Reisen in die Neue Welt: Die Erfahrung Nordamerikas in der deutschen Reise- und Auswandererberichten des 19. Jahrhunderts [Reprint 2015 ed.] 9783110934984, 9783484350359


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German Pages 459 [460] Year 1991

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Inhalt
Einleitung: Probleme der Reiseliteraturforschung
ERSTER TEIL. Reiseformen: Das Verharren in der Tradition
Einleitung: Der traditionalistische Reisebericht
KAPITEL I. Der Auswanderer: Aufbruch ins »Land der Verheissung«
KAPITEL II. Der Abenteurer: Ordnung und Freiheit
KAPITEL III. Der Wissenschaftler: Reisen in den Westen
ZWEITER TEIL. Besichtigung eines Kontinents: Die Erfahrung der Modernisierung
Einleitung: Reisen in die moderne Welt
KAPITEL I. Die Erfahrung der Wirklichkeit: Amerika und die Amerikaner
KAPITEL II. Das Land der Zukunft: Politische, gesellschaftliche und soziale Probleme des Fortschritts
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Reisen in die Neue Welt: Die Erfahrung Nordamerikas in der deutschen Reise- und Auswandererberichten des 19. Jahrhunderts [Reprint 2015 ed.]
 9783110934984, 9783484350359

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STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil Band 35

Peter J. Brenner

Reisen in die Neue Welt Die Erfahrung Nordamerikas in deutschen Reiseund Auswandererberichten des 19. Jahrhunderts

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1991

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Philosophischen Fakultät IV - Sprach- und Literaturwissenschaften - der Universität Regensburg gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Redaktion des Bandes: Alberto Martino

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Brenner, Peter J.: Reisen in die Neue Welt: die Erfahrung Nordamerikas in deutschen Reise- und Auswandererberichten des 19. Jahrhunderts / Peter J. Brenner. - Tübingen: Niemeyer, 1991 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; Bd. 35) NE: GT ISBN 3-484-35035-0

ISSN 0174-4410

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co KG, Tübingen 1991 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten/Allgäu Einband: Heinrich Koch, Tübingen

Die nötigste Predigt, die man unserem Jahrhundert halten kann, ist die, zu Hause zu bleiben Jean Paul

Inhalt

Einleitung: Probleme der Reiseliteraturforschung

1

ERSTER TEIL REISEFORMEN: D A S VERHARREN IN DER TRADITION

29

Einleitung: Der traditionalistische Reisebericht

31

Kapitel I Der Auswanderer: Aufbruch ins Land der Verheißung

45

1. Auswanderung und Auswandererliteratur 2. Die deutsche Amerika-Auswanderung des 19. Jahrhunderts: Verlauf und Ursachen 3. Funktionen und Formen der Auswandererliteratur im historischen Prozeß 4. Affekt und Sachlichkeit: Das Informationsbedürfnis der Auswanderer 5. Tradition und Innovation in der literarischen Gattungsentwicklung der »Ratgeber«-Literatur 6. Probleme der Reise: Rationalitätserfordernisse und Mentalitätsrückstände 7. Erste Hoffnungen: Amerika als Paradies 8. Das Land des Müßiggangs: Dudens romantisches Amerika . . . 9. Enttäuschungen: Die Kritiker Dudens 10. Das Land der Arbeit 11. Die Macht des Mythos: Optimismus wider Willen

79 91 102 113 120 132

Kapitel II Der Abenteurer: Ordnung und Freiheit

138

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Abenteurer in Fiktion und Wirklichkeit Die Reiseform des Abenteurers: Fußreise und Zufall Die Lust an der Gefahr Politik und Gesellschaft: Die »Philister«-Kritik des Abenteurers . . Bürgerlicher Alltag und Flucht aus der Ordnung Wildnis und Zivilisation

45 48 55 63 72

138 141 150 157 163 168 VII

7. Der melancholische Held: Der Westen als Heimat 8. Fremdheit und Vertrautheit: Der Blick in die Wildnis Kapitel III Der Wissenschaftler: Reisen in den Westen 1. Das Selbstverständnis der reisenden Wissenschaftler 2. Das Interesse am Indianer: Der Edle Wilde und die Wirklichkeit . 3. Die Disziplinierung der Wahrnehmung als ethnographisches Forschungsprinzip 4. Ethnologie und Politik 5. Methodische Probleme der Ethnographie 6. Prinzipien der naturwissenschaftlichen Beobachtung 7. Klassifikation als Methode 8. Die Entqualifizierung der Wirklichkeit 9. Ansätze zur Institutionalisierung der Forschungsreise: Reiseanleitungen und Versachlichung der Darstellung durch Entsubjektivierung . 10. Neue und alte Formen des Naturgenusses: Tourismus und Naturphilosophie

174 182

188 188 198 203 211 218 221 226 234 238 243

ZWEITER TEIL BESICHTIGUNG EINES KONTINENTS: DIE ERFAHRUNG DER MODERNISIERUNG

251

Einleitung: Reisen in die moderne Welt

253

Kapitel I Die Erfahrung der Wirklichkeit: Amerika und die Amerikaner . . . .

272

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Die erste Begegnung: Ankunft in Amerika Die Stadt als Symbol des Fortschritts Großstadterfahrungen: Der Mensch in der Masse Die Architektur der Stadt: Romantik gegen Rationalismus . . . . Wahrnehmungs- und Darstellungsformen der Großstadt »Yankees« und Deutsche »Arbeit« in Deutschland und Amerika Lebensformen: Amerikanische Hast und deutsche »Gemüthlichkeit« »Geld und Geist«: Die Kulturlosigkeit der Amerikaner

272 274 276 280 285 298 308 316 321

Kapitel II Das Land der Zukunft: Politische, gesellschaftliche und soziale Probleme des Fortschritts

330

1. Das Leben der Republikaner 2. Über die Demokratie in Amerika VIII

330 344

3. »Sklaverei unter dem Sternenbanner« 4. Technischer und industrieller Fortschritt: Probleme der Wahrnehmung 5. Die Kehrseite des Fortschritts: Das andere Amerika Bibliographie 1. Quellen zum deutschen Amerika-Bild 2. Weitere Quellen 3. Forschungsliteratur Register 1. Begriffe 2. Namen

357 375 383 401 401 407 410 439 439 442

IX

Einleitung: Probleme der Reiseliteraturforschung

I.

Der Reisebericht ist eine literarische Gattung. Wie jede Form von Literatur setzt er sich mit Wirklichkeit auseinander, aber durch seinen Authentizitätsanspruch ebenso wie durch die Eigenart seines Gegenstandes erhält er gegenüber anderen Formen von Literatur einen besonderen Status, der sich in gattungsspezifischen Formen und Inhalten manifestiert. Zwar weist der »Reisebericht« in seiner historischen Entwicklung mannigfaltige Variationen und Abstufungen auf, die es nicht immer leicht erscheinen lassen, ihn als eine einheitliche Gattung zu bestimmen.1 Dennoch läßt sich ein Kernbereich an Konstituenzien bestimmen, welcher dieser Gattung ihr eigenes Gepräge gibt und ihrer Erforschung spezifische Aufgaben stellt, die bei der Untersuchung anderer literarischer Formen überhaupt nicht oder nicht in dieser Form virulent werden. Es liegt nahe und ist sicherlich nicht falsch, die Besonderheit von authentischer Reiseliteratur als dem Bericht über reale Reisen zunächst darin zu suchen, daß in ihr das Problem einer »Erfahrung der Fremde« thematisch wird. Tatsächlich zeigt die Geschichte der Gattung, daß dieses Problem zwar nicht das ausschließliche, aber doch das inspirierende Moment darstellt, das ihr die wesentlichen Impulse verliehen hat. Die mit ästhetischem oder naivem Anspruch formulierte Erfahrung des Fremden ist fast stets als das konstituierende Prinzip identifizierbar, das der Gattung ihre eigene Tinktur gibt. Die Untersuchung dieses Aspekts ist eine erste und notwendige, wenn auch keinesfalls eine hinreichende Voraussetzung für die Erschließung der Besonderheiten der Gattung. Dabei muß zunächst die Bestimmung der Fremde selbst problematisiert werden. Denn was unter »Fremdes« jeweils zu verstehen ist, wie es wahrgenommen und beschrieben wird, hängt von Bedingungen ab, die einem erheblichen kultur-, gattungs- und zeitspezifischen Wandel unterliegen.2 Das Fremde wird unter dem Druck dieser Bedingungen stets neu definiert wie auch die Art seiner Erfahrung und Gestaltung eine immer wieder andere Gestalt an-

' Eine historisch orientierte Gattungsbestimmung im Zusammenhang einer Theorie der »Sachprosa« gibt Neuber, Zur Gattungspoetik des Reiseberichts, S. 51-55 und S. 65, Anm. 20. - Zur Terminologie vgl. ebd., S. 63, Anm. 1, sowie Brenner, Einleitung, S. 9. 2 Vgl. zu einer Theoriegeschichte der Fremdwahrnehmung im Rahmen der Geschichte des Reiseberichts Brenner, Die Erfahrung der Fremde, S. 14-49 sowie Brenner, Interkulturelle Hermeneutik, S. 35-54.

1

nimmt. 3 Von besonderer Bedeutung ist dabei die Tatsache, daß die Erfahrung des Fremden sich nie als ein Aggregat isolierter Wahrnehmungen darstellt, sondern diese Wahrnehmungen sich stets zu einem mehr oder weniger geschlossenen Komplex von Vorstellungen zusammenfügen. 4 In die Konstitution eines solchen Vorstellungskomplexes gehen vielfältige individuelle wie kulturelle Faktoren ein, die in ihrer Gesamtheit kaum alle namhaft zu machen sind und die sowohl in den einzelnen Texten wie auch in einzelnen Epochen und Kulturen erheblich differieren. Eine zentrale und meist gut abgrenzbare Komponente der Darstellung des Fremden ist das »Bild vom anderen Land«, das in den Reiseberichten in der Regel eine wahrnehmungs- und vorstellungsprägende Kraft entfaltet. Die Untersuchung solcher »Bilder« ist seit langem schon ein anerkannter Gegenstand der komparatistischen Imagologie. Der Blick des Imagologen richtet sich auf die Frage, »wie ein Volk oder wie repräsentative Teile dieses Volkes von anderen Völkern, insbesondere deren prominenten Vertretern gesehen werden.«5 Das Forschungsinteresse der »Imagologie« deckt damit einen Teilbereich der Probleme ab, die sich bei einer Untersuchung der Wahrnehmung und Darstellung fremder Kulturen in Reiseberichten stellen. Die Erfahrung der Fremde im Reisebericht geht allerdings nicht darin auf, ein Bild vom anderen Land zu zeichnen. Sie ist zugleich mehr wie auch weniger. Von der Fremderfahrung, wie sie der Reisebericht thematisiert, ist das »Bild vom anderen Land« dadurch unterschieden, daß die reale Wahrnehmung der Fremde in diesem nur eine untergeordnete Rolle spielt. Das »Bild vom anderen Land« ist bei seiner Konstitution nicht auf den Augenschein verwiesen. Es speist sich zwar meist auch, aber bei weitem nicht nur aus empirischen Quellen und Erfahrungen, wie sie im Reisebericht niedergelegt sind; aber vor allem stellt es sich dar als ein Komplex aus individuellen und der eigenen Kultur in vielfaltigen Medien vermittelten Erfahrungen ebenso wie aus langlebigen kulturgeschichtlich erwachsenen Vorstellungsmustern, aus Mythen sowie deren Konfrontation mit der Realität und schließlich auch aus den formgeschichtlichen Traditionen der Medien, durch die sie weitergegeben werden.6 Im Reisebericht spielen eben diese Vorstellungen eine gewichtige Rolle, die in der Ausgangskultur vom jeweils bereisten Land herrschen. Sie haben einen maßgeblichen Einfluß darauf, wie die Fremde dann durch den individuellen Augenschein wahrgenommen und im Bericht beschrieben wird. Bereits dadurch 3 4 5

6

2

Nitschke, Das Fremde und das Eigene, S. 257. Harbsmeier, Reisebeschreibungen als mentalitätsgeschichtliche Quellen, S. 15. Boerner, Das Bild vom anderen Land als Gegenstand literarischer Forschung, S. 30. Zur Bestimmung des Aufgabenbereichs der »Imagologie« Dyserinck, S. 125-133; sowie Dyserinck, Zum Problem der »images« und »mirages« und ihrer Untersuchung im Rahmen der Vergleichenden Literaturwissenschaft, S. 107-120. - Über den Problembestand der imagologischen Forschung informiert im Blick auf das Problem der »Fremderfahrung« Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur, S. 2 5 - 3 0 . Vgl. zu einer derartigen Bestimmung des »Bildes vom anderen Land« speziell in bezug auf »Amerika« Galinsky, Deutschlands literarisches Amerikabild, S. 4f.

wirkt die eigene Kultur auf die Wahrnehmung der Fremde ein. So hat die imagologische Forschung erkannt, daß das Bild vom anderen Land eine »antinomische« Gestalt hat.7 Es ist immer auch abhängig vom und wirkt zurück auf das Bild vom eigenen Land oder - wie es in einer reiseliteraturspezifischen Formulierung heißen sollte - : es steht in bezug zur Ausgangskultur der Reisenden. Die in Reiseberichten niedergelegte Fremderfahrung ist somit auf doppelte Weise auf das Bild vom anderen Land bezogen: Sie bezieht ihre Wahrnehmungskategorien zu einem guten Teil aus solchen vorgängigen Vorstellungen, und umgekehrt trägt sie zu ihrer Weiterbildung oder Umgestaltung bei. Deshalb ist die Untersuchung solcher »Bilder« der erste Schritt bei der Interpretation von Reiseberichten, die thematisch wie methodisch einige Anleihen beim Forschungsprogramm der Imagologie aufnehmen kann. Freilich ist dieses Programm zu eng gefaßt, als daß es die ganze Breite der Probleme abdecken könnte, die sich bei der Erforschung von Reiseliteratur stellen. Die Imagologie richtet sich auf eine Rekonstruktion der »Bilder vom anderen Land« selbst und auf den Einfluß, den solche »images« auf das Verständnis des fremden wie auch des eigenen Landes und auf das soziale und politische Verhalten von Gruppen zueinander haben können.8 Die Gründe freilich, die zur Herausbildung nicht von »images« überhaupt,9 sondern von konkreten, kulturell, national und historisch spezifizierbaren Vorstellungen über andere Kulturen geführt haben, kommen dabei kaum in den Blick. Diese Begrenzung auf die Rekonstruktion von - meist literarisch fixierten - »Bildern« und die Ausblendung der Frage nach den Ursachen ihrer Entstehung scheint eine Spätfolge der heftigen, in den 50er Jahren vor allem von René Wellek initiierten Kritik an der Imagologie zu sein, die jede Einbeziehung von außerliterarischen Fragestellungen in den Bereich der Komparatistik ächten wollte.10 Welleks Kritik hat einen langen Schatten auf die weitere literaturwissenschaftliche Entwicklung geworfen, von dem auch die Erforschung der Reiseliteratur betroffen wurde. Gewiß ist Welleks 1958 im Zusammenhang der imagologischen Diskussion noch einmal pointiert formulierte Auffassung inzwischen von der Literaturwissenschaft weitgehend überwunden, daß ein »Kunstwerk ein der freien Einbildungskraft entsprungenes Ganzes« sei, »für das sich eine hinreichende Ursache schlechterdings nicht feststellen läßt und dessen Integrität 7 8

9

10

Bleicher, Elemente einer komparatistischen Imagologie, S. 18. Vgl. Dyserinck, Komparatistische Imagologie jenseits von »Werkimmanenz« und »Werktranszendenz«, S. 37. Dyserinck hebt dieses Problem auf eine quasi-anthropologische Ebene, wenn er fragt, mit »welchem besonderen Bedürfnis des zoon politikon Mensch sie überhaupt zusammenhängen«; ebd., S. 39. Vgl. Wellek, Die Theorie der Vergleichenden Literaturwissenschaft, S. 104. Wellek kritisiert in diesem Zusammenhang auch ausdrücklich die Einbeziehung von »Reiseberichten« in den Bereich literaturwissenschaftlicher Untersuchungen vgl. ebd., S. 102. Zur Auseinandersetzung über das imagologische Programm, wie sie in der Komparatistik der fünfziger Jahre geführt wurde, vgl. Dyserinck, Komparatistische Imagologie, S. 29 und Kaiser, Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft, S. 64f.

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und Sinn wir zerstören, wenn wir es in Quellen und Einflüsse zerstückeln«." Aber auch wenn diese Auffassung inzwischen als obsolet verabschiedet wurde, tut die Literaturwissenschaft sich gelegentlich nach wie vor schwer damit, sowohl literarische Texte unter dieser von Wellek kritisierten Perspektive zu sehen wie auch Texte als Untersuchungsgegenstand zu akzeptieren, die von vornherein keinen Kunstwerkanspruch erheben.12 Die Diskussion um den legitimen Ort der Reiseliteratur im Gefüge der literarischen Gattungen ist noch nicht erloschen. So hat sich in der philologischen Reiseliteraturforschung bis in die jüngste Zeit die These erhalten, daß eine Grenze zu ziehen sei zwischen der »nichtliterarischen und der literarischen Reisebeschreibung« und daß die Grenze etwa durch eine »gewisse Sprachkraft« bestimmt werde, wodurch diese sich gegenüber jener auszeichne.13 Mit der Übernahme solcher Abgrenzungen würde sich die Reiseliteraturforschung gewiß keinen Gefallen tun. Denn mit ihnen läßt sich methodisch kaum etwas gewinnen, aber es wird einiges preisgegeben von dem, was die Untersuchung von Reiseberichten an Einsichten hervorrufen kann. Gewiß gibt es auch in dieser Gattung Abstufungen der literarischen Qualität wie auch des Grades an Authentizitätsansprüchen. Das Spektrum des Reiseberichts kann sich entfalten von der nüchternen Wiedergabe eines Reiseverlaufs über subjektiv gefärbte Tagebücher und Journale bis hin zur poetischen Wirklichkeitsgestaltung, welche - mit dem »Reiseroman« oder dem »Reisebild« - die Grenze zum Fiktionalen überschreiten kann. So läßt sich sicherlich - trotz der seinerzeit heftigen Diskussion um das Triviale in der Literatur, die nicht mehr als immer neue Nomenklaturen hervorgebracht hat - kaum bestreiten, daß in der Reiseliteratur ebenso wie in jeder anderen Gattung sinnfällige und unmittelbar einsichtige Unterschiede in der »Sprachkraft« der Autoren und damit der literarischen Qualität aufzufinden sind. Solche Unterscheidungen spielen indes bei der Erforschung jener Proble" Wellek, Die Krise der Vergleichenden Literaturwissenschaft, S. 96. Im literaturwissenschaftlichen Diskurs wirken heute solche Ansichten freilich obsolet, auch wenn sie gelegentlich durchaus noch formuliert werden, wie etwa Strelkas heftige Polemik gegen »extreme Unhaltbarkeiten« in der Literaturwissenschaft zeigt, die darin bestehen, »auch die ästhetisch völlig irrelevanten Reisebeschreibungen [...] für die Literatur im engeren Sinne zu annektieren.« Strelka, Der literarische Reisebericht (1985), S. 169. Heute wirken solche Vorbehalte ridikül, wenn sie im wissenschaftlichen Diskurs vorgebracht werden; die Wissenschaftsentwicklung aller philologischen Disziplinen ist längst darüber hinweggegangen. Dennoch sollte ihre verborgene Wirksamkeit nicht unterschätzt werden: Sie spielen häufig dort noch eine große Rolle, wo sich wissenschaftslenkende und -präformierende Entscheidungen nicht im öffentlichen Diskurs ausweisen müssen, sondern im Arkanbereich der akademischen Selbstverwaltung gefällt werden.

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4

Strelka, Der literarische Reisebericht (1971), S. 64; eine Gattungstypologie nach dem Kriterium der »epischen Integration« und der »Fiktionalität« versucht Link, Der Reisebericht als literarische Kunstform von Goethe bis Heine, S. 10. Mit wieder anderen Mitteln versucht Possin »auf der Ebene des Thematischen den »spezifischen künstlerischen Integrationsfaktor« der Reiseliteratur als ihren »Wesenskern« aufzudecken; vgl. Possin, Reisen und Literatur, S. 14.

me, welche die Reiseberichte als eigenständige Gattung - und nicht als eine beliebige Erscheinungsform von Literatur - aufwirft, kaum eine Rolle. Gerade die Untersuchung von Fremderfahrungen, wie sie den thematischen und strukturellen Kernbereich von Reiseberichten konstituieren, ist darauf verwiesen, solche Einschränkungen hinter sich zu lassen und den von Wellek formulierten Kunstvorbehalt radikal zu überwinden. Auch im Bereich der hermeneutischen Disziplinen muß Wissenschaft einen Erkenntnisanspruch erheben, der sich von einschränkenden Vorgaben den Blick nicht verstellen und sich das Fragen nicht verbieten läßt. Das Programm der Imagologie war ein erster Schritt auf einem Weg, der wohl der einzige ist, den die Reiseliteraturforschung sinnvollerweise gehen kann, wenn sie der Besonderheit ihres Gegenstandes gerecht werden will. II. Das imagologische Programm ist aber über die inzwischen traditionell gewordenen Fragestellungen der Komparatistik hinaus zu erweitern. Gerade bei der Reiseliteraturforschung stellt sich nicht nur die Frage nach den Inhalten, die in ihrer Darstellung des Fremden fixiert sind, und den Formen, in denen es sich darstellt, sondern auch die nach den Ursachen, aus denen beides hervorgegangen ist. Ein solches Programm realisieren zu wollen bedeutet zunächst, sich der sozialhistorischen Zusammenhänge zu vergewissern, in denen die Reiseberichte stehen. Diesen Anspruch auf eine reiseliteraturspezifische Weise einzulösen, ist freilich ein diffiziles Unternehmen. Denn bis heute hat sich die Literaturwissenschaft nicht darüber verständigen können, wie eine »Sozialgeschichte der Literatur« anzulegen sei, geschweige denn, wie sozialhistorische Erscheinungen auf bestimmte literarische Gattungen oder gar einzelne Texte konkret zu beziehen seien. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung von Literatur geht davon aus, daß Literatur auf soziale Wirklichkeit bezogen ist. Diese Annahme ist trivial, wenn auch - wie die Ausführungen Welleks und vieler seiner Adepten bis in die Gegenwart zeigen - nicht selbstverständlich. Es ist wohl zweifellos nicht so, daß Literatur nur unter diesem Aspekt erschöpfend zu behandeln sei. Daß auch ganz andere Fragestellungen ihren Erkenntniswert haben und zur Komplettierung sozialgeschichtlicher Ansätze herangezogen werden können oder müssen, steht außer Frage. Daß aber andererseits der Reisebericht mehr als manche andere literarische Gattung zu jenen Gegenstandsbereichen gehört, für die eine verstärkte Berücksichtigung sozialgeschichtlicher Fragestellungen unverzichtbar ist, läßt sich ebenfalls kaum bestreiten, denn er ist per definitionem und seinem eigenen Anspruch nach stets auf die aktuelle Wirklichkeit seiner Zeit bezogen. Wie aber diese Bezogenheit von Reiseberichten und literarischen Texten überhaupt auf die soziale Wirklichkeit zu denken sei, ist ein bisher grundsätzlich noch nicht gelöstes Problem, das wahrscheinlich auch grundsätzlich gar nicht zu 5

lösen ist, sondern nach Gegenstandsbereichen und wohl auch Epochen spezifizierte Antworten fordert. Die neuere literaturwissenschaftliche Diskussion ist seit langem im Begriff, sich von der traditionell gewordenen Vorstellung zu lösen, daß die Beziehung von Texten zur sozialen Wirklichkeit als ein wie immer raffiniertes und gebrochenes Verhältnis von Realität und ihrer Abbildung, »Widerspiegelung« oder sonst einer Art von Wiedergabe sei, bei der auch eine Hierarchisierung von Text und Wirklichkeit vorausgesetzt werden müsse. Eine solche methodologische Position impliziert die Annahme einer grundlegenden Dichotomie von sozialer Wirklichkeit und Literatur. Dabei ignoriert sie die Tatsache, daß Literatur - wie immer sie auch ihr Selbstverständnis in dieser Beziehung formuliert - der Wirklichkeit nicht einfach gegenübersteht, sondern ihr zugehört. Sie ist selbst Teil der sozialen Handlungszusammenhänge, aus denen sie hervorgegangen ist und auf die sie sich bezieht. In diesen Zusammenhängen kann sie durchaus eine eigenständige Funktion wahrnehmen,14 aber sie kann legitimerweise ihnen gegenüber keinen eigenständigen ontischen Status reklamieren. Daß alle Texte - das gilt für vermeintlich »autonome« Texte ebenso wie erst recht für solche, die, wie Reiseberichte, erklärtermaßen soziale Funktionen übernehmen wollen - stets auf soziale Handlungszusammenhänge und Lebenspraxis bezogen sind und ihnen damit selbst eine gesellschaftliche Konstituente eingezogen wird, ist eine kaum hintergehbare Einsicht der neueren literaturwissenschaftlichen und ästhetischen Diskussion, die nicht auf einzelne Textarten beschränkt bleiben kann. 15 Literatur, gleich welcher Art, als eingebettet in Handlungszusammenhänge zu begreifen bedeutet zunächst, sie selbst als ein Handeln aufzufassen, das in doppelter Weise bestimmt ist: Literarisches Handeln ist eine »Funktion von übergreifenden gesellschaftlichen Konstellationen und Prozessen, und es hat eine Funktion für die Situierung und Veränderung von gesellschaftlichen Vorgängen«.16 An dieser Aussage kann festgehalten werden, auch wenn sicherlich für die einzelnen literarischen Bereiche ganz erhebliche Unterschiede in der konkreten Ausgestaltung und Gewichtung dieser beiden Funktionen konstatierbar sein werden. Daß aber jedenfalls in der Gattung des Reiseberichts die Texte sich gleichermaßen - wie es von sozialgeschichtlichen Ansätzen seit je für die Literatur überhaupt reklamiert wurde - als bedingt durch ihr gesellschaftliches Umfeld darstellen, wie sie auch - was dagegen oft vernachlässigt wird - konkret greifbare Funktionen innerhalb dieses Umfeldes wahrnehmen wollen und auch tatsächlich wahrnehmen, ist durch die Geschichte der Gattung hinreichend be14

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16

6

Zum Problem der »Autonomie« der Literatur in einem sozialgeschichtlichen Konzept vgl. Pfau/Schönert, Probleme und Perspektiven einer theoretisch-systematischen Grundlegung für eine >Sozialgeschichte der Literatur^ S. lOf. Vgl. Jendricke, Sozialgeschichte der Literatur, S. 72. Jendricke wendet sich hier gegen Versuche, die Differenz zwischen Gebrauchsliteratur und autonomer Literatur aufgrund des Kriteriums von Funktionalität oder Nicht-Funktionalität zu begründen. Pfau/Schönert, Probleme und Perspektiven einer theoretisch-systematischen Grundlegung für eine >Sozialgeschichte der Literatur^ S. 11.

legt. Wie in kaum einer anderen literarischen Gattung werden diese Zusammenhänge beim Reisebericht oft handgreiflich sichtbar, da er sich in seiner Gattungsgeschichte fast stets als »zweckorientierte« und kaum einmal als »autonome« Literatur definiert hat.17 Reiseberichte in diesem Sinne nicht nur tatsächlich, sondern auch ihrem Selbstverständnis nach als eingebettet in soziale Handlungszusammenhänge zu verstehen, erfordert die Preisgabe der Vorstellung, daß sie bloße Abbildung realer Verhältnisse oder einfach nur Wiedergabe individueller Erfahrungen seien. Damit wird auch die Frage neu aufgeworfen, wie der »Quellenwert« von solchen Texten zu fassen sei. Das ist die andere Problemdimension, die sich der Erforschung des Reiseberichts stellt. Während auf der einen Seite die Reduktion auf seinen »Kunstwerkcharakter« droht, besteht auf der anderen Seite die Gefahr, ihn auf seinen Charakter als Quelle oder historisches Dokument zu reduzieren. Auch diese Dimension von Reiseberichten ist besonders von der geschichtswissenschaftlichen Forschung einläßlicher diskutiert worden. Daß Reiseberichte bloße Wiedergabe von Realität seien, ist eine Vorstellung, die in dieser naiven Form längst preisgegeben wurde; ohnehin wurde sie in der neueren Forschung zumindest in der theoretisch-methodologischen Diskussion kaum einmal ernsthaft vertreten, wenn sie auch in der historiographischen Praxis durchaus hin und wieder anzutreffen ist. Die historisch orientierten Disziplinen von der Geschichtswissenschaft bis zur Ethnohistorie sind sich in der Regel der Tatsache bewußt, daß der Quellenwert von Reiseberichten zahllosen individuellen wie überindividuellen Einschränkungen unterliegt, weshalb solche Texte nur unter strenger methodischer Kontrolle in bezug auf ihre Aussagen über die historische Wirklichkeit auszuwerten seien.18 Freilich beschränken sich diese Überlegungen in der geschichtswissenschaftlichen Erforschung von Reiseliteratur durchgehend auf die empirisch faßbaren Aspekte jener Erkenntnisbeschränkungen, denen Reisende unterworfen waren oder sein können: auf die »geschichtlich jeweils möglichen Formen der Erkenntnis« und auf »die ideologischen Fesseln, denen ganze Epochen, ganze Nationen oder soziale Schichten unterlagen«, die in ihrer »Wirkung auf den Realitätsgehalt der Reiseliteratur herausgearbeitet werden müssen«.19 Bereits angesichts der Komplexität dieser einschränkenden Bedingungen stellt sich die Frage, ob es überhaupt noch sinnvoll ist, hinter den Reiseberichten eine »objektive Welt« oder die »Dinge selbst«20 zu suchen. 17 18

19

20

Zum Begriff der Zweckliteratur vgl. Sengle, Vorschläge zur Reform der literarischen Formenlehre, S. 17. Die Probleme der Reiseliteratur als einer historischen Quelle werden diskutiert bei Huck, Der Reisebericht als historische Quelle, S. 27-44; M^czak, Zu einigen vernachlässigten Fragen der Geschichtsschreibung über das Reisen in der frühen Neuzeit, S. 315-323; Bitterli, Der Reisebericht als Kulturdokument, S. 555-564. Huck, Der Reisebericht als historische Quelle, S. 32; vgl. auch Mikoletzky, Die deutsche Amerika-Auswanderung des 19. Jahrhunderts in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur, S. 39. Huck, Der Reisebericht als historische Quelle, S. 31f.

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Diese Frage stellt sich erst recht, wenn das Problem des Verhältnisses von Realität und Text in jener Grundsätzlichkeit gefaßt wird, wie es die neuere sozialgeschichtlich orientierte Diskussion in der Literaturwissenschaft verlangt. Denn wenn Texte als Teil von sozialen Handlungszusammenhängen und nicht als ihre - wie immer auch verzerrte und verstellte - Abbildung oder als Wiedergabe von Teilaspekten begriffen werden, dann verliert die Frage nach der zugrundeliegenden Realität viel von ihrem Sinn. Was in solchen Texten Wiedergabe von Realität zu sein beansprucht, erscheint unter dieser Perspektive als ein Teil der sozialen Zusammenhänge, in welche die Texte eingelassen sind. Die vermeintliche Wirklichkeitsdarstellung wird zu einer »Wirklichkeitsauffassung«, welche eine bestimmte Kultur zu einer bestimmten Zeit hervorbringt, um ihre eigene soziale Realität zu deuten und in eins damit auch eingreifend zu gestalten. Diese Wirklichkeitsauffassung ist immer handlungsbezogen, da sie Teil des Orientierungswissen ist, welches eine Gesellschaft ihren Mitgliedern bereitstellt. Wenn Reiseberichte als integriert in soziale Handlungszusammenhänge begriffen und ihre »Wirklichkeitsdarstellung« als Teil einer »Wirklichkeitsauffassung« gefaßt werden, dann verbietet es sich zunächst grundsätzlich, die bereits von der imagologischen Forschung überwundene historiographische Frage nach der »Richtigkeit« ihrer Aussagen zu stellen und sie an der mit den Methoden der Historiographie erschlossenen historischen Wirklichkeit zu messen.21 Die Frage »in welchem Umfang und mit welcher Exaktheit Elemente« der Realität in der Darstellung authentischer oder fiktionaler Texte aufgenommen wurden,22 verliert unter dieser Perspektive ihren Sinn - ganz abgesehen davon, daß zuvor die Frage beantwortet werden müßte, was denn als »Realität« und entsprechend als realitätsgerechte oder »realitätsnahe« Schilderung angesehen werden kann. 23 III. Aber auch ein bloß sozialgeschichtlich orientierter Forschungsansatz, der nach den soziokulturellen Bedingtheiten der Texte fragte, griffe zu kurz. Es käme eben darauf an, die in Reiseberichten niedergelegte Wirklichkeitsauffassung so 21

22 23

8

Mikoletzky, Die deutsche Amerika-Auswanderung des 19. Jahrhunderts in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur, S. 21. Ebd., S. 39. Ebd., S. 171. D a s ist die crux der Darlegungen Mikoletzkys, die immer wieder die Frage stellen, wie die untersuchten Texte - es handelt sich um »fiktionale« Darstellungen der deutschen Amerika-Auswanderung im 19. Jahrhundert - sich zur Realität ihrer Zeit verhalten. Als Realität begreift Mikoletzky gerade das, was nicht mehr real ist: den mit den Methoden der Geschichtsschreibung gewonnenen statistischen »Normalfall«, der selbst eine wissenschaftliche Fiktion durch Abstraktion ist und durchaus nicht ausschließt, daß eine von ihm abweichende Darstellung sich auf ein sehr konkretes »reales« Erlebnis stützen kann. Charakteristisch für dieses Verfahren ist Mikoletzkys Einwand gegen eine Schilderung Gerstäckers, die »man wohl als Realitätsbeschreibung nicht allzu ernst nehmen« dürfe, »obwohl es einzelne historische Belege auch für so etwas gibt«. Ebd., S. 204.

zu rekonstruieren, daß sie als Teil von Handlungszusammenhängen erkennbar und damit deutlich wird, daß Reiseberichte wie literarische Texte überhaupt gleichermaßen abhängig sind von und beitragen zur Ausbildung von »Verhaltensmustern, Handlungsformen, Sinngebungsakten und Weltdeutung.«24 Dabei ist zunächst die Überlegung hilfreich, daß Reisende die Wirklichkeiten, aus denen sie gekommen sind und in die sie gehen, nicht nur - in einem wie auch immer verzerrten Sinne - »wahrnehmen«, sondern daß sie sie »erfahren«. Die eigene wie die fremde Wirklichkeit stellt sich ihnen nicht im Akt einer reinen Erkenntnisleistung dar; sie ist eine »Erfahrung«, die eingebunden ist in soziale und noch tiefergreifende »lebensweltliche« Zusammenhänge, welche der Wahrnehmung ihre meist nicht bewußten Vorgaben mitteilen. Die Rekonstruktion dieser Vorgaben ist die primäre Aufgabe einer Interpretation, die anderes leisten will als die bloße Nachzeichnung des Bildes, das die Reiseberichte von der fremden Wirklichkeit entwerfen. Diese Vorgaben sind komplex. Es wäre eine Illusion zu glauben, sie jemals in ihrer ganzen Komplexität erschließen oder auch nur benennen zu können, denn sie sind geprägt von jenen elementaren Einstellungen, Denk-, Wahrnehmungsund Verhaltensformen, mit denen Menschen sich in ihrer sozialen wie natürlichen Umgebung orientieren und behaupten. Diese Formen sind zudem nicht nur Eigentum eines Individuums, sondern Bestandteil einer überindividuellen Mentalität, wie sie einzelne Gruppen in bestimmten soziokulturell definierten Zusammenhängen herausbilden: Die »Mentalität ist geprägt von den vorgängigen Interpretationshorizonten, in denen Menschen leben und sich und ihre Welt verstehen«.25 In Mentalitäten legen soziokulturell oder aber eben durch ihre gemeinsame »Mentalität« definierte Gruppen 26 ihr Verhältnis zur Wirklichkeit in jeder Beziehung fest. Mentalitäten stellen die »geistigen Werkzeuge« bereit, unter denen Wirklichkeit überhaupt erst wahrgenommen werden kann. 27 Insoweit erscheinen sie als Bedingungen der Möglichkeit der Wahrnehmung von Wirklichkeit überhaupt. Damit kommen sie dem nahe, was Ernst Cassirer in seiner kulturgeschichtlichen Wendung der kantischen Transzendentalphilosophie mit dem Begriff der »symbolischen Formen« zu erfassen versucht hat. Nach Cassirers Konzept wird die Realität in der Wahrnehmung formiert durch für das erkennende 24 25 26

27

Vgl. Landwehr, Fiktion und Nichtfiktion, S. 397. Nipperdey, Die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft, S. 52. Zum Problem der »Gruppengenese« durch Mentalitäten oder aber »vor und außerhalb der Mentalitätsbildung« vgl. Sprandel, Erfahrungen mit der Mentalitätengeschichte, S. 107. Zu dem von Febvre in seiner großen Rabelais-Studie verwendeten plastischen Begriff »outillage mental« Febvre, Le Problème de l'Incroyance au XVI e Siècle, S. 157f. Dazu auch Duby, Histoire des mentalités, S. 952. - Dubys Aufsatz stellt nach wie vor die klarste Darlegung der Intentionen, Verfahren und Probleme mentalitätsgeschichtlicher Forschung dar. - Eine ebenfalls klare Darlegung der Probleme und Lösungsansätze gibt der Forschungsbericht von Jockel, Die »histoire des mentalités«, S. 146-173; zum »outillage mental« vgl. ebd., S. 149.

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Subjekt nicht hintergehbare »geistige Funktionen«, die historisch gewachsen sind und innerhalb ihres jeweiligen Geltungsbereichs einen quasi-transzendentalen Status erhalten: »durch sie allein erblicken wir und in ihnen besitzen wir das, was wir die >Wirklichkeit< nennen [...]. Auf die Frage aber, was das absolut Wirkliche außerhalb dieser Gesamtheit der geistigen Funktionen« sein möge, gibt es keine Antwort mehr. 28 Dieser Versuch einer Neubegründung der Transzendentalphilosophie auf empirisch-kulturgeschichtlicher Basis verdankt ebenso wie die in der französischen Geschichtswissenschaft der zwanziger Jahre entstandene Konzeption einer »Mentalitätsgeschichte« wesentliche Impulse den ethnographischen Forschungen des Strukturalismus, der das Denken - oder wie Levy-Bruhl eben die »Mentalität« - der »Primitiven« untersucht hatte.29 In einer zentralen Hinsicht unterscheiden sich die beiden Konzeptionen jedoch deutlich: Cassirer bleibt seiner kantischen Tradition insofern verpflichtet, als er seine Untersuchungen auf die symbolischen Formen als Wahrnehmungs- und Denkformen wenn nicht reduziert so doch konzentriert. Gegenüber dieser Beschränkung greift das Mentalitäts-Konzept weiter aus. Es umfaßt nicht nur kognitive Einstellungen zur Welt. In Mentalitäten wird vielmehr gleichermaßen die Erkenntnis von Wirklichkeit durch das Bewußtsein und durch Einstellungen, durch Ideen, Theorien oder Ideologien präformiert, wie auch das Verhalten durch sie bestimmt wird. Mentalitäten sind »lebensweltlich« verankert. 30 Sie gehen aus einer Lebenswelt hervor, in der sie Funktionen der Orientierung und der Selbstbehauptung im »Zusammenhang mit Herrschaft und Arbeit, mit den politischen und mit den sozialen und ökonomischen Strukturen einer Zeit« erfüllen, sie sind also auch in Handlungen involviert.31 Diese Bestimmungen legen es nahe, den Zugang zur Interpretation der in Reiseberichten formulierten Fremdwahrnehmungen über eine Rekonstruktion der Mentalitäten zu suchen, in denen die Texte und ihre Autoren fundiert sind. Das »Mentalitäts«-Konzept der historiographischen Forschung nimmt die wesentlichen Momente dessen in sich auf, was berücksichtigt werden muß, wenn Texte als integrierende Teile von sozialen Handlungszusammenhängen begriffen werden sollen; und nicht zuletzt deshalb dürfte der Rekurs auf mentalitätsgeschichtliche Forschungen zur Zeit gerade in der Literaturwissenschaft wieder 28 29

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Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen I, S. 48. Zu den Ursprüngen der »Mentalitätsgeschichte« aus der Tradition der »Annales« vgl. Iggers, Neue Geschichtswissenschaft S. 80 sowie den Kontext S. 55-96; Le Goff, Les mentalités. Une histoire ambiguë, S. 82-85; zum Einfluß Lévy-Bruhls vgl. S. 83. - Zu Cassirers Einarbeitung der ethnographischen Forschung seiner Zeit (zu Lévy-Bruhl vgl. etwa Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen II, S. 49; S. 60, S. 63 u. ö.) und zur Auseinandersetzung mit ihr vgl. Bidney, On the Philosophical Anthropology of Ernst Cassirer and its Relation to the History of Anthropological Thought, S. 517 bis 527. Sellin, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, S. 573; Teilenbach »Mentalität«, S. 18f. Nipperdey, Die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft, S. 45. Nipperdey bezieht sich hier auch auf Habermas; vgl. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 289.

Konjunktur haben, da er geeignet erscheint, die Einseitigkeiten einer ästhetisierenden ebenso wie einer sozialgeschichtlich reduzierenden Literaturwissenschaft zu überwinden. Die Mentalitätsgeschichte scheint eine Vermittlungsmöglichkeit und einen Ausweg anzubieten aus »der unglücklichen Alternative zwischen einer Geistesgeschichte, aus der die Gesellschaft ausgespart bleibt, und einer Sozialgeschichte, die das Denken ausklammert«. 32 Das neu erwachte Interesse der Literaturwissenschaft - ebenso wie der Geschichtswissenschaft - an der Mentalitätsgeschichte manifestiert sich in einer Fülle von Publikationen, die meist in methodologischer Reflexion der Möglichkeiten und seltener die Grenzen dieses Ansatzes zu erkunden bestrebt sind.33 Daß dieser Ansatz aber seine Grenzen hat, ist unübersehbar. Sie werden schon daran sichtbar, daß der Fülle der neueren Klärungsversuche nur eine geringe Anzahl meist älterer Arbeiten aus der französischen Tradition der »Annales« gegenübersteht, in denen das Konzept einmal überzeugend durchgeführt wird.34 Die Grenzen des Ansatzes sind die Kehrseite seiner Stärken: Im »Mentalitäts«-Konzept sollen potentiell sämtliche Komponenten berücksichtigt werden, die in die Konstitution des Denkens und Handelns hineinwirken. Alle diese Komponenten in ein einheitliches Konzept einzubringen und in einem einzigen Begriff erfassen zu wollen, muß notwendig mit dem Preis einer erheblichen Unschärfe erkauft werden. Diese Unschärfe ist auch der Hauptansatzpunkt der Kritiker dieses Konzepts. Die Kritik konzentriert sich in der Frage, wie so komplexe und diffuse Gebilde wie »Mentalitäten« dem Blick des Historiographen überhaupt zugänglich werden können und ob eine genaue Nachzeichnung von Mentalitäten selbst nicht wieder diffus und damit ohne Erkenntniswert bleiben muß. Dieser Gefahr ist wohl nur zu entgehen, wenn die Komplexität wieder methodisch reduziert wird. Es kann nicht Aufgabe wissenschaftlicher Forschung sein, in mimetischer Anschmiegung an ihren Gegenstand diesen noch einmal zu reproduzieren. Sie muß sich vielmehr klar Rechenschaft ablegen über ihre Erkenntnisinteressen und -ziele, um dementsprechend die diffuse Komplexität der ins Auge gefaßten Mentalitäten methodisch zu strukturieren. Dabei stellt sich zunächst die Frage nach den Quellen, die einen privilegierten Zugang zu vergangenen Mentalitäten bieten können. Da Mentalitäten als kollektive Phänomene auftreten, ist es nur konsequent, wenn die einschlägige Forschung sich stets bevorzugt jenen Quellen zugewandt hat, die als entindividualisierte Zeugnisse der Vergangenheit auftreten. Zu diesem Quellentypus gehören die hier ins Auge gefaßten Texte der »Amerika«-Literatur des 19. Jahrhunderts, für die sich ein in diesem Sinne präzisiertes mentalitätsgeschichtliches Forschungsprogramm anbietet. Gewiß sind die meisten der Texte benennbaren Au32 33 34

Burke, Stärken und Schwächen der Mentalitätengeschichte, S. 128. Vgl. den Forschungsbericht von Reichardt, »Histoire des Mentalités«, S. 130-166. Die wichtigsten Arbeiten werden genannt bei Reichardt, »Histoire des Mentalités«, S. 134-138; Mandrou, (Art.) Histoire 5, S. 438; Duby, Histoire des mentalités, S. 966; Le Goff, Les mentalités, S. 93f.

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toren zuzuordnen, auch wenn nicht in jedem Fall die Biographie dieser Verfasser noch präsent zu machen ist. Dennoch zeichnen sich diese Texte - wie überhaupt die meisten Zeugnisse aus der Geschichte des Reiseberichts - gerade dadurch aus, daß ihnen nur ein beschränktes Arsenal von Inhalten und Formen zur Verfügung steht, das eine ständige Wiederkehr des Gleichen in den verschiedenen Texten zur Folge hat, denn die Texte gehören überwiegend zu jenem Typus von Reiseliteratur, die sich nicht als Bestandteil einer Hochkultur und -literatur darstellt. Die Auswahl der Dokumente bezieht sich also nicht auf Manifestationen des elaborierten Sprachverhaltens bestimmter sozialer Schichten, die in »hochstilisierten Formen leben oder neue Formen der Weltauslegung« schaffen.35 Gewiß dürfen auch diese Zeugnisse nicht vernachlässigt werden, aber erst der Blick auf Zeugnisse der Massenkultur, die oft genug Manifestationen sprachlicher Ohnmacht sind, erlaubt den Zugriff auf die zeitspezifische Mentalität, aus der sie hervorgegangen sind.36 Es sind Quellen, die sich nicht als Ergebnis bewußter Gestaltung darstellen, sondern in denen formelhaft unreflektierte Bestände artikuliert werden und die deshalb von der mentalitätsgeschichtlichen Forschung seit ihren Anfangen bevorzugt wurden.37 Dabei wurde auch die Frage aufgeworfen, ob fiktionalen Texten gegenüber solchen mit Authentizitätsanspruch ein Sonderstatus zuzusprechen sei. In der mentalitätsgeschichtlichen Forschungstradition haben sie keine dominierende Rolle gespielt, auch wenn sie gelegentlich für die Rekonstruktion bestimmter Teilbereiche von »Mentalität« als unverzichtbar angesehen wurden.38 Das Problem des möglicherweise besonderen Status, den literarische Zeugnisse gegenüber anderen Quellentypen haben, ist noch nicht abschließend diskutiert. So wurde darauf hingewiesen, daß literarische Texte nicht nur Mentalität abbilden oder ihr »homolog« seien, wie es die mentalitätsgeschichtliche Forschung in der Regel unterstellt, sondern daß sie Mentalitäten auch gestalten. Sie beziehen sich auf das in ihnen niedergelegte Alltagswissen, indem sie »seine Strukturen und seine Widersprüche, die Möglichkeiten zu seiner Affirmation, aber auch zu seiner Negation« zeigen.39 Es ist wohl unbestreitbar, daß innerhalb des Korpus von Dokumenten, welche von mentalitätsgeschichtlichen Entwicklungen hervorgebracht wurden, ein Komplex von Texten abgrenzbar ist, dem solche Eigenschaften zukommen. Das Problem spielt indes bei der Erforschung von Reiseberichten keine zentrale Rolle, da ihnen ein »literarischer« Status im Sinne eines 35 36 37 38 39

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Nipperdey, Die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft, S. 44. Vgl. auch Greverus, Der territoriale Mensch, S. 2 - 4 . Vgl. hierzu auch Le Goff, Les mentalités, S. 88. Le Goff, Les mentalités, S. 85-90. Ebd., S. 86f. Vgl. Röcke, Die Aktualität der Anfänge, S. 44. Dieser Gedanke wird noch stärker in den Vordergrund gestellt von Bachorski, Ein Durchgraben zu den Wurzeln hin ..., S. 161-163. - Auch innerhalb der mentalitätsgeschichtlichen Forschung gibt es eine durch Duby und Le Goff repräsentierte Richtung, die nicht das »Formelhafte der Vorstellungen«, sondern das »kreative Vermögen des Menschen« in den Vordergrund stellt. Jockel, Die »histoire des mentalités«, S. 152.

emphatischen Literaturbegriffs kaum einmal zugesprochen werden kann und auch grundsätzlichere Erwägungen dagegen sprechen, für Reiseberichte überhaupt das Fiktionalitäts-Kriterium als ein Definitionsmerkmal anzusetzen. 40 Gerade die Untersuchungen Mikoletzkys, die der Auswahl ihres Textkorpus das Kriterium der Fiktionalität zugrundlegte, zeigen die Unangemessenheit einer solchen Scheidung. Mikoletzky läßt sich von der Erwägung leiten, daß fiktionale Texte Auskunft geben könnten über »Einstellungen, Werte, Normen, Bewußtseinszustände« und daß sie »in bezug auf kollektive Einstellungen« oft die einzig verfügbaren Quellen darstellten. 41 Der fiktionalen Literatur über die deutsche Auswanderung des 19. Jahrhunderts wird darüber hinaus eine »besondere Leistung« für »den Leser des 19. Jahrhunderts« zugeschrieben: Sie erbringe eine »Orientierungs- oder Lebenshilfefunktion« und sei bemüht, das »Phänomen der Auswanderung als ganzes zu deuten, in einen sinnvollen Bezug zur bisher bekannten alltäglichen Lebenserfahrung zu bringen«. 42 Damit erfülle sie schließlich auch eine Kompensationsfunktion; sie erscheine als »Indiz« für die durch die Massenauswanderung und den Modernisierungsprozeß »ausgelösten affektiven Spannungen der Leser und als Dokument für den Versuch, diese Spannungen zu neutralisieren.« 43 Das alles ist zweifellos richtig und wird durch die Untersuchungen Mikoletzkys in erschöpfender Ausführlichkeit belegt. Nicht richtig ist jedoch die Annahme, daß dies eine spezifische und nur von ihr zu erbringende Leistung fiktionaler Literatur sei. Alle diese Leistungen werden in gleicher Weise von nicht-fiktionalen Texten erbracht - in authentischen Reiseberichten und überhaupt der »expositorischen« Literatur, die sich im Umfeld der Amerika-Thematik etabliert hat. 44 Diese Textarten erscheinen ungeachtet ihres »Fiktionalitäts«- oder »Authentizitäts«-Status als Ausdruck der gleichen zugrundeliegenden Mentalität und ihrer Wirklichkeitsauffassung. Häufig genug verschwimmen gerade in diesem Bereich der Literatur des 19. Jahrhunderts die Grenzen bis zur UnUnterscheidbarkeit, da die literarischen Gestaltungsmittel in beiden Bereichen oft die gleichen sind: Auch in Reiseberichten oder Auswandererratgebern finden sich Elemente realitätsferner Gestaltung; während umgekehrt auch Romane sich oft sehr eng an die erlebte Realität ihres Autors anlehnen und ihnen eine dezidierte Informationsabsicht zugrunde liegt. 40

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Neuber, Zur Gattungspoetik des Reiseberichts, S. 51f.; zur Entstehung der Authentizitätsforderung gegenüber dem Reisebericht und ihren Ursachen in der Frühen Neuzeit, sowie zu den Strategien zu ihrer Einlösung vgl. Neuber, Die frühen deutschen Reiseberichte aus der Neuen Welt, S. 4 4 - 4 7 . Mikoletzky, Die deutsche Amerika-Auswanderung des 19. Jahrhunderts in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur, S. 29. Ebd., S. 323. Ebd., S. 32; vgl. auch S. 324. Die Kategorie des »Expositorischen« wird hier als ein heuristischer Sammelbegriff eingesetzt, der die umgangssprachlichen Konnotationen des gelegentlich verwendeten Begriffs der »Gebrauchs-« oder »Zweckliteratur« vermeiden soll, welcher häufig auch im engeren Sinne von politisch orientierter Literatur verwendet wird. Zu einer ersten Begriffsabgrenzung und -bestimmung vgl. Belke, Literarische Gebrauchsformen, S. Ii. 13

D a s läßt es nicht sinnvoll erscheinen, die »Fiktionalität« oder »Authentizität« v o n Texten als Auswahlkriterium anzusetzen. Mentalitätsgeschichtliche Untersuchungen sollten vielmehr alle Quellentypen heranziehen, die A u s k ü n f t e über Mentalitäten zu geben vermögen. 4 5 I m Zentrum sollten dabei zwar Reiseberichte stehen, die sich auf eigene Erfahrungen der Autoren gründen, da hier der Kulturkontakt a m intensivsten thematisiert wird; aber nicht nur Reiseberichte geben A u s k u n f t über die Konfrontation mit der fremden Kultur und die Mentalität, die dieser Konfrontation zugrundeliegt. Sie wird ebenso thematisiert in Publikationen wie Autobiographien, Erinnerungen oder auch Reiseführern der verschiedensten Art; daneben geographiewissenschaftlichen Handbüchern, politischen D o k u m e n t e n , 4 6 Zeitungsberichten 47 und eben Zeugnissen mit Fiktionalitätsanspruch. 4 8

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Daß die Unterscheidung von Fiktionalität und Authentizität mit ihrer Voraussetzung eines irgendwie gearteten Zu- und Unterordnungsverhältnisses von Realität und Texte kein geeignetes Modell für mentalitätsgeschichtlich orientierte Untersuchungen darstellen kann, wurde schon früh gesehen und unter den betreffenden französischen Historikern - auch denen marxistischer Provenienz - wohl durchgehend anerkannt; vgl. Jockel, Die »histoire des mentalités«, S. 165f.; S. 169-171. - Zur Auffassung des Verhältnisses von »Text« und »Realität« in der mentalitätsgeschichtlichen Forschung vgl. auch Chartier, Intellektuelle Geschichte und Geschichte der Mentalitäten, S. 91f. Über die Entwicklungen des eher politisch orientierten Amerika-Bildes gibt Auskunft Fraenkel, Einleitung, S. 11-48. Als besonderer Fall in der Forschung über das Amerika-Bild erscheint die von der Forschung kaum einmal berücksichtigte Dissertation von Thaller, Studien zum europäischen Amerikabild. Thaller stellt sich die höchst verdienstvolle Aufgabe, durch die umfangreiche Sichtung von Zeitungsberichten über einen Zeitraum von hundert Jahren die Entwicklung des Amerikabildes und die Ursachen für diese Entwicklung in Großbritannien, Deutschland und Österreich zu rekonstruieren. Die Auswertung von knapp zwanzig deutschsprachigen Zeitschriften hätte in der Tat über »Veränderungen des Amerikabegriffes über die Jahre hinweg« wichtige Aufschlüsse geben können (vgl. eb4-, S. 567). An dieser Aufgabe ist aber der Verfasser auf eine deplorable Weise gescheitert. Die Arbeit verdankt ihren Umfang von 1235 Typoskriptseiten lediglich der Unfähigkeit des Verfassers, seinen Gegenstand in irgendeiner Weise gedanklich zu durchdringen oder ihn auch nur zu strukturieren und zu konturieren. Die enorme Fülle des Materials wird dem Leser vollkommen ungeordnet in zwei umfangreichen - einmal chronologisch und einmal systematisch angelegten - Durchgängen dargeboten, die sich sachlich kaum unterscheiden, was zu einer Fülle von Wiederholungen führt. Die rein paraphrasierende, gelegentlich mit Detailhinweisen auf die politische Situation in Europa oder den USA versehene Wiedergabe des Materials hinterläßt einen wirren Gesamteindruck, aus dem weder chronologische »Entwicklungen« noch klare Differenzen zwischen den drei untersuchten Ländern deutlich werden. Während die Untersuchung der Presseberichte zumindest noch eine große Zahl von wichtigen Materialien bereitstellt, sind die periodisch eingeschobenen Kapitel über »Reisebeschreibungen und andere Amerikaliteratur« (vgl. S. 45-50; S. 95-100; S. 191-196; S. 239-244; S. 287-292; S. 335-340; S. 383-389) zumindest in bezug auf die deutschen Reiseberichte völlig unbrauchbar. Thaller arbeitet hier fast ausschließlich ohne Quellen und stützt sich nur auf die ältere Forschungsliteratur. - Die grobe Fahrlässigkeit, mit der der Verfasser in Fragen des Stils, der Orthographie und der Interpunktion zu Werke geht, macht die Lektüre seiner Arbeit noch unerfreulicher. Es ist bedauerlich, daß ein

Einen Sonderfall unter den Textarten stellen die Auswandererbriefe dar. Nicht nur in ihrer formalen Gestalt, sondern auch in ihren spezifischen Interessen an und ihren Urteilen über Amerika weichen sie in weiten Bereichen so erheblich von der publizierten Ratgeber- und Reiseberichtliteratur ab, daß zu überlegen wäre, ob sie nicht als eine eigenständige Gattung innerhalb der Amerika-Literatur zu behandeln wären. Dieser Befund legt die - allerdings noch sorgfältig zu prüfende - Konsequenz nahe, eine Grenze zu ziehen nicht zwischen fiktionaler und authentischer Literatur, sondern zwischen privaten und für den öffentlichen Gebrauch bestimmten Texten.49 Gegenüber diesen zeichnen sich die Privatbriefe dadurch aus, daß sie sich durchgehend und ausschließlich auf den unmittelbaren Erfahrungsraum der Briefschreiber beziehen; sie partizipieren kaum einmal an den öffentlichen Diskussionszusammenhängen und den Themen der Amerika-Problematik, die von diesen exponiert werden.50 Die verschiedenen Textarten der amerikabezogenen Literatur werden zusätzlich zu den Reiseberichten in größerem Umfang herangezogen, um deren Umfeld in weiteren Zusammenhängen zu beleuchten. Als wesentliches - wenn auch im Einzelfall nicht unbedingt ausschließendes - Auswahlkriterium wird dabei die reale Amerika-Erfahrung des Autors angesetzt. Die Untersuchung solcher Dokumente über die Amerika-Erfahrung des 19. Jahrhunderts in Deutschland will zunächst eine Beschreibung von Textstrukturen und -inhalten leisten, vor allem aber den Gründen für die konkrete Erscheinungsform dieser Texte in Form und Inhalt auf die Spur kommen.

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so großer Arbeitsaufwand vertan worden ist; aber immerhin liefert Thaller eine Fülle von Material, das in anderen Zusammenhängen durchaus brauchbar zu verwenden ist. Einen Überblick über die literarische und ideengeschichtliche Entwicklung des Amerika-Bildes gibt die immer noch unüberholte Studie von Jantz, Amerika im deutschen Dichten und Denken, Sp. 310-371. - Die Untersuchungen zum »literarischen« Amerika-Bild im engeren Sinne werden bis zum Anfang der siebziger Jahre von Galinsky dargestellt; vgl. Galinsky, Deutschlands literarisches Amerikabild. Mikoletzkys Untersuchungen zur »deutschen Amerika-Auswanderung in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur« haben ihren eigentlichen - durchaus nicht geringen - Wert darin, daß sie mit sehr traditionellen Mitteln der Literaturwissenschaft eine motivgeschichtliche Untersuchung auf breiter Quellenbasis vorlegt, die durch umfangreiches dokumentarisches Material über Autoren sowie Produktions- und Rezeptionsprozesse arrondiert wird. Auch diese Grenze ist natürlich nicht eindeutig zu ziehen. Viele Reiseberichte und Ratgeber sind äußerst individualistisch konzipiert und kommen damit den Privatbriefen nahe, während umgekehrt bereits seit dem dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts private Briefe in deutschen Zeitungen und eigenen Sammelbänden publiziert wurden und damit eine den Ratgebern entsprechende Funktion erhielten. Vgl. Helbich/Kamphoefner/Sommer, Einführung, S. 46. Hier auch Hinweise auf die zahlreichen inzwischen vorliegenden Publikationen von Briefsammlungen. Diese These von der Differenz zwischen öffentlichen und privaten Texten kann in den folgenden Untersuchungen nur sporadisch, im Rückgriff auf einige der inzwischen publizierten Briefsammlungen, angesprochen werden. An Einzelstellen wird dabei die Diskrepanz zwischen den beiden Textarten angedeutet; grundsätzlich wäre aber die These in einer eigenen Untersuchung zu entfalten.

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IV. Eine solche Untersuchung kann sich nicht darauf verlassen, daß sich ihr ihre Gegenstände in der Inhalts- und Strukturbeschreibung und in der mentalitätsgeschichtlichen Rekonstruktion erschließen. Sie ist immer auch Interpretation. Damit wird ein Problem aufgeworfen, das in der ausführlichen Diskussion über Mentalitätsgeschichte erstaunlich wenig beachtet wurde. Die Tatsache, daß Quellen für den Betrachter ein Verständnisproblem aufwerfen, wurde fast ausschließlich unter technischen Aspekten diskutiert: als die Frage, welche Quellen und wie viele als geeignete und hinreichende Basis für mentalitätsgeschichtliche Aussagen in Frage kommen. Das eigentlich hermeneutische Problem aber, daß Quellen immer erst verstanden sein müssen und daß dieses Verstehen sich nicht von selbst versteht, ist damit nicht erfaßt. Ihre Aussagekraft erhalten Quellen immer nur dadurch, daß ihnen Bedeutsamkeit zugesprochen wird. Das geschieht in einem Akt der Interpretation, der sich von Vorgaben oder - in der Sprache der Hermeneutik - von »Vorurteilen« leiten läßt. So wenig wie es eine reine Realität gibt, die sich hinter den Quellen sichtbar machen ließe, so wenig gibt es eine reine Quelle, deren Aussage unmittelbar zugänglich wäre. Dieses hermeneutische Zentralproblem wird in der mentalitätsgeschichtlichen Forschung kaum beachtet; nur Lucien Febvre hat sich ausführlicher damit befaßt und sich mit seiner Warnung vor der Rückprojektion eigener Vorstellungen in die Vergangenheit gegen allzu naive Einfühlungstheorien gewandt.51 In diesem Sinne hätte sich die mentalitätsgeschichtliche Forschung wesentlich stärker mit dem Problem der Interpretation zu beschäftigen und sich Rechenschaft darüber abzulegen, wie das Verstehen ihrer Quellen überhaupt möglich ist. Hier verschränken sich mentalitätsgeschichtliche und hermeneutische Fragestellungen. Im Zentrum der Überlegungen, welche die philosophische Hermeneutik über das »Verstehen« angestellt hat, steht der Befund, daß es darauf verwiesen ist, sich von der Unterstellung eines Sinns leiten lassen zu müssen: Der Interpret »wirft sich« - so formuliert Gadamer unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Heidegger - »einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest«.52 Wie diese vorurteilskonstituierenden Erwartungen indes zustande kommen und welchen Status sie haben, ist Gegenstand einer für die hermeneutische Diskussion zentralen Kontroverse geworden. Gadamer hatte versucht, mit einem Hinweis auf die Wirkungen der Wirkungsgeschichte die Einsicht in die »Vorstruktur des Verste-

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Vgl. Febvre, Histoire et psychologie, S. 213f.; Febvre, Le sensiblité et l'histoire, S. 221 f.; Jockel, Die »histoire des mentalités«, S. 149. - Burkes Äußerungen zu Febvres Position scheinen diesbezüglich auf einem Mißverständnis zu beruhen; er bringt Febvre in die Nähe von Positionen, die dieser ausdrücklich bekämpft. Vgl. Burke, Stärken und Schwächen der Mentalitätengeschichte, S. 132. Gadamer, Vom Zirkel des Verstehens, S. 56.

hens« zu präzisieren.53 Die Wirkungsgeschichte stiftet ihm den Zusammenhang zwischen dem Vergangenen und Gegenwärtigen, und sie konstituiert damit die Vorurteile oder den »Erwartungshorizont«, die letztlich den Sinn-Entwurf leiten.54 Solche Erwartungshorizonte oder Vorurteile sind unverzichtbar im Prozeß des Verstehens, auch wenn sie, wie Habermas geltend gemacht hat, bei weitem nicht auf die Wirkungen der Wirkungsgeschichte reduzierbar sind, sondern ihre Ursprünge einer »Lebenswelt« verdanken, die allen Verständigungsprozessen die »risikoabsorbierende Rückendeckung eines massiven Hintergrundkonsenses« verleiht.55 Solchermaßen in der Wirkungsgeschichte und in der Lebenswelt fundierte Vorurteilsstrukturen sind tief verankert, aber sie sind nicht unrevidierbar - diese Frage war der Kern der Debatte zwischen Habermas und Gadamer. 56 Gerade dort, wo wissenschaftliches Verstehen von Texten angestrebt wird, müssen sie einer Reflexion und einer Kontrolle unterzogen werden können. Über die Notwendigkeit und Möglichkeit einer solchen Kontrolle besteht inzwischen Einigkeit in der hermeneutischen Diskussion, so kontrovers sie ansonsten auch verlaufen ist. Zumindest wissenschaftliches Verstehen erfordert ein Verfahren, in dem die Sinn-Entwürfe und die sie konstituierenden Voraussetzungen bewußt zu machen sind, damit sie kontrollierbar und diskutierbar bleiben.57 Erst wenn diese Voraussetzung akzeptiert wird, erscheint die Forderung nach der Bewährung und der Revisionsmöglichkeit von Sinn-Entwürfen plausibel. Die Kontrolle und Revision von Sinn-Entwürfen ist nur möglich auf der Basis methodisch kontrollierter Reflexion. Die von Gadamer repräsentierte Strömung der hermeneutischen Diskussion hat sich lange dagegen gewehrt, ein solches Verfahren anzuerkennen und an der Überzeugung festgehalten, daß die in der hermeneutischen Erkenntnis gewonnene »Wahrheit« den »Kontrollbereich wissenschaftlicher Methodik übersteigt«,58 weil die »Struktur der hermeneutischen Erfahrung« dem »Methodengedanken der Wissenschaft so gründlich widerspricht«.59 Wenn die hermeneutische Erkenntnis ihrem eigenen Anspruch auf Kontrollierbarkeit und Revidierbarkeit ihrer Vorentwürfe gerecht werden will, wäre dagegen eine aufgeklärte Untersuchungsrichtung erforderlich,

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Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 250. So auch Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 263. Habermas, Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktionen und Lebenswelt, S. 85. Auch Gadamer hat sich in jüngster Zeit auf dieses ursprünglich von Husserl entwickelte Lebensweltkonzept in ähnlicher Weise bezogen; vgl. Gadamer, Die Vielfalt Europas, S. 21 - 23. - Zum für die hermeneutische Diskussion grundlegenden Problem der »Interdependenz von Wissenschaft und vor- bzw. außerwissenschaftlichem Kontext« vgl. Hufnagel, Einführung in die Hermeneutik, S. 65 und den Kontext S. 57-66. Vgl. Brenner, Interkulturelle Hermeneutik, S. 44f. Gadamer, Vom Zirkel des Verstehens, S. 57f. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. XXVII. - Zur Kritik dieser Auffassung vgl. schon Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 281f. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 439. 17

die ihre eigenen Vorurteile zwar nicht ablegen, sie aber in methodischer Reflexion sich selbst zugänglich machen kann. 60 Das ist das Verfahren einer rekonstruierenden Hermeneutik. Sie bleibt gebunden an die Voraussetzungen, denen jedes historische Verstehen unterliegt; aber sie verläßt sich nicht auf jene von der romantischen Hermeneutiktradition genährten Illusionen, nach denen Verstehen intuitiv möglich sei, sondern sie versucht die Bedingungen zu klären, denen das Verstehen in doppelter Hinsicht, sowohl in bezug auf das interpretierende Subjekt wie auch in bezug auf den zu interpretierenden Gegenstand, unterliegt. Vor der Frage, an welchen Maßstäben sich eine solche Klärung ausweisen müsse, hat die Hermeneutik aber stets kapituliert. Die Rede davon, daß »Sinn-Entwürfe eines Ganzen riskant«, aber durch »andere Verfahren-nicht zu ersetzen« seien,61 ist trivial. Gewiß sind die Vorentwürfe nicht zu ersetzen, aber das Risiko muß kontrollierbar gemacht werden. Zunächst muß die Forderung erhoben werden, daß das verstehende Subjekt sich im Akt des wissenschaftlich fundierten Verstehens seiner Vormeinungen zu versichern sucht, indem es seine Textinterpretation von methodisch klar ausgewiesenen Modellen leiten läßt. Diese Reflexion auf die eigenen Prämissen der Interpretation ist die Vorleistung, die jede Untersuchung historischer Quellen auf der Subjektseite zu erbringen hat. Daneben stellt sich dem Interpreten eine zweite Aufgabe. Der Interpret muß gewährleisten, daß die »Erfassung des historisch Anderen und die dabei geübte Anwendung historischer Methoden nicht das bloß herausrechnet, was man hineingesteckt hat.« 62 Wenn die Voraussetzung der Vorurteilstruktur des Verstehens und die Forderung nach ihrer methodischen Kontrolle die erste Voraussetzung der Hermeneutik darstellt, so ist die Einsicht in die Tatsache, daß Texte sich immer aus Kontexten heraus verstehen, die zweite. Mit der Bestimmung dieser Kontexte hat sich die Hermeneutik freilich schwer getan; mit der Rede vom »Zirkel des Verstehens« ist sie kaum weiter gekommen als zur Berücksichtigung der Tatsache, daß sich dieser Zirkel in der wechselseitigen Erhellung von Textteil und Textganzem,63 allenfalls noch unter Berücksichtigung eines weiteren Umfeldes an Texten, entfaltet. Die Interpretation geht dabei davon aus, daß Texte nur dann verständlich sind, wenn sie eine »vollkommene Einheit von Sinn« darstellen.64 Diese Voraussetzung ist freilich auch dann, wenn sie in modernerer Sprache als »Kohärenz»Forderung formuliert wird,65 das Erbe einer Auffassung, die ihre Vorstellungen von Literatur dem Konzept der Klassik entlehnt hat: Nur eine an klassischen 60

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Zum Problem des bewußtgemachten Vorurteils vgl. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 282 und Brenner, Interkulturelle Hermeneutik, S. 51 f. Japp, Hermeneutik, S. 458. Gadamer, Vom Zirkel des Verstehens, S. 58. Offensichtlich beziehen sich Gadamers Überlegungen zum »Verstehen« ausschließlich auf einzelne Texte, die ihren eigenen Kontext darstellen, vgl. ebd., S. 54f. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 278; Gadamer, Vom Zirkel des Verstehens, S. 58f. Vgl. Japp, Hermeneutik (1977), S. 69.

Texten geschulte Erwartungshaltung kann sich einem Text nähern, indem sie die »Voraussetzung der Vollkommenheit« unterstellt.66 Daß eine solche Voraussetzung auch für Texte mit Klassizitätsanspruch höchst problematisch ist, kann hier undiskutiert bleiben; daß sie als Interpretationsvoraussetzung von Reiseberichten und ähnlichen Texten den Interpreten zur Verzweiflung treiben würde, zeigt bereits ein oberflächlicher Blick auf solche Texte: In aller Regel werden sie dem »Kohärenz«-Kriterium nicht gerecht. Sie sind inhaltlich und formal zumindest höchst disparat strukturiert, und häufig genug vereinigen sie die widersprüchlichsten Komponenten in sich. Hier nach einer textimmanenten Kohärenz suchen oder sie auch nur als Verstehensvoraussetzung vorläufig annehmen zu wollen, würde offensichtlich an der Sache vorbeizielen. Dennoch bleibt die Forderung nach Kohärenz oder Stimmigkeit dessen, was verstehbar sein soll, unhintergehbar. Diese Forderung stellt aber kein grundsätzliches Problem dar: Prinzipiell ist jeder Text sinnvoll; und wenn er nicht verständlich ist, dann ist das kein Problem des Textes, der deshalb zu kritisieren wäre, sondern ein Problem des Interpreten, der sich der Zusammenhänge nicht hinreichend vergewissert hat, in denen der Text seinen Sinn gewinnt. Das NichtVerstehen eines Textes ist überhaupt erst das agens der hermeneutischen Anstrengung, wo es ausbleibt, ist dem Interpreten die Aufgabe gestellt, »ausbleibendes oder gestörtes Einverständnis wiederherzustellen«.67 Das freilich ist eine Aufgabe, die mit den Mitteln der traditionellen Philologie wie der Textkritik und der Überlieferungsgeschichte allein nicht zu lösen ist. Die Kohärenzforderung muß auch für solche Texte nicht aufgegeben werden, die ihr offensichtlich nicht genügen; sie muß nur anders bestimmt werden. »Kohärenz« und Stimmigkeit gewinnen solche - und andere - Texte erst, wenn sie als Teil eines textübergreifenden Zusammenhangs gesehen werden. Wenn Texte aus größeren historischen und speziell mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhängen heraus interpretiert werden, können auch jene Momente in ihnen sich schlüssig verstehen lassen, die bei einer textimmanenten Betrachtung sich dem Verständnis sperren. Inhaltliche Widersprüche und formale Inkonsistenzen werden verständlich, wenn sie als Ausdruck widerstreitender und reflexiv unverarbeiteter überlieferter Traditionen, aktueller Bedürfnisse und projektiver Erwartungen aufgefaßt werden: Nicht einzelne Texte also sind kohärent, sondern die sozialen Handlungszusammenhänge und die »Mentalitäten«, aus denen sie hervorgehen, und in diese Kohärenz muß die Textinterpretation ihre Gegenstände hineinstellen und aus ihr heraus muß sie sie verstehen.68 Erst in dieser Ausweitung wird das Kohärenz-Kriterium der klassischen Hermeneutik auch für sozialgeschichtlich orientierte Textinterpretationen fruchtbar zu machen sein. Texte bedürfen also einer Interpretation nicht nur aus ihrem Text-, sondern weit darüber hinaus aus ihrem historischen Sinnzusammenhang heraus. In der 66 67 68

Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 278. Gadamer, Vom Zirkel des Verstehens, S. 55. Dupront, Problèmes et méthodes d'une histoire de la psychologie collective, S. 9. 19

nüchternen Sprache der nach-hermeneutischen Literaturwissenschaft führt das zu der Forderung, »Literaturgeschichtsschreibung auf eine breitere empirische Basis und eine kontrollierte Auswertung und Verbindung des >Datenmaterials< zu beziehen« und die »hermeneutisch-konstruierenden Aneignungen von >Vergangenheit< als Ziel der Literaturgeschichtsschreibung auf eine breitere Basis empirisch kontrollierbaren Wissens zu stellen.«69 Das erfordert eine Versöhnung der hermeneutischen mit den empirischen Methoden der Literaturerforschung und eine Überwindung der immer noch aktuellen Auffassung, daß empirische Literaturwissenschaft grundsätzlich »in fast vollständiger Opposition zur hermeneutischen Literaturwissenschaft« stehe.70 Von der Mentalitätsgeschichte wie schon von der Sozialgeschichte der Literatur muß die Hermeneutik also lernen, daß Verstehen nicht nur ein Vorgang ist, der sich im Dialog von Text und Interpreten vollzieht. Eine »Hermeneutik der Konstruktion«, die ihre Plausibilität nur an der »Konsistenz der Interpretation« mißt und diese bestimmen will durch ihre Stimmigkeit und dadurch, daß sie »konkurrierenden Deutungen standhält«,71 führt dabei nicht weiter, solange sie keine Kriterien angeben kann, nach denen zwischen konkurrierenden Deutungen zu entscheiden wäre. Die moderne Literaturinterpretation muß vielmehr ihre Scheu vor der »Empirie« aufgeben. Dabei sollte sie freilich nicht der Illusion verfallen, mit einer Annäherung an empirische Methoden seien die hermeneutischen Probleme der Literaturinterpretation gegenstandslos geworden, da empirische Literaturwissenschaft sich auf das »Zielkriterium der systematischen Geltungsprüfung wissenschaftlicher Aussagen durch die intersubjektive Nachprüfbarkeit anhand von Beobachtungsdaten« stützen könne.72 So einfach liegen die Dinge nicht einmal in der Naturwissenschaft, und erst recht die auf Sinnverstehen verwiesene Literaturinterpretation kann sich nicht einfach blind »Beobachtungsdaten« anheimgeben, die auch erst einmal verstanden sein müssen. Dennoch hat die Empirie ihren Platz in einer interpretierenden Literaturwissenschaft. Diese muß sich - auch das zu berücksichtigen wurde in den klassischen Konzeptionen der Hermeneutik durchgehend versäumt - beim Bemühen um das Verstehen von Texten aller relevant erscheinenden Aspekte der historischen Zusammenhänge, in denen Texte stehen, zu versichern suchen. Unter den mentalitätsgeschichtlich orientierten Forschern scheint Lucien Febvre der einzige gewesen zu sein, der das hermeneutische Problem des Verstehens von Zeugnissen der Vergangenheit reflektiert und eine Antwort gesucht hat: Um Ideen und Gefühle der Vergangenheit verstehen zu können ohne einer »anachronistischen Psychologie« des intuitiven Einfühlens zu verfallen, bedarf es einer ausführlichen Rekonstruktion des Kontextes, in dem sie entstanden sind.73 Aber 69

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Pfau/Schönert, Probleme und Perspektiven einer theoretisch-systematischen Grundlegung für eine >Sozialgeschichte der LiteraturErfahrungsraum< und >Erwartungshorizont< - zwei historische Kategorien, S. 353. 27

genwärtigte Zukunft«, die auf das nicht »Erfahrene, auf das nur Erschließbare« zielt.98 Insofern haben Erfahrung und Erwartung einen grundsätzlich verschiedenen ontischen Status. Erfahrung ist räumlich gegenwärtig; Erwartung hingegen zielt auf einen noch ungreifbaren Zukunftshorizont, der grundsätzlich der Erfahrung der Gegenwart entzogen ist." Auf diesen Dualismus ist die Amerika-Literatur bezogen, ohne ihn aber homolog abzubilden. Das Bild von Amerika, das sie entwirft, wird inspiriert von den Erfahrungen der Ungleichzeitigkeit, die im 19. Jahrhundert auch im Alltagsleben virulent und als Spannung von Rückständigkeit und Fortschrittlichkeit thematisiert werden. Dabei ist das Verhältnis von alter und neuer Zeit nicht geographisch-kulturell zugeordnet in dem Sinne, daß die eigene geschichtliche Zeit als das Rückständige, die amerikanische hingegen als das Fortgeschrittene begriffen würde. Das ist eine sehr wichtige, vielleicht sogar die dominierende Dimension der Reiseberichte, die häufig die Illusion nähren, daß in Amerika als dem Land der Zukunft der Erwartungshorizont sich zur empirischen Sichtbarkeit verdichte. Aber die Amerika-Erfahrung ist auch in einem starken Maße von der Vorstellung geprägt, daß bereits im eigenen Land eine Zukunft erfahrbar werde, welche die bisherigen Erfahrungsräume zu überschreiten droht, und vor dem Hintergrund dieser Befürchtungen entwickelt sich häufig eine Perspektive, die Amerika als das Land sieht, in dem die eigene geschichtliche Zeit gegenüber den Bedrohungen des Erwartungshorizontes bewahrt werden kann. In diese Spannung von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont ist die Amerika-Literatur eingebettet; beide Erfahrungsmodelle gehen in das Bild und in die Wahrnehmung Amerikas ein und geben ihnen ein spezifisches Gepräge. Die Erfahrung von und die Auseinandersetzung mit Amerika ist so inspiriert durch den in diesem Zeitraum ausbrechenden Konflikt zwischen alter und neuer Zeit, der sich auf den verschiedenen Ebenen der Erfahrungsverarbeitung verschieden darstellt. Am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts haben sich in Deutschland exogen und endogen induzierte politische wie gesellschaftliche Entwicklungen vollzogen, die sich den Zeitgenossen auf der historischen Phänomene-Ebene als »Destabilisierung« darstellen, welche als Folgeerscheinung des geschichtlichen »Fortschritts« begriffen wird. Auf der Ebene der zeitgenössischen Theoriebildung wird das gleiche Phänomen thematisiert in einem Geschichtsmodell, das die Gegenwart als die Zeit einer »Modernisierung« begreift, deren Gewinne und Verluste mit wechselnden Akzentuierungen gegeneinander aufgerechnet werden. Vor dem Hintergrund dieser Spannung sind die Texte zu verstehen, in denen die Amerika-Erfahrung des 19. Jahrhunderts niedergelegt ist; sie gibt die historisch ausweisbaren Kategorien vor, unter denen die deutsche Amerika-Erfahrung des 19. Jahrhunderts aufgearbeitet wird und von denen sich die Interpretation der Texte leiten läßt.

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Ebd., S. 355. Vgl. ebd., S. 356f.

ERSTER TEIL

Reiseformen: Das Verharren in der Tradition

Einleitung: Der traditionalistische Reisebericht

I. Die Entwicklung des Reisens in der nachmittelalterlichen Geschichte des Okzidents vollzieht sich im Gleichklang mit der Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und der Herausbildung eines neuzeitlichen Weltbildes. Die Entdekkungsreisen in die Regionen Amerikas und Asiens vom 16. bis zum 18. Jahrhundert statten die Alte Welt Europas mit einem Erfahrungsarsenal aus, das in weitesten Bereichen Neuansätze des Denkens inspiriert oder erzwingt. Als Vermittlerin solchen Wissens kommt der Gattung des Reiseberichtes ein unschätzbares Verdienst zu. Der durch sie ermöglichten Ausweitung der Erfahrung geht die Neuorientierung des Weltbildes parallel. Beides vollzieht sich in enger Verschränkung und wird zur wechselseitigen Voraussetzung füreinander: Die neuzeitliche Wissenschaft entwirft das Bild einer offenen Welt mit unendlichen Erfahrungsmöglichkeiten, die sich dem methodisch inszenierten Erfahrungsgewinn erschließen. In diesem Rahmen gewinnt das Reisen seinen ausgezeichneten Status im Welt- und Erkenntnismodell der Neuzeit. In seiner realen wie in seiner metaphorischen Bedeutung kann es zum Ausdruck des Selbstverständnisses der Neuzeit werden.1 Die enge Verbindung von Reisegeschichte und Herausarbeitung des neuzeitlichen Weltbildes legt es nahe, die Entwicklung des Reisens an jenen Kategorien zu messen, welche die Neuzeit zur Bestimmung ihres eigenen Selbstverständnisses hervorgebracht hat. Diese Kategorien zentrieren sich um die Idee des »Fortschritts«. Im neuzeitlichen Fortschrittsbegriff verdichtet sich spätestens seit dem 17. Jahrhundert die Gewißheit der unbegrenzten Fähigkeit der neuzeitlichen Wissenschaft zur Erschließung und Beherrschung der natürlichen wie in eins damit der gesellschaftlichen Welt.2 Das Reisen und der Reisebericht haben an diesem Fortschrittskonzept teil, sofern sie zur Erfahrung und Erschließung der Welt beitragen. Dieser enge Zusammenhang zwischen Entwicklung der Weltund Wirklichkeitsauffassung auf der einen und der Reisegeschichte auf der anderen Seite setzt sich auch nach der Konstitutionsphase der Neuzeit im 16. und 1

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Zur Bedeutung des Reisens und der Reisemetapher im neuzeitlichen Denken Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 140f.; Tellenbach, Zur Frühgeschichte abendländischer Reisebeschreibungen, S. 59. Vgl. Koselleck, (Art.) Fortschritt, S. 371; Löwith, Das Verhängnis des Fortschritts, S. 22f. 31

17. Jahrhundert fort. Auch dort, wo die Welterfahrungsprogrammatik sich weniger grundsätzlich darstellt als in der Frühen Neuzeit, hat das Reisen an der Entwicklungsgeschichte neuzeitlichen und modernen Denkens teil. Seit der Renaissance schon gehen die »Entdeckung der Welt« und die »Entdeckung des Menschen« parallel,3 und zu der Entdeckung des Subjekts und der Herausbildung einer neuen Auffassung des Individuums leisten die Kavalierstouren des 17. und die Bildungsreisen des 18. Jahrhunderts ihren Beitrag.4 Schließlich wird nach einer mehrhundertjährigen Vorlaufzeit spätestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert der Bereich der staats- und gesellschaftstheoretischen Diskussion wesentlich von den Erfahrungen Reisender inspiriert.5 Die enge Verbindung von Reisen und Fortschrittsdenken wird nicht zufallig dadurch markiert, daß das neuzeitliche Reisen und besonders der Reisebericht von Anfang an unter einem besonderen Rechtfertigungszwang standen und sich nur entfalten konnten im Kampf gegen theoretische wie praktische Reiseverbote, deren Geschichte sich bis ins 19. Jahrhundert hinein verfolgen ließe.6 Das Reisen in diesen Zusammenhängen der Herausarbeitung neuzeitlicher Welt- und Subjektauffassung in den verschiedensten Bereichen zu sehen und es als ein Medium zur Welt- und später auch zur Selbsterfahrung zu begreifen, trifft zweifellos einen zentralen, aber nicht den einzigen Aspekt, unter dem die neuzeitliche Reisegeschichte und die Gattung des Reiseberichts betrachtet werden kann. Die Geschichte des Reisens teleologisch anhand der Leitkategorie des Erkenntnis- und Gesellschafts-»Fortschritts« zu beschreiben führt dazu, ihren Höhepunkt in der Aufklärung ansetzen, in der die Reiseliteratur zum Manifest der »Welterfahrung« und der »Selbsterkundung« werde.7 Auch die voraufklärerische Reise- und Gattungsgeschichte in der Neuzeit wäre unter dieser Perspektive in eine Entwicklungslinie zu bringen. Von ihren nachmittelalterlichen Neuanfangen an ließe sich dann eine »wachsende Lust, bisher unbekanntes Wirkliches zu entdecken und zu berichten« konstatieren;8 die Reisebeschreibung fungierte im Zusammenhang des neuzeitlichen Denkens als »Medium der Weltauslegung« ebenso wie der »individuellen Selbstfindung«.9 3

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Auf diesen Zusammenhang hat schon im vorigen Jahrhundert Jacob Burckhardt aufmerksam gemacht; vgl. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, S. 303f.; vgl. auch den ganzen Kontext S. 280-354. Vgl. Ridder-Symoens, Die Kavalierstour im 16. und 17. Jahrhundert, S. 201; viele Belege aus dem 17. und 18. Jahrhundert bringt Wuthenow, Die erfahrene Welt, S. 86-122; zu weiteren Aspekten der »Bildungsreise« des 18. Jahrhunderts bis hin zur Handwerkerreise vgl. Elkar, Reisen bildet, bes. S. 52f. Stagl, Der wohl unterwiesene Passagier, S. 272 und S. 275f. Die Geschichte der Reiseverbote ist noch ungeschrieben; einige ihrer Facetten gibt Conrads, Politische und staatsrechtliche Probleme der Kavalierstour, S. 56-60; zu den neuzeitlichen Auswanderungsverboten als einer speziellen, meist ökonomisch motivierten Variante des Reiseverbots vgl. Sombart, Der moderne Kapitalismus I, S. 825-831. Wuthenow, Autobiographien und Memoiren, Tagebücher, Reiseberichte, S. 165. Tellenbach, Zur Frühgeschichte abendländischer Reisebeschreibungen, S. 57. Wenzel, Reisebeschreibung und Selbsterfahrung, S. 250. Daß die frühneuzeitliche Reiseliteratur zur Überwindung mittelalterlicher Weltanschauungen und zur Vorbereitung

Daß der Reisebericht und das Reisen überhaupt in diesem Sinne ihren entscheidenden Beitrag zur Entstehung und zur Entwicklung der neuzeitlichen Wirklichkeits- und Subjektauffassung unter dem Primat der Fortschrittsidee geleistet haben, läßt sich schwerlich bestreiten. Die Geschichte des Reisens auf diese Zusammenhänge zu reduzieren, heißt aber, wesentliche Elemente aus ihr auszublenden und jeweils nur die avanciertesten ihrer Erscheinungen in den Blick zu nehmen, die den Maßstäben der Späteren standhalten. Das aber kann nicht der einzige Gesichtspunkt sein, unter dem die Geschichte des Reisens gesehen werden darf, denn das Reisen hatte stets auch an den Gegenbewegungen teil, die das Fortschrittsdenken begleitet haben. Die Entwicklung des neuzeitlichen Weltverständnisses vollzog sich nicht nur in der ständig weitergetriebenen Überwindung mittelalterlicher Restbestände des Denkens, sondern auch in der Herausbildung von Kräften, die sich der Fortschrittsdynamik entgegenstellten. Das gilt nicht erst für die Zeit der Nachaufklärung, als im Gefolge der Französischen Revolution der europäische Konservativismus sich als eine geschlossene Gedankenbewegung etablierte, die sich »gleichursprünglich« mit dem aufklärerischen Rationalismus entfaltete und aus den gleichen Quellen hervorging.10 Aber schon lange bevor die konservativen Bewegungen ihre theoretische Fundierung gefunden haben, lassen sie sich als reale Kräfte in der historischen Entwicklung ausmachen. Bereits in der Frühzeit der wissenschaftlichen Erschließung der Welt und der damit einhergehenden Freisetzung des Individuums haben sich Kräfte herausgebildet, die der auf unablässigen Fortschritt ausgerichteten Praxis entgegenwirkten. Sie manifestieren sich als Traditionalismus oder als meist religiös fundierter Irrationalismus, in dem sich »Lebenshaltungen, Lebenseinstellungen, Erfahrungsmethoden« bewahrten, welche sich der Vereinnahmung durch das abstraktiv-rationalistische Denken der Neuzeit widersetzten.11 Solche Momente sind dem Fortschrittsdenken und der darauf begründeten Praxis stets inhärent. Nicht nur hat sich die neuzeitliche Fortschrittsidee nie gänzlich von den religiösen Implikationen lösen können, aus denen sie sich hervorgearbeitet hat;12 sondern bereits in seiner Frühzeit sind im Rationalismus selbst auch die Elemente angelegt, die sich später vom ihm als eigenstän-

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der Aufklärung unter dem Leitmotiv der »curiositas« Wesentliches beigetragen habe, gehört zu den Topoi der Reiseliteraturforschung; vgl. etwa Bitterli, Weltverständnis und Selbstverständnis der europäischen Zivilisation, S. 652f.; Lohmeier, Von Nutzbarkeit der frembden Reysen, S. 4. Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservatismus, S. 62-70. Zu den ideengeschichtlichen Ursprüngen und Entwicklungen des deutschen Konservativismus vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zu den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vgl. Puhle/ Münkler/Kettenacker/Waszek, Konservatismus, S. 255-276; Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert I, S. 187-197. Mannheim, Konservatismus, S. 83. Vgl. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, S. 184f. Zu den religiösen Implikationen des wissenschaftlichen Fortschritts vgl. Hahn, Soziologische Aspekte des Fortschrittsglaubens, S. 69. 33

dige Bewegung des »Konservativismus« abgespalten haben: Seit seiner Entstehung als einer geschichtsprägenden Macht in den westeuropäischen Gesellschaften des 17. Jahrhunderts hat der Rationalismus - vor allem im Bereich der absolutistischen Staatstheorie und -praxis - mit seinen eigenen Mitteln den emanzipatorischen gesellschaftlichen Folgen des Fortschritts Grenzen gesetzt.13 So wenig wie sich die Geschichte der Neuzeit als eine Geschichte des Fortschritts schreiben läßt, so wenig läßt sich die Geschichte des Reisens und der Reiseliteratur auf ihren Beitrag an der neuzeitlichen Fortschrittsdynamik reduzieren. Auch neuzeitliches Reisen und seine Beschreibung haben nicht immer und notwendig einen Zugewinn an Welt- oder Selbsterfahrung bedeutet. Das ist ein zwar bekanntes, aber unter der Dominanz der Fortschrittsidee vernachlässigtes Faktum einer Reiseliteraturforschung geblieben, welche die traditionalistischen Elemente in der Gattungsgeschichte immer nur als abgelebte Rückständigkeiten oder als Vorstufen für Späteres zu begreifen bereit war. Dagegen wäre grundsätzlich die Überlegung einzuwenden, daß die Funktionen des Reisens sich nicht nur nicht im Zugewinn an Erkenntnis erschöpfen, sondern daß dieser Aspekt in der Geschichte des Reisens ein zumindest quantitativ peripheres Moment darstellt. Das von der Forschung oft beobachtete und immer wieder als ephemer beiseite geschobene Faktum, daß Reisende nicht am Erfahrungsprogramm der Neuzeit teilhaben, sich ihm oft sogar dezidiert verweigern,14 verdient es, in seinen Konsequenzen gewürdigt zu werden. Die Tatsache sollte ernst genommen werden, daß das Reisen nicht immer nur Wirkungen im Sinne des Fortschritts-, Bildungs- oder Humanitätsideals zeitigen mußte; das »Ergebnis einer Reise konnte ebensogut Enttäuschung und Bekräftigung von Vorurteilen« zur Folge haben. 15 Bei der Berücksichtigung auch dieses Aspektes wird sich zeigen, daß dem Reisen als einer Form der Welterfahrung das Reisen als eine Lebensform gegenübersteht. Es erscheint dann zunächst einmal als das, was es in der Regel ist: als ein soziales Verhalten, das vielfaltigen Zwecken dienen kann, von denen die Erkenntnisfunktion nur einen schmalen Ausschnitt darstellt. Die Erkenntnisfunktion wird komplettiert durch eine Sozialfunktion des Reisens, die zumindest im ebenso großen Maße auf traditionalistischen Bewußtseinshaltungen beruht wie sie teilhat am Fortschrittsprozeß der Neuzeit.

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Dieser Vorgang wird in seinen Grundstrukturen rekonstruiert bei Brenner, Individuum und Gesellschaft. Vgl. etwa Wuthenow, Die erfahrene Welt, S. 72f. Auch Gewecke gibt einige Hinweise auf Reisende, deren religiöse Voreingenommenheit ihnen eine »richtige« Darstellung fremder Völker versperrt; vgl. Gewecke, Wie die neue Welt in die alte kam, S. 1 6 0 - 1 6 4 . Kessler, Kulturbeziehungen und Reisen im 18. und 19. Jahrhundert, S. 269.

II.

Die Neuzeit hat viele Reise- und Berichtsformen hervorgebracht, deren Ursprung in den Gegenbewegungen gegen die Fortschrittsdynamik zu suchen ist; zu ihren exponiertesten, aber bei weitem nicht alleinigen Erscheinungsformen gehören die religiös motivierten Auswanderungsbewegungen und die Missionsreisen.16 Anders als die fortschrittsorientierten Reisen sind sie in einer traditionalistischen Lebenshaltung fundiert, in der die »seelische Eingestelltheit auf und der Glaube an das alltäglich Gewohnte als unverbrüchliche Norm für das Handeln« ihren Geltungsanspruch behaupten.17 Eine solche traditionalistische Haltung realisiert sich beim Reisenden dann, wenn er seine Einbindungen in und Rückbindungen an die Ausgangskultur nicht aufgibt, sondern sein Verhalten auch in einer fremden Kultur durchgehend von eigenkulturellen Verhaltensformen und -normen steuern läßt und die Fremde an den eigenen normativen, aber auch kognitiven Maßstäben mißt. In den Reiseberichten läßt sich eine solche Haltung an einer Reihe von Indikatoren ablesen; sie artikuliert sich vor allem in den von der Forschung oft gerügten Phänomenen der Erfahrungshemmung oder gar -Verweigerung und in den Schwierigkeiten, sich lebenspraktisch auf die Fremde einzustellen. Daß solche traditionalistisch orientierte Reiseformen - und ihnen entsprechende Reiseberichte - gerade im 19. Jahrhundert Konjunktur haben mußten, kann nur auf den ersten Blick überraschen. Das 19. Jahrhundert wurde in den westeuropäischen Gesellschaften als das Jahrhundert des zivilisatorischen Fortschritts begriffen, der alle traditionalistischen Verhaltensformen obsolet zu machen sich anschickte. Aber das Wiederbeleben von traditionalistischen Lebenseinstellungen und konservativen Theorien läßt sich gerade als die Kehrseite dieses Omnipotenz- und Ubiquitätsanspruchs des Fortschritts begreifen. Der aufklärerische Rationalismus und die ihm folgenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Reformen haben nicht nur den Konservativismus als eine bewußt gestaltete gesellschaftspolitische Idee hervorgebracht;18 sie haben zugleich auch die traditionalistische Verhaltensfundierung breiter sozialer Schichten gefestigt und gestärkt: der in sich sehr heterogene Adel, die verschiedenen Schichten innerhalb des Bürgertums von den Verwaltungsbeamten bis zum »städtischen Patriziat«, das Kleinbürgertum mit seinen Handwerkern und Gewerbetreibenden, der sich neu formierende »vierte Stand« und vor allem die Bauern bilden das traditionalistisch orientierte soziale Potential, auf das sich der entstehende »Konservativismus« stützen konnte.19 16

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Zur Geschichte des katholischen und protestantischen Missionswesens vgl. Hammer, Weltmission und Kolonialismus, S. 137-202; zu den frühen Anfängen und Konzepten vgl. Jedin, Katholische Reform und Gegenreformation, S. 455-462. Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen I, S. 269. Vgl. Valjavec, Die Entstehung des europäischen Konservativismus, S. 139. Vgl. ebd., S. 142-145; sowie Epstein, Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland, S. 79-83. Zum Konservativismus speziell der Bauern vgl. Nipperdey, 35

Im Konservativismus der Zeit und den ihm zugrunde liegenden traditionalistischen Einstellungen20 artikulieren sich Bedürfnisse, die der dominierend werdende Fortschrittsgedanke vernachlässigt oder beiseite geschoben hat. Sie finden sich als kulturprägendes Element in der gesamten mentalitäts- und geistesgeschichtlichen Entwicklung des 19. Jahrhunderts auf den verschiedensten Ebenen. Diese gegenläufigen Bewegungen lassen sich freilich nicht im starren Dualismus einer Dichotomisierung von traditionalistischen Kräften auf der einen und fortschrittsverbundenen auf der anderen Seite einfangen, auch wenn das konservative Bewußtsein der Zeit selbst den Gegensatz auf die scharfe Formel von »Mächten der Bewegung« und »Mächten der Beharrung« gebracht hat.21 Das freilich ist eine Zuspitzung, die allenfalls für den Bereich der theoretischen und politischen Diskussion ihre Gültigkeit haben mag. Für die Bewußtseins- und Mentalitätsgeschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert ist jedoch die Verklammerung beider Bewegungen charakteristisch. Sie treten nicht als dichotomisch entgegengesetzte Bewegungen auf, sondern sie sind ineinander verschränkt und manifestieren sich in der Regel in der Ambivalenz eines gebrochenen Bewußtseins: Die Reaktion gegen den Fortschritt und das Bedürfnis nach seinen Errungenschaften bilden eine kaum zu entwirrende Einheit der Bewußtseinslage. Diese Ambivalenz wird hervorgerufen und forciert durch politische und gesellschaftliche Entwicklungen im weitesten Sinne, die als oft widersprüchliche Prozesse auftreten und als solche der Mentalität wie dem Bewußtsein der Zeitgenossen ihre Prägung verleihen. Die deutsche Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts ist in ihrer politischen Entwicklung zur Zeit der Restauration gezeichnet durch die politische Herstellung oder von Ordnungsstrukturen, die in der Formel von »Ruhe und Ordnung« ihren griffigsten Ausdruck gefunden haben.22 Die Entwicklung der gesellschaftlichen Wirklichkeit vermittelt den Zeitgenossen aber eine andere Erfahrung, die sie freilich kaum einmal auf präzise Begriffe zu bringen vermögen und die oft nur als ein diffuses Unbehagen artikuliert werden kann. So sehr sich im nachaufklärerischen Alltagsleben die sekuritätsstiftenden Prinzipien durchgesetzt haben, die vom Absolutismus wie von der Aufklärung gleichermaßen forciert wurden, so sehr ist andererseits das 19. Jahrhundert seit seinem Beginn geprägt

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Deutsche Geschichte, S. 176f. - Eine Charakteristik der Entwicklung der verschiedenen Stände und Schichten im Deutschland des 19. Jahrhunderts in sozialer, juristischer und politischer Hinsicht findet sich bei Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte I, S. 145-281. Zur Abgrenzung von Konservativismus und Traditionalismus vgl. Mannheim, Konservatismus, S. 92-94. Mit dieser Formel hatte 1851 Wilhelm Heinrich Riehl die Bauern und den Adel auf der einen und das Bürgertum und den »vierten Stand« auf der anderen Seite charakterisiert, um damit die Haupttendenzen der deutschen Gesellschaft seiner Zeit zu fassen; vgl. Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft. Zu den politischen und sozialen Prinzipien der Metternich-Ära und den administrativen Maßnahmen zu ihrer Durchsetzung vgl. zusammenfassend Botzenhart, Reform, Restauration, Krise, S. 85-90.

von Faktoren, die eine Unterminierung des offiziellen Weltbildes bewirken. Sie werden in vielerlei Prozessen sinnlich erfahrbar: in der rasanten technischen Entwicklung, die eine Veränderung der alltäglichen Umwelt in einer bisher nicht gekannten Schnelligkeit bewirkt,23 ebenso wie in der damit einhergehenden Umgestaltung der Arbeitswelt, von der die meisten sozialen Schichten betroffen sind. Die generelle Tendenz dieser Veränderungen läßt sich fassen als Disziplinierung, Reglementierung, und - in der industriellen Produktion - auch Standardisierung von Verhaltensweisen, die zunächst den Arbeitsprozeß, dann aber auch das Alltagsleben der Betroffenen umfassen. Dieser Vorgang hat real- wie mentalitätsgeschichtlich ambivalente Folgen. Die Errungenschaften der sich industrialisierenden Gesellschaft bedeuten zunächst für den einzelnen in weiten Bereichen eine Verminderung der unkalkulierbaren Lebensrisiken und nicht zuletzt auch eine »fühlbare Wohlstandssteigerung«.24 Die öffentliche Daseinsvorsorge verlängert diesen Sekuritätseffekt des »Fortschritts« vom ökonomischen Bereich in das Alltagsleben ebenso wie die wachsenden Marktverflechtungen von vielfachen Aufwendungen für die Ver- und Entsorgung entbinden.25 Trotz der unbestreitbaren Konsolidierung des Lebens durch den Gesamtkomplex dieser Entwicklungen reagiert das allgemeine Bewußtsein der Zeit eher gereizt und abwehrend darauf. Der sekuritätsstiftende Effekt des Prozesses wird weniger deutlich wahrgenommen als die mit ihm verbundenen Ansprüche an den einzelnen, die überwiegend erfahren werden als Bedrohung einer vormals stabilen Lebensweise und eines unangefochtenen Weltbildes.26 Der Widerstand gegen diese Verunsicherung artikuliert sich überall dort, wo das alltägliche Leben unmittelbar betroffen ist und der abstrakte Gesamtprozeß für den einzelnen sichtbar und greifbar wird: in den Epiphänomenen des Fortschritts, gegen die sich eine manchmal auch politisch manifest werdende Reaktion etabliert - sei es im Kampf gegen die Industrialisierung der Arbeit bei den Fabrikarbeitern27 oder gegen das neuentstehende Versicherungswesen, das eine der wesentlichen Säulen im System der Daseinsvorsorge werden sollte.28 Vor allem in den heftigen Kontroversen um die Einführung der Eisenbahn kulminiert das Unbehagen 23

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Vgl. Plessner, Die verspätete Nation, S. 85. Die technischen Fortschritte der Zeit stellt dar Kellenbenz, Deutsche Wirtschaftsgeschichte II, S. 189-201. Mit diesen Entwicklungen eng verbunden ist die Herausbildung einer neuen Zeitauffassung, die gekennzeichnet ist durch die »Intensivierung und Beschleunigung von zeitlichen Vorgängen«. Vgl. Wendorff, Zeit und Kultur, S. 383; zu den verschiedenen Aspekten dieses Vorgangs von der Beschleunigung der Verkehrsmittel bis zur Perfektionierung der Zeitmessung und -kontrolle vgl. den Kontext ebd., S. 382-391. Borchardt, Die Industrielle Revolution in Deutschland 1750-1914, S. 165. Vgl. die zusammenfassende Darstellung dieser Entwicklungen bei Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 136-145; Pikulik, Romantik als Ungenügen an der Normalität, S. 108-122. Borchardt, Die Industrielle Revolution in Deutschland, S. 190. Vgl. Rosenbaum, Formen der Familie, S. 395f. Vgl. Arps, Auf sicheren Pfeilern, S. 19-24; zur Entwicklung des deutschen Versicherungswesens zusammenfassend Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert III, S. 416-421; Kellenbenz, Deutsche Wirtschaftsgeschichte II, S. 150-152. 37

gegenüber einem Fortschritt, der in dem neuen Verkehrsmittel zur Sichtbarkeit geronnen ist. Gerade die Eisenbahn mutet neue Erfahrungsweisen zu, denen das Bewußtsein der Zeit noch kaum gewachsen ist; sie wird damit zu einem griffigen Symbol, an dem sich die Ängste entzünden können, die der technische Fortschritt hervorbringt. 29 In der Beschwörung dieser Ängste gegenüber einer ungreifbaren Bedrohung durch das Unsichtbare schält sich langsam heraus, was eigentlich der tiefer wurzelnde Grund für das Unbehagen des 19. Jahrhunderts am zivilisatorischen Fortschritt war. Dieses Unbehagen ist mehr als eine nur theoretische oder literarische »Lust an der Angst«,30 die sich gegen die Entpoetisierung des Lebens durch die aufklärerisch-rationalistischen Errungenschaften wendet. Die Angst hat vielmehr eine durchaus reale Grundlage. Sie ist fundiert in dem Gefühl, daß bei aller äußerlichen Sekurität des Daseins diesem dennoch langsam der Boden entzogen wird. Die vermeintlich gesicherte Wirklichkeit wird als trügerisch empfunden. Wenn sich die Aversion gegen die Epiphänomene des Fortschritts richtet, dann ist das zunächst nur eine hilflose Geste. In ihr aber spricht sich die Ahnung aus, daß die scheinbar sekuritätsstiftenden Errungenschaften der Epoche aus dem gleichen Prozeß hervorgegangen sind, der zugleich eine tiefgreifende mentale und soziale Entwurzelung der Existenz bedeutet. Gewiß wurden die technischen Hilfsmittel, die zur Erleichterung des Alltags beigetragen haben, allgemein dankbar akzeptiert; dennoch stand das populäre - und nicht nur das ausgewiesen konservative - Bewußtsein dem technischen Fortschritt als einer Gesamtbewegung grundsätzlich eher abwehrend gegenüber.31 Das ist eine Reaktion auf die Erfahrung, daß der einzelne in den Sog von Entwicklungen hineingezogen wird, die er als anonymes Schicksal erfährt, über dessen Gründe er sich keine Rechenschaft abzulegen vermag und gegen das er sich nicht wirkungsvoll behaupten kann. 32 Die Fortschrittseuphorie und der Glaube an die Konstruierbarkeit der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wirklichkeit sind gewiß Erscheinungen, die das Gesicht des 19. Jahrhunderts prägen und nicht nur vom Bürgertum, sondern auch von der

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Vgl. Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. - Zur Bedeutung der Eisenbahn als einem Symbol für die verhängnisvollen Folgen des Fortschritts vgl. Fischer-Homberger, Die Büchse der Pandora, S. 301-314. Zu den konservativen Widerständen gegen das neue Verkehrsmittel vgl. Sonnenberger, Mensch und Maschine, bes. S. 27. Mit dieser Formel beschreibt Alewyn das Phänomen, daß die Rationalisierung der Wirklichkeit am Ende des 18. Jahrhunderts das von der Literatur befriedigte Bedürfnis nach dem Irrationalen hervorgebracht hat; vgl. Alewyn, Die Lust an der Angst, S. 307-330. Vgl. Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert III, S. 434; vgl. auch die Belege zur Technikfeindlichkeit der Massen ebenso wie der - immer noch dominierenden - konservativen Denker ebd., S. 431-436. Zu dieser prägenden Erfahrung des deutschen Bewußtseins vgl. etwa Plessner, Die verspätete Nation, S. 89; Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 265f.; speziell für das Bürgertum Rosenbaum, Formen der Familie, S. 375f.

entstehenden sozialistischen Arbeiterbewegung getragen werden.33 Dieses Bewußtsein ist aber grundiert von einem breitgefächerten Konservativismus, der sich in der Theorie wie auch - als Traditionalismus - in der Lebenspraxis der verschiedenen sozialen Schichten ausspricht. Den aussagekräftigsten, wenn auch real- und ideengeschichtlich nicht sehr folgenreichen Ausdruck findet diese Reaktion in den romantischen Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftstheorien des ersten Jahrhundertdrittels. Sie gründen in organologischen Vorstellungen, die dem rationalistischen Konstruktivismus entgegengestellt werden. An die Stelle gesellschaftlicher Organisationsformen setzen die Theoretiker der Romantik und der Restauration, wie Adam Müller, Franz von Baader, Carl Ludwig von Haller, eine am Organismusmodell orientierte »Gemeinschaft«, die dem einzelnen, ganz wie die ständische Gesellschaft des Mittelalters, Schutz und Geborgenheit vermitteln soll. 34 Diese konservativen Ideen, die das Jahrhundert durchziehen und vor allem in seinem letzten Drittel eine neue Blüte erfahren, versuchen auf theoretische Begriffe zu bringen, was sich lebensweltlich als meist unbewußte oder zumindest unreflektierte Traditionsorientierung manifestiert. Die Sehnsucht nach der »guten alten Zeit« als einer Reaktion auf den unmittelbar erfahrenen Fortschritt wird zu einem prägenden Topos nicht nur in den für traditionalistische Lebensformen besonders anfälligen Schichten von Adel und Bauern; 35 sie findet sich ebenso im Bürgertum36 wie bei der Industriearbeiterschaft, die auf ihre soziale Entwurzelung und Einbindung in die Industriedisziplin mit einer rückblickenden - und sachlich kaum gerechtfertigten - Idyllisierung der vorindustriellen Lebensweise in der dörflichen »Gemeinschaft« reagiert. 37 Traditionalismus und Konservativismus in politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen bleiben ein konstituierendes Element der »bürgerli33

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Vgl. Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert III, S. 4 4 0 - 4 4 2 ; Koselleck, (Art.) Fortschritt, S. 4 1 7 - 4 2 0 ; Scholder, Die Dialektik des Fortschritts, bes. S. 596f. Zur »organologischen Staatsauffassung« des Konservativismus vgl. Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, S. 2 0 5 - 2 1 3 ; eine etwas oberflächliche Darstellung verschiedener romantischer Staatstheoretiker gibt Reiss, Politisches Denken in der deutschen Romantik, zusammenfassend, mit besonderem Blick auf die Mittelalterapotheose S. 15; die romantischen Wirtschaftstheorien werden knapp charakterisiert von Winkel, Die deutsche Nationalökonomie im 19. Jahrhundert, S. 52f. Zu den Einwirkungen des gesellschaftlichen Fortschritts und der Reaktion darauf beim Adel vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte II, S. 145-162; zur Modernisierung der Landwirtschaft vgl. Henning, Der Beginn der modernen Welt im agrarischen Bereich, S. 102-105. Zu den vielfaltigen Aspekten traditionalistischen Verhaltens auf der Ebene von Politik und Lebenswelt im deutschen Bürgertum vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte II, S. 174-210; bes. S. 155f.; S. 183f.; S. 197; S. 202f.; Rosenbaum, Formen der Familie, S. 3 7 3 - 3 7 6 . Vgl. Lüdtke, Arbeitsbeginn, Arbeitspausen, Arbeitsende, S. 95f.; Abel, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa, S. 3 0 5 - 3 0 8 ; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte II, S. 173f.

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chen Gesellschaft«, mit dem sie sich gegen ihr eigenes Fortschrittsbewußtsein zur Wehr setzte, das tendenziell zur Überschreitung ihrer Grenzen drängte.38 Es ergibt sich so in der Retrospektive ein ambivalentes Bild des zeitgenössischen Bewußtseins, das sich darstellt als Konglomerat aus einer - zumal von den Liberalen gepflegten - Fortschrittsideologie und einem gleichzeitigen heimlichen oder offenen Konservativismus, der bis weit in die Theorien der Liberalen hineinragt.39 In der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts verdichten sich damit die Tendenzen, die in der Entwicklung der neuzeitlichen okzidentalen Gesellschaft seit je angelegt sind: Sie formiert sich im »Wechselspiel von Tradition und Modernität«, durch die diese Entwicklung erst jene Dynamik erhält, die als das »grundlegende Merkmal der modernen Kultur« überhaupt angesehen werden kann. 40 Konservativismus und Traditionalismus als die Kehrseite der Fortschrittsdynamik haben auch ihre Ausstrahlungen auf die Geschichte des Reisens gehabt. Das 19. Jahrhundert ist durchzogen von Manifestationen des zeitgenössischen Bewußtseins, in denen sich das Unbehagen über die zunehmende Mobilität der Bevölkerung und ihre befürchteten Folgen artikuliert. Die Vorstellung, daß das Reisen nicht allzusehr erleichtert werden solle, ist eine weitverbreitete Auffassung in einer Zeit, die das Reisen mit dem Ausbau einer umfassenden verkehrstechnischen Infrastruktur enorm erleichtert hat.41 Auf diese allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen reagiert auch die Geschichte des Reisens. Die Expansion des Fortschrittsgedankens im 19. Jahrhundert hat den traditionalistischen Reiseformen als einer Gegenreaktion neue Impulse gegeben und entsprechende Formen des Reiseberichts hervorgerufen.42 Die Neubestimmung des Reiseberichtes in diesem Umfeld wird zunächst in einer weitreichenden Entfunktionalisierung der Gattung deutlich. Sie tritt ihre Funktion als eine prominente - oder vielleicht sogar die einzige - Form der Vermittlung von Welterfahrung weitgehend an andere Medien ab und reduziert sich zunehmend auf die Vermittlung ästhetischer oder touristischer Erfahrun38 39 40

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Vgl. Grebing, Aktuelle Theorien über Faschismus und Konservatismus, S. 26f. Vgl. Botzenhart, Reform, Restauration, Krise, S. 129-134. Münch, Die Kultur der Moderne, S. 12f. - Münchs großangelegter Versuch, die »Kultur der Moderne« in ihren diversen Ausprägungen zu rekonstruieren, wird den Erwartungen nicht ganz gerecht, die er mit seinen theoretischen Erwägungen erzeugt. In seinen weitausholenden Erörterungen über die historischen Entwicklungen von vier westlichen Gesellschaften bleibt er oft einer intuitionistischen und in ihrer Auswahl der als wesentlich exponierten Momente einer ziemlich beliebig anmutenden Argumentation verhaftet, die historisch nicht immer hinreichend fundiert erscheint. Vgl. Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert III, S. 433. - Weitere Belege aus dem Zusammenhang der Eisenbahn-Diskussion von List bis Haller bringt Sonnenberger, Mensch und Maschine, S. 26. Die von der Forschung oft vernachlässigten konservativen Reisenden zur Zeit der Spätaufklärung werden vorgestellt von Jäger, Kritik und Kontrafaktur, S. 79-93; weitere Hinweise gibt Stewart, Gesellschaftspolitische Tendenzen in der Reisebeschreibung des ausgehenden 18. Jahrhunderts, S. 44-47.

gen,43 die sie aus dem Blickwinkel der Fortschrittsidee zur Belanglosigkeit herabstufen. Nur in Einzelfällen bleibt die Bindung des Reiseberichts an den Fortschritt erhalten, so in der politisch motivierten jungdeutschen Reiseliteratur oder in jenen immer seltener werdenden Berichten über Forschungsreisen, in denen Reiseerfahrungen und wissenschaftlicher Ertrag noch nicht getrennt und für ein je verschiedenes Publikum mitgeteilt werden. Zugleich hat gerade auch die Auswertung der verkehrstechnischen Möglichkeiten den traditionalistischen Reiseformen Vorschub geleistet: Mit ihnen wurde das Reisen auch jenen Bevölkerungsschichten erschlossen, die grundsätzlich traditionalistisch orientiert waren und es auch blieben. Eine nur technisch und organisatorisch, durch eine Verbesserung der Infrastruktur induzierte Mobilität befördert nicht die Auflösung traditionalistischer Bindungen, sondern behindert sie eher. Das solchermaßen erleichterte Reisen führt zu Handlungsentlastungen, die den einzelnen vom Zwang zur Ausbildung einer mobilitätsspezifischen Mentalität befreien. Auch das ist einer der Gründe dafür, daß die Auswanderungsbewegungen des 19. Jahrhunderts zu einer Massenbewegung anschwellen konnten, innerhalb derer die traditionalistischen Reise- und Berichtsformen sich am markantesten herausgebildet haben.

III. Innerhalb dieser generellen Entwicklung der Gattung nimmt die Amerika-Literatur des 19. Jahrhunderts einen besonderen Status ein. In den wichtigsten ihrer Varianten zeichnet sie sich dadurch aus, daß sie - gemessen am aufklärerischen Fortschrittsprogramm des Reiseberichts - neue Funktionen übernimmt, mit denen sie sich einordnet in die Bedürfnisstruktur des ambivalenten zeitgenössischen Bewußtseins. Zu ihrem Charakteristikum wird, daß sie - mehr oder weniger stark - am traditionalistischen Grundzug des Zeitbewußtseins partizipieren. Am stärksten in diese Funktion einer Unterstützung traditionalistischer Verhaltensformen eingebunden ist die in ihren formalen Möglichkeiten breitgefächerte Auswandererliteratur, deren Spektrum vom Reiseroman und Reisebericht über den Auswanderer-»Ratgeber« bis hin zu Zeitungsberichten, unpublizierten Briefen, Inseraten, aber auch zu geographisch-statistischen Handbüchern oder Fahrplänen reicht. Diese Literatur ist schon von ihrer Funktion her eindeutig traditionalistisch orientiert: Sie dient der Unterstützung des Auswanderungsentschlusses und der Handlungsentlastung durch Herstellung von Verhaltenssicherheit während der Auswanderung und bei der Ansiedlung in der neuen Welt. Mit dieser traditionalistischen Orientierung teilt sie den Grundzug, der auch die deutsche Amerika-Auswanderung des 19. Jahrhunderts wesentlich bestimmt. Die Auswanderungsbewegung seit 1815 ist im wesentlichen reaktiv motiviert. Sie ist der Masse nach als eine Fluchtbewegung zu bestimmen, die 43

Vgl. Brenner, Die Erfahrung der Fremde, S. 38f.

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ihre treibenden Impulse aus realen ökonomischen und sozialen Krisen oder aus der Furcht vor solchen Krisen bezieht. Damit zielt sie - bei allen Ausnahmen im einzelnen 44 - generell eher auf Statusbewahrung, als daß sie innovativen Impulsen entspränge, die eine Statusverbesserung aus eigener Initiative ins Auge faßte: der Auswanderer ging weniger nach Amerika, um sich eine neue Zukunft aufzubauen als vielmehr um das bewährte Alte zu bewahren oder wiederzugewinnen. 45 Das unterscheidet den Auswanderer des 19. Jahrhunderts als Typus des Reisenden grundsätzlich von jenen neuzeitlichen Reisenden, die lange Zeit das Bild der europäischen Reiseliteratur geprägt haben. Das reaktive - und damit traditionalistische 46 - Verhalten der Auswanderer spiegelt sich deutlich in der Reiseliteratur, die sie hervorgebracht haben: Sie ist gekennzeichnet durch das Bedürfnis nach Sekurität, das auf die Bewahrung und Transferierung des Bewährten zielt und die Entwicklung neuer Bewußtseinsund Verhaltensformen gerade vermeiden will. Entsprechend ist die Erfahrung des Fremden bis hin zur Erfahrungshemmung oder Erfahrungsverweigerung geprägt durch die Rückbindung an das Vertraute, die kaum einmal durch die Wahrnehmung des Neuen aufgebrochen werden kann und die sich sehr häufig in der Re-Etablierung der gewohnten Lebens- und Geselligkeitsformen zur »Bewahrung des >Deutschthums«< in der Fremde realisiert. 47 Ganz anders scheint es sich bei jenem Typus von Texten zu verhalten, die quantitativ zwar nur einen geringen Teil der gesamten Amerika-Literatur ausmachen, ihrer Substanz nach aber repräsentativ sind für die ambivalente Bewußtseinsstruktur des deutschen 19. Jahrhunderts: Anders als der Auswanderer sucht der Abenteurer per definitionem den Ausbruch aus der Sekurität der bürgerlich organisierten Wirklichkeit. In der Tat zeigen die einschlägigen Texte ein ausgeprägtes Bedürfnis nach jener Weltoffenheit in der Lebens- wie in der Wahrnehmungsform, wie sie das Fortschrittsdenken der Neuzeit hervorgebracht hat. An keinem anderen Typus von Texten wird aber auch so deutlich, wie sehr dieses Bedürfnis durch die Entwicklungen des 19. Jahrhunderts redu44

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Vgl. Moltmann, Charakteristische Züge der deutschen Amerika-Auswanderung im 19. Jahrhundert, S. 46. Vgl. ebd., S. 43f. Vgl. auch Walker, Germany and the Emigration 1816-1885, S. 69. Diese generelle Behauptung von der überwiegend traditionalistischen Orientierung der deutschen Auswanderung ließe sich regional- und schichtspezifisch in verschiedener Weise erhärten; so weist Keil angesichts der deutschstämmigen Chicagoer Industriearbeiterschaft darauf hin, daß hier erst gegen Ende des Jahrhunderts die »konservative« Auswanderungsmotivation langsam durch eine »innovative, d.h., auf beruflichen und sozialen Wandel abzielende« ersetzt wird; vgl. Keil, Lebensweise und Kultur deutscher Arbeiter in Amerikas Industriezentren, S. 208. - Diese »reaktive« oder »konservative« Komponente, mit der Migranten auf eine Änderung ihrer Lebensumstände reagieren, in der Hoffnung, andernorts ihre Lebensform beibehalten zu können, ist ein charakteristisches Merkmal vieler Wanderungsbewegungen; vgl. Peterson/Thomas, (Art.) Migration, S. 289f. Vgl. Mannheim, Konservatismus, S. 97. Roebke, Die Akkulturationsproblematik im Spiegel der deutsch-amerikanischen Vereinspresse, S. 180.

ziert und in gegenläufige Bewegungen eingebunden wurde. Alle diese Texte von Abenteurern sind - ebenso wie ihre Autoren - geprägt durch die stets unaufgelöste Spannung zwischen Innovationslust und Sekuritätsbedürfnis. Die freiwillig unternommene und in oft revolutionär anmutendem Vokabular formulierte Flucht aus der erstarrten bürgerlichen Ordnung des 19. Jahrhunderts ist in einer Bewußtseinshaltung verankert, die ihre Zuflucht gerade in jenen konservativen Gemeinschaftsmodellen und Lebensentwürfen sucht, welche so charakteristisch für das 19. Jahrhundert geworden sind. Beim Abenteurer ist die Rückbindung an die eigene Kultur allerdings lockerer als beim Auswanderer. Sie tritt im wesentlichen als ein affektives Bedürfnis auf, das mit anderen Bedürfnissen - wie dem nach Verzicht auf Sekurität - konkurrieren kann und die charakteristische Spannung des abenteuerlichen Reiseberichts zwischen Sekuritäts- und Innovationsbedürfnissen konstituiert. Ähnlich wie die Abenteurer scheinen die deutschen Wissenschaftler, die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vor allem den Westen Amerikas bereisten, stärker am fortschrittsorientierten Reisemodell der Neuzeit als an traditionalistischen Reiseformen zu partizipieren. Auch an ihren Berichten läßt sich aber die zeittypische Spannung zwischen Tradition und Innovation ablesen. Gewiß zielen die Wissenschaftler auf Wirklichkeitsbeobachtung und Erkenntnisgewinn; damit haben sie Teil am Fortschrittsprogramm der Neuzeit, das den Begriff des »Fortschritts« geradezu als synonym mit dem der »Wissenschaft« zu definieren geneigt ist. 48 Dennoch unterscheidet sich ihr wissenschaftliches Verhalten von diesem Programm grundsätzlich. Die Form ihrer Beobachtungen und deren Verarbeitung trägt Züge, die im Rahmen der Wissenschaftsentwicklung als »traditionalistisch« zu kennzeichnen sind, da sie nur bedingt an den Prinzipien der neuzeitlichen Wissenschaftsentwicklung partizipieren. Diese bezog ihre Impulse gleichermaßen aus dem Zugewinn empirischer Daten wie auch aus ihrer methodischen Reflexion im Rahmen des »cartesianischen Zweifels«; die »Klärung der Methodenprobleme« nimmt über weite Strecken ihrer Entwicklung einen großen, oft den beherrschenden Raum ein. 49 Diese Dimension der methodenkritischen Reflexion der eigenen Erkenntnisvoraussetzungen ist bei den Amerika-Reisenden vollkommen storniert: Ihre Forschungen bleiben in konventionell gewordenen Paradigmen der Wahrnehmung und ihrer Verarbeitung eingebunden. Ihr Verfahren ist gleichermaßen empirieorientiert50 wie kumulierend. Es bleibt eingebettet in ein Netz »begrifflicher, theoretischer, instrumenteller und methodologischer« Verpflichtungen51 und zielt damit nicht auf die Erfahrung des genuin Neuen. Seine Absicht ist weniger die Entfaltung inno48 49

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Vgl. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 171 - 1 7 4 . Blumenberg, Philosophischer Ursprung und Kritik des Begriffs der wissenschaftlichen Methode, S. 135. Den Zusammenhang von Empirieorientierung und Konservativismus erörtert Horkheimer am Beispiel von Montaignes Skeptizismus; vgl. Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, S. 7f. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 56.

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vativer Erfahrungsparadigmen, sondern die Einordnung des Erfahrenen in das Vertraute, wie es das Charakteristikum von »normaler Wissenschaft« darstellt, die sich »innerhalb der durch die Lehrbücher definierten Tradition« vollzieht.52 Damit ist dieses von den reisenden Wissenschaftlern praktizierte Verfahren trotz seines ganz anderen Selbstverständnisses - nicht sehr weit entfernt von den Formen der Erfahrungsverweigerung, die sich in den Reiseberichten der Auswanderer finden lassen. Die neuzeitliche »theoretische« Neugierde verflacht zur bloß empirischen. In diesem Sinne erscheint es gerechtfertigt, auch diese Reisen und Reiseberichte der traditionalistisch orientierten Strömung zuzuschlagen: Sie stellt sich dar als eine strukturelle Einbindung in die Formen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns, wie sie die naturwissenschaftlichen oder ethnographischen Organisationsformen und Methoden der Zeit hervorgebracht haben. In dem dadurch vorgegebenen Rahmen bewegen sich die Wissenschaftler und partizipieren auf diese Weise an der Kultur, aus der sie hervorgegangen sind, wobei sie gleichzeitig sich aus ihr insofern lösen, als sie innerhalb dieses Rahmens kumulierend Neues sich aneignen und in die gegebenen Paradigmen einbetten. Für die drei Reisetypen des Auswanderers, des Abenteurers und des Wissenschaftlers und die entsprechenden Berichtsformen innerhalb der Amerika-Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts läßt sich somit als charakteristisches Element eine Ein- und Rückbindung an die Lebensformen der Ausgangskultur konstatieren. Die Reisenden bleiben der »Lebenswelt« verhaftet, aus der sie hervorgegangen sind: Als der vortheoretische »Bereich des Traditionalen, des Selbstverständlichen«53 bildet sie den unbefragten Rahmen, innerhalb dessen sich das Verhalten auf der Reise entfaltet.

52 53

44

Ebd., S. 177. Bergmann, Lebenswelt, Lebenswelt des Alltags oder Alltagswelt?, S. 65. Die vielfaltigen Implikationen der sehr diversifizierten Lebenswelt-Theorien, die in ihren Ursprüngen auf Husserl zurückweisen, können hier unerörtert bleiben; zu den philosophischen Ursprüngen des Begriffs vgl. Welter, Der Begriff der Lebenswelt. - Als eine theoretische Kategorie im Zusammenhang der Beschreibung von Modernisierungsprozessen als einem Wechselspiel von »System« und »Lebenswelt« hat Jürgen Habermas den Begriff wieder zur Beachtung in der sozialphilosophischen Diskussion verholfen; vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns II, S. 182-293. - Die Lebenswelt »bildet einen Horizont und bietet zugleich einen Vorrat an kulturellen Selbstverständlichkeiten«, aber sie »bleibt den Beteiligten als ein intuitiv gewußter, unproblematischer und unzerlegbarer holistischer Hintergrund im Rücken«; Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 348.

KAPITEL I

Der Auswanderer: Aufbruch ins »Land der Verheissung«

1. Auswanderung und Auswandererliteratur Das deutsche Interesse an Amerika erhielt seine Impulse durch konkret fixierbare historische Erscheinungen. Die erste war die Entdeckung des Kontinents durch Kolumbus und ihre Verbreitung durch die »Kolumbus«-Briefe; die zweite die amerikanische Unabhängigkeitserklärung. Im 19. Jahrhundert schließlich erhielt das Interesse an Amerika eine neue Qualität durch das Anschwellen der Auswanderung zu einem Massenphänomen. Was sich in den Jahrhunderten zuvor fast ausschließlich als eine durch publizistische Medien vermittelte und auf einige exponierte Momente konzentrierte unspezifische Neugierde an einem exotisch anmutenden fernen Kontinent dargestellt hatte, wird jetzt zu einem Phänomen, das mittelbar oder unmittelbar in die Lebenspraxis breiter Bevölkerungsschichten eingreift. Im Zuge dieser Entwicklung wird der Sozialtypus des Auswanderers zur zumindest quantitativ dominierenden Figur des deutschen Amerika-Reisenden im 19. Jahrhundert. Seine spezifischen Erwartungen ebenso wie die sozialen und mentalen Voraussetzungen der Auswanderung als einem sozialgeschichtlichen Vorgang prägen das deutsche Amerika-Bild der Zeit und geben konkrete Anreize für das Entstehen einer auswanderungsspezifischen Literatur. Die Motive der Auswanderer oder - in objektiver Wendung - die push- und /»«//-Faktoren der Auswanderung lassen sich aus sozial- und politikgeschichtlicher Retrospektive leicht identifizieren: Die Auswanderung ist als Reaktion zu begreifen auf die gesellschaftlichen Veränderungen im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Sie ist das Resultat realer ökonomischer Defizienzerfahrungen, zu denen Hungerkrisen ebenso wie die Strukturkrise des Handwerks gehörten; die Prozesse der Urbanisierung und Industrialisierung trugen gleichermaßen zur Auswanderung bei wie schließlich auch - im geringeren Umfang - die Unterdrückung liberaler Bewegungen durch Restauration und Reaktion, während die in der Frühzeit der deutschen Amerika-Auswanderung dominierenden - freilich kaum einmal in reiner Form auftretenden - religiösen Auswanderungsbewegungen im 19. Jahrhundert kaum noch eine Rolle spielen.1 1

Zur großen Bedeutung der religiös motivierten deutschen Auswanderung nach Pennsylvania, die durch ihren erfolgreichen Verlauf eine vorbildhafte Funktion auch für die späteren Auswanderungsbewegungen erhielt und die deren wesentliche Charakteristika vorprägte, vgl. Wokeck, Deutsche Einwanderung in die nordamerikanischen Kolonien, S. 29-33.

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Bei den verschiedenen Wellen der Auswanderungsbewegung im 19. Jahrhundert sind jeweils andere dieser historischen Ursachen der Auswanderung in den Vordergrund getreten und haben ein anderes Auswanderungsverhalten hergebracht. Damit scheint es fraglich, ob es methodisch überhaupt möglich und sinnvoll ist, einen einheitlichen Sozialtypus des Auswanderers bestimmen zu wollen. Zu divergierend sind die individuellen Motive und Erfahrungen der Auswanderer in den einzelnen sozialen Schichten, geographischen Regionen und historischen Zeitabschnitten, als daß von vornherein ihre typologisierende Reduktion statthaft erschiene. Tatsächlich läßt sich wohl der Typus des Auswanderers nicht im Rückgang auf die empirisch faßbaren Daten seiner realen Lebensumstände vor, während und nach der Auswanderung beschreiben. Aus ihnen ginge gewiß ein höchst heterogenes Bild sehr verschiedener sozialer Typen hervor, die sich kaum auf einen Nenner bringen ließen. Als eigener und kohärenter Idealtypus abgrenzbar wird der »Auswanderer« aber auf einer anderen Ebene als der der empirisch-sozialhistorischen Migrationsforschung. Die »Auswanderung« läßt sich auch bestimmen als eine spezifische Form des Reisens. Sozialhistorisch bringt sie ihre eigenen Mobilitäts- und Verhaltensformen wie auch Reisetechniken hervor; mentalitätsgeschichtlich arbeitet sie Einstellungen aus, die sich in speziellen, in der Ausgangskultur entwikkelten Erfahrungsformen und bestimmten Erwartungshaltungen gegenüber dem Zielland kristallisieren, welche wiederum die Urteile über beides bestimmen; literarhistorisch schließlich entstehen aus den besonderen Umständen der Reise als »Auswanderung« spezifische Arten der Fremderfahrung und ihrer literarischen oder para-literarischen Gestaltung. Der Auswanderer erfahrt, beurteilt und beschreibt die Wirklichkeit von Herkunfts- und Zielland anders als andere Reisende. Seine Einstellungen und Erfahrungen werden durch seine spezifische Reiseform präformiert. Diese Reiseform unterscheidet sich von anderen grundlegend dadurch, daß sie das dauerhafte und nicht nur temporäre Verlassen eines homogenen - geographisch, kulturell oder politisch definierten - Raumes in eine weiter entfernte Region zum Ziel hat. Die sozialwissenschaftliche Minimaldefinition ist freilich von geringer Aussagekraft, da sie entscheidende Momente vernachlässigen muß, die zur historischen und typologischen Ausdifferenzierung des Auswanderungsphänomens herangezogen werden müssen. Für das Verständnis des konkreten Vorgangs der Auswanderung ebenso wie der ihn begleitenden Auswandererliteratur spielt es eine erhebliche Rolle, ob eine Auswanderung freiwillig oder erzwungen ist und ob es sich um ein individuelles Verhalten oder um eine Massenbewegung handelt. Auch die konkreten ökonomischen, sozialen, politischen Motive geben in ihrer jeweiligen Zusammensetzung und Gewichtung verschiedenen Auswanderungsbewegungen ein je spezifisches Gepräge, und schließlich bedarf auch der Einfluß der Auswanderung auf die Gesellschaft und die Kultur der Ausgangs- wie der Zielländer der Berücksichtigung.2 2

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Zu den typologischen und historischen Aspekten des sozialen Phänomens »Auswande-

Die Bereitschaft zur Auswanderung und deren konkrete Ausgestaltung kann viele Ursachen haben, und nur deren genaue Rekonstruktion erlaubt es, die Erfahrung und Beschreibung der eigenen wie der fremden Wirklichkeit durch Auswanderer aus ihrem geschichtlichen Rahmen heraus zu verstehen. Erst in diesem Kontext wird es möglich, die Formen und Funktionen der im Rahmen der Auswanderungsbewegung entstandenen Literatur in ihren Aussagen über die erfahrene Wirklichkeit wie auch in ihren besonderen Darstellungs-Strukturen als spezifische Reaktion auf historische Entwicklungen plausibel zu machen, ihre Funktion innerhalb dieser Entwicklungen zu bestimmen und sie abzugrenzen von historisch und typologisch anders gelagerten Erfahrungsformen. Es wäre also zu klären, warum die Auswandererliteratur des fraglichen Zeitraums ihre spezifische Ausformung erhalten hat. Dabei wäre die Voraussetzung methodisch naiv, daß die Auswandererliteratur einfach nur die literarische Umsetzung realer Wirklichkeitserfahrung sei. Es ist vielmehr zu fragen, unter welchen Voraussetzungen solche Erfahrungen und dann wieder ihre literarischen Verarbeitungen zustande gekommen sind. Eine solche Untersuchung muß weit ausholen und jene Faktoren auf den verschiedensten Untersuchungsebenen zu berücksichtigen versuchen, die auf die Gestaltung dieser auswanderungsspezifischen Art von Amerika-Literatur Einfluß genommen haben können. Dazu gehört zunächst das unmittelbare realhistorische Umfeld der Auswanderung mit seinen sozialgeschichtlichen und politischen Bedingungen ebenso wie seinen reisetechnischen Voraussetzungen. Dazu gehören weiterhin die Funktionen, welche die Auswandererliteratur im Rahmen der Auswanderungsbewegung, aber auch in der innerdeutschen Diskussion sowohl über Amerika wie auch über die deutsche Gesellschaft wahrzunehmen hatte. Schließlich sind die Elemente zu untersuchen, die den Erwartungshorizont der Auswanderer bestimmten: die in Europa seit Jahrhunderten etablierten geistes- und ideengeschichtlichen Vorstellungen über Amerika ebenso wie die zeitgenössischen Informationen, welche von Wissenschaftlern, Publizisten oder Reisenden bereitgestellt und diskutiert wurden. Alle diese Faktoren wirken auf die Wahrnehmungsbereitschaft und die Erfahrungsmöglichkeit der Auswanderer ein; sie bestimmen die Gestalt, die sie ihren Berichten geben und sie präformieren die Urteile, die sie über das eigene Land wie über die fremde Wirklichkeit fallen.

rung« vgl. Peterson/Thomas, (Art.) Migration; zur abstrakten Definition und ihren Problemen bes. S. 286f. - Zu den aktuellen Problemen der Auswanderungsforschung in bezug auf die USA vgl. Moltmann, Die deutsche Auswanderung in überseeische Gebiete, S. 10-27.

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2. Die deutsche Amerika-Auswanderung des 19. Jahrhunderts: Verlauf und Ursachen Die deutsche A m e r i k a - A u s w a n d e r a n g k a n n im 19. Jahrhundert auf eine lange Tradition zurückblicken: Eine erste, religiös motivierte, Massenauswanderung v o r allem aus der Pfalz begann um die Wende vom 17. z u m 18. Jahrhundert, 3 und hielt während des ganzen Jahrhunderts an, wobei Südwestdeutschland z u m Z e n t r u m wurde. N a c h einem Abflachen der Bewegung zu Beginn des 19. J a h r hunderts brachten die Jahre 1816/1817 einen weiteren Auswanderungsschub, dessen Schwerpunkt wiederum in d e r Pfalz lag. Während vor dieser Zeit die Z a h l der Auswanderer bei einigen tausend pro Jahr gelegen haben dürfte, steigerte sie sich in diesen beiden Jahren etwa auf 2 0 0 0 0 . 4 Die Auswanderungsbewegungen im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts sind a n h a n d der amerikanischen Einwanderungsstatistik der Tendenz nach ziemlich genau zu erfassen. 5 F ü r die Zeit von 1841 bis 1910 läßt sich - bezogen a u f das Gebiet des deutschen Reiches vor dem Ersten Weltkrieg - eine ungefähre Auswandererzahl von etwa fünf Millionen berechnen;

sie erreichte einen Höhepunkt

in den

Jahren

1 8 5 3 - 1 8 5 5 , wobei wiederum die Gebiete von Württemberg, Baden und der Pfalz besonders betroffen waren. N a c h 1855 geht die Bewegung wieder stark zurück, u m erst 1880 wieder anzusteigen. 6

3

Vgl. Marschalck, Deutsche Überseewanderung im 19. Jahrhundert, S. 30; Schmidt, Die verschiedenen Einwandererwellen in die Vereinigten Staaten von Nordamerika von den Anfangen bis zur Quotengesetzgebung, S. 330. Einen ausgezeichneten und trotz seiner Gedrängtheit vielschichtigen Überblick über die Gesamtbewegung der deutschen Auswanderung seit ihren Anfängen gibt Fenske, Die deutsche Auswanderung. Einen ebenfalls hervorragenden Einblick in die verschiedenen Aspekte der Auswanderungsbewegungen und ihrer Erforschung gibt der Beitrag von Helbich/Kamphoefner/ Sommer, Einführung, S. 11-31. Über den neuesten Stand der Auswanderungsforschung informiert mit reichen bibliographischen Angaben auch Mikoletzky, Die deutsche Amerika-Auswanderung des 19. Jahrhunderts in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur, S. 2 - 9 .

4

So die Schätzung bei Kapp, Ueber Auswanderung, S. 8; Marschalck, Deutsche Überseewanderung im 19. Jahrhundert, S. 34f. Wichtig sind die seit 1820 geführten amerikanischen Einwanderungslisten, die allerdings auch nichtdeutsche Einwanderer, die sich in deutschen Häfen eingeschifft hatten, zur deutschen Emigration zählen. Daneben stehen die Statistiken der deutschen Überseehäfen und die allgemeinen Bevölkerungsstatistiken zur Verfügung. Zu den Problemen der Datenerhebung vgl. Mönckmeier, Die deutsche überseeische Auswanderung, S. 14f.; Thistlethwaite, Europäische Überseewanderung im 19. und 20. Jahrhundert, S. 329; Burgdörfer, Migration across the Frontiers of Germany, S. 314; Fenske, Die deutsche Auswanderung, S. 201 f. Eine Darstellung des allgemeinen Wanderungsverlaufs und seiner Ursachen gibt Burgdörfer, Migration across the Frontiers o f Germany, S. 3 1 6 - 3 1 8 . Eine Statistik der Einwanderung nach der Zählung der amerikanischen deutschen Behörden gibt Burgdörfer ebd., S. 333f.; vgl. auch die Tabelle bei Marschalck, Deutsche Überseewanderung im 19. Jahrhundert, S. 36f.; zur regionalen Herkunft der deutschen Auswanderung vgl. ebd., S. 38.

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Solche Zahlen sprechen nicht für sich. Sie gewinnen ihre eigentliche Bedeutung erst, wenn die in ihnen festgehaltenen Migrationsbewegungen in Bezug gesetzt werden zu sozialhistorischen Erscheinungen ebenso wie zu den sozialpsychologischen Prozessen, durch die Auswanderung verursacht oder verhindert wird. Für die deutsche Überseewanderung im 19. Jahrhundert ist zunächst festzustellen, daß ihre quantitativen Höhepunkte einhergehen mit akuten ökonomischen Mängelerscheinungen in Deutschland: Die erste bedeutende Auswandererwelle des 19. Jahrhunderts um 1816 verweist ziemlich eindeutig auf diesen Grund: Mißernten und damit verbundene Preissteigerungen haben die Auswandererzahl deutlich ansteigen lassen; ebenso wie der absolute Höhepunkt der Emigrationsbewegung in der Mitte der fünfziger Jahre einen solchen Bezug zur ökonomischen Lage aufweist.7 Eine derartige unmittelbare Korrelation zwischen ökonomischer Notlage und Auswanderung ist jedoch nicht nur sehr selten sichtbar; sie reicht als Erklärung für Wanderungsbewegungen selbst dort nicht aus, wo sie - wie in den beiden genannten Fällen - zunächst eindeutig zu sein scheint. Damit aus vermeintlich zwingenden ökonomischen Gründen tatsächlich eine massenhafte Auswanderungsbewegung hervorgeht, muß eine Fülle von weiteren Voraussetzungen gegeben sein, die aus dem Potential eine reale Bewegung werden läßt; während umgekehrt ein Zusammentreffen dieser Faktoren auch dann eine Emigration bewirken kann, wo ein direkter ökonomischer Anlaß sich nicht ohne weiteres feststellen läßt. In der Auswanderungsbewegung summieren sich zunächst verschiedene Elemente längerfristiger sozialgeschichtlicher Entwicklungen. Der Auswanderungsentschluß wurde, soweit es seine objektiven Voraussetzungen betraf, durch eine sichtbare oder zumindest vage spürbar werdende Verschiebung der Existenzbedingungen breiterer Bevölkerungsschichten hervorgerufen. Dazu gehörten im agrarischen Bereich die durch das Erbrecht geförderte Landfragmentierung in den südwestdeutschen Gebieten8 wie überhaupt die »Umwälzungen in der heimischen Landwirtschaft und Agrarverfassung«, vor allem durch die Bauernbefreiung, »von großer Wirkung gewesen« sind.9 Diese Entwicklung führte dazu, daß besonders in den vierziger Jahren die landwirtschaftlichen Berufe den größten Anteil in der Auswanderung ausmachten.10 Von den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturveränderungen sowie von der relativen Übervölkerung wurden neben den Landwirten vor allem die Handwerker und das Heimgewerbe betroffen, so daß diese Berufsgruppen 7

Burgdörfer, Migration across the Frontiers of Germany, S. 342; Hansen, Die deutsche Auswanderung im 19. Jahrhundert - ein Mittel zur Lösung sozialer und sozialpolitischer Probleme?, S. 18; Abel, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa^. 324-326. 8 Zu den Besonderheiten des auswanderungsfördernden Erbrechts in Südwestdeutschland vgl. Fenske, Die deutsche Auswanderung, S. 186f. 9 Mönckmeier, Die deutsche überseeische Auswanderung, S. 39; vgl. auch Hansen, Die deutsche Auswanderung im 19. Jahrhundert, S. 13f.; Walker, Germany and the Emigration, S. 47f. 10 Vgl. Hansen, Die deutsche Auswanderung im 19. Jahrhundert, S. 14.

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ebenfalls einen gewichtigen Anteil der deutschen Auswanderer bis etwa zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts stellten.11 Im letzten Drittel des Jahrhunderts wandelt sich die berufliche Struktur der Auswanderer, wobei die Verlagerung der regionalen Schwerpunkte eine Rolle spielt: Die südwestdeutschen Gebiete wurden als Zentren abgelöst von den mittel- und ostdeutschen, und an die Stelle selbständiger Landwirte traten Tagelöhner und Arbeiter.12 Die ökonomisch veranlaßte Auswanderung stellte bei weitem das größte Kontingent;13 daneben blieben andere historisch bekannte Auswanderungsgründe wie religiöse14 Verfolgung und politische Repression weitgehend bedeutungslos.15 Allerdings wurde die politisch motivierte Auswanderung aus Deutschland um die Jahre 1830 und 1848 insofern wichtig, als sie bewußtseinprägend gewirkt hat. Im Zusammenhang mit ihr verfestigte sich noch einmal das traditionelle Bild von Nordamerika als dem Land politischer Freiheitshoffnungen und Deutschland als dem Land der Unterdrückung. Die ausgewanderten politischen Flüchtlinge haben zudem durch ihre Aktivitäten in der amerikanischen Politik der politischen Emigration zu einer Beachtung verholfen, die in keinem Verhältnis zu ihrem Umfang steht. Dieser Umfang ist quantitativ kaum zu bestimmen, zumal ein solcher Bestimmungsversuch Definitionsprobleme aufwirft: Auch in jene Massenbewegung, die durch ökonomisch-soziale Motive zur Auswanderung veranlaßt wurde, spielen politische Gründe hinein. In den bäuerlichen Unterschichten werden diese Gründe freilich kaum einmal bewußt oder gar präzise artikuliert; sie werden aber in ihrem Einfluß auf die eigene wirt" Vgl. die Aufschlüsselung der deutschen Auswanderung nach Berufen, die allerdings aufgrund der für einzelne Regionen und Zeitabschnitte uneinheitlichen Quellenlage lückenhaft bleiben muß, aber doch deutliche Tendenzen erkennen läßt, bei Mönckmeier, Die deutsche überseeische Auswanderung, S. 151-194. Eine differenzierte Darstellung der wirtschaftlichen Auswanderungsgründe gibt auch Marschalck, Deutsche Überseewanderung im 19. Jahrhundert, S. 61-68. 12 Vgl. Walker, Germany and the Emigration, S. 184f.; S. 188f.; Marschalck, Deutsche Überseewanderung im 19. Jahrhundert, S. 78f.; Burgdörfer, Die Wanderungen über die deutschen Reichsgrenzen im letzten Jahrhundert, S. 301 f. 13 Schmidt, Die verschiedenen Einwandererwellen in die Vereinigten Staaten von Nordamerika, S. 347. - Über diesen Befund besteht weitgehend Einigkeit in der Auswanderungsforschung. 14 Die einzige quantitativ bedeutendere religiös motivierte Auswanderungsbewegung des 19. Jahrhunderts scheint die der preußischen Altlutheraner gewesen zu sein. 1839 wanderten 1239 von ihnen in die USA aus; ihren Höhepunkt erreichte die Bewegung 1843 mit 1600 Emigranten. Vgl. Clemens, Die Auswanderung der pommerschen Altlutheraner in die USA, S. 55 und S. 75. Diese Bewegung wurde zwar ursprünglich von religiösen Motiven geleitet, aber von Anfang an spielte auch jene Melange von wirtschaftlichen, sozialen und allgemeinpolitischen Gründen eine Rolle, wie sie für die Auswanderungsbewegung des 19. Jahrhunderts überhaupt charakteristisch ist; vgl. ebd., S. 62 bis 66; S. 79-81; S. 91f. 15 Zur - ahistorischen - Typologie von Auswanderungsgründen vgl. Schelbert, Einführung in die schweizerische Auswanderungsgeschichte der Neuzeit, tabellarisch S. 47; vgl. auch Köllmann, Versuch des Entwurfs einer historisch-soziologischen Wanderungstheorie, S. 262.

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schaftliche und soziale Existenz doch diffus erfahren; »ökonomische Probleme und politische Machtlosigkeit der bäuerlichen Unterschichten« waren insofern stets miteinander verquickt.16 1842 hat List in einem großen Aufsatz über die wirtschaftlichen und sozialen Implikationen der Auswanderung diese Zusammenhänge noch einmal hervorgehoben: In Amerika stehen der Ansiedlung des deutschen Bauern keine gutsherrlichen und Patrimonialrechte, keine Zehnten, keine Fronen, keine kulturhinderlichen Gesetze entgegen; er hat keinerlei Art von Willkür oder Druck zu befürchten; einzig mit der Natur hat er den Kampf zu bestehen, und ist diese glücklich besiegt, so ist er freier Bürger, ausschließlicher Besitzer der Früchte seines Fleißes. Warum denn sonst würde er Tausende von Meilen weit hinziehen, die Gefahren und Leiden einer großen See- und Landreise bestehen und sich eine Reihe von Jahren hindurch in die Wildnis begraben?17

In diesem Sinne wirkten politische Rahmenbedingungen in die Massenauswanderung hinein; und die Forderungen der liberalen Bewegungen von 1830 und 1848 mögen dazu beigetragen haben, das Bewußtsein für solche Formen der Unterdrückung zu schärfen.18 Die ausschließlich politische Emigration, die auf direkte staatliche Verfolgung oder die Furcht vor ihr zurückging, blieb dagegen ein Phänomen, von dem nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Intellektuellen betroffen war - sie dürfte »einige Tausend nicht überschritten« haben.19 Insgesamt jedoch wurden die hauptsächlichen Auswanderungskontingente von Handwerkern, Kleingewerbetreibenden, selbständigen Landwirten und unselbständigen landwirtschaftlichen Arbeitern gestellt. Die objektiven Gründe für die Auswanderung liegen eindeutig im ökonomischen Bereich: Relative Verarmung, berufliche Verunsicherung oder auch nur die Angst vor einem Verlust des erreichten Lebensstandards, also überhaupt »wirtschaftliche Erwägungen und die Hoffnung, in der neuen Welt sich eine bessere Zukunft schaffen zu können«, gaben bei den meisten Auswanderern den Ausschlag für ihren Entschluß.20 Der reale Auswanderungsverlauf wird indes nicht nur gesteuert von solchermaßen bestimmbaren ökonomischen und sozialen Ursachen. Einen erheblichen Einfluß auf Ausmaß und Richtung der Auswanderung hat auch die zeitweise sehr intensiv geführte politische Diskussion ausgeübt, die sich teilweise in konkreten ordnungspolitischen Maßnahmen umsetzte, teilweise aber auch nur auf die mentale Bereitschaft zur Auswanderung positiv oder negativ einwirkte. Die Richtung, die diese Diskussionen genommen haben, wurden indes nicht nur durch das Phänomen der Auswanderung selbst, sondern ebensosehr durch öko16

Kamphoefner, Westfalen in der Neuen Welt, S. 75. List, Die Ackerverfassung, die Zwergwirtschaft und die Auswanderung (1842), S. 499. 18 Vgl. Walker, Germany and the Emigration, S. 66; Hansen, The Revolutions of 1848 and German Emigration, S. 631. " Marschalck, Deutsche Überseewanderung im 19. Jahrhundert, S. 58; Dobert gibt für die politischen Flüchtlinge von 1848 eine Zahl von 3 0 0 0 - 4 0 0 0 an; vgl. Dobert, Deutsche Demokraten in Amerika, S. 17; und Hansen, Der Einwanderer in der Geschichte Amerikas, S. 14. 20 Schmidt, Die verschiedenen Einwandererwellen in die Vereinigten Staaten von Nordamerika, S. 347. 17

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nomische und politische Interessen wie auch durch traditionelle oder neu entstandene staats-, wirtschafts- und gesellschaftstheoretische Konzepte beeinflußt. Sie bilden die Basis für die Ausarbeitung von Lösungsvorschlägen, mit denen einer virulent werdenden sozialen Problematik begegnet werden sollte, als deren Manifestation die Auswanderungsbewegung durchwegs betrachtet wurde. In dieser Diskussion werden die tatsächlichen oder vermeintlichen Gründe der Emigration diskutiert; und in sie gehen direkt oder indirekt die lebhaften politischen Auseinandersetzungen ein, die um das Problem geführt wurden. Die zentrale Ursache der Auswanderungsbewegungen wurden von den meisten zeitgenössischen Autoren in der Übervölkerung einzelner deutscher Gebiete gesehen. Schon 1817, als das Ansteigen der Auswanderung zur Massenbewegung erkennbar und das Thema virulent wurde, hatte Hans von Gagern dieses Argument in die Diskussion eingeführt und auf die auswanderungsstimulierenden sozialen Fragen aufmerksam gemacht: Der vermehrten Menschenzahl stehen unzureichende Lebensbedingungen gegenüber; Mißernten führen zur Verteuerung der Lebensmittel; die Erträge der Äcker nehmen ab; und schließlich haben so »viele in Gang gekommene Ideen, ächte und unächte, [...] die Armuth unleidlicher gemacht.«21 Das Überbevölkerungsargument spielt bis zur Jahrhundertmitte in der Diskussion eine zentrale Rolle. Die meisten Auswanderungsschriften sind sich darüber einig, daß Deutschland zusehends weniger in der Lage ist, seine ständig wachsende Bevölkerung zu ernähren: Millionen Menschen darben; umsonst suchen wir es uns zu verhehlen; und nichts vermag diesem schrecklichen Zustande ein Ende zu machen, als - Beförderung und Erleichterung der Auswanderung derjenigen Erwerbsbedürftigen, welche die n o t w e n digsten Bedürfnisse nicht zu erschwingen vermögen.22

1829 schließt sich Gottfried Duden in seiner außerordentlich wirkungsträchtigen Schrift diesem Argument an, wenn er feststellt, daß die Bevölkerungszunahme die Mehrheit der Deutschen dem »Loose der Lastthiere sehr nahe bringt.«23 Für die besonders von der Auswanderung betroffenen Regionen - also namentlich den südwestdeutschen Raum - ist dieses Argument zweifellos zutreffend; hier zeigte sich die Neigung der »Bevölkerung, über die Grenzen des Nahrungsspielraums hinauszuwachsen«, deutlich, und die Auswanderung hat zur Entschärfung dieses Problems wesentlich beigetragen.24 Allerdings besteht kein direkter kausaler Zusammenhang; eine Fülle von objektiven und mentalen Rahmenbedingungen - Gagern deutet das an - muß gegeben sein, damit sich der demographische Druck tatsächlich im Auswanderungsentschluß größerer Be-

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[Gagern], Ueber die Auswanderung der Deutschen, S. 7; vgl. auch Hansen, die deutsche Auswanderung im 19. Jahrhundert, S. 21. 22 Gall, Meine Auswanderung nach den Vereinigtem Staaten in Nord=Amerika im Frühjahr 1819 und meine Rückkehr nach der Heimath im Winter 1820 (1822) I, S. 67. 23 Duden, Bericht über eine Reise nach den westlichen Staaten Nordamerika's und einen mehijährigen Aufenthalt am Missouri (1829), S. X. 24 Marschalck, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, S. 22.

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völkerungsteile kristallisiert. 25 Der Anstieg der Bevölkerung wurde auch durch andere M a ß n a h m e n als die Auswanderung aufgefangen. Er rief sozialpolitische und wirtschaftliche Gegenreaktionen hervor, die den Bevölkerungszuwachs etwa durch Heiratsrestriktionen - eindämmten, ihn durch Binnenwanderungen regulierten und zugleich die Arbeits- und Ernährungsmöglichkeiten ausweiteten. 26 Im Rahmen dieser Möglichkeiten stellt die Auswanderung nur die ultima ratio dar; sie war jedoch für politische Aktivitäten deshalb besonders attraktiv, weil sie ein unmittelbar und schnell wirksames sowie ein gegenüber den anderen Steuerungsmöglichkeiten verhältnismäßig leicht zu beeinflussendes Instrument darstellte. Deshalb rückt die Auswanderungspolitik als Hilfsmittel zur Lösung sozialer Probleme schnell in den Blickpunkt der sozialpolitischen Diskussion. Während im 18. Jahrhundert, aber auch noch bis weit ins 19. Jahrhundert, versucht wurde, die Emigration als nationalökonomisch schädlich zu erschweren oder sogar zu verbieten, 27 erweist es sich jetzt zusehends als wünschenswert, sie gezielt zu fördern. Der Stimmungsumschwung in der politischen Diskussion wurde herbeigeführt durch die Beobachtung akut werdender sozialer Probleme und der Furcht vor ihren möglichen politischen Folgen: Die reale oder drohende Pauperisierung breiterer Bevölkerungsschichten, die ein permanentes Unruhepotential schuf, führte nicht nur zu einer Auflockerung der Restriktionen von Auswanderungsbestrebungen, sondern schließlich zu deren aktiver staatlicher Förderung. Während in der Frühphase der Auswanderungspolitik - sie wird vor allem durch die Bemühungen H a n s von Gagerns initiiert 28 - philanthropische Überlegungen mit dem Ziel der Verbesserung der Lage des einzelnen im Mittelpunkt standen, tritt jetzt zusehends das Interesse des Staates in den Vordergrund. Die Zielrichtung des Interesses ist eindeutig. Bromme kann als stärkstes Argument für eine Unterstützung der Auswanderung den ständig steigenden Pauperismus anführen: denn, wenn diese Klasse, bei stets fehlgeschlagenen Erwartungen ihrer Industrie, endlich den Muth verliert sich redlich und ehrlich zu ernähren, und nun sinnt, die fehlende Lücke durch List, Ränke und Betrügereien aller Art zu ergänzen, [...] und dann in Un-

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Vgl. Fenske, Die deutsche Auswanderung, S. 186f.; v. Hippel, Auswanderung aus Südwestdeutschland, S. 123-125. Walker, Germany and the Emigration, S. 54f.; Mönckmeier, Die deutsche überseeische Auswanderung, S. 51 f. Hansen, Die deutsche Auswanderung im 19. Jahrhundert, S. 37; Kuckhoff, Die Auswanderungsdiskussion während der Revolution von 1848/1849, S. 102. Die südwestdeutsche Auswanderungspolitik, in der sich ein Wandel der Einstellung schon um 1780 vollzog, wird dargestellt bei Hippel, Auswanderung aus Südwestdeutschland, S. 94 bis 112; zur Aufhebung der Auswanderungsverbote in Baden und Württemberg zu Beginn des 19. Jahrhunderts vgl. auch Bretting, Der Staat und die deutsche Massenauswanderung, S. 52f. Hansen, Die deutsche Auswanderung im 19. Jahrhundert, S. 21; Walker, Germany and the Emigration, S. 24-28.

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muth und Verzweiflung geräth, dann ist für die Ruhe und Sicherheit selbst unsers neuen deutschen Staatenbaues Alles zu fürchten.29

Wenn sich solche Überlegungen mit finanziellen Berechnungen verbanden, nach denen die Unterstützung der Auswanderung eine tatsächliche oder potentielle Entlastung der Armenkassen mit sich brächte, war der Weg nicht nur zur Aufhebung der Auswanderungs-Restriktionen, sondern auch zur direkten organisatorischen und finanziellen Unterstützung nicht mehr weit. Die einzelnen Staaten handhabten das Problem unterschiedlich; aber der »Gedanke an einen gesellschaftsstabilisierenden Effekt der deutschen Auswanderung läßt sich indessen durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch verfolgen«:30 Die Auswanderung wird zum »Sicherheitsventil« der deutschen Gesellschaftspolitik. Vor allem die südwestdeutschen Staaten und Gemeinden gingen seit den vierziger Jahren zur direkten Unterstützung über, die zu regelrechten Abschiebungen führen konnte, und andere folgten bald diesem Beispiel.31 Berüchtigt wurde die »GroßZimmern-Affare«: 1846 unterstützte die Verwaltung der hessischen Gemeinde Groß-Zimmern die Auswanderung von rund 700 Personen mit finanziellen Zuschüssen. Die schlechte Organisation des Unternehmens führt indes dazu, daß die Auswanderer völlig verarmt in New York ankamen und erregte Reaktionen in der amerikanischen Öffentlichkeit hervorriefen.32 Schließlich wurde die staatliche Auswanderungsunterstützung auch dazu benützt, Kriminelle nach Amerika abzuschieben - ein Vorgang, der quantitativ zwar unbedeutend blieb, aber ebenfalls einen erheblichen Einfluß auf die amerikanische Meinungsbildung gegenüber Ausländern hatte.33 Diese Maßnahmen der einzelnen Staaten und Gemeinden im Zusammenhang mit der Auswanderungsförderung mündeten in einer gesamtdeutschen Diskussion über das Problem im Bundestag, in der die rechtlichen, politischen, ökonomischen und nationalen Dimensionen erörtert wurden. Diese Diskussion

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Bromme, Hand- und Reisebuch für Auswanderer nach den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika (61849), S. 7. 30 Moltmann, Nordamerikanische »Frontier« und deutsche Auswanderung - soziale »Sicherheitsventile« im 19. Jahrhundert?, S. 284. 31 Vgl. ebd., S. 287-289; Hansen, Deutsche Auswanderung im 19. Jahrhundert, S. 39 bis 44; einen zusammenfassenden Überblick über die deutsche Auswanderungspolitik in Deutschland und die Einwanderungspolitik in den Vereinigten Staaten geben Schöberl, Auswanderungspolitik in Deutschland und Einwanderungspolitik in den Vereinigten Staaten, S. 325-327; Bretting, Der Staat und die deutsche Massenauswanderung; Fenske, Die deutsche Auswanderung in der Mitte des 19. Jahrhunderts, S. 224; zu den Abschiebe-Praktiken im mittelfränkischen Raum um 1855 vgl. Wellhausen, Über die deutsche Auswanderung nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika im 19. Jahrhundert, S. 14. 32 Vgl. Bretting, Soziale Probleme deutscher Einwanderer in New York City, S. 102-113; eine Darstellung des Verlaufs dieser Affare gibt Köhler, Die große Auswanderung im Jahre 1846 (Groß-Zimmern). 33 Vgl. Moltmann, Die Transportation von Sträflingen im Rahmen der deutschen Amerikaauswanderung des 19. Jahrhunderts, S. 183.

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führte zum Auswanderungsgesetz von 1849, welches das prinzipielle Recht auf Auswanderungsfreiheit formulierte und die rechtlichen Rahmenbedingungen zum Schutz der Auswanderer festlegte: »Der Staat anerkannte seine Pflicht, auch den aus dem Staatsverband ausscheidenden Bürger zu schützen.«34 Über solche legislative Regelungen hinaus kam es jedoch kaum zu konkreten Ansätzen einer gesamtstaatlich gelenkten Auswanderungsförderung; die Diskussion um deutsche Kolonisationsprojekte - in der der Donauraum als Zielregion ins Auge gefaßt wurde35 - verlief schließlich im Sande. Charakteristisch für das allgemeine Interesse des Bundestages an solchen Fragen ist eine Episode in der Biographie Gerstäckers: 1849 hatte er einen Reisekostenzuschuß beantragt und erhalten, um - wie Heinrich Wuttke in seiner Empfehlung des Antrags an den Ministerpräsidenten v. Gagern schrieb »Gewisses und Sicheres über die überall durch die Welt zerstreuten Deutschen zu erfahren«, was »im Interesse der Reichsregierung liegen« dürfte.36 In diesem Projekt treten die symptomatischen Elemente des neuen deutschen Interesses an der Auswanderung hervor. Gerstäckers Empfehlungen sind, wie die Vorstellungen seiner Zeitgenossen, eine »mehr von irrationalem Enthusiasmus als von politischem Realismus getragene Mischung ökonomischer, bevölkerungspolitischer, maritimer und machtpolitisch ambitionöser Gesichtspunkte, untermalt von nationalem Rivalitäts- und Prestigedenken.«37 Diese Palette von administrativen Maßnahmen zur Initiierung oder Erleichterung der Auswanderung ebenso wie die intensive öffentliche Diskussion über ihre ökonomischen und nationalpolitischen Aspekte haben sicherlich wesentlich dazu beigetragen, breitere Bevölkerungsschichten mit dem Gedanken an eine Auswanderung vertraut zu machen und damit die mentale Disposition für den endgültigen Entschluß zu schaffen.

3. Funktionen und Formen der Auswandererliteratur im historischen Prozeß Eine Bewegung, die sowohl in der sozialhistorischen Realität wie auch in der öffentlich-politischen Diskussion solche Verwerfungen bewirkt hat wie die deutsche Amerika-Auswanderung des 19. Jahrhunderts, mußte nicht nur ihre Spuren in der Literatur hinterlassen, sondern auch ihre eigene Literatur hervorbringen. Die literarische Aufarbeitung des Phänomens vollzieht sich auf verschiedenen ziemlich deutlich voneinander unterscheidbaren Ebenen: Der Auswanderer 34

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Kuckhoff, Die Auswanderungsdiskussion während der Revolution von 1848/1849, S. 127; vgl. auch den Kontext S. 125-130. Vgl. ebd., S. 133f. Auswanderungsakten des deutschen Bundestags (1817-1866) und der Frankfurter Reichsministerien, S. 78. Moltmann, Überseeische Siedlungen und weltpolitische Spekulationen, S. 60; vgl. auch Ostwald, Friedrich Gerstäcker, S. 27f.

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wird seit dem Beginn des Jahrhunderts zu einem Motiv, dessen sich auch die nicht-auswanderungsspezifische Literatur häufig bedient; es entsteht sodann eine eigene fiktionale Literatur, die ausschließlich um die Auswanderung zentriert ist; schließlich entwickelt die Auswanderung selbst auch verschiedene Literaturformen, die aus auswanderungsspezifischen Bedürfnissen hervorgehen. Die Facetten des Auswanderer-Motivs in der fiktionalen Literatur des 19. Jahrhunderts sind nicht besonders vielfaltig, aber sie lassen doch einiges von dem erkennen, was die treibenden real- und mentalitätsgeschichtlichen Impulse waren, welche die Auswanderungsbewegung initiierten. Die ziemlich stereotype Darstellung des Phänomens in der fiktionalen Literatur gibt einen ersten Aufschluß darüber, welche Erwartungen mit der Übersiedlung in den neuen Kontinent verknüpft wurden und welche Defizite der eigenen Kultur in diesem Zusammenhang als relevant erschienen. Daß diese Aussagen in der Regel nur auf spärlichen Kenntnissen über Amerika und über die Realität der Auswanderungsbewegung beruhten, verleiht ihnen einen spezifischen Stellenwert in der Amerika-Literatur: Es sind nicht in vagen mentalen Einstellungen verankerte, sondern meist klar formulierte Aussagen über Vorstellungen, die sich in der Bildungs- und Intellektuellenschicht des 19. Jahrhunderts sedimentiert haben. Sie dürfen deshalb nicht einfach nur als Spiegelung eines populären Amerika-Verständnisses verstanden werden, sondern als mehr oder weniger reflektierte Konzeptualisierungen eines einigermaßen klar umrissenen Amerika-Bildes. Als solche haben sie erheblich beigetragen zur Herausbildung eines Erwartungshorizontes, der die Amerika-Auffassung der Auswanderungsbewegung wesentlich geprägt hat, auch wenn er in der Regel weit entfernt von der Realität war. Zu den bekanntesten »Amerika-Konzepten« in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts gehören die Auswanderungspläne in Goethes »Wilhelm Meister«. Mit ihrer Darstellung dokumentiert Goethe nicht nur sein stetig anwachsendes Interesse am neuen Kontinent, sondern im gleichen Maße seine Auffassung der aktuellen Tendenzen der europäischen Entwicklung. Goethes Hoffnungen auf Amerika erscheinen einigermaßen zwiespältig, und in ihrer Ambivalenz sind sie charakteristisch für das deutsche Amerika-Bild des 19. Jahrhunderts auch in seinen populären Ausformungen. Zum einen signalisieren die Auswanderungspläne im »Wilhelm Meister« die Tendenz zur Flucht in die Zukunft: Europa erscheint - so hatte es Goethe in seinem berühmten Xenion formuliert, das zu den meistzitierten Texten der deutschen Amerika-Literatur gehört — als der in Traditionen erstarrte alte Kontinent, der der Persönlichkeit keinen Raum zur Entfaltung bietet.38 Amerika tritt in den »Wilhelm Meister«-Romanen als Alternative auf: Wenn in der »alten Welt alles Schlendrian« ist, »wo man das Neue immer auf die alte, das Wachsende nach starrer Weise behandeln will«,39 so bietet das traditionslose und zukunftsorientierte 38 39

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Vgl. Goethe, Den Vereinigten Staaten (1831), S. 384f. Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre (1821), S. 352; vgl. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/1796), S. 590f.

Amerika »noch freien Spielraum für tätig schöpferische Kräfte«. 40 Auf der anderen Seite sind die Auswanderungspläne auch Flucht vor modernen Entwicklungen, deren bedrohliche Qualität Goethe als einer der ersten Literaten angedeutet hat. Die Persönlichkeitsentwicklung wird gefährdet durch gesellschaftliche Destabilisierungserscheinungen: durch revolutionäre Bestrebungen, das moderne Maschinenwesen und die Entstehung pauperisierter Massen. Amerika ist zumindest in bezug auf die revolutionären Tendenzen und die technische Entwicklung Europa weit voraus; dennoch erscheint es in Goethes Romanen auch gegenüber diesen historischen Prozessen als Zufluchtsort, weil Goethe an die »ungeheuere Weite dieses Landes« glaubt, »die es dem Einzelnen möglich mache, Beschränkung mit Freiheit und Persönlichkeit zu verbinden und trotz der Maschine einer drohenden Mechanisierung zu entfliehen.«41 Amerika erscheint - mit einigen Einschränkungen - als visionäre Gegenwelt, auf die alle Zukunftshoffnungen gesetzt werden, die in Europa nicht erfüllt werden können. Die Ambivalenz dieser Hoffnungen ist signifikant für das Vertrauen, das in dieser Zeit auf den Kontinent gesetzt wurde. Wenn er gleichzeitig als Fluchtort sowohl vor den alten Kräften der erstarrten Tradition wie auch vor den neuen gesellschaftlichen Tendenzen dienen soll, dann wird daraus deutlich, daß der Blick auf Amerika weniger realistisch ist als sich vielmehr vom Unbehagen an Europa leiten läßt. Diese Europafixiertheit von Goethes AmerikaBild reduziert die Staaten schließlich auf die Funktion einer Gegenwelt, deren Darstellung nicht auf Wirklichkeitstreue zielt, sondern bis in ihre sprachliche Form hinein »entweder idyllisch oder aber mythisch neutralisiert wird.«42 Mit der Thematisierung Amerikas in Goethes Werk, vor allem in den »Wilhelm Meister«-Romanen, wird das Motiv erstmals in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts an exponierter Stelle angeschlagen. Goethes Verfahren weist auch den späteren Literaten den Weg zur Behandlung des Themas: Immer wieder vermischen sich realistische Informationen mit idealistischen Hoffnungen, die mehr dem Mythos als der Wirklichkeit Amerikas entnommen sind; und immer sind es die unbefriedigenden geistigen, kulturellen und sozialen Verhältnisse in Europa, die den Anstoß zur Beschäftigung mit dem neuen Kontinent geben. Nach Goethe sind es die Dichter des »Vormärz«, für die Amerika als Alternative wieder interessant wird; ihr Interesse spiegelt sich vor allem in einer Amerika-Lyrik, die sich nicht recht klar zu sein scheint darüber, was sie von dem Kon40 41

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Beutler, Von der Ilm zum Susquehanna, S. 470. Ebd., S. 471 f. - Beutler verfolgt in seinem umfangreichen Aufsatz auch das stetig wachsende Interesse Goethes an Amerika, das von vagen und konventionellen Vorstellungen seinen Ausgang nahm und in einer ziemlich intensiven Beschäftigung mit Quellen und Informationen über den neuen Kontinent mündete. Dazu gehörten die Lektüre der Romane Coopers ebenso wie der intensive Umgang mit amerikanischen Besuchern seit etwa 1812 und nicht zuletzt die Berichte aus erster Hand, die er vom Amerika-Reisenden Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach erhalten konnte. Lange, Goethes Amerikabild, S. 71; Kuhn, Amerika - Vision und Wirklichkeit, S. 476-479.

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tinent erwarten soll. Auch hier ist es eher das Unbehagen an deutschen Zuständen, das eine mögliche Auswanderung attraktiv erscheinen läßt; wenn auch die Verlockungen der verwirklichten Republik einen zusätzlichen Impuls geben. Aber der Patriotismus der Vormärz-Dichter prägt ihrer Auswanderer-Lyrik einen Zug von Melancholie ein, in dem sich der Zwiespalt ihrer Amerika-Hoffnungen ausdrückt.43 Einen eigentümlichen Platz in der Auswanderer-Literatur der Jungdeutschen nimmt Ernst Willkomms Roman »Die Europamüden« von 1838 ein. Er versucht, eine Spiegelung des Amerika-Interesses in den Intellektuellenkreisen der Zeit zu geben - mit dem ausdrücklichen Vorbehalt, »ein Bild großer Lebensschmerzen, kein Kunstwerk schreiben« zu wollen.44 Zumindest den zweiten Teil dieses Versprechens hat Willkomm eingelöst. In dem außerordentlich diffusen Werk gelingt es ihm nicht, die Art seiner Lebensschmerzen deutlich zu machen; der Roman ist eher selbst literarischer Ausdruck dieser stumpfen Stimmung, als daß er ihre Darstellung gäbe. Soviel immerhin wird deutlich: Die europamüden Auswanderungslustigen des Romans fühlen sich abgestoßen von der dekadenten Gesellschaft ihrer Zeit: »Die ganze Gesellschaft haucht mich an, wie die Atmosphäre um ein Pesthaus. Es ist nichts Gesundes in ihr, es ist der Schmerz und Gram einer müden, dem Leben schon halb abgestorbenen Societät.«45 Dem symptomatischen Weltekel des zerrissenen biedermeierlichen Intellektuellen tritt schließlich der junge Kontinent Amerikas als Alternative in den Blick: »Amerika blieb der Endpunkt meiner Wünsche. Von dort herüber muß, dünkt mich, dem kranken Europa die heilende Medizin gereicht werden.« 46 Der Roman endet mit der Abreise der Europamüden nach Amerika auf einer Brigg mit dem symbolträchtigen Namen »die Hoffnung«. Willkomm hat - erfreulicherweise - darauf verzichtet, die angekündigte Fortsetzung mit der Beschreibung einer Ansiedlung im Mississippi-Tal tatsächlich zu geben. Das Werk ist weder repräsentativ für die Auswanderer-Literatur der Zeit noch für die realen Grundlagen der Auswanderungsbewegung; aber immerhin ist es ein Dokument für das Amerika-Bild von biedermeierlichen Intellektuellen, die zwar - wohl mit der einzigen Ausnahme Lenaus - nicht tatsächlich ausgewandert sind, deren Sehnsucht sich aber auf die Vereinigten Staaten als »dem Lande der Hoffnung, dem

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Einige dieser Lieder sind abgedruckt in: Amerika im deutschen Gedicht: Von Freiligrath »Ankunft in Amerika« (S. 35f.), »Der ausgewanderte Dichter« (S. 54-61), » D i e Auswanderer« (S. 33f.); von Prutz »Die erste Saat« (S. 46-48); von Fallersleben »Heimatklänge in Texas« (S. 50). Vgl. dazu Desczyk, Amerika in der Phantasie deutscher Dichter, S. 56; zur Amerika-Lyrik der »Achtundvierziger« vgl. auch Trommler, Vom Vormärz zum Bürgerkrieg, S. 94-99.

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Willkomm, Die Europamüden (1838), S. 277. Ebd., S. 166. Ebd., S. 5. Vgl. Sengle, Biedermeierzeit II, S. 862; Neuendorff, Nachwort, S. 3f. - Obwohl Imhoofs Studie ihren Titel dem Roman Willkomms entlehnt hat, geht sie kaum auf ihn ein; vgl. Imhoof, Der »Europamüde« in der deutschen Erzählungsliteratur, S. 66f. Zum intellektuellen »Weltekel« der Biedermeierzeit vgl. Sengle, Biedermeierzeit I, S. 2 - 8 .

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Erdtheil der Erlösung« richtet. 47 Der Roman wurde sicher allenfalls von »ein paar überdrehten Intellektuellen« gelesen, 48 aber in einer Hinsicht hat er dennoch eine außerordentliche Wirkung entfaltet: Es popularisierte das - ursprünglich von Heine formulierte 49 - Schlagwort, das seitdem die literarische Auswanderungsdiskussion begleitet und auf das sich der wesentlich stärker rezipierte Kürnberger mit seinem »Amerika-Müden« direkt bezieht. In der zweiten Jahrhunderthälfte wird das Amerika- und speziell das Auswanderungsproblem kontinuierlich angesprochen; aber in kaum einem Werk tritt die Auswanderung als Massenbewegung in den Blick: Sie bleibt fast stets ein individueller Entschluß, der zur individuellen Emigration - und meist zur Rückkehr - führt. Um die Jahrhundertmitte läßt Gustav Freytag in »Soll und Haben« seinen Freiherrn von Finck nach Amerika gehen und dort einige Enttäuschungen erleben. Zuvor hatte Freytag einen politischen Flüchtling in seinem Schauspiel »Valentine« nach Amerika geschickt und ebenfalls wieder zurückkommen lassen. 50 Danach reißt die Thematisierung der Auswanderung, vor allem in den Romanen des Realismus, nicht mehr ab: In Raabes »Leuten aus dem Walde« wird das Amerika des Goldrausches - zu dessen Darstellung Raabe von seinem Braunschweiger Mitbürger Gerstäcker inspiriert wurde - zu einem Schlußstein im Bildungsgang Robert Wolfs, der danach gefestigt nach Hause zurückgehen kann; 51 Fontanes Werk ist von vielen Anspielungen auf das Thema durchzogen, vor allem läßt er die zweite Hälfte seines Romans »Quitt« in Amerika handeln. Auch die poetae minores der Zeit, wie Auerbach oder Spielhagen, spiegeln in mehr oder weniger ausführlichen Darstellungen den Einfluß des zeitgenössischen Amerika- und speziell des Auswanderungs-Interesses.52 Schließlich greift Hauptmann in seinem ersten Drama »Vor Sonnenaufgang« das alte - und eigentlich obsolete - Motiv von Amerika als einer möglichen politischen Utopie auf, wenn er die Studienfreunde Loth und Hoffmann sich an die Pläne erinnern läßt, in Amerika einen »Musterstaat« zu errichten. 53 47

Willkomm, Die Europamüden II, S. 108. Sengle, Biedermeierzeit II, S. 862; vgl. zu Gutzkows lapidarer Kritik auch Sengle, Biedermeierzeit I, S. 159. 49 Vgl. Heine, Reisebilder III (1826-1831), S. 594. Heine charakterisiert hier seine eigene Stimmung als des »dumpfen, abendländischen Wesens so ziemlich überdrüssig, so recht Europa-müde«; seine Alternative ist allerdings nicht Amerika, sondern der Orient. 50 Vgl. Freytag, Soll und Haben (1855) I, S. 504-510; Freytag, Die Valentine (1847), S. 419. 51 Vgl. Raabe, Die Leute aus dem Walde (1836), S. 378; zum wahrscheinlichen Gerstäkker-Einfluß vgl. die Hinweise im Anhang dieser Ausgabe, S. 436. 52 Zu Fontane vgl. Keune, Das Amerikabild in Fontanes Romanwerk, zu »Quitt« S. 347-351; Martini, Auswanderer, Rückkehrer, Heimkehrer, S. 178-204. Martini verfolgt die Amerika-Bezüge im gesamten Werk Kellers, Raabes und Fontanes. Zu weiteren Autoren vgl. Barba, Emigration to America reflected in German Fiction, S. 223-226. Weitere Hinweise gibt Jantz, Amerika im deutschen Dichten und Denken, Sp. 340-345. 53 Hauptmann, Vor Sonnenaufgang (1889), S. 11. 48

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Schon diese wenigen Hinweise auf wichtige Autoren des 19. Jahrhunderts dokumentieren mehr als nur die permanente Präsenz des Amerika- und Auswandererthemas in der deutschen Literatur dieser Zeit. Sie lassen auch die Prioritäten erkennen, die das Interesse der Intellektuellen und Literaten leitete. Tradierte Vorstellungen werden wiederbelebt: Amerika als von der Vergangenheit unbelastete neue Welt; Amerika als das Land der politischen Freiheit; und schließlich Amerika als das Land, in dem sich die Individualität entfalten und der Bildungsgang vollenden kann. Es ist sicher kein Zufall, daß die literarischen Protagonisten fast immer mehr oder weniger enttäuscht nach Deutschland zurückkehren. In der fiktionalen Literatur wird Amerika zum Durchgangsland und zum Anreiz, sich mit deutschen Verhältnissen kritischer auseinanderzusetzen, kaum aber einmal zur neuen Heimat. Dieser Behandlung des Amerika- und Auswanderermotivs in der fiktionalen Literatur steht eine breite, meist populär ausgerichtete literarische Strömung gegenüber, in der das Motiv zum Thema wird. Die Romanliteratur des 19. Jahrhunderts hat sich des Themas Amerika-Auswanderung im größeren Umfang angenommen und sich, teilweise gestützt auf eigene Erfahrungen der Autoren, in der Regel um eine realitätsgerechtere Darstellung bemüht. Hierzu gehört vor allem Gerstäcker, der in seinem großen »Volksbuch« mit dem Titel »Nach Amerika!« eine regelrechte Typologie der deutschen Auswanderung im literarischen Gewand - und oft unter Durchbrechung der literarischen Fiktion in Fußnoten entwirft und dabei die ökonomisch motivierte Auswanderung in verschiedenen Facetten würdigt; auch Sealsfields und Möllhausens Romane zeigen in dieser Hinsicht eine realistischere Einschätzung der Problematik.54 Die Grenzen dieses zweiten Typus von Amerika-Literatur im 19. Jahrhundert zum authentischen Reisebericht werden fließend, dennoch ist eine klare methodische Scheidung angebracht: Bei allem Bemühen um Realitätshaltigkeit teilen diese Romane mit jenem ersten Typus die Eigenschaft, daß sie die Lizenz fiktionaler Literatur nutzen, zusammenhängende Konzepte zu entwerfen: Ihr Amerika- und Auswanderungsbild ist das Ergebnis einer bewußten Gestaltung, in der ein Entwurf literarisch umgesetzt wird, in welchem die eingearbeiteten Erfahrungen aufgehoben und durch den sie tingiert werden. Diese bewußte literarische Konzeptualisierung von Amerika-Bildern oder Amerika-Erfahrungen und nicht etwa eine ohnehin nie bestimmbare Realitätsnähe oder -ferne - ist die Grenzlinie, welche die flktionale Literatur von der expositorischen trennt. Es erscheint sinnvoll, die spezifische inhaltliche und formale Gestalt expositorischer Texte als dem dritten Typus von Auswanderer-Literatur im Ausgang von der Funktion zu bestimmen, die sie im sozialen Zusammenhang der »Aus54

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Vgl. Gerstäcker, Nach Amerika! (1855) I, S. 144-148. Eine Darstellung dieses Motivkomplexes in der fiktionalen deutschen Literatur der Zeit gibt Imhoof, Der »Europamüde« in der deutschen Erzählungsliteratur, S. 24-40. Zu den Auswanderungsmotiven in der fiktionalen Literatur, unter denen das ökonomische eher eine periphere Rolle spielt, vgl. Mikoletzky, Die deutsche Amerika-Auswanderung des 19. Jahrhunderts in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur, S. 135-143.

Wanderung« einnehmen. Auch hier sind die Grenzen oft nicht eindeutig zu bestimmen; fiktionale und expositorische Auswanderer-Literatur verfolgt in weiten Bereichen oft die gleichen Zwecke, wie insbesondere die Romane Gerstäkkers deutlich machen. Dennoch steht expositorische Literatur unter anderen Ansprüchen als fiktionale. Ihr Inhalt und ihre Form sind bestimmt durch spezifische Funktionen, die sie in jenen gesellschaftlichen Prozessen wahrnehmen, in die sie durch Produktion und Rezeption eingebunden sind. Bei einer Betrachtung der unmittelbar mit dem sozialen Zusammenhang der Auswanderung verbundenen Literatur läßt sich zunächst feststellen, daß sie zwar quantitativ eine dominierende Stelle in der deutschen Amerika-Literatur des 19. Jahrhunderts einnimmt, sie aber kaum eigene Formen zur Verarbeitung der Amerika-Erfahrung ihrer Zeit hervorgebracht hat. Sie ist in ihrem Formenarsenal ausschließlich geprägt von den Funktionen, die sie im Auswanderungsprozeß wahrzunehmen hatte und in deren Erfüllung sie aufging. Dabei bedient sie sich im beliebigen Zugriff der literarischen und Darstellungstechniken, welche die Reiseliteraturgeschichte im weitesten Sinne hervorgebracht hat. Das Spektrum reicht von der Wiederaufnahme der traditionellen Reiseberichtform über die Reise- und Auswanderungsanleitung in der Tradition der Reiseführer und Apodemiken bis hin zum statistisch oder tabellarisch angelegten geographischen Handbuch oder Fahrplan. Ihre Einheit erhält diese Formenvielfalt durch ihre funktional-pragmatische Bezogenheit auf den Auswanderungsprozeß; eine typologisierende Gliederung ließe sich allenfalls mit Blick auf die - oft handfest kommerziellen - Interessen und die verschiedenen Adressatenkreise vornehmen. Die jedem »Typisierungsversuch spottende Vielfalt« dieser Gattung 55 sollte nicht durch den immer nur mit künstlichen Zuordnungen möglichen Versuch konterkariert werden, dennoch Kategorisierungen mit dem Begriffsinstrumentarium literaturwissenschaftlicher Formbeschreibungen zu unternehmen. Vielmehr sollte gerade die diffuse Vielfalt der Gattung als ihr konstituierendes Moment begriffen werden, das nicht durch kategoriale Reduktionen zu eskamotieren, sondern durch die Interpretation der Gattungsfunktion im historischen Prozeß der Auswanderung aufzuschlüsseln ist. Deshalb erscheint es nicht sinnvoll, die Texte von den Handlungszusammenhängen abzutrennen, in denen sie stehen. Der besondere Status der auswanderungsspezifischen Amerika-Literatur ist dadurch markiert, daß diese Texte in einer Weise mit dem Auswanderungsvorgang verbunden sind, die eine kategoriale Differenzierung zwischen einer »Text-« und einer »Handlungsebene« gar nicht mehr zuläßt. Die Auswanderungsschriften sind weder literarische Begleiterscheinung des Auswanderungsvorgangs selbst noch sind sie seine literarische Verarbeitung noch seine Manifestation im Sinne einer »historischen Quelle«. Gewiß gibt es Abstufungen. Auch die auswanderungsspezifische Literatur hat - etwa mit den Romanen Gerstäckers und Möllhausens - Texte eher litera55

Vgl. Görisch, Die gedruckten »Ratgeber« für Auswanderer, S. 53. 61

rischen Charakters hervorgebracht, die sich um eine Verarbeitung des Phänomens der Auswanderung mit literaturspezifischen Mitteln bemühen. Aber die Masse der Texte ist in den Handlungszusammenhang der Auswanderung ununterscheidbar eingelassen. Solche Texte beschreiben diesen Handlungszusammenhang nicht von außen, sondern sie konstituieren ihn mit, indem sie an der Prägung von auswanderungsspezifischen Einstellungen oder Vorstellungen beteiligt sind oder direkt organisatorische Funktionen übernehmen. Eine angemessene Untersuchung dieses Textmaterials muß also von vornherein den Gesamtzusammenhang der Auswanderung zu ihrem Gegenstand machen. Sie darf sich den Blick nicht durch literaturwissenschaftliche Begriffsbildungen verstellen lassen, sondern muß eigene Kategorien entwickeln, die diese besondere Art von Texten als Teil eines größeren Handlungszusammenhangs zu begreifen vermag. Dazu bedarf der besondere Status des Auswanderers im 19. Jahrhundert vorab der genaueren Charakterisierung. Die Auswanderungsbewegung dieses Zeitraums läßt sich in vorläufiger Abstraktion beschreiben als Aufgeben der »Heimat« und damit als Verzicht auf einen Raum, der seinem Bewohner »Satisfaktion gewährt, in dem er vorgebildete und erlernte Strebungen verwirklichen kann.« 56 Die »Heimat« gewährt eine scheinbar naturwüchsige, durch Traditionen und die individuelle Biographie etablierte selbstverständliche »Sicherheit des Verhaltens«, die in fremden Räumen erst wieder erworben werden muß. 57 Der Verzicht auf einen solchen Satisfaktionsraum ist zunächst eine Folge seines Versagens: Dem Auswanderungsentschluß geht der »bewußt gewordene oder bewußt gemachte Satisfaktionsverlust im Heimatraum und die Möglichkeit zu neuer Territorialitätsbefriedigung in einem anderen Raum« voraus.58 Das sind zwei Facetten des gleichen Vorgangs: Die Unzufriedenheit mit den - objektiven oder nur subjektiv als solchen empfundenen - unbefriedigenden Zuständen im Heimatraum wirkt als treibendes Moment; die Attraktivität eines fremden Raumes wirkt dagegen anziehend, wenn die berechtigten oder unberechtigten Hoffnungen auf ihn einen Ersatz versprechen für den Verlust des Vertrauten.59 56 57

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Greverus, Der territoriale Mensch, S. 50. Ebd., S. 53. Zu »Brauch« und »Sitte« als den Einrichtungen, die dem einzelnen in traditionalen Gesellschaften Verhaltenssicherheit gewähren, vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 15-17. Greverus, Der territoriale Mensch, S. 139. Greverus hat diese Kategorie als »anthropologische« eingeführt. Als solche ist sie wohl kaum tragfahig; schon die Terminologie spricht dagegen: Der Begriff der »Heimat« ist eine Errungenschaft des späten 18. und dann des 19. Jahrhunderts. Angesichts der affektiven Besetzungen, die er in dieser Zeit erhalten hat und die auch in Greverus' Definition nachwirken, läßt er sich nicht sinnvoll als eine anthropologische Kategorie verwenden. Zur Begriffsbestimmung von »Heimat« im 19. Jahrhundert vgl. auch Brenner, Die Einheit der Welt, S. 28-30. - Besonders problematisch ist auch der Dualismus von »Heimat« und »Nicht-Heimat«, der die Bindung an die Heimat als den anthropologischen Normalfall voraussetzt. Schon die Philosophische Anthropologie Helmuth Plessners hat bedenkenswerte Einwände gegen diese Vorstellung erbracht, indem sie gerade nicht die Heimat-Bindung, sondern die Weltoffenheit als Konstituens des Hu-

»Auswanderung« wird initiiert durch die Veränderung der Einstellung zu einem vorhandenen und zu einem erwarteten Satisfaktionsraum, und die Funktion der Auswandererliteratur bestimmt sich zunächst und im wesentlichen durch die Rolle, die sie in diesem Prozeß spielt. Auswandererliteratur ist eine Reaktion auf die Bedürfnisse, die dieser Prozeß der Einstellungsveränderung hervorbringt, wie sie umgekehrt selbst initiierend und beschleunigend, aber auch hemmend in diesen von zahllosen anderen - ökonomischen, sozialen, politischen - Faktoren konstituierten Vorgang eingreift. Die zentralen Voraussetzungen für die Initiation eines Auswanderungsvorgangs sind die Erfahrung der Insuffizienz des »Heimat«-Raums und die Erwartung eines satisfaktionsgewährenden »Zukunftsterritoriums«. Auswandererliteratur hat ihre wesentliche Funktion bei der Ausprägung dieser zweiten Komponente, wenn sie auch durchaus auf die erste zurückwirkt.

4. Affekt u n d Sachlichkeit: D a s Informationsbedürfnis der Auswanderer Die Insuffizienz des Heimatraumes kann unmittelbar erfahren werden: als Ungenügen an den wirtschaftlichen, sozialen, politischen oder persönlichen Lebensbedingungen; die Erwartung des fremden Raumes ist hingegen auf mittelbare Informationen angewiesen, die wiederum beitragen können zum Bewußtwerden einer Defizienz der heimatlichen Verhältnisse. Diese Funktion der Informationsvermittlung ist die konstituierende Komponente von expositorischer Auswanderungsliteratur, aber damit ist nur der kleinste gemeinsame Nenner bezeichnet, mit dem sich dieser Typus von Literatur auf einen Begriff bringen läßt. Aufgrund ihrer engen Bindung an den Vorgang der Auswanderung hat sie auch Teil an den Eigenarten, die diesem Vorgang zukommen. »Auswanderung« ist eine Handlungsform, die sich - wie jede andere Form sozialen Handelns auch - nur sehr begrenzt in den Kategorien zweckrationalen Handelns fassen läßt. Eine ganz erhebliche Rolle spielen vorbewußte mentale Strukturen und dadurch hervorgerufene wertrationale, also gesinnungsorientierte, affektuelle oder traditionale Handlungsmotivationen, die zu entsprechenden Handlungsformen manen bestimmte. Vgl. etwa Plessner, Mensch und Tier, bes. S. 63. Hierzu auch Brenner, Die Erfahrung der Fremde, S. 16-18. Schließlich erscheint Greverus' Auswanderungsdefinition auch deshalb problematisch, weil sie den »Satisfaktionsraum« wesentlich dadurch bestimmt, daß er Verhaltenssicherheit gewähre; andere im höchsten Maße auswanderungsrelevante Facetten von »Satisfaktion« wie die Befriedigung elementarer Lebens-, vor allem Nahrungsbedürfnisse werden damit vernachlässigt. Dennoch erscheint die Verwendung von Greverus' Terminologie in einem historischen spezifizierten Sinne plausibel: Sie trifft wesentliche Elemente der deutschen Auswanderungsbewegung des 19. Jahrhunderts und ist somit als heuristisches Ausgangsraster durchaus brauchbar.

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führen. 60 Diese Spannbreite möglicher Handlungsformen, wie sie sich im Auswanderungsvorgang aktualisieren, gibt der Auswandererliteratur einen weiten Rahmen vor, innerhalb dessen sie ihre Funktion der Informationsvermittlung erfüllen kann. Die Form, die diese Informationsvermittlung in ihrer literarischen Konkretisation annimmt, wird bestimmt durch die Stelle, die sie in diesem Kontext einnimmt. Als eine entschlußfördernde Information über das Zielland, die sich dem Bedürfnis des zweckrationalen Handlungstypus anpaßt, kommt zunächst die der Intention nach »sachliche« Form der Aufklärung in Betracht, wie sie in ihrer Extremform in statistisch-geographischen Handbüchern vermittelt wird. Von größerer Wirksamkeit auf den Auswanderungsentschluß sind indes Auskünfte, deren sachlicher Gehalt hinter ihrer affektiven Besetzung zurücksteht. Die Aufgabe des vertrauten - wenn auch in seiner Satisfaktionsfahigkeit als gefährdet empfundenen - Lebensraumes zugunsten eines fremden, ist fundiert auf das Versprechen, daß dieser eine mehr als ausreichende Kompensation bieten kann für die verlassene Heimat. Durch dieses Versprechen erst erhält die auswanderungsrelevante Information ihre entschlußfördernde Kraft. Fast die gesamte deutsche Amerikaliteratur des 19. Jahrhunderts ist auf dieses Versprechen bezogen; sei es, daß sie es wiederholt und mit verlockenden Darstellungen ausmalt, oder sei es, daß sie es diskutiert und mit sachlichen Informationen seinen Wahrheitsgehalt überprüft. Dieses spezielle Informationsbedürfnis hat eigene Formen der Informationsvermittlung hervorgerufen. Der Reisebericht als traditionell wichtigste Form der Auskunft über fremde Länder wird ergänzt durch Erlebnisberichte von Emigranten; durch Auswandererratgeber und -handbücher; durch private und publizierte Briefe; und die Werbung für die wie die Warnung vor der Auswanderung bedient sich schließlich auch der »populären Kommunikationsmedien: öffentliche Versammlungen, Presse, Flugschriften und das Lied wurden eingesetzt.«6' Der auswanderungspezifischen Literatur sind die genauesten Auskünfte zu entnehmen über die objektiven, vor allem aber die mentalen Gründe für den Auswanderungsentschluß. Auch wenn sie nur zum kleineren Teil von Emigranten selbst verfaßt sind - das gilt besonders für die Briefe, Lieder und die selbständig publizierten Auswanderungsberichte - , können auch die für den Bedarf der Emigranten produzierten Publikationen indirekt einen Rückschluß erlauben auf deren Wünsche, Hoffnungen und Bedürfnisse. Damit aus der realen ökonomisch-gesellschaftlichen Situation und den politischen Rahmenbedingungen tatsächlich ein individueller Auswanderungsentschluß hervorgehen konnte, bedurfte es weiterer Voraussetzungen, die die objek60

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Zu dieser nach wie vor in der Sozialwissenschaft verwendeten Typologie sozialen Handelns vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 12f.; Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, S. 428-430. Vgl. Greverus, Der territoriale Mensch, S. 166. - Prinzipiell die gleichen Mittel wurden bereits in der Frühzeit der Auswanderungsbewegung, gegen Ende des 17. Jahrhunderts, eingesetzt. Vgl. Fenske, Die deutsche Auswanderung in der Mitte des 19. Jahrhunderts, S. 190.

tiven Bedingungen in subjektive Motivationen umsetzten. Die wirtschaftlichen und sozialen Defizienzerfahrungen konnten die Verbundenheit mit der heimatlichen Umgebung lockern, wie auch weitere Randbedingungen die mentale Disposition zur Auswanderung fördern konnten. Dazu gehörten die Existenz einer Wanderungstradition in einer bestimmten Region - wie sie in Südwestdeutschland vorhanden war - ebenso wie ausgebaute Verkehrswege und in der Regel auch eine gewisse finanzielle Liquidität.62 Von wesentlicher Bedeutung ist schließlich die psychische Vorbereitung des Entschlusses dadurch, daß ein fremdes Land als Alternative zur Heimat in den Blick rückt und daß - mehr oder weniger richtige - Informationen darüber zur Verfügung stehen.63 Solche Informationen beeinflußten den Auswanderungsentschluß entscheidend und gaben den letzten Anstoß zu seiner Realisierung, zumal wenn sie mit konkreten Anweisungen für die Durchführung der Auswanderung verbunden waren. Zunächst evozierten sie bestimmte Vorstellungen über das Zielland, wobei der Wahrheits- und Realitätsgehalt der vermittelten Informationen nur von untergeordneter Bedeutung war.64 Informationen über Nordamerika - das seit etwa 1830 rund 90% der deutschen Emigranten aufnahm 65 - ließen sich verschiedenen Quellen entnehmen. Zu den wichtigsten gehörten die Auswandererbriefe, die als private oder in Zeitungen publizierte wohl das bei weitem wirksamste Anregungsmittel der deutschen Amerikaauswanderung waren. Der persönliche Kontakt, der über die amerikanischen Lebensverhältnisse direkten Aufschluß zu geben schien und gelegentlich noch mit Geldüberweisungen gekoppelt war, übte den stärksten Einfluß auf die individuelle Entschlußbildung aus und hat oft eine Kettenauswanderung initiiert.66 Diese Informationen waren allerdings von einem zweifelhaften Wert. Individuelle Verzerrungen des Blicks bei Auswanderern, die ihre Erfahrung des Neuen kaum reflexiv verarbeiten konnten, mußten nicht unbedingt die Wirklichkeit verfalschen; sie konnten im einzelnen durchaus die richtige Vermittlung von Detailinformationen zulassen, ohne aber ein komplexes 62

Zu diesen Voraussetzungen von Wanderungsbewegungen vgl. Schuster, Übervölkerung und Auswanderung, S. 21f.; Schelbert, Einführung in die schweizerische Auswanderungsgeschichte der Neuzeit, S. 31 f. 63 Vgl. Schelbert, Einführung in die schweizerische Auswanderungsgeschichte der Neuzeit, S. 41-45; Marschalck, Deutsche Überseewanderung im 19. Jahrhundert, S. 52f. 64 Vgl. Burgdörfer, Die Wanderungen über die deutschen Reichsgrenzen im letzten Jahrhundert, S. 299. 65 Vgl. Marschalck, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, S. 32. 66 Vgl. Mönckmeier, Die deutsche überseeische Auswanderung, S. 32; Greverus, Der territoriale Mensch, S. 158-161; Hansen, The Atlantic Migration, S. 156-158; Wellhausen, Über die deutsche Auswanderung nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika im 19. Jahrhundert, S. 47f. Der Einfluß des persönlichen Kontaktes und der durch ihn oft vermittelten Kenntnis erfolgreicher Auswanderungen hat bereits im 18. Jahrhundert eine erhebliche Rolle für die Auswanderungsmotivation gespielt; vgl. Wokeck, Deutsche Einwanderung in die nordamerikanischen Kolonien, S. 37f.

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Gesamtbild der Realität zu entwerfen.67 Der Wahrheits- und Realitätsgehalt solcher Briefe war von vielen Faktoren abhängig; besonders von den Bildungsvoraussetzungen der Briefschreiber und Adressaten, der Funktion im Auswanderungsprozeß - nicht alle Briefe waren für den privaten Gebrauch bestimmt; viele richteten sich auch als »Tendenzbriefe« oder »diskursive Briefe« von vorneherein an eine größere Öffentlichkeit - sowie von den verschiedenen Intentionen, die mit den Briefen verbunden waren.68 Doch wurde von den Zeitgenossen immer wieder festgestellt, daß der Wahrheitsgehalt der Briefe skeptisch zu beurteilen ist; manch ein Auswanderer, der ihrem Ruf in die Neue Welt gefolgt war, mußte diese Erfahrung machen: Überhaupt habe ich gefunden, daß die hier angesessenen Einwanderer, sei es aus Hochmuth oder aus falscher Scham, ihre Zustände herausstreichen, dagegen das Böse und Nachtheilige verheimlichen und oft offenbare Lügen herausschreiben. Das ist schmählich: denn dadurch locken sie ihre Bekannten und Verwandten aus ihren oft leidlichen Zuständen heraus und in die schlimmsten Zustände hinein.69

Gegenüber dem Quellenwert der Briefe sind im besonderen Maße jene Vorbehalte angebracht, die auch bei anderen Formen der Reiseliteratur stets zu berücksichtigen bleiben. Von ihnen läßt sich nicht auf die Wirklichkeit schließen, sondern sie spiegeln allenfalls deren individuelle Erfahrung, sofern sie nicht auf jeden Wahrheitsanspruch überhaupt verzichten, um durch geschönte Darstellungen den Auswanderungsentschluß ihrer Verfasser im nachhinein zu legitimieren. Bei den Briefen als auswanderungsfördernden Stimulantien überwiegt eindeutig die affektive Komponente; der persönliche Kontakt fallt stärker ins Gewicht als die sachliche Information. Aus dieser Einsicht haben auch die kommerziellen Auswanderungsagenturen ihren Nutzen gezogen. Sie bedienten sich - neben Lockbriefen - auch der direkten Ansprache an den potentiellen Auswanderer, indem sie sich oft »von ortsansässigen Personen, zum Beispiel Kaufleuten, Wechselmaklern, Bürgermeistern und Gastwirten« vertreten ließen.70 67

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Eine formale und inhaltliche Charakteristik der Auswandererbriefe gibt Schwarzmaier, Auswandererbriefe aus Nordamerika, S. 303-316; Schelbert, Auswandererberichte als historische Zeugnisse, S. 29f.; Helbich/Kamphoefner/Sommer, Einführung, S. 31-34. Zu diesen Kategorien, vgl. Mesenhöller, Der Auswandererbrief, S. 118-120. Mesenhöller gibt auch eine Darlegung der Voraussetzungen von Produktion und Rezeption solcher Briefliteratur. Alles ist ganz anders hier, S. 260; ein weiterer Beleg aus einem Auswandererbrief des Jahres 1847 findet sich in: Briefe aus Amerika, S. 87. Eine entsprechende Kritik überschwenglicher Schilderungen nach Deutschland findet sich öfters in der publizierten Auswandererliteratur; vgl. etwa Büttner, Die Vereinigten Staaten von Nordamerika (1846) I, S. 94; Streckfuss, Der Auswanderer nach Amerika (1836), S. 123. - Daß freilich aus verschiedenen Gründen der Glaubwürdigkeitsgrad von Briefzeugnissen dennoch recht hoch sein dürfte, vermuten Helbich/Kamphoefner/Sommer, Einführung, S. 33f. und Heibich, Der andere Blickwinkel, S. 21. Bickelmann, Das Geschäft der Auswanderung, S. 336f.; vgl. auch Hansen, The Atlantic Migration, S. 196-198; Wellhausen, Über die deutsche Auswanderung nach den Vereinigten Staaten, S. 50-53.

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Daß die Wirkung dieses Verfahrens nicht unbedeutend gewesen sein kann, geht aus den behördlichen Untersuchungen und Maßnahmen hervor, die zu seiner Eindämmung unternommen wurden. Friedrich List hatte 1817 in seinem abschließenden Bericht an das württembergische Innenministerium über die Auswanderungsgründe die Tätigkeit von kommerziellen Werbern - den Vorläufern der späteren Auswanderungsagenten - als einem stimulierenden Faktor ausgemacht: Es ist der höchste Grad von Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß hiebey eine ganze Bande von Seelen Verkäufern, größtentheils Würtembergern, unter der Deke stekt. Der Kaufmann von Orth gibt nähmlich an, daß ein gewißer Jakob Heim, ein Tuchmacher Seifferle von Sindelfingen, und ein Handelsmann Zwisler von Reutlingen als Mäkler der Auswanderer in Holland bekannt seyen. Es ist ferner in Heilbronn notorisch, daß der Beker Bäuerlen von Flein von der Transportirung der Auswanderer Profeßion macht.

List forderte seine Behörde dann auf, die »nöthigen Schritte zu thun.«71 Die Kontakte mit ausgewanderten Verwandten und mit Agenten sind in der Regel der letzte Anstoß zur Auswanderung gewesen;72 direkte Zeugnisse über die Wirkung dieser Stimulantien sind allerdings schwer greifbar. Die weitgehend sprachlose Kultur der ausgewanderten Unterschichten artikuliert sich nicht in ausformulierten Dokumenten, in der sich die Betroffenen Rechenschaft ablegten über die Motive ihres Verhaltens. Die überlieferten Quellen geben allenfalls Auskunft über die objektiven Gründe und die subjektiven Hoffnungen, die die Auswanderung motivieren, selten aber über die letzten Anstöße zum Aufbruch.73 Eine indirekte Quelle sind die Auswanderungsromane Gerstäckers, in denen er den Einfluß von Briefen und Agenten auf die Entschlußfassung zu rekonstruieren versucht. Nach dem Empfang eines Amerika-Briefes von einem ausgewanderten Bekannten läßt er seinen Bauern Mathes zum endgültigen Entschluß kommen: »Lange im Sinn hab' ich's schon gehabt, aber der Brief hat es zuletzt zum Ausbruch gebracht.«74 71

Aufbruch nach Amerika, S. 186; vgl. auch die Dokumente ebd., S. 166-169. Zu diesem Aspekt von Lists Untersuchung vgl. Focke, Friedrich List und die südwestdeutsche Amerikaauswanderung 1817-1846, S. 66f. Die Tätigkeit der Agenten wurde später, um die Jahrhundertmitte, eingeschränkt durch eine Konzessionspflicht, mit der die bis dahin üblichen betrügerischen Machenschaften beseitigt werden sollten. Bretting, Der Staat und die deutsche Massenauswanderung, S. 55; Theodor Mandel, Die Tätigkeit der Auswandererorganisationen um die Mitte des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung von Südwestdeutschland, S. 26f. Während sich das Interesse der deutschen Agenten auf das Geschäft mit der Reise konzentrierte, wurden nach 1854 auch amerikanische Agenten im Auftrag der neuentstehenden amerikanischen Eisenbahngesellschaften in Europa tätig, um den Verlauf und die Besiedlung der Ländereien an den Bahnstrecken zu fördern; vgl. Billington, Land of Savagery, Land of Promise, S. 6 3 - 6 6 .

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Vgl. Marschalck, Deutsche Überseewanderung im 19. Jahrhundert, S. 123f. Zu dieser Quellenproblematik vgl. Schelbert, Einführung in die schweizerische Auswanderungsgeschichte der Neuzeit, S. 36. Gerstäcker, Nach Amerika! (1855) I, S. 42.

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Wesentlich ausführlicher geht Gerstäcker auf die problematische Tätigkeit der Auswanderungsagenten ein. In seinem großen Roman widmet er ein eigenes Kapitel den betrügerischen Praktiken eines solchen Agenten: Sie »waren ein langsames Gift, das er in manche friedliche und glückliche Familie warf, ein Saatkorn das dort wucherte und Wurzel schlug«.75 Der Erfolg der Agenten beruhte auf den gleichen Voraussetzungen wie der der Amerika-Briefe; »es bedurfte nur manchmal wirklich einer leisen Anregung, die Leute zu etwas zu bewegen, zu dem sie schon halb und halb selber entschlossen gewesen waren.«76 Auf einer anderen Ebene der Informationsvermittlung bewegt sich die eigentliche Ratgeberliteratur, die sich in der zweiten Jahrhunderthälfte als eigener Typus der Amerikaliteratur konstituierte. Sie sucht den Kompromiß zwischen sachlicher Informationsvermittlung und der Befriedigung affektiver Bedürfnisse, und sie kam damit einem offenkundigen Publikumsinteresse entgegen. Schon die reine Quantität solcher Publikationen gibt Auskunft darüber: Es erschienen rund 200 selbständige Publikationen, deren Titel Hinweise und Ratschläge für Auswanderer in die Vereinigten Staaten allgemein oder in bestimmte Regionen - mit einer erkennbaren Präferenz für Texas - versprachen.77 Nicht nur die Zahl, sondern auch die Auflagen dieser Schriften dürften bedeutend gewesen sein. Wenn sie auch im Einzelfall nicht nachprüfbar sind, so sprechen doch einige Hinweise dafür, daß sie oft zwischen 6000 bis 8000 Exemplaren gelegen haben.78 Damit haben sie einen erheblichen Einfluß gewonnen sowohl auf das allgemeine Amerika-Bild wie auch speziell auf die Förderung der Auswanderungsbereitschaft, zumal die Wirkung durch kollektive Lektüre, teilweise in eigens dafür eingerichteten Lesezirkeln, gesteigert wurde.79 75

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Ebd., S. 102f.; vgl. auch den Kontext S. 9 7 - 1 3 5 ; vgl. weiterhin Gerstäcker, Ein Parcerie-Vertrag (1869), S. 2 9 - 4 2 . Gerstäcker, Nach Amerika! (1855) I, S. 127. Zur Darstellung der Wirkungen solcher motivationsfördernder Einflüsse in der fiktionalen Literatur vgl. auch Mikoletzky, Die deutsche Amerika-Auswanderung des 19. Jahrhunderts in der zeitgenössischen Romanliteratur, S. 187-192. - Zur realen Wirkung von Briefen und Agenten vgl. auch Penners, Entstehung und Ursachen der überseeischen Auswanderungsbewegung im Lande Lüneburg vor 100 Jahren, S. 123f. - Zur Kontrolle der Auswanderungsagenten in Deutschland vgl. Bretting, Der Staat und die deutsche Massenauswanderung, S. 54f. Diese Titel sind bis 1NM> verzeichnet in: Bibliotheca Geographica, S. 184—193; S. 199 bis 201; S. 206; S. 209; S. 2 3 2 - 2 3 5 . Walker wertete diese Angaben Engelmanns chronologisch aus und kommt zu dem Ergebnis, daß der Beginn der Publikation solcher Ratgeber bei etwa 1830 anzusetzen ist und daß das periodische Ansteigen der Publikationszahlen dem Verlauf der Emigrationswellen entspricht. Vgl. Walker, Germany and the Emigration, S. 62. Zum Einfluß solcher Handbücher auf die - oft übertriebenen Erwartungen der Auswanderer vgl. Billington, Land of Savagery, Land of Promise, S. 62 f. Gerstäckers Ratgeber »Wie ist es denn nun eigentlich in Amerika?« erschien 1847 »in der beachtlichen Auflage von 6000 Exemplaren«; Ostwald, Friedrich Gerstäcker, S. 28. Von zwei anderen Ratgebern, ebenfalls aus den vierziger Jahren, lassen sich Auflagen von 6000 und 8 0 0 0 Exemplaren nachweisen. Vgl. Schenda, Volk ohne Buch, S. 222f. Vgl. Hansen, The Atlantic Migration, S. 149f.

Diese Ratgeber-Literatur ist als Gebrauchsliteratur im engsten Sinne zu verstehen; es handelt sich um expositorische Texte, die »ohne literarische Ansprüche und Zielsetzungen ausschließlich praktisch-okkasionellen Zwecken dienen«.80 Das »Ratgeber«-Buch ist ausdrücklich für den Gebrauch auf der Reise nach und in Amerika bestimmt. Es enthält alle Angaben, die den »praktischen Theil der Reise« betreffen: »Der Auswanderer kann in diesem Werkchen Alles finden, was auf die Reise dahin Bezug hat, und sich, wenn er unsern wohlgemeinten Rathschlägen Folge leistet, manche harte und theuere Selbsterfahrung ersparen«; und um die wohlgemeinten Ratschläge für »Jedermann leicht zugänglich zu machen, haben wir einen verhältnismäßig sehr billigen Preis angesetzt.«81 Die »wohlgemeinten Ratschläge« dienen der affektiven Erleichterung der Auswanderung zumindest ebensosehr wie der Unterstützung ihrer praktischen Durchführung. Vor allem die allgemeinen und meist vagen landeskundlichen Mitteilungen über das Zielland sind in ihrem Gebrauchswert oft gering; aber als Einstimmung auf die neuen Verhältnisse verfehlen sie ihre Wirkung nicht. Sie schaffen eine diffuse Vertrautheit mit dem fremden Land, das als Ersatz für die Heimat eintreten soll, und fördern somit die Disposition zum endgültigen Entschluß. Dem entspricht der Ton, der in manchen dieser Ratgeber angeschlagen wird. Symptomatisch ist Gerstäckers kleine Schrift »Wie ist es denn nun eigentlich in Amerika?«: Gerstäcker verspricht, einen »allgemeinen Ueberblick über das dortige Leben zu verschaffen«;82 und entsprechend unbestimmt sind die Informationen, die er mitteilt. Sie sind kaum als konkrete Handlungsanweisungen für die Vorbereitung und Durchführung der Auswanderung zu verwenden, sondern dienen eher dazu, mentale Voraussetzungen beim Auswanderer zu schaffen, die ihm die Loslösung von der Heimat erleichtern. Gerstäcker will ihm ermöglichen, »den alten Adam so rasch als möglich auszuziehen, Axt und Hacke anzufassen und in das geschäftige Leben dort thätig mit einzugreifen, um bald genug sein neues Vaterland lieb zu gewinnen und an Geist wie Körper zu erstarken und zu gesunden.«83 Die konkrete Detailinformation tritt gegenüber der affektiven Komponente zurück, die die Stelle des persönlichen Kontaktes mit dem potentiellen Auswanderer einnehmen soll. Gerstäckers Stil in seinem Ratgeber entspricht dieser Absicht; er erinnert über weite Passagen mehr an den »der Erbauungsliteratur als an den eines verläßlichen Handbuchs«. 84 Bei den meisten anderen Ratgebern sind die Gewichte zwischen affektiver und sachlicher Komponente besser verteilt. Sie verfolgen ein objektiveres und 80 81 82 83 84

Vgl. Belke, Literarische Gebrauchsformen, S. 8. Handbuch für die Reise nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika (1852), S. 5 bis 7. Friedrich Gerstäcker, Wie ist es denn nun eigentlich in Amerika? (1849), S. IV. Ebd. Maler, Der exotische Roman, S. 83; zur belehrenden Thematisierung von Auswanderungsproblemen in den Romanen vgl. Schutz, Friedrich Gerstäcker's Image of the German Immigrant in America, S. 322-330 und Mikoletzky, Die deutsche AmerikaAuswanderung in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur, S. 199-247.

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präziseres Informationsprogramm, ohne aber die emotionalen Bedürfnisse der Leser zu vernachlässigen. Zunächst wollen sie jedem Stande, jeder Klasse von Auswanderern speciell die Rathschläge an die Hand [...] geben, welche ihn in der neuen Welt leiten, ihn vor Klippen bewahren und in den sichern Port, sei es eines bescheidenen Loghauses, einer eleganten Werkstatt oder staubigen Gelehrten^ oder Comptoir=Stube führen sollen

und sie sind deshalb »so praktisch als möglich« gehalten.85 Der Kern solcher Ratgeber besteht aus konkreten Empfehlungen zur Vorbereitung und Durchführung der Reise. Dazu gehört die Aufforderung, rechtzeitig Englisch zu lernen ebenso wie etwa eine Liste der mitzunehmenden Gegenstände. Selbst der Hinweis auf empfehlenswerte Bücher fehlt nicht: Der Auswanderer soll einige »im ächt christlichen Sinne« für »alle Confessionen« abgefaßte und eine »Fülle an Trost und Erquickung« bietende religiöse Traktate ebensowenig vergessen wie zumindest einen Band der Werke Goethes oder Schillers; und »Unbemittelte, welche sich diese Sachen nicht anschaffen können, sollten wenigstens eine Auswahl von allen den berühmten deutschen Schriftstellern haben, und dafür empfehlen wir Wolffs poetischen Hausschatz des deutschen Volkes«.86 Diese Hinweise sind als Reaktion auf das psychische Grundbedürfnis des Auswanderers zu verstehen. Sie sind das in praktische Empfehlungen umgesetzte Versprechen, daß sich der Verlust des alten Satisfaktionsraumes kompensieren läßt nicht nur durch Assimilation an den neuen, sondern auch durch die Beibehaltung von emotionalen Bindungen an den alten, die sich durch die Mitnahme von Büchern auch materiell exportieren lassen. Wenn die »Sehnsucht nach dem alten Vaterlande, nach dem Orte der Kindheit erwacht und schwermüthig aufs Gemüth einwirkt«,87 dann können solche Hilfsmittel dazu beitragen - so versichern es die Ratgeber - die emotionale Krise zu überwinden, weil die Bindungen zu den vertrauten Werten auch materiell nicht aufgegeben sind.88 Die populären Ratgeber versuchen mit diesen Mitteln der komplexen affektiven Bedürfnisstruktur der potentiellen Auswanderer gerecht zu werden. Diese Bedürfnisse werden dagegen ignoriert von einer Literatur, die sich weitgehend auf sachliche Informationen beschränkt. Sie wendet sich auch kaum an den gewöhnlichen Auswanderer, sondern an Personen und Institutionen, die indirekt mit der Auswanderung befaßt sind. Im weiteren Sinne sind zu dieser Literatur 85 86 87 88

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Pauer, Die Vereinigten Staaten von Nord-Amerika (1847), S. V. Amerika! (1849), S. 25. Ebd., S. 66. Zu diesen Problemen des »Heimwehs« und seiner Uberwindung durch die »Erinnerung an die Heimath« vgl. Gerstäcker, Aus zwei Welttheilen (1854) I, S. 19. Das Problem des Heimwehs wird in der Briefliteratur verhältnismäßig selten angesprochen; einige Stellen finden sich in: Briefe aus Amerika, S. 191; S. 451. Angesichts der besonderen Bedingungen, unter denen solche briefliche Mitteilungen erfolgten, kann die Vernachlässigung dieses Aspekts allerdings nicht überraschen. Die Briefschreiber standen immer unter einem Legitimationszwang post festum, und so ist es auch zu erklären, daß bei den beiden Briefstellen zwar das Heimweh artikuliert, aber dennoch Amerika Deutschland vorgezogen wird.

die Auswanderungszeitungen zu zählen, von denen in der zweiten Jahrhunderthälfte acht verschiedene, teilweise mit sehr kurzer Lebensdauer, erschienen.89 Es ist kaum anzunehmen, daß diese Zeitungen auf die Entschlußbildung der Auswanderer wesentlichen Einfluß genommen haben; das entsprach auch nicht ihrer Absicht. In einem Inserat für die »Allgemeine Auswanderungszeitung« werden die eigentlichen Zielgruppen genannt: »Regierungen, Vereinen und Privaten ist in dieser Zeitung [...] das wirksamste Unterstützungsmittel ihrer Fürsorge für das Wohl der Auswanderer geboten.«90 Die Zeitungen dienten der Verständigung intellektueller und politischer Kreise über allgemeine Probleme der Auswanderung im Rahmen der öffentlichen Diskussion. Ganz ähnlichen sachlichen Ansprüchen wollen die umfangreicheren Ratgeber Brommes - sein »Rathgeber für Auswanderungslustige« und sein »Hand- und Reisebuch für Auswanderer« - genügen. Bromme verfolgt zunächst ambitioniertere theoretische Absichten; er diskutiert die möglichen Ursachen der deutschen Auswanderungsbewegung und schließt daran die Forderung an die deutschen Politiker an, sich stärker um die Belange der Auswanderer zu bemühen - seine Absicht ist es, eine »deutsche Central=Auswanderungs= und Kolonisations=Gesellschaft« zu gründen.91 Entsprechend dieser Intention ist die Darstellung angelegt. Sie gibt weniger konkrete Hinweise für die praktische Durchführung der Auswanderung des einzelnen, sondern diskutiert auf der Grundlage breiten Materials die Verhältnisse, die deutsche Auswanderer in den verschiedenen Regionen der Vereinigten Staaten und in bestimmten Berufen antreffen werden. Sein »Rathgeber« ist von Konzeption und Absicht her eher als Beitrag zur politischen Auswanderungsdiskussion gedacht denn als konkrete Handreichung für den einzelnen Auswanderer. Dagegen gibt das »Handbuch« detaillierte und präzisere Informationen nicht nur über die amerikanischen Verhältnisse, sondern auch über die Situation in den einzelnen Hafenstädten, Adressen von Vereinen und Personen, die sich dort um die Belange der Auswanderer kümmern, über gesetzliche Bestimmungen in Deutschland und Amerika, 89

Vgl. die Tabelle bei Marschalck, Deutsche Überseewanderung im 19. Jahrhundert, S. 19. Von den hier aufgeführten Zeitungen erscheinen zwei 24 und 25 Jahrgänge lang, während die anderen eine Lebensdauer von zwei bis sechs Jahren hatten. Vgl. auch Görisch, Die gedruckten »Ratgeber« für Auswanderer, S. 53. Zu den Auswanderungszeitungen und anderen Informationsquellen für potentielle Auswanderer vgl. Thaller, Studien zum europäischen Amerikabild, S. 98 f. Auswanderungsinformationen ließen sich auch der dominierenden Intellektuellen-Zeitschrift im Deutschland des 19. Jahrhunderts, der »Augsburger Allgemeinen Zeitung«, entnehmen, die seit den dreißiger Jahren eine eigene Spalte »Vereinigte Staaten« führte und die deutschen Leser über einen größeren Zeitraum hinweg neben allgemeinen auch mit auswanderungsspezifischen Informationen über die USA versorgte; vgl. Wagner, Das Bild Amerikas in der deutschen Presse von 1828 bis 1865, S. 317. Allerdings haben die Zeitungen insgesamt wohl nur ungenaue Nachrichten von den realen amerikanischen Verhältnissen nach Europa übermittelt; vgl. Thaller, Studien zum europäischen Amerikabild, S. 42 f. 90 Die Anzeige ist abgedruckt im Inseratenteil von Fröbel, Die deutsche Auswanderung und ihre culturhistorische Bedeutung (1858). 91 Bromme, Rathgeber für Auswanderungslustige (1846), S. IV. 71

über Passagepreise und schließlich auch über die auf der Reise notwendigen Verhaltensmaßregeln der Auswanderer. Unter der Vielzahl von Auswandererratgebern, die Bromme publiziert hat, findet sich schließlich sogar ein »Wegweiser für Einwanderer und Reisende«, der auf 155 Seiten Tabellen zusammenstellt, in denen die »zu benutzenden Eisenbahn- und Dampfboot-Verbindungen [...] überall gewissenhaft eingetragen worden« sind.92 Daß dieser Ratgeber vom normalen Einwanderer wirklich genutzt wurde, läßt sich bezweifeln, da er - ebenso wie die anderen großen Ratgeber Brommes auch - mit seinem Übermaß an Informationen an den aktuellen Bedürfnissen der Reisevorbereitung vorbeizielte; immerhin aber ist auch aus diesem Werk ersichtlich, daß dem Auswanderer in jeder erdenklichen Hinsicht publizistische Hilfsmittel zur Durchführung seiner Reise angeboten wurden und daß auch ein Markt für Auswanderer-Literatur jeder Art bestand. Diese Literatur ist mit ihren verschiedenen Abstufungen zwischen Sachlichkeit und Affektbefriedigung ein wichtiges Glied in der Kette jener Voraussetzungen, die von den objektiven politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Vorbedingungen der Auswanderung zum konkreten individuellen Auswanderungsentschluß führte; und sie hat gewiß wesentlich dazu beigetragen, diesen Entschluß zu forcieren und zu erleichtern. Allerdings sind es weniger die präzisen Informationen in der Art von Brommes Ratgebern gewesen, die schließlich den letzten Anstoß gaben, als vielmehr jene Werke, die in ihrem stilistischen Gestus dem Auswanderer-Brief näher kamen. Der Auswanderer bedurfte zunächst eher einer mentalen Einstimmung auf die Auswanderung als konkreter Ratschläge; und diesem Bedürfnis kamen Ratgeber jenes Typus, wie ihn etwa Gerstäckers kleine Schrift repräsentiert, entgegen. Der persönliche und moralisierende Ton, den Gerstäcker anschlägt und der weitgehend die sachliche, etwa durch genaue Hinweise und Zahlen abgesicherte, Auskunft ersetzt, ist ebenso vor diesem Hintergrund zu sehen wie das von ihm und anderen Autoren praktizierte Verfahren, das eigene Vorbild einer erfolgreichen Auswanderung ins Zentrum ihrer Schriften zu setzen.

5. Tradition und Innovation in der literarischen Gattungsentwicklung der »Ratgeber«-Literatur Die Ratgeber-Literatur ist nicht autochthon, als spontane Reaktion auf neue Bedürfnisse entstanden. Sie ist zwar eine spezifisch aus dem Auswanderungsprozeß des 19. Jahrhunderts hervorgegangene Erscheinung, aber dennoch steht sie in einem Traditions- und Gattungszusammenhang, auf den sie sich gleichermaßen bezieht wie sie sich von ihm absetzt. Ihre strukturellen und inhaltlichen Eigenschaften lassen sich zunächst herleiten aus der früheren und gleichzeitig 92

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Bromme, Wegweiser für Einwanderer und Reisende in den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika und den Canada's (1848), S. V.

entstandenen Reiseliteratur. Der »Ratgeber« steht in der Tradition der »Apodemik« des 16. Jahrhunderts und weist zugleich auch Elemente des modernen »Reiseführer«-Typus auf.93 Diese Traditionsstränge ebenso wie die konventionelle Form des Reiseberichts verschmilzt die Ratgeber-Literatur unter dem Druck der an sie gestellten Anforderungen zu einem sehr heterogenen Konglomerat. So vielfaltig aber die Formen auch sind, die dieses Genre hervorgebracht hat und so schwer häufig die Abgrenzung vom normalen Reisebericht fallt,94 so deutlich lassen sich doch andererseits Charakteristika ausmachen, die den »Ratgeber« als eine eigene Gattung innerhalb der Reiseliteratur dieser Zeit ausweisen. Wie die Auswanderer-Literatur allgemein, so haben sich auch die Ratgeber den spezifischen Anforderungen der Auswanderung angeglichen. Das Anschwellen der Amerika-Auswanderung zu einer Massenbewegung erweckte nicht nur ein stetig ansteigendes Informationsbedürfnis, sondern es stellt auch gegenüber der traditionellen Reiseliteratur besondere Anforderungen an die Art, wie dieses Bedürfnis befriedigt werden mußte. Während nämlich die Darstellung anderer Länder eher exotische oder akademische Neugierde weckten, mußte die Schilderung Amerikas zugleich als Herausforderung für die eigene Lebenspraxis der Leser begriffen werden. Amerika-Darstellungen animieren zum Vergleich mit der eigenen Situation in der Heimat, da der Kontinent als reale Alternative zu ihr aufgefaßt werden kann; auch die Reiseberichte - und nicht nur die speziellen Ratgeber - werden damit zu mehr als einem bloßen Gegenstand interesselosen Wohlgefallens. Diese Rezeptionshaltung wirkt auf die entsprechende Literatur zurück. Normale Reisebeschreibungen - sofern sie ihren Impuls nicht aus dezidiert wissenschaftlichen Intentionen beziehen - haben im 19. Jahrhundert in der Regel den Gestus der ephemeren Besichtigung: Sie stehen weder unter dem Druck einer besonderen Informations- noch unter dem einer besonderen Wahrheitspflicht; sie können deshalb Kurioses und Interessantes, aber auch Belangloses oder gar Unwahres berichten, ohne damit ihren eigentlichen Anspruch, nämlich den der Unterhaltung eines breiteren Publikums, zu verfehlen. Schon ein Zeitgenosse klagte über diese Tendenz der Gattung, nur »das Piquante, das Moderne, das Unerhörte zur Absicht« zu haben und zu »einem Pfuhl der Persönlichkeiten und Klatschgeschichten« geworden zu sein.95 Von diesem Bewußtsein sind die weitaus meisten Amerika-Beschreibungen des 19. Jahrhunderts getragen; nur ganz selten finden sich Autoren, die nicht in irgendeiner Weise auf die speziellen Bedürfnisse ihrer Leser direkt Rücksicht nehmen. Zu den Ausnahmen gehört die Reise des Herzogs Bernhard zu Sach93

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Zur Apodemik vgl. Stagl, Die Methodisierung des Reisens im 16. Jahrhundert, S. 140 bis 177. Vgl. Görisch, Die gedruckten »Ratgeber« für Auswanderer, hier bes. 53f. Prutz, Ueber Reisen und Reiseliteratur der Deutschen (1847), S. 255f.; zum »Aspekt des Flüchtigen, Angedeuteten« in den im Vormärz kuranten »Reiseskizzen«, die dem Unterhaltungsbedürfnis entgegenkamen, vgl. auch Wülfing, Reiseliteratur, S. 183. Daneben hebt Wülfing hier auch die »Informations- und Bildungsfunktion« und schließlich die »Ersatz- oder Kompensationsfunktion« der vormärzlichen Reiseliteratur hervor.

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sen-Weimar-Eisenach, die ausschließlich persönlichen - vor allem militärischen - Interessen folgt und auf die Auswanderungsproblematik, die zu seiner Zeit allerdings noch nicht besonders akut war, keine Rücksicht nimmt.96 In der Regel jedoch lassen die möglichen Konsequenzen ihrer Beschreibung die AmerikaReisenden nicht unberührt. Es erscheint ihnen nicht mehr angemessen, Nachrichten über das fremde Land nur im Vorübergehen zu sammeln und sie als Gegenstand einer interessierten, aber nicht weiter folgeträchtigen Neugierde weiterzugeben. Um solchen weiterreichenden Ansprüchen gerecht werden zu können, greift die Ratgeber-Literatur auf Darstellungsformen zurück, die bereits die »Apodemiken« des 16. Jahrhunderts entwickelt hatten. Mit der Tradition der »Apodemik« verbinden den Ratgeber jene Elemente, die über die unmittelbare Verhaltensanweisung hinaus- und in den Bereich der grundsätzlichen methodischen Reflexion über das Reisen hineinreichen. Apodemik wie Ratgeber zielen zwar auch, ganz wie die Reiseführer-Literatur, auf »Verhaltenssicherheit auf Reisen«, aber sie beschränken sich nicht nur auf die Befriedigung unmittelbar reisepraktischer Bedürfnisse.97 Anders als der bloße Reiseführer sind sie sehr viel stärker auf die über das Reisen hinausweisende Lebenspraxis der Auswanderer bezogen und um eine methodische, oft sogar wissenschaftliche Absicherung ihrer Aussagen bemüht. Die Ratgeber-Literatur des 19. Jahrhunderts erreicht zwar bei weitem nicht mehr jenen Standard der Reflexion, der die frühneuzeitlichen Apodemiken auszeichnete; Spurenelemente der »Methodisierung« des Reisens sind aber auch in ihr noch erkennbar. Sie sind ein Resultat der neuen Anforderungen, die an diese Literatur durch die Auswanderungsbewegung gestellt werden. Der Habitus beliebiger Neugier, wie er den Reisebericht des 19. Jahrhunderts zu prägen beginnt, wäre dem Ratgeber vor dem Hintergrund der Auswanderungswelle unangemessen. Der Reisende als Autor eines Ratgebers wird zum Gewährsmann; seine Reise erhält Gewicht, weil sie tief in die Lebenspraxis seiner Leser eingreift. Der Ratgeber ist sich der Verantwortung bewußt, die ihm seine Funktion auferlegt; und er ist bemüht, ihr gerecht zu werden, indem er »apodemische« Elemente in sich aufnimmt. Dieses neue Verantwortungsgefühl hat Ludwig Gall - der seine Reise sechs Jahre vor dem Herzog Bernhard unternahm - zur Grundlage seines Berichts gemacht: Eine heilige Pflicht scheint es mir daher, daß Jeder, was er vermag, beitrage zur Berichtigung der falschen und zur Verbreitung richtiger Ansichten von den Vereinigten Staaten und andern fernen Ländern, welche [...] wir beneiden, so lange wir nur die schönere Seite von allen diesen Dingen kennen, mit welchen wir aber nicht würden tauschen wollen, sobald uns auch ihre Schattenseite glaubwürdig bekannt wäre. 98 96

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Eine knappe Charakteristik der Interessen des Herzogs gibt Weber, America in Imaginative German Literature in the First Half of the Nineteenth Century, S. 112-114; zu den Intentionen des Herzogs vgl. auch Beutler, Von der Ilm zum Susquehanna, S. 493 bis 495. Stagl, Die Methodisierung des Reisens im 16. Jahrhundert, S. 155. Gall, Meine Auswanderung nach den Vereinigten=Staaten in N o r d a m e r i k a (1822) I, S. 3.

Galls Bericht gehört zu den frühen Zeugnissen einer auswanderungsspezifischen Ratgeberliteratur. Auch wenn er in die Form eines Reiseberichts gekleidet ist, zielt das Interesse ausdrücklich darauf, die Verhältnisse in Amerika in bezug auf die Auswanderung im allgemeinen - das Problem war ihm durch die Emigrationswelle der Jahre 1816/1817 und die dadurch veranlaßten Aktivitäten Fürstenwärthers und Gagerns bewußt geworden - wie auch in bezug auf die von Gall selbst mit initiierte Auswanderung einer Gruppe Deutscher kennenzulernen." Gegenüber diesem praktischen Interesse, das die Wahrhaftigkeit der Darstellung gleich zur »heiligen Pflicht« werden läßt, müssen andere Motive des Reiseberichts zurücktreten; zugleich werden an die Beglaubigungsstrategien der Berichterstatter neue Anforderungen gestellt. Das seit dem 18. Jahrhundert akzeptierte Autopsieprinzip, das ursprünglich aus dem aufklärerischen und wissenschaftlichen Anspruch der Reiseberichte abgeleitet wurde,100 bedarf einer Steigerung. Es wird überhöht, um nicht mehr nur theoretischen Informationsbedürfnissen, sondern auch jenen lebenspraktischen Interessen gerecht werden zu können, die der Autor bei seinen Lesern voraussetzen mußte. Auch den Reisenden der Spätaufklärung - wie Nicolai oder Forster - war der Wahrheitsanspruch ihrer Darstellung selbstverständlich; aber er stellte sich auf einer abstrakteren Ebene. Ihren Reiseberichten lag eine unspezifische utilitaristische Absicht zugrunde.101 Die Sammlung und Vermittlung von Informationen sollte der Erweiterung des Wissens und damit dem Fortschritt der Menschheit im Sinne der Aufklärung dienen; aber dieser Fortschritt mußte sich nicht in der konkreten Alltagspraxis der Leser bewähren, sondern er wurde in abstrakten geschichtsphilosophischen Dimensionen gesehen. Ganz anders verhält es sich bei den Amerikareisenden: Ihr Verfahren folgt dem Autopsieprinzip der Aufklärer, aber es verfolgt andere Zwecke. Wenn die Autoren sich mit den Mitteilungen anderer Reisender auseinandersetzen, so wollen sie mit ihrer Polemik der Verantwortung für den potentiellen Auswanderer gerecht werden, die sich auch auf das vermeintlich geringfügigste Detail ihrer Informationen erstreckt. In diesem Sinne gibt Gall eine Erklärung für die polemische Vehemenz, mit der er sich seinem Gegenstand widmet: Um so nöthiger sind streng der Wahrheit treue Beiträge zur Berichtigung der Ansichten und Begriffe von den Ländern der neuen Welt; [...] von den Mühseligkeiten, die den Emigranten dort erwarten, und von den fast unüberwindlichen Hindernissen, die sich bei jedem Schritte ihm in den Weg wälzen. 102 99

Vgl. zu diesen Hintergründen Walker, Germany and the Emigration, S. 59 f.; zu dem Reisebericht selbst vgl. Weber, America in Imaginative German Literature, S. 108-111. 100 Yg] Stewart, Die Reisebeschreibung und ihre Theorie im Deutschland des 18. Jahrhunderts, S. 8 5 - 9 9 . 101 Vgl. Jäger, Reisefacetten der Aufklärungszeit, S. 275f. 102 Gall, Meine Auswanderung nach den Vereinigtem Staaten in N o r d a m e r i k a (1822) I, S. 7. 75

Angesichts seiner Verantwortung für die Emigranten reklamiert er für seine Darstellung, »daß der Wunsch, mich nützlich zu machen, mir die Feder in die Hand gab, und daß unbefangene Wahrheitsliebe sie führte; ohne Vorurtheil und ohne Leidenschaft.«103 Derlei Versicherungen der Wahrheitsliebe, Richtigkeit und Genauigkeit der Reiseberichte gehören zum festen Arsenal der AmerikaBerichte dieser Zeit: Ziegler versichert, »einfach und wahr, in schlichten, anspruchslosen Worten das niedergelegt« zu haben, »was ich auf meiner Reise durch einen großen Theil der vereinigten Staaten von Nordamerika und noch weiter hinaus sah, erfuhr, beobachtete und erlebte«;104 ebenso wie Bromme erklärt, mit den von ihm zur Auswanderung empfohlenen Ländereien aus »eigener Anschauung« bekannt zu sein.105 Solche Beteuerungen gehörten zu den traditionellen Topoi schon der aufklärerischen - und gelegentlich auch der frühneuzeitlichen - Reiseliteratur. Gegenüber dieser finden sich jedoch in der Amerikaliteratur weitergehende Spezifikationen des Autopsie-Prinzips. Zunächst mußten die Autoren - anders als im 18. Jahrhundert - damit rechnen, daß ihre Darstellungen einer autoptischen Prüfung anderer Reisender oder Auswanderer unterzogen werden würden; jeder Leser wird in der Zeit der Massenauswanderung zum potentiellen Augenzeugen. Das spiegelt sich in der Reiseliteratur und in den Auswandererbriefen: Sehr häufig finden sich Bezugnahmen auf publizierte Reiseberichte, deren Wahrheitsgehalt kritisch gewürdigt wird. Im Blickpunkt stehen dabei die bekanntesten Amerika-Reisenden: Sealsfield wird von Bomme gelobt, weil er »die herrlichsten und wahrsten Sitten= und Charakterschilderungen der Bewohner der südlichen Hälfte des Mississippithaies« gegeben habe.106Aber solche positive Würdigungen sind selten; in der Regel überwiegt die Kritik: Büttner wirft Bomme vor, »für Amerika enthusiastisch eingenommen« zu sein »und daher die Zustände dieses Landes und dessen Bewohner in dem glänzendsten Lichte« dargestellt zu haben;107 gegen Gerstäcker wird - allerdings lange nach seinem Tod - der Vorwurf falscher Informationen erhoben, »weil er nur einige Tage lang ein wenig in die Provinz, wie ältere längst hier ansässige Deutsche behaupten, hineingeguckt hat«, und der Kritiker fahrt fort: »Ich habe übrigens noch Manches unrichtig gefunden, was Gerstäcker auch über andere, nach ihm von mir bereisten Länder geschrieben hat. Er ließ sich gar zu gerne verleiten, seinen Stoff romanartig zu behandeln.«108 Solche kritischen Bemerkungen sind eher marginal; sie lassen aber erkennen, daß jeder Autor mit einer Überprüfung seiner Angaben an Ort und Stelle rechnen mußte. Die Auseinandersetzung wird dort schärfer, wo nicht der Wahrheitsgehalt beliebiger Informationen über das Land in Rede steht, sondern die lebensprakti103 104 105 106 107 108

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Ebd., S. 8. Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika und Westindien (1848) I, S. V. Bromme, Rathgeber für Auswanderungslustige (1846), S. 152. Ebd. Büttner, Die Vereinigten Staaten von Nord=Amerika (1846) II, S. 253. Goegg, Ueberseeische Reisen (1888), S. 84.

sehen Interessen von Auswanderern unmittelbar betroffen sind. Von allen Ratgebern hat Dudens »Bericht über eine Reise nach den westlichen Staaten Nordamerika^« die schärfsten und meisten Widersacher gefunden. Für die meisten seiner Kritiker, die sich auf eigene Erfahrung mit den von Duden geschilderten Verhältnissen stützen können, vielleicht sogar auf seine Anregung hin ausgewandert sind, wird er zum Beispiel par excellence für den mangelnden Wahrheitsgehalt der Ratgeberliteratur. So schreibt Streckfuss unter offensichtlicher Bezugnahme auf Duden: »Wie wenig dem zu trauen ist, was Schriftsteller über Amerika berichten, lehrt D***. [...] Ich glaube er wird das Land, welches er so reitzend darstellt, schwerlich wieder besuchen; und wenn er es thäte, würde er so empfangen werden, daß er wohl nie wieder zurückkehren werde.«109 Der Groll, mit der diese Kritik vorgetragen wird, verrät vor jeder inhaltlichen Würdigung etwas über die Ansprüche, die der Auswanderer an die Reiseberichte stellt. Er liest sie als konkrete Handlungsanweisung, deren Informationen im Detail stimmen müssen; er läßt sich aber zugleich - und davon war die publizistische Auseinandersetzung um Dudens Reisebericht beherrscht - ein Stimmungsbild vermitteln, das schließlich den letzten Anstoß zur Reise geben mag. Entsprechend heftig fallen die Reaktionen derer aus, deren diffuse Erwartungen nicht erfüllt werden; deshalb sind die Autoren bemüht, den Lesern nicht nur - wie wissenschaftliche Reiseberichte - die Richtigkeit der einzelnen Informationen zu versichern, sondern auch genauer Rechenschaft abzulegen über die Art ihres Zustandekommens. Im Laufe der Zeit wächst das Bewußtsein dafür, daß der einfache Augenschein eine unzureichende Grundlage ist für eine Mitteilung, die einen weitreichenden Entschluß beim Leser hervorrufen kann; und die heftige Diskussion um Duden wird dieses Bewußtsein noch geschärft haben. Gustav Körner, der Dudens Reisebericht eine eigene Gegenschrift widmete, hat sich mit diesem Problem auseinandergesetzt und die Voraussetzungen formuliert, die die Beobachtung untermauern müssen. Er verabschiedet damit potentiell den aufklärerischen Glauben an die Autopsie als der einzig legitimen Form der Beglaubigung. Wie vor ihm Humboldt in seinem Konzept der wissenschaftlichen Länderbeschreibung, fordert er die Unterfütterung der eigenen Wahrnehmung durch Informationen jeder Art aus zweiter Hand, da nur so der Komplexität des Gegenstandes entsprochen werden könne: Um dem Auswanderer eine »richtige Vorstellung von dem Aussehen und der Beschaffenheit des Landes« zu geben, will er »versuchen, gestützt auf eigne Anschauung, weit mehr aber auf die vortrefflichen geographischen und statistischen Werke amerikanischer Schriftsteller, eine kurze Skizze der äusseren Beschaffenheit der westlichen Staaten Amerikas zu geben.«110 Diese Einsicht in die Unzulänglichkeit individueller Wahrnehmung bei der Beschreibung eines ganzen Landes bleibt indes die Ausnahme; nur Gall 109 110

Streckfuss, Der Auswanderer nach Amerika (1836), S. 124. Körner, Schilderung des gegenwärtigen Zustandes der westlichen Staaten Nord-Amerika's (1834), S. 8. 77

hatte zuvor schon eine entsprechend vorsichtige Einschränkung des Wertes individueller Beobachtungen formuliert: »Ich werde mich daher hüten, dieses Land, wie so viele andere Reisende, nach dem schmalen Strich, welchen wir auf der bloßen Durchreise davon zu sehen bekommen, beschreiben zu wollen.«111 Diese Bemerkungen Galls und Körners lassen andeutungsweise so etwas wie eine Reflexion auf die Grenzen des Autopsieprinzips erkennen, wie sie durch die theoretischen Auseinandersetzungen zwischen Kant und Forster und die praktischen länderkundlichen Arbeiten Humboldts inauguriert worden war.112 Die meisten anderen Reiseberichte demonstrieren jedoch, wie gering die Resonanz solcher Erwägungen in der breiten Masse der Reiseliteratur - und wohl auch bei ihrem Publikum - geblieben ist. Die Autoren versuchen, den erhöhten Erwartungen an den Wahrheitsgehalt ihrer Schilderungen durch eine Modifikation des alten aufklärerischen Autopsieprinzips zu entsprechen. An die Stelle der einfachen Beobachtung als der Grundlage der Darstellung setzten sie die in der eigenen Lebenspraxis fundierte intensivierte Autopsie. Sie haben nicht nur gesehen, worüber sie berichten, sondern sie beziehen ihre Glaubwürdigkeit für den potentiellen Auswanderer daraus, daß sie dessen künftiges Leben in Amerika vorweggenommen haben. Gerstäcker versichert in seinem Ratgeber, daß »langjährige Erfahrung« ihn zur Erteilung von Ratschlägen berechtige,113 und er bringt Beispiele aus seiner eigenen amerikanischen Lebenspraxis, um sie zur »Warnung Anderer« aufzustellen.114 Diese Tendenz läßt sich auch in den anderen Reiseberichten erkennen. Bereits in ihren Titeln ist eine auffallige Betonung der Dauer des jeweiligen Amerika-Aufenthaltes festzustellen. So verspricht Duden nicht nur den »Bericht über eine Reise«, sondern zugleich den über seinen »mehijährigen Aufenthalt am Missouri (in den Jahren 1824, 25, 26 und 1827)«; Büttner verweist - ebenfalls im Titel - darauf, daß er seine Reisen vom »Jahre 1834-1841« unternommen hat; Streckfuss teilt gleich auf der ersten Seite seiner Vorrede mit, daß er sich zwei Jahre lang in den Vereinigten Staaten aufhielt, während Löwig gar - wiederum im Titel - sich darauf berufen kann, »Kaufmann in Philadelphia« zu sein. Solche Berufungen auf die autoptische Erfahrung und die eigene Lebenspraxis der Autoren sichern ihren Berichten erst jenen Grad von Glaubwürdigkeit, der vom auswanderungswilligen oder -interessierten Publikum verlangt wird. Der Reisende ist für den Leser weniger ein Informant als ein Vorbild, das die Möglichkeit des Gelingens einer Auswanderung vor Augen führt. Der Unterschied zwischen dieser, die praktischen Interessen der Leser potentiell unmittelbar berührenden, Reiseliteratur und traditionellen Erwartungen wird in einer literarhistorischen Marginalie schlaglichtartig deutlich. Gall hatte " ' Gall, Meine Auswanderung nach den Vereinigten=Staaten in Nord=Amerika (1822) II, S. 55. 112 Vgl. dazu Brenner, Die Erfahrung der Fremde, S. 36-38. 113 Gerstäcker, Wie ist es denn nun eigentlich in Amerika? (1849), S. IV. 1,4 Ebd., S. 34.

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als einer der ersten Autoren die neue Qualität des Informationsbedürfnisses seines amerikainteressierten Publikums gesehen und ihr gerecht zu werden versucht. Es entbehrt deshalb nicht einer rezeptionsgeschichtlichen Ironie, wenn ausgerechnet sein Werk vor allem deshalb nicht gänzlich der Vergessenheit anheim fiel, weil es zum Opfer eines Mißverständnisses wurde. Goethe erwähnt den Reisebericht in einer Notiz, die Galls eigene Intentionen völlig mißachtet: Er rechnet das Werk zu den Büchern, die »sehr lesenswürdig, aber nicht lesbar sind«," 5 und schlägt eine Bearbeitung des Stoffes vor. Aus dem Reisebericht würde dann ein Roman, der mit »Cooper zu wetteifern« sich bemühen sollte. Der Vergleich mit Cooper zeigt, daß Goethe dem Reisebericht Galls gegenüber eine traditionelle Rezeptionshaltung einnimmt. Das Werk wird als eine Sammlung kulturhistorischer Kuriosa verstanden, deren Unterhaltungswert durch eine bessere lesbare Form noch gesteigert würde. Der Anspruch auf praktischen Nutzen, den Gall so energisch erhebt, wird damit ignoriert und die eigentliche Absicht des Werkes mißachtet.

6. Probleme der Reise: Rationalitätserfordernisse und Mentalitätsrückstände Die Erfahrung der »Fremde« beginnt mit dem Verlassen der »Heimat«. Nicht erst bei der Ankunft im Zielland, sondern bereits auf dem Weg dorthin und früher noch - bei der Vorbereitung der Reise werden die Voraussetzungen herausgearbeitet, welche entscheidend einwirken auf die Formen und Inhalte, mit denen das Fremde erfahren und beschrieben wird. Umgekehrt beeinflussen die konkreten Erwartungen, die sich an das Zielland knüpfen, und die vagen Vorstellungen von ihm die Art der Reise und Reisevorbereitung. Schließlich wirken auch mentalitätsgeschichtliche Voraussetzungen in einzelnen Regionen und sozialen Schichten sowie organisatorische und technische Reisestandards auf die Art der Reisedurchführung ein. Diese konkreten Probleme des Reisens und die Art ihrer realen wie mentalen Bewältigung spielen eine nicht unerhebliche Rolle in den verschiedenen Typen der Auswandererliteratur. Sie werden in ihnen sowohl direkt thematisiert und diskutiert wie sie auch indirekt die Beschreibung von Reise- und Fremderfahrung beeinflussen. Darüber hinaus aber nimmt bei der realen und mentalen Reisevorbereitung die einschlägige Reiseliteratur eine eigentümliche Stellung ein, wie sie sich wohl nur in der Auswanderer- und allenfalls noch in der wissenschaftlichen Reiseform findet: Die auswanderungsbezogene Literatur wird zu einem Teil der Organisationsform des Reisens selbst. Sie erfüllt nicht nur die gleichen Funktionen wie die anderen auswanderungsspezifischen Institutionen, innerhalb derer und mit deren Hilfe sich das Reisen vollzieht; sie verschmilzt in einzelnen Randbereichen auch untrennbar damit. Reiseliteratur ist dann nicht " 5 Goethe, Stoff und Gehalt, zur Bearbeitung vorgeschlagen (1827), S. 692.

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mehr nur Begleiterscheinung des Reisens, von diesem in irgendeiner Form hervorgebracht oder beeinflußt; sie wird vielmehr zum Bestandteil der institutionellen Organisation des Reisens. Die spezifischen Organisationsformen, welche die deutsche Amerika-Auswanderung hervorbrachte, hatten im wesentlichen die Bewältigung eines Problems zum Ziel: Sie mußten die Kluft schließen, die zwischen der Mentalität der Auswanderungswilligen und den objektiven Voraussetzungen der Auswanderung klaffte. Beide Aspekte treten in der Ratgeber-Literatur am deutlichsten hervor: Sie hat sich jede erdenkliche Mühe gegeben, den Auswanderer mit den Schwierigkeiten der Reise und der Ansiedlung vertraut zu machen und ihm mit mehr oder weniger exakten Informationen den Weg zu bereiten. Dennoch sind ihre Bemühungen auf keinen fruchtbaren Boden gefallen. Der Entschluß zur Auswanderung ebenso wie ihre konkrete Vorbereitung ließ sich offensichtlich weniger von genauen Auskünften als vielmehr von vagen Vorstellungen über den Verlauf der Reise und die Verhältnisse in Amerika leiten. In diese Richtung weisen jedenfalls die Klagen der Ratgeber-Autoren: In einer Anzeige zu Brommes »Rathgeber« wird die Hoffnung ausgesprochen, daß die »so eifrig und uneigennützig gegebenen Belehrungen und Warnungen ihren Lohn finden, und viele von den Tausenden jener Unglücklichen, welche ohne Ueberlegung, ohne zu wissen, was sie thun, der Habgier gewissenloser Speculanten verfallen, von lebenslänglichem Elende gerettet« werden." 6 Auch Gagern hatte schon 1817 die ungenügende Vorbereitung der Emigranten festgestellt: »Sie ziehen auf das Gerathewohl, ohne Führung, ohne Anstalt, ohne Unterstützung, ohne bereitete Aufnahme, ohne Kenntniß der Gegenden, der Kosten, oder des Schicksals, das ihrer wartet. Mit eitlen Hoffnungen!« 117 Daß in der Frühphase der deutschen Massenauswanderung solche Verhältnisse herrschten, ist einsichtig; daß aber auch dreißig Jahre später trotz eines ständig steigenden, von privaten wie administrativen Institutionen geförderten Informationsflusses die Emigranten - wie ein Ratgeber von 1847 formulierte - tatsächlich das »Beschwerliche ihres Schrittes in seinem ganzen Umfange nicht kennen und nicht zu würdigen wissen« und immer noch ohne angemessene Vorbereitung und Einstellung die Reise antraten,118 läßt sich nur aus Mentalitätsrückständen einerseits und einer Amerika-Euphorie andererseits erklären, die eine Verdrängung der realen Schwierigkeiten bewirkten. Die Quellen lassen erkennen, daß die Warnungen und Belehrungen größtenteils gründlich mißachtet wurden; sie offenbaren die Hilflosigkeit der Auswanderer angesichts der praktischen Anforderungen der Reise, die Folge falscher mentaler und fehlender realer Vorbereitung waren. Das führte dazu, daß ein erheblicher - allerdings kaum quantifizierbarer - Teil der Emigranten schon in 116

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Das Inserat aus den »Braunschweigischen Anzeigen« ist abgedruckt im Anhang von Gerstäcker, Mein lieber Herzensfreund! Gagern, Ueber die Auswanderung der Deutschen (1817), S. 4. Amerika! (1849), S. 2.

der ersten Phase der Reise scheiterte; die Anreise zum - oft weit entfernt, in den Niederlanden, Le Havre, später in Bremerhaven und Hamburg119 liegenden Überseehafen wurde häufig zum nicht zu bewältigenden Problem. Vor allem in der ersten Jahrhunderthälfte kam es vor, daß Auswanderer gänzlich mittellos ihr Unternehmen schon vor der Abreise abbrechen und »auf Befehl der Polizeybehörden den Rückweg in ihr Vaterlandantretten« mußten.120 Gall schildert 1822 seine Begegnung mit dem »gräßlichen Elende jener armen Menschen«, die halb »verhungert, in Lumpen voll Ungeziefers gehüllt, und vor Entkräftung den siechen Körper nicht mehr weiter zu schleppen vermögend«, die Rückreise antreten mußten und denen man »keine Erholung« hatte gönnen können, »weil für die täglich Nachkommenden Platz gemacht werden mußte«.121 Noch um die Jahrhundertmitte zeigten sich die weitläufigeren Bremer bestürzt über die Plan-, Rat- und Hilflosigkeit der Auswanderer in ihrer Stadt; man »beklagte vor allem ihre Schwerfälligkeit und Unwissenheit und sprach immer wieder von einer dumpfen Masse.«122 Es ist kennzeichnend für die rückständige Mentalität der Auswanderer, daß die Verbesserung der materiellen Reisebedingungen durch politisch-administrative Maßnahmen erreicht werden mußte, die dem einzelnen entsprechende Vorsichts- und Vorsorgemaßregeln abnahmen. So schuf Bremen als erste Hafenstadt eine eigene Gesetzgebung bezüglich der Auswanderung, die einerseits die Stadt vor mittellosen Emigranten bewahren, andererseits ihnen - durch Bestimmungen über Verproviantierung, ärztliche Versorgung, Beschränkung der Passagierzahlen - ein Minimum an Schutz gewähren sollte.123 Trotz dieser Maßnahmen bedeutet die Reise für die Emigranten ein Abenteuer, da sie »meist keine zuverlässigen Kenntnisse über die Reisemodalitäten, die unterwegs zu erwartenden Schwierigkeiten und die Ansiedlungsverhältnisse in den Vereinigten Staaten besaßen, war die Auswanderung für sie ein Schritt ins Ungewisse.«124 Diese Kenntnisse versuchten die Auswanderer-Ratgeber zwar zu " 9 Zu den Haupthäfen der deutschen Auswanderung vgl. Walker, Germany and the Emigration, S. 87f.; zu Bremen und Hamburg: Gelberg, Auswanderung nach Übersee, S. 10-12; Bickelmann, Das Abenteuer der Reise, S. 332f. Statistische Angaben zur Auswanderung über Bremen macht Engelsing, Bremen als Auswandererhafen 16831880, S. 167-171. 120 Aufbruch nach Amerika, S. 204. Moltmann gibt in dieser Quellensammlung aus dem Umkreis der Emigrationswelle von 1816/1817 Dokumente wieder, die die Situation der Auswanderer in den holländischen Häfen eindrucksvoll belegen; vgl. ebd., S. 188—214; Vagts, Deutsch-Amerikanische Rückwanderung; zum Typus des »Umkehrers« vgl. S. 12f. 121 Gall, Meine Auswanderung nach den Vereinigten ^Staaten in Nord=Amerika (1822) I, S. 65f. 122 Engelsing, Bremen als Auswandererhafen, S. 173. Engelsing belegt diese Feststellung mit aussagekräftigen Zitaten aus unveröffentlichten Quellen, vgl. ebd., S. 172f. 123 Vgl. Bickelmann, Das Abenteuer der Reise, S. 332; Engelsing, Bremen als Auswandererhafen, S. 131-135; Die wichtigsten Bestimmungen über die Auswandererbeförderung werden dargestellt bei Schlechtriem, Die Überfahrt nach USA, S. 31-33. 124 Bickelmann, Das Abenteuer der Reise, S. 332.

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vermitteln; aber ihre Warnungen - sofern sie überhaupt rezipiert wurden m u ß t e n konkurieren mit übersteigerten H o f f n u n g e n , die das Bewußtsein der Schwierigkeiten verdrängten, und auch mit falschen Informationen u n d betrügerischen Machenschaften der Auswanderungsagenten, die mit der Emigration ihr Geschäft machten. Die Unfähigkeit der großen Masse der Auswanderer zur Planung ihrer Reise k a n n schon deshalb nicht überraschen, weil ihnen in aller Regel jede Reiseerfahr u n g fehlte. Unspezifische Aussagen über eine neue entstehende Reiselust schon im ersten Drittel des Jahrhunderts, die »die Menschen über das weite E u r o p a « trieb, 125 sind mit Zurückhaltung zu betrachten: Sie k ö n n e n sich nur auf eine imm e r noch kleine bürgerliche Schicht beziehen, der die Mittel und die M u ß e zur Verfügung standen, ihr Reisebedürfnis zu befriedigen. Prinzipiell gilt jedoch auch f ü r das Bürgertum des früheren 19. Jahrhunderts: » M a n reiste wenig, schon weil das Reisen so kostspielig u n d umständlich war.« 126 Diese Immobilität des Bürgertums wurde später, mit dem A u f k o m m e n des Massentourismus, zusehends aufgegeben; der Bürger wird z u m Touristen par excellence. Dagegen ist das bäuerliche Leben - bis in die Gegenwart - von einer schon aus praktischen Erwägungen erzwungenen Seßhaftigkeit gekennzeichnet, die den G e d a n ken an Reisen praktisch ausschloß: »Der Bauer reiste nie; das bedeutet: der größte Teil des Volkes war total seßhaft«. 1 2 7 D a r a n hat auch der Massentourism u s nichts geändert; sowohl die Bauern wie auch die Arbeiterschaft blieben von ihm weitgehend ausgeschlossen. 128 D a ß die Auswanderungslust dennoch gerade im Bauerntum so verbreitet war, m u ß angesichts der sozialen Tatsache dieser physischen - und auch mentalen - Immobilität zunächst überraschend erscheinen. Die Quellen deuten jedoch darauf hin, d a ß diese Immobilität möglicherweise gerade eine der Ursachen der Auswanderungslust war: Die mangelnde Reiseerfahrung wirkte nicht auswanderungshemmend, sondern -fördernd, weil sie die Herausbildung eines realistischen Bewußtseins f ü r die praktischen Schwierigkeiten der Reise gar nicht erst zuließ. Auf den ersten Blick scheint die Situation der Handwerker eine andere gewesen zu sein: Die von den Zünften geforderte Handwerksreise verschaffte d e m Gesellen eine Vertrautheit mit der Fremde, die dem Bauern grundsätzlich versagt blieb. Die Wanderschaft ist nicht nur ein Mittel zur Vervollkommnung der handwerklichen Fähigkeiten; sie wird zugleich zum Bildungserlebnis, das den provinziellen Bewußtseinshorizont sprengt. 129 D e n n o c h vermittelt auch sie nicht die Erfahrung, die zur selbständigen Organisation einer Auswanderung erforderlich wäre. Sie bleibt eingebunden in einen vorgegebenen, traditionell gewach125 126 127

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Treue, Illustrierte Kulturgeschichte des Alltags, S. 230. Bruford, Deutsche Kultur der Goethezeit, S. 115. Lahnstein, Report einer »guten alten Zeit«, S. 396. Zur Enge des bäuerlichen Bewußtseinshorizonts im frühen 19. Jahrhundert vgl. auch Bruford, Deutsche Kultur der Goethezeit, S. 27f. Vgl. Enzensberger, Eine Theorie des Tourismus, S. 160. Vgl. Elkar, Reisen bildet, S. 6 6 - 7 3 .

senen institutionellen Rahmen. Der Geselle konnte - anders als der Auswanderer - aufs Geratewohl losziehen und dennoch, bei allen Schwierigkeiten im einzelnen, immer sicher sein, von den Institutionen der Zünfte aufgefangen zu werden; zudem stellte die jahrhundertealte Tradition der Wanderschaft ein Verhaltensarsenal bereit, das die mentale Bewältigung von praktischen und sozialen Schwierigkeiten ohne größere Probleme erlaubte.130 Für den Handwerker wie erst recht für den Bauern bedeutete die Auswanderungsreise eine grundsätzlich neue Erfahrung, zu deren Bewältigung weder die praktischen Kenntnisse noch die mentalen Dispositionen zur Verfügung standen. Das mußte schon bei den elementaren Anforderungen der Reisevorbereitung zu Problemen führen. Gerstäcker gibt einen Hinweis darauf, wenn er in seinem »Parcerie-Vertrag« die poetische Fiktion durchbricht und in einer Fußnote auf die Gefahren falscher Vorstellungen hinweist: Ich kann Auswanderer nicht genug davor warnen, sich von irgend einem Agenten Entfernungen auf den Karten zeigen und erklären zu lassen. Denn Nichts auf der Gottes Welt ist unzuverlässiger als ein solcher Beweis, Leuten gegenüber, die kein Verständniß über die Schwierigkeiten und Entfernungen in fremden, besonders wilden Ländern haben können. [...] Solche Kunstgriffe wie hier Herr Kollboeker anwendet, sind aber nur zu häufig von schurkischen Agenten gebraucht und benutzt worden, um arme unwissende Menschen dorthin zu schaffen, wo sie einen Nutzen von ihnen erwarteten. 131

Solche Probleme bei der realistischen Einschätzung der räumlichen, zeitlichen und pekuniären Dimensionen des Auswanderungsplanes sind indes nur äußerliche Indikatoren eines tiefer verwurzelten Mentalitätsrückstandes. Der Auswanderungsvorgang läßt sich nicht nur anthropologisch als Verlassen der »Heimat« als eines unspezifischen Satisfaktionsraumes begreifen; erst die historische und soziale Konkretisierung der satisfaktionierenden Momente dieser »Heimat« kann plausibel machen, welche mentalen und realen Anforderungen ihr Verlassen tatsächlich, in einer konkreten historischen Situation, stellte.132 Für die 130

Wisseil gibt einen - leider nur bis 1800 reichenden - Überblick über die Geschichte der »Wanderschaft« und hebt hervor, daß eine »Unterstützung der wandernden Berufskollegen« in jeder Hinsicht zu den selbstverständlichen Aufgaben der Zünfte gehörte. Vgl. Wissell, Des Alten Handwerks Recht und Gewohnheit I, S. 337; vgl. auch den Kontext S. 301-358. - Zu den Wandererfahrungen, die es den Handwerkern erleichterten, aus »ethnischen und regionalen Traditionen auszubrechen«, vgl. Keil, Lebensweise und Kultur deutscher Arbeiter in Amerikas Industriezentren, S. 208. 131 Gerstäcker, Ein Parcerie-Vertrag (1869), S. 37. 132 Insofern sind noch einmal Vorbehalte angebracht gegenüber der ansonsten als Deutungsmodell sehr plausiblen Studie von Greverus. Sie stützt sich zu stark auf einen ahistorischen Begriff des satisfaktionierenden Territoriums. Auch wenn sie die Einbeziehung von »kulturvariablen (und somit modifizierbaren) Erscheinungsformen einer Raumbezogenheit« als Forschungsaufgabe hervorhebt (vgl. Greverus, Der territoriale Mensch, S. 52), vernachlässigt sie diesen Aspekt tatsächlich doch zu sehr. Nur so wird es ihr möglich, etwa bei der Auslegung von Auswanderungsmotiven Quellen heranzuziehen, die anderthalb Jahrhunderte auseinanderliegen, ohne daß ihr jeweils völlig verschiedener real- und mentalitätsgeschichtlicher Kontext bei der Interpretation berücksichtigt würde. Vgl. Greverus, Der territoriale Mensch, S. 137-140.

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Mehrzahl der Auswanderer bedeutete »Heimat« einen provinziellen Lebensraum, in dem traditionelle soziale Strukturen und ihnen entsprechende Verhaltensweisen sich weitgehend ungestört vom Prozeß der Modernisierung hatten erhalten können: Das gilt für den Bauern ohnehin; es gilt jedoch auch für die Auswanderer mit der Berufsbezeichnung »Handwerker«, da diese in der Regel nicht den klassischen Typus des »Zunftmeisters« repräsentiert haben dürften, sondern nach Herkunft und Mentalität eher zu den dörflichen Unterschichten zu zählen sind.133 Max Weber hat die Mentalität dieser Schichten in bezug auf ihr wirtschaftliches Verhalten griffig charakterisiert: Sie ist gekennzeichnet von »dem von der Hand in den Mund Leben des Bauern« und dem »privilegierten Schlendrian des alten Zunfthandwerkers«; Verhaltensweisen, die den Anforderungen der modernen kapitalistischen Wirtschaft, welche auf der »Basis streng rechnerischen Kalküls rationalisiert sind«, entgegenstehen.134 In der alltäglichen Lebenswelt manifestiert sich die rückständige Mentalität dieser Schichten in einer Unfähigkeit zum Denken in abstrakten Kategorien, in der Verhaftung im Gegenständlichen und der Fixierung auf die Gegenwart. Das sind Kennzeichen einer vormodernen Rationalität, die den Anforderungen komplexerer Handlungen entgegenstehen muß, wie sie sich in der modernen Wirklichkeit stellten, mit der die Auswanderer nach dem Verlassen der provinziellen »Heimat« konfrontiert wurden. Diese Wirklichkeit ist durch das Kriterium der Kalkulierbarkeit definiert, der als Verhaltensform die Orientierung an den Maßstäben der »Zweckrationalität« entspricht: Die »zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung« der Wirklichkeit und des Verhaltens in ihr führt zum Wissen oder Glauben, daß man »alle Dinge - im Prinzip - durch Berechnen beherrschen könne.«135 Die modernen Institutionen der Wirklichkeit folgen tendenziell einer rationalen Struktur, die zweckrationales Verhalten ermöglicht, aber auch erfordert; sie erlaubt die Zuversicht, daß man in ihr sein »eigenes Handeln an eindeutigen, durch sie geschaffenen Erwartungen orientieren könne.«136 Traditionsgeleitetes Verhalten ist diesen Rationalitätsanforderungen nicht gewachsen, denn nur »wer sich von Gefühlen und Stimmungen, von den überkommenen Gewohnheiten, von Sitte und Brauch, also den Üblichkeiten, frei macht, handelt zweckrational.«137

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Vgl. Kamphoefner, Westfalen in der Neuen Welt, S. 62 und S. 64; Hippel, Auswanderung aus Südwestdeutschland, S. 210 und S. 226. Grundlegend zur Handwerker-Mentalität auch Sombart, Der moderne Kapitalismus II, S. 890. Vgl. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 61. Zur »Starrheit und Unflexibilität des Bauern« vgl. auch Rosenbaum, Formen der Familie, S. 57; zum Handwerker vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 133f.; zu den unterschiedlichen Anforderungen an das individuelle Verhalten in modernen und traditionalen Gesellschaften vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 4 4 - 5 2 . Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 594. Weber, Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie, S. 473; dazu Schluchter, Rationalismus der Weltbeherrschung, S. 36—38. Höffe, Sittlichkeit als Rationalität des Handelns?, S. 150.

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Mit dem Rationalitätsstandard der modernen Wirklichkeit wird ein eigener Sekuritätsstandard gesetzt: Die Sicherung der physischen Existenz wird in die Verantwortung des einzelnen gelegt, der sich mit zweckrationalem und am meßbaren Erfolg orientierten Verhalten in der rational geordneten Wirklichkeit behaupten kann, wenn er nur im Einverständnis mit ihr steht.138 Das Gelingen des Handelns hängt - im idealen Fall, den der Begriff der Zweckrationalität voraussetzt - vom einzelnen selbst ab, weil mit der Rationalisierung der Wirklichkeit und des Handelns »Natur- und Sozialprozesse in die vollständige Verantwortung des Menschen« genommen wurden.139 Die vormoderne Mentalität rechnet dagegen mit der sekuritätsstiftenden Leistung der gewachsenen sozialen Ordnung des Heimatraumes; sie verläßt sich darauf, daß tradiertes - und in der Regel unreflektiertes, an Emotionen und Gewohnheiten orientiertes - Verhalten jene Sicherheit im Leben gewährt, die in der modernen Wirklichkeit durch eigene rationale Leistung permanent errungen werden muß. Eine Episode in der Geschichte der deutschen Amerikaauswanderung erhellt dieses Bedürfnis der Emigranten nach einer traditionell gesicherten Sekurität. Im Januar 1848 lösten die ersten Goldfunde in Amerika wie Europa einen Goldrausch aus, der der europäischen Auswanderungsbewegung zusätzliche Impulse gegeben haben dürfte. Die deutsche Auswanderung wurde davon nur wenig und auf eigene Weise berüht. Auch wenn sich der Goldrausch - nach Lage der ausgewerteten Hamburger Quellen - in einer entsprechenden Abreisewelle um 1850 bemerkbar machte, 140 so scheint diese Auswanderung ausgesprochen untypische Züge gehabt zu haben: Abgesehen von desertierenden Seeleuten und bankrotten Kaufleuten bezog das Goldland seine Attraktivität offensichtlich nicht so sehr aus der Möglichkeit, als Goldgräber reich zu werden. Auch in der Briefliteratur, soweit sie publiziert sind, finden sich nur selten Hinweise auf den Goldrausch, und kaum einmal sind Zeugnisse von Auswanderern überliefert, die sich selbst als Goldgräber betätigt hätten. 141 Die Bereitschaft, sich auf diese Weise in ein zweites und noch größeres Abenteuer zu begeben als es die Auswanderung selbst schon war, ohne auf deren organisatorisches, institutionelles und emotionales Umfeld zurückgreifen zu können, erfordert eine Unternehmungslust, wie sie offensichtlich nur sehr gering ausgeprägt ist: 142 »Hier im Land muß man etwas riskieren u. wagen, um etwas zu machen, heute kann man ein reicher Mann sein, u. morgen wieder so arm als Lazarus«. 143 Solchen mentalen Anforderungen haben sich die deutschen Einwanderer kaum einmal gestellt; sie zogen es auch im Goldland Kalifornien vor, ihren traditionellen Berufen als Handwerker oder Kaufleute nachzugehen und sich in deutschen Gemeinden mit 138

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Vgl. Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 593f.; Weber, Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie, S. 473. Höffe, Sittlichkeit als Rationalität des Handelns?, S. 147. Vgl. Hauschild-Thiessen, Die ersten Hamburger im Goldland Kalifornien, S. 11 f. Vgl. die Briefe von Peter Klein, in: Briefe aus Amerika, S. 3 6 8 - 3 8 4 . Vgl. ebd., S. 365 (Herausgeberkommentar). Ebd., S. 379.

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der Pflege deutscher Kultur zu organisieren. 144 Vom eigentlichen »Goldrausch« ist in der authentischen Amerikaliteratur nichts zu spüren; seine Darstellung blieb dem Romancier Gerstäcker mit seinem Roman »Gold!« vorbehalten, der im übrigen den Befund der Quellen in bezug auf das Verhalten der deutschen Auswanderer bestätigt. 145 Das antispekulative Moment der traditionsverhafteten provinziellen Mentalität spiegelt sich darin: Sie sucht Sekurität nicht im Unternehmungsgeist - die entsprechende Rührigkeit der Amerikaner wird zwar bewundert, aber auch ausdrücklich als leichtfertig kritisiert 146 - , sondern im Fortführen der gewohnten Tätigkeiten und Verhaltensweisen, für die das Goldland nur günstigere Bedingungen versprach. Entsprechend hat Müller in seinen Erinnerungen das Verhalten der Deutschen beschrieben: Unsere deutschen Landsleute, altbacken, fleißig, sparsam und conservativ wie sie nun einmal waren, kapirten nicht so rasch wie andere Nationalitäten den Anbruch der goldenen Zeit; sie überstürzten sich nicht und fuhren, wenn auch etwas aufgeregt, im alten Geleise fort, das gute deutsche Sprüchwort: >Eile mit Weile< zu befolgen; sie lebten fleißig und genügsam weiter, um sich und den ihrigen eine sichere Existenz zu gründen [...] Sie klebten fest an ihre Schollen, und ließen sich nicht so ohne weiteres von dem aus dem Felsengebirge tönenden Sirenen=Gesang verleiten, das Sichere mit dem Unsicheren zu vertauschen.'47

Diese Episode signalisiert markant den Mentalitätsstandard der deutschen Auswanderer, die den Übergang aus ihrer provinziellen in eine moderne Wirklichkeit so weit als möglich abzufangen suchten durch Beibehalten ihrer gewachsenen Verhaltens- und Kulturformen. Dieser Versuch manifestiert sich auch in dem Bedürfnis nach einem Export der heimatlichen Lebensbedingungen. Es artikuliert sich einerseits - und eher marginal - in der Mitnahme von literarischen und religiösen Werken, die »Trost und Erquickung« spenden sollen und von allerlei überflüssigem Hausrat, der eine materielle Rekonstruktion der »Heimat« in der Fremde ermöglichen soll;148 und es manifestiert sich noch stärker in der sehr häufigen Gruppenauswanderung. Der unterentwickelte Rationalitätsstandard ließ sich nicht durch die Appelle der Ratgeber-Literatur ad hoc anheben. Nach der Herauslösung aus dem traditionsverhafteten Lebenshori144

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Vgl. Hauschild-Thiessen, Die ersten Hamburger im Goldland Kalifornien, S. 16f. und S. 34-43. Zur zurückhaltenden Behandlung der ersten Goldfunde in der deutschen Presse vgl. Thaller, Studien zum europäischen Amerikabild, S. 29; auch S. 89. Nur Ostermayer gibt einen kurzen Hinweis, bezeichnenderweise auf den Goldrausch der Amerikaner, nicht der Deutschen; vgl. Ostermayer, Tagebuch einer Reise nach Texas im Jahr 1848-1849 (1850), S. 146. Vgl. Hauschild-Thiessen, Die ersten Hamburger im Goldland Kalifornien, S. 32f. Müller, Aus den Erinnerungen eines Achtundvierzigers (1896), S. 68. Charakteristisch für die beschriebene Haltung ist der Brief von Charles Blümner, der es vorzieht, die Gefahren des Goldrausches aus distanzierter Ferne zu beschreiben; vgl. Briefe aus Amerika, S. 112. Gerstäcker schreibt über die deutschen Auswanderer, daß sie sich nur »entsetzlich schwer von ihrem Eigenthum« trennen können, und daß sie »viel zu wenig Erfahrung in der Welt« haben, um zu »wissen, daß sie nutzloses Gepäck oft wieder doppelt und dreifach bezahlen müssen«. Gerstäcker, Ein Parcerie-Vertrag (1869), S. 79.

zont bedurften die Auswanderer vielmehr eines Ersatzes, der an die Stelle der überkommenen Normen trat, indem er die Leitung des Verhaltens übernahm und damit durch Außensteuerung wieder Verhaltenssicherheit herstellte. Die Auffüllung der entstandenen Lücke in der Verhaltenssteuerung wurde von Institutionen übernommen; von kommerziellen - und tendenziell an modernen wirtschaftlichen Prinzipien ausgerichteten - Agenturen, aber auch von Vereinen, deren Struktur und Intention dem Prinzip des traditionellen Solidarverbandes folgte. Die von den Vereinen meist initiierte Gruppenauswanderung gleich in welcher organisatorischen Form sie sich vollzog - bedeutet nicht nur eine Erleichterung in bezug auf praktische Reiseprobleme; noch höher ist ihre affektive Komponente zu veranschlagen: Der Schritt aus dem heimatlichen Territorium wird entscheidend erleichtert durch die »Aussicht auf ein neues satisfaktionierendes Territorium in der alten Verhaltenssicherheit der Gruppe«. 149 Die vertraute soziale Gemeinschaft verhindert zumindest für eine Übergangsphase die unmittelbare Kollision mit fremden Verhaltensformen und -normen, da sie die sukzessive Umstellung auf das Zielland erlaubt. Die praktische wie die affektive Bedeutung der Gruppenwanderung läßt sich aus der Zahl solcher Projekte erschließen, die auf verschiedenen Ebenen konzipiert und teilweise auch realisiert wurden. Quantitativ nicht zu erfassen sind die sicherlich sehr zahlreichen Auswanderungsgesellschaften, die auf die Initiative einzelner Personen oder von ad-hoc-Gruppen zurückgehen. Ludwig Gall, der eine solche Gruppe mitinitiiert hat und deren Schicksal in seinem Reisebericht beschreibt, gibt Auskunft über die Absicht, von der solche Bestrebungen geleitet wurden: Worauf es ankomme, war hier klar ausgesprochen, zunächst darauf, nämlich: hier bei der Einschiffung und jenseits bei dem Landankauf die Ausgewanderten gegen gewissenlose Habsucht in Schutz zu nehmen, - dann aber, ferner - durch zuverlässige Mittheilungen hiesige Menschenfreunde in den Stand zu setzen, entweder von der Auswanderung abzurathen oder sie zu erleichtern, je nachdem das Eine, oder das Andere dem wohlverstandenen Beßten der zur Auswanderung Geneigten angemessen scheinen würde.150

Der konkrete Anlaß für diese Bemühungen sind die katastrophalen Zustände Gall beschreibt sie zuvor ausführlicher - , die den Auswanderer auf seiner Reise erwarten und denen er ohne Anleitung hilflos ausgeliefert ist. Das praktische Grundmotiv der Ratgeber-Literatur klingt bei Gall wieder an: Auch er ist der Ansicht, daß die Emigranten von den objektiven Verhältnissen in eine Situation gedrängt werden, der sie aufgrund mangelnder praktischer Fähigkeiten, aber auch aufgrund einer rückständigen Mentalität, nicht gewachsen sind; sie bedürfen deshalb einer Hilfe, die die Auswanderung »durch Wegräumung der Hindernisse und thätige Fürsorge« erleichtert.151 149 150 151

Greverus, Der territoriale Mensch, S. 143. Gall, Meine Auswanderung nach den Vereinigten=Staaten in Nord=Amerika (1822) I, S. 24f. Ebd., S. 29. 87

Galls Initiative dürfte eins der frühesten Projekte gewesen sein, das aus allen subjektiven und objektiven Mißständen der Auswanderung praktische Konsequenzen zog. Seit den dreißiger Jahren werden solche Projekte im größeren Umfang, auf einer breiteren Basis und mit klareren Zielsetzungen betrieben: Zwischen 1833 und 1850 läßt sich die Gründung von 27 Auswanderungsvereinen nachweisen, deren Absicht die praktische Anleitung und die Lenkung der Auswanderung bis zur Ansiedlung ist.152 Das erste dieser größeren Projekte, der »Giessener Auswanderungsverein«, verfolgt ehrgeizige politische Ziele: Inspiriert durch Gottfried Dudens Reisebericht, initiiert von den Liberalen Friedrich Münch und Paul Folien, und getragen von der klaren Absicht, den repressiven politischen Verhältnissen in Deutschland zu entgehen durch eine republikanische Staatengründung, steht er in der Tradition früherer, meist religiös fundierter Versuche, in den Vereinigten Staaten einen »Musterstaat« der Deutschen zu begründen. Während diesen früheren Unternehmungen - vor allem Rapps »Harmonistengemeinde« - ein erstaunlich langes Leben beschieden war,153 sind die politisch motivierten Projekte des 19. Jahrhunderts durchgehend gescheitert, zumindest gemessen an ihren ursprünglichen Plänen. Die Auswanderergesellschaft von Münch und Folien fiel nach der Ankunft in Amerika auseinander und beschränkte sich schließlich auf die Ansiedlung Follens und einiger weiterer Familien »nicht weit von Duden's früherem Wohnsitze«.154 Die Spannbreite solch politisch motivierter Projekte verdeutlicht ein anderes Unternehmen: Der »Mainzer Adelsverein« von 1844 geht zurück auf die patriotisch, philanthropisch und sozialpolitisch motivierte Initiative mediatisierter Standesherren, in deren Aktivitäten sich eine ganze Reihe von Beweggründen verzahnten: »standespolitische Gedanken und wirtschaftliche Interessen, gewinnbringende Kapitalanlage, Landnahme, freiere Betätigung als die deutsche Enge es ermöglichte, Sehnsucht nach einer großen Aufgabe, Träume, neue Herrschaften zu errichten und eine Art von Konquistadorenromantik«." 5 Das Ziel des Unternehmens war die Begründung einer deutschen Kolonie in Texas auf feudalstaatlicher Basis; es wurde jedoch aus verschiedenen Gründen die »größte Katastrophe der deutschen Auswanderung im 19. Jahrhundert«. 156 Die geschäftliche und organisatorische Unerfahrenheit der adligen Initiatoren in Auswanderungsfragen, die vollkommen fehlende Unterstützung durch die deutschen Regierungen und die Öffentlichkeit, schließlich auch unglückliche äußere 152 Ygi Tabelle bei Marschalck, Deutsche Überseewanderung im 19. Jahrhundert, S. 21. 153 Vgl. Cronau, Drei Jahrhunderte deutschen Lebens in Amerika, S. 285-292. 154 Körner, Das deutsche Element in den Vereinigten Staaten von Nordamerika 18181848 (1880), S. 306; vgl. auch Cronau, Drei Jahrhunderte deutschen Lebens in Amerika, S. 297f. Walker, Germany and the Emigration, S. 66f.; Wilk, Luftschlösser in der Prärie, S. 154-156. 155 Gollwitzer, Die Standesherren, S. 329. 156 Smolka, Auswanderung und Kolonialisationsprojekte im Vormärz, S. 229-246; hier S. 244. 88

geographische, klimatische und politische Verhältnisse in Texas führen bei der Gründung von »Neu Braunfels« zu einem Fiasko, das etwa 800 bis 1000 der Emigranten das Leben kostete.157 Die Unternehmen der Gießener Liberalen und der Mainzer Adligen zeigen nicht nur die Breite der politischen Hoffnungen auf, die sich im Vormärz auf solche Auswanderungsprojekte richteten, sondern sie lassen auch einerseits das Bedürfnis nach einer Organisation der lange Zeit ungeregelten Emigrationswelle und andererseits die mangelnde Einsicht in die Voraussetzungen einer solchen Planung seitens der Organisatoren erkennen. Andere politisch weniger ambitionierte Projekte entwickelten sich in größerer Zahl seit 1848. Ihre Absichten waren patriotischer, nationalökonomischer und philanthropischer Natur: Sie forderten den Schutz der Auswanderer vor den betrügerischen Praktiken der kommerziellen Auswanderungsagenturen und die Förderung von Kolonisationsprojekten auf nationaler Grundlage, um damit dem Pauperismusproblem in Deutschland die Spitze zu nehmen. Die Satzung eines Hanauer Vereins legt die Ziele solcher nichtkommerzieller Organisationen dar: Der Zweck des Vereins ist, die Beförderung der nach Amerika und anderwärts gehenden Auswanderer, einzelne sowohl wie ganze Gesellschaften, sicher und möglichst wohlfeil zu vermitteln, ihnen aber auch in dem Lande ihrer Ansiedlung je nach ihren Verhältnissen, zu ihrer baldigen zweckmäßigen Unterkunft oder Niederlassung behilflich zu seyn. Der Verein enthält sich jeder Aufmunterung zum Auswandern.158

Diese Ziele werden in einer Auswandererschrift des »württembergischen Zweigvereins des Nationalvereins für deutsche Ansiedelung zu Darmstadt« genauer spezifiziert. Sie fordert den Schutz besonders der unbemittelten Emigranten bis zur Einschiffung und die Unterstützung von Siedlungsgesellschaften in den Vereinigten Staaten; und sie gibt zu deren Durchführung genaue Anweisungen, die von der Auswahl der Mitglieder - »unsittliche Personen, Verschwender und Taugenichtse« sollen wenigstens »für den Anfang von der Ansiedelung fern gehalten werden«159 - über die Finanzierungsmöglichkeiten bis zu genauen Verhaltensmaßregeln für die Planung der Auswanderung und der Ansiedlung reichen, in der Hoffnung, damit eine »große Anzahl unbemittelter Mitbürger vor 157

Die Geschichte des Vereins wird ausführlich dargestellt bei Mandel, Die Tätigkeit der Auswandererorganisationen um die Mitte des 19. Jahrhunderts, S. 30-77 und bei Winkel, Der Texasverein, S. 357-372. Vgl. weiterhin Smolka, Auswanderung und Kolonialisationsprojekte im Vormärz, S. 241-246; Walker, Germany and the Emigration, S. 82-85. Eine etwas feuilletonistisch angelegte, aber die aus der Repräsentationssucht der deutschen Fürsten hervorgehenden kuriosen Begleitumstände der Ansiedlung plastisch dokumentierende Darstellung gibt Wilk, Luftschlösser in der Prärie, S. 157-160. In der Geschichte des Vereins hat übrigens auch der Abenteuer-Romancier Strubberg eine zwielichtige und unselige Rolle gespielt; vgl. Barba, The Life and Works of Friedrich Armand Strubberg, S. 37-46. 158 Satzungen des Hanauer Zweigvereins des Nationalvereins für deutsche Auswanderung und Ansiedelung (1849), S. 196. 159 Werner, Plan einer deutschen Auswanderung und Ansiedelung in den vereinigten Staaten Nordamerikas (1848), S. 17.

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Nahrungssorgen, gänzlicher Verarmung und Elend bewahrt und ihnen eine bessere, sorgenfreie Zukunft wirklich bereitet zu haben.« 160 In bezug auf die Realisierung solcher ehrgeiziger Kolonisationsprojekte waren die Vereine wenig erfolgreich; die Hilfe bei der Durchführung der Auswanderungsreise selbst scheint dagegen im größeren Umfange zumindest auf regionaler Ebene gelungen zu sein.161 Die Tätigkeit der Vereine, des Staates und die Empfehlungen der seriösen Ratgeber-Literatur stehen in der Tradition obrigkeitsstaatlichen Denkens, die von einer Fürsorgepflicht des Staates für seine Untertanen ausgeht. Die Auswanderer werden als Objekte einer Fürsorge staatlicher Stellen oder wohlmeinender Privatpersonen betrachtet, die die Möglichkeit einer selbständigen Durchführung der Reise von vornherein nicht in Betracht ziehen - und das mit Recht, wie die oft katastrophalen Begleitumstände ungelenkter Auswanderungsversuche zeigen. Die kommerziellen Agenturen knüpfen an diese Situation an: Wo den philanthropischen Organisationen der Auswanderer als fürsorgebedürftiger Untertan entgegentrat, wird er den wirtschaftlich interessierten Unternehmen zur Ware, mit der sich Gewinn erzielen läßt. Es ist kein Zufall, daß der »Waren«-Begriff um die Jahrhundertmitte in der Auswanderungsdiskussion auftaucht. List klagt 1842 darüber, daß die Auswanderer selbst sich »in ihrer eigenen Person als Ware« betrachten, die gewinnbringend von einem Ort zum anderen transportiert werden soll,162 und später ist es auch für Kapp selbstverständlich, die Frage zu stellen - und mit exakten Berechnungen zu beantworten - » u m der Auswanderer werth ist«}63 Wenn der Auswanderer zur Ware wird, kennzeichnet dieser Prozeß den Beginn einer neuen Epoche des Reisens. Ihre Voraussetzung ist die technische Entwicklung des Transportwesens durch Eisenbahn und Dampfschiffahrt, durch sie wird das Reisen zur Massenbewegung, die in ihrer Struktur der industriellen Produktion sich anglich: Die Transportindustrie verkauft die Ortsveränderung als ihr Produkt. 164 Die modernen touristischen Massenwanderungen haben nicht ihren Ursprung, wohl aber ihre Voraussetzungen in der Auswanderungsbewegung des 19. Jahrhunderts. Hier wurden jene technischen und organisatorischen Grundlagen ebenso wie die Denkformen entwickelt, die den Tourismus als Massenerscheinung ermöglichten. Dieser 160

Ebd., S. 39. KuckhofT, Die Auswanderungsdiskussion während der Revolution von 1848/1849, S. 109. Vgl. auch Marschalck, Deutsche Überseewanderung im 19. Jahrhundert, S. 23. Der Erfolg des Frankfurter Nationalvereins bei der Unterstützung der Reise läßt sich durch Zahlen dokumentieren: Zwischen 1850 und 1878 wanderten unter seinem Schutz 21 585 Personen aus. Vgl. die detaillierte Tabelle bei Mandel, Die Tätigkeit der Auswandererorganisationen um die Mitte des 19. Jahrhunderts, S. 97. Einen genaueren Einblick in die Entstehung, die Probleme, die Tätigkeit und das Scheitern des Darmstädter Vereins gibt Richter, Der Organisationsversuch durch den Darmstädter Nationalverein (1847/1850); vgl. auch Walker, Germany and the Emigration, S. 127-129. 162 List, Die Ackerverfassung, die Zwergwirtschaft und die Auswanderung (1842), S. 493. 163 Kapp, Ueber Auswanderung (1871), S. 15. 164 Vgl. Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. llOf. 161

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Zusammenhang zeigt sich auch im Detail: Die Entstehung der deutschen Reisebüros geht zurück auf die kommerziellen Auswanderungsagenturen;165 die Einrichtung von Schiffahrtslinien mit festen Abfahrtszeiten und der Aufschwung der großen deutschen Reedereien entsprang ebenfalls unmittelbaren transporttechnischen und marktwirtschaftlichen Notwendigkeiten im Zusammenhang mit der Massenauswanderung.166 Die deutsche Überseewanderung im 19. Jahrhundert nimmt einen zentralen, in dieser Hinsicht jedoch noch kaum gewürdigten, Platz in der Geschichte des Reisens ein, weil sie die technischen und mentalitätsgeschichtlichen Voraussetzungen schuf für die Entstehung der modernen Massenreisen.

7. Erste H o f f n u n g e n : Amerika als Paradies Die organisatorischen Begleiterscheinungen der Auswanderung vom Ratgeberbüchlein bis zur Einrichtung von Auswanderungsgesellschaften haben in vielen Fallen die Emigration überhaupt erst ermöglicht oder mit ihren Beratungs- und Hilfsangeboten den letzten Anstoß gegeben. Trotz dieser Angebote setzte sich der Auswanderer einer ganz erheblichen Unsicherheit aus. Nicht erst die Unwägbarkeiten der amerikanischen Verhältnisse, sondern bereits die Reise, vor allem die Seereise, brachte bedeutende Unbequemlichkeiten und Gefahren mit sich. Schon die unkalkulierbare Dauer der Überfahrt mit dem Segelschiff - die bis etwa 1865-1870 die dominierende Reiseform blieb167 - stellte eine erste Gefahrenquelle dar, da sie unter Umständen zu Nahrungsproblemen führen konnte. Hinzu kamen weitere Bedrohungen durch Schiffbruch, Unwetter, individuelle Erkrankungen und Epidemien - die Sterblichkeit insbesondere zu den Stoßzeiten der Auswanderungsbewegung war erheblich.168 Zu diesen objektiven Gefahren traten subjektive Mißhelligkeiten: Die sprichwörtlich schlechten Lebensbedingungen der Passagiere im ungenügend gelüfteten und überfüllten Zwischendeck; unzureichende Ernährung; Streitigkeiten der Passagiere untereinander und mit dem Schiffspersonal sowie die quälende Langeweile.169 Diese 165

Vgl. Fuss, Geschichte der Reisebüros, S. 27f. Zur Entstehung eines ausgedehnten transatlantischen Schiffverkehrs und einer entsprechenden Infrastruktur bereits im 18. Jahrhundert aufgrund der Bedürfnisse der Auswanderungsbewegung vgl. Wokeck, Deutsche Einwanderung in die nordamerikanischen Kolonien, S. 34-37; vgl. auch Moltmann, Stand und zukünftige Aufgaben der deutschen Überseewanderungsforschung mit besonderer Berücksichtigung Hamburgs, S. 27. 167 Taylor, The Distant Magnet, S. 131. 168 Vgl. die Tabelle für 1853 bei Schelbert, Einführung in die schweizerische Auswanderungsgeschichte der Neuzeit, S. 82. Schelbert behandelt hier auch im einzelnen die verschiedenen Gefahren der Seereise, S. 75-83. Einen Zustandsbericht gibt auch Kapp, Ueber Auswanderung, S. 22-28. 169 Vgl. die Darstellung der Überfahrtsbedingungen bei Taylor, The Distant Magnet, S. 131-144; Hansen, Der Einwanderer in der Geschichte Amerikas, S. 23-40; Schel166

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Verhältnisse waren allgemein bekannt; es ist daher überraschend, daß sie nicht nur nicht abschreckend auf den potentiellen Auswanderer gewirkt haben, sondern daß auch die Reiseberichte selbst kaum einmal intensiver auf all die kleinen und großen Beschwerlichkeiten der Schiffsreise eingehen. Ausführlicher beschrieben werden fast nur die Eintönigkeit der Reise und vor allem die Erfahrung der Seekrankheit, deren Schilderung in der Regel den breitesten Raum einnimmt; dagegen werden die gravierenderen Mißstände nur beiläufig erwähnt. Es gehört auch in den Briefen zu den seltenen Ausnahmen, daß auf die Mißhelligkeiten oder gar das lebensgefahrdende Potential der Reise mehr als nur beiläufig eingegangen wird. Die Beschreibung eines Sturmes, in dem sich die Reisenden »bereitgemacht zum Sterben« haben, gehört nicht zu den gängigen Motiven der Auswandererliteratur.170 Solche Gefahren oder auch überhaupt nur die größeren Mißhelligkeiten werden in den Beschreibungen vielmehr in der Regel ignoriert. Selbst Ostermayer, der unter besonders ungünstigen Umständen gereist zu sein scheint, flicht nur gelegentliche Beschwerden über die Ernährung und die schlechte Behandlung durch das Schiffspersonal ein: Was unsere Kost anbelangt, so bekenne ich, daß sie erbärmlich ist, nicht genug zum Sattwerden und schlecht. Wie oft schon plauderten wir von der lieben Heimath und allen Bequemlichkeiten dort; wie ganz anders so ein Schiffsleben im Verdeck.171

Bei Ostermayer treten solche Bemerkungen noch gehäuft auf, während andere Auswanderer ihre Erfahrungen oft nur mit einem beiläufigen Satz streifen: Unsere Fahrt dauerte 7 Wochen und wer jemals eine Seereise gemacht hat, wird begreifen können, was wir haben aushalten müssen, besonders, da unser Wasser schon nach 14 Tagen stanck.172

Die weitgehende Vernachlässigung dieser Mißstände in den Auswandererberichten ist sicherlich zunächst zurückzuführen auf eine Verdrängung, die durch die Euphorie der glücklichen Ankunft begünstigt wird; sie signalisiert aber auch den stoischen Fatalismus, mit der die Auswanderer auf die Gefahren und Unbequemlichkeiten reagierten. Symptomatisch ist die Klage Ostermayers über seine Mitpassagiere, die sich gegen die Mißstände nicht auflehnen: »O ihr Schurken, die ihr die Passagiere so mißhandelt; sollte so ein Kapitän nicht über Bord geworfen werden? Aber da sind sie wie Schäflein.«173

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bert, Einführung in die schweizerische Auswanderungsgeschichte der Neuzeit, S. 72 bis 75; Gelberg, Auswanderung nach Übersee, S. 4 0 - 4 8 ; Coleman, Going to America, S. 56-127. Einen ausgezeichneten Überblick über alle Phasen der Auswanderung gibt, auf der Basis britischer Quellen, Guillet, The Great Migration, seine Ergebnisse dürften entsprechend auch auf die deutsche Auswanderung übertragbar sein. So in einem Brief von 1854, der in seltener Ausführlichkeit die Gefahren des Sturmes und die religiösen Reaktionen der Auswanderer darauf beschreibt. Vgl. Briefe aus Amerika, S. 354. Ostermayer, Tagebuch einer Reise nach Texas (1850), S. 23. Engelhard, (Brief über seine Überfahrt von Bremerhaven nach New York 1846), S. 47. Vgl. Ostermayer, Tagebuch einer Reise nach Texas (1850), S. 32.

Diese Schicksalsergebenheit erklärt sich nicht nur daraus, daß im Bewußtsein der Zeit vormoderne Komfort- und Sekuritätsstandards herrschten. Sie ist vor allem darauf zurückzuführen, daß die Gefahren der Reise als Anweisung auf eine glücklichere Zukunft begriffen werden, der gegenüber die aktuellen Mißstände verblassen. Die Unsicherheiten der Seereise sind nur ein - wenn auch besonders extremer - Teil der allgemeinen Unsicherheit, der sich der Auswanderer mit dem Verlassen der Heimat aussetzt. Das Bewußtsein davon wird indes verdeckt durch die Erwartung einer desto größeren Sicherheit im »Zukunftsterritorium«, das sich erst durch diese Hoffnung überhaupt als Alternative zur Heimat qualifiziert. Die Auswandererliteratur versucht diese Hoffnung zu nähren; sie erleichtert damit dem Auswanderer sowohl die Trennung - über die in den Berichten der Emigranten fast nichts gesagt wird174 - wie auch die Versöhnung mit den Schwierigkeiten der Reise. Den stärksten Ausdruck findet das Versprechen auf neue Sicherheit im Zielland in der religiösen Metaphorik der Werbeschriften und in der religiösen Motivierung der Auswanderung selbst: Sie war »weniger der Grund der Massenauswanderung als vielmehr eine Art Rückversicherung und Absicherung in der Angst vor dem Fremden und Neuen deshalb auch immer wieder die Erwähnung von Gottes oder der Engel Schutz auf der Fahrt und auch gegen die >moralischen< Ansprüche des Heimatlandes, die mit ähnlichen Mitteln zur Geltung gebracht wurden.«175 Die Hoffnungen der Auswanderer verdichten sich in einer Metapher, die wie ein roter Faden die Amerikaliteratur des 19. Jahrhunderts durchzieht: seit dem Jahre 1682, wo Pistorius aus Frankfurt zuerst eine Gesellschaft deutscher Auswanderer dorthin führte, bis auf unsere Zeit, war es für Alle, die sich gedrückt fühlten, das Land der Verheißung.176

Diese Erwartung hat sich sowohl in der fiktionalen wie in der expositorischen Reise- und Auswandererliteratur hartnäckig erhalten: »Für den armen Mann ist Amerika gegen Deutschland ein Paradies«, verspricht Ziegler,177 und Fröbel bezeichnet es als »das Paradies des armen Mannes«.™ Auch in ernüchternderen 174

Einer der seltenen Briefbelege, in dem ein Auswanderer darüber schreibt, daß er »mit vielen Tränen und unter schmerzlichem Gefühl der Wehmut aus Eurer Mitte Abschied nahm«, findet sich in: Briefe aus Amerika, S. 290. - Das Problem der »brauchtümlichen« Verarbeitung von Abschiedserfahrungen hat jetzt Peter Assion mit signifikanten Ergebnissen behandelt: Danach hat sich der Abschied in der dörflichen Öffentlichkeit in euphorischer Feststimmung vollzogen; in der halböffentlichen und privaten Sphäre hingegen tritt die Verlust-Erfahrung in den Vordergrund. Vgl. Assion, Abschied, Uberfahrt und Ankunft, S. 126-136. 175 Greverus, Der territoriale Mensch, S. 151. Eine sehr plastische Illustration dieses religiösen »Schutz«-Motivs gibt eine Abbildung aus dem 19. Jahrhundert, die den Erzengel Raphael - der als Beschützer der Auswanderer gilt - als Begleiter einer Emigrantengruppe zeigt. Vgl. Zeitschrift für Kulturaustausch 32 (1982), S. 372 (Abb. Nr. 32). 176 Bromme, Rathgeber für Auswanderungslustige (1846), S. 23. 177 Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika und Westindien (1848) I, S. 291. 178 Fröbel, Die deutsche Auswanderung und ihre culturhistorische Bedeutung (1858), S. 46.

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Darstellungen entfaltet die Metapher noch ihre Strahlkraft. Für Ostermayer wird der paradiesische Eindruck nur getrübt durch die Moskitos,179 und selbst Fürstenwärther nimmt in seinem kritischen Amerika-Bericht Bezug auf die Metapher: Wenn er ausdrücklich betonen muß, daß Amerika kein Paradies sei, dann zollt er damit implizit dem populären Bild des Kontinents seinen Tribut.180 Dieses Bild kann sich erst recht in fiktionalen Darstellungen ausbreiten. Geradezu enthusiastisch läßt Schefer in seinem Auswanderer-Roman seine Emigranten die neue Welt begrüßen: »Vor Entzücken glaubten wir selbst an dem himmlischen Thore die himmlische Überschrift mit Gold geschrieben zu sehen: FRIEDE. 181 BROT. FREIHEIT.« Dieser Enthusiasmus entspringt nicht nur der überschwenglichen Phantasie des Romanciers. Tatsächlich sind auch die realen Ankömmlinge in Amerika von den Hoffnungen des europäischen Amerika-Bildes so gefangen, daß sie ebenfalls im Paradies einzutreffen glauben: »prachtvoller, herrlicher können gewiß die Pforten des Elisiums nicht glänzen, können gewiß mit keiner seeligern Wonne das Herz beleben, als es die erblickte Küste von Amerika mit ihren Leuchthürmen that«, schreibt Löwig bei seiner Ankunft; 182 ebenso wie Löher den Anblick des amerikanischen Festlandes als »paradiesisch« empfindet.183 Die Vorstellung, man könne sich in Amerika ein »Paradies« machen,184 artikuliert sich häufiger auch in anderen der Bibel entnommenen Wendungen; so glauben noch 1882 Auswanderer in das »Land Canaan« gekommen zu sein, »wo Milch u. Honig fließt«.185 Die Verwendung solcher Metaphern mit biblischen Assoziationen während des 19. Jahrhunderts scheint zunächst obsolet: als nur leiser Nachklang einer langen Tradition, die von modernen Entwicklungen überholt wurde. Zu diesen Entwicklungen gehören die Ansprüche an ein realistisches Denken, das sich nicht mit jenen diffusen Informationen begnügen kann, die allein von einer Metapher vermittelt werden. Dennoch erfüllt die affektive »Paradies«-Metapher Ansprüche, die neben dem tendenziell verwissenschaftlichten Informationsbedürfnis über Amerika als dem Zielland einer Auswanderung einherlaufen. Die metaphorische Sprache hebt die Bestimmtheit der Aussage auf, durch die manche Hoffnung enttäuscht würde; sie ist eine Reduktion präziser Kenntnisse auf 179

Vgl. Ostermayer, Tagebuch einer Reise nach Texas (1850), S. 162. Gagern/Fürstenwärther, Der Deutsche in Nord=Amerika (1818), S. 122. 181 Schefer, Die Probefahrt nach Amerika (.1837), S. 140f. 182 Löwig, Die FreuStaaten von Nord=Amerika (1833), S. 35. 183 Löher, Erste amerikanische Eindrücke (1854), S. 19. Zur Tradition der »Paradies«-Metapher vgl. auch Boerner, Amerikabilder der europäischen Literatur, S. 41 f.; Greverus, Der territoriale Mensch, S. 146-153. Den Wandel des Metaphern-Komplexes von einem religiösen Topos zum »profanen Cliché« belegt Witte mit schönen Beispielen aus der deutschen Auswandererliteratur des 17. Jahrhunderts; vgl. Witte, Das verlangte/ nicht erlangte Canaan/bey den Lust-Gräbern, S. 306. 184 »Amerika ist ein freies Land...«, S. 39 (1866). 185 Briefe aus Amerika, S. 450; besonders diese Formulierung scheint zum festen Topos der Auswanderer geworden zu sein; vgl. ebd., S. 561 und »Amerika ist ein freies Land ,..«,S. 107(1883). 180

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Ungenauigkeit, welche ein Erwartungspotential freisetzt, das eine genauere Information zerstörte. Die »Paradies«-Metapher in der Amerika-Literatur des 19. Jahrhunderts ist damit mehr als nur rhetorische Floskel. Sie gehört in den Bereich jener Anstrengungen des modernen Bewußtseins, neben der Begriffssprache einen Bereich der Unbegrifflichkeit offenzuhalten, um »die Unsagbarkeit selbst sprachlich darzustellen«.186 Wenn die Metapher den Begriff - oder die präzise Information - ersetzt, dann bedeutet das zwar einen Verlust an Eindeutigkeit des Resultats, der Vorgang läßt aber zugleich erkennen, daß diese Eindeutigkeit eine »Verarmung an imaginativem Hintergrund und an lebensweltlichen Leitfaden« zur Folge hätte,187 mit der sich zumindest das naive Informationsbedürfnis nicht abfinden will. Denn erst dieser imaginative Hintergrund entspricht dem affektiven Bedürfnis, das zur Auswanderung motiviert; deshalb darf das Wirkungspotential der Metapher nicht unterschätzt werden, selbst wenn sie zur Floskel verkommen zu sein scheint. Ihre Bedeutung wird offensichtlich, wenn sie sich auch in Texte mit rein sachlich-informativer Absicht einschleicht und deren eigentlich intendierte Wirkung unterläuft: Die Vorstellung, in das Land Kanaan zu kommen, hat die Hoffnungen der Auswanderer seit je beflügelt.188 Daß diese Hoffnung unrealistisch war, konnte indes von jedem potentiellen Auswanderer durch Lektüre entsprechender Schriften leicht in Erfahrung gebracht werden. Dennoch ist diese sachliche Information offensichtlich unbefriedigend. Sie muß mit einem Versprechen gekoppelt werden, das sich zwar nur in metaphorischer Sprache in den informativen Text wagt, aber dessen affektives Defizit ausgleicht: Für alle Klassen von Einwanderern ist das Mississippithal, wenn sich dieselben nicht ein Utopien träumen, und vernünftig genug sind, auf eigene Kraft gestützt sich eine Zukunft zu erringen, in Wahrheit ein Kanaan. 189

Der unübersehbare Widerspruch einer Aussage, die vor utopischen Hoffnungen warnt und »in Wahrheit« ein Kanaan verspricht, wird in Kauf genommen, weil nur so die Nüchternheit der sachlichen - und berechtigten - Warnung mit jenem affektiven Erwartungspotential verknüpft werden kann, das schließlich zur Auswanderung führt. In der »Paradies«-Metapher - und ihren Derivaten - ist all das an Hoffnungen eingefangen, was die sachliche Auskunft nicht versprechen kann, ohne zu lügen; und der Lüge wäre angesichts des steigenden Informationsflusses über Amerika kein langes Leben beschieden. Der Metapher indes ist erlaubt, was der Auskunft verboten bleiben muß. 186

Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer, S. 84. Blumenberg, Beobachtungen an Metaphern, S. 150. Vgl. Greverus, Der territoriale Mensch, S. 150. 189 Bromme, Rathgeber für Auswanderungslustige (1846), S. 71 f. Entsprechend schreibt ein deutscher Auswanderer: »America is no Elysium, but it is a blessed country nevertheless«, Bek, The Followers of Duden II, S. 220. (Die Quelle wurde von Bek ins Englische übersetzt.) Beks Briefsammlung erschien in 18 Folgen in der »Missouri Historical Review« vom Oktober 1919 bis zum Januar 1925: Die genauen bibliographischen Angaben gibt Finckh, Gottfried Duden Views Missouri 1824-1827. 187

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Der selbstverständliche Gebrauch der Metapher des »Paradieses« in der Amerikaliteratur des 19. Jahrhunderts - deren Wirkung noch durch die kritisch-ironische Verwendung in Kischs Buch über das »Paradies Amerika« belegt wird190 - sagt etwas aus über die Anziehungskraft des Kontinents vor oder neben jeder Abwägung seiner realen Möglichkeiten. Diese Hoffnungen werden nicht nur genährt von den aktuellen Zuständen in Deutschland und den Informationen über Amerika; in sie gehen vielmehr auch überlieferte Mythen ein, welche die Geschichte des europäischen Amerikabildes seit ihren Anfangen begleiten. Anfangs indes war diese Vorstellung mehr als eine Metapher: In seinem Bericht an den heimischen Hof artikulierte Kolumbus seine Überzeugung, das »irdische Paradies« entdeckt zu haben.191 Daß Kolumbus in die greifbare Nähe des Paradieses gekommen zu sein glaubte, beruhte bekanntlich auf einem Irrtum. Seine akribische Schriftexegese, mit der er seine Annahme zu untermauern versuchte, stützte sich auf die Voraussetzung, daß er über die Westpassage nach Indien gekommen sei. Nur diese falsche Annahme machte es ihm möglich, die traditionellen Mythen - die das Paradies im Osten ansiedelten - mit seinen Entdeckungen in Einklang zu bringen.192 Auch wenn dieser Irrtum bald korrigiert wurde, führte das nicht zum Verzicht auf die einmal genährten Hoffnungen. Sie begleiteten vielmehr in den nächsten Jahrhunderten die europäischen Vorstellungen von Amerika und prägen die Erwartungen ebenso wie die Enttäuschungen, die von ihm ausgehen müssen, je intensiver die Hoffnungen mit der Realität konfrontiert werden. Der Mythos hat später selbstverständlich nicht mehr jene wörtliche Bedeutung, mit der ihn Kolumbus herbeizitierte. Er fungiert jetzt als Metapher, die die Versprechungen des neuen Kontinents zusammenfaßt, eine Metapher jedoch, die eine eigene Dynamik entfaltet, da sich lange Zeit nicht genau bestimmen läßt, was an ihr Realität und was Fiktion ist. Jedenfalls scheint den AmerikaReisenden durch die Jahrhunderte hindurch mit dem Betreten des neuen Kontinents jener Teil der biblischen Beschreibung in Erfüllung gegangen zu sein, der das Paradies als einen fruchtbaren und idyllischen Garten schildert.193 Dieser Aspekt ist am stärksten in die Amerikavorstellungen und -darstellungen des 16. und 17. Jahrhunderts eingegangen - symptomatisch ist der Titelkupfer, mit dem de Bry die deutsche Ausgabe von Lerys Reisebericht versieht, um damit Paradies-Assoziationen zu wecken.194 Die Hoffnung auf ein Leben im Überfluß, welchen die Natur freigebig spendet und damit den Menschen von der Notwen190

Der Gebrauch der »Paradies«-Metapher zieht sich bis ins 20. Jahrhundert, wo sie von Kisch ironisch verfremdet wird; vgl. dazu Mayer Hainmond, American Paradise, S. 111 -124 und Markham, Workers, Women, and Afro-Americans, S. 236-245. 191 Kolumbus, Bordbuch, Briefe, Berichte, Dokumente, S. 267. 192 Vgl. ebd., S. 265-268; Kretschmer, Die physische Erdkunde im christlichen Mittelalter, S. 79f. 193 Vgl. Rahner, (Art.) Paradies, Sp. 70f.; zu den utopischen Konnotationen der Genesis vgl. Jorgensen, Utopisches Potential in der Bibel, S. 375f. 194 Lery, Schiffahrt in Brasilien in America (zuerst frz. 1578).

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digkeit zur Arbeit enthebt, hat seitdem die utopischen Ansprüche an die Neue oder überhaupt die exotische Welt begleitet und um »eine hedonistische Komponente« bereichert.195 Die Auswanderer- und Amerika-Literatur im 19. Jahrhundert setzt diese Tradition fort. Auch nachdem Amerika sich einem immer breiteren Strom von Reisenden erschlossen hat und Europa mit Informationen aus erster Hand gut hätte versorgt sein können, siegt der tradierte Mythos häufig über die Realität. Mehr noch: Die überkommene Vorstellung von Amerika als dem »Goldenen Land« gewinnt jetzt erst ihre eigentliche Bedeutung, da der Kontinent als realistisches Ziel einer eigenen Auswanderung ins Auge gefaßt werden kann. Die Nachklänge des Paradies-Mythos, die Lebensbedingungen in Deutschland und die vagen Informationen über Amerika verschmelzen sich in den Erwartungen, von denen sich die Auswanderer leiten lassen. Die Paradies-Metapher hat wohl einen entscheidenden Beitrag zur mentalen Einstimmung des einzelnen Auswanderers auf den Aufbruchsentschluß und die Bewältigung der Reiseprobleme geleistet.196 Daß das Vertrauen auf eine Metapher freilich im Deutschland des 19. Jahrhunderts bei allen Mentalitätsrückständen nicht ausreichend gewesen sein kann, um eine Massenbewegung wie die Auswanderung nachhaltig zu beeinflussen, ist einsichtig und an den Quellen belegbar. Die rhetorische Strategie der Auswanderungstexte ist unverkennbar, die vage Metapher durch konkrete und auf die spezifischen Erwartungen der Auswanderer bezogene Informationen aufzufüllen. Zu den wichtigsten auswanderungsfördernden Informationen über Amerika gehört die in der Literatur stets als selbstverständlich akzeptierte Vorstellung, daß die Vereinigten Staaten das Land eines ungeheuren und ständig sich steigernden Wohlstandes seien. Schon die Reisenden des späten 18. Jahrhunderts zeigten sich beeindruckt von der wirtschaftlichen Blüte des Landes: »Es wird überflüssig sein«, - so schreibt Justus Erich Bollmann in seinem »Geschäfts= Zirkular« über die amerikanischen Zustände im Jahre 1798 - »vom außerordentlichen Wachsthum der Bevölkerung und des Wohlstandes der Vereinigten Staaten, und von der schnellen Ausbreitung der Etablissements viel zu sagen.«197 Als Fürstenwärther zwanzig Jahre später die Gründe der Attraktivität Amerikas für die deutschen Auswanderer untersucht, kommt er zu dem gleichen Schluß. Er sieht, daß der »allgemeine Wohlstand, der in diesem Lande herrscht«, den europäischen Verhältnissen weit überlegen ist und daß die mit ihm verbundenen Hoffnungen auf ein »leichteres und besseres Leben bey weniger Arbeit, die Abwesenheit aller Nahrungssorgen und Besorgnisse für das Schicksal der Kinder« einen beständigen Anreiz für die deutsche Bevölkerung 195

Vgl. Bitterli, Die »Wilden« und die »Zivilisierten«, S. 397. So arbeitet Peter Assion die Verschränkung von Abschiedsschmerz und paradiesischer Zukunftshoffnung an dem »Amerikalied« als einem der bekanntesten Auswandererlieder heraus; vgl. Assion, Abschied, Überfahrt und Ankunft, S. 132f. Zur religiösen »Regression« während der Überfahrt vgl. auch ebd., S. 140. 197 Bollmann, Ein Lebensbild aus zwei Welttheilen (1880), S. 287. 196

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darstellen mußte.198 Dieses Wohlstandsversprechen ist der Hintergrund für die wirtschaftlich motivierte Auswanderung. Die alte »Paradies«-Vorstellung erhält durch die entsprechenden Berichte der Reisenden eine materielle Unterfütterung, welche die Erwartungen der potentiellen Auswanderer als realistisch auszuweisen scheint. Allerdings finden sich solche Versprechungen fast ausschließlich in jenen Texten der Amerikaliteratur, die von Reisenden - und nicht von Auswanderern - oder gar nur von Autoren verfaßt wurden, die Amerika kaum aus eigener Anschauung kennen. Die Briefe von Auswanderern sprechen eine ganz andere Sprache. Sie bleiben ganz bei der vagen »Paradies»-Metaphorik und ihren Derivaten stehen. Dagegen findet sich so gut wie nie das materiell konkretisierte Versprechen auf leicht oder auch überhaupt erreichbaren Wohlstand. In den brieflichen Berichten von Auswanderern steht durchgehend die Notwendigkeit zur harter Arbeit im Vordergrund, durch die kaum mehr als das Lebensnotwendige verdient werden kann: »Es ist in vielen Sachen kans anders wie man denkt«199 - diese Einsicht ist der durchgehende Tenor der Auswandererbriefe, in der sie die Diskrepanz zwischen den Erwartungen des Paradies-Versprechens und den Erfahrungen der amerikanischen Wirklichkeit formulieren. Am Ende bleibt ihnen nur der Rückzug auf eine Formel eher deutschen als amerikanischen Ursprungs: »Armuth schändet nicht«.200 Für die Reisenden konkretisierte sich der Wohlstand meist im unmittelbaren Anblick einzelner Phänomene, weniger in abstrakten, durch Zahlen und wirtschaftstheoretische Überlegungen abgesicherten Reflexionen. Die Vorstellung vom amerikanischen Reichtum verdichtet sich beim Anblick der Großstädte zur sinnlichen Gewißheit, denn der Reichtum des Landes wird - entsprechend den gängigen Wirtschaftstheorien - gemessen an der Fähigkeit, einer großen Bevölkerung Nahrung zu geben; auch bieten die Städte mit ihrer »Regsamkeit« ein unmittelbares Bild der wirtschaftlichen Blüte des Landes: »Der Handel ist überall der Angelpunkt, um den sich Alles dreht, und Hunderte von Dampfschiffen eilen rastlos hin und her«.201 Der erste Blick auf das Land beweist schon seine wirtschaftliche Überlegenheit gegenüber den deutschen Verhältnissen. Sie wird überall sichtbar: Die große und rasch wachsende Bevölkerung ist ebenso ein Indiz wie die Entwicklung des Fabrik- und Manufakturwesens ein Beweis dafür ist, daß die »Gewerbe sich dort doch in einem blühenden Zustande« befinden,202 und schließlich erweist sich die Fruchtbarkeit des Bodens an den blühenden Feldern. 198 199 200 201 202

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Gagern/Fürstenwärther, Der Deutsche in Nord=Amerika (1818), S. 85. Briefe aus Amerika, S. 207. Ebd. Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika und Westindien (1848) II, S. 125. Bromme, Hand- und Reisebuch für Auswanderungslustige (61849), S. 108. - Das unbeschränkte amerikanische Wachstum auf allen Gebieten der Produktion ebenso wie die Zunahme der Bevölkerung und die Erschließung immer neuer Landstriche war bereits seit den 40er Jahren ein ständiges Thema der deutschen Zeitungsberichterstattung; vgl. Thaller, Studien zum europäischen Amerikabild, S. 460f.

Dieser letzte Aspekt hat den größten Einfluß auf die Herausbildung von auswanderungsrelevanten Vorstellungen ausgeübt: Amerika wird von diesseits des Atlantiks aus vor allem wahrgenommen als das Land, das die bestmöglichen Voraussetzungen für eine landwirtschaftliche Ansiedlung bietet. Die Auswanderer-Literatur nährt mit ihren Empfehlungen durchgehend diese Erwartung. Für Bromme ist Amerika das »Paradies der Landwirthe«;203 und Gall empfiehlt schon vorher als »einzig sichere Quelle des Erwerbs« die »unerschöpfliche der Landwirthschaft, welche aber auch zugleich die reinste Quelle der Zufriedenheit ist.«204 Solche und eine Fülle ähnlicher Empfehlungen und Versprechungen in der Auswandererliteratur sind auf fruchtbaren Boden gefallen. Tatsächlich hat ein Großteil der deutschen Auswanderer sein Glück in der landwirtschaftlichen Ansiedlung gesucht und oft auch gefunden - noch um die Wende zum 20. Jahrhundert machten die deutschstämmigen Besitzer von »farm-houses« den weitaus größten Teil der nichtamerikanischen Nationalitäten aus.205 Daß die landwirtschaftliche Ansiedlung den Auswanderern so nachdrücklich empfohlen und diese Empfehlung weitgehend befolgt wurde, erklärt sich sicherlich zunächst aus der sozialen Struktur der deutschen Auswanderung im 19. Jahrhundert. Wenn bis weit über die Jahrhundertmitte hinaus mehr als die Hälfte der Emigranten aus landwirtschaftlichen Berufen stammte, dann lag es für sie nahe, sich in Amerika eine entsprechende Tätigkeit zu suchen, auch wenn sie dort - worauf die Ratgeber in der Regel hinwiesen - auf gänzlich andere Verhältnisse als den aus Deutschland gewohnten trafen. Allerdings richteten sich die entsprechenden Empfehlungen der Ratgeber-Literatur keineswegs ausschließlich an die deutschen Landwirte. Sie gingen vielmehr davon aus, daß prinzipiell für jeden Auswanderer die landwirtschaftliche Ansiedlung die attraktivste Form des Lebensunterhaltes sei; und in der Tat gibt es genügend Beispiele dafür, daß sich Nichtlandwirte von diesem Rat leiten ließen. Berühmt wurden vor allem die »Latin farmers«: liberale Intellektuelle, die nach ihren gescheiterten politischen Bemühungen in Deutschland als amerikanische Landwirte ihre Ruhe suchten.206 In den Vorstellungen der Auswanderer von Amerika verschmelzen sich realistische Informationen, tradierte Mythen und schließlich auch das Wissen um die Situation der Landwirtschaft in Deutschland und verdichten sich zu einem Bewußtseins-Konglomerat, dem der amerikanische Westen als Paradies erscheinen mußte.207 Diese Erwartungen richteten sich zunächst auf eine freigebige Na203

Bromme, Hand- und Reisebuch für Auswanderungslustige (61849), S. 100. Gall, Meine Auswanderung nach den Vereinigten=Staaten in Nord=Amerika (1822) I, S. 391. - Vgl. auch Duden, Bericht über eine Reise nach den westlichen Staaten Nordamerika^ (1829), S. VI; Pauer, Die Vereinigten Staaten von Nord=Amerika (1847), S. 102. 205 Vgl. Faust, The German Element in the United States II, S. 28-37; Tabelle S. 32. 206 Vgl. dazu Wittke, Refugees of Revolution, S. 111-121; Faust, The German Element in the United States II, S. 37-39. 207 Dieses Bewußtseins-Konglomerat beruht auf Traditionen, die weit ins 18. Jahrhundert zurückreichen. Tatsächlich scheinen die Auswanderer des 19. Jahrhunderts in ihrem 204

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tur, der mit wenig Mühe ein großer Ertrag abgewonnen werden könne - ganz im Gegensatz zu Deutschland, wo die Äcker, vor allem bevor sich die Einsichten Liebigs durchsetzten, mühsam und sorgfältig bearbeitet werden mußten, um auch nur geringe Erträge zu erzielen,208 und wo durch rechtliche Beschränkungen praktisch jede freie Jagd für die bäuerlichen Schichten ausgeschlossen war. Diese realen Zustände in der deutschen Landwirtschaft bilden den Hintergrund für die Bereitschaft zur begierigen Rezeption von Schilderungen, die den amerikanischen Westen als positives Gegenbild erscheinen lassen. Schon Cooper hatte im frühen 19. Jahrhundert die ersten Mosaikstücke für ein solches Amerika-Bild geliefert. Seine Verherrlichung der Natur - die sich freilich auf die Wildnis des amerikanischen Ostens bezog, im deutschen Rezeptionsprozeß des 19. Jahrhunderts aber auf den amerikanischen Westen übertragen wurde - , wurde fraglos als authentisch hingenommen. Die deutschen Autoren akzeptierten sie ohne weitere Prüfung als Quelle für ihre eigenen Schilderungen des amerikanischen Lebens im Westen.209 Die besondere Aufnahmebereitschaft für Coopers Romane in Europa erklärt sich aus einem rezeptionsgeschichtlichen Kuriosum: Cooper hatte eigentlich nur ein europäisches Amerika-Bild wieder re-importiert, das er mit einigen realistischen Details komplettierte, ohne es jedoch insgesamt zu korrigieren. Es ist das Amerika-Bild der europäischen Romantik, das jetzt nach Deutschland zurückkehrt - die eigentlich durch authentische Reisebeschreibungen längst obsolet gewordene Vorstellung vom Edlen Wilden und vom Leben in der unberührten Natur.210 Coopers Romane dürften auch auf die deutsche Auswanderungsbewegung eine vorstellungsbildende Kraft ausgeübt haben. Der erste ins Deutsche übersetzte Roman waren die »Pioneers«; er erschien - im gleichen Jahr wie »The Spy« - unter dem anheimelnderen Titel »Die Ansiedler« 1824. Der Roman entwirft das Bild einer demokratischen Gesellschaft mit archaisch-patriarchalischen Zügen, die aus der Ausbeutung einer schier unerschöpflichen Natur ihren Lebensunterhalt bezieht; er schildert aber auch den vergeblichen Kampf Natty Bumppos gegen diese Ausbeutung und das unaufhaltsame Vordringen der Zivilisation in der Wildnis. Dieser Handlungsstrang ist sicherlich für die romantisieErwartungs-, Kenntnis- und Informationsstand nicht wesentlich über den Standard der ersten deutschen Ansiedler in Pennsylvania hinausgekommen zu sein. Im 18. wie im 19. Jahrhundert finden sich bei den Auswanderungswilligen nur vage Informationen über das fremde Land, die im wesentlichen dadurch bestimmt sind, daß sie Amerika einfach als Gegenbild zur eigenen schlechten ökonomischen Situation in Deutschland auffassen. Vgl. Wellenreuther, Vorstellungen, Traditionen und Erwartungen, S. 109f. 208 Zur Entwicklung der Agrarwirtschaft in Deutschland vgl. Treue, Gesellschaft, Wirtschaft und Technik Deutschlands im 19. Jahrhundert, S. 4 8 - 5 6 ; Franz, Landwirtschaft 1800-1850, S. 307-312. 209 Zu Coopers direktem Einfluß auf die deutsche Literatur vgl. Barba, Cooper in Germany, S. 56-72. 210 Ygi pri c e The Reception of United States Literature in Germany, S. 85; Billington, Land of Savagery, Land of Promise, S. 3 0 - 3 2 .

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rende Cooper-Rezeption der ausschlaggebende gewesen. Den Auswanderungswilligen dagegen mußte es beruhigend erscheinen, daß im Roman das abstrakte Recht einer zivilisierten Gemeinschaft gegen das Naturrecht und die Kultur über die Wildnis letztlich siegt, wie es programmatisch im Roman ausgesprochen wird: »Der Anbau macht schnelle Fortschritte und die wilden Thiere ziehen sich in dem Maaß zurück, als sich der Mensch ausbreitet«.211 Das Bild der »Ansiedler«-Gesellschaft kam den Erwartungen der potentiellen Auswanderer entgegen: Auf der einen Seite steht eine fortgeschrittene Zivilisierung der Lebensbedingungen; auf der anderen eine verschwenderische Natur, die nicht - wie in Europa - schon durch jahrhundertelange Kultivierung ausgelaugt ist. Es sind vor allem die Überflußschilderungen Coopers gewesen, die den stärksten Eindruck hinterlassen haben. In den »Pioneers« ließ sich nachlesen, mit welcher verschwenderischen Überfülle die Natur für die Lebensbedürfnisse der Ansiedler aufkam. Eine Schilderung der unübersehbaren Vogelschwärme, die mit leichter Mühe erlegt wurden, konnte beim deutschen Publikum ebensowenig seine Wirkung verfehlen wie die vom Cooper-Übersetzer genährte Vorstellung, mit einem Fischzug »eine Million Barsche« - in Coopers Original sind es nur tausend - an Land bringen zu können. 212 Solche Darstellungen mußten die Phantasie des deutschen Publikums beflügeln; und die konnten sicherlich über mancherlei Umwege vom Lesepublikum in die auswanderungswilligen Schichten eindringen. Daß die Vorstellung von Amerika als einem Land des Überflusses in der Natur sich in den Köpfen der potentiell Betroffenen als entschlußfördernde Erwartung festgesetzt hatte, geht aus recht häufigen Passagen in der Amerikaliteratur der Zeit hervor. Jakob Müller erinnert sich noch aus dem Abstand von einigen Jahrzehnten im Rückblick an seine entsprechenden Hoffnungen: Ich freute mich sehr auf die Jagd, denn ich hatte schon in Deutschland in einem Auswanderer Handbuche gelesen, daß es in Ohio noch ungeheuer viel Wild gebe. [...] Damals ist noch kein Deutscher ohne Doppelflinte ausgewandert.213

Daß die Auswanderer-Ratgeber mit solchen Erwartungen ihrer Leser rechnen mußten, auch wenn sie sie nicht selbst nährten, zeigen die ständigen Warnungen vor falschen Vorstellungen. Die Zeiten, in denen ein Überfluß an Wild tatsächlich geherrscht haben mag, liegen länger zurück; schon als Gerstäcker 1837 zum ersten Male Amerika besucht, existieren sie nur noch in den Erinnerungen alter 211

212

213

Vgl. Cooper, Die Ansiedler oder die Quellen des Susquehanna (1824) II, S. 105. Zu dem Konflikt zwischen Natur und Zivilisation in dem Roman vgl. auch Smith, Virgin Land, S. 67f. Cooper, Die Ansiedler (1824) II, S. 185. Vgl. auch ebd., S. 144; S. 159f. - Vgl. auch Cooper, The Pioneers, S. 680. - Zur vermutlichen Wirkung dieser Schilderungen auf die deutschen Leser vgl. Rossbacher, Lederstrumpf in Deutschland, S. 104. Zur Präsenz Coopers in der deutschen Romanliteratur des 19. Jahrhunderts vgl. die Beispiele bei Mikoletzky, Die deutsche Amerika-Auswanderung des 19. Jahrhunderts in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur, S. 104f.; S. 190f. Müller, Aus den Erinnerungen eines Achtundvierzigers (1896), S. 161.

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Jäger.214 Gerstäcker korrigiert deshalb in seinem Auswanderer-Ratgeber entsprechende Erwartungen der Auswanderer; aber in seiner Zurechtrückung des Sachverhaltes spiegeln sich die naiven Hoffnungen, wie sie offensichtlich um die Jahrhundertmitte geschürt wurden: >Nun, wenn wir nicht gleich im Anfang Vieh haben, so gehen wir auf die Jagd und schießen Hirsche und Truthühnern Lieber Leser, das ist ein Capitel, worüber ich dir lieber die Augen etwas öffnen möchte, wenn du auch vielleicht böse darüber bist, nicht so Angenehmes zu hören, als du es erwartet. Die Zeit hat aufgehört, wo der Ansiedler, in der Thür seiner Hütte stehend, den vorbeiwechselnden Hirsch niederschießen konnte.215

Auch Ludwig Baumbach sieht sich etwa zur gleichen Zeit noch veranlaßt, mit solchen Illusionen aufzuräumen, und er verweist ausdrücklich darauf, daß sie in »verbreiteten Schriften über amerikanische Zustände genährt werden. Man denkt, so wie man nur den amerikanischen Boden beträte, so müßte man bei jedem Schritte auf Hochwild aller Art, Raubthiere etc stoßen.«216 Der Gedanke an unbeschränkte und außerordentliche Jagdmöglichkeiten bildet gewiß nur einen Nebenaspekt in den auswanderungsrelevanten Vorstellungen der Zeit, aber er ist eine signifikante Facette im deutschen Bild vom amerikanischen Westen: Sie gibt Auskunft über die Ansprüche der Auswanderer an die Natur, von deren Erfüllung der erhoffte Erfolg ihrer Ansiedlung abhängt. 8. Das Land des Müßiggangs: D u d e n s romantisches Amerika Diese Hoffnungen wurden von keinem anderen Auswanderer-Ratgeber so geschürt, wie von Gottfried Dudens »Bericht über eine Reise nach den westlichen Staaten Nordamerika^«, der 1829 erstmals erschien. Was in der langen Tradition der auf Amerika projizierten Paradies-Erwartungen angelegt war und was die Überflußschilderungen eines Cooper und seiner Nachahmer andeutungsweise aufgegriffen hatten, wird bei Duden zur Grundlage eines Amerika-Bildes, dessen Euphorie alles in den Schatten stellte, was in anderen Ratgebern dieser Zeit verbreitet worden war. Schon von vielen Zeitgenossen wurde Duden verantwortlich gemacht für das Ausmaß der Auswanderungsbewegung und vor allem für das Scheitern vieler Auswanderer, die sich nach der Lektüre des »Berichts« unerfüllbare Hoffnungen gemacht hatten. Die erste Auflage des zunächst im Selbstverlag erschienenen Buches betrug - nach Dudens eigener späterer Auskunft - 1500 Exemplare, und sie mußte gleich nachgedruckt werden.217 214

215 216

217

Vgl. Gerstäcker, Streif= und Jagdzüge durch die vereinigten Staaten Nord=Amerikas (1844)11, S. 63. Gerstäcker, Wie ist es denn nun eigentlich in Amerika? (1849), S. 120. Baumbach, Briefe aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika in die Heimath mit besonderer Rücksicht auf deutsche Auswanderer (1851), S. 188. Vgl. Duden, Selbst= Anklage wegen seines amerikanischen Reiseberichtes zur Warnung vor fernerm leichtsinnigen Auswandern (1837), S. 95. - Eine mit breiten ins Englische

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Die direkte und indirekte Wirkung des Buches läßt sich indes nicht an dieser Zahl messen, die zudem durch mindestens drei weitere Auflagen erheblich höher gelegen haben dürfte.218 Die Bedeutung des Werks ergibt sich vor allem aus dem Einfluß, den es auf die Vorstellungen deutscher Auswanderer über die amerikanischen Lebensbedingungen gewonnen hat. Daß Duden überhaupt eine größere Wirkung auf die Auswanderung hat entfalten können, ist erstaunlich angesichts der rezeptionsunfreundlichen Konzeption seines Buchs. Gewiß hat es einen »informalen« Charakter, gemessen an Reiseberichten wie dem des Herzogs Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach: Es berichtet weder über Kontakte mit höheren amerikanischen Gesellschaft- und Politikerkreisen, noch gibt es ausführliche statistische Angaben zu den wirtschaftlichen Verhältnissen, die die suggestive Kraft der Darstellung gemindert hätten. 219 Andererseits ist es aber weit entfernt von der benutzerfreundlichen Konzeption der späteren RatgeberLiteratur. Im Gegensatz zu dieser ist es mit seinen 348 Seiten der Erstauflage sehr umfangreich; zudem läßt sich keinerlei klare Linie in der Darstellung erkennen: Duden gibt im bunten Durcheinander sachliche Informationen und persönliche Eindrücke wieder; und er reichert die Darstellung mit ausführlichen theoretischen Perorationen über politisch-philosophische Themen an, deren Konfusion der juristischen Ausbildung des Verfassers kein gutes Zeugnis ausstellt. Diese unklare Konzeption hat aber wohl die Wirkung des Buches am Ende eher gefördert als gehemmt. Sie verführte offensichtlich - wie die späteren Diskussionen um das Werk zeigen - zu einer selektiven Lektüre, die nur die übersetzten Quellenzitaten versehene Darstellung von Dudens »Bericht« gibt der Aufsatz von Finckh, Gottfried Duden Views Missouri 1824-1827; eine summarische Zusammenfassung findet sich bei Weber, America in German Imaginative Literature, S. 116-119. Wenig ergiebig in bezug auf Duden ist - trotz des Untertitels, der eine Untersuchung der Reiseliteratur von Duden bis Kisch verspricht - die Studie von Mayer Hammond, American Paradise. Die Verfasserin macht nur einige pauschale Bemerkungen über Duden ohne jeden Informationswert. Vgl. ebd., S. 52f. Der an etwas abgelegener Stelle publizierte Aufsatz von Gladt, »Es ist ein Land voll träumerischem Trug . . . « , der den Einfluß Dudens auf Lenaus Amerikaauswanderung untersucht, fügt eine detailliertere Beschreibung von Dudens Reisebericht ein. Gladt gibt zudem - leider ohne Quellenangabe - einige Lebensdaten. Danach war Duden ein »deutscher Rechtsgelehrter, geboren im Jahre 1784, Staatsprokurator in Bonn, wo er am 29. Oktober 1856 starb«. Ebd., S. 66. Zu Dudens »Bericht« vgl. Mesenhöller, »Auf, ihr Brüder, laßt uns reisen fröhlich nach Amerika«, S. 3 6 8 - 3 7 4 . 218

Cronaus Behauptung, daß »Freunde und Begünstiger der Auswanderung zahlreiche billige Ausgaben herstellen und verbreiten« ließen, ist nicht belegt, aber plausibel. Vgl. Cronau, Drei Jahrhunderte deutschen Lebens in Amerika, S. 268. - Bibliographisch nachweisbar sind neben der Erstausgabe eine weitere, 1834 in Bonn erschienene deutsche Ausgabe und zwei Schweizer Nachdrucke: Der erste wurde 1832 in St. Gallen von einem »Büreau der Freisinnigen« herausgegeben; der zweite erschien 1833 ebenfalls in St. Gallen und wurde auf »Kosten der schweizerischen Auswanderungsgesellschaft« gedruckt. Erscheinungsjahr und -ort belegen die schnelle Verbreitung von Dudens »Bericht«; bereits 1831 bezieht sich ein Schweizer Auswanderer in einem Brief an die Heimat ausdrücklich auf Duden; vgl. Alles ist ganz anders hier, S. 206.

219

Vgl. Hansen, The Atlantic Migration, S. 149.

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auswanderungsaffirmativen Aussagen wahrnahm und die ohnehin sehr versteckten Warnungen ignorierte. Das Erscheinen des Buches fällt in eine Zeit, in der die deutsche Amerikaauswanderung gegenüber der ersten Welle von 1816/1817 abgeflaut war: 1829 wanderten - nach den amerikanischen Immigrationsstatistiken - nur rund 600 Deutsche in Amerika ein, während in den Jahren darauf ein sehr sprunghafter Anstieg auf rund 2000 Personen 1830 und gar auf über 10000 zwei Jahre später zu verzeichnen ist.220 Der reale Einfluß von Dudens »Bericht« auf diese signifikante Entwicklung ist kaum abzuschätzen. Immerhin wird ihm in der zeitgenössischen Literatur von kompetenter Seite - nämlich von Traugott Bromme - bescheinigt, daß er zumindest den möglicherweise ohnehin vorhandenen Strom der deutschen Auswanderer in die von ihm beschriebenen Missouri-Gebiete gelenkt habe;221 und spätere Darstellungen sprechen davon, daß sich »Tausende von Leuten, denen >der Duden den Kopf verrückt hatteEi, in dem neuen Land brauchen sie gar nit mehr zu arbeiten, da kriegen sie so viel Land als sie nur haben wollen, für nichts, [...] brauchen keine Steuern zu bezahlen und können gerade thun, was sie wollen.< >Aber, gesetzt dem wäre so, so muß doch der Boden, der mit Wald dicht bewachsen ist, erst urbar gemacht werden; und das, dächt ich, wäre doch Arbeit und zwar schwere Arbeit/ >Glaubt es nit, Herr; das wird nur so von den Herren der Regierung ausgestreut, die nit gern sehen, daß die Leut' aus dem Lande gehen; ich weiß es besser, und wenn ich nur einmal einige zwanzig Carlinen zusammen hab', dann soll mich kein Mensch mehr halten/ 230

Dudens Versprechen eines Wohlstandes fast ohne Arbeit wird unterfüttert durch die Schilderung einer Natur, die - gemessen an deutschen Verhältnissen

229

230

Duden, Bericht über eine Reise nach den westlichen Staaten Nordamerika's (1829), S. 79. - Die leichte Bearbeitbarkeit des Bodens spielt in den Auswanderer-Briefen kaum eine Rolle und wird selten so bestätigt wie in einem Brief von 1836; vgl. Briefe aus Amerika, S. 71. Gall, Meine Auswanderung nach den Vereinigten=Staaten in Nord=Amerika (1822) I, S. 156. Ähnlich unterlegt Gerstäcker seinen fiktionalen Auswanderern solche »Paradies«-Hoffnungen. Vgl. Gerstäcker, Ein Parcerie-Vertrag (1869), S. 28. Die Behauptung von Greverus, daß die Auswanderer realistische Vorstellungen gehabt hätten und ihnen diese »Paradies«- und »Schlaraffenland«-Hoffnungen nur von den Auswanderungsgegnern unterschoben worden seien, scheint sehr fraglich, vgl. Greverus, Der territoriale Mensch, S. 171.

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- wiederum an paradiesische Zustände gemahnt. Duden stellt den Unterschied zwischen dem deutschen und dem amerikanischen Boden gezielt heraus: Ich muß Ihnen nachdrücklich bemerken, daß die Bedeutung der Worte fruchtbarer Boden< in diesen Gegenden von der in Deutschland sehr verschieden ist. Guter Boden, oder Boden erster Ordnung, bedarf in dem ersten Jahrhundert des Düngers gar nicht und ist in den ersten Decennien selbst für Weizen zu fett.231

Solche Versprechungen, die sich gleich in säkularen Dimensionen bewegen, durchziehen das ganze Werk. Immer wieder kommt Duden auf die Fruchtbarkeit des amerikanischen Bodens zurück, und er erfaßt dabei alle für den Ansiedler relevanten Aspekte: Fruchtbar ist nicht nur das Ackerland; fruchtbar sind auch die Gemüse- und Obstgärten, die Wälder, die Flüsse, das Hausvieh und das Wild.232 Seine Darstellung der Fruchtbarkeit belebt alte »Paradies«-Vorstellungen neu, die kein halbes Jahrhundert zuvor von der Aufklärung denunziert worden waren. Die Vorstellung eines Reiches Gottes auf Erden, das ohne Zutun des Menschen sich verwirklichen könne, erschien dem bürgerlichen 18. Jahrhundert suspekt und wurde ersetzt durch den Begriff des Fortschritts, der durch die Arbeit des Menschen und seine vernünftigen Bemühungen allein in Gang gehalten wird.233 In seiner Schrift über den »Brodbaum« hatte Forster schon seinen Widerwillen gegen den Verzicht auf Arbeit und den damit verbundenen Verzicht auf selbstmächtig vom Menschen erreichten Fortschritt ausgesprochen.234 Kant greift diese Kritik später auf, wenn er die - auch romantische - Vorstellung vom »Goldenen Zeitalter« kritisiert, »wo eine Entledigung von allem eingebildeten Bedürfnisse, das uns die Üppigkeit aufladet, sein soll, eine Genügsamkeit mit dem bloßen Bedarf der Natur, [...] mit einem Worte der reine Genuß eines sorgenfreien in Faulheit verträumten oder mit kindischem Spiel vertändelten Lebens«.233 Die Spätaufklärung hatte die Arbeit als »Tätigkeit« begriffen, die dem Menschen »den Weg zu seiner und seiner Mitmenschen >Glückseligkeit< eröffne.«236 Dudens Versprechen eines glückseligen Lebens fast ohne Arbeit hätte auf den Widerstand dieser Denktradition stoßen müssen, der ein solcher Zustand gar nicht wünschenswert sein konnte. Dieser prinzipielle Widerstand ist jedoch ausgeblieben, weil die entsprechende Denktradition zur Zeit Dudens nicht mehr lebendig war. Erst später, im Zuge der liberalen Arbeitsdiskussion, wurde sie neu belebt. Duden dagegen kann die Zustimmung auch eines intellektuellen Publikums finden, weil nach seinem »Bericht« in Amerika ein romantisches Ideal Wirklichkeit geworden zu sein scheint. Die utopischen Anklänge, mit denen der »Bericht« unterfüttert ist, entsprechen in ihren Grundzügen einer Utopie der 231

Duden, Bericht über eine Reise in die westlichen Staaten Nordamerika^ (1829), S. 56f. Vgl. ebd., S. 35; S. 55; S. 72; S. 75f.; S. 100f.; S. 231 und passim. 233 Vgl. Jorgensen, Utopisches Potential in der Bibel, S. 387. 234 Vgl. Forster, Der Brodbaum (1789), S. 48f. 235 Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786), S. 101. Vgl. dazu auch Jorgensen, Utopisches Potential in der Bibel, S. 386-389. 236 Conze, (Art.) Arbeit, S. 171. 232

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Romantik, mit der sie sich gegen die Arbeits- und Fortschrittsauffassung wandte. Das aufschlußreichste Dokument dieser Utopie ist Schlegels »Idylle über den Müßiggang« in der »Lucinde«. Der aufklärerischen Glorifizierung der Arbeit stellt er ein anderes Lebensideal gegenüber, denn der »Fleiß und der Nutzen sind die Todesengel mit dem feurigen Schwert, welche dem Menschen die Rückkehr zum Paradies verwehren.«237 Schlegel stemmt sich mit dieser Idealisierung von Ruhe und Muße gegen die herrschenden Tendenzen seiner noch vom aufklärerischen Denken geprägten Zeit;238 und wenn er die Frage stellt, was das »unbedingte Streben und Fortschreiten ohne Stillstand und Mittelpunkt« eigentlich solle,239 dann schlägt er damit das Problem an, das dreißig Jahre später auch Duden in seinen etwas konfusen philosophischen Spekulationen weiterverfolgt. Der systematische Kernpunkt seiner Amerika-Darstellung ist ebenfalls der Affekt gegen ein hypertrophiertes Arbeitsethos: »Diejenigen aber, die stäts das Wörtchen >Arbeit< im Munde haben, [...] sollten doch bloß den Satz beherzigen, daß eine von gieriger Noth gestachelte Geschäftigkeit, der Natur des Einzelnen wie der ganzen Gesellschaft, um nichts heilsamer ist, als der trägste Müßiggang.«240 Die regressive Zeitutopie der Romantik wird von Duden wieder verräumlicht und in die Gegenwart gezogen. Der paradiesische Zustand eines Lebens - fast - ohne Arbeit ist geographisch zu lokalisieren und leicht erreichbar: Dudens Amerika kann, so scheint es, einen ewigen Sonntag nicht nur im Gemüt - wie ihn Eichendorffs Taugenichts propagierte - und in der Literatur, sondern tatsächlich im alltäglichen Leben versprechen. Es sieht so aus, als sei Dudens Blick auf Amerika ebenso wie der seines nur allzu rezeptionsbereiten intellektuellen Publikums von solchen romantischen Idealen afiiziert, die überhaupt erst wieder die Wünschbarkeit eines Lebens ohne Arbeit in die Diskussion eingeführt hatten. Insofern kann es nicht überraschen, daß Dudens Bericht über Dinge, die »in Deutschland von jeher zur Märchenwelt gehörten«,241 nicht a limine aus prinzipiell aufklärerischen Erwägungen auf Ablehnung gestoßen sind. Zwischen der Wünschbarkeit eines Zustandes und dem Glauben an seine Realisierbarkeit besteht indes eine schwer zu überbrückende Distanz, aber Dudens »Bericht« ist es offensichtlich gelungen, die Brücke zu schlagen und ein breites Publikum von der Glaubwürdigkeit seiner Schilderung von Zuständen zu überzeugen, die ihm selbst »fast als Täuschung« erschienen sind.242 Allerdings war der Boden für eine solche Rezeptionsbereitschaft nicht nur durch die romantische Literatur vorbereitet worden. Duden profitiert wahrscheinlich noch von den Nachwirkungen der von Kant gerügten Darstellungen der Südsee-Inseln und überhaupt von exotischen Ländern, die das Paradies-Motiv aufgefrischt, empirisch fundiert und geographisch 237

Schlegel, Lucinde (1799), S. 27. 238 ygi ( j a z u auch Eichner, Einleitung, S. XL f. 239 Schlegel, Lucinde (1799), S. 26. 240 Duden, Bericht über eine Reise in die westlichen Staaten Nordamerika^ (1829), S. 317. 241 Ebd., S. 288. 242 Ebd., S. 59. 108

lokalisiert hatten. Die Paradies-Assoziationen beim Besuch Tahitis von Reisenden wie Bougainville, Cook oder Forster entzündeten sich nicht nur an den gesellschaftlichen Verhältnissen - deren genauere Prüfung bekanntlich bald eine Enttäuschung brachte - , sondern auch an der verschwenderischen Überfülle der Natur. Dieser Motivstrang hat sich im Bewußtsein der Öffentlichkeit erhalten, zumal er von Literaten gelegentlich wieder aufgegriffen wird: Noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts schildert Gerstäcker eine Nebeninsel Tahitis mit fast den gleichen Eigenschaften, die Duden dem Mississippital zuschreibt: Mit der unbedeutensten Arbeit gab die Erde hier das Hundertfache des ihr anvertrauten Samens zurück, und René glaubte in seinem Leben kein schöneres, herrlicheres Land gesehen zu haben, als diese kleine Insel.243

Dudens »Bericht« ließ sich als Fortsetzung des »Paradies«- und »Schlaraffenland«-Motivs der Südsee-Darstellungen auf amerikanischen Boden lesen. Er bezieht sicherlich einen großen Teil des Vertrauens, das ihm offensichtlich entgegengebracht wurde, aus den vagen Vorstellungen paradiesischer Fruchtbarkeit, die von den Tahiti-Reiseberichten genährt wurden. Was dort aber in unerreichbare Ferne gerückt war und allenfalls als Gegenstand realitätsferner Sehnsucht ins Bewußtsein treten konnte, kommt durch Dudens »Bericht« in greifbare Nähe; und an ihn werden deshalb andere Glaubwürdigkeitsanforderungen gestellt als an die Beschreibungen der Tahiti-Reisenden. Diesen Anforderungen wird Duden auch gerecht. Er beschränkt sich nicht darauf, die Glaubwürdigkeit seiner Erzählung durch treuherzige Wahrheitsbeteuerungen und die Berufung auf die eigene Erfahrung zu versichern,244 sondern er fügt die Beschreibung der paradiesähnlichen Landschaft ein in eine realistisch anmutende Darstellung der Lebensbedingungen des Ansiedlers. Zur Glaubwürdigkeit hat sicherlich beigetragen, daß er auch auf die Schattenseiten des Farmer-Lebens eingeht - allerdings nur, um sie in ihrer Bedeutung herunterzuspielen. Während die Fruchtbarkeit der Natur mit allen ihren angenehmen Folgen in breiten Passagen in den Vordergrund rückt, werden die möglichen Beschwernisse und Gefahren zurückgedrängt: Die Existenz von Waldbränden läßt sich schwerlich abstreiten, aber sie bilden keine Gefahr für den Farmer;245 auch Klapperschlangen gibt es zwar, aber »niemand leidet hier an einer Besorgniß vor diesen Thieren«;246 das »in Europa gewöhnliche Geschrei über Wildnisse und Entbehrungen der Cultur=Erzeugnisse ist grundlos«,247 und die meisten - in der Regel durch Klimaeinflüsse 243

Gerstäcker, Tahiti (1854) I, S. 111. Vgl. Duden, Bericht über eine Reise in die westlichen Staaten Nordamerika^ (1829), S. 76. 245 Ebd., S. 85. 246 Ebd., S. 158. 247 Ebd., S. 235. - Damit berührt er einen Punkt, der in den europäischen Befürchtungen vor der mangelnden Zivilisation der amerikanischen Pioniergesellschaft eine wichtige Rolle gespielt hat; vgl. Billington, Land of Savagery, Land of Promise, S. 175f. - Für die Ausgewanderten scheinen diese Probleme peripher gewesen zu sein. Von solchen Gefahren wird in den Briefen der Farmer kaum gesprochen; eine der wenigen Briefstel244

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hervorgerufenen - »Krankheiten der Einheimischen entstehen durch deren eigenes Verschulden«.248 Die karge Nüchternheit, mit der Duden über diese und andere Gefahren berichtet, welche die »sog.« - und nicht etwa wirklich - »wilde Natur« bereitet,249 steht in einem geschickt arrangierten Gegensatz zum Pathos seiner Fruchtbarkeitsschilderungen. Die Euphorie des hingerissenen Enthusiasten weicht der sachlichen Distanz des distanzierten Beobachters, der mit wissenschaftlich anmutender Präzision jeder Gefahr ihren Stachel nimmt durch die bewährten Mittel, mit denen ihr zu begegnen ist. Gerade in dieser Schlichtheit seiner rhetorischen Mittel entfaltet Dudens Reisebericht seine Überzeugungskraft. Der Gestus des biederen Berichterstatters, der nur beschreibt, was er mit eigenen Augen gesehen hat, wird nicht gestört durch das Raffinement einer künstlich forcierten Überredungsstrategie. Dudens »Bericht« bezieht seine faszinierende Kraft nicht daraus, daß er die Unwahrheit sagt; er ist insgesamt weniger falsch als einseitig. Seine Wirkung auf die Auswanderer dürfte vor allem in dem rhetorischen Arrangement der Wahrheit gelegen haben, das die Schwierigkeiten der Ansiedlung verharmlost und gleichzeitig die Hoffnungen nährt, die sich in Europa seit je auf Amerika gerichtet haben. Tatsächlich stimmt sein »Bericht« in vielen Punkten mit den Schilderungen anderer Amerika-Reisender überein, und er kann auch insofern auf seiner Glaubwürdigkeit bestehen. Allerdings werden bei den anderen Reisenden die Licht- und Schattenseiten der amerikanischen Natur und der Ansiedlung in ein realistischeres Verhältnis gerückt. Schon ein Jahr zuvor hatte Charles Sealsfleld in seiner - englischsprachigen und deshalb weit weniger wirkungsträchtigen - Schilderung der Vereinigten Staaten ähnlich wie Duden die Fruchtbarkeit des Mississippitales hervorgehoben: »Its soil is inexhaustible; its fertility [...] being truly astonishing, and though some portions have been cultivated upwards of thirty years without beeing manured, the land still yields the same quantity of produce.«250 Auch Bromme bestätigt dem »Bericht« ausdrücklich, neben Jeffersons und Sealsfields Schriften »das Beste« zu sein, »was über einen einzelnen Staat der Union bis jetzt geliefert wurde.«251 Dennoch ist seine Darstellung der natürlichen Ansiedlungsbedingungen selbst dort, wo sie Duden unterstützt, realitätsnäher und kritischer als der »Bericht«. Wie Duden so hebt auch Bromme hervor, daß der Bo-

248 249 250

251

len findet sich in »Amerika ist ein freies Land ...«, S. 150 (ca. 1861). Hier wird über einen Indianerüberfall auf eine Siedlung in Texas berichtet. - Fast wie aus Dudens Bericht entnommen liest sich eine Briefstelle von 1831, in der alle Bedenken gegenüber potentiellen Gefahren oder auch nur Beschwernissen durch die amerikanische Fauna zurückgewiesen werden; vgl. »Amerika ist ein freies Land ...«, S. 35f. Duden, Bericht über eine Reise in die westlichen Staaten Nordamerika's (1829), S. 171. Ebd., S. 65. Sealsfield, The Americans as they are (1828), S. 11. Weitere Belege solcher Fruchtbarkeitsschilderungen in der Amerika-Literatur gibt Billington, Land of Savagery, Land o f Promise, S. 2 3 1 - 2 3 5 . Bromme, Rathgeber für Auswanderungslustige (1846), S. 123.

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den des Mississippitales »zu den fruchtbarsten der ganzen Erde« gehört,252 aber er bemüht sich, diese Aussage durch eine genaue geographische Beschreibung zu differenzieren. Er begegnet falschen Vorstellungen, die Duden mit seiner pauschalen Euphorie erweckt haben könnte, durch eine ausdrückliche Präzisierung von dessen Angaben: »Nur hier, nicht auf dem Hochlande (Upland), findet man die üppige Vegetation, die alle Besucher des Westens begeistert, die Duden, Flint u. a. in so lebhaftem Kolorit uns dargestellt«;253 und er vergißt nicht den Nachteil der fruchtbaren »Bottomländereien« zu erwähnen - sie sind nämlich der »Gesundheit nichts weniger als zuträglich.«254 Neben der Suggestion der Möglichkeit eines üppigen Lebens ohne Arbeit bietet Dudens Amerika eine weitere Attraktion, die der Mentalität seiner auswanderungswilligen Landsleute entgegenkommt: Die amerikanische Natur ist nicht nur nützlich, sondern auch schön. In Dudens Darstellung erscheint sie in jener romantischen Gestalt, die den zeitgenössischen Vorstellungen von Naturschönheit entgegenkam. Der schweifende Blick über das Mississippi- und Missourital zeigt eine Landschaft, die ebenso gut in Europa zu finden sein könnte: »Der höchste Rücken der Hügelkette bildet wellenförmige Flächen, welche größtentheils natürliche Wiesen sind, die aber so von Wäldern unterbrochen und umkränzt werden, daß sie dem reisenden Europäer wie anmuthige Schöpfungen des Landbaues vorkommen«; die Hügel sind oft »für große Strecken fast senkrecht abgeschnitten, so daß die Felsenmassen, in einiger Ferne, wie durch Menschenhände geformte Mauern und Thürme erscheinen.«255 Solche Passagen legen es darauf an, vor dem geistigen Auge des europäischen Lesers nicht die schreckenvolle Wildnis des amerikanischen Westens entstehen zu lassen, sondern an die vertrauten Gegenden des Rheins, die romantische Landschaft par excellence, zu erinnern. Als Friedrich Schlegel 1805 seine »Rheinfahrt« beschreibt, steht er unter dem gleichen Eindruck wie Duden beim Zusammenfluß von Mississippi und Missouri, daß nämlich »diese Gegend mehr ein in sich geschlossenes Gemälde und überlegtes Kunstwerk eines bildenden Geistes zu sein, als einer Hervorbringung des Zufalls zu gleichen« scheint;256 sie erweckt in ihm den Neid auf den Bewohner, »der da lebt und in Freiheit atmet« und immer die Erde sieht »in ihrem reichen Schmuck«.257 Wenn Dudens Landschaftsschilderung an die Landschaft der deutschen Romantik anknüpft, dann schafft er damit eine weitere auswanderungsfördernde Vorstellung. Die Schönheit der Landschaft ist nur vermeintlich ein marginaler Aspekt; tatsächlich ist er in seiner af252 253 254 255

256

257

Ebd., S. 37. Ebd., S. 38. Ebd., S. 62. Duden, Bericht über eine Reise in die westlichen Staaten Nordamerika's (1829), S. 56. - Zu Dudens Landschaftsdarstellung vgl. auch Mesenhöller, »Auf, ihr Brüder, laßt uns reisen fröhlich nach Amerika«, S. 373f. Schlegel, Briefe auf einer Reise durch die Niederlande, Rheingegenden, die Schweiz und einen Teil von Frankreich (1805), S. 186. Ebd., S. 187.

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fektiven Bedeutung für die Entschlußbildung des Auswanderers nicht irrelevant gewesen: In seiner Kritik rügt Körner Dudens Landschaftsdarstellungen als zu euphemistisch auch deshalb, weil »Viele gerade von denen, für welche Duden am Meisten berechnet ist, kein geringes Gewicht bei ihrer Auswanderung auf die zu findenden zauberischen Naturschönheiten legen, daß Alle gewiß die neuen und schönen Eindrücke der reizenden Landschaften in der frischen jungfräulichen Erde mit in Anschlag brachten.«258 Allerdings dürfte sich, ähnlich wie beim Wohlstandsversprechen, auch diese Erwartung zwar fördernd auf den Auswanderungsentschluß ausgewirkt haben; im realen amerikanischen Alltagsleben spielt sie indes keine Rolle mehr. Die Auswandererbriefe gehen nur höchst selten auf die Frage der Naturschönheit ein. Eine briefliche Äußerung, in der die »Wunderschöne Gegend« gelobt und auch näher beschrieben wird, bleibt eine Rarität. Daß jemand nach Amerika auswanderte, weil er »Romantische Gegende gern hatt«,259 ist wohl kaum vorgekommen; die seltene Erwähnung von Naturschönheiten in Auswandererbriefen - die sich in der Regel mit lebenspraktischen Fragen beschäftigten - spricht allerdings nicht dagegen, daß die Erwartung solcher Schönheiten eine affektive Unterstützung des Auswanderungsentschlusses geben konnte. Das zeigt auch die Enttäuschung eines anderen Auswanderers, dessen Erwartung einer schönen Natur mit »blumenreich« geschmückten Wiesen und dem Gesang der Vögel in den Wäldern nicht erfüllt wird.260 Neben dem ästhetischen dürfte freilich der pragmatische Aspekt der Naturschönheit für den Auswanderer die entscheidende Rolle gespielt haben: Die Natur erscheint durch ihre Ästhetisierung in jener gartenähnlich domestizierten Gestalt, die eine allzu große Fruchtbarkeit bändigt und ihr den Charakter des Wilden nimmt. Gleichzeitig mit Duden hatte ein anderer Autor vor einer Ansiedlung im tropischen Südamerika gewarnt, weil es hier noch nicht möglich sei, einer »überthätigen Natur« Herr zu werden.26' Dieses Problem einer Übertätigkeit stellt sich in Dudens Landschaft nicht; er kann es verdrängen, weil in seinem Blick die Natur immer schon als von selbst geordnete erscheint, die der ordnenden Hand des Siedlers kaum noch bedarf. Mit seiner Schilderung hat Duden sicherlich wesentlich dazu beigetragen, ein traditionelles und eher auswanderungshemmendes Amerika-Bild der europäischen Literatur abzulösen und durch ein auswanderungsfreundliches zu ersetzen. Zu den gängigsten Amerika-Mythen des 18. und des früheren 19. Jahrhunderts nämlich gehörte die Vorstellung vom amerikanischen Westen als einer unberührten, von Naturvölkern besiedelten Wildnis. Auf die Literaten einer rousseauistischen Tradition hat dieses Amerika-Bild einigen Reiz ausgeübt, und sie haben viel Phantasie 258

259 260 261

Körner, Schilderung des gegenwärtigen Zustandes der westlichen Staaten Nord-Amerika's (1834), S. 10. Briefe aus Amerika, S. 404f. (1881). »Amerika ist ein freies Land ...«, S. 194 (1857). Lips, Ueber die Richtung der Zeit nach Amerika (1829), S. 126f.

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darauf aufgewendet, es detailliert auszumalen. 262 Dieses Bild erfahrt aber seit dem Ende des 18. Jahrhunderts einen Wandel: Aus dem Land einer verlockendunberührten Natur wird das Land der Wildnis und der Gesetzlosigkeit. Die frontier wird in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts zu einer Schrekkensvision; zu einem Land, in dem die Zivilisation sich der Barbarei unterworfen hat 2 6 3 und in dem der Siedler sich behaupten muß nicht nur gegen die verwilderten gesellschaftlichen Zustände, sondern auch gegen eine feindliche Natur. Dudens »Bericht« liest sich vor dem Hintergrund dieses Amerika-Bildes wie der Versuch seiner ausdrücklichen Widerlegung. 264 Die Vehemenz seiner Darstellung läßt sich nicht zuletzt daraus erklären, daß sie Front machen m u ß gegen einen alten Mythos, an dessen Stelle mit den Paradies-Assoziationen ein noch älterer gesetzt wird. Auf jeden Fall ist der »Bericht« ein extremes Beispiel dafür, wie sich traditionelle Mythen und europäische Wunschvorstellungen in der Darstellung über die amerikanische Wirklichkeit legen können, so daß - bei aller Richtigkeit in vielen Details - ein verzerrtes Gesamtbild entsteht. Punkt für Punkt entspricht Duden den überspannten Hoffnungen und vagen Vorstellungen der deutschen Auswanderer, indem er das Bild einer Landschaft entwirft, die alle Vorteile zweier Kontinente in sich vereinigt und in der kein nennenswerter von ihren Nachteilen erhalten bleibt. Gerade diese Kontamination des Fremden mit dem Vertrauten dürfte die eigentliche Grundlage seines außerordentlichen Erfolges gewesen sein.

9. E n t t ä u s c h u n g e n : D i e K r i t i k e r D u d e n s Dem Auswanderer, der sich auf Dudens suggestiven »Bericht« verlassen hatte und ein Paradies vorzufinden hoffte, stand eine herbe Enttäuschung bevor. Die Heftigkeit der öffentlichen Angriffe zeigt, wie kritiklos Duden rezipiert worden war und welche weitgespannten Erwartungen er genährt hatte. Fast ein Vierteljahrhundert lang bilden Dudens »Bericht« und das von ihm propagierte Amerika-Bild einen Fixpunkt in der Diskussion, auf den sich die Warnungen der Auswanderer und der Ratgeber direkt und indirekt immer wieder beziehen. Die ersten ernüchternden Erfahrungsberichte folgten schon wenige Jahre nach dem Erscheinen des Buches. Harmlos nimmt sich noch die Kritik im Brief eines Schweizer Auswanderers von 1831 aus, der seinen Landsleuten rät, »die etwas zu bunten Vorstellungen vom hiesigem Lande, die man durch Duden gewöhnlich, ohne seine Schuld erhielt, zu verscheuchen.« 265 Wesentlich krasser drücken sich 262

Vgl. Boerner, The images of America in eighteenth century Europe, S. 325f.; Boerner, Amerikabilder der europäischen Literatur, S. 45f.; Franzen, Europa blickt auf Amerika, S. 131. 263 Billington, Land of Savagery, Land of Promise, S. 267f. 264 Vgl. ebd., S. 89. 265 Alles ist ganz anders hier, S. 210.

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die fünf Jahre später in einer Zeitschrift publizierten Briefe deutscher Auswanderer aus: Ich lese oft zum Scherz in Dudens Schilderungen von Amerika und kann nicht begreifen, wie dieser Mann so grobe Lügen niederschreiben konnte; er wird von vielen Familien verflucht, die durch ihn verleitet wurden, auszuwandern. Ich glaube, daß er am ersten besten Baum gehängt werden würde, wenn er sich hier erblicken ließe. Seine Farm soll von allen, die sie gesehen haben, noch dazu das schlechteste Land, ungesund und eine schlechte Lage haben. Die meisten Deutschen, welche noch die Mittel besitzen, reisen zurück.266 Die von Duden ausgelöste Amerika-Euphorie schlägt gerade wegen der enormen Hoffnungen, die mit ihr verbunden waren, in grenzenlose Enttäuschung um: »Die Erfahrung anderer und meine eigene macht es mir zur Pflicht, jeden zu warnen, nach Amerika auszuwandern.« Nur Menschen »wie Duden, der sich ein Vermögen durch sein Lügenwerk erworben hat, oder auch Narren können dem Europäer dies Land anpreisen.«267 Auch die Intellektuellen, die sich durch Duden zur Auswanderung hatten inspirieren lassen, müssen der Realität ihren Tribut zollen, zumal sie offensichtlich noch weitergehende Erwartungen mit einer Ansiedlung verbunden hatten als der normale Auswanderer. Während dieser nur ein auskömmliches Dasein bei nicht übermäßiger Anstrengung suchte, hoff266

Briefe aus Nord=Amerika (1836) I. - Über das hier angedeutete Problem der Rückwanderung aufgrund gescheiterter Erwartungen geben die Quellen - abgesehen von sehr seltenen Ausnahmen, zu denen etwa Galls Reisebericht gehört - keine Auskunft. Die historische Forschung hat sich nach einigen älteren Ansätzen erst in neuerer Zeit des Themas und seiner methodischen Probleme energischer angenommen; vgl. Mönckmeier, Die deutsche überseeische Auswanderung, S. 23; Vagts, Deutsch-Amerikanische Rückwanderung, S. 14f. Vagts' Studie stützt sich auf die Analyse von Biographien und Reiseberichten einzelner Rückwanderer; naturgemäß erfaßt sie damit überwiegend die bildungsbürgerliche Mittelschicht, nicht die sprachlose Masse der Auswanderer. Einige interessante Andeutungen zu dem Problem auf der Grundlage von Archivmaterialien finden sich bei Engelsing, Bremen als Auswandererhafen, S. 175f.; Wellhausen, Über die deutsche Auswanderung nach den Vereinigten Staaten, S. 86-89. Vgl. dazu weiterhin Moltmann, American-German Return Migration in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries. Moltmann gibt einige - allerdings nicht sehr gesicherte - Zahlen, nach denen sich die Rückwanderung auf etwa 10% der Auswanderung belaufen hat (vgl. ebd., S. 381), und er gibt Informationen zu den Motiven der Rückwanderer, die meist mit Akkulturationsschwierigkeiten und ökonomischen Krisen in den USA zusammenhängen (S. 389-391). - Die Rückwanderungsforschung ist mit erheblichen Problemen der statistischen Datenerhebung konfrontiert, die es kaum erlauben, genaue Aussagen über die Quantität der Rückwanderungsbewegung zu machen; zu einigen Problemen der von Moltmann vorgetragenen Schätzungen vgl. Kamphoefner, Umfang und Zusammensetzung der deutsch-amerikanischen Rückwanderung, S. 292/294; S. 299f. Kamphoefner selbst versucht für einzelne Bereiche eine detaillierte Aufschlüsselung; vgl. die Tabellen ebd., S. 301-307. - Die methodischen Probleme der Rückwanderungsforschung werden dargestellt und diskutiert bei Kortum, Migrationstheoretische und bevölkerungsgeographische Probleme der nordfriesischen Amerikarückwanderung, S. 123-141; eine Typologie der Rückwanderungsformen gibt Kortum ebd., S. 121f.

267

Briefe aus Nordamerika (1836) II.

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ten jene auf die Möglichkeit eines behaglichen Landlebens, in dem sie ihren Bildungsneigungen frönen konnten; die antike Tuskulum-Vorstellung hat hier wohl noch vage nachgewirkt und sich mit Dudens Darstellung verbunden. Friedrich Münch, der sich zusammen mit Folien auf Dudens ehemaligem Wohnsitz niedergelassen hatte, berichtet in seinen Lebenserinnerungen über seine entsprechenden Erwartungen und seine Ernüchterung durch die banale Wirklichkeit: Nach den von Duden gegebenen Schilderungen hatten wir uns die Sache einigermaßen anders gedacht, nämlich so, daß bei dem noch unangebrochenen hiesigen Naturreichthume es hinreichen würde, etwa die Hälfte unserer Zeit der rauhen Arbeit zu widmen, und daß die andere Hälfte frei bleiben würde für verschönernde Arbeiten, zur eigenen Fortbildung, zum Unterrichten der Kinder etc. Aber wir fanden des Nothwendigen so viel zu thun, daß wir kaum an Sonn= und Regentagen einige Freistunden uns gönnen durften, - und an manchen Abenden waren die Glieder so müde, daß ich kaum noch die Gabel zum Munde führen konnte, oder auch der Kopf in Schlummer auf den Tisch sank.268

Solche Enttäuschungen hätten sich die Auswanderer ersparen können, wenn sie die deutschen Amerika-Darstellungen ihrer Zeit gründlicher studiert hätten. Daß sie sie nur selektiv wahrgenommen haben und selbst aus Dudens »Bericht« nur das rezipierten, was ihren Wunschvorstellungen entsprach - eine Rezeptionsform, die durch die Konzeption des Buches freilich stark gefördert wurde - , zeigt die enorme Wirkungskraft der mentalen Bedürfnisse, die durch Dudens Amerika scheinbar befriedigt werden konnten und die jedes realistische Bewußtsein überdeckten. Schon lange vor Duden hatten sich nüchternere Beobachter gegen Amerika-Illusionen gewehrt, die durch Duden dann noch einmal kräftig geschürt wurden. Als Hans von Gagern 1818 den Bericht Moritz von Fürstenwärthers über dessen Erkundungsreise nach Amerika auswertet, liest sich sein Resümee wie eine vorweggenommene Kritik an Duden: Die Resultate sind ungefähr dem gemäß, wie ich mir die Sache dachte. Ich täuschte mich keineswegs. Es ist dort kein Paradies. Unser Vaterland ist freundlicher. Schwere Arbeit ist dort ein wesentliches Erforderniß und wohlhabend wird man nur langsam und mit Mühe.269

Dieses Bemühen um eine Korrektur der »Paradies«-Vorstellungen durch Abwägung der Vor- und Nachteile einer Ansiedlung in Amerika wird durch Duden wieder aktuell. Sein Reisebericht übt auf amerikakritische Publikationen eine katalysatorische Wirkung aus, und er trägt damit indirekt dazu bei, daß das auswanderungsrelevante Amerika-Bild eine realistischere Färbung erhält. Dudens »Bericht« dient als Problemfolie, an der sich die korrigierenden Bemerkungen der späteren Reisenden und Auswanderer orientieren können. Während ihre Auskünfte nach Europa zuvor ziellos und pointillistisch waren, da sie sich 268

269

Münch, Gesammelte Schriften (1902), S. 118f. Seine entsprechende Enttäuschung beschreibt auch Büttner, Die Vereinigten Staaten von Nord=Amerika (1846) I, S. 18-22; S. 4 2 - 4 4 . Gagern/Fürstenwärther, Der Deutsche in Nordamerika (1818), S. 122.

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nur an den zufälligen Erfahrungen und aktuellen Problemen der Auswanderer selbst orientierten, kann der Rückfluß an Informationen nach Europa jetzt auch auf die lange Zeit unterschwelligen Erwartungen der potentiellen Auswanderer sich beziehen, da sie in Dudens »Bericht« auf komprimierte Weise manifest wurden. Für die Enttäuschungen allerdings, die sich in der vehementen Kritik an Duden Luft machen, ist dieser nicht allein verantwortlich; auch die selektive Wahrnehmung seiner Leser hat wesentlich dazu beigetragen, daß ein so euphorisches Amerikabild entstehen konnte. Von etlichen Reisenden wird Duden bescheinigt, daß seine Darstellung im einzelnen durchaus zutreffend ist, und sein »Bericht« wird als nützliche Hilfe auf der Reise empfohlen. 270 Der Tenor seiner Darstellung aber leistet einer Lektürehaltung Vorschub, die nur nach bestätigenden Informationen für die eigenen illusorischen Erwartungen suchte und die - allerdings nur verstreut und versteckt vorgebrachten - Warnungen überhörte: Duden's Bericht hat die Eigenthümlichkeit, daß man ihm den Vorwurf nicht machen kann, als seyen die Unannehmlichkeiten und Widerwärtigkeiten, die in irgend einer Hinsicht den Einwanderer treffen, wirklich gar nicht berührt. Wer das Buch ganz aufmerksam und prüfend lies't, findet wohl überall leise Andeutungen. Der Eindruck des ganzen Buchs läßt aber diese schlechteren Parthieen nur gar zu leicht übersehen. 271

Zu einer solchen genauen Lektüre aber waren die auswanderungslustigen Leser offensichtlich nicht disponiert; und diesen Vorwurf erhebt Duden auch gegen sein Publikum, von dem er sich ungerechtfertigt angegriffen fühlte. Acht Jahre nach dem Erscheinen des »Berichts« publiziert er seine »Selbst=Anklage wegen seines amerikanischen Reiseberichtes, zur Warnung vor fernerm leichtsinnigen Auswandern.« Hier hebt er ausdrücklich die Warnungen hervor, die in der Fülle seiner euphorischen Beschreibungen untergegangen waren, und er macht schließlich den Leser - wohl nicht zu unrecht - für die verfehlte Rezeption seines Werkes verantwortlich, ohne dessen Aussagen aber in irgend einem Punkt zu revozieren: Allein der Halbleser ist besessen von der Wohlfeilheit der Lebensmittel, von der Fruchtbarkeit des Bodens, von den Jagdthieren und den Früchten in den Wäldern, und so läßt seine Phantasie für ähnliche Ermahnungen zur Nüchternheit keinen Raum. 2 7 2

Er erinnert zu Recht daran, daß er vor einer Auswanderung ohne genügende Geldmittel gewarnt habe,273 daß diese Warnung aber von den Lesern ignoriert worden sei:

270 Ygi e t w a Witte, Kurze Schilderung der Vereinigten Staaten von Nord=Amerika (1833), S. 77; Pauer, Die Vereinigten Staaten von N o r d a m e r i k a (1847), S. 239f. 271

272 273

Körner, Schilderung des gegenwärtigen Zustandes der westlichen Staaten Nordamerik a s (1834), S. 7. Duden, Selbst=Anklage wegen seines amerikanischen Reiseberichtes (1837), S. 85f. Vgl. Duden, Bericht über eine Reise in die westlichen Staaten Nord-Amerika's (1829), S. 241.

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Umsonst, der Auswanderer, dem ein Theil der Summe fehlt, will darum vom gelobten Land nicht ausgeschlossen seyn, und raisonniert sich also aus meinem Buche weg, was ihm nicht zusagt.274

Das ist in der Tat das Problem von Dudens »Bericht«: Er kam einem weitverbreitenen Amerika-Bild so sehr entgegen, daß eine unbefangene Rezeption nicht mehr möglich war. Das Buch ist nicht nur einem vorhandenen Bedürfnis gerecht geworden, sondern es hat auch ein neues geschaffen: Das Bedürfnis nach kritischen und realistischeren Informationen über die amerikanischen Zustände. Gall hätte es schon befriedigen können, dessen Reisebericht sich als negatives Pendant zu Duden lesen läßt. Gall schildert detailliert und konkret die mannigfachen praktischen Schwierigkeiten, welche die Reise selbst und erst recht die Verhältnisse in den Vereinigten Staaten dem Auswanderer bereiten, und wie Duden zeigt er auch eine ausgeprägte Neigung zu theoretischen Perorationen. Seine Reisebeschreibung mündet in einer dringenden Warnung vor der Auswanderung: »Doch wo der ausgewanderte Deutsche sich auch niederlassen möge, volle Zufriedenheit wird er nirgends finden; bereuen wird er die Trennung vom Vaterlande immer«.275 Seine Warnung ist aber ohne größere publizistische Resonanz geblieben und wohl erst recht ohne größeren Einfluß auf die Auswanderungsbewegung;276 die einzigen Reaktionen, die er hervorgerufen zu haben scheint, sind mehr oder weniger heftige Zurückweisungen seiner Amerika-Kritik. 277 Das Bedürfnis nach einem optimistischen Amerika-Bild war zu groß, als daß ein kritischer Bericht schon auf eine breitere Rezeptionsbereitschaft hätte stoßen können. Nach dem Erscheinen von Dudens Buch und dem kontinuierlichen Ansteigen der Auswanderung zu einer Massenbewegung ändert sich die Situation. Dudens »Bericht« wird zum Kristallisationspunkt für viele Autoren, die sich um die Verbreitung von realistischeren Vorstellungen bemühten. Um ein abgewogenes Urteil bemüht sich eine selbständige Schrift Gustav Körners, die 1834 erschien. Punkt für Punkt überprüft Körner Dudens Darstellung. Er untersucht die von Duden euphorisch geschilderten Naturschönheiten, die Fruchtbarkeit des Bodens und die Probleme seiner Bebauung; den Einfluß des Klimas auf die Gesundheit sowie die Kultur und den Charakter der Amerikaner. Sein Urteil über das Land wie über Dudens »Bericht« ist differenziert: Er kommt zu dem Schluß, daß Duden im einzelnen keineswegs durchgehend die Unwahrheit gesagt habe, daß seine Darstellung aber an den realen Bedürfnissen und Voraussetzungen der deutschen Einwanderer vorbeiziele; und daß auch sein sanguini274

Duden, Selbst=Anklage wegen seines amerikanischen Reiseberichtes (1837), S. 87. Vgl. dazu auch Weber, America in Imaginative German Literature, S. 118f. 275 List, Die Ackerverfassung, die Zwergwirtschaft und die Auswanderung (1842), S. 493. 276 Vgl. Walker, Germany and the Emigration, S. 60.; Vagts, Deutsch-Amerikanische Rückwanderung, S. 18. 277 Vgl. Weber, America in Imaginative German Literature, S. 110; eine etwas versöhnliche Kritik übt noch Bromme, Reisen durch die Vereinigten Staaten und Ober=Canada (1834f.) II, S. 179f. 117

sches Temperament ihn die Dinge in zu leuchtenden Farben habe schildern lassen: »Seine gute Stimmung verschönerte Alles um ihn herum, und wo andere kaum einen leidlichen Aufenthalt sahen, erblickte er Gärten und reizende Parthieen.«278 Körners kritisches Verfahren wird zum - direkten oder indirekten - Vorbild für den Versuch der seriösen Ratgeber-Literatur, den potentiellen Auswanderern ein realistisches Amerika-Bild zu vermitteln. Wie Körner setzen sie an den auswanderungsrelevanten Hoffnungen an und überprüfen sie anhand der amerikanischen Wirklichkeit; in vielen Fallen scheint Dudens »Bericht« der Bezugspunkt für die Auswahl der untersuchten Objekte zu sein. Besonders die Illusion, in Amerika ohne Mühe den Boden bebauen und zu einem behäbigen Leben zu kommen, steht im Zentrum des Interesses, da diese Aussicht wohl die größte Attraktion für den Auswanderer darstellte. Auch wenn die Reisenden und Ratgeber in der Sache - nämlich in bezug auf die Fruchtbarkeit des Bodens - durchaus mit Duden übereinstimmen, unterscheiden sich diese Darstellungen in Tonfall und Akzentuierung deutlich von seinem »Bericht«. Wo Duden ein »bloßes Aufbrechen« des Bodens für hinreichend hält,279 gibt etwa Ziegler eine detailliertere Schilderung der Schwierigkeiten: Mit einem solchen, oft unserem Untergrundpfluge ähnlichen Ackerwerkzeuge wühlt nun der Farmer zwischen den Bäumen und Wurzeln herum. Letztere erschweren ganz besonders das Pflügen [...]. Auf diese Weise sucht der Farmer den Boden in einen nothdürftigen Lockerzustand zu bringen, um ihn für die erste Einsaat empfänglich zu machen.280

Schon in der Wortwahl tritt die Mühsal der Arbeit ebenso deutlich hervor wie das wenig befriedigende Ergebnis. Auch Gerstäcker wendet sich in seinem Ratgeber gegen allzu leichtfertige Illusionen. Allerdings nimmt sich seine Behandlung des Auswanderungsproblems einigermaßen ambivalent aus. Er zeigt sich, wie in allen seinen Schriften, so auch hier kaum minder fasziniert von Amerika als vor ihm Duden. Auch bei Gerstäcker finden sich romantische Vorstellungen über das Land, das ihm als Gegenpol zu einem sich industrialisierenden Europa erscheint. Schon seine erste Amerikafahrt ist eine »Reise in die Vergangenheit, in eine noch vorindustrielle Realität, in ein historisiertes Paradies.«281 Diese Faszination durch das Land tritt auch in seinem Ratgeber hervor; das Vertrauen des Auswanderers auf den neuen Kontinent findet nicht nur bei Duden, sondern auch bei Gerstäcker eine Stütze. In seinem Ratgeber nimmt er eine prinzipiell positive Haltung zur Auswanderung ein, die sich vor allem im Duktus manifestiert. Der Ratgeber ist mit

278

279 280 281

Körner, Schilderung des gegenwärtigen Zustandes der westlichen Staaten Nordamerika^ (1834), S. 8. Ähnlich beurteilt ein deutscher Auswanderer den Bericht Dudens: Er sei sachlich zutreffend, aber oft pittoresk; vgl. Bek, The Followers of Duden I, S. 60. Duden, Bericht über eine Reise in die westlichen Staaten Nordamerika^ (1829), S. 79. Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika und Westindien (1848) II, S. 23. Durzak, Nach Amerika, S. 150.

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der leichten Hand des volkstümlichen Romanciers geschrieben und neigt schon durch seinen Stil eher zur euphemistischen Verharmlosung als zur Hervorhebung von Schwierigkeiten. Anders als Duden verweist er aber doch ausdrücklich auf Probleme, die bei der Reise und bei der Ansiedlung auftreten können; vor allem aber bemüht er sich, allzu optimistische Vorstellungen über ein idyllisches Leben in der Wildnis zurechtzurücken - sei es, daß er falsche Darstellungen über die Leichtigkeit der Viehzucht zurückweist, oder sei es, daß er übertriebene Erwartungen über den Wildreichtum der Wälder korrigiert.282 Insgesamt ist er bemüht, vor einer Mißachtung der Schwierigkeiten zu warnen. Seine Warnungen ergeben sich aber weniger aus einer kritisch-realistischen Schilderung der Schwierigkeiten selbst; sie werden vielmehr in der Form von didaktischen Belehrungen nachgereicht. So korrigiert er zu große Erwartungen, die er möglicherweise selbst bei seinen Lesern geweckt haben könnte. Wenn er die »übertriebensten Träumereien von einem amerikanischen Farmerleben« kritisiert, die zu der Annahme geführt haben, daß die Farmer »nur ihr Getreide in die Erde zu werfen brauchen und nachher, mit der Flinte auf dem Rücken, im Walde spazieren gehen [...] können«, 283 dann liest sich das wie eine Kritik an Duden, der solche Illusionen genährt hatte.284 Gerstäckers Warnungen sind jedenfalls als direkte Gegenreaktion auf den von Duden propagierten Mythos zu lesen. Da Gerstäcker selbst noch allzusehr der Suggestion dieses Mythos erlegen zu sein scheint, sind seine Vorbehalte nicht mit sehr konkreten Informationen untermauert, aber sie können doch einen Anstoß geben zur Entzauberung des »irdischen Paradieses« Amerika. Jedenfalls betrachtet er es als seine vornehmste Aufgabe, Erwartungen mit Erfahrungen zu konfrontieren - Erfahrungen allerdings, die Gerstäcker eher durch Besichtigung der Lebensbedingungen der Auswanderer als durch eigene Tätigkeit gesammelt hatte: Sein eigenes abenteuerliches Leben in Amerika entsprach in keiner Hinsicht dem des normalen Auswanderers. Das tut der Berechtigung seiner Warnungen indes keinen Abbruch. Schon in der Vorrede seiner Publikation weist er, gleichsam entschuldigend, auf seine desillusionierende Absicht hin: In dem Buch, so erklärt er, wird der Leser »vergebens die glänzenden Schilderungen und Erzählungen des Ueberflusses und Reichthums der dortigen Landbewohner« suchen.285 Bromme bestätigt in der Vorrede zu dem Werk ausdrück282 283 284

285

Gerstäcker, Wie ist es denn nun eigentlich in Amerika? (1849), S. 71f.; S. 120f. Ebd., S. 104. D a ß Gerstäcker, der sich ausfuhrlich mit Auswanderungsproblemen befaßte, Dudens Buch kannte, läßt sich wohl unterstellen; allerdings findet sich zumindest an exponierter Stelle keine Erwähnung. Malers These, daß Gerstäckers Ratgeber »nach dem Beispiel Dudens« abgefaßt sei, ist nicht genügend abgesichert. Die synoptische Gegenüberstellung der Inhaltsverzeichnisse beider Bücher ist nicht beweiskräftig, zumal sie nur die Reise berücksichtigt und die langen theoretischen Passagen in Dudens Buch, für die sich bei Gerstäcker kein Gegenstück findet, ignoriert. Vgl. Maler, Der exotische Roman, S. 81. Gerstäcker, Streif= und Jagdzüge durch die vereinigten Staaten Nordamerika^ (1844) I,S.Xf. 119

lieh, daß es geeignet sei, den »trügerischen Nebel [zu] zerreißen, der mit magischem Schimmer nur mühelosen Genuß und Reichthum jenseits des Oceans vorspiegelt.«286 Diese offensichtlich hartnäckige Illusion zu zerstören, ist das Hauptanliegen Gerstäckers nicht nur in seinem Ratgeber, sondern auch in seinen Reiseberichten und den Amerika-Romanen. Die Quintessenz seiner Warnungen ist einfach: Amerika kann jedem sein Auskommen bieten, wenn er nur bereit ist, fleißig dafür zu arbeiten, sich auf die amerikanischen Verhältnisse einzulassen und vor allem keine zu hohen Erwartungen mit der Folge zu großer Ansprüche zu hegen. Dieser letzte Punkt steht im Zentrum von Gerstäckers Aufklärungsabsicht. Er warnt weniger vor Amerika als vor Deutschland und vor den Illusionen, die es über Amerika hervorbringt. Das Glück, das Amerika bieten kann, ist relativ; es bemißt sich nicht an den Versprechungen eines irdischen Paradieses, sondern an den Verhältnissen in Deutschland, denen die Auswanderer zu entkommen suchen. Die Reise- und Ratgeberliteratur nach Duden, in der Gerstäckers Werk eine exponierte Stelle einnimmt, ist insgesamt um ein realistischeres und abgewogeneres Amerikabild bemüht als dieser; aber der Impuls zur Korrektur falscher Vorstellungen scheint wesentlich von seinem »Bericht« ausgegangen zu sein. Vor allem die zentrale von Duden genährte Illusion wird immer wieder in den Blickpunkt gerückt: Amerika ist nicht das Land des Müßiggangs, sondern das der Arbeit. Daraufläuft auch Gerstäckers Ratgeber hinaus: So wenig aber hier in Europa Einer etwas ohne Mühe und Fleiß erringen kann, so wenig wird der Farmer auch Freude an seinem Felde erleben, der da nur denkt, er brauche bloß zu pflanzen und der liebe Gott würde dann schon so gut sein, das Weitere für ihn zu besorgen.287

Auch die anderen Ratgeber können dem Auswanderer ein auskömmliches Leben versprechen, wenn »Lust zur Arbeit und Scheu vor Müßiggang bei ihm vorhanden ist.«288 Das Bild des Auswandererlebens in der deutschen Literatur der Jahrhundertmitte steht damit im diametralen Gegensatz zu den Vorstellungen, die Duden propagiert hatte.

10. Das Land der Arbeit Daß die Hoffnungen auf das »Paradies« Amerika sich auf die landwirtschaftliche Ansiedlung konzentrierten, ergibt sich schon aus dem Traditionszusammenhang der »Paradies«-Metapher, die mit der Vorstellung vom »Garten Eden« zusammengedacht wurde. Auch in der Auswanderer-Literatur, gleich ob sie die Illusion nährte oder kritisierte, ist eine Fixierung auf den landwirtschaftlichen Aspekt zu konstatieren. Andere Möglichkeiten des Lebensunterhaltes in Ameri286 287 288

Ebd., S. VIII. Gerstäcker, Wie ist es denn nun eigentlich in Amerika? (1849), S. 104. Amerika! (1849), S. 13.

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ka traten dagegen etwas zurück, wurden aber keinesfalls vernachlässigt. Entsprechend der beruflichen Zusammensetzung der deutschen Auswanderungsbewegung waren es neben den Landwirten besonders die Handwerker, deren Erwerbsmöglichkeiten in der Literatur diskutiert wurden. Auch hier geben sich die Ratgeber optimistisch, während fast allen anderen Berufen von einer Auswanderung abgeraten wird: Gelehrte und Künstler, ebenso wie die »bevorrechteten Klassen« - als da sind Politiker, Militärs und Forstbeamte - werden in Amerika ihr Auskommen nicht finden.289 Dem Handwerker kann indes versichert werden, daß sein Beruf »auch in Amerika einen goldnen Boden« hat.290 Die Anziehungskraft des Landes für bestimmte handwerkliche Tätigkeiten ergibt sich aus den Bedürfnissen eines jungen und infrastrukturell unentwickelten Landes. Sie sind meist elementar: Alle »auf Luxus« berechnete Handwerke gedeihen allenfalls in den großen Städten, dagegen sind »Zimmerleute und Bauschreiner, Schmiede, Sattler, Stellmacher und Wagner etc. überall willkommene Leute«.291 Den Auswanderern aus diesen Berufen wird versichert, daß sie »mit der größten Ruhe den Boden der Freiheit betreten können«. 292 Auch wenn sich solche Versprechen auf nüchterne Erwägungen stützen können und weit entfernt sind von der Euphorie eines Duden, wirkt auch hier ein Optimismus nach, der mehr im traditionellen europäischen Amerika-Bild als in der Realität verankert sein dürfte, die der Auswanderer vorfinden wird. Gewiß wird die »Paradies«-Illusion endgültig verabschiedet. Traugott Bromme warnt in seinem Ratgeber ausdrücklich vor falschen Erwartungen; der Anblick des Landes schon, so sagt er den Auswanderern voraus, »verscheucht die Traumbilder, die sie sich vom Paradiese der neuen Welt gemacht« haben.293 Aber ganz zu Anfang seiner umfangreichen Schrift, die sehr viel präziser als etwa Gerstäckers Ratgeber die Bedingungen untersucht, mit denen der Auswanderer zu rechnen haben wird, werden doch wieder - in zurückhaltenden Formulierungen - Versprechungen gemacht, die neue Illusionen nähren: Amerika ist das Land des Schweißes und der Arbeit: Schwere Prüfungsjahre, voller Arbeit und Mühe, hat der Einwanderer daselbst, wie in jedem neuen Lande zu überwinden, und nach jener Zeit erblickt er erst, zwar keinen Reichthum, doch eine ruhige Zukunft vor sich ausgebreitet, und die Zukunft der Seinigen gesichert. 294

Den Warnungen der Ratgeber vor der Härte der Arbeit in Amerika wird der Stachel genommen. Die Einstimmung auf die Mühsal wird versüßt durch das 289

Vgl. Bromme, Hand- und Reisebuch für Auswanderer nach den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika (61849), S. 458-460; Zitat S. 458; entsprechend Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika und Westindien (1848) I, S. 291. 290 Amerika! (1849), S. 14. 291 Ebd., S. 16. Bromme, Hand- und Reisebuch für Auswanderer (61849), S. 435-455, gibt eine alphabetisch geordnete Aufstellung über die Aussichten einzelner Berufe; ebenso Pauer, Die Vereinigten Staaten von N o r d a m e r i k a (1847), S. 76-101 und Rau, in: Amerika. Hoffnung und Sehnsucht, S. 3 8 - 4 5 . 292 Pauer, Die Vereinigten Staaten von N o r d a m e r i k a (1847), S. 73. 293 Bromme, Rathgeber für Auswanderungslustige (1846), S. 252. 294 Ebd., S. 18f. 121

Versprechen, daß jeder in Amerika Arbeit finden werde und daß hier auch »mehr als irgendwo, gute Arbeit ihren gebührenden Lohn« findet.295 Hierin besteht die Anziehungskraft des Kontinents gegenüber den deutschen Verhältnissen: Das aber hat Amerika vor dem alten Vaterlande voraus, und das ist es gerade, was ihm ein so ungeheures Uebergewicht giebt, daß es Fleiß und Arbeit auch im reichlichsten Maße belohnt, und daß Keiner, der nur nicht verschmäht, dem einmal gesteckten Ziel auch mit Thätigkeit entgegenzustreben, zu fürchten braucht, jahrelang in Noth und Sorge dahinzuleben.296

Solche Zusicherungen prägen das Amerika-Bild der deutschen Auswanderung im 19. Jahrhundert; und auf ihnen beruhen die Zukunftshoffnungen der Emigranten. Ganz entgegen den deutschen Verhältnissen wird der amerikanischen Gesellschaft eine soziale Mobilität und ökonomische Offenheit zugeschrieben, die dem einzelnen sein Schicksal in die eigenen Hände legt. Ohne äußerliche Hemmnisse kann jeder seiner Tätigkeit nachgehen; er wird damit allein verantwortlich für seinen wirtschaftlichen Erfolg oder Mißerfolg. Die Ratgeber nähren freilich die Illusion, daß der Erfolg schon programmiert sei. Sie verbreiten einen unerschütterlichen Optimismus in bezug auf die ökonomischen Möglichkeiten des Landes, durch den die Warnungen - ganz ähnlich wie bei Duden weitgehend neutralisiert werden. Ein Scheitern wird nur dann in Betracht gezogen, wenn sich die Emigranten nicht an die von den Ratgebern vorgeschriebenen Regeln halten. Ansonsten aber wird der Erfolg garantiert und durch Beispiele belegt. Gerstäcker liefert in seinem großen Auswandererroman »Nach Amerika!« eine literarische Probe aufs Exempel: Hier nehmen die Dinge ihren versprochenen Verlauf. Wer sich ebenso vorurteilslos wie fleißig auf die amerikanischen Verhältnisse einläßt, dem ist zumindest ein mäßiger Erfolg beschieden, der aber immer noch mehr zu bieten hat, als in Deutschland zu erwarten gewesen wäre. Im noch stärkeren Maße als solche Romane dürften aber reale Beispiele meinungsbildend gewesen sein. Die Biographie prominenter DeutschAmerikaner, die die sprichwörtliche Karrieren vom deutschen Habenichts zum amerikanischen Millionär gemacht haben, ist wohl das geheime Leitbild vieler Amerika-Illusionen. Ziegler flicht in seinen Reisebericht einen kurzen, aber gerade in seiner Prägnanz besonders wirkungskräftigen Hinweis auf die berühmteste dieser Karriere ein: Es handelt sich um das Leben des im badischen Walldorf geborenen Johann Jakob Astor, der 1786 im Alter von 23 Jahren in New York einen Pelzhandel gegründet hatte und bei seinem Tod 1848 als der reichste Mann Amerikas galt: »John Jacob Astor, ein Badenser, landete im J. 1784 als armer Junge in Amerika und ist jetzt Eigenthümer dieses Hotels. Überhaupt aber, nach einer mäßigen Schätzung, eines Vermögens von 25 Millionen Dollars!« 297 Die Kenntnis solch glänzender Erfolge hat zweifellos die Zukunftser-

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Amerika! (1849), S. 1. Gerstäcker, Wie ist es denn nun eigentlich in Amerika? (1849), S. 7. Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika und Westindien (1848) I, S. 18. »Sen-

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Wartungen der Auswanderer beflügelt und den Verlockungen der Literatur einen Zugewinn an Glaubwürdigkeit verschafft - in einer bescheideneren Variante hat sich der Mythos vom deutsch-amerikanischen self-made man in der Figur des »reichen Onkels aus Amerika« sowohl in der fiktionalen Literatur wie in der Wirklichkeit als Leitbild durchgesetzt.298 Erst solche Versprechungen konnten den Auswanderer dazu bewegen, sein Sicherheit gewährendes heimatliches Territorium zu verlassen. So sehr in den Auswanderungsberichten der Aspekt der ersehnten Freiheit und Unabhängigkeit als Auswanderungsgrund in den Vordergrund tritt, so wenig entspricht er mit allen seinen Konsequenzen den tatsächlichen Erwartungen: Der Preis der Unabhängigkeit wäre die Unsicherheit der sozialen Existenz gewesen, wie sie allenfalls - und auch das nur mit großen Einschränkungen - der Abenteurer suchte, aber keinesfalls der normale Auswanderer. Diesen Preis zu zahlen waren die Emigranten nicht bereit; und die Berichte über Amerika suggerierten ihnen die Möglichkeit, Freiheit und soziale Sicherheit miteinander verbinden zu können. Im Bewußtsein der Auswanderer ist die Freiheit nicht »Gegenpol zu Sicherheit, sondern selbst ein >Projekt Sicherheit^ das sich in einem neuen Satisfaktionsterritorium verwirklichen soll, für diejenigen, denen es im alten nicht zuteil wird.«299 Die deutschen Mythen über Amerika versicherten die Möglichkeit einer Verschränkung der beiden diametral entgegengesetzten Begriffe. Deshalb konnten sie ihre Wirksamkeit für die Auswanderung entfalten: Nur das Versprechen des fast sicheren Erfolges bei gleichzeitiger Unabhängigkeit, sei es als Siedler oder sei es im Gewerbeleben, konnte die Auswanderer dazu motivieren, das »Zukunftsterritorium« dem heimatlichen Satisfaktionsterritorium vorzuziehen. Erst dieses mentale Bedürfnis erklärt das oft bei allen Glaubwürdigkeitsbemühungen merkwürdig unrealistisch anmutende Amerika-Bild der Auswandererliteratur und die Bereitschaft ihrer Adressaten, ihm Glauben zu schenken. Allerdings sind derartige Versprechungen und Suggestionen der Auswandererliteratur kaum durch die amerikanische Wirklichkeit gedeckt. Die gängige These von den in Amerika - und nur dort - möglichen »spektakulären Unternehmerkarriere« hält einer historischen Prüfung nicht stand. Auch im 19. Jahrhundert rekrutierte sich - wie in Deutschland - in den Vereinigten Staaten die industrielle Führungsschicht zum weitaus größten Teil aus Großgrundbesitzerund Unternehmerfamilien. 300 Kaum anders verhielt es sich mit dem bescheidenen Anspruch, in Amerika wenigstens immer Arbeit zu gutem Lohn zu finden: Gerstäcker, der einer der eifrigsten Propagandisten dieser Hoffnung war, liefert sationsberichte über Millionäre« in Amerika waren ein beliebtes Thema der deutschen Presse; Thaller, Studien zum europäischen Amerikabild, S. 1055; S. 451. 298 Vgl. zur literarischen Darstellung Jantz, Amerika im deutschen Dichten und Denken, Sp. 356f.; einen Hinweis auf die reale Wirkung dieses Mythos gibt Griesingers Erzählung »Der Reiche Vetter in Amerika«; Griesinger, Emigrantengeschichten (1858) I, S. 1-57. 299 Greverus, Der territoriale Mensch, S. 163. 300 Kaelble, Historische Mobilitätsforschung, S. 114.

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mit seinen eigenen Erfahrungen zugleich die Widerlegung dieser Illusion. Schon in seinem ersten Reisebericht schildert er seine und anderer Schwierigkeiten, in Cincinnati überhaupt Arbeit zu finden: du lieber Gott, wie sah es in Cincinnati aus; alle Wirkhäuser lagen gedrängt voll von Deutschen, die nach Arbeit jammerten und gern >für bloße Kost< an irgendein Geschäft gegangen wären [...], es ging mir selbst nicht besser, und ich machte manchen vergeblichen Weg, um etwas zu verdienen.301

Diese Erfahrungen, die Gerstäcker nur en passant in seine Reiseberichte einfügt, ohne sich seinen Optimismus dadurch trüben zu lassen, werden von anderen bestätigt; Streckfuss sieht in Baltimore an jeder Ecke »große Haufen kräftiger Männer, welche auf Arbeit lauerten, und mich, den so sehr abgemergelten Mann, mochte Niemand«; 302 und schließlich warnt auch Bramme, trotz seiner einleitenden und emphatischen Versicherungen über die Arbeitsmöglichkeit: Auch wird es bei der steigenden Konkurrenz der Arbeitssuchenden mit jedem Jahr schwieriger, ein gutes Unterkommen zu finden, und man muß daher schon deßhalb als ein vorzüglicher Arbeiter sich hervor zu heben bemüht seyn, wenn man dort dauernd Beschäftigung finden will.303

Daß diese ernüchternden Beobachtungen nicht nur von den Lesern, sondern auch von den Ratgebern selbst ignoriert werden, bezeugt die Strahlkraft der Amerika-Hoffnungen in dieser Beziehung, die schließlich die eigene Erfahrung überdecken. Diese Hoffnungen entzündeten sich an einem Stichwort: Die »Gewerbefreiheit« wird als Schlüsselbegriff eingeführt, der alles erklären kann, was Amerika an wirtschaftlichen Fortschritten Deutschland voraus hat und der erst recht ungeheure Erwartungen für die Zukunft rechtfertigt. Die früheren Reisenden nehmen diese amerikanische Eigenart zunächst noch mit Verwunderung zur Kenntnis. Fürstenwärther schreibt von »diesem sondernbaren Lande, wo alle Industrie und Gewerbsthätigkeit unabhängig und frey von aller Einschränkung durch Zünfte, und jeder Einwirkung von Seiten der Regierung ist, und sich von selbst in das Gleichgewicht setzen muß«.304 Die distanzierte Befremdung über den Zustand des Gewerbelebens in Amerika weicht später der euphorischen Erwartung, daß mit der Gewerbefreiheit eine Garantie für die stete Fortentwicklung sowohl des Gemeinwesens wie auch des einzelnen gegeben ist. Von dem allgemeinen Versprechen der »Gewerbefreiheit« dürfte ein entscheidender Impuls auf die deutschen Handwerker und Gewerbetreibenden ausgegangen sein. Offensichtlich war ihnen der Mangel an einer solchen Freiheit der Hauptgrund für ihre mißliche Lage in Deutschland, während Amerika »einen freien ungehinderten Spielraum für ihre Thätigkeit« versprach.305 So ist es nur konsequent, wenn Alexander Lips als ein wichtiges Mittel zur Verhinderung der Aus301

Gerstäcker, Streife und Jagdzüge durch die vereinigten Staaten Nordamerika^ (1844) I, S. 304; vgl. auch ebd., S. 121; S. 140. Streckfuss, Der Auswanderer nach Amerika (1836), S. 32. 303 Bromme, Hand- und Reisebuch für Auswanderungslustige (61849), S. 432. 304 Gagern/Fürstenwärther, Der Deutsche in Nord=Amerika (1818), S. 51. 305 Gerstäcker, Nach Amerika! (1855) III, S. 100. 302

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Wanderung die Einführung der Gewerbe- und Handelsfreiheit in Deutschland anführt. 306 Wenn in der deutschen Auswandererliteratur die »Gewerbefreiheit« und überhaupt die vollkommene Freiheit jeder wirtschaftlichen Betätigung als wesentlicher Grund für das Florieren der amerikanischen Nation angesehen wurde, dann geschah das keinesfalls auf der Grundlage fundierter wirtschaftstheoretischer Überlegungen. Die Schilderung dieser Freiheit war vielmehr stark affektiv besetzt; sie stellte für die Autoren und die Auswanderer ein Faszinosum dar, weil die wirtschaftliche Freiheit offensichtlich in eins gesehen wurde mit persönlicher Freiheit überhaupt. Einem unternehmungslustigen Abenteurer wie Gerstäcker mußte sie als unverzichtbare Grundlage für seine individuelle Entfaltung erscheinen; ihm »bietet die weite Union tausend andere Hülfsquellen dar, durch die ein fleißiger oder unternehmender Mann seinen Unterhalt erwerben, sein Fortkommen sichern kann«; er kann sich stets den erfolgs- und gewinnversprechendsten Erwerbszweig aussuchen, was in Deutschland den »hochachtbaren Zünften ein Gräuel und Aergerniß wäre«.307 Aber nicht nur der Abenteurer, sondern auch der auf eine solide Existenz bedachte einfache Auswanderer, dem Gerstäcker mit seiner Darstellung die Angst vor den Unsicherheiten der Freiheit nehmen will, gerät in den Sog dieser Euphorie. In einem Brief aus Amerika an die in Deutschland zurückgebliebenen Freunde schildert der Emigrant Berger seine Erfahrungen mit der ökonomischen Freiheit und vergleicht ihre Möglichkeiten mit den Verhältnissen im deutschen Handwerk: Heut bin ich reich, morgen habe ich nichts, da sieht mich niemand darum an. Ich fange wieder frisch an, geht es, dann ist es gut, geht es nicht, so ist es wieder gut; nur sage ich Euch, wer jung ist und ein Handwerk kann, der soll seine Fremde (Wanderschaft) hier machen, es werden dann wennige wieder nach Hause gehn um zu betlen, das er Meister wird. 308

Die Unsicherheiten und Gefahren der Freiheit schrecken offensichtlich weniger, als ihre Möglichkeiten reizen. Eine solche Position freilich wird unter den realen Auswanderern nur selten vertreten - soweit die Briefe darüber Aufschluß geben können. Den »Segen der Freiheit« in beruflicher Hinsicht derart herauszustellen,309 setzt eine gewisse Abenteuerlust voraus, die sich bei den sekuritätsbedürftigen Auswanderern kaum einmal findet. So bleibt die Diskussion um die Vorteile der Gewerbefreiheit eine in Deutschland geführte Auseinandersetzung, die die spezifischen Erfahrungen und Probleme der Auswanderer kaum berücksichtigt, sondern sich an theoretischen Gesellschaftsmodellen orientiert. 306

Lips, Ueber die Richtung der Zeit nach Amerika (1829), S. 43. Gerstäcker, Wie ist es denn nun eigentlich in Amerika? (1849), S. 8. 308 Schwarzmaier, Auswandererbriefe aus Nordamerika, S. 368. Die Erläuterung in Klammern stammt vom Herausgeber. 309 »Amerika ist ein freies Land ...«, S. 98 (1863). Zur eher negativ gefärbten Thematisierung der Gewerbefreiheit in den Auswanderer-Romanen vgl. Mikoletzky, Die deutsche Amerika-Auswanderung des 19. Jahrhunderts in zeitgenössischen fiktionalen Literatur, S. 262. 307

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Die Hoffnung der deutschen Theoretiker auf die amerikanische Gewerbefreiheit als dem Heilmittel für alle ökonomischen Probleme mutet auf den ersten Blick plausibel an. Sie scheint eine konsequente Folge der Situation speziell in den handwerklichen Berufen zu sein wie überhaupt ein mentaler Reflex der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland. Die Handwerker-Auswanderung ist wohl in der Tat zunächst durch die schlechten Berufsaussichten der Gesellen wesentlich gefördert worden: Die Übersetzung der Handwerke erschien den Zeitgenossen einerseits als berufsspezifische Folge der allgemeinen Übervölkerung, andererseits als Resultat einer starren Gewerbeordnung, die auf die allgemeinen Tendenzen nicht flexibel reagieren konnte. Einen unmittelbaren Ausweg aus dieser Situation bot für die Betroffenen die Auswanderung.310 Damit konnte für den einzelnen vorweggenommen werden, was in der wirtschaftspolitischen Entwicklung innerhalb Deutschlands sich als längerfristig wirksame Tendenz langsam andeutete: Die Auflösung der alten Handwerksstruktur als Anpassung an neue wirtschaftliche Erfordernisse. Dieser Prozeß vollzog sich bereits - mit großen regionalen Unterschieden - seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts. Mit der juristischen Abschaffung von Zunftprivilegien, mehr noch aber mit ihrer praktischen Mißachtung durch eine großzügige Konzessionierungspolitik seitens der Staatsverwaltung, wurden die Beschränkungen der handwerklichen Entwicklung aufgehoben und damit die Voraussetzung für die Durchsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien geschaffen. Dieser Auflösungsprozeß nahm seinen Ausgang von den französisch besetzten Gebieten des deutschen Westens und von Preußen. Er wurde 1845 in Preußen durch die Allgemeine Gewerbeordnung, 1869 im Norddeutschen Bund und 1871 im Deutschen Reich durch die Fixierung der Gewerbefreiheit auch politisch-juristisch endgültig abgeschlossen.311 Dieser handwerksgeschichtliche Prozeß scheint einherzugehen mit der allgemeinen wirtschaftsgeschichtlichen Entwicklung, die zur Industrialisierung und zur Durchsetzung kapitalistischer Prinzipien drängte. Tatsächlich deutet jedoch die Tatsache, daß sich die Diskussion um die Gewerbefreiheit fast bis zum letzten Viertel des Jahrhunderts hinzog, daraufhin, daß sich die politischen, juristischen und vor allem wirtschaftstheoretischen Diskussionen einer unbeschränkten Entfaltung der kapitalistischen Wirtschaftsweise in Deutschland eher entgegenstellten als daß sie sie förderten. Die Hoffnung der Auswanderer und Auswanderer-Ratgeber auf die amerikanische Gewerbefreiheit mutet in diesem Kontext merkwürdig an, weil sie dem Verlauf der deutschen Diskussion diametral entgegensteht: »Die Masse des Bürgertums gehörte nicht zu den Verfechtern der Gewerbefreiheit, die in Deutschland immer umstritten geblieben ist«.312 310

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312

Vgl. Marschalck, Deutsche Überseewanderung im 19. Jahrhundert, S. 66f.; Hippel, Auswanderung aus Südwestdeutschland, S. 233. Vgl. Borchardt, Die Industrielle Revolution in Deutschland, S. 154; Treue, Gesellschaft, Wirtschaft und Technik Deutschlands im 19. Jahrhundert, S. 98f.; S. 106. Borchardt, Die Industrielle Revolution in Deutschland, S. 154.

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Der Wirtschaftsliberalismus des »laisser-faire« ist auch unter den liberalen Wirtschaftstheoretikern kaum einmal uneingeschränkt akzeptiert worden. Sein Herold Adam Smith wurde zwar rezipiert und diskutiert; aber nach 1815 traten bei den meisten deutschen Nationalökonomen »wieder der Staat und die Gemeininteressen gegenüber dem liberalen und individualistischen Gewinnstreben in den Vordergrund.«313 Die Angst vor den Folgen einer ungehemmten Industrialisierung waren bei Deutschlands Theoretikern immer größer als der Glaube an ihren ökonomischen und staatspolitischen Nutzen; und je weiter sie sich durchsetzte und ihre Begleiterscheinungen ins Bewußtsein drangen, desto lauter wurden auch die Stimmen, die nach Beschränkungen riefen. Symptomatisch für den Verlauf der Diskussion ist der 1846 erschienene Artikel »Eigenthum« im Supplementband des Rotteck-Welckerschen »Staats-Lexikons«. Welcker sieht sich hier genötigt, den zehn Jahre zuvor publizierten Aufsatz Rottecks zu korrigieren: In der Zwischenzeit sind »die Gefahren der stets wachsenden Ungleichheit in den Eigenthumsverhältnissen, wie die Anfeindungen und Angriffe gegen das Eigenthum von Seiten der Besitzlosen und ihrer Anwälte noch weit bedrohlicher geworden«, und er schlägt deshalb eine gerechte Verteilung nach Verdienst und den Ausschluß wucherischer und ungerechter Erwerbungen vor.314 Hier sind die Motive angesprochen, die eine zumindest partielle Abkehr vom klassischen Liberalismus zusehends dringlicher erscheinen ließen: Zum einen die theoretische Einsicht, daß die liberalistische Philosophie ihr Versprechen nicht halten kann, für ökonomische Gerechtigkeit zu sorgen; zum anderen die politische Befürchtung, daß die entstehenden Ungerechtigkeiten ihre gewaltsame Beseitigung provozieren könnten. Tatsächlich wurde diese Gefahr im Laufe der vierziger Jahre immer bedrohlicher, und sie hat die wirtschaftstheoretischen Überlegungen der Zeit wesentlich beeinflußt: Liberalistische Vorstellungen wurden zusehends durch staatsinterventionistische Theorien eingeschränkt.315 Zu Beginn der fünfziger Jahre wies die wirtschaftstheoretische Weiterentwicklung der Problemstellung eindeutig in diese Richtung, da sich endgültig historisch erwiesen hatte, daß die klassischen liberalistischen Vorstellungen und die soziale Realität weit auseinanderklafften. 316 Robert von Mohl gehörte zu den ersten deutschen Wirtschafts- und Gesellschaftstheoretikern, die sich bemüht haben, die sozialen Folgen des ökonomischen Fortschritts zu bedenken und in ihre Theorie einzuarbeiten. In seinem Artikel über das »Gewerbe- und Fabrikwesen« im »Staats-Lexikon« wägt er sorgfaltig das Für und Wider ungehemmter Entwicklung und staatlicher Intervention gegeneinander ab und betrachtet differenziert die verschiedenen Möglichkeiten zum Eingriff in das »Gewerbewesen«. Als »handgreiflich unrecht und 313

Treue, Adam Smith in Deutschland, S. 120. - Zur in diesem Sinne eingeschränkten Rezeption Adam Smiths in Deutschland vgl. auch Krieger, The German Idea of Freedom, S. 27-30 und Schlumbohm, Freiheit, S. 124-127. 3,4 Welcker, (Art.) Eigenthum (1846), S. 211f.; hier S. 211. 315 Sheehan, Liberalismus und Gesellschaft in Deutschland 1815-1848, S. 219. 316 Vgl. Gall, Liberalismus und »bürgerliche Gesellschaft«, S. 177. 127

unrichtig« lehnt er Gewerbevorschriften, Geburtshindernisse und Monopole ab, 317 während er den Zünften ein gewisses Recht zugesteht, weil sie hinreichenden Erwerb sichern. Entscheidend ist jedoch, daß bei Mohl schon ziemlich früh - sein Artikel erschien 1838 - das Vertrauen auf die wohltätigen Folgen eines ungehemmten wirtschaftlichen Fortschritts endgültig gebrochen ist, auch wenn er sich offensichtlich nur sehr zögernd von diesem Glauben lösen kann - wie vor allem seine euphorisch-poetische Darstellung der Umtriebigkeit des Fabrikwesens zeigt.318 Die wirtschaftstheoretischen Probleme in Deutschland vermag auch Mohl nicht zu lösen; aber immerhin stellt er definitiv klar, »daß alle diejenigen, welche das Heilmittel für den Fabrikproletarismus einfach in immer weiterer Ausdehnung der Gewerbefreiheit im Inneren und nach Außen finden, nicht einmal die Frage begreifen, von [!] deren Beantwortung es sich handelt.« 319 Die innerdeutsche Diskussion läuft eindeutig auf einen gemäßigten Staatsdirigismus in der Wirtschaft hinaus. Die Einführung der Gewerbefreiheit wird zum Hauptkritikpunkt auch der liberalen Theoretiker und erst recht der breiten Bevölkerung, die in ihr den Kern aller Übel sah. Sie wurde auch verantwortlich gemacht für den steigenden Konkurrenzdruck seitens der Fabriken; und schließlich führte sie auch zu einer sozialen und mentalen Destabilisierung, weil die »alte handwerkliche Ordnung zerstört wurde. «32° In der Amerikaliteratur findet diese deutsche Diskussion um den wirtschaftlichen Liberalismus kaum einen Widerhall; nur ganz wenige Autoren sehen, daß sie die in Deutschland sich anbahnenden Verhältnisse erst recht in den Vereinigten Staaten unter der Herrschaft eines fast uneingeschränkten wirtschaftlichen »laisser-faire«-Prinzips wieder finden werden. So warnt Witte 1833 den Auswanderer vor übertriebenen Hoffnungen: Obgleich der menschlichen Thätigkeit in den Vereinigten Staaten noch immer ein weites Feld offen steht, so wird doch der Broderwerb, gerade wegen der uneingeschränkten Gewerbefreiheit, und der durch die ungemein starke Einwanderung entstehenden Concurrenz, von Jahr zu Jahr schwieriger.321

Doch solche Warnungen bleiben in der deutschen Amerikaliteratur eine seltene Ausnahme; der einzig bedeutendere Kritiker des amerikanischen Liberalismus ist Ludwig Gall. Er scheint die sozialhistorischen Entwicklungen und die wirtschaftstheoretischen Diskussionen im Deutschland der dreißiger und vierziger Jahre zu ahnen, kann aber schließlich doch nur Lösungen im Sinne eines vorin317 318 319 320

321

Mohl, (Art.) Gewerbe= und Fabrikwesen, S. 782. Vgl. ebd., S. 807f. Ebd., S. 807. Abraham, Der Strukturwandel im Handwerk in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und seine Bedeutung für die Berufserziehung, S. 66; vgl. auch den Kontext, S. 6 4 - 6 6 und S. 51; Treue, Gesellschaft, Wirtschaft und Technik Deutschlands im 19. Jahrhundert, S. 99; Mönckmeier, Die deutsche überseeische Auswanderung, S. 47. Witte, Kurze Schilderung der Vereinigten Staaten von Nord=Amerika (1833), S. 117; eine ähnliche Warnung findet sich bei Streckfuss, Der Auswanderer nach Amerika (1836), S. 115f.

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dustriellen Antikapitalismus bieten. Mit großem Aufwand unterzieht sich Gall der Mühe, »die angestaunte Wohlfahrt der V. St. in ihrem neuesten Zustande« zu untersuchen.322 Er will den Nachweis führen, daß die amerikanische Wirtschaft in einem Niedergang begriffen ist und der allgemeine Eindruck des Reichtums nur auf einer geschickten Täuschung der Amerikaner beruht. Dabei interessieren ihn weniger die Zustände in der amerikanischen Wirtschaft als vielmehr die Gründe, die er für ihren vermeintlichen Niedergang - den er mit ausführlichen Zitaten und Statistiken aus amerikanischen Quellen zu belegen sucht - ausmachen zu können glaubt; und in seiner Argumentation richtet er den Blick ebensosehr auf Deutschland wie auf Amerika. Nach seiner Darstellung ist der Niedergang der amerikanischen Wirtschaft zurückzuführen auf ein allgemeines und für die amerikanischen politischen Verhältnisse symptomatisches Versagen der Regierung, das wiederum auf dem verfehlten Regierungssystem beruht. Die Regierenden sind schuld am Verfall des Landes, denn sie »nährten [.. ] falsche Begriffe von Freiheit und Bürgerpflicht bei dem Volke und umnebelten seine Sinne und den gesunden Menschenverstand mit dem Weihrauchdampf der Schmeichelei«.323 Im besonderen wirft Gall der Regierung vor, die Lenkung der Wirtschaft durch höhere Steuern und durch »Beschränkungen des Handels« vernachlässigt zu haben.324 Mit solchen Einwänden gegen die amerikanische Wirtschaft begibt er sich indirekt wieder auf den Boden der deutschen Auseinandersetzungen über die Frage, ob eine Liberalisierung der Wirtschaft zu deren Aufschwung beitrage oder ihn hemme. Durch das von ihm herbeizitierte Beispiel Amerikas ist für Gall das Problem eindeutig zu entscheiden: Allgemeine Wohlfahrt ist nur zu erreichen durch klare Eingriffe des Staates in das Wirtschaftsleben. Gall erweist sich einerseits als erstaunlich hellsichtig für zukünftige Entwicklungen, wenn er gegen den unbeschränkten Liberalismus zu Felde zieht. Er wirft ihm vor, nur dem Interesse reicher Grundherren und Fabrikbesitzer zu dienen, während zugleich die Verelendung breiter Volksschichten die Folge sein müsse: »O Dank, heißer, glühender Dank, dem väterlichen Könige, im Namen derer, die etwas anders als Schutz der Personen und des Eigenthums vom Staate erwarten, dafür daß euerm Liberalismus die Sorge für das Wohl unserer ärmern Brüder nicht überlassen bleibt!«325 Andererseits jedoch weisen Galls Konzepte zurück ins 18. Jahrhundert; sein Ideal ist der aufgeklärte Monarch, der mit väterlicher Güte für seine Untertanen sorgt, indem er etwa stehende Heere unterhält oder öffentliche Bauten errichten läßt.326 322

Gall, Meine Auswanderung nach den Vereinigten^ Staaten in Nord=Amerika (1822) II, S. 226. Ebd., S. 316f. 324 Ebd., S. 321. 325 Ebd., S. 337. 326 Eine sehr knappe Charakteristik der sozialistischen Vorstellungen Galls gibt Gottschalch, Ideengeschichte des Sozialismus in Deutschland, S. 28f.; Born, (Art.) Gall, Heinrich Ludwig Lambert, S. 44f.; auch für Bom ist Gall der »früheste sozialistische Schriftsteller in Deutschland«, S. 44. 323

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In der Amerikaliteratur des 19. Jahrhunderts haben solche Einwände jedoch fast keinerlei Wirkung gezeitigt; zu überzeugt sind die Autoren der Reiseberichte und Ratgeber ebenso wie die Auswanderer selbst von den Vorzügen der Gewerbefreiheit in Amerika, so daß sie die gegenläufige Diskussion darüber in Deutschland ignorieren. Der Grund für diese merkwürdige Diskrepanz in der Beurteilung des gleichen Problems dürfte zunächst weniger in ökonomischen Theoriemodellen als vielmehr in der sinnlichen Anschauung zu suchen sein. In Deutschland wurde die »Gewerbefreiheit« als Kernpunkt des Übels begriffen, weil ihre Einführung unmittelbar parallel lief zu den sichtbaren sozialen Destabilisierungserscheinungen. Zumindest im Bewußtsein breiterer Bevölkerungsschichten, aber durchaus auch in der nationalökonomischen Diskussion, haben sich diese beiden Phänomene zu einem Kausalnexus verknüpft, der die komplexen Ursachen der sozialen Probleme in einen unmittelbaren und monokausalen Zusammenhang brachte.327 In bezug auf Amerika hat sich dieser Meinungsbildungsprozeß im deutschen Bewußtsein genau umgekehrt vollzogen: Die beiden auffälligsten, weil vom deutschen Erscheinungsbild am deutlichsten abweichenden, Phänomene des amerikanischen Wirtschaftslebens werden ebenfalls in einen kausalen Zusammenhang gebracht: Die Prosperität und die Gewerbefreiheit scheinen einander zu bedingen. Hier wie dort suggeriert die Simplizität einer solchen kausalen Erklärung ihre Evidenz zumindest für das theoretisch ungeschulte Bewußtsein. Sie scheint gestützt zu werden durch den Überzeugungsüberschuß, den die Möglichkeit der unmittelbaren Anschaulichkeit eines einfachen Kausalnexus gegenüber der Schwierigkeit einer theoretischen Rekonstruktion für sich beanspruchen kann, die komplexere wirtschaftliche, soziale, politische, historische und geographische Zusammenhänge in ihre Überlegungen einbeziehen müßte. Die Plausibilität eines solchen einfachen Erklärungsmodells wurde sicherlich unterstützt durch die unterschwellige Wirksamkeit der Wirtschaftstheorie eines Adam Smith, die, wenn sie auch kaum uneingeschränkt anerkannt wurde, dennoch den geheimen oder offenen Bezugspunkt der nationalökonomischen Diskussion bildete. Die deutschen Nationalökonomen verfolgten das gleiche Ziel wie Smith, »nämlich die Prosperität der bürgerlichen Gesellschaft als ganzer«, und insofern konnten sie sich mit einem gewissen Recht als Vertreter der »reinen Lehre Smiths« betrachten.328 Die Theorie Smiths hat sich in Deutschland nicht entfalten können, weil die »Tradition wohlfahrtspolizeilicher Eingriffe« schließlich zum Gedanken eines Interventionsstaates führte. 329 Dennoch wurde ihr Grundgedanke nicht verworfen, sondern nur durch interventionistische Zusätze modifiziert, durch welche die tatsächlichen oder befürchteten Folgen der Industrialisierung aufgefangen werden sollten. Diese auf Deutschland bezogenen Be327 328 329

Vgl. Moore, Ungerechtigkeit, S. 186f. Vgl. Gall/Koch, Einleitung (III), S. XIX. Vgl. ebd., S. XXII; eine ähnliche Zurückdrängung des »Manchester-Liberalismus« hat sich seit der Jahrhundertmitte in England vollzogen, vgl. ebd.

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fürchtungen und die daraus resultierenden Einschränkungen galten nicht mehr, wenn der Blick auf Amerika gerichtet wurde. Hier scheinen sich - unter anderen Voraussetzungen - die Prämissen von Smiths Theorie tatsächlich zu bewahrheiten; das »laisser-faire«-Prinzip und die Prosperität gehen Hand in Hand. Genau das hatte Smith behauptet: Er formulierte die Erwartung, daß bei freier Entfaltung aller wirtschaftlichen Kräfte ein allgemeiner und gerecht verteilter Wohlstand die notwendige Folge sein werde. Die egoistischen Interessen der einzelnen werden von einer »unsichtbaren Hand« gelenkt, so daß sie sich zum Wohl des Ganzen formieren.330 In der amerikanischen Wirklichkeit sind für die deutschen Beobachter die Versprechen der liberalen Philosophie eingelöst: Persönliche und politische Freiheit gehen zwanglos einher mit materiellem Wohlstand; in Amerika bedarf es deshalb nicht jener staatlichen Fürsorge, die in der deutschen Wohlfahrtsstaatstradition den einzelnen vor den Folgen der wirtschaftlichen Freiheit schützen sollte, dafür aber den Preis seiner Entmündigung als Staatsbürger forderte. Für den außenstehenden Betrachter und besonders für den potentiellen Auswanderer, der durch eigene Erfahrungen in Amerika noch nicht ernüchtert worden war, wurde damit das Versprechen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung eingelöst. Die Erklärung legt die unveräußerlichen Rechte des Menschen fest: »Life, Liberty and the pursuit of Happiness.« Die »Virginia Declaration of Rigths« formulierte es noch anders; sie schloß direkt an Locke an, wenn sie Leben, Freiheit und das Recht, Eigentum zu erwerben, zu den unveräußerlichen Rechten zählt. Daß einen Monat später in der Unabhängigkeitserklärung das Eigentumsrecht ersetzt wird durch die Formel »pursuit of Happiness«, ist der Ausdruck des »American Dream«, der das Selbstverständnis der Nation später definierte. Die Formel ist das Versprechen eines Idealzustandes, in dem jeder Amerikaner sein Recht auf »Stillung materieller wie geistiger Bedürfnisse« eingelöst und damit ein »Maximum an Zufriedenheit« gefunden hat.331 Die Ersetzung des prosaischen Eigentumsbegriffs durch den philosophisch schillernden des Glücks, das sich jeder selbst suchen kann, aber auch selbst suchen muß, bringt die utopischen Dimensionen zum Vorschein, die im politischen wie im wirtschaftlichen Liberalismus verborgen sind. Sie sind verantwortlich für die Faszination, die das Amerika des 19. Jahrhunderts auf die deutschen Autoren und ihre auswanderungswilligen Leser ausübte. Ursprünglich hatten sich die Glückserwartungen an die »Paradies«-Metapher und Dudens Versprechen ihrer Realisierung geheftet; aber auch das vermeintlich realistischere Versprechen vom materiellen Wohlstand als der naturwüchsigen Folge eigener Anstrengung auf der Grundlage persönlicher, politischer und wirtschaftlicher Freiheit verzichtet nicht auf den Glanz des großen Wortes: »Happiness«. 330

Auf Smiths berühmter Idee von der »unsichtbaren Hand« - die sich in expliziter Formulierung in seinem Hauptwerk nur beiläufig findet (vgl. Smith, Der Wohlstand der Nationen, S. 371) - basieren die radikal-liberalen Wirtschaftstheorien des W.Jahrhunderts, die sich in Deutschland nie haben durchsetzen können. 331 Boerner, Utopia in der Neuen Welt, S. 367.

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11. Die Macht des Mythos: Optimismus wider Willen Die suggestive Kraft der auf Amerika projizierten Hoffnungen hat eine Faszination hervorgerufen, die sich auch durch widerstreitende Erfahrungen nicht beeindrucken ließ. Der von diesseits des Atlantiks aus auf Amerika gerichtete ideologische Überschuß der Erwartungen läßt der authentischen Wahrnehmung kaum eine Möglichkeit zur Behauptung. Die Absorption der gegenläufigen Erfahrungen durch einen optimistischen Erwartungsdruck ist auch zu beobachten in jenen Amerika-Darstellungen, die halb romanhaft und halb dokumentarisch die Erlebnisse ihrer Autoren verarbeiten. Der Mythos Amerikas schlägt dabei nicht nur die Schriftsteller - wie Gerstäcker - in den Bann, die ohnehin von vornherein optimistisch gestimmt sind, sondern auch die Amerika-Kritiker, deren Intention sich ihnen unter der Hand ins Gegenteil verkehrt. Die Erzählungen Theodor Griesingers sind expressis verbis als Warnung vor Amerika gedacht. Sie wollen erreichen, daß sich von den potentiellen Auswanderern »der Eine oder der Andere die Sache noch einmal« überlegt. 332 Trotz dieser erklärten Skepsis ist der allgemeine Amerika-Optimismus so stark, daß die Erzählungen schließlich wieder in seinen Sog geraten. Griesinger entwirft - unter Berufung auf eigene fünfjährige Erfahrungen - ein literarisches Gemälde, das alle Aspekte des amerikanischen Lebens umfassen soll: Er erzählt ausführlich von den Schwierigkeiten, denen der Einwanderer ausgesetzt ist; und sein Fazit ist eigentlich deutlich: »Deßhalb willst du lieber in Amerika dein Leben machen, als im alten Vaterlande? - Mensch, kehre um, so lange es noch Zeit ist.«333 Dennoch geben die Erzählungen eine Apologie des amerikanischen Lebens. So sehr Griesinger sich bemüht, ein düsteres Bild davon zu entwerfen, so sehr desavouiert der jeweilige Abschluß seiner »Emigrantengeschichten« diese Intention: »Es endet Alles, wie sich's gebührt und gehört: das Unrecht erleidet seine Strafe, das Recht erhält seinen Lohn.« 334 Dieses durchgehende happy ending der Erzählungen ist einerseits dem Systemzwang zuzuschreiben, dem die Trivialliteratur des 19. Jahrhunderts unterliegt; daß dieser Zwang sich aber derart kraß gegen die eigentliche Aussageintention durchzusetzen vermag, liegt andererseits sicher auch an dem Gegenstand »Amerika«: Die Hoffnungen, die sich auf das Land gerichtet haben, lassen sich nicht einfach von einem kritischen Bewußtsein verdrängen. Ganz ähnlich verhält es sich mit den Romanen von Otto Ruppius, die aus einer vergleichbaren Situation heraus entstanden sind. Ruppius gehörte zu jenen deutschen Liberalen, die im Gefolge der Revolution von 1848 Deutschland verlassen mußten und nach Amerika gingen, wo sie das realisieren zu können hofften, was ihnen in Deutschland versagt blieb. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, erfüllten sich diese Hoffnungen nicht; und Otto Ruppius schildert in seinen 332 333 334

Griesinger, Lebende Bilder aus Amerika (1858), S. III. Ebd., S. 221. Griesinger, Emigrantengeschichten (1858) I, S. 389.

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teilweise autobiographisch fundierten Romanen die realen Ursachen dieser Enttäuschung. Wie Griesinger - und anders als etwa Gerstäcker - sucht er die Gründe für das weitgehende Scheitern der deutschen Emigranten in Amerika weniger bei diesen selbst als vielmehr in den amerikanischen Verhältnissen. Im »Lande der Freiheit«, in das der Protagonist Helmstedt des 1857 erschienenen Romans »Der Pedlar« gekommen zu sein glaubt,335 sieht er sich bald der Gefahr des Verhungerns ausgesetzt, weil es ihm einerseits nicht gelingt, eine Arbeit zu finden, und er sich andererseits nicht den amerikanischen Gepflogenheiten anpassen will. Denn diese Gepflogenheiten, das ist der Kern von Ruppius' Amerika-Kritik, bewegen sich hart an der Grenze des Kriminellen, und nur wer sie sich - wie Seifert, das negative Pendant Helmstedts - zu eigen zu machen bereit ist, hat eine Chance zum Uberleben. Ruppius' Amerikabild ist vernichtend. Immer wieder hebt er den Egoismus und Materialismus der Amerikaner, ihren Hang zu unlauteren Geschäften, die Problematik ihres Gerechtigkeitsverständnisses, ihre Bigotterie und die Kulturlosigkeit hervor; Nationaleigenschaften, denen er die Redlichkeit und die Bildung der deutschen Helden seiner Romane entgegenstellt.336 Daß bei dieser Konstellation die amerikanische Karriere der deutschen Helden von vornherein zum Scheitern verurteilt sein muß, ist offensichtlich; und so lassen sich die Romane als - auf die Erfahrung ihres Verfassers gestützte - eindringliche Warnung vor der Auswanderung der Deutschen nach Amerika lesen.337 Tatsächlich sind sie jedoch auch Beleg für die gegenteilige Auffassung. Denn die von vornherein aufs Scheitern angelegte Konfrontation des deutschen Einwanderers mit Amerika nimmt unversehens ein gutes Ende. Damit es dazu kommen kann, bedarf es freilich einer gewaltigen Maschinerie an Zufallen, die von einem deus ex machina im Hintergrund gelenkt werden. Dieses Verfahren führt »Der Pedlar« exemplarisch vor: Nachdem der Protagonist betrogen und beraubt worden ist, wird ihm eine - seinen einzigen Fähigkeiten angemessene Stelle als Klavierlehrer und schließlich sogar als Verwalter einer südlichen Plantage verschafft. Nach allerlei weiteren Verwirrungen gibt es ein doppeltes happy ending: Helmstedt kann nicht nur die - enterbte - Tochter des Plantagenbesitzers heiraten, sondern erbt überdies das Vermächtnis des jüdischen Pedlars, der vorher schon sein Geschick entscheidend zum Positiven gewendet hatte. Die poetische Gerechtigkeit hat gesiegt; aber nicht nur sie, sondern auch das Prinzip »Amerika«, das sich gegen alle Widrigkeiten durchsetzen kann. Der Werdegang Helmstedts in den beiden Romanen »Der Pedlar« und »Das Vermächtnis des Pedlars«, bestätigt, was die deutschen Leser über Amerika zu wissen glaubten 335

336

337

Vgl. Ruppius, Der Pedlar (1857), S. 12; zu Ruppius vgl. auch die Monographie von Graewert, Otto Ruppius und der Amerikaroman im 19. Jahrhundert und die biobibliographische Skizze bei Dobert, Deutsche Demokraten in Amerika, S. 173-176. Barba, Emigration to America reflected in German Fiction, S. 203-205; Ethe, Der transatlantisch-exotische Roman und seine Hauptvertreter in der modernen deutschen Literatur, S. 87; Graewert, Otto Ruppius, S. 50. Vgl. Graewert, Otto Ruppius, S. 51.

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und was Ruppius eigentlich besser wußte: In Amerika finden deutsche Tüchtigkeit und deutsche Ehrlichkeit ihren Lohn, ganz gleich, auf welche Weise sich dieses allgemein anerkannte Prinzip nun im einzelnen durchsetzt. Sicherlich ist eine solche Wirkung von Ruppius nicht beabsichtigt gewesen; daß sie durch die Anlage seiner Romane dennoch möglich wird, spricht für die Widerstandskraft dieses Prinzips. Die poetischen Konstruktionen sind jedoch so gewagt, daß sie in Kritik umschlagen. Die poetische Umständlichkeit oder, bei Griesinger, die gewaltsame Unvermitteltheit, mit der sich das amerikanische Prinzip des - sowohl materiellen wie ideellen - gerechten Lohns in den Romanen und Erzählungen durchsetzt, beweisen zwar einerseits seine Wirkung als Mythos; aber andererseits zeigen sie zugleich, daß dieser Mythos nicht oder nicht mehr real fundiert ist: Die Mühen der poetischen Konstruktion widerlegen die Behauptung seiner faktischen Existenz. Daß der amerikanische Mythos illegitim sei, ist ein Gedanke, der sich in der flktionalen Literatur der Jahrhundertmitte kaum einmal in realitätsanaloger Darstellung durchsetzt. Gewiß gibt es zu dieser Zeit die radikal antiamerikanischen Romane etwa Kürnbergers oder Baudissins, aber auch sie sind nur die negative Spiegelung des Mythos, der gerade in der bemühten Drastik seiner wiederum poetisch konstruierten Widerlegung seinen Geltungsanspruch behaupten kann. Die Euphorie schlägt in eine Idiosynkrasie um, die aber ihren Impuls immer noch aus dem Mythos bezieht. Auf eine eigentümliche naive Weise wird dieser Problemkomplex in den Romanen Möllhausens differenzierter und damit realitätsgerechter behandelt. Sie sind den Romanen Ruppius' und den Erzählungen Griesingers an poetischer Qualität in keiner Weise überlegen. Wie diese bewegen sie sich in der Wahl ihres Stoffes und der Form seiner Gestaltung durchweg im weiten Reich des Trivialen. Möllhausens Romane sehen Amerika fast stets aus einer doppelten Perspektive: Die Handlung pendelt in der Regel zwischen Deutschland und Amerika hin und her. Zunächst hat auch in diesen Romanen der amerikanische Mythos unbestrittene Gültigkeit. In den »Kindern des Sträflings« stellt Möllhausen durchaus konventionell die Gründe dar, die zur Auswanderung nach Amerika führen: Es ist die, aller Arbeitsanstrengung trotzende, desolate materielle Lage der Protagonisten und die Hoffnung auf eine Verbesserung in Amerika, die den Gedanken an die Auswanderung aufkommen läßt: Sie wollen sich ein Stück Land kaufen, »um Gutsbesitzer zu werden oder die Gärtnerei im großen zu betreiben. Steuern sind nicht; so viel Kinder, so viel Arbeiter, und schließlich die Aussicht, daß die Jungen selber Gutsbesitzer werden, und die Mädchen sich an Lords - so hießen drüben die Bauern verheiraten.«338 Die Hoffnungen scheinen nach der Überfahrt aufzugehen; Möllhausen scheut keinen poetischen Aufwand, um die idyllische Farm zu schildern, die die Familie in Amerika gepachtet hat: Weinders Farm lag still. Aus der Ferne tönten die Glocken der heimwärts grasenden Rinder und Pferde herüber [...]. Die junge Hausfrau, die mit dem Zubereiten der länd338

Möllhausen, Die Kinder des Sträflings (1876), S. 90.

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liehen Speisen beschäftigt gewesen war, warfeinen prüfenden Blick auf ihr Werk; einen zweiten Blick sandte sie durch das geräumige Gemach, dessen uralte, sehr einfache Möbeleinrichtung ihm einen wohnlich anheimelnden Charakter verlieh, dann trat sie auf die Veranda hinaus. Dabei verschärfte sich auf ihrem schönen Antlitz der Ausdruck heiterer Zufriedenheit.339

Daß diese Zufriedenheit nicht von ungefähr kommt, sondern wohlverdient ist, belegt schließlich eine Äußerung des Farm-Besitzers, der seine deutschen Pächter charakterisiert: »Dabei arbeiten die Leute wie die Gäule, und eine Rechtschaffenheit besitzen sie, die an Dummheit grenzt.«340 So weit folgt Möllhausen dem normalen Gang der literarischen Dinge. Amerika hat sein Versprechen gehalten, für die Arbeit einen gerechten Lohn auszuzahlen; der Mythos scheint sich durchgesetzt zu haben. Im gleichen Atemzug jedoch widerruft der Roman diesen äußeren Schein: Der so freigebig Lob spendende Farm-Besitzer ist selbst ein Verbrecher übelster Provenienz, dessen Aktivitäten der Roman ausführlich darstellt, wie er überhaupt zum größten Teil aus Schilderungen krimineller Umtriebe vor dem Hintergrund des amerikanischen Bürgerkrieges besteht, gegen die sich die redlichen Deutschen nur mit Mühe behaupten können. Das ist auch in den anderen deutsch-amerikanischen Romanen Möllhausens nicht anders. Bei aller Neigung zur verharmlosenden Idylle sind sie eher auf einen düsteren Grundton gestimmt. Amerika erscheint als das Land, das - auch deutschen - Betrügern und schlimmeren Verbrechern ein weites Betätigungsfeld bietet. Angesichts solcher Zustände mußte die Hoffnung auf Amerika als Irrtum erscheinen. In den »Hyänen des Capitals« wird 1876 das Trügerische dieser Erwartungen ausdrücklich in breiter Darstellung thematisiert: Die »Hyänen des Capitals« sind Aktienbetrüger, die im großen Maßstab Auswanderer nach Amerika locken, die dort entweder elend umkommen oder als Sklaven verkauft werden, wobei die Betrüger selbst »so frei von jeder Besorgniß« sein konnten, »daß ein Gerechter sie um ihren Schlummer hätte beneiden mögen. Beschützte sie doch das Gesetz.«341 Die konventionellen Amerika-Vorstellungen sind umgekehrt: Nicht der redliche und fleißige Auswanderer zieht Gewinn aus Amerika, sondern der gerissene Verbrecher, der aus dem Mythos Kapital schlagen kann. Amerika behält deshalb nicht das letzte Wort in Möllhausens Romanen. Auch wenn die deutschen Protagonisten aufgrund ihrer materiellen oder politischen Situation durchaus gute Gründe zur Auswanderung hatten, so vollzieht sich das gattungsnotwendige happy ending der Romane in der Regel in Deutschland. Anders als Griesinger und Ruppius kann sich Möllhausen nicht entschließen, Amerika zuzugestehen, was der Mythos versprach. Obwohl er durchaus nicht prinzipiell amerikafeindlich eingestellt ist, kann ihn nicht einmal der trivialliterarische Zwang zum guten Ende dazu bewegen, dieses Ende Amerika gutzuschreiben. Selbst in der vergleichsweise kurzen Erzählung »Die Auswandere339 340 341

Ebd., S. 261. Ebd., S. 260. Möllhausen, Die Hyänen des Capitals (1876) II, S. 164f.

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rin« führt er schließlich die Protagonisten etwas abrupt zurück nach Deutschland: Eschweiler, welcher dem Seeleben endgültig entsagt hatte, blieb nur noch vier Monate in New Orleans, wo er in ein kaufmännisches Geschäft eingetreten war. Dann begab er sich eines Tages an Bord eines Seedampfers zur Reise in die alte Heimat, wo Liebe und Versöhnung seiner harrten, sein Glück und das Elisens vervollständigten.342

Möllhausen gibt die alte Vorstellung, daß in Amerika jeder sein Glück machen könne, sicher nicht leichten Herzens preis. Es ist offenkundig, daß auch in seinen Romanen noch viele Reminiszenzen an diesen Mythos wirksam sind. Nicht ohne Grund schließlich sehen seine deutschen Auswanderer in Amerika oft ihre letzte - materielle oder politische - Hoffnung; und es ist auch keineswegs vorausbestimmt, daß diese Hoffnung enttäuscht werden muß. Als einer der Protagonisten in den »Hyänen des Capitals«, der »männlich ernste Gerhard«, endlich das von den Betrügern versprochene Land vor Augen hat, sieht es so aus, als könnte es alle Erwartungen erfüllen: So schön hatte er sich die Wirklichkeit nicht gedacht, wenn er in der Heimat die aus der Ferne gesandten künstlerischen Ansichten ahnungsvoll betrachtete. Wie Trauer schlich es in sein Gemüth ein, wie Trauer, daß ein Unternehmen, wie das der Centrifugalbank, welches sich auf eine so wunderbar reiche Natur stützte, nicht über den ersten Anfang hinausgelangen sollte. Und wie viele, wie unendlich viele Menschen hätten noch Platz gefunden auf der unabsehbaren Niederung mit den stolzen Waldungen, welche so verständlich von einer unerschöpflichen Zeugungskraft des Bodens erzählten!343

Dieser Anblick ruft dann auch gleich eine Vision hervor, die offensichtlich ihre Entstehung den konventionellen Vorstellungen der Auswanderer von Amerika verdankt; er »sieht Gruppen rastender freier Arbeiter und geschäftiger Hausfrauen, welche jenen Speise und Trank reichten«.344 Das hoffnungsfreudige Bild wird jedoch jäh zerstört, als er den Friedhof erblickt, auf dem die dem Fieber oder den Entbehrungen zum Opfer gefallenen Auswanderer begraben liegen. Es ist unverkennbar, daß es Möllhausen schwer fallt, die Hoffnungen der Auswanderer auf Amerika zerstören zu müssen. Aber so vielversprechend das Land an sich auch sein mag, so wenig sind seine sozialen Verhältnisse dazu angetan, die Versprechungen tatsächlich einzulösen. Schon bei ihrer Ankunft werden die Auswanderer von den Einheimischen als »weiße Neger« empfangen Möllhausen hebt in einer Fußnote hervor, daß diese Äußerung »wörtlich dem Leben entnommen« sei345 - und nicht besser als die Sklaven behandelt. Bei Möllhausen erscheint Amerika nicht mehr als der sichere Hort für die Armen und Entrechteten Europas - was diesen dort geschah, wiederholt sich meist in noch extremerer Weise in Amerika. Das hängt sicher wesentlich mit der Entstehungszeit der Romane zusammen, deren erster 1861 erschien. Auch wenn kurz zuvor, um die Mitte der fünfziger Jahre, die deutsche Amerika-Auswande342 343 344 345

Möllhausen, Der Leuchtturm am Michigan und andere Erzählungen (1883), S. 139. Möllhausen, Die Hyänen des Capitals (1876) III, S. 36. Ebd., S. 37. Möllhausen, Der Halbindianer (1861) I, S. 152,

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rang erst ihren absoluten Höhepunkt erreicht hatte und sie auch später noch einmal, zu Beginn der achtziger Jahre, steil ansteigen sollte, so stand doch die deutsche Literatur dem neuen Kontinent zusehends kritischer gegenüber.346 Wenn Möllhausen sich dem amerikafeindlichen Rigorismus Solgers, Baudissins, Kürnbergers und anderer nicht anschließt, dann hat das seinen Grund darin, daß er neben den vielen Schattenseiten auch einige Lichtblicke zu sehen vermag. So düster er das gesellschaftliche Leben vor allem in den großen Städten darstellt, so euphorisch preist er die kaum berührte amerikanische Natur und das einfache Leben der Farmer und Trapper im Westen, das gelegentlich sogar in die Städte hineinreicht.347 Diese natürliche Seite - die Möllhausen dank seiner drei großen Reisen besser kannte als die zivilisierte - dürfte das Land vor seinem endgültigen Verdikt bewahrt haben. Möllhausens Rückgriff auf das Amerika-Bild der Romantik dokumentiert schließlich noch einmal die Macht des Mythos vom »Land der Verheißung«, der sich gegenüber dem besseren Wissen und der authentischen Erfahrung durchsetzt.

346

Auch in der deutschen Presse setzte sich im letzten Jahrhundertdrittel eine zusehends kritischere Darstellung der USA durch, die eine einfache Tradierung des »Paradies«Topos nicht mehr ohne weiteres zuließ; vgl. Thaller, Studien zum europäischen Amerikabild, S. 155. 347 Eine Apologie des natürlichen gegenüber dem zivilisierten Amerika gibt Möllhausen auf den Schlußseiten seines ersten Romans, vgl. Möllhausen, Der Halbindianer (1861) IV, S. 272f. 137

KAPITEL I I

Der Abenteurer: Ordnung und Freiheit

1. Abenteurer in Fiktion u n d Wirklichkeit Daß die Bedürfnisse der Amerika-Auswanderung als einer zuvor in diesen Dimensionen nicht bekannten Massenbewegung das deutsche Amerika-Bild des 19. Jahrhunderts nachhaltig geprägt haben, kann nicht überraschen. Überraschend ist aber, daß sich daneben noch eine ganz andere Vorstellung vom nordamerikanischen Kontinent hat etablieren können, die in fast jeder Hinsicht dem auswanderungsspezifischen Amerika-Bild diametral entgegengesetzt ist. Die Trägerschicht dieser Vorstellung ist schmal; gemessen an der Auswanderungsbewegung ist sie verschwindend klein. Umso erstaunlicher und erklärungsbedürftiger ist der große Einfluß, den sie auf das deutsche Amerika-Bild bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ausgeübt hat. Entworfen und literarisch fixiert wurde dieses Bild von einem Typus des Reisenden, der ebenso wie der Auswanderer auf eine lange Tradition in der Reisegeschichte zurückblicken kann: vom »Abenteurer«. In einer phänomenologisch-deskriptiven Typologie der Reisenden erscheint der Abenteurer in jeder Beziehung als der Widerpart des Auswanderers. Wo dieser nach Statisfaktionsräumen sucht, flieht jener sie; wo dem Auswanderer die eigene Gesellschaft zu unstabil wird, erscheint sie dem Abenteurer als zu erstarrt; wo der Auswanderer in den USA das Land der ökonomischen Sicherheit und emotionalen Geborgenheit sucht, erwartet der Abenteurer Ungebundenheit und Gefahr. Daß sich solchermaßen gegenläufige Reisetypen und Erwartungshaltungen nicht nur zu eigenen Amerika-Bildern kristallisierten, sondern sie auch beide sich höchst erfolgreich im deutschen Bewußtsein des 19. Jahrhunderts haben etablieren können, legt die Vermutung nahe, daß sie gleichursprünglich sein müssen: Im Dualismus dieser Reisekonzeptionen und Amerika-Erwartungen kehrt die Doppelsinnigkeit wieder, die den Modernisierungsprozeß in Deutschland charakterisiert. Das Amerika-Bild des Abenteurers ist weit mehr als das der Auswanderung beeinflußt von literarischen Traditionssträngen, und es hat sich zum guten Teil auch in Werken der fiktionalen Literatur artikuliert. Eine wesentliche Rolle bei seiner Herausarbeitung hat die deutsche Rezeption der Romane Coopers gespielt, die 1824 mit der Übersetzung seiner Romane »The Pioneers« und »The Spy« einsetzte und der deutschen Amerikasehnsucht eine neue Perspektive eröffnete. Gegenüber den beengten biedermeierlich-restaurativen Verhältnissen im Deutschland dieser Zeit mußte Coopers Darstellung eines demokratisch frei138

en und natürlichen Lebens in der Wildnis - so wurden seine Romane in Deutschland, unter Vernachlässigung ihrer gesellschaftskritischen Aspekte, rezipiert - als Ideal erscheinen. Zumindest in der deutschen Literatur hat diese Facette des Amerikabildes weitreichende Folgen gehabt. Der Westen der Pionierzeit und des Goldrauschs konnte der alten Tradition des Abenteuerromans wirklichkeitsnähere Inhalte und damit neue Impulse geben. Er bot einen aus der domestizierten Gesellschaft vermeintlich gänzlich ausgelagerten Raum, in dem sich die alten Ideale des literarischen Abenteurertums neu realisieren ließen.1 Die Entstehung einer eigenständigen deutschen Abenteuerliteratur geht nicht parallel zur Cooper-Rezeption durch das breite Publikum, die ihren Höhepunkt um 1830 erreichte; erst nach der Jahrhundertwende greift eine größere Anzahl von Autoren Coopers Impulse auf und führt sie mehr oder weniger eigenständig weiter.2 Das deutsche Amerika-Bild des späteren 19. und des 20. Jahrhunderts ist durch diese Literatur wesentlich geprägt worden; dabei spielt die Rezeption Karl Mays eine besondere Rolle: Karl May hat in fiktionalen »Reiseerzählungen« die Mythen, Idealisierungen und Stilisierungen entworfen, die die deutsche Vorstellung vom abenteuerlichen Leben im »Wilden Westen« am nachhaltigsten beeinflußten. Die wirkungsträchtige Stilisierung des Abenteurers im Westen, wie sie Cooper mit seinem Natty Bumppo vorgeführt hatte und wie sie die deutschen Autoren von Sealsfield und Gerstäcker, Armand, Möllhausen, Ruppius bis hin zu Pajeken und eben Karl May aufgegriffen hatten, ist mehr ein literarisches Konstrukt als realistische Darstellung des Lebens an der frontier? Hier wurde ein literarischer Mythos geschaffen, der Auskunft gibt über sozialpsychologi1

Vgl. Plischke, Von Cooper bis Karl May, S. 68f.; Ayrenschmalz, Zum Begriff des Abenteuerromans, S. lOOf. Ayrenschmalz' Defmitionsversuch stützt sich im übrigen hauptsächlich auf abenteuerliche Elemente in der »Hochliteratur«; seine umfangreiche »Zeittafel zum Stoffgebiet« (ebd., S. 53-58) erwähnt von den Abenteuerautoren des 19. Jahrhunderts nur Cooper und May, die ansonsten nicht weiter gewürdigt werden. Ähnliche Prioritäten setzt der Artikel von Rehm/Kohlschmidt, (Art.) Abenteuerroman, der ebenfalls nur flüchtig auf die Abenteuerliteratur eingeht. Vgl. S. 3. 2 Zur allgemeinen deutschen Cooper-Rezeption vgl. Rossbacher, Lederstrumpf in Deutschland, S. 20-26; Price, The Reception of United States Literature in Germany, S. 85-90. Zur literarischen Rezeption vgl. Barba, Cooper in Germany, S. 56-72, zur Entstehung einer entsprechenden deutschen Literatur vgl. Ethe, Der transatlantischexotische Roman und seine Hauptvertreter, S. 66-101; Plischke, Von Cooper bis Karl May, bes. S. 38f.; Pleticha, Das Abenteuerbuch im 19. Jahrhundert, S. 48f.; Doerry, Three Versions of America, S. 39-49. 3 Auf der Grundlage breiten dokumentarischen und literarischen Materials hat v. Hentig das Erscheinungsbild und die Verhaltensformen des »Desperados« im amerikanischen Westen zwischen 1850 und 1890 dargestellt. Seine Studie zeigt, daß die Gestalt des Abenteurers von der Realität des »Desperados« weit entfernt ist, auch wenn gewisse Charakterzüge - insbesondere das »Trauma der Allmacht«, wie es die Helden Karl Mays vorführen - sich stilisiert in den Abenteuerromanen wiederfinden, v. Hentig, Der Desperado, bes. S. 175-212. - Zum literarischen Erscheinungsbild des Helden im Wildwest-Roman bis in die Gegenwart vgl. Piwitt, Atavismus und Utopie des »ganzen« Menschen, S. 24-28.

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sehe Bedürfnisse im Deutschland des 19. Jahrhunderts und damit indirekt über die deutsche Wirklichkeit, der aber nichts aussagte über die amerikanische Realität. Insbesondere Karl Mays Amerikabild ist ein Zerrbild; es spiegelt die Situation im wilhelminischen Deutschland - und die biographisch bedingten Obsessionen des Autors - , entbehrt aber ansonsten jeden Realitätsgehalts. 4 Die Darstellung des abenteuerlichen Lebens im amerikanischen Westen bleibt eine Domäne der Literaten; bei nur ganz wenigen Abenteuer-Autoren sind die Reisebeschreibungen in einer entsprechenden Biographie fundiert. Es läßt sich gewiß unterstellen, daß viele deutsche Auswanderer freiwillig oder durch äußere Umstände gezwungen ein Abenteuerdasein auf sich genommen haben, aber sie hinterließen kaum Spuren in der schriftlich dokumentierten Geschichte der Auswanderung oder gar in der Literaturgeschichte. Von den vielen deutschen Amerika-Reisenden, die ihre Erlebnisse publizistisch verwertet haben, sind die wenigsten als Abenteurer im eigentlichen Sinne zu betrachten.5 Zu ihnen gehört ohne Einschränkung wohl nur Friedrich Gerstäcker - und es ist bezeichnend, daß er seine publizistische Karriere einem Zufall verdankte. 6 Daneben ist vor allem noch Balduin Möllhausen zu nennen, der als Teilnehmer von zwei großen amerikanischen Forschungsexpeditionen den Westen intensiv kennenlernte. In den Reiseberichten dieser beiden Autoren läßt sich eine weitgehende Identiät von Biographie und Darstellung unterstellen.7 Das gilt schon nicht mehr im gleichen Maße für Friedrich Armand Strubberg, der offensichtlich in 4

Gegen die an der Tradition Ernst Blochs orientierte Karl-May-Forschung, die Mays Romane als »Schule aufsässigen Denkens« lesen will (Ueding, Glanzvolles Elend, S. 137), sind inzwischen vielfaltige Bedenken erhoben worden. Sie laufen alle auf den Nachweis hinaus, daß sich in den Romanen zwar das bürgerliche Individualitäts- und Leistungsprinzip durchsetzt, sich aber gerade dadurch die Autoritäts- und Subordinationsstrukturen des wilhelminischen Deutschland wiederholen. Vgl. im einzelnen Schulte-Sasse, Karl Mays Amerika-Exotik und deutsche Wirklichkeit, S. 123f.; Schmiedt, Balduin Möllhausen und Karl May, S. 140-142; Märtin, Wunschpotentiale, S. 147; Lindemann, Verdrängte Revolutionen?, S. 34-36; Willenborg, Von deutschen Helden, S. 184f.; Schmiedt, Karl May, S. 151 und 183. - Zur Rezeption Karl Mays bis in die Gegenwart vgl. Frigge, Das erwartbare Abenteuer, S. 150-158. 5 Auch wenn die deutsche Auswanderungsbewegung eher von Sekuritätsbedürfnissen als von Abenteuerlust geprägt war, hat es sicherlich unter den deutschen Auswanderern ebenfalls »Abenteurer« gegeben, über die allerdings aus einsichtigen Gründen kaum schriftliche Zeugnisse vorliegen. Eine »gewisse Abenteuerlust« belegen die Briefe von Michael Probstfeid; vgl. Briefe aus Amerika, S. 218 (Herausgeberkommentar) und die Quellen ebd., S. 222 - 248; daß sich deutsche Auswanderer wie Charles Blümner in »exotisches Gebiet« wagten, ist aber eher die Ausnahme; vgl. ebd., S. 122 (Herausgeberkommentar). 6 Gerstäcker, Streif* und Jagdzüge durch die vereinigten Staaten Nord=Amerikas (1844) I, S. IX. 7 Als einzige einigermaßen verläßliche, wenn auch nicht fehlerfreie Biographie zu Gerstäcker, die sich allerdings nur als Vorstudie und Materialsammlung versteht, liegt vor: Ostwald, Friedrich Gerstäcker; vgl. auch die Bibliographie von Garzmann/Ostwald/ Schuegraf, Gerstäcker-Verzeichnis. - Zu Möllhausen vgl. Barba, Balduin Möllhausen; Brenner, Ein Reisender und Romancier des 19. Jahrhunderts; Gutzmer, Balduin Möllhausen.

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seinen halbdokumentarischen Romanen seine ziemlich undurchsichtige - und bewußt undurchsichtig gehaltene - Biographie literarisch überarbeitet hat;8 und es gilt erst recht nicht für Charles Sealsfield, dessen Leben zwar abenteuerlich genug war, der aber den Westen Amerikas nicht aus eigener Anschauung kannte und deshalb in seinen Abenteuerromanen im größeren Umfang literarische Traditionen und philosophisch-politische Ambitionen höchst eigenwillig verarbeitete.9 Auf diese wenigen Namen beschränkt sich der Kreis der Autoren, die den Typus des Reisenden als »Abenteurer« mehr oder weniger klar repräsentieren. Daneben finden sich freilich in den authentischen oder halbauthentischen Werken einer ganzen Reihe weiterer Autoren biographisch fundierte abenteuerliche Motive, die jedoch meist nicht gezielt in den Vordergrund gestellt und ausgewertet werden.10

2. Die Reiseform des Abenteurers: Fußreise und Zufall Der reisegeschichtliche Typus des Abenteurers ist bestimmt durch die Motivation zur Reise, die Art des Reiseziels und die Wahl der Reiseform. Die drei Komponenten hängen eng zusammen; sie haben ihr gemeinsames Moment darin, daß sie zurückbezogen sind auf die Gesellschaft, aus der der Abenteurer aufbricht. Die Reise des Abenteurers ist zunächst charakterisiert durch die Unbestimmtheit ihres Ziels. Den Abenteurer leiten weder ökonomische noch politische Absichten, sondern nur die Sehnsucht nach einer unbekannten Ferne.11 Alexander von Humboldt, dem dieses Gefühl selbst nicht fremd gewesen ist, schreibt in seinem Vorwort zum zweiten Reisebericht Balduin Möllhausens dem Autor sicherlich zu Recht einen »unbestimmten Hang nach der Ferne« als treibenden Impuls seiner Amerika-Reisen zu.12 Möllhausen bestätigt das, wenn er in einer autobio8

Zu Strubberg vgl. Barba, The Life and Works of Friedrich Armand Strubberg; Sehm, Armand; Sehm: Armand. Vorläufige Bibliographie; sowie Augustin, Frédéric Armand Strubberg. 9 Zu Sealsfield vgl. den monographischen Beitrag von Sengle, Biedermeierzeit III, S. 752-814; S. 1117-1120. Sengle kommentiert auch den Forschungsstreit um den Realitätsgehalt von Sealsfields Schriften ebd., S. 800-805. Zur Sealsfield-Forschung vgl. weiterhin Ritter, Charles Sealsfield/Karl Postl. (Forschungsbericht); Ritter, SealsfieldBibliographie 1966-1975. 10 Wichtige Informationen über viele Abenteuer-Autoren - auch zu den bereits genannten - geben die bibliographisch gut dokumentierten, offensichtlich aber nicht durch eigene Quellenforschungen abgesicherten Kurzbiographien bei Steinbrink, Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts in Deutschland, S. 91-296. Ohne wissenschaftlichen Anspruch sind die monographisch angelegten Beiträge von Beissel, Von Attala bis Winnetou. " Best, Abenteuer - Wonnetraum aus Flucht und Ferne, S. 20. 12 Vgl. Möllhausen, Tagebuch einer Reise vom Mississippi nach den Küsten der Südsee (1858), S. VI.

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graphischen Notiz ebenfalls die »Sehnsucht nach fernen fremden Ländern« als eigentlichen Grund benennt, der ihn auf eine Anstellung als österreichischer Husar verzichten ließ.13 Die Form der abenteuerlichen Reise entspricht dieser Unbestimmtheit des Ziels. Die Suche nach dem abenteuerlichen Leben versteht sich als »Schritt aus der Ordnung, dem Überlieferten, Verbürgten, Festgefügten«;14 die ziel- und zwecklose Reise des Abenteurers bedeutet einen Ausbruch aus der gesellschaftlichen Ordnung. Die Sedimentierung einer »bürgerlichen« Gesellschaft im Gefolge der Aufklärung und die Lust am abenteuerlichen und romantischen Reisen - sei es nun in der Fiktion oder in der Wirklichkeit - sind wechselseitig aufeinander bezogen, wenn auch die eigentlichen Gründe der Abenteuerlust schwer zu entziffern bleiben. Sie sind au fand jedenfalls weder politischer noch ökonomischer Natur, entspringen vielmehr einem allgemeinen Unbehagen an der bürgerlichen Kultur, das sich nicht pauschal in großen Zügen, sondern nur im sozialhistorischen Detail festmachen läßt: Die Gestalt des alltäglichen Lebens im bürgerlichen Deutschland des 19. Jahrhunderts ist hier aussagekräftiger als seine übergreifenden politischen und sozialen Strukturen.15 Das Unbehagen an der bürgerlichen Gesellschaft, das den Abenteurer zum Aufbruch drängt, entzündet sich zunächst an der Immobilität einer Gesellschaft, die das Reisen immer stärker befördert, es zugleich aber in jene touristischen Bahnen lenkt, die ihm jeden innovativen Impuls nehmen.16 Mit der Institutionalisierung des Tourismus bindet die Gesellschaft den Reisenden wieder in ihre Ordnung ein, die er schon verlassen zu haben wähnte; die Entstehung der Reisebüros und die Durchführung von Gesellschaftsreisen ist der signifikanteste Ausdruck dieses Bemühens.17 Diese Form der Domestizierung des Reisens hängt eng mit dem Selbstverständnis einer nachaufklärerischen bürgerlichen Gesellschaft zusammen, welche die Ideen der Aufklärung nur verkürzt in sich aufgenommen hat. Der aufklärerische Rationalismus hatte nicht nur - wie in Frankreich - revolutionäre, sondern auch konservativ-ordnungsstiftende Implikationen. Eine nach rationalistischen Prinzipien regulierte Wirklichkeit ver-

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Möllhausen, (Handschriftlicher Lebenslauf v. 8. 8.1872). Best, Abenteuer - Wonnetraum aus Flucht und Ferne, S. 9. Methodisch vorbildlich für dieses Verfahren ist die Romantik-Studie Pikuliks, die sich auch sachlich in vielen Punkten mit den vorliegenden Untersuchungen berührt. Vgl. Pikulik, Romantik als Ungenügen an der Normalität, S. 27f. Das ist auch die Kernthese von Enzensberger Tourismus-Beitrag, der bis heute der einzige kohärente Versuch geblieben ist, eine »Theorie« des Tourismus zu entwerfen, welche mehr ist als eine bloße Beschreibung des Phänomens; vgl. Enzensberger, Eine Theorie des Tourismus, bes. S. 156. Die ersten europäischen Reiseunternehmen sind Ende des 18. Jahrhunderts entstanden. In Deutschland gibt es solche Institutionen - die aus den Auswanderungsbüros hervorgegangen sind - , seit etwa 1840. Vgl. Fuss, Geschichte der Reisebüros, S. 26f. und S. 43. Eine knappe Darstellung mit interessantem Bildmaterial zum Tourismus des 19. Jahrhunderts gibt Löschburg, S. 143-175. Einen Überblick über die vortouristischen und touristischen Reisen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart geben Prahl/ Steinecke, Der Millionen-Urlaub, S. 135-177.

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sprach Ruhe, Ordnung und Sicherheit18 im politischen wie im alltäglichen Leben der Bürger durch die »planmäßige Ausdehnung des Raums des Vorhersehbaren und Vorherberechenbaren, die Abschaffung des Abenteuers«.19 Eine Philosophie gebliebene Extremform dieser Gesellschaftsauffassung hatte Fichte mit seinem »Geschlossenen Handelsstaat« entwickelt. Es ist kein Zufall, daß in diesem Text noch einmal ein Reiseverbot ausgesprochen wird, wie es vor der Aufklärung üblich war, seit dem 18. Jahrhundert aber in dieser Schärfe auch in theoretischen Kontexten kaum noch einmal formuliert worden sein dürfte: Zu reisen hat aus einem geschlossenen Handelsstaate nur der Gelehrte und der höhere Künstler: der müssigen Neugier und Zerstreuungssucht soll es nicht länger erlaubt sein, ihre Langeweile durch alle Länder herumzutragen.20

Fichtes Reiseverbot hat viele Implikationen, zu denen auch der anti-aristokratische Affekt gegen die Langeweile gehört, der seinen Impuls im bürgerlich-aufklärerischen Arbeitsethos hat; zugleich formuliert Fichte sein Verdikt gegen das Reisen aus dem Geiste eines antiromantischen Ordnungsdenkens heraus. Im Zusammenhang der realgeschichtlichen Entwicklung des Reisens in der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie sich im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert etablierte, kommt Fichtes Reiseverbot das Verdienst zu, klar formuliert und in theoretische Zusammenhänge gestellt zu haben, was in der Realität nur als Tendenz erkennbar war. Gewiß bleibt das strenge Verbot Fichtes nur Theorie. Es ist in einer Gesellschaft, die ihre wesentlichen Impulse gerade durch die - freiwillige oder erzwungene - Mobilität ihrer Mitglieder erhält, schon überholt, als es ausgesprochen wird. Dennoch setzt es sich real durch in der Form der touristischen Domestizierung der Reise: Sie wird nicht verboten, aber in geordnete und gesellschaftlich akzeptierte Bahnen gelenkt.21 Vor diesem Hintergrund ist die Reiseform zu interpretieren, die der Abenteurer wählt. Sein Ausbruchsversuch aus der bürgerlichen Ordnung kann sich nicht darauf beschränken, ihr den Rücken zu kehren. Er muß vielmehr einen Gegentypus entwickeln zur sanktionierten Reiseform, mit der die Gesellschaft den Touristen auch dann noch erfaßt, wenn er sie verlassen zu haben glaubt. Wo der technische Fortschritt bequeme Verkehrsmittel und -Straßen bereitgestellt hat, muß der Abenteurer sich der Beschwerlichkeit unterziehen, auf ungebahnten Wegen sein Fortkommen zu suchen; wo der Weg durch die Standardisierung der 18

Zu diesen Schlagwörtern, an deren Begriffsgeschichte sich die ganze Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft im Deutschland des 19. Jahrhunderts ablesen ließe, vgl. Frühwald, »Ruhe und Ordnung«, S. 116f. Zur bürgerlich-liberalen Umwertung des »Reaktion«-Begriffs nach 1848, in deren Verlauf das »Schreckwort zur Hoffnungsbotschaft« wird, vgl. Kondylis, (Art.) Reaktion, Restauration, S. 204; vgl. auch den Kontext S. 202-205 und Dierse, (Art.) Ordnung III, Sp. 1302f. 19 Alewyn, Die Lust an der Angst, S. 316. 20 Fichte, Der geschlossene Handelsstaat (1800), S. 506. 21 Einen perspektivenreichen, leider viel zu knappen Überblick über die Geschichte des Reisens und die Rolle der »sozialen Zugehörigkeit« der Reisenden gibt Krauss, Reise als »adventure« und Reise als Funktion, S. 7.

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Reiseziele immer stärker vorgeschrieben wird, muß er sich vom Zufall leiten lassen; und wo schließlich der zivilisatorische Fortschritt das Reisen immer sicherer gemacht hat, muß er sich unbekannten Gefahren aussetzen.22 Diese Anforderungen an das unbürgerliche Reisen wurden indes nicht vom Abenteurer formuliert, sondern von der romantischen Theorie des Reisens, die sich freilich nur in der Literatur realisierte. In seinem »Taugenichts« hat Eichendorff das neue Reiseideal beschrieben: ich möchte gar nicht so reisen: Pferde und Kaffe und frischüberzogene Betten, und Nachtmützen und Stiefelknecht vorausbestellt. Das ist just das Schönste, wenn wir so frühmorgens heraustreten, und die Zugvögel hoch über uns fortziehn, daß wir gar nicht wissen, welcher Schornstein heut für uns raucht, und gar nicht voraussehen, was uns bis zum Abend noch für ein besonderes Glück begegnen kann.23

So einfach, wie es sich der Literat Eichendorff - der selbst nur eine nennenswerte Reise innerhalb Deutschlands gemacht hatte - vorstellt, läßt sich in der Realität dieses romantische Programm nicht einlösen. Auch die Amerika-Reisenden, so sehr sie oft von Abenteuerlust inspiriert waren, zogen in der Regel die unter den gegebenen Umständen bequemsten und sichersten Reiseformen und -routen vor, wobei ihnen die rapide Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in den Staaten entgegenkam.24 Der abenteuerdurstige Herzog Paul Wilhelm von Württemberg reist - mit Möllhausen als Begleiter - »in einem leichten, mit zwei Pferden bespannten Wagen« durch die nördlichen Felsengebirge,25 was zu Situationen führt, die trotz des Ernstes der Lage - der Herzog droht bei einer Konfrontation mit den Indianern mit seinem Wagen, den er sich zur Festung eingerichtet hat, in den Fluten des Nebraska zu versinken - nicht ganz frei von Komik sind.26 Andere suchen die Gefahren des Reisens in unbekannte Gegenden zu mindern, indem sie sich wie Möllhausen wissenschaftlichen Expeditionen oder wie Fröbel Handelskarawanen anschließen, deren Ausrüstung gegen alle denkbaren Unsicherheiten so weit wie möglich schützt.27 Schließlich bleibt noch die Benutzung der regulären Verkehrsverbindungen wie Postkutschen, Dampfschiffen und Eisenbahnen, die zwar ihre eigenen Gefahren und Unbequemlichkeiten mit sich brachten, welche aber kalkulierbar blieben. Diese Art des weitge22

Zum Ausbau des Verkehrswesens und der Zivilisierung des Reisens vgl. Kellenbenz, Deutsche Wirtschaftsgeschichte II, S. 108-113. 23 Eichendorff, Aus dem Leben eines Taugenichts (1826), S. 633. Vgl. auch EichendorfT, Dichter und ihre Gesellen (1834), S. 323. Zur Entgegensetzung der »normalen« Fortbewegung, wie sie in der Aufklärung als Reisetypus entwickelt wurde, und des »romantischen« Wanderns vgl. Pikulik, Romantik als Ungenügen an der Normalität, S. 392 bis 404; Pikulik, Das romantische Reisen, S. 10. 24 Die moderne verkehrstechnische Erschließung des Kontinents setzte mit der Einführung der Dampfschiffahrt gegen 1810 ein; um die Jahrhundertmitte werden das »stagecoach«- und das transkontinentale Eisenbahnsystem ausgebaut. Vgl. Mittler, Eroberung eines Kontinents, S. 201 -260. 25 Möllhausen, Reisen in die Felsengebirge Nordamerikas (1861) I, S. 131. 26 Vgl. ebd., S. 132. 27 Vgl. die Beschreibung einer Handelskarawane bei Fröbel, Aus Amerika (1857f.) II, S. 41-44. 144

hend geregelten Reisens freilich ist für manchen Reisenden unbefriedigend, weil sie allzu prosaisch geworden ist: »Die Einführung der Dampfschiffahrt auf dem Flusse wie auf dem See von Nicaragua hat einen Theil des poetischen Charakters dieser Reise beseitigt«, schreibt Fröbel28 und erinnert damit vage an das romantische Programm, das den Sinn der Reise nicht im möglichst schnellen und sicheren Erreichen eines Ziels, sondern eben in ihrem »poetischen Charakter« suchte. Der Reiz der Reise besteht für den Abenteurer in den Unwägbarkeiten, denen er sich aussetzt; er will, wie Armand, in eine »unbekannte Gegend, wo ich die Entfernungen, die Prairien, die Flüsse und Wälder nicht kannte und sicher darauf rechnen mußte, in Lagen zu kommen, wo ich mich auf die Flüchtigkeit meines Pferdes verlassen mußte«.29 Der einzige der unter den Amerika-Reisenden, der dieses romantische ReiseIdeal wortgetreu realisiert, ist Friedrich Gerstäcker. Weniger als alle anderen folgt er auf seinen Streif- und Jagdzügen vorgeplanten Routen, und auch die bescheidenen Bequemlichkeiten der Gastlichkeit in der Wildnis stellen für ihn keine besondere Verlockung dar: Ziemlich zwecklos irrte ich in jener Zeit in den wildesten Strecken umher [...] Wenn es dunkelte, blieb ich dann unter dem ersten besten Baum über Nacht, um am nächsten Morgen meine Wanderung, oder eigentlich meinen Pirschgang, wieder fortzusetzen. Traf ich zu der Zeit ein Haus, desto besser; der Abend verplauderte sich dann leichter; - traf ich keins und es regnete gerade nicht, so verträumte ich die Nacht wie hundert andere.30

Zum einzigen Führer wird bei dieser Art des Reisens der Zufall, dem sich der Wanderer ebenso willig überläßt wie die Protagonisten der romantischen Erzählungen. An die Stelle der Geradlinigkeit des zweckbestimmten Reisens tritt die Freiheit des ziellosen Streifens durch unbekannte Gegenden. Diese Reiseform ist tief in der Mentalität des Abenteurers verankert; sie entspringt weniger einem definitiven Entschluß als vielmehr einer inneren Unentschiedenheit, die ihm die eindeutige Festlegung von Zielen nicht erlaubt: Mein Cours war jetzt gegen Little=Rock gerichtet, was ich aber eigentlich wollte, wußte ich selbst nicht. Ich hatte wohl Lust, New=Orleans wiederzusehen, mochte aber auch nicht gern die Wälder verlassen und wanderte denn auf gut Glück weiter, dem Zufalle das Uebrige vertrauend.31

Dieses Vertrauen auf den Zufall ist nicht nur eine Abweichung von den zivilisierten Gepflogenheiten des Reisens; es ist, wie bei den Romantikern, ein ganz prinzipieller »Ausdruck von Nonkonformität«, 32 der sich einem bürgerlichen Leben entgegenstellt, welches sein ganzes Bestreben daraufhin ausrichtete, gerade den Zufall zu eliminieren durch seine Einbindung in das Berechenbare. 28

Vgl. ebd. I, S. 233. Armand, Amerikanische Jagd- und Reiseabenteuer (1858), S. 40. 30 Gerstäcker, Aus meinem Tagebuch (1863) II, S. 22. 31 Gerstäcker, Streife und Jagdzüge (1844) II, S. 245f. 32 Pikulik, Das romantische Reisen, S. 12.

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Die Nonkonformität wird unterstrichen und gewinnt fast ein gesellschaftskritisches Potential - das Gerstäcker allerdings in keiner Weise reflektiert - durch die Art der gewählten Fortbewegung: Gerstäcker reist »nicht etwa in Schiff oder Wagen, sondern zu Fuß«.33 Die ausdrückliche Betonung dieser Reiseform und ihre Abgrenzung von den anderen Möglichkeiten läßt vermuten, daß Gerstäkker sich zumindest vage der Exzeptionalität seines Entschlusses bewußt gewesen ist. In der Tat war es auch für amerikanische Verhältnisse ausgesprochen ungewöhnlich, daß der Reisende freiwillig zu Fuß ging, auch wenn es beim Standard des amerikanischen Transportwesens ihm leicht passieren konnte, bei einer Postkutschenreise den größten Teil gehen zu müssen.34 Seine eigentliche Bedeutung gewinnt der Entschluß zur Fußreise aber erst vor dem Hintergrund der deutschen Verhältnisse. Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert kristallisiert sich die Fußreise als eine eigene Art der Fortbewegung heraus, die sich mit einem neuen Selbstverständnis des Reisenden verknüpft. Gewiß hat es das Reisen zu Fuß in Ermangelung besserer und billiger Fortbewegungsmittel immer gegeben; es erhält aber dort seine besondere Bedeutung, wo es angesichts der Verbesserung und vor allem der Verbilligung des Transportwesens nicht mehr schlichte soziale Notwendigkeit ist. Von einer Verbilligung des Reisens am Ende des 18. Jahrhunderts ist freilich nur in einem eingeschränkten Sinne zu reden; denn wenn auch die absolut notwendigen Ausgaben für die Benutzung eines Transportmittels im Laufe des 18. Jahrhunderts gesunken sind, so muß man andererseits die »»gesellschaftlichen Mehrkosten standesgemäßen Reisens und angemessener Lebensführung stets als unausweichlichen Kostenfaktor in Rechnung stellen.«35 Für den Reisenden ist die Wahl des Fortbewegungsmittels nicht nur eine Frage der möglichst billigen und schnellen Beförderung zu seinem Ziel, sondern zugleich auch eine Frage seines gesellschaftlichen Status, den er mit dieser Wahl dokumentiert: die Reise mit der gewöhnlichen Postkutsche als der billigsten Gelegenheit noch um die Jahrhundertwende muß sozial deklassierend gewirkt haben. 36 Wenn der Reisende mit der Fußreise sich diesem entwürdigenden Zustand ebenso entzieht wie den »gesellschaftlichen Mehrkosten« standesgemäßen Reisens, dann spricht sich darin ein eigenes Selbstbewußtsein aus. Die Fußreise ist mehr als nur ein Fortbewegungsmittel; sie wird zu einem »Kontrastprogramm«, das sich absetzt von den gesellschaftlichen Gepflogenheiten nicht nur beim Reisen. Als eine eigene, mit ideologischen und theoretischen Prämissen behaftete 33 34 35

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Gerstäcker, Amerikanische WakU und Strombilder (1849) I, S. 2. Vgl. Fröbel, Aus Amerika (1857f.) II, S. 331f. Witthöft, Reiseanleitungen, Reisemodalitäten, Reisekosten im 18. Jahrhundert, S. 47; vgl. auch den Kontext S. 4 5 - 4 7 . Zu den Verkehrsmitteln und den Reisekosten gegen Ende des 18. Jahrhunderts vgl. auch Witthöft, Norddeutsche Reiseliteratur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts als Quelle für die wirtschafts- und sozialgeschichtliche Forschung, S. 2 0 7 - 2 1 2 . Interessante und amüsante Quellenauszüge zur Postkutschenreise finden sich bei Lahnstein, Report einer »guten alten Zeit«, S. 3 9 3 - 4 8 6 .

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Reiseform entwickelte sich die Fußreise bei den deutschen Reisenden der Spätaufklärung. 37 Ihr bekanntester Repräsentant wurde Johann Gottfried Seume mit seinem Reisebericht »Spaziergang nach Syracus«, der sich schon im Titel als Gegentypus zur traditionellen Form der Fortbewegung profiliert. In eingestreuten Reflexionen hebt Seume die politischen, philosophischen und anthropologischen Momente der Fußreise hervor, die auch später dieser Reiseform anhaften werden. Die Fußreise verbürgt die Freiheit des Reisenden, der von nichts als seinen eigenen Füßen abhängig ist. In ihr artikuliert sich der Anspruch des spätaufklärerischen Reisenden auf Unabhängigkeit von jeder Beschränkung;38 sie wird zum Symbol eines Selbstbewußtseins, das sich in jeder Hinsicht gegen die Konventionen in Politik und Gesellschaft auflehnt. Schließlich ist sie auch wahrnehmungstheoretisch bedeutsam: Vieles, was dem vorbeieilenden Kutschenreisenden verborgen bleibt, erschließt sich der Wahrnehmung des Fußreisenden, der weder an Zeitpläne noch an festgelegte Routen gebunden ist.39 Die Muße des Spazierengehens erlaubt ihm, die Dinge je nach Gusto wahrzunehmen oder zu übersehen; sein Blick wird nicht gelenkt und nicht verstellt durch die Zwänge, die dem Postkutschenreisenden auferlegt sind.40 Alle diese wohl erstmals von Seume klar reflektierten Momente zielen auf ein Ergebnis: Die Fußreise erscheint als Befreiung. Mit dieser Einsicht steht Seume nicht allein in seiner Zeit. Nicht nur die jakobinischen Reisenden haben sie geteilt, auch im Umfeld des romantischen Konservativismus finden sich ähnliche Bestrebungen. In seinen Lebenserinnerungen reflektiert Ernst Moritz Arndt über die sozialkritischen wie erkenntnisfördernden Implikationen der Fußreise; die Ähnlichkeit seiner Formulierungen mit denen des Jakobiners Seume ist frappierend: Dem Fußgänger aber gehört die Welt, er ist des Bauers und Bürgers Gleicher, und jeder steht ihm Rede und gewinnt ihm Rede ab, und so wird ihm auch die Lust, durch die Gefühle und Gedanken der Menschen frei durchzuspazieren.41

Bei Seume wie bei Arndt ist der Affekt gegen rationalistische Reglementierungen des Reisens der treibende Impuls für die Wahl der Reiseform. Dieser Affekt kann sich gleichermaßen gegen die feudale Gesellschaft und ihre Reiseform so bei Seume - wie auch gegen die durchrationalisierte bürgerliche Gesellschaft der Nachaufklärung richten. Das Gegenprogramm zur Fußreise der Jakobiner hatte schon die rationalistische Aufklärung des späten 18. Jahrhunderts mit ihrem Protagonisten Nicolai propagiert. Er stellt bereits in der Einleitung seiner 37

Vgl. Frahm, Kulturgeschichte der Fußreise, S. 2. Frahm gibt im übrigen einen notwendigerweise kursorischen, aber gerade wegen seiner Gedrängtheit sehr aufschlußreichen Überblick auf die Entwicklung dieser Reiseform. Zur Funktion der Fußreise im späten 18. Jahrhundert vgl. auch den Forschungsbericht bei Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur, S. 200 und S. 232. 38 Vgl. Seume, Spaziergang nach Syracus im Jahre 1802 (1803), S. 159. 39 Vgl. Seume, Mein Sommer (1806), S. 638. 40 Zu den Aspekten der Fußreise bei Seume vgl. auch Meier, Nachwort, S. 303f. 41 Arndt, Erinnerungen aus dem äußeren Leben (1840), S. 223f.

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berühmt gewordenen Reisebeschreibung einen Schrittzähler vor, der eine genaue Berechnung der Bewegung ermöglicht und damit den Reisenden fest in das rationalistische Programm der Weltbeherrschung einbindet.42 Auch Nicolai geht es um eine kritische Würdigung der beobachteten gesellschaftlichen und politischen Zustände; aber dennoch ist seine Aufklärung eine andere als die Seumes: Wo Seume Konventionen und Normierungen aufsprengen will, ist es Nicolai um deren rationalistische Neubegründung zu tun. Das Ordnungs- und Sicherheitsdenken, das die bürgerliche Mentalität des 19. Jahrhunderts so nachhaltig prägt, konstituiert auch schon Nicolais Reise, die nichts dem Zufall überlassen will. Nach dem kurzen Intermezzo der jakobinischen Fußreisenden und der Wanderer in der romantischen Literatur setzt sich Nicolai wieder durch: Auch die Fußreise erhält, wo sie überhaupt noch auftritt, eine klar umrissene Funktion; ihr revolutionäres Potential wird exstirpiert. Es kann nicht überraschen, daß ein wichtiges Dokument, in dem dieser Prozeß manifestiert wird, von dem konservativen Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl stammt. Im vierten Band seiner »Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik«, dem »Wanderbuch«, das 1869 zuerst erschien, wird ihm die Fußwanderung ganz ähnlich wie Nicolai zum wissenschaftlichen Verfahren der Volkskunde, das sich entsprechenden Reglementierungen unterwerfen muß. Seine Regeln stellt er in einer Zeit auf, in der die Funktionalisierung des Wanderns für verschiedene Zwecke zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist. Die einfache unmotivierte Lust an der Fußwanderung, wie sie Seume und Gerstäcker praktizierten, wird kanalisiert und präzise benennbaren Interessen nutzbar gemacht, unter denen die Volkskunde nur eines ist: Nun könnte man in allerlei Weise das Wandern lehren - je nach dem verschiedenen Wanderzweck. Ein Turner würde zeigen, wie man wandern soll, um frisch und stark und gesund zu werden, ein Poet, wie man ausziehe, um sich die niemals ausgesungene Poesie des Wanderns zu erwandern; ich begnüge mich hier mit einer kurzen und faßlichen Anleitung, wie man wandere, um dem Volk und Land ins Gesicht zu sehen und aus den Augen zu lesen.43

Die Wanderung wird zum kontrollierten Mittel des Erkenntnisgewinns; und damit zum Gegenmodell gegen die sich bewußt dem Zufall anheimgebende Wahrnehmungsform Seumes. Der Zufall wird durch die gründliche Vorbereitung ausgeschaltet; eine Vorbereitung anhand von »geographischen, historischen, statistischen und naturwissenschaftlichen Büchern« ist nötig, »damit wir von vornherein genau wissen, was wir zu sehen und wie wir zu fragen haben.«44 Nur so wird der Reisende Riehls Forderungen gerecht, »daß man bereits mehr von 42

43

44

Vgl. Nicolai, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781 ( 3 1788) I, S. 22. Dazu auch Martens, Ein Bürger auf Reisen, S. 564. Riehl, Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik (1851-1869) IV, S. 4. Zur Verhaftung Riehls in einem konservativen und stabilitätssuchenden Denken, das sich auch in seinen Romanen artikuliert, vgl. Martini, Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848-1898, S. 450f. Riehl, Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik (1851-1869) IV, S. 10.

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des Landes Geschichte und heutigem Zustand wisse, als die große Mehrzahl der gebildeten Einwohner selber weiß. Wer nicht mindestens so viel vorgelernt hat, der macht eine Reise ins Blaue.«45 Wenn Riehl den Untertitel von Tiecks 1835 erschienener Erzählung »Das alte Buch« noch einmal heranzieht, um zu zeigen, gegen wen sich seine »Methode des Wanderstudiums«46 richtet, dann wird dies zur schlagenden Demonstration des Wandels, der sich im Selbstverständnis des deutschen Bürgertums inzwischen vollzogen hat. Obwohl Riehls Gesellschaftsauflassung sich deutlich aus den Quellen der Romantik speist, ist er bemüht, jedes Moment der Unordnung aus ihr auszuschließen; und die unkontrollierte »Reise ins Blaue« wird ihm nachgerade zum Symbol einer Mobilität, die eine empfindliche Störung der von ihm angestrebten harmonischen bürgerlichen Gesellschaftsordnung bedeutet. Für das selbstbewußte Pathos eines Seume, der sich gerade in der vollkommenen Unabhängigkeit als souveräner Bürger erkannte, ist hier kein Platz mehr: Der Bürger definiert sich durch die Einfügung in die gesellschaftliche Ordnung; nicht mehr durch den Ausbruch aus ihr.47 Riehls Idiosynkrasie gegen die unkontrollierte Fußreise ist ein Anachronismus; sie verweist aber zurück auf das revolutionäre Potential, das dieser Reiseform auch im letzten Drittel des Jahrhunderts im Bewußtsein der Bürger noch angehaftet haben muß. Diese Befürchtungen bestanden nicht zu Unrecht. Waren es um die Jahrhundertwende die deutschen Jakobiner, die sich der Fußreise als eines revolutionären Erkenntnismittels bedienten, so waren es in der Zeit des »Vormärz« wiederum Fußreisende, die zu den wichtigsten Trägern der Revolution von 1848 wurden: In den vierziger Jahren stellten die Handwerksgesellen den eigentlichen sozialen Unruheherd in den deutschen Staaten dar; sie waren am sichtbarsten mit der Gefahr einer Depossedierung konfrontiert und daher am empfanglichsten für die revolutionären Ideen der Zeit.48 Ihre soziale Bedrohung wurde zur Drohung für die statistische bürgerliche Gesellschaft, die dieser Gruppe keinen rechten Ort in ihrem Gefüge zuweisen konnte; und sichtbarer Ausdruck dieser Bedrohung war die unkontrollierte Mobilität, die sich aus der zunftmäßigen Wanderschaft der Gesellen ergab. Auch wenn bei den Handwerksgesellen die Fußreise nicht zu einem von vornherein gesellschaftskritisch unterfütterten Programm geworden ist, so mußten sie doch in den Augen des Bürgers - und das nicht ganz ohne Grund - als eine Quelle ständiger latenter Gefahr erscheinen, wie die verschiedenen Versuche seitens der Gesetzgebung zur Einschränkung der Wanderschaft dokumentieren. 49 Vor diesem Hintergrund wird das Unbehagen gegenüber der Fußreise, das sich noch in Riehls Domestizierungsversuchen ausspricht, plausibel, auch wenn 45

Ebd., S. 7. Ebd., S. 4. 47 Vgl. Frahm, Kulturgeschichte der Fußreise, S. 12. 48 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 218f.; Stadelmann, Soziale und politische Geschichte der Revolution von 1848, S. 13f. 49 Vgl. Schieder, Vom Deutschen Bund zum Deutschen Reich, S. 69. Zur Bedeutung der Handwerkerwanderung vgl. Lahnstein, Report einer »guten alten Zeit«, S. 397f.

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es in der Zeit nach der Revolution kaum eine reale Grundlage hatte. Tatsächlich wird die Fußreise im Verlaufe des Jahrhunderts zunehmend harmloser. Hebbels Reise von München nach Hamburg im März 1839 - d i e er ausdrücklich als Fußreise deklariert, obwohl er sich durchaus auch öffentlicher Verkehrsmittel bediente - ist nicht mehr von revolutionären Impulsen inspiriert, sondern nur noch Dokument der Armut des Reisenden, der auf andere Art nicht fortzukommen weiß.50 Schließlich demonstrieren Fontanes Romane am Jahrhundertende - kurz bevor die Wandervogelbewegung die Fußreise erneut als Protestform gegen die bürgerliche Gesellschaft entdeckte51 - , wie sehr sich diese Reiseart in reduzierter Form in das gesellschaftliche Leben integrieren ließ: Die Fußreise wird als Spaziergang zu einem standardisierten gesellschaftlichen Ereignis, in dem sich eine »ausgeprägte Antipathie gegen Ortswechsel, Szenenänderung, ungewisses Reisen« manifestiert.52 Wenn der Bürger die Fußreise von der Peripherie der Gesellschaft in diese hineinholt, indem er ihr bestimmte Funktionen zuweist, hat er ihr ihren potentiell revolutionären Stachel genommen. Nun ist es nicht so, daß die Fußreise immer gleich mit dem direkten Willen zum sozialen oder politischen Protest verknüpft gewesen wäre; das ist nur eine der extremen Realisationen ihrer Möglichkeiten. Aber unabhängig davon, ob sie beim Reisenden Ausdruck eines explizit formulierten Willens ist oder nicht, ist sie Manifestation eines Programms: Der Fußreisende macht Ernst mit dem Individualismus, den die bürgerliche Gesellschaft in ihren Anfangen sich auf die Fahne geschrieben hatte und den sie im Deutschland des 19. Jahrhunderts zugunsten der Einfügung des einzelnen in eine gesicherte staatliche und soziale Ordnung aufgegeben hatte.

3. Die Lust an der G e f a h r Der Individualismus des Fußreisenden im frühen 19. Jahrhundert hat eine Kehrseite. Einerseits sichert er eine weitgehende Freiheit von gesellschaftlichen Bindungen; andererseits bedeutet er zumindest potentiell einen Verzicht auf die sekuritätsstiftenden Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft. Der Fußreisende setzt sich mit Bedacht den oft nicht unbeträchtlichen Gefahren aus, die die Wahl dieser Reiseform nicht nur in exotischen Ländern mit sich bringt.53 50 51 52

53

Vgl. Hebbel, Tagebücher I, S. 530-538. Frahm, Kulturgeschichte der Fußreise, S. 13f. Demetz, Formen des Realismus: Theodor Fontane, S. 101. Vgl. auch Brüggemann, Fontanes Allegorien, S. 494. Zu den Gefahren, die den Reisenden auch in Europa bedrohen konnten, vgl. Rauers, Kulturgeschichte der Gaststätte II, S. 806-844. Den Preis, der für die vollständige Beseitigung solcher Gefahren zu bezahlen wäre, deutet Rauers auch an (S. 818): »Erst die allerneueste Zeit schuf völlige Sicherheit mit schärfstem Durchgreifen« - sein Buch erschien 1941 in Berlin.

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Auch im 19. Jahrhundert hat dieser Aspekt reale Bedeutung, wenn der Reisende sich nicht auf deutschen Straßen zwischen München und Hamburg bewegte, sondern im amerikanischen Urwald. Der Fußreisende setzt sich hierbei, zusätzlich zu den allgemeinen Risiken, mit denen er in dieser Region rechnen muß, auch noch besonderen Gefahren aus. Paul Wilhelm beschreibt die Strapazen, denen er sich ausgesetzt sieht, nachdem er einmal sein Fuhrwerk zurückgelassen und einen einigermaßen »gangbaren Fußpfad« gefunden hat: »Wir stürzten beide ins Wasser, und ich wäre unfehlbar ertrunken, wenn ich nicht das Glück gehabt hätte, noch zu rechter Zeit die ins Wasser ragenden Wurzeln eines Baumes zu fassen«.54 Wenn er auch mit dem Leben davonkommt, so holt er sich immerhin die »Symptome eines heftigen rheumatischen Fibers«,55 die ihn schließlich ein bequemeres Reisemittel wählen lassen - »es wurde daher ein vierrädriger Holzwagen mit zwei Pferden bespannt und so bequem wie möglich für mich eingerichtet.«56 Paul Wilhelm ist bemüht, sich bei seinen Reisen im Westen Amerikas nicht allzusehr von den zivilisatorischen Errungenschaften des Transportwesens zu entfernen; wo immer es angeht, achtet er auf seine Bequemlichkeit: »Ich ließ alle meine Sachen sowie mein Feldbett noch am selben Morgen auf das Fahrzeug bringen und beauftragte meinen Jäger, damit nach St. Charles [...] zu fahren und meine Ankunft dort abzuwarten«.57 Die Route ist ihm damit vorgezeichnet; seine abenteuerlichen und teilweise gefährlichen Ausflüge zu Pferd oder zu Fuß bleiben Episoden. Obwohl der Herzog ein durchaus abenteuerliches Temperament hat, gehört die Suche nach der Gefahr nicht zu den konstituierenden Momenten seines Reiseziels. Der Wissenschaftler gewinnt seine Forschungsergebnisse in exotischen Ländern - Humboldts Besteigung des Chimborazos ist das markanteste Beispiel - zwar oft unter lebensgefahrlichen Umständen; aber sie sind nur notwendiges Übel und bilden nicht das Grundmotiv der Reise. Das gilt erst recht für die Auswanderer, denen nichts ferner liegt als das Bedürfnis nach einem gefährlichen Leben. Geradezu beschwörend beruft der Auswanderungs-Apologet Duden die Sicherheit des Farmerlebens im amerikanischen Westen: Mir ist wohl erinnerlich, welche Bilder in Europa und besonders in Deutschland von dem Aufenthalte im inneren Amerika verbreitet sind. Bald spricht man von schrecklichen Waldbränden, die ganze Länder gefährden sollen; bald von feindlichen Indianern; dann von reißenden Thieren, von giftigen Schlangen, von Scorpionen, Taranteln, Musquiten und anderen Insecten und endlich von einem Heere durch Clima und Boden erzeugter Krankheiten,58

um diese Gefahren dann Punkt für Punkt aufgrund seiner eigenen Erfahrungen zu widerlegen; ebenso wie er gleich zweimal die Sicherheit »vor Dieben und 54

55 56 57 58

Paul Wilhelm von Württemberg, Reise nach dem nördlichen Amerika in den Jahren 1822-1824(1835), S. 216. Ebd., S. 217. Ebd., S. 219. Ebd., S. 214. Duden, Bericht über eine Reise nach den westlichen Staaten Nordamerika's (1829), S. 81f.

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Räubern« in den Vereinigten Staaten betont.59 Auch andere Berichte, wie der Ostermayers, sind bemüht, die entsprechenden Ängste der potentiellen deutschen Auswanderer zu beschwichtigen, die eine »Folge der übertriebenen Berichte in Büchern« seien.60 Solche Beruhigungen des sekuritätsbedürftigen Auswanderers sind notwendig; denn die deutsche Amerika-Literatur hat unter dem Einfluß Coopers ein etwas anderes Bild des Kontinents entworfen, in dem die Gefahren des Lebens in der Wildnis eine zentrale Rolle spielten. Insbesondere die Angst vor Waldund Präriebränden steht dabei - im Gegensatz etwa zu der Angst vor Indianern - im Vordergrund; Leopold Schefer etwa hatte sie in einer Erzählung intensiv geschildert und damit geschürt.61 Aber was den deutschen Bürger und potentiellen Auswanderer schreckt, zieht den Abenteurer gerade an. Duden leugnet die Gefahren; Schefer malt ein düsteres Menetekel der existenziellen Bedrohung des Ansiedlers aus, das metaphysische Dimensionen erhält und zum Symbol der Ohnmacht des Menschen gegenüber den Mächten der Natur wird; dem Abenteurer Möllhausen dagegen wird die Gefahr gleichermaßen zu einer Bewährungsprobe der eigenen Kräfte wie zu einem genußvoll rezipierten Naturschauspiel: der Scenen aber, von welchen der westliche Wind und der Rauch der Höhen erzählen könnten, und die in ihren Eindrücken auf das Gemüth zugleich furchtbar und erhaben, schreckenerregend und bezaubernd sind, gedenkt nur derjenige, welcher das entfesselte Element in seiner ganzen gewaltigen Pracht kennen lernte und, von den wilden Flammen verfolgt, den entsetzlichen Wettlauf um's Leben wagte.62

Solche Gefahren stellen Extreme dar, die in den Werken auch jener Autoren wie eben Möllhausen und Armand die Amerika aus eigener Anschauung kannten, in literarischer Stilisierung wiedergegeben werden; sie gehören aber zur Signatur des abenteuerlichen Lebens, das in der Konfrontation mit der Gefahr seine Bestätigung erfahrt. Gerstäcker hat dieses abenteuerliche Selbstverständnis formuliert. Schon in seinen ersten überlieferten brieflichen Äußerungen über seine Auswanderungspläne hebt er diesen Aspekt hervor: ich bin zu fest - ja was will ich es läugnen auch zu eigensinnig einen mir so lieb gewordenen Plan aufzugeben aus Furcht vor wahrscheinlichen Gefahren, nein gerade das fortwährende Anstreben gegen thierische Kraft ist es was einen ungemeinen Reiz für mich hat.63

Dieses Bedürfnis nach Gefahr ist ein zentrales Moment des abenteuerlichen Lebens; in ihm manifestiert sich die entschiedenste Abwendung der bürgerlichen 59 60 61 62

63

Ebd., S. 32; S. 81. Ostermayer, Tagebuch einer Reise nach Texas (1850), S. 66. Vgl. Schefer, Der Waldbrand (1845), S. 1-72. Möllhausen, Der Prairiebrand (1860), S. 571. Eine entsprechende Schilderung eines Präiriebrandes gibt auch Armand, Amerikanische Jagd- und Reiseabenteuer (1858), S. 147-150. Gerstäcker, Mein lieber Herzensfreund!, S. 18.

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Mentalität der Zeit. Wie sich der Wanderer zu Fuß schon durch die Wahl dieser vom Zufall bestimmten Reiseform absetzt von den Ordnungsvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft, so ist seine Bereitschaft, sich der Gefahr freiwillig auszusetzen, die endgültige Überschreitung der Grenze, die sein Leben von dem der Zivilisation trennt. Die Konfrontation mit der Gefahr bedeutet deshalb die Erfüllung der abenteuerlichen Existenz, weil sie ernst macht mit der Ablehnung des bürgerlichen Sekuritätsdenkens. Gewiß gehört die Bereitschaft zum Risiko zu den Konstituenzien der bürgerlichen Gesellschaft seit ihren Anfängen; im 15. Jahrhundert kann der Begriff des »Abenteurers«, der sich von der höfischen Sphäre gelöst hat, gar zur Berufsbezeichnung für den Kaufmann werden.64 Das abenteuerliche Element im bürgerlichen Handelsleben wird indes im Laufe der Entwicklung zusehends zurückgedrängt; der Bürger versucht, das Risiko berechenbar zu machen und sein »Leben unter möglichstem Ausschluß alles Unbekannten zu regeln.«65 Während der Bürger sein Risiko sorgfältig abwägt und es durch genaue Kalkulation in den Griff zu bekommen versucht, bewährt der Abenteurer seine Existenz gerade durch den Verzicht auf solche Rückversicherungen.66 Der Abenteurer unterscheidet sich vom Bürger, weil er seine ganz persönliche Existenz aufs Spiel zu setzen bereit ist, während der Bürger nur seine ökonomische Existenz - und das auch nur nach sorgfaltiger Abwägung - in die Wagschale wirft.67 Mit dieser Bereitschaft unterscheidet sich der Abenteurer aber auch zugleich vom Romantiker: Der Romantiker strebt nicht ernsthaft eine Überwindung der rationalistischen Ordnungskategorien des bürgerlichen Lebens an, in denen er sich genauso geborgen weiß wie der Bürger selbst.68 Seine Ablehnung der bürgerlichen Ordnung bleibt ein literarisches - oder auch ein gesellschaftliches - Spiel, das die Erscheinungsformen des romantischen Lebens prägt, nicht aber seine Existenz vollkommen bestimmt: Die »Romantisierung der Welt« ist kein wirkliches, sondern nur ein »poetisches Abenteuer«.69 64

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Vgl. Welzig, Der Wandel des Abenteurertums, S. 439. Ausführlich hat diese Verbürgerlichung des Abenteuers rekonstruiert Neriich, Kritik der Abenteuer-Ideologie, S. 86 bis 89, passim; Nerlich, Zur Begriffsgeschichte von »Abenteuer«, S. 165f. Groethuysen, Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich II, S. 103; vgl. auch den Kontext S. 9 9 - 1 0 4 . Zur Ambivalenz der kapitalistischen Mentalität, die gleichermaßen kalkulierendes Denken wie »Wagemut und Risiko« erfordert, vgl. Mannheim, Konservatismus, S. 88. Simmel, Das Abenteuer, S. 18. Auch Ayrenschmalz sieht das Spiel mit dem Leben als eines der wesentlichen Elemente des literarischen Abenteurertums; er verfolgt es indes nicht am Abenteuer-, sondern am Kriegsroman der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts. Vgl. Ayrenschmalz, Zum Begriff des Abenteuerromans, S. 33. Zur Romantik als einem »Produkt bürgerlicher Sekurität« vgl. Schmitt, Politische Romantik, S. 141. Pikulik, Romantik als Ungenügen an der Normalität, S. 106. Alewyn, Die Lust an der Angst, S. 219. Zur »Spielqualität« von Empfindsamkeit und Romantik vgl. auch Huizinga, H o m o Ludens, S. 180-183; zur Todessehnsucht der Romantik und ihren realen Hintergründen vgl. Brunschwig, Gesellschaft und Romantik in Preußen im 18. Jahrhundert, S. 341 f.

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Erst beim Abenteurer, der sich der Gefahr real stellt, die die Romantiker nur literarisch heraufbeschwören, wird aus diesem Spiel Ernst. Der Abenteurer sucht vielleicht nicht direkt die Gefahr; aber er »wirft sich ins Unbekannte, läßt es darauf ankommen.« 70 Dieses Bewußtsein der ständigen Bedrohung begleitet auch den Abenteurer, der sich in die amerikanische Wildnis hineinwagt. Freilich läßt sich hier ein signifikanter Unterschied zwischen fiktionalen und authentischen Darstellungen feststellen. In den Romanen wird das gefährliche Abenteuer zum konstituierenden Moment der Darstellung. Armands »Amerikanische Jagd- und Reiseabenteuer« - die trotz ihres realen biographischen Hintergrunds doch mehr der fiktionalen als der authentischen Reiseliteratur zuzurechnen sein dürften - sind eine einzige Kette von sich einander überschlagenden gefahrlichen Auseinandersetzungen mit der Natur und den Indianern; und erst Karl May gelingt es, Armand in dieser Beziehung nochmals zu überbieten. In der authentischen Reiseliteratur tritt dieser Aspekt der abenteuerlichen Reise jedoch auf eine auffällige Weise zurück. Die Reisenden müssen gewiß mit dem Bewußtsein leben, daß ihnen ständige Gefahr droht; an diese Bedrohung wird oft genug erinnert. Möllhausen, der mit einer großen Expedition reist, sieht Anlaß zur Vorsicht gegeben, wenn er die Anzeichen der drohenden Gefahr vorfindet: hier wurden wir durch unsere Maulthiere von der Nähe der Eingeborenen auf so untrügliche Weise in Kenntniss gesetzt, dass wir auf deren Warnung umkehrten und vielleicht dadurch der Gefahr eines Hinterhaltes entgingen, der uns aus jeder Spalte, aus jeder Höhle drohen konnte. 7 '

Der Romancier - auch der Romanautor Möllhausen - ließe sich nun nicht die Gelegenheit entgehen, aus dieser potentiellen Gefahr eine aktuelle zu machen, in der sich der Romanheld bewähren könnte. Der reale Abenteurer indes sucht die Gefahr nicht in der gleichen Weise wie der fiktionale; er stellt sich ihr, wenn er mit ihr konfrontiert wird, aber er weicht ihr aus, soweit es im irgend möglich ist. Der einzige unter den Reiseschriftstellern, der wirklich den Anspruch erheben kann, romanhafte Abenteuer erlebt zu haben, ist Möllhausen, der auf seiner ersten Reise mit dem Herzog Paul Wilhelm »manches böse Abenteuer mit den Indianern zu bestehen« hatte, »die uns auf alle mögliche Weise belästigten, ausplünderten und was das schlimmste war, eines unserer Pferde durch einen wüthenden Tomahawkhieb in den Kopf töteten.«72 Schließlich trifft Möllhausen nachdem der Herzog von einer vorbeifahrenden Postkutsche mitgenommen worden war - »das unglückliche Loos, in der winterlichen Wildniss in der schrecklichsten Lage allein zurückzubleiben.«73 Jetzt erlebt - und beschreibt er alles, was sonst den fiktionalen Helden der Abenteuerromane vorbehalten 70 71

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Vgl. Lipps, Die menschliche Natur, S. 121. Möllhausen, Tagebuch einer Reise vom Mississippi nach den Küsten der Südsee (1858), S. 358. Ebd., S. 75. Ebd., S. 76.

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bleibt: Er entgeht knapp dem Hunger- und Frosttod, hat tödliche Kämpfe mit Indianern zu bestehen und wird schließlich von einem anderen Indianerstamm gerettet, bei dem er einige Monate verbringt.74 Ansonsten verlaufen die beiden Expeditions-Reisen, die Möllhausen in seinen großen Reiseberichten schildert, von einigen verkehrsbedingten Situationen und kleineren meist nur verbalen Konfrontationen mit Indianern75 und der Ermordung eines Expeditionsmitgliedes durch die Eingeborenen76 erstaunlich wenig gefahrlich.77 Das gilt in gleicher Weise für Gerstäcker, obwohl dieser sich bei seinen Jagdund Streifzügen nicht im einigermaßen sicheren Geleit einer Expedition befindet. Neben den obligaten Krankheiten und Unfällen gibt es auch in seinen Reiseberichten nur eine Art des lebensbedrohlichen Abenteuers: Die Bärenjagd. Der Bär gehört unstreitig zur edelsten und dabei auch einträglichsten Jagd Amerika's, und ist der Kampf mit ihm auch manchmal gefährlich, nun so verleiht das der Sache ja auch wieder ein so viel frischeres, gewaltigeres Interesse; denn das arme Wild zu erlegen, welches sich nicht widersetzen kann, selbst wenn es wollte, und nur in der Flucht sein Heil suchen muß, nun ja, es ist auch schön und der den Männern angeborene Zerstörungsgeist macht es schon anziehend für uns; mir fehlte aber immer etwas bei jener Jagd, es kam mir stets vor, als ob es doch nicht das Rechte sei, nach dem ich mich gesehnt hätte, bis ich das erste Mal 'Fuß an Fuß' mit einem der alten, schwarzen Burschen stand, und nun auch wußte, ich trüge das große Messer nicht bloß zum Staate an der Seite.78

Das ist eine der wenigen Stellen in der authentischen Reiseliteratur, in denen der Abenteurer die ausdrücklich gesuchte Konfrontation mit der lebensbedrohenden Gefahr als Bestätigung der eigenen Existenz auffaßt. Der Kampf mit dem Bäreö wird zur Bewährungsprobe, in der sich das Selbstbewußtsein und die Souveränität des Reisenden gegenüber der Gefahr bestätigen kann: »Ich hatte meine ganze Ruhe wiedererlangt, denn ich wußte, er oder ich mußte das Opfer des Kampfes sein.«79 Ein solcher Kampf mit dem Bären ist gewiß gefahrlich genug - und Gerstäcker schildert an anderer Stelle auch eine Bärenjagd mit tödlichem Ausgang für den Jäger80 aber dennoch trägt Gerstäckers Darstellung der Bärenjagd deutliche Züge einer Stilisierung; die Bärenjagd wird zum Duell, 74

Daß diese Erzählungen - zumindest in ihren größeren Umrissen - keine romaneske Erfindung oder Übertreibung Möllhausens ist, geht aus einem Brief hervor, den der Herzog nach Möllhausens Heimkehr schreibt. Der Herzog zeigt sich erstaunt darüber, daß Möllhausen noch lebt. Vgl. Barba, Balduin Möllhausen, S. 158f. 75 Vgl. Möllhausen, Tagebuch einer Reise vom Mississippi nach den Küsten der Südsee (1858), S. 391 f. 76 Ebd., S. 423-425. 77 Die normalen Auswanderer wurden noch weniger mit den vermeintlichen Gefahren der Wildnis konfrontiert; zu den seltenen brieflichen Zeugnissen gehört der Briefwechsel von Charles Blümner, der selbst erlebte Begebenheiten aus den Jahren 1838 und 1841 schildert, bei denen deutsche Auswanderer von Indianern umgebracht wurden; vgl. Briefe aus Amerika, S. 103 und 109. - Zur Thematisierung der Indianerkämpfe in der deutschen Presse vgl. Thaller, Studien zum europäischen Amerikabild, S. 55f. 78 Gerstäcker, Amerikanische Wald= und Strombilder (1849) I, S. 40. 79 Gerstäcker, Streife und Jagdzüge (1844) I, S. 153. 80 Vgl. ebd., II, S. 276f.

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in dem der Abenteurer im Kampf mit einem gleichwertigen Gegner seine Persönlichkeit beweisen kann. In der Schilderung zeigen sich die Spuren jener Erwartungen, die Gerstäcker vor seiner Auswanderung formulierte, als er in seinem Brief an Schultz von dem Reiz sprach, den das »fortwährende Anstreben gegen thierische Kraft« auf ihn ausübe. Diese Erwartung und der Mythos von der durch den einzelnen zu überwindenden Gefahr prägen die Wiedergabe des Bärenkampfes gewiß ebenso wie die Erfahrung der Wirklichkeit selbst. In der späteren, von ihm selbst überarbeiteten Fassung der »Streif- und Jagdzüge« gibt Gerstäcker eine deutlich moderatere Schilderung des gleichen Erlebnisses; die stilisierenden Elemente, insbesondere die Formel »er oder ich mußte das Opfer des Kampfes sein«, fehlen ebenso wie die Betonung der Gefährlichkeit dieser Situation durch die abschließende Bemerkung, »daß ich noch Gott danken konnte, so leichten Kaufs davon gekommen zu sein.«81 Aus der Rückschau und im Lichte späterer Reiseerfahrungen ist Gerstäcker in der Lage, die Gefährlichkeit seines ersten selbständigen Bärenabenteuers zu relativieren. Ganz im Gegensatz dazu zeigen die Reiseberichte und vor allem die Romane jener Autoren, die selbst keine Bärenjagd erlebt haben, eine Neigung zur mythisierenden Überhöhung ihrer Schilderung, wobei die Legenden die Wirklichkeit zu überwuchern drohen. Auch Möllhausen sieht das ähnlich nüchtern. In seinen eigenen Erlebnissen kann er kein Bärenabenteuer aufweisen, aber sein Reisebericht käme ihm wohl unvollkommen vor, wenn er nicht wenigstens ein solches Abenteuer in der Erzählung eines anderen Reiseteilnehmers einfügen würde.82 Es fehlte - so schreibt er leicht ironisch nach der Besichtigung einer Gipsgrotte - »um der Unterhaltung die Krone aufzusetzen, eine unterirdische Bärenjagd in den dunklen Räumen.«83 Bei den Romanautoren werden dagegen alle ironischen und sachlich-zoologischen Relativierungen der Gefahren bei der Bärenjagd beiseite gelassen, so daß nur noch die heroische Komponente übrigbleibt.84 Insbesondere Karl May stilisierte das Erlebnis, das er nie gehabt hat, zum großen Ritual, in dem der Romanheld seine vollkommene Überlegenheit über die Mächte der Natur demonstrieren kann, welche im Bären eine mythische, aber zugleich auch eine anthropomorphe Gestalt erhalten. Aber nicht erst Karl May entwirft mit seinen Schilderungen des abenteuerlichen Lebens ein Gegenbild zur bürgerlichen Gesellschaft seiner wilhelminischen Zeit - das freilich nicht nur Gegen-, sondern auch Spiegelbild verborgener gesellschaftlicher Tendenzen und Ängste ist - ; auch für die realen Abenteurer ist die Lust an der Gefahr die höchste Steigerung seines Ausbruchsversuchs aus der gesicherten Ordnung. 81

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Ebd., I, S. 154. Die entsprechende Schilderung findet sich in der 8. Aufl. (die der 3., neubearb. Aufl. folgt), S. 128f. Vgl. Möllhausen, Tagebuch einer Reise vom Mississippi nach den Küsten der Südsee (1858), S. lOlf. Ebd., S. 101. Vielleicht ist das eine Anspielung auf eine solche Jagd bei Gerstäcker, Streif= und Jagdzüge (1844) II, S. 190-198. Vgl. auch die Belege bei Steinbrink, Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts in Deutschland, S. 4 7 - 4 9 .

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4. Politik und Gesellschaft: Die »Philister«-Kritik des Abenteurers Die Sicherheit der gesellschaftlichen Ordnung ließ sich für den deutschen Bürger des früheren 19. Jahrhunderts auf verschiedenen Ebenen erfahren. Was Fichte in seinem »Geschlossenen Handelsstaat« philosophisch-theoretisch ausformuliert und auf die Spitze getrieben hatte und was die Apologeten der Restauration und Reaktion mit der Formel von »Ruhe und Ordnung« auf den Begriff brachten, manifestiert sich im Alltagsleben auf vielerlei Weise. Diese Tendenzen werden konkret erfahrbar in den Erscheinungen politischer Repression des Obrigkeitsstaates wie auch in der konventionalisierten Normalität des bürgerlichen Berufs- und Privatlebens. In der Idiosynkrasie gegen das Alltagsleben werden die Motivationen greifbar, die den Aufbruchsimpuls des Abenteurers bestimmen. Diese Motivation teilt er mit den literarischen Werken der Romantik. Es ist kein Zufall, daß der Bezug zu Eichendorffs »Taugenichts« eines der Leitmotive von Gerstäckers Leben bildet. Nicht nur in seinem ersten Reisebericht finden sich deutliche Hinweise darauf, daß er in Eichendorffs 1826 erschienener Erzählung einen Spiegel - und vielleicht auch ein Vorbild - seiner eigenen Biographie gefunden hat. Zwei Jahre vor seinem Tode stellt er sein ganzes Leben in einem autobiographischen Rückblick unter ein Motto aus eben diesem spätromantischen Grundtext: Das Lied, mit dem Eichendorffs Taugenichts seine Wanderung beginnt, schließt die Lebensbeschreibung Gerstäckers ab.85 Das Lebensgefühl, das Gerstäckers frühe Reiseberichte und Eichendorffs Erzählung verbindet, manifestiert sich vor allem in der Aufbruchsstimmung zum Reisebeginn: Gerstäcker wie Eichendorffs Taugenichts verlassen die Welt des bürgerlichen Lebens, das durch die arbeitsame Sorge für das tägliche Brot gekennzeichnet ist: Ich hatte recht meine heimliche Freude, als ich da alle meine alten Bekannten und Kameraden rechts und links, wie gestern und vorgestern und immerdar, zur Arbeit hinausziehen, graben und pflügen sah, während ich so in die freie Welt hinausstrich. [...] Mir war es wie ein ewiger Sonntag im Gemüte.86

Das Leben in der freien Welt wird ausdrücklich als Gegenbild zur prosaischen Wirklichkeit des bürgerlichen Lebens begriffen; es stellt eine ständige Verlockung dar, der der Wanderlustige schließlich nicht widerstehen kann. Als Gerstäcker wieder einmal in die Wildnis hinauszieht, beruft er sich auf einen Geistesverwandten des Taugenichts, Jean Pauls Schulmeisterlein Wutz, der mit seiner »Kunst stets fröhlich zu sein« sich ebenfalls einen ewigen Sonntag im Gemüt zu verschaffen wußte: »doch am Sonnabend Morgens zog ich, genesen und jubelnd, bei'm schönsten Wetter wieder hinaus in die liebe, herrliche Gotteswelt und hatte, wie das vergnügte Schulmeisterlein Wuz, Mitleiden mit den Leuten in allen Gassen, daß sie da bleiben mußten.«87 Auch wenn der literarische Gewährsmann hier Jean Paul statt Eichendorff ist, kann die Nähe zur entsprechen85 86 87

Vgl. Gerstäcker, Meine Selbstbiographie zu einem Bilde in der Gartenlaube, S. 7. Eichendorff, Aus dem Leben eines Taugenichts (1826), S. 565. Gerstäcker, Streif= und Jagdzüge (1844) I, S. 77. 157

den Situation im »Taugenichts« nicht übersehen werden; fast scheint es so, als habe sich die Erinnerung an die literarische Vorlage noch vor die reale Erfahrung geschoben oder diese sogar geprägt. Unverkennbar ist jedenfalls die Affinität Gerstäckers zum Protagonisten von Eichendorffs Erzählung. Wie dieser läßt er die Welt der »Philister« hinter sich; und es ist kein Zufall, daß dieser zentrale Begriff der romantischen Bürgerkritik sowohl in den Publikationen Gerstäckers wie auch in seinen Briefen imme; wieder auftaucht. Schon während seiner Döbener Ausbildungszeit schreibt er: »Der Teufel hole das Philisterleben«; 88 und auch in Amerika will ihm »das Philisterleben nicht sehr behagen«. Mit der Verwendung dieser Chiffre schließt sich Gerstäcker an die kritische Einstellung an, die die Romantik gegenüber dem Bürgertum ihrer Zeit entwickelt hatte. Das Philistertum erscheint ihr als der Inbegriff der Normalität und des Alltagslebens, das sich in nüchterner Wirklichkeit erschöpft und dem jede Poesie fremd bleibt.89 Bereits 1798 hat Novalis eine griffige Bestimmung dieser romantischen Bürgerkritik gegeben, wenn er dem Philister bescheinigt, nur ein »Alltagsleben« zu leben, das aus »lauter erhaltenden, immer wiederkehrenden Verrichtungen« besteht. 90 Die Monotonie und die Ausrichtung auf profane Zwecke ist der Hauptvorwurf, den die Romantiker gegen das bürgerliche Leben richten; und diese Momente werden ihnen entweder zum Gegenstand der Satire oder aber zum Anlaß der - freilich nur literarischen - Flucht. Die Momente der romantischen Philisterkritik sind deutlich in Gerstäckers Verwendung der Chiffre zu erkennen; sie bilden die Folie für seine Abwendung vom geregelten Leben der Bürger, seien es nun die Sachsen oder die der amerikanischen backwoods.ln seiner kurzen autobiographischen Notiz kann er sich schließlich bescheinigen, das romantische Ideal in seinem Leben realisiert zu haben: »ich war stets frei und unabhängig wie der Vogel in der Luft«. 91 Wenn Gerstäcker am Ende seines Lebens die Ungebundenheit seiner Existenz beschwört, dann greift er implizit die romantische Normalitätskritik auf, die in eins zu setzen war mit einem Angriff auf die Bindungen des bürgerlichen Alltags, denen sich der Philister vermeintlich freiwillig unterwarf. Daß sich dieses Motiv so lange und auch länger hat halten können und sich schließlich, wie die Romane Karl Mays zeigen, sogar im letzten Jahrhundertviertel noch einmal verschärfte, ist nichts weniger als selbstverständlich, da der kritisierte gesellschaftliche Zustand im Laufe dieses knappen Jahrhunderts gravierenden Umwandlungen unterworfen war. Dennoch scheinen in ihm Elemente konstant geblieben zu sein, die die nämliche Kritik immer wieder aufs neue herausforderten. 88 89

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Gerstäcker, Mein lieber Herzensfreund, S. 53. Zum romantischen Philisterbegriff vgl. Pikulik, Romantik als Ungenügen an der Normalität, S. 1 4 0 - 1 4 6 . Eine wortgeschichtliche Darstellung gibt Schoppe, Philister; die politischen Implikationen untersucht Frühwald, Der Philister als Dilettant, S. 8f.; schließlich gibt Arendt einen Überblick über die Philister-Kritik während des ganzen Jahrhunderts, vgl. Arendt, Das Philistertum des 19. Jahrhunderts. Novalis, Blüthenstaub (1789), S. 447 (Nr. 77). Gerstäcker, Meine Selbstbiographie zu einem Bilde in der Gartenlaube, S. 7; zur ent-

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Wenn Gerstäcker den Drang nach Freiheit und Ungebundenheit als das Grundmotiv seines Lebens bestimmt, dann liegt es nahe, seine Sehnsucht nach der Ferne zurückzuführen auf Erfahrungen, die sich aus der politischen Situation im Deutschland seiner Zeit ergeben haben. Als Gerstäcker 1837 zum erstenmal nach Amerika aufbrach, ließ er ein Deutschland - und Europa - hinter sich, dessen politisches Klima geprägt war durch den Geist der Restauration. Der Wiener Kongreß hatte sich 1815 darum bemüht, eine dauerhafte Ordnung in Europa wiederherzustellen, die nach den Erschütterungen der napoleonischen Ära eine neue außen- und innenpolitische Stabilität schaffen sollte. Insbesondere die innenpolitisch wirksamen Maßnahmen in den deutschen Staaten, mit denen eine Epoche der beginnenden Reformen beendet wurde, griffen unmittelbar und merklich in das Leben der Bürger ein. Mit einem Bündel von Regulierungen wurde die politische Ordnung umgestaltet zu einem System möglichst umfassender Kontrolle des politischen, gesellschaftlichen, literarischen und privaten Lebens: »Das Herrschaftssystem wurde ein System der Repression.«92 Daß die Restauration in Deutschland wie in Europa eine starke Gegenreaktion hervorgerufen hat, deren erster politischer Ausdruck die französische Julirevolution von 1830 und die von ihr ausgelösten gesamteuropäischen Bewegungen war, ist bekannt. In Deutschland manifestierte sie sich vor allem in den literarischen Bemühungen des »Vormärz« und des »Jungen Deutschland« sowie den eng damit verbundenen Bestrebungen der liberal-nationalistischen Burschenschaften. Gegen die literarisch-publizistische Tätigkeit dieser bürgerlichen Strömungen richtete sich die Repression des restaurativen Obrigkeitsstaates mit ihren einschneidensten Maßnahmen wie den Karlsbader Beschlüssen und der Demagogenverfolgung. Unmittelbar betroffen von dieser direkten Unterdrükkung werden also zunächst nur die Schriftsteller und die Universitäten.93 Die Substanz dieser restaurativen Politik bleibt auch nach der Revolution von 1848 in den deutschen Staaten erhalten. Auf die kurze Phase der revolutionären Bewegungen folgt eine staatliche Politik der Reaktion, die sich, auch unter Einbeziehung der neuen politischen Errungenschaften wie Verfassung, Wahlrecht und Parlament, erfolgreich um die erneute Etablierung eines konservativen Obrigkeitsstaates bemühte. Die Entscheidungszentren blieben in den Händen der alten Kräfte von Monarchie und Aristokratie, die nach wie vor Parlamente und Bürokratie beherrschten, während das liberale Bürgertum auf eine formelle politische Repräsentanz und ansonsten auf den Bereich des wirtschaftlichen Handelns verwiesen wurde.94 Was die Unterdrückung bürgerlich-liberaler - und später auch sozialistischer - Emanzipationsbestrebungen betrifft, läßt sich bei

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sprechenden Verwendung der Vogelmetapher vgl. etwa Eichendorff, Dichter und ihre Gesellen (1834), S. 300. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 285; vgl. auch die summarische Darstellung der innenpolitischen Folgen der Restauration, ebd., S. 272-285. Vgl. ebd., S. 371-373. Vgl. Das bürgerliche Zeitalter, S. 272f.; Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 675-683. 159

allen Wandlungen im äußeren Erscheinungsbild und in der Handhabung des Repressionsinstrumentariums eine Kontinuität der deutschen Innenpolitik feststellen, die sich über das ganze Jahrhundert erstreckte. Die dadurch erzwungene politische Ruhe und Ordnung im Staat hat nach 1830 und 1848 eine politisch motivierte Amerika-Auswanderung der deutschen Liberalen hervorgerufen, die sich teilweise direkter politischer Verfolgung, teilweise auch nur dem repressiven politischen Klima in Deutschland entziehen wollten. Bei Möllhausen wie bei Gerstäcker lassen sich noch Spurenelemente dieser liberalen Gegenreaktion auf die restaurative Politik in Deutschland feststellen. Während sich Möllhausen darauf beschränkte, in seinen Romanen gelegentliche Sympathie mit den ausgewanderten Liberalen zu bekunden, 95 ist Gerstäckers Neigung zu den liberalen Ideen deutlicher sichtbar geworden. Sie manifestiert sich nicht nur in der Tatsache seiner - freilich ephemeren - Beteiligung an der Revolution von 1848 in Leipzig;96 sondern auch in seinen Romanen gibt er deutliche Hinweise auf seine politische Präferenz: Der Roman »Pfarre und Schule«, 1849 erschienen, verarbeitet die unmittelbaren Eindrücke Gerstäckers von den revolutionären Bestrebungen in Deutschland. Dabei zeigt er einerseits deutliche Distanz zu den »blind und wahnsinnig sich überstürzenden Demokraten«, die mit ihrem fanatischen Übereifer der » Reaction« nur wieder in die Hände arbeiten,97 andererseits aber anerkennt er zugleich die Bestrebungen jener »Männer der Freiheit« - wie es Wahlert im Roman ist - als berechtigt, welche das »alte System, was sich lange Jahre hindurch, den Völkern zum Trotz und Hohn auf ihrem Nacken behauptet« hatte, stürzen wollten, um das »schmachvolle Joch gänzlich darnieder zu schmettern und den neuen Tempel der Volkssouveränetät in herrlicher Schöne aus seinen Trümmern emporsteigen zu lassen«.98 Gerstäkker hat also die durch unmittelbare politische Unterdrückung seitens des Obrigkeitsstaates entstandenen repressiven Verhältnisse in Deutschland weder übersehen noch ignoriert; und er hat sich, insbesondere in der Frage der nationalen Einheit, Zeit seines Lebens für die politischen und gesellschaftlichen Ideale der Liberalendes 19. Jahrhunderts publizistisch engagiert.99 Dennoch dürfte seine kritische Einstellung zur politischen Situation in Deutschland für seine »Sehnsucht nach der Ferne« nur von untergeordneter Bedeutung gewesen sein. Wenn er stets auf der Suche nach einem »freien« Leben gewesen war, dann ist das wohl weniger als direkte Reaktion auf die politische Repression im restaurativen Obrigkeitsstaat zu deuten, sondern eher als Ausbruch aus einer Enge der bürgerlichen Lebensverhältnisse, die nicht direkt auf 95

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Bezugnahmen auf 1848 finden sich etwa bei Möllhausen, Der Halbindianer (1861) I, S. 2 0 0 - 2 0 5 . Vgl. Ostwald, Friedrich Gerstäcker, S. 327. Zu Gerstäckers Erlebnissen im Zusammenhang mit der 48er Revolution vgl. seine »Skizze« »Berlin und das Schauspielhaus im Belagerungszustande«, Gerstäcker, Aus zwei Welttheilen (1854) I, S. 401 - 4 2 8 . Gerstäcker, Pfarre und Schule (1849) II, S. 137. Ebd. I, S. 136f. Vgl. dazu auch Prahl, Gerstäcker und die Probleme seiner Zeit, S. 1 9 - 2 6 .

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die politischen Zustände zurückzuführen war.100 Gewiß prägt die administrative Unterdrückung das ganze Lebensklima der Zeit; und Gerstäcker findet oft genug Gelegenheit, über »diese widerliche Polizeiaufsicht in unserem >geordneten< Deutschland« zu klagen, »wo der Dünkel unterer Beamten, die, wenn sie nur in irgendeiner Uniform stecken, ihres Beamtenübermuthes kaum Rath wissen, oft zu den lächerlichsten Uebergriffen Anlaß giebt.«101 Solche Beschwerden, die das Unbehagen an der Enge der deutschen Lebensverhältnisse auf einen konkreten Grund zurückzuführen wissen, bleiben jedoch Episode; die tatsächliche Ursache dieses Unbehagens ist sicherlich nicht in solchen äußerlichen, präzise feststellbaren Erscheinungen zu suchen. Die Kritik am bürgerlichen Lebensideal der gesicherten Normalität, die Gerstäcker - und weniger ausdrücklich wohl auch Möllhausen und Strubberg mit der Romantik teilt, richtete sich gegen eine in Konventionen erstarrte Wirklichkeit, die nur teilweise als Ausdruck der restaurativen politischen Verhältnisse zu begreifen ist. Die politischen Folgen der Restauration nach 1815 und der Reaktion nach 1848 sind auch im Alltagsleben direkt oder vermittelt wirksam geworden; sie manifestieren sich in einem Rückzug in die Innerlichkeit und Gemütlichkeit, der das »Biedermeierlich-Philiströse« als charakteristischen Grundzug der Zeit hervorbringt,102 und auch die Literaten, die nicht unmittelbar von den Auswirkungen der politischen Restauration betroffen waren, zeigen in ihren Werken wie in ihrem Leben deutliche Spuren eines mittelbaren Einflusses dieser Zeitumstände.103 Freilich wird mit dem Blick auf die restaurativen Tendenzen der Zeit nur ein Teil der geistes- und realgeschichtlichen Situation der Zeit erfaßt: Neben den Kräften der Beharrung und der Reaktion manifestieren sich in der politischen Diskussion wie auch in der sozialgeschichtlichen Wirklichkeit vorwärtsweisende Kräfte. 104 Es gehört zu den prägenden Erfahrungen der Zeitgenossen, daß in der Wirklichkeit das Gärende und Vorwärtsweisende der Ideengeschichte nicht eingelöst wurde, sondern sich wieder zu unbeweglichen Strukturen kristallisierte. Vieles von dem, was als Übergewicht der überkommenen gesellschaftlichen Verhältnisse gedeutet wurde, ist schon Ausdruck der Erstarrung von Bewegungen, die erst am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihren Anfang genommen hatten. Das gilt auch für die Politik. Wenn in der Zeit des »Vormärz« die bürgerlichen Ideen des Liberalismus als solche des Fortschritts propagiert wurden, so verlieren sie ihren vorwärtsweisenden Charakter; in einer Wendung zum politischen Realismus geben sie ihre idealistische Komponente preis und reduzieren sich auf eine Anerkennung der Gegebenheiten - eine Tendenz, der ,0

° Vgl. auch Quantz, Zur Geschichte des völkerkundlichen Romans, S. 52. Gerstäcker, Neue Reisen durch die Vereinigten Staaten, Mexiko, Ecuador, Westindien und Venezuela (21876) I, S. 36. 102 Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 285. 103 Sengle, Biedermeierzeit I, S. 79f. 104 Eine ausführliche Dokumentation zur Mentalitätsgeschichte der Zeit gibt der Sammelband: Soviel Anfang war nie. 101

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1853 August Ludwig von Rochaumit seinen »Grundsätzen der Realpolitik« die Ideologie und eine griffige Formel zur Selbstverständigung nachlieferte.105 Wie in der Politik, so desavouiert die Wirklichkeit auch in der Gesellschaft die Ideale einer bürgerlichen Bewegung, welche angetreten war, die verkrusteten Strukturen der obsolet gewordenen sozialen Verhältnisse zu durchbrechen. Auch hier schlägt der neue Anlauf zur Dynamisierung in sein Gegenteil um. Die bürgerliche Gesellschaft wird ihre eigenen Ideen nicht gerecht; die versprochene soziale Mobilität realisiert sich nur in engen Grenzen - wobei das Überleben alter ständischer Privilegien gewiß eine nicht unbedeutende Rolle spielte - ; der Anspruch, individuelle Leistungsfähigkeit und -bereitschaft zum Kriterium der sozialen Stellung zu machen, bleibt liberales Programm und wird nie Wirklichkeit; in der konsolidierten bürgerlichen Gesellschaft ist die soziale Chancengleichheit kaum minder eingeschränkt als in der vorbürgerlichen Ständegesellschaft.106 Ob das deutsche Bürgertum des 19. Jahrhunderts unter diesen Umständen eine Identität als eigenständige oder gar dominierende Kraft der Gesellschaft entwickelt hat, kann dahingestellt werden; offensichtlich ist jedoch, daß es einen eigenen Lebensstil ausprägte, der teilweise durch die politische und gesellschaftliche Situation von außen aufgezwungen, teilweise aber einem genuin bürgerlichen Selbstverständnis wie den sachlichen Notwendigkeiten seiner Erwerbstätigkeit entsprungen ist. Dieser Lebensstil manifestiert sich in Gewohnheiten, Konventionen und überhaupt Verhaltensweisen des täglichen Lebens mehr als in sprachlich manifesten - etwa politischen - Deklamationen; und erst auf dieser Ebene des Alltags wird begreiflich, was wirklich den Abenteurer aus der bürgerlichen Gesellschaft ausbrechen läßt. Die Anklänge an die romantische Philisterkritik bei Gerstäcker verweisen darauf, wo der eigentliche Grund seiner Flucht aus der deutschen Wirklichkeit zu suchen ist. Es ist nicht der Druck der politischen Verhältnisse, der ihn zu einem Abenteurerdasein gezwungen hätte; und die soziale Entwurzelung und Verarmung breiter Schichten im Gefolge der Industrialisierung hat ihn ebenfalls nicht direkt betroffen. Beide Erscheinungen hat Gerstäcker genau registriert und in seinen Romanen, vor allem in »Pfarre und Schule« und »Nach Amerika« recht ausführlich thematisiert; aber so sehr er diese Entwicklungen als Fehlentwicklungen kritisierte, so wenig läßt sich seine Flucht in die Ferne hieraus verstehen. Es sind nicht die großen sozialen und politischen Spannungen der Zeit, die ihn bewegen, sondern er setzt sich mit seinem prononcierten Abenteuertum gegen die alltäglichen Verhältnisse des gewöhnlichen bürgerlichen Lebens zur Wehr.

105

Zu Rochau vgl. Hamerov, Moralinfreies Handeln, S. 32-37; Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 718-720; Rürup, Deutschland im 19. Jahrhundert 1815-1871, S. 213f. 106 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 261-265. 162

5. Bürgerlicher Alltag und Flucht aus der Ordnung Bei Gerstäcker wie bei Möllhausen ist das erste Motiv zum Aufbruch in die Ferne der Ausbruch aus eben diesen Verhältnissen. Möllhausen entzieht sich mit seiner Fahrt nach Amerika einem bürgerlichen Leben als Landwirt oder Soldat, das ihm, der Maler werden wollte, unangemessen erscheint;107 und Gerstäcker läßt im Mai 1837, nach Abschluß einer landwirtschaftlichen Ausbildung, ebenfalls die Aussicht auf ein geordnetes bürgerliches Leben hinter sich.108 Bei beiden Autoren bezieht sich das Fluchtmotiv auf die Enge eines Alltagslebens, das sich in der monotonen Wiederkehr des Gleichen erfüllt; die Flucht richtet sich gegen eine erstarrte Wirklichkeit, die als Kristallisation gewachsener Lebensund Gesellschaftsformen zu begreifen ist. Politisch ist die implizite Kritik dieses Lebens weitgehend indifferent; sie richtet sich gleichermaßen gegen die aus der Aufklärung hervorgegangene Gestalt der bürgerlichen Realität wie auch gegen die Relikte eines adligen Verhaltensideals - beide Momente werden in Gerstäkkers »Eckfenster« karikiert und attackiert. Die Alltagskritik ist bei den Autoren unterschiedlich intensiv und unterschiedlich konkret; aber immer wird die Zivilisation als mehr oder weniger starke Bedrohung eines »wirklichen« Lebens empfunden. In seinen frühen Reiseberichten und Briefen kann sich Gerstäcker noch keine rechte Rechenschaft ablegen über die Motive seiner Zivilisationsflucht; all das, was dem freien Leben in der Wildnis widerspricht, faßt er unter der diffusen Chiffre des »Philisters«. Erst am Ende seines Lebens, in seinem 1870 für die »Kölnische Zeitung« geschriebenen Roman »Das Eckfenster«, gibt er eine sehr ausführliche Beschreibung der Grundzüge des philisterlichen Lebens, dem er ständig zu entkommen suchte. Der Roman, in den mit dem Amerika-Heimkehrer Hans von Solberg autobiographische Züge eingearbeitet sind und der sich durchgehend stark auf die eigenen Braunschweiger Erfahrungen Gerstäckers stützt,109 wird damit zur einzigartigen Quelle für das Selbstverständnis des ehemaligen Abenteurers, die freilich mehr kulturhistorische - und autobiographische - als literarische Bedeutung hat. Die formale Konzeption des Werks ist bestimmt durch seine Absicht, ein breit angelegtes Bild der gesellschaftlichen Wirklichkeit seiner Zeit zu geben. Seine 107 108

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Vgl. Barba, Balduin Möllhausen, S. 37f. Vgl. Ostwald, Friedrich Gerstäcker, S. 10. Strubbergs Motive sind einerseits konkreter, andererseits etwas unklarer als die seiner beiden Gesinnungsgenossen: Er flieht zunächst vor den Folgen eines Duells nach Amerika und läßt dabei eine Anstellung als Volontär eines Bremer Handelshauses hinter sich. Später kommt er nach Deutschland zurück, geht aber bald wieder ohne konkreten Anlaß - wohl eben aus Abenteuerlust zurück nach Amerika, wo er dann, abermals auf der Flucht vor den Folgen eines Duells, lange Zeit ein Leben in der Wildnis führt. Seit 1854 lebt er in Deutschland. Zur Biographie vgl. Barba, The Life and Works of Friedrich Armand Strubberg, S. 2 9 - 5 0 . - Zum Sozialtypus des Schriftstellers als »Abenteurer« vgl. Mikoletzky, Die deutsche Amerika-Auswanderung des 19. Jahrhunderts in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur, S. 6 4 - 66; S. 72. Vgl. Ostwald, Friedrich Gerstäcker, S. 145f.

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vermeintlichen konzeptionellen Schwächen sind hieraus weitgehend erklärbar; wenn die spätere Kritik Gerstäcker vorgeworfen hat, die »wahllose Häufung« einzelner Szenen lasse keine »einheitliche Linie sehen«,110 dann verkennt dieser Vorwurf gleichermaßen die Intention des Autors wie den literarhistorischen Kontext. Tatsächlich wurde gerade das Konzept der »einheitlichen Linie« von der Romantheorie der Zeit preisgegeben, weil es den neuen Anforderungen an die Literatur nicht mehr gerecht werde. Es ist das Programm eines - trivialen Realismus, der das gesellschaftliche Leben in seiner ganzen Breite zu erfassen sucht, wie es Gutzkow in seiner Theorie vom »Roman des Nebeneinander« verwirklichen will: Der Autor glaubte durch eine Betrachtungsweise, wo Ein Dasein unbewußt immer Schale oder Kern eines andern ist, wo jede Freude von einem Schmerze benachbart ist, der über Das, was jene himmelhoch erhebt, seinerseits tief zu Boden gedrückt sein kann und wo andererseits eine Unbill auch schon wieder unbewußt den Rächer auf ihren Fersen haben wird, den Roman noch mehr als früher zum Spiegel des Lebens gemacht zu haben. Dem socialen Roman ist das Leben ein Concert, wo der Autor die Instrumente und Stimmen zu gleicher Zeit in- und nebeneinander hört." 1

Es liegt auf der Hand, daß Gerstäcker gerade mit seinen ganz oder teilweise in Deutschland handelnden Romanen einem derartigen realistischen Programm zu entsprechen versucht.112 Die Methode des »Nebeneinander« erlaubt es ihm im »Eckfenster«, die Verhaltensweisen der verschiedenen gesellschaftlichen Schichten seiner Zeit - vom Adel über Bürger und Kleinbürger bis zu den unteren Schichten und den Außenseitern, die hier durch die Repräsentanten des Theaterlebens vertreten sind - ausführlich zu charakterisieren und ihnen mit dem Amerika-Heimkehrer ein kritisches Gegengewicht zur Seite zu stellen. Es gelingt ihm dabei - freilich häufig weniger in literarischer Darstellung als in diskursiven Einschüben oder Monologen - die gesellschaftlichen Zustände und Entwicklungen namhaft zu machen, die ihm selbst den Aufenthalt in dieser Gesellschaft verleidet haben mögen: Hier wird die gesellschaftliche Erfahrung des Abenteurers handgreiflich. Im Vergleich zu diesem Roman Gerstäckers sind die entsprechenden Werke Möllhausens weitaus weniger aufschlußreich. Obwohl auch er sich um eine direkte Konfrontierung deutscher und amerikanischer Verhältnisse bemüht meist durch den entsprechenden Schauplatzwechsel innerhalb eines Romans - , bleibt seine Schilderung der deutschen Situation blaß - zumindest was ihre Aus-

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Vgl. Seyfarth, Friedrich Gerstäcker, S. 61. Gutzkow, Vom deutschen Parnaß II (1854), S. 325. Daß Gerstäcker Gutzkows Werke gekannt hat, geht aus einer brieflichen Bemerkung hervor, in der er sich, wie er es bei zeitgenössischen Kollegen zu tun pflegte, sehr abfallig über ihn äußert. Sie schließt jedoch nicht aus, daß seine konzeptionelle Methode von Gutzkows Programm direkt oder indirekt beeinflußt wurde. Die Briefstelle ist abgedruckt bei Prahl, Gerstäcker über zeitgenössische Schriftsteller, S. 305. - D a ß Gerstäcker mit dem politischen Programm des »Jungen Deutschland« weitgehende Übereinstimmungen zeigt, betont Prahl, Gerstäcker und die Probleme seiner Zeit, S. 9f.

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sagekraft für die Motivationen des Abenteurers betrifft da sie sich weitgehend an konventionellen Themen und Handlungsabläufen der zeitgenössischen populären Literatur orientiert. Die Auswanderung oder die Flucht nach Amerika wird begründet mit sozialer Not, politischer Verfolgung oder kriminellen Handlungen; eine grundlegende Kritik an den Lebensverhältnissen und -bedingungen der verschiedenen sozialen Schichten findet sich dagegen kaum und ist auch nicht beabsichtigt. Der Affekt richtet sich gegen die zivilisierten Lebensverhältnisse im allgemeinen, wie sie sich konkret in der Umwelt des Bürgers darstellen. Gerstäcker gibt in seinem »Eckfenster« eine Beschreibung bürgerlicher Wohnverhältnisse, die etwas von dem Impuls ahnen läßt, der den Abenteurer aus dem kultivierten Leben heraustreibt: eine >gute Stube< durfte auch natürlich hier nicht fehlen. Wenn sie einmal Besuch bekamen, was das ganze Jahr kaum zweimal vorfiel, war es doch nöthig, einen i n s t ä n d i gem Platz zu besitzen, in den man die Gäste führen konnte, und deßhalb allein athmeten Mutter und Kinder das ganze Jahr lang die ungesunde Stickluft des engen Raumes ein, in dem ihre sämtlichen Betten standen." 3

Gerstäcker hat das »tödtende Gefühl«,114 das von diesen Wohnräumen ausgeht, genau registriert und ihnen als Remedium zumindest einen Anflug von sichtbarer Lebendigkeit verordnet: »Es darf nicht zu ordentlich aussehen, es muß wenigstens eine Arbeit, ein offenes Buch oder sonst etwas da liegen, daß man sieht, es wird von Menschen benutzt«115 Die Enge des bürgerlichen Lebens wird gerade in solchen Raumbeschreibungen besonders leicht greifbar; und so ist es kein Zufall, daß sich der antizivilisatorische Affekt des realen wie des fiktionalen Abenteurers gerne an dieser Dichotomie des in seiner Repräsentationsfunktion erstarrten Interieurs auf der einen Seite und der freien, unbegrenzten Natur der amerikanischen Wildnis auf der anderen entzündet. Weniger häufig, aber nicht minder signifikant ist die Abwehrhaltung des Abenteurers gegenüber den Konventionen der bürgerlichen Kleidung. Wenn sich sowohl Gerstäcker wie Möllhausen und schließlich auch Karl May gerne in der phantasievollen Kleidung amerikanischer Trapper ablichten ließen, mit dieser sogar sich in die bürgerliche Öffentlichkeit wagten,116 dann ist das ein nicht nur individualpsychologisch interessantes Phänomen. In ihm manifestiert sich vielmehr der vage und sich seiner Ursprünge wohl kaum bewußte Protest des Abenteurers gegen die Erstarrung eines zivilisierten Lebens, das sich auch in den vermeintlich belanglosesten Äußerlichkeiten einem rigiden Normenkanon unterwerfen muß, von dem abzuweichen unter bestimmten Umständen fast schon als revolutionäre Tat erscheinen konnte. Das gilt für die Kleidung ebenso wie für andere scheinbar belanglose Äußerlichkeiten des bürgerlichen Lebens, gegen die sich die »Abenteurer« in ihren Texten und in ihrer Lebensgestaltung aufleh113 114 115 116

Vgl. Gerstäcker, Im Eckfenster (1872) I, S. 157. Ebd., S. 165. Ebd., III, S. 11. Vgl. Graf, Abenteuer und Geheimnis, S. 22; Steinbrink, Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts in Deutschland, S. 140.

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nen. In einer bürgerlichen Gesellschaft, die ihre Stabilität durch strenge Verhaltensreglementierung auch nach außen hin abstützen muß, können sich gesellschaftskritische Bestrebungen auch in der abweichenden Kleidung oder anderen Formen der Devianz vom bürgerlichen Verhaltenskodex ausdrücken.117 Das reicht bis hin zur Durchbrechung eines ein Deutschland lange Zeit staatlich verordneten Rauchverbots in der Öffentlichkeit, das von den Liberalen als Symbol des Obrigkeitsstaates bekämpft wurde, sich aber auch nach seiner Abschaffung bis zum Ende des Jahrhunderts als gesellschaftliche Norm erhalten hat und dessen Umgehung ein perennierendes Thema in Gerstäckers »Eckfenster« wird.118 In diesem Sinne versteht der Abenteurer sein äußeres Erscheinungsbild als eine Provokation, die sich gegen die zivilisierte Gesellschaft überhaupt richtet. Gerstäcker beschließt eine briefliche Beschreibung seines äußeren Aufzuges mit der Bemerkung: »ich glaube nicht daß ich etwas Philister ähnliches darinn an mir habe!«119 An anderer Stelle fügt er im gleichen Zusammenhang hinzu: »in Deutschland wäre ich sicher nicht der Polizey entgangen!«120 Die Auflehnung gegen die Konventionen des Wohnens, der Kleidung und des Verhaltens sind periphere Facetten der abenteuerlichen wie der romantischen Philisterkritik. Diese Kritik dringt dort ins sozialgeschichtliche Zentrum vor, wo sie nicht mehr nur das äußerliche Erscheinungsbild, sondern den Lebenshabitus des deutschen Bürgers in seiner Wurzel angreift: In der Regulierung und Disziplinierung seines alltäglichen Lebens, wie sie ihm vor allem von den Erfordernissen seines Berufs aufgezwungen wird. Schon der aufbrechende Taugenichts mokiert sich über die Solidität der rechts und links der Straße arbeitenden Bürger; und er hält ihnen sein romantisches Ideal des ewigen Sonntags nicht nur im Gemüt entgegen. Damit trifft er den Bürger im Kern seiner Lebensauffassung; nicht ohne guten Grund konnte Gustav Freytag ein Vierteljahrhundert später seinem Roman ein Motto Julian Schmidts voranstellen, nach dem das »deutsche Volk« in »seiner Tüchtigkeit« gerade bei »seiner Arbeit« zu finden sei. Dieser Aspekt der romantischen Kritik am deutschen Bürger kehrt bei Gerstäcker modifiziert wieder. Wenn er die amerikanische Art zu arbeiten charakterisiert, dann exponiert er 117

Zu den bürgerlichen Kleidungsgewohnheiten der Zeit vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 137; Fuchs, Illustrierte Sittengeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Bd. III, S. 170; S. 2 0 1 - 2 0 8 ; Buchheim, Deutsche Kultur zwischen 1830 und 1870, S. 130. Iis Ygi e t w a Gerstäcker, Im Eckfenster (1872) I, S. 19f. Zu den politischen Implikationen der Rauchfreiheit vgl. Buchheim, Deutsche Kultur zwischen 1830 und 1870, S. 115; Schivelbusch, Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft, S. 137/141. 1,9 Gerstäcker, Mein lieber Herzensfreund!, S. 186. 120 Ebd., S. 195. - Dieses Motiv wird später breiter ausgestaltet von Karl May in seinem ersten Kolportageroman, in dem er seinen in diplomatischer Mission nach Deutschland verschlagenen Trapper Geierschnabel tatsächlich seines Erscheinungsbildes wegen mit der Polizei in Konflikt geraten läßt. Vgl. May, Das Waldröschen oder: Die Verfolgung rund um die Erde (1882), S. 2112-2126. Auch in seinen späteren Amerika-Romanen wird der komische Aufzug vieler Westleute zweiten Ranges zu einem stehenden Motiv.

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dabei zugleich einen fundamentalen Gegensatz zur deutschen Auffassung. Gerstäcker war auch in Amerika, anders als der Taugenichts, häufig gezwungen, bestimmten mehr oder weniger bürgerlichen Tätigkeiten nachzugehen, und er hat sich über diese philisterhafte Seite seines amerikanischen Lebens oft genug beklagt.121 Sein Verhältnis zur Arbeit ist dennoch ein gänzlich anderes, als es dies im bürgerlichen Deutschland wäre. Gerade die Freiheit und Sprunghaftigkeit, die im ständigen Wechsel der Beschäftigungen liegt - und die Gerstäcker an anderer Stelle, in seinem Auswanderer-Ratgeber, auch den deutschen Emigranten anempfiehlt - , findet in Amerika Anerkennung, während sie in Deutschland verpönt wäre - dafür sprechen die Erwähnungen dieser amerikanischen Eigenart in deutschen Auswandererbriefen und -ratgebern, die einen gewissen Rechtfertigungsbedarf verraten: »In Amerika schämt man sich nicht an der Arbeit, sie heiße wie sie wolle«.122 Ganz in diesem Sinne macht sich auch Gerstäcker die amerikanische Berufsauffassung mit ihrem häufigen Wechsel des Arbeitsplatzes zu eigen: es fallt Niemanden auf, im Gegentheil die Leute sagen er ist fleißig, er will etwas verdienen, er wird sein Glück machen, im Philister Deutschland hingegen würde das Anathema unfehlbar von der ganzen Volksmenge ausgestoßen - einem solchen Schritte folgen!- 1 2 3

In der autobiographischen Skizze von 1870 gibt Gerstäcker ein Resümee seines Lebens in diesem Sinne. Er bestätigt ausdrücklich, daß ich ein Menschenalter hindurch einer der größten Herumtreiber gewesen bin, die es überhaupt giebt, und schon lange polizeilich eingesteckt sein würde, wenn ich mein >ungeordnetes< Leben nur auf einen kleinen Kreis beschränkt hätte.124

Auch diese Bemerkung gibt Auskunft über die geregelten Zustände im Alltagsleben Deutschlands, wie sie Gerstäcker empfunden haben muß. Immer wieder ist es die »Polizei«, die Gerstäcker als Synonym nicht so sehr für die staatliche Repression, als vielmehr für die bürgerliche Konvention anführt. In seinem - über weite Passagen satirisch angelegtem - »Eckfenster« führt Gerstäcker in karikierender Schärfe das Thema durch eine Gegenüberstellung der bürgerlichen und der eigenen Lebenshaltung aus. In der Selbstcharakteristik, die er dem bürgerlichen Beamten in den Mund legt, sind alle Elemente der romantischen Philister-Kritik versammelt: ich thue Alles regelmäßig, und ich möchte sagen: nach dem Glockenschlage. Im Sommer Morgens um sechs, im Winter um sieben Uhr steh' ich auf, und dann muß die Stube schon ein bischen warm sein; nachher trink' ich Kaffee und rauche meine Pfeife dazu, die mir das Linchen, meine älteste Tochter, schon gestopft hat; dann kommt das 121

Vgl. etwa Gerstäcker, Mein lieber Herzensfreund!, S. 199. Rau, in: Amerika. Hoffnung und Sehnsucht, S. 117; vgl. auch Briefe aus Amerika, S. 510; »Amerika ist ein freies Land ...«, S. 74. Zur Darstellung dieses Phänomens in den Romanen der Zeit vgl. Mikoletzky, Die deutsche Amerika-Auswanderung des 19. Jahrhunderts in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur, S. 156f. 123 Gerstäcker, Mein lieber Herzensfreund!, S. 196. 124 Gerstäcker, Meine Selbstbiographie zu einem Bilde in der Gartenlaube, S. 1.

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Tageblatt, das les' ich, dann trink' ich ein G l a s Wasser - ich habe das, besonders in der letzten Zeit, als sehr zuträglich gefunden —, nachher rasire ich mich und ziehe mich langsam an, und gehe dann Punkt neun Uhr in mein Bureau. 1 2 5

Der Amerikaheimkehrer Hans von Solberg entwirft dagegen ein Lebensideal, das diesem genau entgegengesetzt ist und das er nur in Amerika realisierbar sieht: das freie, prächtige Leben da draußen, diese völlige Ungebundenheit hat doch auch wieder viel Angenehmes, und ich gestehe dir aufrichtig, mir graust es ordentlich vor diesen eben erwähnten und fast ein wenig zu sehr geordneten Zuständen. Hier in Deutschland hat Jeder sein bestimmtes Gefach von unten an und an der ganzen Wand hinauf. Es ist wie ein großer Bücherschrank mit Abtheilungen, und darin liegt er und knurrt Jeden an, der ihm zu nahe kommt. 1 2 6

Wie die Romantiker, so versuchte sich der Abenteurer dem Sog einer unpoetischen Normalität zu entziehen. Freilich vollzog sich der Ausbruch der Romantiker nur mit Hilfe der Phantasie, die ihnen eine abenteuerliche Umdeutung ihres Lebens und seiner banalen Ereignisse ermöglichte.127 Die Lebenswirklichkeit, gegen die sie aufbegehrten, ist das von der rationalistischen Aufklärung propagierte Ideal der »gesetzlichen Ordnung und der Gewöhnlichkeit«, 128 das sich das bürgerliche 19. Jahrhundert zu eigen machte und in einem Prozeß des ständigen zivilisatorischen Fortschritts zu realisieren suchte. 6. Wildnis und Zivilisation Die verschiedenen politik-, vor allem aber kultur- und gesellschaftskritischen Elemente, die in der abenteuerlichen - wie in der romantischen - Philisterkritik zusammenschießen, verdichten sich schließlich zu einer allgemeinen und unspezifischen Zivilisationskritik. In der Vorrede zu seinem ersten Buch spricht Gerstäcker die Erwartungen aus, die er mit seinem Aufbruch nach Amerika verbunden hat; er hebt hervor, daß es seine Absicht war, sich »aus dem ganzen geselligen Leben und Treiben der cultivirten Welt herauszureißen und im fremden Lande ein Leben der Freiheit, aber auch zu gleicher Zeit eines der Abgeschiedenheit und der Entbehrungen zu führen.« 129 Hier wird die grundlegende Dichotomie im Leben des Abenteurers formuliert: Es ist der Gegensatz zwischen Zivilisation und Freiheit, der eine Spannung hervorruft, welche sich nur durch die Flucht in die Ferne auflösen läßt. Daß die Reisenden ein Unbehagen gegenüber der Zivilisation empfinden, ist eine Erscheinung, die sich nicht nur bei den 125 126 127

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Gerstäcker, Im Eckfenster (1872) I, S. 162. Ebd., S. 35f. Zur abenteuerlichen Umgestaltung des Alltagslebens in Poesie und Wirklichkeit vgl. Brunschwig, Gesellschaft und Romantik in Preußen im 18. Jahrhundert, S. 3 3 6 - 3 4 2 ; vgl. auch Mannheim, Konservatismus, S. 145-148. Pikulik, Romantik als Ungenügen an der Normalität, S. 57. Gerstäcker, Streife und Jagdzüge (1844) I, S. XI.

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Abenteurern findet; von der Wildnis geht ein Reiz aus, der auch auf domestiziertere Naturen wie Fröbel seine Wirkung entfaltet: Alles zusammengefaßt hat das rohe und harte Leben auf einem solchen Zuge durch die Wildniß seine großen Reize, welche eine verlockende Gewalt über das Gemüth bekommen können; in dem Augenblicke, in welchem ich dieses schreibe, weiß ich in der That nicht, ob sie nicht größer sind als die der Civilisation.130

Die Überlegenheit der Wildnis über die Zivilisation ist ein geläufiger literarischer Topos, der sich seit dem 18. Jahrhundert, vor allem in der Vorstellung vom Edlen Wilden, in der europäischen Literatur etabliert hat und dabei sein gesellschaftskritisches Potential entfalten konnte; und wenn die Amerikareisenden des 19. Jahrhunderts diesen Gegensatz wieder aufgreifen, so ist das sicherlich nicht zuletzt auf eine Nachwirkung dieses Traditionsstranges zurückzuführen. Dennoch macht es einen prinzipiellen Unterschied, ob ein europäischer Autor ein solches literarisches Konstrukt entwirft oder ein Reisender angesichts der realen Erfahrung der Wildnis immer noch Worte zu deren Lob findet. Von Gerstäcker über Möllhausen und Strubberg bis zu Karl May findet sich dieser Affekt gegen das kultivierte Leben: »Das sind also die Segnungen der Civilisation. Sie locken mich nicht mehr. Aber doppelt freundlich winkt mir das Leben dort oben in der Wildniß, wo mich allerdings zuweilen offene Feindschaft, aber nie entwürdigende Behandlung bedroht.«131 Hier klingt, aus dem Mund des Halbindianers Jo und bezogen auf amerikanische Verhältnisse, die gleiche zivilisationskritische Tendenz an, die Gerstäcker zu konkretisieren sucht, indem er den allgemeinen Affekt auflöst in präzisere Bestimmungen. Gerstäckers Kritik richtet sich zunächst gegen die elementaren Details des täglichen Lebens. Dem »dunkeln Stadtleben« entzieht er sich, um »frei, frei wie ein Vogel in der Luft in die stillen Wunder der Amerikanischen Wildnisse eindringen zu können«.132 In Strubbergs Roman fühlt der Abenteurer in der Wildnis die Befreiung von einem diffusen Unbehagen; »kein drückender Alp, keine schrecklichen Träume, wie sie die seidenen Betten der civilisierten Welt heimsuchen, wagen sich bis zum harten Lager der Jäger unseres Westens.«133 Auch Karl May variiert das Thema immer wieder: »Es war dem Deutschen doch unmöglich, lange in dem engen Raum zu bleiben; er verließ ihn und suchte den Garten auf, wo er sich von Wohlgerüchen umduften ließ, bis er hinaustrat in das Freie«.134 Schließlich läßt er einen seiner Westleute eine in diesem Zusammenhang programmatische Aussage machen, die den Verlockungen des bequemen östlichen Lebens die Vorzüge des Westens gegenüber stellt: Soll ich mich in ein Bett legen, über welchem es keinen freien Himmel, keine Sterne und keine Wolken giebt, und wo ich mich so in die Federn wickle, daß ich mir selbst wie ein 130

Fröbel, Aus Amerika (1857f.) II, S. 64. Möllhausen, Der Halbindianer (1861) I,S. 141. 132 Gerstäcker, Mein lieber Herzensfreund!, S. 186. 133 Armand, Amerikanische Jagd- und Reiseabenteuer (1858), S. 268. 134 May, Old Surehand II (1895), S. 294f.; vgl. auch May, Das Waldröschen (1882), S. 412. 131

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halb gerupfter Vogel vorkomme? Nein! Geht mir mit Eurem Osten und seinen Genüssen! Die einzigen und wahren Genüsse finde ich im wilden Westen, und für die hat man nichts zu bezahlen!135

Der Abenteurer flieht gleichermaßen die Einschränkungen, die seinem Leben in der Zivilisation Fesseln anlegen, daß sie wie ein Alptraum empfunden wird. Der Intensität dieses bedrückenden Gefühls entspricht die euphorische Stimmung, den der Auszug in die Wildnis bei Gerstäcker hervorruft. Mehr noch als die literarischen Helden Karl Mays artikuliert Gerstäcker in seinen Reiseberichten dieses Gefühl; die literarische Konstruktion der Dualität zwischen Zivilisation und Freiheit, die Karl May so beredt Worte zu verleihen wußte, reicht nicht an die Eindringlichkeit der realen Erfahrung heran. Gerstäcker beschreibt in seinem ersten Reisebericht mehrmals, wie er aus der Seßhaftigkeit eines einigermaßen zivilisierten Lebens wieder in die Wildnis aufbricht; gerade der Kontakt mit der - recht unentwickelten - Kultur des backwoods ist es, der ihn stets aufs neue motiviert, das einsame Leben jenseits der Zivilisation zu suchen. Nach seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten hatte er sich einige Zeit in New York aufgehalten, dort ein wenig erfolgreiches Geschäft betrieben und noch weniger ergiebige Jagdzüge in die Umgebung unternommen, bis der Drang in die Ferne übermächtig wird: Peinigender und quälender wurde mir mit jedem Tage der Gedanke, festgebannt zu sein und nicht hinaus in die freie Gotteswelt zu können. Jetzt kam mir's denn auch vor, als ob das doch eigentlich nicht der Zweck gewesen sei, zu dem ich im Heimathlande Alles zurückgelassen hatte, was den Menschen an dieß Leben kettet.136

Das Verlassen der Stadt und der erste wirkliche Eintritt in die Wälder wird euphorisch gefeiert: »Frei war ich, frei. Hoch und stolz hob sich mir zum ersten Male wieder die Brust im göttlichen Gefühle der Unabhängigkeit.«137 Dieses Grundmotiv wiederholt sich mehrmals im Verlaufe seines Reiseberichtes; stets wird ihm nach einer Phase der Seßhaftigkeit die Zivilisation unbehaglich und es treibt ihn in die »liebe, freie Gottesnatur«.138 Das alte europäische Motiv der Zivilisationskritik durch das Lob des Exotischen wird hier in eigener Tinktur wiederholt. Kulturüberdruß und Europamüdigkeit manifestieren sich in der Sehnsucht nach der Wildnis, in der das Individuum seine Freiheit realisieren kann, ohne daß aber - wie in früheren Zeiten - diese Sehnsucht einhergeht mit einer Verklärung des Naturzustandes.139 Diese traditionelle Vorstellung klingt bei den Abenteurern nicht mehr nach; ihr ist, durch die realen Erfahrungen mit dem Leben der Eingeborenen ebenso wie durch das kolonialisatorische Überlegenheitsgefühl des 19. Jahrhunderts weitgehend der Boden entzogen worden. Was eigentlich der Abenteurer sich positiv von der Wildnis erwartet, bleibt diffus; seine 135 136 137 138 139

May, Old Surehand II (1895), S. 605; vgl. dazu auch Schmiedt, Karl May, S. 9 3 - 9 7 . Gerstäcker, Streife und Jagdzüge (1844) I, S. 66. Ebd., S. 67. Ebd., S. 178. Vgl. zu Gerstäcker Plischke, Von Cooper bis Karl May, S. 92f.

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Hoffnungen entzünden sich nur an dem vage empfundenen Gegensatz zwischen der »Enge« der bürgerlichen Welt und der »Weite« der Wildnis. Diese Suche nach der grenzenlosen Weite des Landes artikuliert Gerstäcker, wenn er sich eine »ewige Wanderlust« bescheinigt.140 Mit ihr steht er nicht allein; sie ist vielmehr wesentliches Merkmal einer geistigen Haltung, die die gerade abgeschlossene geistesgeschichtliche und literarhistorische Epoche prägt. Die Affinität des Abenteurers zur literarischen Romantik tritt in diesem Motiv der »Wanderlust« am deutlichsten hervor.141 Die Wanderlust realisiert sich beim Abenteurer wie beim Romantiker in einem unbestimmten Drang in eine Ferne, die sich nicht nur als einfaches Ziel einer Reise darstellt, sondern zu deren konstituierenden Merkmalen gerade die Unerreichbarkeit gehört. Der Reisende kommt nie ans Ziel; ihm eröffnen sich in der Literatur wie in der Wirklichkeit nur wieder neue Fernen. Anders etwa als der wissenschaftliche Forschungsreisende will der Romantiker wie der Abenteurer nicht das Unbekannte zum Bekannten machen; sondern er will im Gegenteil gerade den Bereich des Unbekannten erweitern. Das Erreichen des Ziels seiner Sehnsucht - etwa mit der Ankunft im amerikanischen Westen - befriedigt ihn nicht; er muß sich vielmehr immer wieder neu der Tatsache versichern, daß er noch nicht an die Grenzen des Unbekannten gestoßen ist.142 In der Romantik ist allerdings die Sehnsucht nach der Ferne verbunden mit der Sehnsucht nach dem verlorenen Ursprung und der Hoffnung auf Erfüllung in einer goldenen Zukunft, die gerade durch ihre Ferne verklärt erscheint;143 dem Abenteurer fehlt diese utopische Dimension dagegen völlig: Was ihn antreibt, ist nicht die Hoffnung auf Erfüllung, sondern die Flucht vor der Nichterfüllung. Daß sich die abenteuerliche Suche nach der unbegrenzten Ferne im 19. Jahrhundert auf Amerika konzentrierte, konnte nicht ausbleiben; das ergab sich mit Notwendigkeit aus dem inzwischen in Europa etablierten Amerikabild. In einer Zeit, in der die Offenheit der Welt durch die geographischen und ethnographischen Forschungsreisen ebenso wie durch den Export der okzidentalen Zivilisation weitgehend beseitigt worden war, sah sich der Abenteurer - wenn er nicht, wie die Romantiker, die ohnehin naheliegende Flucht in die literarische Fiktion antreten wollte - geographisch auf einen engen Raum verwiesen. Zu den bevorzugten Handlungsorten fiktionaler wie realer Abenteuergeschichten gehört in dieser Zeit neben Afrika und dem Vorderen Orient deshalb eben Nordamerika.144 Wenn für Gerstäcker, »wie für tausend Andere, das Wort >Amerika< eine gewisse Zauberformel« wurde,145 die der Fernsucht ein Ziel gab, ist es die Vor140 141

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Gerstäcker, Streif= und Jagdzüge (1844) II, S. 234. Zu den romantischen Anklängen in Gerstäckers Werk vgl. Kolb, Friedrich Gerstäcker und the American Frontier, S. 2 - 1 5 . Zur romantischen Auffassung der räumlichen Ferne vgl. Pikulik, Romantik als Ungenügen an der Normalität, S. 363-370; Alewyn, Eine Landschaft Eichendorffs, S. 223f. Vgl. Pikulik, Romantik als Ungenügen an der Normalität, S. 370. Vgl. Pleticha, Das Abenteuerbuch im 19. Jahrhundert, S. 49f. Gerstäcker, Meine Selbstbiographie zu einem Bilde in der Gartenlaube, S. 2. 171

Stellung von der unermeßlichen Weite des Landes, welche ihn anlockte. Dieses »Bild der Unendlichkeit«, das schon Chateaubriand animierte,146 ist zentraler Bestandteil der europäischen Vorstellungen über den amerikanischen Westen. Es ist zunächst weniger durch reale Erfahrungen als durch literarische Vermittlung hervorgebracht worden, wobei wiederum Coopers Schilderungen den nachhaltigsten Einfluß ausgeübt haben dürften. In seinen »Leatherstocking«Romanen entwirft er ein Bild von der amerikanischen Wildnis, das den Wunschvorstellungen der von der Sehnsucht nach der Ferne ergriffenen Autoren die ersten Anhaltspunkte lieferte; das Land mußte ihnen in diesen Schilderungen als jener gesuchte Freiraum erscheinen, in dem allein noch sich die Abenteuerlust realisieren konnte: Und Ihr könnt noch Wochen reisen und es immer eben so finden. Ich denke oft, der Herr hat diesen unfruchtbaren Gurt von Haiden hinter die Staaten hingestellt, um die Leute zu warnen, wozu ihre Thorheit das Land machen könne! Ach, Ihr könnt Wochen, wo nicht Monate in diesen offenen Feldern reisen, ohne auf eine Wohnung für Mensch oder Tier zu stoßen.147

Die deutschen Abenteurer, die auf den Spuren von Coopers Romanhelden den Westen Amerikas aufsuchen, finden zunächst ihre Hoffnung erfüllt. Auch sie erliegen dem Eindruck der schrankenlosen Weite, wenn sie in den »endlosen, wilden Ländern des noch neuen Landes« ihre Jagd- und Streifzüge unternehmen.148 Die Offenheit der räumlichen Wirklichkeit wird am eindringlichsten erlebt in der Grenzenlosigkeit einer Natur, die dem Auge kaum noch beschränkende Anhaltspunkte bietet. Immer wieder sehen sich die Autoren veranlaßt, sich dieser Weite zu vergewissern, indem sie den Blick von einem fernen Horizont zum anderen schweifen lassen: Wir erreichten nun offene Prairien, wo nur hie und da ein einzelner Mosquitobaum, eine dichtbelaubte Ulme etwas Schatten auf die unabsehbare Glutfläche wirft und rund herum im gleichförmigen Zirkel das Himmelsgewölbe auf der Ferne ruht.149

Auch die Autoren fiktionaler Reiseerzählungen lassen eine Präferenz für die Prärie erkennen. Die Landschaft der Amerikaromane Karl Mays ist aus verschiedenen Versatzstücken zusammengesetzt; eine dominierende Rolle spielt in ihr jedoch stets die Prärie, deren weite Ebenen den Ausgangspunkt der abenteuerlichen Handlung bilden. Karl May kann sich, als Autor fiktionaler Reiseberichte, seine Landschaft nach dem jeweiligen Bedarf selbst konstruieren; wenn die Prärie dabei ins Zentrum der Romanlandschaft tritt, dann verdankt sie diese Bevorzugung also nicht der realen Anschauung, sondern dem Mythos, der sich im Laufe einer längeren literarischen Tradition um sie gebildet hat. Karl May formuliert am Ende des Jahrhunderts den Zusammenhang zwischen dem äußeren, zu einem Mythos verdichteten Erscheinungsbild der amerikanischen Prärie 146 147 148 149

Chateaubriand, Reise in Amerika (dt. 1828) II, S. 41. Cooper, Die Prairie (dt. 41853), S. 22. Gerstäcker, Amerikanische Wald= und Strombilder (1849) I, S. 74. Armand, Amerikanische Jagd- und Reiseabenteuer (1858), S. 257.

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und dem ebenfalls mythisch überhöhten Leben des Abenteurers in ihr. Die »weiten Prairien Nordamerikas«, stellen für den, der sich »von der heimischen Scholle losgerissen hat«, eine unwiderstehliche Verlockung dar; »so zieht es ihn doch immer wieder [...] in die unbegrenzte Wildnis hinaus.«150 In der Grenzenlosigkeit der Savanne findet der Abenteurer erst die Freiheit, in der er sich bewähren muß. Was für den Romanhelden gilt, kann in entsprechender Reduktion ebenfalls für den realen Reisenden in Anspruch genommen werden. Auch er sucht die Weite einer unbegrenzten Natur, über die er freilich nicht so beliebig verfügen kann wie der Autor des Abenteuerromans. Seine realen Erfahrungsmöglichkeiten legen der Befriedigung dieses Bedürfnisses Schranken auf. So hat Gerstäcker weniger die Prärien des amerikanischen Westens durchstreift als vielmehr die Wald- und Flußgegenden von Arkansas, die das Landschaftsbild in seinen Reiseberichten prägen.151 Auch wenn er sich dabei der unendlichen Weite der Landschaft nicht durch Augenschein vergewissern kann, drängt sich ihm auf seinen Wanderungen der Eindruck der Grenzenlosigkeit auf: »Wald, Wald, Wald und ewig Wald.«152 Gerstäcker versagen fast die Worte beim Gedanken an die unermeßlichen Dimensionen des Landes; nur formelhaft kann er zu Papier bringen, was sich seiner Beschreibung zu entziehen droht. Die Darstellung dieses Eindrucks bleibt deshalb weitgehend auf die Wahl der Epitheta beschränkt; wenn er die »ungeheuren Wälder und Steppen des gewaltigen Reiches« anspricht oder dem Leser von den »ungeheueren Sümpfen Louisiana's«, den »mächtigen Wäldern« von Arkansas und der »endlosen Wildniß« einen Eindruck zu vermitteln sucht,153 dann demonstrieren diese Versuche nur die Ohnmacht des Wortes angesichts einer darstellerisch nicht mehr erfaßbaren Wirklichkeit. Sie zeigen aber auch, wie sehr die Weite von vornherein, vor jeder entsprechenden konkreten Erfahrung, zur Signatur der Landschaft gehört, in die sich der abenteuerlustige Reisende begibt. Er braucht, wenn nicht die Erfahrung, so doch zumindest die Vorstellung, daß seiner Wanderlust keine Grenzen gesetzt sind und er sich stets frei nach allen Richtungen bewegen kann. Bedrükkend ist für ihn der Gedanke, daß diese Bewegungsmöglichkeiten eingeengt werden, so wie es Gerstäcker empfindet, wenn er sich »hineingeklemmt zwischen die steilen, wilden Berge« sieht.154 Deshalb sucht der Abenteurer, wenn er schon nicht den Blick über die »unermeßlichen Prairien« schweifen lassen kann,155 den Aussichtspunkt, von dem aus er den panoramatischen Blick in die Ferne erlebt und sich die Unermeßlichkeit der Landschaft durch den Augenschein bestätigen läßt: 150 151

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May, Old Surehand II (1895), S. 116f. Vgl. Landa, The American Scene in Friedrich Gerstäcker's Work, S. 32f.; Prahl, America in the Works of Gerstäcker, S. 216. Gerstäcker, Streif- und Jagdzüge (8. Aufl.), S. 126. Gerstäcker, Amerikanische Wald= und Strombilder (1849) I, S. 1; II, S. 204; Gerstäcker, Streif= und Jagdzüge (1844) II, S. 142. Gerstäcker, Streif= und Jagdzüge (1844) II, S. 142. Armand, Amerikanische Jagd- und Reiseabenteuer (1858), S. 306

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Doch gerade dicht an dem Abhänge, bietet sich dem Auge eine so wundervolle Aussicht dar, dass man gern den gefahrlichen Weg vergisst und immer von Neuem hinunter und an einer anderen Stelle hinaufklettert. [...] Bei dem ersten Blick von dort aus auf die sich gegen Süden erstreckende Landschaft wird man nicht nur überrascht, sondern tiefbewegt; nur der Gefühllose kann bei so viel Schönheit ungerührt bleiben. Das ganze Land der Choctaws liegt dort vor dem Wanderer ausgebreitet.156

Der Blick in die Ferne wird gesucht, weil der Mythos vom offenen Raum der sinnlichen Bestätigung bedarf. So ist es auch Gerstäcker ein Bedürfnis, die Grenzenlosigkeit der durchstreiften Region nicht nur gefühlsmäßig zu erleben, sondern optisch zu erfahren. So sehr er in den Wäldern von Arkansas weniger die Enge der unmittelbaren Umgebung als die Weiträumigkeit der Gegend empfindet, so erfreut zeigt er sich, als er aus den Wäldern heraustritt und den Blick wieder in die Ferne richten kann: »Mir that es wohl, wieder einmal offenes, sonniges Land betreten zu können, und der Anblick der reizenden Prairien machte mir besondere Freude.«157 Die Belege aus den authentischen wie aus den halb-fiktionalen Reiseerzählungen zeigen das Bedürfnis des Abenteurers nach der Weite der Landschaft, die dem Ausgangspunkt seiner Reise, der unbestimmten Sehnsucht nach der Ferne, entspricht. Der Reisende sieht sein Verlangen nicht befriedigt, wenn er angekommen ist; seine Erwartungen müssen uneingelöst bleiben, weil sie nur negativ bestimmt sind. Sie sind nur das verkehrte Spiegelbild der Situation, aus der es ihn heraustreibt: Der Suche nach der Ferne entspricht ein realer Ausgangszustand, der allenthalben als beengend empfunden wird.

7. Der melancholische Held: Der Westen als Heimat Die Situation des Abenteurers in der ambivalenten Bewußtseinslage der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts scheint klar bestimmbar zu sein. Wenn das bürgerliche Bewußtsein der Zeit geformt ist durch eine Doppelsinnigkeit, die sich konstituiert aus einer - vor allem liberalen - Fortschrittsideologie und einem heimlichen oder offenen Konservativismus, dann ist die Stellung des Abenteurers in dieser Zeit auf den ersten Blick eindeutig: Er schlägt sich auf die Seite des Fortschritts als des bewegenden und belebenden Elements, und er läßt die in Traditionen und Konventionen erstarrten Momente der konservativ geprägten Gesellschaft hinter sich. So verführerisch eine solche eindeutige Positionsbestimmung sich auch ausnehmen mag, so wenig hält sie einer genauen Interpretation der Quellen stand. Auch der Abenteurer trägt die Ambivalenz des bürgerlichen Bewußtseins selbst dann noch in sich, wenn er sich in furioser Abgrenzung von ihr lösen will. Die Doppelbödigkeit der gesellschaftlichen Wirklichkeit kehrt in der Abenteuerliteratur wieder. Sie bleibt geprägt von der zeitty156

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Möllhausen, Tagebuch einer Reise vom Mississippi nach den Küsten der Südsee (1858), S. 28. Gerstäcker, Streif- und Jagdzüge (8. Aufl.), S. 160.

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pischen - und in der Gründerzeit besonders deutlich hervortretenden - Spannung zwischen dem Sicherheitsanspruch des Bürgers und seiner realen Gefährdung. Auf der einen Seite steht die nur oberflächlich domestizierte gesellschaftliche und vor allem wirtschaftliche Wirklichkeit, die ihrer unkalkulierbaren Instabilität wegen als bedrohlich empfunden werden muß; auf der anderen der scheinbar gesicherte Innenraum des Heims und der Familie. Diese Doppelbödigkeit der Wirklichkeit spiegelt sich im späteren 19. Jahrhundert zusehends auch in der Literatur; die bürgerliche Realität qualifiziert sich selbst zum Erlebnisraum des - fiktionalen - Abenteurers, weil sich in ihr das »Unberechenbare [...] von der Natur auf die gesellschaftlichen Verkehrsformen« verlagert hat.158 Schon in Karl Mays erstem großen Roman, dem »Waldröschen«, spielt die Exotik als Handlungsraum keine dominierende Rolle; Abenteuer können sich gleichermaßen in den zivilisierten Gesellschaften Deutschlands und Frankreichs, dem halbzivilisierten - so erscheint es dem Autor - Spanien wie auch in der Wildnis entfalten. Auch in den Abenteuerromanen, deren Handlungsort die Gesellschaft der Gegenwart ist, kristallisiert sich deren Doppelbödigkeit handfest im Komplex des Verbrechens; hier kann sichtbar gemacht werden, wie sich hinter der scheinbar wohlgestalteten Fassade der bürgerlichen Gesellschaft und der sicherheitsstiftenden Institutionen des Staates - und sogar unter ihrem Schutz - zerstörerische Kräfte entfalten. Sie stehen stellvertretend für die anonyme Macht, von der der Bürger sich bedroht fühlt und der er sich unterwerfen muß. Zugleich aber nährt die Verlagerung dieser Bedrohung auf den eher peripheren Aspekt des Verbrechens die Hoffnung, daß zumindest in diesem Bereich der allgemeinen Instabilität Herr zu werden ist. In ziemlich harmloser und optimistischer Weise stellt Gerstäcker diesen Problemkreis in seinem Roman »Das Eckfenster« vor. Die zunächst verworrenen und verborgenen Aktivitäten des »Gentleman«-Verbrechers Rauten, der falscher Graf, aber immerhin echter Baron ist,159 bringen den verschiedenen Romanfiguren allerlei Ungemach, drohen die arme, aber ehrliche Handwerkerfamilie Handorf durch falsche Beschuldigungen gar ins Unglück zu stürzen, aber in einem fast schon schulmäßigen detektorischen Prozeß werden am Ende die Dinge doch wieder ins Lot gebracht: Der scheinbar zur guten Gesellschaft gehörende Verbrecher wird entlarvt und kommt durch eine Art Gottesurteil ums Leben; die Verhältnisse der von seinen Verbrechen in ihrer bürgerlichen Existenz 158

Klotz, Abenteuer-Romane, S. 26. Unter dieser Perspektive untersucht Klotz anhand einer Reihe französischer und deutscher Abenteuerromane, wie ihr »exotisches Muster« in den »eurozentrischen Roman« eingegangen ist; ebd., S. 11. - Am Beispiel von Möllhausens Roman »Die Mandanen-Waise« hat Schmiedt die Verschränkung von exotischer und heimischer Welt herausgestellt und dabei die Gemeinsamkeiten in bezug auf die Unsicherheit der jeweiligen Lebensverhältnisse hervorgehoben; vgl. Schmiedt, Balduin Möllhausen und Karl May, S. 132-134. 159 Vgl. Gerstäcker, Im Eckfenster (1872) IV, S. 162. Auch Karl Mays »Waldröschen« thematisiert extensiv die »Schein«-»Sein«-Problematik vor allem mit der Darstellung illegitimer Geburten. Vgl. Märtin, Wunschpotentiale, S. 139.

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zunächst empfindlich Betroffenen kommen dann auch merkwürdig schnell wieder in die rechte Ordnung. Gerstäcker spielt die Möglichkeiten seines Themas nicht bis zur letzten Konsequenz aus, zumal er die Thematik eher einbindet in seine Kritik des Adels und sie nicht so sehr als grundsätzliches Problem der bürgerlichen Gesellschaft auffaßt.160 Vor allem ist es der versöhnlich-optimistische Schluß, der der potentiellen Gesellschaftskritik die Spitze nimmt. Wenn die Frau des lange Zeit in seiner bürgerlichen Existenz bedrohten Tischlermeisters am Ende sagen kann »es ist ja jetzt Alles, Alles gut«,161 dann verleiht diese Wiederholung der Schlußworte von Eichendorffs »Taugenichts« der am Ende wiederhergestellten bürgerlichen Ordnung fast märchenhafte Züge. Trotz dieser Kompromißbereitschaft Gerstäckers ist seine Einlagerung eines unruhestiftenden Elements in die ansonsten wohlfunktionierende Maschinerie der geordneten Gesellschaft als Ausdruck eines Unbehagens zu deuten, das sich wohl nährt aus dem schwelenden Verdacht, es könne vielleicht doch nicht alles in Ordnung sein. Dieser Verdacht richtet sich sogar - sehr zurückhaltend allerdings - gegen die sicherheitsstiftenden Institutionen selbst, wenn den Assessor plötzlich der kaum glaubliche Zweifel überfallt, ob es nicht doch möglich sei, »daß irgendein deutsches Gericht einen Unschuldigen zur Zuchthausstrafe verurtheilen könne«,162 wie es ja im Roman tatsächlich geschehen ist. Gerstäcker deutet damit vorsichtig eine Komponente an, die im zeitgenössischen Bewußtsein keine unerhebliche Rolle gespielt hat: Die Tatsache nämlich, daß auch die sicherheitsstiftenden Institutionen des Staates als Bedrohung für die Freiheit des einzelnen empfunden werden konnten - eine Empfindung, die nicht ganz der Grundlage entbehrte, da die Polizei ausdrücklich nicht nur zur Verbrechensabwehr installiert worden war, sondern ebensosehr Funktionen bei der politischen Repression in der Reaktionszeit wahrzunehmen hatte. Wenn der reale Abenteurer aufbricht, um die Enge und penetrante Regelmäßigkeit des philiströsen Daseins zu fliehen, dann scheint es, als sei er sich der abenteuerlichen Komponente im bürgerlichen Leben nicht bewußt. Es sieht so aus, als erläge er den Tauschungen eines gesellschaftlichen Scheins, der sich über die Wirklicheit gelegt hat und ihre tatsächliche Unsicherheit verschleiert. Die Dualität des bürgerlichen Lebens ist indes auch im abenteuerlichen Dasein angelegt, dessen Ideologie und Wirklichkeit in den Berichten der einschlägigen Autoren deutlich auseinander fallen. Der vermeintlichen Sehnsucht nach dem Unbekannten, dem Zufall und den Gefahrdungen eines der Zivilisation entrückten Daseins stehen auf der anderen Seite das Bedürfnis nach Geborgenheit

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Vgl. Gerstäcker, Im Eckfenster (1872) IV, S. 2 3 4 - 2 3 7 . Ebd., S. 279. Ebd., S. 227. Die Zurückhaltung, mit der Gerstäcker seine Kritik an staatlichen Institutionen betreibt, kann im übrigen auch in Zensurbefürchtungen begründet sein: Kritik am Polizei- und Rechtswesen wurde nach 1848 in Deutschland rigoros und meist erfolgreich unterdrückt. Vgl. Siemann, Polizei in Deutschland im 19. Jahrhundert, S. 79f.

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im Vertrauten, nach Beständigkeit und Sicherheit gegenüber.163 Das euphorische Initiationserlebnis des Abenteurers beim Eintritt in die Wildnis wird bald gründlich revidiert. Vor allem bei Gerstäcker finden sich Zeugnisse einer Melancholie, die ihren Ursprung in der Entfernung aus dem Kreis des Vertrauten hat. Die von Karl Mays Helden - im sicheren Bewußtsein der eigenen Übermacht so leichterhand aufgesuchte und bewältigte Gefahr wird für Gerstäcker zum Anlaß für melancholische Reflexionen: »Ich konnte nicht umhin, bei dem ganzen, ruhigen, lautlosen Geschäft einen kalten Schauer zu fühlen, der mich bei dem Gedanken durchrieselte, daß dieselben Menschen, unter denselben Verhältnissen, wenn mich anstatt des jungen Erkswine das Schicksal betroffen hätte« nämlich bei der Bärenjagd getötet zu werden - »mir ebenso kaltblütig die Grube gegraben und die Steine dann daraufgewälzt haben würden. Wen hätte es denn dort interessirt, ob ich oder er darunter lag? Wie ich, war der junge Erkswine allein und freundlos in dem fremden Welttheile«.164 Der vermeintliche Zivilisationsflüchtling fühlt sich unwohl angesichts der Gefahren und der Einsamkeit der Wildnis; ihr setzt er die - gut bürgerliche - Sehnsucht nach Seßhaftigkeit und Geborgenheit im Familienkreise gegenüber: Mit einer ordentlichen Angst habe ich mich hier nach stillen Familienkreisen umgesehn mich darin einzubürgern und mich dann bei den ruhigen lieben Leuten wohlzufühlen [...] da mich nun aber kein häuslich stilles Leben freuen soll, so will ichs denn auch recht wild haben, und die unwegsamsten Waldungen sollen den Schall meiner Büchsflinte wiederhallen!165

Ganz ähnlich berichtet Möllhausen von den Verlockungen, die die Seßhaftigkeit und die Begründung einer neuen Heimat durch Heirat für den einsamen Abenteurer in der Wildnis haben: Alles sah so freundlich stille, so einladend aus, als wenn die ganze Landschaft nur zur Wohnung des Glücks und der Zufriedenheit geschaffen wäre [...]. Hier möchte ich leben und sterben, dachte ich, und zum ersten Male seit langer Zeit vergaß ich, wie sehr ich immer für ein freies Wanderleben geschwärmt, und welches Ziel ich mir, nach manchen fehlgeschlagenen jugendlichen Hoffnungen, endlich gesteckt hatte.166

Die Behaglichkeit, die die Autoren sich in der Fremde herbeiwünschen, hat auf den ersten Blick eine verdächtige Ähnlichkeit mit dem Lebensideal des biedermeierlichen Philisters, das sie vordem geschmäht hatten und vor dem sie schließlich geflohen waren. Diese Ähnlichkeit wird offenkundig, wenn Strubberg - der als einziger der Abenteuer-Autoren tatsächlich für einige Zeit im Westen Amerikas ansässig geworden war - in seinem halbdokumentarischen Roman sein »Heim« und sein Leben darin beschreibt: 163

Auf die von der deutschen Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts befriedigte ambivalente Bedürfnisstruktur hat in etwas anderer Akzentuierung auch Doerry hingewiesen; vgl. Doerry, Three Versions of America, S. 39f. 164 Gerstäcker, Streife und Jagdzüge (1844) II, S. 232. 165 Gerstäcker, Mein lieber Herzensfreund!, S. 202. 166 Möllhausen, Reisen in die Felsengebirge Nord=Amerikas (1861) I, S. 309f. 177

Einige Tage Ruhe zu Hause thaten mir ganz außerordentlich wohl und ich fühlte mich recht behaglich in größerer Bequemlichkeit. [...] Eine Sammlung guter Kupferstiche, eine kleine ausgewählte Bibliothek und meine Zeichenapparate vollendeten die Ausstattung dieses Asyls, in welches ich mich häufig zurückzog, wenn ich mit Staub und Blut bedeckt von einer längeren Tour zurückkam und mir diese rohe, wilde Lebensweise anfing lästig zu werden. Dann suchte ich die Garderobe aus vergangener Zeit hervor mit Spitzen und Manschetten, mit Frack, seidenen Strümpfen und glanzledernen Schuhe.167

Die Eloge auf das Leben im behaglichen Heim - die noch komplettiert wird durch die Beschreibung eines Interieurs, welches in seinen Grundzügen dem der bürgerlichen Wohnung im Deutschland des 19. Jahrhunderts entspricht - bekräftigt die Affinität des Abenteurers zum Geborgenheitsbedürfnis des Philisters. Dennoch gibt es bei der Realisierung dieses Bedürfnisses hier wie dort einen gravierenden Unterschied. Wenn der Abenteurer sich die Familie und das bürgerliche Heim in der Wildnis herbeiwünscht, dieses vielleicht sogar, wie Strubberg, tatsächlich einzurichten vermag, dann zielt er damit auf eine Verwirklichung der Ideologie der bürgerlichen Familie jenseits der Realitäten, durch welche diese tatsächlich im gesellschaftlichen Umfeld des deutschen 19. Jahrhunderts geprägt wird. Denn Heim und Familie sind in der bürgerlichen Wirklichkeit nicht die Schutzräume gegenüber den Gefährdungen von außen, zu denen sie stilisiert werden; sie erweisen sich vielmehr in ihrer inneren Struktur als geprägt von den Anforderungen und Bedrohungen der Gesellschaft, zu deren Abwehr sie eigentlich installiert wurden. Daß die bürgerliche Familie - und die ihr entsprechende Wohnform - diese Funktion von Anfang an nur bedingt erfüllen konnte, liegt schon in ihrer Konstruktion begründet: Dem notwendigen Schein familiärer Autonomie entspricht eine reale Abhängigkeit von der Öffentlichkeit, der sie sich zu entziehen sucht und der sie doch immer wieder verfallt. Die äußerlichste Form dieser Abhängigkeit wird im 19. Jahrhundert besonders deutlich, als nämlich die Wohnverhältnisse in den Städten zunehmend in den Sog der Marktgesetze gerieten - das manifestiert sich in der Tatsache, daß der Anteil der Mietwohnungen gegenüber dem eigenen Hausbesitz immer größer und das Wohnen immer teurer wird.168 Die Enge des Wohnraumes ist zuerst eine Folge der begrenzten finanziellen Mittel.169 Versteckter, aber nicht weniger nachhaltig in seinen Auswirkungen, ist der Einfluß der gesellschaftlichen Sphäre auf die Familien- und Wohnstruktur jenseits dieser unmittelbaren Abhängigkeit: Die Familie fungiert als »Agentur der Gesellschaft« und dient »der Aufgabe jener schwierigen Vermittlung, die beim Schein der Freiheit die strenge Einhaltung der gesellschaftlich notwendigen Forderungen dennoch herstellt.«170 167

Armand, Amerikanische Jagd- und Reiseabenteuer (1858), S. 115f.; vgl. auch Möllhausen, Der Fährmann am Kanadian (1890) II, S. 18f. 168 Ygi Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 131; Buchheim, Deutsche Kultur zwischen 1830 und 1870, S. 131f. 169 Darauf wird in Gerstäckers »Eckfenster« (1872) hingewiesen; vgl. I, S. 153. 170 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 59.

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Die vermeintlich streng ausgegrenzte Öffentlichkeit erhebt in den Wohnstrukturen der bürgerlichen Familie wieder ihren Anspruch, dessen Erfüllung ihr bereitwillig gewährt wird. Das Signum dieser Erfüllung ist die Einrichtung einer »guten Stube«, die Gerstäcker in seinem »Eckfenster« mehrmals karikierend beschreibt und zugleich auch in ihrer Funktion entlarvt: Ihre Aufgabe ist die - oft unter großen finanziellen Opfern - ermöglichte Repräsentation durch die Aufrechterhaltung eines oft trügerischen Scheins.171 Über der guten Stube des Bürgertums, wie sie seit 1815 sich herausbildete, lastete der Zwang des Tabus, der sie einer lebendigen Benutzung weitgehend entzieht. Den Kindern erschien sie als »Heiligtum«, das nur mit »Ehrfurcht« betreten werden konnte.172 »Es waren glänzende Putzgemächer, zu schade zum Gebrauch. Die Familie beschränkte sich vielmehr auf einige enge Zimmer, die nach dem düsteren, von Gebäuden umstellten Hofe sahen«.173 Die Funktion der Wohnung als Lebensraum der Intimsphäre wird aufgesogen durch ihre Funktion als Repräsentationsraum, mit dem die Familie ihre - tatsächliche oder nur scheinbare - wirtschaftliche Solvenz nach außen demonstriert. Zur bürgerlichen Wohnung gehört die Putzstube, »in welcher die besten Möbel und Geräthe aufgestellt waren, die gewöhnlich gegen Rauch und Staub sorgfältig eingehüllt, bis bei festlicher Gelegenheit den erstaunten Gästen die Schätze gezeigt wurden.«174 Der Stil der bürgerlichen Wohnung des 19. Jahrhunderts ist bestimmt durch den Willen - oder den Zwang - zur Konformität und zur Repräsentation, der einen Hauch der Leblosigkeit und Erstarrung ebenso wie der Enge über die durch ornamentalen und dekorativen Schmuck verstellten und meist - zumindest im späteren 19. Jahrhundert - kunstvoll abgedunkelten Räume legt.175 Diese erstarrte Konventionalität der häuslichen Einrichtung und des bürgerlichen Familienlebens wurde vom Abenteurer mit Grund als Ausdruck einer Gesellschaft kritisiert, die die Entfaltung wirklichen individuellen Lebens unmöglich macht; die räumliche und zeitliche Entfernung jedoch verdrängt diese Einsicht wieder. Unter dem Eindruck der Einsamkeit und den Gefahrdungen der Wildnis reduziert die Erinnerung die bürgerliche Familie auf ihre reine Ideologie, indem sie sie aus ihrem gesellschaftlichen Umfeld, das diese Ideologie konterkariert, herauspräpariert. Die rückblickende Verklärung mußte umso leichter fallen, als das gesellschaftliche Umfeld in der amerikanischen Wildnis ja tatsächlich nicht mehr präsent 171

Vgl. Gerstäcker, Im Eckfenster (1872) I, S. 88. Vgl. Bähr, Eine deutsche Stadt vor hundert Jahren (1926), S. 82. 173 Kügelgen, Jugenderinnerungen eines alten Mannes (1924), S. 49. 174 Eberty, Jugenderinnerungen eines alten Berliners (1878), S. 21. Zur »guten Stube« vgl. auch Buchheim, Deutsche Kultur zwischen 1830 und 1870, S. 137; zum geschichtlichen Ort der »guten Stube« in der Entwicklung der Wohnverhältnisse vgl. Warnke, Zur Situation der Couchecke, S. 680-682; Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 132. Zur Entstehung des Typus bürgerlichen Wohnens im späten 18. Jahrhundert und seinen Gründen vgl. Sieder, Sozialgeschichte der Familie, S. 139f. 175 Zu diesem Spiel mit der Dämmerung vgl. auch Sternberger, Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert, S. 149-162; und Rosner, Das deutsche Zimmer im 19. Jahrhundert, S. 228.

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war; wenn Möllhausen und Gerstäcker mit dem Gedanken spielen, hier eine Familie zu begründen, müssen sie nicht mit den ungreifbaren Einflüssen des gesellschaftlichen Umfeldes rechnen, die die Struktur des bürgerlichen Familienideals verzerren; wer in der Wildnis seßhaft wird, kann die Hoffnung haben, daß sich hier realisieren läßt, was in der bürgerlichen Gesellschaft nur Versprechen bleibt. Die Bedrohungen, denen Heim und Familie in der Wildnis ausgesetzt werden, sind konkret und faßbar. Sie werden nicht erfahren als schleichende Vereinnahmung der Innenwelt durch die Außenwelt; die Grenze zwischen Innen und Außen wird nicht verwischt. Möllhausen und Gerstäcker haben ihr Wunschbild nicht verwirklichen können; ihre Romane geben aber Auskunft darüber, wie sie es sich vorgestellt haben. In seinen »Kindern des Sträflings« beschreibt Möllhausen ein Bild des idealen häuslichen Lebens in der Wildnis;176 die Darstellung dieser - im Verlauf des Romans durch äußere Einflüsse freilich in ihrer Existenz bedrohten - Familienidylle ist zweifellos weder der deutschen noch der amerikanischen Wirklichkeit abgesehen; sie ist nur die - trivialliterarische - Umsetzung eines Ideals, wie es dem bürgerlichen Selbstverständnis entsprach. Eine interessantere Variante zu dieser umstandslosen literarischen Rettung des Familienideals durch seine Verlagerung aus den gesellschaftlichen Verhältnissen Deutschlands heraus bietet Gerstäcker in seinen »Flußpiraten des Mississippi«. Hier entwirft er ein Bild häuslichen Lebens, das das Geborgenheitsideal des Bürgers und die Ansprüche des Abenteurers auf intrikate Weise miteinander zu versöhnen sucht. Es ist der Schlupfwinkel des Piratenführers, der zugleich als Friedensrichter Dayton eine bezeichnende Doppelexistenz als Abenteurer und solider Bürger zu führen versteht. Die Beschreibung einer Wohnung dieses Schlupfwinkels ist als bewußtes Gegenstück zum Behaglichkeitsideal des bürgerlichen Interieurs konzipiert: Hätte ein Mann in diesem Räume nach langem unruhigen Fieberschlaf zuerst die Augen geöffnet und hier vor den erstaunten Blicken eine Menge von Sachen gesehen, wie sie ihm seine Träume nicht abenteuerlicher gebracht, er würde sich von eben solchem Traume geäfft und alles das, was ihn umgab, für neues, noch tolleres Blendwerk als das frühere gehalten haben.177

Der Raum gleicht in seiner Überladung durch »Schmuck und Zierrat« allem anderen als »dem stillen Aufenthaltsort häuslicher Zurückgezogenheit«,178 aber das ist er trotz seiner exotischen Ausstattung auch. Er ist Teil einer eigenen Welt, deren Struktur von den Gesetzen des Abenteuertums geprägt und die insofern als »Gegenentwurf zur faden Bürgerlichkeit der Stadt Helena« zu verstehen ist.179 Hier, in der literarischen Fiktion, kann Gerstäcker realisieren, was ihm in der Wirklichkeit versagt blieb. Die Entscheidung zwischen dem erfüllten Leben 176

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Möllhausen, Die Kinder des Sträflings (1876), S. 162. Vgl. auch die - freilich weniger intensiv ausgemalte - Familienidylle bei Möllhausen, Der Fährmann am Kanadian (1890) I, S. 236f. Gerstäcker, Die Flußpiraten des Mississippi (1848), S. 102f. Ebd., S. 103. Vgl. Eggebrecht, Friedrich Gerstäcker - oder der Abenteurer als Schriftsteller, S. 548.

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als Abenteurer und der gesicherten Existenz als Bürger stellt sich nicht mehr; sie wird aufgelöst im Doppelleben des Friedensrichters und Piraten und in einem Lebensraum, der die Ansprüche an Geborgenheit und abenteuerlicher Ausstattung gleichermaßen zu befriedigen weiß.180 Es ist einsichtig, daß sich das Sicherheits- und Geborgenheitsbedürfnis des Abenteurers im 19. Jahrhundert gerne an die Vorstellung häuslichen Glücks heftet, braucht er hier doch nur zu übernehmen, was ihm das bürgerliche Bewußtsein seiner Zeit schon als ausgearbeitete Ideologie zur Verfügung stellen kann. Es finden sich indes in den Reiseberichten auch andere Möglichkeiten, diesem Bedürfnis entgegenzukommen. Besonders bei Gerstäcker ist auffällig, in welchem Maße sich in seinen Berichten Beschwörungen der Heimat und Ausbrüche des Heimwehs finden. Das Heimweh ist der ständige Begleiter des Lebens in der Wildnis; und Gerstäcker trägt aller zusätzlichen Erschwernis des Reisens zum Trotz ständig eine Zither mit sich, um das Gefühl zu bannen: Dunkel, tiefes Dunkel lag jetzt auf der schlummernden Erde, und alten Erinnerungen und Bildern nachgebend, zog ich den einzigen Stuhl, der im Hause war, zum flackernden Feuer, holte meine Cither hervor und vertrieb mit den sanften, klagenden Tönen derselben das böse Heimweh, das wohl oft in stillen, einsamen Stunden das Herz peinigen und quälen will.181

Die zum Heimweh sich steigernde Heimatverbundenheit als medizinisches und psychologisches Phänomen ist eine durchgängige Erscheinung nicht nur in den Berichten der Auswanderer - wo sie plausibel ist, weil die Emigranten ihre Heimat einem mehr oder weniger starken Druck weichend verlassen mußten sondern auch in denen der Abenteurer, die ihre Heimat in der Regel freiwillig und nur vorübergehend hinter sich ließen. Auch für Möllhausen wird die Erfahrung der Fremde zum Anlaß, sich desto intensiver der affektiven Bindung an die Heimat zu vergewissern: In dem Maaße nun, wie ein vorwärtsstrebender Geist allmählig die Ueberzeugung gewinnt, daß für den mit eisernem Willen ausgerüsteten Menschen kein Theil der Erde unerreichbar bleibt, in dem Maße wächst auch die Liebe zu einer glücklichen, stillen Heimath, und diese Liebe wird zur sorgsamen Führerin in fremden Ländern auf unwegsamen Pfaden. 182

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Einen schwachen Abglanz dieser Ambivalenz kann Gerstäcker auch in sein bürgerliches Leben in Deutschland retten, indem er sich - ähnlich wie Karl May - in seiner Wohnung mit den Requisiten des Abenteuerlebens umgibt. Vgl. Ostwald, Friedrich Gerstäcker, S. 117. 181 Gerstäcker, Streife und Jagdzüge (1844) I, S. 260. Vgl. auch die Beschreibung des »Heimwehs« bei Gerstäcker, Aus zwei Welttheilen I, S. 15-19. Der Rückgriff auf die Musik gehört im übrigen zur Symptomatologie des »Heimweh«-Syndroms: Die damit verbundene Vergegenwärtigung der Heimat kann als »symbolische Rückkehr« verstanden werden, mit der sich der Reisende die Vertrautheit der Heimat auch in der Fremde suggeriert. Vgl. Greverus, Heimweh und Tradition, S. 128f. 182 Möllhausen, Reisen in die Felsengebirge N o r d a m e r i k a s (1861) I, S. 140. - Zur romanhaften Darstellung der Affinitäten zwischen Wildnis und Heimat bei Möllhausen vgl. Schmiedt, Balduin Möllhausen und Karl May, S. 143f.

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Auch wenn bei Möllhausen das Syndrom bei weitem nicht so stark ausgeprägt ist wie bei Gerstäcker - bei dem sich übrigens in diesem Punkt noch einmal die Nähe der Romantik bewährt183 - , weist seine Artikulation bei jenem die gleichen signifikanten Merkmale auf wie bei diesem. Die Heimat bleibt, bei aller räumlichen Entfernung, der Bezugspunkt, auf den die Sehnsucht des Reisenden in der Fremde gerichtet ist. Die Reise wird nur als ephemeres Ereignis begriffen, das seine eigentliche Erfüllung erst mit der Rückkehr in die Heimat findet. Es ist nur konsequent, daß die Reiseberichte der Abenteurer gerne mit dem Blick auf die »Heimat« enden: Gerstäcker springt »mit leichten, frohen Herzen auf die liebe, deutsche Muttererde«;184 und Möllhausen wendet seine »Blicke gegen Osten über die stillwogende Wasserfläche nach der Richtung, wo meine Heimath, mein Vaterland lag.«185 Diese Heimatbezogenheit der Abenteurer muß zunächst überraschen, denn immerhin konnte ihre Sehnsucht nach der Ferne geradezu als eine Flucht aus den beengten Verhältnissen des »Vaterlandes« gedeutet werden. Im HeimwehSyndrom kehren dagegen - bei Möllhausen wie bei Gerstäcker - die Momente als Objekte der Sehnsucht wieder, denen sich der Abenteurer bei seinem Auszug zu entziehen suchte: Nur die Heimat kann bieten, was der Reisende in der Fremde schmerzlich vermißt und für das er sich nur unzulängliche Surrogate zu verschaffen vermag. Die einschlägigen Äußerungen Gerstäckers und Möllhausens klammern die gesellschaftliche Komponente aus ihrem »Heimat«-Begriff aus und reduzieren ihn auf eine emotionale Kategorie. Das mit ihr ausgedrückte Bedürfnis läßt sich aber identifizieren als die Suche nach einer Geborgenheit, die sich bewährt als »schützende Abgrenzung gegen die Fremde, als Vertrautheitsfaktor und als Raum, in dem sich die Bindungen Gemeinschaft und Tradition verwirklichen.«186 Anders als der Auswanderer war der Abenteurer nicht mit dem erklärten Ziel aufgebrochen, sich in der Fremde eine neue Heimat zu schaffen, er bemühte sich vielmehr im Gegenteil, durch Mobilität innerhalb eines offenen Raumes seine Identität zu finden. Die Sehnsucht nach der Heimat revidiert zumindest punktuell diese ursprüngliche Zielsetzung; und in dieser Revision zeigt sich, daß auch der Abenteurer noch größeren Anteil an der Mentalität der Gesellschaft hat, die er hinter sich gelassen zu haben glaubt, als er zuzugestehen bereit ist.

8. Fremdheit und Vertrautheit: Der Blick in die Wildnis Die ambivalente Bewußtseinslage des Abenteurers spiegelt sich schließlich in seinem Verhältnis zur Natur. Die fremde Landschaft entspricht seinen Erwartun183

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Zur Verbindung der Romantik mit dem »Heimweh« vgl. Greverus, Heimweh als medizinisch-psychologische Kategorie, S. 106. Gerstäcker, Streif= und Jagdzüge (1844) II, S. 309. Möllhausen, Reisen in die Felsengebirge Nord=Amerikas (1861) II, S. 393. Greverus, Heimweh und Tradition, S. 113.

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gen meist nicht, gerade weil sie die Ansprüche erfüllt, die der Abenteurer eigentlich an sie stellte. Die offenen Weiten der amerikanischen Prärien ebenso wie die unermeßlichen Gebirgszüge, die in der Theorie den adäquaten Erlebnisraum des Abenteuers darstellen, sind in der Wirklichkeit schwer zu ertragen. Ihr Reiz bleibt doppelbödig; der Schönheit und Erhabenheit steht eine verborgene Bedrohlichkeit gegenüber. So wird sie in Sealsfields »Cajütenbuch« beschrieben, wo die ganze Schönheit der Natur, wie sie die »Prärie am Jacinto« dem Auge zu bieten vermag, nicht nur nicht für die Gefahr entschädigt, die diese Landschaft für den Verirrten bietet, sondern den Eindruck des Unheimlichen noch erhöht: Gerade daß das Schöne zugleich das Gefahrliche ist, führt zu einer Spaltung der Erfahrung, der der Reisende kaum gewachsen ist; die schöne Wirklichkeit, hinter der sich eine kaum bestimmte Bedrohung verbirgt, wird in dieser Doppeldeutigkeit als unwirklich und spukhaft wahrgenommen: In meinem Leben hatte ich nichts dem Aehnliches gesehen. Der Anblick verwirrte mich, es kam mir jetzt vor, als ob es hier nicht geheuer, ich mich auf verzaubertem Grund und Boden befände, irgend ein Spukgeist sein Wesen mit mir triebe; denn daß ich mich nun wirklich verirrt, in ganz neue Regionen hineingerathen, daran konnte ich nicht mehr zweifeln187

Bei Sealsfields Protagonisten führt diese Erfahrung der Ambivalenz zur halluzinatorischen Wahrnehmungsverwirrung, in der sich Rettungs- und Untergangsphantasien ablösen. In seiner stark poetisierten - und nicht unbedingt sehr realitätsnahen - Darstellung kann Sealsfield dieses ambivalente Erlebnis der wilden Landschaft griffiger herausarbeiten, als die Autoren, die sich unmittelbar mit ihr konfrontiert sahen. Was Sealsfield zum einheitlichen romantisch-literarischen Erlebnis umformt, wird von den realen Abenteurern noch klarer und unverarbeiteter in seiner Ambivalenz erfahren. Die Doppelung der Wirklichkeitserfahrung wird hier nicht poetisch überhöht, sondern sie tritt in den Berichten unvermittelt hervor. Der Abenteurer sieht sich kaum einmal mit einer natürlichen Umgebung konfrontiert, die seinen Erwartungen entspricht. Einer der wenigen Belege dafür, daß sich der Reisende wirklich auf eine wilde und erschrekkende Natur eingelassen hat, ohne mit einer Geste der Abwehr oder des Unbehagens darauf zu reagieren, findet sich in der Reisebeschreibung des Herzogs Paul Wilhelm von Württemberg, der gleichermaßen als Abenteurer wie mit wissenschaftlichen Ambitionen reiste: Gegen Morgen beschien der Mond in düsterem Glanz eine schauerliche Wald- und Felsengegend, die, durch dieses Halblicht noch um vieles wilder und ausdrucksvoller sich darstellend, mich mit Staunen erfüllte. Den Eindruck, den eine solche Landschaft in weiter Ferne vom Vaterland mitten in einem fremden Weltteil erregt, wird jeder bestätigen, der sich in dieser Lage befand und für den Eindruck solcher Bilder aus einer wilden und romantischen Natur Sinn hat.'88

187 Sealsfield, Das Cajütenbuch oder Nationale Charakteristiken (1841) XVI/XVII, S. 59. 188 p a u j Wilhelm von Württemberg, Reisen nach dem nördlichen Amerika (1835), S. 186.

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Paul Wilhelm kostet den Eindruck aus, den die fremde Wirklichkeit ausübt; aber er sieht sie auch nicht nur als Erlebnisraum des Abenteurers, sondern zumindest gleichermaßen mit dem Blick des Wissenschaftlers, der das Phänomen der schreckenerregenden Landschaft mit interessiertem Staunen registriert. Jedenfalls entspricht die Szenerie den Erwartungen, die der Reisende an die Fremde gestellt hat; der Reiz, den die Ferne ausgeübt hat, wird nicht enttäuscht durch die Nähe. Die Übereinstimmung von Erwartung und Erfüllung bleibt jedoch bei den abenteuersuchenden Reisenden die Ausnahme. Diese ernüchternde Erfahrung hat vor allem Gerstäcker beschrieben; er weiß um den romantischen Reiz, der vom amerikanischen Urwald auf den entfernten Betrachter ausgeht, aber er weiß ebenso um die Wirklichkeit, die diesem Reiz zugrundeliegt: »Das Leben in den amerikanischen Urwäldern hat aber stets einen geheimnißvollen Reiz für den Europäer gehabt [...]; ja das ist Alles sehr schön und gut - existiert auch wirklich, nur ist es schlimm, daß die Sache, so recht in der Nähe, aus der Mitte heraus, betrachtet, sehr, sehr viel an Reiz und romantischem Zauber verliert.«189 Gerstäcker ist der einzige der eigentlichen Abenteuer-Autoren, der diese Erfahrung deutlich ausspricht und der das verklärte Bild der amerikanischen Wildnis, deren Verlockungen er doch immer wieder verfällt, durch realistische Wiedergabe der Beschwerlichkeiten, die schon die Natur bietet, korrigiert. Als Gerstäcker nach einer längeren Phase der Seßhaftigkeit wieder in die Wildnis aufbricht, durchkreuzen sich die widersprüchlichen Erwartungen: Neben das berauschende Gefühl, in eine fremde Welt einzutreten, tritt zugleich das Bemühen, in dieser Fremde das Bekannte wiederzuentdecken: Anfangs weckten freilich diese Bilder nur dunkele Erinnerungen in mir, je weiter wir aber zogen, desto deutlicher wurden sie, und zuletzt hätte ich jedem grünen, gewaltigen Baume, der die Ufer des schönen Ohiostroms zierte, wie einem alten Bekannten zunikken und ihn fragen mögen, ob er mich wohl noch kenne. 190

Wie ausgeprägt bei Gerstäcker dieses Bedürfnis ist, im Fremden das Bekannte wiederzufinden, zeigt der Bericht über seine letzte Amerikareise, die er 27 Jahre nach dem ersten Besuch des Kontinents unternimmt. Auch hier folgt der Sehnsucht, den Mississippi »noch einmal begrüßen zu können«, die Enttäuschung; die Veränderungen, die die Landschaft inzwischen erfahren hat, stören den Genuß des Wiedererkennens; etwas »stört an der ganzen Szenerie, das fremd war« - statt des Bekannten findet er das Fremde und sieht seine Erwartung nicht erfüllt.191 Gerstäcker reist auf seinen eigenen Spuren, um seine Erinnerung neu zu beleben, aber allenthalben stößt er auf Veränderungen, die die Wirklichkeit anders als in der Erinnerung erscheinen lassen: »Ich fand mich dort in einer völligfremden Gegend. Und das waren meine alten Jagdgründe!«192 Daß das Vertrau189 190 191 192

Gerstäcker, Amerikanische Wald= und Strombilder (1849) II, S. 201. Gerstäcker, Streif= und Jagdzüge (1844) I, S. 179. Gerstäcker, Neue Reisen (21876), S. 105. Ebd., S. 301.

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te wieder zum Fremden werden konnte, erfüllt ihn mit tiefer Melancholie: »Sonderbar, daß mir der ewige Jude dabei einfiel, aber in dem Augenblick verstand ich erst das ganze Furchtbare der entsetzlichen Sage. [...] Jetzt erst verstand ich, was er leiden mußte.«193 Aber nicht erst im Gefolge einer getäuschten Erinnerung, die das Vertraute suchte und das Fremde fand, fühlt sich der Abenteurer unbehaglich in der von Menschen verlassenen unberührten Natur. Die Wildnis kann das Fehlen menschlicher Gesellschaft nicht ersetzen. So sehr er sie ursprünglich gerade wegen ihrer Einsamkeit aufsuchte, so sehr empfindet er diese Einsamkeit als bedrückend: »Einsam zog ich jetzt durch die öden, von keiner menschlichen Seele belebten Wälder, die Spur des flüchtigen Wildes verfolgend, und lag dann abends auch wieder einsam und allein, meinen trüben Gedanken nachhängend, am knisternden Feuer.«194 Solche »trüben Gedanken« werden freilich in der Abenteuerliteratur nur selten erwähnt. Die Autoren entwickeln vielmehr ihre eigenen Techniken, um den Schatten der Melancholie zu vertreiben. Die Verklärung ihres Wirklichkeitserlebnisses gelingt ihnen am sichersten durch die räumliche und zeitliche Distanzierung: Die wilde Landschaft nimmt eine freundlichere Gestalt an, wenn sie aus der Ferne betrachtet werden kann: Weithin nach Süden und nach Norden erstreckten sich die phantastischen Gebilde, während im Osten rosenfarbige Dämmerung die verworrenen Felsmassen halb verschleierte. Es war ein schöner, ein herrlicher Anblick, diese grausige Wildniß.195

Der panoramatische Blick mildert den Gegensatz, weil in ihm die Landschaft zur Kulisse erstarrt, der der Betrachter distanziert gegenübersteht. Die »grausige Wildnis« kann zum Gegenstand des ästhetischen Genusses werden, weil der Betrachter den Horizont seines Erfahrungsbereiches nur sieht, nicht aber ihn überschreitet. In der Ferne sieht er das Fremde, ohne den Bereich des Vertrauten - im Falle Möllhausens ist es das Lager der Expedition, in dem er gleich darauf sein Abendbrot vom Koch zubereitet bekommt - gänzlich verlassen zu müssen; die Enttäuschung, die die Nähe der ersehnten Wirklichkeit mit sich bringt, bleibt ihm erspart. Nicht immer freilich läßt sich Wahrnehmung der Wildnis auf die Ferne des panoramatischen Blickes reduzieren. Wo die Distanz sich nicht herstellen läßt, versucht sich der Reisende die fremde Umgebung in eine vertraute umzudeuten; er stellt ein persönliches Verhältnis zur Natur her, indem er ihre Schönheit oder Erhabenheit zur Quelle des Genusses werden läßt, der für Einsamkeit und Wildheit entschädigt: Auch wenn ich auf der Jagd nicht glücklich war, fand ich doch stets reichen Genuß auf meinen Streifereien, einen Genuß, den mir die, gleichsam im Festkleide prangende Natur gewährte, und der mich nie fühlen ließ, daß sich Niemand um mich gekümmert haben würde, wenn ich irgendwo mein Ende gefunden hätte.196

193 194 195 196

Ebd., S. 300. Gerstäcker, Streif= und Jagdzüge (1844) I, S. 274. Möllhausen, Reisen in die Felsengebirge Nord=Amerikas (1861) I, S. 176f. Ebd., S. 262.

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Nicht selten bedarf es freilich einer gedanklichen Anstrengung, um in dieser Weise zu einer Versöhnung mit der Natur zu gelangen; die Unmittelbarkeit des Anblicks einer abweisenden Wirklichkeit wird reflexiv gebrochen, damit der Reisende sein Bedürfnis nach einer im Grunde doch vertrauten Umgebung befriedigen kann: Lautlose Stille herrschte in dieser öden, aber schönen Wildniß, doch zu dem Aufmerksamen sprach es aus todtem Gestein wie aus grünenden Cedern und keimenden Halmen in leichtverständlicher Weise: >Erhaben ist die Natur in allen ihren FormenDa habt ihr meine Burgin welcher es sich noch sicherer wohnen läßt als selbst in Abrahams Schoße>.200

In den fiktiven Abenteuererzählungen ist dieses Landschaftsideal deutlich konstruiert; aber es gibt gerade dadurch Auskunft darüber, was der Abenteurer in der Natur sucht: Es ist nicht die abweisende und oft schreckenerregende Wildnis, die ihn anzieht, sondern der idyllische Ort, der ihm physische Sicherheit und emotionale Geborgenheit vermittelt.201 Das gilt entsprechend für den realen Abenteurer, der sich freilich die Landschaft nicht nach Belieben gestalten kann wie der Romancier, der aber meist dennoch mit verschiedenen Mitteln versucht, sich die wilde Umgebung anheimelnd zuzurichten. Selbst Gerstäcker, der deutlich genug das bedrückende Gefühl der Einsamkeit formulierte, kann sich in einer anderen Stimmung die Wildnis zur Idylle umgestalten: »Es ist ein herrliches Gefühl, in stillem Waldesdunkel bei der rothen Kienflamme zu wachen, die um den Jäger einen Lichtkreis von kaum mehr als vierzig Schritt im Durchmesser zieht [...] - dann wird es Einem bei dem flackernden Feuer ordentlich schauerlich behaglich zu Muthe.«202 »Schauerlich behaglich« - das ist der Gemütszustand, den der Abenteurer anstrebt: »Schauerlich« ist die wilde Naturszenerie draußen; behaglich wird es, wenn sie ausgegrenzt wird und der Reisende sich in einem eng beschränkten Kreis, der für ihn schnell zur schützenden und vertrauten Umgebung wird, einrichtet. Dieser Raum ist das genaue Gegenbild dessen, was der Abenteurer ursprünglich zu suchen schien: Er ist eng, geschlossen und statisch - und entspricht damit den wesentlichen äußerlichen Merkmalen der traditionellen Idylle203, während das ursprüngliche Ziel der abenteuerlichen Reise doch gerade die offene, in die Ferne gerichtete Bewegung war. Die verschiedenen Facetten des abenteuerlichen Erlebnisses verweisen immer auf die gleiche Grundkonstellation: Auf eine Dualität des Bewußtseins, das gespannt ist zwischen dem Wunsch nach Geborgenheit und der Erfahrung der realen Unsicherheit. Mit dieser Dualität erweist sich das abenteuerliche Dasein als kaum verzerrter Spiegel der bürgerlichen Existenz im 19. Jahrhundert. Es hat teil am konservativen Grundzug der Zeit, der sich als Gegenreaktion gegen die realen Verunsicherungen der Wirklichkeit durch Modernisierung und Industrialisierung etablierte. 200 M a y j Winnetou II (1893), S. 467. Vgl. dazu auch Schulte-Sasse, Karl Mays AmerikaExotik und deutsche Wirklichkeit, S. 121f.; zu entsprechend an die Idyllen- und »Garten Eden«-Tradition gemahnenden Landschaftsdarstellungen bei Gerstäcker vgl. Doerry, Three Versions of America, S. 43f. 201 Vgl. Steinbrink, Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts in Deutschland, S. 86. Steinbrink gibt hier weitere Belege für die entsprechende Landschaftsszenerie einer ganzen Reihe von Abenteuerromanen verschiedener Autoren. Vgl. ebd., S. 81-88. 202 Gerstäcker, Amerikanische Wald= und Strombilder (1849) I, S. 16f. - Gerstäckers Bedürfnis nach einem imaginären, nur durch den Schein des Lagerfeuers abgezirkelten umgrenzten Raum ist offensichtlich keine singuläre Erfahrung; Kühn verweist - leider ohne nähere Belege - auf Berichte von Wüstenfahrern, die das »Lagerfeuer herbeisehnen, weil der Feuerschein aus dem Dunkel einen fiktiven Raum abgrenzt«; vgl. Kühn, Anmerkungen zum Verhalten des Großstädters, S. 267. 203 Vgl. Böschenstein, Idylle, S. 8f. 187

KAPITEL III

Der Wissenschaftler: Reisen in den Westen

1. Das Selbstverständnis der reisenden Wissenschaftler Weit stärker als der Abenteurer oder gar der Auswanderer partizipiert der Wissenschaftler als der dritte Typus deutscher Amerikareisender des 19. Jahrhunderts am Programm des Fortschritts. Die Entwicklung der Wissenschaft in der deutschen Gesellschaft des früheren 19. Jahrhunderts ist mit diesem Programm enger verbunden als jeder andere Bereich des sozialen Lebens; die Wissenschaft hat unmittelbar Anteil an den Innovationsprozessen, in deren Sog sie gerät und die sie zugleich auch wieder beschleunigt. Das gilt für die naturwissenschaftlichen Disziplinen im engeren Sinne, aber auch jene Fächer, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts als Geistes- und Sozialwissenschaften ausdifferenzierten, hängen auf vielfältige Weise mit der gesellschaftlichen Entwicklung zusammen. Dabei formiert sich die Wissenschaft unter dem Druck sozialer Anforderungen selbst neu. Mit dem gesellschaftlichen Wandel gehen unablösbar ein Strukturwandel, eine neue Funktionsbestimmung und die Herausbildung moderner Organisationsformen der Wissenschaft in der Gesellschaft einher. Dieser Übergang von einer traditionellen zu einer modernen Wissenschaft vollzieht sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Als sein charakteristisches Element läßt sich eine Tendenz zur »Verzeitlichung« ausmachen, mit der die Wissenschaft sich der Fortschrittsidee unterwirft und dabei ihr Selbstverständnis neu definiert.1 Wissenschaftliche Tätigkeit in diesem modernen Sinne zielt nicht mehr auf die Herausbildung eines System abgeschlossenen Wissens, sondern sie versteht sich als ein dynamischer Prozeß, der fundiert ist auf dem »Pathos der Unvollendbarkeit und Entwicklungsfähigkeit des Wissens«.2 Eng verbunden mit dieser Dynamisierung der Wissenschaft ist ihre Empirisierung. Die wissenschaftliche Forschung - soweit sie auf Naturerkenntnis bezogen ist - löst sich ab von philosophischen Vorgaben, indem sie sich ihrer spekulativen Elemente weitgehend entledigt und sich als exakte experimentelle oder beschreibende Naturwissenschaft auszubilden beginnt. Dynamisierung und Empirisierung treten in eine Wechselwirkung: Die Dynamisierung wird erzwungen durch die stetige Zunahme empirischen Wissens, das eine Verarbeitung in statischen Sy1 2

Vgl. Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte, S. 16 und S. 21-28. Vgl. Plessner, Zur Soziologie der modernen Forschung und ihrer Organisation in der deutschen Universität, S. 127. Vgl. auch Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933, S. 116f.

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stemen nicht mehr erlaubt; umgekehrt wirkt sie als agens für das immer weitere Anwachsen dieses Wissens.3 Mit der neuen Wissenschaftsauffassung setzen sich Verfahrensprinzipien und Einstellungen durch, die generell durch ihre Tendenz zur »Versachlichung« gekennzeichnet sind. Wissenschaft wird unter dieser Prämisse verstanden und betrieben als eine entsubjektivierte und rationalisierte Tätigkeit; ihr Ideal ist das experimentell oder beschreibend unter methodischer Kontrolle erzielte und intersubjektiv nachvollziehbare Resultat.4 Zugleich vollzieht sich ein Wandel in der Organisationsform der Wissenschaft. Zu ihrem Charakteristikum wird die Dynamik einer immer weiterreichenden sachlichen Spezialisierung und organisatorischen Diversifikation, welcher die Universitäten und die anderen Einrichtungen des wissenschaftlichen Betriebs durch die Herausbildung neuer Institutionsformen gerecht werden.5 Diese Momente sind im einzelnen nicht unbedingt Errungenschaften der Wissenschaftsentwicklung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Sie finden sich fast durchgehend bereits im neuzeitlichen Wissenschaftsverständnis spätestens seit dem 17. Jahrhundert angelegt. Zur spezifisch modernen Gestalt von Wissenschaft formen sie sich aber erst aus, wenn sie nicht mehr nur als Einzelmomente wirksam werden, sondern in einen organischen Zusammenhang und in eine Wechselwirkung treten. Erst in diesem Zusammenwirken können sie die Dynamik entfalten, die es ihnen erlaubt, jenen umfassenden Anspruch zu erheben, der charakteristisch ist für das Selbstverständnis moderner Wissenschaft. Daß dieser Typus von Wissenschaft schließlich der dominierende werden konnte, ist nicht nur das Resultat wissenschaftsimmanenter Entwicklungen. Seine Durchsetzungsfähigkeit verdankt er vielmehr der Tatsache, daß er sich in enger Verbindung mit der Herausbildung einer modernen Gesellschaft entfaltet und ihren spezifischen Bedürfnissen gerecht wird. Die Prinzipien der modernen Wissenschaft und die der modernen Gesellschaft sind homolog; der »Rationalisierung des sozialen Lebens« als dem wesentlichen Konstituens einer modernen Gesellschaft entspricht die »Industrialisierung der Wissenschaft«.6 Auf der Grundlage dieser Homologie treten Wissenschaft und Gesellschaft im Verlaufe des 19. Jahrhunderts in eine Verbindung ein, wie sie in der neuzeitlichen Wissenschaftsentwicklung zuvor noch nicht aufgetreten ist. Zwar ist bereits die im England des 17. Jahrhunderts entstandene »Neue Wissenschaft« fundiert auf der Zielvorstellung sozialer Wirksamkeit wissenschaftlicher Forschung;7 aber was sich hier als humanitäres Postulat im Sinne einer moralischen Forderung eta3

Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933, S. 113; Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte, S. 18f. 4 Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831 -1933, S. 93. 5 Vgl. ebd., S. 96f.; Plessner, Zur Soziologie der modernen Forschung und ihrer Organisation in der deutschen Universität, S. 7. 6 Plessner, Zur Soziologie der modernen Forschung und ihrer Organisation in der deutschen Universität, S. 130. 7 van den Daele, Die soziale Konstruktion der Wissenschaft, S. 148-156.

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bliert, kann sich erst in einer Gesellschaftsformation entfalten, deren Prinzipien denen der Wissenschaft entsprechen. Die soziale Rolle der Wissenschaft bewährt sich dann in ihrem unmittelbaren und durchdringenden, alle Bereiche des sozialen Lebens umfassenden Eingreifen in gesellschaftliche Prozesse. Die moderne Wissenschaft erhebt nicht nur den Anspruch einer gesellschaftlichen Wirkung, sondern sie greift auch tatsächlich weit aus in die gesellschaftliche Entwicklung, indem sie die Prozesse der Modernisierung inauguriert oder beschleunigt. Erst mit der »Verwissenschaftlichung der Lebenswelt« erreicht das moderne Wissenschaftsideal sein Ziel:8 Die Resultate naturwissenschaftlicher Forschung setzen sich seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts unmittelbar in Technik um, und mittelbar haben sie einen erheblichen Einfluß auf die Entwicklung der Industrialisierung.9 Diese Einbindung in die Bedürfnisstrukturen und Entwicklungsprozesse einer sich modernisierenden Gesellschaft zwingt der Wissenschaft die methodischen Prinzipien und Organisationsformen auf, die ihr seit dem späten 18. Jahrhundert ihre genuine Gestalt verleihen. Die Herausbildung der spezifisch modernen Wissenschaftsauffassung und ihrer Organisationsformen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts vollzieht sich nicht als einliniger Prozeß. Die neue Wissenschaftsauffassung arbeitet sich heraus aus älteren, aber teilweise zeitlich noch parallel laufenden Konzeptionen, die nur partiell am modernen Wissenschaftsverständnis partizipieren und denen noch traditionelle Momente statischen Systemdenkens inhärent sind. Zugleich muß sie sich durchsetzen gegen gegenläufige Strömungen, die sich gleichzeitig mit ihrer eigenen Entstehung etabliert haben. Denn wie überhaupt das Fortschrittsdenken begleitet war von konservativen Gegenbewegungen, so hat auch die Modernisierung der Wissenschaft mit der romantisch-spekulativen »Naturphilosophie« eine mächtige und lange Zeit dominierende Gegenströmung hervorgerufen.10 Die Situation und die Entwicklung der Wissenschaft in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ist in Deutschland entscheidend durch das Nebeneinander solcher konkurrierender Strömungen geprägt worden. In diesem Rahmen müssen sich jene Amerikareisenden ihren Ort suchen, die sich entweder ausdrücklich als Wissenschaftler verstanden haben oder aber zumindest en passant wissenschaftliche Ambitionen verfolgen. Sie sind sachlich und organisatorisch in die Spannungen eingebunden, von denen die Wissenschaftsentwicklung in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bestimmt ist. Diese Spannungen wurden hervorgerufen durch den Konflikt zwischen den Bedürfnissen einer sich modernisierenden Gesellschaft und den Restbeständen traditionalistischer Wissenschaftskonzeptionen. 8 9

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Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933, S. 90. Zu den wissenschafts- und ideengeschichtlichen ebenso wie den organisatorischen, institutionellen und sozialen Voraussetzungen dieses Prozesses vgl. Radkau, Technik in Deutschland, S. 155-171. Vgl. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933, S. 100-105; Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 485-488; Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert III, S. 170-175.

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Nur vor dem Hintergrund dieser Entwicklung läßt sich das Verfahren der Beschreibung fremder Natur und fremder Kulturen interpretieren, wie es von den reisenden Wissenschaftlern praktiziert wird. So sehr sie einerseits ihrem Selbstverständnis und ihrem Forschungsprogramm nach am Modernisierungsprozeß der Gesellschaft teilhatten, so sehr wirken in ihnen auch die traditionellen und die neu entstandenen gegenmodernen Auffassungen nach, die diesen Prozeß konterkarierten oder in ihm als Momente der Ungleichzeitigkeit nachwirkten. Daneben hat auch die organisatorische Umbruchssituation der deutschen Wissenschaft zum Beginn des 19. Jahrhunderts ihre Spuren in den Reiseberichten hinterlassen. Die Reisenden sind noch nicht eingebunden in die Institutionen des wissenschaftlichen Betriebs, außerhalb derer einige Jahrzehnte später keine wissenschaftliche Betätigung und erst recht keine Forschungsreisen mehr möglich sein werden. Auch die Spezialisierung ist in den einschlägigen Reiseberichten noch nicht sehr fortgeschritten. Mit ihren ethnologischen, kulturhistorischen und linguistischen Interessen auf der einen sowie den geologischen, zoologischen und geographischen Forschungen auf der anderen Seite bewegen sich die Wissenschaftler durchgehend in den Grenzbereichen zwischen jenen Disziplinen, die im Laufe des Jahrhunderts immer deutlicher auseinandertreten werden. Mit ihren Forschungsreisen haben die deutschen Wissenschaftler gerade in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts einen nicht unerheblichen Anteil an der Erforschung des amerikanischen Kontinents gehabt, wobei ein gewisser Schwerpunkt auf Südamerika gelegen hat.11 Aber auch der nordamerikanische Westen wurde von einigen deutschen Wissenschaftlern bereist. Ihr Beitrag zur wissenschaftlichen Erschließung dieser Region ist umso bedeutender, als von amerikanischer Seite in dieser Hinsicht nur ungenügende Anstrengungen unternommen wurden. Die Erforschung des amerikanischen Kontinents durch die Amerikaner selbst seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts war inspiriert von praktisch-politischen Erwägungen. Die erste systematisch vorbereitete und durchgeführte Expedition war die von Lewis und Clark, die sie in den Jahren 1803 bis 1806 zur Erforschung des Louisiana-Gebietes durchführten. Der Auftrag des Präsidenten Jefferson an die Expeditionsleiter ging dahin, das Gebiet umfassend, vor allem in topographischer und ethnographischer Hinsicht, zu erschließen, was umfangreiche technische und methodologische Vorbereitungen erforderte.12 Bei allen wissenschaftlichen Interessen wird jedoch das Hauptziel 11

Zur Tradition der deutschen Forschungs- und Handelsreisen nach Südamerika vgl. zusammenfassend Fröschle, Zusammenfassung und Ausblick, S. 8 0 6 - 809; zu einzelnen Reisenden vgl. Beck, Große Reisende, S. 150-152. Einen Überblick über die von internationalen Forschungsreisen des 19. Jahrhunderts bereisten Gebiete gibt Beck, Geographie und Reisen im 19. Jahrhundert, S. 6f. und S. 12f. 12 Ein interessantes Dokument, in dem sich die sorgfältige Vorbereitung der Reise manifestiert, ist die Liste der von Lewis gewünschten Ausrüstungsgegenstände, die von wissenschaftlichen Instrumenten über Geschenke für die Indianer bis zu den Transportmitteln reicht. Vgl. Letters of the Lewis and Clark Expedition with Related Documents 191

des Unternehmens nicht aus den Augen gelassen: Die Vorbereitung einer ökonomischen Erschließung des neuerworbenen Gebietes, wie sie Jefferson in seiner Anweisung an Lewis fordert: »The commerce which may be carried on with the people inhabiting the line you will pursue, renders a knowledge ofthose people important.« 13 Nicht anders verhielt es sich mit den unmittelbar darauf unternommenen Expeditionen des Leutnants Pike oder den Unternehmen um die Jahrhundertmitte - an deren einem Balduin Möllhausen teilgenommen hatte die die Erkundung günstiger Eisenbahnlinien quer durch den Kontinent zum Ziel hatten. In allen diesen Fällen mußte - trotz einiger, vor allem kartographischer, Erträge im einzelnen - die umfassende wissenschaftliche Bestandsaufnahme zurücktreten hinter die politischen und ökonomischen Zwecke. Die Erschließung des Kontinents bleibt, von diesen wenigen systematisch geplanten und durchgeführten Expeditionen abgesehen, weitgehend dem Zufall und dem Vordringen der Squatter und Trapper überlassen, denen wissenschaftliche Interessen freilich sehr fern lagen, so daß Maximilian Prinz zu Wied der »Regierung der Vereinigten Staaten« den Vorwurf machen kann, »nicht mehr zu deren Erforschung gethan zu haben«.14 Diese Lücke versuchten ausländische, und insbesondere deutsche, Reisende zu füllen, die von praktischen amerikanischen Interessen unberührt den Kontinent in Augenschein nehmen konnten. In ihren Reiseberichten gehen wissenschaftliche Forschung, Abenteuerlust und nicht zuletzt naive Neugierde eine merkwürdige Verbindung ein. Daß die Abgrenzung zwischen diesen divergierenden Reisemotiven oft unscharf und damit auch der Status und das Selbstverständnis der Wissenschaftler unklar geblieben sind, läßt sich an ihren Texten ablesen: Die Reiseberichte beginnen fast durchgehend mit einer captatio benevolentiae, in der sie sich und dem Publikum Rechenschaft ablegen über die Intentionen und Leistungen ihrer Unternehmen, wobei die halb kokette Zurücknahme des wissenschaftlichen Anspruches der Darstellung zu den Standardformeln gehört: »Der Zweck der Reise selbst war kein anderer als der, Kenntnisse des Landes, seiner Einwohner und Produkte zu erlangen und diese in Fragmenten oder einzelnen Abhandlungen bekanntzumachen, falls meine gesammelten Erfahrungen Stoff genug dazu darbieten sollten, der gebildeten Welt mitgeteilt zu werden.«15 Hinter der so bescheiden formulierten Absicht steht aber ein wissenschaftliches Programm, das die Autoren freilich mehr zu kaschieren als in den Vorder-

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14 15

1783-1854, S. 6 9 - 7 5 . Methodisch wichtig ist der Fragenkatalog, den Clark zur Erforschung der indianischen Lebensgewohnheiten erstellt hat. Vgl. ebd., S. 157-161. Solche Methoden der ethnographischen Forschung auf Reisen hatten zu dieser Zeit bereits eine gewisse, vor allem im Frankreich des ausgehenden 18. Jahrhunderts begründete Tradition; vgl. Moravia, Beobachtende Vernunft, S. 129-132. Vgl. Letters o f the Lewis and Clark Expedition with Related Documents 1783-1854, S. 62. Maximilian Prinz zu Wied, Reise in das innere Nord-America (1839/1841) I, S. X. Paul Wilhelm von Württemberg, Reise nach dem nördlichen Amerika (1835), S. 13.

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grund zu rücken bemüht sind. Es kehrt hier das alte Dilemma wieder, das schon in der Diskussion um die Reiseberichterstattung im 18. Jahrhundert thematisiert wurde: Die ungelöste Diskrepanz zwischen unterhaltendem und belehrendem Anspruch von Reiseberichten. Um die - vermuteten - Ansprüche ihres Publikums zu befriedigen, versprechen die Autoren weniger, als sie halten. Maximilian Prinz zu Wied will sich mehr »der anschaulichen Beschreibung des Landes als der Angabe statistischer Nachrichten« befleißigen;16 Julius Fröbel, der selbst ein bedeutender Geograph und Geographietheoretiker war,17 verspricht, daß seine Reisebeschreibung »am wenigsten eine naturwissenschaftliche sein« soll,18 ebenso wie Adalbert Prinz von Preußen »wissenschaftliche Forschungen und gelehrte Abhandlungen« aus seinem »Tagebuch einer einfachen Lustreise« auszuschließen vorgibt.19 Doch derlei Bekundungen des eigenen Selbstverständnisses sind allenfalls die halbe Wahrheit. Trotz ihrer Beteuerungen geben diese Autoren mehr als nur die unverbindliche Beschreibung zufälliger subjektiver Wahrnehmungen. Die Diskrepanz zwischen der erklärten und der tatsächlichen Absicht wird oft schon in den Vorreden deutlich: Sowohl Maximilian Prinz zu Wied wie Fröbel klagen darüber, manches nicht mitteilen zu können; finden aber »eine vollgültige Entschuldigung in dem Verluste des grössten Theils« ihrer naturhistorischen Sammlungen.20 Die Kollision zwischen erklärter und verborgener Absicht wird allenthalben deutlich: In Julius Fröbels umfangreicher Reisebeschreibung sind weite Passagen angefüllt mit wissenschaftlichen Beobachtungen und Studien aller Art; er sammelt in ermüdender Ausführlichkeit Informationen zu Geographie, Fauna und Flora, Geologie, Ethnologie, zum Klima und zur Geschichte der bereisten Länder und erklärt gelegentlich auch ausdrücklich, den »Plan zu einer topographischen und geologischen Recognoscirung des Landes«21 gehabt zu haben; ebenso wie Prinz Adalbert von Preußen ans Ende seines Werkes Tabellen mit »Beobachtungen der Temperatur und Windrichtung« anhängt 22 und andernorts fordert: »darum studire Botanik, wer reisen will!«23 Die Gründe für dieses ambivalente Selbstverständnis sind nicht leicht und allenfalls spekulativ zu erschließen. Julius Fröbel gibt eine Auskunft, die auf seine Biographie verweist: »Ich hatte, als ich nach Amerika kam, eine solche Abneigung gegen wissenschaftliches und literarisches Handwerk, daß ich es nicht über 16

Maximilian zu Wied, Reise in das innere Nord-America I (1839/1841), S. VIII. Zur wissenschaftlichen Ausbildung Fröbels vgl. Müller, Die Untersuchungen Julius Fröbels über die Methoden und die Systematik der Erdkunde und ihre Stellung im Entwicklungsgange der Geographie als Wissenschaft, S. 7f. 18 Fröbel, Aus Amerika (1857f.) I, S. V. 19 Adalbert Prinz von Preußen, Aus meinem Tagebuche (1847), S. V f. 20 Maximilian zu Wied, Reise in das innere Nord-America (1839/1841) I, S. XII; vgl. auch Fröbel, Aus Amerika I, S. VI. 21 Fröbel, Aus Amerika (1857f.) I, S. 333. 22 Adalbert von Preußen, Aus meinem Tagebuche (1847), S. 779ff. 23 Ebd., S. 310. 17

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mich vermochte, ein regelmäßiges Tagebuch zu führen.« 24 Die Abneigung ist individual-psychologisch verständlich: Sie dürfte ein Reflex der gescheiterten Revolution von 1848 sein, an der Fröbel als Publizist wie Verleger und politisch als Abgeordneter der Nationalversammlung teilgenommen hatte, was ihm in Wien - das er zusammen mit Robert Blum im Oktober 1848 besuchte - ein Todesurteil und die anschließende Begnadigung einbrachte. Die politische Fruchtlosigkeit seiner publizistischen und wissenschaftlichen Bemühungen dürfte der Grund sein für die im Vorwort zu seinem Amerikabuch formulierte »Abneigung«, die ihn dann doch nicht davon abhielt, in Amerika und nach seiner Rückkehr nach Deutschland weiter wissenschaftlich tätig zu sein.25 Die Gründe der anderen Amerikareisenden, die Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Untersuchungen im Reisebericht eher zu verstecken als hervorzuheben, sind schwerer zu rekonstruieren. Sie sind wohl eher sozial- als individualpsychologischer Natur und erschließen sich erst einer Betrachtung, welche den wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklungsstand im Deutschland dieser Zeit einbezieht. Als deren wesentliches Charakteristikum erscheint die durchgehende Tendenz zur Empirisierung wissenschaftlicher Tätigkeit; ein wissenschaftshistorischer Vorgang, der eng einhergeht mit sozialgeschichtlichen Entwicklungen. Die Trägerschicht der empirischen Wissenschaft wird das bürgerliche Gelehrtentum, das aufgrund langer mentalitätsgeschichtlicher Traditionen die Fähigkeit und die Bereitschaft aufbringt, der wesentlichen Anforderung empirischer Forschung zu genügen: der Notwendigkeit zur »unermüdlichen und ununterbrochenen Durcharbeitung riesiger Stoffmassen.« 26 Angesichts dieser Feststellung mutet es zunächst paradox an, daß ein großer Teil der wissenschaftlichen Reisenden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von seiner sozialen Herkunft her dieser Charakteristik gerade nicht entsprach: Alexander von Humboldt, Maximilian Prinz zu Wied, Paul Wilhelm von Württemberg, Adelbert von Chamisso, Ernst von Bibra und andere Reisende mit weniger ausgeprägten wissenschaftlichen Ambitionen - Adalbert Prinz von Preußen, Herzog Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach, Fürst Pückler-Muskau, Herzog Ernst II. von Coburg-Gotha - entstammten adligen Familien. Diese auffallige Häufung adliger Reisender ist sozialpsychologisch wie sozialgeschichtlich erklärungsbedürftig. 27 Zunächst ist offensichtlich, daß die äußeren Voraussetzungen umfang24 25

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Fröbel, Aus Amerika (1857f.) I, S. VI. Zur Biographie Fröbels und seinen politischen Anschauungen vgl. Wentzcke, (Art.) Carl Ferdinand Julius Fröbel, S. 644-646; Mommsen, Julius Fröbel, S. 497-509; Bermbach, Liberalismus, S. 361-364; Dobert, Deutsche Demokraten in Amerika, S. 79-89. Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert III, S. 30. Dieser Aspekt der Wissenschafts- und Kulturgeschichte des frühen 19. Jahrhunderts scheint noch nicht von der zuständigen Forschung gewürdigt worden zu sein. Seine angemessene Behandlung bedürfte ausführlicherer Untersuchungen der einzelnen Biographien und der Stellung des Adels im Gesellschaftsgefüge der Zeit. Hier können nur Andeutungen gegeben werden, die sich zum guten Teil Anregungen von Dr. Wolfgang von Ungern-Sternberg verdanken.

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reicher empirischer Untersuchungen zu dieser Zeit eher beim Adel als beim Bürgertum gegeben waren. Zu ihnen gehört nicht nur die Muße, sondern auch die Möglichkeit, größere Forschungsreisen zu finanzieren;28 in Deutschland wurde diese Aufgabe - im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern zu Beginn des Jahrhunderts - bekanntlich nicht vom Staat und nur selten von wissenschaftlichen Institutionen wahrgenommen.29 Unter diesen äußerlichen Gesichtspunkten war der Adel dazu prädestiniert, gerade jenen Bereich der empirischen Forschung zu übernehmen, der zeitlich und finanziell besonders aufwendig war, während er als soziale Gruppe in den anderen Disziplinen naturwissenschaftlicher Forschung kaum auffällig hervorgetreten zu sein scheint. Daß diese Möglichkeit aber tatsächlich in so großem Umfang realisiert wird, ist dennoch überraschend, weil dabei erhebliche Widerstände überwunden werden mußten. Die Teilnahme am wissenschaftlichen Leben gehörte weder im 19. Jahrhundert noch erst recht in den Jahrhunderten zuvor in Deutschland zu den gesellschaftlich sanktionierten Betätigungsfeldern des Adels. Sofern eine Tätigkeit überhaupt gesucht wurde - und diese Notwendigkeit stellte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zusehends - vollzog sie sich ganz überwiegend in den traditionellen Bereichen von Diplomatie, Militär oder Verwaltung, in denen die Adligen gleichermaßen repräsentative Funktionen wie auch - wenn nötig wirtschaftliche Absicherung fanden.30 Gegenüber dieser normalen Karriere - die im 19. Jahrhundert oft genug durch die prekäre finanzielle Lage einzelner Adelsfamilien erzwungen wurde31 - bedeutete die Organisation von Forschungsreisen eine erhebliche Abweichung. Tatsächlich mußte zunächst jede - und sei es auch nur dilettierende Beschäftigung mit der Wissenschaft dem Adel von seinem idealtypischen gesellschaftspolitischen Selbstverständnis her als abwegig erscheinen: Die Wissenschaft verkörperte die Tendenzen zur Demokratisierung und zur Beseitigung von Privilegien, gegen die er sich gerade zur Wehr setzte.32 Wissenschaftliche Betätigung bleibt unter den vielen Möglichkeiten, die dem Adel im allgemeinen und den mediatisierten Standesherren im besonderen im 19. Jahrhundert als Tätigkeitsfelder geblieben sind, auch eher eine Ausnahme. Sie fügt sich aber andererseits doch in die traditionellen adligen Ambitionen ein, deren Rahmen mit dem Begriff des »Mäzenatentums« abgesteckt werden kann. Die Förderung der schönen Künste gehört zur gewachsenen »Adelskultur«, die allerdings im 19. Jahrhundert vom »Bildungsstil eines neuen Zeitalters überwunden wurde«.33 In diesem Zusammenhang konnten sich gelegentlich auch wissenschaftliche In28 29 30

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32 33

Vgl. Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert III, S. 30. Vgl. Fisch, Forschungsreisen im 19. Jahrhundert, S. 387. Vgl. Henning, Sozialgeschichtliche Entwicklungen in Deutschland von 1815 bis 1860, S. 71-75; S. 84-87. Zur wirtschaftlichen und standesrechtlichen Stellung des preußischen Adels um 1800 vgl. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 7 9 - 8 5 . Vgl. Michels, Probleme der Sozialphilosophie, S. 143f. Vgl. Gollwitzer, Die Standesherren, S. 311.

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teressen entfalten - sei es durch die indirekte Teilnahme an der Wissenschaft durch deren finanzielle oder institutionelle Förderung; oder sei es durch eigene wissenschaftliche Tätigkeit, wie sie von etlichen Mediatisierten in verschiedenen Disziplinen betrieben wurde.34 Die Teilnahme von Adligen am wissenschaftlichen Leben der Zeit läßt sich im früheren 19. Jahrhundert nicht nur als Assimilation an die Erfordernisse einer verbürgerlichten Wirklichkeit deuten, sondern auch als Reaktion auf den Verlust der eigenen und originären gesellschaftlichen Funktionen. Eine andere typische Reaktion der Mediatisierten war etwa der Rückzug in das »patriarchalische Stilleben«,35 mit dem sich die Standesherren dem zunehmenden Druck der bürgerlichen Konkurrenz in den Bereichen öffentlicher Tätigkeit wie Wirtschaft, Politik, Verwaltung und Militär entzogen. Der Adlige als reisender Wissenschaftler scheint beide Reaktionsmöglichkeiten zu vereinigen. Die Reise erlaubte es ihm, sich dem Prozeß der Verbürgerlichung und dem Konkurrenzdruck in den als standesgemäß akzeptierten Berufen zu entziehen und dabei gleichzeitig, wenn nämlich die Reise als wissenschaftliche konzipiert war, doch an ihm teilzuhaben: Er setzte sich mit seinen Forschungsergebnissen der wissenschaftlichen, nicht aber der sozialen Konkurrenz oft erfolgreich aus; zumindest Maximilian zu Wied und Paul Wilhelm von Württemberg wurden Mitglieder renommierter Akademien und Forschungsgesellschaften.36 Vor allem diese beiden Reisenden weisen auch in ihrem forschenden Vorgehen jene charakteristischen Züge auf, die die moderne Wissenschaft ihrer Zeit auszeichneten. Die Assimilation an die Erfordernisse des bürgerlichen Wissenschaftsbetriebs ist den anderen adligen Reisenden der Zeit nicht oder nur unvollständig gelungen. Die Organisation ihrer Reisen ebenso wie ihre Reiseberichte sind häufig noch geprägt von adligen Verhaltensweisen, die einer vorbürgerlichen Epoche der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Reisens angehören. Die wissenschaftlichen Ambitionen des Prinzen Adalbert von Preußen treten zurück hinter den Aspekt der »Lustreise« und werden reduziert zur Liebhaberei; und als Herzog Ernst II. von Coburg-Gotha 1862 seine Afrika-Reise unternimmt, umgibt er sich mit Spezialisten wie dem Naturforscher Brehm, dem Maler Kretschmer und dem Schriftsteller Gerstäcker, der schließlich auch den Reisebericht verfas-

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Vgl. ebd., S. 316f. Zum ganzen Problemkreis des »Mäzenatentums« vgl. auch den Kontext S. 311-318. Ebd., S. 291. Vgl. Karl Viktor Prinz zu Wied, Maximilian Prinz zu Wied, S. 23f.; Wirtgen, Zum Andenken an Prinz Maximilian zu Wied, sein Leben und wissenschaftliche Thätigkeit (1867), S. 14f. Augustin, Einführung, S. 9f. - Einen interessanten Teilaspekt der wissenschaftlichen Tätigkeit Maximilians beleuchtet Schmidt mit seiner Untersuchung der Bestände der Büchersammlung des Prinzen und seiner Erwerbspolitik; vgl. Schmidt, Die Büchersammlung des Prinzen Maximilian zu Wied, S. 61; zur weiterführenden Auswertung dieser Untersuchung in bezug auf wissenschaftsgeschichtliche Fragestellungen vgl. Brenner, (Rez.) Siegfried Schmidt, Die Büchersammlung des Prinzen Maximilian zu Wied, S. 2 9 0 - 2 9 3 .

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sen mußte, den der Herzog unter seinem Namen publizieren ließ.37 Gegenüber diesem dilettierenden adligen Wissenschaftstourismus entwickeln Maximilian zu Wied und Paul Wilhelm von Württemberg jene Verhaltensweisen, die eine Integration ihrer Tätigkeit in den für Deutschland spezifischen Typus der »Beamtenwissenschaft« erlaubten. Zu deren Charakteristika gehört es, Disziplin bei der Forschung zu beweisen und sich in den Prozeß der Wissenschaft einzuordnen.38 Paul Wilhelm und vor allem Maximilian unterwerfen sich diesen Anforderungen in einem Maße, das fast schon als Überkompensation gedeutet werden kann: In ihren Werken bekunden sie ausgedehnte Kenntnisse der Forschungsdiskussion, auf die sie immer wieder Bezug nehmen; und sie zeigen ausgeprägte Tendenzen zur Versachlichung der Darstellung und zur Zurücknahme der eigenen Person. Auch wenn gerade diesen beiden Reisenden die Angleichung an die Anforderungen der zeitgenössischen Wissenschaft weitgehend gelungen ist, scheinen sie die letzten sozialpsychologischen Hemmschwellen nicht überwunden zu haben, die einer unbefangenen Betätigung Adliger in der bürgerlichen Wissenschaft entgegenstanden. Sie scheuten sich offensichtlich, den letzten Schritt in die Öffentlichkeit zu tun und uneingeschränkt am wissenschaftlichen Diskurs zu partizipieren. Die Form der Publikation ihrer beachtlichen wissenschaftlichen Ergebnisse ist immer noch geprägt vom obsoleten Ideal adliger Liebhaberwissenschaft: Die Ausgaben der Werke waren kostspielig und erschienen in kleinen Auflagen; ein großer Teil der Forschungsergebnisse wurde auch überhaupt nicht publiziert. Die Vorstellung vom publizierenden Adligen hatte sich trotz des Vorbilds Alexander von Humboldts in der Wissenschaft noch ebensowenig durchgesetzt wie in der Literatur, in der auch erst im Laufe des 19. Jahrhunderts die Emanzipation adliger Schriftsteller sich vollzog. Aus dieser etwas ambivalenten sozialpsychologischen und sozialgeschichtlichen Situation der adligen Wissenschaftler in einer Phase des Übergangs zwischen dem traditionellen adligen Selbstverständnis und den Anforderungen des sich konstituierenden bürgerlichen Wissenschaftsbetriebs dürfte sich ihr zwiespältiges Verhältnis zu den eigenen Werken erklären. Tatsächlich aber ist das wissenschaftliche Programm, das hinter dem Bemühen der Reisenden steht, »Natur und Menschen eines fernen Erdteils kennenzulernen«,39 durchaus nicht so naiv, wie es sich in den Vorreden der Reisewerke 37

Vgl. Ostwald, Friedrich Gerstäcker, S. 107f.; Fisch, Forschungsreisen im 19. Jahrhundert, S. 388. Vgl. Plessner, Zur Soziologie der modernen Forschung und ihrer Organisation in der deutschen Universität, S. 133 und S. 138. Daß gerade der Mangel an diesen Eigenschaften als typisches Merkmal adliger Wissenschaft aufgefaßt wurde, zeigt die kritische Auseinandersetzung mit dem adligen Naturforscher Buffon. Ihm wird sein schöngeistiger Stil ebenso vorgeworfen wie die mangelnde Bereitschaft zur Disziplinierung der Forschung und ihrer Darstellung, die sich in der Ablehnung des Klassifikationssystems bekunde; vgl. Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte, S. 166f. 39 Paul Wilhelm von Württemberg, Reise nach dem nördlichen Amerika (1835), S. 426.

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gerne selbst darstellt. Das Fehlen einer verbindlich fixierten Methode wird ersetzt durch die Orientierung am Modell von Humboldts Reisebeschreibung, die oft bis ins Detail der Reisedurchführung und -darstellung nachgeahmt wird. Der Einfluß Humboldts ist vor allem zu erkennen in der universalen Ausrichtung der Forschungsinteressen, die sich in den verschiedenen Reisewerken bekundet. Kein Aspekt der amerikanischen Wirklichkeit bleibt unberücksichtigt. Geologische Erscheinungen werden ebenso genau untersucht wie Fauna und Flora; und neben ethnologischen Betrachtungen zu Geschichte und Gegenwart der indianischen Urbevölkerung finden sich gelegentliche - meist freilich sehr zurückhaltende - Erörterungen der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im zivilisierten Teil Amerikas.

2. Das Interesse am Indianer: Der »Edle Wilde« und die Wirklichkeit Das Interesse der reisenden Wissenschaftler richtete sich vor allem auf die indianische Bevölkerung - ganz im Gegensatz zu dem der Auswanderer, für die die Indianer allenfalls als mögliche Bedrohung ihrer Ansiedlung einmal ins Blickfeld kommen.40 Es muß allerdings schwer gefallen sein, eine adäquate wissenschaftliche Einstellung zu diesem Gegenstand zu finden, da gerade hier Urteile und Vorurteile, eigene Beobachtungen und Informationen aus zweiter Hand und vor allem die allgemeinen ethnographischen Probleme, die beim Kontakt zweier vollkommen verschiedener Kulturen entstehen, ein schwer zu entwirrendes Konglomerat bildeten. Über die Schwierigkeiten, die dem Reisenden bei der Beobachtung und Beschreibung der Indianer entgegenstehen, gibt eine Passage in dem Reisebericht Mitteibergers von 1756 Auskunft: »Es sind sehr starke, grosse und beherzte Leute unter ihnen. Sie dutzen auf ihre Sprache jedermann, auch den Gouverneur selbst, und können laufen wie ein Hirsch.«41 Aus dieser konfusen Charakteristik geht hervor, daß Mitteiberger die Kategorien noch vollkommen fremd sind, an denen sich eine ethnographische Beobachtung orientieren kann. Wie die frühneuzeitlichen Reisenden stellt er - sicherlich ohne auf eigene Beobachtungen zurückgreifen zu können - einfach zusammen, was ihm als merkwürdig, kurios und interessant erscheint, weil es von den Gepflogenheiten der eigenen Kultur abweicht. In den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelt der Herzog Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach eine andere, aber kaum minder unangemessene Perspektive. Es ist die des Touristen, der sich an ethnologischen Merkwürdigkeiten delektieren will und die Voraussetzungen dafür selbst schafft: 40

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Vgl. etwa die knappe Bemerkung bei Duden, Bericht über eine Reise nach den westlichen Staaten Nordamerika^ (1829), S. 103. Mitteiberger, Reise nach Pennsylvanicn im Jahre 1750 und Rükreise nach Teutschland im Jahr 1754 (1756), S. 73f.

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Auf eine Gratification von Whiskey, die ich ihnen gab, führten 8 von ihnen den Kriegstanz aus. Sie hüpften hinter einander in einem Kreise herum, bewegten sich rechts und links, sprangen gegen einander, hoben die Hände in die Höhe, liessen sie wieder fallen, und brüllten schrecklich zu diesem Allen. Einige Alte, die dabei standen, nahmen es übel, dass die Jungen vor uns Weissen auf solche Weise tanzten. Sie riefen ihnen zu, aufzuhören. Herr Crowell jedoch brachte sie leicht mit Whiskey zum Schweigen.«42

Der naive wie auch der touristische Blick auf die Eingeborenen dringt nicht zu einem Begreifen seines Gegenstandes vor. Die beiden Beispiele zeigen, wie schwer den Reisenden auch im 18. und 19. Jahrhundert ethnographische Beobachtungen fallen mußten. Desto erstaunlicher ist, daß seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts es einigen deutschen Reisenden gelungen ist, einen wissenschaftlichen Standard ethnographischer Beobachtungen zu entwickeln, der für lange Zeit nicht überholt wurde - die Reiseberichte Paul Wilhelms von Württembergs, Maximilians zu Wied und Möllhausens sind auch heute noch wichtige Quellen für die Erforschung der indianischen Kultur des 19. Jahrhunderts. 43 In den Berichten dieser Reisenden bilden die ethnographischen Beobachtungen einen wichtigen und manchmal den zentralen Gegenstand. Daneben beweisen auch andere Autoren wie Adalbert Prinz von Preußen, Fröbel oder Gustav Brühl ein mehr oder weniger stark ausgeprägtes ethnographisches Interesse, das durchaus nicht nur Ausdruck unspezifischer Neugierde ist. Die Vermutung liegt nahe, daß diese Interessenkonzentration sich verstehen läßt als Nachklang des Klischees vom »Edlen Wilden«, wie es sich seit der frühesten Rezeption exotischer Reiseberichte in Europa herausgebildet hatte. Das Klischee reicht zurück bis zu Kolumbus, der nach seinem ersten Kontakt mit den Eingeborenen deren guten Willen, ihren Großmut, ihre physische Schönheit und nicht zuletzt auch ihre Empfänglichkeit für die Lehren der Mutter Kirche hervorhebt. Damit sind wesentliche Charakteristika des Klischees bereits in der frühen Neuzeit statuiert.44 Von hier aus kann sich die Idee des »Edlen Wilden« weiterentwickeln, bis sie die über Jahrhunderte hinweg gültige Ausformung erhält: »a Noble Savage is any free and wild being who draws directly from nature virtues which raise doubts as to the value of civilization.«45 Im 18. Jahrhundert zeigen sich einerseits die ersten Verfallserscheinungen des Ideals, weil seine Realitätsferne nüchterneren Betrachtern allzu offensichtlich geworden ist,46 aber die Tahiti-Berichte von Bougainville und Förster haben - trotz kritischer Akzente bei beiden - dem Klischee neue Nahrung gegeben, zumal es mit jenen Tendenzen aufklärerischen Denkens koinzidierte, die - mit dem Rousseau des »Emile« 42

Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach, Reise Sr. Hoheit des Herzogs Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach durch Nord-Amerika (1828) II, S. 27. 43 Vgl. Hartmann, Die Plains- und Prärieindianer Nordamerikas, S. 8f. 44 Vgl. Fairchild, The Noble Savage, S. 8f. 45 Ebd., S. 2. Zur Geschichte dieses Ideals vgl. auch Krauss, Zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts, S. 32-47; vgl. auch die Textsammlung Die Edlen Wilden. 46 Vgl. Bitterli, Der Eingeborene im Weltbild der Aufklärungszeit, S. 255f.; zur Auflösung der Konvention und der Hinwendung zu einem kritisch-realistischen Indianerbild schon bei Albrecht von Haller vgl. Guthke, Edle Wilde mit Zahnausfall, S. 33-42.

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- den »Edlen Wilden« als das Idealbild dessen sahen, was an menschlicher Humanität sich erreichen ließ.47 Die Vorstellung hat sich seit Kolumbus immer wieder am »Indianer« entzündet, auch wenn sie sich keinesfalls darauf beschränkte.48 Im 18. Jahrhundert lebt das Bild vom Indianer als dem wichtigsten Repräsentanten des »Edlen Wilden« wieder auf; in Amerika selbst allerdings wird es konterkariert aufgrund der mit der Landnahme verbundenen Interessen der Weißen: Sie entwerfen sich ein Indianerbild, das den Eingeborenen eine der Zivilisation nicht fähige Lebensform unterstellt und daraus die eigene Überlegenheit und das Recht zur Vertreibung der Eingeborenen ableitet.49 Parallel zu dieser ideologisch bedingten Geringschätzung des Indianers finden sich aber auch frühe Zeugnisse für seine Stilisierung, die in Amerika selbst zu Beginn des 18. Jahrhunderts einsetzt, als der Historiker Robert Beverley die klassischen Attribute des »Edlen Wilden« wieder auf die amerikanischen Indianer überträgt. 50 Die Vorstellung vom unberührten Naturzustand, ergänzt durch die Merkmale der Tapferkeit, des Edelmuts und der körperlichen wie geistigen Stärke heftet sich jetzt an den amerikanischen Eingeborenen - vor allem in Europa, wo einer solchen Idealisierung keine praktischen Interessen entgegenstanden.51 Diese Charakteristika zeichnen den Indianer auch aus in der für einige Zeit wirksamsten europäischen literarischen Darstellung, die er um die Jahrhundertwende gefunden hat: In romantischer Umstilisierung hat Chateaubriand in seinen Romanen »Attala« und »René« - sie werden dann aufgenommen in Chateaubriands »Génie du Christianisme«, wo sie als Illustration seiner theoretisch entwickelten Anschauungen dienen sollen - das alte Klischee wiederbelebt, um es vor allem zu einer Apologie christlichen Denkens umzumünzen. Sein Bild des Indianers ist ein Resultat dieser Absicht und ein Werk der Fiktion. Dennoch erhebt Chateaubriand einen Authentizitätsanspruch, indem er nicht nur in diesen Texten, sondern auch in seinem 1827 erschienenen Reisebericht »Voyage en Amérique« mit der ausführlichen Darstellung indianischer Sitten nichtvorhandene autoptische Kenntnisse suggeriert.52 Dieses mit dem Reisebericht etwas 47

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Vgl. Fairchild, The Noble Savage, S. 134-136. - In diesem Sinne findet der »Edle Wilde« auch seinen Platz im Rationalismus vor und während der Französischen Revolution. Vgl. ebd., S. 141f. Zur Rolle des Perfektibilitäts-Begriffs in Rousseaus Anthropologie und bei seiner Bestimmung des »homme naturel« vgl. Kohl, Entzauberter Blick, S. 178-181. Fairchild, The Noble Savage, S. lf. Kolumbus' Bericht über seine erste Begegnung mit den Eingeborenen ist abgedruckt in: The Indian and the White Man, S. 3 - 5 . Jacobs, Dispossessing the American Indian, S. llOf. Vgl. ebd., S. 114-116; S. 125. Vgl. auch das ganze Kapitel »The Noble Savage Theme«, ebd., S. 107-125. Vgl. Desczyk, Amerika in der Phantasie deutscher Dichter, S. 22-24; Meyer, NordAmerika im Urteil des Deutschen Schrifttums bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, S. 23. Daß Chateaubriand bei seiner Amerika-Reise nicht bis zu den Indianerstämmen vorgedrungen ist, wurde nachgewiesen von Bédier, Chateaubriand en Amérique, S. 136 bis

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verspätet nachgetragenen Authentizitätsanspruches hätte es freilich nicht bedurft, da die Romane nach ihrem Erscheinen und der Übersetzung ins Deutsche zu Beginn des Jahrhunderts eine bedeutende literarische Wirkung entfalteten.53 Chateaubriands Wirkung in Deutschland wurde ein Vierteljahrhundert später durch die Rezeption Coopers ergänzt - wenn auch keineswegs verdrängt, obwohl Cooper, gemessen an dem Franzosen, ein deutlich realistischeres, aber immer noch kein naturgetreues Bild des Indianers gezeichnet hatte. Aus diesen beiden Quellen vor allem speist sich die fiktionale Indianerliteratur im Deutschland des 19. Jahrhunderts, die mit Karl May ihren Höhepunkt fand. Selbst bei Autoren wie Sealsfield, Strubberg oder Möllhausen, die Amerika und teilweise auch die Indianer aus eigener Anschauung kannten, wirkt oft mehr das romantische Indianerbild der Literatur als die eigene Erfahrung nach.54 Die Vorstellung vom »Edlen Wilden«, konkretisiert im literarischen Bild des amerikanischen Indianers, lebt also bis weit ins 19. Jahrhundert weiter, auch wenn sie zwischen 1810 und 1830 eigentlich schon abgestorben ist. Tatsächlich kann sie sich im 19. Jahrhundert nicht mehr auf die Idee eines der Zivilisation überlegenen Naturzustandes stützen; die Naturauffassung der Zeit hat, auch unter dem Einfluß der verwissenschaftlichten Weltauffassung, eine realistischere Färbung bekommen. 55 Daß das traditionelle Indianerbild mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt, erfahren zuerst die deutschen Amerikareisenden des 19. Jahrhunderts. Ihre Berichte zeigen aber, daß die idealisierten europäischen Vorstellungen auch hier nachgewirkt haben und sie erst der Konfrontation mit der Realität weichen mußten. Wenn etwa Gerstäcker über seine Erfahrungen mit Indianern berichtet, dann bekundet seine Schilderung sehr deutlich die Bereitschaft, sich die Erfahrung der Wirklichkeit vom traditionellen Klischee vorschreiben zu lassen: Beim ersten Indianer, dem er begegnet, beobachtet er ein »kühn romantisches Aussehen«,56 und auch der erste Anblick eines Indianerlagers, das ihm ein »buntes und romantisches Schauspiel« bietet,57 scheint nicht frei von literarischem Reminiszenzen. Die Beschwörung des »romantischen« Anblicks ist ein deutlicher Beleg dafür, daß Gerstäcker in der Wirklichkeit das Ideal wiedererkennen will, wie er auch später — so in seinem Roman »Gold!« leicht idealisierte Indianergestalten zeichnet.58 Die Berichte anderer Reisender indes zeigen, daß die romantisierenden Vorstellungen einer Konfrontation mit der Realität in aller Regel nicht standhalten. Der Amerikaner John Treat Irving, der 1833 an einer Expedition zum Missouri teilgenommen hat, gibt in seinem Reisebericht ein nüchterneres Bild der Wirklichkeit des Indianers im 19. Jahr140. Eine deutsche Ausgabe des Reiseberichts erschien bereits 1828 unter dem Titel »Chateaubriands Reise in Amerika«. 53 Vgl. Barba, The American Indian in German Fiction, S. 145-148. 54 Vgl. ebd., S. 150; S. 155f.; S. 166. 55 Vgl. Fairchild, The Noble Savage, S. 363f. 56 Gerstäcker, St reif= und Jagdzüge (1844) I, S. 83. 57 Ebd., S. 154. 58 Vgl. Gerstäcker, Gold! (1855) I, S. 291f.

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hundert. Die erste Begegnung endet mit einer Enttäuschung: »At a distance our fancies had painted him possessed of all that was noble in the Indian character; but a nearer view dispelled the illusion.«59 Nach dem Abschluß der Reise wird das Urteil über den Indianer verständnisvoller, aber kaum günstiger. Die Vorstellungen der Dichter erweisen sich als Produkte der Phantasie, die von der Erinnerung an längst vergangene Zeiten inspiriert wurden: »He had lost much of the romance with which imagination hat clothed him«.60 Über die gleiche Erfahrung berichtet auch Alexander Ziegler; er gehört zu den wenigen deutschen Amerikareisenden, welche überhaupt etwas ausführlicher auf die Indianer eingehen, ohne damit wissenschaftliche Absichten zu verbinden: Die durch Romanlectüre vielleicht vor unsere Phantasie geführten Bilder von großmüthigen, edlen Indianern, von indianischen Tapferen, erfahrenen Kriegern mit blinkenden Waffen in der Hand, wallenden Federbüschen auf dem Haupte - diese Bilder verlieren allerdings an lebhaftem Colorit, wenn man die schmuzigen, rohen Indianer der Gegenwart mit eigenen Augen erblickt. Auch meine Phantasie schmeichelte mir mit jenen Bildern, allein sie ward bitter enttäuscht, als ich diese Indianer vor mir sah, wie sie mit gemeinen Gesichtszügen, wilde Rohheit im Auge, schmuzig und mit Lumpen bedeckt, kriechend und unterthänig, in harter Sprache mit unarticulierten Lauten um gebranntes Wasser bettelten.61

Der drastische Kontrast zwischen Phantasie und Wirklichkeit ist das Produkt einer unmittelbaren Anschauung, die auf eine korrigierende Reflexion verzichtet. Ziegler sieht nur die Indianer, die am Rande der Zivilisation lebten und wohl in der Tat die Verfallserscheinungen aufwiesen, welche er beschreibt - auch bei anderen Autoren finden sich Belege dafür. Um dieses Bild im richtigen Rahmen zu sehen, hätte es jedoch einer sowohl historischen wie regionalen Ausweitung des Blicks bedurft. Eine Vergegenwärtigung der indianischen Geschichte seit dem Eindringen der Weißen in den Westen Amerikas hätte Ziegler über die Gründe der Degeneration belehrt; und eine Reise in die von der Zivilisation noch kaum berührten Gegenden hätte ihn mit Indianerstämmen vertraut gemacht, die zwar dem romantisierenden Idealbild ebenfalls nicht entsprachen, aber auch die kritisierten Verfallserscheinungen nicht aufwiesen. Zu einem solchen Unternehmen ist der einfache Amerikareisende weder bereit noch wäre er dazu in der Lage. Diese Ausweitung des Blicks auf die amerikanischen Eingeborenen bleibt vielmehr den wenigen Wissenschaftlern überlassen, die mit der ausdrücklichen Absicht einer Erforschung der Indianerstämme in den Westen reisen. Angesichts der Dominanz eines idealisierten Indianer-Bildes im Europa ihrer Zeit ist es erstaunlich, wie wenig sie sich in ihren ethnographischen Schilderungen davon haben beeinflussen lassen; nur ganz seltene und beiläufige Bemerkungen deuten an, daß es ihnen überhaupt bekannt war. Wenn Maximilian zu Wied bei der Betrachtung einer Gesellschaft von Indianern fest59 60 61

Irving, Indian Sketches taken during an Expedition to the Dawnee Tribes (1833), S. 12. Ebd., S. 193. Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika und Westindien (1848) I, S. 243f.

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stellt, daß sie »nichts weniger als ernst und still« waren,62 dann bezieht er sich wohl vage auf eine entsprechende europäische Vorstellung, wie sie sich bis zu Karl May hartnäckig erhalten hat, auch wenn die Berichte aller Reisenden eine andere Auskunft geben. Freilich sind die Arbeiten von Maximilians Reisebegleiter, des Malers Carl Bodmer, geeignet, diesen Vorstellungen Vorschub zu leisten: Sie zeigen die Indianer-Häuptlinge in der Regel in ihrer »Staatskleidung« oder prestigeträchtigen Situationen. Damit verzerrt der Maler das Bild etwas, was freilich kaum vermeidbar war, da die indianischen Häuptlinge sich meist nur in ihren Festgewändern zeichnen lassen wollten.63 Ansonsten aber gelingt es den Reisenden, sich von den europäischen Idealvorstellungen zu lösen. Bezeichnend für das Bemühen um eine streng wissenschaftliche Betrachtung ist Maximilians Bericht über seinen Besuch in St. Louis, wo er erstmals nordamerikanische Indianer zu beobachten Gelegenheit bekam: Ihr »erster Anblick, der mich nicht wenig überraschte, überzeugte mich sogleich von ihrer grossen Verwandtschaft mit den Brasilianern«.64 Seine Überraschung also bezieht sich nicht etwa, wie beim Amerikaner John Treat Irving, auf die Abweichung der Wirklichkeit von einer idealisierten Phantasievorstellung, sondern sie hat wissenschaftliche Gründe. Maximilian stellt die Verbindung her zu seinen ethnographischen Forschungen, die er auf seiner Brasilien-Reise 1815 bis 1817 anstellte; und er vertieft diesen Eindruck sogleich durch eine sachliche Beschreibung von Physiognomie und Körperbau, die er mit denen der brasilianischen Indianer vergleicht.

3. Die Disziplinierung der Wahrnehmung als ethnographisches Forschungsprinzip Hinter den Indianerdarstellungen sowohl des Prinzen Maximilian zu Wied wie auch des Herzogs Paul Wilhelm von Württemberg läßt sich bereits so etwas wie ein vages ethnographisches Programm erkennen. Schon bei der Wahl ihrer Untersuchungsgegenstände werden die Präferenzen und Einschränkungen ihrer Interessen sichtbar. Ihre Beobachtungen gelten überwiegend äußerlichen Phänomenen: Der Statur und Physiognomie der Indianer; den Gegenständen ihrer materiellen Kultur; ihrer Sprache; ihren religiösen Ritualen und Überlieferungen und schließlich ihren äußeren Lebensgewohnheiten, während der ethnographisch ebenso zentrale wie komplexe und abstrakte Themenkomplex der sozialen Ordnung weitgehend ignoriert wird. Zunächst richtet sich der Blick auf das physische Erscheinungsbild der Eingeborenen. Paul Wilhelm von Württemberg geht auf diesen Aspekt allerdings nur 62 63

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Maximilian zu Wied, Reise in das innere Nord-America (1839/1841) I, S. 241. Zu dem gleichen Problem bei Catlins Zeichnungen vgl. Hartmann, George Catlin und Balduin Möllhausen, S. 28. Maximilian zu Wied, Reise in das innere Nord-America (1839/1841) I, S. 121.

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gelegentlich und beiläufig ein, 65 während Maximilian zu Wied ihn immer wieder einläßlich behandelt: Sie sind starke wohlgebildete Männer, viele von mehr als Mittelgröße, breit, muskulös und fleischig. Die Gesichtszüge der Männer sind ausdrucksvoll, stark ausgewirkt, die Backenknochen vortretend, die Flügel des Unterkiefers breit und eckig, die schwarzbraunen Augen lebhaft und feurig, und besonders in der Jugend am inneren Winkel etwas hinab gezogen, jedoch nicht immer so stark, als bei den Brasilianern. Der äussere Augenwinkel steigt weder bei den Nord-, noch bei den Süd-Americanern in die Höhe, wenigstens habe ich dieses nur höchst selten bemerkt. Die Stirn scheint mir bei den Nord-Americanern nicht so sehr zurück zu weichen, als man dies im Allgemeinen angenommen hat, eben so wenig bei den Brasilianern. Meyen bestätigt dieses für die Völker westlich von den Cordillera. Die Zähne sind stark, fest und weiss, und bis in das hohe Alter meist vollkommen gesund. Die Nase ist stark und vortretend, sehr häufig gebogen, jedoch nicht immer; ein Zug, der bei den Brasilianern weit seltener vorkommt. Der Mund ist auch bei den Nord-Americanern gewöhnlich etwas dick. Die Haare sind schlicht und schwarz, wie bei allen Americanern; die Farbe der Haut bald dunkler, bald heller braun, häufig dunkler als bei den Brasilianern; allein in der Hauptsache vollkommen dieselbe.66 Solchermaßen detaillierte und differenzierte physiognomische Beschreibungen, mit denen Maximilian zu Wied jede Schilderung der von ihm besuchten Stämme einleitet, dürften sich bei keinem anderen Amerikareisenden finden. Selbst der berühmteste zeitgenössische Erforscher der nordamerikanischen Stämme, George Catlin, begnügt sich in dieser Hinsicht mit vergleichsweise pauschalen Bemerkungen, etwa über den »halbmondförmigen Umriß des Kopfes und die niedrige, zurücktretende Stirn.«67 Daß Maximilian zu Wied über einen differenzierteren Blick verfügt, der ihm die Erkenntnis und die Beschreibung detaillierter unterscheidender physiognomischer Merkmale erlaubt, wo die anderen europäischen Reisenden meist nur wenige stereotype indianische Charakteristika zu erkennen vermögen, ist kein Zufall. Er verdankt diese Fähigkeit vielmehr seiner Ausbildung in der anthropologischen Schule Blumenbachs. Johann Friedrich Blumenbach hatte bereits 1775 den Versuch einer Klassifikation der Menschenrassen unternommen; und bei seinen Studien bemühte er sich um eine exakte empirische Fundierung seines Klassifikationssystems. Er sammelte - auch durch die Anregung und Auswertung entsprechender Forschungsreisen - umfangreiches Material, auf dessen Basis er seine vergleichende Anthropologie begründete, deren wichtigster Stützpfeiler kraniologische Messungen waren. 68 Methodisch kommt er dabei nicht 65

Vgl. Paul Wilhelm von Württemberg, Reise nach dem nördlichen Amerika (1835), S. 328. Maximilian zu Wied, Reise in das innere Nord-America (1839/1841) 1,233f. 67 Catlin, Die Indianer Nordamerikas (dt. 1846-1848), S. 45. 68 Zu Blumenbach vgl. Plischke, Johann Friedrich Blumenbachs Einfluß auf die Entdekkungsreisen seiner Zeit, bes. S. 8-10 und passim; Seile, Die Georg-August-Universität zu Göttingen: 1737-1937, S. 143-145; Bitterli, Die »Wilden« und die »Zivilisierten«, S. 214f.; Mühlmann, Geschichte der Anthropologie, S. 58f.; Voget, A History of Ethnology, S. 105f. 66

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über das unhistorische und sich an äußerlichen Merkmalen orientierende Klassifikationssystem Linnes hinaus; er stellt aber ein differenziertes Beobachtungsund Begriffsinstrumentarium bereit, das die Bedingung der Möglichkeit war für die detaillierten physiognomischen Beschreibungen im Reisebericht Maximilians zu Wied.69 Wie schwer die Beobachtung physiognomischer Eigenheiten fallen muß, wenn eine entsprechende wissenschaftliche Fundierung fehlt, belegen die Berichte anderer Reisender, deren Wahrnehmungsmodell sich nur an einem allgemeinen europäischen Bildungshorizont orientiert. Wie schon in den bildlichen Eingeborenen-Darstellungen in de Brys Sammlung aus dem 16. Jahrhundert besteht dann die Tendenz, wesentliche Differenzen im äußeren Erscheinungsbild einzuebnen und bei den Indianern das Bekannte - oder vermeintlich Bekannte - wiederzufinden. Symptomatisch in dieser Beziehung ist die Bemerkung Adalberts von Preußen, den die Gestalten der brasilianischen Indianer an die »Bildwerke des Alterthums, an die edlen Formen aus der Zeit der Griechen und Römer« erinnern.70 Unreflektierte Kenntnisse und Assoziationen verstellen hier den Blick auf das Besondere, wobei in diesem Fall sicherlich der Vorstellung vom »Edlen Wilden« noch eine wahrnehmungsleitende Funktion zukommt. Weniger problematisch als die physiognomische und kraniologische Rassenklassifikation sind die anderen Aspekte der ethnologischen Forschung. Wenn die Reisenden sich den Sitten und Gebräuchen der Indianer widmen, können sie sich an äußerlichen Merkmalen orientieren, die - dank ihrer Abweichung vom europäischen Erscheinungsbild - auffallig genug sind, um sofort den Blick auf sich zu lenken. Das Augenmerk bei der Begegnung mit Indianern richtet sich deshalb gerne auf pittoresk anmutende Details vor allem der Kleidung oder der Waffen und Gebrauchsgegenstände, die ausführlich beschrieben werden: Die Männer waren meist bis auf einen Schurz am Schamgürtel nackt. Diese Bedeckung besteht gewöhnlich aus einem blauen oder roten Stück Tuch, das hinten und vorn zwischen den Beinen durchgezogen wird und auf beiden Seiten durch einen Riemen befestigt ist. Ich sah bei den Männern weniger Mitassen und Mokassins; auch war ihr Körper voller Narben und von Dornen zerkratzt. Im Gurt trugen sie alle ein Messer, dessen Scheide aus einem doppelt zusammengelegten Leder mit ganz breitem Rand besteht, in dem sich ein tiefer dreieckiger Einschnitt befindet, der, durch den Gurt gezogen, die Schneide festhält. [...] Die Ohren beider Geschlechter sind sämtlich viermal der Länge nach durchlöchert, in jedem Einschnitt hängt ein Bündel blauer und weißer Porzellanstäbchen, die bei diesen Indianern in hohem Wert stehen.7'

Der Blick des Reisenden sucht das Auffallige, das ihm hier in großer Fülle geboten wird; die Beschreibung läßt aber bei aller Detailliertheit nicht erkennen, daß 69

Prinz Maximilian zu Wied hatte im übrigen auf seiner Reise auch zur Erweiterung der Schädelsammlung Blumenbachs beigetragen; vgl. Maximilian zu Wied, Reise in das innere Nord-America (1839/1841) I, S. 122. 70 Adalbert von Preußen, Aus meinem Tagebuche (1847), S. 649. Die Angleichung europäischer Indianerdarstellung an ein klassizistisch-griechisches Ideal hat in der europäischen Ikonologie eine lange Tradition; vgl. Honour, The New Golden Land, S. 76f.; S. 236f.; vgl. auch Kramer, Verkehrte Welten, S. 93. 71 Paul Wilhelm von Württemberg, Reise nach dem nördlichen Amerika (1835), S. 294f.

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sie einem ethnographisch-wissenschaftlichen Prinzip oder bestimmten Fragestellungen folgte. Sie beschränkt sich, ebenso wie die entsprechenden Passagen bei Paul Wilhelm von Württemberg oder bei Möllhausen, auf die reine Deskription und fügt sich damit in das empiristische Wissenschaftsideal der Ethnologie einer Zeit ein, die ihr vorrangiges Interesse auf Materialsammlungen richtet.72 Einen etwas avancierteren theoretischen Anspruch verraten dagegen die Untersuchungen zur Sprache der Indianer. Auch hier geben die Reiseberichte zunächst nur empiristische Deskriptionen des von ihnen gesammelten und mehr oder weniger ausführlich dokumentierten Materials. Gelegentlich läßt sich aber erkennen, daß dieses Forschungsinteresse zumindest vage beeinflußt ist von der sprachtheoretischen Diskussion, die sich um die Jahrhundertwende entfaltet hatte. Seit Herder und vor allem seit den Forschungen Wilhelm von Humboldts hatte die Sprachbetrachtung als Teil einer vergleichenden Anthropologie ihre Grundlegung erfahren. Humboldt begriff die Sprache als ein konstituierendes Element der Gemeinschaftsbildung, in dem sich gleichermaßen das Bestreben nach nationaler Individualisierung wie auch eine Ahnung von der Einheit des Menschengeschlechts manifestiere:73 Die »bestimmte nationeile Kraft kann nur in der bestimmten nationellen Sprache, diesen Lauten, diesen analogischen Verknüpfungen, diesen symbolischen Andeutungen, diesen bestimmenden Gesetzen innerlich zur Entwicklung, äusserlich zur Mittheilung kommen.«74 Aus dieser Prämisse ergibt sich für Humboldt das methodische Vorgehen bei der Spracherforschung. Die Sprache soll sowohl in ihren lebendigen inneren Zusammenhängen wie auch als untrennbarer Bestandteil des Volkscharakters gewürdigt werden; eine Isolierung einzelner Momente wie Lexik oder Grammatik verbietet sich damit.75 Von diesen grundlegenden und zukunftsträchtigen methodologischen Prämissen sind die Amerikareisenden bei ihrer Erforschung der Indianersprachen noch entfernt - allerdings erschien Wilhelm von Humboldts große Untersuchung zu diesem Thema auch erst im Jahre 1836. Der Hauptertrag der Reiseberichte besteht überwiegend in der Zusammenstellung von Vokabularien, die nach einzelnen Indianerstämmen differenziert werden. Fröbel unternimmt eigens einen Besuch bei einem Eingeborenenstamm, »um ein Vocabularium der Sprache dieser Indianer zu erhalten«,76 und er flicht gelegentlich auch solche Zusammenstellungen in den Gang seines Berichts ein;77 Maximilian zu Wied gibt am Ende seines Berichts einen ausführlichen Anhang mit Belegen aus verschiedenen Indianersprachen. Gerade bei Maximilian jedoch tritt die positivistische Selbstbeschränkung nicht als Resultat naiver Unbefangenheit auf; er ver72 73

74 75 76 77

Vgl. Mühlmann, Geschichte der Anthropologie, S. 85-87. Vgl. W. v. Humboldt, Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues (1798), S. 125. Ebd., S. 127. Ebd., S. 147. Fröbel, Aus Amerika (1857f.) I, S. 399. Vgl. ebd. II, S. 163.

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folgt vielmehr eine klare Methode schon bei der Sammlung seiner Sprachproben: Da mir zuweilen nur ein Augenblick zu Gebote stand, um einige Worte zu sammeln, so wählte ich 20 überall vorkommende derselben aus, die ich jedesmal zuerst fragte, um sogleich eine kleine Vergleichung anstellen und auf die Verwandtschaft der Nationen schließen zu können.78

Die Untersuchung der Indianersprachen folgt einem methodischen Prinzip; sie hat ein klar formuliertes Ziel, welches auf den sprachtheoretischen und anthropologischen Diskussionsstand der Zeit Bezug nimmt. Auch wenn sich die »Sprachproben« auf den lexikalischen Aspekt beschränken, gehen sie der Intention nach über eine bloße Mitteilung hinaus. Maximilian stellt sie in den Zusammenhang der Diskussion über den gemeinsamen Ursprung der verschiedenen Indianerstämme: Alle diese Muthmassungen über die Abstammung und Verwandtschaft der Völker, müssen den sicheren Anzeichen über diesen Gegenstand nachstehen, die man aus der Verwandtschaft der Sprachen zu folgern berechtigt ist, und durch die genauere Kenntniss derselben, darf man wohl am ehesten hoffen, Fortschritt in diesem weiten dunklen Felde zu machen.79

Maximilians Suche nach empirischem Material versteht sich - ganz im Sinne der positivistischen Anthropologie seiner Zeit - als Teil eines Forschungsprogramms, das der Bestätigung oder Widerlegung einer Theorie dienen soll. Unter diesen Auspizien ist die empiristische Einschränkung der Fragestellung nicht nur legitim, sondern notwendig; und sie ist auch nicht ganz theorielos: Trotz der Ausklammerung theoretischer Vorgaben bei der Darstellung des Materials wird die Blickrichtung gelenkt von der sprachtheoretischen Diskussion der Zeit. Sie erst hatte auf den Zusammenhang zwischen Sprache und Volksgeist aufmerksam gemacht und es damit ermöglicht, bei der Untersuchung über Verwandtschaften und gemeinsame Ursprünge der Völker auch sprachliches Material heranzuziehen. In den ethnographischen Forschungsbereichen, die sich auf Physiognomie, Kleidung, Wohnung, Gebrauchsgegenstände, Sprache und auch folkloristische oder religiöse Rituale beziehen, unterwerfen sich die Reisenden jener Disziplinierung der Wahrnehmung, die das Exaktheitsideal ihrer wissenschaftlichen Methode erforderte.80 Die Reduktion der Darstellung auf möglichst reine, wenn auch gelegentlich von theoretischen Fragestellungen geleitete, Deskription mu78

Maximilian zu Wied, Reise in das innere Nord-America (1839/1841) II, S. 463. Ebd., S. 457. Auch Paul Wilhelm von Württemberg geht bei seinen Mitteilungen wenn auch wesentlich unpräziser - auf diesen Aspekt ein. Vgl. Paul Wilhelm von Württemberg, Reise nach dem nördlichen Amerika (1835), S. 326. 80 Die Loslösung von anthropologisch-medizinischen Fragestellungen und die Ausweitung der Forschung auf die »Kultur« fremder Völker ist eine Errungenschaft der Ethnographie des ausgehenden 18. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende, zu der auch Herder mit seinen »Volksgeist«-Forschungen seinen Anteil beigetragen hat. Vgl. Moravia, Beobachtende Vernunft, S. 144-162; zu Herder vgl. S. 146f. 79

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tet auf den ersten Blick naiv an und scheint kaum über den methodologischen Standard frühneuzeitlicher Reiseberichte hinauszukommen. Diesem ersten Eindruck zum Trotz manifestiert sich in ihr jedoch eine methodologische Errungenschaft, die in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden kann: Das Deskriptionsverfahren erlaubt einen - manchmal forcierten - weitgehenden Verzicht auf eine Bewertung des Wahrgenommenen, und es hält die Reiseberichte frei von den Verzerrungen, die die Fixierung auf den eigenen Kulturhorizont in der Regel hervorruft. Diese Einsicht in die Notwendigkeit einer möglichst vorurteilsfreien Betrachtung ist jüngeren Datums. Noch im Zeitalter der Aufklärung gehörte es zu dem methodologischen Selbstverständnis reisender Wissenschaftler, die fremden Kulturen am Maßstab der eigenen oder an dem der Vernunft zu messen. Ein »subtiler Ethnozentrismus«, der sich auf einen unbeirrbaren Fortschritts- und Zivilisationsglauben stützt, prägt die anthropologischen und ethnographischen Bemühungen des 18. Jahrhunderts selbst bei den fortgeschrittensten Repräsentanten der Aufklärung.81 Unter den europäischen Amerikareisenden hat am Ende des 18. Jahrhunderts Volney erste - und noch unvollkommene - Ansätze zu einer methodischen Perspektive entwickelt, die eine sachlichere ethnographische Beschreibung ermöglichen.82 Diese spätaufklärerischen Ansätze wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts jedoch bald wieder verschüttet. Im Rahmen kolonialistischer und imperialistischer Interessen gerät die Ethnographie bald stärker als je zuvor in den Sog des Eurozentrismus. Die Wissenschaftler verstehen sich zusehends weniger als Beobachter denn als »Repräsentanten und Wortführer der Zivilisat i o n und glauben, als solche über besondere Rechte und Pflichten zu verfügen.«83 Dieses Selbstverständnis kann sich während des späteren 19. Jahrhunderts auf ein gutes methodologisches Gewissen des Ethnographen stützen. Ein zivilisatorischer Messianismus und die Überzeugung von der Überlegenheit der eigenen Kultur gehören im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu den selbstverständlichen Grundlagen der ethnographischen Wissenschaft.84 Angesichts dieser wissenschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen ist es umso erstaunlicher, daß es den deutschen Amerikareisenden des früheren 19. Jahrhunderts weitgehend gelungen ist, bei ihren Besuchen von Indianerstämmen einen Beobachtungs- und Deskriptionsstandard zu erreichen, der sich weder von den Vorgaben der eigenen Kultur noch von den spezifisch amerikanischen ideologischen Bedürfnissen zur Rechtfertigung der Indianervertreibung sonderlich beeindrucken läßt. Ihre methodische Leistung wird ersichtlich beim Vergleich ihrer Indianerbeschreibung mit der von naiven Reisenden, die ethnographisch 81 82 83

84

Vgl. Lepenies, Soziologische Anthropologie, S. 84-90. Vgl. Moravia, Beobachtende Vernunft, S. 203f. Leclerc, Anthropologie und Kolonialismus, S. 14; vgl. auch den Kontext S. 13-16; zu den verschiedenen Formen des Kolonialismus im 19. Jahrhundert vgl. Hammer, Weltmission und Kolonialismus, S. 59-76. Vgl. Leclerc, Anthropologie und Kolonialismus, S. 23-27; Hobsbawm, Die Blütezeit des Kapitals, S. 334f.

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dilettieren. Von deutschen Reisenden, die nicht ausdrücklich ethnographische Ambitionen verfolgten, ist kaum jemand - außer an den Rändern der Zivilisation - intensiver mit den Eingeborenen in Berührung gekommen. Aus dem Bericht eines ethnographisch ungeschulten amerikanischen Besuchers von Indianerstämmen des Westens läßt sich dagegen das Fortbestehen des Ethnozentrismus auch dort feststellen, wo der Beobachter der fremden Kultur eigentlich mit großem Wohlwollen gegenüber steht. John Treat Irving veröffentlichte seine »Indian Sketches« - sie erschienen 1838 auch in deutscher Sprache - als einen Bericht über die Reise, welche er als Begleiter eines amerikanischen Regierungskommissars zu den westlich von Missouri gelegenen Indianerstämmen unternommen hatte.85 Irving ist den Indianern prinzipiell wohlgesonnen, und er setzt es sich ausdrücklich zum Ziel, falsche Vorstellungen zu korrigieren: »The illusions thrown around him by exaggerated reports of travellers, and the fictions of poets, had been removed; and we had beheld him, as he really was; an untutored, generous, yet savage man.« 86 Trotz dieses Wohlwollens fließen in Irvings Darstellung immer wieder Kommentare ein, die ihre Wertungskriterien der Vorstellung der Zivilisation entnehmen und die sich oft im Duktus ironischer Überlegenheit artikulieren. Während Maximilian Prinz zu Wied etwa eine sachliche und detaillierte Beschreibung von Indianerhütten gibt - und ihnen dabei bescheinigt, »geräumig, ziemlich hell und reinlich« zu sein87 - orientiert Irving sein Urteil ganz an zivilisatorischen Gepflogenheiten und konstatiert nur die augenfälligste Abweichung davon: »There was but little attraction in its appearance, and withal a most philosophic indifference to cleanliness or comfort.« 88 An anderer Stelle kommentiert er den Auftritt einer Indianerdelegation in ihrem Ornat mit der Bemerkung: »They were a gaudy, effeminate looking race.«89 Die reisenden Wissenschaftler aus Deutschland dagegen sind bemüht, sich solcher abschätziger Kommentare, die oft die genaue Beschreibung des Gegenstandes ersetzen, zu enthalten. Es gehört zu den Prämissen ihrer Beobachtung, sich um jenes Verständnis der fremden Kultur zu bemühen, das früheren Reisenden meist fehlte. Auf sie bezieht sich Paul Wilhelm von Württemberg, wenn er von »den abenteuerlichen und lächerlichen Schilderungen« spricht, »womit oft Reisende Völkerschaften verunglimpfen, deren Bräuche und Sitten sie nicht zu beurteilen verstehen.«90 Die Neutralität des Blicks und das Bemühen um Verständnis fallen den reisenden Wissenschaftlern leicht, wo sich ihre Aufmerksamkeit auf die äußerlichen Erscheinungen der indianischen Kultur richtet. Auf eine härtere Probe wird dieses Neutralitätsbemühen gestellt, wenn die Betrachtung komplexeren und ideologisch brisanteren Gegenständen gilt. Bei der Wiedergabe indianischer 85

Vgl. Irving, Indian Sketches (1833), S. 7. Ebd., S. 193. 87 Maximilian zu Wied, Reise in das innere Nord-America (1839/1841) II, S. 119. 88 Irving, Indian Sketches (1833), S. 19. 89 Ebd., S. 242. 90 Paul Wilhelm von Württemberg, Reise nach dem nördlichen Amerika (1835), S. 357. 86

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Mythen kann sich Maximilian zu Wied eines Urteils nicht enthalten: »Wenn diese Erzählung gleich albern und langweilig ist, so giebt sie dennoch eine Idee von dem geistigen Zustande dieser Völker und von der Art ihrer Unterhaltungen; ich gedenke sie also hier folgen zu lassen.«91 Mit dieser Bemerkung verrät sich der Zwiespalt, in dem der gebildete Europäer als Forschungsreisender sich befindet. Aber es ist bezeichnend, daß sich schließlich die deskriptive Forschungshaltung gegenüber dem unwilligen Werturteil durchsetzt und der Reisende eine treue Niederschrift des Mythos in seinen Bericht aufnimmt. Ähnlich verhält sich Fröbel, der nach der Schilderung von Hochzeits- und Festsitten der Indianer anmerkt: »Sie haben wenig Interesse; ich habe das Obige jedoch nicht übergehen wollen, weil es eben die Entwicklungsstufe des Stammes, von welchem hier die Rede ist, bezeichnet.«92 Diese seltenen Bemerkungen lassen noch etwas von den Schwierigkeiten erkennen, mit denen die Forscher bei der wissenschaftlichen Disziplinierung ihres Blicks zu kämpfen haben. Sie können das Bewußtsein ihrer zivilisierten Überlegenheit nicht ablegen; dennoch sind die bemüht, angemessene Bewertungskriterien für ihr Urteil zu entwickeln. Dabei folgen sie sehr deutlich der ethnographischen und geschichtsphilosophischen Konzeption der späteren Aufklärung, wie sie theoretisch vor allem von Herder formuliert und ansatzweise zuvor schon von Forster in seiner ersten Reisebeschreibung angewendet wurde. Herder wie Forster wollen fremden Völkern und Kulturen ihr eigenes Recht lassen, und sie tragen damit dazu bei, den normativ erstarrten Vernunft- und Glückseligkeitsbegriff der früheren Aufklärung aufzulösen. Herder hatte das 1776 ausgesprochen;93 und seine grundlegende Einsicht in die Relativität der Wertmaßstäbe systematisiert er später in den »Ideen« unter Heranziehung reichen ethnographischen Materials.94 Die Spuren, die dieser Grundgedanke Herders in den späteren Berichten der deutschen Besucher indianischer Stämme hinterlassen hat, lassen sich nicht übersehen. Immer wieder verrät sich bei den Versuchen, abweichende Sitten und Charakterzüge zu erklären und notfalls auch zu entschuldigen, der - sicherlich in der Regel nur mittelbare - Einfluß Herderschen Denkens, der allerdings nicht mehr ganz ungetrübt wirksam ist. Den Autoren fallt es manchmal schwer, die theoretische Einsicht in die Gleichberechtigung anderer Kulturen zu vereinbaren mit dem unterschwelligen oder bewußten Gefühl der zivilisatorischen Überlegenheit. Die Versuche, beide Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen, durchkreuzen sich oft und führen zu einer merkwürdigen Ambivalenz des Urteils. Zunächst rechtfertigen die Reisenden barbarische Sitten der Eingeborenen damit, daß sie noch dem Naturzustande angehören: »In dieser Hinsicht unter91

92 93

94

Maximilian zu Wied, Reise in das innere Nord-America (1839/1841) II, S. 152; entsprechend S. 149. Fröbel, Aus Amerika (1857f.) I, S. 408. Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774), S. 44f. Vgl. Jäger, Herder als Leser von Reiseliteratur. Anhang: Von Herder in den »Ideen« erwähnte itinerare und historisch-geographische Schriften, S. 190-199.

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scheidet sich der brasilianische Wilde nicht von dem Nord-Americaner und dem Gaucho in dem Süden dieses Continents, so wie von dem Naturmenschen aller Welttheile.«95 Wenn Möllhausen selbst dem Skalpieren, »das ohne Zweifel ein barbarischer Brauch ist«, unter dieser Perspektive ein gewisses Verständnis abgewinnen kann, 96 so gilt das erst recht für die unentwickelte indianische Malerei, die sich eben noch in der »Kindheit« befindet.97 Die Zuordnung der Indianer zu einer noch frühen Entwicklungsstufe der Menschheit ist nicht nur Ausdruck herablassender Überlegenheit der Europäer - obwohl dieses Moment sicherlich mit hineinspielt - , sondern sie eröffnet noch einmal etwas verspätet die Möglichkeit zu einer zurückhaltend-positiven Würdigung des Naturzustandes: Im ganzen genommen kann ich versichern, daß die meisten Urvölker sich in ihrem Benehmen und in ihrer gesellschaftlichen Lebensweise gesetzter und anständiger zu betragen wissen als viele in ihrer Nähe wohnende Weiße von europäischer Abkunft, deren Roheit nur zu oft alle Grenzen des Anstands überschreitet, obgleich sie mit Selbstzufriedenheit und Verachtung die verständigeren und unverdorbeneren indianischen Nachbarn mit dem Titel Barbaren belegen.98

Dieses Lob des unverdorbenen Naturzustandes klingt nicht ganz echt; es ist eher abgeleitet aus einer Kritik der Weißen als Ausdruck einer ursprünglichen Überzeugung des Verfassers.

4. Ethnologie und Politik Zu einer solchen Kritik bestand gerade angesichts der Behandlung der Indianer aller Anlaß; und die Reiseberichte legen sich hier kaum Zurückhaltung auf: »Traurig war mir der Gedanke, dass von der ganzen ursprünglichen Bevölkerung in dem weiten Staate von Pennsylvanien auch nicht eine Spur mehr vorhanden ist! O Land der Freiheit!!!«99 Die Ausrottung und die Vertreibung der Indianer durch Gewalt und Rechtsbrüche ebenso wie die Korrumpierung ihrer ursprünglich unverdorbenen Natur durch den Kontakt mit der Zivilisation sind die Vorwürfe, die die Reisenden gegen die amerikanische Regierung und die Bevölkerung erheben, da »die arme, verfolgte kupferfarbige Race auf ihrem eigenen Grund und Boden, den sie frei von ihren freien Vätern übernommen, tausendfaches Unrecht von den fremden, bleichen Eindringlingen erduldet hatte.«100 Aus dieser Situation heraus entwickeln die Reisenden Verständnis für 95

Maximilian zu Wied, Reise in das innere Nord-America (1839/1841) II, S. 235. Möllhausen, Tagebuch einer Reise vom Mississippi nach den Küsten der Südsee (1858), S. 164. 97 Maximilian zu Wied, Reise in das innere Nord-America (1839/1841) II, S. 113. 98 Paul Wilhelm von Württemberg, Reise nach dem nördlichen Amerika (1835), S. 397; vgl. auch Maximilian zu Wied, Reise in das innere Nord-America (1839/1841) II, S. 134. 99 Maximilian zu Wied, Reise in das innere Nord-America (1839/1841) I, S. 76f. 100 Möllhausen, Reisen in die Felsengebirge Nord=Amerikas (1861) I, S. 230f. 96

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den »so tief gesunkenen Wilden, in dessen Adern noch das Blut der tapferen Ahnen floß«.101 Die Sympathie bleibt zwar meist ebenso allgemein wie die Kritik an der Unterdrückung und Ausrottung der Indianer, welche sich nicht an eine konkrete Adresse richtete, sondern »der weißen Race allein zur Last« gelegt wird.102 Dennoch kann die Parteinahme für die Position der Indianer zu dieser Zeit kaum überschätzt werden. Sie beweist, daß es diesen Reisenden gelungen ist, sich dem Sog der amerikanischen Indianerpolitik und ihrer juristischen wie moralischen Legitimationsversuche zu entziehen. Die amerikanische Expansion im Westen war seit ihren Anfangen geprägt von der Verdrängung der Indianer, sei es durch unmittelbare physische Gewalt oder sei es durch die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, die mit der Kommerzialisierung - vor allem durch den Pelzhandel - und der Besiedelung der westlichen Landstriche einherging.103 Seit den späten zwanziger Jahren wird dieser Prozeß durch eine rigorose staatliche Politik unterstützt. Ihr Ziel war eine Umsiedlung der Indianer in entfernte westliche Regionen, wie sie seit einigen Jahrzehnten diskutiert und jetzt praktisch durchgeführt wurde.104 1830 findet diese Absicht ihren manifesten politischen Ausdruck in dem von Jackson inspirierten »Indian Removal Act«. In ihm wird einerseits - nach entsprechenden Verhandlungen mit den betroffenen Stämmen - den Indianern das Recht auf einen eigenen Lebensraum zuerkannt, der aber andererseits weit jenseits jener Gebiete liegen sollte, die für einen expansionistischen Zugriff der Weißen zu dieser Zeit ins Auge gefaßt wurden. Jacksons Politik zielte darauf, die Entfernung der Indianer schnell, billig und möglichst human durchzuführen; und tatsächlich gelang auch die friedliche Übersiedlung einiger nördlicher Stämme. Im weiteren Verlauf der Aktion zeigte sich jedoch, daß die Durchführung der Umsiedlung mit Ausrottungserscheinungen einherging.105 Schließlich, gegen Ende der 40er Jahre, erwies sich auch, daß die - realen oder vermeintlichen - Sicherheitsbedürfnisse der immer weiter in den Westen hinausgeschobenen Zivilisationsgrenze zu einem Bruch der mit den Indianern geschlossenen Verträge über ihren Lebensraum führten. 106 Die Vertreibung der Indianer wurde begleitet von entsprechenden moralischen und juristischen Legitimationsversuchen, die das amerikanische Indianerbild entscheidend bestimmten. Die Kolonialisierung des Westens erforderte andere ideologische Hilfsmittel, als sie eine ethnographisch-wissenschaftliche Dar101

Paul Wilhelm von Württemberg, Reise nach dem nördlichen Amerika (1835), S. 185. In der deutschen Presse wird offensichtlich häufig eine ähnliche Position vertreten, die geprägt ist vom Mitleid gegenüber den Indianern und Vorwürfen gegenüber der Ausrottungspolitik. Vgl. Thaller, Studien zum europäischen Amerikabild, S. 495f. 102 Möllhausen, Reisen in die Felsengebirge Nordamerikas (1861) I, S. 124. 103 Vgl. Jacobs, Dispossessing the American Indian, S. 2 3 - 2 9 . 104 Zu den entsprechenden politischen Diskussionen zwischen 1789 und 1829 vgl. Satz, American Indian Policy in the Jacksonian Era, S. 1 - 6 . 105 Vgl. ebd., S. 80-87; zu den Leitlinien von Jacksons Indianerpolitik vgl. ebd., S. 64. 106 Vgl. ebd., S. 231-236.

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Stellung liefern konnte. Das amerikanische Indianerbild ist deshalb bis mindestens zur Jahrhundertmitte überwiegend mit negativen - oder als negativ empfundenen - Attributen besetzt. Von entscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die schon von Jackson propagierte Vorstellung, daß die Indianer als nomadisierende Jäger keinen Anspruch erheben könnten auf den Besitz von Land. 107 Neben der 1845 geprägten Formel vom »Manifest Destiny«, nach dem es zu den geschichtlichen Aufgaben der amerikanischen Zivilisation gehöre, ihre Grenzen vom Atlantik bis zum Pazifik auszudehnen,108 wird das sozialphilosophische Argument von der Verpflichtung des Landbesitzers zur Bebauung und Fruchtbarmachung des Bodens die wichtigste Legitimationsgrundlage für die Indianervertreibung. Die expansionistische Indianerpolitik konnte sich dabei auf die gesellschaftstheoretischen Vorstellungen von John Locke und des Schweizer Staatsrechtlers Emmerich de Vattel stützen: Beide hatten das Eigentumsrecht auf die Arbeit - und nicht auf die Übereinkunft - gegründet und damit einer Vertreibung der »nomadisierenden« Indianer von dem Boden, den sie nicht bearbeiteten, die juristische Legitimation gegeben. Vattel hatte dieses Prinzip deutlich - und unter ausdrücklichem Bezug auf die Besitznahme »wilder« Landstriche - formuliert, so daß es leicht in politische Münze umgesetzt werden konnte: On demande, si une Nation peut légitimement occuper quelque partie d'une vaste contrée, dans laquelle il ne se trouve que des peuples errans, incapables, par leur petit nombre, de l'habiter toute entière. Nous avons déjà remarqué (§ 81) en établissant l'obligation de cultiver la terre, que ces peubles ne peuvent s'attribuer exclusivement plus de terrain qu'ils n'en ont besoin et qu'ils ne sont en état d'en habiter et d'en cultiver. Leur habitation vague dans ces immenses régions, ne peut passer pour une véritable et légitime prise de possession; et les peuples de l'Europe, trop resserrés chez eux, trouvant un terrain dont les sauvages n'avaient nul besoin particulier et ne faisaient aucun usage actuel et soutenu, ont pu légitimement l'occuper, et y établir des colonies. Nous l'avons déjà dit, la terre appartient au genre humain pour sa subsistance.109

Wenn in der amerikanischen - und gelegentlich eben auch in der deutschen Literatur die Indianer als nomadisierend und arbeitsscheu vorgestellt werden, dann hat die negative Bewertung dieser Eigenschaften aktuelle politische und ideologische Gründe: Sie widerspricht nicht nur dem Arbeitsethos des okzidentalen Rationalismus, der im amerikanischen Puritanismus besonders fest verwurzelt war, sondern sie ist auch eine moralische und juristische Legitimations107 108 109

Satz, American Indian Policy and the Jacksonian Era, S. 19. Vgl. ebd., S. 232. Vattel, Le droit des gens, ou principes de la loi naturelle, appliquée à la conduite et aux affaires des nationes et des souverains (1758) I, S. 233; vgl. auch ebd., S. 112-115. Zur Funktion dieses Arguments in der Diskussion um die amerikanische Indianerpolitik vgl. Satz, The American Indian Policy in the Jacksonian Era, S. 26. Entsprechende Vorstellungen finden sich bei Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, S. 222f. (II, § 37); vgl. auch S. 217f. (II, § 27). - Zum Einfluß von Locke, Vattel und anderer europäischer Naturrechtstheoretiker auf die Diskussionen im Umfeld der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vgl. Bailyn, The Ideological Origins of the American Revolution, S. 2 7 - 29.

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Strategie, mit der nachgewiesen werden kann, daß die Eingeborenen den Anforderungen der Sozialphilosophie an den Grundeigentümer nicht entsprechen. Aufgrund dieser ideologischen Notwendigkeiten wird das Bild des Indianers in der amerikanischen Politik und Literatur fast durchweg als das eines nomadisierenden Jägers gezeichnet, obwohl es durchaus auch Indianerstämme gegeben hat, die seßhaft waren und Ackerbau betrieben.110 Die deutschen Ethnographen des frühen 19. Jahrhunderts haben sich von diesen Vorstellungen weitgehend lösen können, obwohl auch ihre europäischen Vorgänger ein eher negatives Bild der Indianer gezeichnet hatten.111 Auch unter den deutschen Reisenden, die die Indianer nur beiläufig und an den Grenzen der Zivilisation oder überhaupt nicht zu Gesicht bekommen haben, finden sich deutliche Einflüsse des offiziellen amerikanischen Indianerbildes. Wenn Alexander Ziegler über seine Erfahrungen mit den Indianern berichtet, dann gerät er trotz einiger Einschränkungen in eine bedenkliche Nähe zur amerikanischen Verdrängungs- und Ausrottungsideologie, auch wenn er sich in dieser Nähe nicht ganz wohl zu fühlen scheint: Die Geschichte zeigt, daß stets ein Volk das andere besiegt, stets eines das andere verdrängt hat. Es ist nicht zu läugnen, daß, vom moralischen Standpunkte aus betrachtet, die Entfernung der Indianer von ihrem heimathlichen Boden nicht zu rechtfertigen ist, und daß es eine tiefschmerzliche Erscheinung ist, einen ganzen Menschenstamm allmählig verschwinden zu sehen. Allein in politischer Beziehung mochte die Zurückdrängung der Indianer für die Amerikaner nothwendig sein."2

Zuvor hat er dieses Recht auf den »heimathlichen Boden« ganz im Sinne der amerikanischen Ideologie relativiert mit dem Argument, daß die »arbeitscheuen und wilden rothen Männer« als Jäger ihren Pflichten gegen den fruchtbaren Erdboden nicht nachgekommen seien, die sie nur als Ackerbauer hätten erfüllen können.113 Auch Witte, der möglicherweise die Indianer überhaupt nicht aus eigener Anschauung kennt - zumindest läßt das die theoretische Abstraktheit der entsprechenden Passagen in seinem Buch vermuten macht sich die Prämissen der amerikanischen Indianerpolitik zu eigen. Er bescheinigt den Eingeborenen, daß das »freie ungebundene Jägerleben« für sie einen »unwiderstehlichen Reiz« ausübt und behauptet, daß »den Indianern von Seiten der Amerikaner fast niemals ein Unrecht zugefügt« wurde.114 110

1,1

112 113 114

Vgl. Jacobs, Dispossessing the American Indian, S. 148; Hartmann, Die Plains- und Prärieindianer Nordamerikas, S. 170 und S. 176-178. Zur amerikanischen Ideologiegeschichte der Indianervertreibung von 1630 bis zu Theodore Roosevelt vgl. die Dokumente in: The Indian and The White Man, S. 102-136. Vgl. Moravia, Beobachtende Vernunft, S. 196-201. Paul Wilhelm von Württemberg und Maximilian zu Wied weisen die Charakterisierung der Indianer durch »Volney und einige andere Schriftsteller« ausdrücklich als »etwas zu ungünstig« zurück; so Maximilian zu Wied, Reise in das innere Nord-America (1839/1841) II, S. 133f.; Paul Wilhelm von Württemberg, Reise nach dem nördlichen Amerika (1835), S. 193. Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika und Westindien (1848) I, S. 244. Ebd., S. 241 f. Witte, Kurze Schilderung der Vereinigten Staaten von Nord=Amerika (1833), S. 71.

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Eine ganz vom amerikanischen Standpunkt geprägte Darstellung gibt schließlich der Berliner Geschichtsprofessor Friedrich von Raumer in seiner deutschsprachigen, aber 1846 in Philadelphia erschienenen Arbeit »Die Vereinigten Staaten von Amerika«. Er führt nicht nur noch einmal die Urteile und Vorurteile über die indianischen Charakter- und Sozialeigenschaften ausführlich auf, sondern er zieht - wesentlich unbefangener als etwa Ziegler - auch die entsprechenden politischen Schlüsse daraus: Die Wilden und die Thiere müssen sich von Rechtswegen vor gebildeten Menschen zurückziehen, und jenen bleibt für ihre geringe Zahl noch ein unermeßlicher Raum, worauf Hunderte von Millionen fleißiger Menschen wohnen und sich ernähren könnten. [...] In Wahrheit war das Land schon in sofern keines Menschen, als es durchaus nicht angemessen benutzt wurde; Fleiß und Arbeit sind auf die Dauer die einzigen echten Mittel, Eigenthum zu begründen und zu erhalten."5

Neben dieser juristischen Rechtfertigung der Vertreibung der Indianer von ihrem Boden zeichnet Raumer auch ansonsten ein durchaus negatives Bild: Ihnen fehlt ein geordnetes Familienleben, sie neigen zur Unmäßigkeit, zügelloser Leidenschaft und Verschwendung; ihr gerühmter Hang zur Unabhängigkeit ist, wie bei wilden Tieren, nur Ausdruck ihrer Unbezähmbarkeit und Unfähigkeit, sich gesetzlichen Verhältnissen einzuordnen, sie erkennen die Vorteile des zivilisatorischen und merkantilen Forschritts nicht und sind schließlich auch nicht bildungsfähig.116 Es überrascht nicht, wenn Raumer feststellt, daß über diese »mitgetheilten Thatsachen und Betrachtungen [...] die meisten Nordamerikaner einig« sind117 - schließlich versammelt er alle Klischees, die zur juristischen und moralischen Legitimation der Indianervertreibung und -ausrottung in Amerika hervorgebracht wurden. Eine derart drastisch ethnozentrisch argumentierende Darstellung dürfte sich bei deutschen Amerikaautoren dieser Zeit kaum noch einmal finden; sie fallt deutlich ab gegenüber dem Standard der ethnographischen Wissenschaft, wie er schon zu Beginn des Jahrhunderts sich ausgebildet hatte. Gegen Ende des Jahrhunderts gibt Friedrich Ratzel noch einmal im Rahmen seiner großen Amerikastudie ein abgewogeneres Bild der indianischen Bevölkerung. Er beschreibt die physiologischen Erscheinungen ebenso wie die der materiellen und sozialen Kultur, die er im historischen und geographischen Zusammenhang zu sehen und zu würdigen bemüht ist. In seinen Bewertungen ist Ratzel frei von den Verzerrungen des Ethnozentrismus, die Raumers Darstellung prägen; sein Bemühen um eine Rehabilitation der Indianer ist aber doch implicite geleitet von europäisch-zivilisatorischen Wertvorstellungen, an denen er die Eigenschaften, Fähigkeiten und kulturellen Errungenschaften mißt. Gerade das Bemühen, Rechtfertigungen zu finden für das vermeintliche Zurückbleiben der Indianer hinter diesen Vorstellungen macht deutlich, wie sehr sie die geheime Leitlinie seiner Darstellung bleiben: 115 116 117

Raumer, Die Vereinigten Staaten von Nordamerika (1846) II, S. 56. Vgl. ebd., S. 56-58. Ebd., S. 58. 215

Auf die geistige Begabung der Indianer lässt sich [...] vor allem der Schluss ziehen, dass sie bei der Ankunft der Europäer auf einer Stufe der Culturentwicklung standen, welche der Erhaltung geistiger Kräfte nicht günstig sein konnte. Die Bedingungen der Entwickelung sind seitdem nur in einzelnen Fällen günstig genug geworden, um ihnen erhebliche Fortschritte über jenen Zustand hinaus zu erlauben, und sie haben in jedem dieser Fälle denjenigen Grad von Intelligenz gezeigt, welcher nothwendig ist zur selbständigen Ausfüllung europäischer Culturformen.118

Auch diese Auffassung ist, bei allem Wohlwollen, noch geprägt von dem »subtilen Ethnozentrismus«, der die Rechte einer fremden Kultur nicht anzuerkennen vermag. Ratzel rehabilitiert damit nachträglich die amerikanischen Assimilationsbemühungen, welche zwischen 1830 und 1850 darauf zielten, die Indianer durch ihre Zivilisierung zu domestizieren und zu integrieren, ohne ihre spezifischen kulturellen Traditionen und Eigenarten zu respektieren - das weitgehende Scheitern solcher Versuche trug dazu bei, das ohnehin gängige Bild vom charakterschwachen, faulen und trunksüchtigen Indianer zu verfestigen.119 Auch diesem Klischee sind deutsche Reisende wie Paul Wilhelm von Württemberg, Maximilian zu Wied und Möllhausen nicht verfallen, da sie die Existenz solcher vermeintlicher charakterlicher Merkmale auf den verderblichen Einfluß der Zivilisation zurückzuführen wußten. Es ist plausibel, daß es ausländischen Reisenden leichter fallen mußte, ein unbefangenes Indianerbild zu zeichnen als den Amerikanern selbst, deren Blick von politischen und ökonomischen Interessen und ihrem historischen Selbstverständnis geprägt waren. Dennoch finden sich auch unter amerikanischen Autoren gelegentliche Widerstände gegen eine allzu stark ideologisch verzerrte Darstellung der Eingeborenen.120 In Amerika war es vor allem George Catlin, der es in seiner Studie »Letters and Notes on the Manners, Customs, and Conditions of the North-American Indian« unternahm, die gängigen Vorurteile auf der Basis eigener systematisch angelegter Beobachtungen zu korrigieren. Sein Ziel ist ein differenziertes Bild des indianischen Charakters, der auch »seine Flecken« hat, aber auch vieles, »was den Beifall und die Bewunderung der zivilisierten Welt verdient.«121 Daß es den deutschen Reisenden gelang, Catlins Einstellung gegenüber den Indianern, die sich als Mischung aus wissenschaftlicher Akribie und humanitärer Anteilnahme charakterisieren läßt, vorwegzunehmen, hängt nicht nur damit zusammen, daß ihnen als Fremden die Wahrnehmung der Wirklichkeit weniger schwer fallen mußte als den Amerikanern selbst. Die grundlegende Voraussetzung für ihre Indianerdarstellung dürfte darüber hinaus in der humanitären Tradition der späten Aufklärung zu suchen sein, in der sie stehen. Herder hatte mit seinen geschichtsphilosophischen Schriften nicht nur das Bewußtsein einer 1,8 119 120

121

Ebd., S. 122f. Vgl. Satz, American Indian Policy in the Jacksonian Era, S. 273f. Vgl. Jacobs, Dispossessing the American Indian, S. 21; Satz, American Indian Policy in the Jacksonian Era, S. 266f. Catlin, Die Indianer Nordamerikas (dt. 1846-1848), S. 12f. vgl. auch Hartmann, George Catlin und Balduin Möllhausen, bes. S. 25.

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Relativität der Wertmaßstäbe geschaffen, sondern zugleich auch die Theorie von der Einheit des Menschengeschlechts energisch verfochten. Diese monogenetische Theorie - die von den meisten Gelehrten des 18. Jahrhunderts geteilt wurde - konterkarierte die Versuche, aus den verschiedenen Ursprüngen der Rassen auch verschiedene Rechte und Pflichten und schließlich die Legitimation zur Unterdrückung oder Ausrottung abzuleiten.122 Herders Auffassung schließt diese Legitimation ausdrücklich aus; und er ist sich auch der politischen Implikationen seiner Theorie bewußt: »Du aber, Mensch, ehre dich selbst. Weder der Pongo noch der Longimanus ist dein Bruder; aber wohl der Amerikaner, der Neger. Ihn also sollt du nicht unterdrücken, nicht morden, nicht stehlen; denn er ist ein Mensch, wie du bist«.123 Auf dieses Humanitätsethos stützen sich die Ethnographen, wenn sie die amerikanische Indianerpolitik kritisieren und sich selbst bemühen, Sympathie für die Eingeborenen zu entwickeln. Möllhausen fordert in diesem Sinne, daß der indianischen Rasse mit der Achtung begegnet werden solle, die sie »als ein Theil der menschlichen Gesellschaft verdient«124 und er fordert für sie »ganz dieselben Rücksichten«, wie für jeden anderen Menschen, »mag nun eine Haut, so weiß wie Elfenbein, oder so schwarz wie Ebenholz, seine Seele decken.«125 Bei allem Verständnis für die Indianer bleiben die Reisenden aber den Vorstellungen ihrer Zeit über den Nutzen und schließlich auch die Überlegenheit der Zivilisation gegenüber dem Naturzustand treu. Möllhausen hat - ähnlich wie Forster bei den Pescheräh - Schwierigkeiten, seine humanitäre Haltung beizubehalten, wenn er auf einen besonders heruntergekommenen Indianerstamm trifft: Sind dies wirklich menschliche Wesen, in welchen ein göttlicher Funke glimmt, der nur angefacht zu werden braucht, um sie zu nützlichen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft zu machen? Man zweifelt daran und wendet sich mitleidig von solchen Geschöpfen ab.126

Wenn die Reisenden sich bemüht zeigen, den indianischen Völkern ihr Recht zu lassen, so sind ihre Rehabilitationsversuche gegenüber gängigen Vorurteilen unterfüttert von einem Fortschrittsglauben, der insgeheim die Maßstäbe des Urteils abgibt: Die Indianer werden nicht, wie Herder es gefordert hatte, an ihren eigenen Kriterien für Glückseligkeit gemessen, sondern an ihrer Vervollkommnungsfähigkeit im Sinne der Zivilisation. So ist Möllhausens Blick in die Zukunft der Pueblo-Indianer orientiert an zivilisatorischen Kriterien: Wohin aber könnten diese halbcivilisirten Stämme durch Hilfe der civilisirten Race gebracht worden? [sie] Geschickte Handwerker könnten aus ihnen gemacht und gewis122

Vgl. zu diesen Diskussionen Bitterli, Die »Wilden« und die »Zivilisierten«, S. 327-331. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791) I, S. 250. Ganz ähnlich argumentiert W. v. Humboldt, Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues (1836), S. 114. 124 Möllhausen, Reisen in die Felsengebirge Nord=Amerikas (1861) I, S. 287. 125 Ebd. II, S. 231. 126 Möllhausen, Tagebuch einer Reise vom Mississippi nach den Küsten der Südsee (1858), S. 361.

123

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senhafte Lehrer der Jugend gebildet werden; und welche Wohlthat würde es sein, wenn ihnen das Verfahren der Impfung gezeigt und gelehrt würde! Wie würden diese Menschen, wenn sie erst einen gewissen Grad von Bildung erreicht hätten, sich schon selbst forthelfen und von Stufe zu Stufe emporsteigend allmählig in den Rang der civilisirtesten Völker treten!127

Dieser unbeirrbare Glaube an den Sinn richtig verstandenen Fortschritts ist ein Erbe der Aufklärung - selbst Herders Historismus wollte nicht auf ein teleologisches Regulativ verzichten, das der Entwicklung der Menschheit zur Humanität die Richtung vorgab - , was vom 19. Jahrhundert aufgegriffen und in so nützlichen Einrichtungen wie Bildung, Handwerk und Impfung konkretisiert wird. Auch wenn vor allem Möllhausen immer wieder von Skrupeln angesichts der fortschreitenden Zivilisation im Westen Amerikas geplagt wird, mit der die »einzige Naturpoesie des grossen, nordamerikanischen Continents« zugrunde geht,128 ist es für ihn selbstverständlich, daß eine humanitär gebändigte Zivilisation von allen Völkern und Kulturen Besitz ergreifen muß und wird. Wenn der Reisende positive Charakterzüge der Indianer aufzählt, dann würdigt er sie nicht um ihrer selbst willen, sondern weil »bei diesen Eigentümlichkeiten [...] die fortschreitende Bildung viel, selbst aus noch so roh scheinenden Menschen, machen« könnte.129 Frei von derartigen Bewertungen des indianischen Charakters am Maßstab der europäischen Zivilisation ist dagegen Maximilian zu Wied, dem es wirklich gelingt, das Ideal neutraler Beobachtung und objektiver Beschreibung zu realisieren - ganz entsprechend seiner Ankündigung, »sichere und unpartheiische Nachrichten von den Indianern« geben zu wollen130 - hier bewährt sich wohl die wissenschaftliche Ausbildung, die er in Göttingen bei seinem Lehrer Blumenbach genossen hat.

5. Methodische Probleme der Ethnographie Wenn es Maximilian zu Wied, aber auch den anderen ethnographischen Forschern gelingt, sich weitgehend freizumachen von Vorteilen gegenüber den Indianern, ohne andererseits das obsolete Klischee vom »Edlen Wilden« wieder zu bemühen, so verdanken sie das vor allem dem Nachwirken von geistes- und wissenschaftsgeschichtlichen Tendenzen der Aufklärung. Sie hatte die rationalistischen Denk- und Klassifikations- ebenso wie die empiristischen Wahrnehmungsmodelle entwickelt, die Voraussetzung realistischer Forschung auch in der Ethnologie wurden; die 1736 gegründete Universität Göttingen spielte bei der Entwicklung dieses Wissenschaftsverständnisses in Deutschland eine her127

Ebd., S. 302f.; vgl. auch S. 139. Dazu Brenner, Ein Reisender und Romancier des 19. Jahrhunderts, S. 72. 128 Yg[ Möllhausen, Tagebuch einer Reise vom Mississippi nach den Küsten der Südsee (1858), S. 86. Vgl. auch die charakteristische Passage bei Möllhausen, Reisen in die Felsengebirge Nord=Amerikas (1861) I, S. 275. 129 Paul Wilhelm zu Württemberg, Reise nach dem nördlichen Amerika (1835), S. 326. 218

ausragende Rolle 131 Aus der Aufklärung stammen aber auch jene Relikte ethnozentrischen Denkens, die die Forscher gelegentlich dazu führen, die fremde Kultur am Maßstab des eigenen Humanitäts- und Fortschrittsbegriffs zu messen. Der empirische Ertrag der ethnographischen Amerikareisen ist ungemein reich; aber obwohl sie sich bei ihren Forschungen gelegentlich an komplexeren Fragestellungen wie Ursprungs-, Migrations- oder Sprachtheorien orientieren, bleiben sie in der Regel doch bei einer bloßen Summierung des Wissens stehen. Sie ist ein Fortschritt, wo sie die Objektivität der Beobachtung gegenüber politischideologisch bedingten Verzerrungen des Blicks wahren hilft; ihr fehlt aber andererseits die integrierende Perspektive, die die Beobachtungen nicht nur in Zusammenhänge zu bringen vermöchte, sondern sie auch schon anleiten könnte. 132 Aus diesem Defizit erklärt sich die Präferenz der Reisenden für äußerliche Erscheinungen der Physiognomie oder der materiellen Kultur, während eine Erforschung der sozialen Verhältnisse indianischer Völker durchweg bei oberflächlichen Einzelbeobachtungen stehen bleibt. Bei aller Genauigkeit der Wahrnehmung fehlt den Reisenden ein Interpretationsmodell, das die Einzelerscheinungen in eine andere als klassifikatorische oder bestenfalls vergleichende Beziehung zu bringen vermöchte, und es gelingt ihnen - ebensowenig wie den anderen Ethnographen ihrer Zeit - auch nicht, »einen sprachlichen Ausdruck für etwas zu finden, was nur in einer anderen Sprache angemessen zu benennen ist [...]: Der ethnologische Reisende war Sammler, und die Selbsterkenntnis, die er suchte, erwartete er nicht aus der Kommunikation mit den Angehörigen eines anderen Volkes - aus den abgestorbenen Dingen des Museums sollte sie ihm entgegentreten.« 133 Das Grundproblem des wissenschaftlichen Reisenden bei seinen ethnographischen - ebenso wie bei seinen naturwissenschaftlichen - Forschungen ist die Schwierigkeit, Empirie und Theorie produktiv zu verbinden. Die Beobachtung muß sich von der Theorie leiten lassen; ebenso wie sie umgekehrt die Theorie gegebenenfalls falsifizieren, korrigieren oder erweitern können muß. Das zur Bewältigung dieser Problematik notwendige methodische Bewußtsein ist bei den reisenden Wissenschaftlern kaum ausgeprägt. Von Ausnahmen abgesehen, stellen sie theoretisches Vorverständnis und empirische Beobachtung nicht in ein reflektiertes Verhältnis zueinander; die Empirie überwiegt. Das forschungsstrategisch ideale Verhältnis zwischen Theorie und Empirie wäre dagegen im serendipity-pattern gegeben: serendipity ist die Erfahrung eines unerwarteten, abwei130

Maximilian zu Wied, Reise in das innere Nord-America (1839/1841) I, S. XII; zur Ausbildung des Prinzen bei Blumenbach vgl. Schmidt, Die Büchersammlung des Prinzen Maximilian zu Wied, S. 4. 131 Vgl. Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert III, S. 30f. 132 Zu den wenigen Reisenden, die dieses Problem überhaupt reflektiert haben, gehörte Georg Forster, der mit seinen Überlegungen zum Problem von Empirie und Methode auch Kant fruchtbar angeregt hat; vgl. dazu Brenner, Die Erfahrung der Fremde, S. 36f. 133 Kramer, Verkehrte Welten, S. 70.

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chenden und »strategisch« wichtigen Datums, die den Forscher dazu zwingt, seinen Forschungen eine neue Richtung zu geben und den Bereich seiner Theorie auszuweiten. Die Erfahrung dieses Datums aber ist nur möglich, wenn überhaupt eine Theorie als Wahrnehmungsrahmen existiert, in bezug auf welchen es als überraschend und abweichend begriffen werden kann. 134 Für diese Form auch theoretisch produktiver Wahrnehmung fehlen den wissenschaftlichen Reisenden des früheren 19. Jahrhunderts in weiten Bereichen ihrer Forschungen die Voraussetzungen. Wenn sie ihre Wahrnehmung und Darstellung auf rein deskriptiv verwertbares Material reduzieren, das sich allenfalls auf ein diffuses theoretisches Vorverständnis beziehen kann, so ergibt sich das aus dem Standard der Ethnologie ihrer Zeit. Erst in der zweiten Jahrhunderthälfte entwickelt die Ethnologie theoretische Modelle, die als Anleitung für die empirische Forschung brauchbar sind, weil sie eine gezieltere Untersuchung von Abhängigkeiten zwischen Einzelphänomenen erlauben.135 Einen signifikanten Beitrag hierzu lieferte der Begründer des Berliner Museums, Adolf Bastian. In seinem Beitrag zu Neumayers »Anleitung zu wissenschaftlichen Beobachtungen auf Reisen« entwickelt er eine Liste von Fragestellungen, an denen sich Reisende bei ihren ethnologischen Beobachtungen orientieren sollen. Diese Fragen sind eingebettet in einen theoretischen Horizont; die Beobachtung des einzelnen Phänomens soll nicht der bloßen Klassifikation dienen, sondern die Interdependenz verschiedener Faktoren erschließen helfen: Ethnologische Forschungen dürfen den Menschen »weniger nach seiner Stellung innerhalb des Systems (im Anschluss an das zoologische) betrachten, als vielmehr in der charakteristischen Färbung, die ihm seine geographische Provinz verleiht.«136 Der Begriff der »geographischen Provinz« wird dabei weit gefaßt: Der Mensch, als Gesellschaftswesen, ist nicht nur von dem Milieu des physikalischen Klima's seiner (zunächst an die zoologische, wie diese an die festere botanische angeschlossenen) anthropologischen Peripherie in der jedesmaligen geographischen Provinz abhängig, sondern auch von den politischen Constellationen seines Landes, die (auf topographischen Configurationen basierend) den ethnologischen Horizont darstellen.137

Von diesem Gedanken des Zusammenwirkens äußerer und innerer Faktoren bei der Entstehung einer nationalen Kultur lassen sich die detaillierten Fragenkataloge leiten, die Bastian dem ethnologischen Forscher an die Hand gibt; sie richten sich gleichermaßen auf die Aspekte der materiellen Kultur wie auf geographische, historische und soziale Zusammenhänge.138 134

135

136 137 138

Der Begriff des »serendipity-pattern« wurde für die soziologische Theorie entwickelt von Merton, Social Theory and Social Structure, S. 104f. Zur Entwicklung der »ethnographischen Soziologie« seit etwa 1860 vgl. Mühlmann, Geschichte der Anthropologie, S. 101 -107. Bastian, Allgemeine Begriffe der Ethnologie (1875), S. 516. Ebd., S. 525. Zu Bastians Stellung in der Geschichte der Ethnologie vgl. Mühlmann, Geschichte der Anthropologie, S. 87-93; Voget, A History of Ethnology, S. 148.

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Die Einsicht in den Zusammenhang dieser Faktoren war nicht neu; schon Montesquieu hatte 1748 - in freilich einseitig monokausaler Überbetonung des klimatischen Faktors - in der »Gesamtheit der physischen Umweltbedingungen« den Grund für nationale und rassische Unterschiede zwischen den Völkern gesehen;139 und am Ende des 18. Jahrhunderts forderte Wilhelm von Humboldt140 eine komplexere Betrachtung der Umstände des menschlichen Lebens. In der positivistischen Periode der Ethnologie und Anthropologie seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts waren diese methodologischen Einsichten zugunsten reiner Faktensammlung weitgehend zurückgetreten. Wenn in der zweiten Jahrhunderthälfte wieder daran erinnert wird, dann bedeutet das nicht einfach einen Rückgang ins 18. Jahrhundert, sondern es hat sich ein qualitativer wissenschaftsgeschichtlicher Fortschritt vollzogen: Es wurde »empirisch bewiesen, was der Aufklärung wesentlich nur antizipierender Gedanke sein konnte [...]. Ganz entscheidend war der Übergang zu einer empirisch-systematischen Methodik der Materialsammlung und der Materialaufbereitung.«141 Aus diesem Fortschritt haben die früheren Amerikareisenden jedoch noch keinen Anteil. Systematische Ausarbeitungen empirischen Materials, die versuchen, Zusammenhänge zwischen den verschiedenen materiellen Faktoren herzustellen, finden sich erst später. Das prominenteste Beispiel ist Ratzels große Darstellung der »Vereinigten Staaten von Nord=Amerika«, die im zweiten Band - entsprechend Ratzels Konzeption der »Anthropogeographie« - eine »Culturgeographie« der Vereinigten Staaten zu geben versucht, wobei die Rücksicht »auf ihre allgemeinen Eigenschaften, ihre Beziehungen zu den natürlichen Daseinsbedingungen, zum Leben und zur Zukunft des amerikanischen Volkes mehr vorwaltete als das Streben nach Darbietung von möglichst vielen Einzelheiten.«142 Mit dieser Konzeption ist auch für die Amerikareisenden das Stadium positivistischer Materialsammlung überwunden.

6. Prinzipien der naturwissenschaftlichen Beobachtung Das forschungsstrategische Konzept der Amerikareisenden bei ihren ethnologischen Untersuchungen ist etwas ambivalent. Einerseits und überwiegend folgt es dem methodischen Ideal reiner Deskription; andererseits wird diese Deskription aber gelegentlich gelenkt von vagen methodologischen Vorstellungen, die der Beobachtung durch theoretische Vorgaben die Richtung weisen. Gegenüber der Komplexität ethnographischer Gegenstände scheinen die naturwissenschaftli139

Vgl. Mühlmann, Geschichte der Anthropologie, S. 49; Bitterli, Die »Wilden« und die »Zivilisierten«, S. 231 f. 140 W. v. Humboldt, Plan einer vergleichenden Anthropologie (1795), S. 389. 141 Krauss, Zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts, S. 13. 142 Ratzel, die Vereinigten Staaten von Nord-Amerika (1880) II, S. VII. Zur »Anthropogeographie« Ratzels vgl. Buttmann, Friedrich Ratzel, S. 61-72. Eine knappe Einordnung in den geographiegeschichtlichen Kontext gibt Beck, Geographie, S. 273f.

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chen Untersuchungen im Bereich der Botanik, Zoologie und Topographie geringere methodische Anforderungen zu stellen. Während das Ideal der reinen Beobachtung in der Ethnographie immer wieder konterkariert wird durch die besonderen Probleme, die der Kontakt verschiedener Kulturen und aktuelle politische Interessen aufwerfen, entfallen mindest diese Schwierigkeiten in der Naturwissenschaft; das empiristische Konzept scheint deshalb hier leichter realisierbar als anderswo. In der Tat sind die reisenden Wissenschaftler den Verführungen zur methodischen Simplizität in diesen Bereichen besonders stark verfallen. Sie folgen bei ihren naturwissenschaftlichen Forschungen einem Prinzip, das sich am besten kennzeichnen läßt als das einer »wahllosen Empirie«, die mit unermüdlichem Eifer sammelt und registriert, was aus irgend einem Grunde auffallig wird. Das Sammeln und Beobachten von Gegenständen mutet an wie eine idée fixe der Wissenschaftler, der sie sich vom ersten Tag ihrer Reise an unterwerfen. Besonders Maximilian zu Wied und Paul Wilhelm von Württemberg notieren jede beliebige Erscheinung, die ihnen schon auf der Überfahrt in den Blick fällt - gleich, ob es sich um zoologische, botanische, klimatische, nautische oder topographische Phänomene handelt. Bei der Registrierung dieser Wahrnehmungen ist ebensowenig wie bei der Anlage der naturhistorischen Sammlungen ein klares Prinzip zu erkennen, das durch systematische Durchführung realisiert würde; Zufall und Gelegenheit sind die einzigen Führer bei den naturwissenschaftlichen Forschungen. Grundlage der Wissenschaft ist nicht die gezielte, sondern die permanente Beobachtung. Das Beobachten wird zu einer selbstverständlichen Verhaltensweise, die sich zu einer regelrechten Sucht ausweiten kann. Ihr verfällt auch Fröbel als ein Reisender, dessen wissenschaftliche Ambitionen beschränkt und dessen Reisebedingungen der Einlösung solcher Ambitionen auch nicht günstig waren. Obwohl er bei seiner Teilnahme an einer Handelskarawane durch die Wildnis keine systematischen und abgesicherten Untersuchungen anstellen kann, registriert er nicht nur alles, was ihm beiläufig auffällt und von wissenschaftlichem Wert zu sein scheint, sondern er teilt es auch in seinem Reisebericht mit: »Ich habe in dieser Abschweifung vom Faden unserer Reise, ihrem Verlaufe vorauseilend, die wenigen und oberflächlichen geologischen Wahrnehmungen zusammengedrängt zu denen mir unsere Art zu reisen auf dem Wege von Missouri bis zum Rio Grande Gelegenheit gab.«143 Fröbel erscheint als Repräsentant eines Wissenschafts- und empiriesüchtigen Zeitalters - sein Reisebericht erschien 1857/58 - , das keine Wahrnehmung, gleich unter welchen Umständen sie gewonnen und in welchem Kontext sie mitgeteilt wird, versäumen will, weil es hofft, daß jede dieser Bemerkungen ihren Platz im wissenschaftlichen System der Zeit finden werde. Die Zufälligkeit einer Beobachtung ist kein Einwand gegen ihre - potentielle - Bedeutung; Paul Wilhelm von Württemberg weiß, daß »selbst die unbedeutendsten Gegenstände oft einiges Interesse erwecken« und damit die Aufmerk-

143

Fröbel, Aus Amerika (1857f.) II, S. 79.

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samkeit auf sich lenken können.144 Dem Naturforscher ist kein Kriterium zur Auswahl der Beobachtungsobjekte an die Hand gegeben. Er wartete stets auf das Interessante oder Merkwürdige, das von selbst ins Auge fallt, aber oft genug kann er nur das Fehlen solcher Gegenstände bedauernd mitteilen, weil ihm eben »nichts Bemerkenswertes« aufgefallen ist.145 Das Prinzip solcher Forschungsreisen ist der Zufall, der gelegentlich auch abhängig ist von äußeren Reiseumständen. Der Forscher unterwirft nicht die Reise den Zwecken eines Forschungsprogramms, sondern die wissenschaftlichen Ergebnisse bleiben gebunden an einen Reiseverlauf, der anderen Erwägungen folgt: »In botanischer und ornithologischer Hinsicht erschien mir diese Gegend nicht ohne Interesse, und ich bedauerte sehr, daß mir die Gelegenheit fehlte, mich länger hier aufhalten zu können.«146 Dieses Verfahren, wahllos zu beobachten und zu sammeln, was sich zufällig dem Blick als Interessantes darbietet, ist von Voraussetzungen abhängig, die den Reisenden in ihrer Tragweite nicht bewußt sind. Paul Wilhelm von Württemberg macht - in einem an sich belanglosen Kontext - eine treffende Bemerkung, wenn er feststellt, daß ihm als Fremdem »alles Neue - selbst das an sich Geringfügigste - auffallen mußte«.147 Diese Feststellung könnte als Leitwort über seinem wie über den Berichten der anderen Forschungsreisenden seiner Art stehen. Der Vergleich zwischen dem Vertrauten und dem Neuen ist das erste und wichtigste strukturierende Moment ihrer Beobachtungen: Dem Blick drängt sich zunächst auf, was von dem aus Europa Bekannten abweicht. Nur vor diesem - kaum einmal reflektierten - methodischen Hintergrund werden die immer wiederkehrenden, oft nur beiläufig angedeuteten, vergleichenden Bemerkungen einsichtig. Prinz Maximilian scheint sich zumindest oberflächlich der Tatsache bewußt zu sein, daß sein Blick auf die amerikanische Wirklichkeit von seinem europäischen Erfahrungshorizont geprägt ist: »Die Gegend am südlichen Ufer schien uns, die wir uns häufig mit dem Vaterlande beschäftigten, einige Aehnlichkeit mit manchen Rheingegenden zu haben; aber am rechten Ufer zeigten sich bald sonderbar gestaltete Höhen, den Festungswällen ähnlich.«148 Die wissenschaftlichen Reisewerke sind voll von derartigen Vergleichen der fremden Umgebung mit dem aus der Heimat Vertrauten; darin unterscheiden sie sich nicht von den Werken anderer Autoren. Was bei diesen als naives Erfahrungsprinzip unproblematisch ist, wird bei jenen zum Signum eines Wahrnehmungsverfahrens, dessen Beobachtungsleitlinien nicht immer genügend ausge144

145 146 147 148

Paul Wilhelm von Württemberg, Reise nach dem nördlichen Amerika (1835), S. 171. Auch des Herzogs vormaliger Begleiter Möllhausen weiß den Wert des Zufalls zu schätzen, der »bisweilen einen wissenschaftlichen Forscher auf unerwartete Schätze« führt. Möllhausen, Tagebuch einer Reise vom Mississippi nach den Küsten der Südsee (1858), S. 28. Paul Wilhelm von Württemberg, Reise nach dem nördlichen Amerika (1835), S. 116. Ebd., S. 271. Ebd., S. 213. Maximilian zu Wied, Reise in das innere Nord-America (1838/1841) I, S. 408. 223

arbeitet sind, um dem Neuen durch angemessene Beschreibung gerecht zu werden. Die Vergleiche mit dem Bekannten haben bei den wissenschaftlichen Reisebeschreibern oft die Funktion, von der präzisen Beschreibung eines Phänomens zu dispensieren; sie reduzieren das Besondere einfach auf das Sonderbare, weil von dem Bekannten Abweichende. Symptomatisch dafür ist eine Landschaftsbeschreibung bei Fröbel: »Der Anblick würde mich an die Schweiz erinnert haben, wenn nicht Vegetation und Gebirgsbildungen einen so ganz anderen Charakter gehabt hätten.«149 Kaum erhellender im Sinne einer wissenschaftlichen Darstellung ist es, wenn Maximilian zu Wied über den Ohio feststellt, daß er »bedeutend breiter, als der Rhein« sei'50 oder er »jetzt etwa die Färbung unseres Rheins im klaren Zustand« habe.151 Mit solchen Bemerkungen verfehlen die Reisenden das Ziel einer geographisch-wissenschaftlichen Darstellung, wie sie später üblich wird, wenn sie auch dem heimatlichen Publikum die Vergegenwärtigung der fremden Landschaft erleichtern. Die Grundlagen ihrer Beobachtungen werden den Reisenden nur problematisch, wenn die rastlose Jagd nach immer neuen interessanten Objekten durch äußere Umstände gestört wird. In diesem Zusammenhang gewinnen die »Mikrologien« in der Reisebeschreibung, in denen die Reisenden die äußeren und persönlichen Umstände des Reiseverlaufs thematisieren,152 wieder an Bedeutung. Die Mitteilung der Reisebeschwerden wird zum ständigen Thema, weil sie Auskunft gibt über die Erschwernisse, denen die wissenschaftlichen Untersuchungen ausgesetzt sind. Besonders wichtig sind die Fälle, in denen der Beobachter selbst durch Krankheit indisponiert ist: »Diese fragmentarischen Bemerkungen sind Alles, was mir die durch meinen schlechten Gesundheitszustand eingeschränkten Beobachtungen über den Krater des Telica zu sagen erlauben.«153 A n anderer Stelle klagt Fröbel über die beobachtungshemmenden Wirkungen eines Fieberanfalls, der ihn an der Wahrnehmung einer »Menge interessanter Dinge und schöner Scenen« hindert;154 und ganz ähnlich vermerkt Paul Wilhelm von Württemberg mit Unwillen eine Krankheit, die ihm genaue Beobachtungen unmöglich macht: Ich »fühlte mich so krank, daß ich selbst an meinem Aufkommen zweifelte. Dieser Zustand hinderte mich mehrere Tage lang, irgendeine Beobachtung anzustellen, die, besonders wenn sie die Schnelligkeit der Strömung des Missouri betroffen hätte, in dieser Gegend für mich von Wichtigkeit gewesen wäre.«155 Diese Passagen wirken in ihrem wissenschaftli149 150 151 152

153 154 155

Fröbel, Aus Amerika I, S. 395. Maximilian zu Wied, Reise in das innere Nord-America (1839/1841) I, S. 217. Ebd., S. 219. Zur Theorie, Kritik und sozialen Funktion des »Mikrologismus« in der aufklärerischen Diskussion um den Reisebericht vgl. Stewart, Die Reisebeschreibung und ihre Theorie im Deutschland des 18. Jahrhunderts, S. 65-70; S. 144-153. Fröbel, Aus Amerika (1857f.) I, S. 330. Ebd., S. 238. Paul Wilhelm von Württemberg, Reise nach dem nördlichen Amerika (1835), S. 220; vgl. auch Maximilian zu Wied, Reise in das innere Nord-America (1839/1841) II, S. 312.

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chen Kontext oft reichlich unmotiviert; die Art jedoch, wie sie von den Autoren vorgetragen werden, gibt Auskunft über ihre Funktion: Sie sind nicht beliebiges subjektives Ornament des Reiseberichts; sie sollen, im Gegenteil, zu seiner Objektivierung beitragen, indem sie über die Bedingungen informieren, unter denen die wissenschaftlichen Ergebnisse der Reise gewonnen oder aber verhindert wurden. Die Art, in der die Reisenden die Störungen ihrer Beobachtungen mitteilen, gibt noch einmal einen Einblick in ihr Forschungsprinzip. Sie verdeutlicht die unspezifische Interessenlage der Beobachter und ist somit symptomatisch für deren Prinzip der permanenten Beobachtung: Der Ärger der Reisenden entzündet sich nicht daran, daß bestimmte vorgesehene Untersuchungen unterbleiben müssen, sondern daß die Wahrnehmung der beliebigen Wirklichkeit, die sich dem Reisenden gerade zufallig darbietet, überhaupt gestört ist. Den Reisenden, den grundsätzlich alles interessiert und dem deshalb auch alles interessant werden kann, muß jede möglicherweise entgangene Beobachtung reuen, auch wenn er sich über ihren potentiellen Wert nicht im klaren ist. Mit diesem Programm das eigentlich nur im Fehlen eines klaren Programms besteht - fallen die Forschungsreisenden zurück hinter den methodologischen Standard der Naturwissenschaften, wie er schon in der Kontroverse zwischen Kant und Forster in der Diskussion um die Reiseliteratur formuliert wurde. Beide kamen schließlich überein, daß eine Erfahrung ohne Begriffe keinen wissenschaftlichen Ertrag bringen kann, weil ihr die leitenden Prinzipien fehlen, die die Wahrnehmung organisieren und sie schließlich zur Formulierung abstrakter Sätze befähigen könnten. Bei den bedeutenden deutschen wissenschaftlichen Amerikareisenden läßt sich eine Rezeption dieser grundlegenden methodischen Einsicht der empirischen Forschung kaum erkennen, obwohl sie im ersten Jahrhundertdrittel längst zum Gemeingut der europäischen Wissenschaft geworden war und teilweise auch in der Gründung entsprechender Institutionen zur Vorbereitung wissenschaftlicher Reisen und ihrer Auswertung ihren Ausdruck gefunden hatten. Die wissenschaftlichen Amerikareisenden des früheren 19. Jahrhunderts setzen mit der Beliebigkeit ihrer Forschungen und Beobachtungen auf eigene Weise jene Tradition des aufklärerischen Reisens fort, als deren wichtigster - und vielgescholtener - Repräsentant in Deutschland Nicolai gilt. Gewiß zeichnete sich dieser im Gegensatz zu jenen gerade dadurch aus, daß eine übergenaue rationalistische Vorausplanung der Reise ihm den Zugang zu prinzipiell neuen Erkenntnissen versperren mußte - diese Möglichkeit war den Amerikareisenden, die sich in weitgehend unbekannten Gegenden bewegten, von vornherein versperrt. Dennoch ist die Art, in der sie ihre Erfahrungen machen und mitteilen, von der Nicolais kaum verschieden: Wie dieser huldigen sie über weite Passagen einem Empirismus, der die Dinge auf ihre pure Gegenständlichkeit reduziert und ihnen damit unversehens ihre qualitativen Eigentümlichkeiten nimmt. Eine unspezifische Neugierde, die sich auf alles gleichermaßen und in gleicher Weise einläßt, kann schließlich kein anderes Ergebnis zeitigen als die Ansammlung 225

einer »Fülle der gleichförmig bedeutungslosen Gegenstände, die eher registriert als begriffen werden.«156

7. Klassifikation als Methode Die unspezifische Sammelwut der Reisenden ist ein Erbe der Aufklärung. Diese entwirft eine Naturauffassung, mit der sich der Bürger schon im frühen 18. Jahrhundert die Welt zu einem statischen Bild petrifizierte und sich damit verfügbar machte.157 Als Korrelat dieser Sammelwut tritt bei den Aufklärern wie bei den Amerika-Reisenden des frühen 19. Jahrhunderts das Verfahren klassifizierenden Registrierens auf, mit dem sie die unendliche Vielfalt der Dinge in den Griff zu bekommen versuchen. In exzessiver Ausdehnung wird dieser methodische Gestus des Sammeins und Klassifizierens im Reisewerk von Maximilian zu Wied vorgeführt. Ein Großteil seiner Reisebeschreibung ist - neben ethnographischen Gegenständen - der Darstellung von botanischen und zoologischen Erscheinungen gewidmet. Zunächst mutet das Vorgehen des Forschers konventionell an. Er beobachtet und sammelt, was ihm in den Weg kommt und bemüht sich, die so gewonnenen Gegenstände zugleich durch ihre terminologische Einordnung zu klassifizieren und Zweifelsfälle zu diskutieren. An einer Stelle gibt Maximilian eine Beschreibung, aus der hervorgeht, wie dieses Forschungsverfahren in der Praxis des Reisenden realisiert wird: Ein alter Weg führte uns eine halbe Stunde weit über eine Höhe fort, dann fanden wir ein sanftes Thal, in welchem der von niederem Rohre und Sumfgrase umgebene See, Long-Pond genannt, zwischen Kiefernwald und mancherley interessanten Gesträuchen liegt. Eine Andromeda, die Gauitheria procumbens, Kalmia latifolia, Spiraea salicifolia, Cornus, Rhamnus u. a. wachsen an seinen Ufern. Es war interessant, alle jene Gesträuche im Vaterlande zu beobachten, welche in Europa einen bei weitem kümmerlicheren Wuchs haben. Zwischen den Gesträuchen blühete eine schöne blaue Gentiana, der pneumonanthe höchst ähnlich, ein Epilobium, scheinbar angustifolium. Auf dem schmalen See fanden wir eine kleine Pirogue, in welcher Herr Moser sich umher schob, um zu botanisieren. Er ärndete auf diese Art die schön blau blühende Pontederia lanceolata, eine roth blühende Utricularia, Nymphaea u.a. interessante Pflanzen.158

In dieser Passage werden die Beschränkungen des empirischen ForschungsVerfahrens deutlich - die Untersuchung ist nicht systematisch angelegt, sondern der Reisende ist bei seinen Beobachtungen auf das angewiesen, was sich zufällig dem Blick darbietet, weil es am Wege liegt. 156

157

158

Vgl. Wuthenow, Die erfahrene Welt, S. 359. Wuthenow charakterisiert damit das Verfahren Nicolais, das - gerade weil es sich auf ein abstrakt-rationalistisches Programm stützt, aus dem alle Subjektivität ausgelöscht werden soll - zum leeren Empirismus führt. Vgl. auch den Kontext S. 359-361. Vgl. Schneider, Die sanfte Utopie, S. 386f. Vgl. auch Hazard, Die Herrschaft der Vernunft, S. 198. Maximilian zu Wied, Reise in das innere Nord-America (1839/1841) I, S. 85.

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Mit dieser Beschränkung will sich der Prinz indes nicht abfinden; sein Verfahren ist empirisch, aber es ist zugleich geprägt von einem Mißtrauen gegenüber der einfachen Empirie, die sich auf die Zufälligkeit der subjektiven Wahrnehmung verlassen muß. Diesem Dilemma empirischer Forschung versucht Maximilian zu entgehen, indem er das Unmögliche unternimmt: Seine Untersuchungen sollen sich gleichermaßen auf Autopsie stützen wie auch Vollständigkeit anstreben - der Zufall soll ausgeschaltet werden. Maximilian versucht dieses Ziel zu erreichen, indem er jede einzelne Beobachtung zunächst empirisch durch Induktion und dann theoretisch durch Klassifikation überhöht. Der Vollständigkeitsdrang mutet schon obsessiv an; Maximilian kann keine einzelne Wahrnehmung mitteilen, ohne sie zugleich zu komplettieren durch die Angabe weiterer Belege, die er teils der Beobachtung und teils angelesenem Wissen verdankt: »Die Baumarten, welche in den Waldungen am Wabasch vorkommen, sind hauptsächlich die nachfolgenden« - es folgt eine Aufzählung von 58 verschiedenen Arten in deutscher und lateinischer Nomenklatur.159 Auf diese Weise wird jede allgemeine Angabe über das Vorkommen bestimmter Pflanzen- und Tierarten durch die möglichst vollständige Auflistung der einzelnen Spezies aufgefüllt. In ausführlichen Fußnoten und in den Anmerkungsapparaten zu den einzelnen Kapiteln erfolgt dann die theoretische Verarbeitung dieser Beobachtungen: Maximilian gibt detaillierte Beschreibungen der einzelnen von ihm gesammelten botanischen und zoologischen Objekte und diskutiert skrupulös ihren - gelegentlich zweifelhaften - Ort im Klassifikationssystem; zugleich läßt er sich mit entsprechenden Quellenangaben aus der wissenschaftlichen Literatur in Auseinandersetzungen ein über die Ansichten anderer Naturforscher in bezug auf Vorkommen, Verhalten und Bestimmung einzelner Pflanzen und Tiere. Mit dieser Einbettung in einen wissenschaftlichen Diskusionszusammenhang wird die Beobachtung ihrer subjektiven Beliebigkeit und Zufälligkeit entrissen und objektiviert:, sie ist nicht mehr gebunden an das Hier und Jetzt der Wahrnehmung des reisenden Forschers, sondern sie bekommt ihren genau bestimmbaren Platz in der Systematik der Wissenschaft zugewiesen. Wenn Maximilian in der Vorrede seines Werks den Dank an mehrere »ausgezeichnete Gelehrte« in Deutschland ausspricht, die ihm bei der Bestimmung und Beschreibung von Pflanzen und Tieren und bei ihrer Vergleichung mit bereits in Europa bekannten Spezies geholfen haben,160 dann drückt er damit sein Selbstverständnis als Forscher aus: Er versteht sich nicht als Individuum, sondern als Mitglied einer Forschungsgemeinschaft, deren Ziel die vollständige und objektive Beschreibung der Wirklichkeit ist.16' Dieses Bemühen um Objektivierung der Beobachtung, hinter dem die Darstellung des eigentlichen Reiseverlaufes zurücktritt, findet sich, freilich nicht in 159 160 161

Ebd., S. 209. Ebd., S. XIII. Zu diesem Selbstverständnis des Prinzen vgl. Brenner, (Rez.) Siegfried Schmidt: Die Büchersammlung des Prinzen Maximilian zu Wied, S. 273.

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ähnlich exzessiver Auswucherung, auch im Reisebericht des Herzogs Paul Wilhelm von Württemberg. Wie Maximilian diskutiert er gelegentlich die Meinungen anderer Naturforscher und zieht ebenfalls wissenschaftliche Werke zur Ergänzung seiner eigenen Beobachtungen heran; vor allem aber ist auch er bemüht, jedem einzelnen Objekt sogleich die passende Stelle im Klassifikationssystem zuzuweisen. Ebenso wie über eine durch Krankheit verhinderte Beobachtung kann er über die fahrlässig verursachte Unmöglichkeit einer Klassifikation in Zorn geraten: Ich fand den botanischen Garten äußerst vernachlässigt und die wenigen darin vorhandenen Pflanzen ohne alle systematische Ordnung gereiht. [...] Da ich die Insel zu einer Zeit besuchte, in der die Palmen weder Früchte noch Blüten trugen, so konnte ich sie unmöglich bestimmen und bedauerte umso mehr die Sorglosigkeit der Aufseher des Gartens.'62

Auch während seiner Reise selbst bemüht sich der Herzog, alle seine botanischen und zoologischen Beobachtungen in das vorgegebene Klassifikationssystem einzureihen und ihnen damit zur Ordnung eines botanischen oder zoologischen Gartens zu verhelfen. Er kann sich nicht damit begnügen, einfach auf das Vorhandensein einer »Menge prachtvoller Vögel« zu verweisen, sondern er muß in einer ausführlichen Fußnote sogleich sie im einzelnen in wissenschaftlicher Nomenklatur aufzählen;163 ebenso wie er - auch in einer Fußnote - den Ertrag einer »sehr reichen Sammlung« detailliert aufführt. 164 Auch wenn solche unvermutet in den Gang des Reiseberichts eingepreßten wissenschaftlichen Florilegien oft etwas kurios wirken - nicht ohne Grund hatte Humboldt seine spezielleren wissenschaftlichen Ergebnisse, etwa zur Pflanzengeographie, aus der »Relation historique« verbannt und in eigenen Bänden gesammelt - , so kommt ihnen doch für das Selbstverständnis der Reisenden eine wesentliche Funktion zu. Mit dem Rückgriff auf eine vorgegebene Systematik und eine ihr entsprechende Nomenklatur gelingt es ihnen, der Beliebigkeit und Zufälligkeit ihrer Beobachtungen den Status wissenschaftlicher Notwendigkeit zu verleihen. Die Reisenden orientieren sich bei ihrer Deskription von Naturphänomenen an der Taxonomie Linnes. Der Reiz, der in diesem epochemachenden Unternehmen für die reisenden Naturwissenschaftler gelegen haben muß, ist evident: Es stellt ein System bereit, in das jede beliebige Beobachtung aus bestimmten Bereichen der Natur eingeordnet werden kann. Die Beobachtung bedarf keiner vorgängigen Anleitung mehr; der Beobachter kann sich vielmehr darauf verlassen, daß im nachhinein seine Wahrnehmungen strukturiert werden. Er kann das Bekannte - und vor allem eben auch das Unbekannte - nach gegebenen Regeln einordnen in eine festgefügte Struktur, die ihn nie im Stich läßt. Nicht die Wirklichkeit, sondern das taxonomische Schema wird zum eigentlichen Gegenstand der Forschung, an dem sich die realen Gegenstände 162 163 164

Paul Wilhelm von Württemberg, Reise nach dem nördlichen Amerika (1835), S. 62f. Ebd., S. 133. Ebd., S. 90.

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ausweisen müssen: Es ist bezeichnend, wenn Paul Wilhelm von Württemberg eine erlegte Klapperschlange mit der Feststellung »es war der wirkliche Crotalus horridus des Linné« 165 gar nicht mehr als realen Gegenstand, sondern nur noch als Teil der Taxonomie auffaßt, in der sie ihren eigentlichen Platz hat. In den Bereichen der Botanik und der Zoologie stellt sich den Reisenden schließlich nur noch die Frage nach der Zuordnung zu bekannten Arten oder aber - und hier findet der Forscher seine höchste Erfüllung - in der Entdeckung und Namengebung neuer Spezies: »Aus der Familie der Kakteen ist die eine Opuntia missouriensis, die andere, noch nicht bestimmte, eine kleine Mamillaria mit prächtiger roter Blüte, die ich septentrionalis nennen möchte.« 166 Die von Linné inaugurierte Form der naturkundlichen Taxonomie zeichnete sich dadurch aus, daß sie ein statisches informationsverarbeitendes und -reduzierendes System bereitstellte, das nicht nur offen blieb für die Einordnung einer unendlichen Fülle von Phänomenen, sondern das geradezu dazu herausforderte, immer neue solcher Phänomene zu entdecken. 167 Freilich wird der Naturforscher damit in die Rolle eines bloßen Registrators und Klassifikators gedrängt, und er erliegt damit allzuleicht der Versuchung, »das bloße Ordnungsprinzip als Endzweck statt als Hilfsmittel zu begreifen«; 168 aber andererseits bot dieses Verfahren auch dem dilettierenden Naturforscher die Gelegenheit - und das Selbstbewußtsein - , sich im Reich der Wissenschaft sinnvoll zu betätigen. An Linnés System orientieren sich die reisenden Wissenschaftler sowohl inhaltlich bei ihren zoologischen und vor allem botanischen - in diesen Teilbereichen ist Linnés Systematik ausgearbeitet und weithin anerkannt - wie auch formal bei ihren geologischen Forschungen; selbst ihre ethnologischen Bemühungen lassen den methodischen Einfluß dieser Form systematischen Denkens erkennen. Die Orientierung an Linné bedeutet einen Rückgriff auf die stark nachwirkende Naturauffassung der Aufklärung und auch des 17. Jahrhunderts, aus der Linnés Schematismus hervorgegangen ist; damit stellen sich die Amerikareisenden des früheren 19. Jahrhunderts prinzipiell der gleichen Problematik wie ihr methodisches Vorbild und sie übernehmen auch weitgehend seine Lösungsversuche. Die erste wissenschaftstheoretische Schwierigkeit, die Linnés Klassifikationsmodell aufwarf, war die Frage nach dem Verhältnis von Empirie und Rationalismus. Die Grundlage des Systems ist die Beobachtung; Linné entfaltet ihre Bedeutung in ausdrücklicher Konkurrenz zu einer Auffassung der »Naturgeschichte«, die sich weniger auf die Empirie als auf das Vorbild der antiken Schriftsteller stützte. Die Erweiterung des naturkundlichen Wissens nicht zuletzt durch die Reiseliteratur hatte Linné und anderen vor Augen geführt, daß die antiken Vorstellungen über die Anzahl und die Abgrenzung der Arten unEbd., S. 257. Ebd., S. 356. 167 Zu dem belebenden Einfluß Linnes auf das naturwissenschaftliche Reisen vgl. Bitterli, Die »Wilden« und die »Zivilisierten«, S. 217f.; Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte, S. 55. 168 Yg] Bitterli, Die »Wilden« und die »Zivilisierten«, S. 214. 165

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zureichend waren; die erste Grundlage von Linnés System wurde deshalb die Erweiterung der Erfahrung durch empirische Forschung.169 Die daraus resultierende, im Prinzip unbegrenzte Erweiterung der Erfahrung wurde zugleich aufgefangen durch einen methodischen Rationalismus, der die Vielfalt der Einzelerscheinungen verknüpfte und in eine systematische Beziehung zu bringen versuchte. Linné schließt sich damit an die Bemühungen des 17. Jahrhunderts an, die gegen die zeitweise vorherrschende empirische Forschung wieder den Rationalismus der Scholastik zur Geltung brachte - ein sicheres Indiz für Linnés Stellung in diesem Traditionszusammenhang ist die Tatsache, daß er sich bei der Erstellung seines Klassifikationsschemas an den Kategorien der aristotelischen Logik und ihrer neuzeitlichen Adepten orientierte.170 Der Versuch, die durch den Empirismus ins Bewußtsein gerufene Mannigfaltigkeit der Naturphänomene durch rationalistische Einteilungsprinzipien zu bändigen, mündet bei Linné in der Konstruktion eines künstlichen Systems, bei dem schließlich die Deduktion gegenüber der induktiven Empirie die Herrschaft übernimmt. Linné blieb sich auch durchaus der Tatsache bewußt, daß die Grundlage seines Klassifikationsverfahrens ein künstlicher Schematismus war und daß die Aufgabe, ein natürliches System zu finden, erst in der Zukunft gelöst werden könnte.171 Diese Einsicht stellte für ihn jedoch kein grundsätzliches Problem dar. Die Wirklichkeitsauffassung seiner Zeit erlaubt ihm, für seine künstlichen Konstruktionen den Anspruch zu erheben, der natürlichen Ordnung gerecht zu werden, so daß eine Versöhnung zwischen empirischen und rationalistischen Prinzipien für ihn möglich wurde: Ihre Grundlage ist die zeittypische Unterstellung, daß die Natur als eine Schöpfung Gottes von vornherein nach Vernunftsprinzipien organisiert sei. Der Empirie kommt damit nur noch die Aufgabe zu, diese vorausgesetzte metaphysische Wahrheit durch Beobachtungen zu bestätigen. Das rationalistische Schema entspricht von vornherein der Naturordnung, und wo es Lücken aufweist, sind diese zurückzuführen auf noch unvollständige Beobachtungen, die von der empirischen Forschung komplettiert werden müssen.172 Diese metaphysische Prämisse konnte im weiteren Verlauf der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung nicht aufrechterhalten werden; auch wenn Linnés Nomenklatur weitgehend akzeptiert blieb, verab-

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Vgl. Hoppe, Umbildungen der Forschung in der Biologie im 19. Jahrhundert, S. 128f.; zur Überwindung der Antike durch neue Fragestellungen vgl. Baron, Die Entwicklung der Biologie im 19. Jahrhundert und ihre geistesgeschichtlichen Voraussetzungen I, S. 75. Vgl. Hoppe, Umbildungen der Forschung in der Biologie im 19. Jahrhundert, S. 130f.; Rädl, Geschichte der biologischen Theorien der Neuzeit I, S. 255f. Vgl. Rädl, Geschichte der biologischen Theorien der Neuzeit I, S. 262; Stafleu, Linnaeus und the Linnaeans, S. 39. Vgl. Hoppe, Umbildungen der Forschung in der Biologie im 19. Jahrhundert, S. 131 bis 133; Baron, Die Entwicklung der Biologie im 19. Jahrhundert (1976), S. 73f. und S. 76f. - Zur statischen Weltauffassung als der Grundlage von Linnes System vgl. Rädl, Geschichte der biologischen Theorien der Neuzeit I, S. 267.

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schiedete die Forschung des späteren 18. und endgültig des 19. Jahrhunderts das statische Natur- und Weltbild als Grundlage des Natursystems und ersetzte die Vorstellung von der Konstanz der Arten durch entwicklungsgeschichtliches Denken. Auch wenn die Amerikareisenden im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die metaphysische Vorstellung von einer statischen Weltordnung nicht teilen - zumindest finden sich keinerlei Anzeichen, die darauf hinweisen - , ist ihnen das entwicklungsgeschichtliche Denken noch fremd. Sie können sich deshalb mit gutem methodologischen Gewissen darauf beschränken, im Sinne Linnés durch empirische Forschungen das Schema zu komplettieren und damit ihren Beitrag zur inhaltlichen Erweiterung, wenn auch nicht methodologischen Neufundierung, des naturkundlichen Wissens liefern. Linnés System übernimmt für sie eine wichtige Leitfunktion bei ihren Beobachtungen, deren Ziellosigkeit post festum doch wieder zielgerichtet wirkt, weil jede einzelne Wahrnehmung ihren Platz im System erhalten kann. Damit werden sie dem Anspruch Linnés gerecht, der sein System zugleich als Anleitung zu weiteren Beobachtungen verstanden wissen wollte - nicht ohne Grund hatte er auch apodemische Schriften verfaßt, die zur Sammlung von Informationen aufforderten, »um die Aufmerksamkeit der Reisenden vom Merkwürdigen und Kuriosen« abzuziehen: »Das bisher Vertraute soll nunmehr den Gegenstand ihrer Fragestellungen bilden.« 173 Der rationalistische Schematismus bedeutete also in dieser Beziehung keine Einschränkung der empirischen Forschung; er konnte im Gegenteil durchaus anregend wirken. In anderer Hinsicht jedoch führte er zu einer Reduktion der Wahrnehmung. Zwar war das Schema so konzipiert, daß es grundsätzlich unendlich viele neue Gegenstände sollte aufnehmen können; die Wahrnehmung der Gegenstände selbst wurde indes zugleich eingeschränkt. Das Schema forderte die Reduktion des Objekts auf einige wenige Merkmale, anhand derer die Klassifikation allein erfolgen konnte. Der Gegenstand, der seinen Platz im System finden soll, muß klar abgegrenzt sein von anderen, und diese Abgrenzung läßt sich nur erreichen, wenn die Wahrnehmung sich von vornherein auf die wenigen festgelegten Eigenschaften richtet, die eine eindeutige Feststellung von Identitäten oder Differenzen erlauben: »Beobachten heißt also, sich damit zu bescheiden zu sehen; systematisch wenige Dinge zu sehen.«174 Diese Einschränkung der Wahrnehmung prägt das Forschungsverfahren der Reisenden in allen Bereichen; nicht nur dort, wo sie - wie in der botanischen und zoologischen Forschung - direkt an Linné anknüpfen können. Ihre Beobachtungen und Mitteilungen auch im ethnographischen, geologischen und geographischen Bereich zielen immer darauf, konstante Merkmale zu entdecken, die die Abgrenzung der einzelnen Beobachtungsobjekte aufgrund einiger weniger Merkmale erlauben. Dagegen kommt der Versuch zu kurz, natürliche Zusammenhänge zwischen verschiedenen Gegenständen oder gar Gegenstandbereichen zu sehen; und erst 173 174

Vgl. Stagl, Der wohl unterwiesene Passagier, S. 374. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 175; vgl. auch den Kontext S. 173-180.

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recht gelingt es ihnen nicht, ganzheitliche Darstellungen zu geben, in die alle Natur- und Kulturerscheinungen integriert sind. Wissenschaftsgeschichtlich gehören die Reisenden einer Umbruchsphase an, in der neue Modelle das alte Paradigma in der naturkundlichen Forschung zwar ablösten, ihre verfahrenstechnischen Grundlagen aber nicht nur ihre Gültigkeit behielten, sondern sie sogar als Fundament der neuen wissenschaftlichen Bemühungen rehabilisiert wurden. Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert konstituierte sich - mit dem Aufkommen des Begriffs - die »Biologie« als eigene Wissenschaft. Das künstliche Klassifikationsschema Linnes wurde - unter dem maßgeblichen Einfluß der idealistischen Naturphilosophie Kants und Herders - zusehends ersetzt durch eine ganzheitliche Form der Naturbetrachtung und -beschreibung. Die Statik des Linneschen Systems machte einer Auffassung Platz, in der die Kategorien von Organismus, Wachstum und Entwicklung konstituierende Bedeutung erhielten.175 Diese neue Form der Naturauffassung unterstellte in verschiedenen terminologischen Variationen eine »Idee des Lebens«, die zur Annahme einer Einheit aller natürlichen Dinge und ihres natürlichen, nicht künstlich-klassifikatorischen Zusammenhangs, führte. Ihr methodisches Prinzip wurde - unter weitgehender Ausschaltung instrumenteller Beobachtung - die »Anschauung«, die auf die Erkenntnis von Gestalten und Zusammenhängen zielte;176 wissenschaftsgeschichtlich führt von dieser Naturauffassung die Linie zu einer »Historisierung der Natur«,177 die schließlich im Evolutionismus mündete. Diese Ablösung des schematischen Denkens Linnes wurde erzwungen durch zunehmenden »Erfahrungsdruck«: Die Ausweitung der empirischen Kenntnisse sprengte den Rahmen des Klassifikationsschemas schließlich doch und forderte eine Betrachtungsweise, die sich an das lebendige System der Natur selbst anzugleichen suchte.178 Die ganzheitliche Naturauffassung der Jahrhundertwende 175

Vgl. Baron, Die Entwicklung der Biologie im 19. Jahrhundert (1976), S. 67f. Zusammenfassend Baron, Die Entwicklung der Biologie im 19. Jahrhundert und ihre geistesgeschichtlichen Voraussetzungen, S. 7-11; Hoppe, Umbildungen der Forschung in der Biologie im 19. Jahrhundert, S. 141f.; Stafleu, Linnaeus and the Linnaeans, S. 292f.; vgl. auch die Darstellung der »Biologie am Ende des 18. Jahrhunderts« bei Rädl, Geschichte der biologischen Theorien der Neuzeit II, S. 1 - 7 . 176 Vgl. Hoppe, Umbildungen der Forschung in der Biologie im 19. Jahrhundert, S. 148f.; Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit IV, S. 145-157; Rädl, Geschichte der biologischen Theorien der Neuzeit II, S. 85 bis 89; bes. S. 88. 177 Engelhardt, Historisches Bewußtsein in der Naturwissenschaft von der Aufklärung bis zum Positivismus, S. 201. 178 Vgl. Baron, Die Entwicklung der Biologie im 19. Jahrhundert, S. 80. Der Begriff des »Erfahrungsdrucks« wurde eingeführt von Lepenies; mit Hilfe dieser Leitkategorie zeichnet er den Wandel in der Naturerfassung vom 18. und 19. Jahrhundert nach; vgl. Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte; zusammenfassend S. 16-18. Eine detaillierte Darstellung dieser neuen Naturauffassung und ihrer Umsetzung in eine wissenschaftliche Biologie gibt anhand einer Charakteristik ihrer Protagonisten Buffon, Adanson, Antoine-Laurent de Jussieu und Lamarck: Stafleu, Linnaeus and the Linnaeans, S. 302-336.

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insbesondere in Deutschland - stützte sich zwar durchaus auch auf die Wahrnehmung der Natur, in ihren Grundlagen beruhte sie indes auf spekulativ-idealistischen Prämissen. Sie wurden im weiteren Verlauf der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung wieder aufgegeben, auch wenn das ganzheitliche Konzept modifiziert nachwirkte. Zunächst profilierte sich die neue Forschungsrichtung im Kampf gegen die romantisch-spekulative Naturauffassung und brachte ihr gegenüber eine empiristische Orientierung als methodische Grundlage zur Geltung,179 was eine gewisse Rückwendung zur naturwissenschaftlichen Methodologie der früheren Aufklärung 180 implizierte. Sie führt zu einer Rehabilitation der »Beobachtung« des einzelnen Naturphänomens, welche im immer stärkeren Maße als Experiment durchgeführt wird.181 Wenn die reisenden Wissenschaftler sich auf die Sammlung und Beschreibung singulärer Objekte beschränkten, dann ist dieses Verfahren also nicht ganz so obsolet, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Inhaltlich orientieren sie sich zwar an der zusehends veraltenden Methodik Linnés, die methodologische Reduktion ihrer Forschungen auf Wahrnehmung, Beschreibung sowie Klassifikation und das Ignorieren der idealistischen Naturauffassung ihrer Zeit kann jedoch zugleich als Vorgriff auf die empiristische Naturauffassung gedeutet werden. Die von den Reisenden erbrachte Leistung, »Tatsachen« als das »empirisch Gegebene« zu sammeln, bleibt die entscheidende Grundlage jeder naturwissenschaftlichen Forschung des 19. Jahrhunderts. 182 Andererseits zeigt jedoch ihre induktive Tätigkeit keine Spuren jener methodologischen Reflexionen des 19. Jahrhunderts, die den Stellenwert dieser empiristischen Grundhaltung im System der Erfahrungswissenschaft zu bestimmen suchten. Der empirischen Forschung stellte sich das Problem des Zusammenhangs ihrer Einzelergebnisse, das sie auf verschiedene Weise aufzulösen trachteten. Teilweise geschah dies auch in der zweiten Jahrhunderthälfte noch durch die Rückwendung auf die idealistische Naturphilosophie183 oder durch die Rehabilitierung der »Systematik«, die aber nicht mehr wie Linne auf eine katalogisierende Kumulation von Beobachtungen zielte, sondern »verwandtschaftliche«, also natürliche Beziehungen zwischen den Phänomenen darstellen wollte.184 Insgesamt verlagert sich die Problemstellung im Laufe des Jahrhunderts; sie tritt jetzt zusehends ins Bewußtsein als die Spannung zwischen »Beschreibung« und »Theorie«. Die Basis der naturwissenschaftlichen Forschung bleibt die Beobachtung, die überhöht 179

Vgl. Hoppe, Umbildungen der Forschung in der Biologie im 19. Jahrhundert, S. 161 f.; Engelhardt, Historisches Bewußtsein in der Naturwissenschaft, S. 177; Ràdi, Geschichte der biologischen Theorien der Neuzeit II, S. 95-99. 180 Vgl. Engelhardt, Historisches Bewußtsein in der Naturwissenschaft, S. 226. 181 Vgl. ebd., S. 190f. Vgl. zur Empirisierung der Naturwissenschaft Hoppe, Umbildungen der Forschung in der Biologie im 19. Jahrhundert, S. 165f. 182 Vgl. ebd., S. 165. 183 Vgl. ebd., S. 162f. 184 Vgl. Baron, Die Entwicklung der Biologie im 19. Jahrhundert (1976), S. 77; Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 104. 233

werden soll durch die Theorie, welche gesetzmäßige Erklärungen liefert.185 Wie aber diese Verknüpfung des Empirischen und des Gesetzmäßigen geleistet werden sollte - und ob überhaupt sie sich durchführen ließ - blieb ein ständiger Streitpunkt in der wissenschaftstheoretischen Diskussion; wissenschaftsgeschichtlich manifestiert er sich im Nebeneinander von »Empirismus« und »Positivismus«. Diesen Dualismus aufzulösen war die entscheidende Aufgabe der methodologischen Diskussion; ihre Reflexe finden sich schon bei Alexander von Humboldt, der allerdings in seiner naturwissenschaftlichen Praxis eher der Rückwendung zu den idealistischen Positionen der Naturphilosophie zuneigte. Dennoch hat auch er im »Kosmos« dem fortgeschrittenen Diskussionsstand Tribut gezollt, ohne seinen früheren naturphilosophischen Ambitionen endgültig den Abschied zu geben: Sein Verfahren ist die »empirische Betrachtung«, die eine »Verallgemeinerung des Besonderen, das stete Forschen nach empirischen Naturgesetzen« impliziert; sein Ziel bleibt aber, auf diesem Wege die »sinnlichen Anschauungen zur Einheit des Naturbegriffs zu konzentrieren.«186 Von diesem Reflexionsstandard sind die reisenden Wissenschaftler im ersten Jahrhundertdrittel weit entfernt. Ihr Anteil an der modernen wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung beschränkte sich auf die gegenüber der Naturphilosophie neu errungene Anerkennung empiristischen Forschens. Ihr zielloses Verfahren beim Sammeln und Beobachten erklärt sich aus dieser Stellung im Prozeß der Wissenschaftsgeschichte: Sie haben - mit gewissen Einschränkungen keinen Anteil mehr an der ganzheitlichen Betrachtungsweise der Naturphilosophie und noch keinen Anteil an den theoriegeleiteten Verfahren der Durchführung und Auswertung von Beobachtungen, wie es der Positivismus später zu begründen versuchte.

8. Die Entqualifizierung der Wirklichkeit Es ist auffallig, wie schwer es den Reisenden fallt, den Gegenständen ihrer Beobachtungen Qualitäten abzugewinnen, die über eine bloße Klassifikation hinausgehen. Tatsächlich richten sich ihre Forschungen im wesentlichen nächst der Ethnographie auf zoologische und botanische Phänomene, für die Linné ein anerkanntes Klassifikationsschema zur Verfügung gestellt hatte. Schon im Bereich der Mineralogie werden sie unsicher - Linnés Versuch, auch dieses Gebiet zu klassifizieren, hatte sich nicht durchsetzen können - und beschränken sich oft auf allgemeine Bemerkungen, die allenfalls noch durch die Benennung einiger Gesteinsarten unterfüttert werden: »In geologischer und mineralogischer Hin185

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Vgl. Diemer, Die Begründung des Wissenschaftscharakters der Wissenschaft im 19. Jahrhundert - die Wissenschaftstheorie zwischen klassischer und moderner Wissenschaftskonzeption, S. 42f.; Hoppe, Umbildungen der Forschung in der Biologie im 19. Jahrhundert, S. 176-184. A. v. Humboldt, Kosmos (1845-1862) I, S. 47.

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sieht sind diese Höhen ebenfalls höchst interessant.«187 Erst recht versagt ihre pointilistische Beschreibungsstrategie dort, wo sie vor der Aufgabe steht, einen umfassenderen Komplex wie die Landschaft zusammenhängend darzustellen. Gewiß wurden die Grundlagen der geographischen Landschaftsdarstellung erst sehr viel später entwickelt, aber das Problem war spätestens seit Forster und Humboldt bekannt. Beide versuchten ihm in der Form von noch halb poetischen »Naturgemälden« gerecht zu werden, in die bei Humboldt schon die wissenschaftlichen Ergebnisse seiner empirischen Forschungen eingingen.188 Mit Humboldt und Forster hatte die komplexe Naturbeschreibung einen Standard erreicht, hinter den die wissenschaftlichen Amerikareisenden zurückfallen, obwohl sie sich gelegentlich an ihm orientieren. Wo Forster und Humboldt die harmonische Verbindung von eindrucksvoll poetischer Schilderung mit wissenschaftlicher Genauigkeit gelungen ist, greifen die späteren Reisenden nur auf das von ihren Vorgängern bereitgestellte Arsenal von perennierend wiederholten Formeln zurück, auch wenn sich - besonders bei Paul Wilhelm von Württemberg - Passagen finden, die durchaus darauf Anspruch erheben können, einen bescheidenen Platz in der Geschichte der bedeutenden poetischen Naturschilderungen einzunehmen. Aber auch er bedient sich bei der Naturbeschreibung gerne jener sinnentleerten Floskeln, die für immer neue Gegenstände der Beobachtung nur die immer wieder gleichen Bezeichnungen bereitstellen: »ein malerisches kleines Eiland, mitten im Missouri gelegen, vermehrt das Romantische dieser merkwürdigen, den echten Stempel der jungfräulichen amerikanischen Natur tragenden Gegend«.189 Dieser Passus ist symptomatisch für die Unlust oder das Unvermögen ihres Verfassers, zur Beschreibung einer Gegend vorzudringen, die aufgrund ihrer »Merkwürdigkeit« wohl die Entwicklung eigener, ihr angemessener Kategorien und Formulierungen gefordert hätte. Wo immer jedoch diese Anforderung an den Reisenden gestellt wird, zieht er sich auf die Begriffe zurück, die das Außergewöhnliche als solches benennen, ohne es sichtbar werden zu lassen. Zu ihnen gehören insbesondere die in ermüdender Wiederholung angeführten Adjektive »malerisch« oder »pittoresk« - und eben »romantisch« als das Schlüsselwort, mit dem alles über das Fremdartige gesagt ist. So sieht der Herzog eine »Hügelkette in malerischen Formen«;190 »einen der malerischsten Punkte unter den nur zu oft gleichförmigen Gestaden des großen Stromes« oder einfach eine »wilde und malerische Ansicht«.191 Bei Maximilian zu Wied ist diese Form der Beschreibungsverweigerung durch Standardisierung des Vokabulars noch ausgeprägter. Er vermerkt allenthalben einen »wild ro187 188

189 190 191

Maximilian zu Wied, Reise in das innere Nord-America (1839/1841) I, S. 333. Hard, »Kosmos« und »Landschaft« - Kosmologische und landschaftsphysiognomische Denkmotive bei Alexander von Humboldt und in der geographischen HumboldtAuslegung des 20. Jahrhunderts, S. 137; S. 151; Hard, Der »Totalcharakter der Landschaft«, S. 54-56. Paul Wilhelm von Württemberg, Reise nach dem nördlichen Amerika (1835), S. 258. Ebd., S. 313. Ebd., S. 333 und S. 381. 235

mantischen Anblick«,192 »romantische« Wege und »pittoreske« Seitentäler,193 die Lage ist »wild und schön, die Mischung der Frühlingsfarben des Waldes vortrefflich«194 und der Wald »malerisch«.195 Friedrich Ratzel hat später diese Verwendung von formelhaften und nichtssagenden Begriffen - insbesondere den zeitweise inflationären Gebrauch des Adjektivs »romantisch« - in der Landschaftsschilderung kritisiert, »die den Schilderer der Mühe überhoben, seine Empfindungen sich klar zu machen oder sogar zu analysieren.«196 Er deutet damit das Problem an, vor dem die reisenden Wissenschaftler in ihren Naturschilderungen stehen. Die Formelhaftigkeit der Sprache ist wohl nicht nur - wie bei vielen anderen Reisenden - Resultat einer Ausdrucksunfahigkeit, sondern möglicherweise auch eine Folge der mangelnden Bereitschaft, sich auf die Gegenstände mit subjektiven »Empfindungen« überhaupt einzulassen. Schließlich ist gerade die Entsubjektivierung das Prinzip, von dem sich das registrierende und klassifizierende Sammeln und Beobachten leiten ließ. Im Bereich der Landschaftsdarstellung fehlt den Reisenden ein taxonomisches Schema, auf das sie sich beziehen könnten, deshalb machen sie dankbaren Gebrauch von den standardisierten Formeln, die die Reise- und Landschaftsbeschreibung ihrer Zeit zur Verfügung stellt. Diese Form der Entqualifizierung der Wirklichkeit in der Beschreibung wird weitergeführt durch den Gebrauch von Instrumenten, derer sich die Forschungsreisenden ausgiebig bedienen. Paul Wilhelm von Württemberg und Maximilian zu Wied führen eine Reihe von Ausrüstungsgegenständen mit, die vor allem der Quantifizierung metereologischer und topographischer Beobachtungen dienen. Der Gebrauch dieser Instrumente erlaubt - ganz im Sinne der modernen Naturwissenschaft - eine Objektivierung dieser Beobachtungen und trägt insofern dazu bei, daß die einzelnen Erträge der Forschungsreisen in einem standardisierten wissenschaftlichen Kontext weiterverwertet werden können. Ansonsten aber gilt hier das gleiche wie bei den nicht instrumenteil abgesicherten Beobachtungen der Reisenden: Die Wahrnehmungen erfolgen unspezifisch und nicht zielgerichtet; mit rastlosem Sammeleifer wird zusammengetragen, was sich der instrumentellen Erfahrung erschließt. Dabei kann es vorkommen, daß das Instrument seinen instrumentellen Charakter verliert und selbst die Führung bei der Auswahl der Beobachtungsgegenstände übernimmt: »Da ich das Fischbein-Hygrometer und das Thermometer bei mir hatte, so machte ich einige Versuche über Feuchtigkeit und Temperatur der Luft dicht über der Wasserfläche, obgleich bei dem schnellen Lauf meines Kahns diese Beobachtungen nur sehr mangelhaft ausfallen konnten.«197 Gemessen wird, weil das Instrument gerade zur Hand ist und nach seinem Gebrauch verlangt, gleichgültig, ob die Mes192 193 194 195 196 197

Maximilian zu Wied, Reise in das innere Nord-America (1839/1841) I, S. 111. Ebd., S. 135f. Ebd., S. 282. Ebd., S. 291. Ratzel, Über Naturschilderung (1904), S. 323. Paul Wilhelm von Württemberg, Reise nach dem nördlichen Amerika (1835), S. 170.

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sung unter den gegebenen Umständen sinnvoll ist oder nicht. Auch hier bleiben die Beobachtungen, bei aller Exaktheit, die der Instrumentengebrauch gewöhnlich gewährleistet, dem Zufall überlassen. Sie sind abhängig davon, ob ein Instrument zur Verfügung steht oder aber gerade zerbrochen ist und ob der Reiseweg an einem beobachtungswerten und vor allem der Messung zugänglichen Gegenstand vorbeiführt: Da mich mein Weg dicht in der Nähe des Gebirges vorbeiführte, so bedauerte ich unendlich den Verlust meiner Instrumente, durch den es mir unmöglich wurde, Beobachtungen dieser Art anzustellen. Jeder Reisende, der große und schwierige Landstrecken zurückgelegt hat, wird die traurige Erfahrung gemacht haben, wie es beinahe unmöglich ist, das Barometer in einem tauglichen Zustand zu erhalten.'98

Weder auf den besonderen Sinn noch auf die Bedingungen solcher Beobachtungen wird, sofern sie ohne Störung verlaufen, reflektiert; im Gegensatz zu Alexander von Humboldt, der in seinem Bericht Angaben machte über die Validität der Instrumente oder das methodische Vorgehen bei ihrer Anwendung. Solche Reflexionen finden sich bei den späteren Reisenden höchstens beiläufig. Sie teilen Ergebnisse mit, nicht aber die Art ihres Zustandekommens; allenfalls wird einmal angemerkt, daß nach dem Zerbrechen eines Thermometers »alle von jetzt an gemachten Beobachtungen der Temperatur [...] nach Fahrenheit's Scala bestimmt« werden.199 Die Problematik instrumenteller Messungen tritt ansonsten nur in den Blick, wenn nicht methodologische Probleme, sondern handfeste Störungen durch den äußeren Ablauf der Reise auftreten: Dies ist auch die ewige Klage der Naturforscher, die bei ihren Expeditionen auf diese Weise ihre besten Instrumente und Sammlungen einbüßen. Für mich waren die Leute, die die Lasttiere zu verpflegen hatten, sowohl als die Tiere selbst eine unversiegbare Quelle von Ärgernis, weil sie ewig Hindernisse in der Fortsetzung der Reise veranlaßten, worauf ich im Verlauf meiner Erzählung häufig zurückkehren werde.200

Entscheidender jedoch als die mangelnde Reflexion auf die Validität instrumenteller Meßergebnisse ist die Unfähigkeit zur Verknüpfung der gewonnenen Daten zu einem Gesamtbild der beobachteten Wirklichkeit. Das pointillistische Verfahren tritt bei der topographischen und meteorologischen Messung deutlicher hervor als in Zoologie und Botanik, weil dort das Schema fehlt, in das sich die Ergebnisse einordnen und damit in einem Zusammenhang bringen ließen. Das einzig sichtbare integrierende Moment der Einzelforschungen scheint der Bezug auf die südamerikanische Reise Humboldts zu sein. Sie ist das Vorbild für die reisenden Wissenschaftler, die das forschende Vorgehen Humboldts ebenso wie seine Darstellungstechnik bis ins Detail imitieren und sich auch immer wieder auf ihn berufen. Die komisch anmutende Verzweiflung, mit der Paul Wilhelm von Württemberg die Unerreichbarkeit seines Vorbildes in einem vermeintlich unwesentlichen technischen Detail konstatiert, hat vor diesem Hintergrund tiefere Bedeutung: 198 199 200

Ebd., S. 360. Maximilian zu Wied, Reise in das innere Nord-America (1839/1841) I, S. 265. Paul Wilhelm von Württemberg, Reise nach dem nördlichen Amerika (1835), S. 331. 237

Herr von Humboldt hat das unendliche Glück gehabt, bei einem bewunderungswürdigen Eifer für die Erhaltung seiner Instrumente seine so überaus schwierigen Arbeiten glücklicher auszuführen als irgendein Reisender nach ihm, und es ist mir oftmals unbegreiflich, wie dieser große Gelehrte bei den unendlichen Entbehrungen auf seinen weiten Exkursionen eine so reichhaltige Sammlung astronomischer und physikalischer Beobachtungen bewerkstelligen konnte.201

Wenn er an anderer Stelle sich nur darauf berufen kann, daß Humboldt »alles bisher Gesagte hinreichend auseinandergesetzt und gewiesen« habe,202 dann formuliert er damit das resignierte Bewußtsein des Epigonen gegenüber Humboldts Reise, die »ein wahrhaft epochemachendes Ereignis« war und »für alle folgenden Reisenden das leuchtende Vorbild« wurde.203 Das Vorbild blieb jedoch unerreicht, nicht nur weil bei den späteren Amerika-Reisenden die persönlichen Voraussetzungen Humboldts fehlten, sondern auch, weil sie die philosophischen Grundlagen seiner Arbeiten verabschiedet hatten. Humboldts Forschungen waren, bei allem Bemühen um empirische Fundierung und Quantifizierung seiner Beobachtungen, fest verankert in einem naturphilosophischen Weltbild, das ihm die - wenn auch oft nur vage - Verknüpfung aller seiner Detailergebnisse prinzipiell erlaubte. Seine Nachfolger indes können und wollen sich - von gelegentlichen bezeichnenden Ausnahmen abgesehen - auf ein solches Programm nicht mehr stützen. Ihr Sammeln von Daten, Fakten und Gegenständen, die so weit als möglich ihrer individuellen Eigenschaften - sei es durch taxonomische Zuordnung oder durch Quantifizierung - beraubt werden, ist das Vorgehen eines hilflos gewordenen Empirismus, der die Naturphilosophie der Jahrhundertwende hinter sich zu lassen trachtet und noch keinen Anschluß gefunden hat an die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts. Ihr Programm beschränkt sich auf die von der Naturwissenschaft der Zeit geforderte Hinwendung zur Empirie, die in Deutschland auch als idiosynkratische Reaktion auf die Naturphilosophie zu verstehen ist. 9. Ansätze zur Institutionalisierung der Forschungsreise: Reiseanleitungen und Versachlichung der Darstellung durch Entsubjektivierung Die moderne Naturwissenschaft stellte freilich an den Forscher auch noch andere Anforderungen als die exakte, objektivierte und standardisierte Beobachtung. Ihr Ziel ist eine Entsubjektivierung der Erfahrung durch ihre Methodologisierung. Die naturwissenschaftlich sanktionierte Beobachtung vollzieht sich im Rahmen eines aus einer vorgängigen Theorie abgeleiteten Forschungsprogramms - der Forscher wird in die »Zucht einer unpersönlichen Fragestellung« genommen.204 Diese Entwicklung führte im Verlauf des Jahrhunderts zu einer 201 202 203 204

Ebd., S. 360f. Ebd., S. 65. Beck, Geographie und Reisen im 19. Jahrhundert, S. 3. Plessner, Zur Soziologie der modernen Forschung und ihrer Organisation in der deutschen Universität, S. 132.

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Institutionalisierung des wissenschaftlichen Reisens. Ihren deutlichsten Ausdruck findet sie in den Anleitungen, die dem Forscher an die Hand gegeben werden und es ihm erlauben sollen, möglichst gezielt und - im Rahmen der vorgegebenen Fragestellung - sinnvoll und vollständig zu beobachten. Ein frühes Produkt dieser Literaturgattung legte der Engländer Francis Galton im Jahre 1854 mit seinem Buch »The Art of Travel« vor, das sich offensichtlich noch an den reisenden Dilettanten mit wissenschaftlichen Ambitionen richtete. Galtons Handreichungen beziehen sich zum großen Teil auf die äußerlichen Umstände, die bei Organisation und Durchführung einer Forschungsreise beachtet werden müssen; sie geben aber auch ausführliche Hinweise zur Vorbereitung, Ausführung und Auswertung wissenschaftlicher Untersuchungen. Am Anfang steht die Forderung an den Reisenden, sich theoretisch mit seinem Forschungsgebiet zu befassen, um das Auffassungsvermögen für Beobachtungen zu schulen: »An intending traveller could readily find naturalists who would give lessons, in museums and botanical gardens«.205 Für die Reise selbst gibt Galton Anweisungen zur richtigen Benutzung von Meßinstrumenten und zur sinnvollsten Weise, die Ergebnisse der Beobachtungen schriftlich zu fixieren; und abschließend wird die Überprüfung der Beobachtungen und Sammlungen auf Vollständigkeit und der Instrumente auf ihre Validität empfohlen. Galtons Ratschläge sind noch ziemlich unspezifisch; sie beziehen sich auf die wissenschaftliche Forschungsreise überhaupt und nicht auf die Erfordernisse von speziellen Disziplinen. In dieser Hinsicht wesentlich spezialisierter sind dagegen die einzelnen Beiträge zu Neumayers Sammelwerk »Anleitung zu wissenschaftlichen Beobachtungen auf Reisen«, die detailliert auf die Ansprüche der einzelnen Wissenschaften eingehen und es dem nicht speziell ausgebildeten Reisenden - gedacht ist vor allem an die Angehörigen der deutschen Marine - ermöglichen sollen, gezielte Untersuchungen vorzunehmen. Noch konkreter sind schließlich die Angaben des Geographen und Geologen Ferdinand von Richthofen, der seinen ursprünglichen Beitrag zu Neumayers Werk zu einem umfänglichen »Führer für Forschungsreisende« ausarbeitete. Hier beruhen die Anleitungen nicht nur auf den praktischen Erfahrungen des berühmten China-Reisenden, sondern sie sind auch das Ergebnis einer klar fixierten geographischen und geologischen Theorie. Die Beobachtungen der Reisenden werden eingebettet in eine »systematische Eintheilung der Formgebilde der Erdoberfläche in Kategorien und Typen, wie sie sich im Verlauf der akademischen Vorlesungen des Verfassers allmählich herausgebildet hat«; die »Einführung charakteristischer Bezeichnungen« soll den »schwer übersehbaren und aus Beschreibungen allein kaum verständlichen Stoff« gliedern, um damit dem Forscher »einen Anhalt für die Richtung seiner Beobachtungen« zu geben.206 Diese rigide Einbindung des Forschers - auch hier ist überwiegend an den wissenschaftlich nicht vorgebildeten Reisenden gedacht - in ein durchgearbeitetes theoretisches System vollzieht den Anspruch 205 206

Galton, The Art of Travel (41867), S. 3. Richthofen, Führer für Forschungsreisende (1886), S. IV f.

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der modernen Wissenschaft an die Entpersönlichung des Forschens. Die subjektive Beliebigkeit der Wahrnehmung und besonders der Selektion von Wahrnehmungsobjekten wird so weit irgend möglich reduziert. Der Beitrag des Forschers interessiert nur noch, soweit er sich - bestätigend oder falsifizierend - in ein Theoriegebäude einbinden läßt. Die diversen Anleitungen für Forschungsreisende machen sich damit für ihren jeweiligen Spezialbereich die wissenschaftlichen Prinzipien zu eigen, die die naturwissenschaftliche Forschung des 19. Jahrhunderts überhaupt prägen. Die Erfahrung wurde zur Grundlage jeder Naturwissenschaft; das bedeutete eine »totale Umorientierung der bisherigen klassischen Wissenschaftskonzeption«, die sich an deduktiv-rationalistischen Prinzipien ausrichtete.207 Die neue Wissenschaftskonzeption ist zunächst interessiert an der reinen Faktizität, die durch Wahrnehmungen gewonnen wird; wenn aber die Wahrnehmung zur »Beobachtung« sich disziplinieren soll, dann bedeutet das zugleich eine Entsubjektivierung: Beobachtungen erfolgen im Rahmen eines vorgegebenen Systems; sie folgen bestimmten Fragestellungen und gewährleisten damit die InterSubjektivität der Forschung, deren einzelne Ergebnisse kommensurabel werden, weil sie einem der Wissenschaft gemeinsamen Horizont von Fragen und Problemstellungen entspringen. Erst dadurch kann die Beobachtung den Anspruch erfüllen, den das neue wissenschaftliche Zeitalter an sie stellt: Sie kann eingebracht werden in die »Auseinandersetzung, die Diskussion und die wissenschaftliche Kritik.«208 Mit dem Wandel der Wissenschaftsauffassung, die jetzt weniger an einzelnen fixierten Ergebnissen als am Forschungsprozeß selbst interessiert ist, vollzieht sich auch ein Wandel in der Auffassung des Wissenschaftlers: Er ist nicht mehr der Gelehrte, der über ein mehr oder weniger abgeschlossenes System an Wissen verfügt, sondern der Forscher, dessen Tätigkeit aus »wissenschaftlicher Arbeit« besteht, in deren Verlauf aus den wahrgenommenen Fakten die »wissenschaftliche Tatsache« wird.209 Auf der Seite des Forschers erfordert dieser Wandel der Wissenschaftskonzeption eine entsprechende Einstellung zum Stoff und zur eigenen Person, die sich als »Versachlichung« kennzeichnen läßt.210 Die Grundlagen dieses Wissenschafts- und Wissenschaftlerverständnisses finden sich auch bei den Amerikareisenden. Wenn sie sich bei der Auswertung ihrer Ergebnisse einer wissenschaftlichen Nomenklatur bedienen und die beschriebenen Objekte in umfangreichen Sammlungen der allgemeinen wissenschaftlichen Untersuchung und Bestätigung zur Verfügung stellen, dann erheben sie den Anspruch, ihre Forschungserträge nicht als Ausdruck persönlicher Interessen gewürdigt zu sehen, sondern als Beitrag zur unpersönlichen wissenschaftlichen Diskussion und Theoriebildung. Wie sehr das Ideal der Entsubjek-

207

Vgl. Diemer, Die Begründung des Wissenschaftscharakters der Wissenschaft, S. 38. Ebd., S. 61. 209 Ebd., S. 41; vgl. auch S. 61. 210 Yg| p i e s s n e r i Zur Soziologie der modernen Forschung und ihrer Organisation in der deutschen Universität, S. 126f. 208

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tivierung von ihnen schon Besitz ergriffen hat, zeigt sich aber vor allem in der Form ihrer Darstellung selbst. Ihre Reiseberichte sind nicht gereinigt von subjektiven Elementen, aber dennoch sind sie schon gekennzeichnet durch eine Tendenz zur Entpersönlichung. Sie wird am sichtbarsten in jenen »mikrologischen« Einschoben der Reiseberichte, in denen sich der Forscher selbst zum Gegenstand macht. Wenn Fröbel etwa einen Fieberanfall möglichst präzise zu beschreiben versucht, dann wird er selbst zum Beobachtungsobjekt, dessen Erforschung Auskunft geben kann über ein allgemeineres Problem: »Bei den Discussionen welche in Bezug auf endemische und Akklimatisationskrankheiten über das Klima von Nicaragua geführt worden sind, habe ich es mir zur Pflicht gemacht meine eigenen Erfahrungen mit Genauigkeit mitzutheilen.«211 Diese Zurücknahme der Subjektivität ist ein signifikantes Merkmal des Forschungsreisenden, für das Humboldt mit seiner Besteigung des Chimborazo ein Vorbild gegeben hatte. Von der Mit- und Nachwelt wurde diese Besteigung gefeiert als eine einzigartige Pionierleistung, die dem Forscher größten persönlichen Einsatz unter höchst gefahrlichen Umständen abverlangte. Humboldt selbst dagegen ist offensichtlich - und schon etwas forciert - darum bemüht, gerade diesen Aspekt der Abenteuerlichkeit weitgehend auszuklammern, indem er die Beschwerden und Gefahren des Unternehmens in objektivistisch reduzierter Form mitteilt. Wie schwer es Humboldt gefallen zu sein scheint, solche mikrologischen Details um ihrer selbst willen, ohne Objektivierung und Verwissenschaftlichung, in seinen Bericht aufzunehmen, zeigt eine beiläufige Bemerkung in der Beschreibung seines Versuchs, den »Gipfel des Chimborazo zu ersteigen«: Ich hatte dazu (wenn es anders einem Reisenden erlaubt ist so unwichtige Einzelheiten zu erwähnen) seit mehreren Wochen eine Wunde am Fuße welche durch die Anhäufung der Niguas (Pulex penetrans) veranlaßt und durch feinen Staub von Bimsstein, bei Messungen im Llano de Tapia, sehr vermehrt worden war. 2 ' 2

Nicht nur die entschuldigende Bemerkung in der Parenthese, sondern vor allem die in wissenschaftlicher Terminologie gegebene Beschreibung der Ursachen und der näheren Umstände der Verwundung lassen das Bemühen erkennen, individuelle Mißhelligkeiten bei der Expedition weitgehend zu ignorieren. Das ist nur dort anders, wo sich solche Mißhelligkeiten in einem größeren Rahmen wissenschaftlich auswerten lassen: Auf dem Vulkan von Pichincha fühlte ich einmal, ohne zu bluten, ein so heftiges Magenübel, von Schwindel begleitet, daß ich besinnunglos auf der Erde gefunden wurde [...]. Alle diese Erscheinungen sind nach Beschaffenheit des Alters, der Constitution, der Zartheit der Haut, der vorhergegangenen Anstrengung der Muskelkraft sehr verschieden; doch für einzelne Individuen sind sie eine Art Maß der Luftverdünnung und absoluten Höhe, zu welcher man gelangt ist. 213 211 212

213

Fröbel, Aus Amerika (1857f.) I; S. 343. A. v. Humboldt, Ueber einen Versuch den Gipfel des Chimborazo zu ersteigen (1853), S. 146. Ebd., S. 148f.

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In seltener Deutlichkeit treten die beiden Momente hervor, die der Objektivierung der eigenen Persönlichkeit bei Forschungsreisen zugrunde liegen: Der Forscher macht seinen Körper zum Instrument, das notfalls sogar die barometrische Höhenmessung ersetzen könnte. Zugleich werden die persönlichen Beschwerden wissenschaftlich - durch Vergleich mit weiteren eigenen Erfahrungen oder denen anderer Forscher - ausgewertet und auf Begriffe gebracht. Der Körper wird für Humboldt zum Experimentierfeld. Wie ernst er das nimmt und meint, zeigt seine in den Expeditionsbericht eingeflochtene Bemerkung über einen andernorts unternommenen Selbstversuch: »In einer Taucherglocke bin ich in England einem Luftdruck von 45 Zoll fast eine Stunde lang ausgesetzt gewesen. Die Flexibilität der menschlichen Organisation erträgt demnach Veränderungen im Barometerstande, die 31 Zoll betragen.« 214 Bei Humboldts großer Expedition ebenso wie bei den Unternehmen seiner weniger bedeutenden Nachfolger trägt die Forschungsreise Züge des Abenteuers; die wissenschaftlichen Ergebnisse werden unter Gefahr für Leib und Leben erzielt, weil die Begleitumstände der Reise sich noch nicht in dem Maße kontrollieren lassen, wie dies bei späteren Expeditionen zusehends der Fall sein wird. Doch das abenteuerliche Element dringt in den Reiseberichten kaum durch. Der Idealtypus des Abenteuers intendiert eine Hypertrophierung seiner Persönlichkeit, die sich möglichst frei entfalten und immer wieder neu bewähren können soll. Der Wissenschaftler dagegen ist - auch wenn die objektiven äußeren Umstände seiner Reise oft der des Abenteurers ähneln - auf eine bewußte Zurücknahme seiner Persönlichkeit bedacht. Entsprechend werden die gefahrlichen Ereignisse mit einer gewissen Nonchalance in der Darstellung übergangen: »Wir wären gewiß in große Gefahr gekommen, hätte uns der Schnee auf 18000 Fuß Höhe überrascht« schreibt Humboldt in seinem Bericht über die ChimborazoBesteigung, um gleich anschließend dem Ereignis wieder das Spektakuläre zu nehmen: »Um zwei Uhr und einige Minuten erreichten wir den Punkt, wo unsere Maulthiere standen. Die zurückgebliebenen Eingeborenen waren mehr als nöthig um uns besorgt gewesen.«215 Auch in den Reiseberichten der anderen Wissenschaftler spielen solche Episoden, an denen ihr Leben in der amerikanischen Wildnis doch reich gewesen sein muß, keine nennenswerte Rolle. Paul Wilhelm von Württemberg erzählt, wie er eine Schlange erlegt, bei deren späterer Präsentation »alle Anwesenden in den größten Schrecken« gerieten, 216 während er selbst bei dem Erlebnis nicht nur die Kaltblütigkeit bewahrt - ein Charakterzug im übrigen, den auch sein späterer Reisebegleiter Möllhausen an ihm

2,4

215

216

Ebd., S. 151. - Ähnlich, wenn auch in weniger extremer Ausprägung reflektiert Fröbel über die Anpassungsfähigkeit des menschlichen Organismus, über die im »civilisirten Leben die lächerlichsten Vorurtheile herrschen«; Fröbel, Aus Amerika (1857f.) II, S. 123. A. v. Humboldt, Ueber einen Versuch den Gipfel des Chimborazo zu ersteigen (1853), S. 154. Paul Wilhelm von Württemberg, Reise nach dem nördlichen Amerika (1835), S. 124.

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hervorhebt217 sondern auch unmittelbar nach der Erlegung der Schlange zu ihrer wissenschaftlichen Untersuchung schreitet: ich verlor keinen Augenblick Zeit und schlug trotz des Geschreis meines Begleiters die Schlange mit einem großen Knüppel tot. Bei genauer Untersuchung fand sich, daß diese Schlange, die zu der Ordnung der eigentlichen Vipern gehörte, eine der giftigsten ihres Geschlechts war.218

Auch hier ist das Bestreben deutlich, das spektakuläre Ereignis in der Darstellung sogleich auf seinen sachlichen Gehalt zu reduzieren. Die Versachlichung der Darstellung ist ein wichtiger Schritt auf dem Wege zur wissenschaftlichen Reisebeschreibung, die sich schließlich auf eine Mitteilung der Ergebnisse beschränkt und damit ihren Charakter als Reisebeschreibung verliert. Je weiter sie aber auf diesem Weg fortschreitet, desto dringlicher stellt sich ihr das Problem des Zusammenhangs der angestellten Beobachtungen und der Forschungsergebnisse. In darstellungstechnischer Hinsicht blieb für die früheren Amerikareisenden diese Frage unproblematisch: Sie folgten einfach wie schon Humboldt in seiner »Relation historique« - der Chronologie der Reise, die, oft in einfacher Tagebuchform festgehalten, ihnen einen Rahmen bot, in dem die verschiedenartigsten Gegenstände eingepaßt werden konnten. Je mehr jedoch die Reisebeschreibung sich unter wissenschaftliche Ansprüche stellte und den äußeren Reiseverlauf in der Darstellung zurückdrängte, desto weniger konnte sie sich auf dieses äußerliche Mittel zur Stiftung eines Zusammenhangs verlassen. Verlangt war vielmehr weniger der darstellungstechnische als der sachliche Zusammenhang der einzelnen Forschungsergebnisse. Wenn der Reisende sich - wie es etwa die Voraussetzung Richthofens in seinem »Führer für Forschungsreisende« ist - auf eine einzelne und in ihren theoretischen Strukturen ausgearbeitete Wissenschaft beschränkt, wird dieses Problem nicht virulent - der Zusammenhang der Ergebnisse ist schon vorgegeben. Anders verhält es sich, wenn eine Fülle von Beobachtungen aus divergierenden und zum Teil methodisch noch nicht etablierten Wissenschaften integriert werden muß.

10. Neue und alte Formen des Naturgenusses: Tourismus und Naturphilosophie Diese Schwierigkeit teilen die Reisebeschreibungen mit der Naturwissenschaft ihrer Zeit überhaupt. Die »naturphilosophischen« Strömungen im Deutschland der Jahrhundertwende wollen die »Auflösung der Naturwissenschaft in Spezialdisziplinen und die Verkümmerung eines Zielbewußtseins« aufhalten; sie sind »gegenüber der Entwicklung der Naturwissenschaft gescheiterte Versuche, sich in der Vielfalt der Naturbeobachtungen nicht zu verlieren«.219 Wenn von der 217 218 219

Möllhausen, Reisen in die Felsengebirge Nordamerikas (1861) I, S. 194f. Paul Wilhelm von Württemberg, Reise nach dem nördlichen Amerika (1835), S. 123. Engelhardt, Hegel und die Chemie, S. 22.

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späteren Naturwissenschaft die Naturphilosophie als spekulativ und abwegig kritisiert wurde, dann übersieht sie die Problemlage, auf die diese Art der Naturauffassung eine Antwort versuchte. Der holistische und universalistische Zugriff auf die Natur war gewiß spekulativ, aber er löste auf seine Weise das Problem, wie die Erfahrung singulärer Phänomene in übergreifende Zusammenhänge einzubinden sei und damit den Status verbindlicher Erkenntnis gewinnen könne, die über eine bloß künstliche und schematische Klassifikation hinausgeht. Die Annahme eines grundlegenden Prinzips - so abwegig es im einzelnen auch formuliert worden sein mag - hat zumindest methodische Bedeutung: Sie sichert der Forschung die Einheit der Fragestellung und erlaubt ihr die Verknüpfung ihrer empirischen Befunde. Das war das Programm, an dem auch Humboldt mit fruchtbaren Ergebnissen sich orientiert hat, wenn er die »Einsicht in den Zusammenhang der lebendigen Kräfte des Weltalls als die edelste Frucht der menschlichen Kultur, als das Streben nach dem höchsten Gipfel, welchen die Vervollkommnung und Ausbildung der Intelligenz erreichen kann«, betrachtete. 220 Auch wenn dieses Programm von den späteren wissenschaftlichen Reisenden in seiner Substanz verabschiedet wird, so finden sich in ihren Reiseberichten einzelne Spuren, die die Nachwirkung des »Naturgefühls« bis zum Ende des 19. Jahrhunderts dokumentieren. Wichtige Belege gibt die Reisebeschreibung Paul Wilhelms von Württemberg, dessen 1822 bis 1824 unternommene Expedition noch der Zeit der romantisierenden Naturphilosophie in Deutschland angehört. Es kann daher nicht überraschen, daß der Herzog ganz im Stile Humboldts - in seine wissenschaftliche Darstellung Ausbrüche emotionaler Naturbegeisterung einflicht, deren Fundament eben diese Naturphilosophie ist: Um 9 Uhr morgens hatte ich die sehnlich erwartete Freude, die Mündung jener zwei herrlichen Stromgebiete zu erblicken, die mit Recht ein Stolz der Schöpfung genannt werden können, und ich darf bekennen, daß mich ein Gefühl der innigsten Rührung und des Dankes zum allmächtigen Schöpfer der Welten hinzog, der den Menschen mit der schönen Gabe der Empfänglichkeit für das Große und Erhabene beglückt hat. 221

Die Art, in der diese ohnehin seltenen Ausbrüche der Naturbegeisterung in den Text der Darstellung integriert werden, ist indes bezeichnend für das Selbstverständnis des Forschers, dessen Augenmerk sich eigentlich auf andere, naturwissenschaftliche Gegenstände und nicht auf naturphilosophisch relevante Szenerien richtet. Daß der Reisende die genaue Uhrzeit angeben kann, zu der ihm die »sehnlich erwartete Freude« bereitet wird, einen »Stolz der Schöpfung« zu erblicken, ist ein Beleg für das gebrochene Verhältnis, das er derlei schwärmerischen Naturschilderungen entgegenbringt. In seiner Darstellung erscheinen sie als Fremdkörper, denen keine integrierende Funktion zukommt. Das Naturgefühl wird, bei allen stilistischen Anklängen an Humboldt, zusehends auf einen bloß subjektiven Naturgenuß reduziert, der sich dem unmittel220 221

A. v. Humboldt, Kosmos II, S. 94. Paul Wilhelm von Württemberg, Reise nach dem nördlichen Amerika (1835), S. 157; vgl. auch die wichtigen Belege S. 153 und S. 185f.

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baren Eindruck einer Landschaftszenerie gerne hingibt, ohne aber damit weitergehende Vorstellungen über die Einheit der Natur zu verbinden. Wo die Natur nicht als Gegenstand wissenschaftlicher Beschreibung sich darstellt, sondern in ihrer Schönheit gewürdigt werden soll, entwickelt der Reisende ihr gegenüber ein schon regelrecht ausbeuterisches Verhältnis. Wenn Adalbert Prinz von Preußen in den Jahren 1842 und 1843 Brasilien bereist, sieht er die Natur nur noch scheinbar mit den Augen Humboldts: »hier unter dem Erdgleicher, wo das ganze Leben derselben die reinste Harmonie athmet, giebt sie sich ihm« - dem Reisenden - »fast ohne Widerstreben hin, ja sie ladet ihn selbst ein zum Genüsse!«222 Dieser Naturgenuß ist nur noch rezeptiv; er sieht die Natur als Objekt einer Befriedigung emotionaler Bedürfnisse des Subjekts. Hierfür taugt aber nicht mehr die Natur als Ganze; der Naturgenuß kann sich nur dann entfalten, wenn die Natur als schöne oder erhabene dem Subjekt gegenüber tritt. Wo das nicht der Fall ist, beschränkt sich die Wahrnehmung und Darstellung auf die nüchterne naturwissenschaftlich-geographische Beschreibung. Das Naturgefühl wird der methodischen Reduktion unterworfen, die die wissenschaftliche Betrachtung mit sich bringt: Sie muß die Wirklichkeit auflösen in eine Fülle von Einzelwahrnehmungen, um ihrer Mannigfaltigkeit Herr zu werden; jeder Gegenstand erfordert seine eigene Methode und seine eigenen Instrumente, mittels derer er allein untersucht und beschrieben werden kann. Im Rahmen dieser pointillistischen Beschreibung der Natur hat die Formulierung des Naturgefühls ihren genau fixierten Platz; sie ist überall dort legitim, wo die Natur in einer Gestalt auftritt, die eine emotionale Reaktion herausfordert. Von hier bis zu einer touristischen Naturrezeption ist es kein weiter Schritt; er erfolgt dann, wenn sich die standardisierte Vorstellung von Naturschönheiten herausgebildet hat, die gezielt aufgesucht werden können, um sich Naturgenuß zu verschaffen. Zu den beliebtesten Reisezielen, die früh in den Kanon touristischer Objekte aufgenommen wurden, zählten die einzigartigen Niagara-Falle, die zu besichtigen, wenn es irgend möglich war, keiner der Reisenden versäumte. Wie sehr aber das Naturgefühl bei dieser touristischen Betrachtungsweise künstlich konstruiert werden muß, da es sich nicht mehr unwillkürlich herstellt, belegt der Bericht Bernhards zu Sachsen-Weimar-Eisenach, der 1825 die Wasserfalle aufsuchte: Wir eilten sogleich nach dem Wasserfalle [...]. Es ist unmöglich, den Anblick zu beschreiben; es ist unmöglich, das Gefühl der Ohnmacht und der Grösse zugleich auszusprechen, das in der menschlichen Brust aufsteigt vor diesem Riesenwerke der Natur! Man kann nur staunen, bewundern und anbeten. [...] Allein wegen des feinen Regens, den der Schaum des Falles erzeugt, hatten wir unten keineswegs des schönen Ausblick, auf welchen von uns gerechnet war. Deswegen stiegen wir bald wieder hinauf, und erfüllten uns von oben mit dem Anschauen des Erhabenen und Majestätischen.223

222 223

Adalbert von Preußen, Aus meinem Tagebuche (1847), S. 605. Bernhard von Sachsen-Weimar-Eisenach, Reise Sr. Hoheit des Herzogs Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach durch Nord-Amerika (1828) I, S. 132.

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Die Passage ist ein ziemlich früher Beleg für die touristische Naturerfahrung, die sich durch den Anblick bestimmter, vorher festgelegter Natursegmente gezielt einen emotionalen Reiz verschafft. Der Reisende hat eine feste Vorstellung davon, was ihn erwartet; und er korrigiert den Anblick, wenn diese Erwartung enttäuscht wird. Die Naturerfahrung ist ebenso durch Vorgaben anderer Reisender vermittelt wie ihre Beschreibung. Der Herzog findet keinen authentischen Ausdruck für den überwältigenden Eindruck, sondern er bedient sich der längst standardisierten Formeln des »Erhabenen« und »Majestätischen« und zieht sich ansonsten auf den Unsagbarkeitstopos zurück, der von einer genauen Beschreibung des unmittelbaren Gefühls dipensiert. Noch lapidarer nimmt sich die touristische Form der Naturerfahrung in dem Brief eines deutschen Auswanderers aus dem Jahre 1859 aus, der seiner Beschreibungspflicht in einem einzigen Satz Genüge tut: »Am Niagara-Fall vergossen wir Thränen über die Erhabenheit der Natur.«224 Für diese Form touristischer Naturbeschreibung - die beim Herzog Bernhard noch im Kontext ethnologisch-wissenschaftlicher Forschungen steht bietet auch Gustav Brühl am Ende des Jahrhunderts einige Beispiele, wenn er in seinem Reisebericht ein eigenes Kapitel den »Naturwundern Arizonas« widmet, die nacheinander aufgesucht und beschrieben werden, oder wenn er über seinen Besuch des Yellow-Stone-Park berichtet: Wir verlassen den Park mit der Befriedigung, ein Stück Erde gesehen zu haben, wie unser Planet kein zweites aufzuweisen hat, kein zweites, das auf so engen Raum so viele grossartige Naturschönheiten einschliesst. 225

Der Unterschied zum Naturgefühl Humboldts ist hier wie auch im Reisebericht des Herzogs Bernhard greifbar. Humboldt richtet sich auf die Schönheit der Natur in allen ihren Formen und Erscheinungen, so daß er in seinen »Ansichten der Natur« auch den kargen Steppen oder felsigen Hochgebirgen einen ästhetischen Reiz abgewinnen kann. Wenn dagegen bei den späteren Reisenden nicht mehr von der Schönheit der Natur, sondern von Naturschönheiten die Rede ist, dann demonstriert dies den tiefgreifenden Wandel, der sich inzwischen vollzogen hat. Gustav Brühl kann nicht mehr, wie Humboldt, jede beliebige Naturerscheinung ästhetisch würdigen, sondern er muß differenzieren: So vermißt er in einer amerikanischen Gebirgslandschaft die »Reize« der Alpen, »die ein Gefühl hoher Begeisterung erwecken, während der düstere Ernst und die Einförmigkeit der Sierra uns kalt lassen«;226 oder er konstatiert ein »bedrückendes Etwas« an einem Landschaftspanorama, in dem das »starre, nackte Leblose [...] das organische Leben allzusehr« überwiegt.227 Von einem universalen Naturgefühl kann 224

225 226 227

»Amerika ist ein freies Land ...«, S. 143; zum europäischen Interesse speziell an den Niagara-Fällen, die häufig Gegenstand von Zeitungsberichten waren, vgl. Thaller, Studien zum europäischen Amerikabild, S. 54. Brühl, Zwischen Alaska und Feuerland (1896), S. 169. Ebd., S. 98. Ebd., S. 97.

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hier nicht mehr die Rede sein - seine Auflösung dürfte sich in enger Verbindung mit dem Fortschreiten der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise vollzogen haben, die nicht mehr auf einen Totaleindruck der Natur zielt, sondern auf die möglichst präzise Beschreibung einzelner Aspekte. Beim Übergang vom landschaftserfassenden Blick zur Beobachtung einzelner Aspekte der Natur hat auch die naturwissenschaftliche Wahrnehmung der Wirklichkeit durch Instrumente eine Rolle gespielt; und es kann nicht ausbleiben, daß auch die touristische Erfahrung bald von diesem Hilfsmittel Gebrauch macht. Der Tourist bedient sich neben des Fernglases des Claude-Glases. Bei seiner Anwendung erzielt es den gleichen Effekt wie das wissenschaftliche Instrument: Es löst einen bestimmten Aspekt der Natur aus seiner Umgebung heraus und erlaubt seine konzentrierte Betrachtung. Das Ziel des Touristen bei der Benutzung des Claude-Glases ist freilich nicht die Quantifizierung und Abstraktifizierung der Landschaft, sondern die »Reduktion der Natur auf bilderverwertbare Ausschnitte.«228 Touristische und naturwissenschaftliche Naturerfahrung weisen damit gewisse methodische Parallelen auf. Auch wenn ihre Zielsetzungen durchaus verschieden sind, haben sie ihr Gemeinsames in der Auflösung eines Totaleindruckes von der Natur zu einer pointillistischen Betrachtungsweise, die ihre Objekte nach bestimmten Vorgaben wählt. Mit dem Verlust der universalistischen Naturbetrachtung stellen sich der wissenschaftlichen Reisebeschreibung - wie überhaupt der Naturbeschreibung Probleme, die sie lange Zeit nicht angemessen in den Griff bekommen hat. Für Humboldt hatte die universalistische Naturauffassung nicht nur philosophische, sondern auch methodische Bedeutung: Sie warf überhaupt nicht das Problem auf, die einzelnen Ergebnisse seiner empirischen Forschungen zu einem Gesamtbild zu integrieren - ihre Einheit wird vielmehr immer schon vorausgesetzt. Die Natur ist »in jedem Winkel der Erde ein Abglanz des Ganzen. Die Gestalten des Organismus wiederholen sich in anderen und anderen Verbindungen.«229 Diese Naturauffassung stellt das zusammenhangstiftende Leitprinzip seiner Forschungen dar, das alle empirischen Einzelbeobachtungen integriert: »Die Naturphilosophie kann den Fortschritten der empirischen Wissenschaften nie schädlich sein. Im Gegentheil, sie führt das Entdeckte auf Principien zurück, wie sie zugleich neue Entdeckungen begünstigt.«230 Obwohl die Spuren von Humboldts und überhaupt der romantisierenden und poetisierenden Naturdarstellung im Laufe des Jahrhunderts langsam verblassen, verschwinden sie nicht völlig. Nicht nur die Versuche vieler Reisender, in einzelnen und isolierten Passagen ihrer Werke an den Gestus der Humboldtschen Naturbeschreibung anzuknüpfen, auch wenn ihr Geist verlorengegangen ist, sind ein Nachklang seiner Naturauffassung, sondern gegen Ende des Jahr228 229 230

Vgl. Märker/Wagner, Bildungsreise und Reisebild, S. 10. A. v. Humboldt, Kosmos (1845-1862) II, S. 64. A. v. Humboldt am 1. 2. 1805 an Schelling; abgedruckt in: Alexander von Humboldt (1872) I,S. 229. 247

hunderts gibt es Bemühungen, sie noch einmal - aus verschiedenen Gründen wiederzubeleben. Es kann nicht überraschen, daß Balduin Möllhausen, der Protégé Alexander von Humboldts, hierbei eine gewichtige Rolle spielt. Möllhausen hatte schon in seine beiden Reisebeschreibungen und in seine Romane Naturschilderungen im Humboldtschen Geist eingeflochten231 - obwohl er bei den Expeditionen als Topograph eigentlich in wissenschaftlicher Funktion tätig war - , die seine Verbundenheit mit naturphilosophischen Anschauungen demonstrieren: Wer nicht nur als ein blos vegetirendes Wesen ohne anregendes Naturgefühl auf seine Umgebung blickte, der musste auch hier zur innigsten Andacht aufgefordert werden. Tief im Walde hämmerte der Specht am morschen Baume, lockte der Truthahn, zwitscherten die kleinen Vögel wie in lauterer Dankbarkeit für den schönen, sonnigen Tag, für den lieblich blauen Himmel und für den Schutz, den ihnen die dichten Zweige der dunkelgrünen Cedern gegen Schnee und Kälte gewährten; und der Mensch sollte kalt und gefühllos bleiben?232

Fast ein halbes Jahrhundert nach dieser Beschreibung und ein ganzes nach Humboldts »Ansichten der Natur« publiziert Möllhausen dann seine »Bilder aus dem Reiche der Natur«, deren Vorbild unverkennbar Humboldts Werk ist. Der 1904 erschienene Band versammelt eine Reihe von Skizzen, die einzelne Naturphänomene oder -Szenerien aus Amerika und Skandinavien beschreiben. Diesem nur scheinbar additiven Verfahren liegt noch einmal eine universalistische Auffassung der Natur zugrunde: Hinter den einzelnen Beobachtungen sucht Möllhausen das einheitsstiftende Band, das nur in poetisierender Sprache zu erfassen ist. Dabei kann er seine wissenschaftlichen Kenntnisse als Naturforscher nicht verleugnen: Bei aller Poesie in der Darstellung vergißt er nicht, gelegentlich genaue naturwissenschaftliche Bestimmungen anzugeben. Anläßlich der Beschreibung der amerikanischen »Eichen und Kakteen« erwähnt er die Vielfalt der Formen und vermerkt die »Genugtuung, wenn es gelingt, in der Fülle der Verschiedenheiten Merkmale zu entdecken, die den Gedanken an eine bis dahin unbekannt gebliebene Spezies nahelegen.«233 Das Klassifikationsbemühen erinnert an die Reisebeschreibungen Paul Wilhelms von Württemberg und Maximilians zu Wied; bei Möllhausen wird es indes gleich wieder zurückbezogen auf seine universalistische Naturauffassung: »Es erscheint wie ein farbenfroher Gruß der erfinderischen Natur, die mit ihren Kunstwerken nicht geizt, um den Ideengang des andächtig Beobachtenden erheiternd zu beeinflussen.«234 Die detaillierte, nach wissenschaftlichen Methoden verfahrende Naturbeobachtung ist für Möllhausen nur Ausgangspunkt, nicht Ziel der Darstellung. Die einzelne Wahrnehmung wird in den Dienst des Gesamteindrucks gestellt: »Von

231

Vgl. Brenner, Ein Reisender und Romancier des 19. Jahrhunderts, S. I i i . Möllhausen, Tagebuch einer Reise vom Mississippi nach den Küsten der Südsee (1858), S. 323. 233 Möllhausen, Bilder aus dem Reiche der Natur (1904), S. 15. 234 Ebd. 232

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dem Unscheinbaren zu dem Erhabenen!«235 Der Zusammenhang aller natürlichen Dinge wird unterstellt; wenn Möllhausen von »einer nach bestimmten Gesetzen belebenden [sie] Natur« spricht,236 dann denkt er nicht an die Gesetze der Naturwissenschaft, sondern an ein allenfalls intuitiv erfaßbares Prinzip, das die Einheit in der Mannigfaltigkeit herstellt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts muß dieser Rückgriff auf die Naturphilosophie des frühen 19. Jahrhunderts obsolet erscheinen, aber ungeachtet seiner spekulativen Grundlagen kann er auch im Rahmen einer verwissenschaftlichten Weltsicht ein gewisses methodisches Recht beanspruchen. Er ist Möllhausens etwas naive Antwort auf das immer noch nicht definitiv gelöste Problem der Naturschilderer, wie sich ein Aggregat von Einzelwahrnehmungen zu einem organischen Gesamtbild zusammenfügen läßt. Wie sehr dieses Problem auch die wissenschaftliche Geographie beschäftigte, zeigt eine gleichzeitig mit Möllhausens »Bildern aus dem Reiche der Natur« erschienene Studie des Geographen Friedrich Ratzel »Über Naturschilderung«. Ein spekulatives Gefühl von der Einheit der Natur liegt Ratzels Betrachtungen freilich nicht mehr zugrunde, wohl aber die Einsicht in das Unbefriedigende einer nur wissenschaftlichen Darstellung, die die Gesamtheit ihres Gegenstandes auflöst in unverbundene Einzelaspekte. Er versucht die Einheit zu retten durch die Empfehlung an den wissenschaftlichen Geographen, Anleihen zu machen bei der poetischen Naturdarstellung, die es erlaubt, »aus der Zerlegung der Erscheinungen zurückzukehren zu einem Punkte, wo sie ein Ganzes übersehen.«237 Mit dieser Aufforderung - die sich allerdings mehr an die Verfasser von Hand- und Lehrbüchern richtet und der statistischen Übersicht dort, wo sie angebracht ist, ihr Recht lassen will238 - erweist sich Ratzel als Erbe der poetischen Naturschilderung Forsters und Humboldts. Wissenschaftliche Exaktheit bei der Analyse von Naturphänomenen und künstlerische Intuition bei ihrer Zusammenstellung sollen eine harmonische Verbindung eingehen, bei der sich beide Komponenten sinnvoll ergänzen: Der geographische Beobachter muß sich, auch durch das Studium und die Übernahme poetisierender Darstellungsformen, einen Blick erwerben, »der zugleich umfaßt und eindringt, das Ganze und seine Einzelheiten mit gleicher Bestimmtheit sieht und einprägt.«239 Die von Ratzel theoretisch formulierten Prinzipien hat er zuvor in seiner großen Amerika-Darstellung zu realisieren versucht. Dieser Versuch demonstriert deutlich die Schwierigkeiten des empirisch orientierten Wissenschaftlers, dem Anspruch auf eine umfassende »Naturschilderung« gerecht zu werden. Ratzel behilft sich schließlich mit einer künstlich anmutenden Konstruktion: Dem sachlich-beschreibenden Teil fügt er einen ausführlichen schildernden Teil an, um »für die ununterbrochene, thatsächliche Darlegung der physikalisch-geo235

Ebd., S. 10. Ebd., S. 56. 237 Ratzel, Über Naturschilderung (1904), S. 4. 238 Vgl. ebd., S. 7. 239 Ebd., S. 233. 236

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graphischen Thatsachen Raum zu gewinnen, und um auf der anderen Seite das schildernde Element, dem ich eine grosse Wichtigkeit in der Beschreibung gerade eines so fernen Landes beilegen möchte, nicht zu verkürzen«.240 Dieser schildernde Teil gibt, ganz in der Nachfolge von Humboldts »Ansichten der Natur«, poetisierende Einzelskizzen. Sie versuchen den Gesamtcharakter einer Landschaft oder eines einzelnen Phänomens zu erfassen, indem sie »eben nicht bloss die Sinne, sondern auch den Geist für dasselbe aufschliessen« sollen.241 Mit diesem Verfahren will er sich von der bloßen Empirie des unmittelbaren Eindrucks lösen, um den Erscheinungen jene Bedeutsamkeit zukommen zu lassen, die ihnen gebührt. Symptomatisch ist Ratzels Darstellung der Niagara-Fälle. Unverhohlen gesteht er - wie der Herzog zu Sachsen-Weimar-Eisenach - ein, daß der erste Blick den hochgespannten Erwartungen nicht gerecht wird. Da er aber von der »Grossartigkeit« dieser Naturerscheinung dennoch überzeugt bleibt, versucht er, ihre eigentliche Wahrheit zu ergründen, indem er über den Bereich des gerade zufällig Sichtbaren hinausgeht: Man muss nur den Gesichtskreis erweitern, über den ersten Eindruck hinausgehen [...]. Wir gehen mehr ins Einzelne und suchen auch den Rahmen zu erweitern. Manches aus der näheren und ferneren Umgebung hineinzuziehen, das geeignet sein möchte, die Vorstellungen, die wir von der Grösse und der Macht der Erscheinung hegen, der Wahrheit näher zu bringen und gleichzeitig zu verstärken und zu vertiefen. Diese Methode verfehlt nicht ihre Wirkung.242

Ratzels Überzeugung, daß sich die »Wahrheit« eines Naturphänomens nicht in der Darstellung des empirisch Wahrnehmbaren erschöpft, »dass all dieses Beschreiben nichts Eindringendes, kein rechtes Bild gibt«,243 verrät das Unbehagen des Wissenschaftlers gegenüber den Verfahren der szientifischen Naturwissenschaft, der er mit einer Besinnung auf die Errungenschaften der poetischen Naturschilderung zu Hilfe eilt.244 Ratzels Rückbesinnung auf die Methode Humboldts - und auch Forsters - weist, zumal sie ohnehin oberflächlich und konstruiert bleibt und die philosophischen Prämissen der Vorläufer nicht übernimmt, sicherlich der wissenschaftlichen Naturdarstellung nicht den Königsweg, aber sie rückt wieder das Problem ins Blickfeld, das die wissenschaftliche Naturdarstellung - auch in Reisebeschreibungen - offensichtlich lange Zeit aus den Augen verloren oder aber mit unzulänglichen und unbefriedigenden Mitteln zu lösen versucht hatte. 240

Ratzel, Die Vereinigten Staaten (1880) I, S. VIII. Ebd., S. 436. 242 Ebd., S. 534. 243 Ebd., S. 445. 244 Dieses Unbehagen gehört zu den wissenschaftsgeschichtlich signifikanten Symptomen der deutschen Naturwissenschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende. In anderen wissenschaftlichen Bereichen bekundet es sich in der lebensphilosophischen Reaktion gegen das szientifische Wissenschaftsideal. Sie führte auch zu einer »Renaissance der romantischen Naturphilosophie«, welche versuchte, die »Idee des Ganzen« gegenüber seiner wissenschaftlichen Auflösung zu retten. Vgl. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933, S. 180. 241

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ZWEITER TEIL

Besichtigung eines Kontinents: Die Erfahrung der Modernisierung

Einleitung: Reisen in die moderne Welt

i. Der Auswanderer, der Abenteurer und der Wissenschaftler machen Erfahrungen, die bestimmt sind von der jeweils gewählten Reiseform. Die Wirklichkeit des fremden Landes erschließt sich ihnen nach Maßgabe der Bedingungen, unter denen ihre Reise steht; die Wahrnehmung wird beeinflußt von den mentalen wie realen Lebensbedürfnissen oder den Erkenntniszielen, welche das initiierende Moment der Reise bilden. Die Erfahrung Amerikas wird zurückgebunden an die eigene Herkunftskultur, da die Reisenden Reise- und Darstellungsformen entwickeln, in denen sie ihre je spezifischen praktischen Bedürfnisse oder theoretischen Erkenntnisinteressen zugrundelegen. Sie unterwerfen die fremde Wirklichkeit einem Verfahren selektiver Wahrnehmung und Darstellung, das eher Auskunft über das Verständnis der eigenen Kultur als über die Wirklichkeit des fremden Landes gibt. Bei diesen zweck- und herkunftsgebundenen Reisen entstehen Amerika-Bilder von besonderer Konsistenz - freilich um den Preis der Ausblendung weiter Wirklichkeitsbereiche und der Übertragung eigenkultureller Strukturen auf die Fremde. Nicht alle Reiseberichte aber unterliegen in ihrer Wahrnehmung und Darstellung den Bedingungen, die ihnen der Ursprung aus einem bestimmten Typus des Reisens vorgibt. Viele Texte unterwerfen sich nicht von vornherein einem bestimmten Zweck, in dem die Reiseabsichten - bewußt oder nicht - wahrnehmungskonstituierend vorgegeben sind; und nicht alle Reisenden, die einem Zweck folgen, sind in ihrer Wahrnehmung ausschließlich darauf fixiert. Häufig lösen sie sich von den eigenkulturellen Wahrnehmungsvoraussetzungen; sei es, weil diese nicht vollständig in sich geschlossen sind und Räume für abweichende Deutungen von Wahrnehmungen offen lassen oder sei es, weil - was freilich selten ist - der »Erfahrungsdruck« des Fremden übermächtig wird und sich der eigenkulturellen Konzeption nicht mehr integrieren läßt. In einem solchen Fall, so will es auf den ersten Blick scheinen, übernimmt nicht mehr die eigene Kultur, sondern die fremde Wirklichkeit die Leitfunktion bei der Wahrnehmung. Die Reisenden richten den Blick unbefangener auf ihre Umgebung, und sie nehmen mehr und anderes wahr als die zweckgebundenen Reisenden. Die amerikanische Wirklichkeit wird zur Interpretationsherausforderung, welche sich nicht mehr einfach durch die Reduktion auf das eigene Reiseprogramm bewältigen läßt. Der traditionale Modus der zweckgebundenen Reise wandelt sich zu dem der Besichtigungsreise, die weniger strengen Konsi253

Stenzanforderungen unterliegt. Dieser Typus des Reisens weist manche Züge auf, die er mit der touristischen Reiseform teilt, aber er geht bei weitem nicht darin auf und zeigt auch eigenständige Charakteristika. Die Reisen, in denen zweckungebundene »Besichtigungsprogramme« verfolgt werden, 1 artikulieren ebenso wie die traditionalistisch orientierten Reisenden eine Reaktion auf die Ambivalenz des »Fortschritts«, aber sie stellt sich bei ihnen anders dar als bei den zweckgebundenen Reisenden. Schon die Erfahrungsform ist »moderner«. Sie öffnet sich dem Neuen und Fremden stärker und entwickelt ein selbständiges Interesse an der fremden Wirklichkeit; dadurch löst sie sich von der vollständigen Rückbindung an die Herkunftskultur. Aber trotz ihrer Emanzipation von eigenkulturellen Vorgaben sind auch diese Reisenden gebunden an vorgängige Strukturen, die ihnen nicht nur die Wahrnehmung, sondern ebenso die Urteile und gar die Reiserouten vorschreiben. Die Herausbildung dieser Strukturen ist eng bezogen auf den besonderen Status, den die USA im europäischen und besonders dem deutschen Bewußtsein des 19. Jahrhunderts einnehmen. Mit der Attraktivität der immer noch »Neuen Welt« f ü r die deutsche Öffentlichkeit kann außer England kein anderes Land konkurrieren; 2 nur das Frankreich der Französischen Revolution hat für eine kurze Zeit ähnliche Verwerfungen im Bewußtsein der deutschen Öffentlichkeit hervorgerufen. 3 Die Parallelität der Erscheinungen kommt nicht von ungefähr. Das revolutionäre Frankreich, das industrialisierte England und die Vereinigten Staaten haben im deutschen Bewußtsein eine Eigenart gemeinsam: In diesen Ländern verdichtet sich der Fortschritt der Geschichte zur Sichtbarkeit. Wegen der terreur verschwindet Frankreich bald wieder aus dem Blickfeld des deutschen Interesses; 4 aber die Vereinigten Staaten erscheinen fast während des ganzen Jahrhunderts als das Land einer Zukunft, die auch Europa bevorsteht. Diese Erwartung geht in die Beschreibung des Landes ein. Die Beschreibung der amerikanischen Wirklichkeit erhält ihre charakteristische Form dadurch, daß die Vereinigten Staaten als das Land erfahren werden, in dem die eigene Zukunft voraussehbar wird. Für die Reisenden ebenso wie für die daheim gebliebenen Theoretiker erscheint das Amerika des 19. Jahrhunderts nicht mehr nur als die »neue«, sondern als die »moderne« Welt. In diesem Sinne zeigt Amerika den deutschen Reisenden ebenso »das Bild der eignen Zukunft«, wie Karl Marx es 1867 für England postulierte. 5 Aber die Zukunft stellt sich den USA-Reisenden anders dar als den Englandreisenden. Während die Zeitgenossen England als das »industriell entwickeltere Land« erfuhren, 6 weil sich hier deutlich die genuin modernen Formen der Industrialisierung und Urbanisie1 2

3 4 5 6

Vgl. Kessler, Kulturbeziehungen und Reisen im 18. und 19. Jahrhundert, S. 269. Zur deutschen England-Erfahrung vgl. Maurer, Skizzen aus dem sozialen und politischen Leben der Briten, S. 407. Vgl. Peitsch, Das Schauspiel der Revolution, S. 306-309. Vgl. Stephan, Literarischer Jakobinismus, S. 5. Marx, Das Kapital I (1867), S. 12. Ebd.

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rung mit ihren positiven wie negativen Begleiterscheinungen herausgearbeitet hatten, bleibt die Zukunftsbezogenheit der USA unspezifischer. Sie zeigt sich nicht in jenen präzise konturierten Phänomenen, die der englischen Entwicklung ihr modernes Gepräge geben, sondern sie wird nur vage faßbar in einer Vielzahl von Einzelmomenten, die weniger in der wirtschaftlichen und technischen als vielmehr in der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit sich darstellen.7 Die Reise in die entwickelteren Regionen der Vereinigten Staaten wird dennoch für die deutschen Reisenden eine Reise in die Zukunft der eigenen Gesellschaft und lädt zu Auseinandersetzungen sowohl mit der amerikanischen wie mit der deutschen Gegenwart ein.8 Die direkte oder aus zweiter Hand vermittelte Begegnung mit Amerika wirkt als Katalysator für eine Diskussion über die Probleme der Modernisierung. Aber auch über die unmittelbare Thematisierung des Modernisierungsprozesses hinaus geht diese Prämisse in die Beschreibung hinein: Sie fungiert als konstituierendes Prinzip der Amerika-Erfahrungen dieser Reisenden. In ihren Berichten werden jene Wahrnehmungsparadigmen sichtbar, die der »Modernisierungsprozeß« und seine theoretischen Aufarbeitungsversuche zur Verfügung stellten. Diese Perspektive prägt das Programm der Besichtigungsreisenden ebenso wie ihre Wahrnehmungsform: Die AmerikaErfahrung stellt sich ihnen stets dar als bezogen auf die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts. Freilich ist diese Reaktion der Reisenden weder eindeutig noch einlinig. Es spiegeln sich in ihr vielmehr auf vielschichtige Weise die Auseinandersetzungen, die während des ganzen Jahrhunderts - und darüber hinaus - über die Errungenschaften und Verluste der Modernisierung geführt wurden. Die Auseinandersetzung mit diesen Proble7

8

Diese Unklarheit des Erscheinungsbildes, welches die sich modernisierende Gesellschaft der USA den europäischen Betrachtern bot, ist wohl auch die Ursache dafür, daß Marx die Vereinigten Staaten nur schwer in sein Geschichtsbild einfügen konnte und sie einmal als zurückgeblieben, ein anderes Mal als zukunftsträchtig im Sinne der kapitalistischen Entwicklung charakterisierte; vgl. Weiner, Das Amerikabild von Karl Marx, S. 128f.; sowie Henningsen, Der Fall Amerika, S. 98-117 und Thaller, Studien zum europäischen Amerikabild, S. 577-579. Dieses Problem mittels der Analyse europäischer Zeitungsberichte über Amerika zu erörtern, war auch die eigentliche Absicht Thallers: Er macht den Vorschlag, »unsere ganze Konzeption des Amerikaverständnisses zu ändern und vielmehr von einem Selbstverständnis des europäischen Beobachters zu sprechen, das ihm umfassend gedacht, eine Position in Staat und Gesellschaft und, damit absolut untrennbar verbunden, gleichermaßen die Vorstellungen von der Position seines Staates, seiner Nation anderen gegenüber zuwies.« Thaller, Studien zum europäischen Amerikabild, S. 564f. (Syntax und Interpunktion dieses Satzes gehen auf das Konto Thallers; sie sind charakteristisch für den Stil seiner Arbeit.) Thaller ist an diesem Anspruch nicht zuletzt deshalb gescheitert, weil er sich bei seinen Vergleichen ausschließlich auf Oberflächendetails der amerikanischen und deutschen Wirklichkeit verläßt und nicht die durch den Modernisierungsprozeß in beiden Staaten konstituierten zugrundeliegenden Strukturen untersucht, die den deutschen Beobachtern Amerika erst als Vergleichsobjekt interessant machen.

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men findet auf verschiedenen und oft ununterscheidbar miteinander verschränkten, nur methodisch zu trennenden Ebenen statt. II. Eine Rekonstruktion der durch die Amerika-Erfahrung inspirierten Auseinandersetzung mit dem Modernisierungsprozeß setzt eine Klärung dessen voraus, was unter diesem Prozeß überhaupt sinnvoll verstanden werden kann. Denn der Begriff der Modernisierung ist ein Konstrukt der Theoretiker. Anders als der Begriff des »Fortschritts«, der sich auch in der Alltagserfahrung fassen ließ, bleibt er abstrakt und ist auf theoretische Erörterungen verwiesen. In systematischer Bestimmung wurde er erst spät in die sozialwissenschaftliche Diskussion eingeführt, um dominierende Entwicklungstendenzen westlicher Gesellschaften zu beschreiben.9 Die Frage aber, was unter »Modernisierung« zu verstehen sei, ist bis heute ungeklärt geblieben. Die Lösungsangebote reichen von inhaltlichen Bestimmungsversuchen politischer und sozialer Entwicklungsvorgänge, wie sie vorbildhaft in den anglo-amerikanischen Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts realisiert wurden, bis hin zu hochabstrakten systemtheoretischen Modellen, welche den Modernisierungsprozeß fassen wollen über den Grad der Differenzierung und Reintegration von Gesellschaften.10 Keines dieser Modelle hat jedoch zu einer Klärung des Begriffs und zu einer wissenschaftlichen Konsensstiftung beitragen können. Den Ansatz zu einer solchen Klärung könnte der Versuch einer historischen, theorie- wie begriffsgeschichtlichen Rekonstruktion der Modernisierungskategorie liefern. Dann erscheint sie nicht bloß als ein nominalistisches Konstrukt, das einzelne Indikatoren als »begriffliche Instrumente« benutzt,11 sondern als ein Modell, welches eine Epoche zu ihrer Selbstauslegung hervorgebracht hat. Es ist oft beobachtet worden, daß die Modernisierungstheorie eine Neubildung der Sozialwissenschaften der letzten Jahrzehnte ist, aber auf eine lange theoriegeschichtliche Tradition verweisen kann. Die ersten Überlegungen zu einer Theorie der Modernisierung reichen zurück bis zum Ende des 18. Jahrhunderts,12 und sie sind eng gebunden an noch ältere Traditionen, in denen die europäische Ideengeschichte ihr Selbstverständnis formulierte.13 Diese Beobachtung 9

10

11 12

13

Zur Entstehung des sozialwissenschaftlichen Modernisierungsbegrifls in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts vgl. Lepsius, Soziologische Theoreme über die Sozialstruktur der »Moderne« und die »Modernisierung«, S. 12; sowie Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte, S. 11-17. Einen Überblick über diese verschiedenen Theoreme gibt Lepsius, Soziologische Theoreme über die »Moderne« und die »Modernisierung«, S. 13-29. Ebd., S. 16. Zu den Ursprüngen der Auseinandersetzung mit der Moderne in Deutschland, die wohl bei Schiller anzusetzen sind, vgl. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 59-64; Popitz, Der entfremdete Mensch, S. 20-41. Vgl. Lepsius, Soziologische Theoreme über die »Moderne« und die »Modernisierung«, S. 12 f.

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wäre methodisch fruchtbar zu machen. Wenn sie angemessen berücksichtigt wird, erscheint der Modernisierungsbegriff nicht mehr nur als nachträgliche Konstruktion der Sozialwissenschaften, sondern als eine Kategorie, mit der die Epoche gleichermaßen ihr Selbstverständnis formuliert wie auch in eins damit an dem Prozeß teilgenommen hat, den sie theoretisch zu fassen versucht. Auf einer ersten Ebene stellt sich den Zeitgenossen die Modernisierung als ein inhaltlich bestimmbares und meist auch sinnlich erfahrbares Substrat historischer Entwicklungsprozesse dar. Diese Erfahrung vollzieht sich meist vorbegrifflich, auf der Basis eines unreflektierten Konsensus darüber, was unter »Modernität« verstanden werden soll. Dazu gehören die meisten jener Erscheinungen, die auch in der heutigen Sozialwissenschaft noch als empirische Indikatoren von Modernität gefaßt werden: Technische und wirtschaftliche Entwicklungen, insbesondere die Industrialisierung; die Herausbildung neuer Lebensformen, zu denen die Urbanisierung gehört, daneben die Zunahme des Dienstleistungsangebots und die wachsende Bedeutung von kulturellen und Ausbildungsleistungen; schließlich die Erhöhung von politischer Partizipation im Sinne eines Demokratisierungsprozesses.14 Auf dieser Ebene wird »Modernisierung« empirisch erfahrbar und erscheint meist noch ungeschieden von der Erfahrung des Fortschritts. So erfahren auch die deutschen Amerikareisenden des 19. Jahrhunderts die amerikanische Gesellschaft als eine spezifisch »moderne«: Die Modernisierung tritt ihnen auf der Ebene der Beobachtung und Beschreibung der amerikanischen Wirklichkeit selbst gegenüber. Der Modernisierungsprozeß in den USA stellt sich in seiner realhistorischen Gestalt in vielen Facetten dar; in den Reiseberichten erscheint er indes auf wenige Aspekte reduziert. Das Augenmerk der Reisenden richtet sich vorderhand auf jene Elemente, die unmittelbar sinnlich wahrzunehmen sind und mit denen sie direkt auf der Reise konfrontiert werden. Die Modernisierung wird erfahrbar in jenen Strukturen, die sie der Lebenswelt verliehen hat: In der Herausbildung und Gestaltung einer spezifischen Großstadtkultur und -architektur ebenso wie in den Lebensformen der Bevölkerung. Zu diesen Phänomenen des Alltags treten andere, die auf einer abstrakteren Ebene angesiedelt sind, aber dennoch in ihren Auswirkungen sinnlich wahrnehmbar bleiben. Unter diesem Aspekt erscheint Modernisierung in den Organisationsformen von Politik, Verwaltung und Gesellschaft sowie gelegentlich auch in der Gestalt, welche der Industrialisierungsprozeß in den USA angenommen und den Folgen, die er hervorgerufen hat. In ihren Reiseberichten unterwerfen die Reisenden diese Phänomene einer Interpretation, die sich ihnen zu einem freilich nicht mehr sehr konsistenten Bild der amerikanischen Wirklichkeit zusammenfügt. Das eigentliche Problem der Untersuchung dieser Texte ist weniger eine Nachzeichnung ihres Amerika-»Bildes«, das auf der Oberflächenebene im einzelnen ziemlich klar zutage tritt. Entscheidend ist vielmehr die Frage, welchen 14

Ebd.,S. 15 f. 257

bewußten oder versteckten Leitlinien die Interpretation der amerikanischen Wirklichkeit durch die Reisenden folgt. Es wäre naiv, anzunehmen, daß die Reisenden nur eine mehr oder weniger verzerrte oder selektive Darstellung amerikanischer Realität gäben, die sich im Blick auf die realen historischen Verhältnisse bestätigen, korrigieren oder falsifizieren ließe. Denn auch bei den Texten der Besichtigungsreisenden gehen die Erfahrungs- und Erwartungshorizonte, welche ihren Ursprung in der Ausgangskultur haben, in die Vorstellungen und Urteile über das Reiseland ein. Diese Rückbindung an die Ausgangskultur hat freilich eine andere, diffusere und schwerer zu rekonstruierende Struktur als bei den zweckgebundenen Reisenden. Sie hat sich weitgehend abgelöst von unmittelbaren lebensweltlichen Interessen und Bedürfnissen; an deren Stelle tritt ein Interpretationsparadigma, das seine spezifische Struktur aus konkurrierenden Interpretationsmodellen entwickelt: Es wird einerseits geprägt von den Theorien, die im Deutschland des 19. Jahrhunderts zum Verständnis des eigenen Modernisierungsprozesses herausgearbeitet wurden; und andererseits geht das amerikanische Selbstverständnis, wie es von den deutschen Beobachtern aufgefaßt wird, in die Interpretation mit ein.

III. Die deutsche Theoriegeschichte des 19. Jahrhunderts hat vor allem am Anfang und am vorläufigen Ende des Modernisierungsprozesses die Kategorien zu seiner Interpretation entwickelt. Das Epochenbewußtsein entfaltet sich im Gleichklang mit der Ausarbeitung von Modellen zu seiner Selbstauslegung, in denen die »Erfahrung und das Bewußtsein eines epochalen Wandels« in theoretischen Konstruktionen eingefangen werden.15 In dieser Diskussion stellt sich auf der Ebene der philosophischen, sozialen und gesellschaftlich-politischen Theoriebildung der Modernisierungsprozeß als ein Dualismus von Stabilisierungs- und Krisenphänomenen dar. Die Modernisierung der westlichen Gesellschaften im 19. Jahrhundert wurde von Beginn an als realhistorische Umsetzung des aufklärerischen FortschrittsModells begriffen. Was die Aufklärung in ihren späten Erscheinungsformen als geschichtsphilosophischen Prozeß formuliert hatte, wird mit der Modernisierung zur wirkungsmächtigen Kraft, welche formierend auf die gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Entwicklungen einwirkt. Vor allem die Neuerungen in Wissenschaft, Technik und Industrie erscheinen spätestens um die Jahrhundertmitte als empirisch wahrnehmbarer Beleg für die Richtigkeit des aufklärerischen Modells der Geschichtsphilosophie; und zumindest die Vormärzliberalen knüpften in Deutschland daran weitere Erwartungen in bezug auf 15

Ebd., S. 10. Es ist in diesem Zusammenhang zu vermerken, daß die deutsche Theorieentwicklung in ihren grundlegenden Konstruktionen erheblich von den Modellen der Modernisierungstheorien im England und Frankreich des 19. Jahrhunderts abweicht.

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den politischen und sozialen Fortschritt.16 Die Modernisierung wurde aber zugleich seit ihren ersten Anzeichen in ihrer theoretischen Aufarbeitung nicht immer nur als »Fortschritt« in jenem emphatischen Sinne begriffen, mit dem die Aufklärung diese Kategorie ausgestattet hat. Im Zentrum der Diskussion steht von Anfang an die Auseinandersetzung mit den krisenhaften Folgen der Modernisierung, die sowohl auf abstrakt-philosophischer Ebene - insbesondere in bezug auf den Rationalisierungsprozeß - wie auch in seinen konkreten gesellschaftlichen Auswirkungen diskutiert wurde, die sich als Industrialisierung und Bürokratisierung auf der einen, als Pauperisierung und soziale Entwurzelung auf der anderen Seite bemerkbar machten oder auch nur befürchtet wurden. Im Blick auf diese Phänomene hat die theoretische Diskussion des 19. Jahrhunderts der Modernisierung eine doppelte Verlustrechnung aufgemacht: Der Modernisierungsprozeß führt zur Auflösung alter und vermeintlich bewährter Ordnungen und damit zu einem Verlust an sozialer und ökonomischer Stabilität; zugleich werden die gegenläufigen sekuritätsstiftenden Bewegungen ebenfalls der Verlusterfahrung zugeschrieben. Sie werden als Zwangssystem begriffen, das den Verlust an individuellen Freiheiten zur notwenigen Folge hat. Diese historische Verlusterfahrung hat in der Modernisierungsdiskussion zur Dichotomie von »Traditionalität« und »Modernität« geführt, die lange Zeit die Theoriebildung bestimmte.17 Ein solches Modell ist jedoch nur beschränkt tragfahig. Ein Blick auf die historischen Ursprünge der Modernisierungsdiskussion in Deutschland macht nämlich deutlich, daß die theoretisch-philosophische Diskussion sich von vornherein nicht in solchen dualistischen Schemata bewegte, sondern daß schon früh Modelle entwickelt wurden, die nicht das Gegeneinander, sondern gerade das Ineinandergreifen von Modernität und Traditionalität im Modernisierungsprozeß zu beschreiben versuchten. Die Verschränkung der Gegensätze artikuliert sich in der Auseinandersetzung mit der Fortschrittsidee, wie sie die Aufklärung hervorgebracht hatte. Nicht erst das 20. Jahrhundert hat die skeptische Reaktion auf die universale Ausdehnung der Fortschrittserwartung mit der Formel vom »Verhängnis des Fortschritts« auf philosophische Begriffe gebracht.18 Die kritische Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Fortschrittsidee hat sich vielmehr bereits in jener Zeit etabliert, in der die ersten Defizienzerscheinungen des Fortschritts sich realhistorisch abzuzeichnen begannen. Zu den ersten Formen dieser Auseinandersetzung gehört die Entstehung des konservativen Denkens, das auf einem dualistischen Schema von Fortschritt und Beharrung fundiert war. Daß dieses Schema jedoch nicht ausreichend war, die historische wie die philosophische Komplexität des Modernisierungsprozesses zu erfassen, wurde dem avancierten 16 17 18

Vgl. Koselleck, (Art.) Fortschritt, S. 409-415. Lepsius, Soziologische Theoreme über die »Moderne« und die »Modernisierung«, S. 16f.; Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte, S. 14-16. Löwith, Das Verhängnis des Fortschritts, S. 27. Zur Entwicklung der »Fortschrittserwartung« im 20. Jahrhundert vgl. auch Scholder, Die Dialektik des Fortschritts, S. 597-599.

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zeitgenössischen Bewußtsein bald bewußt; an die Stelle eines dualistischen Deutungsmodells traten deshalb seit dem Ende des 18. Jahrhunderts Versuche, die Verschränkungen der gegenläufigen historischen Prozesse in ihrer inneren Notwendigkeit zu begreifen. Den Zusammenhang von historischem Fortschritt und der durch ihn ausgelösten Krise der traditionellen Gesellschaft hat wohl zuerst Hegel beschrieben, als er den Versuch einer philosophischen »Selbstvergewisserung der Moderne« unternahm,19 in dem er seine eigene Zeit als eine »Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode« erfaßte. 20 Hegel beschreibt die »unphilosophischen Tendenzen des Zeitalters« der Moderne als eine krisenhafte Entwicklung, die vom Fortschritt selbst hervorgebracht wurde. In seiner Kritik der Aufklärung benennt er die Defizite, welche die Moderne prägen: Sie ist ihm gekennzeichnet durch die Reduktion des Denkens und der Wirklichkeit auf die Kateogrien von »Verstand« und »Nützlichkeit« und überhaupt auf »beschränkte Zwecke«.21 Daß diese Reduktion aber historisch notwendig ist, bleibt auch von Hegel unbestritten, und das bereits hebt sein Modell vom simplen »Traditionalitäts«-»Modernitäts«-Schema ab, wie das Fortschrittsdenken der Aufklärung und seine konservative Kritik es hervorgebracht haben und wie es in das Alltagsbewußtsein eingegangen ist. Denn die Reduktionen und Defizienzen, welche die historische Entwicklung im Zuge des Modernisierungsvorgangs hervorgebracht haben, bleiben für Hegel die unvermeidbare Voraussetzung für die Emanzipation des Menschen von den Zwängen der Natur, für die Befriedigung materieller Bedürfnisse und damit für die Emanzipation des Subjekts. Der Preis für diese Emanzipation ist die Freisetzung zersetzender Kräfte, die Hegel kritisch rekonstruiert. Dabei macht er den Begriff populär, den die philosophische Gesellschaftskritik des 19. Jahrhunderts schließlich als Schibboleth zur Bezeichnung der Deflzienzerfahrungen des Modernisierungsprozesses einsetzte: die Kategorie der »Entzweiung«, die schließlich in den Begriff der »Entfremdung« überführt wurde. Die »Entzweiung« wird für Hegel zum Charakteristikum einer modernen Welt,22 die gezeichnet ist von der Entzweiung des Menschen mit der Natur, der Entzweiung der Menschen untereinander und der Entzweiung des Menschen mit sich selbst. Hegel will auch die Ursachen namhaft machen, die zu diesen unvermeidbaren Erscheinungen geführt haben. An erster Stelle benennt er die Freisetzung der Subjektivität: »Das Recht der Besonderheit des Subjekts, sich befriedigt zu finden, oder, was dasselbe ist, das Recht der subjektiven Freiheit macht den Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Altertums und der modernen Zeit.«23 Diese Emanzipation von Subjektivität hat 19 20 21

22 23

Vgl. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 26. Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), S. 18. Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie (1801), S. 13. Vgl. Ritter, Hegel und die französische Revolution, S. 47 f. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (1821), S. 233 (§ 124). Vgl. Hegels Bestimmung des Prinzips »der neueren Welt« als der »Freiheit der Subjektivität«; ebd., S. 439 (§ 273). - Zu diesem Problemkreis vgl. Lukäcs, Derjunge Hegel, S. 488-494.

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danach religionsgeschichtlich mit der Reformation begonnen, sie wurde ideengeschichtlich von der Aufklärung fortgesetzt und kulminierte gesellschaftsgeschichtlich in der Französischen Revolution. Zu diesen historischen Erscheinungen fügt Hegel - freilich an systematisch weniger exponierter Stelle - auch noch die »moderne Staatsorganisation« und das »Maschinen- und Fabrikenwesen« als den ersten Erscheinungsformen der industriellen Revolution in Deutschland hinzu.24 Hegel beschreibt die gesellschaftliche Entwicklung in der Moderne als Verlusterfahrung. Die Freisetzung der Subjektivität führt zur Partikularisierung einer Wirklichkeit, die geprägt wird dadurch, daß sich bedingte Zwecke als unbedingte setzen und die aus sich heraus keine versöhnende Kraft mehr hervorbringen kann. 25 Hegel freilich resigniert noch nicht angesichts dieser Erscheinungen. Er bietet einen optimistischen Lösungsversuch an, der die »Entzweiung« nicht nur als Verfallssyndrom, sondern auch als Möglichkeit zur Wiederherstellung der Einheit als einer historisch möglichen und in der Sittlichkeit des Staates auch wirklich gewordenen Versöhnung von Subjektivität und Objektivität in der modernen Welt begreift: »Die Bestimmungen des individuellen Willens sind durch den Staat in ein objektives Dasein gebracht und kommen durch ihn erst zu ihrer Wahrheit und Verwirklichung«.26 Hegels Rückgriff auf diese institutionalisierten Formen der Versöhnung trägt einen konservativen Zug in sich, den er mit den wichtigsten Tendenzen seiner Zeit teilt. Was er philosophisch vorformuliert hat, wird zu einem Grundmodell der überwiegend etatistisch orientierten politik- und sozialtheoretischen Diskussionen des 19. Jahrhunderts, das unter dem Eindruck der »sozialen Frage« bis weit in das liberale Lager hinein seine Wirkungen entfaltet.27 Hegel steht damit am Anfang der Modernisierungskritik des 19. Jahrhunderts; an ihrem Ende steht Max Weber. Was Hegel als Loslösung des Menschen »von dem lebendigen Zusammenhange mit der Natur und der kräftigen und frischen, teils befreundeten, teils kämpfenden Gemeinschaft« beschrieben hatte,28 wird von Max Weber nüchtern als Gegensatz von traditionaler und »moderner« Gesellschaft erfaßt. Ihm stellen sich jetzt die Probleme anders dar. Wo Hegel sich mit einer umfassenden Entzweiung durch die Emanzipation der Subjektivität als einer Folge des Modernisierungsprozesses konfrontiert sah, konstatiert Max Weber eine erzwungene Einheit, die gerade diese Emanzipation wieder 24

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Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik (1835-1838; entstanden 1817-1829) III, S. 341. Vgl. auch Kesting, Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg, S. 51. Zu Hegels »Begriff der Moderne« vgl. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 34-49. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 410 (§261); vgl. auch S. 406f. (§260). Vgl. Ritter, Hegel und die französische Revolution, S. 47-51; Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 5 0 - 54. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 297 f. Gall/Koch, Einleitung (II), S. XVII f. Daß die »soziale Frage« bereits Hegel ein wichtiges Argument für seine etatistische Argumentation bot, zeigt Fetscher, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, S. 214. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik (1835-1838; entstanden 1817-1829) III, S. 341. 261

vollständig rückgängig gemacht habe. Die Industrialisierung mit ihrem Fabrikwesen, der Mechanisierung und der Herrschaft des rationalen Denkens in allen Lebensbereichen, schließlich und vor allem die Bürokratisierung der Gesellschaft fuhren zu jener Lebensform, die Max Weber in der berühmten Formulierung bildkräftig zusammengefaßt hat, in der er vom »Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft« spricht, »in welche vielleicht dereinst die Menschen sich, wie die Fellachen im altägyptischen Staat, ohnmächtig zu fügen gezwungen sein werden«.29 Wo Hegel einen Überschuß an Individualität sah, konstatiert Weber ein Defizit als Folge der Modernisierung; ihm stellt sich jetzt die Frage, wie es möglich sei, »irgenwelche Reste einer in irgendeinem Sinn >individualistischen< Bewegungsfreiheit zu retten? Denn schließlich ist es eine gröbliche Selbsttäuschung zu glauben, ohne diese Errungenschaften aus der Zeit der >Menschenrechte< vermöchten wir heute - auch der Konservativste unter uns - überhaupt zu leben.«30

IV. In die von Hegel und Weber unternommenen Versuche zur Selbstauslegung der Epoche sind die Amerika-Wahrnehmungen und -Bilder der Reisenden eingespannt. Die theoretischen Bestimmungsversuche der Modernisierungsdiskussion und ihre politisch-gesellschaftlichen Derivate bilden den Rahmen, der als Wahrnehmungsparadigma fungiert. Erst vor dem Hintergrund dieses Interpretationsmodells historischer Verläufe gewinnen die Reiseberichte der »Besichtigungs-Reisenden« ihre Einheit. Ihre höchst divergierenden Reaktionen auf die Amerika-Erfahrungen haben ihr Gemeinsames darin, daß sie als Verhaltensoder Erfahrungsformen zu beschreiben sind, die aus dem Doppelcharakter eines Modernisierungsprozesses hervorgehen, der gleichermaßen als Fortschritt wie als Krise begriffen wurde. Gewiß haben sowohl Weber wie auch erst recht Hegel avancierte theoretische Modelle entwickelt, die in dieser Prägnanz bei den Reisenden nicht präsent sein konnten. Dennoch wird die amerikanische Wirklichkeit von den BesichtigungsReisenden unter der Perspektive der deutschen Theoriebildung gesehen. Die in den Selbstauslegungsversuchen der Epoche benannten Probleme bilden den Interpretationshintergrund, vor dem sich ihr Wirklichkeitsverständnis entfaltet. Vor diesem Hintergrund verstehen und beurteilen sie die erfahrene Wirklichkeit, und damit kehren die in Deutschland theoretisch diskutierten Probleme und Lösungsvorschläge in den Beschreibungen der amerikanischen Realität wieder. Das Paradigma, das sie ihren Beobachtungen zugrundelegen, trägt deshalb auch den Dualismus in sich, der in den deutschen Diskussionen um die Modernisierung herausgearbeitet wurde. Auch wenn der Typus des Besichtigungsreisenden 29 30

Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 835. Ebd., S. 836.

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sich von unmittelbaren, zweckverhafteten Rückbindungen an die eigene Kultur freimachen kann, ist seine Wirklichkeitserfahrung auf die eigenkulturellen Vorgaben in diesem theoretischen Sinne fixiert. Denn die Erfahrung der Modernisierung in den USA stellt sich nicht durch die Beobachtung der Wirklichkeit von selbst ein. Der Modernisierungsprozeß ist viel zu komplex, als daß er zur sinnlichen Wahrnehmbarkeit gerinnen könnte und sich der empirischen Betrachtung erschlösse. Seine Erfahrung ist nur aufgrund einer vorgängigen Verarbeitung und Stukturierung möglich, die von den Reisenden freilich nicht selbst geleistet wird. Bei ihrem Versuch, die Besonderheiten der amerikanischen Wirklichkeit zu erschließen, stützen sie sich vielmehr auf die Kategorien und Modelle, welche ihnen in den USA als Artikulationen eines spezifisch amerikanischen Selbstverständnisses begegnen. Die Wahrnehmung der amerikanischen Wirklichkeit wird ihnen vermittelt durch die Konfrontation mit einem amerikanischen Selbstverständnis, das sie wiederum vor dem Hintergrund der deutschen Modernisierungsdiskussion interpretieren und beurteilen; die Beschreibung der Wirklichkeit in den Reiseberichten ist von den Autosterotypen der Amerikaner mitgeprägt. Sie wirken immer in die eigene Wahrnehmung hinein und konstituieren ein erstes Bild von den realen Verhältnissen. Dem deutschen Blick zentriert sich das amerikanische Selbstverständnis um eine Leitidee, die auch im Zentrum der deutschen Modernisierungsdiskussion stand: um die Idee der Freiheit. Die Vorstellung, daß Amerika das Land der Freiheit sei und daß aus dieser Idee die Eigenarten seiner gesellschaftlichen Verfassung und die Richtung seiner historischen Entwicklung sich ableiten ließen, ist im europäischen Bewußtsein fast schon seit der Entdeckung des neuen Kontinents fest fixiert. Nicht erst in den Gründungsurkunden ihres Staates, der »Declaration of Independence« von 1776, der »Virginia Bill of Rights« aus dem gleichen Jahr und schließlich der Verfassung von 1787 hatten die Amerikaner das unveräußerliche Recht auf individuelle »Freiheit« verankert und damit einen großen Eindruck in der europäischen Diskussion hinterlassen.31 Die europäische Vorstellung von Amerika als dem Land der Freiheit ist viel älteren Ursprungs; sie kristallisierte sich bereits im Blick auf den südamerikanischen Teil des Kontinents, der im europäischen Bewußtsein vage Bilder vom Edlen Wilden und einem natürlichen Leben jenseits der Zwänge einer zivilisierten Gesellschaft hervorrief und schon im 17. Jahrhundert die staatstheoretische Diskussion beeinflußte.32 Konkrete Konturen erhielt diese Vorstellung im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts, als sich in Nordamerika eine zwar noch koloniale, aber dennoch mit eigenen Charakteristika versehene Gesellschaft herauszubilden begann, 33 deren eigenes Selbstverständnis von der Idee der Freiheit formiert wur31

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Vgl. zu den Diskussionen um die politischen Probleme der Freiheitssicherung im vorrevolutionären Amerika Bailyn, The Ideological Origins of the American Revolution, S. 59-67; S. 76-86. Boerner, The images of America in eighteenth century Europe, S. 325; Jantz, The Myths About America: Origins and Extensions, S. 40 f. Vgl. Dippel, Die amerikanische Revolution, S. 18-20.

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de. Mit der Kolonialisierung Nordamerikas gewinnt das amerikanische Selbstverständnis zusehends präzisere Umrisse, die sich in der Lebenspraxis ebenso wie in theoretischen Formulierungen und in politischen Programmen manifestieren. Die Idee der »Freiheit« tritt im Laufe dieser Entwicklungen ins Zentrum der Diskussionen, die um das Selbstverständnis der amerikanischen Gesellschaft geführt werden. Sie knüpfen an den europäischen Theoriehintergrund an, aber sie nehmen eigene Akzentuierungen vor. Die Vorstellung, daß die amerikanische Gesellschaft von ihren Anfängen an - und nicht erst sei dem Unabhängigkeitskrieg - auf liberalen Prinzipien fundiert sei, daß ihr gar ein »natürlicher Liberalismus« zugrunde liege,34 bildet das Zentrum der Auffassung von der eigenen Geschichte, die sich in den Vereinigten Staaten herausgebildet hat. Dieser Vorstellung werden die anderen Begriffe zugeordnet, die in der europäischen Naturrechtsdiskussion gleichursprünglich mit dem Freiheitsbegriff entwickelt wurden:35 Die Idee der Gleichheit ebenso wie das Prinzip des Individualismus und schließlich die Vorstellung von der Selbstverständlichkeit des Fortschritts erscheinen in der amerikanischen Diskussion als Funktionen der Freiheitsidee. Der im Laufe der Herausbildung des amerikanischen Selbstverständnisses entstandene Freiheitsbegriff hat freilich viele Facetten, die ihn deutlich von der entsprechenden europäischen und speziell der deutschen Auffassung unterscheiden. Der Begriff deckt mannigfache und oft auch heterogene inhaltliche Bestimmungen ab, entsprechend den divergierenden politischen und ökonomischen Interessen, die mit ihm verbunden werden und aus denen er hervorgegangen ist. 36 So wird »Freiheit« in der amerikanischen Tradition - anders als in der europäischen - vor allem negativ als Freiheit von politischen, religiösen und kulturellen Beschränkungen verstanden. Mit diesem Freiheitsbegriff ist der des Fortschritts untrennbar verbunden.37 Die Fortschrittsidee unterliegt einer Entwicklung, die weitgehend parallel zu der

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Vgl. Hartz, The Liberal Tradition in America, S. 1 4 - 2 0 . Zu diesen Ursprüngen vgl. Becker, The Déclaration of Independence, S. 2 5 - 7 9 ; bes. zu Locke, S. 6 2 - 74; Bailyn, The Ideological Origins of the American Revolution, S. 2 6 - 2 9 . Vor allem bei Locke sind die wesentlichen Elemente vorgeprägt, die in den amerikanischen Diskussionen um die Gesellschaftstheorie sich durchsetzten: Er zentriert die Problemstellung um die Frage nach der Freiheit des Individuums, die sich vor allem als die Freiheit zum Besitz von Eigentum und zum Streben nach Glück darstellt; in diesem Streben nach Eigentum und Glück ist auch die Fortschrittsidee angelegt, die bei Locke noch keine systematische Rolle spielt. Zu Lockes Anthropologie und ihren gesellschafts- wie staatstheoretischen Konsequenzen vgl. Strauss, Naturrecht und Geschichte, S. 2 4 4 - 260; Euchner, Naturrecht und Politik bei John Locke, S. 97; S. 101; S. 109-118; S. 193-209; Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus, S. 2 2 3 - 2 5 0 . Zur Entwicklung des amerikanischen »Freiheits«-Begriffs vgl. Blanke, Amerikanischer Geist, S. 122-162. Vgl. Marcuse, Amerikanisches Philosophieren, S. 100-104. - Schelbert hat in einem kleinen Aufsatz die »archetypischen« Strukturen des amerikanischen Selbstverständ-

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der amerikanischen Freiheitsvorstellung verläuft. Zunächst stellt sich »Fortschritt« auch in Amerika ganz im Sinne der europäischen Tradition dar: Mit der Gewinnung religiöser und politischer Freiheit durch die Loslösung vom englischen Mutterland hat die amerikanische Gesellschaft teil an jener europäischaufklärerischen Auffassung vom Fortschritt, die ihn als zunehmende politische und gesellschaftliche Emanzipation in geschichtsphilosophischen Dimensionen begreift.38 Von dieser Tradition löst sich der amerikanische Fortschrittsbegriff aber bald ab und gewinnt eigene Konturen. Er legt seine geschichtsphilosophischen Komponenten ab und erfahrt eine spezifisch »moderne« Transformation, durch die der Fortschrittsbegriff der europäischen Tradition reduziert wird. Diese Reduktion wird im Kontrast zu den Formulierungen greifbar, welche die Spätaufklärung gefunden hatte. Condorcet hatte in seiner 1795 erschienenen »Esquisse d'un Tableau historique des Progrès de l'Esprit humain« die Gedanken seiner Zeit auf den Begriff gebracht: Der »Fortschritt der Aufklärung«, so hieß es dort, sei verbunden »mit dem der Freiheit, der Tugend, der Achtung vor den natürlichen Rechten des Menschen«, und er werde schließlich dazu beitragen, »Vervollkommnung und Glück der Menschheit schneller herbeizuführen.«39 Der europäische Fortschrittsbegriff bleibt, zumindest in der Diskussion der Philosophen, auf diese Bestimmungen fixiert. Fortschritt heißt Fortschreiten der Kultur, der »civilisation« - im französischen Wortgebrauch - , der Humanität im Geiste der Vernunft und der Freiheit. Die Idee des Fortschritts spielt unter ausdrücklicher Berufung auf Condorcet und andere Aufklärer - bei der geistesgeschichtlichen Entwicklung des amerikanischen Selbstverständnisses eine tragende Rolle. Sie bot sich dafür an, weil in ihr die wesentlichen geschichtlichen Tendenzen der amerikanischen Entwicklung auf den Begriff gebracht und zusammengefaßt werden: die Errichtung einer »guten Gesellschaftsordnung« und die »Urbarmachung, Kolonisierung, eben Zivilisierung einer riesi-

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nisses skizziert. In seiner historischen Entwicklung - von den puritanischen Anfängen der ersten Siedler über die pietistisch inspirierten Ideen William Penns bis zu den aufgeklärten Vorstellungen der amerikanischen Revolution - ist es stets geprägt vom Muster eines Missionsdranges, dessen Variationen sich als Facetten der Fortschrittsidee darstellen lassen: ihr Zentrum ist der Anspruch einer Kultivierung der Wildnis und die Etablierung »göttlicher, menschlicher, vernunftgemäßer Ordnung«. Schelbert, >Americamanifest destiny< seinen Ausdruck fand«; Wagner, Das Bild Amerikas in der deutschen Presse von 1828 bis 1865, S. 318.

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Wenn der amerikanische Freiheitsbegriff untrennbar verbunden ist mit der Idee des Individualismus, so wird er in Deutschland fast durchgehend und am deutlichsten von Hegel immer nur als Verschränkung von Individuellem und Allgemeinen begriffen - bis hin zu einer Umdeutung, nach der er am Ende nur noch als Anerkennung der Notwendigkeit gedacht wird.54 Die philosophischen und gesellschaftstheoretischen Vorgaben, die dem deutschen Freiheitsbegriff diese spezifische Bestimmung verleihen, mischen der Vorstellung von bürgerlicher Freiheit von vornherein »ein Element des Autoritäten« bei.55 In diesem Rahmen stellt die Versöhnung der Freiheitsansprüche mit den staatlichen Instanzen der Macht und historisch gewachsenen gesellschaftlichen Strukturen kein grundsätzliches Problem dar, da eine Kongruenz beider Ansprüche von vornherein bei der Bestimmung des Freiheitsbegriffs mitgedacht wurde.56 Diese Besonderheit der deutschen Freiheitsauffassung verdankt sich einer langen Tradition. Theoriegeschichtlich ist die Kongruenz schon angelegt in der von Luther herrührenden und von Kant verbindlich formulierten Vorstellung, in der »Freiheit« mehr als »innere« denn als politisch-praktische gedacht wurde;57 realgeschichtlich ist sie in der spezifisch deutschen Variante des Modernisierungsprozesses verankert, in der die Modernisierung der Gesellschaft sich unter der bürokratisch organisierten Leitung staatlicher Instanzen vollzog, wie sie sich seit dem 17. Jahrhundert entwickelt haben.58 Aufgrund dieser fundamentalen Differenz der deutschen und amerikanischen Freiheitsauffassung mit allen ihren weitreichenden Konsequenzen für die konkrete Organisation der »modernen« Gesellschaft überlassen sich die deutschen Reisenden kaum einmal blind dem amerikanischen Selbstverständnis, das sich ihnen als uneingeschränkte Befürwortung von individualistisch definierter Freiheit und als ungehemmter Fortschritt darstellte. Ihre Wahrnehmungen und das Bild, das sie aus ihnen zusammenstellen, sind vielmehr geprägt von den Einschränkungen und Einwänden, die in Deutschland formuliert wurden. So sehr sie sich einerseits fasziniert zeigen von den Erfolgen der amerikanischen Gesell54 55 56

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Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1837; entstanden 1822 bis 1831), S. 57. Krieger, Europäischer und amerikanischer Liberalismus, S. 156. Vgl. Dipper, (Art.) Freiheit VII, S. 489. - Zu den Unterschieden des deutschen Freiheitsbegriffs in der Philosophie und Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts gegenüber dem amerikanischen vgl. Becker, The Declaration of Independence, S. 263-276; zu Hegel S. 271 f. (die hier Hegel zugeschriebene Formel »Die Weltgeschichte ist das Weltgericht« stammt allerdings aus Schillers Gedicht »Resignation«). Münch, Die Kultur der Moderne II, S. 775. - Zu der Besonderheit des amerikanischen Freiheitsbegriffs, der weniger abstrakt-theoretisch definiert denn als praktisch durchgesetzt im Alltag erfahrbar wird, vgl. Münch, Die Kultur der Moderne I, S. 369. Vgl. Münch, Die Kultur der Moderne II, S. 699 f. Diese Besonderheiten der deutschen Entwicklung setzen sich auch bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts fort; charakteristisch sind die Preußischen Reformen mit ihrem Versuch, den Zersetzungserscheinungen der Modernisierung durch angleichende staatliche Reformen zu begegnen; vgl. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 13.

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schaft im politischen, wirtschaftlichen und technischen Bereich, so sehr mißtrauen sie andererseits diesen Errungenschaften aus der Furcht vor jenen Folgen, wie sie in Deutschland tatsächlich aufgetreten sind oder aber auch nur theoretisch formuliert worden waren. Fast stets begeben sie sich auf die Suche nach den Schattenseiten der Modernisierung, häufig bieten sie eigene Lösungsvorschläge an, die dem deutschen Traditions- und Diskussionshintergrund entnommen sind, und nur selten akzeptieren sie die amerikanische Realität als ein Modell für die eigene. Aber nicht nur auf dieser theoretischen Ebene zeigen sich die Auswirkungen des eigenkulturellen Hintergrundes. Er prägt bereits das Reise- und Wahrnehmungsprogramm selbst. Das Interesse der Reisenden wird von vornherein programmiert durch die deutschen Probleme und die theoretischen wie praktischen Modelle zu ihrer Aufarbeitung. Die amerikanische Wirklichkeit wird nur wahrgenommen, soweit sie Ansatzpunkte für die in Deutschland vorformulierten Probleme bietet. Das erklärt die spezifischen und oft eigenartig anmutenden Interessen bei der Auswahl der Besichtigungsobjekte, die häufig noch Elemente jener utilitaristisch orientierten Tradition des Reisens zeigt, wie sie die Aufklärung entwickelt hatte. Sie wies dem Reisenden nicht nur die Aufgabe der Besichtigung und Beschreibung der Wirklichkeit zu, sondern sie forderte ihm die Feststellung konkreter Mißstände und die Entwicklung von Lösungsvorschlägen im Sinne der sozialpolitischen Denkmodelle des aufgeklärten Absolutismus ab. 59 Das Wahrnehmungs- und Erklärungsmodell der Reisenden bleibt zudem stark geprägt von den Denkschemata, mit denen in Deutschland soziale und politische Wirklichkeit erklärt wurde. Diese Schemata werden durch die Wahrnehmung der fremden Wirklichkeit und die Rezeption des fremden Selbstverständnisses oft überlagert, nie aber verdrängt. Stets kehren die aus Deutschland vertrauten Probleme und ihre Lösungsmodelle und Erklärungsversuche sozialer Phänomene in den Wahrnehmungen und Urteilen der Reisenden wieder. Die Eindämmung der Folgen des Modernisierungsprozesses ist ihr Hauptanliegen, und dafür bieten sie in der Regel konservative Modelle an, die den Folgen des Fortschritts durch den Rückgriff auf jene gewachsenen Strukturen begegnen wollen, wie sie aus der deutschen Tradition vertraut sind. Erst vor diesem Hintergrund einer in ihren wesentlichen Zügen konservativ geprägten deutschen Selbstauslegung der Moderne werden die Wahrnehmungsund Beschreibungsmodelle wie auch die Interpretationsversuche verständlich, mit denen die Reisenden der amerikanischen Wirklichkeit begegnen. In der Amerikaliteratur setzen sich die theoretischen und philosophischen Entwürfe der Modernisierungstheorien in die kleine Münze von Alltagserfahrung und -beschreibung um; in den Texten lassen sich dabei die Grundmotive wiedererkennen, welche in den theoretischen Modellen beschrieben werden. Erst aus der 59

Vgl. Jäger, Reisefacetten der Aufklärungszeit, S. 2 7 5 - 2 7 7 . Zur Diskussion um das »prodesse« in der Reisetheorie der Aufklärung vgl. Stewart, Die Reisebeschreibung und ihre Theorie im Deutschland des 18. Jahrhunderts, S. 194-199.

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Spannung der gegenläufigen Erfahrungen, die den Modernisierungsprozeß als Fortschritt wie als Verfall gleichermaßen begreifen oder erleben, lassen sich die deutschen Amerika-Reaktionen des 19. Jahrhunderts verstehen. Diese Spannungen sind der Grund dafür, daß sich die Erfahrungen nicht mehr zu einem einheitlichen Amerika-»Bild« zusammenfügen. Die Texte geben nicht einfach das Abbild der eigenen oder der fremden Kultur, sie sind vielmehr eingebettet in einen historischen Prozeß von säkularen Ausmaßen: in den Prozeß der Modernisierung.

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KAPITEL I

Die Erfahrung der Wirklichkeit: Amerika und die Amerikaner

1. Die erste Begegnung: Ankunft in Amerika Der erste Eindruck des deutschen Reisenden von Amerika ist die Erfahrung der Großstadt. Die transatlantischen Seefahrtslinien enden in den großen Häfen des Ostens; die Weiterfahrt führt meist über Cincinnati, Chicago oder St. Louis.1 Die Konfrontation mit der Großstadt, insbesondere mit New York, wird dadurch unvermeidlich; 2 die Erfahrungen mit ihr aber sind unterschiedlich. Das ergibt sich aus den verschiedenen Intentionen und Situationen der Reisenden: Für den Auswanderer ist die Großstadt meist nur ein Durchgangsstadium, das er bei seiner Reise in den Westen schon aus finanziellen Gründen möglichst schnell hinter sich bringen muß; nur wenige, darunter besonders die politischen Emigranten, werden in den Städten seßhaft und können längerfristige Erfahrungen sammeln. Wieder anders verhält es sich mit den Wissenschaftlern und Touristen. Ihnen wird die Stadt zum Gegenstand mehr oder weniger flüchtiger, aber jedenfalls gezielter Beobachtungen, die nicht durch die Aussicht getrübt werden, hier möglicherweise auf Dauer leben zu müssen. Der erste Eindruck von den amerikanischen Hafenstädten wird von fast allen Reisenden auf die gleiche Weise und mit fast den gleichen Worten beschrieben, wobei sich die Wahrnehmungsformen während des Jahrhunderts kaum ändern. Es dominiert das Gefühl überwältigender Großartigkeit. Ein frühes Zeugnis dieser Erfahrung gibt Gall, der 1819 dort ankommt. Schon vom Schiff aus verzeichnet er die unvergleichlichen Dimensionen der Hafenstadt: So wie wir jetzt um die südwestliche Spitze von Long=Island bogen und die weite Bay von New=York in aller ihrer Pracht uns aufnahm, lag die zweite Handelsstadt der Welt, von einem Walde von Masten umgeben, in ihrer ganzen Unermeßlichkeit vor uns. [...] Der Anblick von New=York ist einzig.3

Es ist symptomatisch für diese Schilderung eines ersten Eindrucks, daß sie sich nicht auf die Mitteilung der unmittelbaren Wahrnehmung beschränkt, sondern daß in sie auch theoretische Vorkenntnisse mit eingehen. Der Eindruck von der 1

2

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Vgl. die Einwanderungsstatistik der Häfen New Yorks, Bostons, Philadelphias und New Orleans' bei Coleman, Going to America, S. 159. Zur ersten Begegnung der deutschen Auswanderer mit New York vgl. auch Bretting, Die Konfrontation der deutschen Einwanderer mit der amerikanischen Wirklichkeit in New York City im 19. und 20. Jahrhundert, S. 247. Gall, Meine Auswanderung nach den Vereinigten=Staaten in Nord=Amerika (1822) II, S. 3.

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einzigartigen Größe der Stadt gründet sich wohl nicht zuletzt auf dem Wissen, daß es die »zweite Handelsstadt der Welt« ist, in deren Hafen das Schiff einläuft. 4 Durch solches Vorwissen werden die Erwartungen geprägt; und wenn die Realität diese Erwartungen übertrifft, so haben sie den Reisenden doch vorbereitet auf die Wahrnehmung bisher unbekannter Dimensionen. Dieser neuen Erfahrung gibt er sich nicht uneingeschränkt hin. Er ist bemüht, sie mit Erscheinungen zu vergleichen, die an das aus Europa Vertraute erinnern. Der Blick schweift nicht über das für europäische Augen unermeßliche Panorama des New Yorker Hafens, sondern er richtet sich zunächst auf das Detail, das anheimelnder wirkt: »Je näher man kommt, desto malerischer und freundlicher werden ihre Umgebungen. Long= Island dehnt sich zu einer wallenden Ebene empor, geschmückt mit zwei stattlichen Dörfern, und unzähligen netten und geschmackvollen Landhäusern.« 5 Die Epitheta zeigen, worauf es hier ankommt: Gesucht wird die freundliche, nette, geschmackvolle Einzelerscheinung, die einen Kontrast bietet zum monumentalen Gesamteindruck. Ganz ähnlich geht es anderen Reisenden, die ebenfalls die harmonische Natur und ein friedliches Landleben suchen, nachdem sie sich vom ersten Eindruck haben lösen können. In seinem nicht zur Veröffentlichung bestimmten Reisetagebuch demonstriert Gerstäcker, wie sehr seine Wahrnehmung bestimmt ist von den Landschaftserfahrungen seiner provinziellen Herkunft: Der Anblick des im jungen Grün prangenden Landes mit üppigen Wäldern und köstlichen Gebäuden besäet, rechts und links die Forts zur Beschützung des Hafens, über uns den freundlich blauen Himmel, unter uns die nur leise plätschernden Wogen, Mutter da ging mir das Herz auf. 6

Von diesem Zwang zur Reduktion der Wahrnehmung auf das Vertraute ist aber nicht nur Gerstäcker nicht frei; selbst ein so welterfahrener Reisender wie Carl Schurz stellt bei seiner Ankunft fest, daß er in »eine Welt von Glück und Frieden« einfährt, die mit ihren »behäbigen Landhäusern, grünen Rasenflächen und schattigen Baumgruppen ein reizendes Bild von Behaglichkeit und Zufriedenheit« bietet.7 Aus solchen Passagen geht hervor, wie schwer die Wahrnehmung neuer Dimensionen den Reisenden gefallen sein muß. So sehr sie sich durch mehr oder weniger präzise erwartungskonstituierende Vorkenntnisse auf die neue Wirklichkeit einzustellen versuchten - ihre Wahrnehmungsmöglichkeiten zeigen sich der Wirklichkeit nicht gewachsen, so daß der Blick am Vertrauten haften bleibt, so lange das möglich ist. Der erste Eindruck von Amerika - noch vom Schiff 4

Vgl. entsprechend Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika und Westindien (1848) I, S. 14. 5 Gall, Meine Auswanderung nach den Vereinigten=Staaten in Nordamerika (1822) II, S. 4. 6 Gerstäcker, Reise von Leipzig nach New York (1837), S. 42. Einen enttäuschenden Anblick bietet dem Reisenden dagegen die Ankunft an der Mississippi-Mündung und im Hafen von New Orleans; vgl. Gerstäcker, Nach Amerika! (1855) III, S. 20f. 7 Schurz, Lebenserinnerungen II (1907), S. 2.

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aus - folgt tradierten Wahrnehmungsmustern. Die Hoffnungen auf Amerika scheinen sich zu erfüllen angesichts einer aus der Ferne wahrgenommenen Landschaft, die Frieden und Behaglichkeit verspricht. Die arkadische Landschaft verschleiert zunächst die Fremdheit einer Wirklichkeit, die sich in ihrer ganzen Struktur von der europäischen unterscheidet.

2. Die Stadt als Symbol des Fortschritts Dieser Erfahrung können die Reisenden jedoch nicht lange ausweichen. Mit dem Betreten der Stadt verliert die Realität ihre idyllischen Züge, und die Wahrnehmung wird mit Erscheinungen konfrontiert, für die ihr jedes Vorbild fehlt. Auch hier ist es zunächst wieder die Großartigkeit der Anlage New Yorks, die dem Reisenden als erstes ins Auge sticht: Ich suchte nun in die schönste Straße, den broad way zu gelangen, und mein Erstaunen wuchs auf die höchste Stufe, als ich hier eine Straße erblickte, so schön ich noch keine in Europa sah, und die auf das Reichste mit Gas beleuchtet, und mit Tausenden auf das Eleganteste geputzten Leuten zu beiden Seiten der schönen breiten Trottoirs, auf denen 6 Personen bequem nebeneinander gehen können, angefüllt war. Als ich endlich die beinahe unzählige Menge von Gewölben gewahrte, die wegen Fülle [sie!] der ausgesuchtesten Gegenstände aus der ganzen Welt, die auf das Prachtvollste dem Auge zur Schau gestellt sind, alles bisher in dieser Art Gesehene beinahe zu Nichts machte, und als ich, nach 3/4 stündigem Wandeln, noch immer kein Ende der Straße erblicken konnte, so ward ich vollends von Bewunderung voll.8

Der Versuch, diese Wirklichkeit wenigstens in Relation zu setzen zu bekannten Dimensionen, scheitert; es bleiben schließlich nur noch Superlative, die die Überwältigung ausdrücken. Auch der Vergleich mit den großen europäischen Hafen- und Handelsstädten hält nicht stand; selbst ihnen gegenüber erscheint alles »im großartigsten Maasstab«.9 Mit dem beeindruckenden Anblick der Stadt wird den Reisenden die Bedeutung Amerikas sinnlich erfahrbar; sie sehen in ihr das Symbol für den unaufhaltsamen Fortschritt der Vereinigten Staaten zur Weltmacht. Die Städte sind die Zentren von Handel und Gewerbe und damit die Garanten der wirtschaftlichen Zukunft des Landes; in ihnen zeichnet sich auch - ohne daß die meisten Betrachter sich das recht bewußt machten - der Übergang von einer agrarischen zu einer industriellen Wirtschaftsweise ab. Die Stadt taugt zum Signum des Fortschritts, weil in ihr dessen zeitliche Dimension fast handgreiflich wird: »Das schnelle Wachsthum der Stadt ist staunenswerth«, schreibt Ziegler bei einem Besuch Cincinnatis, »neue Stadtheile und Straßen bilden sich und neue Häuser erheben sich täglich.«10 Ziegler kontrastiert die »reizende Stadt von 100,000 Einwohnern« mit dem ursprünglichen Zustand der Gegend, »wo sich 8 9 10

Löwig, Die Frei=Staaten von Nord=Amerika (1833), S. 41 f. Baumbach, Briefe aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika (1851), S. 19. Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika und Westindien (1848) II, S. 126.

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vor 55 Jahren noch ein dichter Urwald verbreitete, in dem der Pfeil des Indianers schwirrte«;11 und er führt sich damit die enorme Geschwindigkeit des Entwicklungsprozesses vor Augen. Für deutsche Verhältnisse sind solche Entwicklungen unfaßbar, so daß die Autoren sich immer von Neuem bemühen, dem Publikum den »richtigen Begriff« von der »Großartigkeit der amerikanischen Städte=Gründungen und von dem unglaublichen Wachsthum solcher neuen Städte« zu vermitteln,12 indem sie etwa auf das »beispiellose Wachsthum New Yorks«, verweisen, das die großen europäischen Metropolen in den Schatten stellt.13 Der Faszination durch ihre Beobachtungen können sich die Reisenden nicht entziehen; allerdings fallen bei der Bewertung des Phänomens die Urteile etwas differenzierter aus: Was die einen feiern als Signum einer neuen Epoche der Weltgeschichte, erscheint den anderen als Beginn einer bedrohlichen Zerstörung traditioneller Lebensformen. Euphoriker wie Skeptiker teilen die Neigung zum Überschwang in ihren Urteilen. Das ist leicht erklärlich: Die erste Begegnung mit der amerikanischen Stadt ist - auch wenn sie nur auf dem Papier, bei der Lektüre von Reiseberichten oder von wissenschaftlich-geographischen Darstellungen erfolgt - überwältigend, da in aller Regel vergleichbare Erfahrungsmöglichkeiten aus Deutschland fehlen. Die Diskrepanz zwischen der gewohnten provinziellen oder allenfalls kleinstädtischen Lebensform in Deutschland und den amerikanischen Großstädten ist vor allem für den überwältigenden Eindruck verantwortlich, den der Ankömmling empfindet. Im Deutschland des 19. Jahrhunderts bot sich ihm kaum eine Gelegenheit, sich auf solche Erfahrungen vorzubereiten. Um die Jahrhundertmitte gab es im deutschsprachigen Raum fünf Großstädte mit mehr als hunderttausend Einwohnern; 1816 lebten in Preußen rund drei Viertel der Bevölkerung in Gemeinden mit einer Größe von weniger als 2000 Einwohnern. Als erste deutsche Großstadt im modernen Sinne entwickelte sich - freilich schon seit dem Beginn des Jahrhunderts - Berlin; während die meisten andern Städte fast bis zum letzten Jahrhundertdrittel ihren kleinstädtischen Charakter bewahrten. Diese Entwicklungstendenzen beim Prozeß der Verstädterung verdeutlichen, daß das Bewußtsein der deutschen Bevölkerung bis weit in die zweite Jahrhunderthälfte hinein überwiegend von ländlich-provinziellen Lebensformen geprägt sein mußte.14 Aber auch die Bewohner der größeren Städte hatten kaum Gelegenheit, Urbane Bewußtseins-, Wahrnehmungs- und Lebensformen zu entwickeln, denn nicht nur der Prozeß der Urbanisierung vollzog sich schleppend, sondern auch die Herausbildung " Ebd., S. 125. 12 Pauer, Die Vereinigten Staaten von N o r d a m e r i k a (1847), S. 83. 13 Wagner, Ein Achtundvierziger (1882), S. 389. Zur Faszination der deutschen Presseberichterstattung durch das amerikanische Städtewachstum vgl. Thaller, Studien zum europäischen Amerikabild, S. 53. 14 Vgl. Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, S. 27-32 und S. 40-49. Weiterhin Rürup, Deutschland im 19. Jahrhundert, S. 32f.; Heiligenthal, Deutscher Städtebau, S. 78; Borchardt, Die Industrielle Revolution in Deutschland, S. 170.

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moderner städtebaulicher Strukturen hatte mit Schwierigkeiten zu kämpfen, die diesen Prozeß verzögerten. Die Urbanisierung entwickelt sich regional ungleichmäßig, da sie abhängig ist vom industriellen Aufschwung, der sich auf einige Regionen konzentrierte, während traditionelle gewachsene Zentren davon oft unbetroffen bleiben.15 Zugleich führte das auf Privatinitiativen zurückgehende, nur von wenigen administrativen und rechtlichen Vorgaben gelenkte und durch äußere Zwänge oft überstürzte Wachstum einerseits zur Zerstörung alter Strukturen und verhinderte andererseits die Orientierung an umfassenden städtebaulichen Konzeptionen, die über eine Befriedigung der unmittelbaren praktischen Bedürfnisse hinausgegangen wäre.16

3. Großstadterfahrungen: Der Mensch in der Masse Beide Erscheinungen, die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung und eine unkontrollierte Expansion, die keine homogenen städtebaulichen Strukturen hervorbrachte, trugen zur Verzögerung bei der Herausbildung städtischer Lebens- und Bewußtseinsformen bei, die bis zur Wende zum 20. Jahrhundert sichtbar bleiben. Vor allem zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist der Entwicklungsrückstand enorm und erinnert im Rückblick an mittelalterliche Verhältnisse.17 In den Städten der Provinz ebenso wie in jenen, die nach ihrer Einwohnerzahl als »Großstädte« zu charakterisieren wären, dominiert der ländliche Charakter; »die Bevölkerung lebte zum guten Teile von Landwirtschaft und Gartenbau.« 18 Das öffentliche Leben auf den Straßen ist von einer provinziellen Geruhsamkeit geprägt. Der Verkehr ist unentwickelt, da die Einheit oder die Nähe von Wohnung und Arbeitsplatz ebenso wie die geringe Bevölkerungszahl ein entsprechendes Bedürfnis noch nicht hatte entstehen lassen; die Straßen sind fast leer, allenfalls bevölkert von einzelnen Kutschen oder Dienstboten, und sonntags von Kirchgängern und spazierenden Familien; nachts werden die Stadttore geschlossen und das öffentliche Leben erlischt vollends. Auch fehlen den Straßen die optischen Reize, wie sie später hervorgerufen werden durch die Ausstellungen und die Werbung der Geschäfte: Das »öffentliche Leben in den Großstäd-

15

Die wichtigsten Industriezentren in Deutschland um 1800 nennt Möller, Epoche - sozialgeschichtlicher Abriß, S. 16; vgl. auch Heiligenthal, Deutscher Städtebau, S. 77. 16 Eine systematische Stadtplanung setzte in Deutschland erst in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts ein; vgl. Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, S. 50 und S. 56-62. Vgl. weiterhin Albers, Städtebau und Menschenbild, S. 228-233; Wurzer, Die Gestaltung der deutschen Stadt im 19. Jahrhundert, S. 26; Heiligenthal, Deutscher Städtebau, S. 92 f.; zu den privatwirtschaftlichen Impulsen vgl. Hartog, Stadterweiterungen im 19. Jahrhundert, S. 56-58. 17 Wurzer, Die Gestaltung der deutschen Stadt, S. 9; vgl. Auch Nipperdey, Deutsche Geschichte^. 133 f. 18 Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im Neunzehnten Jahrhundert, S. 14.

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ten kann man im Vergleich mit dem heutigen fast als abgestorben bezeichnen.«19 Wenn Heinrich Heine in seinen Briefen aus Berlin 1822 knapp notiert: »Berlin ist ein großes Krähwinkel«, dann trifft er damit prägnant den Stadtcharakter sowohl in bezug auf seine physische wie auch geistige Physiognomie.20 Auch andere Beobachter schildern die preußische Hauptstadt in der Zeit vor der Jahrhundertwende als das »bescheidene, harmlose, fröhliche, glückliche, kleinstädtische Berlin.«21 Berlin hat fast während des ganzen Jahrhunderts provinzielle Züge behalten, wenn auch im Verlauf der zweiten Jahrhunderthälfte sich großstädtische Charakteristika stärker ausprägten. Bis gegen Ende des Jahrhunderts fehlt jedoch in den deutschen Großstädten - und das gilt auch für Wien, als der fortgeschrittensten unter ihnen - die großstadtspezifische Erscheinung schlechthin: die Masse. Die anderen europäischen Großstädte, London oder Paris, sind in ihrem Erscheinungsbild geprägt von der Bewegung der Menschenmasse auf den Straßen, die sich »als amorphe Menge der Passanten«, als »Straßenpublikum« darstellt.22 Solche »amorphen« Massen treten in den deutschen Städten nicht auf. Wenn Heine etwa in seinen »Briefen aus Berlin« ein »furchtbares Menschengewühl auf dem Schloßhofe« beschreibt,23 dann handelt es sich eben nicht um eine ungegliederte, sondern um eine auf ein bestimmtes Ereignis - in diesem Fall eine königliche Vermählungsfeier - fixierte und insofern homogene Masse. Auch andere Formen von Menschenmengen haben in den deutschen Städten nicht das Gepräge der modernen Großstadtmasse, die gekennzeichnet ist durch die Hast der Bewegung und das uneinheitliche äußere Erscheinungsbild. Die Menschenmenge in den deutschen Städten tritt anders auf: Als Spaziergänger an »schönen Sonn- und Feiertagen« in Berlin etwa,24 wobei die Masse unter dem Zeichen der Muße, nicht alltäglichen geschäftlichen Verkehrs, steht. Erst seit der Jahrhundertmitte häufen sich die Belege dafür, daß etwa Berlin auch in dieser Beziehung großstädtischen Charakter gewinnt, der aber in der Literatur allenfalls beiläufig vermerkt wird. Vor allem fehlt den deutschen Autoren dieser Zeit die Erfahrung der Menschen»Masse«, und wo sie ihnen entgegentritt, finden sie keine angemessenen Formen zu ihrer Wahrnehmung und Darstellung. Daß es dieses Phänomen etwa im industrialisierten Berlin Fontanes schon gegeben hat,25 belegen die sozialhistorischen Daten zur Entwicklung der Stadt in den Gründeijahren: »Berlin wurde 19

Stutzer, Die Deutschen Großstädte, S. 61. Stutzer gibt eine sehr plastische Beschreibung des städtischen Lebens in dieser Zeit; vgl. ebd., S. 57-63; ebenso Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im Neunzehnten Jahrhundert, S. 14-21. 20 Heine, Briefe aus Berlin (1822), S. 23. 21 Bauer, Aus meinem Bühnenleben (21876),S. 179f. 22 Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, S. 618. 23 Heine, Briefe aus Berlin (1822), S. 49. 24 Bauer, Aus meinem Bühnenleben (21876), S. 180. Vgl. auch Heine, Briefe aus Berlin (1822), S. 15f. 25 Zur literarischen Verarbeitung von Berlin-Erfahrungen vgl. etwa Dronke, Berlin (1846), S. 14; Fontane, Stine (1890), S. 555; Fontane, Irrungen, Wirrungen (1888), S. 414.

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zur Industriestadt, wo die Hälfte der Bevölkerung in Werkhallen und Fabriken arbeitete.«26 Die reale Situation wird jedoch in der Literatur der Zeit kaum registriert; symptomatisch ist die Idyllisierung dieses Vorgangs bei Fontane, bei dem die Arbeiter einer Fabrik in ihrer Mittagspause als »Gruppe« - nicht etwa als Masse - »glücklicher Menschen« erscheinen.27 Den deutschen Autoren sowohl der fiktionalen wie der Reiseliteratur fehlt die Erfahrungsgrundlage für Großstadtbeschreibungen; nur jene Autoren, die Paris oder London besucht hatten - wie am Ende des 18. Jahrhunderts Lichtenberg28 - entwickeln ein Sensorium dafür. Wie fremd aber dem deutschen Beobachter noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts die großstädtische Menschenmasse bleibt, zeigt die abwehrende Reaktion Friedrich Engels' auf seine Londoner Eindrücke: Und doch rennen sie aneinander vorüber, als ob sie gar nichts gemein, gar nichts miteinander zu tun hätten, und doch ist die einzige Ubereinkunft zwischen ihnen die stillschweigende, daß jeder sich auf der Seite des Trottoirs hält, die ihm rechts liegt, damit die beiden aneinander vorbeischießenden Strömungen des Gedränges sich nicht gegenseitig aufhalten; und doch fallt es keinem ein, die andern auch nur eines Blickes zu würdigen.29

Engels verarbeitet die Erfahrung reflexiv, indem er sie in einen sozialkritischen Gedankengang einarbeitet und sie somit auf Distanz hält: Das Verhalten der Menschen in der großstädtischen Masse wird ihm zum Beleg für die »brutale Gleichgültigkeit, die gefühllose Isolierung jedes einzelnen auf seine Privatinteressen«30 und fügt sich damit in das theoretische Modell, mit dem er den englischen Kapitalismus erfassen will: Die Verwirrung der Sinne wird durch die Reflexion rückgängig gemacht. Eine solche Abwehrhaltung läßt die Anforderungen erkennen, die an den Betrachter der großstädtischen Masse gestellt werden. Sie zeigt zugleich, wie wenig der deutsche Beobachter aufgrund seines eingeschränkten Erfahrungshorizontes auf die Bewältigung dieser Anforderungen vorbereitet war. Das gilt erst recht für den Ankömmling in Amerika. Eine Abwehr durch Distanzierung und literarische Stilisierung ist ihm nicht möglich. Die Amerikareisenden werden bei ihrer Ankunft in den Großstädten mit der Menschenmasse und den optischen wie akustischen Reizen unmittelbar konfrontiert und können sich nur in Ausnahmefällen auf die neutrale Position eines Beobachters zurückziehen. Engels' Stadterfahrung ähnelt in mancher Beziehung der der Amerikareisenden. Anders als Literaten wie Hoffmann oder Stifter31 können sie sich der Auseinander26 27 28

29 30 31

Daviet, Die Gesellschaft und ihre Gruppen, S. 196. Fontane, Irrungen, Wirrungen (1888), S. 405. Vgl. Wuthenow, Die Entdeckung der Großstadt in der Literatur des 18. Jahrhunderts, S. 21 f.; Wülfing, Reiseliteratur, S. 191 f. Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1845), S. 257. Ebd.; vgl. auch Schultz, Angst - Gewühl - Versicherung, S. 97 f. Stifter, Aus dem alten Wien (zuerst u. d.T.: Wien und die Wiener in Bildern aus dem Leben, Pest 1844), S. 2 0 - 5 0 ; HofTmann, Des Vetters Eckfenster (1822). Zur Stadter-

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Setzung mit der Erfahrung nicht durch Distanzierung und literarische Stilisierung entziehen; sie können sich aber auch nicht vorhaltlos auf sie einlassen, weil ihnen alle Voraussetzungen zu ihrer Verarbeitung fehlen. Ihre Berichte lassen das schockartige, sinnverwirrende Erlebnis ahnen, das die Begegnung mit der Großstadt bei ihnen hervorgerufen haben muß; ein Eindruck, der durch die wochenlange Eintönigkeit der Schiffsreise verstärkt wurde:32 Ich betrat eine der schönsten Straßen von Philadelphia, die Murberry Straße, welche mit prachtvollen Häusern verzieret, breit und schnurgerade durch die Stadt läuft. In allen Häusern ziehen herrliche Verkaufsläden - Stören - meine Blicke an; munteres Getümmel herrscht überall. Leicht und reinlich gekleidete Männer, Mädchen und Frauen, leichte ätherische Gestalten, drängen sich durch die Straßen; schwarze Gesichter grinsen mir entgegen, häßlich für den, der sich an ihre Gesichtszüge und Farbe noch nicht gewöhnt hat. Ich glaubte einen interessanten Traum zu träumen.33

Der Reisende hat sich darauf eingestellt, die auf Amerika gesetzten Hoffnungen sogleich bestätigt zu sehen, und er vermerkt deshalb zunächst nur die »ätherischen Gestalten« - ganz ähnlich wie etwa Gall, für den die Volksmenge am Kai von New York aus »wohlgewachsenen, heiter und sorgenfrei aussehenden« Gestalten besteht, so daß er »in das Land der Glücklichen« gekommen zu sein glaubt.34 Diese Glorifizierung dürfte der Wirklichkeit selbst kaum entsprochen haben; beide Autoren werden sehr bald eines Schlechteren belehrt. Ihr Versuch jedoch, die Wirklichkeit entsprechend den eigenen Erwartungen zu idealisieren, läßt sich begreifen als Reaktion auf das Fremde, dem seine Bedrohlichkeit ebenso wie überhaupt seine Fremdartigkeit genommen werden soll. Dieser erste Versuch einer Verarbeitung der Erfahrung des Neuen durch seine Idealisierung wird ergänzt durch einen zweiten, der eine Uniformierung des Wahrgenommenen vornimmt, um ihm seine unfaßbare Vielfältigkeit zu nehmen. Benjamin hat dieses Verfahren anhand von Poes Erzählung »The Man in the Crowd« beschrieben: Es ist der Versuch, die Menge mit Gleichförmigkeiten zu behaften; »Gleichförmigkeiten der Kleidung und des Benehmens, nicht zuletzt Gleichförmigkeiten des Mienenspiels.«35 Als Franz Löher 1854 über seine »ersten amerikanischen Eindrücke« berichtet, bedient er sich ebenfalls dieses Mittels, um seiner Eindrücke Herr zu werden: Auffallend war mir auch, daß die Leute einander so ähnlich sahen. Das war hier wirklich ein eigentümlich amerikanisches Gesicht, welches auf den meisten Schultern saß, von länglich eckiger Form, die Farbe gelb und bräunlich, und selten fehlte ein besonderer Zug von Kraft, Laune und Verschmitztheit.36 fahrung bei den deutschen Schriftstellern des frühen 19. Jahrhunderts vgl. Riha, Die Beschreibung der »Großen Stadt«, S. 136-142; Trautmann, Die Stadt in der deutschen Erzählungskunst des 19. Jahrhunderts (1830-1880), S. 23 f. 32 Vgl. Ellmers, Die Situation in den USA, S. 64. 33 Streckfuss, Der Auswanderer nach Amerika (1836), S. 19. 34 Gali, Meine Auswanderung nach den Vereinigten=Staaten in Nordamerika (1822) II, S. 6. 35 Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, S. 631. 36 Löher, Erste amerikanische Eindrücke (1854), S. 22.

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Ganz ähnlich sieht Carl Schurz in der Menschenmenge New Yorks eine »überraschende Ähnlichkeit der Menschen sowohl in Zügen und Ausdruck wie im Anzug, obgleich sie verschiedenen Gesellschaftsklassen angehören mußten.«37 Bei solchen Bemerkungen handelt es sich um Stilisierungen, mit denen die Wahrnehmung eines unvertrauten Phänomens erleichtert werden soll; daß sie kaum der Wirklichkeit entsprochen haben dürften, zeigt die Feststellung eines anderen Reisenden: »ich bemerke keinen augenfälligen Unterschied. Nach Gesichtszügen und Gestalt sieht man alle möglichen Formen durch einander.«38 Solche Versuche, der amorphen Menge, die sich dem Neuankömmling als »ein Gewühl von Menschen« darstellt,39 ein homogenes Erscheinungsbild zuzuschreiben, zeigen eine Wahrnehmungsunsicherheit, die aus dem Mangel an entsprechenden Erfahrungsmöglichkeiten in Deutschland herrührt.

4. Die Architektur der Stadt: Romantik gegen Rationalismus Ebenfalls bedingt durch den andersartigen Erfahrungshorizont ist die erstaunte Aufmerksamkeit, die die Deutschen der amerikanischen Stadtarchitektur widmen: Fast allen fallt das geometrische Erscheinungsbild des Grundrisses auf. Schon Bollmann vermerkt lapidar über Fredericktown: »Der Ort ist regulär gebaut.«40 Kaum ein Reisebericht läßt sich diese Beobachtung entgehen; immer wieder wird festgestellt, daß »die Städte sehr regelmäßig mit breiten, ganz gerade und horizontal laufenden Straßen, welche durch andere senkrecht auf sie stoßende durchschnitten, angelegt sind«.41 Wenn schon für die Kleinstädte gilt, daß ihre Straßen »breit, regelmäßig« und der »Ort großartig angelegt« ist,42 dann können dies die Reisenden erst recht in den größeren Städten beobachten. Als Duden in Baltimore ankommt, will er zwar ausdrücklich auf eine ausführlichere Beschreibung der Stadt verzichten, vermerkt aber gleichwohl die »Regelmäßigkeit und Reinlichkeit der Straßen«.43 Die entsprechende Beobachtung drängt sich erst recht den Besuchern Philadelphias und New Yorks auf: Folien berich37 38 39

40 41 42 43

Schurz, Lebenserinnerungen II (1907), S. 4. Wislicenus, Aus Amerika (1854) I, S. 76. So in einem Auswandererbrief von 1856; »Amerika ist ein freies Land ...«, S. 59. Ansonsten wird dieses Problem der Großstadterfahrung in Auswandererbriefen kaum thematisiert. Die Auswanderer beschränken sich, sofern sie überhaupt auf spezifische Großstadterscheinungen eingehen, in der Regel auf eine Beschreibung der unmittelbaren praktischen Probleme, die sich ihnen bei der Ankunft stellen. Die Thematisierung der Großstadtphänomene bleibt weitgehend eine Domäne der publizierten Reiseberichte, deren Autoren nicht durch die Befriedigung praktischer Lebensbedürfnisse absorbiert wurden. Bollmann, Ein Lebensbild aus zwei Welttheilen (1880), S. 274. Baumbach, Briefe aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika (1851), S. 90. Ostermayer, Tagebuch einer Reise nach Texas (1850), S. 54. Duden, Bericht über eine Reise nach den westlichen Staaten Nordamerika^ (1829), S. 17.

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tet, daß Philadelphia »sehr regelmäßig gebaut« sei,44 ebenso wie Ziegler feststellt, daß es sich hier um eine der »reinlichsten und regelmäßigsten« Städte handele, deren Straßen »sehr lang und schnurgerade« seien.45 Herzog Bernhard bescheinigt New York, daß es »theilweise regelmässig« und Baltimore, daß es »sehr regelmässig gebaut« sei. 46 Die Häufung solcher - meist beiläufiger - Bemerkungen kommt nicht von ungefähr. Ein Vergleich mit den deutschen Städten läßt den Grund erkennen, warum den Deutschen das Phänomen so auffallig ist. Als Börnstein nach einem langen Amerika-Aufenthalt - als amerikanischer Konsul übrigens - im Jahre 1861 wieder nach Bremen zurückkommt, vermerkt er als erstes die Diskrepanz zur amerikanischen Stadtarchitektur: Minder freundlich war der Eindruck, den die Stadt Bremen mit ihren engen krummen Gassen, ihren vielen kleinen alten Giebelhäusern, dem überall noch hervorguckenden mittelalterlichen Zopfe und dem noch nicht ganz abgestreiften Kleinstädterthume auf mich machte, der ich in Amerika an freien, breiten Raum, an Ausdehnung und Fortschritt, kurz an das >Go-ahead-von einem bösen Geist - nicht im Kreis, sondern im Viereck herum geführte Ich gehe stundenlang in der Stadt herum und bemerke nicht, daß ich von der Stelle komme. Jede Straße wiederholt die vorhergehende, jedes Quarre von Häusern ist wie ein Feld im Schachbrett allen übrigen gleich. Berlin und Mannheim sind mit wahrhaft orientalischer Phantasie gebaut gegen die stocksteife Einförmigkeit von Philadelphia. Die Häuser, die Bäume, die Gesichter könnten aus einer Schneidemaschine herausgefallen sein, so fabrikmäßig uniform ist Alles einander.57

Gegen diese modern-rationalistische amerikanische Wirklichkeit setzen die deutschen - und auch die Schweizer - Reisenden ihr romantisches Ideal einer engen, verwinkelten, krummen Stadtarchitektur: Ganz im Gegensatz etwa zum Deutsch-Amerikaner Börnstein sehnt sich Ziegler nach den kleinen deutschen Städten zurück. Boston wirkt auf ihn besonders einheimelnd, weil es ganz unamerikanisch angelegt ist mit seinen »unregelmäßigen, krummen Straßen«, seiner »Mannigfaltigkeit der Häuser«, mit dem »abwechselnden bunten Farbanstrich derselben«, der ihn an »unsere europäischen Städte« erinnert.58 Noch charakteristischer ist die Kritik eines Schweizer Auswanderers, die sich freilich schon, gegen Ende des Jahrhunderts, mit einer amerikanischen Industriestadt konfrontiert sieht, der gegenüber sie die Sehnsucht nach vorindustriellen Verhältnissen formuliert: 55

Tieck, Phantasus (1828), S. 12. Zu Tiecks Amerika-Feindschaft vgl. Weber, America in Imaginative German Literature, S. 51 f. 56 Löher, Erste amerikanische Eindrücke (1854), S. 20. 57 Kürnberger, Der Amerika-Müde (1855), S. 264. Daß Kürnberger Berlin und Mannheim zum Vergleich heranzieht, kommt nicht von ungefähr; Berlin hatte unter Friedrich Wilhelm I. teilweise eine geometrische Anlage erhalten und Mannheim war als barocke Residenzstadt - wie ähnliche andere Städte auch - bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts entsprechend dem barocken Symmetrieideal schachbrettartig angelegt worden. 58 Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika und Westindien (1848) I, S. 122. 283

Da streckt ja kein Erkerchen sein ziervolles Gesichtchen neugierig in die Gassen hinaus. Da rankt sich nirgends die Poesie alterthümlichen Schnitzwerks zum schützend vorspringenden Giebel hinan. Nirgends eine lustig krumme, dunkle Gasse; weder ein sagenumsponnener Thurm, noch der Zauber einer alten Stadtlinde.59

Diese Kritik trifft nicht mehr das spezifisch Amerikanische, sondern das spezifisch Moderne der Großstadt in der Zeit der Industrialisierung; ähnliche Einwände ließen sich auch gegen die großen deutschen Städte des späteren 19. Jahrhunderts richten. Tatsächlich finden sich in Deutschland um die Jahrhundertmitte entsprechende Ansätze zu einer Großstadtkritik, Wilhelm Heinrich Riehl liefert nach den Romantikern wieder die ersten systematischen Stichworte zu einer Kritik der moderenen Verstädterung, die an die Stelle organischer Entwicklungen »bedenkliche Symptome der Widernatur« setzen will.60 Diese Kritik ist in Deutschland nicht ohne Folgen geblieben, sie ist Ausdruck eines breiten Stromes antirationalistischen Denkens, das noch im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts den sich langsam durchsetzenden städtebaulichen »Realismus« konterkarierte und zu »einer Reaktion gegen die gerade Straße« führte. 61 Der Affekt der Amerika-Reisenden gegen die amerikanische Stadt speist sich aus dieser Tradition, aber die oberflächlichen Einwände gegen Rationalismus und Nüchternheit sind tiefer verankert, als es der erste Blick erkennen läßt. Es deutet sich das große Leitmotiv an, das die deutsche Amerika-Kritik während des Jahrhunderts begründet. In der Stadtarchitektur erfahren die Reisenden den grundsätzlichen Unterschied der Lebensweisen in Deutschland und in Amerika, und sie reagieren darauf meist instinktiv abwehrend. Ihre Abwehr läßt sich auf einen Begriff bringen: Was sie in Amerika vermissen, ist die deutsche »Gemüthlichkeit«. So beanstandet es Ziegler in seinem Reisebericht: »Wenn ich in den äußerlich wie innerlich ziemlich nach einem Zuschnitte eingerichteten Städten Amerikas etwas sehr vermißte, so war es vornehmlich geselliger Verkehr, heiterer, gemüthlicher Umgang.« 62 Wislicenus verzichtet von vornherein darauf, einen »hübschgelegenen Kaffegarten« zu suchen: »ich habe davon noch nichts gehört und gesehen, ja ich bin bis diesen Augenblick noch gar nicht auf diesen Einfall gekommen, weil das ganze Aussehen des hiesigen Lebens den Gedanken 59 60

61

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Alles ist ganz anders hier, S. 412. Riehl, Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik I (1851-1869), S. 102; vgl. auch Riehl, Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik IV, S. 10. Zur Kritik an Riehls romantisierender Stadtauffassung vgl. Bahrdt, Die moderne Großstadt, S. 37-39. Riehl steht mit seiner konservativen Stadtkritik nicht allein; vgl. Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, S. 33-35. - Zur teilweise heftig geführten städtebaulichen Diskussion im Deutschland des 19. Jahrhunderts vgl. Albers, Städtebau und Menschenbild, S. 228-233. Auch in den USA hat es seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine Tradition der Stadtfeindschaft gegeben, der etwa Jefferson angehörte; vgl. ebd., S. 235 f. Heiligenthal, Deutscher Städtebau, S. 84. Zur romantischen Berlin-Kritik vgl. Pikulik, Romantik als Ungenügen an der Normalität, S. 116f.; zum Stadt- und Straßenbild in der romantischen Literatur vgl. Thalmann, Romantiker entdecken die Stadt, S. 4 0 - 4 4 . Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika und Westindien (1848) I, S. 166.

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daran schon abschneidet. Wo wäre eine deutsche Stadt, die so etwas nicht böte!«63 Die Kritik an den Äußerlichkeiten der Stadtarchitektur wird explizit zu dem, was sie insgeheim schon immer war: Zur Kritik einer fremden Lebensform. Die völlig neue, kaum zu verarbeitende Erfahrung der modernen amerikanischen Großstadt macht dem Reisenden den Unterschied zwischen der Alten und der Neuen Welt bewußt. Die Stadterfahrung nimmt eine soziale, fast schon anthropologische Dimension an und fordert zur Formulierung des eigenen Selbstverständnisses und der eigenen Lebensauffassung in Konfrontation mit der Lebensweise der fremden Welt heraus: »das Alles war so ungemüthlich und abstoßend, daß wir, meine gute Marie und ich, uns recht unheimlich fühlten unter diesen neuen Menschen.«64 Die Erfahrungen in Amerika bedeuten für die Reisenden einen Vorgriff auf die Zukunft in Deutschland. Dieselben Erscheinungen treten später, um die Wende zum 20. Jahrhundert, in den deutschen Großstädten zutage; die von den Amerika-Kritikern vorformulierte Ablehnung fällt dann erneut auf einen fruchtbaren Boden. Das Unbehagen an der Großstadt und ihrer spezifischen Kultur zeichnet sich in der Literatur und der populären Philosophie der Zeit ab. Der theoretische Rückzug auf die überschaubaren Lebensverhältnisse einer diffus begriffenen »Heimat« bezieht seine Impulse aus der Wendung gegen die Großstadt, als deren perhorreszierter Repräsentant Berlin eintreten mußte.65 Die mentalitätsgeschichtliche Entwicklung hält nicht immer mit der realgeschichtlichen gleichen Schritt. Die Sehnsucht nach der Rückkehr in die Geborgenheit traditioneller Lebensformen oder nach einer besseren Vergangenheit bleibt virulent auch zu einer Zeit, in der sich das fortgeschrittenere Bewußtsein den neuen Entwicklungen angeglichen zu haben schien. 5. Wahrnehmungs- und Darstellungsformen der Großstadt Die Neuartigkeit der Stadterfahrung läßt sich für den Reisenden wahrnehmungs- und darstellungstechnisch nicht ohne weiteres bewältigen. Erst im letzten Drittel des Jahrhunderts, nachdem auch in Deutschland die Städte einen Urbanen Charakter angenommen haben und die Reisenden öfter auf die Kenntnis anderer europäischer Großstädte zurückgreifen konnten,66 entwickelt die Reiseliteratur im größeren Umfang Formen, die ihnen eine Wiedergabe der Spezifika großstädtischen Lebens ermöglichen. Für Wagner, der 1847 erstmals New York besucht, hat die Stadt die 63 64 65

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Wislicenus, Aus Amerika (1854) I, S. 74 f. Wagner, Ein Achtundvierziger (1882), S. 164. Vgl. Rossbacher, Programm und Roman der Heimatkunstbewegung - Möglichkeiten sozialgeschichtlicher und soziologischer Analyse, S. 126 f. Als Wilhelm Liebknecht in New York ankommt, ist er zunächst enttäuscht, weil er die Stadt mit London vergleicht; vgl. Liebknecht, Ein Blick in die Neue Welt (1887), S. 50. Hesse=Wartegg kann sich rühmen, die »belebtesten Verkehrszentren der Welt« gesehen zu haben; vgl. Hesse=Wartegg, Chicago (1893), S. 7.

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Rastlosigkeit einer nimmer rastenden Maschine. Der Schmutz der Straßen, die Tausende zerbrochener Fensterscheiben in den Waarenhäusern, die vielen hastig eilenden, oft sehr schmutzigen Menschen [...] dann die >GentlemenGeld machen< könnte wie in diesem Lande.«164 Die oft geradezu beschwörenden Berufungen der Auswanderer-Ratgeber auf den in Amerika notwendigen »Fleiß« zielen in die gleiche Richtung;165 und diese Warnungen sind nicht unangebracht. Sie bereiten den Auswanderer darauf vor, daß von ihm in Amerika eine völlig andere Arbeitsmentalität verlangt wird. Daß die Warnungen dennoch meist ungehört blieben, hängt wohl zuerst mit dem deutschen Autostereotyp zusammen. Nur zu gerne waren die Auswanderer selbst wie auch die Ratgeber bereit, dem deutschen Nationalcharakter gerade die Eigenschaft zuzuschreiben, die von ihm in Amerika verlangt wurde: den »Fleiß«.166 Aber sie berücksichtigen dabei nicht die prinzipiellen Unterschiede zwischen den modernen amerikanischen und den traditionellen deutschen Verhältnissen. Die Intensivierung der Arbeit und die Rationalisierung der Arbeitsabläufe zur Steigerung der Produktivität sind Anforderungen, die die kapitalistische Wirtschaftsweise stellte; aber sie mußten sich erst durchsetzen gegen die traditionalistische Mentalität

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Streckfuss, Der Auswanderer nach Amerika (1836), S. 90. »Amerika ist ein freies Land ...«, S. 98. Ziegler, Republikanische Licht* und Schattenseiten, oder die Republik in Deutschland und in den vereinigten Staaten von Nordamerika (1848), S. 28. 164 Kirchhoff, Ein offenes Antwortschreiben (1873), S. 153. 165 Vgl. etwa Bromme, Reisen durch die Vereinigten Staaten und Ober=Canada (1834 f.) I, S. 88. 166 Vgl. etwa Gagern/Fürstenwärther, Der Deutsche in Nord=Amerika (1818), S. 68; Gerstäcker, Amerikanische Wald= und Strombilder (1849) II, S. 90. - Auch die deutschen Auswanderer bescheinigen sich gelegentlich in ihren Briefen den »Fleiß«, der in Amerika notwendig sei, um einen »recht guten Erfolg« haben; Briefe aus Amerika, S. 87; vgl. auch S. 153.

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»präkapitalistischer wirtschaftlicher Arbeit.«167 Dieser historische Prozeß setzte sich in Deutschland erst im späteren 19. Jahrhundert durch; der Amerika-Auswanderer wurde aber unmittelbar und ohne die Möglichkeit einer sukzessiven mentalen Umstellung damit konfrontiert.168 Gemessen an seinem auf traditionalistischen Arbeitsprinzipien beruhenden Erfahrungshorizont mußte ihm die amerikanische Wirklichkeit fremd erscheinen. Es wird ihm nicht bewußt, daß hier zwei wirtschaftsgeschichtliche Entwicklungsstufen aufeinander treffen; er führt den Unterschied vielmehr in aller Regel auf eine Differenz der Nationalcharaktere zurück. Gegenüber den neuen Anforderungen neigte der deutsche Einwanderer zum Beharren auf seinem gewohnten Lebensrhythmus. Der Deutsche fuhr, wie ihm Müller bescheinigt, selbst angesichts des Goldrausches fort, das »gute deutsche Sprüchwort >Eile mit Weile< zu befolgen«.169 Wie andere Autoren, so versucht auch Büttner, die Mentalitätsunterschiede und die damit verbundenen Assimilationsschwierigkeiten auf eine prinzipielle Ebene zu heben: So weit nun ist der amerikanische Materialismus der gemeinste und niedrigste, den man sich nur denken kann, und der deutsche erscheint als ein feiner und edler. Denn bei uns treibt man Geschäfte und erwirbt, um zu leben. Es paart sich zu dem Erworbenen Lebensgenuß; man weiß das Verdiente anzuwenden und lebt und genießt.170

Bescheidene ökonomische Sicherheit und ebenso bescheidener Lebensgenuß sind in der Tat die Zielvorstellungen, die mit der spezifisch deutschen Form des »Fleißes« eine Verbindung eingehen, welche sich mit der amerikanischen Arbeitsauffassung schlecht verträgt. Büttners Charakteristik des Deutschen ist eine genaue, wenn auch in philosophische Termini verkleidete, Beschreibung des wirtschaftlichen »Traditionalismus«, wie ihn Max Weber charakterisiert hat: »der Mensch will >von Natur< nicht Geld und mehr Geld verdienen, sondern einfach leben, so leben wie er zu leben gewohnt ist und soviel erwerben, wie dazu erforderlich ist.«171 Allerdings vollzieht sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland ein Wandel, der sich auch in den Urteilen über die Amerikaner langsam Geltung verschafft. Unter dem Einfluß der liberalen Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie setzt sich die Vorstellung durch, daß Arbeit um ihrer selbst willen betrieben werden solle: Das liberale deutsche Bürgertum definiert sein Selbstverständnis geradezu durch die Gegenüberstellung von »Arbeit« und »Müssiggang«; Arbeit 167

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Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 45; zum wirtschaftlichen »Traditionalismus« vgl. auch den Kontext ebd., S. 43-48; zur Verankerung dieser Auffassung speziell in der Mentalität der deutschen Handwerker vgl. Sieder, Sozialgeschichte der Familie, S. 105 f. Noch 1887 berichtet Liebknecht über einen amerikanischen Unternehmer, der ihm die deutschstämmigen Arbeiter in seiner Fabrik als weniger zur intensiven Arbeit fähig als die Amerikaner angelsächsischer Herkunft schildert. Vgl. Liebknecht, Ein Blick in die Neue Welt (1887), S. 59. Müller, Aus den Erinnerungen eines Achtundvierzigers (1896), S. 68. Büttner, Die Vereinigten Staaten von Nord=Amerika (1846) I, S. 375. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 44.

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wird »zum eigentlichen Sinn des Lebens überhaupt.«172 Diese neue Auffassung erlaubt, zumindest in der Theorie, eine positivere Würdigung der amerikanischen Mentalität, auch wenn die real betroffenen Auswanderer sich kaum so schnell aus ihren tradierten Lebensgewohnheiten befreit haben dürften wie die Theoretiker. Daß in Amerika die Arbeit sich emanzipiert habe und nicht mehr schände, wird zu einem der Kernsätze der Auswandererliteratur. Namentlich Gerstäcker macht sich zum Anwalt dieser Auffassung: »Ein anderer Vortheil Amerikas ist der, daß man sich keiner Arbeit zu schämen braucht. >Arbeit schändet nicht< heißt der Wahlspruch des Yankees«;173 und der Achtundvierziger Müller verbindet, ganz im Sinne der liberalen Theorie, die »Emanzipation der Arbeit« in Amerika mit der Emanzipation des Menschen überhaupt: Indem es die Leistungen des Menschen, nicht Geburt und historischen [sie!] Rechte, zum Ausgangspunkt für die menschliche Werthschätzung machte, hat es dem Menschengeschlecht mehr Gutes gethan, als alle Religionsstifter und Reformatoren zusammen. Die Würde der Arbeit anzuerkennen und das Verdienst des Menschen zu seinem Werthmesser zu machen - das hieße mit der schnöden Vergangenheit brechen und die Grundlage schaffen, auf welcher allein nur ein gerechter und menschenwürdiger Zustand in der Welt zu ermöglichen ist. 174

Eine vollkommene Assimilation an die amerikanische Auffassung vollzieht schließlich Fröbel, wenn er erklärt, daß »die Arbeit selbst, namentlich die erfolgreiche, [...] zu den höchsten Arten des Genusses gehören« kann. 175 Diese neue Einstellung ist nicht nur in diesen abstrakten Äußerungen zu erkennen. Auf einer konkreteren Ebene drückt sie sich in den Reiseberichten dort aus, wo die deutschen Autoren sich über das pragmatische Verhältnis der Amerikaner zu ihrer Arbeit auslassen. Hierbei tritt eine eigenartige Doppeldeutigkeit der deutschen Einstellung zu diesem Komplex hervor, die als Zeichen des sich anbahnenden Mentalitätsumbruchs zu bewerten ist: Während auf der einen Seite die Gewinnsucht der Amerikaner fast durchgängig abgelehnt wird, findet die konkrete Auswirkung dieses Charakterzuges, eben die pragmatische Einrichtung und Durchführung von Arbeitsvorgängen, breite Zustimmung. Selbst ein so amerikafeindlich eingestellter Autor wie Griesinger anerkennt die Leistungen der Amerikaner auf diesem Gebiet als vorbildlich. Wenn er auch die Auswanderung ablehnt, so wünscht er sich doch, daß die entsprechenden amerikanischen Charakterzüge nach Deutschland importiert werden sollten: »In Amerika lernt man, wie man arbeiten muß. Man lernt, wie man das Zeug anzugreifen hat, um schneller und doch bequemer zum Ziel zu kommen.« Entsprechend rät er dem deutschen Unternehmer, seinen Sohn »auf ein Paar Jahre nach Amerika« zu 172 173

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Conze, (Art.) Arbeit, S. 190. Vgl. auch den Kontext S. 188-191. Gerstäcker, Wie ist es denn nun eigentlich in Amerika? (1849), S. 8. - Zu diesem Topos in den Auswandererromanen vgl. Mikoletzky, Die deutsche Amerika-Auswanderung in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur, S. 244 f. Müller, Aus den Erinnerungen eines Achtundvierzigers (1896), S. 32. Fröbel, Die deutsche Auswanderung und ihre culturhistorische Bedeutung (1858), S. 22.

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schicken: »Er lernt sich anders bewegen und anders regen; er wird nachher Alles auf eine andere, praktischere Art in die Hand nehmen, und das allein ist schon das Ueberfahrtsgeld werth.«176 Bekanntlich wurde diese Empfehlung bereits befolgt, bevor sie ausgesprochen war; schon in den zwanziger Jahren »besuchten mehrere hervorragende Schüler des Berliner Gewerbeinstituts die Staaten«, um sich über die dortigen Produktionsmethoden zu unterrichten;177 und seit der Jahrhundertmitte riß der Strom deutscher Unternehmer nicht ab, die sich über die technischen Errungenschaften und über die Arbeitsabläufe in Amerika informieren wollten. Dieses Informationsbedürfnis ist jedoch nicht nur eine Angelegenheit der Spezialisten mit ihren einschlägigen Interessen und Vorkenntnissen. Die Unterschiede zwischen dem amerikanischen und dem deutschen Arbeitsleben sind so gravierend, daß sie fast jedem Reisenden ins Auge fallen: »In allen Fächern, ist der Amerikaner praktisch und sucht die Arbeit zu erleichtern«,178 schreibt ein Auswanderer im Jahre 1875, und Gall konstatiert, daß bei den amerikanischen Maschinen »alles zweckmäßiger« ist, »als man es in Europa sieht«;179 Ziegler trifft die allgemeinere Feststellung, daß »in Amerika in kürzester Zeit und stets auf dem nächsten Wege viel Zweckmäßigeres und Großartigeres geleistet« wird »als in anderen Ländern«;180 und Bromme lobt den »Erfindungsgeist der Nation«, der zu »täglichen Verbesserungen in den Maschinen und in den Gewerben« führe.181 Daß der nahezu uneingeschränkten Anerkennung der Vorteile des pragmatischen Sinns der Amerikaner keine ebenso uneingeschränkte Anerkennung ihrer Mentalität zur Seite steht, ist kennzeichnend dafür, daß in Deutschland traditionelle und moderne Einstellungen miteinander im Streit liegen. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer Modernisierung des Wirtschaftslebens durch seine »Amerikanisierung« hat sich um die Jahrhundertmitte durchgesetzt, ohne daß entsprechende Mentalitätsumschichtungen mit ihr Schritt gehalten hätten, so daß sich der »Übergang von der philosophisch-literarisch-ästhetischen Epoche zur praktisch-materiellen« verzögerte.182 Diese Dualität zweier Weltbilder spiegelt sich in den deutschen Kommentaren zur amerikanischen Wirtschaftsmentalität; vor allem in der begrifflichen Dichotomie von »Idealismus« und »Materialismus« zur Kennzeichnung der jeweiligen Nationalcharaktere. Namentlich die emigrierten deutschen Liberalen neigen dazu, die Unterschiede auf diese philosophischen Fundamentalbegriffe zu bringen und die praktischen Probleme damit auf ethische Grundeinstellungen zurückzuführen. Sie sehen im amerikanischen Materialismus die Gefahr, kultu176 177 178 179 180 181 182

Griesinger, Lebende Bilder aus Amerika (1858), S. 320f. Schumacher, Auslandsreisen deutscher Unternehmer 1750-1851, S. 197. »Amerika ist ein freies Land ...«, S. 75. Gall, Meine Auswanderung nach den Vereinigten=Staaten in N o r d a m e r i k a (1822) II, S. 170. Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika und Westindien (1848) I, S. 42. Bromme, H a n d - u n d Reisebuch für Auswanderer ( 6 1849),S. 108f. Treue, Gesellschaft, Wirtschaft und Technik Deutschlands im 19. Jahrhundert, S. 111.

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relle Bestrebungen nüchternen kommerziellen Interessen unterzuordnen und fordern deshalb eine Versöhnung des materialistischen und mit dem ethischidealistischen Denken. So stellt Müller, als Summe seiner Amerika-Erfahrungen, die Frage, warum »materieller Fortschritt und menschliche Kultur nicht identisch sein sollten mit allgemein menschlicher Wohlfahrt? Diese Frage ist zuerst zu beantworten, ehe man sich einer höheren Kultur, als jener früheren, rühmen darf,«183 während Börnstein gleichfalls diese Dualität zwischen den »höheren Genüssen geistiger Art, die in Europa so reichlich geboten werden«, und dem amerikanischen Denken, »das den Leuten ihr Geschäft zum einzigen Zwecke und Ziele des Daseins« macht, herausstellt.184 Wagner greift schließlich einen im 19. Jahrhundert neu entstandenen Topos auf, der die kulturkritischen Einwände gegen das moderne Wirtschaftsleben pointiert auf den Begriff bringt, wenn er feststellt, daß in Amerika »die meisten Menschen zu Maschinen herangebildet werden«.185 In solchen Fragen und Feststellungen manifestiert sich die Verunsicherung der deutschen Auswanderer, die erkennen, daß Amerika auch in dieser Beziehung sich als »Zukunft Europas« darstellt. Die Kritik an der amerikanischen Arbeits- und Berufsauffassung wird ihnen leicht gemacht, wenn sie deren Auswüchse in den Blick nimmt: Ein Leitmotiv der Amerika-Kritiker ist die Feststellung, daß die amerikanische Geschäftstüchtigkeit die Neigung zur Unsolidität, zum »humbug« und schließlich auch zum Betrug fördere. Struve stellt in dieser Beziehung den grundlegenden Unterschied der Mentalitäten heraus: Aus der gesammten Richtung des amerikanischen Geschäftslebens geht der Ausdruck >smart< hervor, wodurch mehr Gewandtheit als Gründlichkeit, mehr Schlauheit als Gewissenhaftigkeit, mehr Lebendigkeit als Ausdauer bezeichnet wird. Die Worte >smartHumbug< und >Swindle< deuten die Stufenleiter an, auf welcher der Amerikaner vom geehrten Geschäftsmanne zum Verbrecher herabsteigt. [...] Denn bei den Amerikanern wird Gewandtheit, Schlauheit und Lebendigkeit besonders hoch geachtet, während die Deutschen Gründlichkeit, Gewissenhaftigkeit und Ausdauer besonders schätzen.186

In der Ablehnung der amerikanischen »smartness« - und erst recht natürlich des Betrugs - klingen die traditionellen Vorstellungen der deutschen Arbeitsauffassung nach, die den deutschen Auswanderern die Assimilation ans amerikanische Berufsleben so sehr erschwert haben. Struves Beschreibung der amerikanischen Geschäftsmentalität liegt implizit das Autostereotyp des »Altdeutschen« zugrunde, als dessen Negativbild der Amerikaner erscheint: Seiner Umtriebigkeit, seiner »smartness« und seinem Hang zu »humbug« und Betrug steht ein 183

Müller, Aus den Erinnerungen eines Achtundvierzigers (1896), S. 260. Börnstein, Fünfundsiebzig Jahre in der Alten und Neuen Welt (1881), S. 232. 185 Wagner, Ein Achtundvierziger (1882), S. 308. 186 Gustav Struve, Die Union vor dem Richterstuhle des gesunden Menschenverstandes (1855), S. 85 f. Besonders drastisch kritisiert ein deutscher Auswanderer die amerikanische Fähigkeit, schnell reich zu werden: »wär Lügen und betrüchen kann und jeden vervordeilen wiel daß der geschwinder reig wird als der redlig durd [!] die Welt geht«. Briefe aus Amerika, S. 139. 184

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deutsches Selbstverständnis gegenüber, das sich in den Kategorien »gerade-aufrecht-steif und gerade-aufrichtig-redlich« fassen läßt. 187 Aber so kritisch die deutschen Amerika-Besucher den Erscheinungsformen der amerikanischen Arbeitsauffassung und insbesondere ihren Auswüchsen gegenüberstehen, so ambivalent bleibt ihre Einschätzung der Tendenzen, die sich in ihr ausdrücken. Namentlich die Liberalen sind grundsätzlich bereit, die amerikanische Denkweise als das zukunftsträchtige und von der modernen wirtschaftlichen Entwicklung auch in Deutschland geforderte Prinzip anzuerkennen. Nicht jeder geht dabei so weit wie Fröbel, der die »Positivität« als den »Hauptcharakterzug des amerikanischen Lebens« hervorhebt 188 und sie dem »unfruchtbaren Idealismus des deutschen Lebens« als vorbildlich gegenüberstellt.189 Dieser Gegenüberstellung liegt eine nüchterne Einschätzung der Entwicklung zugrunde. Die Amerikaner erscheinen Fröbel als das »modernste Volk«, weil der »Realismus als eine welthistorische Geistesstimmung« der »Grundton unserer Zeit« geworden ist, dem sich auch Deutschland auf die Dauer nicht wird entziehen können. 190 In dieser Sicht der Dinge folgen Fröbel prinzipiell auch die anderen Liberalen; bei allen Einwänden gegen die amerikanische Denkungsart und ihre Auswüchse sind sie zumindest bereit anzuerkennen, daß die »materialistische Weltanschauung« in der zweiten Jahrhunderthälfte heraufdämmert, die das »romantische und das schwarze Gekrächze« verstummen ließ,191 und daß die Amerikaner sich diesem unaufhaltsamen Zug der Zeit als erste angeglichen haben.

8. L e b e n s f o r m e n : A m e r i k a n i s c h e H a s t u n d deutsche » G e m ü t h l i c h k e i t « Mit solchen theoretischen Einsichten geht freilich nur selten eine entsprechende mentale Umstellung einher. Dem prinzipiellen Anerkennen des materialistischen Denkens als einem von der historischen Entwicklung notwendig geforderten Prinzip entspricht kaum einmal die Bereitschaft, die daraus abgeleiteten Verhaltensweisen der Amerikaner im Alltagsleben ebenfalls zu akzeptieren. Die intellektuellen Differenzen lassen sich leichter überwinden als die kulturellen. Die Unterschiede in der Lebensauffassung werden dort unüberbrückbar, wo sie sich nicht mehr als abstrakte Prinzipien - wie »Idealismus« und »Materialismus« gegenübertreten, die in der populär-philosophischen Reflexion miteinander versöhnt werden können, sondern wenn sie sich lebensweltlich kristallisieren. Der 187

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Möller, Altdeutsch, S. 15. - Diesem Stereotyp kommt im übrigen die Darstellung des amerikanischen »Backwoodsman« bei Gerstäcker nahe: Er ist »schlicht und ehrlich, rauh und derb, aufopfernd in seiner Freundschaft, aber gefahrlich in seinem Haß«. Gerstäcker, Aus zwei Welttheilen (1854) I, S. 27. Fröbel, Aus Amerika (1857 f.) I, S. 19. Ebd., S. 22. Ebd., S. 56. Müller, Aus den Erinnerungen eines Achtundvierzigers, (1896), S. 58.

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Hauptcharakterzug, den die Deutschen dem Amerikaner neben der Gewinnsucht zuschreiben, bezeichnet den Unterschied der Lebensauffassung so prägnant, wie er den deutschen Einwanderern in der alltäglichen Erfahrung zugänglich wurde. Er läßt sich in einer Formel verdichten: »Wir haben hier ein Sprichwort in Amerika >Zeit ist Geld< und das werdet ihr wohl noch ebenfalls kennen lernen.«192 Diese Formel wird zum Stereotyp, in dem sich aber nicht nur für den Deutschen der amerikanische Nationalcharakter darstellt, sondern das im gleichen Maße dem amerikanischen Selbstverständnis entspricht. Sie verdankt ihre Formulierung jenem Autor, der die amerikanische Lebensauffassung wohl als erster zusammenhängend formulierte: Benjamin Franklin. Franklin hat in seiner Autobiographie mit jenem Pragmatismus, der den Amerikanern von den Europäern so gerne nachgesagt wird, eine Liste aller relevanten Tugenden aufgestellt und zugleich Handlungsanweisungen für ihre Realisierung im täglichen Leben gegeben; und als sechste dieser Tugenden führt er die »Industry« an: »Lose no time; be always employ'd in something useful; cut off all unnecessary actions.«193 Dieser Ermahnung scheinen die Amerikaner des 19. Jahrhunderts gefolgt zu sein; jedenfalls ist die allgemeine Hast im amerikanischen Alltagsleben der hervorstehende Eindruck, den die Deutschen in ihren Reiseberichten mitteilen. Wie fremd ihnen diese Schnelligkeit des Lebens ist, belegen die etwas hilflosen Erklärungsversuche, mit denen einige auf das Phänomen reagieren - etwa Löhers Bemühen, für die »ewige innere Unruhe und Reizbarkeit« das »Landesklima« mit seinem Witterungswechsel und der trockenen Luft verantwortlich zu machen, »die das Blut rascher pulsieren« lassen.194 Den meisten Reisenden war indes klar, daß der eigentliche Grund für die Unruhe in der aufs Kommerzielle gerichteten amerikanischen Mentalität zu suchen sei; aber diese Erklärung macht ihnen das Leben nicht behaglicher. Es wirkt wie ein anekdotisches Randphänomen, daß das Unbehagen sich sehr häufig an den amerikanischen Essensmanieren und Tischsitten entzündet; kein anderer Zug des amerikanischen Alltags hat 192

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Gerstäcker, Nach Amerika! (1855) III, S. 269. Vgl. auch Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika und Westindien (1848) I, S. 15. Franklin, Memoirs of the Life & Writings (zuerst frz. 1791), S. 99. Zur Bedeutung des Begriffsfeldes »industry«, »frugality« und »time is money« vgl. Link, Schlüsselbegriffe der Autobiographie Benjamin Franklins, S. 33 f. - Kürnberger greift diese Formel gleich zu Beginn seines Romans satirisch-kritisch zur Charakterisierung des »Yankee« auf. Vgl. Kürnberger, Der Amerika-Müde (1855), S. 19 f. - Ein halbes Jahrhundert später benutzt Max Weber sie, um nicht nur den »Amerikanismus«, sondern überhaupt die moderne kapitalistische Wirtschaftsmentalität zu charakterisieren. Vgl. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 31-36. Die Einwände Baumgartens gegen Webers Franklin-Interpretation (vgl. Baumgarten, Benjamin Franklin, S. 99-101) sind insofern irrelevant, als nicht Franklins Selbstverständnis zur Debatte steht, sondern sein Beitrag zur Herausbildung einer bürgerlich-kapitalistischen Mentalität: Benjamin Franklin »vertritt für die Europäer den vollen Kanon der bürgerlichen Tugenden«. Vgl. Wuthenow, Das erinnerte Ich, S. 121 f. Löher, Erste amerikanische Eindrücke (1854), S. 23 f.

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sich so ins Bewußtsein gegraben wie eben dieser. Der Grundsatz »Zeit ist Geld« wird an der amerikanischen Mittagstafel vor Augen geführt. Baumbach gibt eine typische Beschreibung der amerikanischen Mahlzeit, wie sie sich in ähnlicher Weise bei vielen anderen Reisenden findet: Alles eilt mit unglaublicher Hast dem Speisezimmer zu [...]. Ein Jeder begiebt sich sofort an die Arbeit - man wird versucht hier diesen Ausdruck zu gebrauchen - des Essens, welche in dem tiefsten Schweigen, nur von dem Geklapper der Teller, Messer etc. unterbrochen und in der größten Hast verrichtet wird.

Der Autor findet auch die richtige Erklärung für dieses Phänomen: Diese Eile kommt wohl daher, daß jeder Geschäftsmann - dies sind aber in ein oder dem andern Sinne alle Amerikaner - gewohnt ist mit seiner Zeit zu geizen, da hier, wo Arbeitskräfte ebenso selten als theuer sind, jeder vorzugsweise auf die eignen Kräfte angewiesen ist, und jeder verlorne Augenblick dem Erwerbe - dem hiesigen Ausdruck nach >dem Geldmachen< etwas entzieht.195

Ziegler gibt der Verwunderung über diese Tischsitten noch drastischeren Ausdruck. Er vermerkt, daß es »ein grausamer Anblick für uns Europäer«196 ist, und sie erscheinen ihm »so bestialisch, daß ich auch jetzt noch nicht mich der widerlichen Erinnerung daran enthalten kann.« 197 Hier tut sich eine kulturelle Kluft auf, die mehr sichtbar werden läßt als nur unterschiedliche Lebensgewohnheiten. Die Unterschiede betreffen zunächst die oberflächliche Ebene des äußeren Ablaufs der Mahlzeit: Während in Amerika das Essen in der beschriebenen Hast erledigt wird, nahm man sich in Deutschland »unter allen Umständen Zeit«198 - wie auch Baumbach befremdet feststellt, daß in Amerika die Mahlzeiten »nicht wie in Deutschland, durch den gemüthlichen Genuß eines Glases Wein verlängert« werden.199 Diese Unterschiede geben auch Kürnberger Gelegenheit, den amerikanischen Charakter zu desavouieren und den deutschen positiv zu akzentuieren. Seine Karikatur der amerikanischen Mahlzeit übertrifft die Beschreibungen in den deutschen Reiseberichten; der Vorgang des Essens ebenso wie die Zubereitung der Speisen erscheint als ein Akt der Barbarei, aus dem die letzten Spuren zivilisierter Manieren ausgetilgt sind.200 Dagegen exponiert er die »deutsche Art«, das Abendbrot einzunehmen: Die Mienen der Essenden waren »mit ganzer Andacht und Bedächtigkeit bei dem Genüsse; hier

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Baumbach, Briefe aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika (1851), S. 38 f. Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika und Westindien (1848) I, S. 51. 197 Ebd., S. 179. Vgl. auch entsprechende mehr oder weniger ausführliche Schilderungen bei Griesinger, Freiheit und Sclaverei unter dem Sternenbanner oder Land und Leute in Amerika (1862) I, S. 334 f.; Börnstein, Fünfundsiebzig Jahre in der Alten und Neuen Welt (1881) II, S. 43; Baudissin, Peter Tütt (zuerst 1862 u.d.T. »Zustände in Amerika«), S. 70. Auch in den Presseberichten über Amerika scheint das Problem der Ungemütlichkeit speziell der Tischsitten erörtert worden zu sein; vgl. Thaller, Studien zum europäischen Amerikabild, S. 446. 198 Buchheim, Deutsche Kultur zwischen 1830 und 1870, S. 116. 199 Baumbach, Briefe aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika (1851), S. 39. 200 Kürnberger, Der Amerika-Müde (1855), S. 31-33. 196

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wurde nicht amerikanisch gejagt und geschluckt, jeder Bissen ging in's Bewußtsein über, man speiste im Geiste wie in der Form deutsch.«201 Diese »Gemütlichkeit« der deutschen Mahlzeit verweist wiederum auf die andere Einstellung zur Zeit, die im Tagesablauf sowohl während der Arbeit wie erst recht in der Freizeit genügend Muße läßt zum Genuß des Lebens. Max Weber hat die »traditionalistische« Arbeits- und Lebenseinstellung nicht nur bei den deutschen Arbeitern, Bauern und Handwerkern, sondern auch bei den vorindustriellen Unternehmern, den »Verlegern«, konstatiert und ihnen ein »gemächliches Lebenstempo« bescheinigt.202 In Amerika trifft der Auswanderer auf andere Zustände. Während in Deutschland die Lebensformen der Freizeit in die Arbeitszeit hineinreichen, wird in Amerika umgekehrt der Bereich der Geselligkeit, der Muße und selbst der Intimsphäre von den Arbeitsprinzipien usurpiert. Das haben die deutschen Reisenden mit dem sicheren Instinkt des fremden Beobachters erkannt, dessen gesellschaftliche Erfahrungen und Lebensgewohnheiten von anderen Lebensformen geprägt waren. Wenn in Deutschland schon in den Produktionsformen des Handwerks und der Agrarwirtschaft lange Zeit traditionelle Gepflogenheiten sich gegen die neuen industriellen Entwicklungen haben behaupten können, so gilt das erst recht für die Kernbereiche der Intimsphäre, den Haushalt und das gesellige Leben. Bis weit ins 19. Jahrhundert - und in Teilbereichen auch bis zum Ende der wilhelminischen Ära - halten und entfalten sich hier Umgangsformen und ein Selbstverständnis, die gemessen am wirtschaftsgeschichtlichen Standard der Zeit als zusehends unzeitgemäßer erscheinen müssen. Die in Amerika beobachtete Tendenz zur Usurpation des intimen und geselligen Lebens durch den im ökonomischen Bereich herrschenden Pragmatismus setzt sich in Deutschland nicht durch; der Pragmatismus erscheint vielmehr als Inbegriff jener Gefährdungen, denen sich das deutsche Bürgertum - im weitesten Sinne203 - durch den Rückzug in ein soziales und individualpsychologisches Refugium der Innerlichkeit entzog. Äußerlich dokumentiert das sich im Festhalten an den teilweise tradierten, teilweise auch neu entstandenen Ritualen der Lebensführung. Auch in ihnen spiegeln sich zwar soziale Abhängigkeitsverhältnisse und gesellschaftliche Ansprüche, die bis in die Intimsphäre hineinreichen; dem deutschen bürgerlichen Selbstverständnis nach aber erscheinen sie als Gegenbild zur Sphäre des ökonomischen Handelns, das durch reine Zweckmäßigkeit bestimmt ist. Die »die ganze Gesellschaft prägenden Markt- und Konkurrenzbeziehun201

Ebd., S. 99. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 51. - Diese Verhaltensformen dürften als ein Relikt der vor- und frühkapitalistischen Wirtschaftsentwicklung zu betrachten sein, das sich auch in den wirtschaftlich fortgeschritteneren Ländern Europas noch bis ins 18. und in Deutschland bis weit ins 19. Jahrhundert hinein erhalten hat. Eine plastische Charakterisierung dieser unternehmerischen Lebensform, die durch eine vorkapitalistische Wirtschaftsethik geprägt ist, gibt Sombart, Der moderne Kapitalismus II, S. 53-68; bes. S. 56 f. und S. 62 f. 203 Zur sozialgeschichtlichen Bestimmung des Begriffs vgl. Rürup, Deutschland im 19. Jahrhundert, S. 9 0 - 9 3 .

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gen« scheinen aus diesem Bereich ausgeschlossen zu sein.204 Mentalitätsgeschichtlich kulminieren diese Tendenzen im Begriff der »Gemütlichkeit«, der wie kein anderer dazu geeignet ist, das Selbstverständnis des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert zu charakterisieren: »Gemüth« ist die »Empfänglichkeit für die >kleinen Freuden< des Lebens, für die Großartigkeit der Natur, die vorher wegen ihrer Unübersehbarkeit eher gefürchtet war. Gemüth zeigte der Gottesfürchtige und Zufriedene, der dazu redlich und fröhlich war.«205 Ein Bürgertum, das seine eigene Geisteshaltung derart definierte und sie schließlich zum deutschen Nationalcharakter schlechthin stilisierte, mußte hier eine unüberschreitbare Demarkationslinie zur amerikanischen Lebensauffassung ziehen: Deutsche »Gemütlichkeit« und amerikanischer »Pragmatismus« waren unversöhnbar. In dieser Dichotomie kehrt die andere, stärker philosophisch gedachte, Entgegensetzung von »Idealismus« und »Materialismus« partiell wieder, aber die beiden BegrifFspaare stehen schief zueinander und gehen nicht vollständig ineinander auf. Daß der »Materialismus« - im Geschäftsleben - eine akzeptable, weil von der realgeschichtlichen Entwicklung geforderte Denk- und Verhaltensweise war, wurde weitgehend von den deutschen Amerika-Beobachtern anerkannt; zugleich äußerten sie aber die Hoffnung, daß der deutsche Idealismus kultivierend und »veredelnd« auf den amerikanischen Materialismus einwirken könne, so daß eine fruchtbare Verbindung beider Lebensweisen möglich sei.206 Zu solchen Konzessionen sind die Deutschen jedoch nicht mehr bereit, wo der Kernbereich des eigenen Lebensverständnisses berührt wird. Wenn Börnstein darüber klagt, daß man in Amerika »in den paar Stunden, die man zu Hause in der Familie zubringt, nur an das Geschäft« denkt und auch noch davon träumt, 207 und Büttner feststellt, daß überall, auch »in Gesellschaften, die Unterhaltung sich um Geschäfte, Gewinn und Geld dreht«,208 dann bezeichnen sie damit die Grenze der Verständnisbereitschaft. Von solchen Feststellungen ausgehend wird dann auch die grundsätzliche Unterschiedlichkeit der deutschen und amerikanischen Mentalität fixiert. So warnt Ziegler die deutschen Auswanderungswilligen: 204

Rosenbaum, Formen der Familie, S. 376 f. - Zur Ritualisierung der Mahlzeiten in der bürgerlichen Familie vgl. ebd., S. 82 und Weber-Kellermann, Die deutsche Familie, S. 93 f. Zur Ritualisierung des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens im Bürgertum vgl. Buchheim, Deutsche Kultur zwischen 1830 und 1870, S. 123-128. 205 Claessens/Claessens, Kapitalismus als Kultur, S. 184. Zur Bedeutung des »Gemüt«-Begriffs, wie er sich seit der deutschen Romantik herausgebildet hat, vgl. auch Emmel, (Art.) Gemüt I, Sp. 259-261. - Zur »Gemütlichkeit« als einem deutschen Autostereotyp in den Auswandererromanen vgl. auch Mikoletzky, Die deutsche Amerika-Auswanderung in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur, S. 280. 20« Ygj z u (ji e s e r Forderung einer Verbindung deutscher und amerikanischer Charakterzüge Börnstein, Fünfundsiebzig Jahre in der Alten und Neuen Welt (1881) II, S. 203; Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika und Westindien (1848) I, S. 123; Wagner, Ein Achtundvierziger (1882), S. 398. 207 Börnstein, Fünfundsiebzig Jahre in der Alten und Neuen Welt (1881) II, S. 232. 208 Büttner, Die Vereinigten Staaten von Nord=Amerika (1846) I, S. 375.

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Nur nach längerem Aufenthalte und nachdem man sich an die amerikanischen Sitten und Gebräuche gewöhnt hat, wird man sich heimischer fühlen und die deutschen Verhältnisse, das deutsche gemüthliche Leben, sowie die besonders in wissenschaftlicher Beziehung gebotenen großen Vortheile Deutschlands vergessen können.«209

Ein ähnliches Defizit konstatiert Wagner in der »philosophischen Auffassung des Lebens« bei den Amerikanern, »welche uns hier nicht ganz heimisch werden läßt«: Es »ist ein nacktes, nüchternes Leben voll Heuchelei und Schein, ohne Gemüth, alles nach Außen gerichtet«;210 an anderer Stelle konstatiert er nochmals die »traurige Einförmigkeit und Nüchternheit« der »amerikanischen Denk= und Lebensweise.211 In der realen Lebenspraxis der Auswanderer wird der große philosophische Dualismus zwischen »Idealismus« und »Materialismus« freilich in kleinerer Münze ausgezahlt. Der Idealismus setzt sich in die vielbeschworene Gemütlichkeit mit ihrem Genuß der kleinen Freuden des Alltags um: »Also Du siehst wir habens gemüthlich, ja wir haben sogar auch ein kleines Fäßchen Bier im Haus, also Herz was willst du noch mehr?«212

9. »Geld und Geist«: Die Kulturlosigkeit der Amerikaner Die Einwände der Deutschen gegen den »American way of life« kulminieren im Vorwurf der Nüchternheit und der mangelnden Gemütlichkeit; sie sind das Ergebnis einer Unterwerfung auch der privaten und intimen Lebensphäre unter die Gesetzte des Geschäftslebens. Auf der gleichen Grundlage beruht der Vorwurf der »Kulturlosigkeit« der Amerikaner. Otto Ruppius hat mit dem Titel eines seiner Amerika-Romane eine griffige - und im übrigen von Jeremias Gotthelf entlehnte - Formel gefunden, um den Unterschied der Nationalcharaktere zu kennzeichnen: »Geld und Geist«. Der Roman will die Überlegenheit deutschen Geistes - der hier freilich auch nur durch einen Journalisten repräsentiert wird - über die Machinationen des amerikanischen Kommerzdenkens demonstrieren, indem er vorführt, wie der »Geist sich mächtiger als das Geld« erweisen könne.213 Das happy ending des Romans ist poetischer Provenienz; Ruppius läßt erkennen, daß in der Realität die Gegensätze von deutscher Bildung und amerikanischer Kulturlosigkeit unversöhnt bleiben müssen.214 Das ist auch der Tenor der Reiseberichte, die sich zu diesem Thema äußern: Sie stellen fest, daß die Ausrichtung der Yankees auf kommerzielles Denken der 209 210 211

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Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika und Westindien (1848) I, S. 291. Wagner, Ein Achtundvierziger (1882), S. 260 f. Ebd., S. 307. Zur Entgegensetzung von »Idealismus« und »Materialismus« in der Amerikaberichterstattung der deutschen Presse vgl. Thaller, Studien zum europäischen Amerikabild, S. 194f.; S. 451. »Amerika ist ein freies Land ...«, S. 183; zur Korrelation von Gemütlichkeit und Bier vgl. auch S. 192. Ruppius, Geld und Geist (1860), S. 193. Vgl. Graewert, Otto Ruppius, S. 50-52.

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Entfaltung kultureller Bestrebungen entgegensteht. Nicht jeder drückt das so drastisch aus wie Lenau: »Bruder, diese Amerikaner sind himmelanstinkende Krämerseelen. Tot für alles geistige Leben, maustot.«215 Der Tendenz nach ähneln die Urteile der anderen Autoren diesem Verdikt, das mal mit mehr, mal mit weniger Verständnis für die besondere amerikanische Situation wiederholt wird. So sieht Witte, daß die sozialgeschichtlichen Voraussetzungen für die Entfaltung eines eigenständigen kulturellen Lebens in Amerika noch nicht gegeben sind: »Die Thätigkeit ihres Geistes wird noch zu sehr von allem, was in das practische Leben eingreift und baare Vortheile gewährt, in Anspruch genommen.«216 Diese allgemeine Feststellung wird gelegentlich konkretisiert. Struve stellt fest, daß in Amerika auch das Theater, wie alles andere, »sich selbst bezahlt machen, oder zu Grunde gehen« müsse,217 und Löwig führt - sicher zu Recht - das Fehlen von Bildergalerien darauf zurück, daß es dem Amerikaner »nicht gleich« sieht, »ein solches todtes Capital anzulegen«.218 Insgesamt reagieren die deutschen Reisenden irritiert auf die Kommerzialisierung der Kultur, auch wenn sie meist ein gewisses - oft etwas überhebliches Verständnis für die besonderen Bedürfnisse einer jungen Nation aufbringen. 219 Selbst der amerikafreundliche Friedrich von Raumer tut sich aber schwer dabei. Sein Versuch einer Apologie Amerikas in dieser Beziehung treibt etwas kuriose Blüten. Zunächst bemüht er den Topos der »jungen Nation«, um dem Vorwurf der Kulturlosigkeit sein Gewicht zu nehmen: Die Poesie der Amerikaner liegt nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft. Wir Europäer sentimentalisiren uns durch das Abendroth des sinkenden Tages in die Nacht hinein; die Amerikaner gehen durch die Morgenröthe vorwärts zum Tage.220

Unter dieser Perspektive erscheint die Kulturlosigkeit der Amerikaner geradezu als Vorteil; anders als den Europäern steht ihnen nicht unmittelbar das Schicksal bevor, in kulturelle Bedeutungslosigkeit abzusinken. Die von Raumer ausgewählten und ausführlich dargestellten Beispiele für den kulturellen Aufstieg des neuen Kontinents belegen jedoch die Beweisnot, in der er sich befindet: Er ist gezwungen, den europäischen Kulturbegriff regelrecht umzudefinieren und zu amerikanisieren, um seine These vom aufkeimenden Kulturleben zu stützen. Die Behauptung der Reisebereichte, daß die Amerikaner in den traditionellen Künsten wenig hervorgebracht haben und auch kaum Ansätze dazu sichtbar sind, kann er empirisch nicht entkräften. Statt dessen führt er die Blüte des Zei2,5 216 217

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Lenau, Briefe II, S. 207. Witte, Kurze Schilderung der Vereinigten Staaten von Nord=Amerika (1833), S. 31. Struve, Die Union vor dem Richterstuhle des gesunden Menschenverstandes (1855), S. 91. Löwig, Die FreUStaaten von Nord=Amerika (1833), S. 76. Um die Jahrhundertmitte finden sich unter den liberalen Intellektuellen aber auch schon Verteidiger der amerikanischen Kultur, die deren selbständige Leistungen anzuerkennen bereit sind; vgl. Wagner, Das Bild Amerikas in der deutschen Presse von 1828 bis 1865, S. 318 f.; vgl. auch Thaller, Studien zum europäischen Amerikabild, S. 445 f. Raumer, Die Vereinigten Staaten von Nordamerika (1846), S. 130.

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tungswesens an, um die kulturelle Reife breiterer Volksschichten zu beweisen221 - eine Argumentation, bei der ihm die meisten deutschen Reisenden heftig widersprochen hätten - ; und als die gewichtigste und fortgeschrittenste aller amerikanischen Künste erscheint ihm die »Beredtsamkeit«.222 Diese Umdefinition des Kulturbegriffs dürfte den meisten von Raumers deutschen Zeitgenossen inakzeptabel, wenn nicht kurios erschienen sein; allerdings faßt sie die neuen, auch in Deutschland langsam akut werdenden Tendenzen des kulturellen Lebens genauer als die traditionelle emphatische Auffassung der Kultur. Raumer sieht, daß sich in Amerika neue Entwicklungen anbahnen, die auch das kulturelle Leben affizieren: Die Ausübung der Künste folgt praktischen Interessen es ist bezeichnend, daß Raumer neben Malerei und Bildhauerei auch die Baukunst anführt, für die »Kanäle, Eisenbahnen, Brücken und Wasserleitungen würdige Aufgaben« seien223 - , und sie ist eine Angelegenheit des ganzen Volkes, dem sie durch entsprechende Institutionen wie Bibliotheken - Raumer dokumentiert genau den finanziellen Aufwand, der dafür betrieben wird - zugänglich gemacht werden soll. Schon die Feststellung, daß die Kultur direkt an praktische Interessen gebunden ist, steht dem zeitgenössischen deutschen Verständnis entgegen: Dem deutschen Bürgertum fügten sich Kultur, Kunst, Bildung, überhaupt das geistige Leben, zu einem Inbegriff von »Humanität« zusammen, die sich jenseits aller praktischen Notwendigkeiten entfalten sollte - eine Auffassung, die Raumer ignorieren muß, wenn er nicht konzedieren will, daß Amerika diesem Anspruch nicht gerecht wird. Für den deutschen Bürger des 19. Jahrhunderts ist der Gedanke von der Autonomie der Kultur zentral. Sie befriedigt ihm das Bedürfnis nach einer »Gegenwelt« inmitten einer »zunehmend >materiellen< Lebenswelt von Arbeit und Verdienst, Wirtschaft und Technik, Geld und Macht, Leistung und Erfolg«;224 und sie gehört damit zu jenem Bereich der »Innerlichkeit«, in dem der Bürger seine Autonomie entwickeln und sich zum »ganzen Menschen« heranbilden kann. Die deutsche Idee der »Humanität« geht in ihrer geistesgeschichtlichen Tradition zurück auf Herder; und sie ist sozial- und kulturgeschichtlich fundiert in Entwicklungen, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausprägten. Um die Wende zum 19. Jahrhundert wurde das Prinzip erweitert, theoretisch ausformuliert und hypostasiert, wobei Wilhelm von Humboldt und Schiller die Federführung übernahmen. 225 221 222

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Ebd., S. 133. Ebd., S. 134. In diesem Sinne äußert sich auch ein deutscher Briefschreiber im Jahre 1869; vgl. »Amerika ist ein freies Land ...«, S. 120. Raumer, Die Vereinigten Staaten von Nordamerika (1846), S. 134. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 540. Zur Entwicklung der verwandten Ideen von Kultur, Humanität und Bildung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts vgl. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 59 f.; Balet/Gerhard, Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert, S. 167 f. Immer noch wertvoll ist die ältere, sozialhistorisch argumentierende Arbeit von Weil, Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips (zuerst 1930); zur Bildungsidee bei Herder vgl. ebd., 3 9 - 4 1 ; zur Fundierung der Bildungsidee

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Die Irritationen, mit denen die deutschen Reisenden auf den amerikanischen Kulturbetrieb reagieren, resultieren zum guten Teil daraus, daß diese Realität der bürgerlichen Kultur ihnen in Amerika kraß, weil nicht abgemildert durch eine verklärende Kultur-Ideologie, entgegentritt. Sie halten fest an jener Schillerschen Bestimmung, nach der die Kunst »eine Tochter der Freiheit« sei und nicht dem »Nutzen«, als dem »Idol der Zeit, dem alle Kräfte frönen und alle Talente huldigen sollen«, unterworfen werden dürfe.226 Aus solchen klassischen Definitionen beziehen die deutschen Amerika-Kritiker ihre Argumente oder auch nur Formeln. Gall faßt, unter Berufung auf das humanistische Bildungsideal, die Unterschiede der Nationalcharaktere noch einmal in großen Worten zusammen, wenn er dem Deutschen einen Sinn für das »Schöne, Große, Gute und Wahre« zuspricht, während dem Amerikaner nur das »Gelderwerben [...] höchster Zweck des Daseyns« sei.227 Die Dualität einer freien und einer nutzorientierten Kunst prägt die kulturkritischen Bemerkungen der deutschen Reisenden. Dabei kann die Beobachtung, daß in Amerika die Künste ausschließlich dem Gewinnstreben unterworfen sind, im Extremfall sogar zu einer Sehnsucht nach vorbürgerlichen und kunstfreundlicheren Zeiten führen — Bromme klagt darüber, daß in Amerika kein »Fürst [...] mit freigebiger Hand die Werke des Genies« lohnt.228 Umgekehrt findet sich freilich auch der - von liberaler Seite vorgetragene - Vorwurf, daß die Amerikaner die Chancen einer verbürgerlichten Kultur nicht zu nützen wissen: In Amerika, so konstatiert Struve, tritt dem Theater keine »Censur und keine Polizei [...] feindlich in den Weg«; aber der »Geist der Freiheit ist noch nicht in das Theater eingedrungen.« Es bleibt abhängig von der »Gunst des Publikums« und würde »dabei des höchsten Aufschwungs fähig sein, wenn nur der Geschmack und die Richtung der Massen nicht oft fehlerhaft wären.«229 Struve

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in den besonderen sozialhistorischen Vorausssetzungen des deutschen Bürgertums und zur Aufnahme der Bildungsidee im Bürgertum des 19. Jahrhunderts vgl. ebd., S. 236 bis 265 sowie S. 7 f. - Zum Humboldts Bildungsideal vgl. W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (entstanden 1792), S. 144; vgl. dazu Weil, Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips, S. 121 bis 123. Zu den theoretischen - auch von Schiller inspirierten - Prämissen der preußischen Bildungsreform vgl. Hohendahl, Reform als Utopie, S. 256-258. - Zum »Bildungsliberalismus« als einem Surrogat für ökonomischen Liberalismus und den Konsequenzen, die sich aus dieser deutschen Besonderheit ergeben, vgl. Münch, Die Kultur der Moderne II, S. 803. Zum Prozeß der »Verbürgerlichung« der Kultur, der zusammenhängt mit der Emanzipation von den Funktionen, die ihr zuvor durch die »Einbindung in Hof, ständische Welt und Kirche« auferlegt worden waren, vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 533. Schiller, Uber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795), S. 572. Gall, Meine Auswanderung nach den Vereinigten=Staaten in Nordamerika (1822) II, S. 108. Vgl. entsprechend Gagern/Fürstenwärther, Der Deutsche in Nord=Amerika (1818), S. 89 f. Bromme, Hand- und Reisebuch für Auswanderer (61849), S. 455. Struve, Die Union vor dem Richterstuhle des gesunden Menschenverstandes (1855), S. 91.

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deutet damit das Dilemma der verbürgerlichten Kultur an. Er hält an der Humanität als ihrem Grundprinzip fest, ohne aber sehen zu wollen, daß die Kommerzialisierung der Kunst sie zu einem Konsumgut macht, das andere als idealistische Bedürfnisse befriedigen muß, um bestehen zu können.230 Die Kritik an der amerikanischen Kultur mündet schließlich in einem Satyrspiel. Das Innerlichkeitsbedürfnis des deutschen Bürgertums realisierte sich nicht nur im Rückzug in die Familie und auf die Errungenschaften der Kultur, sondern ebenso im Naturgenuß. Auch hier findet die Amerika-Kritik Anhaltspunkte. Sie richtet sich zunächst darauf, daß die amerikanische Naturbetrachtung ökonomischen Nützlichkeitsgesichtspunkten unterworfen wird. Leicht satirisch hat schon Möllhausen diese Haltung charakterisiert: Er beobachtet einen Amerikaner, der sich »nach Herzenslust an den Schönheiten der Natur zu erfreuen« scheint, aber, welch ein Irrthum! - der junge Mann berechnet eben, wie viel Pferdekraft wohl die Wassermassen vor ihm bieten würden, um in einem so und so hohen Sturz bei Anlage einer ungeheuren Wassermühle die Dampfmaschne zu ersetzen; und wie viel wohl dieser ganze herrliche Wald, zu Brennholz geschlagen, auf dem Markte zu New-York werth sein würde!231

Selbst der Niagarafall, der für die deutschen Touristen des 19. Jahrhunderts als Inbegriff erhabenen Naturgenusses erschien, bleibt von solchen Überlegungen nicht verschont: »Beim praktischen Sinn des Amerikaners, der jede neue Erfindung schnellbereit in klingende Münze umzusetzen versteht, war es vorauszusehen, daß er die gewaltige Wasserkraft zur Erzeugung von Elektrizität zu verwerthen sucht«.232 Solche Beobachtungen fügen sich in das Bild des amerikanischen Nationalcharakters und treffen sicherlich zumindest cum grano salis die Wirklichkeit. Ins Groteske übersteigert wird dieses Bild indes, wenn die Eigentümlichkeiten des Nationalcharakters auf die Natur selbst übertragen werden. Der Vorwurf verdichtet sich in der Formel von Amerika als dem »Land ohne Nachtigall«. Lenau, dessen überschwengliche Hoffnungen auf Amerika sich gerade auf die Erwartung gründeten, hier eine zum Dichten anregende poetische Natur vorzufinden,233 formuliert bald nach Ankunft seine Enttäuschung über die 230

Menze, (Art.) Bildung I, S. 149. Zur wirtschaftlichen Entfaltung des »Kulturbetriebs« vgl. Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im Neunzehnten Jahrhundert, S. 442-447; zur Entstehung des kulturellen Konsumverhaltens Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 180-183. 231 Möllhausen, Tagebuch einer Reise vom Mississippi nach den Küsten der Südsee (1858), S. 2. 232 Brühl, Zwischen Alaska und Feuerland (1896), S. 196. Diese Entwicklung ließ sich für die Deutschen, die sich mit dem amerikanischen Charakter beschäftigten, voraussehen: Schon 1839 mokierte sich Biernatzki über das »Nützlichkeitsprinzip, das gern dem Niagarafall ein Wasserrad unterlegt«. Biernatzki, Der braune Knabe oder die Gemeinden in der Zerstreuung (1839), S. 96. Ein halbes Jahrhundert später hat die Wirklichkeit die Satire fast eingeholt. 233 Vgl. Gladt, »Es ist ein Land voll träumerischem Trug ...«, S. 58 f.; Hofmann, Lenaus Naturerleben, S. 18. 325

Amerikaner im allgemeinen und die Natur im besonderen: »Die Nachtigall hat recht, daß sie bei diesen Wichten nicht einkehrt. Das scheint mir von ernster, tiefer Bedeutung zu sein, daß Amerika gar keine Nachtigall hat. Es kommt mir vor wie ein poetischer Fluch.«234 An anderer Stelle greift er die Kritik wieder auf: »Die Natur selbst ist kalt. Die Konformation der Berge, die Einbuchtungen der Täler, alles ist gleichförmig und unphantastisch. Kein wahrer Singvogel. Alles ist nur Gezwitscher und unmelodisches Geflüster. Selbst der Mensch hat keine Stimme zum Gesang.« 235 Lenaus Philippika gegen die Natur wäre nicht ernst zu nehmen, da sie auf einem sehr beschränkten Erfahrungshorizont beruhte,236 wenn sie nicht symptomatisch wäre für eine hyperkritische Einstellung, die sich nur aus der Enttäuschung übertriebener Hoffnungen erklären läßt.237 Fast in der gleichen Weise hatte Gall schon die Nachtigall als Symbol genutzt, um den Amerikaner zu treffen: »keine Nachtigall flötet in diesen herrlichen Wäldern, keine Lerche wirbelt ihren Dank zum Himmel hinauf; nur ein widriges Gekrächze trifft zuweilen das Ohr; die Vögel, wie die Menschen in diesem Lande könne nur gefallen, so lange man nichts von ihnen kennt, als ihr Gefieder.«238 Auch später wird dieser Topos weiter verwendet; Witte findet nur einen »gefiederten Nachtsänger«, der »das Ohr eben so sehr ermüdet, als die Nachtigall in Europa dasselbe durch ihren melodischen Gesang bezaubert«;239 und Baumbach vermißt einen »wirklichen Vogelgesang, so wie wir ihn bei unsern deutschen Waldvögeln oder gar der Nachtigall finden«; und diese Feststellung ruft ein »für den Deutschen ganz eigenthümliches Gefühl der Oede« hervor.240 Damit ist das Stichwort gegeben: Auch in der Natur findet der Reisende den ameri234 235

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Lenau, Briefe, S. 207. Ebd., S. 214. Vgl. dazu Meyer, Nord-Amerika im Urteil des Deutschen Schrifttums, S. 28 f.; Durzak, Nach Amerika, S. 137. Mulfinger, Lenau in Amerika (1897), S. 3; vgl. auch Gladt, »Es ist ein Land voll träumerischem Trug...«, S. 72. Vgl. Desczyk, Amerika in der Phantasie deutscher Dichter, S. 72-76. Gall, Meine Auswanderung nach den Vereinigten=Staaten in Nord=Amerika (1822) II, S. 411. Auch in Auswandererbriefen tritt dieses Motiv gelegentlich auf; vgl. etwa »Amerika ist ein freies Land ...«, S. 194. Witte, Kurze Schilderung der Vereinigten Staaten von Nord=Amerika (1833), S. 57. Baumbach, Briefe aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika (1851), S. 76f. Dieses Leitmotiv der Naturkritik hat eine längere Tradition. Es geht zurück auf Buffon, der die Ansicht vertrat, daß die amerikanische Natur notwendig minderwertig sein müsse. Vgl. Desczyk, Amerika in der Phantasie deutscher Dichter, S. 76. - Im 19. Jahrhundert verdichtet sich diese Kritik im Motiv des fehlenden Vogelgesangs; es findet sich bei Maximilian Prinz zu Wied, Reise in das innere Nord-America (1839/1841) I, S. 291, und selbst noch am Ende des 19. Jahrhunderts bei Licbknecht, Ein Blick in die Neue Welt (1887), S. 122: »Die Natur hat hier den Menschen wie den Vögeln die Gabe des Gesangs versagt.« - Daß dieser Vorwurf erst recht in den amerikakritischen Romanen der Jahrhundertmitte kolportiert wird, versteht sich; vgl. Kürnberger, Der AmerikaMüde (1855), S. 321; Baudissin, Peter Tütt (1862), S. 160. - Dagegen findet die amerikanische Natur nur wenige Verteidiger: Fröbel gesteht Amerika immerhin zu, einige Naturschönheiten zu haben, die nicht an den deutschen gemessen werden dürfen (vgl. Fröbel, Die deutsche Auswanderung und ihre culturhistorische Bedeutung [1858],

326

kanischen Nationalcharakter wieder, der ihn abstößt, weil er dem eigenen Selbstverständnis so sehr widerspricht. Nüchternheit und Öde werden als die umfassenden Prinzipien der amerikanischen Wirklichkeit unterstellt, die dem Bedürfnis nach »Gemütlichkeit« in keinem Punkt entgegenkommt. So ist es kein Zufall, daß Lenau seine Amerika-Kritik schließlich in diesem Begriff zusammenfaßt: »Unbehaglich sind die amerikanischen Straßen, wie ihre Häuser, ihre Betten, ihr Alles. Meine Bemerkung wird ziemlich richtig sein, daß ungemütliche Menschen wenig auf Behaglichkeit halten.«241 Die deutschen Reiseberichte sind sich einig darin, daß der amerikanischen Nation prinzipiell - und aus welchen Gründen auch immer - jeder Sinn dafür abgeht, was unter dem deutschen Begriff der »Kultur« zusammengefaßt werden kann. Die Bemerkungen der Reiseberichte zu diesem Komplex verdichten sich jedoch erst später und vor allem in der fiktionalen Literatur zum Stereotyp. Kürnbergers Roman dürfte hierzu wesentliche Impulse gegeben haben: Er entwirft in einer Fülle anekdotischer Episoden ein Bild des amerikanischen Charakters, der allen höheren kulturellen Bestrebungen abhold ist. Das Kulturleben ist gekennzeichnet durch geschmacklose Repräsentationssucht, Oberflächlichkeit, Epigonalität, Traditionslosigkeit und durch die Fixierung auf quantitatives-kommerzielles Denken.242 Die Kritik läßt den kulturellen Schock erkennen, dem der deutsche Beobachter sich ausgesetzt sieht. Der Schock erhellt die Fremdheit einer Welt, der aufgrund ihres alle Lebensbereiche durchdringenden Materialismus jede Beziehung zu einer Sphäre ökonomiefreier »Innerlichkeit« fehlen muß; und er erhellt zugleich das Autostereotyp des Deutschen, der seinen Nationalcharakter seit der Romantik durch diese »Innerlichkeit« mal affirmativ, mal negativ definiert,243 wie es ein deutscher Auswanderer in einem Brief von 1857 in seltener Klarsicht formuliert: »Fürchte auch nicht, dass ich das Leben dort« - in Deutschland »zu eng u. zu klein finden werde, dort wo Kunst und Wissenschaft blüht, wo der Geist Nahrung und das Herz Befriedigung findet, nachdem ich so lange in dem geist- und herzlosen Amerika geschmachtet, wo man Nichts ehrt als Geld, nichts denkt als an Geld, wo alle beßere Gefühle untergehen im alleinigen StreS. 39), und Duden bleibt auch in dieser Beziehung unbeirrbar: »Daß es in Nordamerika keine gute Singvögel gebe, ist eine lächerliche Übertreibung. [...] Man vermißt eigentlich nur die Nachtigall. Den übrigen Singvögeln Europas kann Amerika die seinigen recht gut entgegenstellen.« Duden, Bericht über eine Reise nach den westlichen Staaten Nordamerikas (1829), S. 147. 241 Lenau, Briefe, S. 217. Vgl. auch Hofmann, Lenaus Naturerleben, S. 20f. Den Übergang von der Natur- zur Kulturkritik bei Lenau verfolgt Meyer, Nord-Amerika im Urteil des Deutschen Schrifttums, S. 28-30. 242 Vgl. die symptomatischen Szenen, in denen Kürnberger das amerikanische Kunst- und Dichtungsverständnis karikiert: Kürnberger, Der Amerika-Müde (1855), S. 26f.; S. 246-255; S. 84-97. Baudissin, Peter Tütt (1862), S. 47. Eine Zusammenstellung der verschiedenen Aspekte von Kürnbergers Kulturkritik gibt Meyer, Nord-Amerika im Urteil des Deutschen Schrifttums, S. 80-83. 243 Vgl. v. Heydebrand, (Art.) Innerlichkeit IV, Sp. 388. 327

ben nach Geld.« 244 Solche - in den authentischen Reiseberichten nur beiläufigen - Bemerkungen über die Kulturlosigkeit der Amerikaner haben ihren Fluchtpunkt in eben diesem Vorwurf fehlender »Innerlichkeit«, der sich konkretisieren kann als Mangel an Gemütlichkeit, als falsche Einstellung zur Kunst und insbesondere zur Musik 245 - oder allgemein als Kommerzialisierung des Denkens und Handelns in allen Lebensbereichen. Struve hat die sozialgeschichtlichen Ursachen, die sich hinter den diffusen Begriffen von »Innerlichkeit« und »Gemütlichkeit« verbergen, bemerkenswert klar erkannt und von ihnen ausgehend den Unterschied zwischen den deutschen und den amerikanischen sozialen Verhältnissen zu bestimmen versucht: in Europa flüchtet sich der durch trübe geschäftliche oder staatliche Verhältnisse verstimmte Mann in den Schooß der Natur, der Künste und Wissenschaften, heiterer Geselligkeit oder der Familie und findet darin Trost, Frohsinn und frischen Muth. In Amerika ruht aber auf Kunst und Wissenschaft, Familie und Geselligkeit wieder derselbe Alp, welcher auf dem Politiker, dem Geschäftsmann und dem Kirchenmann schon zu schwer lastet.246 Der repräsentative Apologet des deutschen Bürgertums, Gustav Freytag, hat in seinem Roman »Soll und Haben« - er erschien im gleichen Jahre wie Kürnbergers »Amerikamüder« - einen Beleg für die wechselseitigen Beziehungen zwischen dem Selbstverständnis des deutschen Bürgers und der literarischen Arnerika-Kritik geliefert. Dem Lob der »Gemütlosigkeit des Amerikaners«, das er eine seiner Romanfiguren aussprechen und als Grundlage des merkantilen Erfolgs darstellen läßt, hält er die deutsche Auffassung entgegen: O es ist traurig, das Leben in ein solches Rechenexempel aufzulösen. [...] Töten Sie die Phantasie und unsere gute Laune, die auch den leblosen Dingen ihre freundlichen Farben verleiht, was bleibt dann dem Leben des Menschen? Nichts bleibt, als der betäubende Genuß oder ein egoistisches Prinzip, dem er alles opfert. Treue, Hingebung, die Freude an dem, was man schafft, das alles geht dann verloren. Wer so farblos denkt, der kann vielleicht groß handeln, aber sein Leben wird weder schön, noch freudenreich, noch ein Segen für andere.247 Freytags Roman läßt in pointierter Zusammenfassung noch einmal erkennen, welche Rolle die literarische Amerika-Kritik im Seelenhaushalt des deutschen Bürgertums der zweiten Jahrhunderthälfte gespielt hat: Sie ist die Reaktion auf Bedrohungen, die sich durch die Entwicklung der modernen Wirtschaftswelt 244

»Amerika ist ein freies Land ...«, S. 215. Vgl. Griesinger, Freiheit und Sclaverei unter dem Sternenbanner (1862) I, S. 337; Struve, Die Union vor dem Richterstuhle des gesunden Menschenverstandes (1855), S. 92. 246 Struve, Die Union vor dem Richterstuhle des gesunden Menschenverstandes (1855), S. 87 f. 247 Freytag, Soll und Haben (1855) I, S. 317f. Auch die amerika-apologetische Romanfigur Fink wird in Amerika bald eines Besseren belehrt und sehnt sich reumütig zurück nach den deutschen Verhältnissen, vgl. ebd., S. 508-510. Zur Rolle der Amerika-Darstellung in der poetischen Ökonomie von Freytags Romans vgl. Schneider, Geschichte als Gestalt, S. 144f. Zu Kürnberger und Freytag vgl. Martini, Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus, S. 483. 245

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auch in Deutschland zusehends deutlicher abzuzeichnen beginnen. Sie wurden wohl zuerst erfahren als die Ursurpation der vermeintlich ökonomiefreien Sphäre von Kultur und Innerlichkeit durch kommerzielle Prinzipien. Die Projektion dieser Entwicklungen auf Amerika - wo sie in der Tat viel deutlicher hervorgetreten sind, wenn auch kaum so deutlich, wie Kürnbergers Roman suggerieren wollte - kann die Illusion nähren, daß in der eigenen Lebenswelt diese Drohungen nicht aktuell sind und vielleicht auch nicht aktuell werden, weil sie als Ausdruck des amerikanischen Nationalcharakters begriffen werden. Dennoch zeichnet sich ab, daß die Formel von Amerika als »Zukunft Europas« einen neuen Sinn erhält: Der »American way of life« erscheint zusehends weniger als Hoffnung denn als Menetekel.

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KAPITEL II

Das Land der Zukunft: Politische, gesellschaftliche und soziale Probleme des Fortschritts

1. D a s Leben der Republikaner Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte Hegel die Formel gefunden, welche das Verhältnis Europas zu Amerika am genauesten erfaßt: Amerika ist das »Land der Zukunft«. 1 In dieser Formel sind alle Facetten auch des deutschen AmerikaBildes vereinigt. Die Vereinigten Staaten erscheinen in gesellschaftlicher, politischer, wirtschaftlicher und sozialer Beziehung als Vorwegnahme der Zukunft Europas; und diese Perspektive reizt die Beobachter zum ständigen Vergleich der amerikanischen mit den deutschen Zuständen, weil in diesem Vergleich der »Fortschritt« unmittelbar erfahrbar wird. Zunächst rückt der politische Aspekt in den Blickpunkt. Das Amerika-Bild wird seit der Unabhängigkeitserklärung geprägt vom Interesse an den konstitutionellen Verhältnissen in den Vereinigten Staaten. Die Freiheitsbegeisterung der deutschen Aufklärung findet hier ihren ersten historischen Anhaltspunkt für die Realisierungsmöglichkeit ihres Ideals; und sie leitet seit dem Beginn der achtziger Jahre so etwas wie eine »zweite, politische Entdeckung Nordamerikas« ein.2 Fast alle wichtigen deutschen Literaten dieser Zeit haben sich mit der amerikanischen Revolution befaßt; Wieland, Herder, Klopstock und Schiller gehörten ebenso dazu wie die deutschen Jakobiner Schubart, Knigge, Seume - der als einziger Amerika als gepreßter hessischer Söldner hatte kennenlernen müssen oder Rebmann. 3 Die amerikanische Revolution wird in Deutschland jedoch bald von den Eindrücken der Französischen überlagert; dennoch bleiben die republikanischen Einrichtungen der Vereinigten Staaten, ihre »Declaration of Independence« und ihre »Bill of Rights« ein Kristallisationspunkt, um den sich nicht nur die staatstheoretische Diskussion in Deutschland zentriert, sondern der auch die Hoffnungen der Einwanderer beflügelt. Allerdings sind die Frei1

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Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (zuerst erschienen 1837), S. 114. Engelsing, Deutschland und die Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert, S. 139; vgl. auch Dippel, Germany and the American Revolution, S. 345 f. Zur politischen Amerika-Rezeption im ausgehenden 18. Jahrhundert vgl. Breffka, Amerika in der deutschen Literatur, S. 4 - 7 ; Desczyk, Amerika in der Phantasie deutscher Dichter, S. 32-36; Fraenkel, Einleitung, S. 16-24. Zum Einfluß der amerikanischen Revolution auf die deutsche politische Diskussion um 1800 vgl. Dippel, Germany and the American Revolution, S. 329-364; allerdings verdrängt die Diskussion um die Französische Revolution bald die um die amerikanische; vgl. ebd., S. 335.

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heitserwartungen der normalen, politisch-theoretisch kaum ambitionierten deutschen Einwanderer äußerst vage, und die einschlägige Ratgeber-Literatur hat nichts Wesentliches zu einer Klärung der Vorstellungen beigetragen. Das Hauptinteresse der Auswanderer betraf die Verbesserung ihrer ökonomischen Situation. Das Problem der politischen Freiheit rückte ihnen meist nur so weit in den Blick, als es unmittelbar damit zusammenhing. 4 So beschreibt Streckfuss die Hoffnungen des deutschen Auswanderers: Er sucht »zuerst Freiheit. Er glaubt sich im Vaterlande beschränkt« und verläßt deshalb die Heimat.5 Dieses Streben nach einer nicht genauer spezifizierten Unabhängigkeit führte die meisten Auswanderer in den Westen, in dem sich die Freiheit als Abwesenheit von jeder Form von politischer Herrschaft ebenso wie von Naturzwängen manifestierte. Der »Freiheits«-BegrifT der Auswanderer und auch der eines großen Teils der Auswandererliteratur bleibt diffus und vortheoretisch.6 Er war nicht unmittelbar politisch motiviert, und er wäre auch nicht durch die in Deutschland von den Liberalen diskutierte größere Partizipationsmöglichkeit an demokratischen Institutionen zu befriedigen gewesen. In ihm verbinden sich die lebenspraktischen Bedürfnisse der Auswanderer und vage, meist aus der deutschen Alltagserfahrung bezogene Vorstellungen über Politik und Gesellschaft zu einem unscharfen Konglomerat, das den Erwartungshorizont präformiert und die Erfahrung des amerikanischen Lebens prägt. Das qualifiziert die Freiheitsproblematik zu einem der wenigen Bereiche, in denen sich die Themen von publizierter und privater Amerikaliteratur weitgehend überschneiden. Hier wie dort wird das Problem stets erneut aufgegriffen, und hier wie dort finden sich in der Regel die gleichen positiven oder negativen Urteile, die mit den gleichen Argumenten vertreten werden. Möglich wird diese weitgehende Kongruenz von privater und publizierter Literatur in diesem Bereich durch den sinnlich-unsinnlichen Doppelcharakter des Freiheitsbegriffs: zum einen ist er das hochtheoretische und abstrakte Konstrukt einer langanhaltenden und gerade im 19. Jahrhundert wieder besonders intensiv geführten europäischen Diskussion in Philosophie und Staatstheorie; zum anderen manifestiert sich das Problem der Freiheit wie kaum ein anderes im konkreten Alltagsleben. In dieser Doppelsinnigkeit prägt der FreiheitsbegrifT die auf Amerika gerichteten Vorstellungen der Auswanderer ebenso wie ihren Wahrnehmungshorizont. Der Freiheitsbegriff wird zu einer Leitkategorie, an der sich die Formulierung der positiven oder negativen Erfahrungen der Auswanderer orientieren kann. 4

Diese Auffassung hat eine weit in die deutsche Amerika-Auswanderung zurückreichende Tradition. Die ersten Ansiedler in Pennsylvania verbanden mit ihrer Auswanderung nur insoweit Freiheitsvorstellungen, als sie die feudalen Privilegien hinter sich lassen wollten, wobei sie »Obrigkeit an sich« durchaus nicht ablehnten. Vgl. Wellenreuther, Vorstellungen, Traditionen und Erwartungen, S. 110. 5 Streckfuss, Der Auswanderer nach Amerika (1836), S. 114; ähnlich Wagner, Ein Achtundvierziger (1882), S. 61. 6 Greverus, Der territoriale Mensch, S. 138

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Er deckt in seiner konkretisierten Version alles ab, was an Erwartungen an Amerika herangetragen wurde. Dabei geht er eine nicht genau definierte Verbindung mit ökonomischen Ansprüchen ein: »Unabhängigkeit und Wohlstand«7 wurden die Leitwörter, in denen sich die Erwartungen der Emigranten kristallisierten. Die Fruchtbarkeit des Landes und die leichte Bearbeitbarkeit des Bodens werden sodann ebenso in Verbindung gebracht mit der Freiheit8 wie die klassischen Themen der europäischen Freiheitsdiskussion: »Glaubens- und Bekenntnisfreiheit«,9 die »freie Sprache«10 und schließlich die politische Freiheit, die auch für die Zofe einer Hofkammerrätin darin besteht, daß Amerika »keinen Kaiser, König oder Fürsten, keinen Adel« hat und daß dort »Freiheit und Gleichheit« herrscht.11 Die Verquickung des ökonomischen mit dem politischen Freiheitsbegriff geht aus einer charakteristischen Passage in Ostermayers Reisebericht hervor: Frei ist der Mann von tausend Plackereien, Bücklingen und von Kriecherei; wer hier zu Lande fleißig ist, gilt als Gentleman. Das heisse ich mir Freiheit, die wissen aber auch die Deutschen im Lande zu schätzen; die andern draussen in Europa haben keinen Begriff von solcher Freiheit.12

Solche Konkretisierungen des Freiheitsbegriffs, die seine unmittelbare Anbindung an das Alltagsleben erlauben, lassen sich fast übergangslos in eine theoretische und umfassendere Konzeption umsetzen. Der Freiheitsbegriff deckt beides ab: die theoretische Formulierung ebenso wie die konkrete Alltagserfahrung. Durch diese Möglichkeit einer unmittelbaren Koppelung von abstraktem Ideal und Alltagsleben wird das theoretische Problem auch für die Auswanderer interessant. Im Begriff der Freiheit verdichten sich mehr als in jedem anderen die Erwartungen - und auch die Enttäuschungen - die sich mit Amerika verbinden und die meist in den Kategorien eines absoluten Dualismus formuliert werden: Amerika ist für die prospektive Erwartungshaltung der Auswanderer das Land der uneingeschränkten Freiheit, während Deutschland als der »Kerker«13 oder als das Land der Sklaverei erscheint.14 Durch solche Konkretisierungen und Dichotomisierungen kann der Freiheitsbegriff das vage Erwartungspotential auffüllen, das mit der Auswanderung verknüpft ist und das den ersten Enttäuschungen und der ersten Konfrontation mit den realen Schwierigkeiten des amerikanischen Lebens nicht immer standhält und oft ins Gegenteil umschlägt. Die Voraussetzungen für die Realisierung der so von Amerika erhofften Freiheit werden eher in der Natur als in der Gesellschaft gesucht. Dudens »Bericht« 7

Pauer, Die Vereinigten Staaten von Nord=Amerika (1847), S. 102. Vgl. Briefe aus Amerika, S. 71 (1836). 9 Ebd., S. 293 (1842). 10 Ebd., S. 105(1838). 11 »Amerika ist ein freies Land ...«, S. 115 f. (1832). 12 Ostermayer, Tagebuch einer Reise nach Texas (1850), S. 165. 13 »Amerika ist ein freies Land ...«, S. 113 (1862). 14 Ebd.,S. 44 (ca. 1850). 8

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artikuliert wie kein anderer Text der deutschen Auswanderungsliteratur die Vorstellungen einer Freiheit, die sich durch die konkret realisierte Versöhnung von Mensch und Natur erreichen lassen könne. Das von ihm geschilderte idyllischpatriarchalische Leben übte auf die deutsche Auswanderung eine suggestive Kraft aus, der nicht nur einfache Bauern, sondern besonders Intellektuelle wie der Theologieprofessor Büttner erlagen: Er zieht mit Musikinstrumenten und einer Bibliothek nach Amerika, um auf einer Farm ein »amerikanisch=idyllisches Leben« zu führen, 15 »ganz nach eigenem Gutdünken und Geschmack«. 16 Dieses Leben nach eigenem Gutdünken ist der Inbegriff der deutschen Freiheitsvorstellung, und die Hoffnung, daß sie sich im Farmerleben realisieren lassen, hatte Duden weidlich genährt. 17 Der Tenor seiner Schrift läuft auf den versuchten Nachweis hinaus, daß individuelle Freiheit nur jenseits staatlicher Institutionen, in der Natur möglich sei, und daß selbst das Funktionieren eines freiheitlichen Staatswesens an die Gunst der natürlichen Umstände und nicht an den Charakter der Bevölkerung oder die Vortrefflichkeit der Gesetze gebunden sei.18 Dudens Vorstellung vom gesellschaftlichen Leben ist nicht von politischen Überlegungen geprägt; sie entspringt der archaisierenden Mythologie einer Gemeinschaft, die sich organisch von selbst herstellt. Ihre Voraussetzung ist, daß das Leben des einzelnen der entsittlichenden Notwendigkeit enthoben ist, im Kampf gegen die Natur und gegen andere für den täglichen Unterhalt zu sorgen. Die freigebige Natur schafft die Grundlagen für ein harmonisches Gemeinschaftsleben; sie »selbst ist es, welche unmittelbar, ohne alle Hülfe menschlicher Weisheit, diesen Zustand hervorgebracht hat.«19 Dudens Vorstellungen sind vom amerikanischen Leben an der frontier und nicht dem der östlichen Städte beeinflußt. Sie beziehen einige Versatzstücke aus dem amerikanischen Selbstverständnis, wie es sich im fron tier-Bewußtsein artikuliert: Ihm erscheint die amerikanische Demokratie als autochthon, nicht als Ergebnis verfassungsrechtlicher Konstruktionen und politischer Kämpfe. Ihre Wertvorstellungen entspringen den Erfahrungen und Bedürfnissen des Lebens im Westen, aus dem erst die demokratischen Institutionen hervorgegangen sind: »American democracy ist fundamentally the outcome of the experiences of the American people in dealing with the West. Western democracy through the whole of its earlier period tended to the production of a society of which the most distinctive fact was the freedom of the individual to rise under conditions of social mobility and whose ambition was the liberty and well-being of the masses.«20 Dudens Gesellschaftsvorstellung weicht von der frontier-Konzeption in15 16 17

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Büttner, Die Vereinigten Staaten von Nord=Amerika (1846) I, S. 18. Ebd., S. 3. Vgl. besonders die Schilderung seines Tagesablaufes: Duden, Bericht über eine Reise nach den westlichen Staaten Nordamerika^ (1829), S. 9 7 - 9 9 . Vg. ebd., S. 125; vgl. auch S. 306f. Ebd., S. 320. Turner, Contributions of the West to American Democracy (1903), S. 266. - Zum D e mokratie-Konzept der frontier-These vgl. auch Beck, Die Frontiertheorie von Frede-

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des dort ab, wo diese die Härte des Kampfes mit der Natur exponiert, in dem sich erst die Gemeinschaft bilde.21 Hier amalgamiert er der amerikanischen Vorstellung - die wohl der amerikanischen Wirklichkeit entspricht - eine spezifisch deutsche, auf idyllisch-patriarchalische Gemütlichkeit abgestellte Gemeinschaftsideologie. Mit dem /rowiier-Autostereotyp stimmt er aber insoweit überein, als er nicht nur wie diese die »geheimnisvoll wirkenden mystischen Potenzen der amerikanischen Natur« als gemeinschaftsbildende Kräfte hypostasiert,22 sondern auch den Begriff der persönlichen Freiheit unzertrennbar mit dem des materiellen Wohlergehens verschmilzt. Dieses Konzept entspricht offensichtlich den Erwartungen der breiten Masse deutscher Auswanderer: Ihre Utopie ist unpolitisch. Charles Sealsfield hat ein in seinen Grundstrukturen ähnliches Bild der amerikanischen Demokratie zu entwerfen versucht, das allerdings schon deutliche Züge einer gescheiterten Wunschvorstellung erkennen läßt. Auch für ihn ist die »agrarische Gesellschaft des Westens und Südwestens der Vereinigten Staaten die reale Bestätigung seiner gesellschaftpolitischen Vorstellungen«.23 In seinen Romanen beschreibt er die Entstehung der demokratischen Gesellschaft aus dem Geist des Westens. Er zitiert eine schon stark stilisierte Agrargesellschaft die in ihren einzelnen Zügen durchaus an Dudens ebenso wie an Coopers Beschreibungen erinnert - herbei, die er abgrenzt von der kapitalistischen Entwicklung des Ostens ebenso wie von der hierarchisch-aristokratischen Gesellschaft Mexikos. Agrarsoziale, republikanische und aristokratische Momente bilden die heterogenen Versatzstücke, aus denen sich Sealsfields Gesellschaftsideal eines »konservativen Republikanismus« zusammensetzt,24 und das er mit seinen Bildern »des häuslichen und öffentlichen Lebens freier Bürger eines stammverwandten, weltgeschichtlich groß werdenden Staates, als Spiegel zur Selbstbeschauung« dem deutschen Leser nahebringen will.25 So komplex und in seinen eigentlichen Intentionen oft auch undurchschaubar dieses Gesellschaftsbild im einzelnen ist, so deutlich treten in ihm die Elemente eines idyllisierenden

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rick Jackson Turner, S. 25 f. - Als historiographischer Erklärungsansatz ist Turners These umstritten; unbestritten ist aber, daß sie einen zentralen Aspekt des amerikanischen Selbstverständnisses umschreibt. Vgl. dazu auch Becks Zusammenfassung seiner Diskussion der Turner-These ebd., S. 7 9 - 8 1 . Vgl. Beck, Die Frontiertheorie von Frederick Jackson Turner, S. 23 f. Zum Unterschied zwischen Dudens Darstellung des Westens und der amerikanischen Frontier-Realität vgl. auch Mittler, Die Eroberungeines Kontinents, S. 105f. Beck, Die Frontiertheorie von Frederick Jackson Turner, S. 80. Ritter, Charles Sealsfields gesellschaftspolitische Vorstellungen und ihre dichterische Gestaltung als Romanzyklus, S. 404. Vgl. Ritter, Charles Sealsfield (Karl Postl), S. 119. Sealsfield, Lebensbilder aus der westlichen Hemisphäre (1846) I, Widmung. - Zur konservativen Tendenz von Sealsfields Republikanismus, der eine Präferenz für die aristokratische Südstaaten-Gesellschaft erkennen läßt, vgl. auch Magris, Der Abenteurer und der Eigentümer, S. 159-162; Ritter, Charles Sealsfield: Politischer Emigrant, freier Schriftsteller und Die Doppelkrise von Amerika-Utopie und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, S. 58.

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Freiheitsbegriffs hervor, wie ihn schon Duden propagiert und wie er so großen Anklang bei den potentiellen Auswanderern gefunden hatte: es ist unsere eigene Besitzung, unsere eigene Pflanzung, auf die wir mit dem Stolze, mit der Vorliebe eines Hausvaters, der seinen Haushalt gedeihen sieht, der seine Bäume selbst gepflanzt, seine Saaten selbst ausgestreut schauen; in der wir zu Hause sind, auf der keine Schulden, keine Abgaben, keine Frohnen, lasten, ein Freigut in jeder Hinsicht, das nicht großen Herren, Kaisern, Königen, Herzogen Grafen, oder wie sie immer heißen mögen, gehört; wo wir nicht bloße Taglöhner, Miethsleute sind.26

Sealsfield formuliert noch einmal als reale Möglichkeit, was sich der deutsche Auswanderer als höchste Errungenschaft des amerikanischen Freiheitsversprechens vorstellte: Bescheidenen Wohlstand und Unabhängigkeit von sämtlichen staatlichen Beeinträchtigungen.27 Dem Ansiedler im Westen mag dieses Ziel, bei aller Mühsal und allen Entbehrungen des täglichen Lebens, erreichbar gewesen sein; und ihm stellten sich die Probleme der demokratischen Wirklichkeit in Amerika damit praktisch kaum noch. Anders verhält es sich bei den Auswanderern und den Reisenden im Osten: Bei ihnen ist eine spezifische Neugierde zu konstatieren, die sich auf die tatsächlichen Auswirkungen der Demokratie im Alltagsleben, in den Sitten und Gebräuchen und schließlich im Charakter der Amerikaner richtet. Auch bei diesen Beobachtern bewegt sich die Fragestellung unterhalb eines theoretischen Reflexionsniveaus. Sie richten den Blick nicht auf die Stärken und Schwächen der demokratischen Institutionen, sondern ihnen tritt die Demokratie als eine Lebensform gegenüber, die sich in allen Lebensäußerungen als praktikabel ausweisen muß. 28 Diese Demokratieauffassung mag bei den einzelnen Reisenden spontan und unreflektiert zustande gekommen sein, hervorgegangen aus der Konfrontation eines bestimmten politischen Erwartungshorizontes mit den Alltagserscheinungen des amerikanischen Lebens. Dennoch entspricht dieses Demokratiekonzept dem zeitgenössischen theoretischen Diskussionsstand. Im Deutschland des zweiten Jahrhundertviertels wurde die »Demokratie« nicht so sehr als institutionalisierte Regierungsform, sondern als gesellschaftliches Prinzip begriffen. Diese Auffassung war theoretisch von Tocqueville in seinem Amerikabuch exponiert worden, in dem er sich weniger für die republikanischen Institutionen als für die Auswirkungen des »demokratischen Prinzips« auf die »Tatbestände des 26 27

28

Sealsfield, Lebensbilder aus der westlichen Hemisphäre (1846) II, S. 89 f. Die Vorstellung, daß die Siedlung im Westen die Keimzelle zu einer agrarisch-demokratischen Gesellschaft sein solle, war eine der tragenden Säulen des amerikanischen Selbstverständnisses; die deutschen Siedler haben sie offensichtlich übernommen. Vgl. Smith, Virgin Land, S. 139. Charakteristisch für diese an konkreten Alltagserfahrungen orientierte Wahrnehmungsform ist der ausführliche Brief eines deutschen Auswanderers. Er versucht detailliert, aber eben nicht in theoretisch-allgemeiner Formulierung, alle Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen und politischen Prinzipien und Lebensformen Amerikas und Deutschlands aufzuzählen, die ihm für die eigene Lebenspraxis als Auswanderer relevant erscheinen. Vgl. Briefe aus Amerika, S. 454-457 (1884).

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gesellschaftlichen Lebens« und die »Wechselwirkungen zwischen diesem und den politischen Einrichtungen« interessierte.29 Die Ablösung des Demokratieund Freiheitsbegriffs von den Institutionen des Staates und seine Verlagerung in die Gesellschaft gibt dem Blick Tocquevilles wie auch dem der deutschen Reisenden die Richtung. In der Vorrede zum zweiten Teil seines Buches — der 1840 erschien - hat Tocqueville sein Untersuchungsprinzip zusammengefaßt: Er will zeigen, wie die »demokratische Gesellschaftsordnung« in Amerika eine »Menge Gefühle und Anschauungen entstehen« ließ, die »in den alten aristokratischen Gesellschaften unbekannt waren. Sie hat vorhandene Beziehungen zerstört oder verändert und neue begründet. Das Aussehen der bürgerlichen Gesellschaft hat sich damit nicht weniger gewandelt als das Gesicht des politischen Lebens«.30 Die Auffassung, daß die Demokratie als Prinzip sich in allen gesellschaftlichen und individuellen Lebensäußerungen zu erkennen geben müsse, ist so sehr auch in der zeitgenössischen deutschen Demokratieauffassung verankert, daß sie sich die meisten Reisenden bewußt oder unbewußt, systematisch oder sporadisch, zu eigen machen. Schon Bromme folgte ihr vor Tocqueville in seiner großen Reisebeschreibung, wenn er die politischen, wirtschaftlichen, privaten und individuellen Charakteristika der Amerikaner auf das demokratische Prinzip zurückführen will: Eine sichtbare Folge der in Amerika herrschenden bürgerlichen Gleichheit und politischen Freiheit sind: Wohlstand, beständige Gelegenheit zu Arbeit und Verdienst, Sinn für Reinlichkeit, Ordnung, häusliches Glück, Bildung und Kenntnisse.31

Bromme schildert die Auswirkungen der Demokratie in den leuchtendsten Farben; andere Autoren, die ein ähnliches Beobachtungskonzept verfolgen, sind skeptischer: Sie finden nicht immer das wieder, was sie sich von der Freiheit und Gleichheit in Amerika versprochen hatten. Die spezifischen Erscheinungsformen des »American way of life« werden aufmerksam registriert. Soweit sich fundamentale Abweichungen von deutschen Gepflogenheiten finden, werden sie meist höchst ambivalent beurteilt, und das Urteil impliziert eine politische Wertung des gesellschaftlichen Zustandes, der für die Abweichungen verantwortlich gemacht wird. Drei symptomatische Erscheinungen des amerikanischen Alltagslebens sind es vor allem, welche die Aufmerksamkeit der Reisenden anziehen und divergierende Urteile provozieren: Die Praxis der Religionsausübung; 29

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Eschenburg, Tocquevilles Wirkung in Deutschland, S. 882. Zum »Demokratischen Prinzip« in der liberalen Diskussion vgl. auch Rotteck, (Art.) Demokratisches Princip; demokratisches Element und Interesse; demokratische Gesinnung, S. 252; Maier, (Art.) Demokratie V, S. 867-869. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika (zuerst frz. 1835/1840), S. 483. Bromme, Reisen durch die Vereinigten Staaten und Ober=Canada (1834f.) I, S. 7. Diese Stelle wird von Murhard in seinem Beitrag zum Rotteck-Welckerschen »StaatsLexikon« fast wörtlich aufgegriffen. Für ihn sind »allgemein verbreiteter Wohlstand, Sinn für Ordnung, häusliches Glück, Reinlichkeit, Bildung und Kentnisse« ebenfalls zurückzuführen auf die »bürgerliche Gleichheit«; Murhard, (Art.) Nordamerikanische Verfassung (1841), S. 422.

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das Problem der Gleichheit; und schließlich die gesellschaftlichen Umgangsformen als Ausdruck eines republikanischen Selbstbewußtseins. Außer für die Liberalen, deren Freidenkertum oft der Grund für ihre politische Verfolgung war und für die das traditionelle amerikanische Versprechen der Religionsfreiheit besonders attraktiv sein mußte, 32 ist für die deutschen Auswanderer die Religionsfreiheit als grundsätzliches Problem kein Thema. Allerdings stellt sie für einige Autoren eine Irritation dar, weil sie mit ihr ein ordnungsstiftendes Moment in der Gesellschaft verloren gehen sehen. Im 18. Jahrhundert hatte Mittelberger darüber Klage geführt, daß die Religionsfreiheit das Seelenheil gefährde;33 diese Kritik übernimmt Büttner - der als Theologieprofessor freilich befangen ist - und er erweitert sie: Er sieht nicht nur das Seelenheil, sondern die gesellschaftliche Ordnung gefährdet. Nach Büttner ist die Religionsfreiheit verantwortlich für das grassierende Sektenwesen, das in »Nord=Amerika die Irrenhäuser« fülle,34 eine große Zahl von »Heiden« - gemeint sind die Ungetauften - zur Folge habe35 und überhaupt für allerlei Hader und Zwietracht verantwortlich sei: »Das ist die edle Religions= und Gewissensfreiheit, nach welcher Viele in Deutschland sich so sehr sehnen. Es entsteht durch sie nichts als Sectirerei, Erbitterung, Zank, Streit, Unfrieden und Trennung, und die ächte wahre Religiosität geht verloren.«36 Solche grundsätzlichen Reflexionen sind jedoch in den Reiseberichten eher unüblich, auch wenn das amerikanische Sektenwesen oft Anlaß für mokante Kritik ist.37 Eigentliches Interesse an der amerikanischen Religionsausübung nehmen die Deutschen jedoch erst, wenn ihre unmittelbaren Lebensbelange berührt sind; dann nämlich, wenn puritanische Sonntagsheiligung und das deutsche Bedürfnis nach sonntäglicher Gemütlichkeit kollidieren. 32

Ein Beispiel dafür ist Wislicenus, der wegen angeblicher - aber von ihm bestrittener Verspottung der Bibel verfolgt wurde; vgl. Wislicenus, Aus Amerika (1854) I, S. 9. Zum Freidenkertum der emigrierten Achtundvierziger und zur geringen Resonanz, die sie damit in Amerika finden, vgl. Wittke, Refugees of Revolution, S. 122-143; Erhorn, Die deutsche Einwanderung der Dreißiger und Achtundvierziger in die Vereinigten Staaten und ihre Stellung zur nordamerikanischen Politik, S. 35. 33 Mitteiberger, Reise nach Pennsylvanien (1756), S. 21f. 34 Büttner, Die Vereinigten Staaten von N o r d a m e r i k a (1846) I, S. 434. 35 Ebd. II, S. 331. 36 Ebd., S. 275. Ernsthafte Bedenken gegen die amerikanische Religionsfreiheit mit ihren Versuchungen zum Sektenwesen erhebt ein Auswanderer in einem Brief von 1842; vgl. Briefe aus Amerika, S. 293; entsprechend werden diese Erscheinungen oft auch in der deutschen Presse kommentiert; vgl. etwa Thaller, Studien zum europäischen Amerikabild, S. 504 f. 37 Charakteristisch ist die satirische Darstellung eines »camp-meeting« bei Gerstäcker, Nach Amerika! (1855) VI, S. 4 0 - 6 2 und bei Kürnberger, Der Amerika-Müde (1855), S. 374-396. Gelegentlich finden sich allerdings auch andere Auffassungen; vgl. etwa Briefe aus Amerika, S. 168 (1871). Der Briefschreiber fordert hier die Deutschen auf, selbst die amerikanischen Sonntags-Gepflogenheiten zu übernehmen. Zu den Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Amerikanern, die sich gerade an diesem Problem entzündeten, vgl. Bretting, Die Konfrontation der deutschen Einwanderer mit der amerikanischen Wirklichkeit, S. 255.

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Verteidiger der amerikanischen Sonntagsruhe sind selten. Immerhin läßt die Apologie durch den Liberalen Baumbach einen Rückschluß auf die ganz anders gearteten deutschen Verhältnisse zu: Musterhaft ist die sonntägliche Stille und Ruhe, welche in den hiesigen kleinen Städtchens [sie!] mit überwiegender Yankee Bevölkerung zu herrschen pflegt. [...] Alle Store und Schenken sind den ganzen Tag über geschlossen; kein Amerikaner macht und empfängt des Sonntags Besuche; nur die nächsten Anverwandte pflegen wohl Abends spät noch einander zu besuchen. Nie - in solchen kleineren Städten - wird hier der Sabbath durch das wilde Gegröhle Betrunkener aus den Schenken und auf den Gassen umherziehend, gleich wie in Deutschland entheiligt.38

Diese positive Würdigung des Sonntags ist indes untypisch. Normalerweise wird die Sonntagsruhe von den Deutschen als bedrückend empfunden, zunächst wohl vor allem deshalb, weil sie den deutschen Lebensgewohnheiten vollkommen entgegengesetzt ist: Griesinger kann sicherlich zu Recht feststellen, daß der Deutsche bei keiner anderen Gelegenheit deutlicher fühlt, »daß er ein Fremdling ist im fremden Lande, und stets ein Fremdling bleiben wird.«39 Erst dieser unmittelbare Eingriff in das tägliche Leben macht das Problem für die Deutschen so brisant, daß es sie stärker beschäftigt als abstrakte Erörterungen über die Möglichkeiten und Grenzen der Demokratie. Sie messen das Freiheitsversprechen an ijirer Lebenserfahrung; und gerade die Sonntagsruhe bringt sie zu dem Schluß, daß die Macht der Mehrheit über die Minderheit zur Despotie führen könne. Selbst der in seinen politischen Kommentaren so extrem zurückhaltende Herzog Bernhard nimmt das Phänomen als Symbol für grundlegende Freiheitsbeschränkungen - und diese Feststellung ist ihm eines der wenigen Ausrufungszeichen in seinem Reisebericht wert: Uebrigens war es schwer, an diesem Tage mit einem Wagen durch die Strassen zu kommen, da sie während des Gottesdienstes vor allen Kirchen mit Ketten gesperrt werden, um die Communication zu verhindern. Das Land der Freiheit hat auch seine Ketten! 40

Etwas unverhohlener drückt Wislicenus sein Urteil bei gleicher Gelegenheit aus: Diese Sonntage sind außerordentlich langweilig, wie denn das ganze hiesige Leben einen solchen Anstrich hat. Eine Ruhe und Ordnung, wie hier herrscht, ist wahrhaft traurig; sie scheint mir ein ärgeres Philisterthum zu sein, als man irgendwo in Deutschland findet, und zum Teil auch eine ärgere Despotie, da sie von der Aristokratie ausgeht, welche in ihren Häusern Alles in Fülle hat, und für die Oeffentlichkeit zu vornehm ist.41

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Baumbach, Briefe aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika (1851), S. 147f. Eine neutrale Beschreibung des sonntäglichen Lebens gibt Löwig, Die Frei=Staaten von Nord=Amerika (1833), S. 7 1 - 7 3 ; etwas sarkastisch gehalten ist das Kapitel »Ein amerikanischer Sonntag« bei Griesinger, Lebende Bilder aus Amerika (1858), S. 113-121. Griesinger, Lebende Bilder aus Amerika (1858), S. 118; zur meist negativen Darstellung der Sonntagsruhe in der deutschen Presse vgl. Thaller, Studien zum europäischen Amerikabild, S. 508 f. Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach, Reise Sr. Hoheit des Herzogs Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach durch Nord-Amerika (1828) I, S. 199. Wislicenus, Aus Amerika (1854) I, S. 76.

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Die Beschränkung der Freiheit wird in den Reiseberichten nur insoweit sensibel registriert, wie sie unmittelbar erfahren werden kann. Diese Fixierung auf die Erfahrung versperrt den meisten Beobachtern die Möglichkeit zu einer Auseinandersetzung mit dem anderen Problem, das in der verfassungsrechtlichen Diskussion um die Demokratie im Mittelpunkt stand: dem Problem der Gleichheit. Abgesehen von der - freilich zentralen - Diskussion um die Sklaverei wird die Gleichheitsfrage nur selten und in der Form theoretischer Reflexionen erörtert. Die Erörterung entzündet sich dann ebenfalls am konkreten Phänomen. Wenn Wislicenus im Zusammenhang mit seiner Kritik der Sonntagsruhe von der amerikanischen »Aristokratie« spricht, dann deutet er damit an, daß bei aller formal-rechtlichen Gleichheit sich neue gesellschaftliche Unterschiede durch Geld und Besitz zu etablieren im Begriff sind. Diese Beobachtung wird von Ziegler bestätigt, der ebenfalls die Existenz einer herrschenden »Geldaristokratie« konstatiert: »Wer kein Geld besitzt in Amerika, der kann nicht die Macht, nicht den Einfluß der Geldaristokraten üben.« 42 Von diesem gesellschaftlichen Unterschied bemerken die deutschen Beobachter nur wenig, da er im Alltag nicht ohne weiteres auffallig wird. 43 Nur Wagner versucht einmal, die Differenz zwischen Demokratie und Monarchie an einem konkreten Detail festzumachen. Daß er dabei auf ein Beispiel aus dem Bereich des Eisenbahnwesens verfallt, kommt nicht von ungefähr: Nicht nur für ihn verkörpern sich in der Eisenbahn die wesentlichen Stärken und Schwächen der industriellen wie auch der gesellschaftlichen Entwicklung Amerikas. Der Stand der gesellschaftlichen Verhältnisse läßt sich zunächst ablesen an der Tatsache, daß es keine Einteilung der Abteile in Klassen gibt, sondern an ihre Stelle der Großraumwagen als »adäquater Reisebehälter einer demokratischen Pionier-Gesellschaft« getreten ist.44 So sieht es auch Wagner: Für ihn spricht sich in dieser Einrichtung »ein charakteristischer Unterschied zwischen Monarchie und Republik aus. Hier die Gleichheit, dort der Classenunterschied.« 45 Für Liebknecht wird diese Beobachtung zum Beleg dafür, daß die »Gleichheit in unserem Amerika [...] trotz der Geldaristokratie doch kein leerer Name« sei,46 während Wagner eine Differenz zwischen den Reisenden feststellt: »Aber schon hat sich die Geldaristokratie auch hier das Recht errungen, in einem Palastwagen zu fahren. Hier scheidet das Geld, dort mehr Stand und Bildung, das ist der Unterschied im Unterschied.« 47 42

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Ziegler, Republikanische LichU und Schattenseiten, S. 28 (1848); entsprechend Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika und Westindien (1848) I, S. 138 f. In den Auswandererbriefen wird das Thema gelegentlich erörtert; vgl. etwa »Amerika ist ein freies Land ...«, S. 126; S. 193. Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, S. 96. Wagner, Ein Achtundvierziger (1882), S. 389. Über die Schwierigkeiten der Deutschen, sich an das klassenlose Eisenbahnsystem zu gewöhnen, gibt die von Liebknecht berichtete Episode über eine Reisende Auskunft: Die Deutsche weigert sich zunächst, den Wagen zu besteigen, weil sie ihn für »erste Klasse« hält. Vgl. Liebknecht, Ein Blick in die Neue Welt (1887), S. 107. Liebknecht, Ein Blick in die Neue Welt (1887) S. 75. Wagner, Ein Achtundvierziger (1882), S. 389.

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Die Gelassenheit, mit der der Liberale Wagner und der Sozialdemokrat Liebknecht über diese gesellschaftlichen Unterschiede hinwegsehen, ist symptomatisch für die deutsche Behandlung des Problems. Sie erfolgt vor dem Hintergrund einer staatstheoretischen Diskussion in Deutschland, die diesem Problemkomplex einiges von seiner Schärfe genommen und sich dem amerikanischen Demokratieverständnis weitgehend angeglichen hat. Die von der »Geldaristokratie« hervorgebrachte gesellschaftliche Ungleichheit wird nicht zum Skandal, weil sie den Forderungen des demokratischen Gleichheitsprinzips nicht widerspricht.48 Der liberale Demokratiebegriff beschränkt sich auf eine formalrechtliche, nicht auf eine materielle Gleichheitsforderung; für die Liberalen ist es selbstverständlich, daß »unter dem gleichen Rechte und der gleichen Freiheit Aller, welche der Liberalismus fordert, nicht die äußerliche Gleichheit von Besitz und Macht gemeint sein könne, indem Rechtsgleichheit himmelweit verschieden ist von materieller Gleichheit des Besitzes«.49 Diese Auffassung, die sich im deutschen Liberalismus zwar durchgesetzt hat, aber durch allerlei skrupulöse Erwägungen in bezug auf die »soziale Frage« abgemildert wurde,50 finden die deutschen Beobachter in Amerika realisiert: Sie bildet die Grundlage für das zentrale Auto- und Fremdstereotyp des self-made man, das die Amerikaauffassung vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart geprägt hat.51 Der Stand der liberalen Diskussion um das Gleichheitsproblem ebenso wie die Faszination durch den self-made man ließen die soziale, auf die Unterschiede in Geld und Besitz gegründete Ungleichheit im amerikanischen Leben kaum einmal als Problem in den Blick kommen. Sie war der selbstverständlich akzeptierte Preis für den wirtschaftlichen Fortschritt, als dessen Repräsentant die Vereinigten Staaten in Deutschland so bewundert wurden: Die reale Ungleichheit

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Zum Begriff der »Geldaristokratie«, der auch in den Debatten der Paulskirche eine Rolle spielte, vgl. Schieder, Die Krise des bürgerlichen Liberalismus, S. 194. 49 Pfizer, (Art.) Liberal, Liberalismus (1840), S. 715. Zur theoretischen Begründung des Verhältnisses von Rechtsgleichheit und sozialer Ungleichheit bei einem anderen liberalen Theoretiker vgl. Haan, Die Gesellschaftstheorie Georg Friedrich Kolbs zwischen Utopie und Ideologie, S. 7 4 - 9 4 ; S. 80-82. Daß dieses Demokratieverständnis den populären Vorstellungen der Zeit entsprach, geht daraus hervor, daß es im »Brockhaus« von 1840 propagiert wurde. Vgl. Maier, (Art.) Demokratie V, S. 868 f. - Diese Auffassung ist auch der Kernpunkt des amerikanischen Gleichheitsverständnisses, das sich stets als Chancengleichheit definiert hat: vgl. Münch, Die Kultur der Moderne I, S. 451. 50 Vgl. Henning, Frühgeschichte des deutschen Liberalismus, S. 58 f. 51 Zu Autostereotyp des self-made man, seinen ideologischen Komponenten und seinen gesellschaftlichen Voraussetzungen in der amerikanischen Geschichte vgl. Münch, Die Kultur der Moderne I, S. 372-383. - Zum Problem des Verhältnisses von politischer und sozialer Gleichheit im amerikanischen Selbstverständnis des 19. Jahrhunderts vgl. Commager, The American Mind, S. 13 f. Zur Auswirkung des Amerikanismus auf die deutsche Wirtschaftsmentalität vgl. die knappen Bemerkungen bei Engelsing, Deutschland und die Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert, S. 149 f. Zur deutschen Aufnahme der Gestalt Benjamin Franklins als der ersten Inkarnation eines self-made man vgl. ebd., S. 142. 340

ist, anders als die formal-rechtliche der Sklaverei, weder für die Gegner noch für die Apologeten der amerikanischen Demokratie ein Ärgernis. Das eigentliche Problem der amerikanischen Gesellschaftsordnung manifestiert sich für die Deutschen - und das gilt nicht nur für die Amerika-Besucher - in einem anderen Phänomen: im alltäglichen Habitus. Schon Tocqueville hatte die These vertreten, daß »die gesellschaftliche und politische Lebensordnung« der Amerikaner einen Einfluß »auf die Umgangsformen ausübt.«52 Dieser Einsicht folgen auch die deutschen Reisenden, wenn sie versuchen, die ihnen besonders auffalligen Sitten und Gebräuche der Amerikaner auf ihre Gesellschaftsordnung zurückzuführen. Einen bleibenden Eindruck hinterläßt ihnen die Ungeniertheit des Betragens, von der sie sich zunächst einfach nur fasziniert zeigen: Die beiden irritierendsten und immer wieder erwähnten Gewohnheiten faßt Löwig zusammen: Das Tabackkauen zwingt sie zu vielem Ausspeien, und einen besonderen Wohlgefallen finden sie daran, ihren Ausspuck in das Kaminfeuer oder in den Ofen zu senden. Sie sitzen gerne, gleichviel wo sie sich befinden, etwas nachlässig und gewöhnlich wie Schneider mit stark über einander geschlagenen Beinen, auch kommt es ihnen nicht darauf an, die Beine sogar auf dem Tisch ruhen zu lassen.53

Diese und ähnliche Manieren - wie etwa die Gewohnheit, »in Häusern und selbst in Zimmern seinen Kopf bedeckt« zu halten und nicht »durch Abnehmen des Hutes« zu grüßen54 - fallen den deutschen Beobachtern »ungemein auf«.55 Ihre Feststellungen verweisen darauf, daß sich in der amerikanischen Gesellschaft ein Prozeß der »Informalisierung« der Umgangsformen in weiten - allerdings nicht in allen - Bereichen durchgesetzt hat. Unberührt davon bleiben jene Standards, die die Beziehung zwischen den Geschlechtern regeln - die Reisenden zeigen sich einhellig erstaunt darüber, daß in dieser Beziehung der Verhaltenskodex des Amerikaners noch rigider ist als der europäische: »Gegen das weibliche Geschlecht ist er sehr höflich und artig.«56 Die Auflockerung in den anderen Bereichen des täglichen Lebens ist dafür desto ausgeprägter. Dabei sind die Grußformen, die legere Art des Sitzens und der Kleidung ebenso wie das Tabakkauen und -spucken mehr als nur anstößige Gewohnheiten, die dem »gebildeten Europäer in mancher Hinsicht höchst pöbelhaft« oder doch zumindest 52

Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika (zuerst frz. 1835/1840), S. 708. Löwig, Die FreUStaaten von Nord=Amerika (1833), 98. Entsprechende Erfahrungen beschreiben neben anderen Witte, Kurze Schilderung der Vereinigten Staaten von N o r d a m e r i k a (1833), S. 16; Baumbach, Briefe aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika (1851), S. 36; Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika und Westindien (1848)1, S. 144. 54 Witte, Kurze Schilderung der Vereinigten Staaten von Nord=Amerika (1833), S. 16. 55 Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach, Reise Sr. Hoheit des Herzogs Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach durch Nord-Amerika (1828) I, S. 312. 56 Witte, Kurze Schilderung der Vereinigten Staaten von N o r d a m e r i k a (1833), S. 16f. Zu diesem - in der Auseinandersetzung mit Elias entfalteten - Begriff der »Informalisierung« und den aktuellen Erscheinungsformen des mit ihm bezeichneten Prozesses vgl. Wouters, Informalisierung und der Prozeß der Zivilisation, S. 279 f. 53

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auffällig erscheinen müssen.57 Sie sind - davon bekunden die Reaktionen der Reisenden eine vage Ahnung - Indikatoren, die einen fundamentalen Unterschied zwischen der traditionellen europäischen und der modernen amerikanischen Gesellschafts-, aber auch der Persönlichkeitsstruktur anzeigen. Von der Informalisierung sind vor allem jene Verhaltensformen betroffen, die in der traditionellen Gesellschaft dem Ausdruck sozialer Differenzierung dienen.58 Die Mißachtung solcher Codizes durch die Amerikaner mußte dem deutschen Betrachter umso stärker auffallen, als das Deutschland des 19. Jahrhunderts weit von solchen Auflockerungserscheinungen entfernt war - im Gegenteil läßt sich feststellen, daß sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts gesellschaftliche Zwänge und Selbstzwänge, wie sie sich in der Unterwerfung unter vorgeprägte Lebensstile, Höflichkeitsformen und Etiketteregeln aussprechen, zusehends stärker sedimentieren.59 Diese verstärkte Einbindung des deutschen Bürgers in gesellschaftliche Verhaltensstandards, die sich allerdings in ihrer Struktur eher an den autoritären Mustern der aristokratisch-feudalen Gesellschaft orientieren als an denen der bürgerlichen - erklärt die oft empfindliche und amüsierte, in jedem Fall aber erstaunte Reaktion auf die Informalisierung der amerikanischen Sitten. Heinrich Heine - der nicht immer negativ gegenüber Amerika eingestellt gewesen war60 - hatte hier ein Stichwort gegeben, das von den Reisenden direkt oder indirekt gerne aufgegriffen wurde: Manchmal kommt mir in den Sinn Nach Amerika zu segeln. Nach dem großen Freiheitstall, Der bewohnt von Gleichheitsflegeln Doch es ängstet mich ein Land, Wo die Menschen Tabak käuen, Wo sie ohne König kegeln, Wo sie ohne Spucknapf speien.61

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Ebd., S. 16. Zur Typologie von Verhaltensstandards entsprechend ihren sozialen Funktionen vgl. Krumrey, Strukturwandlungen und Funktionen von Verhaltensstandards - analysiert mit Hilfe eines Interdependenzenmodells zentraler sozialer Beziehungstypen, S. 196 f. Vgl. Elias, Die höfische Gesellschaft, S. 334. Die »Aristokratisierung des Bürgertums« in der zweiten Jahrhunderthälfte beschreibt Rosenbaum, Formen der Familie, S. 320 bis 325. Zur Stabilisierung einer autoritären Mentalität durch die verschiedenen Sozialisationsprozesse vgl. Wehler, Das Deutsche Kaiserreich, S. 122-141; die »peinliche Beachtung des Standesunterschiedes« im deutschen Großbürgertum, wie sie sich in »genau geregelten Umgangsformen und Anredefloskeln auszudrücken hatte«, beschreibt eine Quelle vom Ende des 19. Jahrhunderts; vgl. Preußen. Zur Sozialgeschichte eines Staates, S. 305. Vgl. Weiß, Heines Amerikabild, S. 304-306. Heine, Jetzt wohin? (1851) S. 101; vgl. auch Heine, Ludwig Börne (1840), S. 38 f.

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Das Wort von den »Gleichheitsflegeln« bezeichnet den Tenor der fiktionalen amerikakritischen Literatur, wie ihn Baudissin formuliert: »Die Freiheit hat das Volk nicht veredelt; das steht mathematisch fest.« 62 Die Reisenden sehen die Dinge in der Regel jedoch differenzierter und meist positiver als die Lyriker und Romanciers. Auch wenn die Manieren der Amerikaner »nach deutschen Begriffen gerade nicht die anständigsten« sind, 63 erscheinen sie den Beobachtern meist nur als kuriose und verzeihliche Auswüchse eines Selbstbewußtseins, das seine Wurzeln in einer freiheitlichen Lebensauffassung und Gesellschaftsordnung hat: In Folge dieser freien Verfassung, die jeden erblichen Rang, jeden Anspruch der Geburt verwirft, hat sich in den Amerikanern, selbst in den Aermsten ein Gefühl der Menschenwürde und der Selbständigkeit ausgeprägt, das bei der Masse des Volkes den Mangel einer besseren wissenschaftlichen Bildung wenigstens zum Theil ersetzt. Der einfache Bewohner des Landes, der nie in Städten oder in der sogenannten großen Gesellschaft sich herumgetrieben hat, benimmt sich mit einem gewissen Anstand und einer Leichtigkeit, die dem eingeschüchterten europäischen Bauer nie eigen, und in der Regel bei uns nur die Frucht einer besonderen Bildung ist.64 Die positiven Auswirkungen des demokratischen Selbstbewußtseins heben seine Auswüchse in den Augen der deutschen Beobachter meist wieder auf: »Das sind freilich ganz andere Dinge als daheim, und kein Wunder, daß die Leute hier aufrechter einherschreiten, und in jedem Blick ihre Unabhängigkeit zeigen.« 65 Müller konstatiert ebenfalls ein »freiheitliches Selbstgefühl« als charakteristisches Merkmal im »Wesen des Amerikaners«, 66 und gegen Ende des Jahrhunderts hat Wilhelm Liebknecht dieses Selbstbewußtsein geradezu euphorisch gewürdigt. Er bescheinigt den amerikanischen »Gleichheitsflegeln« - Heines Wort wird ironisch herbeizitiert - nicht nur eine größere Ordnungsliebe als den Deutschen, 67 sondern es ist ihm auch unbegreiflich, »wie die Amerikaner in den Ruf schlechter Manieren gekommen sind«; und er kommt schließlich zu dem Ergebnis: »in Amerika ist gentlemenlikes Benehmen doch etwas verbreiteter als bei uns.« 68 62

Baudissin, Peter Tütt (21862), S. 236. Baumbach, Briefe aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika (1851), S. 36. 64 Körner, Schilderung des gegenwärtigen Zustandes der westlichen Staaten Nord-Amerika's(1834), S. 57 f. 65 Löwig, Die Frei=Staaten von Nord=Amerika, S. 89f. 66 Müller, Aus den Erinnerungen eines Achtundvierzigers (1896), S. 188. Entsprechende Stellen finden sich in Romanen; vgl. Talvj, Die Auswanderer (1852) II, S. 70; Sealsfield, Lebensbilder aus der westlichen Hemisphäre (1846) II, S. 85f. 67 Liebknecht, Ein Blick in die Neue Welt (1887), S. 108. 68 Ebd., S. 94. In den Auswandererbriefen wird eine solche Position - die immerhin die Anerkennung fremder Sitten und Gebräuche voraussetzt - nur selten vertreten; die Formulierung eines Briefschreibers von 1888, nach dem der Amerikaner »mehr dem ritterlichen Charakter des Mittelalters« gleichkommt (»Amerika ist ein freies Land ...«, S. 192) ist aufschlußreich: Sie bringt die fremden Gebräuche über den Umweg des Mittelalters der eigenen Kultur näher und eröffnet damit einen Weg zu ihrem Verständnis. 63

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Die Irritationen durch die amerikanische Ungeniertheit ebenso wie die Zustimmung, die sie oft findet, verraten etwas über die gesellschaftliche Funktion von Verhaltenscodizes. Irritierend ist die Ungeniertheit für die Deutschen, weil mit ihr gewachsene europäische Umgangsformen außer Kraft gesetzt werden, die zwar einerseits als beengend empfunden werden, andererseits jedoch jene Verhaltenssicherheit gewähren, die eine Entlastung des Umgangs in einer sozial und partiell auch ständisch noch stark differenzierten Gesellschaft bewirkt. Auf der anderen Seite wird das unbefangene Betragen der Amerikaner nicht nur rational als Ausdruck einer freiheitlichen Gesellschaftsverfassung gewürdigt, sondern es spricht offensichtlich auch ein tiefer verwurzeltes mentales Bedürfnis an: Den Wunsch nach der Entbindung von Verhaltensmustern, die den neuen Anforderungen einer modernen Massengesellschaft durch den Rückgriff auf die autoritären und statischen Konventionen der traditionellen Gesellschaft gerecht werden wollen. Auch in dieser Hinsicht erscheint Amerika als die Zukunft Europas: Die Ungeniertheit des Benehmens signalisiert ein pragmatisches und funktionales Verhältnis zu den Erfordernissen des sozialen Umgangs, das den Anforderungen einer Industriegesellschaft entspricht.

2. Ü b e r die D e m o k r a t i e in A m e r i k a Anders erscheint die amerikanische Freiheit dort, wo sie nicht als Gegenbild eines diffusen Unbehagens an den eigenen gesellschaftlichen Zwängen auftritt, sondern zum Gegenstand einer rationalen Diskussion avanciert, in der die amerikanische Demokratie als Vorbild oder Schreckbild herbeizitiert wird. Amerika wird bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus zum Kristallisationspunkt, um den sich die politische Diskussion über die Durchsetzbarkeit republikanischer Prinzipien zentrierte. Diese Diskussion wird zunächst überwiegend von Autoren geführt, die Amerika nicht aus eigener Anschauung kannten. Sie bleibt akademisch-prinzipiell und konzentriert sich auf die Erörterung staatsrechtlicher Probleme, wie sie sich den liberalen Theoretikern darstellten. 69 Seit sich Robert von Mohl und Karl von Rotteck ausführlicher mit der amerikanischen Verfassung unter staatstheoretischen Aspekten befaßt hatten, steht das Urteil der deutschen Liberalen über sie fest: Die Vereinigten Staaten erscheinen pauschal als das Ideal einer Republik schlechthin.70 Diese Auffassung ändert sich in den Kreisen der liberalen Theoretiker auch kaum; und sie führt 69

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Zu dieser theoretisch-staatsrechtlichen Diskussion vgl. Fraenkel, Einleitung, S. 2 6 f . ; Meyer, Nordamerika im Urteil des Deutschen Schrifttums bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, S. 4 0 - 4 9 ; die fundierteste, auf breites Quellenmaterial gestützte Untersuchung zum Nordamerika-Verständnis der deutschen Liberalen, die eine neuerliche detaillierte Erörterung des Problems überflüssig macht, gibt Franz, Das Amerikabild der deutschen Revolution von 1848/1849. Vgl. Franz, Das Amerikabild der deutschen Revolution von 1848/1849, S. 1 1 - 1 3 ; S. 86 f.

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dazu, daß in der deutschen Revolution von 1848 und vor allem in den Diskussionen der Paulskirche um eine eigene deutsche Verfassung die amerikanischen Verhältnisse als eines der Leitbilder dienten, an dem sich die eigenen Vorstellungen orientierten. 71 Das Interesse daran erstreckt sich indes nicht nur auf die Staatsrechtstheoretiker; daß es auch bei breiteren Schichten - und naturgemäß besonders bei den potentiellen Auswanderern - vorausgesetzt werden kann, belegt die Tatsache, daß die Verfassung auch in populäreren Schriften wie Auswanderratgebern ganz oder teilweise abgedruckt 72 oder zumindest kursorisch dargestellt und diskutiert wird. 73 Repräsentativ für die liberale Auffassung der amerikanischen Verfassung ist der ausführliche Artikel von Murhard im Rotteck-Welckerschen »Staats-Lexikon«. Murhard, der »innerhalb des Spektrums des wahren Konstitutionalismus ganz >links«< steht, 74 kommt zu einer uneingeschränkt positiven Würdigung. Vor allem hebt er hervor, daß es den Vereinigten Staaten mit der Einführung des »repräsentativen« und des »föderativen« Prinzips erstmals gelungen sei, das »demokratische Prinzip« auch in einem großen Staat zu realisieren - ein Zentralproblem der liberalen Verfassungsdiskussion. 75 Trotz der geradezu euphorischen Einschätzung der amerikanischen Demokratie folgt aber auch Murhard der Einschränkung, die sich in der liberalen Diskussion durchgehend findet: Die Möglichkeit einer Übertragung auf deutsche Verhältnisse wird abgelehnt; und diese Ablehnung ist ebenso einhellig wie die Zustimmung der Liberalen zu den konstitutionellen Prinzipien. Fast alle Theoretiker sind sich einig, daß in Amerika das Funktionieren der republikanischen Institutionen gebunden ist an besondere historische, mentale und geographische Voraussetzungen, die eine Übertragung auf Deutschland nicht zulassen. Deshalb schließt Murhards enthusiastischer Artikel mit einer entsprechenden Warnung: »Setzet an die Stelle der Nordamerikaner eine Nation von einem anderen Charakter, mit anderen Sitten, mit anderer Denkart und Gesinnung, und ihr würdet die Verfassung der Vereinigten Staaten bald zu einem todten Buchstaben herabsinken sehen, aus dem alles Leben entflohen wäre.« 76 Diese Warnung wird von anderen liberalen Theoretikern ebenso wie von Nordamerika-Reisenden in verschiedenen Formen wiederholt. So macht Ziegler nicht die »weise Gesetzgebung«, sondern die »Natur« des Landes, und die schwache Bevölkerung, die keine Verarmung und damit auch keine Verrohung der Sitten zulasse, für den glücklichen Zustand der Staa71

Vgl. ebd. S. 108 und S. 116; Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert II, S. 192-194. 72 Vgl. etwa Amerika! (1849), S. 79-96. 73 Vgl. etwa Bromme, Hand- und Reisebuch für Auswanderer (61849), S. 61-68; Witte, Kurze Schilderung der Vereinigten Staaten von Nord=Amerika (1833), S. 7-12; Pauer, Die Vereinigten Staaten von Nord=Amerika (1847), S. 210-214. Zur allgemeinen Verbreitung entsprechender Kenntnisse vgl. auch Franz, Das Amerikabild der deutschen Revolution von 1848/1849, S. 137. 74 Boldt, Deutsche Staatslehre im Vormärz, S. 166. 75 Vgl. Murhard, (Art.) Nordamerikanische Verfassung (1841), S. 409. 76 Ebd., S. 464 f.

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ten verantwortlich.77 Im gleichen Sinne stellt Abeken fest, daß sich die Verfassung nicht auf deutsche Verhältnisse übertragen läßt, weil die amerikanische Republik »eine national aus eigenstem Grund und Boden, aus den eigensten Tiefen hervorgerufene Schöpfung ist«;78 und er kommt zu dem für einen Liberalen zunächst merkwürdig erscheinenden Schluß, daß in Deutschland eine »ständisch repräsentative, Constitutionen monarchische Verfassung« durchgeführt werden müsse.79 Diese Ambivalenz des Urteils kann nur auf den ersten Blick überraschen; tatsächlich folgt sie konsequent aus dem staatstheoretischen Denkansatz der deutschen Liberalen, der zur Ablehnung einer Übertragung der Verfassungsverhältnisse führen muß, noch bevor die vielfaltigen Schattenseiten der amerikanischen Republik empirisch - auf der Grundlage von Reiseberichten - in die Diskussion eingeführt werden. Daß die historischen Verhältnisse in Amerika andere sind als in Deutschland und daß damit die Ablehnung einer deutschen Republik begründet wird, ist ein Argument, hinter dem sich ein anderes und grundsätzlicheres Problem der Liberalen verbirgt: die Frage, ob überhaupt allgemeine Freiheit und Gleichheit im politischen Leben erstrebenswert sei. Das Bild der deutschen Staatstheoretiker von den konstitutionellen Verhältnissen in Amerika wurde wesentlich beeinflußt von Tocquevilles Werken über die Demokratie in Amerika. Tocqueville hatte das Prinzip der Volkssouveränität als das Fundament der amerikanischen Gesellschaft herausgestellt, in dem alle anderen ihrer Erscheinungen wurzelten: »Das Volk beherrscht die amerikanische politische Welt wie Gott das All. Es ist Ursprung und Ziel aller Dinge; aus ihm geht alles hervor und zu ihm geht alles zurück.«80 Gerade dieses Prinzip blieb in der liberalen Diskussion umstritten. Auf der einen Seite fanden sich, vor allem vor 1848, genügend radikale Liberale, die sich diese Auffassung aneigneten und das amerikanische Verfassungsmodell als Vorbild akzeptierten. Etliche dieser Autoren sahen sich daraufhin zur Flucht nach Amerika genötigt - sei es aufgrund der Demagogenverfolgung der zwanziger und dreißiger Jahre, von der etwa Karl Folien betroffen war, oder sei es, weil sie - wie Hecker, Struve oder Schurz - bei der Revolution von 1848 eine exponierte Stellung eingenommen hatten, wobei vor allem diese letzteren politischen Flüchtlinge in Amerika gerade wegen ihrer revolutionären Ansichten oft mit Zurückhaltung aufgenommen wurden.81 Dieser erzwungene Exodus der radikalen Demokraten hat ihre Position in der Verfassungsdiskussion sicherlich geschwächt und zur Dominanz der gemäßigten Liberalen beigetragen, auch wenn 77 78

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Ziegler, Republikanische Licht= und Schattenseiten (1848), S. 83. Abeken, Die Republik in Nordamerika und der Plan einer demokratisch republikanischen Verfassung (1848), S. 26 f. Ebd., S. 34. Zur Feststellung der Unübertragbarkeit amerikanischer Verhältnisse vgl. auch Franz, Das Amerikabild der deutschen Revolution von 1848/1849, S. 109-115. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika (zuerst frz. 1835/1840), S. 65. Vgl. Baker, America as the Political Utopia of Young Germany, S. 71. Allerdings wurden einige der berühmtesten Demokraten zumindest bei ihrer Ankunft enthusiastisch gefeiert; so gab es in Amerika - ebenso wie in Deutschland - zeitweise einen »HeckerKult«; vgl. Dobert, Deutsche Demokraten in Amerika, S. 100.

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sich in der Paulskirche noch eine radikale Fraktion aus Gesinnungsgenossen Heckers hat etablieren können. Auch bei den gemäßigten liberalen Staatsrechtstheoretikern finden sich unterschiedliche Positionen in bezug auf die Volkssouveränität, die sich besonders deutlich in der Auseinandersetzung um Tocquevilles Amerikabuch herauskristallisierten: Es hat »die demokratische Herrschaftsform im vormärzlichen Deutschland diskussionsfähig« gemacht, dabei aber ganz unterschiedliche Reaktionen herausgefordert.82 Am weitesten gingen bei der Verteidigung demokratischer Prinzipien die südwestdeutschen Liberalen, wie Rotteck, Welcker und vor allem Murhard, die die Möglichkeit einer Demokratie prinzipiell anerkannten, aber nicht ohne ebenso prinzipielle Einschränkungen zu machen. Wenn sie Freiheit und Gleichheit als die notwendigen Grundlagen einer modernen Gesellschaft postulierten,83 dann bedeutete das nicht zugleich die Anerkennung der demokratischen Institutionen, in denen sich die Volkssouveränität konkretisierte. Sie versuchten vielmehr, die tradierte Herrschaftsform mit dem demokratischen Ideal zu versöhnen, wobei das Schreckgespenst der Französischen Revolution mit ihren jakobinischen Auswüchsen solche Verlegenheitslösungen maßgeblich inspiriert hat. Für die südwestdeutschen Liberalen ist die Demokratie ein in der Gesellschaft verankertes konstituierendes Element, das nicht notwendig an eine republikanische Staatsform und an ihr zentrales Kriterium des allgemeinen Wahlrechts gebunden ist. So hat es Rotteck an zentraler Stelle, im »Staats-Lexikon«, verbindlich formuliert und die Verbindung demokratischer und monarchischer Grundsätze gefordert: Ja, es läßt sich mit Wahrheit behaupten, daß, da eine reine Demokratie, zumal in einem etwas größern und cultivirteren Staate, fast unmöglich, ihre Ausartung nämlich in Ochlokratie oder Anarchie kaum vermeidlich, [...] dann aber der wahren Freiheit sehr gefährlich ist, daß, sagen wir, in solchen Staaten das demokratische Princip sich weit sicherer und der Vollständigkeit annähernder unter der (Constitutionen) monarchischen Regierungsform verwirklichen lasse, als unter jeder andern. 84

Rottecks Auffassung bezeichnet die fortgeschrittenste Position, die unter den etablierten liberalen Staatsrechtstheoretikern möglich war. Sein Stichwort der »Ochlokratie« formuliert die Ängste, die einer Übertragung des amerikanischen Verfassungsmodells entgegenstanden und die in der einen oder anderen Form die deutsche Diskussion bestimmten. Sie konzentrierte sich auf das Problem, wie einer Herrschaft die Mehrheit, die immer mit einer möglichen Diktatur des Pöbels identifiziert wurde, vorgebeugt werden könne. Als probatestes Mittel dazu erschien das Zensuswahlrecht, das die »vermögenslose Menge« von der direkten politischen Mitbestimmung ausschloß: 82

Eschenburg, Tocquevilles Wirkung in Deutschland, S. 887. Zur deutschen TocquevilleRezeption vgl. auch Franz, Das Amerikabild der deutschen Revolution von 1848/1849, S. 15-18; Krieger, Europäischer und amerikanischer Liberalismus, S. 151 f.; zur Bestimmung des Demokratiebegriffs bei Tocqueville vgl. Fabian, Alexis de Tocquevilles Amerikabild, S. 28 f. 83 Eschenburg, Tocquevilles Wirkung in Deutschland, S. 888 f. 84 Rotteck, (Art.) Demokratisches Princip, S. 255. 347

Hieraus geht hervor, daß ihnen die Herrschaft oder das Uebergewicht in politischen Rechten durchaus nicht erteilt werden darf, also auch kein gleiches Stimmrecht wie den Reichen, weil, da in der Regel ihre Zahl die weitaus größere ist, schon das gleiche Stimmrecht ihnen das Uebergewicht, sonach die Herrschaft verleiht.85

Diese Angst vor der Pöbelherrschaft bestimmte das Demokratie- und Freiheitsverständnis des bürgerlichen Liberalismus schon vor 1848. Es ist bezeichnend, wie ein proamerikanischer Autor wie Friedrich von Raumer in seiner Darstellung der amerikanischen Demokratie dieser Angst entgegenzutreten versucht: Nach einer uneingeschränkt positiven Darstellung der demokratischen Institutionen und einem ausführlichen Nachweis der Verständigkeit des amerikanischen Volkes, die ein Zensuswahlrecht unnötig mache, scheint es, als könne es die liberalen Befürchtungen in Deutschland empirisch, durch den Nachweis des Funktionierens der demokratischen Einrichtungen, widerlegen: »Es giebt in den verein. Staaten weder eine Pöbelherrschaft der Armen noch eine Oligarchie der Reichen. Die Bevölkerung ist zufrieden und antirevolutionair; denn sie kann, wie gesagt, bei gewaltsamen Bewegungen nichts gewinnen, sondern nur verlieren.«86 Mit dieser Feststellung scheinen die deutschen Ängste gegen das allgemeine Wahlrecht beschwichtigt zu sein; aber am Ende seiner Darstellung schlägt Raumer eine überraschende Volte, welche die Bedenken der Liberalen indirekt, aber deutlich zugleich bestätigt wie mit einem neuen Argument entkräftet. Er führt den Nachweis, daß in Amerika das Mehrheitsprinzip eben nicht herrscht und daß deshalb die Befürchtungen vor einer Pöbelherrschaft gegenstandslos sind: Allerdings geben in Nordamerika die demokratischen Wahlen zuletzt überall den Ausschlag; sonst aber herrscht die Demokratie höchstens in den kleineren Kreisen der einzelnen Orte. In der zweiten höhern Stufe waltet die Stellvertretung, das repräsentative System, mit einem das Monarchische ersetzenden Präsidenten; und in der dritten höchsten Stufe das Förderativsystem mit selbstständigen und doch zu einem Leben verbundenen Staaten. Es ist geradezu unwahr, daß in den vereinigten Staaten überall die Mehrzahl der Köpfe unbedingt entscheide.87

Der Bruch in der Argumentation zeigt die Schwierigkeiten, denen sich ein Amerika-Apologet in Deutschland gegenüber sah: Er kann sein liberales Publikum mit der amerikanischen Demokratie nur versöhnen durch den Nachweis, daß sie in der Wirklichkeit eben nicht existiert; sie wird eingeschränkt durch ein monarchisches Element und durch die Verhinderung einer direkten Volksherrschaft. Diese ambivalente Argumentation ist typisch für den Konflikt der zeitgenössischen Verfassungsdiskussion zwischen liberalen Überzeugungen und konservativen Befürchtungen. Bei den meisten liberalen Theoretikern führte dieser Konflikt zum Kompromiß einer »konstitutionellen Monarchie«, für die vor al85

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Rotteck, (Art.) Census, S. 372. Rotteck führt ausdrücklich einzelne Staaten der USA als Beispiel für die Praktikabilität und Notwendigkeit des Census-Wahlrechts an; vgl. ebd., S. 379. Raumer, Die Vereinigten Staaten von Nordamerika (1846), S. 178. Ebd., S. 179.

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lern England das Vorbild abgab. Wie Rotteck, so geht es auch anderen immer um die »Zähmung der reinen Demokratie«, die ohne Kontrollen zur Despotie führen müsse.88 Selbst der in diesem Diskussionskontext verhältnismäßig radikal argumentierende Murhard macht in seiner Apologie der amerikanischen Verfassung entsprechende, allerdings nicht näher spezifizierte Einschränkungen: Auch wenn der »Wille der Majorität« hier herrscht und herrschen soll, so müssen doch andererseits die Staatseinrichtungen bewirken, daß dieser Wille immer das »Organ der wahren, d. i. verständigen öffentlichen Meinung sei«.89 Auch hier scheint noch die Angst vor einer »Pöbelherrschaft«, die zur Durchsetzung unverständiger Ansichten führen könne, durch. Mit solchen Einschränkungen - und mit der Vorgabe, daß sie auf deutsche Verhältnisse ohnehin nicht übertragbar sei - kann sich die Demokratie der Vereinigten Staaten bruchlos in das inhaltlich ganz anders gefaßte liberale Verfassungsverständnis der Zeit einfügen. Allerdings hat die Reduktion des Demokratie-Begriffs auf ein gesellschaftliches Prinzip auch eine negative Auswirkung auf das Amerikabild: Die Vereinigten Staaten werden als politisches Vorbild überflüssig, wenn sich die Freiheit auch ohne eine Änderung der monarchischen deutschen Staatsform realisieren läßt. Diese Entwicklung läßt sich schon ziemlich früh, in den dreißiger Jahren, beobachten. Bromme schreibt 1834, ein Jahr vor dem Erscheinen von Tocquevilles Buch: »Ich bin keiner jener liberalen Schreier, die nur glauben, unter einer republikanischen Regierung könne die Menschheit ihr wahres Ziel erreichen; ich weiß aus Erfahrung, daß unter der absolutesten Herrschaft die wahre Freiheit errungen werden kann.«90 Ganz entsprechend hebt Streckfuss zwei Jahre später, nach enttäuschenden Erfahrungen als Auswanderer und nach seiner Rückkehr hervor, daß der Einwanderer in Deutschland »derselben wahren Freiheit genoß«, die er in Amerika zu finden hoffte. 91 Damit ist die Tendenz angedeutet, welche die Entwicklung des politischen Amerikabildes in Deutschland nehmen wird: Die Faszination, die Amerika als Vorbild für einen freiheitlichen Staat ausübte, verblaßt zusehends. Daran hat sowohl die soziale Entwicklung in Deutschland ihren Anteil wie die Besichtigung der amerikanischen Verhältnisse. In Deutschland nimmt die Auseinandersetzung mit der amerikanischen Verfassung nach 1848 zusehends kritischere Züge 88

Boldt, Deutsche Staatslehre im Vormärz, S. 157f.; zu Rottecks Staatstheorie vgl. auch den Kontext, S. 156-160. Zur »konstitutionellen Monarchie« als dem liberalen Staatsideal vgl. auch Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert II, S. 131 bis 135; Bermbach, Liberalismus, S. 352f. (Dahlmann); 354f. (Mohl); S. 359 (Rotteck). 89 Murhard, (Art.) Nordamerikanische Verfassung (1841) S. 430. 90 Bromme, Reisen durch die Vereinigten Staaten und Ober=Canada (1834f.) III, S. VIII. 91 Streckfuss, Der Auswanderer nach Amerika (1836), S. 115. Selbst für den engagierten Liberalen Wagner ist die Republik nicht die conditio sine qua non für die Freiheit. Auch er sieht in der Staatsform nur ein Mittel zum Zweck, der sich auf verschiedene Weise erreichen läßt; vgl. Wagner, Ein Achtundvierziger (1882), S. 261. 349

an. Beruhte die Abwehr des allgemeinen Wahlrechts aus Angst vor der Pöbelherrschaft zunächst auf weitgehend theoretischen Überlegungen, so konkretisiert sich jetzt - mit der politischen Organisation des Proletariats und der Adaptation des bürgerlichen Freiheitsbegriffs durch sozialistische Theorien - die Gefahr für das mittelständische Bürgertum. Von dieser historisch neuen Bedrohung werden auch das Amerikabild und in eins damit die Tocqueville-Rezeption beeinflußt. Während Tocqueville ursprünglich als Apologet einer egalitären Demokratie rezipiert wurde, verwandelt er sich für einen »Teil der deutschen Wissenschaft in einen Warner vor dem demokratischen Verhängnis. Der Akzent wurde auf seine kritischen Bemerkungen und Feststellungen, seine Befürchtungen, seine Zweifel gelegt.«92 Tocqueville wird zum Kronzeugen für die nachrevolutionäre Auffassung der Liberalen, daß eine demokratische Verfassung prinzipiell - und nicht nur angesichts der besonderen deutschen Verhältnisse - unmöglich sei. Das höchst diffizile und problematische Verhältnis der deutschen Staatsrechtstheoretiker zur amerikanischen Demokratie ist der Hintergrund, vor dem sich die Beschreibung der demokratischen Institutionen bei den Amerikareisenden entfaltet. Die allgemeine, im wesentlichen von der Unabhängigkeitserklärung evozierte Hoffnung, daß Amerika das »Land der Freiheit« sei, wird in dieser Pauschalität von kaum einem der Reisenden aufrecht erhalten. Gewiß finden sich vor allem bei den Achtundvierzigern euphorische Bekenntnisse zur amerikanischen Freiheit, auch wenn solche Deklamationen nicht immer durch die Darstellung ihrer eigenen Erfahrungen bestätigt werden. Im verklärenden Rückblick der Lebenserinnerungen aber wird Amerika, in dem das »unaussprechliche Glück einer unbeschränkten Freiheit« verwirklicht wurde, 93 wieder zum »Land der Zukunft«: Allen Menschen, nicht einzelnen Categorien, ist das unveräußerliche Recht auf Leben und Freiheit und das Streben nach Glück verkündet und gewährleistet! Es ist das hohe und unsterbliche Verdienst der Väter des amerikanischen Freistaates, diese Wahrheiten aus dem Schutte von Jahrtausenden befreit, zum Leben erweckt und der ganzen Menschheit als neues Evangelium offenbart und verkündet, und mit dieser weltgeschichtlichen That der Entdeckung des Columbus die echte und höchste Weihe verliehen zu haben.94

Es ist aufschlußreich, daß Müller in dieser Apotheose auf die Formeln der Unabhängigkeitserklärung und der Verfassung zurückgreift und nicht etwa auf die realen Errungenschaften der amerikanischen Demokratie. 92

Eschenburg, Tocquevilles Wirkung in Deutschland, S. 908. - Zur Thematisierung des prekären Verhältnisses von »Freiheit« und »Gleichheit« als dem Kernproblem von Tocquevilles Amerika-Auffassung vgl. auch Krockow, Alexis de Tocqueville, S. 115 bis 120; sowie Bermbach, Liberalismus, S. 345-350. 93 Wagner, Ein Achtundvierziger (1882), S. 358. 94 Müller, Aus den Erinnerungen eines Achtundvierzigers (1896), S. 242. Auch Carl Schurz beschreibt im Rückblick mit ganz ähnlichen Worten die Hoffnungen, die ihn beim Aufbruch nach Amerika begleitet haben. Vgl. Schurz, Lebenserinnerungen I (1906), S. 410 f.

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In der Erfahrung der Reisenden und Auswanderer stellt sich die Situation nämlich anders dar. In ihren Berichten zeigt sich, daß die verfassungstheoretische Diskussion und überhaupt auch das populäre deutsche Demokratieverständnis Spuren hinterlassen haben, die das Interesse der Beobachter leiten. Sie greifen die Probleme der verfassungsrechtlichen Diskussion auf und versuchen, sie empirisch zu konkretisieren, indem sie die Frage stellen nach dem Funktionieren der demokratischen Institutionen und nach der spezifischen Mentalität eines Volkes, das solche Institutionen hervorgebracht hat - ganz im Sinne des Programms, das sich Carl Schurz bei seiner Ankunft in Amerika gestellt hat: Er widmet sich dem Studium der »sozialen Zustände der Republik, sowie der Theorie und der Praxis ihrer Institutionen«, und er sucht sich schließlich eine »ausgedehntere Erfahrung in Bezug auf den Charakter des Volkes anzueignen.«95 Diesem Programm folgen auch die meisten anderen Reisenden; und zwar nicht nur die politisch besonders interessierten Achtundvierziger, sondern alle Autoren, die den Anspruch erheben, mehr als nur einen Bericht über individuelle Reiseerlebnisse geben zu wollen. Entsprechend dem deutschen Demokratieverständnis der Zeit richtet sich der Blick der Beobachter meist auf die Auswirkungen des demokratischen Prinzips im politischen Alltag. Im Hintergrund steht immer die Frage, die die deutschen Theoretiker so bewegt hatte: Ob nämlich einem großen Volk überhaupt die politische und geistige Reife zuzusprechen sei, sich selbst zu regieren. Fast alle Autoren, die sich anhand konkreter Alltagserfahrungen mit diesem Problem auseinandersetzen, kommen zu einem mehr oder weniger drastisch formulierten negativen Ergebnis. Das gilt selbst für jene politischen Emigranten wie Schurz, Wagner, Müller, Börnstein oder Struve, die nach wie vor in Amerika das Land der Freiheit und damit der Zukunft sehen, ohne aber die republikanischen Schattenseiten ignorieren zu können. Sie alle sehen sich in ihren Erwartungen enttäuscht, da sie feststellen müssen, daß das politische Leben in Amerika beherrscht ist vom Parteienstreit, von Korruption, von gesetzloser Willkür und von der Herrschaft des Pöbels. Um diese Vorwürfe - die von den emigrierten Liberalen meist nur sehr zurückhaltend, von ohnehin amerikakritisch eingestellten Autoren aber desto drastischer ausgesprochen werden - konzentriert sich die Auseinandersetzung um die institutionelle Erscheinungsform der amerikanischen Demokratie.96 Die Kritik findet viele Ansatzpunkte. Für die Achtundvierziger, die sich selbst am amerikanischen politischen Leben beteiligen, ist das amerikanische Beamtensystem eine völlig neue Erfahrung, in der sich für sie der Nachteil des »demokratischen Prinzips« am deutlichsten artikuliert: Sie stellen fest, daß auch der Staat mit seinen administrativen Institutionen den Interessen der Parteien 95 96

Schurz, Lebenserinnerungen II (1907), S. 28. Diese Defizienzerscheinungen der amerikanischen Demokratie sind auch eines der wichtigsten Themen der Amerikaberichterstattung in der deutschen Presse; vgl. Thaller, Studien zum europäischen Amerikabild, S. 104 f.; S. 116-122; S. 416-431.

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und des Geldes - unterworfen wird, anstatt dem Gemeinwohl verpflichtet zu sein. Carl Schurz hat diesem Phänomen, das ihm bei seinen politischen Amerikastudien als erstes ins Auge fiel, einige Aufmerksamkeit gewidmet und es auch zu bekämpfen versucht: »Das war mir eine erschreckende Enthüllung. Es war mein erster Blick in die Tiefen der großen >Amerikanischen RegierungsinstitutionBeutesystem< zu bezeichnen lernte.«97 Daß Schurz auf eine solche Erscheinung so »sehr entsetzt« reagiert, ist nicht nur auf seine Erinnerung an das »preußische Beamtentum [...], das immer den Ruf strengster offizieller Ehrenhaftigkeit genossen hat«, zurückzuführen. 98 Schurz und die anderen Kritiker des »Beutesystems« sehen in ihm den Ausdruck eines Grundproblems der Demokratie, das auch in der liberalen und konservativen Staatsrechtsdiskussion im Deutschland dieser Zeit ständig thematisiert wurde: Die Gefahr einer Zersplitterung des Gemeinwesens in eine Vielzahl von Parteiungen und einer Regierung, die mehr ihrer Partei als dem Gemeinwohl verpflichtet ist. Die deutsche Staatstheorie auch der Liberalen im 19. Jahrhundert gestand dem Staat ein Wächteramt über die bürgerliche Gesellschaft zu. Nicht dem freien Konkurrenzkampf der Interessen und Meinungen sollte das Gemeinwohl überantwortet werden, sondern der Staat sollte regulierend eingreifen dürfen, um eine gerechte Ordnung jenseits der egoistischen Parteiinteressen herzustellen: »Der Staat hat dafür zu sorgen, daß nicht nur eine formale, sondern substantielle Rechts- und Chancengleichheit besteht, sonst droht sich mit äußerlicher Gerechtigkeit eine im Kern, in der Verteilung der Glücks- und Daseinschancen, höchst ungerechte Ordnung zu verbinden.«99 Die Gefahr einer solchen Staatsauffassung wurde meist übersehen, daß sie nämlich wieder den »Machtansprüchen des monarchisch-bürokratischen Anstaltsstaates in die Hände« arbeitete.100 Die Hypostasierung des Staates zu einer von der Gesellschaft abgetrennten und ihr übergeordneten Institution führt notwendig zu dieser konservativ eingefarbten Staatsauffassung: Das Bemühen, durch den Einbau monarchischer oder repräsentativer Elemente die Auswirkungen demokratischer Verfahren auf den Staat abzumildern, läßt die Absicht erkennen, den Staat aus dem Streit der Parteien und der individuellen Interessen herauszuhalten, um ihm die Wahrnehmung seiner ordnungsstiftenden Funktion zu ermöglichen.101 97

Schurz, Lebenserinnerungen II (1907), S. 17; zu Schurz' Kampf gegen das »Beutesystem« vgl. auch v. Skal, Die Achtundvierziger in Amerika, S. 72. Schurz, Lebenserinnerungen II (1907), S. 19; vgl. auch S. 162. - Müller, Aus den Erinnerungen eines Achtundvierzigers (1896), S. 236-239. Auch Hecker, der das amerikanische Regierungssystem gegen jede europäische Kritik verteidigt, sieht in diesem Punkt die dringende Notwendigkeit einer Revision. Vgl. Hecker, Reden & Vorlesungen (1872), S. 47-70. Zu diesem Problem in der deutschen Diskussion vgl. auch Franz, Das Amerikabild der deutschen Revolution von 1848/1849, S. 58 f. 99 Gall/Koch, Einleitung (I), S. XVII. 100 Ebd.; vgl. auch Rürup, Deutschland im 19. Jahrhundert, S. 157. 101 Daß diese Staatsauffassung erst recht in der konservativen Theorie zu finden ist, versteht sich. Zum konservativen Grundgedanken, daß der Staat »über den Parteien stehen« soll, vgl. Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, S. 190; vgl. auch S. 181 f. und den Kontext S. 178-191. 98

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Dieser Entwicklungsstand der liberalen Staatstheorie kennzeichnet den Problemhintergrund, vor dem die konkreten Auswirkungen des amerikanischen Demokratieprinzips wahrgenommen werden. Die Auswüchse des Parteigeistes, wie sie sich im »Beutesystem« und vor allem in den Wahlkämpfen zeigen, scheinen die schlimmsten Befürchtungen der deutschen Demokratiegegner zu bestätigen und die von den Liberalen geforderten Einschränkungen des »demokratischen Prinzips« zu rechtfertigen. Die Zügellosigkeit der politischen Auseinandersetzung, die bis hinein in die Organisation des Staates greift, gehört dementsprechend zu den am häufigsten beobachteten und kritisierten Erscheinungen der amerikanischen Demokratie: Das amerikanische Parteiwesen hat sehr wenig erquickliche Seiten. Es wird bezeichnet durch eine Leidenschaftlichkeit, wie sie sich weder in England, noch irgend einem andern Staate mit freierer Verfassung wieder findet. Die Widersprüche sind schroffer, als irgendwo sonst, und die Gewissenlosigkeit, mit welcher nach dem Ziele gestrebt wird, ist wahrhaft haarsträubend. 102

Auch Ziegler hat den »wilden, oft bis zum Exceß gedeihenden Parteikämpfen« seine Aufmerksamkeit gewidmet,103 und Büttner setzt ans Ende der Beschreibung eines amerikanischen Wahlkampfes mit seinen Erpressungen und Betrügereien die resignierend-ironische Bemerkung »Freiheit, du köstliches Juwel!«104 Unter den wichtigeren Autoren bleibt nur Raumer seiner amerikafreundlichen Einstellung treu. Er versucht, die Einwände der Demokratie-Kritiker empirisch zu entkräften, auch wenn er schließlich zugesteht, daß die Demokratie selbst die größte Gefahrdung ihrer Existenz in sich birgt: »Sie kann aus edelem Selbstgefühle zu eiteler Anmaßung, zu frecher Nichtachtung der Gesetze führen«105 das war es eben, was die kritischen Beobachter in Amerika bereits gesehen haben wollten und beanstandeten. Ziegler faßt die Bedenken zusammen: Bedenkt man die Schattenseiten aus dem vielseitigen Humbug der Wahlen, bedenkt man die Corruption, die Schmähsucht, die hieraus folgenden Beschimpfungen der Wahlcandidaten unter sich und die Zügellosigkeit der Presse, so hat man wahrlich eine Goldwaage nöthig, um die Vortheile einer freien Wahl gegen die Erblichkeit abzuwägen. 106

Die Enttäuschung über die demokratische Realität ist ziemlich allgemein; die Republik findet unter den deutschen Reisenden und Auswanderern nur noch wenige unbedingte Verteidiger. Fast alle sind sie sich einig darin, daß die Demokratie sich weiter entwickeln müsse, um die auf sie gesetzten Hoffnungen wirklich zu erfüllen: Die Republik der Vereinigten Staaten von Amerika ist, trotz ihrer Mängel, das Land der Freiheit und wir haben alle unsere Energie und Intelligenz aufzubieten, um sie er102

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Struve, Die Union vor dem Richterstuhle des gesunden Menschenverstandes (1855), S. 34. Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika und Westindien I (1848), S. 139. Büttner, Die Vereinigten Staaten von Nord=Amerika (1846) II, S. 418. Raumer, Die Vereinigten Staaten von Nordamerika (1846), S. 179. Ziegler, Republikanische LichU und Schattenseiten (1848), S. 64 f.

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halten und veredlen zu helfen, denn ihr Untergang wäre ein unersetzlicher Verlust für die ganze Menschheit.107 Diese Argumentationsmuster greifen die meisten anderen liberalen Autoren auf, die trotz ihrer negativen Erfahrungen den Glauben an die amerikanische Demokratie und ihre Vorbildfunktion für die ganze Menschheit nicht preisgeben wollen. So gesteht Schurz - bezeichnenderweise in einem Brief und nicht in seinen publizierten »Lebenserinnerungen« - seine anfängliche Enttäuschung über die amerikanische Freiheit, um dann zu der Einsicht zu gelangen, daß sie ohne Alternative sei: All strength, all weakness, all that is good, all that is bad, is here in full view and in free activity. The struggle of principles goes on unimpeded; outward freedom shows us which enemies have to be overcome before we can gain inner freedom. He who wishes liberty must not be surprised if men do not appear better than they are. Freedom is the only state in which it is possible for men to learn to know themselves, in which they show themselves as they really are. It ist true, the ideal is not necessarily evolved, but it would be an unhappy thought to force the ideal in spite of humanity.108 Die desillusionierenden Erfahrungen entmutigen die Liberalen nicht; ihnen bleibt - von wenigen Ausnahmen, wie vor allem Griesinger, abgesehen - Amerika das Land einer Freiheit, der erst noch Gelegenheit gegeben werden muß, sich zu entwickeln: Das junge, kräftig aufblühende Amerika ist noch in einer Entwicklungsperiode begriffen, aus welcher das bis jetzt zarte Bäumchen der Freiheit, unter dem Schutze des ganzen amerikanischen Volkes mit Sorgfalt gepflegt, zu einem starken, mächtigen Baume aufwachsen wird. Amerika wird auf dem Wege der Freiheit muthig fortschreiten und in dem Streben nach Glückseligkeit den Völkern der Erde zu beweisen suchen, daß > VolkssouverainetäH kein eitler Wahn sei.109 So euphorisch dieses Bekenntnis ebenso wie ähnliche Bemerkungen anderer politischer Emigranten auch klingen: Es handelt sich hier um Dokumente der Ernüchterung. Wenn die Erfüllung der politischen Freiheitsträume aus der Gegenwart in die Zukunft verlagert wird, dann bedeutet das ein Eingeständnis der Enttäuschung angesichts der Wirklichkeit. Diese Enttäuschung hängt sicherlich auch mit der gesteigerten Erwartungshaltung vieler politischer Flüchtlinge vor allem der fünfziger Jahre zusammen. Sie versuchten, ihre radikal demokratischen Theorien unter Berufung auf die Freiheitsgarantien der »Bill of Rights« und nicht so sehr auf die Verfassung - zu importieren; und sie stießen dabei auf den erbitterten Widerstand nicht nur der Amerikaner, sondern auch der älteren politischen Emigration aus Deutschland. 110

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Wagner, Ein Achtundvierziger (1882), S. 398 (im Original gesperrt). Schurz (Brief an Malwida von Meysenbug; Herbst oder Winter 1852), S. 6 (aus dem Deutschen übersetzt). Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika und Westindien II (1848), S. 273. Wittke, Refugees of Revolution, S. 161 f.; Baker, America as the Political Utopia of Young Germany, S. 85f. Zur mangelnden Assimilation der Achtundvierziger in Amerika vgl. auch Cronau, Drei Jahrhunderte deutschen Lebens in Amerika, S. 304 f.

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Daß die Hoffnungen der emigrierten Achtundvierziger nicht erfüllt werden würden, war abzusehen, weil ihre Erwartungen zu hochgespannt und zu sehr ihrer idealistischen Freiheitsphilosophie als den realen Möglichkeiten entlehnt waren. Auch wenn viele Achtundvierziger - allen voran Carl Schurz - sich pragmatisch in die amerikanische Politik integrierten und dabei gelegentlich nicht unbedeutende Erfolge errangen,111 so trugen ihre Erfahrungen doch einiges dazu bei, daß die Vorstellung von Amerika als einer politischen Utopie in der zweiten Jahrhunderthälfte verblaßte. Zwar finden sich im Laufe des 19. Jahrhunderts gelegentliche Versuche deutscher Emigranten, das Freiheitsideal noch einmal beim Wort zu nehmen und es in Amerika auf utopisch-kommunistischer oder sozialistischer Basis zu realisieren, aber auch diesen Versuchen fehlte der Nährboden - weder sozialistische und kommunistische Parteien noch die Arbeiterbewegung, die maßgeblich von deutschen Kräften unterstützt wurden, haben sich durchsetzen können. 112 Seit etwa der Mitte der fünfziger Jahre spiegeln sich die Enttäuschungen der politischen Hoffnung zusehends stärker auch in der Literatur." 3 Auch hierzu hat Kürnberger wieder die entscheidenen Stichworte gegeben. Sein Roman kumuliert die negativen Seiten des amerikanischen politischen Lebens. Er zeigt einen Staat, in dem das Freiheitsversprechen in Despotismus des Geldes und des Pöbels umgeschlagen ist, und er kommt zu dem Schluß: »Amerika ist ein Vorurtheil!« 114 Diese Feststellung wird von Adalbert von Baudissin - der in seinem Roman »Peter Tütt« einige Jahre später ebenfalls die amerikanische Freiheit mit all ihren Schrecknissen und Auswüchsen Revue passieren läßt - untermauert, um den »republikanischen Schwärmern Deutschlands einen Spiegel vorzuhalten, in welchem sie das Ideal der Volkssouveränetät klar und deutlich erkennen können.« 115 Anders als viele der anderen Liberalen sieht Baudissin das amerikanische Freiheitsversprechen nicht nur in der Gegenwart nicht eingelöst, sondern er gibt ihm auch keine Zukunft: Ein kurzes Aufflackern der republikanischen Kräfte mag stattfinden; für einen Augenblick mögen die Pestbeulen von der Oberfläche verschwinden; das Herzblut ist aber so

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Vgl. Skal, Die Achtundvierziger in Amerika, S. 5 1 - 6 0 . Ausführliche Darstellungen der politischen Tätigkeit geben Erhorn, Die deutsche Einwanderung der Dreißiger und Achtundvierziger in den Vereinigten Staaten und Faust, The German Element in the United States II, S. 122-200. Vgl. Wittke, Refugees of Revolution, S. 1 6 6 - 1 7 5 ; vgl. Just, Politische Flüchtlinge gehen nach Amerika, S. 438. Meyer, Nord-Amerika im Urteil des Deutschen Schrifttums, S. 65. Zur überwiegend amerikakritischen Literatur nach etwa 1850 vgl. auch Schroeder, Amerika in der deutschen Dichtung von 1850 bis 1890, S. 1 2 - 3 3 . Kürnberger, Der Amerika-Müde (1855), S. 297. Vgl. zu Kürnbergers politischer Kritik auch Meyer, Nord-Amerika im Urteil des Deutschen Schrifttums, S. 8 4 - 9 2 ; Michelsen, Americanism and Anti-Americanism in German Novels of the XIXth Century, S. 2 8 4 - 2 8 7 . Baudissin, Peter Tütt (1862), S. IV.

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verdorben, daß an eine Heilung nicht mehr zu denken ist. Die nordamerikanische Republik wird schwerlich ihren hundertsten Geburtstag feiern. 116

Das Bild, das Kürnberger, Baudissin und Griesinger um die Jahrhundertmitte von den politischen Freiheiten Amerikas gezeichnet haben, trägt zwar deutliche Züge der karikierenden Übertreibung, aber es wird in seinen Details von nüchterneren Reiseberichten bestätigt. Es setzt sich im deutschen Bewußtsein der zweiten Jahrhunderthälfte fest und wird zum Topos - so kann die »Gartenlaube« 1855 in einer pauschalen Bemerkung wie selbstverständlich kolportieren, »daß die Freiheit, die Schöpfung Washington^, zur Karikatur, zur unverschämtesten Selbstsucht, zur Tyrannei Aller gegen Alle geworden ist«." 7 Das Bild hat sich verfestigt: Sofern sich die Literatur den politischen Aspekten der amerikanischen Wirklichkeit widmet, ergeht sie sich jetzt gerne in Schilderungen eines Landes von prinzipienlosen Politikern, rassistischen Südstaatlern, einer korrupten Justiz, einer Polizei, die sich aus Gangstern zusammensetzt, einem lynchsüchtigen Mob und einer verantwortungslosen Journaille. Es findet sich - abgesehen von den Lebenserinnerungen verschiedener Achtundvierziger mit ihren deklamatorischen Bekenntnissen - kaum ein Werk, das die amerikanische Freiheit positiv akzentuiert hätte. Der politische Kredit, den Amerika aufgrund seiner »Declaration of Independence« und der »Bill of Rights« lange Zeit genoß, scheint in der zweiten Jahrhunderthälfte verspielt zu sein. Auch in den Auswandererbriefen finden sich Formulierungen der Enttäuschung, mit denen die Auswanderer aussprechen, daß das Freiheitsideal ihren Erwartungen im praktischen Leben oft nicht gerecht worden ist. Wie bei den Literaten, so wird auch in den Briefen das Freiheitsideal häufig nur noch in satirischer oder polemischer Absicht beschworen. Schon 1851 schreibt ein deutscher Einwanderer in diesem Sinne über die amerikanische Freiheit: »Amerika ist ein freies Land, wo keine Religion und Freundschaft ist, und auch kein baldigster Verdienst. Darum bleibe ein jeder, wo er ist, und ziehe nicht nach Amerika.«118 Wie in diesem Brief, so ist die Kritik bei späteren Auswanderern konkret auf die materiellen Lebenserwartungen bezogen, die durch die amerikanische Wirklichkeit enttäuscht wurden. Das Freiheitsideal hat die Erfahrungen nicht schadlos überstanden, mit denen die Auswanderer direkt oder vermittelt konfrontiert wurden: »es ist das freie Amerika, es ist alles frei, wenn man sich aber die Freiheit richtig besieht, dann weiß man nicht, was Freiheit ist, denn hier kann man jeden Tag gewärtig sein, daß man tot geschossen wird.«119 1886 bringt ein deutscher Arbeiter aus St. Louis diese Kritik auf den knappen Begriff von der »Hure Freiheit«, die dem Einwanderer nur neue Knechtschaft bereithält.120 " 6 Ebd., S. 204. Zu diesem Roman vgl. auch Hollyday, der freilich hier ebenso wie bei der Besprechung anderer amerikakritischer Romane kaum mehr als eine Inhaltsangabe gibt: Hollyday, Anti-Americanism in the German Novel 1841-1862, S. 7 7 - 1 0 4 . 117 Amerikanische Briefe (1855), S. 345. " 8 »Amerika ist ein freies Land ...«, S. 53. 119 Ebd., S. 125(1818). 120 Briefe aus Amerika, S. 465.

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Am Ende des Jahrhunderts hat der Mythos von der amerikanischen Freiheit endgültig seine Faszinationskraft verloren. Vereinzelt lebt später die Hoffnung auf Amerika als dem Land der politischen Freiheit noch einmal auf - im Gefolge der Bismarckschen Sozialistengesetze fliehen nach 1878 etwa 120 Sozialdemokraten nach Amerika, 121 und während des »Dritten Reiches« werden die Vereinigten Staaten zum Hauptasylland der politischen und kulturellen Emigration aus Deutschland. 122 Daß - von diesen konkreten Anlässen abgesehen - in der zweiten Jahrhunderthälfte die Vorstellung von Amerika als dem »Land der Zukunft« erlischt, hängt nicht nur mit amerikanischen Entwicklungen zusammen, sondern auch mit einer Verschiebung der deutschen Interessenlage. In der bürgerlichen Auffassung vom Fortschritt spielten die Freiheitsforderungen keine wesentliche Rolle mehr; das politische Bewußtsein konzentrierte sich vielmehr auf den auch wirtschaftlich unterfütterten - Wunsch nach nationaler Einheit und führte schließlich zu einem Arrangement weiter Teile des liberalen Bürgertums mit dem Obrigkeitsstaat. 123 Die Strahlkraft der amerikanischen Demokratie verändert für eine kurze Zeit ihre Richtung: Sie ergreift nicht mehr das Bürgertum, sondern die deutschen sozialistischen Theoretiker und Bewegungen. Marx und Engels, ebenso wie erst recht utopische Sozialisten wie Weitling, sehen in Amerika nicht so sehr das Kernland des Kapitalismus als vielmehr das Land mit den ausgedehntesten bürgerlichen Freiheiten, an welche die sozialistischen Bestrebungen anknüpfen könnten. 124 Diese Hoffnungen wurden ebenso enttäuscht wie die der Liberalen. Der Blick auf die amerikanische Demokratie und vor allem das Leben in ihr belehrten die deutschen Reisenden und Emigranten, daß ihre - oft übertriebenen - gesellschaftlichen Erwartungen in den Vereinigten Staaten keine Zukunft haben konnten.

3. »Sklaverei unter dem Sternenbanner« Die Erfahrung der Diskrepanz zwischen demokratischem Versprechen und gesellschaftlicher Wirklichkeit wurde durch den Blick auf die Südstaaten bekräftigt. Allerdings spielt der Süden im deutschen Amerikabild eine nur untergeordnete Rolle. Zum Repräsentanten der Nation wird der Yankee der amerikanischen Städte oder auch der backwoodsman des Westens; beide können die 121 122 123 124

Vgl. Just, Politische Flüchtlinge gehen nach Amerika, S. 439. Vgl. Just, Emigration aus dem Dritten Reich, S. 441 f. Vgl. Rürup, Deutschland im 19. Jahrhundert, S. 232 f. Vgl. Henningsen, Der Fall Amerika, S. 98-104. Zu den Bestrebungen der deutschen utopischen Sozialisten in Amerika vgl. Wittke, Refugees of Revolution, S. 171-174. Marx hat diese Position vor allem vor dem »Kommunistischen Manifest« vertreten, während er später angesichts der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung der USA zusehends skeptischer wurde. Vgl. Weiner, Das Amerikabild von Karl Marx, S. 28 f.

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Hoffnungen verkörpern, die auf Amerika als das »Land der Zukunft« gesetzt werden. Dagegen fügt sich der Süden nicht in diese Vorstellung. Die SüdstaatenGesellschaft erscheint gegenüber dem in jeder Beziehung fortschrittlichen Norden als absolet. Sie repräsentiert Ideale, die mehr an der Vergangenheit orientiert sind als daß sie in die Zukunft wiesen. Die Aufsplitterung Nordamerikas in zwei Gesellschaften und zwei Kulturen übernimmt das deutsche Amerika-Bild vom amerikanischen Selbstverständnis; sie ist fundiert auf nationalen Autostereotypen, mit denen sich Süden und Norden selbst voneinander abgrenzten. Diese Dichotomie reicht zurück bis in die Kolonialzeit. Sie hat durchaus reale Grundlagen, welche sich aus den »Unterschieden der Wirtschaftsstruktur und des Lebensstils ergaben«.125 In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts verschärfen sich nicht nur die objektiven Gegensätze, sondern vor allem auch das Bewußtsein von ihnen. Es bilden sich nationale Identitäten heraus, die sich durch die Abgrenzung von der jeweils anderen konstituieren und dabei paranoide Züge annehmen konnten: Dem Süden erschien der Norden, repräsentiert durch die Abolitionisten, als eine Verschwörung zur Untergrabung der eigenen Gesellschaft, während der Norden den Süden zu einer »Sklavenmacht« als einer dämonischen Kraft stilisierte, die allen traditionellen Werten der amerikanischen Gesellschaft entgegenstand. Die Sklavenfrage wird zum Gegenstand einer Kontroverse, in der die grundsätzlichen Wertvorstellungen der amerikanischen Gesellschaft und schließlich die nationale Identität zur Debatte stehen.126 Um 1860, vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs, hat sich diese Polarisierung verfestigt: Es besteht allgemein das Bewußtsein, daß die Vereinigten Staaten zerfallen sind in eine demokratische und industrialisierte Gesellschaft im Norden und eine aristokratisch-agrarische im Süden.127 Auch wenn - ebenso wie in der inneramerikanischen Kontroverse - jede Beschäftigung deutscher Autoren mit dem Süden auf eine Auseinandersetzung mit der Sklavenfrage hinausläuft, so verstellt dieses dominierende Thema nicht immer den Blick auch auf andere grundsätzliche Unterschiede zwischen den beiden Kulturen. Griesinger hat in einem der Hauptwerke der amerikakritischen Literatur der fünfziger Jahre, seiner Essaysammlung »Freiheit und Sclaverei unter dem Sternenbanner«, die gesellschaftliche Struktur des Südens zu beschreiben versucht. Er begreift den südlichen Plantagenbesitzer als den »Baumwollen125

Temperley, Regionalismus, Sklaverei, Bürgerkrieg und die Wiedereingliederung des Südens, 1815-1877, S. 91. 126 Yg[ D a v j S ; xhe Slave Power Conspiracy and the Paranoid Style, S. 59. Davis beschreibt in seiner knappen Studie die wechselseitigen Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit der Sklavenfrage, die zur mentalen Polarisierung zwischen Norden und Süden beitrugen. Daß die abolitionistischen Bestrebungen des Nordens im Süden als Angriff auf die nationalen Rechte und schließlich auf die nationale Identität begriffen wurden, zeigt auch Nye, Fettered Freedom, S. 27 f. 127 Vgl. Taylor, Cavalier and Yankee, S. 15; Osterweis, Romanticism and Nationalism in the Old South, S. 56 f.

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baron der neuen Welt«128 und gibt damit das Stichwort für die Auffassung des Südens, die sich in der deutschen Literatur herausgebildet hat: Der Süden erscheint als geprägt von den Strukturen eben jener Feudalgesellschaften, die sich in Europa gerade aufzulösen beginnen. Griesinger beschreibt in seinem Essay das elitäre, durch entsprechende Erziehung geförderte Bewußtsein der Gutsbesitzer, ihren Lebensstandard und ihre Lebensauffassung, die an aristokratische Ideale angelehnt sind; und schließlich die gesellschaftliche Abhängigkeit nicht nur der schwarzen, sondern auch des größten Teils der weißen Bevölkerung, die »>frei< im Gegensatz zu den Niggern, aber >abhängig< im Verhältniß zu dem Bauwollenbaron« ist.129 Dies führt ihn zu der Konsequenz, daß es sich in der südlichen Gesellschaft um eine Feudalgesellschaft und bei den Plantagenbesitzern eben um »Feudalherren« handele.130 Damit ist das Urteil über den Süden gesprochen. Er verfallt einem Verdikt, das ihn als politischen und gesellschaftlichen Hoffnungsträger in der Sicht derer disqualifiziert, die in Amerika das Land der Zukunft suchten. Griesingers in pointierter Schärfe, aber ohne karikierende Absicht gezeichnetes Bild wird in der deutschen Literatur, soweit sie sich überhaupt unabhängig von der Sklavenfrage mit dem Süden befaßt, immer wieder bestätigt: Weder Ruppius noch Gerstäcker, weder Möllhausen noch Talvj noch irgend ein anderer deutscher Autor von Bedeutung kommt zu einem positiven Urteil - mit der gewichtigen Ausnahme Sealsfields. Für Sealsfield wird der Süden gerade dort zum gesellschaftlichen Ideal, wo die anderen Autoren ihre Kritik ansetzen: in seiner historisch obsoleten aristokratisch-agrarischen Gesellschaftsstruktur. Die südliche Gesellschaft hält in ihrer Rückwärtsgewandtheit für ihn fest, was im industrialisierten Norden zusehends verloren geht: den ursprünglichen Zustand einer Ausgeglichenheit zwischen Mensch und Natur ebenso wie zwischen den Menschen selbst. In dieser Ausgeglichenheit ist für ihn die Sklavenfrage aufgehoben. Sie kann nicht zum Problem werden, weil sie sich auflöst in der Darstellung einer idyllisch-patriarchalischen Gesellschaft, wie sie den idealisierten romantischen Vorstellungen einer feudalen Ständegesellschaft entsprechen; sein verklärendes Bild der Sklavenhaltergesellschaft und des Sklavenlebens in Louisiana hat er in seinen »Lebensbildern aus der westlichen Hemisphäre« beschrieben: Diese Ordnung ist gesetzlich, und findet sich auf allen auch nur einigermaßen respektabeln Baumwollenpflanzungen. Die Arbeit ist zudem leicht, der Gesundheit zuträglich, die Plackereien des Düngens und der schweren Feldarbeiten sind unbekannt, das Loos des Negers in materieller Hinsicht so wenig beklagenswerth, daß die meisten Familienväter bedeutende Summen zurücklegen, mit denen sie sich leicht loskaufen könnten. Sie ziehen es vor, in der Familie zu bleiben, in der sie geboren, zugleich als Kinder des Hauses behandelt, und zum gesitteten Leben erzogen werden.131 128

Griesinger, Freiheit und Sclaverei unter dem Sternenbanner (1862) I, S. 64. Ebd., S. 94; vgl. entsprechend auch Gestäcker, In Amerika (1878) I, S. 15. 130 Griesinger, Freiheit und Sclaverei unter dem Sternenbanner (1862), S. 86. 131 Sealsfield, Lebensbilder aus der westlichen Hemisphäre (1846) III, S. 74f.; vgl. auch den Kontext S. 65-121, wo er »Des Pflanzers Woche« beschreibt. Vgl. zu Sealsfields Darstellung der Südstaaten Weber, America in Imaginative German Literature,

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Die Darstellung der südstaatlichen Gesellschaft und Mentalität lehnt sich bei den deutschen Autoren an das südstaatliche Selbstverständnis an - das Autostereotyp prägt das Fremdstereotyp. Auch wenn das Autostereotyp meist ins Negative gewendet und verzerrt wird, so sind die Versatzstücke der südstaatlichen Identität selbst in den kritischen Darstellungen noch verifizierbar. Diese Identität konstituierte sich im wesentlichen aus jenen Elementen, die Sealsfield positiv und Griesinger negativ zu beschreiben versucht hatten. Objektiv ruht sie auf dem Plantagensystem und der Sklaverei; ihre dritte Säule ist das ideologische Konzept eines »Ritterlichkeits«-Ideals, das im ersten Jahrhundertdrittel aus verschiedenen Elementen zusammenwächst. Der romantische »Kult der Ritterlichkeit« stellt die eigentliche Essenz des südstaatlichen Nationalismus dar, und er hat sich schließlich gegenüber den beiden anderen Säulen als lebensfähiger erwiesen: Während das Plantagensystem dem wirtschaftlichen und die Sklaverei dem militärisch-politischen Druck im 19. Jahrhundert weichen mußten, hat sich die spezifisch südstaatliche Mentalität weit darüber hinaus erhalten.132 Die Mythenbildung um den »Pflanzer-Aristokraten« in der amerikanischen Literatur begann bereits nach dem britisch-amerikanischen Krieg um Kanada im Jahre 1812, auch wenn sie ihren Höhepunkt erst in den dreißiger Jahren erreichte. In dieser Zeit verdichtete sich das Bild einer südstaatlichen Oberschicht, die ihre Identität aus Elementen der europäischen wie der amerikanischen Kultur* und Geistesgeschichte abzuleiten versucht. Aus der amerikanischen Geschichte geht in diese Identität das Ideal des »Virgian Gentleman« ein, das sich wiederum am Vorbild des englischen Landedelmannes vergangener Zeiten orientierte.133 Noch wesentlicher waren aber wohl die Momente eines Mittelalterkultes, der aus der europäischen Literatur, vor allem der deutschen Romantik und ganz besonders der historischen Romane Scotts übernommen wurde. Hier fanden sich all jene Elemente, die das »Ritterlichkeits«-Ideal des Südens und seinen Lebensstil prägten. Scotts Mittelalterdarstellungen lieferten der südstaatlichen Oberschicht ein Identifikationsangebot, in dem sie sich wiedererkennen zu können glaubte; sie erschien als Spiegel ihrer eigenen Welt, in dem die Rückständigkeit gegenüber dem industrialisierten Norden glorifiziert wurde. Der Lebensstil des »Pflanzer-Aristokraten« wurde historisch geadelt: Ein Kodex, bestehend aus Höflichkeit, Ehrerbietung gegenüber Frauen, Gastfreundschaft,

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S. 126f.; Ritter, Charles Sealsfield, S. 115f.; Ritter, Sealsfields gesellschaftspolitische Vorstellungen, S. 412; Magris, Der Abenteurer und der Eigentümer, S. 158 f.; Michelsen, Americanism and Anti-Americanism in German Novels of the XIXth Century, S. 279 f. Zu den »drei Säulen« der Südstaatengesellschaft vgl. Osterweis, Romanticism and Nationalism in the Old South, S. 103 f. und S. 214f. Zur wirtschaftlichen Entwicklung des Südens nach dem Bürgerkrieg, der zunächst zu seiner Verarmung und dann zu einer Angleichung an die industrialisierten Strukturen des Nordens führte, vgl. Killick, Die industrielle Revolution in den Vereinigten Staaten, S. 144 f. Vgl. Osterweis, Romanticism and Nationalism in the Old South, S. 16 und S. 84; Taylor, Cavalier and Yankee, S. 67.

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Ehrgefühl, Rücksicht gegenüber sozial Niedrigstehenderen, prägt das Ideal einer »ritterlichen« Lebensführung.134 Das Selbstverständnis der südstaatlichen Gesellschaftsordnung entspricht in seinen wesentlichen Leitlinien den Grundideen der politischen Romantik in Deutschland, wie sie sich vereinzelt noch bis zur Jahrhundertmitte formuliert finden. Ihre Kennzeichen sind die »Vorliebe für die monarchisch-theokratische Staatsform; die Konservierung und Restaurierung von Adel, Feudalwesen und Ständestaat; die Abneigung gegen geschriebene Verfassungen und die relative Gleichgültigkeit gegenüber dem Problem der politischen Freiheit.«135 Diese Affinität der Südstaaten zu den Auffassungen der politischen Romantik bestimmt die Stellungnahmen der deutschen Beobachter: In der Faszination durch oder den Affekt gegen die südstaatliche Gesellschaft kehren die Positionen wieder, die in Deutschland die Auseinandersetzung um die romantischen Gesellschaftsvorstellungen geprägt hatten. Wenn in der südstaatlichen Mentalität romantische Vorstellungen von gesellschaftlichen Verhältnissen gepflegt wurden, dann bedeutet das allerdings nicht, daß damit eine ausdrückliche Ablehnung der demokratischen Verfassungsprinzipien statuiert worden wäre. Das Demokratiekonzept bleibt formal erhalten, erfährt aber durch die Integration in die Gesellschaftsauffassung der südstaatlichen Aristokratie eine spezifische Modifikation. Diese Auffassung - die im übrigen auch auf den Yankee der Nordstaaten eine gewisse Faszination ausübte verfocht ein in seiner Substanz antidemokratisches und statisches Ideal der »Guten Gesellschaft«,136 deren antidemokratische Komponente jedoch verwischt wurde und vielleicht ihren Apologeten nicht einmal selbst in den Blick kam: Sie sahen sich, trotz ihres aristokratischen Bewußtseins und trotz der Sklavenhaltung weiter als »Anhänger der amerikanischen Ideale von Freiheit und Demokratie«.137 Möglich wurde das nicht nur durch spezifische rassistische Legitimationsstrategien in bezug auf die Sklaverei, sondern auch dadurch, daß ihre 134

Vgl. Osterweis, Romanticism and Nationalism in the Old South, S. 17 und S. 96. Zur besonderen Rolle der Scott-Rezeption vgl. S. 46-48; zum Einfluß weiterer Autoren der europäischen Romantik auf den Süden, speziell auf New Orleans, wo neben Scott auch Carlyle, Lamartine und Schiller als deren Exponenten rezipiert wurden, vgl. S. 162 bis 164. - Zum Bild Europas in den Südstaaten, das als ebenso respektiertes wie entmutigendes Vorbild rezipiert wurde, vgl. Taylor, Cavalier and Yankee, S. 51. Taylor verfolgt im übrigen in seiner Studie detailliert, wie sich der Mythos vom »Southern Gentleman« oder »Cavalier« und von der »Southern Chivalry« in der amerikanischen Literatur der Zeit herausarbeitet. 135 Kais, Die soziale Frage in der Romantik, S. 171. Zum Nachwirken dieser romantischen Auffassungen im 19. Jahrhundert vgl. die kursorische Darstellung bei Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 317 f. 136 Taylor, Cavalier and Yankee, S. 96. 137 Temperley, Regionalismus, Sklaverei, Bürgerkrieg, S. 83. Charakteristisch dafür ist die Position des ideologischen Protagonisten der Südstaaten, John C. Calhoun, der in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts Vizepräsident der USA wurde. Für ihn setzt die Realisierung des Freiheitsideals gerade Ungleichheit der Bedingungen voraus; vgl. Bekker, The Declaration of Independence, S. 249-255.

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Demokratievorstellung tingiert wurde durch die Anlehnung an die exklusive Demokratie des antiken Griechenland, die sich ebenfalls auf einer Sklavenhaltergesellschaft aufbaute. 138 Eine besondere Variation der Rechtfertigung von Sklaverei hat Thomas Dew in die Debatte eingebracht. Dew hatte in Deutschland studiert und operiert mit dem teleologischen Argumentationspotential, das die deutsche Aufklärung entwickelt hatte: Da Gott in jedem Stadium der Menschheitsgeschichte die Sklaverei zugelassen habe, müsse sie auch ihren Sinn und ihre natürliche Legitimation haben.139 Eine direkte Auseinandersetzung mit den Strukturen und dem Selbstverständnis der südstaatlichen Gesellschaft tritt in deutschen Darstellungen nur selten als eigenständiges Problem auf. Sie ist meist verknüpft mit jenem großen Thema, das dem Bild der Südstaaten in europäischen Augen seine düstere Farbe gibt: der Sklaverei. So sehr das Thema die Reiseberichte und die theoretischen Erörterungen beherrscht, so wenig sind ihre Autoren darauf vorbereitet, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Sie stehen dem Problem fremd und etwas hilflos gegenüber, weil es in der deutschen Geistesgeschichte keine nennenswerte Rolle gespielt hat. Anders als in Frankreich und vor allem in England gab es keine deutsche kolonialistische Tradition, die das Thema auf die Tagesordnung gebracht hätte. Deshalb bleibt seine Behandlung in der deutschen Diskussion überwiegend abstrakt; sie sah sich verwiesen auf philosophisch-theoretische Reflexionen oder auf literarische Darstellungen, die das Sklavenproblem als Vehikel für eine Despotismus-Kritik benutzten.140 Da die deutsche Geschichte praktisch nie mit dem Problem befaßt war, kann die Ablehnung der Sklaverei a limine, vor jeder Diskussion, formuliert werden: Das Gefühl für Menschlichkeit und Billigkeit, das in der Regel die Deutschen nie verläßt [...] hat zwar schon längst das Urtheil der Deutschen über die Sclaverei der Neger im Allgemeinen ein= für allemal bestimmt. Sie sehen darin eine unerhörte Verletzung aller Gesetze der Humanität, eine Anomalie, für die es keine Entschuldigung gibt.141

Die Sklaverei wird von einem historisch-politischen zu einem Problem des Nationalcharakters. So sehen es auch die Ratgeber und Reiseberichte: Für sie ist es eine undiskutierte Selbstverständlichkeit, daß sich der Deutsche nicht nur wegen des Klimas, sondern auch wegen der Sklaverei nicht in den Südstaaten ansiedeln solle, weil sich »der deutsche Charakter nicht mit dem [...] Sklavensystem befreunden« kann. 142 138

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Vgl. Osterweis, Romanticism and Nationalism in the Old South, S. 87; S. 94; S. 96. Vgl. auch Fredrickson, The Black Image in the White Mind, S. 59-70. Becker, The Declaration of Independence, S. 247 f. Vgl. Sadji, Der Negermythos am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland, S. 281 f. Murhard, (Art.) Sclaverei (1843), S. 434. Amerika! (1849), S. 48; ähnlich Bromme, Rathgeber für Auswanderungslustige (1846), S. 160; Witte, Kurze Schilderung der Vereinigten Staaten von Nordamerika, S. 89. Entsprechend schreibt ein deutscher Auswanderer im Jahre 1857: »Missisippi ist ein Sklavenstadt u da möchte ich doch nicht für immer wohnen«. Briefe aus Amerika,

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Tatsächlich scheint sich diese Unvereinbarkeit von deutschem Charakter und amerikanischem Sklavensystem in den Reiseberichten und auch in deutschen Romanen zu bestätigen: Sie sind gekennzeichnet von einem Rigorismus, der seine Position aus christlich-ethischen, philosophisch-aufklärerischen oder allgemein humanitären Idealen bezog, ohne auf etwa in Deutschland vorhandene politische oder kommerzielle Interessen Rücksicht nehmen zu müssen. Dieser wenig ausgeprägte Problemhorizont äußert sich in der deutschen Amerikaliteratur zunächst in einer Emotionalisierung des Sklavenproblems. Einer der frühesten deutschen Romane, der sich in dieser Weise - vor einem christlichen Hintergrund - mit dem Problem auseinandersetzt, ist Biernatzkis »Brauner Knabe« von 1839. Hier sind die Topoi versammelt, die später den Anti-Sklaverei-Roman bestimmen werden. Im Vordergrund stehen theoretische Überlegungen zur Diskrepanz zwischen der Sklaverei und dem Freiheitsanspruch der amerikanischen Verfassung;143 und zugleich wird das »unchristliche Verfahren« der Sklavenbehandlung gerügt.144 Wirkungsträchtiger als solche Diskurse sind jedoch die Darstellungen der Realität, wie sie Biernatzki sich vorstellte.145 Wie die spätere Romanliteratur, so verläßt sich auch seine Anklage gegen die Sklaverei auf einen »Hang zum schaurigen Detail«, 146 das hier - gegenüber späteren Darstellungen - allerdings recht sparsam eingesetzt wird: Die Auspeitschung der Negerin und der Versuch des deutschen Besuchers, sie zu verhindern, wird zum festen Motiv der einschlägigen Literatur.147 Ähnlich behandelt Talvj, allerdings auf der Grundlage authentischer Kenntnisse, das Sklavenproblem in ihrem Roman »Die Auswanderer«. Sie bereichert die Thematik durch eine differenziertere Darstellung und fügt zum Motiv des Auspeitschens das des Menschenhandels und der Sklaventransporte hinzu.148

S. 316. Das ist auch der Tenor der englischen und deutschen Presseberichterstattung; vgl. Thaller, Studien zum europäischen Amerikabild, S. 39; S. 55. 143 Vgl. Biernatzki, Der braune Knabe (1839), S. 69 f. 144 Ebd., S. 97. 145 Zu den »Quellen der Kenntnis von der amerikanischen Negersklaverei« in der deutschen Literatur vgl. Cronholm, Die nordamerikanische Sklavenfrage im deutschen Schrifttum des 19. Jahrhunderts, S. 46-50: Cronholm führt hier besonders Sealsfield, Duden und den 1835 erschienenen Romen »Marie ou esclavage aux Etats-Unis« von Tocquevilles Reisebegleiter Gustave de Beaumont an. 146 Ebd., S. 50. Das Motiv des Auspeitschens spielt auch in der amerikanischen abolitionistischen Literatur eine besondere Rolle; vgl. Stampp, The Peculiar Institution, S. 187. Daß es in der deutschen Kolportageliteratur begierig aufgegriffen wurde, verdankt sich wohl nicht nur einem spezifisch abolitionistischen Interesse als vielmehr einem entsprechenden Leserbedürfnis; vgl. Schenda, Volk ohne Buch, S. 351-354. 147 Vgl. Biernatzki, Der braune Knabe (1839), S. 74. Zu Biernatzki vgl. auch Cronholm, Die nordamerikanische Sklavenfrage im deutschen Schrifttum des 19. Jahrhunderts, S. 77 f. 148 Vgl. Talvj, Die Auswanderer (1852) I, S. 202; S. 260; S. 284. Zu Talvjs Sklavendarstellung vgl. auch Voigt, The Life and Works o f Mrs. Therese Robinson, S. 132 f.; eine Art Inhaltsangabe gibt wiederum Hollyday, Anti-Americanism in the German Novel, S. 49-54.

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Talvj vereinigt in ihrer bei aller Bemühung um difierenziert-realistische Darstellung doch entschiedenen Ablehnung der Sklaverei zwei Motivstränge: Auf der einen Seite steht, mit der deutschen Romanheldin Klotilde, die Repräsentantin einer »echt christlichen Gesinnung«,149 auf der anderen, mit ihrem »freigeistigen, deutschen Freund« Bergedorf, der Sklavereigegner aus rationalistisch-humanitärer Überzeugung.150 Beide Positionen vereinigen sich schließlich in einem emotionalen Abscheu, der auch die Grundlage der meisten anderen deutschen Romane ist, die sich des Themas annehmen.151 Einen entscheidenden Impuls erhielt diese Art von Roman und überhaupt die ganze Diskussion um die Sklavenproblematik mit dem Erscheinen von Harriet Beecher Stowes »Uncle Tom's Cabin« in Amerika in den Jahren 1851/1852 und in deutscher Übersetzung 1852. Die Rezeption dieses Romans in Deutschland, wo er gleich nach seinem Erscheinen einen außerordentlichen und langanhaltenden Erfolg hatte,152 unterstützte die von Biernatzki und Talvj - die vielleicht schon von Beecher Stowe beeinflußt war - eingeschlagene Richtung in der fiktionalen Literatur - mit einem zweifelhaften Resultat: Der Roman propagierte ein Stereotyp vom Schwarzen als einem fügsamen, religiösen und kindlichen Charakter, das einen weitreichenden Einfluß auf die deutsche Literatur - bis hin zu Karl May - gehabt hat und mit seinem latenten Rassismus die Vorstellung von der Superiorität des Weißen förderte. 153 Zudem leistete er der Entpolitisierung des Problems durch seine Sentimentalisierung Vorschub: Die christlich unterfütterte Emotionalisierung der Sklavenfrage prägt die Behandlung des Problems und läßt der Reflexion seiner politischen Dimension - wie sie ansatzweise in den Überlegungen St. Cläres zum Ausdruck kommt - nur wenig Raum. 154 »Uncle Tom's Cabin« hat in der theoretischen deutschen Diskussion um die Sklavenfrage nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Sie bezog ihr Argumenta149

Talvj, Die Auswanderer (1852), S. 202. Ebd., S. 208. 151 Cronholm, Die nordamerikanische Sklavenfrage im deutschen Schrifttum des 19. Jahrhunderts, S. 76-85. 152 Vgl. MacLean, »Uncle Tom's Cabin« in Germany, S. 24-32. McLean führt hier 48 deutsche Ausgaben des Romans zwischen 1852 und 1900 an und gibt einen Überblick über die direkten Einflüsse auf die deutsche Romanliteratur. 153 Zur Entstehung dieses Stereotyps in den Südstaaten und seiner Propagierung durch Beecher Stowe vgl. Fredrickson, The Black Image in the White Mind, S. 103-115. Zu dem entgegengesetzten »harten« Stereotyp des wilden und bestialischen Schwarzen vgl. ebd., S. 54-56; vgl. auch Taylor, Cavalier and Yankee, S. 304. Diese Stereotypen treten in der »Nat«- und »Sambo«-Dichotomie verschärft hervor: »Nat« als der rebellische, »Sambo« als der unterwürfige und domestizierte Sklave; vgl. Blassingame, The Slave Community, S. 140-143. 154 Vgl. Beecher Stowe, Onkel Tom's Hütte; oder Negerleben in den Sklavenstaaten von Nord-Amerika (21853), Sp. 309f. und Sp. 371-375. Die Emotionalisierung wird besonders aufdringlich in der Beschreibung von Toms Tod (vgl. ebd., S. 734-739) und dem süßlich-versöhnlichen Abschluß des Romans, der dem Schluß von Möllhausen »Halbindianer« als Vorbild gedient haben könnte. 150

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tionsarsenal aus anderen Quellen. Die Grundlage ist die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in Europa manifeste Überzeugung, daß »der Eingeborene seiner Natur nach dem Zivilisierten gleichzustellen sei und dessen Behandlung den in Europa gültigen rechtlichen und moralischen Maßstäben unterliegen müsse«.155 Das mangelnde direkte wirtschaftliche und kolonialistische Interesse der Deutschen an der Sklavenfrage, das keine Rechtfertigungsbemühen erforderte, stellte für die Verbreitung dieser Position einen günstigen Nährboden dar. Die öffentliche Meinung des frühen 19. Jahrhunderts wurde mit dem Problem nachdem sich vorher nur gelegentliche Behandlungen des Themas in der Literatur finden156 - im größeren Umfang wohl erst durch den Wiener Kongreß konfrontiert: Hier wurde, aufgrund einer veränderten ökonomischen Situation vor allem Großbritanniens und auf dessen Antrag, ein - politisch allerdings weitgehend folgenloses - Verbot des Sklavenhandels ausgesprochen.157 Im Verein mit den äußerst wirksamen Bestrebungen der englischen Abolitionisten in ganz Europa sorgte diese Deklaration dafür, daß das Thema in Deutschland auf die Tagesordnung kam und daß die hier proklamierte Position zur selbstverständlichen Grundlage der deutschen Diskussion wurde.158 Auf der Basis dieser humanitären und egalitären aufklärerischen Denktradition wird es den Theoretikern leicht, die unspezifische Aussage der Auswanderer-Ratgeber, daß sich Sklaverei mit dem deutschen Charakter nicht vertrage, zu konkretisieren. Überall dort, wo sie sich prinzipiell über das Sklavenproblem auslassen, verbinden sie es mit einem Bekenntnis zur von der Vernunft geforderten Freiheit und Gleichheit: »Die Vernunft ist dagegen aller orten und war zu allen Zeiten gegen die Herabwürdigung des Menschen zur Sache«,159 und ähn155

Bitterli, Der Eingeborene im Weltbild der Aufklärungszeit, S. 260. Zum Kampf europäischer Philosophen des 18. Jahrhunderts gegen den Sklavenhandel vgl. Bitterli, Die Entdeckung des schwarzen Afrikaners, S. 134-136. 156 Vgl. Harris-Schenz, Black Images in Eighteenth-Century German Literature, S. 133 bis 144; zum Bild des schwarzen Sklaven in der Literatur des 18. Jahrhunderts vgl. auch Gilman, On Blackness Without Blacks: Essays on the Image of the Black in Germany, bes. S. 38-40. 157 Vgl. Berding, Die Ächtung des Sklavenhandels auf dem Wiener Kongreß 1814/1815, S. 268. Zur juristischen Abschaffung des Sklavenhandels - nicht der Sklaverei bei der 1805 Dänemark eine Vorreiterrolle spielte, vgl. Curtin, The Atlantic Slave Trade, S. 231 f. 158 Vgl. ebd., S. 284. Die Wirksamkeit der englischen Abolitionisten - die in England bereits 1807 ein Verbot der Sklaverei durchsetzten - beschreibt Bitterli, Die Entdeckung des schwarzen Afrikaners, S. 145-151; dazu auch Thaller, Studien zum europäischen Amerikabild, S. 50 und S. 99 f. Zur Entstehung der abolitionistischen Gesellschaften in den Vereinigten Staaten, deren erste 1777 in Pennsylvania gegründet wurde, vgl. Nye, Fettered Freedom, S. 1 - 6 . - Ein Schlaglicht auf das abstrakte Engagement deutscher Intellektueller werfen die Bestrebungen Alexander von Humboldts: Auf sein Drängen hin wurde im Jahre 1857 in Preußen die Sklaverei abgeschafft, mit der praktischen Konsequenz, daß jeder Sklave beim Betreten des preußischen Bodens die Freiheit erhalten sollte. Vgl. Scurla, Alexander von Humboldt, S. 417. 159 Struve, Die Union vor dem Richterstuhle des gesunden Menschenverstandes (1855), S. 37.

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lieh rigoros postuliert Körner seine Position in dieser Frage: »Ich will lieber ein träger, unfähiger Kopf genannt werden [...] und eingestehen, daß sich in meinem Geiste etwas entgegenstellt, das wie ein unmittelbarer Ausspruch der Vernunft die Sclaverei verdammt, und daß ich damit die Sache für abgethan halte.«160 Mit der Entfernung nimmt die Rigorosität der Ablehnung zu: Der ansonsten uneingeschränkt amerikaapologetische Murhard, der den Artikel über die »Sclaverei« im Rotteck-Welckerschen »Staats-Lexikon« schrieb, duldet in dieser Frage keinen Kompromiß: Er lehnt alle Argumente, die zugunsten der Sklaverei sprechen könnten, prinzipiell - auf historisch-empirischer Grundlage - ab, und sieht in ihr die Grundlage für Sittenverderbnis und gesellschaftlichen Verfall: »Denn auf persönliche [sie] Freiheit des Menschen beruht Alles: Sittlichkeit, Recht und Betriebsamkeit.«161 Diese Rigorosität der Ablehnung blieb allerdings ansonsten überwiegend den Romanciers überlassen, welche die Diskrepanz zwischen amerikanischem Freiheitsversprechen und Sklaverei nicht mit Argumenten verdecken, sondern mit emotionalisierender Darstellung hervorheben wollen: In Biernatzkis »Braunem Knaben« verläßt der Held den Boden, den »er mit den idealen Freiheitsträumen eines deutschen Studenten« betreten hatte, mit dem »bittersten Gefühl der Enttäuschung« über die Behandlung der Schwarzen;162 ebenso wie Talvjs Heldin sich aus »diesem Land der Tyrannei, zurück nach ihrem lieben Deutschland« sehnt, »wo wenigstens diese Greuel nie hätten ihr Auge treffen können.«163 Die politische Diskussion der immigrierten Deutschen folgte dagegen oft pragmatischeren Erwägungen. Für die Liberalen wurde die Diskussion um und der Kampf gegen die Sklaverei zu einem beherrschenden Thema.164 Eine politische Basis für diese Bestrebungen verschafften sie sich durch ihre eigene liberale Presse165 und durch die Mitarbeit an den bestehenden amerikanischen Parteien, die allerdings für die Deutschen nicht ganz unproblematisch war: Die meisten 160

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Körner, Schilderung des gegenwärtigen Zustandes der westlichen Staaten Nord-Amerika's(1834), S. 56. Murhard, (Art.) Sclaverei (1843), S. 437. Biernatzki, Der braune Knabe (1839), S. 86. Talvj, Die Auswanderer (1852) I, S. 260. Die Romane »Freiheit und Sclaverei« von Ottilie Ossing und Friedrich W. Armings »Weiß und Schwarz« (1865) scheinen die einzigen deutschen Werke zu sein, die der Sklaverei positiv gegenüberstehen. Vgl. Cronholm, Die nordamerikanische Sklavenfrage im deutschen Schrifttum des 19. Jahrhunderts, S. 84; Woodson, American Negro Slavery in the Works of Friedrich Strubberg, Friedrich Gerstäcker, and Otto Ruppius, S. 320. - Sehr viel nüchterner, aber ebenfalls dezidiert ablehnend äußert sich ein deutscher Einwanderer in einem Brief von 1856; vgl. Briefe aus Amerika, S. 337. - Zur differenzierten Haltung der deutschen Immigranten gegenüber der Sklavenfrage, die sich mit der Darstellung in den Amerika-Romanen nicht unbedingt deckt, vgl. Mikoletzky, Die deutsche Amerika-Auswanderung in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur, S. 288. Vgl. Erhorn, Die deutsche Einwanderung der Dreißiger und Achtundvierziger in die Vereinigten Staaten, S. 4 8 - 52. Zur grundsätzlich abolitionistischen Tendenz in der deutsch-amerikanischen Presse vgl. Nye, Fettered Freedom, S. 312.

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waren Anhänger der Demokratischen Partei, die nicht abolitionistisch, aber antinativistisch war, während die 1854 gegründete Republikanische Partei gegen die Sklaverei, aber auch gegen die Einwanderung kämpfte. Dennoch zeigte sich unter den Deutschen bald eine Präferenz für die Republikaner; ihr berühmtestes deutsches Mitglied wurde Carl Schurz, der es bis zum Madrider Gesandten und schließlich zum Innenminister brachte, die Partei aber später wegen politischer Differenzen verließ.166 Die abolitionistische Stellung der Deutschen dokumentiert sich in ihrer Beteiligung am Bürgerkrieg: Die weitaus meisten von ihnen etwa 200.000 - beteiligten sich auf der Seite der Union an den Kämpfen, wobei viele Liberale, wie Hecker, Börnstein, Schurz, Sigel - der ein eigenes deutsches Regiment aufstellte - und andere eine exponierte Rolle spielten, während sich die im Süden ansässigen Deutschen um Neutralität bemühten und nur in Ausnahmefallen sich der konförderierten Armee anschlössen.167 Die Verflechtung der Sklavenfrage mit den allgemeinen inneramerikanischen Angelegenheiten und die oft daraus resultierenden taktischen Zwänge ebenso wie überhaupt die Kenntnis der Problematik aus direkter Anschauung haben dazu beigetragen, daß die abolitionistischen Stellungnahmen der deutschen Immigranten oft gemäßigter und differenzierter waren als die der Reisenden oder gar jener Autoren, die Amerika nicht aus eigener Anschauung kannten. Kaum ein Deutsch-Amerikaner vertrat in der Sklavenfrage so kompromißlose Auffassungen, wie sie die Äußerungen Körners und Struves bekunden; es zeigt sich vielmehr oft eine Auflösung der abolitionistischen Position dort, wo sie direkt mit politischen und ökonomischen Erwägungen konfrontiert wird. Eine Differenzierungslinie verläuft schon zwischen den »Grauen« und den »Grünen«: Diese waren fast ohne Ausnahme die Träger und Vertreter des idealen Republikanismus, während die ältere deutsche Einwanderung, die sogenannten »Grauen«, sich im Laufe der langen Jahre an das damals noch nicht so ungeberdige und arrogante Sklavenhalterthum allmälig gewöhnt, ja mitunter sich mit ihm befreundet hatten und die eigenthümliche Institution als ein nothwendiges Uebel betrachteten, das man als guter Conservativer erhalten und schützen müsse.168

Aber auch bei den »Grünen« ist die Argumentation gegen die Sklaverei oft von Kompromißbereitschaft geprägt. Jedenfalls findet sich - bei aller Ablehnung dieser Institution - unter ihnen kein wichtigerer Autor, der aus ihr allein einen grundsätzlichen Einwand gegen die amerikanische Republik und ihren Freiheitsanspruch ableitete. Die Sklaverei erscheint bestenfalls als ein akzidentielles 166

Zur Biographie Schurz' vgl. neben seinen »Lebenserinnerungen« auch Faust, The German Element in der United States II, S. 126-130. Dobert, Deutsche Demokraten in Amerika, S. 178-199. Die Stellung der deutschen Liberalen in Amerika zur Sklavenfrage wird dargestellt bei Skal, Die Achtundvierziger in Amerika, S. 34-44; und bei Wittke, Refugees of Revolution, S. 203-218. 167 Vgl. Wittke, Refugees of Revolution, S. 222 f. - Ein direktes Zeugnis für die Konfrontation der deutschen Immigranten mit dem Bürgerkrieg geben Briefe von 1862; vgl. Briefe aus Amerika, S. 356-360. 168 Börnstein, Fünfundsiebzig Jahre in der Alten und Neuen Welt (1881) II, S. 171. 367

und ephemeres Übel, das mit entsprechendem publizistischem und politischem Engagement beseitigt werden könne.169 Die politische Literatur der Liberalen zeigt, daß egalitäre Prinzipien nicht unbedingt zu abolitionistischen Schlußfolgerungen führen müssen. Charakteristisch ist die Position des Achtundvierzigers Ziegler, bei dem die liberalen Grundsätze durch pragmatische Erwägungen verwässert werden: Die Redensart >Alle Menschen sind gleich geborem, klingt schön, allein der Keim der Ungleichheit liegt schon im Embryo verborgen. Auf meinen Reisen durch Nordamerika habe ich nirgends Gleichheit, wohl aber unzählige Beweise dafür gefunden, daß der Begriff einer praktischen Gleichheit nur Chimäre sei. Die Sklaverei ist der schwärzeste Schandfleck der freien nordamerikanischen Republik und steht mit den Grundsätzen von Gleichheit und Freiheit in dem grellsten Widerspruch.170

Auf diese - so eindeutig selten formulierte - Kritik der amerikanischen Republik angesichts der Sklaverei folgt aber eine nüchterne Abwägung der sachlichen Gründe, die eine unmittelbare Abschaffung der Sklaverei nicht möglich machen: »Ich weiß recht gut, daß die Sklavenfrage vor der Hand eine nicht zu lösende ist, so wie daß dieselbe ein nothwendiges Uebel für die vereinigten Staaten noch lange bleiben wird.«171 In seinem Reisebericht führt Ziegler die Gründe an, die einer direkten Abschaffung der Sklaverei im Wege stehen und ihre weitere Existenz in einer Republik wenn nicht rechtfertigen, so doch erklärlich machen: Er sieht, daß die unmittelbare Beseitigung der historisch gewachsenen Verhältnisse - deren Ursprung die »republicanischen Formen Nordamerikas« nicht zu verantworten haben, weil sie auf die »absolutistischen Principien der europäischen Großmächte« zurückgehen172 - juristische, wirtschaftliche und politische Probleme sowohl für die Sklavenhalter wie auch für die befreiten Sklaven selbst mit sich brächte, für die keine aktuellen Lösungsmöglichkeiten in Sicht seien.173 Die liberale Auseinandersetzung mit dem Thema bemüht sich also um eine differenzierte Abwägung seiner verschiedenen Implikationen, wobei sie ständig in der Gefahr steht, sich nicht nur auf die südstaatlichen Legitimationsstrategien einzulassen, sondern sie sich auch nolens volens zu eigen zu machen. Dieser Gefahr verfallen sie um so leichter, je diffuser die südstaatliche Legitimationsideologie ist und je weniger sie sich auf Begriffe bringen läßt. Auf der grundsätzlichen Ebene der Diskussion können die liberalen Theoretiker keinen der Gründe akzeptieren, die von den Verteidigern der Sklaverei angeführt werden: Weder das Eigentumsrecht an Sklaven noch die meist rassistisch fundierte Verweigerung der Freiheits- und Gleichheitsrechte der Verfassung wird als legitime 169

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Vgl. Cronholm, Die nordamerikanische Sklavenfrage im deutschen Schrifttum des 19. Jahrhunderts, S. 52 und S. 65-75. Zur Diskussion dieser Problematik bei den deutsch-amerikanischen Intellektuellen und ihrer Spiegelung in der »Augsburger Allgemeinen Zeitung« vgl. Wagner, Das Bild Amerikas in der deutschen Presse von 1828 bis 1865, S. 321-324. Ziegler, Republikanische Licht= und Schattenseiten (1848), S. 25. Ebd. Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika und Westindien (1848) II, S. 162. Vgl. ebd., S. 161-170.

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Rechtfertigungsmöglichkeit auch nur in Erwägung gezogen; die Ablehnung dieser Positionen ist eindeutig. Die prinzipiell abolitionistische Haltung wird indes zusehends aufgeweicht, wenn praktische Erwägungen und soziale Argumente ins Spiel kommen. Schließlich setzt sich trotz der ausdrücklichen Ablehnung die südstaatliche Legitimationsideologie doch durch, indem unterschwellig die These von der rassischen Überlegenheit der Weißen und die Notwendigkeit eines paternalistischen Systems übernommen wird. Die deutschen Beobachter sind sich darüber einig, daß die ökonomische Existenz des Südens von der Sklavenwirtschaft abhängig ist. Sie verstehen sich insoweit einhellig zur Anerkennung des notwendigen Übels, die meist mit einem klimatischen Argument rationalisiert wird: Der Hauptgrund hierzu liegt darin, daß die Existenz der weißen Bewohner der südlichen Staaten mehr oder weniger einzig und allein von den Sclaven oder der Sclaverei der Neger abhängt, indem letztere allein das ungesunde Klima ertragen, und besonders die Feldarbeiten in der Sommerhitze verrichten können, und somit unentbehrlich für die dortigen Weißen sind.174

Solche Überlegungen, die sich durch ökonomische Argumente von der sachlichen Notwendigkeit der Sklaverei jenseits der philosophischen Notwendigkeit ihrer Abschaffung zu überzeugen versuchen, öffnen bei den Reisenden den Weg für eine immer weitergehende Reduktion ihres theoretischen Abolitionismus. Aus je größerer Nähe sie die Verhältnisse betrachten, desto mehr neigen sie zu einer Verteidigung des aus der Ferne noch als Skandalon empfundenen Zustandes. Es entsteht dabei die paradoxe Situation, daß die Bemühungen der engagierten Abolitionisten in Europa und Amerika - und nicht zuletzt Beecher Stowes mit ihren deutschen Nachfolgern - diese Abmilderung des Vorwurfes gegen die Sklaverei eher befördert als verhindert haben: Fast durchgehend konnten die Reisenden feststellen, daß die realen Zustände bei weitem nicht jenem düsteren Bild entsprachen, das die abolitionistischen Traktate und Romane gezeichnet haben.175 Griesinger, der ansonsten kaum eine Gelegenheit zur Kritik amerikanischer Zustände ausläßt, stellt diesen Zusammenhang heraus und kommt ausgerechnet bei der Betrachtung der Sklaverei zu einer eher positiven Beurteilung der Verhältnisse: Er stellt fest, daß in Deutschland »ungemein übertriebene Gerüchte über das amerikanische Sklavenleben verbreitet sind« und »daß jene Münchhausiaden von den Amerikanern selbst, d. h. von den Abolitionisten un174

Löwig, Die Frei=Staaten von Nord=Amerika (1833), S. 184; vgl. auch Bromme, Reisen durch die Vereinigten Staaten und Ober=Canada (1834f.) II, S. 288f.; Griesinger, Freiheit und Sclaverei unter dem Sternenbanner (1862) I, S. 49-61; Baumbach, Briefe aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika (1851), S. 117. 175 Die Realität der Sklavenplantagen deckte wohl beide Sichtweisen ab: Sowohl eine oft irrationale Grausamkeit gegenüber den Sklaven, die häufig von den schwarzen Aufsehern ausging, wie auch eine ökonomisch oder humanitär motivierte gute Behandlung lassen sich belegen; die Darstellung in der zeitgenössischen Literatur konnte - je nach ihren Vorurteilen und Absichten - diese oder jene Seite der Wirklichkeit in den Vordergrund stellen; vgl. Blassingame, The Slave Community, S. 162-165; Stampp, The Peculiar Institution, S. 180 f.

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ter denselben, erfunden und verbreitet wurden, um den Sklavenhaltern des Südens in der öffentlichen Meinung zu schaden«.176 Seine genauere Beschreibung des Sklavenlebens führt zu dem Schluß, daß - abgesehen von Fluchtversuchen - »sogar auf den heruntergekommensten Pflanzungen die Behandlung der Schwarzen eine keineswegs so furchtbar grausame ist, als man sich in Europa gewöhnlich einbildet.«177 Solche Feststellungen werden auch in anderen Reiseberichten getroffen. Die gute Behandlung der Sklaven, die allen aus Europa mitgebrachten Erwartungen widerspricht, wird zum Topos in der Reiseliteratur, der den prinzipiellen Einwänden gegen die Sklavenhaltung viel von ihrer Schärfe nimmt, auch wenn sie nicht entkräftet werden. So kann Gerstäcker - der an sich zu den uneingeschränkten Gegnern der Sklaverei gehört178 - in seinem Auswanderer-Ratgeber zur Beschwichtigung entsprechender deutscher Vorurteile feststellen: Die Sclaven, die einen guten Herrn haben, sind auch das fröhlichste, zufriedenste Völkchen, was es auf der Welt geben kann, und so wenig ich die Scheußlichkeit der Sclaverei überhaupt vertheidigen will, so wenig tritt sie dort störend und den Europäer zurückschreckend auf. 179

Zu dem gleichen Ergebnis waren die Reisenden vor ihm gekommen: Bromme, dem in Kentucky die Sklaven »mit ihrer Lage und ihrem Herrn zufrieden zu seyn« scheinen,180 oder Streckfuss, dem die Sklaverei grundsätzlich als Verbrechen gilt, der dieses Urteil aber bei näherer Betrachtung der Ernährung und Behandlung der Sklaven abmildert.181 Die durchgehend undramatischen Schilderungen in den Reiseberichten sind zunächst die Reaktion gegen die abolitionistischen Übertreibungen zu lesen; auch ist der Grad ihres Realitätsgehaltes nicht ganz einfach zu beurteilen. Die Schilderungen der Zustände auf den Sklavenplantagen beruhen wohl überwiegend auf mehr oder weniger flüchtigen, nur auf der Durchreise gewonnenen und jedenfalls nicht systematisch abgesicherten Eindrücken, die das düstere abolitionistische Bild zwar korrigieren, aber kaum einen Einblick in die soziale Wirklichkeit der Sklaven gewähren können: Probleme der Erziehung und Ausbildung, der psychischen Depravation, der Gestaltung sozialer, familiärer und 176 177

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Griesinger, Freiheit und Sclaverei unter dem Sternenbanner (1862) I, S. 164 f. Ebd., S. 191. - Eine ganz ähnliche Position vertritt ein deutscher Einwanderer aus Charleston im Jahre 1840; vgl. »Amerika ist ein freies Land ...«, S. 155 f. Vgl. Gerstäcker, Streife und Jagdzüge durch die vereinigten Staaten Nord=Amerikas (1844) I, S. 253; dazu auch Woodson, American Negro Slavery in the Works o f Friedrich Strubberg, Friedrich Gerstäcker, and Otto Ruppius, S. 229. Gerstäcker, Wie ist es denn nun eigentlich in Amerika? (1849), S. 69. Bromme, Reisen durch die Vereinigten Staaten und Ober=Canada (1834f.) II, S. 288. An anderer Stelle hebt Bromme zur Unterstützung dieser Aussage hervor, daß das Züchtigungsrecht gesetzlich geregelt sei und die Sklaven insofern nicht der Willkür ihrer Herren ausgeliefert würden. Vgl. ebd. II, S. 78. Streckfuss, Der Auswanderer nach Amerika (1836), S. 95. Entsprechendes gilt auch für englische Reiseberichte des 19. Jahrhunderts; vgl. Thaller, Studien zum europäischen Amerikabild, S. 49 f.

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sexueller Beziehungen, der Gesundheitsfürsorge und der Sterblichkeitsrate sind zu komplex, als daß sie dem flüchtigen Blick des Reisenden auf zufallig sich ihm darbietende Gegenstände und Situationen sich angemessen hätten erschließen können.182 Die überwiegend positiven Urteile über die Situation der Sklaven entspringen wohl nicht zuletzt dem Selbstverständnis der Plantagenbesitzer, von dem die Reisenden sich haben beeindrucken lassen. Für die Identität der südstaatlichen Oberschicht spielt die Sklaverei eine entscheidende Rolle, die weit über die ökonomische Bedeutung der Institution hinausgeht. Sie trägt bei zur Konstitution des Selbstbewußtseins einer herrschenden Klasse, die ihre spezifische Kultur auf dem durch die Sklavenarbeit ermöglichten Müßiggang aufbauen kann; in eins damit erlaubt sie den Plantagenbesitzern die Herausbildung eines aristokratischen Geistes, der sich den Anforderungen an den kapitalistischen Unternehmer - wie sie die industrialisierte Gesellschaft des Nordens stellte - entziehen konnte.183 Schließlich formt sie das romantische Bewußtsein einer paternalistisch organisierten Gesellschaft, an deren Spitze der Plantagenbesitzer mit seiner Fürsorgepflicht für die ihm unterstellten Sklaven stand.184 Vor allem dieser letzte Aspekt hat die Reisenden beeindruckt und ihr Urteil geformt. Die Vorstellung einer sozial und ökonomisch stabilen, auf genau definierten und verteilten Verantwortlichkeiten und Abhängigkeiten basierenden Gesellschaft,185 lud förmlich zum Vergleich mit einer nordstaatlichen und europäischen Wirklichkeit ein, in der der Arbeiter auf sich selbst gestellt und für seine soziale Sicherheit verantwortlich war. Tatsächlich gibt es kaum einen deutschen Autor, der bei seiner Darstellung der realen Situation der Sklaven diesen Vergleich nicht gezogen hätte. Fast immer kommen sie zu dem Schluß, daß es den Sklaven nicht schlechter und oft besser gehe als europäischen Arbeitern, Dienstboten und Bauern. Schon Duden, der im übrigen eine etwas konfuse und rabulistische philosophische Verteidigung der Sklaverei versucht, stellt fest, daß die unfreien Neger »leiblich weit besser dran« sind »als das europäische Gesinde«;186 und in die182

Die realen Lebensbedingungen der Sklaven auf den Plantagen wurden in neuerer Zeit zu rekonstruieren versucht; vgl. Fogel/Engerman, Time on the Cross, S. 107-157; Blassingame, The Slave Community, S. 154-183. 183 Allerdings hat dieses Autostereotyp nicht unbedingt den Tatsachen entsprochen: Der Plantagenbesitzer war ebenso wie der kapitalistische Unternehmer zur ökonomischen Kalkulation gezwungen und in der Regel dazu auch in der Lage; vgl. Fogel/Engerman, Time on the Cross, S. 73; vgl. auch den Kontext S. 67-78. 184 Vgl. Osterweis, Romanticism and Nationalism in the Old South, S. 20f.; Genovese, The Political Economy of Slavery, S. 28-31. Zum paternalistischen Superioritätsgefühl der Plantagenbesitzer, das oft zu einem guten Verhältnis zwischen Sklaven und Herren führte, vgl. Blassingame, The Slave Community, S. 160; Stampp, The Peculiar Institution, S. 228 f.; S. 326-330. Zur Sklaverei als einem nicht-ökonomischen sozialen Muster, das wesentlich zum Identitätsgefühl einer aristokratischen Oberschicht beitrug, vgl. ebd., S. 385-387. 185 Ygj Fredrickson, The Black Image in the White Mind, S. 59 f. 186 Duden, Bericht über eine Reise nach den westlichen Staaten Nordamerika^ (1829), S. 143. 371

sem Urteil folgen ihm die meisten anderen Reisenden: Ein Schweizer Auswanderer teilt nach Hause mit, daß die Handwerker, Taglöhner und Dienstboten in der Schweiz »lange kein so gutes Leben wie '/io der in Städten oder Plantagen sich befindlichen Sklaven« haben, »die eine gute und reiche Kost erhalten, meist arbeiten, was sie mögen, und sonntäglich von ihren Herren Taschengeld erhalten, um sich zu amüsiren oder ins Theater zu gehen.«187 Wenn diese Beschreibung in ihrer allzu schönfarberischen Darstellung der Situation auch untypisch ist, so kommen doch andere Reisende ebenfalls zu dem Eindruck, daß die Sklaven im allgemeinen »weit besser genährt und behandelt werden, als unser europäisches Gesinde«.188 Dieser Vorteil einer sozialen Sicherheit erscheint schließlich bedeutsamer als der Nachteil der rechtlichen Unfreiheit. Während die liberalen Autoren sich dem Dilemma meist entziehen, die soziale und die politischjuristische Seite des Sklavenproblems gegeneinander abzuwägen, kommt der von der liberalen Denktradition kaum affizierte Bromme unumwunden zu dem Schluß, der implicite auch in den Urteilen anderer angelegt ist: Das Wort Freiheit wird zu sehr mißverstanden, und fast nur das Wort Sklave und Sklaverei, ist der Popanz der selbst Vernünftige erschreckt. - Der Neger ist so frei, ja freier als der Knecht in Deutschland, nur daß er seinen Herrn nicht nach Willkühr verlassen kann, sondern an ihn gebunden ist.189

Die verführerische Wirkung, die vom Sklavensystem und der ihm unterstellten sozialen Sicherheit der Abhängigen ausgeht, ist ein Reflex der Entwicklung in Deutschland. Hier mußten sich die Theoretiker des Liberalismus und der »sozialen Frage« mit den sozialen Destabilisierungserscheinungen des Industrialisierungsprozesses vertraut machen. Die unterschwellige Verklärung der Sklavenhaltergesellschaft in dieser einen Beziehung spiegelt die Sehnsucht nach vorindustriellen Zuständen, in denen die soziale Sicherheit um den Preis individueller Freiheit gewährleistet schien - eine Sehnsucht im übrigen, die nicht nur in der Projektion auf Amerika, sondern auch in Deutschland selbst bis zur Jahrhundertmitte noch in den romantischen Lösungsversuchen der »sozialen Frage« sich manifestierte.190 Die deutschen Reisenden und Theoretiker jedoch waren sich der Tatsache bewußt, daß die Sklaverei eine absolete Institution sei, die weder dem politischen noch dem wirtschaftlichen Druck aus dem Norden auf die Dauer würde standhalten können; und in aller Regel standen sie auch dieser prospektiven Entwick187 188

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Alles ist ganz anders hier, S. 237. Streckfuss, Der Auswanderer nach Amerika (1836), S. 95. Die Beobachtungen der Reisenden scheinen nicht ganz abwegig gewesen zu sein. Fogel und Engerman kommen nach ihren historisch-empirischen Untersuchungen zu einem ganz ähnlichen Schluß: »The material (not psychological) conditions of the lifes of slaves compared favorably with those offree industriai workers.« Fogel/Engerman, Time on the Cross, S. 5. Bromme, Reisen durch die Vereinigten Staaten und Ober=Canada (1834 f.) II, S. 290. Vgl. Kais, Die soziale Frage in der Romantik, S. 127-133. Auch bei den Ultramontanen und den Konservativen des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Deutschland findet sich eine deutliche Affinität zur Verteidigung der Sklaverei; vgl. Thaller, Studien zum europäischen Amerikabild, S. 110.

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lung positiv gegenüber. Der Seitenblick auf das vermeintlich idyllische und gesicherte Leben der Sklaven ist nur eine kurze Erinnerung an die eigene europäische Vergangenheit, die an der prinzipiellen Ablehnung des Systems als einer überholten feudalistischen Erscheinung nichts ändert. Die inneramerikanische Diskussion um die Sklaverei warf nicht nur die Frage nach der humanitären und sozialen Stellung der Schwarzen auf, die mit dem paternalistischen Argument beantwortet werden konnte, sondern sie stellte auch Legitimationsanforderungen in Hinblick auf das Gleichheitsgebot der amerikanischen Verfassung.191 Im Rahmen der Südstaatenideologie wurde dieses Problem meist mit einem rassistischen Argumentationsarsenal gelöst: Der Gedanke einer natürlichen Minderwertigkeit der schwarzen Rasse war eine der tragenden ideologischen Säulen des Sklavenhaltersystems, die - unter dem argumentativen Druck der Abolitionisten - seit etwa 1830 systematisch theoretisch ausgearbeitet wurde.192 Das Verhältnis der deutschen Reisenden zu diesem Komplex ist ausgesprochen prekär. Es gibt wohl keinen unter ihnen, der sich der rassistischen Argumente der Südstaatenideologie bedient hätte, um die Sklaverei zu rechtfertigen. Die prinzipiell anerkannte Auffassung von der politischen und juristischen Gleichheit aller Menschen und ihrem Anspruch auf die Zuerkennung der Menschenrechte war allgemein; und es ist auch niemand auf den Gedanken gekommen, die Schwarzen aus der menschlichen Gattung auszuschließen, wie es in den Legitimationsversuchen der Sklavenhalterideologie gelegentlich geschah.193 Gegenüber solchen Legitimationsversuchen waren die deutschen Beobachter immun. Dennoch findet sich in ihren Schriften fast durchgehend ein mehr oder weniger latenter Rassismus, der in der Regel zwar nicht direkt zur Rechtfertigung der Sklaverei eingesetzt wird, wohl aber die Ansicht von der Superiorität der weißen Rasse nährt und damit indirekt eine legitimierende Funktion erhält.194 Dieses verdeckte rassistische Potential wird virulent, wenn die Reisenden in unmittelbaren Kontakt mit der schwarzen Bevölkerung kommen, während es bei den reinen Theoretikern weniger ausgeprägt ist.195 Es entfaltet sich zunächst 191

Das Problem der Verträglichkeit zwischen dem Freiheits- und Gleichheitsgebot der amerikanischen Verfassung und der Sklaverei wurde ausführlich diskutiert, wobei Sklaveneigner und Abolitionisten naturgemäß zu grundlegend verschiedenen Auslegungen kommen. Vgl. die Darstellung der Debatte bei Nye, Fettered Freedom, S. 225 bis 233. Zu den verschiedenen Demokratiebegriffen, die der jeweiligen Auffassung zugrunde lagen, vgl. Blanke, Amerikanischer Geist, S. 238-241. 192 Vgl. Fredrickson, The Black Image in the White Mind, S. 47. Vgl. auch die Darstellung der Entwicklung dieses Arguments in der inneramerikanischen Diskussion bis hin zu den Versuchen seiner wissenschaftlichen Untermauerung ebd., S. 43-96. 193 Ebd., S. 61. 194 Vgl. Cronholm, Die nordamerikanische Sklavenfrage im deutschen Schrifttum des 19. Jahrhunderts, S. 52. Zum ungewollten latenten Rassismus auch noch bei deutschen Amerikareisenden um 1900 vgl. Markham, Workers, Women, and Afro-Americans, S. 63-71. 195 Vgl. Cronholm, Die nordamerikanische Sklavenfrage im deutschen Schrifttum des 19. Jahrhunderts, S. 63 f. 373

in beiläufigen Bemerkungen über das physische Erscheinungsbild oder über den supponierten Charakter der Schwarzen; so wenn Witte konstatiert, daß »diese Sclaven zum Theil höchst tückisch, rachsüchtig und grausam sind. Die Ausbrüche ihrer Animosität und Rache gegen die Weißen sind oft schauderhaft und treffen nicht selten auch diejenigen, die sie mit Güte und Nachsicht behandelt haben.«196 Diese Charakteristik steht schon in der Nähe des Stereotyps vom Schwarzen als Tier, das in den Südstaaten verbreitet war, und ist insofern untypisch für den deutschen Argumentationsstandard. Typisch dagegen sind die Ausführungen Baumbachs über die Superiorität der weißen Rasse: Für ihn sind die Sklaven »Menschen zwar, aber man sage was man wolle, Menschen von der weißen Race untergeordneten Fähigkeiten«.197 Diesen Standpunkt hat in größerer Ausführlichkeit - und ohne damit die Fortdauer der Sklaverei rechtfertigen zu wollen - der Liberale Julius Fröbel entfaltet. Seine Ausführungen über das Thema beginnen mit der lapidaren Feststellung: Daß die Negerrace in Bezug auf geistige Fähigkeiten nicht mit der weißen Race auf gleiche Stufe gestellt werden kann, sollte schon durch die Physiognomik auf eine allgemein verständliche und entscheidende Weise dargethan werden. [...] Dieses Merkmal der Superiorität der weißen Race wird auch von der Negerrace wie von allen übrigen untergeordneten Racen anerkannt.1'8

Der unverhohlene Rassismus bei einem liberalen Autor wird plausibel angesichts des geistesgeschichtlichen Raumes, indem sich die liberalen Theoretiker bewegen. Ihre Auseinandersetzung mit der Rassenfrage steht im Zusammenhang einer mehrfach modifizierten Denktradition, die sich vom Ende des 18. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert hinein hat erhalten können. Allem Humanismus und aller Aufklärung zum Trotz ist in der deutschen Philosophie des späteren 18. Jahrhunderts schon der Keim gelegt zu der Vorstellung von der Unterlegenheit der schwarzen Rasse. Einen signifikanten Beleg dafür liefert die Philosophie Herders, die Auskunft gibt über den Widerstreit zwischen der rationalen Einsicht des Aufklärers und Christen in die Gleichheit aller Menschen und dem unreflektierten Vorurteil gegenüber anderen Rassen: Herder kann den von den Reisebeschreibungen seiner Zeit gewobenen »Mythos vom animalischen, das heißt häßlichen und nur seinen sinnlichen Trieben lebenden Neger« nicht hinter sich lassen und sich deshalb auch nicht entschließen, den Schwarzen als »vollwertiges Mitglied in die menschliche Gemeinschaft« einzubeziehen.199 Dieses Problem teilt er mit den meisten anderen Autoren seiner Zeit, welche die »anthropologische Inferiorität« der Neger in der Regel reflexionslos unterstellen.200 196 197 198

199 200

Witte, Kurze Schilderung der Vereinigten Staaten von Nord=Amerika (1833), S. 88 f. Baumbach, Briefe aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika (1851), S. 117. Fröbel, Aus Amerika (1857f.) I, S. 161. Zur Ablehnung der Sklaverei vgl. ebd., S. 171; vgl. auch Cronholm, Die nordamerikanische Sklavenfrage im deutschen Schrifttum des 19. Jahrhunderts, S. 68 f. Zu ähnlichen Auffassungen von der Inferiorität der Schwarzen bei Duden, F. H. Grund und anderen Reisenden vgl. ebd., S. 55-64. Vg. Sadji, Der Negermythos am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland, S. 205. Ebd., S. 282. - Selbstverständlich gehört Herder damit nicht zu den rassistischen Au-

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An dieser populären Einstellung zum Schwarzen haben weder die egalitären Prinzipien der Aufklärung noch die demokratischen des Liberalismus etwas ändern können. Sie haben zu jenem Ton der Herablassung geführt, der die Darstellung der Schwarzen in der deutschen Amerikaliteratur des 19. Jahrhunderts selbst - und oft gerade - dort prägt, wo den Autoren eine dezidiert negrophile und abolitionistische Gesinnung zu unterstellen ist. Insgesamt überlappen sich in der Darstellung der Sklaverei und der Rassenfrage bei den deutschen Autoren vielfaltige Einflüsse, die für das diffuse Bild verantwortlich sind, das von diesem Problemkreis entworfen wird: Es ist unübersehbar, daß hier der größte Widerspruch zwischen dem amerikanischen Freiheitsversprechen und der Wirklichkeit festzustellen ist; aber so eklatant dieser Widerspruch ist und auch empfunden wird, so wenig ist er geeignet, dem deutschen Amerikabild eine wirklich negative Tinktur zu geben, denn dieses Bild bezieht seine wesentlichen Inhalte aus dem Blick auf die Nordstaaten, denen gegenüber die obsolete Gesellschaft des Südens als ephemeres Phänomen erscheint.

4. Technischer und industrieller Fortschritt: Probleme der Wahrnehmung Daß Amerika das »Land der Zukunft« sei, offenbarte sich dem europäischen Auge vor allem durch den Blick auf die politischen Verhältnisse. Trotz dieser Präferenz werden aber auch die anderen Aspekte gewürdigt, die Amerika als Land eines umfassenden Fortschritts ausweisen. Schon früh hat sich ein eigener Reisetypus herausgebildet, der einen dieser Aspekte besonders in den Vordergrund rückte: Die Unternehmerreise konzentrierte sich im früheren 19. Jahrhundert auf England, um die »Rezeption überlegener technischer Verfahren« zu beschleunigen;201 später wandte sie sich aber zusehends stärker den Vereinigten Staaten zu, die sich anschickten, auch in der technischen Entwicklung Europa toren des späten 18. Jahrhunderts; grundsätzlich hält er an der Gleichwertigkeit der Menschenrassen fest. Daß aber auch ihm gelegentlich anderslautende Formulierungen unterlaufen, zeugt von den Schwierigkeiten, die mit der Einnahme dieses Standpunktes verbunden sind; vgl. Jäger, Reisefacetten der Aufklärungszeit, S. 269 und S. 281. Daß in dieser Zeit im Zusammenhang mit den naturwissenschaftlich orientierten Forschungen Blumenbachs und Meiners eine Emanzipation der nichtweißen Rassen vom bloßen Studienobjekt zum als Menschen anerkannten Wesen stattgefunden hat, zeigt Bitterli, Die Entdeckung des schwarzen Afrikaners, S. 116-119. Diese Bewegungen auf humanitärer oder wissenschaftlicher Basis haben indes nicht verhindern können, daß sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, inspiriert durch Bewegungen in Frankreich, die sich wiederum als eine Reaktion auf das Gleichheitspostulat der Französischen Revolution etablierten, auch in Deutschland eine rassistische Strömung breitmachte. Sie erhob theoretische Ansprüche, die sich teilweise an naturwissenschaftlich-anthropologische Forschungen der Aufklärung und teilweise an Herders »Volksgeist«-Philosophie anschlössen; vgl. Marten, Rassismus, Sozialdarwinismus und Antisemitismus, S. 56 bis 59. 201

Schumacher, Auslandsreisen deutscher Unternehmer, S. 191. 375

zu überholen.202 Aber auch die Reisenden, die kein spezifisch unternehmerisches Interesse an der Entwicklung neuer technischer Errungenschaften nehmen, zeigen sich oft auf eine naive Weise fasziniert davon. Sie besichtigen Fabriken mit modernen Fertigungstechniken; oder aber sie berichten einfach nur von den technischen Leistungen, mit denen sie auf ihrer Reise zufällig oder unmittelbar konfrontiert wurden. Am neugierigsten zeigt sich in dieser Hinsicht der Herzog zu Sachsen-Weimar-Eisenach; ihm standen nicht nur die Häuser der besseren Gesellschaft offen, sondern auch die Fabriktore. So kann er - mit der ihm eigenen deskriptiven Nüchternheit - kommentarlos etwa den Fertigungsvorgang in einer »Schrot-Fabrik« und einer Gewehrfabrik beschreiben, wobei sich in diesen Besichtigungspräferenzen die Interessen des alten Militärs spiegeln; oder aber er gibt eine ausführliche, mit technischen Zeichnungen unterstützte Darstellung einer Schleusenanlage.203 Während der Herzog diese Erscheinungen der Industrialisierung in Amerika zwar interessiert, aber kühl zur Kenntnis nimmt, können andere ihre Faszination durch die Technik nicht verbergen. Insbesondere die intensive Nutzung der Dampfkraft nötigt ihnen Bewunderung ab; ob sie nun in industriellen Anlagen, bei der Eisenbahn oder in der Schiffahrt begegnet. Als Ludwig Gall, fast zehn Jahre vor dem Herzog, bei einer Brauereibesichtigung mit den Möglichkeiten dieser neuen Technik konfrontiert wird, kann er sich vor Staunen kaum fassen: Nun denke man sich, daß die verschiedenen mechanischen Vorrichtungen, welche von der Dampfmaschine in Bewegung gesetzt werden, alle diese Verrichtungen zugleich und Tag und Nacht und ununterbrochen besorgen und fünf Menschen zu ihrer zweckmäßigen Leitung bei allen diesen verschiedenen Arbeiten hinreichend sind, so wird man sich eine immer nur schwache Vorstellung von dem imponirenden Eindruck machen können, welchen der Anblick einer solchen, von unsichtbaren Zauberhänden belebt scheinenden Anstalt hervorbringt.204

Die Faszination ist verständlich; tatsächlich fehlte dem deutschen Reisenden dieser Zeit aus dem heimatlichen Erfahrungsraum fast jede Kenntnis solcher Möglichkeiten des Maschinenwesens. Die entsprechende Entwicklung setzte in Deutschland erst in den dreißiger Jahren ein, erlebte dann allerdings einen - in den einzelnen Industriezweigen unterschiedlich starken - immensen Aufschwung,205 der zu einem grundlegenden Strukturwandel der Produktion und in 202 Yg] ebd., s . 192-202. Zur Tradition der Technikrezeption in Reiseberichten vgl. Klinckowstroem, Von alten Reisebeschreibungen, S. 154; Witthöft, Norddeutsche Reiseliteratur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, S. 215-217. 203

204

205

Vgl. Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach, Reise Sr. Hoheit des Herzogs Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach durch Nord-Amerika (1828) I, S. 216f.; S. 234-236; S. 284-286. Gall, Meine Auswanderung nach den Vereinigten=Staaten in Nordamerika (1822) II, S. 128. Vgl. die preußische Statistik dieser Entwicklung zwischen 1837 und 1852: Abraham, Strukturwandel des alten Handwerks, S. 99; zur allgemeinen Entwicklung und Nutzung der Dampfkraft in Preußen vgl. Preußen: Zur Sozialgeschichte eines Staates III, S. 229.

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eins damit zu einem ebenso grundlegenden Mentalitätswandel führte. 2 0 6 Diese Erfahrung konnte der Amerikareisende vorwegnehmen. Ihm wurde vor A u g e n geführt, wie sich in der A n w e n d u n g der technischen Errungenschaften eine bessere Zukunft der Menschheit abzeichnete. Entsprechend euphorisch werden sie gefeiert. Gall fügt der detaillierten Beschreibung eines D a m p f s c h i f f e s einen entsprechenden Passus an: das ist der Triumph des menschlichen Geistes; daß der Mensch, im Kampf mit den gewaltigsten Kräften der Natur, im stolzen Vertrauen auf sein Wissen, einem Maschinenspiel sein Leben anzuvertrauen wagt, das ist es, was mit staunender Bewunderung für den Menschen erfüllt - und so ist die Dampfmaschine das wichtigste Geschenk, das jemals die Künste von dem Verstände empfangen haben. 207 Selbst der ansonsten so spröde H e r z o g Bernhard legt nach einer D a m p f s c h i f f reise seine übliche Zurückhaltung im Kommentieren ab: »ein neuer Beweis für die grosse Wichtigkeit dieser schönen, dem menschlichen Geist so große Ehre machenden Erfindung«. 2 0 8 Allerdings war die Technik-Euphorie nicht stets so grenzenlos; gelegentlich treten die Bedenklichkeiten und Gefahren der Entwicklung in den Blick, die besonders in den oft beschriebenen Dampferunglücken sichtbar wurden. 2 0 9 Solche Einwände ändern j e d o c h nichts daran, d a ß die Technik überwiegend als Symbol des Fortschritts gefeiert wurde, zumal die Gefahren weniger auf die Technik selbst als auf den leichtfertigen Charakter der Amerikaner zurückgeführt wurden. 2 1 0 A m technischen Detail kann sich der Fortschrittoptimismus a m leichtesten entzünden: Es ist sinnlich wahrnehmbar, und die

206

Vgl. Abraham, Strukturwandel des alten Handwerks, S. 98 f.; Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 227-229; Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert III, S. 289-291; zu den Idiosynkrasien gegen das Maschinenwesen vgl. ebd., S. 431 bis 435. 207 Gall, Meine Auswanderung nach den Vereinigten=Staaten in Nord=Amerika (1822) I, S. 39. 208 Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach, Reise Sr. Hoheit des Herzogs Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach durch Nord-Amerika (1828) II, S. 121. 209 Fontane hat in seinem Gedicht »John Maynard« sich ein solches Unglück zum Gegenstand gemacht (vgl. Amerika im deutschen Gedicht, S. 64 f.). - Drastischer und sensationslüsterner wird das Motiv wohl in der populären Literatur abgehandelt. Der Titel eines um 1853 erschienenen Kolportageheftes deutet in diese Richtung: »Wahrhaftes und schreckliches Unglück von dem grossen amerikanischen Dampfschiff Amazone, welches am 5. Mai 1852 auf der See in Brand gerieth, und über 400 deutsche Auswanderer auf furchtbare Weise ihr Leben verloren haben«. Vgl. Schenda, Volk ohne Buch, S. 262. Zur skeptischen Einschätzung des Dampfschiffs bei Gerstäcker vgl. SchmidtDengler, Die Ehre des Dampfschiffs, S. 283-285. Zur ausführlichen Thematisierung von Unglücken aller Art in den Auswandererromanen vgl. Mikoletzky, Die deutsche Amerika-Auswanderung in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur, S. 179 und S. 224 f. Schließlich sind spektakuläre Unglücksfälle in den USA auch ein durchgehendes Thema der deutschen Presseberichterstattung; vgl. Thaller, Studien zum europäischen Amerikabild, S. 39; S. 89; S. 138 und S. 186. 210

Vgl. Gerstner, Berichte aus den Vereinigten Staaten von Nordamerica, über Eisenbahnen, Dampfschiffahrten, Banken und andere öffentliche Unternehmungen (1839), S. 45 f. 377

Diskrepanz zwischen der deutschen und der amerikanischen Entwicklung wird dadurch augenfällig. Wesentlich schwieriger ist es dagegen, den Gesamtkomplex der industriellen Entwicklung, von der der technische nur eine Facette ist, in den Blick zu bekommen und dabei auch die Kehrseite des Fortschritts wahrzunehmen. Den Reisenden im früheren 19. Jahrhundert stellt sich das Problem noch nicht so drängend. Da die Industrialisierung Amerikas in vielen, auch städtischen, Regionen noch kaum wahrnehmbar ist und sich auch überwiegend von ihrer zukunftsweisenden, nicht der zerstörerischen Seite zeigt, fallt die Einordnung in den provinziellen Erfahrungshorizont leicht. Die gewohnten deutschen Verhältnisse lassen sich - bei einer entsprechenden Richtung des Blicks ohne Schwierigkeiten auch in Amerika wiederfinden. Als Justus Erich Bollmann kurz vor der Wende zum 19. Jahrhundert über seine Erfahrungen aus Philadelphia berichtet, würdigt er die Stadt als aufstrebendes Geschäftszentrum, dessen Prosperität sich hier - wie überhaupt in den Vereinigten Staaten gerade im »außerordentlichen Wachstum der Bevölkerung«, aber eben auch des »Wohlstandes« manifestiert.211 Dieses rasante Wachstum der Stadt hat aber für ihn nichts Beunruhigendes, da es sich in geregelten Bahnen vollzieht und noch nicht jene Spuren des Ordnungsverfalls in die Physiognomie des städtischen Lebens gegraben hat, die einige Jahrzehnte später das Bild der europäischen und amerikanischen Groß- und Industriestädte prägen: Eine Stadt, wie Philadelphia, bewohnt von 60.000 Menschen, ohne irgend eine Spur von Sicherheitspolizei und dennoch ruhig bis zur Abwesenheit des Lärms der Trunkenheit und der Scheltworte, ist für jeden neuankommenden, denkenden Europäer ein auffallendes und anfänglich beinahe unbegreifliches Phänomen!212

Bollmann scheint bereits 1796 zu ahnen, in welche Richtung sich das innere Erscheinungsbild der Städte bei größerer Bevölkerungszunahme entwickeln wird. Gut zwanzig Jahre später haben sich diese Tendenzen verdichtet und sind deutlicher wahrnehmbar geworden; desto dankbarer vermerkt es Gall, daß wiederum Philadelphia hinter dieser allgemeinen Entwicklung zurückgeblieben ist. Hier wurde einiges getan, um die negativen Erscheinungen des Bevölkerungswachstums - den Gall allerdings nicht in seiner industriellen Gestalt wahrnahm, sondern aus malthusianischen Gründen perhorreszierte - aufzuhalten. Unerklärlich ist ihm nur das Fehlen der Gärten hinter den Häusern, die es zusätzlich ermöglicht hätten, »jene allzugroße Anhäufung von Menschen auf einem Punkte zu verhindern, welche London und Paris zu physischen und moralischen Pesthöhlen macht.«213 Das Philadelphia Bollmanns und Galls bietet das Bild einer traditionellen deutschen Kleinstadt, in der Ruhe und Ordnung unter der Bevölkerung herrschen. Auch wenn beide Autoren nicht verkennen, daß die Stadt über die gewohnten Dimensionen hinausgewachsen ist, besteht für sie keine 211 212 213

Vgl. Bollmann, Ein Lebensbild aus zwei Welttheilen (1880), S. 287. Ebd., S. 264. Gall, Meine Auswanderung nach den Vereinigtere Staaten in Nordamerika (1822) II, S. 96.

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Notwendigkeit, in der Wahrnehmung und Darstellung zu neuen Kategorien zu greifen, die über ihren bisherigen Erfahrungshorizont hinausgehen. Wiederum einige Jahrzehnte später ist es den Reisenden und Auswanderern nicht mehr möglich, so unbefangen an den neuen Erscheinungen der Industrialisierung vorbeizugehen, da inzwischen auch der aus Europa mitgebrachte Erfahrungshorizont von ihnen berührt wurde. Als Ostermayer 1848 nach Texas auswandert, gestaltet sich seine Reise geradezu als Flucht vor der beginnenden Industrialisierung. Texas zeichnet sich für Ostermayer dadurch aus, daß hier keine Spuren des Fabrikwesens zu finden sind, das seine soziale Existenz in Deutschland untergraben hat: Fabriken braucht's noch lange keine, die Hände haben bei der Landwirtschaft edlere Beschäftigung, für den unbemittelten Mann besseres Gedeihen, als bei der Beschäftigung in den Fabriken, welche kein Glück in ein Land bringen. Sie sind die Pflanzschulen dürftiger, unbemittelter, stets abhängiger Leute. Der Fabrikherr wird allein reich, und alle Arbeiter bleiben arme Teufel, die das ganze Jahr von der Hand in's Maul leben, ihr Lohn reicht kaum hin zur Ernährung ihrer Familien; da ist keine Rede von Erübrigen, und gibt's Stillstand in den Fabriken (ich spreche von größeren derartigen Anstalten), so bricht das Elend ein, wir haben's allenthalben seit etlichen Jahren mit angesehen.214

Das Sensorium für die historische Entwicklungstendenz der Industrialisierung mit ihren sozialen Begleiterscheinungen ist bei Ostermayer durch die eigene Erfahrung geschärft. In einer merkwürdigen Umkehrung des üblichen Erfahrungsmodus wird für ihn Deutschland zur Hochburg der Industrialisierung, während Amerika die vorindustrielle Zufluchtsstätte ist. Diese unbefangene Idyllisierung Amerikas ist ihm möglich, weil ihm die Erfahrung der amerikanischen Großstadt erspart blieb. Anders als die meisten anderen europäischen Auswanderer landet er nicht in einer der Hafenstädte des Ostens oder des Südens, sondern in Galveston, das zwar in seiner Anlage einige für den Europäer auffallige amerikanischen Eigenheiten aufweist, ansonsten aber sich in seinen Dimensionen von einer deutschen Provinzstadt nicht unterscheidet.215 Ostermayer nimmt das industrielle Amerika nicht zur Kenntnis; er kann deshalb problemlos ein Amerikabild zeichnen, das seinen von industriefeindlichen Idiosynkrasien geprägten Erwartungen entspricht.216 Das Verlangen, derartige Erwartungen erfüllt zu sehen, haben auch andere Auswanderer, deren reale Amerika-Erfahrungen jedoch mit ihren mentalen Bedürfnissen kollidieren. 1887 ist das amerikanische Stadt- und Landschaftsbild von der Industrialisierung verformt; der Wunsch nach idyllischen Verhältnissen läßt sich nur noch als Sehnsucht nach vorindustriellen Zuständen formulieren: Ein Rückblick läßt die Stadt nicht anders, denn als eine qualmende Esse erscheinen. Eine ungeheure Rauchwolke hüllt sie ein. Hundert und hundert Schlote werfen einen 214 215 216

Ostermayer, Tagebuch einer Reise nach Texas (1850), S. 173. Vgl. die Beschreibung der Stadt ebd., S. 5 4 - 57. Diese Erwartungen wurden durch den amerikanischen - noch von Turner propagierten - Mythos genährt, daß die Bestimmung der amerikanischen Nation in der agrarischen, nicht in einer industriellen Gesellschaft liege. Vgl. Smith, Virgin Land, S. 303. 379

erstickenden Kohlenqualm aus. [...] Ich liebe sie nicht, diese modernen Riesenstädte und möchte um Alles sie nicht beschreiben müssen. [...] Ich mag sie nicht mit all ihrem Lichtergefunkel und Waarenglanz.217

Die Reisenden aus dem kontinentalen Europa sind auf die Darstellung schon der optischen Erscheinungen des Industrialisierungsprozesses nicht vorbereitet. Die einschlägigen Phänomene sind in der heimatlichen Wirklichkeit nicht ausgeprägt und das Wahrnehmungsvermögen ist damit auch nicht geschult genug, um diesen Aspekt der amerikanischen Wirklichkeit mit adäquaten Formen und Kategorien erfassen zu können. Wenn in der deutschen Reiseliteratur der Jahrhundertmitte die ersten Anzeichen der Industrialisierung beschrieben werden, dann wird diese Beschreibung oft unversehens von einer Tendenz zur Verharmlosung überformt, die der Wirklichkeitserfahrung ihren Stachel nimmt. Ferdinand Freiligrath und Levin Schücking stellen im Rahmen des großen Sammelwerks »Das malerische und romantische Deutschland« das Ruhrgebiet dar. Dabei reduzieren sie die neue Erfahrung einer Industrielandschaft auf gängige Wahrnehmungsmuster. Sie anerkennen den industriellen Fortschritt - ganz in der Art Forsters in seinen »Ansichten vom Niederrhein« - als Ausdruck des »Gewerbefleisses« der Bewohner, ohne die neue Dimension zu erkennen, die dieser Gewerbefleiß in seiner industriellen Gestalt inzwischen angenommen hat; und wenn ihnen die Erfahrung dieser Tatsache bedrohlich naherückt, dann weichen sie auf eine mythisierende Darstellungsform aus, die die Wirklichkeit ins Reich der Literatur verweist: Aus »den Tiefen dröhnt das dumpfe Pochen der Hammerwerke, schwere Rauchsäulen rollen sich über die Felszacken auf oder zerstieben an den Baumwipfeln - Dante's glühende Felsen treten uns im Brandlichte der hohen Oefen entgegen.«218 Das Unbehagen gegenüber solchen Erscheinungsformen der neuen industriellen Wirklichkeit wird fast direkt ausgesprochen, und ihre Beschreibung als eine Verirrung empfunden: »Wir sind in doppelter Abirrung aus dem Gebiete der Romantik in das Reich der Industrie, von der rothen Erde in das grüne Hügelland von Berg gerathen; flüchten wir uns deshalb zurück, zunächst in das romantische tiefe Thal von Beyenburg«.219 Wenn so kritische und mit den aktuellen Zeitströmungen so vertraute Autoren wie Schücking und Freiligrath das historische Neue an der von ihnen beobachteten Wirklichkeit, zumal in der eigenen heimatlichen Umgebung, nicht erkennen können oder verdrängen wollen, dann kann es nicht überraschen, daß dieses Wahrnehmungsdefizit erst recht bei den Amerikareisenden festzustellen ist. Da sie sich einer Fülle neuer Erfahrungen ausgesetzt sehen, begeben sie sich zuerst auf eine Suche nach dem Vertrauten und Unproblematischen, das ihre optimistischen Amerika-Erwartungen bestätigt. Diese Tendenz zur Verharmlosung überträgt sich auf die sozialen Probleme, die der Industrialisierungsprozeß mit sich brachte. Selbst die amerikakritischen 217 218 219

Alles ist ganz anders hier, S. 412. Freiligrath/Schücking, Das malerische und romantische Westphalen (1841), S. 190. Ebd., S. 232; vgl. dazu auch Sengle, Biedermeierzeit II, S. 254.

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Autoren haben sich lange Zeit die Gelegenheit entgehen lassen, diesen Aspekt der Wirklichkeit anzuprangern. Weder Gall noch Solger noch Baudissin noch Kürnberger noch irgendein anderer der deutschen Amerikakritiker geht vor dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ausführlicher auf dieses Phänomen ein; und selbst wenn Griesinger über die Leute in New York spricht, »die so schrecklich herabgekommen sind«, dann richtet sich seine kritische Wahrnehmung nicht auf das städtische Proletariat, sondern beschränkt sich auf die vergleichsweise periphere Erscheinung der arbeitslosen deutschen Emigranten.220 Struve, der seine ganze Hoffnung bei der Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände in Amerika auf die Arbeiterschaft richtet, beschäftigt sich nicht mit deren sozialem, sondern mit ihrem geistigen Zustand - nur nebenbei und in einem Satz geht er auf die Armut und das »Armenwesen« ein, das ein »verletzendes Gegenstück« bildet zu dem »Luxus, in dem sich die Nabobs Amerika's wälzen«.221 Auch hier werden die Möglichkeiten zur sozialkritischen Beleuchtung amerikanischer Verhältnisse nicht genutzt - die Amerikakritiker sind eher auf die politischen, moralischen und charakterlichen Defekte des amerikanischen Lebens fixiert als auf die sozialen. Für die Ignoranz gegenüber diesem Problem ist zunächst das Fehlen entsprechender Erfahrungen aus Deutschland verantwortlich. Bis über die Jahrhundertmitte hinaus lassen sich die sozialen Folgeerscheinungen des industriellen Fortschritts kaum beobachten. Gewiß finden sich erste Anzeichen für die Entstehung einer breiten und qualitativ neuen sozialen Unterschicht bereits seit dem Beginn des Jahrhunderts, aber die erste Verarmungswelle im 19. Jahrhundert ist keine Folge der Industrialisierung - von der zu dieser Zeit noch keine Rede sein kann sondern sie ist zurückzuführen auf ein Bündel von Faktoren, die ihren Ursprung hatten im Übergang von einer ständisch organisierten gesellschaftlichen und sozialen Ordnung zu einer neuen, die sich an Prinzipien des Kapitalismus orientierte und die alten gesellschaftlichen Strukturen zersetzte.222 Dann wirkte die Industrialisierung auf den Prozeß der Verarmung zunächst verschärfend, später aber auch wieder mildernd ein. Zu den alten »Pauper« gesellten sich die in der Industrie beschäftigten »Proletarier«, die quantitativ zwar nur einen geringen Anteil der Bevölkerung ausmachten,223 aber eine neue historische Qualität des Problems mit sich brachten, welche sich bald auch in der Diskussion darüber manifestierte. 220

221

222

223

Griesinger, Freiheit und Sclaverei unter dem Sternenbanner (1862) I, S. 449; vgl. auch den Kontext S. 437-461. Vgl. Struve, Die Union vor dem Richterstuhle des gesunden Menschenverstandes (1855), S. 90. Vgl. Rürup, Deutschland im 19. Jahrhundert, S. 172; Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 220 f. Zu den verschiedenen Faktoren, die diese »Vorbereitungsphase« der Industrialisierung begleitet haben, vgl. auch Borchardt, Die Industrielle Revolution in Deutschl a n d ^ . 146-156. Vgl. Borchardt, Die Industrielle Revolution in Deutschland, S. 160. Borchardt gibt hier für 1849 5,44% der männlichen Bevölkerung über 14 Jahren in Preußen als »Fabrikarbeiter« an. 381

Der Erörterung der Ursachen der Armut in Deutschland gelingt es fast bis zur Jahrhundertmitte nicht, ein differenziertes Wahrnehmungs- und Begriffsinstrumentarium zu entwickeln, in dem die alten Formen der Armut und die neuen Erscheinungen der »Proletarisierung« voneinander getrennt worden wären; alle diese sozialen Phänomene wurden unter die eine Kategorie des »Pauperismus« subsumiert.224 Erst in den theoretischen Diskussionen um die Jahrhundertmitte werden die sozialen Erscheinungen und die ihnen zugeordneten Begriffe schärfer konturiert; jetzt wird es möglich, die »alte« Armut und die neue, durch die Industrialisierung hervorgerufene »Proletarisierung« kategorial zu differenzieren und verschiedene Ursachen für das vermeintliche gleiche Phänomen herauszuarbeiten. 225 Die Erkenntnis der »Neuartigkeit des großen Sozialvorgangs«, der sich im Übergang vom »Pöbel und Proletariat« manifestierte, setzte sich sowohl in der theoretischen Diskussion wie auch im Bewußtsein der Betroffenen durch; 226 es wurden differenziertere Erklärungsmodelle entwickelt, die die Ursachen für diesen Vorgang und die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten als die sichtbarste seiner Auswirkungen herauszuarbeiten begannen. Bevor die sozialgeschichtliche Entwicklung jedoch so weit fortgeschritten war, daß ihre Gründe und Folgen einigermaßen sichtbar vor Augen lagen, stehen die zeitgenössischen Erklärungsansätze ebenso wie die Vorschläge zur Lösung der Probleme den neuen Phänomenen hilflos gegenüber. Symptomatisch ist der Versuch, aus der Vielfalt der Erscheinungen und ihrer möglichen Ursachen einzelne Faktoren herauszupräparieren und zu verabsolutieren, um daraus ebenso isolierte wie verabsolutierte Heilmittel abzuleiten.227 Die sozialen Folgen dieser Entwicklungen, die sich am klarsten in einem Wandel der Beschäftigungsstruktur abzeichnen,228 treten immer deutlicher zutage; und sowohl die belletristische wie die wissenschaftliche Literatur nimmt seit der Jahrhundertmitte zusehends stärker Notiz davon. Die deutlichsten Anzeichen für diese sozialen Entwicklungen zeigten sich in den neuen rheinischen Industriezentren, wo sich allmählich Industriestädte mit hohem Arbeiteranteil herausbildeten, während in Berlin - im Gefolge der Bauernbefreiung - schon zu Beginn des Jahrhunderts erste Anzeichen einer Änderung der städtischen Bevölkerungsstruktur sich abzeichneten.229 Als Historiographen dieser Entwicklung sind für Berlin im gleichen Jahr, 1846, Friedrich Sass und Ernst Dronke hervorgetreten. Sie beschreiben die Ar224 225 226 227

228 229

Vgl. Dilcher, Der deutsche Pauperismus und seine Literatur, S. 47. Vgl. ebd., S. 39-46; Carl Jantke, Zur Deutung des Pauperismus, S. 25. Conze, Vom »Pöbel« zum »Proletariat«, S. 124. Zu den Schwierigkeiten der zeitgenössischen Theoretiker, die Verarmungserscheinungen wahrzunehmen, vgl. Dilcher, Der deutsche Pauperismus und seine Literatur, S. 49 f. Zur Ablösung der alten durch neue Solidarverbände als Lösungsversuchen vgl. Borchardt, Die Industrielle Revolution in Deutschland, S. 190. Vgl. Rürup, Deutschland im 19. Jahrhundert, S. 70-72. Vgl. Croon, Zur Entwicklung der Städte im 19. und 20. Jahrhundert, S. 568 f.; Hartog, Stadterweiterungen im 19. Jahrhundert, S. 16.

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beits- und vor allem die Lebensbedingungen des »Proletariats« um die Jahrhundertmitte. Beide beobachten die Proletarisierungstendenzen sowohl in den einzelnen Gewerben wie auch bei den Fabrikarbeitern, sie machen die Industrialisierung dafür direkt verantwortlich. Sass kommt zu dem Schluß, daß die Proletarisierung die soziale Physiognomie der Stadt mit verheerenden Folgen zusehends prägt.230 Solche Beobachtungen sind aber selbst im Deutschland der Jahrhundertmitte noch untypisch; die Beschreibung der neuen Phänomene orientiert sich weniger an diesen selbst als vielmehr an tradierten Wahrnehmungsmustern und Erklärungsmodellen.

5. Die Kehrseite des Fortschritts: Das andere Amerika Der deutsche Entwicklungsstand der Industrialisierung und der Standard der theoretischen Diskussionen über ihre Probleme bilden den Wahrnehmungshintergrund der Reisenden für die entsprechenden Phänomene in Amerika. Im gleichen Maße ist aber bei ihren Beobachtungen und Kommentaren das amerikanische Selbstverständnis wirksam geworden. Er artikulierte sich in einem Fortschrittsoptimismus, welcher die ernsthafte Thematisierung sozialer Probleme kaum zuließ. Viele deutsche Reisende haben sich vom Glanz dieser Selbstbespiegelung blenden lassen, der sie - sei es aus apologetischer Absicht oder aus Naivität - blindlings vertrauten. Als Carl Schurz in Amerika ankommt, wird er mit der amerikanischen Auffassung von sozialen Problemen konfrontiert. Auf seine Frage, ob es viele »arme Leute« in New York gebe, antwortet ein Mitreisender: »Ja, einige, meistens neue Ankömmlinge, glaube ich. Aber in vielen Fällen würde, was man hier als Armut ansieht, in London oder Paris kaum so genannt werden. Es gibt fast keine hoffnungslos Armen hier. Es wird gewöhnlich angenommen, daß niemand arm zu sein braucht.«231 Aus Schurz' etwas enigmatischem Kommentar - in »dem wechselnden Lauf der Zeiten habe ich mich oft dieses Gespräches erinnert«232 - geht nicht hervor, ob er diese Ansicht bestätigt gefunden hat oder sie selbst teilt. Jedenfalls drückt sich in ihr in nuce die amerikanische Auffassung sozialer Probleme aus, der sich auch viele der deutschen Reiseberichte anschließen. Für den deutschen Betrachter läßt sich die amerikanische Mentalität in zwei Grundsätze zusammenfassen: »help yourself«; und: »wer nur arbeiten will, findet in Amerika sein Fortkommen«.233 Es ist den Reisenden schwer gefallen, vor diesem Sozialoptimismus nicht zu kapitulieren und sich den kritischen Blick für die realen Verhältnisse zu bewahren.

230

231 232 233

Vgl. Sass, Berlin in seiner neuesten Zeit und Entwicklung, S. 284 f.; vgl. auch Drenke, Berlin, S. 223-245. Schurz, Lebenserinnerungen II (1907), S. 2f. Ebd., S. 3. Wagner, Ein Achtundvierziger (1882), S. 220 f. 383

Dabei bot die amerikanische Wirklichkeit genügend Anhaltspunkte für sozialkritische Erörterungen. Der Mythos von Amerika als dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten auch für die Unterschichten des 19. Jahrhunderts nämlich hält einer Prüfung nicht stand. Bei der Industrialisierung und Urbanisierung des Landes stellten sich prinzipiell die gleichen Probleme wie etwa zur gleichen Zeit in England und ein halbes Jahrhundert später in Deutschland; allerdings haben die besondere, vor allem geographische Situation und die Immigration dazu geführt, daß viele soziale Folgeerscheinungen der Industrialisierung andere Erscheinungsformen annahmen als in Europa und sie deshalb für den Europäer schwerer wahrzunehmen gewesen sind. Entschärfend hat zweifellos die Möglichkeit zur Abwanderung in den Westen gewirkt; Turners These von der frontier als einem »sozialen Sicherheitsventil« hat, bei allen neueren Einwänden, gewiß einige Berechtigung.234 Allerdings führte die Einwanderung aus Europa ebenso wie der Zuzug von ländlichen Arbeitskräften in die Städte zu zusätzlichen, spezifisch amerikanischen Problemen, die die soziale Physiognomie der Städte prägten. Auch wenn die europäischen Einwanderer, besonders die deutschen, sich vor 1860 überwiegend in die landwirtschaftlichen Gebiete des Westens orientierten, wurde ein Teil von den Hafenstädten aufgesogen, die damit ihren Bedarf an ungelernten Arbeitskräften deckten.235 So bildete sich in den Städten neben dem amerikanischen ein europäisches, namentlich irisches Proletariat heraus, das aufgrund seiner Herkunft aus anderen kulturellen Verhältnissen und seiner oft mangelnden Assimilationsfähigkeit oder -bereitschaft ein zusätzliches Konfliktpotential hervorrief. Die Städte vermochten diese Menschenmassen unterschiedlicher Herkunft nicht vollständig zu integrieren; insofern ist die These vom »melting pot« eine Legende - die Entstehung des amerikanischen »Know-Nothing«-Tums ebenso wie die von deutschen Autoren oft beschriebenen kulturellen Separationsbestrebungen der deutschen Einwanderer in den Städten sprechen eine andere Sprache.236 Der größte Teil der New Yorker Deutschen gehörte dem ökonomischen Mittelstand der »Kleinhändler, Handwerker und fest eingestellten Arbeiter« an;237 es existierte jedoch eine - im nachhinein quantitativ schwer zu bestimmende - soziale Unterschicht ohne jede Aufstiegschancen, die nur noch ums Überleben kämpfen mußte.238 234

Zur Entstehung und Herrschaft dieser Theorie im amerikanischen Selbstverständnis des 19. Jahrhunderts vgl. Smith, Virgin Land, S. 234-245. 235 Vgl. Maclaughlin Green, The Rise of Urban America, S. 73; Silberschmidt, Amerikas industrielle Entwicklung, S. 113; Warner, The Urban Wilderness, S. 76. 236 Ygi e t W a Griesingers Essay »Klein Deutschland in New York«; Griesinger, Freiheit und Sclaverei unter dem Sternenbanner (1862) II, S. 547-574. - Vgl. auch Ernst, Immigrant Life in New York City, S. 41 f.; zur Situation der Deutschen in New York ihre Zahl betrug um 1860 rund 118.000 - vgl. Bretting, Soziale Probleme deutscher Einwanderer in New York City, S. 80-88. 237 Bretting, Soziale Probleme deutscher Einwanderer in New York City, S. 93. 238 Ebd., S. 98-101. Zu den gesetzgeberischen Reaktionen und Fürsorgemaßnahmen öffentlicher wie privater Institutionen angesichts dieser Situation der Einwanderer vgl. auch Bretting, Der Staat und die deutsche Massenauswanderung, S. 57-61. 384

Aber selbst abgesehen von der prekären sozialen Lage der Einwanderer in den amerikanischen Hafenstädten, waren die Folgeerscheinungen des Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesses in den Vereinigten Staaten bereits während der ersten Jahrhunderthälfte nicht zu übersehen. So hatte New York seit dem Beginn des Jahrhunderts mit all jenen Problemen zu kämpfen, die später das soziale Erscheinungsbild der deutschen Großstädte kennzeichneten. Die Stadt war dem Zustrom ausländischer wie inländischer neuer Einwohner nicht gewachsen; sie konnte ihnen weder im angemessenen Umfang Beschäftigung noch Wohnung geben. Die Änderung der Beschäftigungsstrukturen, die sich vom Handwerk weg zur industriellen Fertigung bewegten, führten zu einer Verarmung des Mittelstandes;239 zyklisch auftretende konjunkturelle Depressionsphasen hatten schon früh - seit 1819 - zu größerer Arbeitslosigkeit und Verarmung geführt; ebenso wie die saisonbedingte Winterarbeitslosigkeit in vielen Berufen ein ständiges Problem schuf.240 Diese Erscheinungen begleiten die industrielle Entwicklung Amerikas seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts; und sie führen gelegentlich zu Gegenreaktionen in der Form von Arbeitskämpfen, aber auch in politisch unspezifischen Gruppenaufständen, die sich besonders gegen Minderheiten richteten.241 Den schlechten Arbeitsbedingungen einer sozialen Unterschicht in den Großstädten entsprachen die Wohnbedingungen. Seit 1830 etwa bildeten sich eigene Slumviertel heraus, die überwiegend von Einwanderern, ungelernten einheimischen Arbeitern und freigelassenen Schwarzen bewohnt wurden. Die Lebensbedingungen in diesen Vierteln sind gekennzeichnet durch eine sehr hohe Bevölkerungsdichte, einen großen Anteil an billigen Kellerwohnungen, katastrophale hygienische Versorgung, eine entsprechende Krankheits- und Seuchenanfalligkeit und schließlich durch eine hohe Kriminalitätsrate.242 Diese Erscheinungsformen wären geeignet gewesen, die Legende von Amerika als dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten sowohl bei den Amerikanern wie bei den europäischen Beobachtern in Frage zu stellen. Es war nicht zu übersehen, daß die industrielle und Urbane Entwicklung Amerikas von Armut und sozialer Abhängigkeit breiterer Schichten begleitet wurde.243 Diesen realhistorischen Entwicklungen zum Trotz setzte die Entdeckung der Armut im Bewußtsein der amerikanischen Öffentlichkeit erst später ein. Sie 239

Vgl. Bretting, Soziale Probleme deutscher Einwanderer in New York City, S. 6 f. Vgl. Bremner, From the Depths, S. 13 f.; Mohl, Poverty in New York, S. 29. - Die Konjunkturzyklen und ihre sozialen Folgen werden knapp dargestellt bei Killick, Die industrielle Revolution in den Vereinigten Staaten, S.166-170. 241 Bretting, Soziale Probleme deutscher Einwanderer in New York City, S. 7 f.; Bremner, From the Depths, S. 11 f.; zur »group violence« vgl. Miller, The Urbanization of Modern America, S. 47-51. 242 Mohl, Poverty in New York, 20f.; eine ausführlichere Beschreibung gibt Ernst, Immigrant Life in New York City, S. 48-60. 243 Vgl. Mohl, Poverty in New York, S. 121; eine gute Zusammenfassung der Lebensbedingungen der unteren Schichten in New York gibt Bretting, Soziale Probleme deutscher Einwanderer in New York City, S. 5-16. 240

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wurde bis zur Jahrhundertmitte verhindert durch mentale und theoretische Abwehrmechanismen, die die sozialen Folgen des Industrialisierungsprozesses als Epiphänomene betrachtete und verdrängte. Zu diesen Mechanismen gehörte nicht nur, daß Pauperismus und Kriminalität, Krankheiten und Seuchen, Arbeitslosigkeit und niedriges Lohnniveau den Einwanderern zur Last gelegt wurden;244 viel wesentlicher war die amerikanische »help-yourself«-Mentalität, die Armut nur als selbstverschuldete und damit als individuelles Problem begreifen konnte.245 Unter dieser Perspektive mußten staatliche und private Fürsorgemaßnahmen als Fremdkörper im sozialen Leben erscheinen. Entsprechend kontrovers verliefen auch die Diskussionen darüber. Im ersten Jahrhundertviertel wurde, unter dem Einfluß der klassischen englischen Nationalökonomie und der protestantischen Ethik, die Einrichtung eines Fürsorgesystems geradezu als ein Mittel zur Beförderung der Armut betrachtet.246 Dennoch führten seit 1824 die Bemühungen der Sozialreformer dazu, daß die Errichtung eines Fürsorgewesens in einzelnen Staaten auf eine gesetzliche Grundlage gestellt und der Ausbau eines Systems von entsprechenden Institutionen begonnen wurde. Das Augenmerk der Reformer richtete sich nicht nur auf die Armen im engeren Sinne, sondern auch auf die Kinderwohlfahrt, auf Gefangnisse und Besserungshäuser, Hospitäler und Anstalten für Geisteskranke.247 Weder diese staatlichen Bemühungen noch auch das ähnlich ausgedehnte Engagement privater Initiativen verleugneten in ihren Zielsetzungen den Einfluß der »help-yourself«-Mentalität der amerikanischen Mittelklassebürger, von denen sie unterstützt wurden: Die liberalistischen Ideen der klassischen Nationalökonomen wurden durch die Fürsorgemaßnahmen nicht konterkariert, sondern nur flankiert. Armenhäuser und ähnliche Institutionen verstanden sich weniger als Einrichtungen der Wohlfahrtspflege, denn vielmehr als Kontrollinstrumente zur Aufrechterhaltung der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung durch die Ausschließung und möglichst der charakterliche Besserung der gesellschaftlichen Außenseiter.248 Unter dieser Perspektive ließ sich das öffentliche und private Fürsorgewesen in das amerikanische Selbstverständnis integrieren. Die sozialen Erscheinungen, auf die es reagierte, mußten nicht als Folgekosten des industriellen Fortschritts interpretiert, sondern konnten als ephemere Randphänomene isoliert werden. In den Reisebeschreibungen verschmilzt diese amerikanische Betrachtungsweise der Dinge mit dem spezifisch deutschen Wahrnehmungs- und Theoriehintergrund. Es entsteht ein Beobachtungs- und Gedankenkonglomerat, in dem die sozialen Probleme nicht nur nicht als Störfaktor für die Amerika-Euphorie auftreten können, sondern sie schließlich sogar noch zu deren Bestätigung dienen: Sie werden mit amerikanischen Augen gesehen, wenn sie als Folge individueller 244

245 246 247 248

Vgl. Bremner, From the Depths, S. 8 - 1 0 ; Ernst, Immigrant Life in New York City, S. 101-104. Mohl, Poverty in New York, S. 22f.; Bremner, From the Depths, S. 17f. Trattner, From Poor Law to Welfare State, S. 50 f. Vgl. ebd., S. 55-57. Vgl. ebd., S. 62-65.

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Fehler oder marginaler - und deshalb korrigierbarer - gesellschaftlicher Fehlentwicklungen begriffen werden; sie werden dagegen mit deutschen Augen gesehen, wenn die Fürsorgemaßnahmen zu ihrer Bewältigung nicht als notwendiges Übel, sondern als Signum des sozialen Fortschritts in den Blick treten. Symptomatisch für diese doppelte Blickrichtung ist die Darstellung Brommes aus dem Jahr 1834: Doch, wo ist eine große Stadt, die nicht Armuth und Laster in sich birgt! Aeußerste Armut findet man hier nur bei unglücklichen Alten, hülflosen Weibern, arbeitsscheuen Faulen oder Trunkenbolden, und diese versorgt die Stadt. - Hier sieht man nicht zerlumpte Bettler, mit ihren wahren oder erlogenen Unglücksgeschichten, elende Krüppel, oder mit ekelhaften Krankheiten und Wunden Beladene ihren Jammer zur Schau tragen, das Mitleid der Vorübergehenden zu bewegen. Für Alle diese sind Versorgungsanstalten in Menge hier.245

Friedrich von Raumer, der die amerikanischen Verhältnisse unter theoretischsystematischen Gesichtspunkten betrachtet, fügt in seine Darstellung ebenfalls einen knappen Abriß über die Armut in den amerikanischen Städten ein, der das Phänomen zugleich im Zusammenhang mit dem notwendigen Panazee benennt: Der sehr kurze Abschnitt trägt die Überschrift »Arme und Armenwesen«. Generell stellt Raumer fest, daß die Armut - »ein Hauptübel und Leiden der europäischen Völker« - in den Vereinigten Staaten »noch nicht mit all ihren drückenden und schrecklichen Folgen überhand genommen hat«. Wo sie dennoch auftritt, ist dies entweder auf »Faulheit, Müßiggang, Trunkenheit« als den »Hauptquellen der Armuth« zurückzuführen, oder auf noch unzureichende staatliche Maßnahmen. 250 Prinzipiell bescheinigt Raumer aber den Vereinigten Staaten, daß sie mit ihrer Annengesetzgebung und dem Armenwesen der einzelnen Städte auf dem besten Wege sind, diesem Übel so weit irgend möglich zu steuern, wobei er einräumt, daß auch die »vollkommensten bürgerlichen Einsichten nicht Jeden wider unverschuldetes Elend und Mangel schützen« können.251 Wie Bromme, so sieht auch Raumer den Komplex ausschließlich unter etatistischer Perspektive; als ein Problem, das teilweise auf individuelle, teilweise auf unbekannte Gründe zurückzuführen ist und dessen Erledigung durch staatliche wie städtische Fürsorgemaßnahmen mehr oder weniger leicht fallen muß. Aus dieser Betrachtungsweise erklärt sich die zunächst überraschende Tatsache, daß ausgerechnet dezidiert amerikafreundliche Autoren das Phänomen der Armut in den amerikanischen Städten überhaupt wahrnehmen und darüber reflektieren, während es den Amerikakritikern so auffällig entgangen war. Solche theoretische Erörterungen setzen sich in ein Erfahrungsprogramm um. Das Bedürfnis nach Versinnlichung des abstrakten Problems führt dazu, daß seit dem Beginn des Jahrhunderts die Besichtigung von Wohlfahrtsinstitutionen zu den bevorzugten Reisezielen gehört. Als Folien 1825 in Amerika angekommen ist, berichtet er in einer seiner ersten Mitteilungen nach Deutschland, 249 250 251

Bromme, Reisen durch die Vereinigten Staaten und Ober=Canada (1834 f.) I, S. 131. Vgl. Raumer, Die Vereinigten Staaten von Nordamerika (1846), S. 102. Ebd., S. 103. 387

daß »Armenhäuser und Strafhäuser [...] hier vollkommener, als irgendwo« sind;252 Löwig hebt an Philadelphia rühmend hervor, daß es mit »Hospitälern, Armen=, Versorgungs= und Unterstützungsanstalten, so wie auch Irrenanstalten, Taubstummeninstitut, Waisenhaus und Entbindungsanstalten [...] gut versehen« ist;253 und für Ziegler ist der »Besuch des Irrenhauses, des Armenhauses, der Blindenanstalt, der Gaswerke, des Athenäums und des amerikanischen Museums« von gleichem Interesse.254 Die ausführlichsten Beschreibungen solcher Institutionen finden sich im Reisebericht des Herzogs zu Sachsen-Weimer-Eisenach, der sich keine Gelegenheit entgegen läßt, Armen-, Waisen- und Besserungshäuser, Irrenanstalten, Gefangnisse und ähnliche Einrichtungen zu besichtigen und sie detailliert, mit umfangreichen Zahlenangaben, zu beschreiben.255 Auf eigene Kommentare verzichtet er meistens; nur aus gelegentlichen Bemerkungen wird ersichtlich, daß die innere Organisation dieser Institutionen auch für ihn einen Gradmesser des sozialen Fortschritts und der Humanität bedeutet. Seine Darstellungen der einzelnen Institutionen sind überwiegend positiv. Er lobt - mit Ausnahmen - die Ordnung und die Reinlichkeit; und er sieht in ihnen ein wirksames Mittel sowohl zur Besserung der einzelnen wie in eins damit auch zur Beförderung des gesellschaftlichen Nutzens.256 Das in der Tat wohl vorbildliche amerikanische Sozialfürsorgesystem dieser Zeit kann als Signum des Fortschritts begriffen werden, weil die Ursachen, die ein solches System überhaupt notwendig machen, von den Reisenden nicht reflektiert werden. In der Existenz eines gut ausgebauten Armen- und Fürsorgesystems und an seiner inneren Organisation den Grad des sozialen Fortschritts ablesen wollen, entspricht indes kaum dem Selbstverständnis der amerikanischen Öffentlichkeit dieser Zeit; es entspricht aber dem deutschen Diskussionsstand in bezug auf das Pauperismusproblem. Während in den Vereinigten Staaten das Fürsorgesystem eher als notwendiges Übel begriffen wurde, war die deutsche Diskussion geprägt von sozialen Denkmodellen, die zum guten Teil aus dem 252 253 254 255

256

Folien, Folien*Briefe, S. 24. Löwig, Die Frei=Staaten von Nord=America (1833), S. 76. Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika und Westindien (1848) I, S. 69. Daß Gefangnisse gelegentlich, wenn auch seltener, zu den besuchten Einrichtungen der Sozialfürsorge gehören, kann nicht überraschen. Das erklärt sich aus einem traditionellen deutschen Diskussionszusammenhang, in dem Gefangnisse als Erziehungsanstalten und damit als soziale Einrichtungen begriffen wurden; vg. Dreßen, Die pädagogische Maschine, 274 f. Daß gerade in dieser Hinsicht »Amerikas Besserungs-System« in Deutschland als vorbildlich begriffen wurde, zeigt Dreßen ebd., S. 300-302. Auch das ganz ausgeprägte Interesse der Reisenden für die »Irrenanstalten« verdankt sich einem älteren und gerade zu Beginn des 19. Jahrhunderts wieder aktuell gewordenen sozialpolitischen Diskussionszusammenhang: Im Zuge der preußischen Reformen wurde auch eine »Irrenreform« intensiv erörtert und in einigen Musteranstalten realisiert; vgl. Dörner, Bürger und Irre, S. 229-236. Vgl. Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach, Reise Sr. Hoheit des Herzogs Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach durch Nord-America (1828) I, S. 86f.; S. 225-227; II, S. 258 f. Bei dieser letzten Belegstelle beklagt er sich allerdings ausnahmsweise einmal über mangelnde Reinlichkeit und üblen Geruch.

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aufgeklärt-absolutistischen 18. Jahrhundert übernommen wurden. Die vorgeschlagenen Maßnahmen gegen die Armut konzentrieren sich auf das staatliche, kirchlich-caritative, genossenschaftliche und private Armenwesen, das gegen Ende des 18. Jahrhunderts ausgebaut wurde und das sich in der großen Hungerkrise 1816/1817 auch einigermaßen bewährte.257 Zu dieser Form des Armenwesens gehörten die Armenpolizei, welche das Bettler- und Vagabundenwesen ebenso wie die staatlichen Ehebeschränkungen zu kontrollieren hatte; die Einrichtung von Arbeitshäusern und die entsprechende Organisation der Gefangnisse zur Gewöhnung an die Arbeit; die Jugenderziehung; die Vereinigungen gegen den Pauperismus; und administrative Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung, zu denen in einem gewissen Umfang auch die Förderung der Auswanderung zählte.258 Die Vorschläge bewegen sich im Rahmen eines traditionellen Denkens, das dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandel mit überholten etatistischen und genossenschaftlichen Mitteln seine Bedrohlichkeit nehmen wollte. Selbst die liberalen Ökonomen im Deutschland der ersten Jahrhunderthälfte nehmen, auf der Grundlage einer langen obrigkeitsstaatlichen und ordnungspolitischen Tradition, den Verwaltungsstaat in die Pflicht bei der Bekämpfung der Folgeerscheinungen des industriellen Fortschritts. Er erhält die Aufgabe zugeschrieben, mit geeigneten Mitteln - »vom zweckentsprechenden Ausbau öffentlicher Erziehungs- und Bildungseinrichtungen im Interesse der sozial Schwachen und Benachteiligten bis zu regelrechten staatssozialistischen Entwürfen«259 - die sozialen Auswirkungen des Fortschritts aufzufangen. Das erklärt das besondere Interesse der deutschen Reisenden an den entsprechenden Institutionen in den Vereinigten Staaten. Für sie bemißt sich, anders als für die Amerikaner selbst, der Standard des sozialen Fortschritts zuerst daran, wie sehr es einem Staat gelingt, des virulenten Armenproblems und seiner Begleiterscheinungen Herr zu werden. Wenn sie solche Institutionen aufsuchen, dann folgen sie nicht einer einfachen touristischen Neugierde, sondern für sie dokumentiert sich hier der innere soziale Zustand eines Landes: Der Besuch Wahnsinniger, Blinder, Taubstummer, Kranker u.s.w. in dem lebensfrischen, freien Amerika ist, so sonderbar dieß Manchem auch erscheinen mag, doch für den Reisenden durchaus nothwendig, wenn er sich vor einem einseitigen Urtheile über das amerikanische Volk bewahren will. Die Vergleichung der Contraste schärft unser Urtheil, und der Blick wird vor Einseitigkeit der Auflassung geschützt, wenn er, von 257

Vgl. Endres, Das Armenproblem im Zeitalter des Absolutismus, S. 227; Abel, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa, S. 337- 342. 258 Eine ausführlichere Darstellung dieser verschiedenen Vorschläge gibt Dilcher, Der deutsche Pauperismus und seine Literatur, S. 123-153. Bei der auf sozialfürsorgerische staatliche Maßnahmen fixierten deutschen Diskussion wirken wohl auch noch deutlich romantische Sozialkonzepte nach. Dabei sind merkwürdige Überschneidungen mit genuin »modernen« Instrumentarien feststellbar, wie etwa Adam Müllers Vorschlag zur Einrichtung von Sparbanken zur Beseitigung sozialer Not zeigt; vgl. Dreßen, Die pädagogische Maschine, S. 269. 259 Jantke, Zur Deutung des Paperismus, S. 23. 389

äußerem Glänze nicht bethört, auch den inneren Einrichtungen eines Volkes seine Aufmerksamkeit schenkt. 260

Zieglers Urteil über die sozialen Verhältnisse der Vereinigten Staaten fallt positiv aus. Allerdings hat er seinen Anspruch, sich vom »äußeren Glanz« nicht betören zu lassen, nicht ganz eingelöst. Wenn er, seinem aus Deutschland übernommenen etatistischen Verständnis sozialer Probleme folgend, die Auswirkungen dieser Probleme dort besichtigt, wo schon an ihrer Beseitigung gearbeitet wird, kann er sie kaum in ihrer ursprünglichen Gestalt erblicken. Seine auf Institutionen fixierte Wahrnehmungstechnik versucht er selbst dort anzuwenden, wo er das Herzstück der Industrialisierung und des Kapitalismus besichtigt: die Fabrik. Er befriedigt aber sein Informationsbedürfnis nicht durch den Besuch einer beliebigen Fabrik, der ihm über die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Fabrikarbeiter Aufschluß gegeben hätte; sondern er sucht gezielt eine Institution auf, die gerade nicht repräsentativ ist für die amerikanische Normalität: Die Fabrikstadt Lowell bei Boston, die nach den sozialreformerischen Ideen Robert Owens angelegt wurde. So ist es keine Überraschung, daß er hier alles zum Besten eingerichtet findet: Die Fabrikarbeiterinnen (young ladies), die wir beim Durchwandern der Arbeitsäle sahen, waren reinlich und geschmackvoll gekleidet, hatten meistens ein gesundes, frisches Ansehen und schienen sich in ihrer Beschäftigung und in ihrer Lebensweise zu gefallen. Die Einrichtungen des Fabrikwesens in Lowell sind so eigenthümlicher Art, daß sie mit den unsrigen gar nicht verglichen werden können. Viele der fluchwürdigen Schattenseiten desselben fallen in Lowell weg, wo Fleiß, Tugend und Sittlichkeit bei den Arbeitern Hand in Hand zu gehen und von den Fabrikherren selbst begünstigt zu werden scheinen. 261

Diese Form eines Besichtigungstourismus, der sich von vornherein die vorbildlichen Institutionen als Gegenstand der Wahrnehmung aussucht, ist kaum geeignet, vor der »Einseitigkeit der Auffassung« zu schützen. Solange Ziegler sich nicht klar macht, daß er es mit einer seligierten Wirklichkeit zu tun hat, die über die realen Verhältnisse in Amerika nichts aussagt und die deshalb auch nicht mit den normalen deutschen Verhältnissen verglichen werden kann, muß er ein verzerrtes Bild der Realität gewinnen.262 260 261 262

Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika und Westindien (1848) I, S. 125. Ebd., S. 135. Bei seinem Besuch Lowells folgt Ziegler möglicherweise dem Vorbild Dickens', der in seinen »American Notes« diese Fabrikstadt mit ähnlichen Worten beschrieben hatte. Anders als Ziegler aber hatte Dickens die Besonderheit dieser Einrichtung erkannt und die Unvergleichbarkeit mit den englischen Verhältnissen hervorgehoben: »I have carefully abstained from drawing a comparison between these factories and those of our land. Many of the circumstances whose strong influence has been at work for years in our manufacturing towns have not arisen here: and there is no manufacturing population in Lowell, so to speak.« Dickens, American Notes for General Circulation (1842), S. 83 f. - Lowell hat sich bald zu einem kanonisierten Objekt des Besichtigungstourismus herauskristallisiert; der USA-Baedeker von 1893 bezeichnet die Fabrikstadt - unter ausdrücklicher Berufung auf Dickens - als Sehenswürdigkeit; vgl. The United States with an Excursion into Mexico, S. 116.

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Ein solcher Beobachtungs- und Reflexionsstandard ist bei den deutschen Reisenden unüblich. Wenn der Herzog zu Sachsen-Weimar-Eisenach Fabriken besichtigt, interessiert er sich nur für die technischen Aspekte der Produktion. Die Proletarisierungserscheinungen übersieht er oder übergeht sie mit beiläufigen Bemerkungen, wie bei der Besichtigung eines Kohlebergwerkes: »Diese Arbeit ist mühsam und langweilig. 12 Mann sind Tag und Nacht beschäftigt.«263 Ansonsten interessieren ihn in dieser Hinsicht nur die Beobachtungen, die sein Urteil über »dieses so glücklich aufblühende Land« bestätigen können. 264 Wie Ziegler sucht er das Vorbildliche statt des Normalen; und hin und wieder findet er es auch: Es scheint viel Wohlstand unter ihnen zu herrschen, wie der gute Anzug, das reinliche Aeussere und das gesunde Aussehen der Arbeiter beweisen. [...] Die Arbeiter in dieser Fabrik sind, wie ich später erfuhr, in der ganzen Gegend wegen ihrer guten Sitten gut angesehen, und man lobt allgemein ihre Moralität. In 10 Jahren hat man ein einziges Beispiel gehabt, dass ein Mädchen verführt worden.265

Die Gelegenheit zu solch erfreulichen Beobachtungen bietet sich sicherlich nicht allzu oft; und so kann auch der Herzog, ebenso wie Ziegler, sich nicht auf den Zufall verlassen, sondern muß sich das gewünschte Bild der Wirklichkeit gezielt zusammensuchen. Er findet es in der Ansiedlung George Rapps, die ebenfalls nach Owens Ideen konzipiert wurde: Alle Arbeiter, und namentlich die Weiber, haben eine sehr gesunde Gesichtsfarbe, und die treuherzige Freundlichkeit, mit welcher sie den alten Rapp begrüssten, rührte mich tief. Auch gefiel mir sehr, dass auf allen Maschinen Becher mit frischen, wohlriechenden Blumen standen. Die herrschende Reinlichkeit ist ebenfalls in jeder Hinsicht sehr zu loben.266

Solche Beschreibungen des sich industrialisierenden Amerika folgen dem gleichen Wahrnehmungsprinzip wie die Besichtigung der Wohlfahrtsinstitutionen. Die seligierte und schon in institutionelle Strukturen gefaßte Realität verliert vieles von dem Erschreckenden, das sie gewiß hätte, wenn der Reisende sich vorbehaltlos auf sie einließe. In der Darstellung von Rapps Ansiedlung oder der Fabrikstadt Lowell verrät sich eine Abwehrhaltung, die die Gefahren der heraufkommenden Industrialisierung auch in Deutschland - Ziegler deutet sie vage an, wenn er von ihren »fluchwürdigen Schattenseiten« spricht - beschwören will, indem sie positive Gegenmodelle aufzeigt. Das entspricht dem Stand der Diskussion über das Problem, wie sie etwa um die Jahrhundertmitte, besonders auf Seiten der liberalen Theoretiker, geführt wurde. In diesen Diskussionen erscheint das Menetekel unter dem vagen Stichwort der »Entsittlichung« der Proletarier oder, schon konkreter, als Befürchtung, das Fabrikwesen könne die ökonomische Basis der Arbeiterhaushalte durch ständig sinkende Löhne ver263

264 265 266

Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach, Reise Sr. Hoheit des Herzogs Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach durch Nord-America (1828) II, S. 244. Ebd., S. 261. Ebd. I, S. 94 f. Ebd. II, S. 208. 391

nichten.267 Diese Befürchtung steht im Zentrum der Beschreibungen des Herzogs Bernhard und Zieglers, die geradezu beschwörend die harmonischen Arbeits- und Lebensbedingungen der Fabrikarbeiter - bis hin zu den Blumen auf den Maschinen - darstellen. Wenn ihnen die nach sozialreformerischen Ideen organisierte Fabrikarbeit als Ideal erscheint, dann folgen sie einem Lösungsmodell für die Industrialisierungsproblematik, das um die Jahrhundertmitte von den Liberalen in ähnlicher, wenn auch etwas unspezifischerer Form angeboten wurde. Nicht jeder konnte so optimistisch auf die Selbstheilungskräfte des Industrialisierungsprozesses vertrauen wie Bruno Hildebrand, dem die sozialen Defizienzerscheinungen im Fabrikwesen nur als Übergangsphänomene erschienen und der sich davon überzeugt zeigte, daß gerade der Ausbau der Industrialisierung den »arbeitenden Klassen erst die geistigen und moralischen Eigenschaften« verleihen werde, »ohne welche eine gründliche und dauernde Verbesserung ihrer sozialen Lage unmöglich ist.«268 Tatsächlich belehrte die realgeschichtliche Entwicklung der Industrialisierung in Deutschland die zeitgenössischen Theoretiker eines schlechteren; es wurde ihnen - tendenziell schon vor der Jahrhundertmitte, wenn auch im größeren Umfang erst danach - vor Augen geführt, daß ein optimistisches Vertrauen in die segensreichen Wirkungen der Industrialisierung nicht gerechtfertigt war. Wenn der führende südwestdeutsche liberale Theoretiker Robert von Mohl sich - immerhin schon 1835 - über die Nachteile ausläßt, die von »dem fabrikmäßigen Betriebe der Industrie« ausgehen und Gegenmaßnahmen vorschlägt, dann steht an erster Stelle die »Herstellung eines freundlichen Verhältnisses zwischen Fabrikherrn und Arbeitern«;269 und sein Schüler Perthaler konkretisiert diesen Gedanken, indem er eine - staatlich erzwungene - »Organisierung der Arbeit« fordert, die der »bedrängten Stellung der Arbeiter gegenüber den Fabrikherrn« und der daraus entstehenden »Feindseligkeit« steuert.270 Solche Lösungsvorschläge sind weit entfernt vom Standpunkt eines liberalistischen »laisser-faire«; sie stehen in der deutschen etatistisch-genossenschaftlichen Tradition, die sich am Ideal einer »vorindustriellen, berufsständisch organisierten Mittelstandsgesellschaft auf patriarchalischer

267 268

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270

Vgl. Conze, (Art.) Proletariat, Pöbel, Pauperismus, S. 42 f. Hildebrand, Die weltgeschichtliche Bedeutung der modernen Industrie, S. 455. - Tatsächlich hat die Industrialisierung nicht nur neue Armutserscheinungen hervorgerufen, sondern auch zur Zurückdrängung der Armut beigetragen; vgl. die etwas pointiert vorgetragene Darstellung dieser positiven Wirkung bei Fischer, Soziale Unterschichten im Zeitalter der Frühindustrialisierung, S. 435. - Jedenfalls hat sich diese Zurückdrängung der Armut und die Einbindung der »Proletarier« in die Gesellschaft durch die Industrialisierung auf einem sehr niedrigen Lebensniveau vollzogen; vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 223-226. Detaillierte Angaben über die Lebensbedingungen der Proletarier finden sich bei Rosenbaum, Formen der Familie, S. 396-422; vgl. auch Sieder, Sozialgeschichte der Familie, S. 183 f. Mohl, Über die Nachteile (1835) S. 310. Zur Thematisierung der sozialen Frage in der politischen Theorie Mohls vgl. auch Bermbach, Liberalismus, S. 356. Perthaler, Ein Standpunkt zur Vermittlung sozialer Mißstände im Fabriksbetriebe (1843), S. 349.

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Grundlage« orientiert.271 Dieses Ideal schwebt auch den Amerikareisenden vor, wenn sie Rapps Ansiedlung oder die Fabrikstadt Lowell zum vorbildlichen Erscheinungsbild einer industrialisierten Gesellschaft stilisieren und dabei die Tatsache aus dem Auge zu verlieren drohen, daß es sich hier um extreme und wenig zukunftsträchtige Ausnahmeerscheinungen handelt. Daß Amerika nur mit großen Einschränkungen zum Vorbild für einen solchen Idealzustand taugt, wird den Reisenden der ersten Jahrhunderhälfte kaum bewußt; es kann ihnen nicht bewußt werden, solange sie ihre Wahrnehmungen einer Selektion unterwerfen, die nur die erfreulichen, aber untypischen sozialen Erscheinungsformen in den Blick kommen läßt. Später freilich häufen sich die Belege für ein schärferes und kritischeres Wahrnehmungsvermögen. Ein recht frühes Zeugnis für die Beobachtung solcher Phänomene - aber zugleich auch für die Verdrängung - findet sich in Zieglers Reisebericht. Bei seiner New-YorkBesichtigung begibt er sich in das berüchtigste Slum-Viertel der Stadt und wird mit den sozialen Schattenseiten der städtischen Wirklichkeit konfrontiert: Von diesen traurigen Gefängnissen weg gingen wir wohl aus verzeihlicher Neugierde durch die berühmten >five points< (fünf Punkte) der Stadt wo Schmuz, Koth, Armuth und Elend, Ausschweifung und Verbrechen sich vereinigen, um diesen Ort gleich ähnlichen der großen Städte Europas zu dem abscheulichsten und fluchwürdigsten Amerika's zu machen.272

Mehr allerdings als diese summarische Beschreibung gibt er nicht; er vermerkt das Phänomen nur im Vorübergehen, und es ist ihm nur ein Gegenstand touristischer Neugierde, der eher als Kuriosum vermerkt wird. Möglicherweise hat hier wiederum das Vorbild Dickens' nachgewirkt, der als einer der ersten europäischen Reisenden dieses Viertel - unter Polizeischutz - besucht und in seinen »American Notes« beschrieben hat.273 Ziegler ist - anders als Dickens - nicht in der Lage, die symptomatische Bedeutsamkeit dieses Phänomens zu erfassen. Daß er es gleichermaßen wahrnimmt wie auch durch die kursorische Behandlung - fast - ignoriert, ist das Resultat einer Kollision zwischen seiner aus Deutschland mitgebrachten Kenntnis sozialer Probleme und seinem auf Amerika gerichteten Erwartungshorizont. 271

Gall, Liberalismus und »bürgerliche Gesellschaft«, S. 176. Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika und Westindien (1848) I, S. 30. In den Auswandererbriefen wird die Kriminalität der amerikanischen Großstädte kaum thematisiert; eine der Ausnahmen ist ein Brief von 1855: »in Neu: Jork kommen jeden Tag Mord Diebstehle Selbstmord lung u. betrug vor und überhaupt in den großen Städten Amerikas vor«. Briefe aus Amerika, S. 325. 273 Wie die Beschreibung Lowells hat die Darstellung der »five points« durch Dickens kanonisierend auf den Besichtigungstourismus eingewirkt, auch wenn Dickens' eigene Beschreibung von einem sozialkritischen Impuls getragen wurde. Vgl. Dickens, American Notes, S. 108-113. Dickens' Beschreibung hat eine Flut ähnlicher Bücher amerikanischer Autoren ausgelöst; vgl. Bremner, From the Depths, S. 67. - Zu den »five points« als einem der »most notorious slums of nine-teenth-century America« vgl. Mohl, Poverty in New York, S. 21; Bretting, Soziale Probleme deutscher Einwanderer in New York City, S. 9 f. 272

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Ziegler hatte in einer zehn Jahre vor seinem Reisebericht erschienenen Schrift sich vergleichend mit den Proletarisierungserscheinungen in Deutschland und Amerika befaßt, wobei er auf die Erfahrungen seiner Amerikareise zurückgreifen konnte. Während er in Deutschland die Entstehung eines »Proletariats« - er verwendet den noch ziemlich ungebräuchlichen Begriff bereits - sieht und fürchtet, welches »für alle revolutionären oder reactionären Zwecke zu ge= oder mißbrauchen ist«,274 bescheinigt er Nordamerika, daß aufgrund seiner günstigen geographischen Verhältnisse und der schwachen Bevölkerung dort »kein Proletariat« zu finden sei.275 Die Bemerkung steht im Widerspruch zu seinen eigenen Reisebeobachtungen; und der Widerspruch erhellt die Schwierigkeiten der deutschen Reisenden bei der Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit in Amerika: Ziegler folgt dem amerikanischen Selbstverständnis ebenso wie seinen eigenen Vor-Urteilen, die in amerikanischen Verhältnissen das Vorbild Europas sehen wollen. Eine sozialkritische Einstellung gegenüber Amerika setzte sich bei den deutschen Reisenden nur zögernd durch - im gleichen Maße, in dem auch in Amerika selbst das Bewußtsein für soziale Probleme geweckt wurde. Bei den Amerikanern funktionierten die probaten mentalen Verdrängungsmechanismen der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts nicht mehr, je deutlicher die Folgen industrieller Krisenerscheinungen sichtbar wurden und eine Auseinandersetzung mit den sozialen Problemen erheischten. Dieser Bewußtseinswandel setzt gegen 1840 ein. Er führt dazu, daß sich langsam in der amerikanischen Öffentlichkeit - wenn auch keineswegs einhellig - die Einsicht durchsetzt, daß Armut ein soziales, vor allem mit wirtschaftlichen Entwicklungen einhergehendes, und nicht nur ein persönliches Problem darstellt. In eins mit diesem Bewußtseinswandel wird das Thema auch zum Gegenstand der belletristischen Literatur, wobei der Einfluß Dickens' eine wesentliche Rolle gespielt hat.276 Parallel zu dieser amerikanischen Diskussion - und gelegentlich im Vorgriff auf sie - werden die sozialen Probleme Amerikas in der deutschen Reiseliteratur häufiger angesprochen, wenn sie auch bei weitem nicht jenen Stellenwert erhalten, der ihnen aufgrund der amerikanischen Realität zukäme. Symptomatisch für die auch noch am Ende des Jahrhunderts bestehende Schwierigkeit, die eigene Erfahrung gegen die traditionellen Illusionen durchzusetzen, ist die Chicago-Darstellung Hesse=Warteggs. Einerseits besteht er hart274 275 276

Vgl. Ziegler, Republikanische LichU und Schattenseiten (1848), S. 75. Ebd., S. 82. Vgl. Bremner, From the Depths, S. 4; S. 87-89. Zum dringenden Problem wird das Thema freilich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als das Armutssymptome als Industrialisierungsfolge, aber auch als Folge des Sezessionskrieges immer offensichtlicher wurden; vgl. Trattner, From Poor Law to Welfare State, S. 76f.; Jeffreys-Jones, Soziale Folgen der Industrialisierung, Imperialismus und der Erste Weltkrieg, S. 235-239. Die verschiedenen literarischen, sozialwissenschaftlichen und sozialreformerischen Aspekte der Diskussion zwischen etwa 1870 und 1900 werden beschrieben bei Bremner, From the Depths, S. 67-85.

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näckig auf der amerikanischen Auffassung des Armut-Problems: »Es herrscht wohl Armut, aber kein Elend, und ist es doch sporadisch vorhanden, dann ist es gewiß keine Folge von Arbeitslosigkeit, sondern von Trägheit und Trunksucht.«277 Andererseits verrät jedoch eine beiläufige Bemerkung, daß diese Darstellung mit seinen eigenen Beobachtungen nicht übereinstimmt: Den Vormittag hatte ich in den Arbeiterquartieren der >West Side< Chicagos zugebracht und gesehen, daß auch hier [...] Schmutz und Armut groß sind, fast wie in den berüchtigten Tenementhäusern (Mietskasernen) New Yorks [...]. Auf der Fahrt von dort nach dem schönen, schattigen Jackson=Park, wo eben an der Ausstellung gearbeitet wurde, konnte ich meine ernsten Gedanken über das Elend, das ich gesehen, nicht loswerden.278

Trotz solcher Wahrnehmungshemmungen, die die deutschen Reisenden über das ganze Jahrhundert hinweg begleiten, geben in der zweiten Jahrhunderthälfte zusehends mehr - wenn auch insgesamt unverhältnismäßig wenig - Reiseberichte Auskunft über die sozialen Schattenseiten der amerikanischen Wirklichkeit. Dabei ist die Blickrichtung überwiegend fixiert durch das spezifische Interesse der Auswanderer; die Wahrnehmung konzentriert sich auf ein Phänomen, das in der Auswanderungsdiskussion immer eine besondere Rolle gespielt hatte: Das Problem der Arbeitsmöglichkeiten und der Arbeitslosigkeit. Die Illusion, daß jeder Arbeitswillige in Amerika auch Arbeit finden werde, gehörte lange Zeit zur Ikonologie des deutschen Amerika-Bildes; und entsprechend zögernd vollzog sich hier, unter dem Druck einschlägiger Erfahrungen, ein Wandel der Einstellung. Einen sehr frühen Beleg gibt Streckfuss, wenn er über seine Erfahrungen mit der Arbeitslosigkeit in Baltimore berichtet.279 Streckfuss macht diese Erfahrung bereits im Jahre 1834. Er publiziert sie zwei Jahre später; aber solche Bemerkungen passen weder in das deutsche Amerikabild dieser Zeit noch gar in das amerikanische Selbstverständnis, und so bleiben sie folgenlos. Zwölf Jahre danach gibt Büttner ebenfalls einen Hinweis auf die Möglichkeit von - in diesem Fall durch einen Unternehmensbankrott verursachte - Arbeitslosigkeit, den er aber nicht weiter ausführt. 280 Ausführlichere Darstellungen des Problems finden sich erst nach der Jahrhundertmitte. In seinen »Lebenden Bildern aus Amerika« von 1858 setzt sich Griesinger das Ziel, falsche Amerika-Vorstellungen in Deutschland zu korrigieren; und in diesem Zusammenhang widmet er auch der Arbeitslosigkeit einen eigenen Essay mit dem Titel »Stoppen, oder: >Es ist nicht Alles Gold, was glänztfeiern