem zweibändigen Werk nur zweimal zu einer ästhetischen Wertung durch: Das chilenische Santa Rosa-Tal erscheint als "very picturesque" und der Blick von der Paßhöhe unbeschreiblich. 26 Auch die eher nüchterne, landeskundlich erschöpfende Beschreibung, die Schmidtmeyer von seiner Reise von Montevideo über Mendoza nach Chile liefert, ist in unserem Kontext nur insofern von Bedeutung, als die explizite Gegenüberstellung von Alpen und Anden und das damit verbundene ästhetische Urteil den Einfluß des ausdrücklich genannten Alexander von Humboldt 27 wahrscheinlich machen. Sind die Alpen durch qualitative Attribute wie "luxuriance", "magnificence", "majestic sublimity and expressive wilderness" 28 gekennzeichnet, mithin - wie es später heißt - dem ästhetischen Bereich von "beauty" 29 zugeordnet, so scheinen die Anden vor allem durch ihre schiere Dimension aufzufallen und ästhetisch nicht bewertbar zu sein: "not visited and crossed for the gratification of mountainous landscapes". 30 In ganz ähnlicher Weise setzt auch John Miers die ästhetische Qualität der Alpen gegen die ästhetisch nicht wertbare Quantität der Anden. Andererseits bietet die Andendurchquerung von Mendoza nach Santiago de Chile dem Bergbausachverständigen dann doch eine Gelegenheit, über pragmatische Urteile hinaus auch ästhetische Überlegungen einzuflechten, zumal hier die äußeren Umstände (die Schwangerschaft der ihn begleitenden Frau, die nachfolgende Geburt eines Kindes und die gesundheitlichen Probleme) ohnedies eine persönlichere und subjek-

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Robert Proctor: Narrative of a Journey across the Cordillera of the Andes, and of a Residence in Lima, and other parts of Peru in the Years 1823 and 1824. London 1825, S. VI. Ebda., S. 67 ff. Alexander Caldcleugh: Travels in South America, during the years 1819-20-21. 2 Bde., London 1825, Bd.II, S. 105f. Peter Schmidtmeyer: Travels into Chile over the Andes in the Years 1820 and 1821. London 1824, S. 22 und 107. Ebda., S. 53. Ebda., S. 165. Ebda., S. 54.

Ästhetik der Anden tivere Darstellung nahelegen. Die folgende Textstelle faßt geradezu paradigmatisch den genannten Kontrast zusammen: "All the objects which nature here presents to us are too close to be agreeable, and on too large a scale to suit our visual fancy; we are buried in the depth of a ravine, where even our present elevation does not relieve us from the tedious want of variety in the impending barren crags everywhere surrounding us: we look in vain for those varied outlines, the beautiful perspectives, the endless retrocession of distant objects - those charming picturesque views, which at every step call forth our admiration in the Alpine scenery of Europe. A general gloom pervades the whole; there is, in fine, nothing either to strike the fancy, or to excite any of those pleasurable associations of the romantic and the beautiful, which alone can render stupendous mountain scenery agreeable." 31 Die ästhetische Begrifflichkeit (beautiful perspectives, charming, agreeable, picturesque views, fancy usw.) spricht für sich selbst. Dabei scheint besonders charakteristisch, daß der Autor wenig später betont, "never having either travelled in mountainous countries, or had opportunities for gathering information relative to mountain formations otherwise than from books". 32 Das ästhetische Urteil entspringt mithin dem allgemeinen ästhetischen Vorwissen des gebildeten Europäers und ist selbst eminent ästhetisch vermittelt. Eine der interessantesten, zugleich politisch, naturwissenschaftlich und ästhetisch "aufgewecktesten" Begehungen der postrevolutionären Andenstaaten Argentinien, Peru, Bolivien und Chile stellt ohne Zweifel die große Rundreise von Captain J. Andrews in den Jahren 1825-26 dar. 3 3 Ähnlich wie bei den Vorgängern steht auch diese im Auftrag der Chilian and Peruvian Mining Association unternommene Enquête im Zeichen des Wettlaufs um die Ausbeutung der südamerikanischen Bodenschätze nach dem Rückzug der spanischen Krone, ist also primär an wirtschaftlichen und bergbautechnischen Bedingungen und an den Transportmöglichkeiten interessiert. Trotzdem oder gerade deshalb steht die genaue Beschreibung der Bergwelt erstmals im Mittelpunkt, und vor dem Aspekt der angestrebten Erschließung und Ausbeutung erweist sich die Widerständlichkeit der Natur als die gleichsam seitenverkehrt wahrgenommene Alterität eines unbeschreiblichen, nicht 31 32 33

John Miers: Travels in Chile and la Plata.... 2 Bde., London 1826, Bd. I, S. 298 f. Ebda., S. 306 f. Captain J. Andrews: Journey from Buenos Ayres through the Provinces of Cordova, Tucuman, and Salta, to Potosi, thence by the Deserts of Caranja to Arica, and subsequently, to Santiago de Chili and Coquimbo, undertaken on behalf of the Chilian and Peruvian Mining Association in the years 1825-26. 2 Bde., London 1827. Vgl. auch den "Prefacio" der spanischen Ausgabe Viaje de Buenos Aires a Potosi y Arica. Buenos Aires 1988, von Carlos A. Aldao.

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vereinnehmbaren Bereichs des Großartigen. Während die Natur in den einleitenden Kapiteln, die über die Anreise und den allgemeinen "moralischen" Zustand der Bevölkerung berichten, kaum existent erscheint, gerät die Andendurchquerung zu einem auch geistigen und ästhetischen Abenteuer der Begegnung mit den natürlichen Hindernissen, die sich der raschen Ausbeutung entgegenstellen. Die Gewissenhaftigkeit, mit der der Autor auch hiervon Rechnung ablegt, ist umso höher zu bewerten, als er am Ende des ersten Bandes in Salta, also unmittelbar vor dem Aufbruch in die Anden, seine Handels- und Welterfahrung sowie die Wahrhaftigkeit der Enquête geltend macht: "I trust I do not form my judgments hastily: I have seen much of trade and commerce in every part of the globe and in every climate. I was no novice, landing for the first time on the South American shore, to pioneer for a British Company, and return with a superficial glance at a few of the main objects of my mission. I gave them a rigid and impartial investigation, and state my conscientious opinions." (Bd. I, S. 312) Die Andenüberquerung von Jujuy nach Angostura läßt nicht allein die weltmännische Attitüde des britischen 'Handlungsreisenden' vergessen, sie erfüllt auch die Versicherung, sich nicht mit einem oberflächlichen Blick zufrieden zu geben, in einem anderen als dem wohl ursprünglich gemeinten Sinn. Wie von selbst wird die Reise von hier ab zum initiatischen, auf einen absoluten Höhepunkt hinstrebenden Erlebnis. Schon die ersten Tage durchkreuzen die simple Erwartung des Reisenden, "to pass an agreeable day" (Bd. II, S. 34). Stattdessen evozieren die Signale des Gewaltigen - "a huge bowl of vast circumference", "snow-capped mountain ridges of amazing elevation", "impetuous torrents", deren "turbid and angry violence" "occasioned a giddy sensation, by no means pleasant" (Bd. II, S. 34) - eine Perspektive sprachloser Überwältigung, die (wie schon gesagt) dem rationalen Projekt der Naturausbeutung und -beschreibung zuwiderläuft: "The sight was overwhelmed with astonishment at these stupendous excavations. No language is adequate to describe the mighty magnificence of their conformation, nor its effect upon the mind." (Bd. II, S. 35) Der Reisebericht imitiert so, sicher ungewollt, den Duktus der Jenseitsreise: "We seemed again locked up from the world, in a gulph from which there was no escape; above us the cloudless heaven as before; around the sky concave sides of the hollow, and over its edge above the peaks of the eternal mountains." (Bd. II, S. 36) Die Fremdheit von "a few scanty Indians, miserable enough in their appearance" (Bd. II, S. 37) und bar jeder pittoresken Verklärung sorgt zugleich

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Ästhetik der Anden dafür, daß das Erlebnis des enormous nicht durch ästhetisierende Tendenzen geglättet wird, wohl aber läßt eine ungewöhnliche Nähe zur Natur, wie z.B. zu einer Herde von scheuen Guanacos, umgekehrt die bisherige Distanz schwinden. Das Erreichen des Passes des Abra de las Cortaderas, "probably the highest mountain between the Cumbre of Chili, and the Chimborazo of Quito" (Bd. II, S. 42), bezeichnet den eigentlichen Höhepunkt einer Expedition, die in Potosí scheinbar nur widerwillig auf den ursprünglichen Auftrag zurückkommen wird. Und selbst hier gestattet sich der Autor einen ästhetischen Seitenblick: "Leaving out the question [der mit Potosí verbundenen moralischen Schuld] its conformation, the numerous metalliferous hints, with which the cone is patched and coloured, green, orange, yellow, gray and rose colour [...] are singular and beautiful in effect." (Bd. II, S. 113) Die Wanderung klingt aus mit dem erneuten Erlebnis der Überwältigung, in dem die Zeit still zu stehen scheint. Beim plötzlichen Anblick des Pazifischen Ozeans schreibt der Autor: "I got off my mule to enjoy this glorious, this stupendous scene of grandeur. Never was a mightier mountain view presented anywhere else to the human eye. It was a picture to be gazed upon in silence, for language would have ill broken in upon the deep admiration in which I felt absorbed. [...] I gazed upon those blue rolling waters that compass so much of the globe [...] and never shall I forget the impression made by the picture on my senses." (Bd. II, S. 156) Nur an dieser Stelle gestattet sich der europäische Betrachter einen Vergleich, der zugleich die Unvergleichbarkeit des Anblicks indiziert: "The table land far below us was probably as hight above the sea as the lofty Pyrenean chain of mountains in Europe, and upon that we looked as if it were a valley far below." (Bd. II, S. 156) Das Motiv der entrückten Betrachtung des endlich nahen Zieles von oben trägt die Konnotationen einer langen literarischen Tradition der Reise nach dem gelobten Land. Implizit schwingt, so scheint es, auch eine geschichtsphilosophische Bedeutung mit, die an den ursprünglich pragmatischen Kontext anknüpft. Der liberalromantische Autor, der in Potosí emphatisch an die Greuel der spanischen Unterdrückung erinnert - "hills that will mark to posterity the labours achieved by a horrible system of oppression, which can never again recur" (Bd. II, S. 112) - und seine Reiseenquete der postrevolutionären Andenrepubliken mit einem "Summary of the progress of the South American Revolution" (Bd. II, Kap. IX, S. 248 ff.) beschließt, begreift sich und seine Nation als Mitbegründer der neuen Ordnung nach der Befreiung von den Spaniern, "the Goths of Europe" (Bd. I, S. 97). Offensichtlich erscheint die in Aussicht gestellte Ausbeutung der Bodenschätze im

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Sinne besonders auch britischer Handelsinteressen als positiver Ausdruck eines neuen friedlichen Zeitalters. Kein Bruch ist zwischen den militärischen Hilfeleistungen Englands und seiner zukünftigen handelspolitischen und wirtschaftlichen Rolle zu erkennen: "It is no small glory to England to see her sons thus distinguishing themselves in all parts of the world, honourably, bravely and blamelessly, in the great and glorious cause of liberty." (Bd. II, S. 272) Und es scheint ebenfalls, als ob eine tiefere Analogie den historischen Bereich des "Großen" und "Ruhmreichen" mit der naturhaften Größe des Landes verbinde. Der Zeuge und Helfer der geschichtsphilosophisch interpretierten, revolutionären Umwälzungen mag die Durchmessung des Kontinents von Ost nach West und die Überwindung der gewaltigen Andenkette unbewußt als kongeniales geistiges Abenteuer der moralischen Inbesitznahme begriffen haben. Eine Parallele ist nämlich auch insofern gegeben, als die Ordnung der Natur auffallend häufig als Ergebnis urgeschichtlicher geologischer Veränderungen erscheint. Der geologisch sicher nur oberflächlich informierte, aber offensichtlich leidenschaftlich interessierte Captain gibt hier seinem Hang zu erdgeschichtlichen Träumereien nach. Die geschilderte Initiation ist denn auch weniger religiös als gleichsam erdgeschichtlich motiviert und spiegelt so eine zentrale Richtung der damals aktuellen erdkundlichen Forschung wider. Das Gewaltige und Erhabene - der Autor benützt das religiös konnotierte Attribut "sublime" übrigens nicht - erscheint immer auch als Ergebnis naturhafter Kräfte und Veränderungen. Nicht eine statische, ästhetisch valorisierbare Szenerie, sondern die zur Anschauung gebrachte Dynamik immanenter erdgeschichtlicher Dynamik prägt daher die Wahrnehmungsweise auch da, wo der Autor eigenes Nichtwissen eingestehen muß: "how and when these were formed, let the geologist tell" (Bd. II, S. 36). In dieser Perspektive ist es nur folgerichtig, wenn der Reisebericht als solcher - nach dem symbolischen Blick auf den Ozean - in die "speculative thoughts" über "geological appearances" übergeht: "In the course of my route it would appear strange if the numerous singular appearances of the earth in so long a journey, and over such a variety of surface, should not have struck me. Though unable to arrange them in their scientific places, or to speak of them in proper language, many changes which I saw had taken place in the matter of the earth, did not fail to strike me with wonder." (Bd. II, S. 164) Dementsprechend stellt der Autor vor allem Fragen ("If the earth arose from the ocean, what was the agency that affected so stupendous a resurrection?" [Bd. II, S. 167]) und schreckt auch nicht vor "conjectures" zurück, die so etwas wie eine laienhaft träumerische "fanciful speculation"

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Ästhetik der Anden (Bd. II, S. 169) in ihr Recht setzen. Gerade noch rechtzeitig vor der kursorischen Beschreibung der Rückreise nach Chile hält er dann inne: "But I must conclude, lest I lose myself in a maze of wild conjecture." (Bd. II, S. 170) Die Querung der Anden ist mithin mehr als nur eine Episode. Sie ist eine Art geistiger Mittelpunkt, die den scheinbar pragmatisch reisenden Vertreter der Chilean and Peruvian Mining Association in die geschichtsphilosophische und erdgeschichtlich-kosmologische Dimension eindringen läßt. Das Erlebnis der Höhe wird zum Katalysator für die Träumerei weit- und erdgeschichtlicher Tiefe. Es generiert in scheinbar paradoxer Weise zugleich das Überlegenheitsgefühl und die demütige Selbstvergessenheit des postrevolutionären Reisenden, der ja eigentlich anderes im Sinn hat und haben sollte, als über das Menschsein nachzusinnen: "I have often thought that short as the life of man is, one need not be surprised that changes on the earth's surface pass unobserved, and that the continued working of the system of nature, may not be seen from the slowness of its operations." (Bd. II, S. 167) Die Anden fungieren als jenes Andere, das die geschichtlich-kosmische Stellung des Ich ins Bewußtsein bringt und eine - durchaus noch romantisch geprägte - Form der Naturfrömmigkeit bewirkt. Nicht anders, wenngleich deutlich verhaltener, reagiert schließlich auch Charles Darwin, wenn er bei Quillota das ästhetische Vergnügen durch die geologische Meditation verstärkt: "The pleasure from the scenery, in itself beautiful, was heightened by the many reflections which arose from the mere view of the Campana range [...]. Who can avoid wondering at the force which has upheaved these mountains, and even more so at the countless ages which it must have required to have broken through, removed and levelled whole masses of them?"34

Der Dialog mit dem Erhabenen: Eduard Poeppig Nur wenig später beginnt mit Eduard Poeppigs Reise in Chile, Peru und auf dem Amazonenstrome35 die Reihe der glänzenden, geologisch und naturkundlich ausgerichteten Expeditionen deutscher Gelehrter, die an die naturwissenschaftliche Humboldtsche Tradition anknüpfen: Die Anden stehen von

34 35

Darwin (Anm. 15), S. 259. Eduard Poeppig: Reise in Chile, Peru und auf dem Amazonenstrome, während der Jahre 1827-1832. 2 Bde., Leipzig 1835 -1836, Neudruck Stuttgart 1960 (2 Bde. in einem Bd.); Zitate nach dieser Ausgabe. Gekürzte Ausgabe, hg. von Dieter Kühn, Frankfurt am Main 1975 (mit einem ausführlichen Nachwort).

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jetzt an im Mittelpunkt des Interesses. Der Reisebericht von Poeppig von 1835/36 enthält die Exkursionen in die chilenischen Anden, zunächst in die Gegend des Río de Aconcagua, 1827 bis 1828, und die Erkundung des araukanischen Antuco vom Herbst 1828 bis Mai 1829 sowie die Exkursion vom peruanischen Küstenort Callao nach Huanuco 1829 vor der Rückreise über den Amazonas zur Atlantikküste im Mai 1830. In der "Vorrede" betont Poeppig, erstmals - auch als Deutscher - eine längere Reise "in rein wissenschaftlicher Absicht" (S. V) auszuwerten und sich dabei nicht auf flüchtige Eindrücke zu verlassen. Anders als bei den an wirtschaftlichen und bevölkerungspsychologischen Daten interessierten englischen Reisenden verweist so das "naturgeschichtliche Interesse" (S. VI) zeitgeschichtliche Beobachtungen an den zweiten Platz, wobei besonders die Gegenden locken, "die zum Theil noch unbekannt, oder doch nie von einem wissenschaftlich gebildeten Europäer besucht worden waren" (S. VI). Anders aber auch als die Berichte der Geologen und Naturkundler der zweiten Jahrhunderthälfte, die das Vorbild Humboldts explizit überholt haben - Reise durch die Wüste Atacama (1860) von Rudolph Amandus Philippi, Reise durch die La Plata-Staaten (1861) von Hermann Burmeister, Reisebericht aus Südamerika 1868-1876 von Wilhelm Reiss, Die Vulkanberge von Ecuador (1897) von Alphons Stübel -, verbindet die Prosa Poeppigs noch wie selbstverständlich die wissenschaftliche Zielsetzung mit emotionaler Ergriffenheit und mit ästhetischer Empfindung; das Beispiel Humboldts bleibt verbindlich. Die Fahrt auf die südliche Halbkugel erscheint auch als existentielles Erlebnis, und "fast will es dem Reisenden dünken als trete er mit dem Eintritt in eine neue Welt auch in ein neues Leben, als könne ihm die verlassene Welthälfte nur noch in der Erinnerung etwas sein." (Bd. II, S. 12) Der Abschied von dieser neuen Welt wird später als "Trennung von AMERIKA, dem Wunderlande" (Bd. II, S. 448) gewertet werden. Als Leitmotiv dieser betonten Andersheit kann das Attribut "majestätisch" gelten, das bereits die erste Begegnung mit der chilenischen Küste (Bd. I, S. 34) prägt und bei Poeppig der eigentliche Ausdruck des "grossartigen Prozesses) der Natur" (Bd. I, S. 88) ist. Letztere ist daher nicht nur Gegenstand wissenschaftlicher Neugier, sondern darüber hinaus die wirkliche Protagonistin einer dialogähnlichen Begegnung, deren abenteuerliche Episoden immer auch eine tiefere Ergriffenheit andeuten. Nüchterne, anschauliche Wegbeschreibung und existentielles Lebensgefühl schließen sich in dieser noch romantischen Naturbetrachtung nicht aus. Die Anden stellen gleichsam das Paradigma der "ausserordentlich grossartigfen] Eindrücke" (Bd. I, S. 176) dar; jede Annäherung an die "Riesengipfel" (Bd. I, S. 179) gerät zur Extremerfahrung: "Man fühlt sich fast unheimlich, wenn man an den ausserordentlichen Aufwand von Kraft denkt, welcher erfordert wurde um solche

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Ästhetik der Anden Berge in der Mitte zu spalten [...], - man erschrickt im Gefühl der eigenen Wehrlosigkeit, wenn die Phantasie sich das Bild von den furchtbaren Aeusserungen entfesselter Naturkräfte hinmalt, die einst wirkten, und in demselben Augenblick von Neuem zu wirken vermögen", notiert Poeppig am chilenischen Rio Colorado (Bd. I, S. 238). Die Leblosigkeit der Hochanden, deren Stille "tief, fast schaurig" (Bd. I, S. 240) wirkt; die "Nachtfeier, die so wenig mit der Prosa des europäischen Lebens gemein hatte" (Bd. I, S.240), entsprechen dem "unendlich erhabenen und ernsten Charakter, der überall in den höheren Anden vorwaltet": "Die Natur gefällt [...] nur in einer starren, oft in einer furchteinflössenden Majestät, und sie verschmäht es zu lächeln, auch wenn sie nicht droht." (Bd. I, S. 241) Das Erhabene bedeutet ähnlich wie in der ästhetischen Theorie des Aufklärungszeitalters den Verlust der Vergleichbarkeit: "Hier ist nun jeder Masstab verloren, denn kein Baum von bekannter Höhe, kein Werk der Menschenhand dient mehr zur Vergleichung und zur richtigen Schätzung der Grössen. Das Auge irrt auf unbeschreibliche Weise, und unterschätzt Alles in dieser gigantischen Natur." (Bd. I, S. 243) Die Besteigung der Cumbre vollendet dieses Gefühl eines unbeschreiblichen Anderswo: "Ein leiser Wind wehte als geisterhaft lautloser Strom über die Schneide des Gebirgs, und nirgends entdeckte der Blick ein lebendes Wesen. Unbeschreiblich sind die Gefühle, die wohl Jeden ergreifen müssen, der unter gleichen Umständen allein diese Höhen erstieg." (Bd. I, S. 244) Die "starre Majestät" der Berge negiert alles Menschliche, erzeugt ein "unheimliches" Gefühl des "Grauens" und läßt das Ich "unbeschreiblich vereinzelt, hülflos und arm in der Mitte dieser riesigen Schöpfung" zurück, "zwischen welcher der Mensch verschwindet" (Bd. I, S. 245). Selbstverständlich ist dann, wie der Autor in einem anschließenden Kommentar erläutert, "der Charakter der Anden [...] in hohem Grade von dem verschieden, den wohl jeder nach kurzem Besuche als den bezeichnenden der Alpen der Schweiz und Tyrols erkennt" (Bd. I, S. 245): "Grauenhafte Einöde, völlige Nacktheit der unermeßlichen Felswände, ein riesiger Massstab, der nirgends zu verkennen ist", "in endloser Gleichförmigkeit und Kahlheit sich ausdehnende Bergwände" und "eine furchteinflößende Wildnis" - all diese Charakteristika lassen das ursprüngliche, europäisch geprägte Paradigma des Erhabenen zur "ausserordentliche(n) Mannichfaltigkeit" pittoresker Vielfalt und Lebensnähe schrumpfen, deren idyllisches Stereotyp mit saftigen Triften, Sennhirten und Abendglocken der Autor als Inbegriff geschichtlich geformter

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Landschaft dem erschreckenden "Grossartigen" (Bd. I, S. 246) der reinen Natur entgegenhält. Der bereits touristisch erschlossene und fast zu Klischeebildern erstarrte Bereich des Erhabenen europäischer Couleur verblaßt also vor der Erhabenheit einer noch unerschlossenen Bergwelt, die eben darum auch den adäquaten Gegenstand der wissenschaftlichen Neugier des Forschers bildet. Das Unendliche und Extreme, die Wildheit und Grausamkeit dieser Natur sind die Attribute einer Extremerfahrung, die zugleich religiöse Konnotationen trägt, denn "nach jedem neuen Besuche trennt man sich mit neuem Schmerz von diesen Höhen, wo die Berührung mit irdischen Verhältnissen und dem Treiben der Alltäglichkeit zu schwinden scheint", und "heilig bleibt das Andenken an jene Natur, wie ein Traum aus besserer Zeit, wenn Meere den Heimgekehrten auf immer von ihr trennen." (Bd. I, S. 371) Häufig versagt der ästhetische Begriff eines dem Malerischen angenäherten Schönen angesichts der "ungewohnten" und "unheimlichen" Aspekte einer alle bekannten Dimensionen sprengenden Natur, wie sie z. B. in dem schwarzen Licht am Cerro del Pasco zum Ausdruck kommt. (Bd. II, S. 64f.) In ähnlicher Weise stellt z. B. auch Darwin rückblickend fest, daß "the views from lofty mountains, though certainly in one sense not beautiful, are very memorable. When looking down from the highest crest of the Cordillera, the mind, undisturbed by minute details, was filled with the stupendous dimensions of the surrounding masses." 36 Und folgerichtig muß der britische Naturforscher daher ebenso wie Poeppig die malerische Qualität mit Europa verbinden, denn "the picturesque beauty of many parts of Europe exceeds anything which we b e h e l d . " 3 7 Sublime und monotonous liegen also eng beeinander. So wird auch für Poeppig die Extremerfahrung des Sublimen nur da ästhetisch gemildert, wo die gefahrlose Kontemplation in einer Abendstimmung etwa, in der die Bergketten "so vielfältig leuchten wie die Alpen Europas" (Bd. II, S. 65), möglich ist. Die Lage eines malerischen Dorfes an der hohen Wand des Pico de Pilque bei Antuco erscheint als "ausserordentliches Bild", das dem botanischen Sammler "an hellen Sommermorgen botanischer Streifereien" einen "unbeschreiblichen Genuß" beschert. Gegen Abend wird der Reisende Zeuge eines "Alpenglühens" "mit ungewohnter Pracht" (Bd. I, S. 365), und den nächtlichen Feuerregen des Vulkans empfindet der Betrachter als "wahrhaft magisches Schauspiel" (Bd. I, S. 365). "Wenn aber gleichzeitig leichte Wolken über die Spitze ziehen, entwickelt sich ein Schauspiel, das Niemand je mit Worten zu beschreiben unternehmen möge, und das den grössten Meister aller Maler zur Verzweiflung 36 37

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Darwin (Anm. 15), S. 508 f. Ebda, S. 507.

Ästhetik der Anden bringen müsste, denn was irgend das Licht des Mondes, des wiederglänzenden Schnees, des vulcanischen Feuers und der Abendsonne einzeln Grossartiges hervorzubringen vermögen, vereinigt sich hier zu einem Ganzen." (Bd. I, S. 366) Aber noch ein anderer, abschließender Aspekt verdient hier hervorgehoben zu werden. Ungeachtet des bisher Gesagten kann der Reisebericht Poeppigs insgesamt nämlich in seiner beschreibenden Tendenz als zutiefst malerisch bezeichnet werden. Die naturwissenschaftliche Deskription ist nicht nur beherrschend, sie wird auch ständig - sei es durch wertende Attribute, sei es durch das kontemplative Innehalten des Betrachters - mit der subjektiven Erlebnisperspektive verbunden und gerinnt nicht selten zum ästhetisch aufgewerteten Tableau. Es genügt, die eindrucksvollen Kupferstiche im Anhang des zweiten Bandes zu betrachten, um sich der malerischen Qualität des Werkes bewußt zu werden. Diese malerische Qualität der naturkundlichen Prosa autonomisiert aber auch gleichsam, jedenfalls im Bereich der Anden, jene als "herrlich" oder "heilig" begriffene Natur, die - wie schon bereits erwähnt - für historische und soziale Zusammenhänge nurmehr relativ wenig Raum läßt. Über den Umgang der wissenschaftlichen Neugier vollzieht sich - nicht unähnlich der wirtschaftlichen Enquête von Captain Andrew die Ablösung des landschaftlichen Hintergrunds von dem Vordergrund des fremden Lebens, das eigentlich im Zentrum des romantischen Reiseberichts steht und die essentielle Einheit des Paradigmas von "Land und Leuten" in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begründet. 38 Die Unvergleichlichkeit der Natur fungiert als Vektor autonomer Betrachtung, die unschwer auch mit ästhetischen Autonomietendenzen in Übereinstimmung zu bringen wäre. Das "Wunderland Amerika", von dem am Schluß nostalgisch-liebevoll die Rede ist (Bd. II, S. 448), bezeichnet eben jenen "Traum aus besserer Zeit", der die Verschmelzung des naturkundlichen Interesses mit subjektiv utopischen Komponenten anzeigt und die Anden zur Metapher des Absoluten macht. Die ganzheitliche, auf die Aufklärung zurückgehende Naturbetrachtung eines Humboldt oder D'Orbigny ist damit im Prinzip überholt. Alcide d'Orbigny hatte Buch IV des eingangs genannten Voyage dans l'Amérique méridionale dem Homme américain, considéré sous ses rapports physiologiques et moraux gewidmet und so - als Pionier der Ethnologie und in der Nachfolge Humboldts - Mensch und Natur in einen ursächlichen Bedingungszusammenhang gebracht. Hand in Hand mit dieser Tendenz geht die Aufwertung der Ureinwohner: "L'Américain n'est privé d'aucune des facultés que possèdent les autres peuples; il ne lui manque que l'occasion de les 38

Hierzu Friedrich Wolfzettel: Ce désir de vagabondage cosmopolite. Wege und Entwicklung des französischen Reiseberichts im 19. Jahrhundert. Tübingen 1986, S. 147 ff.

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développer." 39 Der Naturenthusiasmus Poeppigs scheint demgegenüber durch eine allgemein soziale Perspektive nurmehr mühsam einholbar. Die Einheit von "Land und Leuten" zerbricht zugunsten eines Erlebnishorizonts, der virtuell ein Land ohne Leute, eine autonom gewordene und als solche genießbare Natur privilegiert. Die begeisterte Beschreibung der Pflanzenwelt in der Gegend des Hulluaga in einer fast hymnischen und gleichwohl wissenschaftlich kontrollierten Sprache kann als charakteristisch für diese Tendenz gewertet werden, die "Bilder des amerikanischen Lebens" (Bd. II, S. 180) mit der "Kraft des vegetativen Lebens" (Bd. II, S. 193) und der amerikanischen Natur insgesamt weitgehend gleichzusetzen. Ewige Natur und geschichtliche Verhältnisse (die z. T. durchaus kritisch gesehen werden) rücken so notwendig auseinander.

Religiöse Initiation und Selbstlegitimierung: Flora Tristan Die genannte Dichotomie führt uns abschließend kurz zu einem der erstaunlichsten und originellsten Reiseberichte des 19. Jahrhunderts, politisch-soziale Enquête, pikaresker Roman, Autobiographie und Protokoll weiblicher Bewußtwerdung in einem: den 1838 publizierten Pérégrinations d'une paria von Flora Tristan. 40 Der Bericht einer beinahe abenteuerlichen Reise nach Peru markiert den Anfang eines erst heute allmählich richtig eingeschätzten literarischen und sozialkritischen Apostolats, das sich in der Darstellung der moralischen, institutionellen und politischen Defizite des Landes andeutet. 41 Dementsprechend liegt der Akzent der Pérégrinations trotz der starken subjektiv sentimentalen und autobiographischen Aspekte zweifellos auf der landeskundlichen Enquête, die sich fast gegen den Willen der Autorin aus den frustrierten privaten Hoffnungen - es geht um das väterliche Erbe - zu ergeben scheint. Umso auffälliger ist das Moment subjektiver Naturbegeisterung in der Schilderung des Hinwegs nach Arequipa, das kurzfristig als verheißenes Land, jenseits des ersten Bergriegels der Anden von Callao kommend, die Struktur einer alsbald frustrierten bzw. negativierten initiatischen 39 40

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Alcide d'Orbigny: L'Homme américain (De l'Amérique méridionale), considéré sous ses rapports physiologiques et moraux. Bd. I, Paris 1839, S. 169. Flora Tristan: Pérégrinations d'une paria (1833-1834). 2 Bde. Paris 1838. Zur Wiiidigung dieses Reiseberichts siehe auch das Vorwort meiner Übersetzung: Meine Reise nach Peru. Frankfurt am Main 1985. Zum 'weiblichen' Aspekt vgl. Ute Kampmann: Frauen auf Reisen. Zur Reiseliteratur von Frauen. In: Corvey Journal, Bd. 3, 1991, S. 8-24. Zur Funktion der Perureise für die soziale Bewußtwerdung der Autorin siehe Dominique Desanti: Flora Tristan, la femme révoltée. Paris 1972.

Ästhetik der Anden Annäherung indiziert und den Anden damit zumindest marginal eine funktionale Rolle zuweist. Aus dem Gegensatz zwischen Anreise und Aufenthalt, romantischer Sehnsucht und kritischer Desillusion erwächst aber auch mit äußerster Schärfe die Dissoziation von noch romantischer Naturverehrung und gesellschaftlicher Analyse, ein Phänomen, wie es ähnlich, freilich mit geringerer existentieller Relevanz, in dem Voyage à Majorque von George Sand zu beobachten ist. Zwischen der Erhabenheit der Natur und den Formen der Gesellschaft scheint kein gemeinsamer Nenner mehr möglich. Ein verbindendes Element bildet zwar auf den ersten Blick der Motivbereich der Mühe und des Leidens, aber auch hier ist der Unterschied zwischen gesellschaftlicher Bedrückung und den durch die Natur auferlegten Entbehrungen nur zu offensichtlich. Die Überquerung des Vorgebirges bei Islay ist nach einem symbolischen Rhythmus gegliedert, der zweimal die mit Konnotationen des Todes emphatisch unterstrichene Entbehrung in die visionäre Anschauung der Berge münden läßt. Auf den erstickenden Aufstieg durch die aufgeheizten, wüsten Schluchten folgt der Panoramablick über die verschneiten Kordilleren und die drei Vulkane von Arequipa, "ce magnifique spectacle", das die Reisenden alle Leiden vergessen läßt und als Annäherung an das Absolute, als "divin séjour" "sur ces marchepieds des cieux" (S. 238), ja als mystische Vereinigung der Seele mit Gott ("mon âme s'unissait à Dieu dans ses élans d'amour", S. 239) empfunden wird. Die Querung einer wüstenähnlichen "terre de désolation [...] jonchée des squelettes d'animaux morts de faim et de soif (S. 250) bildet die zweite Phase der Extremerfahrung "à la merci de la Providence" (S. 251) und führt bis an den Rand einer todesähnlichen Erschöpfung: "Je me résignais à quitter cette vie. J'étais anéantie, fixée à la tombe, je ne pouvais plus bouger." (S. 256) Auf das Erwachen aus diesem symbolischen Tod folgt der Anblick des von Bergen gerahmten "riant vallon" (S. 257), das zunächst die Nähe des gelobten Landes signalisiert. Tod und Erweckung bezeichnen den Doppelweg einer Regeneration, in der sich die Reisende als religiös legitimiertes Opfer der göttlichen Vorsehung begreift, "cette sublime manifestation de Dieu", in der "Dieu se manifestait à moi dans toute sa puissance." (S. 239) Nicht zufällig fällt der Vergleich mit Moses auf dem Berge Horeb, womit der Aufstieg in die Anden dem prophetischen Begriffsbereich der Sozialromantik untergeordnet wird. In gewisser Weise wird dann Arequipa, "placée au milieu d'un tout petit vallon d'une ravissante beauté" (S. 350) zur anschaulichen Metapher der Inkongruenz von Naturgröße und gesellschaftlicher Unzulänglichkeit: "au Pérou, on est trop occupé d'intrigues de toute espèce pour aimer le séjour de la campagne." (S. 351) Die Beschreibung der drei Vulkane, welche die Stadt wie die Finger Gottes rahmen, evoziert denn auch die nicht eingelöste Spi-

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Friedrich Wolfzettel ritualität, die hier im Ausgang der Romantik noch einmal, vielleicht das letzte Mal, die vertikale Dimension "d'une autre nature" (S. 351) am Beispiel der Anden zugleich religiös und ästhetisch funktionalisiert. Dem Erlebnis des "infini" im Blick von oben korrespondiert jetzt der vertikale Blick von unten. Der Dreiklang dieses Vulkans war Flora Tristan schon beim erstenmal als "immense flambeau à trois branches qui s'allume pour de mystérieuses solemnités" und als "symbole d'une trinité qui passe notre intelligence" (S. 239) erschienen. Jetzt - nach der ersten Eingewöhnungsphase werden die Vulkane zusätzlich zum Symbol der Inkongruenz zwischen Natur und Gesellschaft; als unerreichbare Bilder der Spiritualität evozieren sie die nicht mehr einholbare Dimension des Erhabenen angesichts des lächerlich empfundenen Vordergrundgeschehens. "Cette masse aérienne de toutes nuances, posée sur ce cône d'une seule teinte, ce géant qui cache dans les nues sa tête menaçante, est un des plus magnifiques spectacles que la terre offre à l'œil de l'homme." (S. 352) 42 Gerade die Isoliertheit der Naturbeschreibung innerhalb des Reiseberichts wird so zum Indiz der Störung. Die Emphase der religiös-ästhetischen Darstellung der Anden übertrifft alle bisherigen Beispiele, und sie bleibt doch letztlich funktions-, weil folgenlos für das Verständnis des besuchten Landes. Die Begegnung der spätromantischen Reisenden mit dem Absoluten ist ungeachtet der symbolischen Kontrastfunktion auf solipsistische Ergriffenheit zurückgeworfen.

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Aufschlußreich ist ein Vergleich mit der nüchternen Schilderung derselben Szenerie bei Francis de Castelnau: "Parvenu à une plate-forme élevée, nous pûmes admirer à notre aise le magnifique effect que produit le cône neigeux de l'Aréquipa en se détachant de son noir horizon; autour de ce coin s'étendait une chaîne de volcans qui semblaient avoir été placés par la nature pour servir d'escorte à cette montagne gigantesque." (Expédition dans les parties centrales de l'Amérique du Sud, de Rio de Janeiro à Lima, et de Lima au Para, exécutée par ordre du Gouvernement français pendant les années 1843 à 1847. 6 Bde., Paris 1851 - 1852, hier Band 3, 1851, S. 441). Die genannte Stelle ist eine der ganz wenigen, in denen sich der Autor überhaupt zu wertenden Urteilen hinreißen läßt.

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Ausgewertete Reiseberichte Alexandre de Humboldt: Relation historique du Voyage aux Régions équinoxales du Nouveau Continent, fait en 1799, 1800, 1801, 1802, 1803, et 1804. 3 Bde., Paris 1814-1825 (Neudruck Stuttgart 1970) Peter Schmidtmeyer: Travels into Chile over the Andes, in the Years 1820 and 1821. London 1824 Gaspar Théodore Mollien: Voyage dans la République de Columbia en 1823. 2 Bde., Paris 1824 Robert Proctor: Narrative of a Journey across the Cordillera of the Andes, and of a Residence in Lima, and other parts of Peru in the Years 1823 and 1824. London 1825 Alexander Caldcleugh: Travels in South America, during the Years 181920-21. 2 Bde., London 1825 John Miers: Travels in Chile and La Plata... 2 Bde., London 1826 Captain J. Andrews: Journey from Buenos Ayres through the Provinces of Cordova, Tucuman, and Salta, to Potosi, thence by the Deserts of Caranja to Arica, and subsequently, to Santiago de Chili and Coquimbo, undertaken on behalf of the Chilian and Peruvian Mining Association in the years 1825-26. 2 Bde., London 1827 Samuel Haigh: Sketches of Buenos Ayres and Chili. London 1829 Auguste de Saint-Hilaire: Voyages dans les provinces de Rio de Janeiro et de Minas Geraes. 2 Bde., Paris 1830 Alcide d'Orbigny: Voyage dans l'Amérique méridionale (le Brésil, la République orientale de l'Uruguay, la République Argentine, La Patagonie, la République du Chili, la République de Bolivia, la République du Pérou), exécuté pendant les années 1826 ... et 1833. 9 Bde., Paris 18341847 Eduard Poeppig: Reise in Chile, Peru und auf dem Amazonenstrome, während der Jahre 1827-1832. 2 Bde., Leipzig 1835-1836 (Nachdruck Stuttgart 1960) Flora Tristan: Pérégrinations d'une paria (1833-1834). 2 Bde., Paris 1838 Charles Darwin: Geological Observations on the Volcanic Islands and Parts of South America visited during the Voyage of H. M. S. 'Beagle'. New York 1896 [1846]

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Ders.: Journal of Researches into the Natural History and Geology of the Countries visited during the Voyage Round the World of H. M. S. 'Beagle'. London 1902 Francis de Castelnau: Expédition dans les parties centrales de l'Amérique du Sud, de Rio de Janeiro à Lima, et de Lima au Para, exécutée par ordre du gouvernement français pendant les années 1843 à 1847. 6 Bde., Paris 1850-51 E.-G., Comte de Partiges: Voyage dans les Républiques de l'Amérique du Sud. Paris 1851 Rudolph Amandus Philippi: Reise durch die Wüste Atacama auf Befehl der chilenischen Regierung im Sommer 1853-54 unternommen und beschrieben. Halle 1860 Hermann Burmeister: Reise durch die La Plata-Staaten mit besonderer Rücksicht auf die physische Beschaffenheit und den Culturzustand der Argentinischen Republik. Ausgeführt in den Jahren 1857, 1858, 1859 und 1860. 2 Bde., Halle 1861 V. L. Baril, Comte de La Hure: Voyage sur le Rio Parahyba. Douai 1861 Charles Comte d'Ursel: Sudamérique. Paris 1879 Freiherr Max von Thielmann: Vier Wege durch Amerika. Leipzig 1879 Jean Chaffangean: Voyage aux sources de l'Orénoque. Paris 1888 Ders.: L'Orénoque et le Caura, relation de voyages exécutés en 1886 et 1887. Paris 1889 Henri A. Coudreau: Voyage au Rio Branco. Rouen 1886 Ders.: Voyage au Tapajoz. Paris 1897 Ders.: Voyage au Xingu. Paris 1897 Ders.: Voyage en Tocatins-Araguaya. Paris 1897 Marie Octave Coudreau: Voyage au Rio Curua. Paris 1903 W. Sievers: Reise in der Sierra Nevada de Santa Marta. Leipzig 1897 Alphons Stübel: Die Vulkanberge von Ecuador. Berlin 1897 Ernst Röthlisberger: El Dorado. Reise- und Kulturbilder aus dem südamerikanischen Columbien. Bern 1898 André Bellessort: La jeune Amérique. Chili et Bolivie. Paris 1899

262

Ästhetik der Anden Wilhelm Reiss: Reisebriefe aus Südamerika 1868-1876. Aus dem Nachlasse herausgegeben und bearbeitet von Karl Heinrich Dietzel. München und Leipzig 1921 Thaddaeus Haenke: Briefe. Abgedruckt bei Josef Kühnel: Thaddaeus Haenke, Leben und Wirken eines Forschers. München 1960.

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FRIEDRICH VON K R O S I G K

Panama im Spiegel der Reiseliteratur: 1821-1869 Einleitung Von der "Wiederentdeckung" Panamas im frühen 19. Jahrhundert zu sprechen, ist nicht unproblematisch. Dank seiner geographischen Sonderstellung als Brücke und Durchgangsstation zwischen dem atlantischen und dem pazifischen Amerika ist der Isthmus zu allen Zeiten - unter spanischer wie unter kolumbianischer Herrschaft - zwangsläufig viel bereist worden. Und dies nicht selten auch von "unerwünschten Besuchern" - gemeint sind die holländischen, britischen und französischen Freibeuter und Korsaren, die im 16. und 17. Jahrhundert in Panama eingefallen sind und vielfach ihre Eindrücke weitergegeben haben. So existieren gerade auch über das spanische Panama (1503-1821) relativ kontinuierlich verfaßte Berichte über den Isthmus, die nicht nur aus spanischer Feder stammen. Der englische Franziskanermönch Thomas Gage 1 , britische Piraten wie Drake 2 , Wafer 3 , Morgan 4 und Marinesoldaten wie Vernon 5 , Cochrane 6 , McGregor 7 , sie alle haben ihre Impressionen über den Isthmus festgehalten und publiziert. Hinzu kam das allgemeine Interesse am Ausbau einer transisthmischen Kanalverbindung, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter französischer Führung seine Renaissance feierte; mit der Exploration des Isthmus für den Bau des legendären Kanals wurde auch Wissen über Panama und seine Gesellschaft in die Welt transportiert. Kurz: Panama war keine unbekannte Größe, als es sich 1821 von Spanien löste und in das bolivarische Gran Colombia einfügte. Es hatte sich weder in einen von Kanalexpeditionen zerfurchten "Trampelpfad" verwandelt, wie etwa Simon 8 suggeriert, noch war Panama in der ersten Hälfte des 19. Jahr1 2 3 4 5 6 7 8

Vgl. Thomas Gage: A New Survey of the West Indies; or, The English American, His Travel by Sea and Land. London 1677. Zu Francis Drake siehe J.A. Wright (Hg.): Documents Concerning English Voyages in the Spanish Main 1567-1580. London 1932. Lionel Wafer: Viajes de Lionel Wafer al istmo de Darién. Panamá 1960. Vgl. A.O. Exquemelín: The Buccaneers of America. London 1972. Edward Vemon: Original Papers Relating to the Expedition to Panama. London 1744. Charles Stuart Cochrane: Journal of a Residence and Travels in Columbia during the Years 1823 and 1824. London 1825. Zu McGregor vgl. W.D. Weatherhead: An Account of the Late Expedition against the Isthmus of Danen under the Command of Sir Gregor McGregor. London 1821. Marón J. Simon: The Panama Affair. New York 1971.

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hunderts in eine mit dem damaligen Tibet vergleichbare totale Abseitsposition gerückt, wie Tracy Robinson 9 glaubhaft machen möchte. Allerdings befand sich der Isthmus seit der Mitte des 18. Jahrhunderts infolge der Einstellung des spanischen Galeonenhandels mit Peru (1748) und der Schließung der Audiencia von Panama (1751) zweifellos in einer prekären Phase des Niedergangs und der Dauerrezession, die Reisen und neue Erkenntnisse über die Landbrücke zwischen Pazifik und Atlantik nicht gerade begünstigte. Die militärische Nutzung Panamas durch Spanien während der Unabhängigkeitskriege in Neu-Granada und Peru zwischen 1810 und 1822 trug zusätzlich dazu bei, Reisebewegung und Informationsfluß über den Isthmus zu erschweren. Erst nach der durch die Unabhängigkeit realisierten Öffnung Panamas änderte sich diese Situation, die transisthmische Reisefrequenz wurde wieder dichter und mit ihr die über Reiseberichte vermittelten Informationen, und dies umso mehr, als Panama immer stärker in den Brennpunkt angloamerikanischer Handelsinteressen rückte, die das merkantile spanische System schon lange vor der Unabhängigkeitsrevolution zu unterwandern begannen. Wenn man somit gut daran tut, im Falle Panamas den Begriff der "Wiederentdeckung" zu relativieren, sollte man zugleich auch den doppelten Charakter dieses Prozesses betonen. Wenn überhaupt, so wurde Panama in einem zweimaligen Anlauf nach seiner Lösung von Spanien wiederentdeckt. Zunächst war es eine kleinere Anzahl professioneller Reisender, Militärs, Kaufleute, Diplomaten, Politiker und Ärzte, zumeist aus England, Frankreich, den USA und Lateinamerika, die den Isthmus häufig nur kurzfristig besuchten oder ihn transitreisend durchquerten, die ihre Eindrücke hinterließen. Es waren Reisende, die sich häufig auch mit Fragen der verkehrstechnischen Erschließung und Modernisierung des Isthmus beschäftigten oder sich mit dem allgemeinen Schicksal einer rückständigen, in Dauerrezession und Zerfall befindlichen Provinz Kolumbiens auseinandersetzten. 1849 wandelte sich jedoch das Reiseszenario in Panama abrupt. Aus dem selektiv "elitären" Reisepublikum wurde ein Massenansturm. Panama geriet in den Strudel des Goldrausches, den die Goldfunde in Kalifornien (1848) auslösten. Für zwei Jahrzehnte, bis zur Fertigstellung der Eisenbahnverbindung zwischen New York und San Francisco, von 1849 bis 1869, wurde Panama zur begehrten und zugleich gefürchteten, kürzesten Transitverbindung für nordamerikanische Reisende auf dem Weg nach oder von Kalifornien. Damit trat der Forty Niner, d.h. der Yankee-Abenteurer, an die Stelle der wenigen professionellen Reisenden, die in den ersten Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit ihren Weg nach und durch Panama fanden. Versuchen wir 9

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Tracy Robinson: Fifty Years at Panama, 1861-1911. Panama 1912.

Panama im Spiegel der Reiseliteratur:

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zunächst das Kontrastspektrum dieser doppelten Wiederentdeckung Panamas nachzuzeichnen.

Panama nach der Unabhängigkeit 1821 bis 1848 Zwei bekanntere Werke aus englischer und französischer Feder haben unmittelbar nach der Unabhängigkeit des Isthmus von Spanien Berichte über das "neue" Panama präsentiert. Der Engländer Basil Hall bietet Impressionen, die er als Kapitän der Royal Navy bei einem dreitägigen Stopp (4. bis 6. Februar 1822) seines Schiffes in Panama-Stadt sammelte. Der französische Reisende Mollien gibt Eindrücke wieder, die er bei einer sechstägigen Isthmus-Passage (12. bis 18. November 1823) auf dem Weg von Peru nach Jamaika wahrnahm. Für beide Autoren ist Panama kein zentraler Themenbereich: Hall ist mit der Erkundung der Küste Südamerikas zwischen Chile und Mexiko, Mollien mit den politisch-gesellschaftlichen Veränderungen Kolumbiens nach der Unabhängigkeit beschäftigt. Beide Autoren bieten zwar nur schlaglichtartige Eindrücke von Panama; diese enthalten aber dennoch interessante Hinweise auf Lebensbedingungen und den Wandel im Transformationsprozeß der Unabhängigkeit Panamas. Die zentrale Erfahrung, die Hall über Panama vermittelt, ist die über Jamaika erfolgte unerwartet starke Verflechtung des Isthmus mit der englischen Einflußsphäre. Schon bei der Landung registrierte Hall mit Erstaunen die weite Verbreitung von englischer Sprache und Mode am Isthmus. Das enge Band des spanischen Amerika erschien in Panama bereits durchbrochen: "Our surprise on landing was considerable, when we heard the negroes and negresses who crowded the wharf all speaking English, with a strong accent, which we recognised as that of the West Indies; a peculiarity acquired from the constant intercourse kept up, across the isthmus, with Jamaica. Most of the natives also spoke English more or less corrupted. Innumerable other trivial circumstances of dress and appearance, and manners, conspired to make us feel that we had left those countries purely Spanish, and more effectually excluded by the ancient policy from foreign intercourse." 1 0 Hall berichtet zudem, daß ihm beim Besuch panamaischer Kaufleute nicht nur "tea in the English fashion", sondern auch Gazetten aus Jamaika offeriert wurden. Insgesamt berichtet er von einer politischen Orientierung am

10

Basil Hall: Extracts from a Journal written on the Coasts of Chili, Peru, and M e x i c o in the Years 1820, 1821, 1822. Third Edition. Edinburgh 1824, S. 145f.

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Isthmus, die auf den Atlantik hin, d.h. nach Jamaika, New York und London gerichtet war, nicht aber zu den Nachbarrepubliken Südamerikas. "In the course of the morning, we became acquainted with many of the merchants of the place, who surprised us a good deal, and somewhat piqued us, by their total indifference about the South American news which we were so full of. They declared they could never manage to understand the different accounts from the south; that names, places, and circumstances, were all jumbled together." 11 An anderer Stelle ergänzt Hall seine Beobachtungen über den panamaischen Kommunikationsverbund mit den West Indies mit der Bemerkung: "Every one at Panama spoke, not as if residing on the shores of the Pacific, but as if he had been actually living on the coast of the Gulf of Mexico." 12 Darüber hinaus bietet Hall eine erste Kostprobe des bei allen weiteren Reiseberichten rekurrierenden Themas des Zerfallszustandes und der Dekadenz Panamas: "In some districts of the town of Panama, whole streets are allowed to fall into neglect; grass has grown over most parts of the pavement, and even the military works are crumbling fast to decay. Everything, in short, tells the same lamentable story of former splendour, and of present poverty." 13 Wenn Hall an späterer Stelle allerdings vom "total decay of Spanish taste and wealth" in Panama spricht, so deutet sich darin an, daß vielleicht manche Aussagen des englischen Kapitäns zur "Anglifizierung" Panamas auch von gewissen Wunschgedanken britischer Suprematie inspiriert sind. Daß aber prinzipiell Panama von anderen politischen Orientierungsmustern als das übrige Hispano-Amerika sowie von stärkeren ökonomischen und kulturellen Einflüssen der angelsächsischen Welt geprägt war, wird auch durch den Reisebericht des Franzosen Mollien bestätigt, der nur ein Jahr nach Hall Panama besuchte. Mollien bietet zunächst ergänzende Informationen zum Thema der Dekadenz Panamas. Auf den ersten Blick gefalle diese Stadt zwar einem Europäer, aber die "außerordentliche Unreinlichkeit" 14 bleibe der bestimmende Eindruck; und er fügt erklärend hinzu: "die einem Volke spanischen Ursprungs, das in einem so warmen Land lebt, eigenthümliche Faulheit trägt sehr vieles dazu bey, den Schmutz zu vermehren". 11 12 13

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Ebda., S. 150f. Ebda., S. 161. Ebda., S. 157.

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Der schlechte Zustand der Straßen - über den Camino Real heißt es: "Man gleitet und fällt alle Augenblick, und ist immer im Wasser" 1 5 - wird ebenfalls diesem hispanischen Trägheitssyndrom zugeschrieben. Bemerkenswert aber für Panama ist bei Mollien die Beobachtung der großen Sicherheit von Eigentum auf dem Isthmus: "Nie wird ein Ballen oder eine Kiste eröffnet."^ Ansonsten registriert auch Mollien den wachsenden angelsächsischen Einfluß in Panama. Er berichtet von vielen Läden, "worin eine Ordnung und eine Reinlichkeit herrscht, die beweist, daß die Kaufleute, denen sie angehören, viel mit Engländern zu thun haben [...] Man findet viele Lebensmittel aus den Vereinigten Staaten, viele Weine und geistige Getränke" (S. 200). Später fügt er hinzu: "Männer und Weiber kleiden sich nach englischem Geschmack" (S. 201). Den Engländern wird eine Führungsrolle bei der Handelserschließung und verkehrstechnischen Öffnung des Isthmus zugeschrieben (S. 212). Die Nordamerikaner dagegen dominierten den Handel mit Lebensmitteln und nahmen eine Spitzenposition beim Schwarzhandel mit Panama ein, der über Kuba und Jamaika organisiert wurde. Insgesamt erscheint Jamaika als Dreh- und Angelpunkt des neuen angloamerikanischen Handelssystems, in dem Panama, nach Mollien, keine unbedeutende Transitfunktion einnahm. Molliens Werk ist in Kolumbien kontrovers rezipiert worden, insbesondere weil er es gewagt hat, auch kritisch über Bolivar zu schreiben. Zum einen hat man ihm mangelnde Originalität vorgeworfen, weil er in Teilen seines Reiseberichts, z.B. über Ecuador, das er selbst nicht besucht hat, auf Informationen aus zweiter Hand zurückgriff. Zum anderen wurde ihm insbesondere von kolumbianischer Seite ein latenter Negativismus in der Berichterstattung über die Anden-Republik angekreidet. 1 7 Was die Beschreibung Panamas betrifft, ist anzumerken, daß die Authentizität der Berichterstattung hier nicht in Frage steht. Das Bild vom Zerfall und von der Dekadenz Panamas, das Mollien zeichnet, ergänzt die Beobachtung Halls. Dies gilt ebenso für den vermerkten Anglifizierungsprozeß Panamas. Die Führungsrolle von Briten und Amerikanern bei der Einfügung Panamas in das postkoloniale internationale Verkehrs- und Handelssystem ist bei beiden eine zentrale Aussage. Der Nordamerikaner Adrian Terry, der neun Jahre später (1832) viele der von Mollien aufgezeigten Beobachtungen über Panama bekräftigte, bestätig14 15 16

G. Mollien: Reise nach Columbia in den Jahren 1822 und 1823. Berlin 1825, S. 199. Ebda., S. 208. Ebda., S. 210.

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te erneut die Pionierrolle der Briten bei der Erschließung des transisthmischen Verkehrs. 18 Auf der anderen Seite verwies auch Terry auf das unaufhaltsame Voranschreiten des Verfallsprozesses am Isthmus. Panama wird dramatischer als bei Hall und Mollien - als eine vom Untergang gezeichnete Stadt beschrieben: "The general aspect of the city comports with the desolate appearance of the public edifices: every thing has the same look of decay. Grass springs up between the stones of the pavement; the stucco has fallen in patches from the walls of the houses; troops of the black carrion vulture sit ranged in files along the roofs, or hop unconcernedly about the streets, as they are never molested, being the only scavengers." 19 Aber nicht nur die Bausubstanz der Isthmus-Metropole wird bei Terry als morbide dargestellt. Auch die Menschen, die in Panama leben, erscheinen als Teil der allgemeinen Dekadenz, wobei sich der überwiegende Teil der Bevölkerung nach Terry im damaligen Panama aus Schwarzen und Mulatten zusammensetzt: "The inhabitants, sallow and miserable from the effects of the noxious climate, stroll listlessly along the streets, or sit in the doorways and balconies dozing away life. The city is said to contain seven thousand inhabitants, of which about seven-eighths are black and brown." 20 Interessant an Terrys Darstellung ist zudem der Verweis darauf, daß weite Teile der Bevölkerung Panamas 1832 noch keine direkte Erfahrung mit dem angelsächsischen Nordamerika gemacht hatten, so daß für diese "lower class of people" eine Unterscheidung zwischen Engländern und Nordamerikanern noch nicht geläufig war. "The lower class of people, in all parts of South America where I have been, make no distinction between Englishmen and North Americans; and they have often looked extremely incredulous, when I have said I was an American, and this after I had acquired the pronunciation, and could speak the Spanish fluently, and was able to explain my meaning clearly. But I could never convince them that there was any part of America where English was spoken by all." 21

17 18 19 20 21

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Vgl. Einführung in G. Mollien: Viaje por la República de Colombia en 1823. Bogotá 1944, S. XV. Adrian R. Terry: Travels in the Equatorial Regions of South America in 1832. Hartford 1834, S. 27. Ebda., S. 43. Ebda., S. 43. Ebda., S. 29.

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Zwei nur drei Jahre später verfaßte Reiseberichte über Panama, der eine aus der Feder des nordamerikanischen Arztes J.H. Gibbon, der andere geschrieben von einem englischen Reisenden, Campbell Scarlett 22 , ergänzen diese Beobachtungen von Terry mit ähnlichen Akzenten, wenn auch insgesamt ihre Beschreibung stark von dem Interesse der Nutzbarmachung Panamas für den Bau einer besseren Kommunikationsverbindung zwischen Atlantik und Pazifik bestimmt erscheint. Beide Autoren haben Memoranden an ihre Regierungen vorgelegt mit Plädoyers für den Bau einer verbesserten transisthmischen Verkehrsverbindung. Bemerkenswert an den Texten von Gibbon und Scarlett ist außerdem ihr Verweis auf die guten Sicherheitsbedingungen für Menschen und Güter beim Transport über den Isthmus. Diebstähle wie Übergriffe auf Reisende, die später während des kalifornischen Goldrausches zum Alltagsbild Panamas gehören sollten, werden als unbekannt dargestellt: "Se nos aseguró que el dinero puede ser transportado con seguridad a través del Istmo, sin más protección que la del arriero que lo lleva, y que no se ha conocido ningún caso de asalto a los viajeros." 23 Die Neugierde und Freundlichkeit der Panamaer im Landesinnern wird immer wieder betont, ihre Neugierde gegenüber Fremden hervorgehoben. Zugleich wird darauf verwiesen, daß der Transitverkehr zwischen Panama und Portobelo auf einem Tiefpunkt angelangt sei: "Pero el tránsito, que es la fuente de su riqueza, es ahora puramente nominal, pues solamente doce barcos extranjeros, generalmente de pequeño tamaño, entraron al puerto durante el último año y las rentas del Istmo no fueron suficientes para sus gastos públicos." 24 Was die gefürchteten klimatischen und epidemiologischen Bedingungen Panamas betrifft, so spricht Gibbon als Arzt von weitverbreiteten Übertreibungen (S. 12) und betont, daß Gelbfieber in Panama nicht endemisch sei; nicht so sehr das Klima, sondern mangelnde Anpassung von Kleidung und Ernährung an die heißen klimatischen Bedingungen Panamas werden als Hauptübel identifiziert, eine Position, die später konkret auch der Arzt Wolfred Nelson 25 vertritt. Scarlett dagegen liefert nützliche Informationen über die Außenhandelsverflechtungen Panamas in den 30er Jahren und die Kontakte mit den USA. Die 22 23 24 25

Juan Antonio Susto (Hg.): 2 Relaciones de Viajes al Istmo de Panamá en 1835 por J.H. Gibbon y Campbell Scarlett. Panamá 1961. J.H. Gibbon: El Istmo de Panamá en 1835-1836. In: Ebda., S. 5-30, hier S. 8. Ebda., S. 11. Vgl. Wolfred Nelson: Cinco años en Panamá 1880-1885. Estudio preliminar y notas por Armando Muñoz Pinzón. Panamá 1971.

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Nordamerikaner waren nach Scarlett die Hauptlieferanten für den Isthmus geworden, neben den Antillen und Europa. Ein Teil der nordamerikanischen Waren wurde wieder in andere pazifische Häfen weiter exportiert. Lediglich die USA und Großbritannien verfügten über konsularische Vertretungen im Panama der 30er Jahre; darüberhinaus war die Vertretung eines jamaikanischen Handelshauses präsent. Ansonsten gab es keine nennenswerten europäischen Spuren in Panama. Panama existierte nach wie vor in großer Isolation, aber blieb seiner angestammten kommerziellen Mission treu: "No hay otro europeo de importancia residente en Panamá. Todos los nativos, excepto los empleados del gobierno, son tenderos, y hasta creo que el mismo gobernador se dedica al comercio. Norteamérica, Las Antillas y Europa abastecen al istmo de mercaderías extranjeras, algunas de las cuales se reexportan desde Panamá, como se hacía antiguamente, a los diversos puertos del Pacífico. "26 Bleibt schließlich die von Scarlett besonders erörterte Frage der politischen Rahmenbedingungen, unter denen eine bessere Nutzung des Transitpotentials Panamas denkbar wäre. Scarlett, mit seiner Schrift aus dem Jahre 1835, ist wohl einer der ersten Autoren, die Panamas Separation von Kolumbien als conditio eines effizienteren Ausbaus der transisthmischen Verkehrsverbindungen und der Wiederherstellung von Wohlstand am Isthmus postuliert. Die kolumbianische Regierung - so die Argumentation des englischen Verfassers - sei zu arm, zu weit entfernt, desinteressiert und politisch zu schwach, um ein Großprojekt - wie etwa den Bau einer Eisenbahn oder eines Kanals durch Panama - zu finanzieren oder gar durchzusetzen. 27 Mit Verweis auf die gerade vollzogene Auflösung Kolumbiens in drei separate Staaten wird Panama ein gleiches Recht auf Separation zugesprochen, um mit Hilfe eines anderen "maritimen Großstaates" seine Mission als Verbindungsstück bzw. Brücke des Welthandels zu erfüllen. Den späteren amerikanischen Griff nach Panama antizipierend, schreibt Scarlett: "Debe reflejar al más alto honor y crédito sobre cualquier Estado marítimo el hecho de que, mediante la ayuda de sus recursos - que Nueva Granada no tiene a su disposición - se sacara provecho de la posición geográfica extraordinaria y favorable del istmo con el establecimiento de

26 27

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P. Campbell Scarlett: El Istmo de Panamá en 1835. In: Juan Antonio Susto (Hg.): 2 Relaciones de Viajes al Istmo de Panamá 1835 por J. H. Gibbon y Campbell Scarlett. Panamá 1961, S. 31-60, hier S. 38. Ebda., S. 43.

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una gran carretera cómoda para la actividad comercial de todas las naciones." 28 Eine Sonderstellung unter den Reiseberichten über das "prämoderne" Panama (1820-1849) nehmen die Aufzeichnungen des französischen Diplomaten Le Moyne ein. 29 Le Moyne unterscheidet sich von den übrigen Verfassern zum einen durch langjährige Lateinamerika-Erfahrung und intime Kenntnis insbesondere Kolumbiens; er war elf Jahre als französischer Diplomat in Bogotá tätig. Zum anderen schreibt er seinen Reisebericht aus der Distanz der Erinnerung. Verfaßt 1880, bezieht sich sein Bericht auf eine Reise durch Panama, die er bereits 1841 durchgeführt hat. Dabei hielt er sich sechs Wochen in Panama-Stadt auf. Nahezu vier Jahrzehnte trennen Le Moyne also von den Erlebnissen, die er beschreibt, was sicherlich im Hinblick auf die Authentizität und selektive Gestaltung seiner Darstellung nicht unproblematisch ist. Demgegenüber fügt Le Moyne in seine Berichterstattung stärker vergleichende Beobachtungen ein, die in den üblichen, von der Kurzzeitdistanz geprägten Reiseberichten zwangsläufig ausgeschlossen sind. Auf diese Weise relativiert sich beispielsweise der oft beschriebene Schrekken des Camino Real. An dem schlechten Zustand dieser alten transisthmischen Verbindungsschiene zwischen Atlantik und Pazifik, die nach dem Abzug der Spanier mangels Ressourcen nicht mehr instand gehalten wurde, kann zwar kein Zweifel bestehen. Le Moyne macht aber darauf aufmerksam, daß sich die Wege, die er auf Exkursionen in der Umgebung von Bogotá benutzte, in einem ähnlich schlechten Zustand befanden:"un estado tan pésimo como el de los caminos que he descrito al relatar mis excursiones por los alrededores de Bogotá."30 Schlechte Verkehrs- bzw. Wegebedingungen werden in den Reiseberichten aus Lateinamerika im 19. Jahrhundert nahezu überall beklagt. Ansonsten stimmen Le Moynes Beobachtungen vom Zerfall und der Dekadenz Panamas, vom gesellschaftlichen Leben, von der auf Handel spezialisierten Ökonomie und von den schwierigen ungesunden klimatischen Bedingungen weithin mit denen anderer Reisender dieser Zeit überein. Der Wandel Panamas wird aus der zeitlichen Distanz der Beschreibung heraus allerdings stärker akzentuiert. Das gilt insbesondere für die bei Terry schon angedeuteten Probleme der inneren Sicherheit Panamas. Le Moyne berichtet, daß man in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts, also vor dem Einbezug Panamas in den kalifornischen Goldrausch, auf dem transisthmischen Transportweg nichts zu befürchten hatte: 28 29 30

Ebda., S. 44. A. Le Moyne: Viajes y Estancias en América del Sur. Bogotá 1945. Ebda., S. 401.

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Friedrich von Krosigk "En esa época estas gentes que se dedican a llevar las muías eran completamente inofensivas y gozaban de una confianza bien merecida, pues constantemente se les confiaban para su transporte, barras de plata, oro en polvo y fardos de mercaderías de gran valor, sin que jamás faltara lo más mínimo cuando llegaban al punto de destino."31 Panamas Sündenfall wird als Produkt der intensiven Begegnung mit den Amerikanern und Europäern im Zeichen des kalifornischen Goldrausches identifiziert, wobei Le Moyne im Stil seiner Zeit mit der Begrifflichkeit des "Rassen-Kontaktes" operiert, um die Konfliktursachen zu erfassen. "Pero desde que vinieron de los Estados Unidos o de Europa numerosos extranjeros para establecerse en el istmo con motivo de la construcción del ferrocarril y sobre todo los aventureros de California que pasan en bandas, los indígenas han tenido que sufrir tan malos tratos y sobre todo han presenciado tántos crímenes, que ahora, según me han dicho, su buena índole y su honradez primitivas han experimentado una profunda modificación; triste resultado de un contacto de razas, en el que la que se pretende civilizada, aporta un contingente de vicios a la otra que no por reflexión sino naturalmente se abstenía hasta entonces de hacer el mal." 32 Analytisch vertiefend ist auch Le Moynes Beobachtung der Dekadenz Panamas, die er nicht nur auf die zerfallene bauliche Substanz der Stadt bezieht und die er wie folgt charakterisiert: "por todas partes escombros: los edificios más notables, los antiguos conventos, en número de siete, habían sido totalmente destruidos por los terremotos o los incendios." 33 Dekadenz wird von Le Moyne auch als gesellschaftliches Phänomen in Panama erfaßt: "Esta decadencia de las cosas se extendía hasta a los individuos". (S. 405) Selbst die altetablierten Kreolen schickten ihre schwarzen Bediensteten in Le Moynes Unterkunft, um dort ihr Silber und ihre Juwelen zum Verkauf anzubieten; am Abend bei gesellschaftlichen Anlässen aber zeigten sich dieselben Panamaer der oberen Gesellschaft in luxuriösen Roben: "Algunas de esas damas, que por la mañana nos enviaban sus joyas para ver si las comprábamos eran tal vez las mismas que por la noche venían a ver a mi mujer vestidas con el mayor lujo." 34 Auch wenn Le Moyne die Gastfreundschaft in der gehobenen Gesellschaft Panamas besonders hervorhebt, so bleibt doch in seinem Urteil die Dekadenz das für Panama bestimmende Element: 31 32 33 34

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Ebda., S. 403. Ebda. Ebda., S. 404f. Ebda., S. 405.

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"En el estado de decadencia total y absoluta en que entonces se hallaba, no ofrecía más curiosidad que la de sus ruinas. En sus calles estrechas y sombrías no había más que tienduchas sucias y lóbregas, atestadas de las mercancías más ordinarias. No había teatro, ni lugares de reunión, ni otro paseo, que el que consistía en dar la vuelta a las viejas murallas, por sitios llenos de polvo y sin árboles; no había carruajes para salir al campo donde además los caminos no permitían el tránsito de ruedas." 35 Was die politische Lage Panamas Anfang der 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts betrifft, so berichtet Le Moyne über Versuche, eine föderale Distanzierung der beiden Isthmus-Provinzen, Panama und Veraguas, von Kolumbien (damals Neu-Granada) zu realisieren, verweist aber zugleich auf die allgemeine Passivität der Bevölkerung im Umgang mit diesem Versuch politischer Innovation. Die politischen Debatten zur Frage der Größe und Unabhängigkeit von Kolumbien im Rahmen einer Föderation fanden, so registriert Le Moyne, in der breiten Bevölkerung Panamas so gut wie keine Beachtung: "A juzgar por la tranquilidad que reinaba en Panamá, nunca se hubiese uno imaginado que acababa de realizarse una transformación política." 36 Insgesamt überwiegt bei Le Moyne der Eindruck von Panama als einer in Apathie versunkenen, von der Außenwelt immer noch stark abgeschnittenen Gesellschaft, in der nur einige wenige Ausländer, Engländer, Amerikaner, Italiener und Franzosen, zumeist als Kaufleute oder konsularische Vertreter (in Panama) lebten und die Verbindung mit der Außenwelt aufrechterhielten. Auch im Hinblick auf Panamas wirtschaftliche Produktivität wird ein totales Defizit bescheinigt: "La agricultura de la región estaba tan abandonada, que no producía nada para la exportación." 37

Panama im Umbruch des kalifornischen Goldrausches Während Panama in den ersten Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit von Spanien (1821) vor allem von Reisenden betrachtet wird, die ihre vor allem Isthmus-Erfahrungen im weiteren Kontext Hispano-Amerikas beschreiben, ändert sich der Blickwinkel der Reiseberichte gegen Ende der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts auf dramatische Weise; das Phänomen des kalifornischen Goldrauschs, der eine Massenmigration von einigen hunderttausend 35 36 37

Ebda., S. 406f. Ebda., S. 410. Ebda., S. 411.

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abenteuerlustigen Yankees durch Panama für zwei Jahrzehnte, von 1849 bis 1869, dem Jahr der Fertigstellung der transkontinentalen Eisenbahnverbindung zwischen New York und San Francisco, auslöste, wurde zum bestimmenden Erlebnishorizont. Der typische Reisende, der jetzt Panama bevölkerte, bewegte sich durch den Isthmus quasi wie auf einer verlängerten Achse der Vereinigten Staaten. Panama wurde aus seiner traditionellen Verankerung mit Europa und Hispano-Amerika herausgerissen. Das Gros der Reiseberichte stammt jetzt aus nordamerikanischer Feder, und das Abenteuer der Durchquerung Panamas, die Konfrontation mit der anderen Welt hispanischer Dekadenz und deren "Amerikanisierung" nimmt breiten Raum ein. Die meisten dieser Reisenden hatten keine Vorkenntnisse, keine vorherigen Erfahrungen mit der Welt Hispano-Amerikas, waren den Zufälligkeiten der Begegnung mit dem Anderen ausgesetzt. Der Isthmus mit seinen Fatalitäten und Widrigkeiten, die Isthmus-Passage als Abenteuer avancierte zum bestimmenden Topos. Dennoch: Obgleich eine erhebliche Veränderung des Blickwinkels der Reiseberichte zu verzeichnen ist und stereotype Vorurteile über Panama mit ihnen weitere Verbreitung fanden, sind Variationen der Begegnung mit der neuen und andersartigen Welt auch hier nicht zu übersehen. Ein kontrastreiches Beispiel hierfür bieten die Beschreibungen von Taylor (1849) und Forster (1849), die beide fast zur gleichen Zeit, wenige Monate nach der Entdeckung von Gold in Kalifornien, durch Panama reisen. Taylor beschreibt seine fünftägige Isthmus-Passage und seinen kurzen Aufenthalt in Panama-Stadt unter dem klangvollen Titel Eldorado or Adventures in Path of Empire. Besonders seine Beschreibungen des Camino Real lassen erkennen, daß vor dem Bau der Eisenbahn zwischen Colon und Panama - diese Linie wurde 1855 fertiggestellt - die Isthmus-Passage immer noch ein Abenteuer darstellte, insbesondere wenn man sie, wie Taylor, zur Regenzeit zu bewältigen hatte: "The path at the outset was bad enough, but as the wood grew deeper and darker and the tough clay soil held the rains which had fallen, it became finally a narrow gully, filled with mud nearly to our horses' bellies. Descending the steep sides of the hills, they would step or slide down almost precipitous passes, bringing up all straight at the bottom, and climbing the opposite sides like cats. So strong is their mutual confidence that they invariably step in each other's tracks, and a great part of the road is thus

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worn into holes three feet deep and filled with water and soft mud, which spirts upward as they go, coating the rider from head to foot." 38 Panamas ohnehin marode Infrastruktur war durch den Massenansturm der Forty-Niners hoffnungslos überfordert. Eine Vorbereitung auf diese anarchische Migrationswelle war nicht möglich gewesen. Panamas Wandel machte sich nach Taylor am raschesten auf der monetären Ebene bemerkbar: Nur wenige Monate nach Beginn der Migrationswelle kostete die Fahrt per Kanu auf dem Chagres nach Cruces, der ersten Teil-Station auf dem Weg von der Atlantikküste nach Panama-Stadt, die für die damalige Zeit astronomische Höhe von 15 Dollar, und zusätzliche Geldforderungen der Ruderbesatzung waren während der Fahrt noch zu begleichen. Am Ende seiner Isthmus-Passage kommt Taylor zu dem Schluß, daß Panama in fünf Tagen mehr Abenteuer bot "than any trip of similar length in the world." 39 Abenteuerlich war auch der Wandel der Stadt Panama, den Taylor beschreibt. Obwohl er dort nur eineinhalb Tage verweilte, sind seine flüchtigen Eindrücke für spätere Berichte bereits wegweisend. Auf der einen Seite das alte zerfallene Panama mit den Ruinen seiner alten Konvente, Schulen und Kirchen und vom Gras bereits überzogenen Plätze. Auf der anderen Seite das neue amerikanische Panama. Sechs Monate der Migration hatten bereits gereicht, um aus Panama eine "amerikanische Dependance" zu machen: "The city was already half American. The native boys whistled "Yankee Doodle" through the streets, and señoritas of the pure Castilian blood sang the Ethiopian melodies of Virginia to their guitars. Nearly half the faces seen were American, and the signs on shops of all kinds appeared in our language. On the morning after I arrived, I heard a sudden rumbling in the streets, and observing a general rush to the windows, followed the crowd in time to see the first cart made in Panama - the work of a Yankee mechanic, detained for want of money to get further." 40 Amerikaner aber beherrschten nicht nur das Geschäftsleben, auch die Hotels waren zumeist in amerikanischer Hand. (Taylor übernachtete natürlich im Hotel Americano!) Die Lage Panamas hatte sich nach Taylor aufgrund der großen Zahl der dort auf weitere Schiffsverbindungen nach Kalifornien wartenden Amerikaner brisant entwickelt. Taylor berichtet von 3.000 Migranten, die wenige Monate vor ihm in Panama festsaßen, so daß einige sogar den Entschluß faßten, sich per Kanu auf den Weg nach Kalifornien zu 38 39 40

Bayard Taylor: Eldorado or Adventures in Path of Empire. Comprising a Voyage to California via Panama. New York 1949, S. 19. Ebda., S. 21. Ebda., S. 22.

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machen. Es versteht sich, daß unter diesen Bedingungen nicht nur die soziale, sondern auch die epidemiologische Lage Panamas rasch kritische Dimensionen erreichte: "The cholera, which had already carried off one fourth of the native population, was making havoc among the Americans", schreibt Taylor am Schluß seines Berichtes (S. 25). Von Peru kommend und fast zur gleichen Zeit wie Taylor durch Panama reisend, bietet der Engländer Hill noch hilfreiche Ergänzungen zum Reiseerlebnis Panama vor der Fertigstellung der Eisenbahn. Interessant erscheint aber vor allem Hills Relativierung des Zerfallszustands Panamas, wenn er darauf aufmerksam macht, daß ähnliche Verhältnisse in den meisten anderen Städten Hispano-Amerikas - Chile ausgenommen - zu finden seien. Als zivilisierter Engländer ist Hill im übrigen weniger vom maroden Panama als vielmehr von den rüden Manieren der Forty-Niners oder der "backwoodsmen of North-America", wie er sie nennt, beeindruckt. 41 Im Kontrast zur Vielzahl der auf den Topos "Abenteuer-Forty-Niners" fixierten Reiseberichte über Panama steht bei John Harris Forster, einem nach Kalifornien durchreisenden Landvermesser 42 , die ästhetische Dimension der Begegnung mit dem "Anderen", der hispanischen Welt, im Vordergrund der Beschreibung. Forsters Reisebericht reflektiert zudem die Wirkung von unterschiedlichen Rahmenbedingungen, wie Jahreszeit und Aufenthaltsdauer in Panama, auf den Tenor der Berichterstattung. Forster reiste in der Trockenzeit (März/ April 1849), und somit ist verständlich, daß die schwierigen Bedingungen des Camino Real keine vergleichbare Erwähnung finden wie beispielsweise bei Taylor oder Hill. Zum anderen wartete Forster in Panama über zwei Monate auf eine weiterführende Schiffsverbindung; Taylor war, wie schon erwähnt, nur wenige Tage dort. Forster setzt schon zu Beginn seines Berichts über Panama ungewöhnliche neue Akzente, indem er das Dorf Chagres, den atlantischen Ausgangspunkt der Isthmus-Passage, in anderen Berichten gewöhnlich als Rattenloch oder "pesthole" tituliert, höchst positiv als "one of the most beautiful and romantic localities imaginable" 43 präsentiert. 44

41 42 43 44

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S.S. Hill: Travels in Peru and Mexico. London 1860, S. 120. John Harris Forster: Field Notes of a Surveyor in Panama and California 1849. Hrsg. von Christine H. Weideman. The University of Michigan 1935. Ebda., S. 9. Dagegen Terry: "Chagre (sic) is a miserable village, inhabited mostly by Indians and mulattoes. [...] No white man remains there for any great length of time without being sick." Adrian R. Terry: Travels in the Equatorial Regions of South America in 1832. Hartford 1834, S. 26.

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Chagres war zum Zeitpunkt der Reise von Forster offensichtlich noch nicht in intensiveren Kontakt mit den Forty-Niners gekommen, so daß Forster den ungewöhnlichen ethnischen Mix der dort lebenden Menschen - "white, red, yellow and black" - ihre "perfekte soziale Gleichheit", die Schönheit der Frauen - "such eyes, who can forget them, or remember without sighing" 4 5 - oder auch die Liebenswürdigkeiten und Gastfreundschaft der Bewohner von Chagres ungestört bewundern konnte. Was das Bild der Stadt Panama betrifft, so stimmt Forster in das gewohnte Lied des zerfallenen Panamas ein, aber er beschwört sogleich die morbide Schönheit, von der diese Dekadenz umwoben ist, und beklagt seine "Ignoranz" als Nordamerikaner, der unerwartet in der Neuen Welt auf ein Stück Andersheit der Alten Welt gestoßen ist. "I found myself in the midst of desolate ruins. High toppling walls; crumbling battlements; moss-covered turrets; broken arches; ancient crosses, all, bearing the touch of 'time's decaying finger around which beauty lingers' [...] I expected to find Panama the largest city in the Province, but supposed that it would not differ materially in construction from the other towns through which I had passed. Such was my ignorance of the history of this Republic. We Americans I believe are generally not very well posted up in relation to our Sister republics of South America." 46 Aber Panama bot für Forster zugleich das Spektakel eines ungeheuren Umbruchs. Mehr als 70 Tage, die er in Panama beim Warten auf eine weiterführende Schiffsverbindung nach Kalifornien festgehalten wurde, gaben ihm genügend Gelegenheit, den durch den Einfall von Tausenden von amerikanischen Migranten ausgelösten Wandel zu beobachten. Panama wurde um die Wende der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts bereits in eine amerikanische Siedlung transformiert. In kaum einem anderen Text wird die Atmosphäre Panamas in der Zeit der Forty-Niners besser wiedergegeben: "A yankee can't be idle long any where; he must be doing something. Hence we see many of the less obstreperous going into business it does not matter what so that a penny can be turned. Indeed the Americans seem to have taken full possession of the city - moving acting & directing as if they are the rightful lords of the soil. I am sometimes mortified at the audacity and cool assumption exhibited by my countrymen. I am ashamed of them - of their want of politeness toward the natives - of their gross rudeness and domineering manners. They look upon the natives as an inferior race and treat them accordingly - forgetting what is due to a 45

John Harris Forster: Field Notes of a Surveyor in Panama and California 1849. Hrsg. von Christine H. Weideman. The University of Michigan 1935, S. 9.

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foreign people by whom they are most hospitably received. They forget also to exercise that magnanimity which the truly great always show to inferiors. In this they show inordinate vanity and contemptible impudence. Again, I say, I am ashamed of some of my countrymen here. I should like to see them properly licked into good manners and decency." 47 Mit zunehmender Frequenz der Reisenden auf der Panama-Route nach und von Kalifornien hat sich verständlicherweise die Zahl der Reiseberichte über Panama vervielfältigt. Maria de Melendez registriert allein mehr als 50 englischsprachige Titel für die Zeit 1849-1869. 48 Die Qualität dieser Berichte allerdings bleibt oft begrenzt. Im Mittelpunkt dieser Reisebeschreibungen stehen in der Regel vornehmlich die abenteuerlichen, vielfach satirisch aufbereiteten Erlebnisse der Forty-Niners, hinter denen die Konturen Panamas verschwimmen oder sich verzerren und in Klischees verfestigt werden. Die Aussagen über Panama wiederholen sich vielfach, und ihr analytischer Wert bleibt bescheiden. Der physische Verfallszustand, in dem sich der Isthmus den revolverschwingenden Forty-Niners präsentierte, die mangelnde Fähigkeit von staatlicher Seite Panamas, die unkontrollierte Masse der Migranten unter einen Schirm von "law and order" zu bringen, und schließlich die fatalen epidemiologischen Konsequenzen dieser ungezügelten anarchischen Wanderung durch das tropische, klimatisch gefährliche Panama haben nicht nur in der Regel das "pesthole"-Image des Isthmus bestärkt; auch die Gesellschaft Panamas und die hispanische Kultur wurden als minderwertig hingestellt. Mary Jane Megquier beschreibt die typische spanische Familie in Panama als "clean and neat, [...] their hands and feet are very small, but their faces are anything but handsome". 49 Ida Jeffries Fitzgerald bemerkt über die Einwohner von Neu-Granada, dem damaligen Staatsverbund Panamas, sie seien "intellectually little above the animals". 50 Und fast alle Schriftstücke dieser Zeit bergen die Spuren des Manifest Destiny, von dem sich die meisten Goldsucher aus Nordamerika beflügelt sahen. Panama,

46 47 48 49

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Ebda., S . l l . Ebda., S. 15. María J. de Meléndez: "Prólogo" zu C.D. Griswold: El Istmo de Panamá y lo que vi en el. Panamá 1974, S. XIII. Robert G. Cleland (Hg.): Apron full of Gold: The Letters of Mary Jane Megquier From San Francisco, 1849-1856. San Marino 1949, S. 11; zitiert nach: Sandra L. Myres (Hg.): Ho for California! Women's Overland Diaries from the Huntington Library. San Marino 1980, S. 5. Ida J. Fitzgerald: Account of Life of Plummer Edwards Jeffries, including voyages from New York to California in 1850 and 1854. Ms., Huntington Library, zitiert nach ebda., S. 5.

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so die weitverbreitete Überzeugung, würde die Spuren der überlegenen "Anglo-Rasse" und -Kultur nicht mehr tilgen können: "The dusky natives with their squalid children" - heißt es bei Edward Dunbar -, "their dogs and pigs, the monkeys, alligators, snakes, and all created things of the aligerous order were roused from their dreamy lethargy by this sudden irruption of the Northern white race." 5 1 Über Panama-Stadt schreibt William McCollum charakteristisch: "It will soon bear the mark of Yankee enterprise that will astonish the natives". 52 Über die in Panama so dominante katholische Kirche bemerkt Megquier, daß ihre Priester dem Spiel und Laster verfallen seien: "The priests gamble and enter into every species of vice and disappation [sic]". 53 Und Cleveland Forbes sagte voraus, die katholische Kirche würde "crumble as the Roman Empire must do before civilization and Religion". 5 4 Aber nicht nur rassische und kulturelle Vorurteile wuchsen unter dem Massenansturm der Forty-Niners in Panama. Der Zerfall des alten Panama und seiner Infrastruktur ist nur eine Seite der Impressionen, die die amerikanischen Migranten mit nach Kalifornien nahmen. Das "mörderische" Klima, die Epidemien (Cholera, Typhus, Malaria, Gelbfieber), die sich hier entfalteten und vielen Amerikanern wie Panamaern zum Verhängnis wurden, sind rekurrierende Themen in den typischen Reiseberichten der Forty-Niners. Und schließlich ist es das Phänomen der Gewalt, das mit fortschreitender "Amerikanisierung" am Isthmus virulent wurde und auch in den Reiseberichten zunehmende Beachtung fand. Zu dem pesthole, cock fighting und gambling-Image von Panama gesellte sich das Bild krimineller Gewalt als Komplement hispanischer Dekadenz. In einem französischsprachigen Ratgeber für Transitreisende nach Kalifornien aus dem Jahr 1853 heißt es über die kriminellen Gegebenheiten am Isthmus: "Ainsi, à Panama, il n'y a ni police, ni justice. On vole au nez et à la barbe des gens, sur eux comme chez eux. On vole partout, et on assassine aussi sans se gêner. Il ne se passe pas de semaine que l'on ne trouve des gens tués et dépouillés dans les rues et sur les places publiques. Si la victime est reconnue par quelqu'un, on va chercher son consul, qui dresse l'acte mortuaire; sinon, on la porte directement en terre et tout est dit... Mais il faut avouer que ce ne sont pas seulement les étrangers qu'on 51 52

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Edward E. Dunbar: The Romance of the Age or the Discovery of Gold in California. New York 1867, S. 57, zitiert nach ebda., S. 5. William McCollum: California As I Saw it. Los Gatos 1960, S. 101, zitiert nach ebda., S. 5. Megquier, zitiert nach ebda., S. 5. Zitiert nach ebda., S. 6.

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assassine, les natifs se tuent très bien entre eux. En un mot, je suis dans un vrai coupe-gorge." 5 5 Allerdings verweist der Verfasser am Schluß seiner Betrachtung auf das komplementäre Milieu, in dem sich panamaische Gewalt und Kriminalität entfaltet haben: "Aussi est-il beau de voir les Américains qui passent ici. Ils sont armés jusqu'aux dents comme les brigands des mélodrames. Ils ont l'air d'aller en guerre." 5 6 Panamas Auseinandersetzung mit der amerikanischen Invasion, die der Goldrausch provozierte, hat zunächst zwei Formen der Gegenmacht, die der monetären und der physischen Gewaltsamkeit, stimuliert. Das lassen die Vielzahl der Reiseberichte aus der Zeit der Forty-Niners und die Klagen über hohe Preise und Kriminalität deutlich erkennen. Die Natur, das Klima und die überforderte miserable - auch sanitäre - Infrastruktur haben das übrige dazu beigetragen, die Transitschiene Panama nicht nur in ein pesthole, sondern in eine death-trap für Amerikaner zu verwandeln. Die Mehrzahl der Reisebeschreibungen über Panama, die die Zeit des kalifornischen Goldrausches abdecken, wurde von Autoren verfaßt, die sich nur kurzfristig als Transitreisende dort aufhielten. Es mag abschließend nützlich sein, noch einen Blick auf jene Darstellungen zu werfen, die aus längerfristiger Erfahrung mit Panama entstanden sind und stärker interpretierend die Geschicke am Isthmus verfolgen. Drei Reiseberichte aus nordamerikanischer (Griswold), aus brasilianischer (Lisboa) und aus kolumbianischer Feder (Roldân) mögen dabei Pate stehen. Sie alle stimmen darin überein, daß sie den Zerfallszustand Panamas und die allgemeine Dekadenz am Isthmus beschreiben, aber mit unterschiedlichen Akzenten und variablen Antworten auf die tieferen Gründe der fundamentalen Immobilität, in der sich das kleine Panama verfangen hatte, auch unter dem Ansturm der kalifornischen Migranten. Dr. Griswold, der aus New York kommend sechs Monate (1850/51) als Arzt für die Panamaische Eisenbahngesellschaft arbeitete, war zwar an der überwältigenden Flora und Fauna und den physischen Gegebenheiten des Isthmus interessiert, aber als Zeuge der spektakulären Konfrontation Panamas mit der amerikanischen Migrationswelle nach Kalifornien versuchte auch er die frappierende Diskrepanz zwischen nordamerikanischer Dynamik und panamaischer Immobilität zu erklären. Die Beschreibungen der Verhältnisse in Panama in seiner Schrift "The Isthmus of Panama and what I saw there"

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Pierre Charles de Saint-Amant: Route de la Californie a travers l'Isthme de Panama. Paris 1853, S. 76. Ebda.

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(New York 1852) 5 7 , bleiben insgesamt sehr knapp. Wie in allen Reiseberichten aus dieser Zeit wird der Zustand der "dilapidación y decadencia" 58 hervorgehoben. Der erste Eindruck von der Stadt Panama wird nach Griswold, wie in vielen anderen Berichten aus dieser Zeit, bestimmt von extremem Schmutz, defekter Infrastruktur und zahllosen Transitreisenden, die die Stadt bevölkern. Das Trinkwasser mußte immer noch mit Maultieren herbeigeschafft werden. Die anderen Ortschaften auf der Transitstrecke standen dieser Misere Panamas um nichts nach. "Inundada como está de viajeros y una población de tránsito, con una regulación municipal imperfecta, la primera impresión del lugar es poco agradable, en especial por su extremada suciedad; las calles son un receptáculo común de basura y desechos de toda clase que se dejan podrir o se convierten en el sustento de cerdos o gallinazos que asumen el deber de recolectarlos." 59 Die - in der heutigen Terminologie - etablierte "Unterentwicklung" Panamas wird bei Griswold auf unterschiedlichen Ebenen erklärt: Die erste verweist auf die Defizite hispanischer Kultur, ihre mangelnde Disposition für die Förderung landwirtschaftlicher Arbeit, Eigeninitiative und Fortschrittsorientierung: "Los españoles a su falta de disposición para cultivar la tierra y a su especie de caballerosidad quijotesca, de poco valor en asuntos prácticos, le unieron una constitutiva y hereditaria falta de iniciativa, que los convertiría - de acuerdo con algunos de los sabios profetas de nuestro tiempo - tan vasallos de los sajones, como los iberos fueron de los romanos. Para desgracia de ellos, no tienen el empuje para el progreso". 60 Die zweite Erklärungsebene verweist auf die eigentümliche ethnische Komposition der Gesellschaft in Panama; gemeint ist der starke Anteil von Schwarzen, Mulatten und Mestizen. Letztere werden als vornehmlich passiv orientiert, mit den natürlichen Verhältnissen des Landes zufrieden - "contento de su situación" 61 - dargestellt, während die Schwarzen, die zum überwiegenden Teil das Transitgeschäft als Träger bzw. Maultierführer betreiben, eher als Kriminelle stigmatisiert werden: "La mayoría de ellos, son un

57 58 59 60 61

Zitiert nach der Ausgabe: C.D. Griswold: El Istmo de Panamá y lo que vi en el. Panamá 1974. Ebda., S. 32. Ebda., S. 33. Ebda., S. 7. Ebda., S. 55.

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grupo de despreciables vagabundos que no merecen benevolencia ni contemplación." 6 2 Wenn Dr. Griswold dennoch die Zukunft Panamas mit Optimismus betrachtet, so letztlich, weil er auf das Manifest Destiny der amerikanischen Migranten setzt. Sie sind die Träger des Fortschritts in der Perspektive von Griswold, der den Angelsachsen eine den Römern vergleichbare Führungsrolle zuschreibt. Unter diesen Umständen wird Panama eine blühende Zukunft vorausgesagt: "Porque nueva vida y nuevas empresas marcan su avance y progreso hacia un mejor y permanente estado de prosperidad en el futuro." 6 3 Dr. Griswold beobachtete und interpretierte Panama im Geist seiner nordamerikanischen Umgebung und Zeit sowie seiner spezifischen Erfahrungen als Angestellter der neuen Eisenbahngesellschaft, die an der Verbindung zwischen Colón/Aspinwall und Panama-Stadt vorwiegend mit farbigen Arbeitskräften aus Jamaika arbeitete. Seine Sichtweise, in der sich rassistische und darwinistische Momente mischen, hat im 19. Jahrhundert so weite Verbreitung gefunden, daß auch die Beobachter Panamas aus Spanisch-Amerika nicht völlig gegen sie gefeit blieben. Salvador Camacho Roldán, der als kolumbianischer Finanzminister und Präsidentschaftskandidat zwischen 1852 und 1880 mehrfach Panama besucht hat, bestückt seine "Notas de Viaje" über den Isthmus ebenfalls mit ethnischen Erklärungsansätzen, wenn er über die Ursachen der Rückständigkeit Panamas reflektiert. Eine seiner zentralen Thesen bei der Erklärung der mangelnden Produktivität der Wirtschaft Panamas - "Ni una hacienda, ni una producción industrial" 6 4 , selbst Jahrzehnte nach Fertigstellung der transisthmischen Eisenbahn - lautet: "La raza española no es agricultora". 6 5 Aber dank seiner intimen Kenntnisse von Panama über einen längeren Zeitraum von mehr als drei Jahrzehnten ist Roldán in der Lage, noch andere Defizite und Spezifika Panamas hinzuzufügen, um den Zustand isthmischer Rückständigkeit und Dekadenz zu erklären. Fünf solcher Spezifika werden dabei besonders erwähnt: die altetablierte, kommerzielle Funktion Panamas - "los hábitos comerciales" -, die nicht auf Produktion, sondern auf Handel ausgelegt war; die geographische Marginalisierung des Isthmus als Ergebnis der Einstellung des spanischen Galeonen-Regimes und der Erschließung der 62 63 64 65

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Ebda., S. 56. Ebda., S. 32. Salvador Camacho Roldán: Notas de Viaje. Bogotá 1973 (Erstausgabe 1905), S. 238. Ebda., S. 238. - Roldán verweist darauf, daß Landwirtschaft - wenn überhaupt - nur mit dem Genie der Araber in Spanien entwickelt wurde, und bemerkt, daß die einzige

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Kap Horn-Route; der mangelhafte Bildungsstand breiter Bevölkerungsschichten; der rigide, von kolonialer Tradition geprägte Zentralismus Kolumbiens; und die ethno-sozialen Polaritäten der panamaischen Gesellschaft, die er auf vier unterschiedliche Gruppen zugespitzt sieht: Afrikaner, Ausländer, Kolumbianer, Kreolen. "El problema sociológico, pues, consiste en fundir esos grupos en un espíritu de fraternidad é interés común". 6 6 Aber Roldán zeigt nicht nur Sinn für subtile Erklärungen der komplexen Dekadenz Panamas, er verweist auch auf intime Sonderheiten der panamaischen Gesellschaft, die angelsächsischen Beobachtern wie Griswold zumeist verschlossen bleiben mußten. Im Kontrast zur ökonomischen und infrastrukturellen Misere Panamas spricht Roldán von einem "exzellenten" Gesellschaftsleben, bezieht sich aber mit diesem Urteil exklusiv auf die kreolische Spitze der Gesellschaft Panamas: "En cambio la sociedad era excelente, pues los restos, perfectamente republicanizados de las antiguas familias españolas, eran numerosos y distinguidos por su inteligencia y cultura. Los Arosemenas, Herreras, Sosas, Obarrios, Fábregas, Hurtados, Paredes, Valíannos, Alemanes, Jiménez, Arces, Brájimos, Pérez, Arias, Morros, Icazas, Picones, Díaz, Obaldías, La Guardias y otros, formaban un grupo tan notable por la instrucción y talento de los hombres, por la belleza física, cultura y suavidad de maneras de las señoras, como en muy pocas ciudades de Colombia pudieran encontrarse." 6 7 Mit seinem privilegierten Zugang als kolumbianischer Politiker zur kreolischen Intimsphäre der Gesellschaft Panamas kann Roldán wichtige ergänzende Informationen über die Auswirkungen des kalifornischen Umbruchs in Panama bieten, über die andere Reisende, vor allem nordamerikanischér Provenienz, nicht verfügten. Panama zeigte sich in Roldáns Beschreibung von einer eigentümlichen Polarität: Auf der einen Seite existierte das anarchische Milieu von Arrabal und Camino Real, in dem auch der Konflikt mit den einfallenden Forty-Niners ausgetragen wurde, auf der anderen Seite feierte die sich abkapselnde und mit neuem Reichtum gesegnete, kosmopolitisch orientierte Kreolen-Oligarchie ihr comeback. Panama war in der Zeit der Forty-Niners nicht nur Gewalt, Raub, Epidemie, Dekadenz und Zerfall. Es erschien zugleich auch - wie Roldán ausführt - als Ort eines höchst angenehmen, illustren Gesellschaftslebens:

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Bananen-Plantage zwischen Colon und Panama von einem Deutschen angelegt wurde (S. 239). Ebda., S. 252. Ebda., S. 244.

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"Las relaciones de sociabilidad, - si bien no acompañadas todavía del lujo y de la etiqueta que en sociedades más avanzadas las hacen menos cordiales y menos frecuentes, - eran en extremo agradables y bastante repetidas. Bailes, paseos al campo ó á la bahía, principalmente en las noches de luna, y almuerzos y comidas, daban animación á la vida con ese interés peculiar que se despierta en el trato de personas de nacionalidades, costumbres é ideas diversas, pero unidas por lazos de cultura y benevolencia recíprocas." 68 Das pesthole Panama, das gerade in den amerikanischen Reiseberichten immer wieder seine Darstellung fand, aber auch von Roldán nicht unbemerkt blieb, muß - folgt man den Ausführungen des kolumbianischen Politikers - um das Panama der Bälle, der Feste, der Ausflüge, der Stierkämpfe und der kosmopolitisch orientierten Intelligentsia ergänzt werden. Kurz, um das weltoffene Panama, das mit seinen neu erscheinenden, zahlreichen spanischen und englischsprachigen Gazetten und seinem schnellen Reichtum trotz kultureller Distanz materiell wie intellektuell Anschluß an das neue Zeitalter US-amerikanischer Zivilisation zu halten sucht. Für den Wandel Panamas im Zeichen des California gold rush ist zudem bezeichnend, daß Roldán darauf aufmerksam macht, daß neben der traditionalen Kreolen-Oligarchie eine neue Führungselite in Panama entstanden ist: "la población extranjera sedentaria", die Gruppe der jetzt in Panama ansässigen Ausländer. 69 Diesen ausländischen Residenten, zumeist aus Nordamerika, Großbritannien und Frankreich, die bereits in enger Verflechtung mit den Kreolen lebten, schreibt Roldán eine besondere Führungsrolle auf dem Weg der Erneuerung und Modernisierung Panamas zu. Er bezeichnet sie als "el grupo más influyente y principal por la educación y la riqueza" 70 und gibt ihr eine Schlüsselstellung für das comeback von Initiative, Spontaneität und "amor cívico" an den Isthmus. Roldáns optimistische Vision "kalifornischer" Erneuerung Panamas ist in ihrem Kern ein Produkt dieser Elitenkonzeption. Der brasilianische Diplomat Miguel Maria Lisboa hat Panama in der Zeit seiner Funktion als Sonderbotschafter seines Landes bei den Regierungen von Neu-Granada, Venezuela und Ecuador fast zum selben Zeitpunkt (1853) wie Roldán besucht; er beschreibt den Isthmus aus der Rückschau (1855) in vielerlei Hinsicht mit ähnlichen Akzenten. Allerdings zieht er andere Folgerungen aus seinen Beobachtungen, die im Kapitel XVI seines Buches "Relación de un Viaje a Venezuela, Nueva Granada y Ecuador" zusammengefaßt sind. Der exzessive Schmutz, das hohe Preisniveau - "no existe en el 68 69 70

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Ebda., S. 245. Ebda., S. 252. Ebda.

Panama im Spiegel der Reiseliteratur: 1821-1869 mundo un lugar más caro que Colón" 71 - die weitverbreitete Gewalt und Kriminalität, der bauliche Zerfall, die Gefahren des Camino Real, das ungesunde Klima, die vielen Transitreisenden, die Colón und Panama bevölkerten, die mangelnde Produktivität, auch im landwirtschaftlichen Bereich "la agricultura es casi nula" (S. 270) -, das alles sind wohlbekannte Züge Panamas, die auch in anderen Reiseberichten immer wieder zur Sprache kommen. Lisboa verstärkt vielleicht manche der negativen Akzente - "¡Di gracias a Dios cuando me vi fuera de Panamá!" (S. 273) -, zeigt dabei jedoch erhebliche Sensibilität für die Probleme des Wandels und der Entwicklung Panamas. Während Roldán die Vision einer "Wiedergeburt" Panamas, getragen von der dynamischen Gruppe der Ausländer, präsentiert, sieht Lisboa eher ein Wechselspiel von Ruin und Neuanfang, von Tod und Neugeburt. Keine Synthese von Panamá Hispano und Panamá Americano, wie sie sich bei Roldán andeutet, scheint Lisboa vermittelbar. Das alte, katholisch-spanische Panama ist angesichts der phantastischen Energien, die das merkantile Genie der Amerikaner freisetzt, dem Untergang geweiht: "Panamá muere, y de sus cenizas se levanta un poder, una existencia completamente extraña a la antigua. [...] Panamá ya no es la ciudad de los Balboas, de los Pedrarias, de los Pizarras; esos florecientes monumentos del comercio al lado de los templos arruinados son como un rebus gigantesco y muy fácil de descifrar. ¡Representa el espíritu mercantil de los americanos ahogando el catolicismo español, la maravillosa energía de la raza sajona prosiguiendo su tarea de suplantar la raza latina y de hacer desaparecer de la faz del globo los monumentos de gloria de esa raza otrora heroica, digna de mejor suerte y que algún día todavía se levantará!" 72

Schluß Läßt man die Vielzahl der Reiseberichte über Panama zwischen 1820 und dem kalifornischen Goldrausch, der Panama zwischen 1849 und 1869 überflutete, Revue passieren, so heben sich drei große Themenkomplexe ab: die Dekadenz Panamas, das Abenteuer Panama im Zeichen der kalifornischen Migration und schließlich der Prozeß der Amerikanisierung Panamas und seine Folgen. In der ersten "prämodernen" Transitphase des Isthmus waren es in erster Linie professionelle Reisende, Kaufleute, Verwaltungsbeamte, 71 72

Miguel Maria Lisboa: Relación de un viaje a Venezuela, Nueva Granada y Ecuador. Bogotá 1984, S. 260. Ebda., S. 269.

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Diplomaten, Politiker, die über Panama berichteten. Viele von ihnen verfügten über weitergreifende Reiseerfahrungen in Hispano-Amerika, was ihnen die Möglichkeit, sich mit panamaischen Bedingungen vertraut zu machen, erheblich erleichterte. Es versteht sich, daß diese Berichte, die zwischen 1821 und 1848 erschienen, generell eine größere Informationsdichte aufwiesen im Vergleich zu den späteren Transitbeschreibungen, die oft auch nur Erfahrungen von wenigen Tagen oder gar Stunden der Präsenz in Panama reflektierten und im Kontext großer Turbulenzen niedergeschrieben wurden. Das Bild der Dekadenz und der Verwahrlosung Panamas zieht sich wie ein roter Faden durch die Berichte über Panama bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Erst der Eingriff der amerikanischen Kanalbauer nach 1903 hat Panamas Kanalzone sanitär und verkehrstechnisch auf europäisches bzw. nordamerikanisches Niveau versetzt. Beobachter Panamas mit Lateinamerika-Erfahrung haben allerdings stets auf vergleichbar prekäre Zustände in Südamerika aufmerksam gemacht; im übrigen genügt schon ein Blick in Goethes Reiseberichte über Süditalien, um panamaische Zustände im 19. Jahrhundert zu relativieren. Am Isthmus von Panama kamen allerdings mehrere Faktoren erschwerend hinzu, die auch in den meisten Reiseberichten immer wieder angesprochen werden: die extremen klimatischen Bedingungen, die Marginalisierung und Defunktionalisierung des Isthmus im Zuge des Zusammenbruchs des spanischen Weltreichs sowie schließlich die ungezügelte Überflutung der Transitzone zwischen Colon und Panama durch die der kalifornische Migration. Der desolate Zustand des Camino Real ist von der Tatsache mit geprägt, daß bis zur Fertigstellung der Eisenbahn (1855) jährlich zwanzig- bis dreißigtausend Transitreisende über diesen fragilen Maultierpfad, der nach Abzug der Spanier aus Panama nicht mehr instand gehalten wurde, geschleust worden sind. Das "Abenteuer Panama" war somit auf diesem Pfad zwangsläufig vorprogrammiert. Die meisten Reiseberichte aus der "prämodernen", von Massenmigration und Eisenbahntransport noch unberührten Phase Panamas sind den Kategorien politischer bzw. explorativer Reiseberichte zuzuordnen, die nach der Unabhängigkeit von Spanien die veränderten politischen und sozialen Bedingungen, häufig auch die Möglichkeiten einer besseren verkehrstechnischen Nutzung Panamas zu thematisieren suchen. In der zweiten Phase der mit dem Bau der transisthmischen Eisenbahn (1850-55) einsetzenden verkehrstechnischen Modernisierung Panamas und der Konfrontation mit der kalifornischen Migration gewinnt der Topos Abenteuer breiten Raum. Damit wird auch das Problem der Fiktionalisierung von Reiseberichten, insbesondere wenn sie auf die Erlebnisse der Forty-Niners zugeschnitten waren, akut. Aber auch die Abenteuerberichte der Forty-Niners haben ihren Wert

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insofern, als sie etwas von der Stimmungslage wiedergeben, die Panama in der Konfrontation mit der amerikanischen Expansion erfaßte. Von der Minderwertigkeit des Fremden aus der Sicht der amerikanischen Migranten, von deren totalem Unverständnis für das Andere Hispano-Amerikas geben diese Berichte eindringliches Zeugnis. Nur selten, wie etwa bei Forster, besteht eine Fähigkeit zur Wahrnehmung der Ästhetik, der morbiden Schönheit des alten Panama. Die merkantile und technische Überlegenheit der durch Panama stürmenden Nordamerikaner war offensichtlich so erdrückend, daß selbst in Reiseberichten aus lateinamerikanischer Feder (Roldän/Lisboa) mit Verweis auf die Superiorität der angelsächsischen Rasse auch die darwinistische Position eines fait accompli amerikanischer Dominanz am Isthmus, ein Manifest Destiny, hingenommen wurde. Die ergiebigsten Hinweise lassen sich jedoch aus allen Reiseberichten im Hinblick auf den fortschreitenden Amerikanisierungsprozeß am Isthmus herausfiltern. Nordamerikanische Präsenz begann in Panama zunächst vermittelt über den Einbezug in das amerikanische Handels- und Verkehrsnetz. Amerikanische Schiffe, amerikanische Waren, vor allem landwirtschaftliche Produkte, erschlossen Panama schon im frühen 19. Jahrhundert, wie Hall und Mollien belegen, und ersetzten den traditionellen Bindungsstrang mit Spanien und Peru. Aus der Karibik, über Jamaika, in Kooperation mit englischen Handelshäusern operierend, drangen englische und amerikanische Kaufleute mit ihren Waren an den Isthmus und von dort in andere pazifische Häfen vor. Engländer und Amerikaner waren die ersten, die sich nach dem Rückzug Spaniens am Isthmus niederließen und konsularische Vertretungen eröffneten, wenig später gefolgt von den Franzosen. Ab 1848/49 begann schließlich die durch Goldfunde in Kalifornien ausgelöste Massenmigration durch Panama, die zwei Jahrzehnte später ebenso abrupt mit der Fertigstellung der transkontinentalen Eisenbahnverbindung zwischen New York und San Francisco endete. Das Geschäftsleben am Isthmus glitt jetzt in US-amerikanische Hände. Besonders davon betroffen war zunächst die Hotelbranche; alle größeren Infrastrukturinvestitionen im Bereich von Hafenanlagen oder beim Bau der transisthmischen Eisenbahn, die 1855 fertiggestellt wurde, standen fortan unter amerikanischer Kontrolle. Amerikanische Technik, Sprache, Kultur und Mode fanden ihren Platz am Isthmus wie auch der Dollar, der hier zur Leitwährung avancierte. Roldän berichtet, daß selbst der Polizeischutz im Transitverkehr in Selbsthilfe von amerikanischen Geschäftsleuten organisiert wurde. Schenkt man den Reiseberichten dieser Zeit Glauben, so begann das amerikanische Jahrhundert in Panama im Gefolge des kalifornischen Goldrausches mehr als 50 Jahre vor der Unterzeichnung des berüchtigten Kanalvertrages von 1903. 289

Friedrich von Krosigk

Die exzeptionellen Bedingungen Panamas, die eklatante Dekadenz und Rückständigkeit des Isthmus, die offenbar auch ihre prägenden Spuren in der Gesellschaft Panamas hinterlassen hatten, haben zur Reflexion über die Gründe von Aufstieg und Niedergang sowie über eine mögliche Entwicklungsdynamik Panamas herausgefordert. Auch für diese "entwicklungstheoretisch" inspirierte Diskussion bieten die Reiseberichte wichtige Anregungen, wenn auch nicht zu übersehen ist, daß der Entwicklungs- bzw. Dekadenz-Diskurs über Panama in allen Reiseberichten auch lateinamerikanischer Provenienz stark sozialdarwinistische Züge trägt. Die lange Geschichte der funktionalen Spezialisierung des Isthmus als Transitkorridor zwischen dem atlantischen und pazifischen Amerika wird dabei nicht hinreichend beachtet. Ein Defizit aller Reiseberichte über Panama im 19. Jahrhundert bleibt zudem ihre enge geographische Orientierung auf den schmalen Transitkorridor zwischen Portobelo/Colön und Panama. Panama als Land ist in allen Berichten eine unbekannte Größe, schon aufgrund der Tatsache, daß die verkehrstechnische Erschließung des Isthmus erst unter amerikanischer Regie zwischen den beiden Weltkriegen, also im 20. Jahrhundert, angegangen wurde. Noch 1924 konnte Lady Richmond Brown ihren Reisebericht über dieses unbekannte Panama unter die Überschrift "Unknown tribes, uncharted seas" stellen. 73 Schließlich wäre anzumerken, daß die Reiseliteratur über Panama nicht unter literaturästhetischen Zwängen wie beispielsweise die literarische Produktion über Spanien im 19. Jahrhundert stand. Bestenfalls ist es die Orientierung am Vorbild Humboldts, die zum ehrgeizigen Nachvollzug enzyklopädischer Berichterstattung und Betrachtung, wie z.B. bei Mollien, herausgefordert hat. Vielfach aber geht es in den Beschreibungen - vor allem aus angelsächsischer Feder - um ein nüchternes Evaluieen isthmischer Potentiale für eine weitere verkehrstechnische Erschließung; kein ästhetisches El Dorado, kein Granada oder Sevilla stehen zur Disposition. Verfallene Klöster, Schulen, Kirchen, morbide Schönheit, bedrohliche Dekadenz und eine überwältigende und nicht selten tödlich zurückschlagende Natur, geographische und epidemiologische Exzeptionalität und der Zusammenprall zweier Kulturen: Das ist der Stoff, aus dem die Reiseliteratur Panamas im 19. Jahrhundert ihre Vitalität gewonnen hat. Jedoch nur bei vorsichtigem komparativen, kritisch auswertendem, kontextuell reflektierendem Umgang mit den Reiseberichten als Zeitdokumenten ist es möglich, diese für ein besseres Verständnis Panamas im Übergang von der hispanischen in die angloamerikanische Welt nutzbar zu machen. 73

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Lilian Mabel Alice Brown: Unknown tribes, uncharted seas. London 1924.

WOLFGANG BINDER

"Von einem, der vorgab, die Karibik kennenzulernen und dabei das Empire zu retten versucht." Imperiale Rechtfertigungsmechanismen in James Anthony Froudes The English in the West Indies (1888). 1 Das oben genannte Werk gehört, zumindest im anglophonen Bereich, zu den bekanntesten und umstrittensten Reiseberichten aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Neben anderen haben der große Trinidader C.L.R. James und der afrokaribische Intellektuelle John Jacob Thomas, der gerne mit Marti und Hostos verglichen wird und der die erste Grammatik der anglophonen Kreolsprachen verfaßte, gegen den Bericht angeschrieben - Thomas mit dem 1889, ein Jahr nach Froudes Werk erschienenen Froudacity. Der Titel ist ein pun, ein Wortspiel, mit dem Familiennamen Froude, der Vokabel fraud (Täuschung) und dem Suffix -acity wie in mendacity (Unwahrheit, Lüge) oder, phonetisch noch näher am Familiennamen des Autors, audacity (Kühnheit, Frechheit). Dem Londoner Verlag New Beacon Books war die Entgegnung von Thomas immerhin noch 1969 einen Reprint wert. Was war geschehen, wie erklärt sich die Aufregung? An Reiseliteratur über Lateinamerika und die Karibik aus britischer Hand besteht ja gerade im 19. Jahrhundert, das in hohem Maße das Jahrhundert der Briten genannt werden kann, kein Mangel. Da ist zunächst einmal der Autor selbst; es handelt sich bei Froude um kein Leichtgewicht, sondern um einen der zu seiner Zeit - er lebte von 1819 bis 1894 - meistgelesenen britischen Historiker, dessen Karriere allerdings auch immer ein Odeur des Dissenses begleitete. Weltberühmt wurde er mit seiner zwölfbändigen Geschichte Englands der Tudor-Zeit (History of England from the Fall of Wolsey to the Defeat of the Spanish Armada) (1856-70), die nicht zuletzt durch ihre literarische Qualität begeisterte. Seine religiösen Zweifel ließen ihn in den 1840er Jahren von den Anglikanern und auch von Positionen des späteren Kardinals Newman abrücken und einen Roman des religiösen Skeptizismus schreiben, The Nemesis of Faith (1849), der ihn seine Professur am Exeter College kostete. Froudes in der Folge notwendig gewordene journalistische Arbeiten wurden in dem Band Short Studies on Great Subjects, ein Titel, der das Lebenswerk so manch dauerhaft bestallten

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Im folgenden zitiert nach James Anthony Froude: The English in the West Indies or the Bow of Ulysses. London 1888.

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Akademikers zu resümieren vermag, gesammelt. Er schrieb über The English in Ireland in the Eighteenth Century, wurde 1869 Rektor von St. Andrews und 1892 Regius Professor of Modern History in Oxford, wo sein Bruder Richard Hurrell, einer der Gründer des Oxford Movement, jahrzehntelang eine Schlüsselposition innegehabt hatte. James Anthony Froude verfaßte in der Folgezeit u.a. eine Biographie des Erasmus von Rotterdam und war der Nachlaßverwalter Thomas Carlyles. Wenn ich etwas ausführlich Forschungsgebiete und Veröffentlichungen Froudes aufgeführt habe, so in der Annahme, daß dies für die Lektüre und die Wertung seines karibischen Reiseberichts von Interesse ist. Die Reise Froudes im Winter 1886/87 führte ihn nach Barbados, St. Vincent, Grenada, Trinidad und Tobago, Dominica, Jamaika, Kuba und Haiti. Es handelte sich also nicht um ein eng begrenztes Zielgebiet, sondern um eine komplexe Region, die durch ethnische Vielfalt auf den einzelnen Inseln und - Haiti ausgenommen - durch die Vielfalt europäischer Beherrschung gekennzeichnet ist. In Trinidad, dessen nicht-britische Architektur ihm sofort ins Auge fällt (S. 76), angekommen, läßt Froude die Leserschaft sein Hauptinteresse an dieser Seereise wissen: "In Trinidad, as elsewhere, my own chief desire was to see the human inhabitants, to learn what they were doing, how they were living, and what they were thinking about, and this could best be done by drives about the town and neighbourhood." (S. 64) Dies ist in erheblichem Umfang eine Irreführung der geschätzten Leser, die, ehe Froude überhaupt ein Schiff betrat, geschweige denn verließ, bereits auf dem Weg zum Hafen von Southampton also recht eindeutige Hinweise auf sein "chief desire" erhalten haben. Es gibt in der Tat Autoren, die überhaupt keine beschwerliche Reise antreten müßten, um zu dem Ergebnis zu kommen, mit dem sie bei Lichte betrachtet als Prämisse oder gar als Quintessenz ihrer Bemühungen vor Ort bereits gestartet sind. Ihr geistiges Gepäck ist bereits bei oder vor Antritt der Reise so schwer und so festgezurrt, daß wenig Neues darin Platz hat. Froude gehört in diese Kategorie. Er weiß natürlich, daß die karibischen Inseln sowie Guyana und Belize "the earliest, and once the most prized, of all our distant possessions" waren. (S. 5) Hinzu kommt eine bei einem Historiker der Tudorzeit, der im ausgehenden 19. Jahrhundert lebte, nicht ganz überraschende heroische Sicht der Dinge: "They (i.e. the West Indies) had been regarded as precious jewels, with sic hundreds of thousands of English lives had been sacrificed

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to tear from France and Spain. The Caribbean Sea was the cradle of the Naval Empire of Great Britain." (S. 9) Und als Freund und Bewunderer Thomas Carlyles, auf dessen Einfluß wir noch zurückkommen müssen, ist für ihn Geschichte identisch mit der Geschichte großer Männer wie Drake, Raleigh oder Rodney, die ein Empire schufen, mit Mitteln, die nicht anders geartet waren als die der rivalisierenden Mächte. Ein gelegentliches Echo der "leyenda negra" ist dennoch festzuhalten, so etwa in der Bemerkung über die spanischen Eroberer: "The Spanish gorged with plunder and were wading in blood [...]."(S. 24) Im chronologisch der eigentlichen Seereise vorgeschalteten Kapitel erfahren wir den wirklichen Grund für Froudes Unterfangen mit nachfolgender Publikation: "To a person like myself, to whom the preservation of the British Empire appeared to be the only public cause in which just now it was possible to feel concern, the problem was extremely interesting." (S. 8) Wie sehr ein Stück Reiseliteratur von unmittelbar zeitgenössischen politischen Bestrebungen beherrscht sein kann, zeigt uns Froudes Text. Die Regierung Gladstone beabsichtigte, Jamaika, das durch die Gordon Riots erschüttert worden war, wieder eine Verfassung zu geben. Vorgesehen war eine beschränkte "home rule", eine lokale Selbstverwaltung mit eingeschränkten Befugnissen dergestalt, daß unter einem britischen Gouverneur die Hälfte der Mitglieder der Councils von der Krone ernannt und damit weiß waren, die andere Hälfte von der mehrheitlich schwarzen Bevölkerung, zu wählen wäre. Für Froude, der gerne Plato und die llias zitierte oder England mit Rom verglich, wäre das ein ebenso gefährliches wie schandhaftes Unterfangen gewesen, eine An- und Einsicht, die im wesentlichen seinen gesamten Bericht färbte. Nehmen wir uns zuerst das Argument der Unehrenhaftigkeit oder der Schande vor. Froude, der sich von den Redekünstlern unter den Politikern, wie überhaupt von "practical politics", distanziert, empfindet "loyal pride in the greatness of my own country", für das er sich eine noch größere Zukunft erträumt (S. 320). Er ersehnt sich in seiner Not sogar eine fremde Institution wie die des Obersten Gerichtshofs der USA (die schließlich auch einmal zu den britischen Kolonien gehört hatten), um, wie er meint, irrationale, tages- oder parteipolitische Trends zu stoppen (S. 310). Ausgangspunkt und Ziel ist ausschließlich ein heldenhaftes, imperiales Großbritannien, das sich vor seiner Verantwortung gegenüber den Kolonien, den dort herrschenden gesellschaftlichen und ökonomischen Zuständen nicht drücken kann oder sich nicht drücken sollte. Lediglich für den Fall, daß England "over-empired" sei (S. 314), sollte man sich, so schandhaft dies auch sei, von den Kolonien trennen, die dann allerdings von den USA zwar nicht annektiert, aber in allen sonstigen Belangen "geschluckt" würden:

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"If England desires her colonies to rally round her, she must deserve their affection and deserve their respect. She will find neither one if she carelessly sacrifices her own people in any part of the world to fear or convictions.f...] They ought to be allowed [...] to enter into the closest relations with America which the Americans will accept, as the only chance which will be left to them. Such abandonment, however, will bring us no honour." (S. 327 f., 314) Was oder wer macht nun eine "gesunde", eine wünschenswerte Kolonie aus? Froude sorgt sich vor allem um die noch verbliebenen englischen Pflanzer und Geschäftsleute und fürchtet sich vor dem Entstehen weiterer Irlands ein Motiv, das mit traumatischer Häufigkeit angeschlagen wird (z.B. S. 80, 326 f.). Gemeint - und für die britischen Leserinnen und Leser eindeutig ist die Aufgabe einer protestantischen, weißen, britischen Minorität in einem anders gearteten Feindesland, das sich zu allem Unheil nicht einmal selbst ernähren kann. Der Antagonismus Minorität - Majorität ist, ob er nun angesprochen wird oder nicht, stets in Froudes Argumentationskette präsent. Für die Karibik besitzt diese Perspektive eine ethnische Komponente von nicht unerheblichen, vielmehr von explosiven Dimensionen. Froude produziert, wenn auch zaghaft und aus gutem Grund halbherzig, ein Stückchen "promotional literature", wenn er auf die "practically boundless resources" (S. 319) der Inseln verweist, auf die Überfüllung der britischen Industriestädte und den ebenso lapidaren wie unverblümten Ausspruch eines US-Amerikaners, den er auf der Reise traf: "There are dollars in those islands." (S. 275) Wir haben soeben kurz und bewußt vage auf die Mehrheitsverhältnisse zwischen den Ethnien auf den von Froude besuchten Inseln hingewiesen. Sie sind für seine sozio-politische Argumentation zentral, nicht zuletzt, weil sie mit ausgeprägten Wertungen einhergehen, auf die einzugehen sich lohnt. Froude reist nach eigenen Angaben nach Kuba a) wegen des Grabmals des Kolumbus (oder ist es das des Diego?), b) wegen der historischen Rolle Kubas als wichtigem Außenposten der alten mit England rivalisierenden Weltmacht Spanien, c) wegen eines Vergleichs der Zustände in dieser spanischen Kolonie zu den von ihm gerade in Augenschein genommenen britischen Kolonien und d) wegen Kuba als "land of romance". (S. 254) Havanna mit seinen zahlreichen Steinbauten erweist sich als eine der wenigen Überraschungen für Froude. Er hat ein verarmtes, vom Bürgerkrieg zerrüttetes Land mit anarchischen gesellschaftlichen Zuständen erwartet: "Havanna is a city of palaces, a city of streets and plazas, of colonnades and towers, and churches and monasteries. [...] The magnitude of Havanna, and the fulness of life which was going on there, entirely surprised me. [...] I found Havanna at least a grand imposing city." (S. 256 f.)

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Allerdings beurteilt er die politische Zukunft des Landes als "dark; the government is unimaginably corrupt." (S. 257) Wie Froude zu seinen Wertungen kommt, an denen es nicht eben mangelt, soll an anderer Stelle kurz beleuchtet werden. Nachdem der Reisende bereits eine ganze Reihe von Inseln besucht hat, ist er imstande, explizit zu vergleichen, und zwar in beide Richtungen: in eine neuweltliche und in eine zuvor existente altweltliche. Im Vergleich mit Kingston auf Jamaika, der wichtigsten Stadt einer britischen Kolonie im karibischen Raum, steht Havanna als ein in Stein gehauenes, urbanes Monument der dauerhaften spanischen Präsenz da; Kingston hingegen "has not one fine building in it". (S. 256) 2 Dies hat historische Gründe, die Froude erkennt, mit gravierenden, die Gegenwart determinierenden Konsequenzen, die ihm Schmerzen bereiten: "We English have built in those islands as if we were but passing visitors, wanting only tenements to be occupied for a time." (S. 256) Oder, anders ausgedrückt, die Spanier hatten Siedlungskolonien, die britischen Kolonien zeichneten sich durch "absentee ownership" aus. Froude mag Kuba, weil es - seiner Ansicht nach - spanisch ist. Alles erinnert ihn an Kastilien - hier haben wir sein zweites, insgesamt weit gewichtigeres Referenzsystem: das alte Huropa. Hier erscheinen ihm sein vertrautes Toledo, sein Valladolid in die Karibik versetzt. Erleichtert erkennt er, daß es dieselben spanischen Gesichter sind. "I found myself in Old Castile again, once more, amidst Spanish faces, Spanish voices, Spanish smells, and Spanish scenes." (S. 260) Von Kreolen oder Kreolisierung keine Spur. Froudes nordeuropäisches ethnozentrisches Bewußtsein hat dafür kein Gespür. Er geht sogar so weit zuzugeben - und das muß ihm als Vertreter der britischimperialen Oberschicht mit historischem Gedächtnis nicht leicht gefallen sein -, daß es besser für Kuba gewesen sei, von den Engländern nicht eingenommen worden zu sein, denn "the Spaniards have done more to Europeanise their islands than we have done." (S. 292) Froude, der sich in Havanna mit einem amerikanischen Bischof der katholischen Kirche unterhält, schwankt in seiner Haltung dem Katholizismus gegenüber. Dieser sei in Kuba schwach, faul, dekadent, nur die Jesuiten, deren

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Zu ähnlichen Eindrücken bezüglich des Zustands von Kingston kam 38 Jahre vor Froude John Bigelow. Der US-Amerikaner teilt in seinem auf ungleich empirischerem Vorgehen beruhenden Bericht nicht Froudes extremen Rassismus gegenüber den Afrikanern; er weist auf die gesellschaftlichen Barrieren auch zwischen schwarzer und braunhäutiger Bevölkerung hin. Erschreckend sind hingegen seine antisemitischen Äußerungen über Juden in Kingston. John Bigelow: Jamaica in 1850. Or, the Effects of Sixteen Years of Freedom on a Slave Colony. New York 1851. S. 15, 20 f.

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Wolfgang Binder Kolleg er besucht und lobt, predigen noch. 3 Allen Ernstes und ohne Anzeichen von Befriedigung konstatiert er, daß die katholische Kirche in Havanna oder in Madrid keine Ketzerverbrennungen mehr durchführen könne, weil sie nicht mehr fähig sei, religiöse Überzeugungen zu ausreichender Intensität zu bringen: "It can burn no more heretics, for it has lost the art to raise conviction to sufficient intensity." (S. 268) Offensichtlich gehören Praktiken der Inquisition für ihn auch im Jahre des Herrn 1887 zum Markenzeichen der Römischen Kirche. Er sieht diese zwar als eine undemokratische Macht an; zugleich beklagt er aber den Verlust festgefügter Ordnungen und einen generellen Autoritätsverlust in den zivilisierten Gesellschaften durch die Reformation. (S. 288 ff.) Froude legt so auch Zeugnis ab für eine Welt im Wertewandel, in der sich sicher geglaubte Fundamente als brüchig erweisen. Im ersten Kapitel seines Buchs betont er, er sei ausgezogen, Menschen und ihre Lebensbedingungen kennenzulernen. Was ihm an Havanna so gefällt, ist die fast vollständige Absenz schwarzer Gesichter, mit Ausnahme einiger weniger Straßenbettler. Seine idyllisierende Darstellung der Folgen der vor nicht gerade langer Zeit erfolgten Sklavenemanzipation wirft die Frage nach seinen Quellen bzw. nach seinen Informanten auf. Wie sonst auch, besitzt Froude einen "letter of introduction" zu einem Notabein auf Kuba, einem gewissen Don G —, der Spanier, Adliger und Industriekapitän (besonders im Bahnwesen) sei. Dieser Mann ist sein, wie er betont, unparteiischer Cicerone durch kubanische Geschichte und die gegenwärtige Realität. Auf den englischsprachigen Inseln haben ihm die Gouverneure und ab und zu ein Offizier die Informationen geliefert und ihn mit westindischer Gastlichkeit verwöhnt. So beschreibt er die Einnahme eines westindischen Cocktails als Nervenkitzel und Ritual zugleich. Er fühlt sich durchaus zu Hause in dieser Gesellschaft und evoziert ein exotisch-angenehmes karibisches Lebensgefühl einer "leisure class", wie er es schätzt: "Before anything else could be thought of [sic] I was introduced to make closer acquaintance afterwards, cocktail being the established corrective of West Indian languor [sic], without which life is impossible." Es folgt das Rezept, soweit Froude das Getränk analysieren kann. (S. 38) Nur bei seinen beiden Kurzbesuchen in Jacmel und Port au Prince, auf Haiti also, hat dieses Schema der gesellschaftlichen, politischen und ethnisch abgesicherten (Kontakt-) Aufnahme nicht funktioniert; das Resultat ist denn auch entsprechend. 3

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Die Amerikanerin Julia Ward Howe veröffentlichte in New York zwei Jahre nach Froude ihren Reisebericht A Trip to Cuba. Sie setzte sich ungleich mehr der Vielfalt des Lebens in Kuba aus. Ihr Besuch im Jesuitenkolleg ist bei allem antikatholischen Affekt ein Stück Literatur voller Witz, Selbstironie und scharfsinniger Beobachtungsgabe. Vgl. S. 57-65.

Von einem, der vorgab, die Karibik kennenzulernen Auf Kuba gibt es nach Froude - und wir müssen diese Aussagen wieder im kontrastiven Vergleich zu seiner Darstellung vor allem jamaikanischer Befindlichkeiten lesen - keinerlei rassische Spannungen, obwohl die kubanischen Sklavenhalter - im Gegensatz zu ihren Kollegen auf Jamaika, die 20 Millionen Pfund Entschädigung erhalten hatten - keinen Ausgleich vom Mutterland bekommen haben. Unser Autor hat allerdings Havanna und den Vedado kaum verlassen und ist schon gar nicht auf das Land gefahren. Die Schwarzen arbeiten seiner Darstellung gemäß einfach fröhlich an ihren alten Arbeitsstätten auf den Plantagen weiter, nur daß sie jetzt entlohnt werden: "All were satisfied with the change." (S. 266) Was er nicht schreibt, was aber auch zwischen den Zeilen zu lesen wäre: Parzelliertes Land wurde den ehemaligen Sklaven auf Kuba (im Gegensatz zu Jamaika vierzig Jahre zuvor) nicht zugeteilt. Etwas verwirrt bemerkt Froude freundschaftliche Beziehungen zwischen Spaniern und Schwarzen, aber angesichts so erfreulich klarer Machtverhältnisse fällt seine Stichelei eher milde aus: "The Spaniards have inherited a tinge of colour themselves from their African ancestors." (S. 267) Die Harmonie zwischen den Rassen basiert - und hier sind wir wieder bei den Begriffen Majorität und Minorität - auf "the numerical preponderance of the white element, which as in the United States, is too secure to be uneasy. The black is not encouraged in insubordination by a sense that he could win in a contest of strength." (S. 267) Seine für Großbritanniens Präsenz in der Karibik deprimierende Voraussage beruht auf dem Vergleich mit den spanischen Siedlungskolonien, auch wenn er die Überlegenheit des Engländers über den Spanier keineswegs in Frage stellen möchte: "The Spaniards, however inferior we may think them to ourselves, have filled their colonies with their own people and are reaping the reward of it." (S. 267) Froudes Ausdruck der Sorge um den Fortbestand des britischen Empire in der Karibik beinhaltet neben einem machtpolitischen vor allem ein ethnisches Argument - und zwar in einer pathologisch zu nennenden Intensität -, das wir bislang weitgehend zurückgehalten haben. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, wie nah er mit seiner Einschätzung der soziopolitischen Situation in den britischen Kolonien und der "Natur" der dort ansässigen Schwarzen an Positionen des von ihm hoch geschätzten Thomas Carlyle liegt, wie sie dieser in seinem Pamphlet "Occasional Discourse on the Nigger Question" von 1849 (!) formuliert hatte. 4 Carlyle hatte sich mit 4

Carlyles zynische Stereotypisierung des Schwarzen, die patriarchalische Herablassung mit dem Bild des drolligen schwarzen Mündels kombiniert, dürfte Froude nicht unbekannt gewesen sein: "Do I, then, hate the Negro? No; except when the soul is killed out of him, I decidedly like poor Quashee; and find him a pretty kind of man. With a pennyworth of oil, you can make a handsome glossy thing of Quashee, when the soul

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satirischer Verve an "My Philanthropie Friends" gewandt, "Benevolence", "Fraternity", "Emancipation-principle", "Christian Philanthropy" gegeißelt und "den" Schwarzen als notorischen Faulpelz gesehen, der nach der Emanzipation die weißen Grundbesitzer mit deren Bedarf an Arbeitskräften genüßlich zappeln lassen kann, während sie selber "in den Kürbissen liegen." Er wendet sich gegen den Import weiterer Afrikaner in die Kolonien - es würde die prekäre Balance zwischen Schwarz und Weiß weiter zu Ungunsten der Letzteren verschieben: "If the Africans that are already there could be made to lay down their pumpkins, and labour for their living, there are already Africans enough." (S. 303) Selbst die oben angesprochenen Parallelen zu Irland finden sich in Carlyles Kampfschrift: "To have 'emancipated' the West Indies into a Black Ireland; 'free' indeed, but an Ireland and Black! The world may yet see prodigies; and reality be stranger than a nightmare dream." (S. 307) Bereits vor Erreichen der ersten von ihm besuchten Insel, Barbados, schildert Froude eine Szene an Bord, die in ihrer Unmenschlichkeit und in ihren für ihn zwingenden politischen Folgen vieles vorwegnimmt, was er bei seinen weiteren Besuchen variiert, aber eigentlich immer nur obsessiv wiederis not killed in him! A swift, supple fellow; a merry-hearted, grinning, dancing, singing, affectionate kind of creature, with a great deal of melody and amenability in his composition. This certainly is a notable fact: The black African alone of wild-men, can live among men civilized. [...] [he] evidently means to abide among us, if we can find the right regulation for him." (S. 311) Wozu Carlyle die Schwarzen unter Androhung von Gewalt wirklich bewegen will, ist schlicht, für den Export wertvoller westindischer Produkte und nicht auf eigenem Land für sich selbst zu arbeiten: "If Quashee will not honestly aid in bringing-out those sugars, cinnamons and noble products of the West-Indian Islands, for the benefit of all mankind, then I say neither will the Powers permit Quashee to continue growing pumpkins there for his own lazy benefit; but will shear him out, by and by, like a lazy gourd overshadowing the rich ground; him and all that partake with him - perhaps in a very terrible manner." (S. 326) "Not a square inch of soil in those fruitful Isles, purchased by British blood, shall any Black Man hold to grow pumpkins for him, except on terms that are fair towards Britain." "The State wants Sugar from these Islands and means to have it [...]." (S. 328) Carlyles Argumentation endet mit einer unverhüllten Drohung: "Quashee, if he will not help in bringing-out the spices, will get himself made a slave again". (S. 327) Auch in seiner klaren Aufteilung dessen, der sich statisch oben bzw. unten in der Gesellschaft aufzuhalten hat, und in seiner Furcht vor jeder Veränderung (lies: Machtverlust der zivilisierten Weißen), das nur in Chaos enden kann, erinnert Carlyle an Froude (und umgekehrt): "Well, except by Mastership and Servantship, there is no conceivable deliverance from Tyranny and Slavery. Cosmos is not Chaos, simply by this one quality, That it is governed. [...] I have to complain that, in these days, the relation of master to servant, and of superior to inferior, in all stages of it, is fallen sadly out of joint." (S. 315) Thomas Carlyle: "Occasional Discourse on the Nigger Question." In: Fraser's Magazine, Dezember 1849. Vier Jahre später als eigenständiges Pamphlet publiziert. Im Text zit. nach Thomas Carlyle: English and Other Critical Essays. London 1964. S. 303-333.

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holt. Wenn es einen Fall extremer Fremdbetrachtung gibt, dann Froudes Blick auf schwarze Menschen. In diesem Fall handelt es sich um einen Jungen, der für ihn um so abstoßender (und gefährlicher) ist, als er in England eine Ausbildung oder gar eine Bildung erhalten hat: "There was a small black boy among us, evidently of pure blood, for his hair was wool and his colour black as ink. His parents must have been well-to-do, for the boy had been in Europe to be educated. The officers on board and some of the ladies played with him as they would play with a monkey. He had little more sense than a monkey, perhaps less, and the gestures of him grinning behind gratings and pushing his long thin arms between the bars were curiously suggestive of the original form from whom we are told now that all of us came. The worst of it was that, being lifted above his own people, he had been taught to despise them. He was spoilt as a black and could not be made into a white, and this I found afterwards was the invariable and dangerous consequence whenever a superior negro contrived to raise himself. [...] His children will not marry among their own people, and not only will no white girl marry a negro, but hardly any dowry can be large enough to tempt a West Indian white to make a wife of a black lady. This is one of the most sinister features in the present state of social life there." (S. 22) 5 Was Froude so nachhaltig stört, ist die Gefahr, die von einem intelligenten Schwarzen ausgeht, der die ihm zugewiesene Rolle (auf die noch eingegangen werden soll) möglicherweise nicht annimmt; ferner sieht er die Bedrohung durch Rassenmischung, "miscegenation", auch wenn er das nicht offen ausspricht. Sein Bild vom Afrikaner in der Diaspora - und wir bewegen uns absichtlich in der stereotypisierenden Abstraktion Froudes -, das durch das oben angedeutete dramatische, überlegene numerische Verhältnis zum weißen Bevölkerungsanteil geschärft und vielleicht zusätzlich verzerrt wird, ist das von Tieren oder von Kindern angenähert oder gar identisch mit ihnen. Als er auf Jamaika die Kleinstadt Mandeville besucht, stellt er in einer durch keine Differenzierung gebrochenen Reihung fest: "Cattle thrive at Mandeville, and sheep, and black men and women in luxuriant abundance." (S. 219) Auf dem dicht besiedelten Barbados, wo alle ihr Auskommen zu haben scheinen, fällt ihm bei einem flüchtigen Blick auf den Markt nur ein Tier-

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Es ist kein Zufall, daß John Jacob Thomas gerade diese Passage in Froudacy in Gänze zitiert und kommentiert. (S. 66-70) Sie vereint eine Reihe von Elementen, die Thomas als besonders anstößig empfinden mußte. John Jacob Thomas: Froudacy. West Indian Fables by James Anthony Froude. Explained by J. J.Thomas. London 1889. Repr. London 1969, mit einer Einführung von C. L. R. James.

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vergleich mit sexueller Konnotation ein: "The people were thick as rabbits in a warren." (S. 100) In den Kern seines politischen Anliegens zielt folgende Bemerkung, die ebenfalls auf keiner empirischen Untersuchung oder auch nur auf Froudes persönlicher Beobachtung basiert, aber als eines der Resumés seines Besuchs in Jamaika firmiert: "The negroes of the West Indies are children, and not yet disobedient children. They have their dreams, but for the present they are dreams only. If you enforce self-government upon them when they are not asking for it, you may turn the dream into a reality, and wilfully drive them back into the conditions of their ancestors, from which the slave trade was the beginning of their emancipation." (S. 208) Die Passage ist in ihrer verquasten Logik bemerkenswert. Versklavung und Sklaverei waren emanzipatorische Taten bzw. Perioden; Mitbestimmung oder Selbstbestimmung führt bei Schwarzen automatisch in eine Regression, in die Barbarei des Schwarzen Kontinents, zumal wenn sie, wie das jetzt der Fall wäre, ihnen aufgezwungen ("enforced") würde. Sie alle sind Kinder und müssen geführt, gegängelt werden. Die Ungleichheit der beiden Rassen ist angeboren, und sie werden sich nicht vermischen - ein Fall von 'wishful thinking': "The two races are not equal and will not blend." (S. 109) Ein weiteres Beispiel für eine Volte Froudes, die Ursache und Wirkung auf den Kopf stellt, soll angeführt werden: Die gravierenden Unterschiede zwischen Weiß und Schwarz basieren, so argumentiert er, eben nicht auf "slavery", sondern auf "freedom". "The African blacks have been free enough for thousands of years, perhaps for tens of thousands of years, and it has been the absence of restraint which has prevented them from becoming civilized." (S. 110) Einzelne Schwarze wie Frederick Douglass (übrigens der erste Botschafter der USA auf Haiti) oder der Chief Justice von Barbados, den Froude zu seiner gelinden Verwirrung traf, mögen ihre Möglichkeiten für sich nutzen können, politische Selbstbestimmung für das Volk wäre jedoch nur zu seinem Schaden, "to their own injury." (S. 110) In seinem Eifer entwickelt Froude bezüglich der Afrikaner - zu Hause und in der Diaspora - eine kuriose, negativ besetzte "völkerkundliche" Hierarchie, die seine politischen Argumente stützen soll und einen für einen Historiker erstaunlichen Rechtfertigungsmechanismus bei der Diskussion der Versklavung von Afrikanern enthält. Man beachte die sichere räumliche, die physische Distanz, aus der heraus beobachtet und räsonniert wird. (Froude befindet sich an Bord, vor Anker bei St. Vincent): "It was too hot to sleep; we sat several of us smoking on deck, and I learnt [szc] the first authentic particulars of the present manner of life of these much misunderstood people. Evidently [JIC] they belonged to a race far

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inferior to the Zulus and Caffres, whom I had known in South Africa. They were more coarsely formed in limbs and feature. They would have been slaves in their own countries if they had not been brought to ours." (S. 42) Bei seinen Bemerkungen zur afrokaribischen Bevölkerung kann Froude nicht umhin, eine geschlechterspezifische Differenzierung vorzunehmen, die nicht frei von lasziven Untertönen ist und, wie kaum anders zu erwarten, bei ihm schließlich in ein politisches Argument mündet - zum Schaden der schwarzen Männer. Das Auge des alten Herrn fällt auf Barbados auf junge schwarze Frauen; charakteristischerweise handelt es sich um eine der ganz wenigen Beschreibungen schwarzer Menschen und schwarzer Physis, die auf einer gewissen Eigenbeobachtung beruht und die nicht völlig abwertender Natur ist: "The women dress ill in Barbadoes [sic], for they imitate English ladies; but no dress can conceal the grace of their forms when they are young. [...] they carry their loads on their heads, and thus from childhood have to stand upright with the neck straight and firm. They do not spoil their shapes with stays, or their walk with high-heeld shoes. [...] Every movement is elastic and rounded, and the grace of body gives, or seems to give, grace also to the eyes and expression. Poor things! It cannot compensate for their colour [...] Their prettiness, such as it is, is short-lived. They grow old early, and an old negress is always hideous." (S. 105) In Kingston bemerkt Froude den Fleiß der schwarzen Frauen, die im Hafen Männerarbeit verrichten. Das reicht ihm, um ihnen, wenn überhaupt, das Stimmrecht zuzugestehen und es den Männern wegzunehmen oder gar nicht erst zu geben: "If black suffrage is to be the rule in Jamaica, I would take it away from the men and would give it to the superior sex. The women are the working bees of the hive. They would make a tolerable nation of black amazons." (S. 175) Ein Schreckgespenst greift Froude dankbar auf - Haiti. Auch hier dürfen wir eine Kenntnis Carlylescher Wertungen voraussetzen. Der Autor von Sartor Resartus und Übersetzer von Goethes Wilhelm Meister hatte kassandrahaft gewarnt: "Let him look across to Haiti, and trace a far sterner prophecy! Let him, by his ugliness, idleness, rebellion, banish all White men from the West Indies, and make it all one Haiti, - with little or no sugar growing, black Peter exterminating black Paul, and where a garden of the Hesperides might be, nothing but a tropical dog-kennel and pestiferous jungle [will exist]." (S.327)

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Im Vergleich zu Carlyles pamphlethafter Schärfe (und Offenheit) benutzt Froude das ökonomische Argument des freien Landbesitzers für Weiße in den Kolonien, das in Haiti außer Kraft gesetzt wurde, eher verschämt. Es dient ihm als eindringliche Warnung an seine britische Leserschaft für den Fall, daß das Beispiel Haitis Schule machen sollte: "In Hayti the black republic allows no white man to hold land in freehold. The blacks elsewhere with the same opportunities will develop the same aspirations." (S. 78) Froude hat vom Buch des Spencer St. John gehört und verdächtigt ohnehin alle Schwarze in den britischen Kolonien, dem Obeakult anzugehören; auf Haiti aber soll der Rückfall in die Barbarei greifbar sein: "Children were sacrificed as in the old days of Moloch and were devoured with horid ceremony, salted limbs being preserved and sold for the benefit of those who were unable to attend the full solemnities." (S. I l l ) Die Angelegenheit interessiert Froude so sehr, eine weitere Bestätigung (die er eigentlich gar nicht mehr benötigt, denn er glaubt ohnehin, was er glauben will) hält er für seine Mission für so nützlich, daß er tatsächlich nach Haiti aufbricht. Die Berührung mit dem Land findet in zwei mehrstündigen Ausflügen, einmal in Jacmel und dann in Port-au-Prince statt. Antifranzösische Affekte mischen sich mit bekannten Aversionen. In Port-au-Prince, wo der Dreck in den Straßen fermentiert und zum Himmel stinkt, bemerkt er schwarze Damen in diesem Schmutz, "in Parisian boots and silk dresses" (S. 302), und eine Kathedrale, die noch häßlicher sei als der Tempel der Mormonen in Salt Lake City - sonst nichts. Jacmel ist etwas ergiebiger. Nach dem Buch von Sir Spencer St. John fragt er auf Haiti nicht, aus Angst, in Stücke gerissen zu werden (S. 165). Ein Beispiel für die Konstruktion eines extremen Feindbilds und für die quasi literarische Dramatisierung seines Stoffs liefert seine Ansicht bezüglich eines neuen Hotels und seiner Besitzerin, die ihm sein Führer stolz präsentiert. Daß die Frau eine Mulattin ist, vergrößert seinen Horror - es hat Rassenmischung stattgefunden: "He pointed out to me with evident pride a new hotel or boarding house kept by a Madame Somebody who was a great lady of the place. Madame Ellememe was sitting in a shady balcony outside the first-floor windows. She was a large menacing-looking mulatto, like some ogress of the 'Arabian Nights', capable of devouring, if she found them palatable, any number of salt babies." (S. 164) Froude spricht mit niemandem, trifft niemanden und kommt zu der Schlußfolgerung: "They speak French still; they are nominally Catholics still; and the tags and rags of the gold lace of French civilization continue to cling about their institutions. But in the heart of them has revived the old idolatry of

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Von einem, der vorgab, die Karibik kennenzulernen the Gold Coast, and in the villages of the interior, where they are out of sight and can follow their instincts, they sacrifice children in the serpent's honour after the manner of their forefathers. Perhaps nothing better could be expected from a liberty which was inaugurated by assassination and plunder." (S. 162) Er findet die Haitianer schmutziger und verwahrloster als die Afrikaner in Afrika, in ihrem Urzustand also, und zieht zu diesem Vergleich eine Parallele mit freilebenden wilden Tieren und Tieren, die "domesticated" wurden. Er sieht auf Haiti die seiner Meinung nach abstoßendsten schwarzen Gesichter auf der ganzen Welt ("the most repulsive faces") und betrachtet Jacmel als den schmutzigsten und häßlichsten Ort menschlicher Ansiedlung überhaupt, auch wenn er zu seinem Leidwesen schon keine Beweise für Babyopfer präsentieren kann. Auf dem Schiff angekommen, unterzieht sich Froude zwanghaften Waschungen: "But before breakfast could be thought of, or any other thing, I had to strip and plunge into a bath and wash away the odour of the great negro republic of the West which clung to my clothes and skin." (S. 166) Der Beweis dafür, was 90 Jahre Unabhängigkeit bedeuten, wenn Schwarze das Sagen haben, ist erbracht (S. 302). James Anthony Froude ist der Ansicht, vor Antritt der Reise und auch nach Beendigung derselben, daß britischen Kolonien in der Karibik keine partielle Eigenständigkeit zugestanden werden kann. Es ist seiner Meinung nach keine Zwischenform möglich, sondern es gibt entweder das Modell der Kronkolonie oder eine Trennung. Indien und die sanftmütigen, mit der Despotie vertrauten Asiaten - auch "recognized inferiors" (S. 86) - sind sein Maßstab, an dem die karibischen Besitzungen gemessen werden müssen (S. 250). Nur England, nur britische Herrschaft, garantiert Glück und Frieden, bei der unendlichen Befähigung der Schwarzen zu sorgenfreiem Glück ein wahrer Segen, der selbst einen Schopenhauer an seinen eigenen Thesen zweifeln lassen würde. Froudes natürlich politisch instrumentalisierte Folgerung aus der "boundless happiness of the black race": Bei so viel (schwarzem) Glück wäre jede Veränderung schierer Wahnsinn (S. 70 f.). So sehr Froude als Vertreter des "Anglo-Saxondom" die imperiale Rhetorik bemüht - man fühlt sich an Kipling und sein berühmtes Gedicht über "The White Man's Burden" erinnert so sehr ist sein Reisebuch, das eigentlich eine Reise in die Inselwelt der eigenen politischen Überzeugungen, in die mit rückwärtsgewandtem, handfestem Rassismus garnierten Untiefen und Phobien eines britischen Intellektuellen darstellt, ein Schwanengesang auf das Empire. Handel, und damit Macht, sieht er im karibischen Becken scharfsinnig auf New Orleans und New York und nicht mehr in die alten Metropolen zudriften (S. 86). Der Bogen des Odysseus, den er im Untertitel seines Werks zitiert, mag zwar noch gespannt sein, zeigt aber nicht mehr

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kraftvoll nach oben oder auch nur geradeaus. In einer Passage, die an die in der Karibik heftig diskutierten und zum Teil auch mißverstandenen Äußerungen des frühen V. S. Naipaul 6 (eines Rivalen des aus St. Lucia stammenden Derek Walcott für den Literatur-Nobelpreis) erinnert, schreibt Froude von der Nichtigkeit der Karibik in allen Bereichen. (Man beachte die Serie der Negationen): "It is Strange to think how chequered a history these islands have had, how far they are even yet from any condition which promises permanence. None of them has arrived at any stable independence. [...] Only occasionally, and as it were by accident, they became the theatre of a grander game. [...] They were valued only for the wealth which they yielded, and society there has never assumed any particular noble aspect. [...] There has been romance, but it has been the romance of pirates and outlaws. The natural graces of human life do not show themselves under such conditions. There has been no saint in the West Indies since Las Casas, no hero, unless philonegro enthusiasm can make one out of Toussaint. There are no people there in the true sense of the word, with a character and purpose of their own, unless to some extent in Cuba [...]." Eine schockierend hohe Anzahl der Schwarzen "have no idea of duty and therefore are not made uneasy by neglecting it. [...] There is no sign, not the slightest, that the generality of the race are improving either in intelligence or moral habits; all evidence is the other way." (S. 305 f.)

Schlußbemerkung Froudes The English in the West Indies ist in einer zumindest für Jamaika kritischen sozio-politischen Phase zu situieren; das ideologielastige Werk ist von einem außergewöhnlich öffentlichen Diskurs, von einem imperialen Rechtfertigkeitsdiskurs geprägt; es besitzt phasenweise einen Pamphletcharakter, der an den seines Freundes Carlyle von 1849 oder an Argumentationsketten der Pro-Slavery-Literatur aus den Südstaaten der USA vor 1861 erinnert. Allerdings macht die vorgeschobene Unfähigkeit oder das Unvermögen, Menschen nicht-weißer Hautfarbe (und darunter reiht der 6

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Insbesondere eine Passage aus Naipauls Reisebericht The Middle Passage (1962), die hier in Auszügen wiedergegeben wird, erregte die Gemüter: "How can the history of this West Indian futility be written? What tone shall the historians adopt? [...] The history of the islands can never be satisfactorily told. Brutality is not the only difficulty. History is built around achievement and creation; and nothing was created in the West Indies." Zit. nach V. S. Naipaul: The Middle Passage. Harmondsworth 1978. S. 29.

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die Karibik

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Autor in letzter Konsequenz munter die Iren e i n ) 7 als M e n s c h e n wahrzunehm e n und ihnen aus einem physischen und kulturellen Distanzverhalten - mit daraus f o l g e n d e n gedanklichen und sprachlichen Abstraktionsgebilden - eine dauerhafte Inferiorität z u z u w e i s e n , seine b e s c h w e r l i c h e R e i s e nicht gerade u n a b d i n g b a r . 8 Froudes Betrachtungen s o w o h l der S c h w a r z e n als auch der s o g e n a n n t e n Coolies, der Inder in den West Indies,9 sind Paradebeispiele extremer Fremdbetrachtung, der Konstruktion einer Alterität, die unaufhebbar (und wünschenswert) erscheint. Letztlich liegt d e m eine in der Expansionsliteratur h ä u f i g festzustellende, sehr britische Einstellung zugrunde, w o n a c h zu erobernde Ländereien menschenleer zu sein h a b e n . 1 0 Nicht-Eng länder, Indianer, Afrikaner stören; w e n n sie mehrheitlich auftreten und gar Forderungen nach B e t e i l i g u n g an der Macht a n m e l d e n , h e l f e n nur n o c h ethnozentrisch garnierte Abscheu, Hierarchieleitem und drastisches Zähmen der w i l d e n Masse. James Anthony Froudes kurze A u g e n b l i c k e botanischen G l ü c k s , 1 1 in denen i m T e x t mit lyrischem A u f s c h w u n g der neu weltliche 7

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Eine der kuriosen Stellen bei Froude, die aus seinem irischen Trauma resultieren und bei ihm eine Art Paranoia erzeugen, findet sich in dem Kommentar zu seiner Lektüre der US-amerikanischen Zeitungen in Havanna mit ihren häufigen Berichten von Schwierigkeiten der heimischen Gladstone-Regierung und der Rolle der Briten in vielen Teilen der Welt. Diese Artikel veranlassen ihn zu der Äußerung des dringenden Verdachts, daß die Korrespondenten und die "telegraph clerks" in New York Iren oder irischstämmige Amerikaner sein müßten.(S. 296) Vgl. auch S. 80 und S. 326 f. im selben Werk. Chris von Gagern stellt in seiner nützlichen Studie Froudes Bericht in die Rubrik "Reisen zur Inspektion" und wird mit dieser Kategorie dem Werk nur teilweise gerecht. Chris von Gagern: Reisen in die Karibik. Wie sich Kontakt mit anderer Kultur in Reisebeschreibungen darstellt. Frankfurt am Main 1994. S. 161 ff. Froude bringt den Indern, die als Unfreie auf Zeit in die Karibik kamen, mehr Sympathien als den Schwarzen entgegen (was nicht sonderlich viel heißt), da sie arbeitsam seien und zu stolz, sich mit den Afrikanern zu vermischen. Er spielt sie gegeneinander aus, lobt das glatte schwarze Haar der Inder, die "grave dignity of their faces", die er mit den "broad, good-humored, but common features of the African" kontrastiert. "The Coolie comes to work. The negro does not want to work, and both are satisfied. [...] The two races are more absolutely apart than the white and the black." Allianzen sind also nicht zu befürchten. Schließlich sind die Inder für Froude keine Menschen, sondern nur "picturesque additions to the landscape." (S. 65, 67) Wenn, wie im Falle von Sir Walter Raleighs Bericht an Elisabeth I. über Guyana aus dem Jahr 1596, gestützt auf vorwiegend spanische Quellen, zahlreiche im Amazonasgebiet lebende indianische Völker erwähnt werden, so ausschließlich, um Vermutungen über Goldvorkommen Gewicht zu geben oder Möglichkeiten der Durchsetzung von Herrschaftsansprüchen abzuwägen. Sir Walter Raleigh: The Discoverie of the Large, Rich and Bewtiful Empyre of Guiana. London 1596. Einige Beispiele mögen genügen. Auf Barbados, in den Gärten der Gouverneursresidenz - das jeweilige gesellschaftlich abgesicherte Ambiente, das Bedrohliches auch der tropischen Natur in Schach hält, ist bei diesen Schilderungen Froudes nicht ohne Relevanz - werden wir Zeuge einer kleinen Verzückung:"[...] ferns waved their long fronds in the dripping showers, humming birds cooled their wings in the spray, and flashed in and out like rubies and emeralds. Gladly would I have lingered there, at least for a cigar, but I could not." (S. 41) Auf Trinidad erfährt Froude "the wonders"

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Paradies-Topos aufscheint und ein Element der imperialen Ästhetisierung des Gegenstands erkennbar wird, 1 2 fallen da kaum ins Gewicht. So empfiehlt er im Spätherbst seines Lebens resigniert all jenen Reisenden, die ihre Menschenbrüder in einem geordneten und rationalen Habitat sehen möchten, eine andere Route einzuschlagen. (S. 307) Ein wahres Wort.

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der Botanischen Gärten; es fällt ihm auf, wie groß die neuweltlichen Pflanzen im Vergleich zu ihren englischen Verwandten sind; es sind schließlich "imperial beauties". (S. 62) Seine eingestandene Bewunderung für die Flora setzt er von seiner Meinung über die Menschen in der Karibik ab: "Let man be what he will, nature in the tropics is always grand." (S. 61) Von Sensibilität und Beobachtungsgabe zeugt eine Bemerkung, die sich auf die Berge von Dominica bezieht: "It is not the form only in these West Indian landscapes, or the colour only, but form and colour seen through an atmosphere of very peculiar transparency." (S. 131) Vgl. auch S. 58, 69, 141, 234. Vgl. dazu Mary Louise Pratt: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation. London-New York 1992; insbes. S. 201 ff.

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Verwendete Reiseliteratur John Bigelow: Jamaica in 1850. Or, the Effects of Sixteen Years of Freedom on a Slave Colony. New York 1851. James Anthony Froude: The English in the West Indies or the Bow of Ulysses. London 1888. Mrs. Julia Ward Howe: A Trip to Cuba. New York 1890. V.S. Naipaul: The Middle Passage. London 1962. Sir Walter Raleigh: The Discoverie of the Large, Rich, and Bewtiful Empyre of Guiana. London 1596.

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Die Reise in die Abolition Europäische Reisende nach Cuba und die AntiSklavereidebatte zwischen 1820 und 1845 Humboldt als Beispiel Die ersten Sätze, mit denen Alexander von Humboldt die Einfahrt in den Hafen von Havanna beschreibt, zeichnen den Eindruck einer friedlichen Idylle und geben exakt wieder, was sich der europäische Reisende von eben dieser Ankunft in einer der ältesten und schönsten kolonialen Städte des spanischen Reiches in Übersee erwarten mag: "Der Anblick Havannas am Eingang des Hafens ist einer der reizendsten und malerischsten, dessen man sich an der Küste des äquinoktialen Amerika nördlich des Äquators erfreuen kann. Dieser von den Reisenden aller Völker gefeierte Platz besitzt nicht die Üppigkeit des Pflanzenwuchses, welcher die Ufer des Flusses von Guayaquil schmückt, noch die wilde Majestät der felsigen Gestade von Rio de Janeiro, zweier Häfen der südlichen Halbkugel. Aber die Anmut, welche unter unseren Himmelsstrichen die Bilder der bebauten Natur verschönert, mischt sich hier mit der Majestät der Pflanzenformen und der organischen Kraft, welche die heißen Zonen kennzeichnet." 1 Zwar ist Havanna, so Humboldt gleich anschließend, betrachtet man es nicht von der Ferne der Hafeneinfahrt aus, sondern aus der Nähe der städtischen Verhältnisse, deutlich weniger anziehend: "Zur Zeit meines Aufenthalts boten wenige Städte des spanischen Amerikas wegen des Mangels einer guten Polizei einen häßlicheren Anblick. Man watete im Schmutz bis zu den Knien, die Menge der Fuhrwerke oder Volantes, welche das kennzeichnende Gespann in Havanna sind, die mit Zuckerkisten beladenen Karren, die den Fußgänger drängenden und 1

Hier zitiert nach Alexander von Humboldt: Cuba-Werk, hg. v. Hanno Beck. Darmstadt 1992 (= Alexander von Humboldt Studienausgabe, 3), S. 9; die Ausgabe folgt im wesentlichen der ersten deutschen Übersetzung durch Therese Huber, der Witwe Georg Forsters. In der Originalausgabe der Humboldt'schen Relation Historique (1825; gleichzeitig auch als eigenständiges Buch erschienen) findet sich der Text als Kapitel XXVIII im Livre X des dritten Bandes; in der verdienstvollen Übersetzung des Textes durch Ottmar Ette (Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents, 2 Bände, Frankfurt am Main 1991) ist der ganze Cuba betreffende Teil nicht enthalten.

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stoßenden Lastträger machten diesem seine Lage ebenso ärgerlich wie demütigend." 2 Doch kommt der eigentliche Einwand, den Humboldt gegen die cubanischen Verhältnisse pflegt und der ihm letztlich den ganzen Aufenthalt vergällt, erst nach 150 Druckseiten detaillierter landeswissenschaftlicher Analyse zur Sprache. Diese 150 Seiten machen die Relation historique, in deren drittem Band sich das Cuba-Kapitel befindet, in dieser Präzision und klaren Ordnung zumindest für die Karibik zum ersten Reisebericht, der systematisch die Volkszählungen vergleichend auswertet und miteinander in Beziehung setzt; zum ersten Bericht, der systematisch die demographischen Daten der süd- mit denen der nordamerikanischen Städte vergleicht, und zu einem der wenigen Berichte, die die geographischen Koordinaten nicht nur gewissermaßen impressionistisch beschreiben, sondern bis in die Differenzen der unterschiedlichen Kalksteinformationen hinein analysieren und die lokalen Versteinerungen aus Pectiniten von denen aus Carditen und Madreporen absetzen. Die modernen Ausgaben des Humboldt'schen Textes benötigen dafür zu Recht die Erläuterung spezialisierter Fachleute. 3 Humboldt analysiert die Klimatabellen aus mehreren Jahren und vermerkt mit unüberhörbarem Stolz angesichts der Tatsache, daß er aus den Zollregistern von 64 Jahren den Umfang der cubanischen Zuckerausfuhr zusammenstellt: "Es ist dies die umfassendste Tabelle, welche bisher bekanntgemacht worden ist". 4 Erst am Ende all dessen, in einer Art Nachschrift, folgt dann das, was Humboldt eigentlich bewegt, und zwar mit einer für ihn und gerade angesichts seiner Selbstpräsentation als objektivem und minutiösem Wissenschaftler erstaunlichen politischen Leidenschaft: "Hiermit beende ich den 'Politischen Versuch über die Insel Cuba', worin ich den Zustand dieser wichtigen spanischen Besitzung, wie er heute ist, dargestellt habe. Als Geschichtsschreiber von Amerika wollte ich mit Vergleichen und statistischen Übersichten die Fakten aufklären und den Begriffen Bestimmtheit geben." Und weiter: "Dem Plan meines Werkes zufolge habe ich mich aller Betrachtungen enthalten über zukünftige Entwicklungen, über die Wahrscheinlichkeit von Veränderungen, welche die auswärtige Politik in der Situation der Antillen hervorbringen kann." 5 2 3 4 5

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Ebda., Ebda., Ebda., Ebda.,

S. S. S. S.

10. 31. 98 f. 154.

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Aber: "Dem Reisenden, welcher Augenzeuge von dem war, was die menschliche Natur quält oder entwürdigt, ziemt es, die Klagen der Unglücklichen zu Gehör derer zu bringen, die sie lindern können. [...] Ohne Zweifel ist die Sklaverei das größte aller Übel, welche die Menschheit gepeinigt haben". 6 Humboldts abgrundtiefe politische wie moralische Entrüstung über die Sklaverei scheint umso stärker durch seinen Text, als sie - was in unseren zusammenfassenden Zitaten nicht deutlich werden kann - jedes Mal durch eine halbe Druckseite von Argumenten abschattiert wird. In der Tat, so Humboldt, ist das Los der Sklaven auf Cuba relativ gut, aber relativ angesichts von Verhältnissen, die man nur absolut betrachten kann. "Geistreiche Schriftsteller haben vergeblich versucht, die Barbarei dieses Verhältnisses durch täuschende Worte zu verhüllen, indem sie die Namen von 'Neger-Bauern der Antillen', von 'schwarzer Lehnspflichtigkeit' und von 'patriarchalischer Protektion' [...] erfanden: Man entheiligt die edlen Künste des Geistes und der Phantasie, wenn durch täuschende Zusammenstellungen oder gewandte Sophismen Unbilden zu rechtfertigen versucht werden, welche der Menschheit Unheil bringen und die heftige Erschütterungen herbeiführen müssen." 7 Doch soll diese Diskussion hier nicht weiterverfolgt werden. Was von Humboldt vielmehr angesprochen wird, ist ein Topos der Reiseliteratur der Zeit, und mit seiner Relation historique begründet er so etwas wie eine Untergattung innerhalb der Reisebeschreibungen Lateinamerikas und der Karibik, nämlich die Reise in die Sklaverei, in die Besichtigung der eigenen Rolle der europäischen Staaten als Kolonialmächte einschließlich des schlechten Gewissens angesichts der damit bewirkten Auswüchse. Die Reisen nach Cuba am Ende des ersten und zu Beginn des zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts, zwischen 1825 und 1845, sind - so unsere zentrale Überlegung - Reisen in die Abolition; sie thematisieren stets die Sklaverei und spiegeln den Stand der Debatte um ihre Abschaffung, ihre Verwerflichkeit und ihren Nutzen, und es sind - neben allen Statistiken und allen pittoresken Details, die sich natürlich ebenso finden - tendenziell immer auch politische Reisen.

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Ebda., S. 154 f., S. 156. Ebda., S. 155.

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Die Reise in die Abolition Humboldt ist hier nur der erste, und nicht nur die Stelle, an der er von den drohenden "heftigen Erschütterungen" spricht, läßt erkennen, daß seine Beobachtungen unter dem klaren Einfluß der Verhältnisse in Haiti geschrieben wurden. Zweimal war Humboldt in Cuba, nämlich von Dezember 1800 bis März 1801 und nochmals von Mitte März bis Ende April 1804, also einmal während der militärischen Auseinandersetzung zwischen den schwarzen Sklaven und den weißen Kolonialherren und dann, nach dem Sieg der ehemaligen Sklaven auch über das Heer Napoleons, zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit Haitis als der ersten schwarzen Republik und der - nach den nordamerikanischen Vereinigten Staaten - zweiten Republik auf amerikanischem Boden überhaupt. Als sein Reisebericht dann endlich erschien, 1826, berührten sich Editionsgeschichte und Geschichte Haitis ein weiteres Mal: Soeben war Haiti, nach langen Auseinandersetzungen und gegen erbitterten Widerstand der ehemaligen colons, gegen eine enorme Reparationszahlung von Karl X. als unabhängiger Staat anerkannt worden. Reiseberichte über Cuba lassen sich nicht ohne diesen Hintergrund lesen. Wenn von den Sklaven und der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Aufhebung der Sklaverei die Rede ist, spielt immer auch der Gedanke mit eine Rolle, was alles passieren könnte, wenn gegebenenfalls die Sklaven ihre Befreiung selbst in die Hand nehmen würden, und die immer wieder aufflakkemden Aufstände auf den Plantagen bestätigen diese Überlegung. Übrigens wird der Gedanke an einer Stelle, mitten in Humboldts Überlegungen zur Demographie der Insel, auch in der Relation historique manifest, wenn es heißt: "Wer möchte den Einfluß voraussagen, welchen eine 'Afrikanische Föderation der Freien Staaten der Antillen', zwischen Colombia, Nordamerika und Guatemala liegend, auf die Politik der Neuen Welt ausüben würde ? Die Furcht vor diesem Ereignis wirkt unstreitig mächtiger auf die Gemüter als Grundsätze der Humanität und der Gerechtigkeit."8 Auffällig ist dabei, daß Cuba - was man leicht übersieht - im 19. Jahrhundert insgesamt zu den am häufigsten bereisten und beschriebenen Ländern Lateinamerikas zählt. Eine Bibliographie nur der englischsprachigen oder ins Englische übersetzten und in Buchform erschienenen Reisebeschreibungen käme jedenfalls für das 19. Jahrhundert bereits auf 35 Titel; vor allem die französischen Reiseberichte und die zahlreichen Aufsätze - etwa in der Revue des Deux Mondes - müssen noch hinzugerechnet werden. 8

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Ebda., S. 64.

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S i e alle beschreiben eine Gesellschaft in schnellem Wandel. Gerade die Ere i g n i s s e v o n Haiti sind e s nämlich, die dazu führen, daß dort der Zuckerrohranbau z u s a m m e n b r i c h t und sich daher die N a c h f r a g e in Cuba entsprechend erhöht; gerade daher werden i m ersten Jahrhundertdrittel v o n Cuba m e h r S k l a v e n eingeführt als j e zuvor, w i e denn auch die B e v ö l k e rungszahl insgesamt rapide ansteigt. 9 Z u g l e i c h greifen nun aber auch die ersten F o l g e n des Verbots des Sklavenhandels, auf das sich England und Spanien am Rande des W i e n e r Kongresses grundsätzlich geeinigt hatten und deren erste Stufen 1817 und 1820 in Kraft treten. Zwar k o m m t der Sklavenhandel auch in Cuba k e i n e s w e g s v ö l l i g z u m Erliegen; aus den Forschungen vor allem José Luciano Francos w i s s e n wir, w i e stark er, w e n n auch illegal, w e i t e r g e h t , 1 0 und e i n z e l n e Reisebeschreibungen über Cuba belegen es. S o wird in Henry Tudors breitangelegter Reisebeschreibung v o n 1834, Narrative of a Tour in North America, Comprising Mexico, the Mines of Real del Monte, the United States, and the British Colonies with an Excursion to the Island of Cuba, berichtet, w i e i m H a f e n v o n Matanzas ein Sklaventransporter a n l e g t . 1 1 Gerade durch

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Zum historischen Hintergrund vgl. neben vielen anderen Arbeiten die grundlegende Studie von Franklin W. Knight: Slave Society in Cuba during the Nineteenth Century. Madison 1970; und die umfassende, dreibändige Arbeit zur Sklavenökonomie auf den Zuckerplantagen von Manuel Moreno Fraginals: El ingenio. La Habana 1978, sowie ders. (Hg. u.a.): Between Slavery and Free Labor: The Spanish-Speaking Caribbean in the Nineteenth Century. Baltimore 1985; Eduardo Torres Cuevas/Eusebio Reyes: Esclavitud y sociedad. La Habana 1986; (Colectivo de autores:) Temas acerca de la esclavitud. La Habana 1988. Vgl. v.a. José Luciano Franco: Comercio clandestino de esclavos. La Habana 1985 (Zusammenfassung der Forschungen seit den zwanziger Jahren); zuvor bereits Comercio clandestino de esclavos en el siglo XIX. In: ders.: Ensayos históricos. La Habana 1974, S. 103-124; mit leichten Veränderungen auch in: Colectivo de autores 1988 S. 27-48. Da der Text (London 1834), wohl auch wegen seines wenig spezifischen Titels, bisher weitgehend unbeachtet geblieben ist, sei eine Textpassage in extenso zitiert (Bd. 2, S. 131): "On again reaching Matanzas, I ascertained that a slave-ship had just entered the port from the African coast, with 250 slaves on board. She had been chased by the British schooner Skip-Jack for some hours before making the harbour, and I regret much to say, for the cause of humanity, that she had escaped it during the darkness of night. On proceeding to the quarter where these wretched beings were confined, I found them all huddled together in a large room, in which they were exposed to sale like a drove of pigs, in a state of complete nudity, with the exception of a bandage tied round their loins. They were disposed in lots of graduated ages, and were seated on the floor in groups of eight and ten, feeding out of a parcel of buckets, or rather devouring a miserable mess of the coarsest plantain, with a meagre sprinkling of bones and rice, exhibiting a colour as black as ink. It was, in truth, a species of pottage that I should have refused giving to my swine. Three of these miserable outcasts were extremely ill, from the effects of close confinement during a long voyage; particularly one of them, who appeared in a dying state, utterly unable to stand up, and who lay prostrate and groaning on the ground as naked nearly as he was born. The unhappy

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die Beschäftigung mit der Sklavenfrage geraten die Reisebeschreibungen aber, ob gewollt oder nicht, notwendigerweise in ein hochbrisantes politisches Konfliktfeld. Allerdings muß man hier je nach dem Erscheinungsort der Bände differenzieren. Diese Diskussionen können sich nicht gut in den cubanischen und spanischen Texten der Zeit abspielen; so wie als einziger narrativer Text mit anti-esclavistischer Tendenz Gertrudis de Avellanedas Roman Sab in Cuba selbst erscheinen konnte (1841) - alle anderen Texte mit entsprechender Tendenz, von den kleineren Texten Del Montes über Suarez' Roman Francisco bis zur Cecilia Valdes konnten erst nach 1880 oder im Exil gedruckt werden -, sowenig konnte in ihnen selbst die Sklaverei offen diskutiert werden. Für in Cuba wie in Spanien erschienene Reiseberichte bedeutet die politische Dimension zumeist, daß hier die Sklaverei praktisch nicht oder so gut wie nicht vorkommt. Anschaulich läßt sich dies an einer der in Europa bekanntesten und am weitesten verbreiteten Reisebeschreibungen belegen, nämlich dem Band La Havane beziehungsweise Viaje a La Habana der Comtesse de Merlin, im Jahr 1844 gleichzeitig auf französisch in Paris bzw. in spanischer Übersetzung in Madrid e r s c h i e n e n . 1 2 Die Comtesse de Merlin war eine in Cuba geborene Angehörige des spanischen Hochadels; ihr Vater, Joaquín de Santa Cruz y Cárdenas, Conde de San Juan de Jaruco, war enger Berater Karls IV. am Madrider Hof, wenngleich die Tochter weitgehend auf Cuba aufwuchs. Nach der napoleonischen Wende heiratete sie den ehemaligen Militäradjutanten Napoleons, General Merlin, und lebte nach dessen Tod als geschätzte Schriftstellerin und Sängerin in Paris. Ihre Schilderung des Lebens in Cuba, verfaßt als Briefe vor allem an prominente Vertreter des französischen Geisteslebens wie Chateaubriand, Philaréthe Chasles und George Sand, weist je nach Publikationsort erhebliche Differenzen auf. Während die französische Fassung 36 Briefe in drei Bänden umfaßt, sind es in der spanischen nur zehn; abgesehen davon, daß die Comtesse de Merlin - auch auf Grund eigener und familiärer ökonomischer Interessen - einen überaus gemäßigten Standpunkt in der Sklavereifrage vertritt, kann ihre Darstellung Les esclaves dans les colonies espagnoles nur als Zeitschriftentext erscheinen, nämlich im Jahr 1841 in der Revue des Deux Mondes. Vergleichbares findet sich auch im Reisebericht des spanischen Romantikers Jacinto de Salas y Quiroga, erschienen als Viaje a Cuba in Madrid 1840. Zwar endet dieser mit der

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creature was literally nothing but skin and bone - a complete anatomie vivante, or I should rather say, mourante." Vgl. (mit zahlreichen weiteren Nachweisen) die ausgezeichnete Einleitung von Salvador Bueno zur Neuausgabe des Textes, Condesa de Merlin: Viaje a la Habana. La Habana 1974.

Die Reise in die

Abolition

politisch sicherlich nicht ohne weiteres 'zensurkonformen' Überlegung, "Yo se que apenas hay un cubano que no ame la independencia, que no la desee", wenngleich er einschränkt, "pero, no pasa de un amor, de un deseo pasivo (...); entre desear tener e intentar tener, hay una terrible distancia". 1 3 Die Schilderung der konkreten Lebensumstände der Sklaven gerät jedoch nicht in seinen - veröffentlichten - Blick. Für englische und englischsprachige Autoren ist hingegen das Gegenteil der Fall. Sie betrieben die eigentliche voyage to abolition, insofern ein wichtiges, wenn nicht sogar das eigentliche Hauptinteresse ihrer Reisen wie deren Darstellung die Sklaverei darstellt.

Die nordamerikanischen Reisenden: Vergleich der Sklavereisysteme Was dabei die nordamerikanischen Reisenden betrifft, so interessiert sie auffälliger- wie verständlicherweise vor allem die Differenz zu den Zuständen in den eigenen Sklavenhalterstaaten des Südens der USA. Bei Abiel Abbot beispielsweise, dessen Reisebericht 1829 in Boston erschien, wird dies ein ausführlich begründetes Erkenntnisinteresse, das sich stellenweise zu einer geradezu komparatistisch arbeitenden Kritik der Plantagenökonomie auswächst, wenn es heißt: "It is a manner of serious inquiry with me, how slaves are treated by the different nations, who compose the population of this island, and in the different species of culture sugar and coffee."I 4 Und weiter: "There is a marked difference in the methods in Carolina and Cuba, of employing their slaves; in Carolina, all work on land is done in tasks, and the task is the same on all plantations [...] In Cuba, they have no measured task on coffee or sugar estates." In der Folgerung, die er aus dieser Beobachtung zieht, läßt sich ansatzweise noch die Überlegung einer ökonomischen Modernisierung des Sklavereisystems erkennen, wenn er konstatiert, daß offenbar das cubanische System der Arbeitsorganisation dem eigenen an Effektivität überlegen ist:

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Hier zitiert nach der Neuausgabe des Textes: Jacinto de Salas y Quiroga: Viajes. La Habana 1964, S. 195. Abiel Abbot: Letters Written in the Interior of Cuba. Boston 1829, S. 39 ff.

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"It astonishes one to see with which rapidity they pass over a field of weeds and bushes with their machete [...]. It is certain that they work more hours than the farmers in the north of our own country, and I verily believe in each hour accomplish as much and more [...] I should not think the opinion extravagant, that the slaves in Cuba accomplish one third more labor than the tasked slaves of Carolina." Solche Vergleiche werden dann in der Folge bis in die unterschiedliche Ernährung der Sklaven ("they have wholesome, and even delicious food, and as much as they desire"), ihre religiösen Bindungen und die Analyse der institutionellen Rahmenbedingungen fortgeführt, die - zumindest Abbots Auffassung nach - in den USA im allgemeinen weit besser funktionierten, dabei aber keinen höheren Ertrag der Sklavenarbeit ergäben. Auch John George Wurdemann, dessen Notes on Cuba mit dem etwas umständlichen Untertitel containing an account of its Discovery and Early History; a Description of the Face of the Country, its Population, Resources, and Wealth; its Institutions, and the Manners and Customs of its Inhabitants, With Directions to Travellers Visiting the Island fünfzehn Jahre später, 1844, ebenfalls in Boston gedruckt werden, nimmt im Blick auf den Zustand der Sklaverei einen Vergleich Cuba-USA vor, wenngleich auffällt, daß die Sklaverei in seinem Reisebericht einen eher marginalen Platz ganz am Ende seines Textes einnimmt. 15 Wurdemann, von Beruf eigentlich Arzt und daher nicht unmittelbar an Wirtschaftsdaten interessiert, kommt zu einem eher uneinheitlichen Ergebnis: "With so many different dispositions to curb or direct, it will readily be seen that the treatment of the slaves must vary much. They are, indeed, governed more by the fear of punishment than are the slaves in our Southern States [...] I have excited the astonishment of many a Creole, by stating the quantity of leisure our slaves enjoy after their daily tasks are over; they could not believe they would remain disciplined. Nor was their astonishment lessened when I told them that in my native State, South Carolina, some planters paid missionaries to preach to their slaves". 16 Auf der anderen Seite gilt, daß die Gesetze auf Cuba im Vergleich zu den USA so 'sklavenfreundlich' sind ("very liberal to the slave"), daß Wurdemann zu der Konsequenz gelangen kann, daß selbst dann, wenn sie nicht alle

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John George F. Wurdemann: Notes on Cuba (...). Boston 1844; seine Betrachtungen zur Sklaverei (S. 253-267) leitet er mit der Bemerkung ein: "No work on Cuba, how limited may be its pretensions, would be complete without a review of her system of slavery" (ebda., S. 253). Ebda., S. 257 f.

Die Reise in die Abolition

beachtet werden, die Situation der Sklaven insgesamt besser sein kann als die Situation der europäischen Bauern. 17

Englische Reisende: Kontrolle und Anklage Was hier im Vergleich des eigenen mit dem fremden Land noch ambivalent bleiben kann - nicht immer und nicht notwendigerweise endet der Vergleich der Sklavenhaltersysteme in dem Ruf nach ihrer Beseitigung das ist bei den Engländern, die die Insel bereisen, grundsätzlich anders. Ein wesentliches Motiv des reisenden Engländers der Zeit ist das der Kontrolle und der Anklage: der Kontrolle des zwischenstaatlich ausgehandelten Verbots des Sklavenhandels und der Anklage und Anprangerung seiner etwaigen Verletzungen. Es geht dabei nicht immer ohne kuriose Szenen ab. Bei Joseph John Gurney, dem Autor von A Winter in the West Indies, publiziert in London 1841, wird eine Haltung deutlich, die sich eher mit touristischer Sensationsgier als mit philanthropischer Anteilnahme charakterisieren läßt, wenn er, "after an early dinner at the Consul's", aufbricht, "on an excursión of rather a delicate nature", nämlich um die Orte zu besichtigen, an denen Sklaven illegal zum Verkauf angeboten werden. Der Besuch von zwei Orten verläuft ergebnislos; der erste barracoon, den sie besichtigen, ist leer und insofern enttäuschend, der zweite, "built to contain one thousand negroes", enthält nur "forty invalid Africans". Erst bei ihrem dritten Versuch, nun schon bei Sonnenuntergang, werden die Besucher zumindest partiell fündig, wenngleich auch sofort verscheucht, weil der Wächter, der die Interessen durchreisender Engländer bereits kennt, schon von weitem - wenn auch erkennbar entgegen der Wahrheit - ruft "No hay negros aquí". 18 Zwar wird man Gurney, "philanthropist and religious writer", wie das Dictionary of National Biography vermeldet, als einem ebenso bekennenden wie bekannten Quäkerfunktionär voll missionarischen Eifers und im Auftrag der 17

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"These laws are not all observed, but so many are, that the slave in Cuba is in some respects better off than the European peasant" (ebda., S. 260). Von Wurdemanns Text, ursprünglich anonym unter der Verfasserangabe "by a Physician" erschienen, existiert ein Faksimilienachdruck (New York 1971) in der Reihe "Physician Travellers"; der Autor (1810-1849) kam ursprünglich auf der Suche nach klimatischer Heilung seiner Tuberkulose nach Cuba. Zur Biographie vgl. G.E.Gifford: John George F. Wurdemann, 1810-1849: A Forgotten Southern Physician-Naturalist. In: Journal of the History of Medicine 24 , 1969), S. 44-64. Joseph John Gurney: A Winter in the West Indies. London 1841, S. 209 ff.

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Bible Society weit reisend und umfangreich publizierend, sicherlich subjektiv nur beste Absichten zugunsten der Abolition unterstellen können, die ihn schon früh in (auch politischen) Kontakt unter anderem mit Wilberforce brachten. Nichtsdestoweniger werden gerade bei ihm und in der Zusammenfassung des Erlebnisses auf eine bis in die sprachliche Repräsentation hinein entlarvende Art die Ambivalenzen des touristischen Blicks auf die Sklaverei deutlich, der das Elend gefunden hat, das er finden wollte: "We returned to our quarters at night, well satisfied having seen these horrors, and with the information which a most interesting day had afforded us, but heart-sickened and afflicted." 19 Insofern war es ein Glücksfall für das inzwischen in England erheblich gestärkte und politisch sowie parlamentarisch einflußreiche Anti-SlaveryMovement, daß mit mindestens zwei gewissermaßen berufsmäßig die Abolition überwachenden Reisenden die Informationsqualität über Cuba deutlich zunahm. Beide, David Turnball und Richard Madden, waren zeitweilig im offiziellen Auftrag auf Cuba (und auf den Nachbarinseln), um dort an der sogenannten comisión mixta mitzuarbeiten, die auf spanisch-englischer Regierungsebene Verstöße gegen das Sklavenhandels- und -verkaufsverbot ahnden sollte. Während Turnbull sein Interesse verstärkt auf eine Darstellung der sozialen und politischen Institutionen der Insel legt und er die religiöse Organisation, die Gefängnisse und das Gesundheitswesen beschreibt und zusammen mit Madden sogar die koloniale Psychiatrie besucht und schildert, gelingt Richard Madden ein gewissermaßen reiseschriftstellerischer Coup. Noch vor seiner Schilderung The Island of Cuba (London 1849) kann er nämlich über seine Kontakte zu den innercubanischen Sklavereigegnern, insbesondere zu der Tertulia um dem Schriftsteller Domingo Del Monte, einzelne Gedichte und vor allem die unveröffentlichte Autobiographie eines echten Sklaven veröffentlichen. Die Poems by a Slave, written in the Island of Cuba (London 1840) erregen ein europaweites Aufsehen; in Paris werden sogar einzelne der Texte von Victor Schoelcher übersetzt und in einem eigenen Band nochmals herausgegeben. Es ist ein höchst eigentümliches Buch, das praktisch wie eine abolitionistische Collage funktioniert. Madden selbst, der eigentlich ein irischer Arzt war, steuert zunächst zwei umfangreiche eigene epische Gedichte bei, The Slave-Trade Merchant und The Sugar Estate, sodann die Autobiographie des Sklaven mit Namen Juan Francisco Manzano sowie acht von dessen Gedichten. Den Anhang bilden zwei fiktive Frage-Antwort-Dialoge zur Si19

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Ebda., S. 211, Hervorhebungen zugefügt.- Vgl. den entsprechenden Artikel zu Gurney in: The Dictionary of National Biography. London 1885-1891, Nachdruck Oxford 1949, Bd. 8, S. 806 f.

Die Reise in die Abolition

tuation der Sklaven auf Cuba, der Text einer Predigt über die Necessity of Separating the Irish in America from the Sin of Slavery, mehrere historische Kurzdarstellungen als gewissermaßen Grundinformation des (noch) nicht näher informierten Lesers in England, sowie abschließend das - vor allem für Sprachwissenschaftler interessante - erste Glossar spanisch-kreolsprachiger Termini auf Cuba. Es kann in diesem Zusammenhang nicht darum gehen, diese Texte im einzelnen vorzustellen. Einige, so ernst und emsthaft sie gemeint waren, wirken heute eher kurios. Es verrät eher den Gelegenheitsdichter, wenn Maddens Einleitungspoem von immerhin knapp 300 Versen The Slave-Trade Merchant; a Poem; Descriptive of the Cuban Speculators in Stolen Men wie folgt beginnt: "Behold, yon placid, plodding, staid old man, His still and solemn features closely scan ! In his calm look how wisdom's light is shed, How the grey hairs, become his honored head ! Mark how the merchants bow, as he goes by, How men on 'Change, at his approach draw nigh, 'Highly respected,' and esteemed; 'tis said, His fame to Afric's farthest shore is spread !" 20 Auch die Dialoge, die in ihrem Charakter eine merkwürdige Mischung aus Polizeiverhör und Anklängen an den Katechismus aufweisen - "Q.: Have the Spanish governors of Cuba instructions to suppress it ? - A.: Yes; they have public instructions, wrung from the government when the English cabinet is importunate with that of Madrid" -, erstaunen zumindest den heutigen Leser eher wegen ihrer rhetorischen Unbeholfenheit, als daß sie ihren Zweck, zu seiner Information über die unbekannten Umstände beizutragen, zu erfüllen vermöchten. Ein wichtiges Verdienst des Textes ist aber, die Autobiographie Manzanos die einzige bis heute bekannte spanischsprachige Sklavenautobiographie aus

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Juan Francisco Manzano: The Life and Poems of a Cuban Slave (hg. v. Edward Mullen). Hamden, Conn. 1981 ( = Nachdruck von: Richard R. Madden: Poems By a Slave in the Island of Cuba, Recently liberated, London 1840, S. 43; in der Einleitung der Ausgabe zahlreiches biographisches und bibliographisches Hintergrundmaterial (zu Madden selbst vgl. zusätzlich das nicht herangezogene Dictionary of National Biography, Bd. 12, S. 739 f. sowie dessen Autobiographie The Memoirs (Chiefly Autobiographical) from 1798 to 1886, hg. v. Thomas More Madden. London 1891).

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der Karibik und im Original erst 1937 gedruckt - aufbewahrt und verbreitet, wenn nicht letztlich sogar erst angeregt zu haben. 2 1 An diesem Beispiel läßt sich auch zeigen, wie die längere Anwesenheit in einem Land gegebenenfalls dazu führt, statt oder außer einem Reisebericht gewissermaßen Reisedokumente zu veröffentlichen, insbesondere wenn - wie hier - an eine Veröffentlichung im Lande selbst aus Zensurgriinden nicht im Traum zu denken war. Ausblick Fragt man nach der Relevanz dieser Reisebeschreibungen als sozialhistorische Quellentexte, so muß die Antwort wohl gespalten ausfallen. In der Tat gibt es zahlreiche sozialhistorische Details, die von den Reisenden beobachtet und in ihren Schilderungen entsprechend vermerkt werden, die man aus anderen - etwa statistischen - Quellen zwar alle vermutlich auch, aber doch deutlich schwieriger und weniger anschaulich gewinnen könnte. Nahezu alle Cuba-Reisende der Zeit heben etwa die Rolle der Religion hervor, den Reichtum der Mönche und Klöster, die Art der Liturgie, doch ist dies weniger erstaunlich, wenn man sich die überwiegend protestantische Herkunft der angloamerikanischen Reisenden vor Augen hält. Der Argumentationskonnex zwischen katholischer Kirche und der sozialen Situation der bereisten Länder ist gerade für sie ein stets und auch in anderen Regionen wiederkehrender Topos und findet sich bei den Reisen nach Italien (Rom und der Kirchenstaat versus andere Teile des Landes) ebenso wie bei denjenigen nach Spanien und Portugal (Inquisition und ihr Einfluß). In mehreren der Reiseberichte wird auch die kulturelle Selbstdarstellung der weißen Oberschicht deutlich (zumindest in bezug auf das Leben in der Hauptstadt). Um 1840 ist Havanna unbestritten die Stadt mit dem weitestgefächerten und interessantesten Theaterleben in ganz Lateinamerika; wenn sie überhaupt nach Lateinamerika kommt und dorthin zu holen ist - was schwierig ist -, dann tritt Fanny Elssler in Havanna auf, und zwar im Teatro Tacon, dem 1838 eingeweihten und damals größten Theater des Kontinents, in dem auf fünf Etagen mehr als 3000 Besucher Platz fanden. 2 2

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Vgl. Thomas Bremer: The Slave Who Wrote Poetry: Comments on the Literary Works and the Autobiography of Juan Francisco Manzano. In: Wolfgang Binder (Hg.): Slavery in the Americas. Würzburg 1993, S. 487-501 (dort auch weitere bibliographische Hinweise). Vgl. mit zahlreichem wenig bekanntem Archivmaterial Jürgen Schneider: Künste, Theater, Literatur und Musik in Havanna um 1840. In: José Manuel López de Abiada / Titus Heydenreich (Hgg.): Iberoamérica. Historia - Sociedad - Literatura. Homenaje a Gustav Siebenmann. München 1983, Bd. 2, S. 781-810 (mit zahlreichen Nachweisen und Abbildungen) sowie Thomas Bremer: Die historische Dimension des kubanischen

Die Reise in die Abolition

Auch andere Indikatoren weisen auf den Reichtum der weißen Oberschicht hin. Robert Francis Jameson beklagt schon 1821 die hohen Grundstückspreise: "A house of this description, you will be astonished to hear, lets from 8000 to 14,000 dollars per annum", was er auf die Situation der Stadt als militärische Festung zurückführt: "You will recollect that the Havanna is a regular fortification, and that no more houses than those already in it can be built within its walls", und Wurdemann assistiert gut zwanzig Jahre später: "The value of real estate is very high in Havanna [...] Even now, however, there are not a few houses which rent for ten or twelve thousand dollars". Der Befestigungscharakter der Stadt zeigt sich bis in die Sicherung der Häuser und ihrer Fenster: "The striking pecularity of the town-house in Cuba is the care taken to render it safe against assaults from without. Every window that is at all accessible, either from the street or the roofs of the neighboring houses, is strongly barricaded with ironbars". 23 Doch für eine Charakterisierung der Insel über den engen Rahmen von Havanna hinaus und speziell im Blick auf die Sklaverei eignen sich die Reisebeschreibungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über Cuba nur bedingt. Die Eindrücke sind zu heterogen; ein Haussklave ist kein Feldsklave, Havanna ist nicht das Landesinnere, obwohl alle Reisenden dazu neigen, ihre spezifischen Eindrücke zu verallgemeinern und in gewisser Weise für die gesamte Insel 'hochzurechnen'. Hinzu kommt, daß die Perspektive der jeweiligen Reisenden in einem politisch derart aufgeheizten Moment so sehr von ihrem Sozialstatus, ihrem Reisezweck, ihrem eigenen politischen Standort geprägt ist, daß sie letztlich die Wahrnehmung in einem Maße steuert, das Mißtrauen gegenüber jeder Information gerade im Blick auf die Sklavereiproblematik angebracht erscheinen läßt. Aufschlußreich sind die Berichte eher in einem mentalitätsgeschichtlichen Kontext mit Blick auf die Europäer, die da reisen. The Imperial Eye, wie Mary Louise Pratt ihr in den letzten Jahren stark diskutiertes Grundlagenwerk zur Reiseliteratur genannt hat, betrachtet in Cuba seinen eigenen Sündenfall; es sind Darstellungen der Reise in die soziale Differenz.

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Theaters. Eine Einführung. In: Wilfried Floeck/Karl Kohut (Hgg.): Das moderne Theater Lateinamerikas. Frankfurt am Main 1993, S. 249-252 (dort weitere bibliographische Nachweise). Robert Francis Jameson: Letters from the Havanna, during the year 1820. London 1821, S. 60 f.; Wurdemann 1844 S. 44 ff.

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Thomas Bremer So hat es dann auch zurückgewirkt, in einer politischen Dimension. Bei Turnbull, der sich übrigens mehrfach auf Humboldt bezieht und mit 570 Seiten die umfangreichste Darstellung der Insel liefert, ist dies in der Widmung an den Earl of Clarendon als klare Forderung der Verschärfung der englischen Maßnahmen gefaßt: "In your Lordship's hand the task would be easy". 24 Bei Humboldt selbst kommt es noch in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu einem Skandal. Als die Reisebeschreibung über Cuba für eine nordamerikanische Publikation 1855 übersetzt wird, 'vergißt' der Übersetzer im Zeichen der Sezession nämlich Humboldts Nachschrift zur Sklavenfrage. Doch dieser protestiert. Es liest sich wie ein Vermächtnis, wenn der alte Humboldt mit 87 Jahren, dreißig Jahre nach der Erstpublikation und fünfzig nach der Reise, aus seinem Tegeler Schlößchen in einem offenen Brief an die nordamerikanischen Zeitungen über eben diese Nachschrift zur Sklavenfrage ausdrücklich schreibt: "Auf diesen Teil meiner Schrift lege ich einen weit größeren Wert als auf die mühevollen Arbeiten astronomischer Ortsbestimmungen, magnetischer Intensitätsversuche oder statistischer Angaben." 25 Der Gattung Reisebericht wächst hier eine politisch-moralische Funktion zu, wie sie sich so ausgeprägt wohl nur angesichts der Debatte um Sklaverei und Abolition entwickelt hat und entwickeln konnte.

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Turnbull 1849, S. V . Vgl. Humboldt 1992, S. 2 5 4 ff., Zitat S. 256.

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Verwendete Reiseberichte (in chronologischer Reihenfolge der Publikation): Alexander von Humboldt: Relation historique du voyage aux regions équinoxiales du Nouveau Continent. Paris 1814-1825, 3 Bde. (Nachdruck Stuttgart 1970), der auf Cuba bezogene Teil auch einzeln: Essai politique sur l'île de Cuba. 2 Bde., Paris 1826. Robert Francis Jameson: Letters from the Havanna, during the year 1820. London 1821 Abiel Abbot: Letters written in the Interior of Cuba. Boston 1829 Henry Tudor: Narrative of a Tour in North America, Comprising Mexico, the Mines of Real del Monte, the United States, and the British Colonies with an Excursion to the Island of Cuba. 2 Bde., London 1834. David Turnbull: Travels in the West: Cuba, with Notice of Porto Rico and the Slave Trade. London 1840 (Nachdruck New York 1969) Richard R. Madden: Poems By a Slave in the Island of Cuba, Recently Liberated. London 1840 (Nachdruck, hg. v. Edward Mullen, Hamden, Conn. 1981) José Jacinto de Salas y Quiroga: Viaje a Cuba. Madrid 1840 (Neudruck: La Habana 1964) Joseph John Guerney: A Winter in the West Indies. London 1841 John George F. Wurdemann: Notes on Cuba. Boston 1844 (Nachdruck New York 1971) Maria de las Mercedes Santy Cruz y Montalvo, Comtesse de Merlin: La Habane. 3 Bde., Paris 1844. Stark gekürzt als: Viaje a La Habana, Madrid 1844 (Neudruck der gekürzten spanischen Ausgabe: La Habana 1974) Richard Robert Madden: The Island of Cuba. London 1849.

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Der Marktplatz von Cördoba, 1831 Johann Moritz Rugendas: Bilder aus Mexiko; bearbeitet von Pablo Diener; Augsburg 1993.

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Reiseberichte als historische Quellengattung für Mexiko im 19. Jahrhundert Wer über das Mexiko des 19. Jahrhunderts wissenschaftlich arbeitet, kann auf zwei wichtige Quellengattungen nicht-mexikanischer Herkunft zurückgreifen: Zum einen die diplomatischen und konsularischen Berichte der Vertreter ausländischer Staaten im Land, zum anderen die zahlreich vorhandenen Reiseberichte, die während des gesamten 19. Jahrhunderts erschienen. Was die diplomatischen und konsularischen Berichte betrifft, setzten die meisten von ihnen in den frühen 1820er Jahren ein und erstreckten sich mit einigen, durch Unterbrechungen diplomatischer Beziehungen bedingten Lücken - über das ganze 19. Jahrhundert. Auf tausenden und abertausenden von Seiten berichteten aus der Hauptstadt die Geschäftsträger und Gesandten, die Ministerresidenten und Bevollmächtigten Minister, aus den Hafen- und Provinzstädten Konsuln und Vizekonsuln, die Handelsagenten und Konsulatsverweser. Häufig liegen Berichte selbst aus kleinen und scheinbar unbedeutenden Ortschaften vor, die überraschende Einblicke nicht nur in lokale und regionale Verhältnisse, sondern darüber hinaus in die Alltagsmechanismen der Beziehungs- und Handelsstrukturen zwischen ausländischen Händlern und ihren mexikanischen Partnern (oder Gegnern) unter den je spezifischen Bedingungen von Ort und Zeit ermöglichen. Die in den Depeschen und Berichten, Memoranden und Übersichten, Privatbriefen und Eingaben angesprochenen Themen sind so vielfältig wie zahlreich und umfassen das gesamte Spektrum nicht nur der Handels- und Arbeits-, sondern auch der Lebensverhältnisse von Ausländern in Mexiko. Es gibt kaum einen Bereich, der nicht ausführlich dokumentiert wäre: Angefangen bei kleinen und kleinsten Alltagsproblemen über Handels- und Finanzaspekte (wie Zollftarife und Zwangsanleihen, Regierungsdarlehen und Geschäftspartnerschaften) bis hin zu den "großen" Themenbereichen der Haupt- und Staatsaktionen: diplomatische Beziehungen, internationale Verträge, Blockaden, Kanonenbootpolitik und Krieg. Die diachrone Lektüre der diplomatischkonsularischen Korrespondenz entwirft ein faszinierendes Längsschnitt-Bild von den Veränderungen der Einschätzung, die eine bestimmte ausländische Gesandtschaft von Mexiko hatte; sie läßt deutlich werden, wie ausländische Diplomaten, Konsuln und Händler sich selbst, ihr Gastland und die von ihnen eingenommene Position in ihrer neuen Umgebung perzipierten. Die synchrone Lektüre der Korrespondenz ermöglicht eine komparatistische Querschnittanalyse, läßt unterschiedliche Reaktionen auf dieselben Ereig-

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nisse deutlich werden und bildet damit ein w i l l k o m m e n e s und erforderliches Korrektiv zur Ein- und Darstellung einer einzelnen Gesandtschaft. D e r bei w e i t e m größte Teil dieser D o k u m e n t e ist zwar unpubliziert, allerdings sind etliche britische, nordamerikanische und französische D o k u m e n t e v e r ö f f e n t l i c h t 1 . A m spärlichsten in publizierter Form dokumentiert ist die deutsche S e i t e 2 . Dieser relative Mangel an gedruckten amtlichen D o k u m e n ten wird i m deutschen Sprachraum allerdings durch eine V i e l z a h l an Primärberichten der z w e i t e n angesprochenen Quellengattungen a u s g e g l i c h e n : durch zahlreiche "Briefesammlungen" deutscher Reisender, Wissenschaftler oder Bergwerksangestellten; die "Mitteilungen" der "Rheinisch-Westindischen Kompagnie"; die "Erinnerungen" deutscher Händler s o w i e die große Anzahl an "Reiseliteratur", die den Lesemarkt des 19. Jahrhunderts geradezu überflutete 3 .

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Eine knappe Auswahl britischer Dokumente ist in den British and Foreign State Papers. Compiled by the Librarian and Keeper of the Papers. Foreign Office. London 1827-1867 publiziert. Vgl. auch die Sammlung von C. K. Webster (Hg.): Britain and the Independence of Latin America 1812-1830. Select Documents from the Foreign Office Archives. 2 Bde. London 1938. Zu den US-Quellen vgl. William R. Manning: Diplomatic Correspondence of the United States concerning the Independence of the Latin-American Nations. 3 Bde. New York 1925. Ders. (Hg.): Diplomatic Correspondence of the United States. Interamerican Affairs 1831-1860. 3 Bde. Washington 1937. Für die spanische Seite vgl. Jaime Delgado (Hg.): España y México en el siglo XIX. Bd. 3, Madrid 1953 und Javier Malagón Barceló (u.a.): Relaciones diplomáticas hispano-mexicanas (1839-1898). 4 Bde. México 1949-1968. Zu Frankreich vgl. Ernesto de la Torre Villar (Hg.): Correspondencia diplomática franco-mexicana (18081839). Bd. 1, México 1957; Lilia Díaz (Hg.): Versión francesa de México. Informes diplomáticos. 4 Bde. México 1963-1967. In dem seit 1847 als "Wochenschrift für Handel, Gewerbe und Verkehrsanstalten" herausgegebenen Preußischen Handelsarchiv. Berlin 1847-1855, 1864-1879 liegt eine auf amtlichen Konsularquellen beruhende ausgezeichnete Zusammenstellung wichtiger preußischer Berichte aus Mexiko vor, die vor allem für die Handels- und Wirtschaftsgeschichte von Bedeutung sind. Die einzigen darüber hinaus gedruckten offiziellen Quellen sind die von Joachim Kühn herausgegebenen Berichte des königlich-preußischen Ministerresidenten Anton von Magnus an Bismarck, 1866-1867. Göttingen 1965. Auf die unübersehbare Menge an Reiseberichten (zu Lateinamerika) verweist auch die Existenz mehrerer Bibliographien ausschließlich zu diesem Thema; für den englischsprachigen Bereich vgl. (zusätzlich zu den in den Anmerkungen 7 und 8 angegebenen Bibliographien): Harold F. Smith: American Travels Abroad: A Bibliography of Accounts Published before 1900. Carbondale, 111. 1969; Thomas L. Welch / Myriam Figueras (Hgg.): Travel Accounts and Descriptions of Latin America and the Caribbean, 1800-1920: A Selected Bibliography. Washington 1982; Bernard Naylor: Accounts of Nineteenth-Century South America: An Annotated Checklist of Works by

Reiseberichte als historische Quellengattung

Reichweite und Grenzen von Reiseliteratur als historische Quelle Die Mexikoliteratur des 19. Jahrhunderts läßt sich in vier zeitliche und systematische Kategorien einteilen: Am Anfang steht das Monumentalwerk Alexander von Humboldts, Reisebericht und wissenschaftliche Abhandlung zugleich. Dieses Werk stellt eine eigenständige Kategorie dar. Ab den 1820er Jahren entstand dann eine umfangreiche Reiseliteratur, deren Verfasser entweder nur relativ kurze Reisen durch das Land unternahmen oder aber, vor allem aus beruflichen Gründen, sich viele Jahre im Land aufhielten und ihre Beobachtungen später systematisch zu Papier brachten. Die dritte Gruppe wird vom Schrifttum über das kurzlebige Kaiserreich Maximilians gebildet; häufig waren Soldaten der verschiedenen Armeen die Verfasser dieser Berichte, die sich keineswegs nur auf militärische Expeditionen beziehen, sondern nicht minder die politische und gesellschaftliche Situation des Landes berücksichtigen. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts setzte dann eine intensive Erforschung des Landes ein, die ihren Niederschlag in zahlreichen statistischen, handels- und verkehrsgeographischen, geologischen und agrarwissenschaftlichen Detailstudien gefunden hat. Nicht alle Berichte sind aufschlußreich, viele gehen kaum über persönlich gefärbte Reiseeindrücke hinaus. Manche aber können als detaillierte Erfassung der Zustände im republikanischen Mexiko der ersten Jahrhunderthälfte gelten. Hierzu zählt etwa das 1844 publizierte Monumentalwerk von Eduard Mühlenpfordt, das geographisch-topographische Begriffe erläutert, klimatologische Erscheinungen untersucht, volkskundliche Sonderheiten aufzeigt, zahlreiche wirtschaftliche Daten liefert und insbesondere die Lage des Bergbaus darstellt. Humboldts "Versuch über den politischen Zustand des Königreichs Neu-Spanien", der 1809-1814 in einer fünfbändigen Ausgabe in Tübingen erschienen war, dürfte für Mühlenpfordts Werk Vorbild gewesen sein. Es handelte sich um eine neue Art von Landeskunde, die es fortan noch öfters im Mexiko des 19. Jahrhunderts geben sollte.

British and United States Observers. London 1969; José Iturriaga de la Fuente: Anecdotario de viajeros extranjeros en México. Siglos XVI-XX. 4 Bde. México 1993/ 1994; Drewey Wayne Gunn: Escritores norteamericanos y británicos en México. México 1977; Alicia Diadink: Viajeras anglosajonas en México. México 1973; Moisés González Navarro: Los extranjeros en México y los mexicanos en el extranjero 18211970. 2 Bde. México 1993/1994. Vgl. auch Dolores Pia (u. a.): Extranjeros en México (1821-1990). Bibliografía. México 1993; José Iturriaga de la Fuente: Anecdotario de viajeros extranjeros en México. Siglos XVI-XX. 4 Bde. México 1993/1994.

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Die "hohe Zeit" der europäischen Reiseberichte liegt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also in der Phase seit Öffnung des Kontinents für ausländische Besucher bis zum Einsatz von Dampfschiffen und Eisenbahnen, als Reisen in die unbekannte Welt Lateinamerikas verbreiteter, die Informationen zahlreicher und verläßlicher wurden; zugleich sank der Wert dieser Berichte als historische Quelle 4 . Neben die Reiseliteratur treten umfangreiche Darstellungen von Personen, die jahrelang in amtlichen oder halboffiziellen Stellen in Mexiko tätig waren: etwa vom bereits erwähnten Wegebaudirektor des Staates Oaxaca, Eduard Mühlenpfordt; vom preußischen Ministerresidenten Freiherr von Richthofen; vom Württemberger Adolph Uhde, der in Matamoros als englischer Konsul wirkte 5 . Methodisch und gattungsspezifisch ist es äußerst schwierig, diese Darstellungen von herkömmlichen Reiseberichten zu unterscheiden, da der "Reisecharakter" der Bücher öfters beibehalten, allerdings durch zahlreiche systematische Darlegungen unterbrochen worden ist. Für das Kaiserreich Maximilians wird die deutsche zeitgenössische Literatur von Augenzeugen, Reisenden, Kämpfern besonders zahlreich, während die Darstellungen in anderen Sprachen eher abnehmen 6 . Insgesamt liegen in deutscher Sprache viele, zum Teil hervorragende Werke von Zeitgenossen vor, die bei entsprechend vorsichtig-kritischer Auswertung Quellen ersten Ranges darstellen.

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Eine gute Einführung in die Gattung "Europäische Reiseberichte" als historische Quelle für die lateinamerikanische Gesellschaft vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1870 (Verläßlichkeit, Entstehungszusammenhang, Aussagekraft, Quellenwert etc.) liefert Magnus Mörner: Europäische Reiseberichte als Quellen zur Geschichte Lateinamerikas von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis 1870. In: Antoni Maczak/ Hans-Jürgen Teutebert (Hgg.): Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Aufgaben und Möglichkeiten der historischen Reiseforschung. Wolfenbüttel (Herzog-August-Bibliothek) 1982, S. 281-314. Eduard Mühlenpfordt: Versuch einer getreuen Schilderung der Republik Méjico besonders in Beziehung auf Geographie, Ethnographie und Statistik. Nach eigener Anschauung und den besten Quellen bearbeitet von Eduard Mühlenpfordt. 1. Bd.: Überblick über das Land im Allgemeinen; 2. Bd.: Beschreibung der einzelnen Landestheile. Hannover 1844; Nachdruck: Eduard Mühlenpfordt: Versuch einer getreuen Schilderung der Republik Mexiko. Einleitung Ferdinand Anders. Graz 1969; Emil Karl Heinrich Freiherr von Richthofen: Die äußeren und inneren politischen Zustände der Republik Mexico seit deren Unabhängigkeit bis auf die neueste Zeit. Berlin 1854 und Berlin 1859; Adolf Uhde: Die Länder am untern Rio bravo del Norte. Geschichtliches und Erlebtes. Heidelberg 1861. Martín Quirarte: Historiografía sobre el Imperio de Maximiliano. México 1970 (= Instituto de Investigaciones Históricas. Serie de Historia Moderna y Contemporánea, 9).

Reiseberichte als historische Quellengattung

Auch die anderen Nationalitäten weisen eine beträchtliche Menge an zeitgenössischer Literatur auf 7 . Für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts dominieren angelsächsische Berichte, was sowohl auf die frühe Anerkennung der mexikanischen Unabhängigkeit durch Großbritannien und die USA als auch auf das starke Wirtschafts- und Handelsinteresse dieser Länder an Mexiko zurückzuführen sein dürfte. Viele der englischen Reise- und Augenzeugenberichte erschienen sehr bald in Übersetzungen - eine ganze Reihe auch auf Deutsch - und deuten damit auf das Interesse hin, das auch in anderen europäischen Ländern an dem soeben unabhängig gewordenen Lateinamerika bestand. Allein aus US-amerikanischer Feder gibt es mindestens 500 Titel an zeitgenössischer Reiseliteratur (im weitesten Sinne): Tagebücher, Briefesammlungen, Reiseberichte, populärwissenschaftliche Abhandlungen von Mexiko-Reisenden etc. 8 Bis in die 1840er Jahre stammte der größte Teil dieser Literaturgattung von Händlern und Kaufleuten, potentiellen Kolonisten oder (vor allem zwischen 1846 und 1848) Soldaten; danach kamen Berichte von Diplomaten (etwa Waddy Thompson, Brantz Mayer oder Thomas Oliver Larkin), allgemeinere Werke oder "Landeskunden" auf den Markt 9 . Die Gattung "Reiseliteratur" ist im französischen Sprachraum mit ein paar Dutzend Werken zwar quantitativ bedeutend weniger stark als im angelsächsischen Bereich vertreten; dafür geht aber ihre "qualitative" Bedeutung -

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Neben den in den folgenden Anmerkungen genannten Titeln vgl. die gute Auswahl an Reiseliteratur von Ausländern: Brigitte B. de Lameiras: Indios de México y viajeros extranjeros. Siglo XIX. México 1973; Margo Glantz: Viajes en México. Crónicas extranjeras. 2 Bde. in 1 Bd. (oder in 2 Bden). México 1982. Vgl. hierzu Garold Cole: American Travellers to Mexico, 1821-1972; A Descriptive Bibliography. Troy, New York 1978; A. Curtis Wilgus: Latin America in the Nineteenth Century: A Selected Bibliography of Books of Travel and Description Published in English. Metuchen N. J. 1973; Drewey Wayne Gunn: Mexico in American and British Letters. A Bibliography of Fiction and Travel Books, Citing Original Editions. Metuchen N.J. 1974; Clinton Harvey Gardiner: Foreign Travellers' Accounts of Mexico, 1810-1910. In: The Americas VIII, 3, 1952, S. 321-351. Waddy Thompson: Recollections of Mexico. New York, London 1847; Brantz Mayer: Mexico. Aztec, Spanish and Republican. A historical, geographical, political, statistical and social account of that country from the period of the invasion by the Spaniards to the present time; with a view of the ancient Aztec empire and Civilization; a historical sketch of the late war; and notice of New Mexico and California. 2 Bde. Hartfort 1853; Thomas Oliver Larkin: First and Last Consul: Thomas Oliver Larkin and the Americanization of California. A Selection of Letters. Hg. von John Arkas Hawgood. San Marino, CA. 21962; Palo Alto, CA. 1970.

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Walther L. Bernecker wahrscheinlich ist Napoleons Entscheidung zur Intervention auf diese Literatur mit-zurückzuführen - weit über die der britischen Bücher hinaus 10 . Vieles von dem, was wir heute über die Vielfalt und Andersartigkeit von Flora, Fauna, den Bewohnern der Region und ihrer Sitten wissen, stammt von Reisenden. Mit der Entwicklung neuer Wissenschaftszweige um die Mitte des 19. Jahrhunderts - etwa der Ethnologie und der Anthropologie gewannen die Beobachtungen und Veröffentlichungen der Reisenden einen neuen Stellenwert. Auch Geographen, Geologen und Naturforscher publizierten ihre Beobachtungen und Eindrücke. Die häufig in Zeitschriften veröffentlichten Studien stellen wichtige Beiträge zur Erarbeitung eines immer komplexer werdenden Weltbildes dar, wenn auch viele ihrer Darstellungen nach unserem heutigen Wissens- und Bewußtseinsstand Fehlinformationen enthalten und stark vorurteilsbelastet sind. Für heutige Leser vermitteln sie allerdings ein anschauliches Bild von Wertevorstellungen und Denkmustem in den westeuropäischen Staaten, die häufig vom Mythos der "Überlegenheit des weißen Mannes" geprägt waren sowie andere Kulturen und Mentalitäten nur bedingt akzeptierten und aus ihrer jeweiligen Entwicklungsperspektive interpretierten. Mit dem nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmenden Interesse an sozial- und wirtschaftshistorischen Fragestellungen erhielten auch Reiseberichte als historische Quellen eine neue Bedeutung, da viele Einzelheiten, die zuvor als nebensächlich oder als nur unterhaltsam eingestuft worden waren, jetzt einen anderen Stellenwert erlangten. Dies gilt vor allem für Produktion, Verbrauchsverhalten, Verkehr, Mentalität, Kriminalität. Andererseits verloren Reiseberichte in dem Maße an Wert, in dem die Forschung die Archivbestände erschloß und nachweisen konnte, daß Angaben in den Reiseberichten falsch oder zumindest gröblich verzerrt waren. Inzwischen ist die naive Vorstellung, Reiseberichte seien bloße Wiedergabe von Realität, längst aufgegeben worden. Die Geschichtswissenschaft ist sich durchaus der Tatsache bewußt, daß der Quellenwert von Reiseberichten zahlreichen Einschränkungen unterliegt; es bedarf daher einer strengen methodischen Kontrolle der Reiseliteratur in bezug auf ihre Aussagen über die historische Wirklichkeit. 11 In jedem Fall müssen die Erkenntnisbe10

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Hierzu Margarita M. Helguera: Posibles Antecedentes de la intervención Francesa. In: Historia Mexicana XV, 1, 1965, S. 1-24; Nancy Nichols Barker: Voyageurs français au Mexique, fourriers de l'Intervention (1830-1860). In: Revue d'histoire diplomatique 87, 1973, S. 96-114. Zum Gesamtzusammenhang vgl. Peter J. Brenner: Reisen in die Neue Welt. Die Erfahrung Nordamerikas in deutschen Reise- und Auswandererberichten des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1991, S. 1-28.

Reiseberichte als historische Quellengattung schränkungen berücksichtigt werden, denen Reisende unterworfen waren; die Wirklichkeitsauffassung von Reiseberichten muß so rekonstruiert werden, daß ihre Abhängigkeit von Verhaltensmustern, Handlungsformen, Sinngebungsakten und Weltdeutung deutlich wird. Von großer Bedeutung zur korrekten Einschätzung der Reiseberichte ist etwa die Frage nach den jeweiligen Autoren, nach ihrer Herkunft, Ausbildung und Absicht. Von den 394 Reiseberichten über Mexiko aus der Zeit zwischen 1810 und 1910, die C. Harvey Gardiner erfaßt hat, 12 stammen 31 von Frauen (etwa Fanny Calderon de la Barca, Maria Graham, Fredrika Bremer). Die häufigsten Berufe der Autoren waren Kaufleute und Unternehmer (vor allem Bergwerksunternehmer), Seeleute und Soldaten, Wissenschaftler und Künstler, Diplomaten und Geistliche. Entsprechend der beruflichen Orientierung der Verfasser, nahmen Handels- und Wirtschaftsfragen zumeist einen breiten Raum in den Schilderungen ein; auch religiöse Fragen sowie Sitten und Landesgebräuche finden viel Beachtung. Wissenschaftler legten den eigentlichen Schwerpunkt ihrer Darlegung auf die Beschreibung der Natur. Relativ kurz abgehandelt wurden in der Regel die politischen Verhältnisse, deren scheinbar chaotisches Durcheinander viele Beobachter möglicherweise davon abgehalten hat, eine konsistente Interpretation zu versuchen. Die meisten Autoren entstammten der europäischen, städtischen Mittelschicht; sie waren zwischen 20 und 40 Jahren alt. Ihre zumeist bürgerlichen Wertvorstellungen betonten die Wichtigkeit von Schule und harter Arbeit, eines strengen moralischen Verhaltens und korrekter Umgangsformen. In aller Regel hoben sie den zivilisatorischen Abstand zwischen ihrem Herkunftsland und dem von ihnen beschriebenen hervor; hierzu verglichen sie europäische Kleidung, Werkzeuge, Möbel, Gewohnheiten und technische Neuerungen. Von besonderem Interesse ist die Beschreibung des Wandels der Lebensweisen, was allerdings nur bei längerem, mehrjährigem Aufenthalt oder bei Rückkehr an den ursprünglichen Beobachtungsort möglich war. Im folgenden sollen Reichweite und Grenzen von Reiseliteratur als historische Quellengattung anhand von drei Beispielen dargestellt werden. Die ersten beiden Beispiele illustrieren die Grenzen und die Gefahr von Reiseberichten, wenn diese als ausschließliche historische Quelle (ohne Kontrastmaterialien) zugrundegelegt werden; anhand des dritten Beispiels sollen Betrachtungen zur möglichen Verwendbarkeit von Reiseliteratur bei der

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Vgl. hierzu auch Mörner (Anm. 4), S. 283.

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Relativierung allgemeiner interpretatorischer Aussagen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Mexikos im 19. Jahrhundert angestellt weden.

Die Reiseliteratur und der Mythos vom mexikanischen Reichtum Die Wirkung von Reiseliteratur konnte außerordentlich groß sein: So dürfte der "Mythos vom mexikanischen Reichtum" nicht unerheblich - neben den diplomatisch-konsularischen Berichten der Zeit - auf die zahlreiche Reiseliteratur jener Jahre zurückzuführen sein. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts förderten Berichte von Europäern über die angeblich ungenutzten Naturressourcen des Landes die Vorstellung, daß ausländische Technologie und Kapital die Entwicklung Mexikos stimulieren und dem Land damit helfen könnten, sich von den Institutionen, Attitüden und Werten loszusagen, die als koloniales Erbe bestanden 13 . Kein Einzelautor hat den Mythos vom unbeschränkten Reichtum Mexikos mehr propagiert als Alexander von Humboldt, der Neu-Spanien zu einer Zeit besuchte, die das Goldene Zeitalter der spanischen Herrschaft und Kultur in Mexiko genannt worden ist. Materieller Wohlstand und kulturelle Entwicklung waren auf ihrem Höhepunkt - oder vermittelten zumindest diesen Eindruck. Der Reichtum von Bergwerksmagnaten, Monopolkaufleuten und Großgrundbesitzern ist auch auf den deutschen Gelehrten nicht ohne Eindruck geblieben. Streckenweise liest sich Humboldts Versuch fast wie eine aus europäischer Perspektive geschriebene Aufforderung, an dem potentiellen, bisher jedoch nur ungenügend genutzten Reichtum des Landes teilzuhaben 14 : "Ein großer Theil des Königreichs Neu-Spanien gehört unter die fruchtbarsten Länder der Erde. Am Abhänge der Cordillere, wo feuchte Winde und häufige Nebel den Boden tränken, ist der Pflanzenwuchs von unbeschreiblicher Ueppigkeit und Pracht [...] Das unermeßliche mexicanische Reich mit gehörigem Fleisse angebaut, könnte fast allein die Producte erzeugen, welche der Fleiß schiffahrender Nationen auf allen übrigen Thei13

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Vgl. hierzu Stanley J. Stein/Barbara H. Stein: The Colonial Heritage of Latin America: Essays on Economic Dependence in Perspective. New York 1970. Span. Ausg.: La herencia colonial de América Latina. México 1970,151983, S. 121. Friedrich Alexander von Humboldt: Versuch über den politischen Zustand des Königreichs Neu-Spanien. Tübingen 1. Bd.: 1809; 2. Bd.: 1810; 3. Bd.: 1812; 4. Bd.: 1813; 5. Bd.: 1814, hier Bd. 1, S. 65 f. Es gibt eine umfangreiche Literatur über Humboldt als Historiker Lateinamerikas und insbesondere Mexikos. Vgl. hierzu Michael Zeuske/Bernd Schröter (Hgg.): Alexander von Humboldt und das neue Geschichtsbild von Lateinamerika. Leipzig 1992.

Reiseberichte als historische Quellengattung len des Erdballs sammelt, Zucker, Cochenille, Cacao, Baumwolle, Kaffee, Waizen, Hanf, Flachs, Seide und Wein. Es besitzt alle nutzbaren Metalle, selbst das Quecksilber nicht ausgenommen. Herrliches Bauholz, Ueberfluß an Eisen und Kupfer würden die Fortschritte der mexicanischen Schifffahrt begünstigen. Nur der Zustand der Küsten und der Mangel an Häfen von der Mündung des Rio Alvarado an bis zum Ausflusse des Rio Bravo stellen Hindemisse in den Weg, welche selbst unter den günstigsten politischen Verhältnissen schwer zu entfernen seyn werden." Obwohl Humboldt deutlich auf die zu erwartenden Handelsschwierigkeiten hinwies, dürften die Probleme bei der inzwischen erweckten positiven Voreingenommenheit der interessierten europäischen Leser weitestgehend unbeachtet geblieben sein. Die meisten lasen aus Humboldts Werken nur das Positive heraus und ließen die zahlreich vorhandenen skeptischen Urteile beiseite 1 5 . Von besonderem Interesse für die in den 1820er Jahren einsetzende Bergwerksspekulation mußten die geradezu euphorischen Passagen über die Lage der mexikanischen Minen seinl6; "Ein wenig beachteter, aber für die Fortschritte der Nationalindustrie wichtiger Vortheil erwächst aus der mittlem Höhe, auf welcher die Natur in Neu-Spanien den großen Reichthum metallischer Schätze vergraben hat [...] In Neu-Spanien findet man die ergiebigsten Erzniederlagen, die von Guanaxuato, Zacatecas, Tasco und Real del Monte auf einer mäßigen Höhe von 1700 bis 2000 Metern. Sorgsam bebaute Felder, volkreiche Städte und Döfer umgeben in diesem gesegneten Länderstriche die Erzgruben. Wälder bekränzen die Gipfel der benachbarten Berge; alles erleichtert daselbst die Ausbeute der unterirdischen Schätze". Zu den Grundgedanken von Humboldts Essai politique gehört - neben den Begriffen Freiheit und Gleichheit - der Fortschritt; um ihn zu erreichen, bedürfe es der Aufhebung aller Restriktionen und des freien Spiels der Wirtschaftskräfte. Die Entwicklung von Manufakturen und Industrien, vor allem aber die Ankurbelung der Landwirtschaft - in Humboldts physiokratisch geprägtem Wirtschaftsliberalismus nahm die Landwirtschaft den zentralen Rang ein - würden eine Abnahme der Importe zur Folge haben, und die Mexikaner könnten die ausländischen Waren mit den Produkten ihres Bodens bezahlen. Die Handelsbilanz könne unter günstigen Umständen sogar positiv zugunsten Mexikos ausfallen. Wie die meisten Aufklärer und Roman-

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Martín Quirarte: La Leyenda de la Riqueza Mexicana. In: Ders.: Historiografía sobre el Imperio de Maximiliano. México 1970, S. 12. Dasselbe gilt für die Warnungen skeptischer Diplomaten und Konsuln. Friedrich Alexander von Humboldt: Versuch über den politischen Zustand des Königreichs Neu-Spanien. Bd. 1, Tübingen 1809, S. 58 f.

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Walther L. Bernecker

tiker in ihrer übertriebenen Begeisterung für die tropischen Länder, so sagte auch Humboldt Mexiko eine glänzende wirtschaftliche Zukunft voraus 17 . Kaum ein anderes wissenschaftliches Werk hat zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch eine derartige Verbreitung gefunden wie Humboldts Essai. Allein im zweiten und dritten Jahrzehnt erschienen nicht weniger als neun Ausgaben des Werkes auf französisch, englisch, deutsch und spanisch. Außerdem wurden viele gekürzte oder Teilfassungen veröffentlicht, die noch weit mehr in Umlauf waren als die vollständigen Ausgaben. Nahezu alle Reisenden, Schriftsteller und Wissenschaftler, die über Mexiko publizierten, haben - häufig ohne Hinweis - Humboldts Angaben verwendet. In der zweiten französischen Auflage des Essai wies der Herausgeber darauf hin, daß seit der Erstveröffentlichung des Werkes "nicht aufgehört worden ist, es wiederzudrucken, zu übersetzen, in Auszügen zu veröffentlichen, zu kopieren oder sich der geographischen Karten, die es enthält, zu bemächtigen." 18 Humboldt war zwar der erste und bedeutendste, mitnichten aber der einzige Autor einer quantitativ beachtlichen Gattung im 19. Jahrhundert, die auf die Diskrepanz zwischen dem Ressourcenpotential und der mangelhaften wirtschaftlichen Ausbeute abhoben und damit suggerierten, Lateinamerika könne sich schnell von seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit, der Rückständigkeit oder der Unterentwicklung gegenüber der nordatlantischen Region befreien. Nahezu alle frühen Mexikobesucher wirkten am Teppich der Euphorie mit; außer einigen Forschern und Diplomaten waren es vor allem die zahlreichen Autoren von Reiseberichten, die das europäische Mexikobild prägten. Reiseliteratur gehörte im 19. Jahrhundert zu den beliebtesten Literaturgattungen; selbst qualitativ ziemlich wertlose Titel erfuhren zweite und dritte Auflagen. Die meisten Reisenden sprachen von Mexiko in romantisierender Form als von einem Traumland, betonten die Schönheit der Landschaft, priesen die verschiedenen Klimazonen und die Fruchtbarkeit des Bodens, zählten die Edelmetallbergwerke auf, wiesen auf die großartigen Chancen im Land hin. Mathieu de Fossey etwa schrieb, zehn Jahre Mexikoaufenthalt würden ausreichen, um ein Vermögen zu machen, und Michel Chevalier betonte, die enormen Reichtümer Mexikos würden von der einheimischen Bevölkerung,

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Vgl. José Miranda: Humboldt y México. México 1962; siehe auch ders.: Alexander von Humboldts "Politischer Versuch über das Königreich Neu-Spanien". In: Johannes F. Geliert (Hg.): Alexander von Humboldt. Vorträge und Aufsätze anläßlich der 100. Wiederkehr seines Todestages am 6. Mai 1959. Berlin 1960 (= Geographische Gesellschaft der DDR; Wissenschaftliche Abhandlung, Bd. 2). Zit. nach ebda., S. 84.

Reiseberichte als historische

Quellengattung

der der nordamerikanische Unternehmungsgeist fehle, nicht genutzt und stünden somit ausländischer Initiative offen 1 9 . Der britische Diplomat Hervey pries die außerordentlichen Ressourcen Mexikos 2 0 , und der Naturforscher William Bullock, der 1825 in London eine vielbeachtete Mexiko-Ausstellung arrangierte, begann den Begleittext im Katalog zu seiner Ausstellung mit den Worten: "Mexico, the unreal Eldorado of Elizabethan times, seems destined to become, in our days, really what it was pictured centuries ago." 21 Die Beispiele schier grenzenloser Mexikobegeisterung ließen sich beliebig vermehren 22 . Wichtiger jedoch als die Konstatierung einer irrigen 23 , weitgehend naiven Einschätzung Mexikos ist die Frage nach deren intendierten und nicht-intendierten Folgen. Im Hinblick auf Humboldts Werk läßt sich sagen, daß es für die weitere Geschichte Mexikos eine Bedeutung erlangte, die über die rein wissenschaftliche weit hinausging. Der Essai trug nicht unerheblich dazu bei, die Politik der europäischen Staaten dem unabhängig gewordenen Mexiko gegenüber zu bestimmen. In Mexiko prägte sein Werk wesentlich das neue Nationalbewußtsein: Für oder gegen Humboldt zu sein, wurde in der Unabhängigkeitsepoche ein Kriterium der Unversöhnlichkeit

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Mathieu de Fossey: Le Mexique. Paris 31865; Michel Chevalier: Le Mexique ancien et moderne. Paris 1863. Hervey an Canning, México 18.1.1824: Public Record Office (PRO) Foreign Office (FO) 50/4. William Bullock: Catalogue of the Exhibition Called Modern Mexico; containing a panoramic view of the city with Specimens of the Natural History of New Spain. London 1825, S. 3 f. Vgl. auch das naiv-begeisterte Vorwort des englischen Übersetzers von Domingo Juarros' Handels- und Statistiküberblick von Guatemala, das die britischen Hoffnungen zum Ausdruck brachte, die sich mit dem lateinamerikanischen Markt verbanden: "Latín America will probably, in a short time, open a most extensive field for the employment of British capital and British industry, and ultimately prove an inexhaustible source of advantage to the various branches of our manufactures and commerce." Domingo Juarros: A Statistical and Commercial History of the Kingdom of Guatemala. London 1823, S. V. Dies gilt auch noch für die folgenden Jahrzehnte bis in die zweite Jahrhunderthälfte; selbst das nüchterne britische Foreign Office ließ sich zu euphorischen Äußerungen hinreißen: "Mexico, without Texas, includes within her limits an extent of surface, a variety of soils and climates, of mineral wealth, and natural facilities for commerce, sufficient to render the Mexican State, if its resources were fully developed, one of the most powerful and prosperous communities of the world." F.O. (Draft) an Pakenham, 25.4.1839: PRO FO 50/ 122 B, Bl. 22. Zum tatsächlichen "Reichtum" Mexikos (Bodenbeschaffenheit, Naturressourcen, Rohstoffe etc.) vgl. Daniel Cosío Villegas: La Riqueza legendaria de México. In: El Trimestre Económico VI, 1, 1939, S. 58-83.

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Walther L. Bernecker zwischen Liberalen und Konservativen 24 . Lucas Alamän sprach Humboldts Werk die Wirkung zu, Neu-Spanien im Mutterland erst richtig bekannt gemacht zu haben; außerdem sei das Interesse aller anderen Nationen geweckt worden. Die Mexikaner selbst hätten sich "eine äußerst übertriebene Vorstellumg vom Reichtum ihres Vaterlandes" gebildet und sich vorgestellt, daß das Land nach erlangter Unabhängigkeit "die mächtigste Nation des Universums" würde 25 . Diese übertriebene Vorstellung wiederum wurde, Samuel Ramos zufolge, nicht zum Ausgangspunkt praktischer Handlungen gemacht, sondern als Glaubenssatz angenommen, um der patriotischen Eitelkeit zu schmeicheln und die tatsächliche Armut zu verbergen 26 . Die Kunde von den sagenhaften Reichtümern Neu-Spaniens brachte sofort zahlreiche "Helfer" auf den Plan, die an der Ausbeute und Teilhabe partizipieren wollten. Regierungen, halbamtliche Stellen, Gesellschaften, Banken, Privatleute: Alle wollten an der scheinbar leicht zugänglichen Beute teilhaben, sei es durch Kreditgewährung an die mexikanischen Regierungen, durch Investitionen im Bergbau, durch ausgedehnten Überseehandel. Die erste und bedeutendste europäische Macht, die von dem neuen Markt zu profitieren hoffte, war Großbritannien, dessen Güter- und Kapitalüberfluß dringend nach Absatzmärkten suchte. Die schnelle Anerkennung der mexikanischen Unabhängigkeit, die Kredite, die Kapitalien für die Minen, der sofort einsetzende Handelsverkehr wären ohne die durch Humboldt geweckten Hoffnungen nicht zu erklären. Die zahlreich gegründeten Bergwerksunternehmen bedienten sich bedenkenlos des Humboldtschen Materials und seines Rufes, um Aktionäre zu Investitionen zu bewegen. Bis 1825 umfaßten die mexikanischen Bergwerksgesellschaften mit Sitz in London bereits ein eingeschriebenes Kapital von 3,4 Millionen Pfund 2 7 ; in einem Brief an seinen Bruder Wilhelm schrieb sich Alexander von Humboldt 1824 die geistige Autorschaft der britischen Investitionen in Mexiko zu: "Es besteht kein Zweifel, daß ohne mich die mexikanische Regierung bei England nicht drei Millionen Pfund Sterling allein für die Bergwerke hätte anleihen können." 28 24 25

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Juan A. Ortega y Medina: "Humboldt visto por los mexicanos". In: Ensayos sobre Humboldt. México 1962, S. 237-256. Lucas Alamán: Historia de Méjico desde los primeros movimientos que prepararon su independencia en el año de 1808 hasta la época presente. 5 Bde. Méjico 1849-1852, Bd. 1: 1849; Bd. 2: 1850; Bd. 3: 1850; Bd. 4: 1851; Bd. 5: 1852, hierBd. 1, S. 142. Samuel Ramos: El perfil del hombre y la cultura en México. México 1963, S. 53. Nach Miranda 1960 (Anm. 17), S. 86. Nach ebda. Vgl. auch Lettres américaines d'Alexandre de Humboldt, Paris 1905, S. 297. Auf mexikanischer Seite schreibt sich Lucas Alamán eine ähnliche Autorschaft zu: "El ejemplo que di con la formación de la Compañía Anglo-Mexicana fue seguido por otros, y de aquí vinieron más de veinte millones de pesos en poner en giro la mine-

Reiseberichte als historische Quellengattung

Zögerte das britische Kapital wegen des schlechten Zustandes der Bergwerke, dann führten die Förderer englischer Investitionen als Argumente den unvergleichlichen Reichtum der mexikanischen Bergwerke und die Qualität der britischen Bergwerkstechnik an; die Hauptautorität bei ihrer Argumentation war dabei Humboldt, dessen Ausführungen über die mexikanischen Minen zu eigenen "Animierbüchern" zusammengestellt wurden. Im Laufe der Zeit gerieten die Beziehungen zwischen Humboldt und den britischen Bergwerksgesellschaften sehr eng, der Forscher wurde ihr Hauptberater. Er trug auch wesentlich zu dem weitverbreiteten Glauben bei, daß die Anwendung moderner europäischer, insbesondere britischer Bergwerksmethoden einen Erfolg der Unternehmungen garantieren würde. Indirekt trägt er somit auch Mitverantwortung am weitgehenden Scheitern dieser Bergwerksgesellschaften 2 9. Vergleichbar mit Humboldts Werk ist, im Hinblick auf die Bergwerke, im englischen Sprachraum Henry George Wards "Mexico" geworden, durch das der erste britische Chargé d'affaires bei der Regierung Guadalupe Victoria zu einem bedeutenden Minenpublizisten wurde, als die erste Begeisterung in England schon abgeklungen war, das Spekulationsfieber nachgelassen und die Krise von 1826 zu teilweise erheblichen Verlusten geführt hatte 30 . Die propagandistisch-publizistische Funktion, die Humboldt und Ward vor allem bezüglich der Bergwerke hatten, übernahmen die zahlreichen Reisenden für andere Bereiche lukrativer Spekulation, vor allem für den Handel. William Bullock kam in seinem enthusiastisch gehaltenen Ausstellungskatalog von 1825 zu dem Ergebnis 31 : "Mexico has thus become an object of great European consideration; and to no country is it of such especial importance as to Britain. The enlightened policy of our cabinet [...] has virtually opened that

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ría." Obras de Lucas Alamán. Documentos diversos. México 1945, Bd. IV, S. 24. Die diplomatische Korrespondenz Wards und Packenhams an das Foreign Office enthält umfangreiche Berichte über die britische Bergwerksgesellschaft. Über das Ausmaß der britischen Investitionen vgl. Henry Dunning Macleod: Theory and Practice of Banking. 2 Bde. London 1902, Bd. 2, S. 111; James Fred Rippy: British Investments in Latin America, 1822-1949. New York 1977, passim. H. G. Ward: Mexico in 1827. 2 Bde. London 1828; dt.: Mexico im Jahre 1827. 2 Bde. Weimar 1828/29. Zur Bedeutung des Werks in Zusammenhang mit dem Spekulationsfieber vgl. N. Ray Gilmore: Henry George Ward, British Publicist for Mexican Mines. In: Pacific Historical Review 32,1963, S. 35-47. William Bullock: Catalogue of the Exhibition Called Modern Mexico. London 1825, S. 3f. In seinem Reisebericht "Six months residence and travels in Mexico" verstieg er sich gar zu der Prognose (S. 227): "I have no doubt that little else will be seen in Mexico but English manufactured goods and English fashions."

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Walther L. Bernecker incalculably extensive mart to the operations of our commerce, and even made the interior one vast field for the exercise of British capital, machinery and industry [...] In a very short period millions will be embarked in prosecuting those enterprises which recent events have rendered not only possible but suspicious." Bereits 1821, noch bevor Mexiko formal seine Unabhängigkeit erlangt hatte, war in London das vielbeachtete "Memoirenbuch" des nordamerikanischen Händlers William David Robinson erschienen, der am mexikanischen Unabhängigkeitskampf teilgenommen hatte. Der britische Verleger empfahl den Band seinen englischen Kunden unter Hinweis auf den "unerschöpflichen Reichtum" des Landes und prophezeite: "Great Britain will have no cause to regret the efforts which some of her sons have made in the struggle for this emancipation." 32 Der Autor stellte demgegenüber dem "glänzenden, abenteuerlichen und erfolgreichen Unternehmungsgeist" der Nordamerikaner in Mexiko "großartige unternehmerische Chancen" in Aussicht, wenn diese nur die Dynamik ihrer Vorväter beibehielten 33 . Nicht wesentlich anders berichteten Deutsche und Franzosen 34 .

Potentieller Reichtum Mexikos und ausländische Interventionen Allerdings waren die über Mexiko berichtenden Ausländer nicht blind angesichts der wirtschaftlichen Depression im Lande, der ökonomischen Risiken und der unternehmerischen Gefahren. Häufig sprachen sie daher weniger von den tatsächlichen als vielmehr von den potentiellen Reichtümern des Landes. Daß die vorhandenen Ressourcen nicht genutzt wurden, lag unweigerlich und ausschließlich an der "in Dummheit und Aberglauben versunkenen" Bevölkerung, an den "unfähigen Einwohnern", an der "faulen und indolenten Rasse" 35 . Die Schlußfolgerungen, die die einzelnen Autoren aus der Diskrepanz zwischen potentiellem und tatsächlichem Reichtum zogen, waren unterschiedlich. In einigen Fällen sahen sie nur gute Möglichkeiten 32 33 34

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William Davis Robinson: Memoirs of the Mexican Revolution. London 1821, Bd. 1, S. VII. Ebda., Bd. 2, S. 129. Als Beispiel für Deutsche vgl. C. C. Becher: Mexico in den ereignißvollen Jahren 1832 und 1833 und die Reise hin und zurück aus vertraulichen Briefen mit einem Anhange über die neusten Ereignisse daselbst aus officieller Quelle nebst mercantilischen und statistischen Notizen. Hamburg 1834. Kaum ein Reisebericht oder eine diplomatische Depesche war frei von rassistischem Überheblichkeitsgefühl, ethnozentrischer Sichtweise und nationalistischer Attitüde.

Reiseberichte als historische Quellengattung

für ihre Landsleute und empfahlen, in Mexiko zu investieren. Andere Autoren erblickten in einer massiven Einwanderung die einzige Chance, das Land auf die Höhe der Zivilisation zu heben; der Deutsche Ahrens etwa schrieb noch 1866: "Nur ein Weg scheint offen zu stehn für religiöse und politische Freiheit in Mexiko. Es ist dies der Sturz des Priesterthums durch die Immigration der Union, Englands und Deutschlands." 36 Wieder andere verbanden ihr rassisches Überheblichkeitsgefühl mit missionarischem Eifer und dem Glauben, daß eine "Verbesserung" der mexikanischen Verhältnisse und die "Regeneration" des Landes nur in Form eines ausländischen Protektorats oder gar der Absorption durch die "aufgeklärten", "zivilisierten" und "unternehmerischen" Nordamerikaner erfolgen könnten. Die Vorstellung, daß eine US-Penetration in Mexiko stabile politische Verhältnisse und wirtschaftliches Wohlergehen zur Folge haben würde, lag nahezu der gesamten nordamerikanischen Mexikoliteratur des 19. Jahrhunderts zugrunde und ist als erklärendes Moment aus der Vorgeschichte des Krieges von 1846-1848 sowie des US-Expansionismus gegenüber Mexiko nicht wegzudenken 37 . Charles J. Folsom etwa pries in seinem 1842 erschienenen Werk den reichen "Garten der Neuen Welt" in den höchsten Tönen, um sogleich fortzufahren 3 8 : "It has been often predicted, that the same hardy race which subdued the finest portions of Europe, and in later times peopled the northern shores of the American continent, would, sooner or later, find their way to the richer and more inviting regions of the south, where the natural advantages of the country are thrown away upon a people apparently incapable of appreciating or improving them. The time appears to have arrived when this prediction is likely to be verified." Eine sehr ähnliche Argumentation findet sich bei dem deutschen Autor Wilhelm Stricker, der zwar große Teile seines Mexikobuches von Mühlenpfordts monumentaler Studie als Plagiat übernommen hat, zu jedoch gänz36 37

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J. B. A. Ahrens: Mexiko und Mexikanische Zustände. In den Jahren 1820-1866. Göttingen 1866, S. 43. Zu dieser Schlußfolgerung gelangt David Thomas Leary: The Attitudes of Certain United States Citizens Toward Mexico, 1821-1846. University of Southern California (Ph. D.) 1970 nach einer ausfuhrlichen Untersuchung von 15 US-Autoren, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Bücher über Mexiko publiziert haben. Sie alle hatten eine ethnozentrische Sicht, waren überzeugte Nationalisten und bestrebt, ihr Wertesystem auf Mexiko zu übertragen. Etliche von ihnen sprachen sich für eine Inkorporation Mexikos in die USA aus. Charles J. Folsom: Mexico in 1842: A Description of the Country, its Natural and Political Features; with a Sketch of its History, brought down to the Present Year. To

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lieh anderen Schlußfolgerangen als der Hannoveraner kam. Wo Mühlenpfordts Monographie 1844 sorgfältig argumentierte und von Sympathie Mexiko gegenüber geprägt war, hatte Stricker nur drei Jahre später (während des mexikanisch-amerikanischen Krieges) keinerlei Hoffnung in die Entwicklungsfähigkeit der Mexikaner und konnte "den Wunsch nicht unterdrücken, daß dies herrliche, so wenig ausgebeutete Land bald einem weniger trägen Volke zu Theil werden möchte, das dessen natürliche Schätze besser zu nutzen versteht, wozu jetzt einige Aussicht vorhanden ist."39 Besonders ausgeprägt war der Mythos von der riqueza mexicana unter französischen Politikern; die Vorstellung, einen Teil dieses Reichtums für Frankreich abschöpfen zu können, führte den Quai d'Orsay zu seiner Gegnerschaft dem nordamerikanischen Manifest Destiny gegenüber. Daß die Mexikaner, alleingelassen, zur Ausbeute ihres Reichtums unfähig seien, war communis opinio in Paris; daß die USA nicht die Erben von Moctezumas Schatz werden dürften, war die feste, durch den Krieg 1846-1848 verstärkte Überzeugung der französischen Außenpolitiker.40 Die Dichotomie zwischen faktischer Armut und potentiellem Reichtum Mexikos spielte insbesondere im Hinblick auf die französische Intervention der 1860er Jahre eine große Rolle. Ist in den nordamerikanischen Reiseberichten bereits ein möglicher Faktor der US-Intervention von 1846/47 gesehen worden, so gilt dies in noch größerem Maß für die französische Reiseliteratur und die Intervention Napoleons III. in Mexiko. Bei der Frage, woher die Vorstellungen des französischen Kaisers resultierten, daß er Mexiko militärisch und sodann auch politisch beherrschen könne, wird man zuerst geneigt sein, auf die diplomatischen Berichte zurückzugreifen. Sowohl Viscomte Alexis de Gabriac wie sein Nachfolger Dubois de Saligny, Generalkonsul Alphonse Dano und Admiral Julien de la Graviere, der Kommandant der Expeditionsarmee, forderten in ihren Depeschen und Berichten stets ein französisches Eingreifen; am militärischen Erfolg einer Intervention hatten sie keinen Zweifel. 4 1 Die Legalität eines derartigen

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which is added an Account of Texas and Yucatan, and of the Santa Fe Expedition. New York 1842, S. 5. Wilhelm Stricker: Mexico (= Bibliothek der Länder- und Völkerkunde, H. 1); (Innentitel:) Die Republik Mexico nach den besten und neuesten Quellen geschildert von Wilhelm Stricker. Frankfurt am Main 1847, S. 69. Nancy Nichols Barker: In Quest of the Golden Fleece: Dubois de Saligny and French Intervention in the New World. In: The Western Historical Quarterly III, 3, 1972, S. 253-268. Vgl. vor allem Gabriacs ständige Aufforderungen an die französische Regierung, in Mexiko zu intervenieren, da das Land andernfalls den USA anheimfallen werde. Lilia

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Vorgehens bezweifelten sie noch weniger, im Gegenteil: Sie zeigten sich davon überzeugt, daß ein französisches Eingreifen Mexiko vor dem Zerfall retten und eine Annexion durch die USA verhindern würde. 1853 etwa insistierte Dano dem Quai d'Orsay gegenüber auf seiner Lieblingsidee, daß Mexiko nur "gerettet" werden könne, wenn ihm die Regierungen Europas "zu Hilfe eilten" 42 , und ein Jahr später erblickte er keine Alternativen zu einer "emsthaften Intervention der großen Regierungen Europas" 43 . Neben den diplomatischen Berichten und den Intrigen der in Europa exilierten mexikanischen Konservativen dürfte die Interventionsidee noch auf eine andere Quelle zurückgehen: auf die zahlreich vorhandene französische Reiseliteratur, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts großen Einfluß auf die öffentliche Meinung Frankreichs ausgeübt und möglicherweise auch die kaiserliche Regierung bei ihrer Entscheidung beeinflußt hat. Die Untersuchung eines runden Dutzend französischer Autoren, die aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Bildung, ihres sozialen Status wenig Gemeinsamkeiten aufwiesen, zu verschiedenen Jahreszeiten und Epochen unterschiedlich lang und mit differierenden Absichten durch Mexiko gereist waren sowie deutlich voneinander abweichende Berichte hinterlassen haben, läßt einige auffälligübereinstimmende Merkmale erkennen 44 : So sprachen alle Autoren vom unerschöpflichen Reichtum Mexikos, von der verheerenden politischen Situation im Land, von den Fehlern der Mexikaner, von den Reformen und Verbesserungen, die Europäer in Mexiko einführen könnten, von den wenigen Widrigkeiten, die der Einführung solcher Verbesserungen durch Europäer im Wege stünden; eine französische Intervention in Mexiko, die sowohl den Franzosen wie den Mexikanern nützen würde, wurde explizit oder implizit nahegelegt.

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Díaz (Hg.): Version francesa de México. Informes económicos 1851-1867. 2 Bde. México 1974 (= Colección del AHDM; Serie Documental 4 und 5). A. Dano an Französisches Außenministerium, México 1.8.1853. In: Díaz (Anm. 41) Bd. 1, S. 6f. A. Dano an Französisches Außenministerium, México 2.2.1854. In: Díaz (Anm. 41) Bd. 1, S. 101. Zum folgenden Margarita M. Helguera: Posibles Antecedentes de la intervención Francesa. In: Historia Mexicana XV, 1, 1965, S. 1-24. Die untersuchten Autoren sind Christian Scheffer, Lucien Biart, J. C. Beltrami, Jean-Jacques Ampère, Mathieu de Fossey, Charles Olliffe, Isidore Löwenstern, Désiré Charnay, M. de Larenaudière, Gabriel Ferry, Michel Chevalier, Emmanuel Domenech, Arthur Morelet. Die umfangreichste neuere Arbeit zu diesem Thema ist die solide Studie von Guy Alain Dugast: La Tentation Mexicaine en France au XIXe siècle (1821-1862). (Contribution à l'étude de l'image du Mexique dans ses rapports avec l'Intervention française). Doctorat d'Etat. 4 Bde., Université de Lille 1994.

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Vor allem das Thema Reichtum wird in dieser Literaturgattung immer wieder variiert. Wenn die Mexikaner arm seien, so liege das an der fehler- und mangelhaften Ausbeute der natürlichen Ressourcen, die primär in Mineralreichtum und Land bestünden - eine physiokratische Überzeugung, die wahrscheinlich auf Humboldt zurückzuführen ist. Die Bergwerke seien unerschöpflich, die Landwirtschaft könne nahezu alles hervorbringen; Industrie und Handel böten den Unternehmern gute Chancen. Die Reisenden ließen deutlich ihren Wunsch erkennen, daß die mexikanischen Reichtümer unter europäischer - sprich: französischer - Leitung zum Vorteil aller ausgebeutet würden. In politischer Hinsicht hatten diese Beobachter das Land abgeschrieben: Die Tage Mexikos als unabhängiger und souveräner Staat seien gezählt, eine Annexion durch die USA stehe zu erwarten, das Militär sei völlig untauglich. Der Fehler liege im wesentlichen bei den Mexikanern selbst, die sich vor allem durch Faulheit und Trägheit auszeichneten. Implizit legten die Autoren der französischen Regierung nahe, die politische Instabilität Mexikos zur Intervention zu nutzen und ein französisches Protektorat zu errichten. Diese Empfehlung wurde nirgends direkt ausgesprochen - hierin unterscheidet sich die Reiseliteratur von der diplomatischen Korrespondenz -, sie ist aber tendenziell vorhanden und "atmosphärisch" zu greifen. Da mehrere der untersuchten Autoren Beziehungen zur französischen Regierung hatten, dürften ihre Werke in kaiserlichen Kreisen bekannt gewesen sein. Diese Art der Argumentation ist, wie bereits im Fall der USA 1846/48, konjektural, entbehrt jedoch nicht der inneren Logik.

Zur Aufnahmefähigkeit des mexikanischen Marktes Hinsichtlich der unmittelbaren Konsequenzen der Überflutung lateinamerikanischer Märkte mit europäischen Textilien findet seit Jahren eine teils offene, teils verdeckt geführte Kontroverse zwischen Anhängern und Gegnern der Dependenztheorie statt. Die meisten Anhänger der Dependenztheorie behaupten, daß billige europäische Importe im 19. Jahrhundert die nicht konkurrenzfähigen lokalen Manufaktur- und Handwerksbetriebe zerstörten, Handwerker der Arbeitslosigkeit preisgaben, insgesamt zerstörerische Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft der "unterentwickelten" lateinamerikanischen Länder hatten. Im Gegensatz zu diesem Standpunkt hoben andere Autoren die Faktoren hervor, die einer Expansion des lateinamerikanischen Importhandels entgegenstanden. 45 D.C.M. Platt etwa hat daraufhingewiesen, daß die Handelsmöglichkeiten beschränkt waren, die 45

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D.C.M. Platt (Hg.): Latin America and British Trade 1806-1914. London 1972.

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Masse der Bevölkerung keinen Markt für Manufakturwaren darstellte, drei Viertel der mexikanischen Bevölkerung (die indios und Mestizen) keinen Beitrag zu einer wie auch immer gearteten Marktwirtschaft leisteten, die Kaufkraft der neuen Republiken sich in engen Grenzen hielt, die Bevölkerung abseits der größeren Städte und Seehäfen spärlich war, die Transportbedingungen sehr zu wünschen übrig ließen, die Vermarktung der Importgüter teuer und häufig unrentabel war. Unabhängig von den lokalen Bedingungen - den Verwüstungen des Unabhängigkeitskampfes und der zahlreichen Bürgerkriege, der Entvölkerung, der Flucht des spanischen Kapitals, der Überflutung der Bergwerke - sei der internationale Handel vor allem durch Natur und Bedürfnisse der Konsumenten beschränkt gewesen. Die Aufnahme- und Erweiterungsfähigkeit des mexikanischen Marktes nahm auch einen beherrschenden Platz unter den Diskussionsthemen der ausländischen Händler während der 1820er Jahre ein. Die ersten kritischen Berichte wurden bereits 1824 verfaßt - zu einem Zeitpunkt somit, der in den meisten Geschichtsdarstellungen Mexikos als eine Periode des hemmungslosen Imports europäischer Manufakturwaren dargestellt wird. Mitte 1824 äußerte der englische Konsul Mackenzie skeptisch: "Glutted as the market appears to be, judging from the prices, it will be necessary to reduce the imports [...] still lower to repay the merchant. The present system of duties, the regulations for the encouragement of domestic manufactures, and some minor causes, will combine to keep down the amount of the imports below their former Standard." 46 Der Hinweis auf die Überfüllung des Marktes dürfte nur teilweise richtig sein, denn sowohl 1824 wie im folgenden Spitzenjahr 1825 nahmen die Einfuhren weiter zu; wie einem Brief Wilhelm Steins, der im Auftrag des Elberfelder "Deutsch-Amerikanischen Bergwerkvereins" nach Mexiko gereist war, zu entnehmen ist, waren die Marktchancen damals noch alles andere als schlecht 47 : "Mexiko scheint in diesem Augenblick mit Waren überfüllt zu sein; denn man hört nichts als Klagen über schlechte Preise und große Verluste. Obschon einiges Wahre daran sein mag, so liegt doch auch viel Übertreibung zugrunde. Denn daß noch auf manche Waren viel Geld verdient werden kann, davon haben wir uns durch fremde und eigene Erfahrungen überzeugt. Goldarbeiten z.B., die in Paris 8 bis 10 Francs

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Mackenzie an Canning, Xalapa 24.7.1824: PRO Board of Trade (BT) 6/53. Wilhelm Stein an die Elberfelder Direktion, México 24.6.-20.7.1824. In: Hans Kruse: Deutsche Briefe aus Mexiko mit einer Geschichte des Deutsch-Amerikanischen Bergwerksvereins 1824-1838. Ein Beitrag zur Geschichte des Deutschtums im Auslande. Essen 1923 (= Veröffentlichungen des Archivs für Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsgeschichte, Bd. 9), S. XXVII.

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Walther L. Bernecker gekostet, wurden für 15 Piaster (= 75 FF.) und Damenkleider, welche in Paris 36 bis 50 Francs zu stehen kommen, für 80 bis 90 Piaster (= 400450 FF.) verkauft. Auch für eiserne Kunstgußgeräte, deren wir nur einiges, gleichsam zu einem Versuche mitgenommen hatten, wurde das fünf- und sechsfache bezahlt." Das Jahr 1825 sollte allerdings für den Handel Mexikos von ausschlaggebender Bedeutung werden, da die internationale Handelskrise jenes Jahres auch vor den lateinamerikanischen Ländern nicht Halt machte. Ihren Ausgangspunkt hatte die (anfangs englische) Krise in der Spekulationswut jener Jahre genommen. Zu den hervorstechendsten Merkmalen des hektischen Finanzkarussels jener Epoche gehörten in England die Gewährung vieler Staatsanleihen, die Zirkulation von Fonds zahlreicher Regierungen, Gesellschaftsgründungen (1824/25 nicht weniger als 114 allein in London), Kapitalexport (vor allem nach Lateinamerika) und Zunahme des Notenbankumlaufs, Kredite und schnelle Gewinne im Aktienbereich. Besondere Ausmaße erreichte das Spekulationsfieber bei den Bergwerksunternehmungen. Ende 1825 erreichte die Spekulation ihren Höhepunkt. Die Zahlungsunfähigkeit Kolumbiens, von dem die Goldzahlungen der fälligen Tilgungen der Außenschuld erwartet worden waren, führte - in Verbindung mit dem Spekulationsfieber - zum Zusammenbruch der überhitzten Konjunktur. Panik und Depression griffen um sich, innerhalb weniger Wochen mußten 70 britische Banken ihre Zahlungen einstellen, mehrere Handelsunternehmen brachen zusammen. Anfang 1826 gingen "Goldschmidt & Co.", die Agenten Kolumbiens, in Konkurs. Die Folgen dieser internationalen Krise machten sich in Mexiko schnell bemerkbar; sie können exemplarisch am Schicksal des bis dahin erfolgreichsten ausländischen Handelshauses, der Firma "Hartley, Green & Ruperti", skizziert werden. Justus Ruperti war im Jahr 1822 im Auftrag der Firma "Green & Hartley" nach Mexiko gefahren, wo sich ihm dank einiger Empfehlungsschreiben Alexander von Humboldts die Türen zu "allen bedeutenden Familien der Hauptstadt öffneten; dort gründete er im folgenden Jahr in einem "der größten Kaufmannshäuser der Stadt mit großem Magazin" das erste wichtige ausländische Handlungshaus in Mexiko: "Hartley, Green & Ruperti", das im Laufe der folgenden Jahre sich zu einem äußerst gewinnträchtigen Unternehmen entwickelte48: "Mein Geschäft nahm, infolge der brillanten Realisation meiner ersten Ladung und der beiden folgenden [...] so lawinenartig zu, daß ich bald 48

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Zit. nach Percy Ernst Schramm: Hamburg, Deutschland und die Welt. Leistung und Grenzen hanseatischen Bürgertums in der Zeit zwischen Napoleon I. und Bismarck. Ein Kapitel deutscher Geschichte. München 1943, S. 88.

Reiseberichte als historische Quellengattung mit 5 Commis in Mexiko und 5 an der Küste, doch kaum mehr seiner Herr werden konnte. Zugleich nahm aber auch die Zahl der zuströmenden Concurrenten mit ihren Waren in so gewaltigem Maße zu, daß ich eine gefährliche Reaction, wie ein Gewitter heraufziehen sah [...] Zehn Verkäufer rissen sich um einen Käufer, und zufrieden war, wer mit 20, 30 und 40 % Verlust realisieren konnte." 1823 - somit noch im ersten Jahr des Geschäfts - liefert Rupertis Bilanz bereits "einen reinen Überschuß von 100.000 Dollar". Am Kommissionsgeschäft verdiente er 7,5 % Provision, die Amortisation des kaiserlichen Papiergeldes brachte zusätzlichen Gewinn, Darlehensgewährungen "unter Deponierung voller Sicherheit" erwiesen sich als äußerst lukrativ. Als jedoch das Spekulations- und Investitionsfieber jener Jahre auch die Londoner Stammfirma "Green & Hartley" erfaßte, brach das zuvor so führende Unternehmen zusammen 49 : "Meine Rimessen nach Europa machte ich immer in den Wechseln der Minen-Compagnie an Green u. Hartley und zog dagegen auf dieselben für die an die Kunden zu remittierenden Beträge, wodurch Green u. Hartley in den Stand gesetzt wurden, immer neue Vorschüsse auf Consignationen zu machen. Leider aber, wie ich nachher erfuhr, wurden sie durch diesen Geld-Überfluß verleitet, in Fonds und Actien zu speculieren, und zwar in einer so tollen Ausdehnung, daß, wie 1826 die Reaction darin eintrat, sie ihre Stellung nicht behaupten konnten und suspendieren mußten. Nichts ahnend, wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel, traf mich dieser Schlag, nach nur 3 1/2 jährigem Etablissement, im glänzendsten Gange des Geschäfts und in der unbestrittenen Position des ältesten und bedeutendsten unter den fremden Häusern in Mexico." Dieser Geschäftseinbruch bedeutete zwar nicht das Ende von Rupertis Unternehmen, seine "Glanzperiode" aber war vorüber; fortan nahmen seine Umsätze ab, was auch auf die verstärkte Konkurrenz und die soziopolitischen Unruhen im Land zurückzuführen war. Friedrich Wilhelm Grube beschreibt als Beobachter vor Ort Hintergründe, Symptome und Folgen der mexikanischen Überversorgungskrise von 1825 50 : "Ein Haus nach dem anderen etablierte sich und in der ersten Zeit wurden glänzende Geschäfte gemacht, die wieder die Veranlassung wurden, neue Häuser zu bilden. Aber in den Warensendungen war man weit über das Bedürfnis gegangen und 1824 (Oktober?) wurde allein aus England so

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Ebda., S. 94; allmählich zog sich Ruperti aus dem Mexikogeschäft, das ihm zu unsicher erschien, ganz zurück. Bis 1846 scheint er sämtliche Geschäftsverbindungen mit Mexiko abgebrochen zu haben. Ebda., S. 160. Grube an Dr. Fallenstein, Mexico 26.8.1826. In: Kruse (Anm. 47), S. 155.

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Walther L. Bernecker viel gesandt, daß ganz Mexiko auf mindestens zwei Jahre versorgt war. In Europa wußten das die Fabrikanten nicht so, oder glaubten es nicht, und da viele junge Kaufleute nach dort reisten, um für sich oder für ihre Häuser Consignationen zu sammeln, so kamen Waren über Waren, alle Märkte waren überfüllt und zu Zeiten wurden Zweidrittel derselben mit großem Verluste verkauft. Dieser Verlust trifft aber stets nur die Absender, denn die hiesigen Kommissionäre, und alle hiesigen fremden Häuser sind eigentlich nichts anderes, berechnen stets ihre zehn Prozent, ob sie mit Gewinn oder Verlust verkaufen und sind recht zufrieden, wenn ihnen fortwährend consigniert wird." Ab Mitte der 1820er Jahre häuften sich sodann die Berichte, in denen auf Absatzprobleme hingewiesen wurde; alle ausländischen und mexikanischen Beobachter stimmten darin überein, daß der mexikanische Markt überfüllt war. Ward sprach für 1825/26 von der "Schwierigkeit, auch nur den mindesten Profit zu realisiren" und sagte einen deutlichen Rückgang des Handelsvolumens voraus 51 , britische Konsuln wiesen immer wieder auf die Sättigung des Marktes hin. 52 Der Versuch, zeitgenössische Aussagen über die Aufnahmefähigkeit des mexikanischen Marktes empirisch zu verifizieren bzw. zu falsifizieren, stößt auf große Schwierigkeiten, da die meisten Handelsstatistiken unvollständig und ungenau sind. Studien über den mexikanischen Binnenhandel, die Aufschluß über die Verbreitung importierter Waren geben könnten, liegen nicht vor, wie überhaupt der gesamte Bereich der Binnenstruktur des Handels im mexikanischen 19. Jahrhundert zu den großen Desideraten der Forschung gehört. In Ermangelung aussagekräftiger Statistiken muß immer wieder auf die sehr viel weniger zuverlässige Quelle der Reise- und Augenzeugenberichte zurückgegriffen werden. Die Problematik dieser Quellengattung ist offensichtlich: Der Reisende hat seine Beobachtungen selektiv notiert, seine zufälligen Impressionen niedergeschrieben. Der Historiker bleibt bis zu einem gewissen Grade von der Subjektivität des Autors abhängig, er macht sich unwillkürlich dessen Standpunkt zu eigen. Verläßlicher wird die Reiseliteratur als Quelle dann, wenn verschiedene ungefähr zeitgleiche Berichte miteinander verglichen werden können. Das ist zwar hinsichtlich der Frage nach der Verbreitung europäischer Importwaren im unabhängigen Mexiko der Fall; die in der Reiseliteratur, in frühen Landeskunden oder Memoiren wiedergegebenen Eindrücke sind allerdings widersprüchlich und erlauben keine eindeutigen Schlußfolgerungen.

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H. G. Ward: Mexico im Jahre 1827. 2 Bde. Weimar 1828/29. I, S. 207; vgl. auch ebda., S. 18. Vgl. exemplarisch Dashwood an Canning, Xalapa 31.7.1826: PRO FO 50/28, Bl. 50.

Reiseberichte als historische Quellengattung

Eine der ersten Stellungnahmen zu Verbreitung und wirtschaftlicher Bedeutung europäischer Importe im Alltagsleben eines Mexikaners ist dem Tagebuch des britischen Kapitäns Basil Hall zu entnehmen, der kurz nach der Unabhängigkeitserklärung des Landes, von Chile kommend, an der Pazifikküste anlegte, in Tepic mit Einheimischen Kontakt aufnahm und auf seine Frage, worin die Mexikaner die Bedeutung des Freihandels sähen, die Antwort erhielt: "My opinion of the free trade rest on this - formerly I paid nine dollars for this piece of cloth of which this shirt is made; I now pay t w o " . 5 3 Zweifellos ist die hier angegebene Preisdifferenz übertrieben. Allerding sanken für Mexikaner die Preise europäischer Importe kontinuierlich. Albert Imlah 54 hat errechnet, daß die Exportpreise für britische Garne und Baumwollstoffe zwischen 1816/18 und 1849/51 durchschnittlich um 72 % fielen; in der Wollindustrie betrug die Preisreduktion 63 %. Die Frage ist, inwieweit die dadurch wesentlich erleichterten Einfuhren den "Durchschnittsmexikaner" betrafen. Immerhin beobachtete G.F. Lyon schon 1826 auf seiner Reise durch das Land: "The rich picturesque costumes of both sexes are now growing into disrepute, and European fashions generally prevail in the principal cities." 55 Lyons Feststellung, daß die "pittoresken Kleider" der Mexikaner allmählich der Verachtung anheimfielen, wird durch ein anonymes, in Mexiko 1832 unter dem Titel Los extranjeros y los aventureros publiziertes Pamphlet unterstrichen. Der Autor forderte seine Landsleute auf, ihre traditionellen Kleidungsgewohnheiten abzulegen und dem ausländischen Vorbild zu folgen. Wirtschaftlich sei das Tragen neuer Kleidung erforderlich, um zum Aufschwung der soeben gegründeten Textilfabriken beizutragen; sozial sei die neue Kleidung deshalb empfehlenswert, weil die überlieferte mexikanische Tracht durch ihre "Unterschiede in der Kleidung die Ungleichheit der Bedingungen" zum Ausdruck bringe, was unter einer republikanischen Regierung eher abgelehnt werden müsse. 56 Schon einige Jahre vorher hatte der britische Geschäftsträger H.G. Ward wie Hall, Lyon, Maclure und andere - den auffälligen Wandel im Straßen53 54 55

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Basil Hall: Extracts from a Journal, written on the Coasts of Chili, Peru and Mexico, in the years 1820, 1821, 1822. 2 Bde. Edinburgh 1825, S. 189. Albert H. Imlah: The Terms of Trade of the United Kingdom 1798-1913. In: Journal of Economic History 10, 1950, S. 170-194, hier S. 183. G.F. Lyon: Journal of a Residence and Tour in the Republic of Mexico in the Year 1826. With some Account of the Mines of that Country. 2 Bde. London 1828, Bd. II, S. 233. Los extranjeros y los aventureros. México 1832. Zu den unterschiedlichen Trachten je nach sozialer Schichtenzugehörigkeit und Hautfarbe vgl. Isidoro Moreno Navarro: Cuadros del mestizaje americano. Estudio antropológico del Mestizaje. Madrid 1973.

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bild der Städte und Bergwerksdistrikte hervorgehoben; die Öffnung der amerikanischen Häfen werde in baldiger Zukunft zu einem Anstieg des Konsums europäischer Manufakturwaren durch Völker führen, die bisher "von den Wohltaten der Civilisation ausgeschlossen" waren: "Es gibt keinen besseren Beweis dafür, als der Wechsel, den ich selbst innerhalb zwei Jahren beobachtete, in den Gebräuchen und äußeren Erscheinungen der niederen Classen zu Mexiko." 57 Die "Europäisierung" Mexikos äußerte sich nicht nur in der begierigen Übernahme neuester Moden durch die Kreolen, 58 sondern in vielen anderen Erscheinungen des öffentlichen Lebens. 1824 wurde in einem deutschen Bericht aus México bereits die Meinung vertreten, die Hauptstadt werde bald völlig einer europäischen Stadt gleichen. Der englische Sattel setzte sich unter den zahlreichen Reitern mehr und mehr durch, die an einer Kette von vielen Mexikanern getragenen Medaillons oder Kreuze wurden in Großbritannien hergestellt, neue Geschäfte und Cafés - diese häufig von Franzosen geführt oder in französischem Stil eingerichtet - machten auf, durch den Einfluß der Europäer erfuhr die mexikanische Küche "äußerst bemerkenswerte Veränderungen", Kutschen wurden aus den USA und Großbritannien eingeführt und veränderten das Straßenbild, die Wohnungseinrichtungen reicher Mexikaner ähnelten europäischen, vor allem französischen. 59 Selbst in den Provinzstädten waren Veränderungen festzustellen. Die zeitgenössischen Berichte lassen es verständlich erscheinen, daß sich gegen eine derart massive ausländische Dominanz bald eine Gegenbewegung bilden würde, daß (Wirtschafts-)Nationalismus und Xenophobie auf diesem Hintergrund einen guten Nährboden finden würden.

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H. G. Ward: Gedrängtes Gemälde des Zustandes von Mexiko im Jahre 1827, von dem englischen Geschäftsträger H. G. Ward Esquire daselbst; am umständlichsten im Bergwerkswesen und in Beziehung auf die Interessen des deutschen Handels nach Mexiko und deutscher Actionaire in den mexicanischen Bergwerken und deren Hoffnungen, übertragen mit Anmerkungen und Vorwort von F. A. Rüder, Leipzig 1828, S. 56. Ausgezeichnete Beschreibungen der Kleidungsgewohnheiten der verschiedenen sozialen Schichten Mexikos zu Beginn der 1840er Jahre bei Frances Calderón de la Barca: Life in Mexico. Berkeley 1982 (Erstveröffentlichung 1843). Percy Ernst Schramm: Deutschland und Übersee. Der deutsche Handel mit den anderen Kontinenten, insbesondere Afrika, von Karl V. bis zu Bismarck. Ein Beitrag zur Geschichte der Rivalität im Wirtschaftsleben. Braunschweig 1950, S. 56; Charles Joseph Latrobe: The Rambler in Mexico: MDCCCXXXIV. London 1836, Bd. I, S. 151; Frances Calderón de la Barca: Life in Mexico (Vorwort: Woodrow Borah). Berkeley, Los Angeles 1982, S. 173; Luis Manuel de Rivero: Méjico en 1842. Madrid 1844.

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Während in den Städten infolge europäischer Importwaren und im Zusammenhang mit der Anwesenheit von Europäern offensichtlich ein bemerkenswerter Wandel in den Kleidungsgewohnheiten, Konsumattitüden, in Lebensstil und Geschmacksorientierung der Mittel- und Oberschicht (nach einigen Beobachtern: auch der Unterschicht) stattfand, blieben unter den indios und den über zahllose Dörfer zerstreuten Mestizen die alten Traditionen weit mehr bewahrt. Nahezu alle Reiseberichte jener Jahre betonen den auffälligen Unterschied zwischen der städtischen und der ländlichen Alltagskultur. Mühlenpfordt hat in seinem umfangreichen "Versuch einer getreuen Schilderung der Republik Mexiko" die Kleidungsgewohnheiten im Lande ausführlich beschrieben, sie nach Schichten und Regionen differenziert, Neuartiges und Überliefertes kontrastiert. 60 Seine minutiösen Beobachtungen bestätigen im wesentlichen das bisher skizzierte Bild. Zur Kleidung der einheimischen Bevölkerung führt Mühlenpfordt aus: "Eben so einfach als seine Lebensweise, ist auch die Kleidung des Indiers. Zwar ist diese in verschiedenen Gegenden und bei den verschiedenen Stämmen in der Form etwas abweichend, aber die Stoffe sind im Allgemeinen stets dieselben, hauptsächlich Baumwolle und Leder, und meistens eigenes Fabrikat der Träger. [...] Die mittleren und unteren Classen der Bevölkerung namentlich die Blendlinge, sind ihrer alten Tracht getreuer geblieben, als die höheren, und man sieht bei ihnen nur ausnahmsweise europäische Moden." Ganz anders schildert Mühlenpfordt die Kleidungsgewohnheiten der Kreolen. Im Unterschied zu der indianischen Bevölkerung dominierten bei den Weißen offensichtlich der Mode- und Geschmackswandel: "Die Kleidertracht der Creolen, wie überhaupt der höheren Bewohnerclassen Mejicos hat, seit das Land frei geworden, eine völlige Umwandlung erfahren. [...] Bald aber begann das Beispiel der vielen, Mejico von allen Seiten zuströmenden Fremden auf den Geschmack der Mejicaner zu wirken; der freie Handel schaffte europäische Manufacturwaaren und Modeartikel in Menge herbei, und verhältnissmässig billige Preise lockten zum Ankauf; europäische, namentlich französische Schneider und Putzmacherinnen liessen sich in allen grösseren Städten des Landes nieder, und schon nach wenigen Jahren sah man Damen und Herren, selbst in kleineren Städten, durchgängig in die neuesten Pariser und Londoner Moden gekleidet." Da sowohl die städtische als auch die ländliche Unterschicht kaum zur Herausbildung eines Marktsystems beitrugen, erhebt sich die Frage, wie groß die Ober- und die Mittelschicht waren, die als Abnehmer ausländischer Güter in Frage kamen.

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Vgl. Mühlenpfordt (Anm. 5).

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Nahezu alle Beobachter stimmten darüber überein, daß in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Anteil der Ober- und Mittelschicht an der mexikanischen Gesamtbevölkerung äußerst gering war. In den Reiseberichten wird primär über das offensichtlich augenfälligste Phänomen der mexikanischen Gesellschaft geschrieben: über die allgegenwärtigen "niederen Stände", die Bergwerks- und Landarbeiter, die Straßenverkäufer und Tagelöhner, die Bettler und léperos. Ihrem Alltag wird der Lebensstil einer schmalen, reichen Oberschicht gegenübergestellt. Von einer derart gestalteten dichotomischen Klassenstruktur sind auch Autoren wie Platt bei der Beschreibung des lateinamerikanischen Marktes für europäische Importgüter ausgegangen. Allerdings scheint der Anteil einer (wie auch immer gearteten) Mittelschicht an der Gesamtgesellschaft, zumindest in einigen Landesteilen, nicht so gering gewesen zu sein. 61 Im Staat Querétaro etwa betrug im Jahr 1844 die städtische Ober- und Mittelschicht 21 Prozent der gesamten nicht-landwirtschaftlichen Bevölkerung. Zahlenangaben zu anderen Orten für ungefähr die gleiche Zeit bestätigen das Vorhandensein einer beachtlichen Mittelschicht. Für die Ortschaft Guadalupe bei México etwa - die heute zur Hauptstadt gehört - ist für das Jahr 1856 die Ober- und Mittelschicht auf 31 Prozent der Gesamtbevölkerung geschätzt worden; auch der Pazifikhafen Mazatlán in Sinaloa wies 1854 eine geschätzte Ober- und Mittelschicht von 31 Prozent auf. Für México-Stadt läßt sich aufgrund der Zählung von 1849 ein Anteil von rund 26 Prozent Mittel- und Oberschichtangehörigen unter den männlichen Erwachsenen feststellen. 62 Offensichtlich gab es über dem Niveau der am Subsistenzminimum dahinvegetierenden Unterschichten eine nicht unbedeutende Mittelschicht, die zumindest um die Jahrhundertmitte bereits breiter war als der äußerst schmale Streifen der privilegierten Oberschicht. Diese "mittlere Schicht" von Handwerkern, Ladenbesitzern, Angestellten, Werkstätteninhabern sowie (im ländlichen Kontext) rancheros und Pächtern läßt sich sozialökonomisch eher durch ihren Unsicherheitsstatus, der ihre Position auf der sozialen Gesellschaftsskala äußerst labil erscheinen ließ, als durch ständige Armut charakterisieren. Ein nicht geringer Teil dieser mittleren Schicht dürfte, zumindest potentiell, zu den Abnehmern ausländischer Importwaren gezählt haben.

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Vgl. zum folgenden Torcuato Di Telia: The Dangerous Classes in Early Nineteenth Century Mexico. In: Journal of Latin American Studies 5 , 1 , 1 9 7 3 , S. 79-105. Dieser Prozentsatz verzerrt möglicherweise die tatsächlichen Proportionen, da die Zählung nur 120.000 Einwohner (von wahrscheinlich rund 200.000) registrierte. Vgl. Frederic S. Shaw: The Artisan in Mexico City (1824-1853). In: Elisa Cecilia Frost u.a. (Hg.): El Trabajo y los Trabajadores en la Historia de México. México 1979, S. 399-418.

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Die Angaben für Querétaro, México, Guadalupe und Mazatlán lassen es als wahrscheinlich erscheinen, daß (zumindest in diesen Ortschaften) zwischen 21 und 31 Prozent der Bevölkerung zu den Abnehmern europäischer Importwaren gehörten. Ließe sich dieser Anteil auf die gesamtmexikanische Bevölkerung hochrechnen, so resultierte daraus - bei einer geschätzten Bevölkerung von rund sieben Millionen - eine potentielle Abnehmerschicht, die zwischen 1,5 und 2,2 Millionen liegt. 1826 schätzte Konsul Dashwood, daß 1,5 Millionen Mexikaner europäische Manufakturwaren kauften; 6 3 ungefähr zur gleichen Zeit hatte O'Gorman die Bevölkerung von San Luis Potosí (zusammen mit den umliegenden Dörfern) auf 40.000 geschätzt, von denen 15.000 Konsumenten ausländischer Waren seien. Der britische Generalkonsul kam somit auf eine potentielle Käuferschicht von 37,5 Prozent; die Schätzung ist mit Sicherheit überhöht, läßt aber andererseits deutlich werden, daß sich den zeitgenössischen Beobachtern bereits im Urbanen Kontext der Eindruck einer breiten Schicht von Konsumenten europäischer Importwaren aufdrängte. 64 Zu den bisher zitierten ließen sich noch viele weitere Sitmmen aus den ersten Jahrzehnten der mexikanischen Unabhängigkeit anführen. Die Beobachtungen stimmen nicht in allen Punkten überein; sie weisen jedoch soviel Gemeinsamkeiten auf, daß zumindest drei Schlußfolgerungen gezogen werden können. Die erste weist - neben den Europäern selbst - die Kreolen der Städte als Hauptabnehmer europäischer Waren aus. Offensichtlich gehörte auch eine nicht allzu schmale städtische Mittelschicht zu den Käufern importierter Manufakturwaren. Die zweite Schlußfolgerung ist weniger eindeutig; sie betrifft die Antwort auf die Frage nach dem Ausmaß, in dem auch Mestizen und indios die neuen Kleidungsgewohnheiten zu übernehmen finanziell in der Lage und geistig gewillt waren. Die (Reise-)Literatur hinterläßt zu dieser Frage einen eher zwiespältigen Eindruck; klar scheint nur zu sein, daß europäische Textilien und andere Manufakturwaren für die untere Mittelschicht und die große Masse der Unterschicht von weit geringerer Bedeutung als für die Reicheren waren. Die Tatsache jedoch, daß Textilien in großem Maßstab eingeführt wurden, daß die billigen Baumwollstoffe den größten Posten unter den importierten Textilien stellten und daß Importwaren durchgängig billiger als mexikanische Produkte waren, läßt es als sehr wahrscheinlich erscheinen, daß nicht unerhebliche Mengen der europäischen Manufakturwaren über den Kreis der städtischen Konsumenten hinaus auch ländliche Verbraucher (etwa in Bergwerksdistrikten und Agrar-

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Dashwood an Canning, Xalapa 31.7.1826; PRO FO 50/28, Bl. 50. O'Gorman: Information regarding the Trade of Tampico obtained through a private channel in September 1824. Mexiko 1.3.1825: PRO FO 203/3, Bl. 124.

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Walther L. Bernecker

Zentren) erreichten. Die dritte Schlußfolgerung schließlich betont den Modeund Geschmackswandel in Teilen der mexikanischen Gesellschaft nach der Unabhängigkeit des Landes und bestätigt damit die Bedeutung, die die ausländischen Händler der Geschmacksbeeinflussung als Voraussetzung für eine spätere Ausweitung ihres Warenabsatzes eingeräumt haben. Sicherlich lassen sich nicht alle derartigen Schlußfolgerungen - und schon gar nicht ausschließlich - auf Reiseliteratur zurückführen. Reiseberichte stellen allerdings für den Sozialhistoriker eine wichtige ergänzende Quelle in all jenen Fällen dar, in denen Statistiken und amtliche Berichte wegen offensichtlicher Mängel oder Manipulationen versagen. Im mexikanischen Fall des 19. Jahrhunderts lassen sich aus den Beschreibungen der Reiseliteratur zumindest approximativ Schlußfolgerungen über Konsumgewohnheiten der verschiedenen Bevölkerungsschichten ziehen; damit kann diese Quellengattung aber - vorsichtig und überlegt eingesetzt - einen Beitrag zur Versachlichung einer höchst ideologisierten Diskussion leisten.

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JOCHEN HEYMANN

Amerika für Jedermann: Reiseberichte über Lateinamerika in der Revue des Deux Mondes (1830-1876) Reiseberichte: Literarizität und Pragmatik In Jules Vernes Roman Les Enfants du capitaine Grant (1867-68) gerät eine Reisegesellschaft auf der Suche nach dem verschollenen Kapitän Grant in einen Sturm mitten in der argentinischen Pampa. Die Sintflut, durch heftige Regenfälle und mehrere über die Ufer tretende Flüsse ausgelöst, hat apokalyptische Züge: "Une vague monstrueuse, haute de quarante pieds, déferla sur les fugitifs avec un bruit épouvantable. Hommes et bêtes, tout disparut dans un tourbillon d'écume. Une masse liquide pesant plusieurs millions de tonnes les roula dans ses eaux furieuses." 1 Der Ombü-Baum, auf den sie sich retten und gleich häuslich niederlassen, ist ebenso riesenhaft wie die Flutwelle und ragt providenziell wie eine einsame Insel aus dem Wasser hervor. Dieser Schauplatz und andere Ereignisse des Romans - entlang der Linie des 37° 11' Grades südlicher Breite - stehen in Kontrast zur tatsächlichen geographischen Erfahrung seines Autors. Jules Verne ist von seiner Geburtsstadt Nantes nur einmal, nachdem er bereits etliche Reiseromane geschrieben hatte, in die Vereinigten Staaten gereist. Ansonsten beschränken sich seine eigenen Erfahrungen auf Frankreich und das Mittelmeer. Die geographischen, landeskundlichen und ethnographischen Aussagen in der Reihe der Voyages extraordinaires beruhen damit zwangsläufig auf fremden Informationen. Es ist bekannt, daß Jules Verne für die Abfassung seiner Romane, in denen gerade die geographische Beschreibung eine beherrschende Rolle spielt, Reiseberichte, wissenschaftliche Untersuchungen und Atlanten herangezogen hat. 2 In Zusammenarbeit mit seinem

1 2

Jules Veine: Les Enfants du Capitaine Grant. 2 Bde., Paris 1994, Bd. 1, S. 245. Vgl. dazu die Originalillustration der Erstausgabe, abgebildet ebda., S. 242, die das Gigantische der Beschreibung unterstreicht. Am Rand der Romanproduktion hat Jules Verne auch eine Histoire des grands voyages et des grands voyageurs in drei Teilen verfaßt. Vgl. Jean Chesneaux: Une lecture politique de Jules Verne. Paris 1971, S.26f. Vgl. auch. Daniel Compère: Jules Verne écrivain. Genève 1991, Kap. IV, zu Übernahmen und Umwandlungen derartiger Quellen.

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Jochen Heymann

Verleger Pierre-Jules Hetzel sind auf diese Weise, neben der Reihe der Voyages extraordinaires, auch eine Nouvelle Histoire des Voyages und die Géographie illustrée de la France entstanden.3 Bemerkenswert ist nicht so sehr der Umstand, daß Reisebeschreibungen Material für fiktionale Werke zur Verfügung stellen, noch etwa, daß die vermeintlich eigene Anschauung und Erfahrung durch Berichte aus zweiter Hand ersetzt werden. 4 Vielmehr ist die Tatsache bezeichnend, daß Jules Verne und sein Verleger die fiktionale Vermittlung von Wissen über unbekannte Länder ganz selbstverständlich - und wohl unwidersprochen - auf dieselbe Stufe sachlicher Verläßlichkeit stellen wie etwa die wissenschaftlichen geographischen Berichte. "Son but [celui de Jules Verne] est [...] de résumer toutes les connaissances géographiques, géologiques, physiques, astronomiques, amassées par la science moderne, et de refaire, sous la forme attrayante qui lui est propre, l'histoire de l'univers." 5 "La forme attrayante" des Romans soll nichts weiter als die Hülle sein, die die Vermittlung des sachlichen Inhalts zu erleichtem hat. Nach der Maßgabe des heutigen Verständnisses gehört Les Enfants du capitaine Grant zur Gattung des Romans, so daß die sachliche Richtigkeit der Szenen der Überschwemmung und der Flucht auf den Ombü-Baum unter dem Vorbehalt der Fiktionalität der Handlung stehen. Die literaturwissenschaftlich bestätigte Behauptung Jules Vernes, seine Werke hätten eine tiefere Bedeutung als die ihnen vordergründig zugeschriebene als pädagogische Jugendliteratur, 6 unterstreicht noch diesen Vorbehalt. Dementsprechend wird der Wahrheitsanteil, der in der Sachbeschreibung von Pampa, Ombü und ausbrechender Naturgewalt enthalten ist, lediglich als Teil mimetischer Hintergrundbeschreibung wahrgenommen, deren pragmatische Informationsvermittlung jedoch ausgeblendet. Gerade dieser zurückgedrängte Anteil an der Beschreibung 3 4

5 6

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Vgl.Friedrich Wolfzettel: Jules Verne. München 1988, S. 28f. Vgl. Goethes ironische Charakterisierung von Reiseberichten: "Gib mir nur deine Reiseroute, ehe du zu uns kamst; das andre weiß ich. Die Quellen und Hülfsmittel zu deinem Werke will ich dir aufsuchen; an Quadratmeilen, die nicht gemessen sind, und an Volksmenge, die nicht gezählt ist, müssen wir's nicht fehlen lassen. Die Einkünfte der Länder nehmen wir aus Taschenbüchern und Tabellen, die, wie bekannt, die zuverlässigsten Dokumente sind. Darauf gründen wir unsere politischen Räsonnements". Wilhelm Meisters Lehrjahre, IV, 7. Zit. aus: Werke (Hamburger Ausgabe, 7), München 1982, S. 267. An gleicher Stelle nur wenig später heißt es auch: "Besonders vergessen wir nicht, eine Liebesgeschichte mit irgendeinem naiven Mädchen aufs anmutigste einzuflechten, und es soll ein Werk entstehen, [...] das dir auch jeder Buchhändler mit Vergnügen bezahlt." Ebda., S. 268. Pierre Jules Hetzel: Vorwort zu: Jules Verne: Voyages et aventures du capitaine Hatteras. Paris 1866, zit. nach Chesneaux (Anm.2), S. 23. Vgl. Chesneaux (Anm.2), S. 18ff. Vgl. auch Wolfzettel (Anm. 3), S. 29f.

Amerika für Jedermann

aber steht, laut den öffentlich gemachten Absichten von Verleger und Autor, intentional im Mittelpunkt der Voyages extraordinaires. Insofern wird, unter Beibehaltung der Gattungspoetik des Romans für die Personen- und Ereignisebene, der Fiktionsvorbehalt für die geographische Beschreibung ausgesetzt oder zum Bestandteil pädagogischer Vermittlung reduziert. Der Fall Jules Vernes zeigt zunächst, daß zumindest im 19. Jahrhundert zwischen den verschiedenen Darstellungsmodalitäten des Reisegegenstandes keine scharfen Grenzen gezogen werden. Aus heutiger Sicht fällt ein Text der Art von Vernes Roman aus der Kategorie der Reiseliteratur heraus, weil der mit sachlichem Anspruch geschriebene Beschreibungsanteil im Dienst der fiktionalen Fabel steht und demzufolge deren Bedürfnissen angepaßt wird. So strikt ist diese Abgrenzung im 19. Jahrhundert aber offensichtlich nicht. Wenn man die äußeren Markierungen der Gattung nach dem Grad der literarischen Ausgestaltung der beschriebenen Welt festlegt, spannt sich die Bandbreite der Reiseliteratur zwischen dem nüchternen Beobachtungs- und Inventarisierungsprotokoll einerseits und der literarischen Genreszene oder dem Reiseroman andererseits. Innerhalb dieser beiden Extreme sind die Übergänge fließend. Das bedeutet natürlich nicht, daß zwischen den Berichten an die geographischen Gesellschaften und z. B. den korsischen Novellen Merimees kein Unterschied erkannt worden wäre. Wohl aber heißt es, daß selbst notorischen Fällen von literarischer Freizügigkeit ein Wahrheitsgehalt zuerkannt worden ist, der den eben erwähnten Fiktionsvorbehalt außer Kraft setzt. Das liegt in der Logik der Epoche. Es genügt, daran zu erinnern, daß die Geisteswissenschaften von der Geschichte über die Philologie bis zur entstehenden Soziologie ausnahmslos diskursiv und deskriptiv arbeiten; die Beispiele Balzacs und Zolas zeigen, daß selbst der Roman noch Wissenschaftlichkeit beanspruchen kann, ohne Gefahr zu laufen, sich dadurch automatisch zu diskreditieren. Der Kontrast zwischen dem aktuellen Gattungshorizont und dem Grenzfall von Jules Vernes Reiseromanen dient dazu, bestimmte Grundannahmen über die Reiseliteratur zu problematisieren, um sie sodann modifiziert betrachten zu können. Vernes Roman zeigt ex negativo die Grundbedingungen von Reisebeschreibungen: Sie sind erstens pragmatisch, d. h. mit dem Ziel der sachlichen Informationsvermittlung über einen Gegenstand verfaßt. Sie sind zweitens nonfiktional als Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit des Berichts. Die Reiseliteratur ist außerdem wahrnehmungs- und erfahrungsorientiert, d. h. dominant lebensweltlich referentiell ausgerichtet, und schließlich wahrheits- bzw. erkenntnisverpflichtet. Les Enfants du capitaine Grant zeigt, welche Elemente diese Erwartungen relativieren; die Fiktionalität be6

Vgl. Chesneaux (Anm.2), S. 18ff. Vgl. auch Wolfzettel (Anm. 3), S. 29f.

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Jochen Heymann

einträchtigt die Glaubwürdigkeit des Berichts und drängt den pragmatischen Zweck in den Hintergrund. Außerdem beruhen Vernes Kenntnisse nicht auf eigener Anschauung. Die Beschreibung der Pampa und des Ombü-Baumes wie auch diejenige Neuseelands, Australiens oder der südpazifischen Inseln sind aus fremder Vermittlung hervorgegangen. Die Wahrnehmungsorientierung ist aufgehoben, wodurch seinerseits der Wahrheitsanspruch - dessen Validation aus der Anschauung des Autors erwächst - durch eine Plausibilitätsannahme oder durch eine Vertrauensvermutung ersetzt wird. Der Umstand, daß Texte auf anderen (bildlichen und schriftlichen) Darstellungen und nicht auf eigener Anschauung beruhen, impliziert, daß die lebensweltliche Referenz durch eine kulturell-diskursive ersetzt wird, so daß de facto der schriftlich beschriebene Gegenstand eine Verselbständigung und Entwirklichung erfährt. Es gibt gute Gründe, derartige Substitutionsvorgänge nicht nur für die fiktionale Literatur etwa Jules Vernes, sondern auch für die "herkömmliche" Reisebeschreibung anzunehmen. Jurij Lotmanns Betonung des Modellierungsvorgangs in sprachlichen Äußerungen gilt nicht nur für fiktionale Texte, sondern grundsätzlich ebenso für pragmatische Beschreibungen. 7 Andererseits haben Reinhart Koselleck und Hayden White ausführlich die Modellbildung als Voraussetzung für die Gewinnung und Vermittlung von Erkenntnis in deskriptiven, nonfiktionalen (historischen) Werken behandelt. 8 Mit beiden Ausrichtungen von Modellierung hängt die Anknüpfung von Beschreibungs- und Explikationsmodi an kulturelle Raster zusammen. 9 Nichtsdestoweniger behalten die vier aufgezählten Grundmerk7 8

9

356

Jurij M. Lotmann: Die Struktur literarischer Texte. München 1989, bes. S. 27ff. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik historischer Zeiten. Frankfurt am Main 1984, und Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt am Main 1994. Freilich handelt es sich bei Lotmann einerseits und bei Koselleck und White andererseits um zwei verschiedene Arten von Modellbildung, denn die von Lotmann anvisierte erfaßt insbesondere die Gestalt der dargestellten Welt, während Koselleck und White gnoseologische Modelle im Blick haben, mit deren Hilfe die äußere Gestalt einer unbekannten Welt einen Sinn enthüllen soll. Insofern müssen sie methodisch unterschieden und getrennt erörtert werden. Für die grundsätzliche Feststellung, daß Modellierungsmechanismen in einem Text mehrfach wirken, ist die Unterscheidung jedoch fürs erste ohne Belang. Vgl. dazu Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung. Frankfurt am Main 1990, bes. S. 18f„ 28 u. 32f. Vgl. dazu Albert Meier: Von der enzyklopädischen Studienreise zur ästhetischen Bildungsreise. Italienreisen im 18. Jahrhundert. In: Peter J. Brenner (Hg.): Der Reisebericht. Frankfurt am Main 1989, S. 284-305; sowie Hans-Joachim Piechotta: Erkenntnistheoretische Voraussetzungen der Beschreibung: Friedrich Nicolais Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, und Klaus Laermann: Raumerfahrung und Erfahrungsraum. Einige Überlegungen zu Reiseberichten aus Deutschland vom Ende des 18. Jahrhunderts, beide in: Hans-Joachim Piechotta (Hg.): Reise und Utopie. Zur Literatur der Aufklärung. Frankfurt am Main 1976, S. 57-97 u. 98-150; ferner Jochen Heymann: Die Entdeckung Deutschlands. Gattungsnormen und Wahrnehmungsmodalitäten in den Reiseberichten von Carlo Denina und Aurelio Bertola, in:

Amerika für Jedermann

male der Reiseliteratur bei der Rezeption ihre Gültigkeit, d. h. insbesondere die Wahrheitsvermutung besteht unvermindert fort. Daraus ergibt sich die Frage nach den Validationsmechanismen, die sie beim Rezeptionsvorgang bestehen lassen. Am einfachsten ist dieser Effekt erreicht, wenn bereits ein allgemeines, diffuses und unorganisiertes Wissen über den beschriebenen Gegenstand besteht, das zum Ersatzreferenten für die konkrete Beschreibung wird und diese vermeintlich zu überprüfen erlaubt, wobei natürlich der Fall eintreten kann, daß dieses Wissen nicht objektiv richtig, sondern selbst das Produkt eines mehrschichtigen Filterungsvorgangs ist. Das Ergebnis liegt auf der Hand: Am Ende entsteht ein geschlossener textueller Kreislauf, der sich selbst bestätigt. Akzeptiert man diese Ausgangsthese, muß die Frage beantwortet werden, in welcher Weise dieses Wissen innerhalb einer breiten Leserschaft entstehen, verbreitet und aufrechterhalten werden kann. Die Kenntnis von "klassischen" Reisebeschreibungen, die Schulbildung und selbst die Kinder- und Jugendliteratur kommen dafür in Frage. 10 Viel mehr aber als diese Publikationen spielen, wegen der hohen Auflagen und der Regelmäßigkeit und Häufigkeit des Erscheinens, die Zeitschriften eine Rolle. Nicht anders als heute wird das konsensuelle Wissen, das anstelle eigener Erfahrung als Ersatzreferent dient, medial hergestellt, mit dem einzigen Unterschied, daß heutige Medien elektronisch und bildhaft sind, während jene im 19. Jahrhundert gedruckt wurden. Die ihnen zugeschriebene Glaubwürdigkeit basiert auf jeweils anderen Grundlagen, ist aber in ihrer Beschaffenheit und ihrem Ausmaß dieselbe.

Lateinamerika in der "Revue des Deux Mondes" Eine Untersuchung des Lateinamerikabildes und dessen Wandlungen in den französischen Zeitschriften des 19. Jahrhunderts steht noch aus. Abgesehen von ihrem Einfluß auf die Imago-Bildung Lateinamerikas und von ihrem Wert als historische Quelle, können aus ihnen die Bandbreite des Phänomens

10

Italo Michele Battafarano (Hg.): Deutsche Aufklärung und Italien. Bern 1992 (IRIS, 6), S. 371-396; ders.: Wahrnehmungskategorien in Gian Lodovico Bianconis Deutschlandreise, in: Frank-Rütger Hausmann (Hg.): Italien in Germanien. Würzburg (im Druck). Zumindest für die Kinder- und Jugendliteratur darf der Einfluß nicht überschätzt werden. Der Erfolg der Unternehmungen Hetzles und Vernes liegt gerade darin, eine Lücke in diesem Bereich mit einer attraktiven Form geschlossen zu haben. Als Beispiel für den Umgang mit geographischem Wissen vor deren Zeit genügt ein Blick z. B. in Pierre Blanchards Petit voyage autour du monde. Ouvrage amusant, propre à préparer les enfans à l'étude de la géographie. Paris 1836 (11. Auflage), zu werfen. Während Europa insgesamt 123 Druckseiten gewidmet werden (davon 43 allein Frankreich), werden Nord-, Mittel- und Südamerika auf 26 Seiten abgehandelt.

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Jochen Heymann

Reiseliteratur und die darin waltenden Mechanismen von Literarisierung, Validation und Schaffung medialer Ersatzreferenten aufgezeigt werden. Obwohl diese Möglichkeiten im hiesigen Rahmen nicht erschöpfend ausgelotet werden können, sollen sie wenigstens am paradigmatischen Fall der Revue des Deux Mondes angerissen werden. Von allen französischen Zeitschriften des 19. Jahrhunderts steht sie gerade seit dem Besitzerwechsel von 1831 sicherlich an erster Stelle der Bedeutung und Verbreitung. Die Revue war 1829 als Recueil de la politique, de l'administration et des moeurs als staatswissenschaftlich orientiertes Blatt gegründet worden und kurze Zeit später, wegen des schleppenden Absatzes, um die geographische Berichterstattung des aufgekauften Journal des Voyages (gegr. 1818) bereichert worden. 1831 wurde die Revue von François Buloz (1803-1877) übernommen und erlebte die entscheidende Umstrukturierung, aus der sie zur erfolg- und einflußreichsten Zeitschrift Frankreichs wurde. 11 1831 hatte sie 350 Subskribenten, 1832 schon 620, 1834 dann 1000 und 1838 1500.^ Während des Zweiten Kaiserreiches waren es schließlich 4000. 1 3 Die Gründe für den Erfolg der zweimonatlich, später monatlich und schließlich vierzehntäglich erscheinenden Zeitschrift liegen in der Anpassung an den herrschenden Geschmack in ästhetischer ebenso wie in politischer Hinsicht und in der Bescheidung auf ein mittleres intellektuelles Niveau, das allzu kühne Experimente und diffizile Fragestellungen von vornherein vermied. 14 Die redaktionell verordnete Nivellierung machte vor den renommierten Beiträgern der Zeitschrift nicht halt. George Sand, Musset oder Sainte Beuve haben den Eingriff Buloz' über sich ergehen lassen müssen. Dessen Gespür für den Geschmack des Publikums, an dem sich die stilistische, inhaltliche und intellektuelle Grundlinie des Blattes orientierte, macht die Inhalte und Darstellungsweisen paradigmatisch zum Indiz für die Erwartungshaltung des Publikums und für die Eigendynamik, die der medial aufbereitete Gegenstand entwickelte. Im Mittelpunkt der Untersuchung soll im folgenden die Phase zwischen 1831 und 1874 stehen. Sie umfaßt die "Epoche Buloz" von der Übernahme der Zeitschrift bis (fast) zu seinem Tod und deckt gleichzeitig eine zentrale historische Phase im Frankreich des 19. Jahrhunderts ab, beginnend mit der Julimonarchie und endend mit dem Anfang der III. Republik. Die Analyse wird dadurch erleichtert, daß 1874 für diese erste Epoche der Zeitschrift

11 12 13 14

358

S. Nelly Furman: La Revue des Deux Mondes et le romantisme (1831-1848). Genève 1975, S. l l f f . Ebda., S. 18f. Ebda., S. 21 î. Ebda., S. 20ff. u. 30ff., 35.

Amerika für

Jedermann

ein Register veröffentlicht wurde, in dem zugleich das Selbstverständnis der Publikation artikuliert wurde. 15 Obwohl die Ausführungen in der "Introduction" zu diesem Generalregister nicht in allen Punkten vorbehaltlos übernommen werden können, bieten sie wertvolle Anhaltspunkte, um die Einschätzung der Herausgeber bezüglich des Wertes von Reisebeschreibungen und deren Verhältnis zu historischen, politischen, wirtschaftlichen und literarischen Beiträgen richtig ermessen zu können. Den Tenor dieser "Introduction" bestimmt der politische Standort der Revue. Sie definiert sich als liberales Blatt, das die konstitutionelle Form der Julimonarchie bevorzugt. Dennoch hat sie sich den Umständen während des Zweiten Kaiserreichs angepaßt; ihre Ablehnung seiner autoritären Regierungsform äußert sich nicht in Form offener Kritik, sondern durch eine Verlagerung der Inhalte von der Politik zu Wirtschafts-, Kunst- und Wissenschaftsfragen. 1 6 In der Beurteilung der Julimonarchie, der 48er Republik, des Zweiten Kaiserreiches und der Pariser Kommune zeigt sich die Revue als unbedingt staatstragend. Den wechselnden Regierungsformen, die sie als vergänglich und zufällig bezeichnet, stellt sie die übergreifenden Klammern der Nation und des Patriotismus entgegen: "Il y a, dans la politique étrangère et même dans la politique intérieure, des questions multiples qui sont indépendantes de la forme du gouvernement et qui ne relèvent que du patriotisme, c'est-à-dire d'un sentiment commun à tous les partis. Ces questions, la Revue s'est appliquée à les traiter en ne s'inspirant que de l'intérêt du pays. [...] Elle s'est éfforcée de maintenir le débât politique dans les régions supérieures." 17 Der Zweck dieser Standortbestimmung geht über die bloße Distanzierung von konkreten parteipolitischen Positionen hinaus. Auch die historische Einordnung in die "orléanistische" Tradition steht hinter der impliziten Stellungnahme für die bürgerlich-liberale, republikanische Politik Thiers' zu Beginn der 1870er Jahre zurück. 18 Mit diesem Standpunkt setzt sich die Revue von der polemischeren Tagespresse ab und stellt sich selbst, vor der Folie der Niederlage im deutsch-französischen Krieg 1870-71, als Quelle für fundierte Hintergrundinformation dar, die als politisches Instrument die15 16 17 18

Revue des Deux Mondes, Table générale 1831-1874. Paris 1874. Nach diesem ersten sind dann in Zehnjahresabschnitten weitere Register angelegt worden. Ebda., S. Ilf. Ebda., S. II. Über die Bedeutung der Pressefreiheit für die Ablösung des Kaiserreichs durch die Republik und für den überparteilichen, patriotischen Konsens, der die Grundlage von Thiers' Macht wurde, vgl. François Caron: La France des patriotes. De 1851 à 1918. Paris 1985 (Histoire de France, 5), S. 206ff. Aus naheliegenden Gründen war die RDM an der sich daran anschließenden größeren Handlungsfreiheit sehr interessiert.

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Jochen Heymann

nen soll, um einer gefährlichen Isolierung entgegenzuwirken: "La France s'est trop longtemps repliée dans la contemplation de ses progrès et dans la confiance qu'elle se croyait le droit d'avoir en sa force." 19 Diese Erkenntnis führt zu der Schlußfolgerung: "La France ne se connaîtra bien elle-même qu'à la condition de connaître, mieux qu'elle ne l'a fait jusqu'ici, les pays étrangers, car tout est concurrence, tout est progrès, et pour une nation qui ne se tiendrait pas au courant des choses extérieures, la concurrence et le progrès universel créeraient les plus graves périls." 20 Innerhalb der aktuellen politischen Diskussion in Frankreich reflektiert diese Aussage die Beurteilung der militärischen Niederlage von 1871 und den laizistisch umgemünzten Gedanken Hippolyte Taines von nationaler Buße und von Orientierung am geschmähten Ausland als unumgängliche Voraussetzung für den nationalen Wiederaufstieg. 21 Durch die allgemeine, von konkreten Bezügen losgelöste Formulierung entwerfen diese Passagen zugleich den Legitimationszusammenhang der in der Revue publizierten Berichte über fremde Länder. Sie umfassen geographische, wirtschaftliche, politische, künstlerische und technische Aspekte, verklammert diese aber zugleich auch untereinander: "Les études d'archéologie et d'art, ainsi que les recherches scientifiques, ont eu leur place dans ces monographies, qui empruntent souvent aux récits de voyage la vivacité des impressions et le charme descriptif." 22 Mit anderen Worten: Die literarische Ausgestaltung der Texte, den Reisebeschreibungen entlehnt, wird auch in Berichten angewandt, die eigentlich eine pragmatische Informationsfunktion haben sollen. Damit wird die "forme attrayante" des Romans, auf die Vernes Verleger sich berufen hatte, aus dem Gattungsmodell der fiktionalen Prosa auf pragmatische Texte übertragen, womit sich dasselbe Problem im Hinblick auf den Wahrheitsgehalt und dessen Validation stellt wie in Vernes Roman aufgrund des skizzierten Fiktionsvorbehalts der Beschreibungen. Bemerkenswert ist dabei der Umstand, daß "la vivacité" und "le charme descriptif' neben der äußerlichen Form und den Inhalten auch die begriffliche Einkreisung der Berichte beeinflussen. Es ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich, die im Generalregister praktizierte Einteilung nach gattungsartigen Kriterien zu verfolgen, denn sie gibt Aufschluß über das, was im Rahmen des Mediums unter dem Begriff "Reisebeschreibung" subsummiert wurde und somit auch darüber, welche Erwartungen daran geknüpft

19 20 21 22

360

RDM, Table générale (Anm. 15), S. IV. Ebda., S. VI. Ebda., S. 259f. Ebda., S. IV.

Amerika für Jedermann waren. Im analytischen zweiten Teil des Registers ist der Abschnitt XIV "Voyages - Ethnographie" in Regionen unterteilt. Die 74 Lateinamerika betreffenden Titel verteilen sich folgendermaßen: ANZAHL

REGION

21

Mexiko, Texas Karibik

7

Brasilien

15

Südamerika gesamt davon Anden Cono Sur Mittelamerika

31 10 2 9

Gesamt

74

Gegenüber dieser unauffälligen Katalogisierung ist das geographische Register wesentlich aussagekräftiger, in dem die Beiträge nach den verschiedenen Ländern oder Regionen geordnet und hier wiederum noch einmal in einzelne Sparten (Geschichte, Politik, Reisen, Ethnographie und Literatur) gegliedert sind:

REGION

GESCH.

POLITIK

REISEN

Mexiko

5

14

23

Karibik

-

Brasilien

-

Südamerika - Cono Sur - Andenraum - Festland

26* 20 4 2

Gesamt

31

ETHNO.

22*

-

18 -

-

LITERAT.

GESAMT

-

42

-

22

-

18

41* 20 9 12

l

118

1

-

68 40 13 14 150

* Thematische Überkreuzung auch mit Politik. Prozentuale Vergleiche mit anderen Ländern oder auf die Gesamtheit der Publikationen bezogen sind angesichts des überreichen Materials kaum

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durchführbar, ganz abgesehen davon, daß für die europäischen Länder eine differenziertere Gliederung vorgenommen wird, so daß die Vergleichsgrandlage fehlt. Der bloße Überblick genügt, um festzustellen, daß Europa wesentlich häufiger behandelt wird als Amerika. Legt man die Gesamtzahl der Beiträge über Lateinamerika auf die Anzahl der zugrundegelegten Jahrgänge um, so ergibt sich ein Mittelwert von drei bis vier Artikeln pro Jahr, d.h. etwa ein Beitrag in jedem Quartal. Die Streuung ist dabei freilich nicht gleichmäßig, sondern hängt im wesentlichen von den jeweils aktuellen Ereignissen in den verschiedenen Regionen ab. Die Karibik taucht erst in den 40er Jahren in der Revue auf, Brasilien dagegen wird seit 1831 recht regelmäßig dargestellt. In den 50er Jahren ist das Interesse an Argentinien besonders hoch, in den 40er und 60er Jahren dasjenige an Mexiko. Auch die Gegenüberstellung der ersten Tabelle mit der Sparte "Voyages" des geographischen Registers ist nicht aussagekräftig, weil in diesem letzteren meist mehrere Gliederungskategorien zusammengezogen werden. Nur im Falle Mexikos werden Beiträge über historische, politische und reisespezifische Themen voneinander getrennt, was ansonsten nicht der Fall ist. Im allgemeinen werden zwei verschiedene Gruppen gebildet: "Voyages [et] politique" oder "voyages [et] ethnographie", wobei die darin aufgenommenen Aufsätze nicht klar voneinander getrennt werden können. Etliche Beiträge sind ohne weiteres als historischen oder politischen Inhalts zu erkennen, obwohl sie unter der Rubrik "Ethnographie" eingeordnet sind. Einen klaren Grund, die Reiseberichte mehr der politischen oder der ethnographischen Darstellung anzunähern, gibt es offensichtlich nicht. Es scheint dagegen so zu sein, daß Vorurteile dafür den Ausschlag gegeben haben. Die Beiträge über die Karibik, die unter "voyages [et] ethnographie" eingeordnet sind, betreffen zu einem guten Teil die politische Entwicklung auf Haiti und auf Kuba zwischen 1840 und 1865. Allein der Umstand, daß Haiti eine schwarze Führungsschicht besitzt, scheint für diese Einteilung den Ausschlag gegeben zu haben. Das Bild Brasiliens dagegen ist offensichtlich von der europäischen Orientierung und Organisation des Landes sowie von der Verfassung als Kaiserreich geprägt. Über Mexiko dagegen werden Beiträge, die indianische Traditionen berühren, nicht unter "ethnographie", sondern unter "voyages" oder unter "histoire" geführt. Der eigentlich springende Punkt liegt darin, daß die Beiträge unter der Rubrik "Voyages" aus beiden Tabellen bis auf wenige Ausnahmen fiktionale Teilinhalte aufweisen. Gelegentlich sind mehrere Artikel zu Serien sogenannter "Scènes" zusammengefaßt, aber auch eine große Zahl von Einzeltexten orientiert sich am Kompositionsprinzip von Genreszenen und anekdotischen Sittenschilderungen, die einen fiktionalen Handlungsentwurf mit dem Anspruch auf sachliche Richtigkeit verknüpfen. Offensichtlich wirft die Präsenz fiktionaler Anteile im Bewußt-

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sein der Epoche keine entscheidenden Probleme bei der Gattungskonstituierung von Reisebeschreibungen auf, wie schon im Zusammenhang mit Jules Vernes Reiseroman vermutet worden war. Wenn aber der Fiktionsvorbehalt, d. h. die offensichtlich literarische Manipulation, kein Hindernis für die Anerkennung der Aussagen darstellt, dann fallen die zunächst unterstellten vier Grundkategorien der Reisebeschreibung in sich zusammen und müssen revidiert werden: Fiktionale Anteile erfüllen keine pragmatischen, sondern ästhetische Funktionen, und deren Wahrheitsannahme beruht auf immanenter Stimmigkeit bzw. auf kultureller und diskursiver Kongruenz, anstatt auf Bestätigungen durch Anschauung. Die Erfahrung der Fremde mag produktionsästhetisch die entscheidende Motivation für die Reisebeschreibung liefern, aber sie wird auf der Rezeptionsseite ersetzt durch die diskursive Formation, in die sie sich durch die Wahl der literarischen Beschreibungsmittel bettet. Die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Reisebeschreibungen als autonome Texte wird zwingend notwendig, um sowohl den Vorgang der Anpassung an bestehende Modelle als auch die Beschaffenheit des hergestellten Bildes adäquat beschreiben zu können.

Mexiko als Paradigma der Literarisierung pragmatischer Texte Es ist im hiesigen Rahmen weder möglich noch sinnvoll, die Gesamtheit der Berichte der Revue des Deux Mondes über Lateinamerika anzusprechen. Exemplarisch sollen stattdessen anhand der Darstellung Mexikos die Grundlagen der Imago-Konfiguration über die Beiträge der Revue aufgezeigt und zugleich die Frage geklärt werden, in welcher Weise die als Reisebeschreibungen deklarierten Aufsätze sich in das Gesamtspektrum der Mexiko-Darstellungen der Zeitschrift einfügen. Die Untersuchung soll darüber hinaus Auskunft darüber geben, welche spezifische Aufgabe die Beschreibungen im (allerdings pragmatischen) Zielkonvolut der Zeitschrift zu erfüllen haben. Würde eine solche Zweckbindung nicht unterstellt werden, schiene die Aufnahme teilfiktionaler Beschreibungen als sinnlos, jedenfalls gemessen am pragmatischen Gattungsanspruch, denn ein wesentliches Merkmal dieser Texte ist gerade, daß sie in faktischer Hinsicht keine über den Inhalt der sachspezifischen Berichte hinausgehende Information einbringen. Demnach kann sich ihre Funktion nicht allein aus dem Inhalt, sondern muß sich zu gleichen Teilen mit diesem auch aus externen Erwägungen ergeben. Die Wahl Mexikos bietet sich an wegen der politischen Interessen Frankreichs in den 60er Jahren, wegen der vergleichsweise hohen Zahl an Beiträgen und der differenzierten Systematisierung, die die Inhalte und Ausrichtung der

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genuinen "récits de voyages" gegenüber anderen Schwerpunkten deutlicher zu isolieren vermag. Die Sparte "Histoire" umfaßt Beiträge über die neuspanische Geschichte vor der Unabhängigkeit; die politischen Untersuchungen konzentrieren sich, angelehnt an die Ereignisse im Krieg um Texas und während der französischen Intervention, auf die Zeit von 1845 bis 1847 sowie 1862 und 1866. Während die frühen Aufsätze die innenpolitischen Zustände Mexikos darstellen,23 verschiebt sich im Laufe der Jahre der Blick auf die Verwicklungen der europäischen Interessen in Mittelamerika. 24 Von Anfang an spielen strategische und militärische Überlegungen eine wichtige Rolle in den Darstellungen, und fast immer wird die Möglichkeit einer europäischen Intervention - durch die chaotischen inneren Zustände begründet - erörtert. Frappierend sind die Kontinuität der Argumentation und der frühe Zeitpunkt, von dem an die Interventionsfrage diskutiert wird. Bereits 1832, kurz nachdem in Frankreich selbst eine Staatskrise durch Aufstände ausgelöst und mühsam überwunden worden ist, heißt es: "Cette marche incertaine de l'autorité, ces lois au nom desquelles on combat et qu'en même temps on foule aux pieds, doivent présenter d'étranges anomalies pour les hommes élevés sous un gouvernement depuis long-temps reconnu et respecté; mais le Mexique est encore plongé dans un chaos politique que le temps seul peut débrouiller." 25 1847 ist aus dieser noch zweckfreien Feststellung ein Baustein der politischen Situation geworden. Im August dieses Jahres entwickelt Gabriel Ferry in einem Artikel über den Krieg zwischen Mexiko und den U S A die Hintergründe der mexikanischen Instabilität und die politischen Interessen Europas an einem starken, diesen Interessen dienenden und als Gegengewicht zu den U S A wirkenden mittelamerikanischen Staat. 26 Nur wenige Monate später wird aus denselben Gründen die Annexion Nordmexikos durch die U S A als unausweichlich betrachtet,27 und 1853 berichtet Jean-Jacques Ampère gar von einem mexikanischerseits geäußerten Wunsch nach Intervention: "J'ai lieu d'être certain qu'un personnage très haut placé a exprimé

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Anon.: "Revolution au Mexique en 1832", R D M 1832, S. 601-634. M . Cretté: " L e s Républiques mexicaines", R D M 1836. M . Lefèbvre de Bécour: "La question du Mexique et le cabinet de M . M o l é " , R D M 1839. F. Clavé: "Relations du Mexique avec les Etats-Unis, la France et l'Angleterre", R D M 1845. Gabriel Ferry: "La Guerre des Etats-Unis et du Mexique", R D M 1847, S. 385-431. Xavier Raymond: "La rivalité des puissances au M e x i q u e " , R D M 1853. Michel Chevalier: "L'expédition européenne au Mexique", R D M 1862. Charles de Mazade: "L'Expédition du Mexique", R D M 1862 und 1863. "Révolution du Mexique en 1832", S. 619. Gabriel Ferry: "La Guerre des Etats-Unis et du Mexique", R D M 1.8.1847, S. 385431, bes. S. 385f. "Chronique de la quinzaine", R D M 1.11.1847, S. 956-964.

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dans la conversation le désir que la France ou l'Angleterre voulût bien s'emparer du Mexique, afin que son pays échappe aux Etats-Unis." 28 Trotz des Pathos, mit dem dieser Gedanke in das heraufbeschworene Bild eines untergehenden Gemeinwesens eingefügt wird, bleibt die Tendenz, Mexiko als Spielstein auf dem Schachbrett konkurrierender weltpolitischer Interessen zu betrachten, unverkennbar. Folgerichtig führen die Beiträge aus den Jahren zwischen 1857 und 1867 diese Haltung fort. Die Einzelberichte über die Intervention und das Kaiserreich betreffen Teilaspekte der Entwicklung, die im zwischen 1857 und 1867 erschienenen Annuaire des Deux Mondes zu zusammenhängenden Darstellungen der jährlichen Ereignisse verarbeitet worden sind. Aus ihnen ist der Standpunkt der Revue und dessen Wandel im Laufe der Intervention deutlich zu erkennen. Der Tenor der Darstellung korreliert eng mit der Haltung der französischen Regierung in dieser Frage, obwohl es sich um einen Plan der von der Zeitschrift vermeintlich beargwöhnten kaiserlichen Politik handelte. Während der gemeinsamen Intervention mit England und Spanien stehen die Durchsetzung internationaler Verpflichtungen und die Einhaltung bestehender Verträge im Vordergrund, wobei die französische Rolle besonders gegenüber dem Verhalten der englischen und spanischen Kommandierenden erläutert und verteidigt wird. Obwohl das Mißtrauen gegenüber Benito Juárez in den zehn Jahren des Annuaire nicht abnimmt, distanziert sich die Zeitschrift schon 1864 sichtbar vom Anspruch Maximilians, Mexiko zu einigen und zu befrieden, unter Aufzählung der Schwierigkeiten aller Art, die dabei auftreten können: "Pacifier, réorganiser un pays en dissolution, c'est en effet l'oeuvre à réaliser; mais c'est là justement l'oeuvre difficile, et la plus grande difficulté n'est pas même d'un ordre purement matériel: on pourra avoir raison des bandes qui tiennent encore la campagne, on pourra s'emparer des villes, ce n'est là qu'un simple fait, qu'une occupation par les armes. Au fond une vraie pacification tient évidemment à la solution [...] de la régénération intérieure du Mexique. [...] Malheureusement l'erreur est de croire que la paix du Méxique dépend d'un établissement monarchique." 29 Die als Reiseberichte bezeichneten Beiträge werden nur teilweise zu der Zeit veröffentlicht, als das aktuelle Interesse an Mexiko in der politischen Berichterstattung sichtbar wird. In der Zeit zwischen 1846 und 1852 erscheinen mindestens drei größere Artikelserien von Gabriel Ferry (18091852) unter den Titeln "Scènes de la vie des bois" (Oktober-November 1846), "Scènes de la vie mexicaine" (April 1847-September 1849) und 28 29

Jean-Jacques Ampère: "Promenade en Amérique", RDM 15.9.1853, S. 1049-1075, Zit. S. 1075. Annuaire des Deux Mondes 1862-63 (ersch. 1864), S. 834.

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"Scènes de la vie militaire au Mexique" (Oktober 1850-August 1851). Ihnen folgt Jean Jacques Ampères Voyage au Mexique in drei Lieferungen im Jahre 1853. Danach allerdings gibt es nur den Bericht eines Kriegsgefangenen aus dem Jahre 1863 und eine neuerliche Serie "Scènes de moeurs mexicaines" von Lucien Biart 1872 und 1873. 30 Während Ampères Voyage au Mexique aus drei aufeinanderfolgenden, zusammenhängenden Lieferungen besteht, sind die einzelnen "Scènes" Ferrys (und Biarts) eigenständige, lose aneinandergereihte Texte, die nach heutigem Verständnis nicht als Reisebericht im eigentlichen Sinne zu bezeichnen sind, sondern als Genreszenen, ähnlich jenen des spanischen Costumbrismo oder den Erzählungen Prosper Mérimées. Der konkrete Erwartungshorizont, der mit der Bezeichnung "Reisebericht" zusammenhängt, wird aus der direkten Gegenüberstellung zweier Texte deutlich, die etwa zur gleichen Zeit erschienen sind und dasselbe Thema behandeln. Gabriel Ferry veröffentlicht in der Lieferung vom 1.April 1846 den Beitrag "Les Gambusinos" als Teil der Scènes de la vie des bois en Amérique,31 Als Teil der Scènes de la vie mexicaine publiziert er dann, am 1.Januar 1848, "Les Mineurs de Rayas". 32 Zwischen diesen beiden als "récits de voyages" bezeichneten Beiträgen erscheint am 15.Dezember 1846 und am 1.April 1847 Michel Chevaliers hundertseitige Studie "Des Mines d'argent et d'or du Nouveau Monde". 3 3 Dieser Beitrag gilt ausdrücklich nicht als Reisebericht. Es handelt sich um eine wirtschaftliche Studie auf der Grundlage von mitveröffentlichtem statistischem Material, in deren Verlauf der Verfasser die Fundgebiete, die Größe der Vorkommen, die Gewinnungsmethoden, die Qualität der Edelmetalle, die Schwierigkeiten des Transports, der weiteren Verarbeitung und Vermarktung bespricht. Er stellt die amerikanische Produktion in den Kontext des Weltmarktes, was ihn zu Vergleichen etwa mit der russischen Förderung veranlaßt, fragt nach dem volkswirtschaftlichen Nutzen für die jeweiligen Länder und vergißt auch nicht, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Minenarbeiter und Goldwäscher zu schildern. Nach pragmatischen Gesichtspunkten erfüllt dieser Text in hohem Maße die Informationsaufgabe, die Reisebeschreibungen zugeschrieben wird. In merkwürdigem Gegensatz dazu steht Ferrys "Les Gambusinos", das das Leben der Goldwäscher in den nordmexikanischen Bergen als Hintergrund 30 31 32 33

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Von Lucien Biart sind in den 80er Jahren weitere Artikelserien über Mexiko erschienen. Revue des Deux Mondes, 15.8.1846, S. 648-680. S. 688-714. Michel Chevalier: "Des Mines d'argent et d'or du Nouveau Monde", 1. Teil: RDM 15.12.1846, S. 980-1035; 2. Teil: RDM 1.4.1847, S. 1-51.

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hat. Die Beschränkung auf ein einziges geographisches Gebiet und auf eine einzige Art der Edelmetallgewinnung schließt übergreifende Erörterungen nach dem Beispiel Chevaliers aus. Die im Titel angezeigte Zentrierung auf die Goldwäscher rückt deren Lebensweise in den Mittelpunkt der Lesererwartung. Tatsächlich bildet dieses Leben aber lediglich den dekorativen Hintergrund für eine lose geknüpfte Geschichte über die Verführungskraft des Goldes und über die unheilbringende Rache eines ehemaligen Goldwäschers auf der Suche nach den Mördern seines Sohnes. Zwar vermittelt Ferry einige Informationen über die mühevolle Suche nach "placeres", über die primitive Lebensweise und über die latente Gewalt unter den Goldsuchern, aber der Grundtenor ist letztlich der einer zvilisatorischen und moralischen Selbstbestätigung aus europäischer Perspektive für den europäischen Leser, die die fremde Wirklichkeit mit derselben Geste von sich entfernt, mit der sie sie durch die Beschreibung nahezubringen vorgibt. Der Reisebericht schließt damit seinen pragmatischen Nutzen selbst aus und beschränkt sich auf die Schaffung einer in sich geschlossenen, pittoresken Welt. Nichtsdestoweniger werden Ferrys Texte zum Zeitpunkt ihres Erscheinens als verläßliche Informationsquellen dargestellt: "J'ai peu de chose à dire des moeurs méxicaines. Il faudrait vivre plus longtemps dans ce pays pour avoir une opinion fondée à cet égard. [...] Les scènes de l'intérieur, l'existence aventureuse qu'on mène dans les portions à peine civilisées du pays, ont été dans cette Revue l'objet d'une série de tableaux et de récits attachons [sic] qu'on m'assure ici ne pas manquer de fidélité. Mit diesen Worten verweist Ampère 1853 auf Ferrys Beiträge als wahrhaftige Schilderungen der ihm nicht zugänglichen Teile des mexikanischen Landes, legitimiert durch die Bestätigung der Bewohner Mexikos selbst. Der Validationsmechanismus soll die Fiktionalität der Berichte dahingehend relativieren, daß sie den sachlichen Anteil der Aussage nicht wesentlich beeinträchtigt. Gegenüber dem Szenencharakter von Ferrys Texten hebt sich Ampères Bericht nur scheinbar durch Sachlichkeit ab, denn auch er hält sich an bewährte literarische Muster der Reisebeschreibung. Das ist vor allem auffällig zu Beginn der Beschreibung: "La représentation de la comédie révolutionnaire ou contre-révolutionnaire qu'on nous avait annoncée est retardée, peut-être de quelques semaines seulement. Il y a relâche; mais ce serait avoir du malheur que de passer un mois au Mexique sans y voir une révolution!" 35 Die politischen Unruhen verkommen in seiner Sichtweise zu einer 34 35

Jean-Jacques Ampère: "Promenade en Amérique", RDM, 15.Sept. 1853, S. 1071. Herv. d. Verf. Ebda., S. 1052.

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touristischen Attraktion, womit das betont zweckfreie Interesse des Reisenden herausgestellt werden soll. Nur einen Absatz später gibt Ampère den entscheidenden Hinweis darauf, nach wessen Muster seine Reise konzipiert ist: "Quant aux brigands, depuis qu'ils sont devenus rares en Italie et en Espagne, c'est ici que les touristes doivent venir les chercher." 3 6 Die indirekte Anknüpfung an Beschreibungen Italiens und vor allem Spaniens verweist auf Théophile Gautiers Voyage en Espagne (1843), in dem dieses zweckfreie, ironisch gebrochene Interesse am gewählten Reiseziel programmatisch inszeniert wird. Ampères Beschreibung gehört zu den zwar zweckfreien, d.h. nicht an einem bestimmten Nutzwert orientierten Reiseberichten, sie ist aber trotz literarischer Anlehnungen nicht durch Handlungsentwürfe fiktionalisiert. Damit steht sie dem Typus der pragmatischen Sachbeschreibung noch näher als Gabriel Ferrys Serien mexikanischer Szenen, die bereits eindeutig ins Fiktionale übergehen. Der Autor, Sohn eines in Mexiko ansässigen Kaufmanns, ist nach der Schule in Frankreich sieben Jahre lang Partner seines Vaters gewesen. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich hat er eben jene Texte geschrieben, die zu seinen Lebzeiten in der Revue des Deux Mondes als Reiseberichte, in den postum erschienenen Buchveröffentlichungen als Romane publiziert wurden. 37 Die Möglichkeit, diese Szenen bei Bedarf jeweils als Reisebeschreibung oder als Roman bezeichnen zu können, sagt genug über deren Fiktionsanteil aus. Entscheidend im hiesigen Zusammenhang ist, daß sie auf der pragmatischen Ebene der literarischen Kommunikation in der Revue als Reisebeschreibungen ausgegeben und wohl als solche aufgenommen worden sind. Die einzelnen Lieferungen der verschiedenen Serien sind in sich abgeschlossen und unabhängig, jedoch nach einem ähnlichen Schema aufgebaut. Deren innerer Zusammenhang entsteht durch die Anwesenheit des Erzählers als derjenige, der die geschilderten Begebenheiten erlebt, sowie durch sein Itinerar. Die Ereignisse und Anekdoten fügen sich nur teilweise zu einer einheitlichen Handlung oder einem Handlungsstrang, so daß die "Geschichten" unterschiedlich stark strukturiert sind. Diese Struktur kann in den Einzelheiten am Beispiel von Le Salteador aus der Reihe Scènes du désert et de la vie mexicaine aufgezeigt werden. 38 Der Erzähler streift im Bundesstaat Sonora - im äußersten Nordwesten Mexikos 36 37

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Ebda., S. 1053. Die Romantitel entsprechen mit wenigen Abwandlungen den Serientiteln aus der RDM: Le coureur des bois (1853); Scènes de la vie mexicaine (1854); Scènes de la vie militaire et de la vie sauvage au Mexique (1856-57); les révolutions du Mexique, mit Vorwort von George Sand (1864). Vgl. La Grande Encyclopédie. Paris o.J., Bd. 17, S. 332. Revue des Deux Mondes, 1.1.1847, S. 5-38.

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- allein mit Ziel auf das "presidio de Tubac" umher. Unterwegs trifft er zwei Bisonjäger, denen er sich anschließt, sowie einen mysteriösen Mann, auf den zunächst die Aufmerksamkeit gelenkt wird: "[ses] traits durs, fortement accentués, révélaient une force morale supérieure peut-être à sa force physique." 3 9 Das physiognomisch geweckte Interesse an der rätselhaften, offensichtlich außergewöhnlichen Gestalt, wird durch einen spannungssteigernden Vorgriff auf den weiteren Verlauf beim Abschied vom Erzähler noch erhöht. Bevor die Spannung um den mysteriösen Unbekannten aufgelöst wird, müssen der Erzähler und die Jäger den Angriff eines Grizzlybären abwehren, eine Bisonjagd bestehen und durch geschicktes Spurenlesen den Tod eines beraubten Mannes klären. Erst im zweiten Teil trifft der Erzähler den mysteriösen Mann wieder, als er in San Juan de los Lagos (im Staate Oaxaca) mit einem anderen Franzosen, einem fahrenden Händler, weilt und dieser verhaftet wird. Der mysteriöse Mann aus dem ersten Teil des Textes, ein kühner "salteador" (daher der Titel der Geschichte), hilft, in Erinnerung an das erste Treffen mit dem Erzähler, dem fahrenden Händler aus dem Gefängnis - gegen Geld - und bestraft denjenigen, der ihn denunziert und auch schon den unbekannten Mann ermordet und ausgeraubt hatte. Die Geschichte endet mit der Rückkehr des Erzählers nach Mexiko-Stadt, wo er alle anderen aus dem Blick verliert.Durch den Abschluß ergibt sich eine wichtige Akzentverschiebung gegenüber einer strikt narrativen, auf die Auflösung eines Spannungsbogens ausgerichteten Struktur. Wegen des langen Ausklangs des Berichtes, bei dem der Erzähler nicht - oder nur beiläufig - auf die Ereignisse um den Räuberhauptmann zurückkommt, erscheinen diese nicht als Kernhandlung, sondern als Episoden, und deren Abschluß nicht als Höhepunkt der Spannung, sondern als Teilabschluß in einem anderen Sinnzusammenhang. Diesen erläutert der Erzähler mit aller Deutlichkeit: "L'alcade m'avait montré la justice impuissante et corrompue, le salteador, le brigandage érigé en dictature, imposant des lois et se faisant presque magnanime: ce contraste m'en disait plus que de longues recherches sur la décadence morale de la société mexicaine." 40 Wie es in vielen Reisebeschreibungen üblich ist, greift Ferry auf charakterologische Erklärungen für die Zustände im Lande zurück; erzählstrategisch schlägt er aber den Weg ein, den unterstellten Nationalcharakter nicht abstrakt zu erläutern, sondern im Handeln der Personen wirken zu lassen. Damit erreicht er zweierlei: Erstens veranschaulicht er diesen Nationalcharakter am Verhalten selbst, und zweitens stellt er ihn durch das beschriebene 39 40

Ebda., S. 9. Ebda., S. 35.

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Verhalten unter Beweis. Damit vollführt er denselben Zirkelschluß, in dem eine sich wissenschaftlich gebende fiktionale Literatur (wie jene Balzacs oder, später, Zolas) verfängt, erzeugt aber eine - nach seinen eigenen Prämissen - systembezogene Scheinwahrheit, die sich in die weiteren Darstellungsansätze der fremden Wirklichkeit einfügt. Die fiktionalen Versatzstücke sind im Umfang nicht so dominierend, daß sie die deskriptiven Teile völlig in den Hintergrund drängen. Im Beispiel des Salteador umfaßt die Erzählerbeschreibung fast den ganzen ersten Teil des Textes um die Bisonjagd und später längere Passagen über den Weg vom "presidio de Tubac" nach Guadalajara sowie über den Markt in San Juan de Lagos. Die Vorbereitungen und die Durchführung der Jagd werden auf vier Seiten minutiös beschrieben, begonnen mit der Aufgabenteilung zwischen den zwei Jägern, der Art von Sattel und Zaumzeug für das Pferd, bis zur Versprengung der Bisonherde und dem Anlocken einzelner Tiere. Was unter narrativen Gesichtspunkten als strukturelle Schwäche erscheint, nämlich die fehlende Verbindung dieses Teils des Berichts zur Geschichte um den Räuber im zweiten Abschnitt sowie die mangelnde Kausalität zwischen den einzelnen Phasen der Handlung, erweist sich im Rahmen der Erzählstrategie eines Reiseberichts als Kunstgriff, um die landeskundliche, vermeintlich sachliche Beschreibung so stark zu akzentuieren, daß der Charakter des Textes nicht vollends ins Narrative und damit aus der Gattung der Reiseliteratur gleitet. Die Erzählerbeschreibung und die fiktionalisierten Episoden erfüllen zwei sich ergänzende Aufgaben innerhalb der Reisebeschreibung. Die erste deckt den sachkundlichen Bereich ab, indem sie geographische und andere Informationen aufnimmt, die dem Anspruch nach auf die Erfahrung und Anschauung des Erzählers zurückgehen. Der Referent dieser Rede ist im Selbstverständnis der Gattung die Wirklichkeit in der Fremde. Die fiktionalisierten Episoden inszenieren hingegen individuelle und gesellschaftliche Charakteristika, die sich nicht im gleichen Maße wie die Sachinformation faktisch-materiell zusammentragen und vor allem nicht ohne weiteres nachprüfen lassen. Dabei bietet die Erzählerbeschreibung die referentielle Verankerung für die fiktionale Handlung, so daß deren Scheinwahrheit über den Umweg der Erzählerbeschreibung auf die Wirklichkeit projiziert wird. Man muß nicht eigens betonen, daß auch die Erzählerbeschreibung einer Gestaltung unterliegt, die ebenso wie das Ausmaß an Fiktionalisierung sich an den literarischen Mustern orientiert, die den Texten insgesamt zugrundeliegt. Das gilt sowohl in topischer als auch in stilistischer Hinsicht. Wie alle Szenen beginnt der Salteador mit einer panoramischen Beschreibung der Landschaft, in der sich die Handlung zunächst abspielen wird: "Sur les larges feuilles des plantes aquatiques, des serpens d'eau faisaient reluire au soleil leurs corps visqueux, entrelacés en hideux réseaux. [...] 370

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Des longues caravanes de bisons traversaient la plaine silencieuse. D'autres, disséminés par groupes ou par couples, paissaient l'herbe épaisse [...] un parti de chasseurs, d'une tribu d'indiens amis, descendait en ce moment le cours du San-Pedro sur des radeaux formés de larges bottes de roseaux soutenues par des calebasses vides. Une recua de mules chargées de lingots d'argent et escortées de leurs guides se dessinait à l'horizon. Je restai long-temps ravi devant ce spectacle solennel, prêtant l'oreille à l'harmonie mélancolique de la clochette des mules et aux cadences indiennes qui troublaient, en mourant lentement, le silence des solitudes." 41 Die Bestandteile der Beschreibung ergeben eine Landschaft, die aus heutiger Sicht eher dem nordamerikanischen Westen zugeordnet werden, mit denen insbesondere der Charakter der unberührten, unbekannten Wildnis im Norden Sonoras signalisiert werden soll. Ferrys ausdrücklich genannter, literarischer Bezug für diese Szene ist James Fenimore Cooper (1789-1851), 42 dessen Lederstrumpf- Romane das Leben Einzelner in der Wildnis als Jäger und Fallensteller beschreiben. Ein Gegenstand von Ferrys Beschreibung die Bisonjagd - entspricht Cooperschen Topoi und verleitet dazu, diese als charakteristisch mexikanisch bezeichnete Szene der Vorstellung anzupassen, die Cooper vom amerikanischen Norden entfaltet. Da diese aber geographisch und kulturell eigentlich einem anderen Bereich als dem mexikanischen angehört, führt deren Heranziehung für eine Beschreibung Mexikos zu einer literarischen Hybridisierung, die der impliziten Behauptung einer wahrheitsgetreuen und deutlich individualisierenden Beschreibung zuwiderläuft. Stattdessen ordnet diese sich in ein System literarischer Formen ein, die gegenseitig aufeinander bezugnehmen. Es handelt sich dabei um keinen Einzelfall: Ampère orientiert sich in der bereits genannten Mexikoreise bei der Beschreibung der Landschaft und des Himmels an Bernardin de SaintPierres Tropendarstellung. 43 Unauffälliger, aber nicht weniger einflußreich, ist die stilistische Gestaltung der Beschreibungen. Um diese zu verdeutlichen, genügt ein Blick auf eine Szene, von der die Revue zwei verschiedene Versionen bietet. J.J. Ampère berichtet von dem Brauch, Früchte und Waren auf den Kanälen in und um Mexiko auf flachen Barken zu den Märkten zu bringen: "On voit, certains jours de la semaine, les fleurs et les fruits qui doivent se vendre au marché arriver de grand matin sur des bateaux plats, 41 42 43

Le Salteador, S. 6. Coopers Romane erschienen zwischen 1826 und 1850. Aus dem Lederstrumpf-Zyklus stammt The Prairie (1827). Ampère (Anm. 34), S. 1064.

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recouverts de nattes, et conduits par des Indiens ou des Indiennes. Ce [...] n'est pas à un divertissement, conservé par hasard, des temps anciens qu'on assiste: on a devant les yeux un petit coin du tableau qui frappa les regards de Cortez et de ses compagnons." 44 Der historische Wert dieser Szene als "petit coin du tableau" aus der Zeit der Entdeckung und Eroberung wird hervorgehoben, aber nicht verabsolutiert. Damit ist das Ereignis an sich nichts anderes als eine interessante Tradition, die als Kuriosum Erwähnung verdient. Daraus macht Ferry folgendes: "Des lanches, des canots, des pirogues s'entrecroisaient partout, les unes portant à Mexico, pour la semaine sainte, des montagnes des fleurs qui laissaient en passant des traînées odorantes, les autres suivant ces cargaisons embaumées. Sur ces dernières, des joyeux navigateurs, couronnés de coquelicots et de pois de senteur, exécutaient en voguant les danses nationales au son des harpes, des flûtes et des mandolines. [...] Plus loin, sous les vertes arcades des trembles, sur la chaussée ébranlée par le fracas des voitures et le galop des chevaux, le monde élégant de Mexico avait transporté le décorum des salons. [...] En un mot, sur le canal, c'était l'Amérique du XVIe siècle enivrée de son beau soleil; sur la chaussée, c'était l'Amérique du XIXe siècle cherchant à modeler sa physionomie native sur le type éffacé de l'Europe." 45 Aus dem Fortbestehen einer Tradition unbestimmten Ursprungs macht er ein historisches Nebeneinander, dessen Vergangenheitsrest ästhetisch in einer Weise stilisiert wird, daß er gegenüber der Gegenwart aufgewertet wird. Damit greift Ferry eine oft zu beobachtende Haltung von Reiseschriftstellern auf, nach der die Angleichung des Lebensstils über Landes- und Kontinentgrenzen hinweg im Namen verlorener Ursprünglichkeit beklagt wird. Im Falle Mexikos enthält diese Haltung implizit noch eine aktuelle Stellungnahme, weil sie an die anderswo ausdrücklich geäußerte Kritik über die chaotischen politischen und gesellschaftlichen Zustände des Landes anschließt, und diesen Zuständen die Folie einer verklärten Vergangenheit entgegenstellt.

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Ebda., S. 1066. "Fray Serapio", S. 827.

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Ein vorläufiges Fazit Ziehen wir eine Zwischenbilanz. Ferrys Reisebeschreibungen stehen stellvertretend für eine größere Zahl von Berichten über Lateinamerika, die in der Revue des Deux Mondes zwar erst in den 1840er Jahren zu erscheinen beginnen, deren literarische Wurzeln aber bereits in den korsischen Novellen Mérimées (aus den Dreißigern) zu finden sind. Entsprechendes gilt für J.J. Ampère, der Gautiers Muster der Reisebeschreibung aufgreift. Gerade die Genreszenen bleiben über Jahrzehnte eine, an ihrer Anzahl gemessen, beliebte Textart innerhalb der Revue. Was Ferry in den 40er Jahren geschrieben hat, führt in den 70er und 80er Jahren Lucien Biart weiter. Durch die Betonung des Pittoresken und durch die Anlehnung beschreibender Passagen an literarisch geweckte, bereits existierende Vorstellungen wird eine exotisierend wirkende, klischeehafte Typik entfaltet, die zur Ablösung des realen Referenten führt. Allerdings: Wenn auch zahlenmäßig am stärksten vertreten, sind diese fiktionalisierten Genreszenen nicht die einzigen Berichte über Lateinamerika. Daneben stehen sachliche Texte, die im Verständnis der Revue zwar nicht als Reisebeschreibungen zu betrachten sind, aber dennoch Fakten bekanntmachen, die in den literarisierten Szenen vergeblich gesucht werden. 46 Bezogen auf das anfangs erläuterte Selbstverständnis der Revue des Deux Mondes, durch Informationen Entscheidungsgrundlagen für wirtschaftliche und politische Maßnahmen zu liefern, erscheinen die sachlichen Berichte als ungleich nützlicher als die sonst publizierten fiktionalisierten Reisebilder. Wann immer auf den Seiten der Zeitschrift explizit zu politischem Handeln aufgefordert wird, geschieht dies im Rahmen derartiger sachlicher Beiträge. Das wirft zwangsläufig die Frage nach der eigentlichen Funktion der fiktionalisierten Reisebilder auf. Ganz gewiß haben sie einen spezifischen, marktorientierten Wert als Mittel zur Anbindung breiter Leserschichten an die Publikation, im Sinne einer Streuung der Inhalte und der Umgehung des Rufs als reines Fachblatt. 47 Andererseits werden diese Texte, durch die Bezeichnung als Reisebeschreibungen, als zugehörig zu einer trotz aller stilisierenden Eingriffe grundsätzlich nonfiktionalen Gattung angesehen, deren Wahrheitsanspruch durch zu starke Fiktionselemente beeinträchtigt wird und damit diese Texte dem Anspruch der Zeitschrift zuwiderlaufen und sie

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Daß es sich dabei um unterschiedliche Schreibweisen handelt, zeigt der Vergleich beliebiger Szenen Ferrys mit dessen eigenem Bericht "La guerre des Etats-Unis et du Mexique", RDM 1.8.1847, S. 385-431. Vgl. Leo Löwenthal: Literatur und Massenkultur (Schriften, Bd. I), Frankfurt am Main 1990, S. 139ff. zur Funktion des Exotischen in Massenblättern.

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Jochen Hey mann in die Nähe literarischer "Konfektionsware" stellen würde. 4 8 Die Frage nach der Funktion dieser Texte impliziert damit auch jene nach der funktionellen Verzahnung von Literarizität und Pragmatik in einer globalen Sinnintention. Die Antwort darauf ist in der bereits zitierten Einleitung zum Generalregister der Revue angedeutet: "Les choses du dehors ne la touchent [à la France] que dans les circonstances où elles ont un rapport direct avec les débats de la politique intérieure, et là encore l'opinion publique, plus prompte que réfléchie, risque souvent de mal juger les aspirations, les intérêts, les ressources des gouvernements et des peuples étrangers."49 "Les aspirations, les intérêts, les ressources": Das ist nicht nur sachlich-materiell zu verstehen, sondern umfaßt auch Überzeugungen, Verhaltensweisen, Sitten, Ideale, die sich weder auf eine scharf umrissene Begriffsbestimmung noch auf schlüssige Kausalitäten zurückführen lassen. Ungeachtet der eurozentrischen Überzeugungen der Redaktion und der einzelnen Beiträger, der Gewißheit über die Richtigkeit europäischer Ansichten und Lebensweisen, und ungeachtet der sich multiplizierenden Verzerrungen bei der Betrachtung und Beschreibung fremder Wirklichkeiten, offenbart dieses Bewußtsein über die Bedeutung des Immateriellen und Ungreifbaren eine gewisse Sensibilität für die Differenz des Fremden (auch wenn sie, wie gesehen, durch literarische Eingriffe sogleich entrückt und isoliert wird). Diese Differenz ist nicht sachlicher Art, nichtkausal, immateriell und sogar irrational. Sie kann empfunden, aber nicht erklärt werden, bildet jedoch einen essentiellen Bestandteil der Wirklichkeit, die durch die Beschreibung nahegebracht werden soll. Insofern entzieht sich diese Differenz, wie das Unaussprechliche Wittgensteins, 50 der diskursiven Logik, und wirft damit ein grundsätzliches Problem der Vermittlung im Rahmen pragmatischer Texte auf. Genau darin liegt die besondere Fähigkeit der Literarisierung und Fiktionalisierung, daß der so beschaffene Text imstande ist, eben dieses Unaussprechliche neu zu generieren und fühlbar zu machen. Die Funktion der stilisierten Reisebilder besteht demnach darin, diese Dimension des Fremden zu vermitteln, so daß sie für die im Horizont der Zeitschrift anvisierten

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Es handelt sich dabei nicht nur um ein Problem mangelnder Konsequenz in der Linie des Blattes, sondern vor allem um eine des öffentlichen Status der RDM als seriöses Organ, das sich gerade vom kulturell verdächtigen Massenschrifttum der Zeit absetzt und durch seine Beiträge "echte" Bildung statt ersatzweise befriedigenden "Schund" vermitteln wolte. S. zu diesem Aspekt Löwenthal (Anm. 47), S. 16, 23, 177-187. Revue des Deux Mondes. Table générale, S. IV. Hervorhebung des Verfassers. Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 6.522: "Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische." Zit. nach ders.: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt am Main 1990, S. 85.

Amerika für Jedermann politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsprozesse operativ eingesetzt werden kann.

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Das Brasilienbild in den künstlerischen Darstellungen des Prinzen Maximilian Wied zu Neuwied Einführung Seit ihrer Entdeckung hat die Neue Welt Amerika europäische Wissenschaftler und Künstler fasziniert. Diese Faszination ließ nicht nur Kompendien und Traktate entstehen, sondern auch Kunstwerke, die versuchten, diese neue und weit entfernte Realität wahrzunehmen und zu erfassen. Brasilien wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts für die nicht-portuguiesischen Europäer gerade zugänglich, und dadurch wurde es ein begehrtes Ziel für Wissenschaftler und Künstler, die auf der Suche nach jener Faszination waren. Eher ein Naturwissenschaftler als Künstler, entsprach Prinz Maximilian Wied zu Neuwied diesem Profil vollkommen. Während seiner Reise nach Brasilien zwischen 1815 und 1817 hat der Prinz neben den wissenschaftlichen Beobachtungen, die das Hauptziel der Expedition bildeten, über 200 aquarellierte Zeichnungen geschaffen, die Reiseereignisse, Indianer verschiedener Stämme, Pflanzen und Tiere darstellten; diese waren als Vorlagen für die Abbildungen eines Buches gedacht, das er 1820/21 veröffentlichte. Prinz Maximilian, der keine formale künstlerische Ausbildung besaß, betrachtete sich selbst als Dilettanten; deswegen ließ er seine Entwürfe durch ausgebildete graphische Künstler korrigieren, so daß die Zeichnungen, in Radierungen verwandelt, als Abbildungen für sein Buch Reise nach Brasilien geeignet waren. Das Buch erschien in zwei mit 19 Vignetten illustrierten Bänden, begleitet von einem großformatigen Atlas, der 22 Radierungen und zwei Karten enthielt. Wegen der technischen Begrenzungen jener Zeit waren die Zeichnungen des Prinzen im Original nicht reproduzierbar. Das heißt, sie mußten auf jeden Fall in Radierungen übersetzt werden. Dabei wurden die zeichnerischen Studien, entsprechend dem damaligen romantischen Zeitgeist in Deutschland, vielfach in idealisierende Darstellungen übertragen. Dies führte sowohl zu einem Verlust an Authentizität als auch an genauer Beobachtung, die sich in den Originalzeichnungen von Prinz Maximilian finden.

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Eliana de Sa Porto De Simone

Ziel dieses Aufsatzes ist es, den Übergang von den naiven , aber authentischen Bildern zu den romantischen und idealisierten Wahrnehmungen der Radierungen zu analysieren.

Leben und Werk von Prinz Maximilian Wied zu Neuwied (1782 - 1867) Prinz Maximilian Wied zu Neuwied wurde am 23. August 1782 geboren. Als achtes Kind der Neuwied-Familie hat Maximilian schon bald Interesse für die Naturwissenschaften entwickelt. Eine Liebe für die weit entfernten Länder kam zu seiner wissenschaftlichen inneren Berufung hinzu. Sehr früh hat er sich daher zur Erforschung der "Neuen Welt" entschlossen. Die durch die napoleonischen Invasionen unruhige Lage in Europa hat den Prinzen anfangs daran gehindert, seine Projekte zu verwirklichen. In dieser Zeit begann Maximilian seine autodidaktische Ausbildung; er sammelte Werke aus unterschiedlichen Bereichen der Naturwissenschaften und der Geschichte der Neuen Welt. Dennoch war die wichtigste Phase für seine Ausbildung diejenige, in der er in Göttingen bei Johann Friedrich Blumenbach, einem der Gründer der modernen Anthropologie, studierte. Laut dessen Lehre sollte eine Region vollständig erforscht werden, d.h. ihre Topographie, Flora, Fauna, die klimatischen Bedingungen bis hin zu ihrer Bevölkerung und deren sozialen Beziehungen. Eine ganze Generation von Wissenschaftlern und Forschern wurde durch Blumenbach beeinflußt, etwa Georg Heinrich von Langsdorff und Alexander von Humboldt. Prinz Maximilian hat zwei Forschungsexpeditionen unternommen; sein Œuvre besteht aus zahlreichen Berichten über seine Reisen. Von der ersten, die ihn zwischen 1815 und 1817 nach Brasilien führte, soll in diesem Aufsatz die Rede sein. Die zweite hat den Prinzen nach Nordamerika, sein ursprüngliches Ziel, geführt. Dennoch wurde Brasilien zu einem seiner wichtigsten Studienobjekte, mit dem sich der Prinz jahrelang beschäftigte. Über Brasilien hat Prinz Maximilian drei ausführliche Werke geschrieben, während Nordamerika Thema nur eines Buches war. Unter den vielen Aspekten, die die umfangreiche naturwissenschaftliche Ausbildung des Prinzen umfaßte, stand die Zoologie ohne Zweifel im Mittelpunkt. Eines der wichtigsten Ziele der brasilianischen Forschungsreise war die Sammlung und systematische Einordnung bestimmter Tiere. Seine Forschungsergebnisse hielt er in drei umfassenden Werken fest: Reise nach Brasilien in den Jahren 1815-1817; Beiträge zur Naturgeschichte Brasiliens und Abbildungen zur Naturgeschichte Brasiliens. Die große Mehrheit von

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Büchern über Zoologie in der privaten Bibliothek des Prinzen sowie seine umfassende naturkundliche Sammlung, die 1600 ornithologische und 500 ichtyologische Stücke, 400 Reptilien und 400 Säugetiere zählte, weisen auf die Rolle der Zoologie als Forschungsschwerpunkt hin. Darüber hinaus hat sich Maximilian auch intensiv mit Anthropologie und Ethnologie beschäftigt. Die Studie über die Botokuden, Teil seines brasilianischen Werkes, und die Anmerkungen über die nordamerikanischen Indianer waren bedeutsame Beiträge zur naturwissenschaftlichen Forschung seiner Zeit. Auch nach der Rückkehr von seinen Reisen durch den amerikanischen Kontinent stand Prinz Maximilian in keiner direkten Verbindung mit den Universitätszentren in Deutschland; dennoch war er immer über die neuesten Forschungsergebnisse informiert, da er wissenschaftlichen Gesellschaften und Akademien angehörte, und in diesen Kreisen von seinen Zeitgenossen respektiert und beachtet wurde. Im seinem Jahrbuch 1821 hat Goethe die Reise nach Brasilien in den Jahren 1815-1817 des Prinzen Maximilian gelobt und das Buch der Aufmerksamkeit seiner Leser empfohlen. 1

Die Zeichnungen des Prinzen Maximilian und die Abbildungen der Reise nach Brasilien in den Jahren 1815-1817 Zum künstlerischen Nachlaß des Prinzen Maximilian gehören 164 von ihm selbst gefertigte sowie 31 von dem Botaniker Friedrich Sellow und 34 von unbekannten Autoren geschaffene Zeichnungen. Eine Auswahl hieraus bildete die Grundlage für die Kupferstiche, die einen illustrierten Atlas gestalteten; dieser begleitete die zwei Bände der Reise nach Brasilien. Ein großer Teil dieser Abbildungen und viele der Vignetten im Text entstanden nach Originalzeichnungen des Prinzen. Seine künstlerischen Ausdrucksmittel waren Bleistift, Tusche und Aquarell. Von den 164 Zeichnungen stellen 34 die atlantische Überfahrt dar; andere zeigen Szenen in Rio de Janeiro (wo Maximilian sich vor der Reise aufhielt). Die meisten aber illustrieren die Reise selbst. In seinem Buch erläutert der Prinz: "Die Zeichnungen zu den Kupferplatten, welche den Bericht meiner Reise in Brasilien begleiten, sind meistentheils von mir an Ort und Stelle skizziert, und nachher vollkommener ausgeführt worden [...] Den Stich der Platten haben verschiedene Kupferste1

Johann Wolfgang von Goethe: Annalen (1821). Werke. Weimarer Sophienausgabe, Abt. I. Bd. 36, S. 199. Nach: Brasilien-Bibliothek der Robert Bosch GmbH. Nachlaß des Prinzen Maximilian zu Wied-Neuwied. Katalog, Band II. Teil 2: Briefwechsel und Zeichnungen zu den naturhistorischen Werken, S. 9.

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eher besorgt; aller angewandten Mühe ungeachtet, haben sich aber dennoch einige Unrichtigkeiten eingeschlichen." 2 Auf früheren Reisen durch Süddeutschland, Italien und die Schweiz hat Prinz Maximilian Landschaften und Trachtenstudien gezeichnet. Durch seine Geschwister Karl und Luise, die an der Kunstakademie in Dresden studierten, hat er dennoch zumindest mittelbar einen Gesamtüberblick über die Kunst seiner Zeit bekommen. Beide Geschwister haben viele von Maximilians Zeichnungen für die Veröffentlichung korrigiert. Während der Reise durch Brasilien hat Maximilian seine künstlerischen Fähigkeiten wesentlich verbessert. Noch an Bord waren seine Zeichnungen zum Teil steif und unbeholfen; später gelang es ihm, viel feinere Bilder darzustellen. Prinz Maximilian war ein Erzähler par excellence. Seine Bücher über Brasilien und Nordamerika hat er in Tagebuchform während der Forschungsreisen geschrieben. Die Aufzeichnungen in Maximilians Tagebuch, sorgfältig in Form von Karteinotizen geschrieben, finden sich unmittelbar im eigentlichen Text des Buches wieder. Ähnlich hat sich die künstlerische Methode des Prinzen entwickelt. Von der ersten Phase der Reise, also von der See-Überfahrt, zeigt insbesondere ein Bild Maximilians Interesse an pittoresken Erlebnissen; hier kommt eher der Abenteurer als der Wissenschaftler zum Vorschein. Es handelt sich um das Aquarell Äquatortaufe auf der Überfahrt nach Brasilien: Auf dem Oberdeck der Janus, dem Schiff, auf dem Maximilian nach Brasilien fuhr, feiert ein lustiges kostümiertes und maskiertes Gefolge mit Trommel und Horn den Besuch Neptuns. Das Bild ist detailreich ausgeführt: Der gekrönte Herrscher der Meere und ein ebenfalls gekrönter Begleiter werden von Untertanen auf einem Karren gezogen. Die Beschriftung erläutert die Szene weiter: "Neptun erscheint am 22ten Juny Morgends 8 Uhr am Bord des Janus, da wir früh Morgends die Linie passirt haben. 1815."3 Als das Schiff sich der brasilianischen Küste näherte, zeichnete Maximilian mehrere Ansichten der Gebirgsketten. So tief hat ihn das Panorama seines ersten Reiseziels, die Guanabara-Bucht, beeindruckt, daß er vier Zeichnungen davon anfertigte. Eine dieser Zeichnungen zeigt mit großer Genauigkeit die wichtigsten Orientierungspunkte der Bucht, deren Namen auf beiden

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Prinz Maximilian Wied zu Neuwied: Reise nach Brasilien in den Jahren 1815-1817. Frankfurt am Main 1820/21, S. 382. Beschriftungen auf Originalzeichnungen. Die Zeichnungen befinden sich in der Brasilien-Bibliothek der Robert Bosch GmbH, Stuttgart.

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Beschriftungen erwähnt sind: "Ansicht der beyden Inseln Round-Island und Flat-oder-Raza-Island u. des Zuckerhuth's (Shugar-Loaf) vor dem Eingang in den Bienensee von Janeiro, Morgends halb 6 Uhr den löten July 1815 in Nord-Nordost auf etwa eine Meile gezeichnet, als die Luft voll Dünste und die See während der Windstille bewegt war" (obere Zeichnung). "Ansicht des Gebirges welches sich bey unserer Einfahrt in die Bucht von Janeiro zur Linken an den Zuckerhuth anschliesst, worunter sich die Two Brothers u. der Parrot-Beak auszeichnen. Morgends früh am 17ten July 1815 vor Anker ungefähr 1 Meile von Fort Sta. Cruz aufgenomen" 4 (untere Zeichnung). In beiden Zeichnungen des Blattes wurden die Konturen mit Feder gesetzt; oben wurden sie dann mit Tusche und Aquarellfarbe laviert und unten mit der Feder detaillierter weiterbearbeitet. Nach einiger Zeit in Rio de Janeiro, in der Maximilian interessante Genreszenen, Kostüme und Volksstudien in seinen Zeichnungen festhielt, konnte die Expedition Anfang August 1815 starten. Die Reise führte die Gruppe bestehend aus drei Wissenschaftlern (Prinz Maximilian, dem Botaniker Friedrich Sellow und dem Ornithologen Georg Wilhelm Freyreiss), den zwei deutschen Dienern des Prinzen und zehn im Ort engagierten Brasilianern - in das Hinterland der Küste zwischen Rio de Janeiro und Salvador da Bahia. Von diesem Zeitpunkt an enstand der interessanteste Teil von Maximilians Kunstwerk: die Darstellung brasilianischer Landschaften, die Aufnahmen der tropischen Natur und der Indianer. Nicht nur Maximilians Darstellungsweise, sondern auch seine Bildideen haben sich im Lauf der Reise verbessert. Er entwickelte eine originelle Art der Bildkonzeption, die sich sehr vom europäischen Akademismus distanzierte. Die Tatsache, daß Maximilian keine formale künstlerische Ausbildung besaß, war schließlich von Vorteil für sein Œuvre. Ohne den "dressierten" Blickpunkt der akademischen Künstler zu haben, betrachtete er die Bildmotive unbefangener; daher wurden seine Zeichnungen und Aquarelle viel spontaner und naturgetreuer als die daraus hervorgegangenen Kupferstiche, die das Buch illustrieren. Die Verwandlung der originellen Zeichnungen des Prinzen in die entsprechenden Buchabbildungen läßt sich anhand eines Beispiels besonders gut demonstrieren: der Ansicht des rechten Ufers am Flusse Iritiba. Mit klaren Farben malte Maximilian diese aquarellierte Federzeichnung. Im Vordergrund ist eine einfache Ansiedlung mit rötlichen Dächern zu sehen; auf dem breiten Fluß ist nur ein kleines Paddelboot; auf dem gegenüberliegenden 4

Ebda.

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Ufer sind Weiden, Wälder und in der Ferne Berge dargestellt. Die zarte Linienführung und das feine Lavieren übermitteln eine heitere, aber zugleich harmonische Atmosphäre, die kaum dem europäischen Klischee der exotischen Tropen entspricht. Die Landschaft am Flusse Iritiba ist ein Aquarell in Brauntönen von unbekannten Autoren. Diese "korrigierte" Version war mit Sicherheit die Vorbereitung des Kupferstiches, der für das Buch gedacht war. Auf dieser Zeichnung wirkt die Szene wie gezähmt: Die Vegetation wurde "gestützt" und um einige menschliche Figuren ergänzt, vielleicht um eine typische Note hervorzubringen. Das Licht fällt von rechts nach links, einen gleichmäßigen, ordentlichen Gesamteindruck erzeugend. In anderen Worten, die Szene wurde dem europäischen Kunstgeschmack angepaßt, und damit ging ihre Authentizität verloren. Den Indianerdarstellungen schenkte Prinz Maximilian große Aufmerksamkeit. Ausrüstungen, Körperbemalung, Schmuck, Gerätschaften und Behausungen waren von großem Interesse für den Forscher, der eine völlig neue Welt entdeckte und festhalten wollte. Der erste Indianerstamm, dem Maximilian begegnete, war der der Puris; bald durfte er diese Indianer in ihren Ansiedlungen im Urwald besuchen. So entstand Puris in ihrer Hütte-, diese Zeichnung zeigt eine zwischen zwei Bäumen befestigte Hängematte; eine Querstange dient als Stütze für lange Palmblätter, die gegen Wind und Regen schützen. In der einfachen Hütte ist die Indianerfamilie: Der Mann liegt in der Hängematte, die Frau sitzt auf dem Boden mit einem Kind im Schoß; ein Affe wird im Feuer gebraten, ein Hund sieht dabei zu; zu sehen sind außerdem Gerätschaften wie Bogen und Pfeile, einige Schüsseln sowie Bananen. Die umgebende Vegetation ist detailliert, in unterschiedlichen Braun- und Grüntönen und mit Verzierungen bearbeitet. Die Szene wurde objektiv gemalt, ohne besondere Betonung der menschlichen Figuren oder ihrer Tätigkeiten. Zur graphischen Version entstand auch hierzu ein vorbereitendes Aquarell gemäß den akademischen Regeln. Der Akzent wurde durch die Beleuchtung auf die Indianerfamilie versetzt und die Vegetation wie eine dekorative Kulisse geordnet; dem Indianer wurde ein liebenswürdiger Gesichtsausdruck und der Indianerin eine zärtliche Haltung dem Kind gegenüber gegeben. Die Assoziation mit der von der Romantik verbreiteten Idee des beau sauvage war unvermeidlich und sehr wahrscheinlich gewünscht. Die Darstellung des Prinzen wurde gemäß den europäischen Vorstellungen des Indianerlebens in ein "tropisches Arkadien" verwandelt. Die Indianergruppe, mit der sich Maximilian am intensivsten beschäftigte, waren die Botokuden (oder Aimores). Seine umfassende Studie über diesen 382

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Stamm ist ein bedeutsamer Teil seines brasilianischen Reisewerkes und fand in deutschen wissenschaftlichen Kreisen große Beachtung. Er hat diese Indianer in vielen Zeichnungen einzeln, in kleinen Gruppen oder in Versammlungen portraitiert. Als erste wird hier eine Studie vorgestellt, die Attribute und Besonderheiten wie Haarschnitt, Körperbemalung, Schmuck und Waffen illustriert. Die zwei Indianer, einer frontal und der andere nach links gewendet, sind sachlich wiedergegeben, ohne Bezug zu einer Szene, die den Blick ablenken oder zu dekorativ wirken könnte. Der Indianer an der rechten Seite ist ein Häuptling, wie dem Text zu entnehmen ist. Er trägt an beiden Armen und Beinen Bänder aus roten Federn und ist im Gesicht mit roten Streifen bemalt. Der andere hat einen braunen Federschmuck auf dem Kopf; beide tragen einfache Halsketten aus Kernen und Tierzähnen und halten Pfeil und Bogen in der Hand. Auch die besonderen Eigentümlichkeiten der Botokuden sind in dieser Zeichnung deutlich zu erkennen: Die mit botoques (kleinen Holzscheiben) durchbohrten Ohren und Unterlippen können von vorne und im Profil betrachtet werden. Eine "korrigierte" aquarellierte Version gibt es auch in diesem Fall. Hier stehen die beiden Indianer am Ufer eines Flusses oder Sees; wie auf einer Bühne stehen sie im Vordergrund des Bildes, schlaglichtartig beleuchtet. Sie zeigen eine Imponierhaltung und haben einen eindrucksvollen Gesichtsausdruck. Auch ihr Körperbau wurde verändert: Sie sind jetzt zu muskulösen Kriegern geworden, die an griechische Statuen erinnern. Ihre Waffen halten sie auf theatralische Art und Weise. Die ursprüngliche Aufnahme des Prinzen, die dokumentarischen Wert besitzt, wurde in eine klassische Komposition umgewandelt. Auch wenn die Botokuden nicht den von europäischen Vorstellungen geprägten Schönheitsidealen des Prinzen enstprachen, hat er doch versucht und das meistens mit Erfolg -, sie ästhetisch und korrekt darzustellen. Trotz einiger unvermeidlicher Vorurteile hat Maximilian die Indianer in ihrer Gesamterscheinung als schön empfunden und auch so beschrieben, wie man dem folgenden Zitat aus seinem Reisewerk entnehmen kann; "Die Natur hat diesem Volke einen guten Körperbau gegeben: [...] Sie sind größtentheils mittlerer Statur, einzelne erreichen eine ansehende Größe, dabey sind sie stark, fast immer breit von Brust und Schultern, aber doch proportionirt [...] Ihre Haare sind schwarz wie Kohle [...] Ihre Zähne sind schön geformt und weiß". Gleichzeitig befremdeten ihn aber die botoques. "Sie durchstechen Ohren und Unterlippen und erweitem die Oeffnung durch cylindrisch, von einer leichten Holzart geschnittene Pflöcke, die immer größer genom-

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men werden, so daß ihr Gesicht dadurch ein höchst sonderbares widerliches Ansehen erhält". 5 Ein Kampf zwischen zwei verfeindeten Botokudengruppen war der Anlaß für eines der interessantesten Aquarelle Maximilians zu diesem Thema. Seine zeichnerischen Fähigkeiten erweisen sich hier als schon wesentlich besser. Offensichtlich entwarf er einzelne Skizzen während des Kampfes und bearbeitete sie zu einem späteren Zeitpunkt. Die Proportionen stimmen, die Perspektive und die Komposition wirken harmonisch. Dennoch ist die Szene auf die Handlung konzentriert. Vor einer kreisförmigen, mit Palmwedeln gestalteten Hütte steht eine Gruppe bewaffneter Indianer mit langen Stangen; die zwei Männer, die sich vome schlagen, sind June und Jerapack, Indianer von höherem Rang; um sie herum bereiten sich ihre Männer ebenfalls auf den Kampf vor. Wie sich Maximilians Bericht entnehmen läßt, hatten Junes Leute gewagt, in Jerapacks Revier zu jagen; nun sollte wegen dieser Beleidigung ein Kampf ausgetragen werden. Maximilian gibt alle wichtigen Details wieder: die für den Kampf bestimmte rot-schwarze Körperbemalung, den verärgerten Gesichtsausdruck, die aggressiven Gesten. Parallel dazu stellt er eine weitere Szene dar: Am rechten Bildrand reißen sich zwei Indianerinnen gegenseitig die Haare aus, in eine verbissene Schlägerei verstrickt. Im Hintergrund sind dicke, mit wenigen Linien skizzierte Baumstämme und einige genauer ausgeführte Pflanzen zu sehen. Auf einem weiteren Blatt illustrierte Maximilian ein Geschehen, das ihm Quäck, sein Botokuden-Diener, erzählte. Ein Botokude und sein Gefangener, Angehöriger des Stammes der Pataxös, überschreiten einen Fluß. Der siegreiche Indianer führt den Besiegten, der beide Hände auf den Rücken gefesselt hat, und mit düsterer Miene seines schrecklichen Schicksales harrt. (Gemäß Quäcks Bericht wurde er bald getötet und verspeist.) Hier können einige Einzelheiten der zwei unterschiedlichen Stämme verglichen werden, wie z.B. Hautfarbe, Haarschnitt und Gesichtszüge. Bei dieser Zeichnung zeigt sich bereits, daß Maximilian seine eigene Kunstsprache entwickelt hat: Der kühne Bildschnitt wirk fast modern, indem das Sujet ganz im Vordergrund, und damit nahe am Blickpunkt der Betrachter, steht. Die Vegetation im Hintergrund ist lediglich skizziert, mit schnellen Strichen hingeworfen. Er beherrscht die Aquarelltechnik, fein nuancierte Töne benutzend. Von größerem dokumentarischen Wert dagegen ist das Blatt Schreitende Indianer mit Kindern, Waffen und Gerätschaften. Es sind, wie Maximilian im Tagebuch erläutert, der Botokude June mit seinen beiden Frauen und

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Prinz Maximilian Wied zu Neuwied: Reise nach Brasilien in den Jahren 1815-1817, Frankfurt am Main 1820/21, S. 370.

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Kindern auf der Reise; hier ist zu erkennen, wie die Indianer ihre Sachen transportierten: Die auf den Rücken getragenen Säcke waren aus Bindfäden geknüpft und an Stirnbändern befestigt; der vorne laufende Mann trägt Bogen und Pfeile; die Frauen kümmern sich um die Kinder. Die Erwachsenen haben die kennzeichnenden Botokudenattribute, also die Holzscheibe in Ohren und Unterlippen, wobei der Mann wesentlich größere botoques trägt; die Frauen haben die Unterschenkel mit Schnüren umwickelt. Die letzten zwei beschriebenen Blätter wurden auf einer Umzeichnung von unbekannter Hand kombiniert. Das so entstandene Blatt heißt Eine Botokuden-Familie auf der Reise. Hier ist deutlich zu erkennen wie die Werke des Prinzen von Künstlern als Fundus benutzt wurden, um ein an den europäischen Kunstgeschmack angepaßtes Brasilienbild zu präsentieren. In dieser Version wurde aus der ersten Zeichnung der siegreiche Indianer mit einer Jagdbeute in der linken Hand übernommen. Auch hier weist er den muskulösen Körperbau einer klassischen Statue auf; der Gefangene wurde nicht dargestellt. Aus dem zweiten Blatt wurde nur eine der Indianerinnen entnommen (für den Europäer durfte es in einer Familie wahrscheinlich nur eine Frau geben), und zwar die mit den feineren Gesichtszügen; das Kind, das sie auf den Schultern trägt, blickt lächelnd zum Betrachter; zwei weitere Kinder mit liebenswürdigen Gesichtern führt sie an der Hand. Auch die Landschaft wurde geändert, indem der enge Bildschnitt Maximilians erweitert und die Vegetation dekorativ umgestaltet wurde. Gewiß haben die Umzeichner des Prinzen nicht mit Absicht seine Brasiliendarstellungen verfälscht, aber ihre am klassischen Ideal trainierten Hände und Augen konnten die primitiven Schilderungen Maximilians nicht akzeptieren. Daher entstanden die europäisierten Versionen der Botokudenbilder.

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Abb. 1 : Ein Botokude mit seinem Gefangenen

Quelle: Bosch-Brasilien-Sammlung, Stuttgart

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Das Brasilienbild

... des Prinzen Maximilian

Wied zu

Neuwied

Abb. 2: Schreitende Indianer mit Kindern, W a f f e n und Gerätschaften

Abb. 3 Botokuden-Familie auf der Reise (Umzeichnung)

Quelle f. Abb. 2, 3: Bosch-Brasilien-Sammlung, Stuttgart

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Den Darstellungen der tropischen Natur hat sich Prinz Maximilian besonders gewidmet; in diesen Werken kommt sein künstlerisches Anliegen am besten zum Ausdruck. Eine einzigartige Schilderung des Urwaldes ist das Zusammentreffen mit Bento Louren90 Vaz und seinen Leuten. Der Capitäo Bento Lourenfo, der im Quellgebiet des Rio Mucuri auf der Suche nach Edelsteinen war, leitete die Rodungsarbeiten für eine Straße, die die Küstenregion mit dem Hinterland verbinden sollte. Prinz Maximilian traf ihn unweit der Vila de Sào José do Porto Alegre (heute Mucuri), an der Küste der Provinz Bahia. Zwischen hohen, dicken, mit Schlingpflanzen bewachsenen Baumstämmen, niedrigeren dichten Büschen und umgestürzten schmaleren Bäumen versuchen die Arbeiter, den Tropendschungel zu bändigen. Seine Undurchdringlichkeit wird außerdem durch den dunklen Hintergrund betont. Maximilian benutzt fein nuancierte Grün- und Erdtöne. Auffallend ist der lange Bildraum, der durch die Diagonale der umgestürzten Bäume durchkreuzt wird; dadurch wirkt die Komposition wie eine Weitwinkelaufnahme, dynamisch und unkonventionell. Außergewöhnlich ist auch die Schilderung mehrerer paralleler Handlungsstränge auf einem einzigen Blatt. Dieses Aquarell wurde, wie üblich, in der Umzeichnung im klassischen Sinn geändert; der Bildausschnitt wurde reduziert und die Viefalt der Farben in eine eintönigere Darstellung umgewandelt. Außerdem wurden viele informierende Details weggelassen. Auf einem weiteren Bild stellt Maximilian den Urwald in einem völlig anderen Licht dar: Das Aquarell Schiffahrt auf dem Rio Doce zeigt den Wald in all seiner Vielfalt; verschiedene Palmenarten, Wasserpflanzen mit riesigen Blättern und roten Blüten, hochgewachsene Imbaubas, undurchdringliches Gebüsch, die mit hellen nuancierten Pastellfarben lavierte und gleichmaßig beleuchtete Ufervegetation. Die Bezeichnung der Pflanzengattungen wurde fein mit Bleistift und Feder eingefügt. Nicht ganz ungefährlich soll die Fahrt gewesen sein, da die Männer mit Stangen das Schiff gegen den Strom führen mußten. Dieses Erlebnis hat der Prinz als freie Interpretation festgehalten, wobei keine Betonung auf das Exotische gelegt, sondern die Schönheit der üppigen Natur insgesamt präsentiert wurde. Eine weitere Flußlandschaft gestaltete Maximilian einige Zeit später; es handelt sich um das Blatt Negern Kanu auf dem Fluß Alcobaga. Das Kanu und seine paddelnde Besatzung reduzierte er auf das Wesentliche; das dichte Gebüsch wurde mit schnellen Pinselstrichen lediglich angedeutet. Der Akzent liegt auf den großblättrigen Sumpfpflanzen und einem Webervogel, der neben seinen hängenden Nestern auf einem Baum sitzt. Auffallend ist die Balance zwischen den dargestellten Elementen, die gleichwertiges plastisches Gewicht haben.

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Das Brasilienbild ... des Prinzen Maximilian Wied zu Neuwied

Auf dem letzten Aquarell, das hier beschrieben werden soll, wird eine Jagdszene rekonstruiert, die auch im Tagebuch erwähnt ist. In einer freien künstlerischen Wiedergabe wird ein Schwärm Araras am Ufer eines Flusses dargestellt. Die schönen bunten Vögel sind überdimensioniert; drei von ihnen sitzen auf Imbaubabäumen, während ein vierter mit weit geöffneten Flügeln herumfliegt. Am rechten Rand des Bildraumes beobachtet ein mit Pfeil und Bogen bewaffneter Indianer die Szene und bereitet sich zum Schuß vor. Hier wird deutlich, wie sich Maximilians Darstellungsweise - mit klaren Umrissen, reinen Farben und auf das Wesentliche konzentrierten Kompositionen - den modernen Primitiven, etwa der Kunst eines Henri Rousseau, genannt "Le Douanier" , näherte. In Gegensatz zu seinen Zeitgenossen und ihm selbst wissen wir heute Maximilians künstlerische Qualitäten zu schätzen. Der Prinz, der sich nicht als Künstler betrachtete, engagierte Umzeichner und Kupferstecher, war aber nicht zufrieden mit dem Resultat. Offensichtlich haben ihn ihre von klassizistischen oder romantischen Idealen geprägten Fassungen enttäuscht. Mit dem Blick des Wissenschaftlers, weit von den Klischees und bildnerischen Konventionen seiner Zeit entfernt, versuchte Prinz Maximilian, durch seine Werke Naturbeobachtungen detailgetreu wiederzugeben. Das Ergebnis ist ein überzeugendes und ästhetisch wirkungsvolles Brasilienbild.

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ANDREA P A G N I

Ins Land der Vorfahren und zurück: Juan Bautista Alberdi in Europa Entdecken oder Erfinden? Die Frage nach dem Subjekt Die Vorstellung von der "Wiederentdeckung" Lateinamerikas zu Beginn des 19. Jahrhunderts verweist auf eine europäische "Logik der Ent-deckung", wonach "Amerika" bereits vor 1492 existierte, aber (in Europa) noch nicht bekannt war; es wurde von Europäern ent-deckt und re-präsentiert. Diese Re-präsentation aus europäischer Sicht erfuhr dann zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine zweite, revidierte und aktualisierte Ausgabe durch Alexander von Humboldt. 1 Edmundo O'Gorman 2 versuchte bereits 1958, die Vorstellung vom "descubrimiento" durch die Vorstellung von der "invención" Amerikas zu ersetzen, um darauf hinzuweisen, daß die Beschreibungen Amerikas Projektionen waren und nicht unbedingt eine außersprachliche Realität mehr oder weniger getreu nachzeichneten. Dadurch relativierte O'Gorman die Vorstellung von einem allumfassenden europäischen Subjekt, wie sie die damalige Historiographie noch geschlossen postulierte, und veränderte zum Teil die Perspektive, von der aus die "Entdeckung" konstruiert wurde. 3 Die Vorstellung, daß Amerika von Europäern nicht entdeckt, sondern erfunden wurde, ist in Anlehnung an Arbeiten wie Saids Orientalism4 weiter entwickelt worden, und so gibt es in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Studien mit Titeln wie Inventing America5 oder Deconstructing Americcfi

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Vgl. dazu Ottmar Ette: Entdecker über Entdecker: Alexander von Humboldt, Cristóbal Colón und die Wiederentdeckung Amerikas. In: Titus Heydenreich (Hg.): Columbus zwischen zwei Welten. Historische und literarische Wertungen aus fünf Jahrhunderten. Frankfurt am Main 1992, S. 401-439. Edmundo O'Gorman: La invención de América: Investigación acerca de la estructura histórica del Nuevo Mundo y del sentido de su porvenir. México 1977 [1958], Vgl. Walter Mignolo: Colonial and Postcolonial Discourse: Cultural Critique or Academic Colonialism? In: Latin American Research Review, Bd.28, Nr.3, 1993, S. 120131. Edward Said: Orientalism. New York 1978. José Rabasa: Inventing America. Spanish Historiography and the formation of Eurocentrism. Norman 1993. Peter Mason: Deconstructing America. Representations of the Other. London 1990.

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Andrea Pagni oder gar El continente vacio7, die versuchen, dem Gedanken der "Erfindung" Amerikas Rechnung zu tragen und dabei die Repräsentation amerikanischer Wirklichkeit in Texten der spanischen Kolonialzeit dekonstruieren. 8 Allerdings birgt dieser zweite Begriff der Konstruktion oder Invention Amerikas eine große Gefahr: Amerika droht darin zu verschwinden. Wenn alles nur Projektionen von Europäern sind, dann gibt es auch nur Europäer, die ein mehr oder minder konsensfähiges Hirngespinst herstellen; Amerika, nicht entdeckt, sondern erfunden, löst sich auf. O'Gorman hatte - mit Recht, wie ich glaube - gegen die Ontologisierung eines bestimmten Bildes von Amerika geschrieben. Die Tendenz, die dieser Ansatz in den letzten Jahren auslöste, droht nun zu einer reinen Diskursivierung zu führen. Eines haben beide Ansätze gemeinsam: Das Subjekt wird in beiden Fällen als ein europäisches gedacht - Amerika gerinnt zu einem Objekt der Entdeckung oder einem Produkt der Erfindung. An ein Subjekt, das in Amerika seinen symbolischen Aussageort hat, kommt man so scheinbar gar nicht heran. Die Stimme der Amerikaner 9 hatte tatsächlich wenig Platz in der Konstellation von Wissen und Macht, wie sie im 19. Jahrhundert dominierte und zum großen Teil immer noch herrscht. Akzeptiert man diese Überlegungen, so könnte man sich immerhin fragen, was lateinamerikanische Reisende nach Europa mit der Wiederentdeckung Lateinamerikas im Reisebericht des 19. Jahrhunderts zu tun haben. Warum nicht hier lateinamerikanische Reisende durch Lateinamerika zu Wort kommen zu lassen? Sie sind zahlreicher gewesen, als die Beschäftigung mit ihnen und ihren Berichten in der europäischen akademischen Welt vermuten läßt. Das hätte noch einen Sinn gegeben. Ich möchte versuchen, im folgenden eine Antwort auf diese allem Anschein nach sehr berechtigte Frage zu geben.

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Eduardo Subirats: El continente vacio. La conquista del Nuevo Mundo y la conciencia moderna. Madrid 1994. Vgl. auch Stephen Greenblatt: Marvelous Possessions. Oxford 1991, und Walter Mignolo: The Darker Side of the Renaissance. Literacy, Territoriality & Colonization. Ann Arbor 1995. Ich verwende hier die Bezeichnungen "Amerikaner" und "Amerika" in dem Sinne, wie sie auch Alberdi verwendete. Gemeint waren damit die in Amerika geborenen Nachfahren der Europäer. Die hispanoamerikanischen letrados sprachen oft von sich als "americanos del sur", um sich von den "americanos del norte" zu unterscheiden. Nicht gemeint waren dabei die Ureinwohner Amerikas, die sich wiederum selbst nicht als "americanos" verstanden, da dies damals deutlicher als heute eine europäische Bezeichnung war und eine europäische Geschichte implizierte. Die politische Korrektheit verlangt, daß ich hier noch ausdrücklich erkläre, daß die Ureinwohner Amerikas sich weder bei Europäern noch bei den hispanoamerikanischen Kreolen Gehör verschaffen konnten.

ins Land der Vorfahren und zurück

Bei aller Kritik am Konstruktivismus gehe ich ebenfalls davon aus, daß eine Aussage mehr über die Sprechende oder den Sprechenden sagt, als über das, wovon sie oder er gerade spricht. 10 Diese Einsicht stellt kein größeres Problem dar, sofern man sich dessen bewußt ist und niemandem die Subjektposition abspricht, wie es in der Geschichte der ungleichen Beziehungen zwischen Europa und Amerika immer wieder geschehen ist. Obwohl ich nicht meine, daß Amerika lediglich eine diskursive Konstruktion der Europäer war bzw. ist, gehe ich allerdings davon aus, daß das, was über eine bestimmte Wirklichkeit gesagt wird, auch Teil eben dieser Wirklichkeit wird - oder besser gesagt, werden kann. Amerika verschwindet nicht in den rhetorischen Konstruktionen europäischer Reiseberichte, aber das, was europäische Reisende über Amerika geschrieben haben, legt sich als semantische Schicht auf die Wirklichkeit, die Amerika ist, und verändert sie auch. Es läßt sich unschwer feststellen, daß der umgekehrte Fall seltener eintritt. Was Lateinamerikaner im Laufe der Jahrhunderte und bis heute über Europa gesagt haben, ist kaum Teil der Realität Europas geworden aus dem einfachen Grund, daß es überhört oder nicht ernst genommen wurde. Viele Reisende, die im 19. Jahrhundert aus der europäischen Restauration nach Hispanoamerika kamen, stellten bekanntlich mit patemalistischer Geste die neuen Republiken als Kinder dar, die erst einmal lernen müßten, auf eigenen Füßen zu stehen. 11 Was sollten die sich am Anfang ihrer zivilisatorischen Laufbahn befindenden Erben der spanischen Kolonien in Amerika schon Wichtiges sagen können? Wer würde sie ernst nehmen? Wann sollte dieser Lernprozeß abgeschlossen sein? Über Europa wußten die Europäer sowieso besser Bescheid; Hispanoamerikaner konnten da nicht mithalten, deshalb wurden in Europa die Berichte hispanoamerikanischer Reisender gar nicht erst rezipiert. Aber auch, was Hispanoamerika betraf, wußten die Europäer besser Bescheid: Sie hatten nicht nur die richtige Bildung, sondern auch die notwendige kritische

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Das scheint inzwischen eine Binsenwahrheit zu sein, und fast jede Abhandlung über Reiseliteratur unterläßt es nicht, darauf hinzuweisen. Diese Tatsache ist nur dann problematisch, wenn man Reiseberichte als Quellen zu lesen versucht, denn dann muß man abwägen, was die subjektive Komponente im Text jeweils bewirkt, ohne die eigene "Brille" zu vergessen. Diese Ansicht wurde schon 1983 von Anderson gründlich revidiert, trotzdem lassen sie europäische und z.T. auch lateinamerikanische Historiker nur ungem fallen. Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London 1983 [Revised Edition 1991],

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Andrea Pagni

Distanz. In bezug auf Europa hatten Hispanoamerikaner nicht kritische Distanz, sondern mangelnde Kenntnisse. 12 Ich will nicht das Gegenteil behaupten, nämlich, daß Hispanoamerikaner Hispanoamerika besser verstehen konnten, weil sie es aus nächster Nähe kannten, und Europa, weil sie es aus einer kritischen Distanz wahrnahmen. Damit würde ich lediglich die Argumentation umkehren, ohne den Boden, auf dem sie steht, zu berühren. Es geht mir nicht darum, wer "besser Bescheid weiß", sondern um die Mechanismen, die in verschiedenen historischen Situationen definieren, was es heißt, "besser Bescheid zu wissen", und dadurch auch entscheiden, wer das Recht hat, so zu sprechen, daß er oder sie ernst genommen wird. Die Reiseberichte von Hispanoamerikanern, die im 19. Jahrhundert durch Amerika, aber auch nach Europa reisten, wurden im ungleichen "interkulturellen" Austausch wenig beachtet und ernst genommen; in der sogenannten Wiederentdeckung Lateinamerikas spielten Texte von amerikanischen Autoren offenbar kaum eine Rolle. Gerade deshalb scheint es mir wichtig, auch latein- bzw. in diesem Fall hispanoamerikanische Reiseberichte des 19. Jahrhunderts im Rahmen der Diskussion um die "Wiederentdeckung Lateinamerikas in Reiseberichten des 19. Jahrhunderts" zu berücksichtigen: Wie reflektierten lateinamerikanische Reisende die Beziehung zwischen Amerika und Europa im 19. Jahrhundert, wie konstruierten sie "Amerika", wie konstruierten sie "Europa"? Was können wir über diese Beobachter erfahren? Ohne auf diese Fragen einzugehen, bliebe das Bild einseitig. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen analysiere ich im folgenden Juan Bautista Alberdis Veinte días en Génova in Zusammenhang mit den Tagebüchern, die er während seiner Europareise zu Beginn der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts verfaßte. 13

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Das erklärt meines Erachtens die Tatsache, daß die Revue des Deux Mondes im 19. Jahrhundert kaum einen Beitrag von einem hispanoamerikanischen Autor veröffentlichte. Vgl. zu diesem Thema Mary Louise Pratt: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation. London 1992. Juan Bautista Alberdi: Obras Selectas. Nueva edición ordenada, revisada y precedida de una introducción por el Dr. Joaquín V. González. Buenos Aires 1920. Bd. III: Memorias e impresiones de viaje; darin: Veinte días en Génova [1845], S. 37-194 und Impresiones y recuerdos, S. 195-345. Im folgenden wird aus dieser Ausgabe zitiert; Seitenzahlen erscheinen in Klammern im laufenden Text.

Ins Land der Vorfahren und zurück

Aus dem Exil nach Europa Anders als die europäischen Reisenden nach Amerika, die sehr genau zu wissen glaubten, woher sie kamen, kamen die ersten argentinischen Reisenden des 19. Jahrhundert, die über ihre Besuche in Europa in den 40er Jahren schrieben, aus dem Exil: Juan Bautista Alberdi brach 1843 von Montevideo auf, Domingo Faustino Sarmiento 1845 von Santiago de Chile. Daß sie gehindert waren, direkt in die argentinische Tagespolitik einzugreifen, verurteilte sie nicht zur Untätigkeit, aber sie mußten ihre Aktivitäten im Ausland und vom Ausland aus entwickeln. Diese Lage zwang sie zur Reflexion und nötigte sie, das eigene Land aus einer anderen Perspektive, von außen zu betrachten. Bevor Argentinien 1853 eine Staatsverfassung erhielt, war es für die letrados im Exil ein literarisches Thema, ein Problem, das man in Büchern löst: 14 Sarmiento schrieb Facundo mit Blick auf die Zukunft, Alberdi legte in den Bases den Grund für den zukünftigen Staat. Auch die Reise nach Europa war als Erfahrung und als Text Teil dieses symbolischen Staatsbegründungsvorhabens. Die Reise vom Exil aus wurde so zur Fortsetzung einer schon früher angetretenen "Pilgerfahrt", wie Esteban Echeverría, José Mármol und andere sie nennen würden. 15 Argentinische letrados reisten nach Europa auf der Suche nach Modellen der Zivilisation, um die neuen Staaten Südamerikas zu ordnen: Alberdi wollte das europäische Rechtswesen erforschen, Sarmiento reiste als Gesandter der chilenischen Regierung, um neue Informationen über das Bildungswesen einzuholen. Beide Autoren veröffentlichten allerdings auch ihre persönlichen Eindrücke von der Reise. In Alberdis Artikeln über Genua und das sardische Rechtswesen vermischen sich die sachliche und die persönliche Erzählebene; Sarmiento veröffentlichte nach seiner Rückkehr zwei Bücher: eines über Pädagogik, das andere über seine Reiseerlebnisse. 16 Sowohl Alberdi als auch Sarmiento brachen mit einem vorgefaßten, vorwiegend auf Lektüre gegründeten Bild von Europa auf; sie reisten im Gefühl, zu wissen, wohin sie die Reise führen würde - in die Wiege der Zivilisation. Die Erfahrung relativierte jedoch dieses Bild und forderte von ihnen eine zweifache Neujustierung - von "Europa" und von "Südamerika". Euro14 15 16

Blas Matamoro: La (Re)generación del 37. In: Punto de Vista Nr.28, 1986, S. 40-43, hier S. 43. Esteban Echeverría: Peregrinaje de Gualpo. In: ders.: Obras Completas. Buenos Aires 1972, S. 329-336; José Mármol: Cantos del Peregrino. Buenos Aires 1946 [1847], Domingo Faustino Sarmiento: Viajes por Europa, Africa i America 1847-1849. Santiago de Chile 1849-1851, und: De la educación popular. Santiago de Chile 1849.

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pa übertraf nicht nur die Erwartungen, sondern enttäuschte sie auch. Alberdi und Sarmiento fanden die juristischen bzw. pädagogischen Modelle, die sie an jenem "Ort des Geistes" 17 suchten; die Wirklichkeit im Europa der vierziger Jahre, mit der sie auf der Reise ebenfalls konfrontiert wurden, wirkte allerdings ernüchternd auf sie.

Aus amerikanischer Sicht Die Europareise, die Juan Bautista Alberdi Anfang April 1843 antrat, erfolgte nicht im offiziellen Auftrag wie die Reise Sarmientos zwei Jahre später von Chile aus. Alberdi entschloß sich zu ihr, weil er Montevideo durch Oribe und Rosas bedroht sah; tatsächlich war es eine Flucht aus dem unsicher gewordenen Exil. In Genua, dem ersten Ort seines Europaaufenthaltes, blieb Alberdi zwanzig Tage, um das Gerichtswesen kennenzulernen und "pasear una mirada seria por la administración y el gobierno de los estados sardos" (S. 67). Dieser Aufenthalt in Genua sollte in den Berichten dokumentiert werden, die Alberdi nach seiner Rückkehr 1845 im Folletín der chilenischen Zeitung El Mercurio veröffentlichte. 18 Der weitere Verlauf der Reise durch Europa läßt sich größtenteils anhand seiner Tagebücher nachvollziehen: Von Genua reiste Alberdi nach Turin weiter, im Juli 1843 besuchte er Chambéry und Genf, von August bis Mitte Oktober hielt er sich in Paris auf und schiffte sich dann in Le Havre zur Rückreise nach Amerika ein. Nach seiner Ankunft in Rio de Janeiro beschloß er, nicht nach Montevideo zurückzukehren, da die Stadt inzwischen durch die Truppen Oribes und Rosas' belagert

17 18

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David Viñas: Literatura Argentina y Realidad Política. De Sarmiento a Cortázar. Buenos Aires 1972, S. 139. Viñas (Anm. 17, S. 143ff.) geht davon aus, daß Chiles El Mercurio Alberdi die Reise zahlte, damit er die Berichte über das Rechtswesen schrieb. Ich habe keine Bestätigung für diese Annahme gefunden und glaube eher, daß die Publikation in der chilenischen Tageszeitung vereinbart wurde, als Alberdi 1845 nach Chile kam. Erst dann verfaßte er wohl diese Berichte, wobei er sich auf die Aufzeichnungen stützte, die er sich während der Reise gemacht hatte. Daß die Artikel nachträglich verfaßt wurden, bestätigt der häufige Verweis auf Episoden, die nach den zwanzig Tagen in Genua stattfanden. In der Ausgabe der Obras completas von 1886 wurden sie unter dem Titel Veinte días en Génova zusammengefaßt. Diese Ausgabe enthält jedoch nicht die Aufzeichnungen, die Alberdi über den Rest der Reise machte, da sie bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht veröffentlicht worden waren. Die Tagebuchaufzeichnungen wurden zum ersten Mal in der Ausgabe der Escritos Postumos veröffentlicht; anschließend in den von Joaquín V. González herausgegebenen Obras Selectas. Deshalb scheint es mir nicht sinnvoll, sie unter denselben Gesichtspunkten wie die Artikel für El Mercurio zu betrachten, wie Viñas es tut.

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wurde. So setzte er seine Reise nach Chile fort, wo er im April 1844, ein Jahr nach seiner Abreise aus Montevideo, ankam. Die Reiseaufzeichnungen Alberdis entsprechen zwei verschiedenen Diskursebenen, je nachdem, ob er sie für die chilenische Tageszeitung ausarbeitete oder nicht. Im ersten Fall stellte er einen Teil seiner Notizen für ein bestimmtes Publikum in ein neues Licht. Er übernahm ganze Abschnitte seiner Tagebuchaufzeichnungen, die er - gerade in den ersten Artikeln - oft in Anführungszeichen setzte, weil es sich (vorwiegend) um Passagen handelte, in denen er seine ersten "unbefangenen" Gefühle und Eindrücke festhielt; sie enthielten "la expresión ingenua y candorosa de las impresiones que experimenta el que por primera vez visita uno de estos pueblos" (S. 44). Es sind Zitate, die der südamerikanischen Lesergemeinschaft emotionale Identifikationsmomente boten, und die Alberdi mit einer Geste der Entschuldigung glaubte begleiten zu müssen: "Voy a copiar literalmente las expresiones que escribía en presencia de los objetos mismos.Esta prueba no es poco atrevida de mi parte; pero es el único o al menos el más perfecto medio de que el viajero americano pueda valerse para dar cuenta exacta de sus primeras sensaciones de Europa." (S. 42, vgl. auch S. 46, 57, 64) Immer wieder betonte Alberdi, daß seine Artikel im Folletín sich an einen amerikanischen Leserkreis richteten. Das hatte sicherlich damit zu tun, daß er seine Berichte für die Tageszeitung Santiagos verfaßte; jedoch weist die unablässige Wiederholung dieser Behauptung darüber hinaus und zeichnet die Umrisse einer imaginären südamerikanischen Gemeinschaft, deren Vorstellungswelt sich von der des europäischen Publikums unterschied, das Alberdi als Vergleichsgröße diente: "Yo escribo para el lector americano, para el que ve las cosas, siente las curiosidades, que antes de conocer el mundo transatlántico se experimenta en estos países. Un lector europeo me hallará enfadoso y frivolo." (S. 114) Als Reiseschriftsteller identifizierte sich Alberdi mit dem südamerikanischen Leser, denn er wußte, daß für beide, Schriftsteller und Leser, die europäische Welt - die bereiste oder die geschilderte - neu war. Alberdi wußte auch, daß über Europa als Südamerikaner zu schreiben, der Grundlegung einer bis dahin praktisch nicht existierenden Gattung gleichkam; deshalb stellte er Überlegungen über die amerikanische Beschreibung der Reise an. Indem er den Gegensatz zwischen amerikanischer "Neuer Welt" und europäischer "Alter Welt" umkehrte, hielt er fest, daß aus amerikanischer Sicht gerade Europa die "neue" Welt war, und er hob immer wieder diese amerikanische Sehweise hervor, die Wahrnehmung, Auswahl und Darstellung sei397

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ner Beobachtungen lenkte. Nicht das Neue an sich, sondern das Neue für einen Südamerikaner rechtfertigte seine Reisebeschreibung: "¡Qué nuevo es para un americano del Sud, el espectáculo de una capital europea! Pero ¡qué viejo, el repetir esta frase que nada dice al que no contempla los objetos! ¿No sería útil y agradable para el lector americano, el encontrar un libro que contuviere la expresión ingenua y candorosa de las impresiones que experimenta el que por primera vez visita uno de estos pueblos?" (S. 44) Alberdi kritisierte jene amerikanischen Leser, die ihr eigenes Bewußtsein zur Seite legten, um über englische oder französische Gedanken zu urteilen ("que dejan su conciencia a un lado para juzgar una conciencia inglesa o francesa", S. 114), und er wies daraufhin, daß es eine eigene Art und Weise gibt, europäische Kultur aus amerikanischer Sicht wahrzunehmen. Alberdi achtete auf Eigentümlichkeiten der amerikanischen Sehweise; er schien sich bewußt zu sein, daß das, was er als (amerikanischer) Reisende schrieb, mehr über ihn, den Beobachter und Berichterstatter aussagte, mehr über seinen Standpunkt und seine Sehweise, als über das, was er sah und beschrieb. Auf der Suche nach einer Legitimation für seinen gefühlsbetonten, persönlichen Stil, über das Neue Europas zu schreiben, zog Alberdi einen Vergleich mit den europäischen Reisenden und deren Darstellung von Amerika: "Yo cuento con sinceridad lo que por mí ha pasado. Y yo no sé cual sea la razón porque debamos abstenernos de confesar la impresión que nos causan los objetos que ofrece la sociedad en Europa, cuando vemos a los escritores europeos confesar con llaneza la novedad que en ellos hacen los accidentes y circunstancias más menudos de la vida que hacemos en América." (S. 114) Bemerkungen wie diese zeigen uns, daß Alberdi das asymmetrische Verhältnis zwischen den Sichtweisen und der Autorität von europäischen Reisenden in Amerika und amerikanischen Reisenden in Europa durchaus erkannte. Der europäische Reisende entdeckte in Amerika ständig etwas Neues (auch wenn es aus amerikanischer Sicht nichts Neues war), während der amerikanische Reisende in Europa nichts zu entdecken hatte (auch wenn das, was er sah, aus amerikanischer Sicht neu war und so noch nie gesehen wurde). Humboldt mußte sich nicht dafür rechtfertigen, daß er "das Neue" entdeckte und beschrieb, denn dafür war er ja in den "Nouveau Continent" gereist; Alberdi hingegen hebt ausdrücklich die amerikanische Sichtweise hervor und entschuldigt sich gleichzeitig dafür. Auch er scheint anzunehmen, daß Europäer besser Bescheid wissen; dennoch ergreift er das Wort im Gefühl, den Amerikanern etwas sagen zu müssen, das aus europäischer Sicht nicht

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gesagt werden kann. Diese Geste zeichnet die Konturen eines neuen Aussageortes.

Pilgerreise nach Genua Die Kreolen, die während der Kolonialzeit nach Europa (vorwiegend nach Spanien) reisten -, in der Regel, um dort zu studieren oder eine militärische Ausbildung zu erhalten -, waren spanische Untertanen. 19 Alberdi kam in Genua mit wenig mehr als einem Ausweis an, dem Ausweis, "ein Sohn Amerikas" zu sein (S. 46). Aber der amerikanische Reisende beeilt sich zu erklären, daß dieser Ausweis gerade in Genua, "el país que dió nacimiento a Cristóbal Colón" (S. 46), ein Schlüssel ist, der viele Türen öffnet: "El privilegio de un americano es mucho en Italia." (S. 52) Der Sohn eines Basken hebt die europäische Abstammung der (Hispano-)Amerikaner hervor. Die Spuren Columbus' zu entdecken, schafft eine noch stärkere Verbindung zwischen dem "großen Reisenden" (S. 46), der gleichsam von Genua nach Amerika fuhr, und dem amerikanischen Reisenden, der wie ein Pilger nach Genua kommt. Daher widmete Alberdi auch den zweiten Artikel für das Folletín seinem Besuch im Herzogspalast, in dem Handschriften von Columbus aufbewahrt wurden. Indem er auf Spanisch, "en el idioma adoptivo de Colón", seine amerikanische Herkunft erklärte, sprach er die Zauberformel aus, die ihm den Zugang zum Archiv verschaffte, in dem die handgeschriebenen Schätze aufbewahrt waren. Die erste Reiseetappe Alberdis ist also der Lektüre gewidmet: "yo me entretenía en recorrer el viejo infolio" (S. 47, meine Hervorhebung). Sie wird als Initiation dargestellt: Nach einer Wartezeit im Vorraum, in der er sich mit Dokumenten und handgeschriebenen Briefen beschäftigte, die sich auf die Entdeckung Amerikas bezogen ("una colección de documentos y cartas autógrafas, referentes a Colón y su descubrimiento", S. 47), wurde der Reisende von einem Führer in den Raum geleitet, in dem sich der Schatz befand. Dort entzifferte Alberdi zunächst eine lateinische Inschrift, die er transkribierte, aber nicht übersetzte. Er sprach dabei bewußt nur einen Teil seiner Leserschaft an und berechnete genau die inkantatorische Wirkung auf die übrigen Leser, die die Worte nicht verstanden: "Introducido en el salón del Consejo decurional, noté desde luego, a una extremidad de él, una columna de mármol blanco, orlada de dos grandes ramos figurados por bajorrelieves, en el centro de los cuales se lee la siguiente inscripción en caracteres de oro: 19

Vgl. Viñas (Anm. 17), S. 138ff.

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Quae. Heic. Sunt. Membranas Epístolas. Q. Expendito. His. Patriam. Ipse. Nempe. Suam. Columbus. Aperit. En. Quis. Mihi. Creditum. Thesauri. Siet." (S. 48) Nachdem er die Inschrift fast wie eine magische Formel gelesen hatte, stand der Reisende nun vor dem geschlossenen Schatzkästchen, das sich vor den Augen des Amerikaners gleichsam durch Zauberkraft öffnete: "En lo alto de la columna, está la caja depositaria de los gloriosos manuscritos. Una puertecilla metálica, cubierta de un baño de oro, ornada de un bajorrelieve alegórico [...] guarda sacramentalmente los preciosos documentos. Abrióse esa puerta en obsequio de mi nacionalidad americana." (S. 48) Indem Alberdi hier die Passivform mit "se" verwendet ("abrióse"), läßt er den Agenten der Handlung verschwinden: die Tür ging auf. Die ColumbusSchätze erschienen ("salieron"), sie begaben sich in die Hände und traten vor die Augen des verzückten Reisenden: "Salieron dos cajas de latón: la primera, conteniendo una cartera o bolsa de cordobán, floreada que fué usada por el mismo Colón, y encerraba, la colección denominada el Código. Toqué ese mueble, y le examiné de mil y mil modos, sin poder definir el placer que sentía al ver en mis manos un objeto que se había envejecido entre las del marino inmortal. [...] Dos cartas autógrafas cierran la colección y forman sin duda su parte más interesante. Al contemplar los caracteres trazados por la mano que gobernó el timón que condujo al descubrimiento de un mundo nuevo, mis dedos se helaban de religioso entusiasmo." (S. 48f.) Diese Episode, mit der Alberdi seine Reisebeschreibung eröffnet, liest sich wie ein Ritual: Um nach Europa einzureisen, muß der Amerikaner bestimmte Texte, in denen die Geschichte der europäischen Herkunft Amerikas, die europäische Abstammung des amerikanischen Reisenden niedergelegt ist, aufsuchen und entschlüsseln. 20 Nachdem er diese erste "Prüfung" bestanden hat, kann er seine Reise fortsetzen.

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Sein Interesse für Hand- und Inschriften beschränkte sich nicht auf seinen Besuch in Genua: Auf den Säulen des Burgverlieses in Chillon entdeckte er unter vielen berühmten Namen ausgerechnet die von Victor Hugo und Byron (S. 217) und in Le Havre spürte er die Inschrift auf, die das Geburtshaus von Bernardin de Saint-Pierre bezeichnet (S. 239).

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Der Traum von den Wundern des Orients in den Wäldern des Paraná Die europäische Abstammung macht allerdings den amerikanischen Reisenden nicht einfach zum Europäer. Das mußte Alberdi im weiteren Verlauf seiner Reise immer wieder feststellen. Europa war nicht sein Ort, nach den ersten Wochen der Begeisterung begann er, Heimweh zu verspüren. Das erfahren wir aus seinen Tagebüchern. Dort kann man nachlesen, wie die anfängliche Faszination des Amerikaners, der ins Land seiner Vorfahren ("las tierras de mis antecesores", S. 42) reiste, langsam der Sehnsucht nach der südamerikanischen Heimat ("el continente natal", S. 267) wich: "Dentro de cuatro días me voy de París al Havre, donde debo tomar pasaje para América. ¡Cuánto suspiro por verme en aquellos países! ¡qué bella es la América! ¡qué consoladora! ¡qué dulce! Ahora la conozco; ahora que he conocido estos países de infierno (?) [sie], estos pueblos de egoísmo, de insensibilidad, de vicio dorado y prostitución titulada. Valemos mucho y no lo conocemos; damos más valor a la Europa que el que merece." (S. 228) Hatte Alberdi bei seiner Ankunft fasziniert die Küsten Italiens erblickt, so bekannte er bei der Abreise, daß er Frankreich verließ, ohne sich umzuschauen: "sin siquiera dar una última vista a la altura de los faros y de Ingouville, que era lo último que se divisaba desde algunas horas". (S. 243f.) Es ist schwer zu unterscheiden, ob Alberdi sich aus Enttäuschung über Europa nach Amerika sehnte, oder ob die Sehnsucht nach Amerika diese Enttäuschung hervorrief; wahrscheinlich trifft beides zu. Die Reiseerfahrung zwang ihn zu einer Korrektur sowohl seines Europa- als auch seines Amerikabildes. Im vorletzten Artikel für El Mercurio schrieb Alberdi über die italienische Natur, deren Schönheit, so stellte er fest, eine Schöpfung des Menschen war, "casi exclusivamente obra del arte y labor del hombre". (S. 179) Savoyen, "tan parecida a la Grecia, según M. Chateaubriand" (S. 180), schien ihm weniger imposant als Tucumán, wo er geboren war. Der Unterschied bestand darin, daß die Schönheit Amerikas nicht so berühmt war: "a la belleza de América falta el manto prestigioso de la celebridad". (S. 180) Man kann sich fragen, wieso Alberdi eine solche Behauptung aufstellte, nachdem bereits Humboldt und Chateaubriand über die Schönheit der amerikanischen Natur viele berühmte Seiten geschrieben hatten. Alberdi vergaß das nicht, er bemerkte jedoch, daß dabei Amerika zu einem Teil des europäischen Textes, der europäischen Kultur geworden war, und daß sich die europäische Kunst bereichert hatte. Unter der Feder Chateaubriands war Amerika zu einem 401

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Stück französischer Romantik geworden; was sich als semantische Schicht auf Amerika legte, war bestenfalls die Exotik. Indem sich die europäische Kunst der amerikanischen Natur gleichsam als Rohstoff bediente, entstand eine Schuld: "No sabemos cuánto debe a esta hora el arte europeo a las magnificencias naturales de la América". (S. 180, meine Hervorhebung) 21 Alberdi plädierte deshalb dafür, daß Amerikaner den Amerikanischen Text schrieben. Wie ihm bei der Betrachtung der Landschaft Italiens klar wurde, war die Vorstellung von Schönheit nicht irgendwie der Natur selbst immanent, sondern sie entstand erst durch deren Aufnahme in die symbolische Ordnung, durch deren Textualisierung. Deshalb forderte er amerikanische Schriftsteller auf, sich im eigenen Land umzuschauen, Amerika für Amerikaner zu entdecken und eine amerikanische Literatur zu schaffen, anstatt "von den Wundern des Orients in den Wäldern des Paraná" zu träumen. (S. 180) Die Europareise bestätigte Alberdi in der Ansicht, wie wichtig es ist, als Amerikaner das Wort zu ergreifen, um nicht immer nur von Europäern gesprochen zu werden. Die Legitimität dieser Auffassung ist evident - und problematisch genug, sobald man bedenkt, wer allein jedoch als amerikanisches Aussagesubjekt vorgesehen war; daß die Urbevölkerung des Kontinents ein Recht haben könnte, das amerikanische Wort zu ergreifen und sich Gehör zu verschaffen, eine solche Vorstellung ist für Alberdi undenkbar. Dennoch scheinen mir Alberdis Überlegungen wichtig bei dem Versuch, die Beziehungen zwischen Europa und Amerika im 19. Jahrhundert etwas differenzierter zu betrachten. Bis vor einigen Jahren galten die südamerikanischen letrados des 19. Jahrhunderts, allen voran Sarmiento und Alberdi, als eindeutige Verteidiger der europäischen "civilización" gegen die amerikanische "barbarie". Diese so pauschale Einschätzung aus der Perspektive der Dependenztheorien wurde bereits Ende der 60er Jahre in Frage gestellt und

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In ihrer Untersuchung der Neuerfindung Amerikas durch Humboldt stellt Pratt (Anm. 12, S. 137ff.) die Romantik in den Kontext der europäischen Expansion und verweist darauf, daß das "Europa" der Romantik mit Elementen aus den Kolonien ausgestattet ist. Die Entstehung der europäischen Romantik ist mit den Verschiebungen der Verhältnisse zwischen Europa und der übrigen Welt verbunden, die an der Schwelle zum 19. Jahrhundert zu beobachten waren. Eine dieser Verschiebungen bestand darin, daß Amerika gerade zu dieser Zeit dabei war, sich von Europa zu trennen. Abgesehen von thematischen Vereinnahmungen, die mit der europäischen Wahrnehmung von Amerika als Natur zu tun haben, sind die romantischen Vorstellungen von Freiheit, von Individualismus und Liberalismus, so Pratt, nicht allein in Europa entstanden, sondern auch umgekehrt das Ergebnis von Einflüssen aus den kolonialen Kontaktzonen auf Europa. Pratt verweist auf Benedict Andersons These, daß das Modell der Staatsnation zum großen Teil in Amerika entstand und im 19. Jahrhundert von Europa importiert wurde.

Ins Land der Vorfahren und zurück seit den 80er Jahren einer kritischen Lektüre unterzogen. 22 Eine nähere Betrachtung der Reiseberichte Alberdis und auch Sarmientos aus der Perspektive postkolonialer Theorie zeigt, daß es ihnen weniger darum ging, Europa nachzuahmen oder europäisches Gedankengut nachzusprechen, als darum, einen eigenen Aussageort zu begründen, von dem aus sie mit Europa in einen Dialog treten wollten. Im Verlauf ihrer Europareisen mußten Alberdi und Sarmiento feststellen, daß sie nicht als Dialogpartner wahrgenommen wurden. Von der Reise nach Europa kamen sie nicht in die gleiche Welt zurück, die sie verlassen hatten, denn die europäische Erfahrung ließ ihnen Amerika - und Europa - in einem neuen Licht erscheinen.

22

Vgl. Tulio Halperín Donghi u.a. (Hg.): Sarmiento, Author of a Nation. Berkeley 1994.

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Autorinnen und Autoren Bernecker, Walther L., Prof. Dr.

Lehrstuhl Auslandswissenschaft - Romanischsprachige Kulturen Universität Erlangen-Nürnberg Findelgasse 9 D-90402 Nürnberg

Binder, Wolfgang, Dr.

Institut für Anglistik und Amerikanistik Universität Erlangen-Nürnberg Bismarckstraße 1 D-91054 Erlangen

Bremer, Thomas, Prof. Dr.

Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften Institut für Romanistik Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg D-06099 Halle (Saale)

De Sa Porto De Simone, Eliana, Dr. Obere Bergstraße 14 D-69198 Schriesheim Dickenson, John P., Prof. Dr.

Department of Geography Roxby building University of Liverpool PO Box 147 GB-Liverpool L69 3BX

Ette, Ottmar, Prof. Dr.

Institut für Romanistik Universität Potsdam Postfach 60 15 53 D-14415 Potsdam

Fischer, Thomas, Dr.

Lehrstuhl Auslandswissenschaft - Romanischsprachige Kulturen Universität Erlangen-Nürnberg Findelgasse 9 D-90402 Nürnberg

Harbsmeier, Michael, Prof. Dr.

Holsteinsgade 55 - 4.t.h. DK-2100 K0benhavn 0

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Autorinnen und Autoren Heydenreich, Titus, Prof. Dr.

Institut für Romanistik Universität Erlangen-Nürnberg Bismarckstraße 1 D-91054 Erlangen

Heymann, Jochen, Prof. Dr.

Institut für Romanistik Universität Erlangen-Nürnberg Bismarckstraße 1 D-91054 Erlangen

Krömer, Gertrut

Österreichisches Lateinamerika-Institut Bergiselweg 16 A A-6020 Innsbruck

Krosigk, Friedrich von, Prof. Dr.

Institut für Politische Wissenschaft Universität Erlangen-Nürnberg Kochstraße 4 D-91054 Erlangen

Mertins, Günter, Prof. Dr.

Fachbereich Geographie Philipps-Universität Marburg Deutschhausstr. 10 D-35037 Marburg

Pagni, Andrea, Dr.

Institut für Romanistik Universität Regensburg Universitätsstraße 31 D-93040 Regensburg

Riesz, János, Prof. Dr.

Lehrstuhl für Romanische Literaturwissenschaft und Komparatistik Universität Bayreuth D-95440 Bayreuth

Vogel, Hans, Prof. Dr.

Rijks Universiteit Leiden Faculteit der Letteren Vakgroep Talen en Culturen van Latijns Amerika Van Wijksplaats 3 (gebouw 1163) Postbus 9515 NL-2300 RA Leiden

Wolfzettel, Friedrich, Prof. Dr.

Fachbereich Neuere Philologien Institut für Romanische Sprachen und Literaturen Johann Wolfgang Goethe-Universität Gräfstraße 76 D-60054 Frankfurt am Main

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